Ästhetik (1832/33) 9783787331383, 9783787331376

Schleiermachers Ästhetik nimmt eine philosophiehistorische Sonderstellung ein: Sie kann als die einzige – systematisch o

130 70 2MB

German Pages 561 [639] Year 2018

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Ästhetik (1832/33)
 9783787331383, 9783787331376

Citation preview

Philosophische Bibliothek

F. D. E. Schleiermacher Ästhetik (1832/33) Über den Begriff der Kunst  (1831–33)

Meiner

FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER

Ästhetik (1832/33)

Über den Begriff der Kunst (1831–33)

Mit einer Einleitung, Bibliographie und Registern herausgegeben von holden kelm

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 696

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3137-6 ISBN eBook: 978-3-7873-3138-3

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf. Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2018. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Tanovski Publ. Serv., Leipzig. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT

Einleitung. Von Holden Kelm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

v ii

I. Entstehung, Systematik und Rezeption von Schleiermachers Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

v ii

1. Zur Entstehung der Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . v ii 2. Systematik und Kontext der Ästhetik . . . . . . . . . . xx i ii Zur Ästhetik 1819 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xx i ii Zur Ästhetik 1832/33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . x xv Klassische deutsche Philosophie . . . . . . . . . . x x vi i Kunst und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . x x xi i Kunst, Ethik und Religion . . . . . . . . . . . . . . . xx x vi i Zur Theorie der einzelnen Künste . . . . . . . . x l ii i Antike-Rezeption, Weimarer Klassik und Frühromantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . li i 3. Editions- und Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . lx II. Zur vorliegenden Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

l xv i

1. Die Vorlesung 1832/33 in der Nachschrift von Alexander Schweizer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l x vi 2. Die Akademieabhandlungen 1831–33 . . . . . . . . . . lx v ii i 3. Editorische Anmerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l xi x Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

l x xi i

1. Werke und Briefe Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . l x xi i 2. Ausgaben der Ästhetik und der Akademiereden über den Begriff der Kunst Schleiermachers . . . . . l x xi i 3. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . lx x ii i Kürzel und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . lx x vi

Inhalt

VI

F. D. E. Schleiermacher Ästhetik (1832/33) Nachschrift von Alexander Schweizer Geschichtliche Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

1. Teil. Allgemeiner spekulativer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2 2. Theorie der einzelnen Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 5 I.

Von den ihrer Natur nach ursprünglich begleitenden Künsten, i. e. Mimik und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von der Mimik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelne Zweige der Mimik . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Orchestik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die eigentliche Mimik . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Pantomime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Betrachtungen über die Mimik . . . . 2. Die Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185 187 199 199 211 228 229 238

II. Die bildenden Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Architectur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die schöne Gartenkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umfang der Mahlerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Sculptur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

280 284 311 320 331 368

III. Die Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 0 3 Über den Begriff der Kunst (1831–33) Umfang des Begriffs der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

449 449 466 484

Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 8 9 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 6 0

E I N L E I T U NG

I. Entstehung, Systematik und Rezeption von Schleiermachers Ästhetik 1. Zur Entstehung der Ästhetik Über die Vorlesungspraxis von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) berichtet Karl Gutzkow, der ein gelegentlicher Hörer seiner Vorlesungen in Berlin war, in seinen Lebenserinnerungen: »Schleiermacher war berühmt als Redner. Er trat schnell in sein gewöhnlich von achtzig bis neunzig Zuhörern besetztes Auditorium, erklomm seinen Katheder, stützte sein Haupt in die linke Hand und sprach ohne Buch, ohne Heft, frei vor sich, ohne zu stocken. [. . .] Mir ist es geradezu ein Wunder, wie es so treue Seelen hat geben können [. . .], die Schleiermachers Vorlesungen vollständig haben nachschreiben und herausgeben können. Eine volle Strömung Wassers, die aus einem Brunnen fließt, vermag ich aufzufangen, aber eine aufspritzende Fontäne, die sich wieder niederlässt in Millionen Tropfen, wer sollte die aufzufangen nicht verzweifeln –! Die Methode Schleiermachers war eine dialektische. Er hielt gleichsam mit sich selbst platonische Dialoge.«1 Diese Aussage zeugt in anschaulicher Weise von Schleiermachers Vorlesungspraxis, die er sich in seiner Zeit als Universitätsdozent an der Berliner Universität angeeignet hatte. Er sprach allerdings nicht immer gänzlich frei, sondern benutzte meistens einige Notizen, von denen ausgehend er seinen mündlichen Vortrag gestaltete. Auch lässt die Aussage Gutzkows die Mühe erahnen, die die Anfertigung einer wortgetreuen und vollständigen Mit- bzw. Nachschrift einer Vorlesung Schleiermachers Karl Gutzkow, Unter dem schwarzen Bären. Erlebtes 1811–1848, Berlin 1971, S. 240 f. 1

VI I I

Einleitung

erfordert haben mag. Angesichts der Überlieferungssituation kommt diesen Nachschriften oftmals nicht nur der Stellenwert eines historischen Dokuments zu, sondern auch der einer Ergänzung, Klärung oder Ausführung des von Schleiermacher eigenhändig Verfassten. Schleiermacher hielt in den Jahren 1819, 1825 und 1832/33 an der Berliner Universität Vorlesungen über die Ästhetik. Zudem verfasste er drei Abhandlungen »Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben« (1831–33), die zum Vortrag an der Preußischen Akademie der Wissenschaften bestimmt waren.2 Die Ästhetik ist damit, nach der Psychologie (1818) und der Pädagogik (1813), die letzte philosophische Disziplin, für die Schleiermacher einen eigenen Vorlesungszyklus ausgearbeitet hat. Dabei setzte er sich bereits in seinen Jugendjahren mit ästhetischen Problemen auseinander, war Mitinitiator der Berliner Frühromantik, formulierte in den Reden Über die Religion (1799) ein Konzept der Kunstreligion, das bis in die Gegenwart diskutiert wird, und entwickelte in seinen ÄsthetikVorlesungen einen produktionsästhetischen Ansatz, der in der Konstellation der klassischen deutschen Philosophie eine eigenständige Position darstellt. Im Rahmen seiner Ästhetik-Vorlesungen reflektiert Schleiermacher weniger auf avantgardistische Strömungen der Kunst, vielmehr bringt er seine tiefgehenden Kenntnisse der antiken, der christlichen und der europäischen Kunst des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts zur Geltung. Seine Ästhetik teilt die historisierende Tendenz zeitgenössischer Kunstphilosophien, wie der von Hegel, in der das Kunstwerk und die künstlerische Praxis in geschichtlicher Entwicklung gedacht werden. Schleiermachers Kunstkennerschaft wurde nicht zuletzt befördert durch eigene künstlerische Avancen und Interessen: Gelegentlich verfasste er Gedichte, sang regelmäßig im Chor der Sing-Akademie zu Berlin Vgl. F. D. E. Schleiermacher, »Über den Umfang des Begriffs der Kunst«, in: Friedrich Schleiermacher, Schriften, hg. v. Andreas Arndt, Frankfurt am Main, 1996, S. 803–845. 2

Holden Kelm

IX

und nahm das kulturelle Leben seiner Wahlheimatstadt, zu dem er als Dozent der Theologie und Philosophie sowie als evangelischer Prediger zunehmend selbst gehörte, mit großem Interesse wahr.3 Aus seinen Ästhetik-Vorlesungen von 1832/33 geht etwa hervor, dass er die Kunstausstellung der Preußischen Akademie der Künste des Jahres 1832 besichtigt hat und die Errichtung des von Karl Friedrich Schinkel entworfenen klassizistischen Alten Museums ebenso verfolgte wie die Aufstellung der gusseisernen Skulpturen auf dessen Dach: die pferdebändigenden Dioskuren, die Christian Friedrich Tieck nach Plänen Schinkels angefertigt hatte.4 Sein tiefgehendes Interesse für Literatur und Poesie ist darüber hinaus für seine gesamte intellektuelle Laufbahn bezeugt, nicht zuletzt in seinen Tageskalendern.5 Das Bestechende und in der Forschung noch nicht genügend Reflektierte der Ästhetik Schleiermachers liegt jedoch weniger in ihrer kunsthistorischen Dimension als in ihrem Fokus auf die genuine Tätigkeit des künstlerischen Subjekts im Ausgang von der begeisterten Stimmung und deren organischer Darstellung. Die Kunsttätigkeit wird in ihrer psychologischen Dynamik aufgrund ihrer epistemologischen Bedeutung und ihrer ethischen Wirklichkeit untersucht.6 Indem Schleiermacher das Kunstwerk als ein »Organischwerden der Stimmung« (Ästhetik 1819), als Vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002, S. 80. Hermann Patsch, Alle Menschen sind Künstler: Friedrich Schleiermachers poetische Versuche, Berlin / New York, 1986. 4 Vgl. in dieser Ausgabe S. 398. 5 Vgl. Wolfgang Virmond, »Schleiermachers Lektüre nach Auskunft seiner Tagebücher«, in: Günter Meckenstock (Hg.), Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin / New York 1991, S. 71–99. Vgl. die digitale Edition der Tageskalender auf der Webseite des Akademien-Vorhabens »Schleiermacher in Berlin 1808–1834. Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen« (http://schleiermacher-in-berlin.bbaw. de, zuletzt aufgerufen am 31. 03. 17). 6 Zu den insgesamt wenigen Forschungsarbeiten zu Schleiermachers Ästhetik, die auch diese drei Perspektiven herausarbeiten, gehören: Thomas Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, Stuttgart 1987. Gunter Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie, Göttingen 1981. Ru3

X

Einleitung

»freie Produktivität« des (unmittelbaren) Selbstbewusstseins (Ästhetik 1832/33) und schließlich als »Selbstmanifestation« des Künstlers (Akademieabhandlung 1833) darlegt, wird die durchgehende produktionsästhetische Dimension seiner Konzeption bereits sichtbar, womit sie sich sowohl von formalästhetischen als auch von gehaltsästhetischen Ansätzen absetzt.7 Die ethische Relevanz der Kunst wird von Schleiermacher in Rücksicht auf die Gefühlsbildung des Einzelnen bei der Kunstrezeption und in Bezug auf die kulturelle und geschichtliche Wirklichkeit der Kunstproduktion zur Geltung gebracht. Auch in Hinsicht auf Schleiermachers philosophische und theologische Systematik ist seine Ästhetik von besonderem Interesse, insofern das Gefühl in seiner philosophischen Ethik nicht nur als unübertragbar gilt, sondern auch als eigentliche Sphäre der Religion, die das Verhältnis des Einzelnen zum Absoluten beinhaltet, das in seinem theologischen Hauptwerk, Der christliche Glaube (1821–22), zu der Formel einer ›schlechthinnigen Abhängigkeit‹ verdichtet wird.8 Wenn das Gefühl und mit ihm die Religiosität der wesentliche Bestandteil einer Stimmung ist, deren organischer Ausdruck das Kunstwerk ist, dann ist die Religiosität auch das grundlegende Element der künstlerischen Praxis als freier Produktivität. Demnach manifestiert sich mit der Stimmung bzw. dem Selbst des Künstlers im Kunstwerk auch etwas

dolf Odebrecht, Schleiermachers System der Ästhetik. Grundlegung und problemgeschichtliche Sendung, Berlin 1932. 7 Vgl. exemplarisch in der Ästhetik 1819 (ÄOd, S. 54): »[D]aß die Kunst nicht allein auf die Stimmung zurückgeht, sondern auf die von der Stimmung ausgehende freie Production.« 8 Vgl. KGA, Abt. I, Bd. 7/1, S. 31–38. F. D. E. Schleiermacher, Ethik (1812/13), hg. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1990, S. 75 (§ 230): »Wie das eigenthümliche Erkennen nur werdende Religion ist, so kann auch die Darstellung nur die innerliche gegebene Gradation des Vernunftgehalts bezeichnen.« Vgl. Karl Barth, »Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit. Anmerkungen zu Konrad Cramers SchleiermacherInterpretation«, in: Subjekt und Metaphysik, hg. v. Jürgen Stolzenberg, Göttingen 2001, S. 41–59.

Holden Kelm

XI

Allgemeines auf symbolische Weise, das von anderen rezipiert, verstanden und Auslöser einer erneuten künstlerischen Aktivität werden kann.9 Bereits für seine Zeit im Pädagogium Niesky und im Seminarium von Barby (1783–1787) ist Schleiermachers literarisches Interesse bezeugt: Er versuchte sich bereits in seiner Jugend nicht nur an antiken Klassikern wie Homer, Hesiod oder Pindar, sondern auch an der Gegenwartsliteratur, wie etwa Goethes »Werther« oder einigen Gedichten von Wieland.10 Schleiermachers philosophische Schriftstellerei beginnt mit einer Auseinandersetzung mit der praktischen Philosophie von Kant und Aristoteles sowie mit Texten von Platon und Spinoza (in der Überlieferung durch Jacobi).11 Sein erster philosophischer Lehrer und Förderer an der Universität Halle, an der Schleiermacher von 1787 bis 1788 ein Studium der Theologie aufnahm, war Johann August Eberhard (1739–1809).12 Eberhard wirkte in der Tradition der Schulphilosophie von Leibniz und Christian Wolff und versuchte diese mit der empirischen Psychologie der Aufklärung etwa eines Johann Georg Sulzer in Einklang zu bringen, während er die Verbreitung der kantischen Philosophie kritisierte. Er betreute die Neuauflage von Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik (1783), verfasste eine Theorie der schönen Wissenschaften (1786) sowie ein Handbuch der Aesthetik (1803–1805).13 Bezeugt ist, dass SchleierVgl. Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie, S. 65 (vgl. Fn. 6). Vgl. Nowak, Schleiermacher, S. 24–28 (vgl. Fn. 3). 11 Zur Bedeutung von Kant für den frühen Schleiermacher vgl. Peter Grove, »Schleiermacher und Rehberg«, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte, Bd. 5, Heft 1, Januar 1998, hg. v. R. E. Crouter, F. W. Graf, G. Meckenstock, S. 1–28, 1–10. 12 Vgl. Nowak, Schleiermacher, S. 35–37 (vgl. Fn. 3). 13 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysik, hg. v. Johann August Eberhard und Georg Meier, 9. Auflage, Halle 1783. Johann August Eberhard, Theorie der schönen Wissenschaften. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen, 2. Auflage, Halle 1786. Handbuch der Aesthetik, für gebildete Leser aus allen Ständen. In Briefen, hg. v. Johann August Eberhard, Halle 1807–1820. 9

10

X II

Einleitung

macher bei Eberhard ein Kolleg über »Metaphysik« und über die Geschichte der Philosophie besuchte, ferner eine altphilologische Vorlesung bei Friedrich August Wolf.14 Anzunehmen ist daher, dass Schleiermacher bereits während seines theologischen Studiums Kenntnisse der Ästhetik bzw. Theorie der schönen Künste des 18. Jahrhunderts, namentlich der von Baumgarten und Sulzer, erlangt hatte. Seine Beschäftigung mit der Ästhetik findet ihren ersten Ausdruck im Aufsatz »Über das Naive« (1789), in dem Schleiermacher kritisch auf Moses Mendelssohns Schrift »Über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften« (1758/ 1771) eingeht und mit dem Naiven und Erhabenen zwei ästhetische Kategorien diskutiert, noch bevor sich Schiller und Kant eingehend mit ihnen beschäftigen werden.15 Kurze Zeit darauf verfasst Schleiermacher den Text »Ueber den Styl« (1790/91), in dem er einleitend eine Einteilung der schönen Künste in die drei Abteilungen Mimik und Musik (I), Malerei und Skulptur (II) und Poesie (III) vornimmt, aus der er später die Gliederung in begleitende, bildende und redende Künste (Poesie) ableitet, die er bis in sein letztes Ästhetik-Kolleg von 1832/33 beibehalten wird.16 Nachdem Schleiermacher über einige Zwischenstationen im Jahr 1796 nach Berlin zog, um eine Tätigkeit als Prediger an der Berliner Charité aufzunehmen, dauerte es nicht lange, bis er in einige literarische Zirkel und Salons der Stadt eingeführt wurde. Dafür sorgte zunächst sein Jugendfreund Carl Gustav von Brinckmann, aber auch Alexander zu Dohna, mit dem Schleiermacher seit seiner Zeit in Schlobitten bekannt war. Eine lang anhaltende Freundschaft entsteht infolgedessen mit Henriette von Herz (1764–1847), der Ehefrau des Kantianers Markus Herz, in deren Vgl. Nowak, Schleiermacher, S. 35 (vgl. Fn. 3). Vgl. F. D. E. Schleiermacher, »Über das Naive«, in: KGA, Abt. I, Bd. 1, Jugendschriften, 1787–1796, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, S. 177–187. 16 Zur zweiten Abteilung (bildende Künste) treten später hinzu die Architektur (Ästhetik-Kolleg 1819) und die schöne Gartenkunst (Ästhetik-Kolleg 1832/33). Vgl. Schleiermacher, »Ueber den Styl«, in: KGA, Abt. I, Bd. 1, S. 365–390, 365. 14 15

Holden Kelm

XIII

abendlichen Salons Schleiermacher nunmehr häufig zu Gast ist und Persönlichkeiten des kulturellen Lebens wie die HumboldtBrüder, Heinrich von Kleist, Ludwig Tieck oder Dorothea und Henriette Mendelssohn treffen konnte.17 Nachdem Friedrich Schlegel (1772–1829) im Jahr 1797 aus Jena nach Berlin zog, begegnete Schleiermacher ihm erstmals in der »Mittwochsgesellschaft« des Intellektuellen Ignaz Aurelius Feßler – zwischen ihnen entsteht in kürzester Zeit eine äußerst konstruktive Freundschaft (sie leben von 1797 bis 1799 in Wohngemeinschaft), die erst nach Schlegels Konversion zum Katholizismus 1808 allmählich nachlässt. Die Entwicklung ihres philosophischen und ästhetischen Denkens verläuft fortan aufgrund eines ständigen wechselseitigen und »symphilosophischen« Austauschs, wovon etwa Schleiermachers Fragmente und Rezensionen für das Athenaeum zeugen.18 In der Forschung ist es weitgehend unbestritten, dass die Ästhetik der Frühromantik wegbereitend war für das, was in den systematisch angelegten Philosophien der Kunst um 1800 ausgeführt wurde: zunächst von August Wilhelm Schlegel in seiner Jenaer Vorlesung über die philosophische Kunstlehre (1798/ 99), dann in seinen Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801–1804) sowie von Schelling in seiner Jenaer und Würzburger Vorlesung über die Philosophie der Kunst (1802/3 Vgl. Nowak, Schleiermacher, S. 81–83 (vgl. Fn. 3). Vgl. Andreas Arndt, »Eine literarische Ehe. Schleiermachers Wohngemeinschaft mit Friedrich Schlegel«, in: ders., Schleiermacher als Philosoph, Berlin / New York 2013, S. 31–41. Die von August Wilhelm und Friedrich Schlegel zwischen 1798 und 1800 in Berlin herausgegebene Zeitschrift Athenaeum war ein zentrales Organ der Frühromantik. Im 2. Stück des 1. Bandes von 1798 finden sich Fragmente von verschiedenen Autoren: Friedrich Schlegel, August Wilhelm Schlegel, Friedrich von Hardenberg (Novalis) und Schleiermacher, ohne dass die Autorschaft kenntlich gemacht wurde, was dem Ideal des Symphilosophierens entsprach. Die Autorschaft der verschiedenen Fragmente konnte aufgrund der überlieferten Handschriften oder durch eindeutige Belege in Briefwechseln größtenteils rekonstruiert werden. Die nachweislich von Schleiermacher stammenden (wohl 31) Fragmente sind abgedruckt in: KGA, Abt. I, Bd. 1, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, S. 141–156. 17

18

X IV

Einleitung

bzw. 1804/05).19 Auch für Schleiermachers Ästhetik sind einige Gedanken der frühromantischen Ära von grundlegender Bedeutung. Eine Formulierung etwa, wie die im Lyceums-Fragment 63 von Friedrich Schlegel: »Nicht die Kunst und die Werke machen den Künstler, sondern der Sinn und die Begeisterung und der Trieb«, hätte – wohl ohne dass es sofort aufgefallen wäre – auch in Schleiermachers Ästhetik von 1819 vorkommen können, auch wenn seine frühromantischen Ideale darin teilweise aufgegeben, jedenfalls weitaus differenzierter und im sachlichen Duktus der wissenschaftlichen Prosa zur Geltung gebracht werden.20 Im Jahr 1799 kam es zur Veröffentlichung seiner ersten Monographie: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799).21 Aus dieser erwächst der bis in die Gegenwart geführte Diskurs über »Kunstreligion«, ein Neologismus Schleiermachers, den er allerdings nur in der Erstauflage verwendet hat.22 Dabei werden Kunst und Religion in einer Weise enggeführt, dass Vgl. A. W. Schlegel, Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1803), mit einem Kommentar und Nachwort herausgegeben von Ernst Behler, in: KAV, Bd. 1, Paderborn, München u. a. 1989. F. W. J. Schelling, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, in: ders., Sämmtliche Werke, Abt. I, Bd. 5, Stuttgart und Augsburg 1859. Über die Bedeutung der Vorlesungen A. W. Schlegels für Schellings Vorlesungen vgl. Ernst Behler, »Schellings Ästhetik in der Überlieferung von Henry Crabb Robinson«, in: »Philosophisches Jahrbuch«, Nr. 63, 1976, S. 133–176, 137. Zum Verhältnis der Vorlesungen A. W. Schlegels zu seinen früheren Arbeiten im Zusammenhang mit F. Schlegel wie etwa dem »Athenaeum« sowie zu Schleiermachers Besuch von A. W. Schlegels Berliner Vorlesung über Theorie und Geschichte der bildenden Künste 1827 vgl. Stefan Knödler, »August Wilhelm Schlegels Vorlesungen. Analoge und digitale Edition«, in: Literaturkritik, Nr. 9, September 2014 (http://literaturkritik.de/id/ 19679, zuletzt aufgerufen am 07. 04. 2017). 20 Vgl. KFSA, Abt. I, Bd. 1, S. 154. 21 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799. KGA, Abt. I, Bd. 2, S. 185–326. 22 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, S. 168. KGA, Abt. I, Bd. 2, S. 262 (vgl. Fn. 21). Vgl. zum Begriff der Kunstreligion: Albert Meier, Alessandro Costazza, Gérard Laudin (Hg.), Kunstreligion, Bd. 1, Der Ursprung des Konzepts um 1800, Berlin 2011, dies., Kunstreligion, Bd. 2, Die 19

Holden Kelm

XV

es schwierig wird, ihren Unterschied zu fixieren; sie seien wie zwei verwandte Seelen, »Quellen der Anschauung des Unendlichen«.23 Allerdings wird deutlich, dass die gestaltbildende Kraft der Kunst nur eine Art und Weise der Vervollkommnung der im Gefühl wurzelnden Religiosität, nicht aber ihren vollgültigen Ersatz darstellen kann. Die im Duktus einer zeitkritischen Diagnose der christlich-religiösen Praxis und Ausbildung formulierte Hoffnung auf eine künftige Verschmelzung von Religion und Kunst erhebt sich aus dem Diskurs der Frühromantik und wird von Schleiermacher in seinen Hallenser Ethik-Vorlesungen nicht in derselben Weise fortgeführt, wenngleich Kunst und Religion darin wiederum in ein spannungsreiches Nahverhältnis gebracht werden. Auch in Schleiermachers dialogischer Reflexion Die Weihnachtsfeier (1806) finden sich Besprechungen zu ästhetischreligiösen Sujets, etwa zur »Weihnachtskantilene« von Matthias Claudius in der Vertonung durch Johann Friedrich Reichardt von 1784, zu August Wilhelm Schlegels Gedicht »Der Bund der Kirche mit den Künsten« (1800) oder auch zu Novalis’ geistlichem Lied »Wo bleibst du Trost der ganzen Welt« (1802).24 Nach seiner Versetzung von Berlin in das hinterpommersche Stolp an der Ostseeküste im Jahr 1802 begann Schleiermacher neben seinen geistlichen Verpflichtungen als Pfarrer mit der PlatonÜbersetzung, in der er sich auch mit den verstreuten Aussagen Platons über das Schöne und die Kunst auseinandersetzt, so etwa in den »Einleitungen« zu seinen Übersetzungen der Dialoge Phaidros, Politeia oder Symposion.25 Im Jahr 1804 kam es zum ersehnRadikalisierung des Konzepts nach 1850, Berlin 2012, dies., Kunstreligion, Bd. 3, Diversifizierung des Konzepts um 2000, Berlin 2014. Ernst Müller, Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004. 23 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, S. 170. KGA, Abt. I, Bd. 2, S. 263 (vgl. Fn. 21). 24 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch, Halle 1806. KGA, Abt. I, Bd. 5, S. 41–100, 49 f., 59, 78 f. 25 Vgl. etwa Schleiermachers Deutung von Platons Theorie der Redekunst in seiner »Einleitung« zum »Phaidros«, in: KGA, Abt. IV, Bd. 3,

XVI

Einleitung

ten Ortswechsel mit einem Ruf auf eine (zunächst) außerordentliche Professor für Theologie und Philosophie an der Universität Halle, mit der auch eine Stelle als Universitätsprediger verbunden war; Schleiermacher begann seine Lehrtätigkeit umgehend.26 In seinen Hallenser Ethik-Vorlesungen von 1805/06 entwickelt er dann die in den Reden zeitkritisch ausgesprochene Hoffnung, Religion und Kunst mögen sich vervollkommnend vereinigen, im Rahmen der ethischen Funktionen des individuellen Symbolisierens bzw. Erkennens in systematischer Weise weiter. Dabei wird Religion nicht mehr als »Anschauung des Universums« angesprochen, sondern als »Gefühl« oder als die »eigentliche Sphäre des Gefühls im sittlichen Sein«, wobei der Kunst die Aufgabe der Darstellung dieses an sich unübertragbaren Gefühls zukommt.27 Dieses Darstellen kann daher nur in symbolischer Weise erfolgen und wird als ein unmittelbarer Ausdruck des Gefühls bestimmt, der zwar in der sozialen Gemeinschaft gebildet und kultiviert wird, jedoch keinen bewussten Akt der Besinnung voraussetzt. Schleiermachers Aussage aus der Ethik »[J]eder Mensch ist ein Künstler« bezieht sich auf diese allgemeine Bedeutung der Kunst, auf die organischen (mimischen, gestischen und stimmlichen) Potenziale des künstlerischen Gefühlsausdrucks und dessen kulturspezifische Prägungen und Deutungsmuster, während laut der Ästhetik jeder Mensch nur insofern ein Künstler ist, als er aus dem erregten Gefühlszustand in eine begeisterte Stimmung übergeht und aus dieser heraus den Akt der Besinnung bewusst ausübt.28 Damit ist die künstlerische Praxis der ethischen Sphäre nicht etwa enthoben, S. 66–68. Zu Schleiermacher und Platon allgemein vgl. Andreas Arndt, »Schleiermacher und Platon«, in: ders., Schleiermacher als Philosoph, Berlin 2013, S. 263–274. 26 Vgl. Nowak, Schleiermacher, S. 147–150 (vgl. Fn. 3). 27 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805/06, hg. v. Hans-Joachim Birkner, auf Grundlage der Werke-Ausgabe v. Otto Braun, Hamburg 1981, S. 99 f. 28 Vollständig lautet die Sentenz im Brouillon: »Trennt man nun beide Seiten, so besteht die Ethisierung der Darstellung darin, daß jede Darstellung ein reines Produkt des Gefühls sei: alle Künstler sollen Genien

Holden Kelm

XV I I

denn wenn gelten soll, dass die »wahre Ausübung der Kunst [. . .] religiös« ist, dann ist jedem Kunstwerk eine Reflexion des Künstlers über seine Stellung in und zu der Allgemeinheit implizit, d. i. der vernünftige Gehalt seiner Darstellung.29 Mit dieser ethischen Fundierung der Kunst als Handlung bzw. Tätigkeit des Individuums, die vorwiegend eine symbolisierende und damit erkennende Funktion erfüllt und zugleich in Bezug auf die organischen Fähigkeiten der Darstellung steht, wird die anthropologische Dimension der Ästhetik Schleiermachers sichtbar: Der Mensch, zugleich als geistiges und sinnliches Wesen gefasst, ist der Zentralisationsund Ausgangspunkt der künstlerischen Produktion. Nachdem die napoleonischen Truppen die Schlacht von Auerstedt gewonnen hatten und weiter ins preußische Kerngebiet – und so auch nach Halle – vorgedrungen waren, wurde es für Schleiermacher und seine Kollegen an der Hallenser Universität unmöglich, ihrer Tätigkeit weiter nachzugehen. Napoleons Dekret, die Hallenser Universität 1806 schließen zu lassen und die Stadt dem Königreich Westphalen zuzuschlagen, erwies sich für die Preußische Regierung später, nachdem der Frieden von Tilsit (1807) geschlossen war, als ein Grund dafür, eine neue Universität in Berlin eröffnen zu lassen, in deren Gründungsprozess Schleiermacher durch die Vermittlung Wilhelm von Humboldts involviert war. Schleiermacher zog bereits 1807 nach Berlin, hielt erste (private) philosophische und theologische Vorlesungen, wurde 1809 als reformierter Pfarrer der Dreifaltigkeitskirche eingeführt, und als die Berliner Universität 1810 offiziell eröffnet war, wurde er sogleich Professor und Dekan der theologischen Fakultät.30 sein. Die Ethisierung des Gefühls aber, inwiefern es ein gemeinschaftliches werden soll, darin, daß jedes Gefühl in Darstellung übergehe: alle Menschen sind Künstler.« Vgl. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805/ 06, S. 184 (vgl. Fn. 27). 29 Vgl. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805/06, S. 100 (vgl. Fn. 27). Vgl. Anne Käfer, ›Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös‹: Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels, Tübingen 2006. 30 Vgl. Nowak, Schleiermacher, S. 215–221 (vgl. Fn. 3).

XVIII

Einleitung

Aufgrund seiner 1810 bewilligten Aufnahme in die philosophische Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften war es ihm zudem erlaubt, an der philosophischen Fakultät Vorlesungen zu halten.31 Er setzte seine Ethik-Vorlesungen fort, in denen die Wesensverwandtschaft von Kunst und Religion ein integraler Bestandteil bleibt, wenngleich ihr Verhältnis infolge der Entwicklung der Dialektik ab 1811 einen weiteren Differenzierungsgrund erhält.32 In der Ethik 1812/13 wird die Kunst im Rahmen der Güterlehre als das Medium der Religion dargestellt: »Wenn demnach das Bilden der Fantasie in und mit seinem Heraustreten Kunst ist, und der Vernunftgehalt in dem eigenthümlichen Erkennen Religion, so verhält sich Kunst zur Religion wie Sprache zum Wissen.«33 Religion sei aber nicht nur im engeren Sinn als individuelles Erkennen der wesentliche Inhalt der Kunst, der genauer in der Dialektik zu untersuchen sei, sondern auch im allgemeinen Sinn, indem sie »alles reale Gefühl« umfasst.34 Dabei wird ein systematischer Zusammenhang zwischen Kunst, Religion und spekulativer Wissenschaft sichtbar, wonach die Religion als individuelles Erkennen in der Dialektik, die Religion als alles reale Gefühl und die Kunst (im weiteren Sinn) als dessen Darstellung in der Ethik und die Kunst (im engeren Sinn) als Medium der Religion bzw. der individuellen Erkenntnis in der Ästhetik verortet werden. Die systematische Bedeutung der Ästhetik als kritische Disziplin konkretisiert Schleiermacher im Rahmen der »vollkommenen ethischen Formen«: »Es ist die Sache der kritischen Disciplin, welche wir jezt Aesthetik nennen, den Cyclus der Künste zu deduciren und das Wesen der verschiedenen Kunstfor-

Vgl. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Berlin 1992, S. 295–299. 32 Vgl. KGA, Abt. II, Bd. 10/1 und 10/2, hg. v. Andreas Arndt, Berlin / New York 2002. 33 Vgl. Schleiermacher, Ethik (1812/13), S. 74 f. (§ 228) (vgl. Fn. 8). 34 Vgl. Schleiermacher, Ethik (1812/13), S. 75 (§ 229) (vgl. Fn. 8). 31

Holden Kelm

XIX

men darzustellen«.35 Damit wird deutlich, dass Schleiermacher seine Ästhetik als eine Disziplin verstanden wissen will, die aus den Grundsätzen der Ethik hervorgeht, diese gewissermaßen auf den konkreten Fall der Entstehung eines Kunstwerks anwendet und darüber hinaus dem philosophischen Anspruch genügt, die einzelnen Kunstzweige aus einem einheitlichen Wesen der Kunst abzuleiten. Die Ästhetik muss demnach eine spekulative Idee der Kunst formulieren, aus der heraus die einzelnen Kunstzweige, von der Mimik bis zur Poesie, enzyklopädisch hervorgehen, ohne dass die Untersuchung sich dabei im empirischen Detail verliert oder die ethische Fundierung der Kunstproduktion verkennt.36 Erste Spuren eines Plans von Schleiermacher, ein Kolleg über Ästhetik auszuarbeiten und durchzuführen, finden sich in einem Brief an Joachim Christian Gaß (1766–1831) zum Jahreswechsel 1816/17: »[A]ber leider fehlen mir noch ganze Disciplinen, an die ich nicht kommen kann, Einleitung ins Neue Testament, Psychologie, Aesthetik. Davon bin ich noch sehr weit entfernt.«37 Gut zwei Jahre später, zum Jahresende 1818, schreibt Schleiermacher seinem Jugendfreund Brinckmann bereits von einem Zeitraum: »Noch in den lezten Jahren habe ich eine Politik eine Dialektik eine Psychologie nach meiner eignen Weise vorgetragen, von denen ich hoffe wenn sie auf dem Papier ständen sollten sie sich Deines Beifalls erfreuen; und im nächsten Jahr denke ich an die Aesthetik zu gehn.«38 Kurze Zeit darauf ist der Plan gefasst für das Sommersemester 1819 das erste Ästhetik-Kolleg anzukündigen – Schleiermacher schreibt an seinen Kollegen, den Altphilologen August Bekker: »Bei uns ist nun Hegel angekommen, und man Vgl. Schleiermacher, Ethik (1812/13), S. 126 (§ 232) (vgl. Fn. 8). 36 Vgl. Gunter Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, S. 141. 37 Vgl. Brief von F. Schleiermacher an Joachim Christian Gaß, vom 29. Dezember 1816 bis 2. Januar 1817, in: Friedrich Schleiermacher’s Briefwechsel mit J[oachim] Chr[istian] Gaß, Berlin 1852, S. 127–131, 128. 38 Vgl. Brief von F. Schleiermacher an Carl Gustav von Brinckmann vom 31. Dezember 1818, in: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 4, hg. v. Wilhelm Dilthey, Berlin 1863, S. 240–243, 241. 35

XX

Einleitung

muß sehn, wie er sich auf die Länge hält; Klagen über Unverständlichkeit werden freilich schon gehört, aber vielleicht giebt sich das. Mir ist es lieb, daß ich nun meine philosophischen Segel wenigstens einziehen kann, so bald ich will. Vor der Hand will ich nun noch im Sommer ein neues Kollegium lesen, nämlich Aesthetik; daneben soll meine Dogmatik fertig werden, und weiter will ich nichts thun.«39 Die Entlastung, die Schleiermacher mit der Berufung von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) an die Berliner Universität kommen sah, erhoffte er sich wohl deswegen, weil der philosophische Lehrbetrieb seit dem Tod Fichtes 1814 (dessen Lehrstuhl nicht umgehend neu besetzt wurde) in losen Händen lag. Neben Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1780– 1819) gab es keinen Philosophieprofessor, der philosophische Kollegien anbot, dafür sprangen gelegentlich Professoren der Archäologie oder der Altphilologie ein, wie etwa Ernst Heinrich Toelken oder August Böckh, die überwiegend zu ästhetischen Gegenständen der Antike lasen; derweil unterstützten Privatdozenten der Philosophie den Lehrbetrieb.40 Mit der Berufung Hegels als Nachfolger von Fichte und seinem Lehrbeginn zum Wintersemester 1818 würde das Studium am philosophischen Institut wieder strukturierter verlaufen und planbar werden – das war offenbar die Hoffnung Schleiermachers. Dass aus dieser Hoffnung insofern nichts wurde, als diese Entlastung im Lehrbetrieb ihn nur mehr auf seine eigenen unfertigen Projekte aufmerksam machte, zeigt sich in einem Brief an seinen Schüler August Twesten vom 14. März 1819. Darin berichtet er von Schwierigkeiten bei der begonnenen Niederschrift seiner Dogmatik und zieht daraus den Schluss: »Nun freilich ist es schlimm, daß ich für den Vgl. Brief von F. Schleiermacher an August Immanuel Bekker, vom 9. Januar 1819 bis zum 16. Januar 1819, in: Friedrich Schleiermacher: Briefwechsel mit August Boeckh und Immanuel Bekker. 1806–1820, für die Litteraturarchiv-Gesellschaft in Berlin [hg. v. Heinrich Meisner], Berlin 1916, S. 97–103, 102. 40 Vgl. Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810–1834, nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten, hg. v. Wolfgang Virmond, Berlin 2011. 39

Holden Kelm

X XI

Sommer ein neues Collegium angekündigt habe, das ich schon lange im Schilde führe, aber wozu noch nichts vorbereitet ist, nämlich Aesthetik.«41 Am 19. April 1819 wird Schleiermacher mit der Durchführung seines ersten Ästhetik-Kollegs in fünf wöchentlichen Stunden beginnen.42 In einem Brief an Joachim Gaß vom Juni 1819 zeigt er sich zuversichtlich, obwohl ihm die Kollegien (neben Ästhetik liest er Hermeneutik) unverhältnismäßig viel Zeit kosten würden: »Meine Aesthetik gefällt mir bis jezt nicht übel«.43 Der Beginn und die Durchführung des letzten von Schleiermacher ausgearbeiteten philosophischen Kollegs stehen also unter dem Zeichen andauernder und angestrengter Arbeit an der Dogmatik (auch Publikationen der Dialektik und der Ethik waren zu diesem Zeitpunkt noch geplant), der Durchführung eines HermeneutikKollegs, theologischer Vorlesungen sowie seiner kirchlichen Verpflichtungen. Dass es ihm dennoch gelang, eine eigenständige und schlüssige Konzeption der Ästhetik zu entwerfen, ist wohl unter anderem darauf zurückzuführen, dass er bereits über einen breiten Fundus an mehr oder weniger systematisch ausgeführten Gedanken zur Philosophie der Kunst verfügte, die er in verschiedenen Abhandlungen und Kollegien bereits erprobt hatte. Im zweiten Ästhetik-Kolleg von 1825 wiederholt Schleiermacher die erste Vorlesung offenbar ohne größere Veränderungen an der Konzeption. Im Manuskript zur ersten Vorlesung, dem sog. Grundheft 1819, das er auch für die weiteren Kollegien verwendet Vgl. Brief von F. Schleiermacher an August Detlev Christian Twesten vom 14. März 1819, in: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, hg. v. C. F. Georg Heinrici, Berlin 1889, S. 341–344, 342. 42 Vgl. Friedrich Schleiermacher’s Ästhetik, im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Literatur-Archiv-Gesellschaft zu Berlin nach den bisher unveröffentlichten Urschriften, hg. v. Rudolf Odebrecht, Berlin 1931, S. 1. Vgl. das Manuskript im Schleiermacher-Nachlass der BBAW (SN 109, S. 1). 43 Vgl. Brief von F. Schleiermacher an Joachim Christian Gaß vom 2. Juni 1819, in: Friedrich Schleiermacher’s Briefwechsel mit J[oachim] Chr[istian] Gaß, Berlin 1852, S. 172–175, 174. 41

X XI I

Einleitung

hat, finden sich dementsprechend nur wenige Marginalien oder Zusätze, die eindeutig in das Jahr 1825 datiert werden können. Erst für das Kolleg von 1832/33 findet sich eine ganze Reihe von Marginalien, die zusätzliche Gedanken, Schematisierungen und Erweiterungen der Konzeption enthalten.44 Offenkundig verändert sich die Anordnung der bildenden Künste: Die 1819 im Rahmen der Architektur erwähnte schöne Gartenkunst wird 1832/33 als eine eigenständige Kunstform zwischen der Architektur und der Malerei behandelt; damit folgt die Skulptur nicht mehr der Architektur, sondern der Malerei. Diese Überarbeitungen hat Schleiermacher offenbar nach der Arbeit an den beiden Akademiereden »Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf eine Theorie derselben« (1831/32) vorgenommen; allein die dritte, unvollendete Abhandlung ist nach der Vorlesung, am Ende des Jahres 1833, entstanden. Sein letztes Ästhetik-Kolleg und seine Abhandlungen über den Begriff der Kunst sind aber nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich miteinander verwoben: Die dicht geschriebenen Akademiereden, die sich primär auf den Begriff der Kunst beziehen und auf die einzelnen Künste nicht näher eingehen, erhalten ihre ausführliche Darlegung in der Vorlesung. Aus der sich unter der Rubrik »Kunstgeschichte und Kunstlehre« findenden Ankündigung seines Kollegs für das Wintersemester 1832/33 im Lektionskatalog der Universität geht hervor, dass Schleiermacher vom 23. Oktober 1832 bis zum 29. März 1833 fünfmal wöchentlich zwischen 7 und 8 Uhr morgens Ästhetik las; es kamen bis zu 71 Zuhörer.45

Vgl. ÄOd, S. 288–317. Erst seit dem Sommersemester 1822 gibt es »Kunstgeschichte« als eigene Rubrik in dem Vorlesungskatalog der Berliner Universität. Vgl. Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810–1834, nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten, hg. v. Wolfgang Virmond, Berlin 2011, S. 712, 285. 44 45

Holden Kelm

XX I I I

2. Systematik und Kontext der Ästhetik Zur Ästhetik 1819 Schleiermacher beginnt sein Ästhetikmanuskript mit einer knappen historischen Einleitung über den Gegenstand und den Begriff der Kunst als einer Produktion, die der Naturproduktion ähnlich ist, aber durch menschliche Tätigkeit bewirkt wird: Das »Schöne [ist] freie menschliche Production«.46 Der schönen Kunst im Allgemeinen liegen nach Schleiermacher keine bestimmten praktischen oder theoretischen Zwecke zugrunde. Insofern sie aus einer freien Tätigkeit des Individuums hervorgeht, ist sie selbstzweckmäßig, wenngleich die Kunsttätigkeit aus der Perspektive der Ethik auch eine soziale und kulturelle Relevanz besitzt. Nach der Einleitung ist die Ästhetik in zwei Hauptteile untergliedert: einen allgemeinen spekulativen Teil, in dem das Wesen der Kunst erörtert wird, und einen besonderen Teil, der den Zyklus der einzelnen Künste beinhaltet. Im allgemeinen Teil findet die Ableitung der Ästhetik aus den Grundsätzen der Ethik statt, wonach die Kunstausübung eine der erkennenden Funktion ähnliche individuelle Tätigkeit ist, die ihren Grund im Gefühl hat, das das Bewusstsein des Menschen in der Welt bezeichnet. Ausgehend von der Identität des Gefühls mit seiner Darstellung im Rahmen der Ethik, konstatiert Schleiermacher in der Ästhetik, dass die künstlerische im Gegensatz zur kunstlosen Darstellung »Maaß und Wechsel« hat, was auf einen inneren Typus bzw. »Urbild« des Kunstwerks deute, das seiner konkreten Ausführung vorausgehen muss.47 Damit eine genuin künstlerische Darstellung entstehen kann, müsse ein Akt der »Besinnung« zwischen die Gefühlserregung und deren unmittelbare Äußerung treten, denn in diesem Akt generiert das Subjekt ein Urbild und reflektiert dabei auf ein Allgemeines und Verbindliches, aufgrund dessen die innere Bildung des Kunstwerks vollzogen und schließlich 46 47

Vgl. ÄOd, S. 5. Vgl. ÄOd, S. 31.

X XI V

Einleitung

äußerlich ausgeführt wird: »Die Kunst ist also hier die Identität der Begeisterung, vermöge deren die Aeußerung aus der inneren Erregung herrührt und der Besonnenheit vermöge deren sie aus dem Urbilde herrührt.«48 Schön ist ein Kunstwerk nach Schleiermacher dann, wenn in den internen Relationen seiner Gestalt eine Verbindung von elementarischer und organischer Vollkommenheit vorliegt, die dem Ideal als eine möglichst mangellose Erscheinung mit strenger Gemessenheit entspricht.49 Die drei wesentlichen Momente der Kunsttätigkeit sind demnach die Begeisterung oder Erregung des Gefühls, der Akt der Besinnung, der die innere Urbildung (durch die Fantasie) beinhaltet, und die äußerliche Darstellung des Kunstwerks.50 Insofern das Gefühl nur vermittelt durch die Besinnung in die Kunstproduktion einfließt, muss Schleiermacher einen neuen Begriff für diesen vermittelten Grund suchen und findet ihn in dem der »Stimmung«, die er als einen »Durchschnitt festgehaltener Affectionsmomente« bezeichnet, und welche auch auf das »freie Spiel der Fantasie« einwirke.51 Kunst spekulativ als »Organischwerden der Stimmung« und »freie menschliche Production« zu fassen, die einem »Kunsttrieb« entspringe, ermöglicht es Schleiermacher schließlich, die einzelnen Künste einheitlich zu bestimmen: »[D]ie Begeisterung aber ist nichts anderes als das Erregtwerden der freien Production durch die Stimmung. Also ist sie auch an sich dieselbe in allen Künsten, das jedesmal erneuerte Werden der bestimmten Kunst selbst aus dem allgemeinen Kunsttriebe.«52 Dieser produktionsästhetische Ansatz ist auch für gegenwärtige Ästhetikdiskurse von Interesse, denn er ermöglicht nicht Vgl. ÄOd, S. 31–33. Vgl. ÄOd, S. 99–101. 50 Vgl. ÄOd, S. 36–39. 51 Vgl. ÄOd, S. 52. Vgl. Peter Grove, »Der Grundton aller unserer Gefühle. Schleiermachers Begriff der Stimmung«, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik, Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, hg. v. Arnulf von Scheliha und Jörg Dierken, Berlin 2017, S. 533–552. 52 Vgl. ÄOd, S. 92. 48 49

Holden Kelm

XXV

nur einen kritischen Zugang zu Fragen nach der Medialität des Kunstwerks, sondern auch zu Fragen nach den anthropologischen Bedingungen der künstlerischen Praxis im Zeitalter der Digitalisierung ihrer Mittel. Das Verhältnis der einzelnen Künste zueinander entwickelt Schleiermacher aufgrund der Richtung dieses allgemeinen Kunsttriebs auf die Begeisterung und die Organe, mittels derer ein Kunstwerk sinnlich wahrnehmbar dargestellt und aufgefasst werden kann.53 Dementsprechend ist die spezifische Begeisterung für körperliche Bewegungen und musikalische Töne der Anfang der (subjektiven) Kunstzweige Mimik und Musik, die Begeisterung für regelmäßige bzw. organische Gestaltungen im Medium der anorganischen Materie der Anfang der (objektiven) Kunstzweige Architektur und Skulptur. Daraus gewinnt Schleiermacher die Einteilung der einzelnen Künste in die drei Abteilungen: I. »begleitende Künste« (Mimik, Musik) und II. »bildende Künste« (Architektur, Skulptur). Da das Manuskript 1819 in der Behandlung der Skulptur abbricht, kann auf den weiteren Verlauf nur aus den Kollegnachschriften geschlossen werden. Demnach müssten die bildenden Künste abschließen mit der Malerei und auf diese als III. Abteilung die »Poesie« folgen, in der die subjektiven und objektiven Aspekte der beiden anderen Abteilungen integriert werden. Eine Binnenunterteilung, die alle Kunstzweige durchläuft, findet Schleiermacher im Unterschied zwischen religiösem und geselligem Stil sowie im historischen Gegensatz zwischen Antike und Moderne.54 Zur Ästhetik 1832/33 Die grundlegende Dreiteilung der Ästhetik in historische Einleitung, allgemeinen spekulativen Teil und besonderen Teil zu den einzelnen Künsten, behält Schleiermacher auch im ÄsthetikKolleg 1832/33 bei. Allerdings ist der Umfang der überlieferten 53 54

Vgl. ÄOd, S. 45–48. Vgl. ÄOd, S. 69 f., 120.

X XV I

Einleitung

Nachschrift dieses Kollegs wesentlich größer als der des stellenweise sehr verdichteten Grundhefts 1819, was auch die Darlegung der drei Teile und der in ihnen behandelten Gegenstände betrifft. Dies erklärt sich zunächst aus der eingangs erwähnten Vorlesungspraxis Schleiermachers, aufgrund nur weniger eigenhändiger Notizen eine ausführliche Darlegung eines Sachverhalts zu entwickeln, die mit gegensatzorientierter Argumentation sowie mit Exkursen und Rekursionen operiert. Die ausführliche und vollständige Nachschrift von Alexander Schweizer trägt daher eher den Charakter einer problematisierenden Erörterung als den einer für den Druck bestimmten wissenschaftlichen Abhandlung, sie dokumentiert die sich über das Wintersemester erstreckende Vorlesung Schleiermachers ungekürzt und unlektoriert. Auch ist sie teilweise mit didaktischen Elementen durchsetzt, zu denen einige der Rekursionen auf bestimmte Grundsätze ebenso wie einige historische Exkurse gezählt werden können, was nicht zuletzt auf die Rolle Schleiermachers als Hochschullehrer der Philosophie verweist. Im Vorlesungszyklus 1832/33 sind einige terminologische Veränderungen und konzeptuelle Verschiebungen im Vergleich zur Ästhetik 1819 feststellbar, zu erwähnen ist insbesondere die Einführung des Terminus »unmittelbares Selbstbewusstsein«. Das ethische Konzept des »Gesamtbewusstseins«, in dessen Kontext die »freie Produktivität« nun gestellt wird, ersetzt zudem die systematische Stellung des Begriffs »Kunsttrieb« als dem allgemeinen Grund der Kunstproduktion. Im Folgenden wird auf diese Änderungen sowie auf systematisch aufschlussreiche und kontexterschließende Passagen der Vorlesungsnachschrift näher eingegangen, insofern diese im Grundheft 1819 nicht oder nur in verkürzter Form auftreten. Erörtert und diskutiert werden aus der historischen Einleitung die ideengeschichtliche Stellung der Ästhetik und die Diskussion des Verhältnisses von Kunst und Natur, aus dem allgemeinen Teil die Beziehung von Kunst, Ethik und Religion und aus dem besonderen Teil (sowie der dritten Akademieabhandlung) die Theorie der einzelnen Künste. Abschließend wird die Antike-Rezeption Schleiermachers im

Holden Kelm

X XV I I

Kontext der Weimarer Klassik und der Frühromantik untersucht, um die ideengeschichtliche Bedeutung seiner Ästhetik zu konkretisieren. Klassische deutsche Philosophie: Die historische Einleitung der Ästhetik 1832/33 enthält eine Diskussion der Geschichte der Philosophie der Kunst, beginnend mit Platons Äußerungen zur Unterscheidung von hervorbringenden und nachahmenden Künsten und weitergehend zur Mimesis-Konzeption in der Poetik des Aristoteles. Die neuere Geschichte der Ästhetik wird ausgehend von der Schulphilosophie von Leibniz und Wolff, der Kunsttheorie der Aufklärung, der Empfindsamkeit und der AutonomieÄsthetik erörtert. In Bezug auf die jüngste Philosophiegeschichte entwickelt Schleiermacher eine Theorie der »drei Avancements der Ästhetik«, die dazu geführt hätten, dass die Kunst als eine der höchsten menschlichen Errungenschaften gilt. Diese Theorie, die auch die wichtigsten Punkte der Genese seines eigenen produktionsästhetischen Ansatzes nachzeichnet, ist in Schleiermachers Marginalien zum Kolleg 1832/33 bereits als Skizze enthalten.55 In dieser Skizze schreibt Schleiermacher das erste Avancement der kantischen Ästhetik aufgrund ihrer Bestimmung der Kunst als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« und als »Verbindungsmittel« von theoretischer und praktischer Vernunft zu.56 Aus der Vorlesungsnachschrift wird ersichtlich, dass Kants Kritik der Urteilskraft (1790/93) für Schleiermacher das ausgezeichnete Beispiel einer »pathematischen« Konzeption der Kunst ist, die auf die Kategorisierung der Regeln der Bildung des Geschmacksurteils hinausläuft. Wenn es in der Ästhetik von 1819 heißt, dass bereits das Geschmacksurteil ein »dunkler Ansaz zur Produktivität« sei, Vgl. Manuskript des Grundhefts 1819 im Schleiermacher-Nachlass der BBAW (SN 109, S. 1). Vgl. Friedrich Schleiermacher’s Ästhetik, hg. v. Rudolf Odebrecht, Berlin 1931, S. 1. Odebrecht sieht allerdings nicht, dass die Skizze der drei Avancements zu den Marginalien 1832/33 gehören muss; er betrachtet sie als Anmerkungen zum Kolleg 1819, was aufgrund ihres Inhalts aber nicht der Fall sein kann; dazu im Folgenden mehr. 56 Vgl. ÄOd, S. 1. 55

X XV I I I

Einleitung

so wird diese Perspektive in der Nachschrift von 1832/33 fortgesetzt. Die Rezeptivität, das ästhetische Urteilsvermögen oder der Kunstsinn, werden auf die Produktivität des menschlichen Geistes zurückgeführt bzw. mit dieser ausgeglichen: »Also bleibt nur, den pathematischen Standpunkt und den productiven Standpunkt [. . .] in Eins zusammenzufassen«.57 Kant biete mit seinem formalästhetischen Ansatz zudem keine Erklärung dafür, wie schöne Kunst überhaupt entsteht: Schöne Gegenstände, ob sie in der Natur oder durch menschliche Tätigkeit hervorgehen, werden einfach als »Gegebenes« vorausgesetzt. Auch Kants Analogisierung des Schönen und Erhabenen mit dem Gegensatz von Naturund Freiheitsbegriff wird kritisiert: »[O]hne Künsteley kann man nicht erhabne Naturgegenstände leugnen, und auch nicht Schönes im sittlichen Gebieth.«58 Hingegen teilt Schleiermacher sowohl den hohen Wert, den Kant der Ästhetik und mit ihr der Sinnlichkeit als eigenständigen Bereich zwischen theoretischer und praktischer Vernunft einräumt, als auch die Bestimmung der schönen Kunst als selbstzweckmäßig weitgehend. Nach der kantischen zählt Schleiermacher in der Skizze auch die Ästhetik Schillers mit der Unterscheidung des »Naiven und Sentimentalen« zum ersten Avancement.59 In der Nachschrift wird Schiller mit seinem Konzept des freien Spiels vor allem als ein Wegbereiter des produktionsästhetischen Ansatzes dargestellt: »Als Dichter hatte er besondern Beruf dazu und seine speculirende Natur mußte nach dem Grund der Productivität fragen auf diesem Gebieth und das war der Wendepunkt für die Ästhetik sich auf die andre Seite zu wenden.«60 Schleiermacher hat hier vor allem die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), aber auch die Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« (1795) im Auge. An dieser Abhandlung kritisiert er den Gegensatz von naiver und sentimentaler 57 58 59 60

Vgl. in dieser Ausgabe S. 21. ÄOd, S. 5. Vgl. in dieser Ausgabe S. 8. Vgl. ÄOd, S. 1. Vgl. in dieser Ausgabe S. 9.

Holden Kelm

XX I X

Dichternatur und ihre Anwendung auf die antike und moderne Kunst, insofern Schiller es verpasst habe, den gemeinsamen Grund dieses Gegensatzes aufzusuchen und zu bestimmen. Das zweite Avancement der Ästhetik schreibt Schleiermacher in der Skizze Fichtes Verortung der Kunst als Beruf und Erziehungsmittel zu.61 In der Vorlesungsnachschrift heißt es dazu, Fichte habe den kantischen Ansatz derart modifiziert, dass auch seine Untersuchung den produktiven Ansatz der Kunst ins Zentrum stelle, wenngleich dieser im System der Sittenlehre (1798), auf das sich Schleiermacher hier hauptsächlich bezieht, nur am Rande diskutiert wird.62 Darin erhält der Beruf des ästhetischen Künstlers eine relativ hohe Stellung und wird auf seine ethische Bedeutung hin ausgeleuchtet, was einen Fortschritt der Theorie der Kunst bedeute. Zugleich aber tendiere die Kunst in Fichtes Theorie dazu, sich selbst abzuschaffen, weil der Kunstschatz, als ein zur Ausbildung des ästhetischen Sinnes nötiges Quantum, einem Zweck unterworfen und nicht geschichtlich gedacht wird: »Es dürfte also in der Menschheit nur eine einzige Kunstepoche geben, als Schaz, woraus immer diese Bildung des ästhetischen Sinns geschöpft werden kann.«63 Schelling wird nach Fichte auf die Stufe des zweiten Avancements gestellt mit der knappen Bemerkung: »bloße Tendenz, die bildende Kunst aus der Naturlehre zu construiren«.64 Damit verdeckt Schleiermacher wohl ein wenig die Bedeutung, die Schellings Schrift »Über das Verhältnis der bildenden Künste zur der Natur« (1807) für seine Ästhetik gehabt hat; zumindest finden sich in dem ersten Notizheft zu seiner Ästhetik-Vorlesung zahlreiche Exzerpte daraus.65 Aus der Nachschrift 1832/33 geht hervor, dass Schellings Begründung der Ästhetik durch die Naturphilosophie für Schleiermacher

Vgl. ÄOd, S. 1. Vgl. in dieser Ausgabe S. 9. 63 Vgl. in dieser Ausgabe S. 10. 64 Vgl. ÄOd, S. 1. 65 Vgl. Manuskript »Zur Aesthetik« im Schleiermacher-Nachlass der BBAW (SN 110), S. 1. 61 62

X XX

Einleitung

einerseits wegweisend ist, andererseits aber nicht konsequent genug durchgeführt wurde, insofern Schellings Fokus auf die bildenden Künste die Reflexion auf die Naturähnlichkeit etwa der Musik oder der Mimik beeinträchtige: »[U]nd fragt man, sollen die andern Künste auch aus der Naturwissenschaft begriffen werden, so geht das gar nicht füglich an.«66 Schellings erst 1859 publizierte Vorlesungen über die Philosophie der Kunst dürfte Schleiermacher vom Hörensagen gekannt haben, ob er über eine Nachschrift verfügt hat, von denen freilich mehrere zirkulierten, ist nicht überliefert. Die einleitenden Teile dieser Vorlesungen, die in Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803) eingegangen sind, hat Schleiermacher hingegen sicher gekannt, weil er eine Rezension dazu verfasst hat.67 Als Zwischenresultat seiner historischen Einführung hält Schleiermacher jedenfalls fest, dass es bis zu diesem Zeitpunkt zu keiner einheitlichen, alle Kunstzweige umfassenden Theorie der Kunst gekommen sei. Das dritte Avancement betrifft schließlich Hegel, bei dem Kunst »zum absoluten Geist« erhoben werde, wie es in der Skizze heißt, wozu dann Schleiermacher anmerkt: »Aber er tritt doch nicht ein, zerfällt in unbestimmte Vielgötterei, die Begeisterung in unfreies Pathos.«68 Was in der Forschung bisher noch nicht gesehen wurde, ist, dass die beiden Ausdrücke »unbestimmte Vielgötterei« und »unfreies Pathos« aus dem Kapitel über den »absoluten Geist« im Abschnitt über die »Kunst« in Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse von 1827/1830 stammen, Schleiermacher sie also von dort in seine Marginalien übernommen haben muss und es daher ein Irrtum wäre, diese Sequenzen als eine Kritik an Hegels Ästhetik zu inter-

Vgl. in dieser Ausgabe S. 11. Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Rezension zu: F. W. J. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, Tübingen 1803, in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 96, 21. April 1804, S. 137– 144 sowie Nr. 97, 23. April 1804, S. 145–152. 68 Vgl. ÄOd, S. 1. 66 67

Holden Kelm

XX XI

pretieren.69 Vielleicht haben gerade die Paragraphen zur Kunst Schleiermachers Aufmerksamkeit erregt und seine Bemerkungen über Hegels Ästhetik geprägt, weil sie am dichtesten an seine eigene Konzeption angrenzen, wenngleich er der Diskussion der Produktivität des künstlerischen Subjekts mehr Raum schenkt als Hegel.70 Demgegenüber dürfte Hegel Schleiermachers Ästhetik nur aufgrund der Ankündigungen im Lektionskatalog der Berliner Universität gekannt haben, er hielt seine Vorlesungen über die Philosophie der Kunst in den Semestern 1820/21, 1823, 1826 und 1828/29, also niemals zeitgleich mit Schleiermacher.71 Zu Hegels Ästhetik heißt es in der Vorlesungsnachschrift: »Bedenklich ist es, was noch in Wirklichkeit fortbesteht als Geschichtliches zu Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 19, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und H.-Chr. Lucas, Hamburg 1989, § 558: »Diese Bedeutung, der Inhalt, ist wie die Gestalt ein endliches überhaupt. – ein beschränkter Volksgeist, der zugleich zwar unendlicher Reichthum nur in der Allgemeinheit des Gedankens gefaßt, nicht in solcher Einzelnheit des Gestaltens explicirt werden kann, und wenn zu weiterer Bestimmung fortgegangen wird, in eine unbestimmte Vielgötterei zerfällt.« § 560: »Aber es ist hierin der Gegensatz vorhanden, daß die mit diesem inwohnenden Gehalte erfüllte Thätigkeit, die Begeisterung des Künstlers, wie eine in ihm fremde Gewalt als ein unfreies Pathos ist, das Produciren hiemit an ihm selbst die Form natürlicher Unmittelbarkeit, im Genie als diesem besondern Subjecte hat, – und zugleich ein mit technischem Verstande und mechanischen Aeußerlichkeiten beschäftigtes Arbeiten ist.« (Hervorhebungen H. K.) Der Erwerb der 2. Auflage von Hegels Enzyklopädie durch Schleiermacher ist im »Hauptbuch Reimer« mit dem Datum »26. 1. 1830« vermerkt. Vgl. Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlags G. Reimer, hg. v. G. Meckenstock, KGA, Abt. I, Bd. 15, Hamburg 2015, S. 637–912, 732. 70 Vgl. Holden Kelm, »Der Mensch als Anfang und Ende der Kunst? Anthropologische Aspekte in Hegels und Schleiermachers Ästhetik«, in: Hegel-Jahrbuch, Erkenne dich selbst – anthropologische Perspektiven, hg. v. A. Arndt, M. Gerhard, B. Bowman, J. Zovko, Berlin (vorauss. 2019). 71 Vgl. Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch, Leben – Werk – Schule, Stuttgart 2016, S. 384. 69

X XXI I

Einleitung

behaupten, aber als lezten Punkt muß es hier Plaz finden, ich meine die Hegelsche Philosophie, die [worin] die Kunst dem absoluten Geist zugeschrieben wird, genau verwandt mit Religion und Philosophie, d. h. zum Höchsten gehörig. Einlassen kann ich mich nicht, sondern nehme es nur als Fortsezung unsrer Linie, so daß Hegel die Kunst auf den höchsten Punkt stellt, da sie den höchsten Entwicklungen der Menschheit noch an die Seite gestellt ist, i. e. absolutes Maximum ihrer Werthschätzung, die gedacht werden kann.«72 Bemerkenswert an dieser Aussage ist, dass Hegels Ästhetik als eine »Fortsetzung unserer Linie« bezeichnet wird, also als ein Nachfolgeprojekt derjenigen Tradition, aus der heraus Schleiermacher seine eigene Ästhetik entwickelt. Auch fällt auf, dass Schleiermacher in dieser Skizzierung der jüngeren Ästhetikgeschichte (bis auf Schiller) vor allem Positionen der klassischen deutschen Philosophie thematisiert, wobei die Linie Kant – Schelling – Hegel noch für die heutige Diskussion der Ästhetik dieser Periode einschlägig ist. Allerdings hat diese Darstellung einen blinden Fleck: Die frühromantische Ästhetik erwähnt Schleiermacher mit keinem Wort und keinem Namen, wie auch sonst nirgends in seinen Schriften zur Ästhetik. Das könnte damit zusammenhängen, dass er als ehemaliger Protagonist der Frühromantik nicht auf sich selbst und seine Quellen verweisen will; auch ist anzunehmen, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits ein distanziertes Verhältnis zur Frühromantik hatte. Kunst und Natur: Bekanntlich hat Schleiermacher zeitlebens keine eigene Naturphilosophie ausgearbeitet, seine systematische Spekulation setzt aber neben der Ethik die Physik als eine ihr notwendig komplementäre und korrelative Wissenschaft voraus: Was die Ethik über die Struktur und Entwicklung des menschlichen Geistes in der Geschichte aussagt, hätte die Physik ihrerseits durch Aussagen über die Struktur und die Entwicklungsgesetze

72

Vgl. in dieser Ausgabe S. 12.

Holden Kelm

XX XI I I

der Natur zu erbringen.73 Offenbar erwarb Schleiermacher seine naturphilosophischen Kenntnisse nicht nur aufgrund eigener Studien und Beobachtungen, sondern auch durch seine Bekanntschaften, insbesondere durch seine Freundschaft mit dem Naturphilosophen und Schellingschüler Henrich Steffens (1773– 1845).74 Das Fehlen einer Naturphilosophie bedeutet jedoch nicht, dass Schleiermacher es gänzlich unterlassen hätte, Annahmen über die Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten in seine Vorlesungen und Abhandlungen einzubringen. So beginnt in der Einleitung zur Ästhetik eine Diskussion über die Bedeutung der Kunst als Nachahmung der Natur, die sich über die gesamte Vorlesung erstreckt und den grundlegenden Ansatz der Ästhetik als einer Philosophie der Kunstproduktion betrifft. Zunächst steht die Kritik an der aufklärerischen, sensualistischen und formalästhetischen Konzeption des Kunstschönen als »Nachahmung der Natur« im Vordergrund.75 Wenn schöne Kunst als Nachahmung von schönen Naturgegenständen betrachtet wird, dann liegt dem laut Schleiermacher die erkenntnistheoVgl. Schleiermacher, Ethik (1812/13), S. 5–18 (vgl. Fn. 8). Zudem notiert Schleiermacher in den Tageskalendern 1808 und 1809 seinen Besuch der Vorlesung des Mineralogen Dietrich L. G. Karsten (1768–1810) in Berlin und im Tageskalender 1828 den Besuch der öffentlichen Kosmos-Vorlesungen von Alexander von Humboldt (1769–1859). Vgl. Schleiermachers Tageskalender 1808–1834. Hg. Elisabeth Blumrich, Christiane Hackel und Wolfgang Virmond (http:// schleiermacher-in-berlin.bbaw.de/tageskalender/index.xql, zuletzt aufgerufen am 07. 04. 17). Vgl. Schleiermacher Nachlass der BBAW, SN 437, 438, 448. 75 Vgl. in dieser Ausgabe S. 6, 19. Die Position, Kunstschönheit basiere wesentlich auf der Naturschönheit, kam überwiegend bei Vertretern der Aufklärung und der Empfindsamkeit vor, in denen die aristotelische Mimesis-Konzeption noch wichtig war. Vgl. etwa Johann Christoph Gottsched, »Versuch einer Critischen Dichtkunst. Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Ueberall aber gezeiget wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe«, Leipzig 1730. 73 74

X XXI V

Einleitung

retische Annahme zugrunde, dass das Wohlgefallen, insofern es von schönen Gegenständen direkt bewirkt werde, ein unmittelbares Begehren und damit eine Willensbewegung erweckt, die auf die Reproduktion des schönen Gegenstandes und damit auf die Befriedigung des Begehrens ausgeht. Weil der Mensch schöne Naturgegenstände aber nicht selbst produzieren kann, bildet er sie nach »und dieses Nachbilden des in Natur Wohlgefälligen ist die Kunst«.76 Schöne Kunst bestünde also wesentlich in der möglichst genauen Beobachtung und naturgetreuen Reproduktion des beobachteten und als schön empfundenen Gegenstands. Diese Ansicht korrespondiert nach Schleiermacher weitgehend mit der »pathematischen« Konzeption der Kunst, wie sie in Kants Kritik der Urteilskraft durchgeführt wird. Als Gegenposition bringt Schleiermacher die Ansicht zur Geltung, dass schöne Naturgegenstände zwar das Gemüt und die Gefühle anregen, aber nicht direkt eine Willensbewegung erzeugen und damit auch keine direkte künstlerische Nachahmung bewirken können. Vielmehr führe die Erregung des Gefühls dazu, dass der Künstler die in ihm liegenden Formen selbsttätig und bewusst hervorbringt, womit er eine spezifische Qualität aufweist, die der Natur nicht per se zukommt: »Im Menschen ist ein Vermögen, innerlich Gestaltungen zu bilden und die dieses überwiegend haben, geben der ganzen Production die Regel, und sie machen also eigentlich die Schönheit, und man findet dann die Natur schön weil es mit dieser Regel, die der Mensch in sich hat zusammenstimmt.«77 Schöne Kunstwerke entstehen nach dieser Ansicht aufgrund der innerlichen Gestaltungsfähigkeit des Menschen, sie gleichen schönen Naturprodukten, weil beide

Vgl. in dieser Ausgabe S. 19. Vgl. in dieser Ausgabe S. 6. Dieser Standpunkt ist überwiegend ein Phänomen der Genie- und Autonomieästhetik sowie der Weimarer Klassik, in deren Kontext die antike Mimesis-Konzeption nur noch eine geringe Rolle spielte. Vgl. etwa Karl Philipp Moritz: »Über die bildende Nachahmung des Schönen«, Braunschweig 1788. 76 77

Holden Kelm

XX X V

auf ähnlichen Produktionsregeln basieren und daher als schön beurteilt werden können. Indem Schleiermacher die Ähnlichkeit von Kunst- und Naturproduktion ins Spiel bringt, kann er den Ausgangspunkt seiner eigenen Untersuchung näher bestimmen, die zum Ziel hat, einen Begriff der Kunst zu entwickeln, der alle einzelnen Kunstzweige notwendig umfasst. Hier kondensiert sich in der Formel der »freien Produktivität«, die auf dem Konzept der »freien menschlichen Produktion« von 1819 aufbaut, das grundlegende produktionsästhetische Theorem der Ästhetik Schleiermachers, das mit der Rezeptivität auch das Geschmacksurteil bzw. den Kunstsinn umfassen soll: »Das ganze Gebieth sey eine ursprüngliche Productivität.«78 Allerdings wird diese Produktivität im Kolleg 1832/ 33 weniger auf die »Stimmung« des Künstlers als vielmehr auf die Beweglichkeit des »unmittelbaren Selbstbewusstseins« bezogen: »So geht hervor, daß die Kunstthätigkeit eines jeden in ihrer bestimmten Art doch davon ausgehe, wie er als unmittelbares Selbstbewußtseyn als einzelnes, besonderes Leben sich verhält. Also die Art und Weise des unmittelbaren Selbstbewußtseyns ist doch die Quelle der Bestimmung der Kunstthätigkeit.«79 Diese terminologische Änderung, die offenkundig auf die Bestimmung des unmittelbaren Selbstbewusstseins in der Glaubenslehre von 1821/ 22 zurückgeht, bedeutet jedoch keine grundlegende Veränderung der Konzeption, weil das unmittelbare Selbstbewusstsein in der Ästhetik ein vergleichbares Begriffsfeld umschließt und eine nahezu identische systematische Funktion erfüllt wie das Gefühl bzw. die Stimmung.80 Aufgrund dieser Konzeption kann die Problematik der Nachahmung der Natur durch die Kunst eine Lösung weder in dem Verhältnis von Ur- und Abbild noch in dem einer gleichgültigen Koexistenz finden – vielmehr bringt Schleiermacher den Gegensatz von Realität und Idealität zur Geltung, der auf den Diskurs 78 79 80

Vgl. in dieser Ausgabe S. 21. Vgl. in dieser Ausgabe S. 97. Vgl. KGA, Abt. I, Bd. 7/1, S. 26.

X XXV I

Einleitung

der nachkantischen Vernunftkritik verweist.81 In der Nachschrift heißt es: »So erscheint die Bedeutung der Kunst wieder in ihrem wahren Werth als freye aus [der] Selbstthätigkeit des Geistes hervorgehende Wiederholung dessen auf ideale Weise, was die Natur auf reale vor unsren Augen thut.«82 Natur und Kunst sind demnach strukturanalog, weil ihre Produktionsweisen als Selbsttätigkeit und im weiteren Sinne als Organisation (das Individuelle als integraler Bestandteil des Allgemeinen) erfasst werden können. Zu beiden Produktionsweisen gehören produktive Kräfte, besondere Mittel und ein allgemeiner Bezugsrahmen (die Natur als solche bzw. die Gesellschaft). Diese Engführung von Natur und Kunst bezieht ihre Stärke daraus, dass Schleiermacher die von Kant bekräftigte Differenz zwischen dem Wirken nach Ursachen (Natur) und dem Tun nach einer Absicht (Kunst) aufgrund seiner in der Dialektik ausgeführten Konzeption der unmittelbaren Einheit von Sein und Denken als ein Verhältnis von realer und idealer Produktivität weiterentwickelt.83 Schöne Naturprodukte und schöne Kunstwerke unterscheiden sich demnach nur im Modus, wie sie sich konkret individualisieren: »Uns wohnen die verschiednen Formen des Seyns ein, wie sie auch in der Natur erscheinen, in dieser sind sie selbstständige Kräfte, in uns selbstständige Formen, in jener sind sie immer durch andre ebenfalls wirksame Kräfte gehemmt und modificirt; aber so wie dieselbe Idee in der menschlichen Auffassung das Gegebene ergreift, so hemmt ihn [den ursprünglichen Typus, H. K.] nichts, da er aus dem Organismus rein heraus bestimmt.«84 Das Kunstwerk des Künstlers enthält das Schöne demnach in konzentrierter und gemessener Form, während die Natur nur zufällig Vgl. Walter Jaeschke und Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik. 1795– 1845, Stuttgart 2012, S. 27–30. 82 Vgl. in dieser Ausgabe S. 153. 83 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg. v. Heiner F. Klemme, Hamburg 2009, S. 187 (§ 43). F. D. E. Schleiermacher, Vorlesungen über die Dialektik (vgl. Fn. 32). 84 Vgl. in dieser Ausgabe S. 122 f. 81

Holden Kelm

XX XV I I

und zerstreut Schönes produziert, insofern das Heraustreten der reinen Formen durch äußerliche Faktoren in der Regel alteriert bzw. gehemmt wird. Das mit Bewusstsein erzeugte Kunstprodukt kann die Vollkommenheit der Formen des Seins demnach adäquater darstellen als das Naturprodukt. Der Künstler tritt damit in gewisser Weise in einen »Wettkampf mit der Realität« mit der Tendenz, dass seine Produkte eine »qualitative Ergänzung der Natur« sind.85 Die Voraussetzung dieser Konzeption ist somit die spekulative Annahme, dass die Idealtypen der erscheinenden Formen in Natur und Kunst dieselben sind und der menschliche Geist diese im Kunstwerk (wie die Natur im Naturprodukt) in selbsttätiger Weise hervorbringt. Hiermit löst Schleiermacher die in der Einleitung in kritischem Anschluss an Schellings Philosophie der bildenden Künste ins Spiel gebrachte Korrelation von Kunst- und Naturphilosophie konzeptionell ein, wobei er sich auch an Hegels Ästhetik insofern annähert, als auch darin der Unterschied zwischen Natur- und Kunstschönem deutlich gemacht und an die Erkenntnis- und Darstellungsfähigkeit des Ideals durch den menschlichen Geist geknüpft wird.86 Kunst, Ethik und Religion: Während die historische Einleitung vor allem durch die philosophiehistorische Herleitung der freien Produktivität und die Diskussion der Kunst als Nachahmung der Natur geprägt ist, wird im allgemeinen spekulativen Teil der Ästhetik 1832/33 ausführlich auf die ethischen Grundlagen der freien Produktivität eingegangen, bevor die künstlerische Tätigkeit als solche in ihren einzelnen Momenten (Begeisterung, Urbildung bzw. geistige Vorbildung und äußere Darstellung)

Vgl. in dieser Ausgabe S. 329. Wenngleich Hegel das Ideal der Kunst konkret durch die menschliche Gestalt bestimmt und daher enger an die Skulptur (klassische Kunstform) anbindet. Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, Sommersemester 1823, Nachschrift H. G. Hotho, in: Gesammelte Werke, Bd. 28,1, hg. v. Niklas Hebing, Hamburg 2015, S. 228, 234–238, 248, 285–289. 85 86

X XXV I I I

Einleitung

thematisiert und in Bezug auf besondere Kunststile und einzelne Kunstzweige ausgeführt wird. »Wir unterscheiden in den menschlichen freyen Thätigkeiten solche, von denen wir voraussezen, daß sie von Allen [. . .] auf dieselbe Weise verrichtet werden und vorkommen, identische Thätigkeiten; und dann auch solche, bey denen wir gleich die Verschiedenheit voraussezen: individuelle Thätigkeiten.«87 Diese Unterscheidung von identischen und individuellen freien Tätigkeiten geht auf Schleiermachers Ethik zurück, wo sie (so etwa im Entwurf von 1812/13) im Rahmen der Güterlehre erörtert wird: Erstens differenziert Schleiermacher darin zwischen identischen und individuellen und zweitens zwischen symbolisierenden und organisierenden Tätigkeiten. Die Kunstausübung wird in diesem vierfachen Schema als eine individuell symbolisierende Tätigkeit dargelegt, die auf der Seite der symbolisierenden Tätigkeiten dem identischen Denken entgegengesetzt ist.88 Näher bestimmt wird die Kunsttätigkeit als äußere Darstellung des Gefühls, das den Ausgangspunkt der freien individuellen Tätigkeiten darstellt und dessen eigentliche Sphäre die Religion sei. Indem sie als freie Tätigkeit bezeichnet wird, wird die Kunsttätigkeit als eine Art und Weise der Produktivität sichtbar, die von äußeren und mechanischen Bedingungen abgelöst und insofern selbstzweckmäßig ist. Damit stehen den freien (symbolisierenden) die gebundenen (organisierenden) Tätigkeiten gegenüber, die in den ethischen Formen des Staats (als identische Tätigkeiten) und der Familie (als individuelle Tätigkeiten) versieren.89 Wäre Kunst auf die individuelle Tätigkeit des unmittelbaren Selbstbewusstseins beschränkt, so würden die mannigfaltigen Produktionen unbestimmt und ohne allgemeinen Zusammenhang erscheinen, den die Ästhetik als kritische Disziplin im Ausgang von der Ethik allerdings aufzuweisen hat. Erfüllte in der Vgl. in dieser Ausgabe S. 35. Vgl. Schleiermacher, Ethik (1812/13), S. 23–30 (vgl. Fn. 8). 89 Vgl. Sarah Schmidt, Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, Berlin 2005, S. 304. 87 88

Holden Kelm

X X XI X

Ästhetik 1819 der Begriff des »Kunsttriebes« die Funktion, den allgemein-menschlichen Motivationsgrund der Kunstproduktion zu bezeichnen, so verwendet Schleiermacher diesen Begriff im Kolleg 1832/33 nicht mehr. Den naturphilosophisch konnotierten Begriff des »Kunsttriebs«, der den Menschen als ein Naturwesen erfasst, das in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und in der Reflexion seines Instinkts spezifische und als schön empfindbare Gestaltungen hervorbringt, behandelt Schleiermacher in seinen Vorlesungen über Psychologie näher.90 In der Ästhetik 1832/33 wird das ethische Fundament der Kunstproduktion stattdessen durch den Begriff des »Gesamtbewusstseins« näher bestimmt: Das Gesamtbewusstsein bringt die mehr oder weniger starke Eingebundenheit der Kunsttätigkeit in das öffentliche Leben sowie die ethische Motivation der Kunstproduktion zur Geltung. Dieser ethische Grund lässt sich etwa mit dem vergleichen, was in Hegels Geistesphilosophie als »Sittlichkeit« im »objektiven Geist« thematisch wird.91 Während Kunst bei Hegel als Selbsterfassungsweise des aus dem objektiven Geist hervorgehenden und in seiner Geschichtlichkeit auf diesen zurückverweisenden absoluten Geistes begriffen wird, so ist die Kunsttätigkeit bei Schleiermacher als ein integraler Bestandteil der Ethik, die er einmal als »Wissenschaft von der Geschichte« bezeichnet, auch Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Psychologie. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und aus nachgeschriebenen Heften, hg. v. Ludwig George, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, 3. Abt., 6. Bd., Berlin 1862. Über den Begriff des Kunsttriebs in Schleiermachers Psychologie vgl. Thomas Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, Stuttgart 1987, S. 147–152. 91 Hegel unterteilt seine Philosophie des Geistes bekanntlich in eine Philosophie des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes, was insbesondere in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften deutlich wird. Zum objektiven Geist gehört die Untersuchung des Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit (Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Weltgeschichte), welche detailliert in den Grundlinien der Philosophie des Rechts durchgeführt wird. Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: GW 14, 1, hg. v. Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann, Hamburg 2009. 90

XL

Einleitung

wesentlich geschichtlich disponiert.92 Bekanntlich waren Hegel und Schleiermacher auch die ersten, die den Terminus Geschichtlichkeit in ihren Vorlesungen (zur Geschichte der Philosophie bzw. zur Ethik) verwendet haben. Die Richtung eines Kunstwerks auf das öffentliche Leben ist für Schleiermacher ein Qualitätsmerkmal und steht in Verbindung mit der Verbreitung der freien Produktivität: »Je mehr sie noch mit den gesamten Kräften an gebundne Thätigkeit gewiesen ist, desto weniger wird die ganze Gesellschaft zu freyer Production kommen, und nur allmählich entwickelt es sich. Wenn es sich entwickelt, so will es auch zum Gesamtbewußtseyn gelangen und dieses ist in jeder Kunst die Richtung auf das öffentliche Leben und diese [Richtung, H. K.] wird das größte in der Kunst seyn.«93 Auch würden die verschiedenen Künste ihre größte Wirkung erst in der Öffentlichkeit hervorbringen. Dabei ist jeder einzelne Kunstzweig verschieden stark auf das Gesamtbewusstsein bezogen, so etwa gründet die Poesie nach Schleiermacher überwiegend auf diesem, wobei er insbesondere an das antike Epos und die Mythologie denkt, während im Rahmen der Malerei vor allem die Historienmalerei eine Richtung auf das öffentliche (religiöse und politische) Leben hat, wohingegen Mimik und Musik überwiegend von der Beweglichkeit des einzelnen Selbstbewusstseins ausgehen. Allerdings kann alle Kunst »auch in der größten Composition vom Gesamtbewußtseyn aus« aufgrund ihrer individuellen Produktion nur als Einzelnes hervortreten.94 Sind Natur und Kunst als komplementäre Produktionsweisen der idealtypischen Formen des Seins dargelegt worden, so erlangt die Ethik für Schleiermacher hierbei die Bedeutung einer historischen Möglichkeitsbedingung für die freie Produktivität der Kunst. Die ethische Relevanz der Kunstproduktion zeigt sich insbesondere im Wechselverhältnis von Kunstproduktion und -re92 93 94

Vgl. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805/06, S. 80 (vgl. Fn. 27). Vgl. in dieser Ausgabe S. 108. Vgl. in dieser Ausgabe S. 142.

Holden Kelm

XL I

zeption, die pointiert in der Ethik 1812/13 im Rahmen der vollkommenen ethischen Form der Kirche ausgedrückt wird: »Die höchste Tendenz der Kirche ist die Bildung eines Kunstschazes, an welchem sich das Gefühl eines jeden bildet, und in welchem jeder seine ausgezeichneten Gefühle niederlegt und die freien Darstellungen seiner Gefühlsweise, so wie sich auch jeder, dessen darstellende Production mit seinem Gefühl nicht Schritt hält, Darstellungen aneignen kann.«95 Künstlerische Darstellungen können demnach im Rezipienten einen Gefühlszustand hervorrufen, der eine Verinnerlichung, Erwiderung oder kreative Reproduktion des Rezipierten zur Folge haben kann. Insofern liegt eine wesentliche ethische Bedeutung der Kunstproduktion nach Schleiermacher in ihrem Potenzial, die Gefühle und damit die Religiosität und den Kunstsinn der Rezipierenden anzuregen und zu bilden. Indem in schönen oder idealen Kunstwerken auf symbolische Weise ein Allgemeines dargestellt wird, können sie zur Selbstreflexion und Selbstbestimmung des Individuums als Bestandteil einer Gemeinschaft beitragen. Mit der Folgebestimmung von Gefühl, Äußerlichwerden des Gefühls und dem Verständnis des geäußerten Gefühls in der Gemeinschaft, welches wiederum verinnerlicht und erneut zur Darstellung drängen kann etc., zeichnet sich in der Ethik somit eine Theorie der Zirkulation ästhetischer Wissensformen ab, die einen Erklärungsansatz dafür bietet, wie sich eine Kultur aufgrund der Erzeugung, Verbreitung und Verinnerlichung von symbolischen Formen konstituiert.96 Auf den Konnex von Kunst und Religion geht Schleiermacher in der Ästhetik-Vorlesung 1832/33 offenbar nicht explizit ein. Vielmehr wird »das Religiöse« hier allgemein als das »Bestimmtseyn des Selbstbewußtseyns durch das Seyn« bezeichnet, d. h. dass der innere Wechsel der Empfindungen im Leben des IndiviVgl. Schleiermacher, Ethik (1812/13), S. 122 (§ 213) (vgl. Fn. 8). Vgl. Cornelia Richter, Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer – kulturphilosophische Symmetrien und Divergenzen, Tübingen 2004. 95 96

XLII

Einleitung

duums (seine Unmittelbarkeit) durch die Mannigfaltigkeit des Seins in seinem Wechsel bedingt ist.97 Hierin liegt offenkundig ein Rekurs auf die widersprüchliche Bestimmung der Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins als schlechthin abhängig in der Glaubenslehre von 1821/22.98 Insofern dieses Bestimmtsein des Selbstbewusstseins grundlegend für seine psychische Dynamik, seine Emotionen und Stimmungen ist, ist die Ausgangslage seiner Kunsttätigkeit, gleich ob sie mehr vom allgemeinen oder einzelnen Bewusstsein ausgeht, eine religiöse. Die Aussage aus dem Brouillon, dass die »wahre Ausübung der Kunst religiös« sei, wird in der Ästhetik 1832/33 jedoch differenziert: Um ein schönes religiöses Kunstwerk, wie etwa ein Gemälde der Heiligen Familie, hervorzubringen, muss der Künstler nicht notwendig an einer besonderen religiösen Gesinnung teilhaben: »[D]ie christliche Mahlerey hat Gegenstände der heiligen Geschichte. Da könnte man leicht schließen, die Bestimmung dieser Gegenstände entstehe in Künstlern aus besondrer religiöser Gesinnung; sieht man sie aber auch heidnische religiöse Gegenstände behandeln, so verschwindet der Schluß. [. . .] Ein heiliges Gemählde, ob dem Künster aufgegeben, oder rein aus ihm, darf sich gar nicht unterscheiden.«99 Die Voraussetzung des Selbstbewusstseins, durch das Sein bestimmt und insofern religiös zu sein, wird durch diese Differenzierung nicht tangiert; sie bedeutet aber, dass christliche Kunstwerke nicht notwendig mit einer intensiv gelebten christlichen Religiosität zusammenfallen müssen, das Verhältnis von Kunst und historischer Religion also differenzierter und in historischer Dimension betrachtet werden muss: »Betrachten wir die Kunstthätigkeit in ihrer geschichtlichen Entwicklung und finden Perioden, wo gewisse Gegenstände dominiren und andre, wo andre, so hängt das schwerlich so zusammen, daß diese Differenzen [. . .] nur in den Künstlern selbst [sind, H. K.], son-

97 98 99

Vgl. in dieser Ausgabe S. 51. Vgl. KGA, Abt. I, Bd. 7/1, S. 31–38. Vgl. in dieser Ausgabe S. 170 f.

Holden Kelm

XL I I I

dern im Gesamtleben, das den Künstlern zu verschiednen Zeiten verschiedne Gegenstände gibt.«100 Die Kunstproduktion und -rezeption ist demnach an die Geschichtlichkeit einer Gesellschaft, eines Staates und einer Kultur gebunden. Wenn die Loslösung von äußeren Bindungen (erwähnt werden als begünstigende Faktoren die Abschaffung der Leibeigenschaft und der Knechtschaft) die Voraussetzung der Kunsttätigkeit als freier Produktivität ist, dann ist von ihrer Verbreitung auch eine freiheitliche, kultivierende und egalitäre Entwicklung zu erwarten: »[U]nd so wird die Entwicklung der Kunstthätigkeit das allmählige Verschwinden der zu großen Ungleichheit im Leben überhaupt befördern, und da zur ethischen Entwicklung gehört, daß jeder sich allen Andern gleich sezt und weiß, so ist das eine ethische Wirkung der Kunst«.101 Unerachtet des möglichen Einwands, dass die Selbstzweckmäßigkeit der Kunst hierbei tangiert wird, wird ersichtlich, dass die systematische Forderung Schleiermachers, die Ästhetik sei als eine kritische Disziplin der Ethik auszuführen, im Kolleg 1832/33 umfassender eingelöst ist als in dem von 1819. Zur Theorie der einzelnen Künste: Die Behandlung der einzelnen Künste, die im dritten Teil der Ästhetik erfolgt, setzt nach Schleiermacher ihre historisch gewordene Gestalt voraus: Die Theorie der Kunst folgt den Resultaten der künstlerischen Praxis, die in der Geschichte der Kunst ihre positive Darstellung finden. Hauptgesichtspunkt der Einteilung der Künste nach Schleiermacher ist die Art und Weise ihres organischen Hervortretens, allerdings ohne dabei auf den technischen Aspekt der Herstellung näher einzugehen, insofern dieser auf die gebundenen (organisierenden) Tätigkeiten verweist. Warum sich Vgl. in dieser Ausgabe S. 171. Vgl. in dieser Ausgabe S. 137. Zu den Bedingungen der Verbreitung der Kunst zählt Schleiermacher auch den öffentlichen Geschmack sowie die technischen Bedingungen der Kunstreproduktion, wie etwa den Kupferstich oder die Lithographie (S. 358, 401). 100 101

XLIV

Einleitung

die freie Produktivität auf ein bestimmtes Element konzentriert und sich darin künstlerisch entfaltet, ist die leitende Frage der Einteilung der einzelnen Künste. Es liegt nach Schleiermacher (so bereits in der Ästhetik 1819) an der spezifischen Begeisterung des Künstlers, aufgrund derer er sich eines bestimmten Bereichs des Sinnlichen (Gesten, Tönen, Stoffen, Farben etc.) oder bestimmten Vorstellungswelten (Bilder, Gedanken) und der entsprechenden Organe bzw. Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten hauptsächlich annimmt. »Also der, dem diese Richtung auf freye Productivität ein bestimmtes innres Sprechen wird, der wird Dichter.«102 Ein weiterer Gesichtspunkt der Einteilung ist die Unterscheidung von subjektivem und objektivem Bewusstsein, insofern die freie Produktivität sich entweder als unmittelbares Selbstbewusstsein in Bezug auf etwas Objektives durch Bewegungen (körperliche oder klangliche) entäußert, oder als gegenständliches Bewusstsein selbsttätig mit objektiven Elementen wie Bildern oder (auch sprachlichen) Vorstellungen operiert. Insofern die subjektive Form den Bezug des Selbstbewusstseins auf etwas Anderes impliziert, nennt Schleiermacher die Künste, die zu ihr gehören (1.) die begleitenden Künste (Mimik, Musik), während in der objektiven Form die aktive Gestaltbildung von Bildern oder Gedanken dominiert, weshalb sie in die Abteilungen (2.) bildende Künste (Architektur, schöne Gartenkunst, Malerei, Skulptur) und (3.) Poesie unterteilt wird, wobei Poesie als höchste Form der Kunst zugleich die Verbindung von subjektiven und objektiven Elementen leisten soll.103 Ähnlich wie in der Ästhetik 1819 durchläuft die Unterscheidung von religiösem und geselligem Stil die Besprechung aller einzelnen Kunstzweige: Der religiöse Stil wird in der Ästhetik 1832/33 jedoch deutlicher auf die Richtung eines Kunstzweigs zurückgeführt, durch die die zugehörigen Kunstwerke auf das Gesamtbewusstsein bzw. das Gesamtleben bezogen sind (z. B. 102 103

Vgl. in dieser Ausgabe S. 116. Vgl. in dieser Ausgabe S. 184.

Holden Kelm

X LV

das geistliche Oratorium, das Kirchenlied, das religiöse oder mythologische Gemälde oder das Epos). Demgegenüber wird der gesellige Stil mehr auf das einzelne Bewusstsein bzw. das Einzelleben bezogen bzw. geht von diesem aus (wie der Tanz, insb. das Soloballet, die Tanzmusik, die Oper oder der bürgerliche Roman).104 In der Forschung wurde diese Einteilung und ihr Anspruch, alle Künste von einem einheitlichen Begriff abzuleiten, bereits problematisiert, zunächst bezüglich der Zuordnung der Musik zu den begleitenden Künsten.105 Denn diese Zuordnung hat zur Folge, dass auch die Instrumental- oder die Kammermusik als begleitende Künste erscheinen, wobei unklar ist, was sie eigentlich begleiten, wenn sie in sich selbst vollendete Kunstwerke sein wollen. Die Bezeichnung als begleitende Kunst bringt Schleiermacher mit den kulturhistorischen Wurzeln der Musik in Verbindung: Es war eine verbreitete Annahme seiner Zeit, dass Musik und Sprache in enger Verbindung miteinander entstanden sind und insofern Musik zunächst immer begleitend auf Sprache bezogen war.106 Auch ermöglicht ihm der Terminus »begleitend« in systematischer Hinsicht, eine Verbindung zu den begleiteten Künsten – etwa zur Poesie – herzustellen. Zudem wurde an dieser Einteilung kritisiert, dass es Schleiermacher nicht gelungen sei, klarzustellen, inwiefern die objektiven Künste wie Skulptur

Vgl. in dieser Ausgabe S. 142. ÄOd, S. 69. 105 Vgl. Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie, S. 126 f., 138 (vgl. Fn. 6). 106 Vgl. etwa A. W. Schlegel in seinem Aufsatz »Über Poesie, Sylbenmaaß und Sprache«, in: »Die Horen«, 1796, 1. Stück, V., »Dritter Brief«, S. 54–73, 58: »Dagegen wissen wir historisch, daß die meisten Völker nie eine eigentliche, das heißt ohne Gesang für sich bestehende, Instrumentalmusik gekannt haben, und daß diese, wo sie etwa eingeführt ward, zu den späten, schwächenden Verfeinerungen der Kunst gehörte. Das Werkzeug des Gesanges bringt der Mensch mit auf die Welt, es begleitet ihn in jedem Augenblicke seines Lebens, und die Antriebe des Gefühls setzen es früh auf mannichfaltige Weise in Bewegung: die ersten unförmlichen Lieder mußten daher ohne Absicht, fast ohne Bewußtseyn entstehn.« 104

X LV I

Einleitung

und Malerei gleichermaßen von der Innerlichkeit des Künstlers ausgehen wie die subjektiven Künste Musik und Mimik, d. h. dass die Bewegungen des unmittelbaren Selbstbewusstseins nicht wie die Bilder und Vorstellungen des gegenständlichen Bewusstseins von dem Begriff der Begeisterung aus deduziert werden könnten.107 Ein Blick auf die »Akademiereden« über den Begriff der Kunst erlaubt eine nähere Untersuchung dieser Problematik. Wohl aufgrund der ihrem Zweck angemessenen Kürze spricht Schleiermacher darin nicht vom (unmittelbaren) Selbstbewusstsein, sondern schlicht vom Künstler. Grundlegend für den einheitlichen Begriff der Kunst ist wiederum ihre Bestimmung durch die »Besinnung« und die Einteilung der Kunsttätigkeit als solcher in die drei Momente Erregung, Urbildung und äußere Darstellung. Unterschieden wird auch hier die eigentliche Kunst von kunstvoll vollzogenen, gebundenen Tätigkeiten (z. B. Predigt) bzw. kunstvoll gestalteten Arbeitsmitteln (z. B. verziertes Werkzeug). Bezüglich des Gelingens seines Unternehmens nimmt Schleiermacher in seiner letzten Abhandlung von 1833 in Anspruch, mit der Bestimmung der schönen Kunst als »Selbstmanifestation« des Künstlers und dem Gegensatz von subjektiven und objektiven Kunstzweigen ein autonomes und einheitliches Gebiet für alle schönen Künste dargelegt zu haben: »Nehmen wir aber nun noch den andern Satz dazu, daß es keine andere Selbstdarstellung gibt als vermittelst der Bewegung und des Tons oder auch der Gestaltbildung und der Rede: so ist auch, sofern die Behauptung richtig

Vgl. Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie, S. 73 (vgl. Fn. 6). Rudolf Odebrecht, Schleiermachers System der Ästhetik, Berlin 1932, S. 134. Scholtz verteidigt Schleiermachers Ansatz gegen Odebrechts Kritik, die Entgegensetzung von subjektiven und objektiven Künsten im Kolleg 1832/33 würde zu Konfusionen führen, die auch auf das hohe Alter Schleiermachers verweisen. Nach Scholtz ist die Methode Schleiermachers, einen konkreten Gegenstand von zwei Extremen her zu entwickeln, vielmehr ein grundlegender Ansatz all seiner philosophischen Abhandlungen. 107

Holden Kelm

X LV I I

ist, dadurch zugleich bestimmt, daß es keine andern Künste geben kann als die dort aufgeführten.«108 Schleiermacher führt nun selbst zwei Einwände gegen seine Konzeption an: Zunächst sei in der Bestimmung der freien Kunsttätigkeit als Selbstmanifestation des Künstlers unklar geblieben, welchen Kunstwert das resultierende Werk besitzt: Es scheint daraus zu folgen, dass kein Unterschied etwa zwischen dem Gemälde eines unbekannten Anfängers und eines berühmten Meisters bestünde.109 Zweitens bleibe in der Theorie unbestimmt, was sich in der Kunsttätigkeit genau manifestiere, ob in allen Künsten dasselbe oder etwas je Spezifisches, was direkt die begriffliche Einheit der Kunst und die Einteilungsgründe ihrer Zweige betrifft. Dieser Einwand gestaltet sich so: Wenn es allein die Affektion des Individuums wäre, die in allen Kunstwerken auf eine besondere Art zugegen ist, dann könnte nicht von allen Künsten gleichermaßen als von einer Selbstmanifestation des Künstlers gesprochen werden, sondern nur in Bezug auf die subjektiven Künste Mimik und Musik, da sie dem unmittelbaren Gefühl am nächsten liegen. Es bliebe dabei unklar, wie die Affektion für die bildenden und redenden Künste anders eine Rolle spielen könnte denn als Auslöser einer höheren (und dann spezifischen) Begeisterung, die zur Urbildung führt. Genau dies bekräftigt Schleiermacher auch: Es müsse ein deutlicher Unterschied gemacht werden zwischen einer einfachen Gefühlserregung, wie sie im Alltagsleben vorkommt und zu unwillkürlichen Ausdrucksweisen beiträgt, und der »höheren Aufregung«, die zur Besinnung und der durch sie vermittelten Kunstproduktion führt, die je nach der Spezifität der Begeisterung eine andere Richtung nimmt.110 Leider bricht das Manuskript an dieser Stelle ab, wo der Leser eine ausführlichere Erörterung dieses Einwands erwarten könnte. In Schleiermachers vorbereitenden Notizen zu dieser dritten Abhandlung findet sich indes eine Notiz, die in der Forschung 108 109 110

Vgl. in dieser Ausgabe S. 488. Vgl. in dieser Ausgabe S. 487. Vgl. in dieser Ausgabe S. 484, 488.

X LV I I I

Einleitung

bisweilen als ein verschollener Zusatz zur dritten Abhandlung angesehen wurde: »Es ist natürlich, da niemand die Mimik der Poesie gleichstellen wird, als welche der Gipfel aller Kunst ist, daß diese nicht ganz ans Licht kommen konnte, wo von jener ausgegangen war; und wir werden nicht besser thun können, als das Verfahren umzukehren und von den Künsten, welche es mit Gestaltbildung und Rede zu thun haben, ausgehen. Wenn wir dann die Ergebnisse beider Wege ineinander bauen, wird sich das ganze vollenden.«111 Diese Notiz wurde insbesondere von Odebrecht als Indiz für die Konfusion von Schleiermachers reifer Ästhetik herangezogen. Sie ist dem Reinschriftfragment der dritten Abhandlung erstmals durch Ludwig Jonas in der Ausgabe der Akademiereden der Sämmtlichen Werke von 1835 mit der Bemerkung angefügt worden, darin wäre das am Ende der Abhandlung nur aufgeworfene (zweite) Problem zumindest ansatzweise gelöst. Diese Bemerkung von Jonas ist jedoch leicht irreführend, weil diese Notiz im Kontext der anderen vorbereitenden Notizen zur dritten Abhandlung, zu denen sie ursprünglich gehört, gesehen werden muss.112 Die Feststellung, dass die Poesie nicht ausführlich behandelt werden konnte, findet sich auch ganz am Ende der Vorlesungsnachschrift 1832/33: »Ins Einzelne könnte man nur gehen, wenn man eine eigne Vorlesung über Poesie hielte, die nun hier als das lezte am schlimmsten weggekommen ist.«113 Die Frage aber, was genau sich im Kunstwerk mit dem indiviVgl. F. D. E. Schleiermacher, Reden und Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und aus nachgeschriebenen Heften, hg. v. Ludwig Jonas, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, 3. Abt, 3. Bd., Berlin 1835, S. 224: Vgl. Rudolf Odebrecht, Schleiermachers System der Ästhetik, 1932, S. 134. Vgl. KGA, Abt. I, Bd. 11: Akademievorträge, hg. v. M. Rössler, Berlin / New York 2002, S. 793. 112 Ab Seite 13 des Manuskripts SN 110 (Schleiermacher-Nachlass der BBAW), das Aphorismen, Exzerpte und Anmerkungen von Schleiermacher zu ästhetischen Gegenständen enthält, finden sich die vorbereitenden Notizen zur dritten Abhandlung. 113 Vgl. in dieser Ausgabe S. 446. 111

Holden Kelm

X L IX

duellen Selbst des Künstlers manifestiert und ob dies in allen Künsten identisch ist, wird durch die von Jonas angehängte Notiz nicht beantwortet. Sie zeigt vielmehr das für Schleiermacher typische Verfahren des Ausmittelns, bei dem der problematisierte Sachverhalt von zwei Extremen aus entwickelt wird, wenngleich zugestanden werden muss, dass es Schleiermacher nicht mehr gelungen ist, die Einteilung seiner Ästhetik auch von den objektiven Künsten aus, d. h. im Ausgang der Poesie, zu entwickeln. Insofern steht es der Interpretation offen, Schleiermachers Ästhetik weiter zu denken und den angesprochenen Problemen zu begegnen. Eine mögliche Antwortstrategie auf den zweiten Einwand wäre, von den drei Momenten der Kunstausübung diejenigen herauszustellen, die in allen Kunstzweigen identisch sind und mit dem Selbst des Künstlers zum Ausdruck kommen, sowie diejenigen, die in jedem Kunstzweig spezifisch sind. Der Ausgangspunkt ist bekannt: Der Künstler bezieht sich im Akt der Besinnung auf seine Gefühle, seine Stimmung und vermittels dieser auf etwas Allgemeines, das sich im Kunstwerk in symbolischer Form manifestiert. Das Symbolisieren dieses Allgemeinen wird im zweiten Moment der Kunstausübung, der Urbildung des Kunstwerks, aufgrund eines Bezugs auf die idealtypischen Formen des Geistes vollzogen, indem die einzelnen Elemente der Stimmung von ihrer äußerlichen Bestimmtheit abgelöst werden, durch das freie Spiel der Fantasie rekombiniert werden, ihnen ein besonderes Maß verliehen und daraus ein organisches Ganzes gebildet wird. Die idealtypischen Formen bilden hierbei sozusagen die Matrix aufgrund derer die aus der Wahrnehmung aufgenommenen Elemente durch die Stimmung zu einem Urbild geformt werden, das einen vernünftigen Gehalt aufweist und als schön beurteilt werden kann. Wenn allerdings die Tätigkeit der Fantasie nur in den objektiven Kunstzweigen vorkommen soll, weil die subjektiven Künste ohne gegenständliche Elemente auskommen und direkt von der Bewegtheit des Selbstbewusstseins ausgehend symbolische Gestalten des Allgemeinen hervorbringen, dann ist der Prozess der Urbildung (mindestens) in den objektiven und subjektiven Kunstzweigen zu unterscheiden. In-

Einleitung

L

sofern also in der Urbildung bereits inhaltliche Elemente eine Rolle spielen, die darüber entscheiden, zu welchem Kunstzweig das resultierende Kunstwerk gehört (eine bestimmte Abfolge von Tönen, dreidimensionale Bilder, metrische Verse), so wäre die Urbildung nur in formaler Hinsicht in allen Kunstzweigen identisch. Auch das dritte Moment der Kunsttätigkeit, die äußere Darstellung, muss zwar in jedem Kunstzweig notwendig erfolgen, wenn Kunst eine indirekte Mitteilung oder Selbstmanifestation des Künstlers sein soll, sie betrifft aber materialiter bereits das Spezifische eines jeden Kunstzweigs, d. h. die äußere Gestalt des Kunstwerks. Insofern ist der einheitliche Begriff der Kunst in Schleiermachers Ästhetik nur in Hinblick auf das erste Moment der Kunstausübung, die »höhere Aufregung« bzw. die begeisterte Stimmung, inhaltlich konsequent, zumindest insofern darin noch kein Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Elementen eintritt.114 Eine ausgeführte historische Systematisierung der einzelnen Künste, wie sie in Hegels Ästhetik als Theorie der symbolischen, klassischen und romantischen Kunstform vorkommt, findet sich in Schleiermachers Ästhetik nicht.115 Zwar ist die Unterscheidung von Antike und Moderne ein alle Kunstzweige durchdringendes Muster, Schleiermacher benutzt diesen Gegensatz jedoch nicht als systematischen Einteilungsgrund.116 Als Beispiel eines für die individuelle Urbildung vorbildlichen und allgemeingültigen Inhalts bringt Schleiermacher die antike griechische Mythologie ins Spiel, die insbesondere in der Skulptur und der Poesie einen symbolischen (allegorischen) Ausdruck findet. Die Auflösung der griechischen Mythologie hat nach Schleiermacher eine Veränderung des dominierenden künstlerischen Mediums des Allgemeinen von der Vorstellung (bildende Künste) zum Vgl. Thomas Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, Stuttgart 1987, S. 262–272. 115 Vgl. Hegel, Philosophie der Kunst, Sommersemester 1823, Nachschrift H. G. Hotho, S. 248, 368–405 (vgl. Fn. 86). 116 Vgl. in dieser Ausgabe S. 446. 114

Holden Kelm

LI

Wort (redende Künste) hervorgerufen. Diese Veränderung geht einher mit der Ausbreitung des Christentums und dem Zurückdrängen des hellenistischen Polytheismus und bezeichnet einen markanten Unterschied zwischen der Kunst der Antike und der Moderne: »Es kann uns nicht mehr einfallen, die allgemeine Voraussezung des Göttlichen, als allem Sein zu Grunde liegend, in einzelnen Gestalten darzustellen. Wie verwandelt man es denn jezt in ein bestimmtes Bewußtseyn? Es geschieht durch das Wort, in Sätzen.«117 Hieraus wird ersichtlich, dass die symbolische Darstellung des Allgemeinen, die allen Künsten strukturell zugrunde liegen soll, aufgrund der historischen Disposition dieses Allgemeinen differenziert betrachtet werden muss und nur in formaler Hinsicht in allen Künsten identisch ist. Mit dieser Ansicht einer Alteration des primären Mediums des Allgemeinen – von den bildenden Künsten der Antike zu den redenden Künsten der Moderne – kann allerdings eine gewisse Nähe zur Bestimmung des Unterschieds zwischen der klassischen und der romantischen Kunstform in Hegels Ästhetik gesehen werden, insofern auch darin das substantielle Allgemeine (bzw. das Kunstideal) der Antike von den bildenden Künsten (insb. der Skulptur) in die subjektiven romantischen Kunstwerke der Malerei, Musik und Poesie übergeht (bzw. sich darin auflöst).118 Für diese Nähe spricht auch Schleiermachers Annahme, die antiken Kunstwerke hätten eine mehr objektive und die modernen eine mehr subjektive Ausprägung. Ein ›Ende‹ der schönen Kunst, wie es Hegel im Übergang von der klassischen zur romantischen Kunstform erwägt, ist für Schleiermacher allerdings kein Thema.

Vgl. in dieser Ausgabe S. 377. Ähnlich hat Schleiermacher auch seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in eine Geschichte der antiken (alten) und eine der christlichen (modernen) Philosophie separiert. Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Geschichte der Philosophie, in: ders., Sämmtliche Werke, 3. Abt., 4. Bd., 1. Teil, hg. v. Heinrich Ritter, Berlin 1839. 118 Vgl. Hegel, Philosophie der Kunst, Sommersemester 1823, Nachschrift H. G. Hotho, S. 431–443 (vgl. Fn. 86). 117

LII

Einleitung

Antike-Rezeption, Weimarer Klassik und Frühromantik: Nicht nur im Zuge seiner Jugendlektüre, während seines Studiums in Halle oder im Kontext seiner Platon-Übersetzungen: Schleiermacher hat sich häufig intensiv sowohl direkt mit altgriechischen und lateinischen Texten der Antike als auch mit der zeitgenössischen Antike-Rezeption auseinandergesetzt, die nicht nur von Altphilologen, sondern auch von Kunsthistorikern und Archäologen geführt wurde.119 Der seit der »Querelle des Anciens et des Modernes« geläufige Gegensatz von Antike und Moderne, der die Frage nach der Maßgeblichkeit antiker griechischer Kunst für moderne Kunstwerke aufwarf, wurde infolge von Winckelmanns Antike-Rezeption in Deutschland verschärft diskutiert und findet sich in vielen ästhetischen Theorien des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts.120 Schleiermacher kannte diese Diskussionen sicherlich auch durch die SchlegelBrüder, mit denen er einen vielseitigen Briefwechsel pflegte, insbesondere aber durch Friedrich Schlegel, dem die antike Kunst in seinen Jugendschriften ein besonderes Anliegen gewesen war und mit dem Schleiermacher die Platon-Übersetzung konzipiert hatte. Schleiermachers Hallenser Schüler Johannes Schulze (1786–1869) schickte ihm ein Exemplar des ersten Bandes der von ihm mitherausgegebenen und auf Goethes Betreiben hin entstandenen (sog. Weimarer) Ausgabe von Johann Joachim Winckelmanns (1717–1768) Werken bereits kurz nach dessen

In Schleiermachers Bibliothek fanden sich etwa folgende Werke: Herodot, Historiarum (SB: 888), Pausanias Graeciae descriptio (SB: 1443), Plinius, Naturalis historiae (SB: 1516), Quintilian, Institutio oratoria (SB: 1550), Horaz, Ars poetica (SB: 936), aber auch zeitgenössische Schriften wie etwa Friedrich Creuzers (1771–1858) Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (Leipzig 1810–1812, SB: 482) oder Friedrich August Wolfs Vermischte Schriften und Aufsätze in lateinischer und deutscher Sprache, Halle 1802 (SB: 2156). 120 Vgl. Peter Szondi, »Antike und Moderne in der Goethezeit«, in: ders., Poetik und Geschichtsphilosophie, Bd. I, hg. v. Senta Metz und HansHagen Hildebrandt, Frankfurt am Main 1974, S. 17–21. 119

Holden Kelm

LI I I

Erscheinen 1809.121 Dieser Band enthält den ersten Teil von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums (1764). Dafür bedankt sich Schleiermacher freundlich, mit der Bemerkung, der Band sei für »unsere Lectüre« vorgesehen.122 Im Jahr 1811 sendet Schulze ihm dann den zweiten Band zu, der den zweiten Teil der Geschichte der Kunst des Altertums enthält.123 Und noch 1825 schreibt Schleiermacher seinem Verleger und Freund Georg Andreas Reimer (1776–1842), dass er von Winckelmanns Werkausgabe noch nicht alle Bände habe, und erbittet sich daher die übrigen von ihm.124 In der Ästhetik 1832/33 ist von ägyptischen, archaischen und klassischen griechischen Skulpturen, ihren Proportionen sowie von einer Blütezeit und einem Verfall der griechischen Kunst die Rede. Als einem Abbild der menschlichen Gestalt wird hinsichtlich der klassischen griechischen Skulptur zudem von einem »Kanon« gesprochen, der in dem Gesamtbewusstsein dieser Periode wurzele.125 Ob Schleiermacher von der zumindest bei Galen erwähnten Abhandlung »Kanon« von Polyklet Kenntnis hatte, ist nicht überliefert.126 Insofern aber bereits in Platons Protagoras »Polykleitos von Argos« und »Pheidias aus Athen« als Bildhauer angesprochen werden und Winckelmann als einer der Vgl. Brief von Johannes Karl Hartwig Schulze an F. Schleiermacher vom 4. Dezember 1809, vgl. KGA, Abt. V, Bd. 11, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt, Berlin 2015, Nr. 3372, S. 341. Winckelmanns Werke I– VIII, hg. v. Carl Ludwig Fernow, Heinrich Mayer und Johann Schulze, Dresden 1808–1820 (Weimarer Ausgabe). 122 Vgl. Brief von F. Schleiermacher an Johannes Karl Hartwig Schulze vom 26. Februar 1810, in: KGA, Abt. V, Bd. 11, Nr. 3402, S. 374. 123 Vgl. Brief von Johannes Karl Hartwig Schulze an F. Schleiermacher vom 15. Januar 1811 (Schleiermacher-Nachlass der BBAW, SN 386, Bl. 5 f.). 124 Vgl. Brief von F. Schleiermacher an Georg Andreas Reimer vom 10. Juni 1825 (Schleiermacher-Nachlass der BBAW, SN 761/2, Bl. 3). 125 Vgl. in dieser Ausgabe S. 94. 126 Vgl. Galen, De Placitis Hippocratis et Platonis 5, 449. Polyklet. Der Bildhauer der griechischen Klassik, hg. v. H. Beck, P. C. Bol, M. Bückling, Katalog Liebighaus, Mainz 1990. S. 74 f. 121

LIV

Einleitung

Ersten die Bedeutung Polyklets als Bildhauer hervorhob, indem er ihn als Meister der Proportion bezeichnete, liegt es nahe, dass Schleiermacher bei diesem Kanon vor allem an die Meisterbildhauer der klassischen Periode dachte.127 In den Marginalien 1832/ 33 erwähnt Schleiermacher auch die Laokoon-Gruppe und erläutert den mimischen Ausdruck des Schmerzes, der für sich selbst verständlich sei und keiner Attribute bedürfe. Im Rahmen der Skulptur diskutiert er zudem die antike Unterscheidung von »ἀγάλματα« (Götterbilder) und »εἰκόνες« (Abbilder), erwähnt die Farbigkeit der klassischen griechischen Statuen, die Augeneinlagen, die vereinzelt vorkamen, sowie die Bekleidung. Ausgehend von seinem Verständnis der schönen Kunst wird der antiken Skulptur ein Vorteil gegenüber der modernen historischen Skulptur zugestanden, weil bei diesen die menschliche Gestalt häufig durch zu viel Bekleidung verdeckt werde, während die menschliche Gestalt bei antiken Götterbildern in idealer Weise zur Geltung gebracht worden sei durch wenig Bekleidung oder durchsichtig scheinende Gewänder.128 Schließlich problematisiert Schleiermacher auch die Materialität hellenistischer und römischer Porträtplastik und berichtet etwa über die Fehlinterpretation der sog. Lycomedes-Gruppe in »unserer Kunstsammlung«.129 Obwohl nach dem Begriff der Kunst als freie Produktivität und Selbstmanifestation des Künstlers prinzipiell jedes Kunstwerk eine ideale Gestalt annehmen kann, gleichgültig in welchem Kunstzweig und in welcher historischen Periode Vgl. Platon, Protagoras (311c). Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, 2. Auflage (Wien 1776), in: ders., Schriften und Nachlass, Bd. 4,1, hg. v. Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaethgens, Johannes Irmscher, Max Kunze, Mainz 2002, S. 446: »Denn da diese Meister, wie Polycletus, Gesetzgeber in der Proportion waren, und also das Maaß eines jeden Theils auf dessen Punct werden gesetzt haben, so ist nicht unglaublich, daß dieser großen Richtigkeit ein gewisser Grad schöner Form aufgeopfert worden.« 128 Vgl. in dieser Ausgabe S. 387–389. 129 Damit dürfte die Antikensammlung des »Alten Museums« in Berlin gemeint sein, das 1830 eröffnet wurde. Vgl. in dieser Ausgabe S. 383. 127

Holden Kelm

LV

es hervorgebracht wird, teilt Schleiermacher offenbar die Wertschätzung der antiken Skulptur, die sich ähnlich bei Schelling oder in Hegels Besprechung der klassischen Kunstform wiederfindet. Zudem war Schleiermacher mit der Weimarer Klassik vertraut, was auch aus den Angaben zu seiner Privatlektüre in den Tageskalendern hervorgeht.130 Auch seinen ersten Besuch in der Dresdner Gemäldegalerie im September 1810, wo er offenbar Goethe begegnete, erwähnt Schleiermacher in seinem Tageskalender.131 Dass sich beide bei dieser Begegnung nicht sonderlich nahe gekommen sind, legt ein Brief von Christian Gottfried Körner nahe: »Göthe und Schleiermacher sind abgereist. Sie haben sich beyde einander nicht sehr genähert. Ich erwähnte Schleiermacher einmal gegen Göthe, und er ging nicht darauf ein. Auch höre ich, daß er an einem dritten Orte wenig oder gar nicht mit ihm gesprochen hat.«132 Allerdings wird Schleiermacher im September 1814 bei einer Zwischenstation in Weimar erneut mit Goethe zuVgl. Wolfgang Virmond, »Schleiermachers Lektüre nach Auskunft seiner Tagebücher«, in: Günter Meckenstock (Hg.), Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin / New York 1991, S. 71–99. Vgl. die digitale Edition der Tageskalender auf der Webseite des Akademien-Vorhabens »Schleiermacher in Berlin 1808–1834. Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen« (http://schleiermacher-in-berlin.bbaw. de, zuletzt aufgerufen am 31. 03. 17). 131 Am 5. September 1810 vermerkt Schleiermacher: »Ankunft in Dresden«, einen Tag später: »Vormittag Gallerie, Nachmittag Gallerie« sowie auch am Freitag, den 07. 09.: »Vormittag Gallerie [. . .] Nachmittag Gallerie«, am 10. 09.: »Ein wenig Gallerie«, am 12. 09.: »Nachmittag Gallerie«, am 13. 09.: »Vormittag Gallerie [. . .] Nachmittag Gallerie«, am 14. 09.: »Vormittag Gallerie«, am 15. 9.: »Mit Bendas auf der Gallerie«, am 17. 09.: »Gallerie. Goethe dort«. Vgl. F. Schleiermacher, »Tageskalender September 1810«, erarbeitet von Wolfgang Virmond, in: Schleiermachers Tageskalender 1810–1834. Hg. Elisabeth Blumrich, Christiane Hackel und Wolfgang Virmond (http://schleiermacher-in-berlin.bbaw. de/tageskalender/index.xql, zuletzt aufgerufen am 25. 08. 2017). 132 Vgl. Brief von Christian Gottfried Körner an Theodor Körner vom 28. September 1810, in: Theodor Körners Briefwechsel mit den Seinen, Leipzig 1919, S. 107. 130

LV I

Einleitung

sammentreffen, wie er in einem Brief berichtet: »Von hier reisten wir über Leipzig und Weimar, wo wir zwei Tage leider blieben, deren interessantes sich darauf beschränkte, daß ich eine Viertelstunde bei Goethe war [. . .], und daß wir ein Paar Spaziergänge in den wirklich sehr schönen Park machten.«133 Goethe spielt in der Ästhetik 1832/33 zwar nicht bezüglich seiner planerischen Mitwirkung am Ilm-Park in Weimar eine Rolle, insgesamt findet er aber häufiger Erwähnung als in den überlieferten Texten zur Ästhetik 1819. Schleiermacher kannte offenbar die botanischen Studien Goethes, insb. die zur Morphologie der Pflanzen und dem Urtypus. Diese Studien erfahren in Schleiermachers Konzeption des Kunstschönen als einer idealen Produktion der ursprünglichen Formen des Seins, die in der Natur in realer Weise hervortreten, einen gewissen Widerhall.134 Schleiermacher nähert das Kunstschöne jedoch auch dem Begriff des Ideals an, den u. a. er aus der Vorstellung eines mangellosen Daseins entwickelt, von dem Schelling bezüglich des Schönen in den bildenden Künsten redet.135 Deutlicher tritt Schleiermachers Bezug auf Goethe im Teil über die Poesie hervor, die als eine spezifische Begeisterung des Künstlers für den Umgang mit der Sprache, ihrem Wohlklang und ihren Darstellungsmöglichkeiten in Bezug auf die Einzelheit bestimmt wird.136 Die poetologischen Gattungen Epik, Dramatik und Lyrik werden dabei ebenso diskutiert wie das Silbenmaß bzw. die MeVgl. Brief von F. Schleiermacher an Luise von Willich vom 17. September 1814, in: Walter Wendland, »Zwei neue Schleiermacherbriefe«, in: Die christliche Welt 30 (1916), S. 382 f. Für diesen Hinweis danke ich sehr herzlich Simon Gerber. 134 Schleiermacher besaß in seiner Bibliothek die Tübinger Werkausgabe von Goethes Werken in 13 Bänden (1806–1810) sowie die Werkausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart/Tübingen (1815–1819) (SB: 2353, 2354). 135 Vgl. in dieser Ausgabe S. 156. F. W. J. Schelling, »Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur«, in: ders., Philosophische Schriften, Bd. 1, Landshut 1809, S. 341–396, 355. 136 Den letzteren Aspekt führt Schleiermacher in einem Exkurs über das Verhältnis von Poesie und Philosophie aus (vgl. S. 415 f.). 133

Holden Kelm

LV I I

trik, in deren Besprechung es dann heißt: »In moderner Litteratur gibt es auch Verse ohne strophische Wiederkehr selbst bei Göthe, Schiller, Klopstock.«137 Hier spielt Schleiermacher offenbar auf die Außerkraftsetzung der metrischen Regeln in den Dichtungen des Sturm und Drang an, d. h. auf Gedichte, die ohne ein bestimmtes Reimschema auskommen, wie etwa Goethes »Prometheus« (1774). Auch auf Goethes Verwendung des Hexameters, etwa in Reineke Fuchs (1794) oder Hermann und Dorothea (1797), geht Schleiermacher ein, indem er sie als eine Aneignung des griechischen Vorbilds bezeichnet, die eher dazu geeignet ist, in die deutsche Sprache überzugehen als die sich mehr am altgriechischen Vorbild haltenden Hexameter von Johann Heinrich Voß (1751–1826) in seinen Übersetzungen der Ilias und der Odyssee Homers.138 Schleiermacher kannte offenbar die Diskussion über die (Un-)Möglichkeit der Verwendung des Hexameters in der deutschen Sprache, die insbesondere in der Übersetzungstheorie und der Metrik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Rolle gespielt und sich aufgrund der Dichtungen Messias von Klopstock und »Der Frühling« von Ewald von Kleist entfacht hatte. Als ein Meister der (antiken) Metrik hat sich bereits in seinen jungen Jahren August Wilhelm Schlegel hervorgetan (den Schleiermacher auch bei dieser Gelegenheit nicht erwähnt), was dazu führte, dass auch Goethe ihm seine Verse zum Korrekturlesen gab.139 Die wichtige Bedeutung von Schiller für Schleiermachers Ästhetik geht bereits aus der historischen Einleitung hervor, in der dieser als einziger Vertreter der Weimarer Klassik neben den systematischen Philosophen Kant, Fichte, Schelling und Hegel auftaucht. Dabei wird Schillers Konzeption in Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) Vgl. in dieser Ausgabe S. 421. Vgl. in dieser Ausgabe S. 432 f. Vgl. Hermann Patsch, Alle Menschen sind Künstler: Friedrich Schleiermachers poetische Versuche, Berlin / New York, 1986, S. 64–67. 139 Vgl. Anm. d. Hg. in: Johann Wolfgang von Goethe, Werke, Kommentare und Register (Hamburger Ausgabe), Bd. 1, Gedichte und Epen 1, S. 568–571. 137 138

LV I I I

Einleitung

und seine Einteilung in naive und sentimentale Dichternaturen als ein wichtiger Wendepunkt in der Geschichte der Ästhetik bezeichnet, weil darin der produktive Standpunkt erstmals gegenüber dem formalästhetischen hervorgehoben wird. Schillers Ausgangspunkt ist eine Auseinandersetzung mit Kant, aus der er die Ansicht eines harmonischen Ausgleichs zwischen einem Rigorismus der reinen Vernunft einerseits und einer Verwirrung des moralischen Gesetzes durch die sinnlichen Triebe andererseits gewinnt. Durch ästhetische Bildung sei dieser Ausgleich möglich, der zu einer Veredlung des menschlichen Charakters führe. Schleiermacher teilt diesen Standpunkt durchaus, wenngleich er gegen Schillers Konzeption einwendet, ihr fehle ein allgemeiner Begriff der Kunstproduktion, aus dem heraus die verschiedenen künstlerischen Naturen erklärt werden können. Auch teilt Schleiermacher die von ihm festgestellte Trennung von Ernst und Spiel bei Schiller nicht, insofern ihr ein Dualismus der kunstlosen und der kunstmäßigen Tätigkeit zugrunde liege, der haltlos sei: »Ist nun Kunstthätigkeit erst die Vollendung des Selbstbewußtseyns, so muß sie, wird man sagen, allen gemeinsam seyn, sonst hätte der eine vollständiges Selbstbewußtseyn, der andre nicht; und nun sehen wir wie nothwendig wir jene kunstlose Thätigkeit, aus der sich die kunstmäßige herausbildet, aufstellen mußten.«140 Wie auch in seinen drei Akademieabhandlungen »Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Hinblick auf eine Theorie derselben« (1831–33) deutlich wird, teilt Schleiermacher die frühromantische Ansicht der wechselseitigen Durchdringung der einzelnen Künste durchaus, allerdings in Hinblick auf eine systematisch orientierte Bestimmung der einzelnen Künste aus einem einheitlichen Begriff heraus: »[D]ie tanzende Bewegung, in der jede Kunst bald diese bald jene vertraulich begrüßt, vergönnt keinen Schluß auf eine notwendige oder auch nur feste ursprüngliche Stellung derselben gegen einander.«141 Damit setzt sich Schleiermacher 140 141

Vgl. in dieser Ausgabe S. 66. Vgl. in dieser Ausgabe S. 452.

Holden Kelm

LI X

allerdings von der Ansicht ab, die einzelnen Künste seien auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen, welche etwa von Goethe gegen die frühromantische Auffassung der Universalpoesie geltend gemacht wurde. Während die wechselseitige Durchdringung der einzelnen Künste und die Universalität der Poesie als Poesis insbesondere im Athenaeum (Fragment 116) hervorgehoben wird, so formuliert Goethe in der Einleitung seiner Propyläen eine Gegenposition dazu, indem er die Tendenz der »Vermischung« der verschiedenen Kunstarten als ein Zeichen des »Verfalles der Kunst« bezeichnet.142 Zwar erkennt auch Goethe einen verwandtschaftlichen Charakter der einzelnen Künste an, es sei aber die Aufgabe des echten Künstlers, in dem ihm eigenen Bereich tätig zu sein und die einzelnen Kunstgattungen voneinander isoliert zu betrachten.143 Schleiermacher unterwandert diese aus der Perspektive des Künstlers zwingende Feststellung der Individualität der Kunstzweige in seinen Ästhetik-Vorlesungen letztlich aufgrund eines ethischen Arguments, wonach die Kunsttätigkeit im allgemeinen eine freie Produktivität ist, die den gebundenen Tätigkeiten gegenüber steht, zugleich aber aus ihnen hervorgeht: Erst die ethische Entwicklung und Ausdifferenzierung der menschlichen Tätigkeiten, die zur Freisetzung des Individuums und zu Zeiten der Muße führt, erlaubt die Kultivierung der Kunstausübung und der Verbreitung des Kunstsinns. In Bezug auf die Antike-Rezeption Schleiermachers insbesondere im Rahmen der Skulptur und der Poesie und hinsichtlich seiner teilweise konstruktiven Auseinandersetzung mit Goethe und Schiller lässt sich also durchaus eine gewisse Nähe zur Weimarer Klassik feststellen. Diese Nähe wird bekräftigt durch Schleiermachers Ansicht von der Korrelativität von Kunst und Natur und

Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen, Berliner Ausgabe, Bd. 19, hg. von Siegfried Seidel, Berlin 1960 ff., S. 185. 143 Vgl. Thorsten Valk, »Einleitung«, in: Konstellationen der Künste um 1800. Reflexionen – Transformationen – Kombinationen, hg. v. Albert Meier und Thorsten Valk, Göttingen 2015, S. 13–14. 142

LX

Einleitung

konterkariert durch den produktionsästhetischen Ansatz seiner Ästhetik, insofern diesem eine ethische Dimension zugrunde liegt und Schleiermacher damit eine einheitliche Bestimmung des Begriffs der Kunst anstrebt. Damit wendet er sich implizit gegen die Unhintergehbarkeit der Grenzen der einzelnen Künste und Künstlernaturen, für die Goethe plädiert und die Schiller mit seiner Aufteilung in naive und sentimentale Dichternaturen bekräftigt. Schleiermacher nähert sich damit vielmehr der systematischen Begründung der Kunst in den Ästhetikkonzeptionen der klassischen deutschen Philosophie an, insbesondere an Schellings und Hegels Philosophie der Kunst, die Schleiermacher einleitend als reifste Positionen der jüngeren Ästhetikgeschichte darstellt. Allerdings ist auch in dieser Konstellation die ethische Fundierung der Kunst das Alleinstellungsmerkmal von Schleiermachers Ästhetik: Als Medium des individuellen Erkennens ist die Kunst Bestandteil der gesellschaftlichen Praxis in ihrer Geschichtlichkeit. Indem eine explizite Auseinandersetzung mit frühromantischen Autoren und Konzepten, wie dem der Kunstreligion, in seiner Ästhetik weitgehend fehlt, kann darin eine Loslösung Schleiermachers von dieser Phase seines Schaffens gesehen werden. Allerdings sind einige Motive dieser Phase in der Ästhetik implizit und in transformierterter Weise enthalten: Die Erörterung der Verschränkung der einzelnen Künste miteinander und die enge Verzahnung der künstlerischen Produktivität mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufgrund der Tendenz einer allmählichen Ausbreitung des Kunstsinns auch in kunstfernere Bereiche rekurrieren auf frühromantische Motive.

3. Editions- und Rezeptionsgeschichte Die erste Auflage der Ästhetik erschien im Rahmen der ersten Gesamtausgabe, den Sämmtlichen Werken Schleiermachers, die nach seinem plötzlichen Tod 1834 von einigen seiner Schüler und Freunde konstituiert wurde und zwischen 1834 und 1864 beim G. Reimer Verlag erschienen ist. Gegenüber seinem Schüler

Holden Kelm

LX I

Ludwig Jonas (1797–1859) äußerte Schleiermacher in seinen letzten Lebenstagen noch den Wunsch, dieser möge seinen Nachlass verwalten u. a. auch für die Publikation seiner Ästhetik sorgen.144 Die erste Edition der Ästhetik erfolgte durch Karl Lommatzsch (1802–1882), dem Schwiegersohn Schleiermachers, und erschien 1842.145 Sie ist aufgrund ihres editorischen Verfahrens, insb. der Kompilationstechnik und den Kriterien der Manuskriptauswahl, aus heutiger Sicht unzureichend; ihr liegt eine Einschränkung der Textzeugen auf die Lommatzsch zur Verfügung stehenden Nachschriften des Ästhetik-Kollegs von 1832/33 zugrunde, von denen er drei auswählte und kompilierte, darunter auch die Nachschrift von Alexander Schweizer.146 Das nicht dokumentierte Verfahren des Kompilierens führt zu einer Textgestalt, in der die drei Nachschriften nicht voneinander unterschieden werden können. Nach dieser Edition von 1842 war die Nachschrift Schweizer in Vergessenheit geraten und blieb für den Blick der Forschung verschollen.147 Auch die Akademieabhandlungen Schleiermachers »Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf eine Theorie derselben« (1831–33) wurden zunächst in den Sämmtlichen Werken, allerdings durch Ludwig Jonas und bereits 1835 veröffentlicht und sind jetzt enthalten in der Kritischen Gesamtausgabe von Schleiermachers Werken.148 Vgl. Nowak, Schleiermacher, S. 458 (vgl. Fn. 3). Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Vorlesungen über die Aesthetik. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und aus nachgeschriebenen Heften, hg. v. Karl Lommatzsch, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, 3. Abt., 7. Bd., Berlin 1842. 146 Vgl. Schleiermacher, Vorlesungen über die Aesthetik, S. IX (vgl. Fn. 145). 147 Vgl. dazu Kapitel II.1. in dieser Einleitung. 148 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Reden und Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und aus nachgeschriebenen Heften, hg. v. Ludwig Jonas, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, 3. Abt, 3. Bd., Berlin 1835, S. 179–224. F. D.E Schleiermacher, »Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben.« 1.–3. Abhandlung, in: 144 145

L XI I

Einleitung

Neben dem fraglichen editorischen Verfahren verhinderte wohl auch die späte Herausgabe der Vorlesungen über Ästhetik im Jahr 1842 ihre produktive Rezeption im Diskurs der klassischen deutschen Philosophie. Obwohl Schleiermacher auf der Höhe seiner Zeit argumentiert, auf die Positionen Kants, Schellings und Hegels teilweise konstruktiv Bezug nimmt, wurde seine Ästhetik im 19. Jahrhundert kaum wahrgenommen. Auch die Rezension von Wilhelm Danzel in der Neuen Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung aus dem Jahr 1844 führte offenbar nicht zu der vom Rezensenten gewünschten Breitenwirkung der Ästhetik Schleiermachers.149 Vor allem die mangelnde Konzentration und Bündelung der vielfältig eröffneten Fragen und Probleme gibt dem Rezensenten Anlass zur Kritik, wobei diese Vielfalt dem Gegenstand der Ästhetik angemessen sei. Weitere Besprechungen erfolgten in philosophiehistorischen Gesamtdarstellungen zur Ästhetik, in denen Schleiermachers Ästhetik oft in den Schatten derjenigen von Hegel oder Schelling gestellt wurde und mitunter polemische Reaktionen hervorrief.150 In der Geschichte der deutschen Ästhetik seit Kant (1886) von Eduard von Hartmann (1842–1906) wird Hegels und Schleiermachers Ästhetik in Beziehung gesetzt, indem beide unter der Rubrik des »konkreten Idealismus« diskutiert werden. Hartmann stellt fest, dass Schleiermachers Ästhetik die von Hegel in »psychologischer und erkenntnistheoretischer« Hinsicht ergänze, insofern letztere vor allem auf das Verhältnis der »Aesthetik zur Metaphysik« konKGA, Abt. I, Bd. 11, Akademievorträge, hg. v. M. Rössler, Berlin / New York 2002, S. 725–742, 770–793. 149 Vgl. Rezension von Wilhelm Danzel, Vorlesungen über die Aesthetik. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und aus nachgeschriebenen Heften, hg. v. Karl Lommatzsch, Berlin 1842, in: Neue Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, 3. Jg., Nr. 40, 15. Februar 1844 sowie Nr. 41, 16. Februar 1844. 150 Vgl. etwa Robert Zimmermann, Ästhetik, erster historisch-kritischer Teil, Wien 1858. Hermann Lotze, Geschichte der Ästhetik in Deutschland, viertes Buch, München 1868. Eduard von Hartmann, Geschichte der deutschen Ästhetik seit Kant, Leipzig 1886.

Holden Kelm

LX I I I

zentriert sei.151 Dabei konnte sich Hartmann der Äußerung nicht enthalten, Schleiermachers Ästhetik sei ein »formlose[r] Gedankenbrei, in welchem vieles Triviale, noch mehr Halbwahres und Schiefes und einige gute Bemerkungen durcheinander gerührt sind«.152 Dabei ist zu bemerken, dass Hartmanns Beurteilung selbst von Gedankenlosigkeit zeugt, insofern er sie allein aufgrund der Edition von Lommatzsch trifft und die Akademiereden oder andere Texte, in denen Schleiermacher ästhetische Probleme behandelt (insb. Ethik und Psychologie), nicht einmal erwähnt. Wilhelm Dilthey (1833–1911) bringt die Bedeutung von Schleiermachers Ästhetik zur Geltung, indem er sie in eine Reihe mit der von A. W. Schlegel, Schelling, Solger, Hegel und Schopenhauer stellt. Aber auch seine Auszeichnung Schleiermachers als dem »Ästhetiker der Romantik« änderte nicht viel an dessen geringer Präsenz im philosophisch-ästhetischen Diskurs, nicht zuletzt auch deshalb, weil Dilthey vor allem auf Schleiermachers Hermeneutik aufmerksam machte.153 Eine Ausnahme bildet der italienische Philosoph Benedetto Croce (1866–1952): Seine Entdeckung der Ästhetik Schleiermachers zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellt eine konstruktive Fortsetzung einiger ihrer Grundgedanken dar, wovon schon der Titel seines ästhetischen Hauptwerks zeugt: Ästhetik als Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft (1930).154 Auch in Frankreich wurde Schleiermachers Ästhetik durch Croce vorgestellt, indem er 1934 einen Artikel über sie in der Revue de métaphysique et de morale verVgl. Eduard von Hartmann, Die deutsche Aesthetik seit Kant, in: Eduard von Hartmann’s Ausgewählte Werke. Zweite Ausgabe. Bd. III. Aesthetik, Erster historisch-kritischer Theil, Leipzig 1886, S. 157. 152 Vgl. Hartmann, Die deutsche Aesthetik seit Kant, S. 156 (vgl. Fn. 151). 153 Vgl. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, 2. Bd., Schleiermachers System als Philosophie und Theologie, aus dem Nachlass von W. Dilthey, hg. v. Martin Redeker, Göttingen 1966, S. 443. 154 Vgl. Benedetto Croce, Ästhetik als Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft. Theorie und Geschichte, in: ders. Philosophie des Geistes, Bd. 1, Tübingen 1930. 151

L XI V

Einleitung

fasste – freilich in einem Kontext, in dem Hegels Phänomenologie des Geistes und die Pariser Manuskripte von Marx das philosophische Feld dominierten.155 Möglicherweise motivierte die von Dilthey ausgehende Tendenz den bereits als Herausgeber von Schleiermachers Dialektik bekannten Philosophen Rudolf Odebrecht (1883–1945), bei der Preußischen Akademie der Wissenschaften einen Antrag für die Edition der Ästhetik einzureichen, der bewilligt wurde und 1931 zur Veröffentlichung führte.156 Odebrecht kritisiert darin die offenkundigen Mängel der Ästhetik-Edition von Lommatzsch und kehrt dessen Kriterien der Textauswahl gewissermaßen um, indem er behauptet, Schleiermachers späte Ästhetik-Kollegien brächten die klar formulierten Kerngedanken seiner frühen Ausführungen in Verwirrung und Konfusion.157 Odebrecht bringt mit dem Grundheft des Kollegs von 1819, einigen Notizen und den Marginalien von 1832/33 allerdings erstmals Schleiermachers eigenhändige Ästhetik-Manuskripte in einem Band heraus und macht sie damit für ein breites Publikum verfügbar. Die editorischen Mängel dieser Neuausgabe liegen neben einigen Fehllesungen und nicht gekennzeichneten editorischen Eingriffen in der Fehleinschätzung einer anonymen Vorlesungsnachschrift des Jahrgangs 1825 als Autograph Schleiermachers. In der Schleiermacher-Forschung wurde dieser Irrtum erst in den 1990er Jahren aufgeklärt.158 Die Rezeption und Verbreitung der Ästhetik Schleiermachers wurde jedoch auch durch Odebrechts Edition Vgl. Benedetto Croco, »L’esthetique de Schleiermacher«, in: Revue de métaphysique et de morale, Nr. 41, 1934, S. 327–341. 156 Vgl. Friedrich Schleiermachers Ästhetik, im Auftrage der Preussischen Akademie der Wissenschaften und der Literatur-Archiv-Gesellschaft zu Berlin nach den bisher unveröffentlichten Urschriften, hg. v. Rudolf Odebrecht, Berlin 1931. 157 Vgl. Friedrich Schleiermachers Ästhetik, S. IV–V (vgl. Fn. 156). 158 Vgl. Rezension von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, »Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32)« (hg. v. Thomas Lehnerer, Hamburg 1984), in: New Athenaeum / Neues Athenaeum 2, 1991, S. 190–196. 155

Holden Kelm

LX V

nicht wesentlich befördert, was auch durch die historischen Umstände – dem baldigen Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und den damit einhergehenden Notlagen – bedingt sein dürfte. In der Nachkriegszeit wurde Schleiermacher vor allem durch Hans-Georg Gadamer (1900–2002) als Philosoph popularisiert, aber ähnlich wie bei Dilthey überwiegend aufgrund seiner Hermeneutik. Seine Ästhetik blieb weitgehend unberücksichtigt, zumindest so lange, bis die literaturwissenschaftliche und philosophische Forschung die Frühromantik wiederentdeckte und kritisch aufarbeitete. In diesem Kontext setzten kritische Editionsvorhaben ein, etwa der Schriften Friedrich Schlegels, Novalis’ und eben auch Schleiermachers. Neben dem 150. Todestag war wohl auch diese Entdeckung Schleiermachers als Protagonist der Frühromantik der Anlass für Thomas Lehnerer, im Jahr 1984 die Akademie-Ausgabe von Odebrecht als Studienausgabe herauszubringen, die jedoch statt der Nachschrift von 1819 Schleiermachers Akademiereden »Über den Begriff der Kunst« enthält.159 Allerdings wiederholt Lehnerer Odebrechts Fehleinschätzung der anonymen Nachschrift 1825 und gibt sie trotz erheblicher Zweifel als Autograph Schleiermachers aus.160 Die von Odebrecht nachträglich eingefügten, thematischen Zwischenüberschriften und Ergänzungen spart Lehnerer zwar aus, dessen syntaktische Eingriffe behält er aber weitgehend bei und überlässt dem Leser damit einen weitgehend unzuverlässigen Text. Eine französische Ausgabe der Ästhetik Schleiermachers aus dem Jahr 2004 geht auf Vorarbeiten von Wolfgang Virmond zurück.161 Für die Übersetzung wurde dessen Transkription des

Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg. v. Thomas Lehnerer, Hamburg 1984. 160 Vgl. Schleiermacher, Ästhetik (1819/25), S. XVIII–I (vgl. Fn. 159). 161 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Esthétique. Tout les hommes sont des artistes, édité par Denis Thouard. Traduction de l’allemand par Christian Berner, Élisabeth Décultot, Marc de Launay et Denis Thouard. Introduction par Christian Berner et Denis Thouard. Postface de Paolo d’Angelo, Paris 2004. 159

L XV I

Einleitung

Grundheftes des Kollegs 1819 herangezogen, Auszüge aus der anonymen Nachschrift von 1825 ergänzen diese Ausgabe.

II. Zur vorliegenden Ausgabe 1. Die Vorlesung 1832/33 in der Nachschrift von Alexander Schweizer Die hier wiedergegebene Vorlesungsnachschrift ist aus der Hand von Alexander Schweizer (1808–1888)162 und befindet sich im Nachlass Schweizer der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich (Signatur VIII-33). Für Schleiermachers letztes Ästhetik-Kolleg (23. 10. 32 – 29. 03. 33) ist diese Nachschrift das bislang vollständigste und ausführlichste Dokumentenzeugnis; sie ergänzt die für diesen Jahrgang überlieferten Marginalien Schleiermachers aus dem Grundheft 1819 substantiell. Außer dieser sind für diesen Jahrgang nur die beiden fragmentarischen Nachschriften von Ernst Ludwig Theodor Henke und Sigismund Stern überliefert. Bei der Nachschrift Schweizer handelt es sich offenbar um einen während der Vorlesung verfassten Text, was an den zahlreichen Abkürzungen und einigen offensichtlich in Eile verfassten Schriftzügen deutlich wird. Bei einer späteren Durchsicht wurden die Seitenränder von Schweizer mit Inhaltsangaben bzw. -zusammenfassungen beschrieben, die hier nicht wiedergegeben werden. Die Nachschrift wurde nachträglich fest eingebunden, so dass sie jetzt in einem gebundenen Alexander Schweizer, geb. 14. 3. 1808 in Murten, Kanton Freiburg, gest. 3. 7. 1888 in Zürich, war Sohn eines Geistlichen, nahm ein Studium der Philologie, Philosophie und Theologie in Zürich auf, absolvierte seine Examen und erhielt die Ordination 1831. 1832 legte er ein Studienjahr an der Berliner Universität ein, wo er hauptsächlich Schleiermachers Kollegien besuchte (immatrikuliert vom 21. 4. 1832 bis zum 31. 3. 1833). Er wurde Professor für praktische Theologie in Zürich und erster Herausgeber der Ethik Schleiermachers (F. D. E. Schleiermacher, Sämmtliche Werke, Bd. 3,5, Entwurf eines Systems der Sittenlehre, Berlin 1835). 162

Holden Kelm

L XV I I

Oktavheft archiviert wird. Auf der ersten Seite ist vermerkt: »Schleiermachers Vorlesungen über die Ästhetik vorgetragen Anno 1832–33. Nachgeschrieben und mit Inhaltsverzeichnis am Rande versehen von Alexander Schweizer zu Zürich.« Die Nachschrift beginnt auf der zweiten Seite (recte). Am oberen rechten Rand vermerkt der Verfasser: »Aesthetik bey Schleiermacher f.1.« Auf die Wiedergabe dieser im Manuskript vorhandenen Zählung der Papierbögen bzw. Lagen (f.1, f.2, etc.) wurde verzichtet, weil das Manuskript, offenbar von Schweizer selbst, durchgehend paginiert wurde. Die Seiten des Heftes sind beidseitig dicht bei geringem Zeilenabstand mit dunkelbrauner Tinte beschrieben, ein Seitenrand für Anmerkungen oder Korrekturen ist vorhanden. Insgesamt umfasst die Nachschrift 237 beschriebene Seiten. Die Gliederung des Vorlesungstextes ist nicht kohärent durchgeführt: Schweizer hält sich nicht immer an die anfangs eingeführte Kapitelzählung und lässt einzelne Kapitelüberschriften aus bzw. nennt sie nur am Rand. Die wiedergegebene Gliederung folgt weitgehend der von Schweizer selbst vorgenommenen, korrigiert diese aber an fehlerhaften Stellen in Anlehnung an das Grundheft von 1819 (Edition Odebrecht) von Schleiermacher und aufgrund der Erstedition der Ästhetik von 1842. Dem ersten Herausgeber der Ästhetik Schleiermachers, Karl Lommatzsch, lag diese Nachschrift als eine von drei Nachschriften noch vor, danach geriet sie in Vergessenheit und wurde als verschollen betrachtet. Die vorliegende Edition legt die Vermutung nahe, dass Lommatzsch die Nachschrift Schweizer als primäre Quelle seiner Kompilation verwendet hat: Wenngleich einige Stellen anders formuliert sind und einige Passagen der Edition von 1842 in der Nachschrift Schweizer nicht vorkommen, sind der inhaltliche Aufbau, die Abfolge der Kapitel und Absätze, teilweise bis hin zu einzelnen Formulierungen, weitgehend identisch.

L XV I I I

Einleitung

2. Die Akademieabhandlungen 1831–33 Die Akademieabhandlungen mit dem Titel »Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben«, insbesondere die dritte, können als letzte Zeugnisse des Nachdenkens Schleiermachers über die Philosophie der Kunst betrachtet werden. Die Manuskripte befinden sich im Schleiermacher-Nachlass der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Die erste Akademierede hielt Schleiermacher in der Plenarsitzung der Königlichen Akademie der Wissenschaften am 11. August 1831.163 Das Manuskript besteht aus 2 losen Bögen und 2 losen Blättern, die ursprünglich zusammen hingen (am oberen rechten Rand von 1 bis 3 durchnummeriert), und enthält insgesamt 12 beschriebene Seiten im Quartformat mit dem bei Schleiermacher üblichen Rand für (nachträgliche) Notizen. Die Blätter sind am Rand teilweise nachgedunkelt und wurden mit (inzwischen) dunkelbraun gefärbter Tinte beschrieben. Das Manuskript endet ohne ersichtlichen Grund und muss daher als Fragment behandelt werden. Die Fortsetzung der ersten Rede wurde von Schleiermacher am 2. August 1832 wiederum in der Plenarsitzung der Königlichen Akademie der Wissenschaften gelesen.164 Das Manuskript besteht aus einem Blatt und zwei Bögen (Blatt 3 und 4 hingen ursprünglich zusammen), die nicht einheitlich gefärbt und am oberen Rand paginiert sind (beginnend mit 4, offenkundig in Auf der ersten Seite des Manuskripts vermerkt Ludwig Jonas, der Nachlassverwalter Schleiermachers: »Gelesen am 11. Aug. 1831 in der Plenarsizung der Königlichen Academie der Wissenschaften. J.« Das Manuskript befindet sich im Schleiermacher-Nachlass der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Archiv, Signatur SN 111) 164 Auf der ersten Seite des Manuskripts vermerkt Ludwig Jonas: »Gelesen in der Plenarsizung der Königlichen Academie der Wissenschaften am 2. Aug. 1832. J.« Die Manuskripte der 2. und 3. Abhandlung befinden sich im Schleiermacher-Nachlass der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Archiv, Signatur SN 203). 163

Holden Kelm

L X IX

Fortsetzung der Bogenzählung der 1. Abhandlung), es enthält insgesamt 10 beschriebene Seiten mit dem üblichen Rand für Notizen. Die dritte Abhandlung ist im selben Umschlag wie die zweite archiviert. Das Manuskript besteht aus den Bögen 9 und 10 und enthält 5 beschriebene Seiten; der Text endet ohne ersichtlichen Grund, muss also als Fragment betrachtet werden. Schleiermacher hat diese Abhandlung nicht öffentlich vorgetragen, obwohl sie dafür vorgesehen war; offenbar fehlt deshalb auch eine Anmerkung von Jonas, die Aufschluss über die Datierung geben könnte. Was in der Forschung noch nicht gesehen wurde, ist, dass die vorbereitenden Notizen Schleiermachers für diese dritte Abhandlung auf einem ausgeschnittenen Zettel beginnen, dessen Rückseite ein Briefausschnitt mit dem Datum 9. November 1833 ist.165 Diese vorbereitenden Notizen weisen auch hinreichend deutliche inhaltliche Parallelen zur Reinschrift der dritten Abhandlung auf, weshalb davon ausgegangen werden muss, dass Schleiermacher letztere erst zum Ende des Jahres 1833 niedergeschrieben hat, d. h. über ein halbes Jahr später als seine letzte Vorlesungsstunde über die Ästhetik.166

3. Editorische Anmerkung Die Nachschrift Schweizer wird hier erstmals in gedruckter Form wiedergegeben; eine einfache Version findet sich auf der Webseite der Schleiermacher-Forschungsstelle der Berlin-Branden-

Auf Seite 13 des Manuskripts SN 110 (Schleiermacher-Nachlass der BBAW), das Aphorismen, Exzerpte und Anmerkungen von Schleiermacher zu ästhetischen Gegenständen enthält, finden sich diese vorbereitenden Notizen. 166 Ein diese Annahme bestätigendes Indiz ist, dass die Bögen (9 und 10), auf denen die dritte Abhandlung niedergeschrieben ist, eigens gefaltet sind und aus einer anderen Papiersorte bestehen als die Blätter und Bögen, auf denen die zweite Abhandlung verfasst wurde. 165

L XX

Einleitung

burgischen Akademie der Wissenschaften.167 Die Wiedergabe erfolgt aufgrund der überlieferten Handschrift in der erkennbaren letztgültigen Textgestalt. Die zahlreichen Abkürzungen, die im Verlauf des Textes alterieren, werden stillschweigend aufgelöst, Ausnahmen bilden: cet. (et cetera) und sc. (scilicet). Einige Abkürzungen, wie das gestrichene »f« für »auf«, das gestrichene »s« für »aus«, oder das gestrichene »m« für »mit« treten erst im letzten Drittel des Textes auf – offenbar optimierte Schweizer seine Mitschreibetechnik fortwährend. Bei aufgelösten Abkürzungen wurde die modernere Variante ergänzt, z. B. für »Bedürfn.« steht »Bedürfnis« und nicht »Bedürfniß«, für »allm.« »allmählich« und nicht »allmählig«. Entsprechend den Anforderungen einer Studienausgabe wurde auf die Kenntlichmachung der aufgelösten Abkürzungen (etwa durch Kursivsetzung der ergänzten Wortelemente), die für eine historisch-kritische Ausgabe wichtig ist, verzichtet. Orthographie und Interpunktion des Originals, die (wie damals üblich) nicht einheitlich sind, wurden grundsätzlich beibehalten. Textkritische Eingriffe des Herausgebers, wie Korrekturen oder Ergänzungen, sind kenntlich gemacht durch eckige Klammern ([. . .]). Sachanmerkungen werden durch eine Asterisk (*) im Haupttext und der jeweiligen Ziffer am Seitenrand angezeigt, während im Anhang die Textpassage, auf die sich die Anmerkung bezieht, in eckigen Klammern abgekürzt dargestellt wird. Die Seitenwechsel im Manuskript werden durch einen senkrechten Strich (|) bezeichnet und im Kopfsteg (innen) nummeriert, Zeilenumbrüche im Manuskript werden nicht dargestellt, Unterstreichungen werden kursiv wiedergegeben. Die typografische Gestaltung der Über- und Zwischenüberschriften ist vereinheitlicht. Der Text der drei Akademieabhandlungen beruht auf der Ausgabe von Andreas Arndt, ergänzt wurden lediglich die Manu-

http://schleiermacher-in-berlin.bbaw.de/vorlesungen/index.xql (zuletzt aufgerufen am 25. 08. 17). 167

Holden Kelm

L X XI

skriptseitenwechsel.168 Dabei wird die abschließende Notiz zur dritten Abhandlung, weil diese (wie oben erörtert) nicht zum Manuskript, sondern zu den vorbereitenden Notizen zu dieser Abhandlung gehört, nicht wiedergegeben. An dieser Stelle möchte ich noch einmal ausdrücklich der Gerda Henkel Stiftung für das Forschungsstipendium danken, ohne das die Transkription der Nachschrift Schweizer und ihre Publikation nicht möglich gewesen wären. Auch der DFG möchte ich für die Gewährung der Sachmittel danken, aufgrund derer die textkritischen und -kommentierenden Arbeiten zur Nachschrift Schweizer vervollständigt werden konnten. Ganz herzlich möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der SchleiermacherForschungsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften für die Unterstützung und die Kooperation danken, die für das Zustandekommen dieses Buches unerlässlich waren: Prof. Dr. Andreas Arndt, Dr. Sarah Schmidt, PD Dr. Simon Gerber und Dr. Wolfgang Virmond. Schließlich bedanke ich mich vielmals bei der Telota-Gruppe der BBAW, insb. bei Stefan Dumont und Dr. Martin Fechner, die mir bei einigen kniffligen Problemen bei den der Ausgabe zugrunde liegenden XMLDateien weitergeholfen haben. Zu guter Letzt bin ich den Mitarbeitenden der Zentralbibliothek Zürich für die freundliche Unterstützung bei der Erschließung des Nachlasses Schweizer und für die Bereiterklärung sehr dankbar, die Transkription der Nachschrift anfertigen und veröffentlichen zu dürfen.

Vgl. F. D. E. Schleiermacher, »Über den Umfang des Begriffs der Kunst«, in: Friedrich Schleiermacher, Schriften, hg. v. Andreas Arndt, Frankfurt am Main, 1996, S. 803–845. 168

A U S WA H L B I B L I O GR A PHI E

Als allgemeine Bibliographie der Werke Schleiermachers und der Forschungsliteratur (1800–1964) ist immer noch empfehlenswert: Terrence N. Tice, Schleiermacher Bibliography, Princeton, New Jersey 1966.

1. Werke und Briefe Schleiermachers Sämmtliche Werke, I. Abt. Zur Theologie. II. Abt. Predigten. III. Abt. Zur Philosophie. Berlin 1834–1864. Aus Schleiermachers Leben. In Briefen. 4 Bde. Bd. 1 und 2 Berlin 1858, 1860, 3 und 4 Berlin 1861–1863. Werke. Auswahl in vier Bänden, hg. v. Otto Braun, Bd. 2, Leipzig 1910 (1. Auflage), 1928/28 (2. Auflage). Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Günter Meckenstock und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, Notger Slenzka, Berlin/Boston 1980 ff. Schriften, hg. v. Andreas Arndt, Frankfurt am Main 1996.

2. Ausgaben der Ästhetik und der Akademiereden über den Begriff der Kunst Schleiermachers F. D. E. Schleiermacher, »Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Beziehung auf die Theorie derselben.« 1.–3. Abhandlung, in: Reden und Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und aus nachgeschriebenen Heften, hg. v. Ludwig Jonas, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, 3. Abt, 3. Bd., Berlin 1835, S. 179–224.

Auswahlbibliographie

L XX I I I

F. D. E. Schleiermacher, Vorlesungen über die Aesthetik. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und aus nachgeschriebenen Heften, hg. v. Karl Lommatzsch, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, 3. Abt., 7. Bd., Berlin 1842. Friedrich Schleiermachers Ästhetik, im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Literatur-Archiv-Gesellschaft zu Berlin nach den bisher unveröffentlichten Urschriften, hg. v. Rudolf Odebrecht, Berlin 1931. F. D. E. Schleiermacher: Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg. v. Thomas Lehnerer, Hamburg 1984. F. D. E. Schleiermacher, »Über den Umfang des Begriffs der Kunst«, in: Friedrich Schleiermacher, Schriften, hg. v. Andreas Arndt, Frankfurt am Main, 1996, S. 803–845. F. D.E Schleiermacher, »Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben.« 1.–3. Abhandlung, in: KGA, Abt. I, Bd. 11: Akademievorträge, hg. v. Martin Rössler unter Mitwirkung v. Lars Emersleben, Berlin / New York 2002, S. 725–742, 770–793. F. D. E. Schleiermacher: Esthétique. Tout les hommes sont des artistes, édité par Denis Thouard, traduction de l’allemand par Christian Berner, Élisabeth Décultot, Marc de Launay et Denis Thouard, Introduction par Christian Berner et Denis Thouard, Postface de Paolo d’Angelo, Paris 2004.

3. Forschungsliteratur Arndt, Andreas, Schleiermacher als Philosoph, Berlin / Boston 2013. Barth, Ulrich und Claus-Dieter Osthövener (Hg.), 200 Jahre »Reden über die Religion«, Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle 14.–17. März 1999, Berlin / New York 2000. Croce, Benedetto, Ästhetik als Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft, Tübingen 1930.

L XXI V

Auswahlbibliographie

Décultot, Elisabeth und Gerhard Lauer (Hg.), Kunst und Empfindung. Zur Genealogie einer kunsttheoretischen Fragestellung in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2012. Grassi, Ernesto, Die Theorie des Schönen in der Antike, Köln 1962. Hartmann, Eduard von, Geschichte der deutschen Ästhetik seit Kant, Leipzig 1886. Jaeschke, Walter (Hg.), Der Streit über die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805), Hamburg 1999. Jaeschke, Walter und Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik. 1795–1845, Stuttgart 2012. Käfer, Anne, ›Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös‹: Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels, Tübingen 2006. Lehnerer, Thomas, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, Stuttgart 1987. Lotze, Hermann, Geschichte der Ästhetik in Deutschland, 4. Buch, München 1868. Meckenstock, Günter (Hg.), Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin / New York 1991. Meier, Albert / Costazza, Alessandro / Laudin, Gérard (Hg.), Kunstreligion, Bd. 1, Der Ursprung des Konzepts um 1800, Berlin 2011. Meier, Albert und Thorsten Valk (Hg.), Konstellationen der Künste um 1800. Reflexionen – Transformationen – Kombinationen, Göttingen 2015. Müller, Ernst, Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004. Nowak, Kurt, Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Weimar 1986. Odebrecht, Rudolf, Schleiermachers System der Ästhetik. Grundlegung und problemgeschichtliche Sendung, Berlin 1932. Patsch, Hermann, Alle Menschen sind Künstler: Friedrich Schleiermachers poetische Versuche, Berlin / New York 1986.

Auswahlbibliographie

L XX V

Scheliha, Arnulf von und Jörg Dierken (Hg.), Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik, Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, Berlin / Boston 2017. Schneider, Norbert, Geschichte der Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, Köln / Weimar / Berlin 2011. Scholtz, Gunter, Schleiermachers Musikphilosophie, Göttingen 1981. Scholtz, Gunter, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984. Tatarkiewicz, Wladyslaw, Geschichte der Ästhetik, 1 Bd., Die Ästhetik der Antike, aus dem Polnischen übersetzt von Alfred Loepfe, Basel / Stuttgart 1979. Zimmermann, Robert, Ästhetik, 1. historisch-kritischer Teil, Wien 1858.

K ÜRZE L UN D S IG L E N

AA

Akademieausgabe von Kants Gesammelten Schriften, Berlin 1902 ff.

ÄLo Vorlesungen über die Aesthetik. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und aus nachgeschriebenen Heften, hg. v. Karl Lommatzsch, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, 3. Abt., 7. Bd., Berlin 1842. ÄOd Friedrich Schleiermachers Ästhetik, im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der LiteraturArchiv-Gesellschaft zu Berlin nach den bisher unveröffentlichten Urschriften, hg. v. Rudolf Odebrecht, Berlin 1931. GW

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, hg. v. der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Hamburg 1968 ff.

KAV August Wilhelm Schlegel, Kritische Ausgabe der Vorlesungen, hg. v. Ernst Behler in Zusammenarbeit mit Frank Jolles, Paderborn / München / Wien / Zürich 1989 ff. KFSA Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Antett und Hans Eichner, München / Paderborn / Wien 1959 ff. KGA Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Günter Meckenstock und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, Notger Slenzka, Berlin / Boston (New York), 1980 ff. KdU Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790) (AA, Bd. V) KpV Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788) (AA, Bd. V) KrV

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1787) (AA, Bd. III)

Kürzel und Siglen

LX XV I I

SB

Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs (RA) und der Hauptbücher des Verlags G. Reimer (HR), hg. v. Günter Meckenstock, in: KGA, Abt. I, Bd. 15, Berlin / Boston 2015.

SW

Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart und Augsburg 1856 ff.

F. D . E . S C H LE I E R M A C HE R

Ä S T H E T I K ( 18 32/ 3 3) Nachschrift von Alexander Schweizer

Ä S THE T I K

Geschichtliche Einleitung des Entstehens und Erläuterns dieser Disciplin Sie gehört zu den Disciplinen die man Theorie, τέχνη, ars nannte; d. h. eine mit Gründen belegte Anweisung wie etwas auf richtige Art hervorzubringen sey.* Also war Praxis immer früher als Theorie. Nicht nur die ersten Anfänge der schönen Kunst, sondern sogar sie in ihrer Vollkommenheit finden wir, ehe [eine] Theorie derselben wissenschaftlich da ist. Sobald eine Kunst sich fixierte, gab es Schulen, was mehr technische Anweisungen waren, Handhabung des Materials und der Werkzeuge. Das dem Künstler vorausgehende Innre, das Urbild[,] war schon schwerlich theoretisch betrachtet. Sondern als in der Seele vorausgehendes, hing sich das zuerst an die philosophische Untersuchung. Das Älteste in der Geschichte hierüber sind die zerstreuten Äußerungen des Plato über die Kunst.* Sie sind aber nicht einmahl Elemente einer solchen Theorie; denn andres ist es zu fragen, ob etwas hervorgebracht werden soll und in welchen Gränzen*, als wir in Plato nur jenes [finden], er ging aus vom Einfluss der damahls bestehenden Kunst auf die Gesinnung, auf Politik und Ethik.* Die ersten Anfänge gab Aristoteles, von dem wir zwei hierher gehörige Schriften haben περὶ ῥητορικῆς und περὶ ποιητικῆς.* Die Rhetorik gehört nicht so rein in [die] schöne Kunst, wie Poetik. Dies setzt schon einen gewissen Umfang voraus, innerhalb [von] welchem sich unsre Untersuchung befindet, aber jetzt ist es noch nicht abzuschließen. Ob Aristoteles beyde auf dieselbe Stuffe stellt, kann man nur schließen daraus, daß er sie nicht unter Einen höhren gemeinsamen Begriff schließt, sondern jeweils an Einzelnes [knüpft], und der Redekunst wies er doch ein andres Gebieth an als der Dichtkunst. Bei jener hat er den Zweck im Auge, immer etwas Politisches in allen drei Zweigen,

1

2

3

4

5

4

6

7

8

Ästhetik

1|2

aber jeder Zweig isolirt[,] es kam darauf an, eine bestimmte Wirkung hervorzubringen, entweder daß etwas geschehe, oder eine Gemüthsstimmung allgemein werde. Mit dem Effect war das Kunstwerk verschwunden. Die Dichtkunst schlöße sich ebenfalls an Platos Frage: Soll das geschehen oder nicht? was er nur in Beziehung auf die Wirkung beantwortet; nur ist hier nicht die Wirkung das was die Rede veranlaßt. Daher läßt Aristoteles dies bey Seite. Auch von bildender Kunst hatte er Meisterwerke vor sich, und zwar nicht einzelne zufällige Werke, sondern in bestimmtrem Ort des Nationallebens, im Gottesdienste und Geschichtlichen. Dennoch verbreitet er sich nicht so über die bildende Kunst wie über die Dichtkunst. Das ist um so auffallender, weil er von Plato hierüber den Begriff der μίμησις* als Centrum aufstellt, Nachahmung genügt nicht, Nachbildung eher. Dieser Begriff wäre am unmittelbarsten auf bildende Kunst anwendbar gewesen. Sagen wir schöne Künste, so umfassen wir die bildende so gut wie die redenden Künste. Man muss zweifeln, daß Aristoteles diesen unsern Begriff einer schönen Kunst gehabt habe. Die seinigen Erwähnungen desselben wären anders, wenn er die bildende unter diesen Begriff brächte. Unter μίμησις freilich bringt er sie, aber dies ist ganz was andres, da bey uns die Streitfrage [vorherrscht], ob eine schöne Kunst als solche μίμησις sey oder nicht.* Die erste zusammenhängende Theorie geht also noch vom Speciellen aus. — Unter allen einzelnen Disciplinen, die Aristoteles bearbeitet hat, ist das gerade die, welche am wenigsten in die folgenden philosophischen Entwicklungen einging. Das hängt mit dem Verfall der Kunst zusammen, denn wo diese nicht ist, da kein Interesse an Theorie. Wenn aber was er da sagte auf bestimmte Weise in [das] System aller menschlichen Thätigkeiten wäre aufgenommen worden, so hätte sie fortwirken müssen, so lange jenes System blieb. Dieses ist die Ethik und dahin gehört die eigentliche Sittenlehre und Politik und Ökonomik. An Politik schließt sich Rhetorik als Kunstlehre für eine bestimmte politische Thätigkeit. | Als die freye Verfassung im römischen Autokratismus unterging, ging das Interesse auch unter, doch blieb das an [der] Beurtheilung frührer Producte, wie Quintilian.* Für die Dichtkunst war

2

Geschichtliche Einleitung

5

dieser Zusammenhang nicht gegeben, schon Plato schloß einen großen Theil derselben aus und spaltet sie so, Aristoteles stellt es in [den] Hintergrund. Es gab im System der menschlichen Thätigkeiten keinen bestimmten Ort für diese schönen Künste als Ganzes; und Rhetorik hielt sich länger als Poetik. — Späterhin finden wir viele Relationen über Kunstwerke und Commentare zu poetischen Werken, aber diese haben es alle mit der Theorie nicht zu thun. Viele Jahrhunderte war die Kunst gleich Null. Wie die alte bildende Kunst größtentheils religiös war und mythologisch, so mußte sie im Christenthum untergehen und wie sich in diesem [ein] neuer Kanon philosophischer Untersuchungen entwickelt, konnten sie diesen Gegenstand nicht umfassen, da es noch keine Kunst gab, die nicht wäre im Zusammenhang mit dem Heiligen gewesen.* Gedichte und Bildwerke in religiöser Beziehung entstanden freilich im Christenthum, da jedes geistige Erwachen sich auch auf diese Seite wendet, aber von Theorie war keine Rede; sondern erst mußte die Kunst so fest geworden seyn, daß es nothwendig war eine Reflexion der Speculation darauf zu richten. Zuerst finden wir dies im vorigen Jahrhundert in Frankreich, England, Deutschland.* Ich halte mich der Kürze wegen an die Deutschen, um so eher, da die ersten derselben, theils die ersten Versuche der andern schon benuzten, theils ihnen parallel gingen. Hier schlug man einen ganz andren Weg ein. Die ersten Versuche stammen aus der Wolfisch-Leibnizschen Schule und da bildete die Ästhetik (von da ihren Nahmen erhaltend) ein Gegenstück zur Logik.* Das hängt mit Aristoteles gar nicht eigentlich zusammen. Diese Stellung beruht auf der Zusammengehörigkeit des Denkens und Empfindens, wie Logik Theorie des Denkens seyn sollte, Anweisung zum richtigen Denken, so sollte Ästhetik Theorie des Empfindens seyn[,] Anweisung wie man richtig empfinden soll.* Da mußten eine Menge Dinge mit in Betracht kommen, die nicht hierher gehören und über die es keine Theorie geben kann. Empfindung in einem gewissen Gebieth verträgt den Gegensaz richtig und unrichtig nicht. So Sinnesempfindung: einem schmeckt etwas bitter, einem andren süß; keiner ist richtig und unrichtig; selbst wenn ein Organ krank

9

10

11

12

6

13

Ästhetik

2|3

ist, ist Empfindung richtig und nicht subsumirbar unter einen allgemeinen Eindruck. [Das] Gebieth der Empfindung gehört also gar nicht in die Theorie hinein, weil und das ist Angelpunkt der modernen Ästhetik: es laße sich nur Anweisung geben zum richtigen Empfinden auf einem Gebieth das geistigen Gehalt habe und nicht so unmittelbar mit [dem] Organismus zusammenhängt. Es gab zweierley, das moralische und das ästhetische Empfinden. Billigung und Mißbilligung sind immer auch mit einer Empfindung verbunden und das nannte man moralisches Gefühl und Niemand leugnete Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Empfindung; aber zu einer Theorie war keine Veranlaßung, weil die Empfindung ganz dem Gedanken nachgeht, also der Gedanke zu regulieren ist, nicht Empfindung; und das geschah in Moral und die Empfindung werde von selbst nachfolgen. Aber mit der Empfindung des Wohlgefallens am Schönen und Mißfallens am Unschönen hatte es andre Bewandtniß, da konnte man nichts so angeben, dem das nachginge und da man wieder auf alte Kunst aufmerksam war, und die neue sich ausbildete, so unterschied man guten und schlechten Geschmack, i. e. Vergleichung über die verschiednen Arten über diesen Gegenstand zu empfinden. Nun kommt noch das eigenthümlich Moderne dazu. Nehmlich es war allmählig aufgekommen, eine gewisse Art und Weise der Naturbetrachtung, die auf demselben Gebieth zu liegen schien. Wie von Schönheit in Kunstwerken, sprach man von Schönheit der Natur und wandte dasselbe Wort auf beyde Gebiethe an, weil sich aufdrang, daß die Empfindung große Analogie habe. Dazu kam, daß ein großes Kunstgebieth es nur zu thun hat mit unmittelbarer Nachahmung der Natur. Gäbe es keine schöne Natur sagt man, so keine Landschaftsmahlerey, denn man mahlt nur das Schöne, muß es also erst finden. Sculptur vollends ist ganz am Begriff der Schönheit, und so wird dieser Begriff der Schönheit der Angelpunkt der neuern Ästhetik. Daraus | entstand [die] Streifrage über den Zusammenhang des Schönen in Natur und in Kunst und diese Frage dominirte lange die ganze Disciplin.* Man konnte sagen entweder: Im Menschen ist ein Vermögen, innerlich Gestaltungen zu bilden und die dieses überwiegend haben, geben

3

Geschichtliche Einleitung

7

der ganzen Production die Regel, und sie machen also eigentlich die Schönheit, und man findet dann die Natur schön weil es mit dieser Regel, die der Mensch in sich hat zusammenstimmt. Oder man sagte: Der Mensch käme nie dazu, aus und in sich selbst Gestalten zu bilden, wenn er nicht in der Natur lebte, also in dieser ist der ursprüngliche Ort der schönen und andren Gestalten; jene hängen mit [der] Vollkommenheit in [der] Äußerung der Naturkräfte zusammen, diese mit Unvollkommenheit oder Hindernissen. Also ist es reine Beobachtung der Natur worin man Schönheit findet und Kunst ist nur Nachahmung der Natur in ihrer Vollkommenheit. Beides gibt ganz andre Verfahren, und es muß man mag von einem oder andrem ausgehen ein ganz andres Verfahren sich bilden als in der alten Ästhetik. Behandelt man sie als Anweisung der Kunstthätigkeit so faßt man den Menschen in Thätigkeit; behandelt man sie als Theorie der Empfindung, so faßt sie den Menschen in passivem Zustande. Das [geht] von beiden Ansichten aus. Dieses war der erste Anfang und zugleich der erste Anfang diese Disciplin in größrem Umfang zu behandeln. Man zog nun alles, was Gegenstand eines reinen Wohlgefallens ist, abgesehen von allem Ethischen und vom Zusammenhang mit dem Gedanken, in diese Theorie hinein. Der Ausdruck schön qualificirte sich freylich nicht eigentlich dazu, und so wie es in solchen Anfängen glückliche Griffe und Mißgriffe gibt, so ist eine Art Widerspruch zwischen der allgemeinen Tendenz die man der Disciplin gab und diesem Ausdruck. Schönheit ist eigentlich immer bezogen auf Gestalt und da hätte man die bildende Kunst vor Allen hervorheben und die andern in der Analogie mit dieser behandeln sollen. Freylich war man schon gewohnt den Ausdruck auch in weiterm Sinn zu gebrauchen z. B. schöne Stellen in einem Werk der redenden Kunst, Schönes in [der] Gesamtanlage eines solchen Kunstwerks war schon üblich. Aber wie es darauf ankam, den Ausdruck in der Theorie zu fixiren und doch in dieser Allgemeinheit zu lassen, so ging man darin wieder auseinander, kam auf den leidenden Standpunkt zurück. In dieser Periode schwankt noch der allgemeine Begriff, man sah mehr auf den Eindruck und bestimmte eher, worauf die Vollkommenheit

8

14

Ästhetik

3

beruhe, als was das Wesen sey der Kunst; und mehr auf passive Zustände der Empfindung sehend war [das] Verhältnis von Natur und Kunst schwankend. Viele Betrachtungen kamen unter den drei Nationen zu Stande, die der allgemeinen Grundlage ermangelnd nur als die ersten bedeutenden Regungen müssen betrachtet werden. Ein erstes bedeutendes Avancement erlebte die Ästhetik durch Kant, der sie auf bestimmte Weise in [den] Cyclus der philosophischen Disciplinen aufnahm, freylich ziemlich verwandt mit denen, die sie als Seitenstück der Logik betrachteten; bedenkt man wie er die reine Vernunft stellte, so daß sie [(die Ästhetik)] ein Seitenstük zur reinen Vernunft ward, so war das [eine] Erhöhung. Er stellte sie vor als Theorie der Urtheilskraft, d. h. der ästhetischen (der teleologischen nicht).* Diese Zusammenstellung und der Gegensaz zum Teleologischen, auf Zweke sich beziehenden[,] zeigt seinen Gesichtspunkt. Er sagt, es komme darauf an, in einem Gegebnen Zwekmäßigkeit irgendwo zu finden, aber ohne bestimmten Zwek. Durch große Klarheit empfiehlt sich dieser Fortschritt nicht, da Zwekmäßigkeit ohne bestimmten Zwek sehr untergeordnet und das Wohlgefallen daran das oberste. Diese Theorie der zweigegliederten Urtheilskraft verbinde die Gesezgebung des Verstandes für [die] Erfahrung und die der Vernunft, i. e. Moral. Sollte Urtheilskraft zwischen beyden Mittelglied seyn, so müsste sie etwas von beyden an sich haben. Und so sagt er von dieser Urtheilskraft wenn ihr Gegenstand mehr dem Naturbegriff angehöre, sey es das Schöne, wenn mehr dem Freiheitsbegriff, der Moral, so sey sie das Erhabene. In diese zwei Gebiethe theilte sich das Material der Ästhetik. Es ist aber nicht klar, wie sie beyde Eins sind, noch durchzuführen, wie sie beyde verschieden sind; ohne Künsteley kann man nicht erhabne Naturgegenstände leugnen, und auch nicht Schönes im sittlichen Gebieth. Daher bekommt man leicht die Empfindung, daß das nicht das Richtige gewesen ist. Ich füge noch Eins hinzu, nehmlich hier war auch das Urtheil, das was sich im Gefühl ausspricht; die Gegenstände waren theils Naturgegenstände, theils durch Kunst hervorgebrachte; aber wovon diese Hervorbringungen ausgehen, sieht man nicht, sondern das durch Kunst Hervorge-

3|4

Geschichtliche Einleitung

9

brachte erscheint ein ebenso Gegebnes | wie das Schöne in der Natur. Wie kommt der Mensch dazu, nicht nur Schönes zu empfinden, sondern auch hervorzubringen? bleibt liegen. So bleibt Kant auch beym Eindruck, i. e. beym Geschmack, nicht bey der Kunst. Von hier aus erhält es andre Wendung dadurch, daß sich die Künstler selbst hineinmischten, besonders Schiller in seinen Briefen.* Als Dichter hatte er besondern Beruf dazu und seine speculirende Natur mußte nach dem Grund der Productivität fragen auf diesem Gebieth und das war der Wendepunkt für die Ästhetik sich auf die andre Seite zu wenden. Aber im Übrigen findet man sich ganz in demselben Kreise von Begriffen. Seine Untersuchungen gingen vorzüglich auf die Differenz der Productivität selbst und er suchte die Verschiedenheit der Naturen auf, die sich im Kunstgebieth thätig zeigen. Das ist das Fundament der Theilung des Naiven und Sentimentalen als zwei Arten physischer Naturen, denn dabey sah er zugleich auf [die] Differenz zwischen der antiken und modernen Kunst. Das Naive darin die antike Kunst; das Sentimentale die moderne.* Aber einen eigentlichen gemeinsamen Grund, der zugleich Quelle dieser Differenz wäre, zu suchen, lag nicht in seiner Richtung. Jedenfalls bleibt ihm doch das Verdienst, die Untersuchung zuerst auf dieses Moment der Spontaneität gerrichtet zu haben, aus der die Kunst hervorgeht. — Hieran schloß sich Fichte an, bey dem wir die Kantische Darstellung so modificirt finden, daß seine Hauptrichtung auch auf diese thätige Seite geht. Freylich wird es nur beiläufig behandelt in seinem System der Sittenlehre, wo er im lezten Theil eine Deduction der verschiednen Berufe der Menschen macht*, i. e. der allgemein nothwendigen aber unter verschiednen Menschen vertheilbaren sittlichen Thätigkeiten. Der wissenschaftliche Beruf steht oben an, und dann gleich folgt der Beruf des ästhetischen Künstlers. Also muß das ethische Fundament dieses Berufs und dieser Thätigkeit angegeben werden. Allerdings in Richtung nach der Tiefe ein bedeutender Fortschritt; aber [das] Resultat ist der Tendenz nicht angemessen; da Fichte sagt, dieser Beruf hat zum Gegenstand, den ästhetischen Sinn zu bilden und dieser soll die Vermittlung seyn zwischen dem

15

16

17

10 18

19

20

21

Ästhetik

4|5

Verstand und [dem] Willen des Menschen.* Genau parallel der Kantischen Natur und Moral. Aber Fichte stellt nun die Kunst auf als Thätigkeit zur Bildung dieses Sinns, vermöge dessen der Verstand soll auf den Willen einwirken. Sehen wir dabey aufs Kantische zurück, so nahm Kant ein sittliches Gefühl an*, was eine alte Auffassung war einer allgemeinen Erscheinung; und dieses war bey ihm das Band. Wir erkennen [die] Gesezgebung der Verunft, geschieht etwas dagegen, so macht es abstoßenden Eindruck auf dieses Gefühl, und daraus entsteht Richtung auf [den] Willen; so macht etwas der Gesezgebung Entsprechendes einen verlangenden Eindruck und versezt den Willen in Thätigkeit. Leugnet Fichte dieses sittliche Gefühl oder gibt es zu? Gibt [er] es zu, so ist der ästhetische Sinn als solches Band überflüssig und nicht erklärt in seiner Differenz vom sittlichen Gefühl. Wollte er beyde identificiren oder sagen, der ästhetische [Sinn] schließt sich unmittelbar an das Sittliche an, so gäbe das eine Beschränkung und pedantisch enge Kunstbetrachtung, da Kunst nur Mittel für die Sittlichkeit würde. Soll dann die Kunst bloß den ästhetischen Sinn bilden wollen, so ist sie ein Pädagogisches und alle solche Thätigkeiten haben nach Fichte Tendenz, sich selbst überflüssig zu machen, d. h. ist der ästhetische Sinn gebildet, so ist Kunst nicht mehr nöthig, als bloß in Beziehung auf ein neu kommendes Geschlecht; da aber die Kunstwerke wirklich sind, so wäre Kunstthätigkeit sehr wenig nöthig, sobald einmahl eine gewisse Ausbildung des ästhetischen Sinns da ist. Es dürfte also in der Menschheit nur eine einzige Kunstepoche geben, als Schaz, woraus immer diese Bildung des ästhetischen Sinns geschöpft werden kann. Eine neue Wendung freilich bloß in Andeutungen erhielt die Ästhetik durch Schelling.* Betrachten wir diese ganze Reihe von Kant, Schiller und Fichte, so ist überall die Theorie vorzüglich auf die Poesie hin [gerichtet]; denn diese ist das am meisten* Verständliche, worüber von Eindruck und Art dazu zu gelangen am meisten etwas allgemeines gesagt werden kann. Betrachtet man Kants und Fichtes Ansicht, so ist es sehr schwer, | es auf Musik und bildende Kunst anzuwenden; so auch die Schillersche Theilung des Naiven und Sentimentalen ließe sich in Musik

5

Geschichtliche Einleitung

11

schwer darstellen. Die bildende Kunst steht so in der Mitte, aber sie in diese zwei Classen bringen ist schon weit schwerer als die Poesie. In der innersten Anlage herrschte die Richtung auf Poesie vor. Denkt man an Fichtes pädagogische Richtung der Kunst so sind die Werke, die etwas Ethisches ausdrücken, doch am geeignetsten Verstand und Wille zu verbinden und das ist auch in Poesie am meisten der Fall. Der Musik und Plastik ist auch schwer [eine] moralische Tendenz unterzulegen. Es war vorherrschende Beziehung auf Poesie, i. e. Anknüpfen an Aristoteles und die andern Künste waren nicht so in die Einheit aufzunehmen. Es fehlte freylich nicht an philosophischen Betrachtungen über Werke der Plastik, aber die hielten sich ans Unmittelbare und gingen nicht auf Principien zurük. Nun wollte Schelling die bildende Kunst besonders wieder hervorheben, hielt aber die Einheit des Begriffs der Kunst nicht fest. Er sagt, man würde weiter kommen in [der] Theorie der bildenden Kunst wenn man die philosophische Theorie nicht aus Moral oder Psychologie nähme, sondern mehr aus der Naturwissenschaft.* Das ist nur eine Andeutung; aber will man das annehmen, da ja dadurch am ersten der alte Zweifel gelöst würde, wie es stände um [die] Einheit der gefallenden Natur- und Kunstgegenstände; und fragt man[,] sollen die andern Künste auch aus der Naturwissenschaft begriffen werden, so geht das gar nicht füglich an. Eine gewisse Seite gibt es, von der man diese sehr allgemeine Frage betrachten kann. Die Kunst gestalte sich verschieden unter bestimmten Völkern und bestimmte Differenz ist wo Racendifferenz*; da ist das ästhetische Wohlgefallen auch an Naturgegenständen. Die Orientalen fassen die menschliche Schönheit unter ganz andrem Typus als wir. Racendifferenz beruht nun freylich in der Natur als Verschiedenheit des menschlichen Geistes in seiner Leiblichkeit zu der äußern Welt. Könnte man nun auch alle diese Differenzen fixiren, so wären wir für [die] Einheit des ganzen Gebieths nicht weiter, da es nur eine Erklärung für die Differenz wäre. Hätte man die Meinung die naturwissenschaftliche Auffassung solle sich specifisch auf bildende Künste beziehen, so wäre das ganze Gebieth der Kunst gespalten, bildende Kunst würde wurzeln in

22

23

12

24

25

26

Ästhetik

5|6

Naturwissenschaft und redende Künste im Geiste. Schöne Kunst als Einheit wäre aufgelöst, außer man würde auch wieder diese zwei Gebiethe Natur und Geist zusammenfassen, was nur [eine] formelle Einheit gäbe. Resultat ist, der Begriff der schönen Kunst, als Gegenstand der Disciplin, steht noch nicht fest; nicht nur steht er nicht fest als Definition ausgeführt, sondern es steht nicht einmahl fest, ob es eine wirkliche Einheit ist oder nicht; denn man ist von einem einzelnen Kunstgebieth ausgegangen. Bleibt man beym Griechischen, so ist Unsicherheit im Gebrauch der zwei Ausdrücke Kunst und Wissenschaft*; also ist Kunst als Einheit auch nicht fest. Noch weniger der Begriff der schönen Kunst; es gab gar keine gemeinschaftliche Bezeichnung dieser Thätigkeiten, die wir jezt dazu rechnen. Der Unterschied zwischen liberalen und handwerklichen Künsten ist ein ganz andrer*; sie thun Vieles zu dem, was eines Mannes zur vollen politischen Würde würdig ist, was wir nicht zu der schönen Kunst rechnen und umgekehrt. Man blieb zwar in der Voraussetzung der Begriff sey da, aber nie wurde er geltend und blieb immer unbestimmt. Gewisse Hauptzweige wurden von jeher dazu gerechnet z. B. redende und bildende Künste; aber eine gemeinschaftliche Theorie dafür, die für [die] Einheit des Begriffs bürgen würde, gab es nicht. Nachher standen einzelne Künste auf z. B. schöne Gartenkunst; Reitkunst. Ist ein Begriff so, daß man nicht bestimmen kann, was als besondre Art darunter zu fassen ist, so steht er eben noch gar nicht fest und so liegt die Sache bis jezt noch. Bedenklich ist es, was noch in Wirklichkeit fortbesteht als Geschichtliches zu behaupten, aber als lezten Punkt muß es hier Plaz finden, ich meine die Hegelsche Philosophie, [worin] die Kunst dem absoluten Geist zugeschrieben wird, genau verwandt mit Religion und Philosophie, d. h. zum Höchsten gehörig.* Einlassen kann ich mich nicht, sondern nehme es nur als Fortsezung unsrer | Linie, so daß Hegel die Kunst auf den höchsten Punkt stellt, da sie den höchsten Entwicklungen der Menschheit noch an die Seite gestellt ist, i. e. absolutes Maximum ihrer Werthschätzung, die gedacht werden kann.

6

Geschichtliche Einleitung

13

Fassen wir dieses Geschichtliche zusammen, einmahl die einzelnen Zweige für sich, dann den Eindruck betrachtend, als verwandt zwischen Kunst- und Natureindruck, und, dann das Übergehen auf das, was diesen Eindruck hervorbringt, i. e. Kunst und was ihr in [der] Natur analog ist. Aber da jene verschiednen Zweige nur unsicher in Eins zusammengefaßt wurden, so hört diese Unsicherheit bei Hegels Ansicht auf, da alles wegfällt, was diese hohe Stellung nicht einnehmen kann. Ebenfalls muss das Schwanken zwischen der Herleitung des pathematischen Zustands aus Kunst und Natur aufhören, wenn man absoluten Geist näher entwickelt. Halten wir Parallelen fest zwischen Kunst, Religion und Philosophie, so ist jene auch als menschliche Thätigkeit genommen, folglich die Natur hier bey Seite gelassen, also auch der Eindruck von ihr her (pathematischer Zustand). Was liegt uns nun ob, wie stehen wir nun? Das kann nicht vollständig beantwortet werden, ehe wir noch auf eine andre Seite der bisherigen Entwicklung sehen. Was ich bis jezt gechichtlich gab, ist Richtung der ganzen Betrachtung nach der Seite der Philosophie hin. Sowohl in Aristoteles’ Äußerungen als den ersten Anfängen der modernen Ästhetik ist dies nicht so deutlich. Freylich denken wir gewöhnlich den Aristoteles als Philosophen; allein er geht nach allen Seiten hin so sehr ins Einzelne, daß seine Betrachtungsweise nicht die ist, wie man jezt philosophisch speculativ ist, z. B. seine naturhistorischen Werke* sind doch ganz und gar Betrachtungen des einzelnen Gegebnen. So hat seine Logik auch eine solche Seite, da das ganze ὄργανον endigt in der kleinen Schrift der Widerlegung der sophistischen Trugwerke;* also auf etwas Gegebnes hin. So seine Politik, Rhetorik, Poetik usw.* Überall geht man von den gegebnen Kunstwerken aus, untersucht dann, was ihnen ihren Werth gebe. Aus der Idee der Kunst überhaupt construirt er nicht. Diese Richtung aufs Philosophische hin, ist also in den ersten Anfängen nicht entschieden. Von diesem Weg nahm eine Richtung die Seite nach dem Philosophischen; aber von demselben Punkt aus geht auch eine Linie anderswohin. Wir müssen da mehr auf Aristoteles’ Rhetorik sehen als auf [die] Poetik, in dieser sind keine Vorschriften, wie

27

28 29

14

30

31

Ästhetik

6|7

der Künstler soll zu Werke gehn, wohl aber in der Rhetorik; auch schon vor dem Aristoteles gab es solche τέχναι ρήτορικαι, oder τέχναι schlechthin, da es von andern Künsten keine solche Anweisungen gab*. Die Rhetorik, wie sie da behandelt war, gehört freylich nicht in den reinen Begriff der Kunst, wie wir ihn behandeln wollen, da sie einen ganz andern Ausgangspunkt hat, immer im politischen Gebieth versiert und einen bestimmten Zwek verwirklichen will. Allein diese τέχναι haben sich sehr überwiegend mit der Gliederung der Rede und des Musikalischen in derselben [verbreitet], was doch gerade die Seite ist, die der eigentlichen Kunst angehört. Da also Vorschriften, wie der Künstler zu Werke gehe. Das wiederholt sich in der modernen Ästhetik, daher neben der speculativen Richtung, auch die nach der praktischen Seite.* Sollten wir hier theilen, indem wir alles darüber Litterarisch Erschienene verweisen in die speculative und in die praktische oder technische Richtung, so wäre das bey Manchen leicht, bey Andern nicht durchzuführen. Da fragt sich also, inwiefern dieses beydes Eins ist, oder wenn nicht, wie man es abgränzen solle. Es kurz zusammenzufassen und das streitige Gebieth zu bezeichnen will ich versuchen. Denken wir, es hat eine Vorschrift gegeben von technischer Art in einem einzelnen Kunstzweig (denn offenbar gehen sie nur vom Einzelnen aus), so kann, was den einzelnen Kunstzweig betrifft, als dem andern entgegengesezt, nicht der speculativen Seite angehören. Fragt man, liegt es in der Natur der Sache, daß wer solche Vorschriften gibt, die Idee der Kunst ganz bey Seite stellen kann, so ist es unmöglich. Denkt man, es sollen Vorschriften für den Bildhauer gemacht werden, so würde da von den Materialien gehandelt, | in denen sie arbeiten können. Man wird sagen z. B. dasselbe Bild läßt sich aus Stein und Holz machen, doch in andrer Begrenzung, was müßte gezeigt werden, doch nothwendig dazu, ob solche Gegenstände die man in Holz machen kann, Kunstgegenstände seyen. Da kommt man schon auf [den] Begriff der Kunst. Geht man weiter zur Sculptur im Großen, wo man Stein braucht, so gibt es ebenso große Werke in Erz, wo aber das Kunstwerk in einer andern Epoche entsteht, da die Form ihrem Guß vorangehen muß. Da entstehen Bedin-

7

Geschichtliche Einleitung

15

gungen in der Ausführung, die nicht sind bey andrem Material, also muß man auf die Differenz aufmerksam machen, kann es aber nicht, ohne sich mit dem Gegenstand zu beschäftigen. Gehen wir weiter und sagen, Mahlerey zeigt, daß ein Kunstwerk Einheit seyn kann und doch aus vielen Einheiten bestehen; so in Bildhauerey. Geht man auch ganz rein aus diesem Technischen aus, so ergibt sich doch schon eine ganz andre Begränzung für die Bildhauerey als für das Gemählde. Gemählde in Sculptur zu verwandeln ist in Beziehung auf den Stoff schon unmöglich. Hat diese Begränzung ihren Grund nun im Material oder im Wesen der Kunst zugleich? So ist das schon Übergang dieser bestimmten Kunst in ihrem Verhältnis zu den andren. Soll die Anweisung genügen so muß immer vorkommen Manches aus dem Speculativen. Geht man vom Speculativen aus, kommt man dann auch so nothwendig auf Dinge, die aus dem Technischen sind? Offenbar; denn will man z. B. die Sculptur umfassen, so muß man, gesezt man kann ihren Begriff speculativ von oben ableiten, so müßte mit der Kunst auch ihr Umfang bestimmt werden, wie weit sie ins Kleine und Große gehen kann, denn ohne das Maaß eines Gegenstands kennt man sein Wesen nicht, da man keine absolute Trennung des Wesens und der Erscheinung machen kann. Das Maaß muß mit bestimmt werden; [ein] Kirschkern z. B. mit einigen hundert Physiognomien, so die Riesenwerke des Orients.* Sind sie Kunst? Kann man nicht antworten, so hat man den Begriff [der] Kunst nicht. So ist [die] gänzliche Trennung des Speculativen und Technischen (Praktischen) nicht möglich. Hätten wir der Ästhetik als Theorie der Kunst einen Plaz angewiesen in einem System der Wissenschaft überhaupt, in einer allgemeinen Encyclopädie, so würden wir dann den Begriff der Kunst allerdings aufstellen können in ihrem relativen Gegensaz zu allen andren menschlichen Thätigkeiten die da sind. Das ist aber noch nicht Ästhetik, denn so wie der Begriff soll entwickelt werden, ist [es] nicht möglich sich von dem was der äußern Erscheinung angehört, ganz zu trennen. Nun wollen wir uns über unser Unternehmen verständigen. Doch muß ich einen Grundsaz voranstellen: Eine wissenschaft-

32

16

Ästhetik

7|8

liche Behandlung eines Gegenstands, der seinen Ort schon in der menschlichen Thätigkeit wirklich hat, darf weder, wenn man auf die Entwicklung in der Zeit sieht, sich an irgend einen Punkt allein halten, sondern die ganze geschichtliche Reihe soll ins Auge gefaßt werden; und andrerseits wenn der Gegenstand geraume Zeit seinen Ort im menschlichen Leben gehabt hat, so ist er auch im Raume auseinander gegangen; und es gab verschiedne Arten, ihn zu behandeln; und die wissenschaftliche Behandlung darf nicht an eine solche allein sich anschließen, sondern muß alle diese Einseitigkeiten zusammenfassen. Von diesem Saz aus wollen wir unsre historische Entwicklung erzielen und sehen, was der Grundsaz von uns fordert. In jener überwiegend geschichtlichen Entwicklung finden wir zwei Differenzen, das Verweilen bey einzelnen Kunstzweigen für sich und das Aufstellen eines allgemeinen Begriffes der Kunst. Das erste erscheint uns so nur als Negation des zweiten, i. e. man betrachtet die einzelnen Kunstzweige nur so lange rein für sich, als der Begriff der Kunst noch nicht gefunden ist. | Könnte man den allgemeinen Begriff [der] Kunst aufstellen und daraus die einzelnen Zweige entwickeln, so wäre das noch nicht die ganze Behandlung, denn nicht nur soll jeder Zweig für sich aus dem Allgemeinen abgeleitet, sondern jeder auch auf alle andern bezogen werden. Nun fragt sich: Was gehört denn in den Begriff der Kunst hinein und was nicht? Da finden wir viele streitige Punkte, daher ist dieses erst noch zu leisten, noch nicht gelöste Aufgabe, daß man den Begriff der Kunst vollkommen fixire und von allem Streitigen befreye. Dies die erste Aufgabe, die uns unser Grundsaz auferlegt, einen so bestimmten Begriff zu finden, daß von nichts mehr streitig ist, ob es hinein gehöre oder nicht. Doch muß es so gestellt seyn, daß die Möglichkeit des Entstehens neuer Zweige berücksichtigt wird. Es muß Einfluß geben der speculativen Principien auf [die] technische Ausführung und das müßte von allen Kunstzweigen wenn auch in verschiednem Grade gelten. Zu bezweifeln ist dies nicht, aber da es sehr verschiedne Verfahrungsarten in der Ausführung gibt und wenn man damit vergleicht

8

Geschichtliche Einleitung

17

die verschiednen Ansichten der Kunst im Großen, so ist eine gewisse Korrespondenz zwischen beyden nicht zu verkennen. Daher müssen die speculativen Principien bis auf einen gewissen Punkt geführt werden, daß klar der Zusammenhang des Technischen würde. Bis auf diesen Punkt ist die Sache noch nicht; sondern große Differenz zwischen denen, wo Zurückgehen auf allgemeine Principien dominirt, und denen die mehr von [der] Betrachtung des Einzelnen ausgehen. Jedes Unternehmen nun muß sich bewußt seyn auch wie weit es den andern entgegen komme. 1.) Wollen wir den Begriff der Kunst als Einheit bestimmen und zwar so, daß sich die einzelnen Zweige als nothwendig und den Begriff erschöpfend ergeben. 2.) Daß wir für den Umfang der Betrachtung uns nun entscheiden entweder für das Ausgehen vom Einzelnen aus rückwärts auf das Allgemeine; oder für das Ausgehen vom allgemeinen Begriff nach dem Einzelnen hin, dann mit einer Bestimmung, wie weit dieser solle befolgt werden. 3.) Daß wir müssen die beyden Betrachtungsweisen der ganzen Sache auf einander zurückzuführen suchen, die eine, welche vom Eindrucke ausgeht, also als Feststellung des Schönen oder Schönen und Erhabenen, und von der andern Seite von der Thätigkeit ausgehend in der Productivität selbst. Da muß das Verhältnis in dieser Beziehung fixiert werden und von welchem aus wir construiren wollen[,] ob von dem aus, daß das Ursprprüngliche die Productivität sey, oder hingegen der Eindruck. Erst nach dieser Bestimmung könnten wir anfangen, das ganze Gebieth der Kunst und des Geschmacks durchzuführen bis ins Einzelne hinein. 1.) Was den Umfang in der lezten Beziehung betrifft, so gehört die Ästhetik als menschliche Thätigkeit allerdings zu den philosophischen Disciplinen[;] allein geht man von mehr historischen Betrachtungen aus, so gehören Vorbestimmungen mehr übers Technische oder Geschichtliche an einen andern Ort. Wir behandeln sie als von der Ethik ausfließende Disciplin im Allgemeinen* und dann Subsumtion der einzelnen Erscheinungen.

33

18

Ästhetik

8|9

In so weit Kunst als Einheit aufgestellt werden kann, ist dann das Nächste, die Hauptgebiethe zu bezeichnen, in denen sich dann diese Thätigkeit zeigt. Das läßt sich nicht rein von oben her ableiten, da diese Mannigfaltigkeit schon mehr oder weniger ein Individuelles ist, was nur kann aufgefasst werden, so wie es gegeben ist. [Der] Zusammenhang der Kunst mit den menschlichen Sinnen ist nothwendig da nur durch diese die Eindrücke kommen[, die] also von der Beschaffenheit der Sinne abhängen. Diese selbst sind nicht von oben abzuleiten, sondern man nimmt sie aus dem Begriff der Menschen wie sie uns gegeben sind. Also geht man da vom Gegebnen aus doch im Streben, es zusammenzufassen. Sind die Kunstzweige aufgestellt, dann ist wieder die Mannigfaltigkeit in diesen selbst auf die nehmliche Weise zu behandeln. Die einzelnen Gattungen in einer bestimmten Kunst kann man noch weniger rein von oben her ableiten, denn | diese Entwicklung schon mit ein Theil der Geschichte ist. Sehen wir nun, daß es in denselben Kunstzweigen zu denselben Zeiten und unter verschiednen Nationen Gattungen gibt, die da entwickelt sind, anderswo nicht, so muß man sondern und gewisse Allgemeinheiten suchen, die sich unmittelbar mit dem Begriff des Kunstzweiges ergeben, und neben diesen dann Besonderheiten, die mehr einen individuellen Grund haben. Dies würde Grenzpunkt seyn für unsre Annäherung an die andre Art, die von der technischen Seite, also vom Einzelnen ausginge. In dem Maaß als wir in einem Kunstzweig die wesentlichen und zufälligen Äußerungen scheiden, müssen wir Säze aufstellen, die die Vollkommenheit eines jeden taxieren. Die technischen Vorschriften haben freylich unmittelbar diese Vollkommenheit im Auge, dies ist von der andern Seite das nächste, was uns erst das lezte seyn kann. Sagt man nun, dies und jenes macht die Vollkommenheit eines Kunstwerks aus, so schneidet man sich ab, Vorschriften aufzustellen, wie der Producirende zu verfahren hat, um sie zu erreichen, was wir dem technischen Gebieth überlassen. Die lezte allgemeine Aufgabe dann, die zwei entgegengesezten Ausgangspunkte[,] den vom Eindruck oder den von der Production[,] auf einander zurückzuführen, das ist die erste, die wir

9

Geschichtliche Einleitung

19

auflösen, weil davon abhängig ist die Art, wie wir den Begriff der Kunst bestimmen können. Kurz entwickle ich z. B. eine aufgestellte Theorie aus der ersten Entwicklung der modernen Kunst, zugleich aus dem Alterthum her, sie sey die Nachahmung der Natur.* Wie kann das entstanden seyn? Dies schließt in sich eine bestimmte Art, sich jenes Verhältnis zu construiren. Man sagt, die Gegenstände die uns umgeben und afficiren, werden uns theils dadurch, daß sie unsre Sinne afficiren, zu Vorstellungen und Bildern, andrerseits entsteht durch diese Affection ein Zustand des Menschen einer Wahrnehmung, seines Verhältnisses zu einem Gegenstand, die ihn zu einer Action auffordert, jenes Richtung auf Erkenntnis, diese auf Begehrungsvermögen. Zwischen beyden liegt nur Wohlgefallen oder Mißfallen, das weder Erkennen, noch Handlung hervorrufend ist. Da sagt man, dieses fixirt nur die Richtung von der die Kunst ausgeht, und je mehr der Einzelne sich dieser hingibt, desto mehr gehört er diesem Gebieth an. Aber das Wohlgefallen, welches nun die Gegenstände erregen, erregt auch wieder ein Verlangen nach diesen Gegenständen und da der Mensch sie selbst nicht produciren kann, so bildet er sie nach, und dieses Nachbilden des in Natur Wohlgefälligen ist die Kunst. So hängt [die] Bestimmung der Kunst wesentlich ab von dem, ob man von Spontaneität oder Receptivität ausgeht; und fragt man, was bedeutet eigentlich und ist diese Thätigkeit die Kunstwerke produciert, dann geht das wesentlich von der andern Ansicht aus. Einen Schritt weiter sagten wir: Nach Aufstellung des allgemeinen Begriffs sollen die verschiednen Kunstzweige gestaltet werden. Allein wie es verschiedne Arten gibt, zum allgemeinen Begriff zu gelangen, er selbst also ein verschiedner ist, so kann der eine nicht unter sich begreifen was der andre. Fragen wir weiter, was rechnen wir gewöhnlich zu den schönen Künsten und entstehen alle so? Die bildenden Künste können es leicht; wo menschliche Gestalt noch nicht entwickelt ist und noch nicht Bildung für diesen Wohlgefallen, da entsteht diese Kunst nicht. Die Griechen sahen wohlgefällige Gestalten und daher vervielfältigten sie sie. Auch die Dichtkunst insofern sie menschliche Verhältnisse oder

34

20

35

Ästhetik

9 | 10

Natur darstellt, kann von jenem Wohlgefallen ausgehen, nur daß es hier mehr ein Wohlgefallen an dem Geistigen des Menschen sey, und in der Natur am Verhältnis in dem der Mensch zu ihr steht. Wie geht das nun mit der Musik? Ist da das Wohlgefallen als das erste zu denken vor der Kunst, also abgesehen von menschlicher Thätigkeit und Stimme? Soll sie also auf Nachahmung des Vogelgesangs oder von allerlei Naturtönen reduciert werden, ja so hat sie gar nicht den Rang der bildenden Kunst. [Das] Verhältnis zum Nachzuahmenden ist verschieden. Die Architectur[:] was soll denn die nachahmen? Die erscheint so sehr rein als Werk des Menschen, daß man durch jenes auf Abentheuerliches käme. Geht man so von pathematischer Seite aus, so gibt es ein ungleiches Verhältnis der verschiednen Kunstzweige zum Begriff, so daß das Gebieth selbst nicht die vorausgesezte Einheit hat, | oder die Ableitung nicht die richtige [ist]. Ergibt sich so etwas auch vom entgegengesezten Standpunkt aus, so sieht man daß beyde auf einander zurückzuführen sind. Eins nehmen wir hinzu sc. Wie wird es seyn mit der Poesie? Man sagte, die hat es zu thun doch mit Gegenständen aus der menschlichen Welt oder auch wieder aus der Natur. Nehmen wir das genau, so sollte die Poesie den Menschen geben, wie er ist. Ich frage aber: Ist etwas Poesie der Gegenstände wegen, die darin behandelt sind? Offenbar nein; die Behandlungsweisen derselben Gegenstände sind durchaus nicht Poesie, obgleich sie gerade so viel geben, als wir von Außen empfangen haben. Also sind es die Gegenstände nicht und damit fällt der ganze Begriff von [der] Nachahmung der Natur. Man kann sehr bestimmte und anschauliche Anschauungen und Darstellungen denken von einem Menschen, aber Poesie ist es nicht, wenn es rein prosaisch auf der Reflexionsseite steht. Wenn es nicht der Gegenstand ist, der nachgeahmt wird, was ist es dann? Sagte man von diesem Gesichtspunkt aus: Ja Nachahmung der Natur ist die Kunst nicht, sondern immer zugleich Correction ihrer Gegenstände, also Verbesserung der Natur.* Beydes ist nur scheinbar verschieden, da Verbesserung nur eine andre Art der Nachahmung, es ist nur, daß in derselben Einiges vermieden wird und zwar das was Störung wäre. So bleibt es vollkommen dasselbe.

10

Geschichtliche Einleitung

21

Stellen wir uns auf die andre Seite. Es verhalten sich die Künste entgegengesezt wie dort [das] Resultat, es gäbe Kunst, die ihren Eindruck von Außen hat und vervielfältigt, andre gibt es aber, von denen das gar nicht gilt; das gäbe keine Einheit. Nun von der andren Seite: Das ganze Gebieth sey eine ursprüngliche Productivität. Dieses ist sehr anschaulich in Beziehung auf die Künste in dem Maaß, als sie in jenem Begriff nicht aufgehen wollten. Die Musik können wir gleich gelten lassen als eine ursprüngliche Productivität, so den Tanz, da die Art harmonischer Bewegungen nicht in der Natur gegeben ist; so Architectur. Aber wie kommen dann die bildenden Künste zu stehen? Die scheinen doch ganz auf die andre Seite gehörig. Nehmen wir dazu, daß der Begriff von Schönheit der Gesalt in andren Climaten ein andrer ist, da doch die Gegenstände die man an einem Ort schön nennt, überall Analoges haben. Gibt es aber einen Kunstzweig, der auf die andre Seite gehört, so sehen wir, daß weder die eine, noch die andre Seite zu einem allgemeinen Begriff der Kunst gelangt. — Da ist nur zweierley übrig, entweder wir geben die Vorstellung von [der] Zusammengehörigkeit gewisser Eindrücke oder den Gegensaz zwischen beyden Beziehungen auf. Das erste sind wir nicht im Stande, weil wir unser Urtheil immer doch nach dem richten, in welchem Grad ein Kunstwerk einen Eindruck hervorbringt. Das ist ganz unabhängig von dem Fehler in der Kunst, auf den Effect hinzuarbeiten, denn das ist etwas andres als das reine Wohlgefallen, das aus [einem] Totaleindruck entsteht; man versteht immer eine einseitige Richtung, seine Kraft auf eines zu werfen, um den Mangel an Harmonie des Ganzen zu deken. Macht ein Kunstwerk gar keinen Eindruck, so nennt es Niemand so, und denkt man das abnehmend und wir kommen zum Nullpunkt, so kann man sehen, daß es ein Kunstwerk seyn will, aber ob wir dem Künstler auch die Tendenz zuschreiben, erklären wir es doch [für] ganz verfehlt. Niemand kann vom Kunstwerk den Eindruck trennen. Also bleibt nur, den pathematischen Standpunkt und den productiven Standpunkt von denen jeder für sich nur auf einige Künste zu passen scheint, in Eins zusammenzufassen, wobey

22

36

Ästhetik

10 | 11

dann möglich wird zu einem allgemeinen Begriff zu gelangen, der die Aufgabe ganz in sich schließt. Wie das geschehen kann, und wie die Ästhetik dann zu den andren Disciplinen zu stehen kommt, und daß es nur auf Einem Wege geschehen kann übergehe ich, und gehe zu einem Zweyten über das auch zum Begriff der Kunst führt. Praxis ist in diesem Gebieth immer vor der Theorie gewesen und erst durch Anschauung analoger Producte und Thätigkeiten ist man dazu gekommen, [Kunst] in allgemeinen Begriffen zusammenzufassen. Ein Begriff der also nur Resultat von gegebnen Einzelnen ist, kann nicht der richtige seyn, sondern der müßte a priori hergeleitet werden; | das mag man noch so sehr sagen, so antworte ich, dieser speculative Begriff sey hier gar nicht aus sich entstanden, sondern in Beziehung und bestimmt vom Empirischen; also immer darauf es ankommt, ob dieses richtig. Es fragt sich: Was für Gegenstände freyer menschlicher Thätigkeit hat man zusammenzufassen, wenn man nichts auslassen will, das unter den speculativen Begriff dann subsumirt werden müßte und nichts auslassen, was man unter diesen hernach subsumiren kann? Da gibt es bedeutende Unterschiede; ich fange mit einem Beyspiel an, wo die Frage ins Wesen eines ganzen Kunstzweigs einschlägt. Ein jedes, auch noch so schlechte Gebäude ist doch ein Gebäude. Denkt man ein noch so schlechtes Wohnhaus, aber doch einige Verzierungen dabey; ist nun das Ganze oder die Verzierung das Kunstwerk? Da theilen sich gleich die Meinungen. Die einen sagen, etwas das so ganz bestimmt einem Lebenszwek dient, das gehört ins mechanische Gebieth, wie ein Meuble, aber Verzierung daran, das gehört zur Sculptur also in die Kunst; die Architectur wäre nur Kunst, wo die Thätigkeit des Künstlers nicht beschränkt ist durch nothwendig in einem Zweke gegründete Bedingung.* Also [eine] Kirche wäre [ein] Kunstwerk nur, wenn man ohne akustische Bedingungen arbeitet. So unterscheidet man Productionen, die man ihrem Wesen nach Kunstwerk nennt, andre nur wegen etwas an ihnen, nicht das Wesen selbst. Sollen wir nun auch das alles, wo die Kunst gleichsam nur per accidens ist, mit zur Kunst rechnen, aber in

11

Geschichtliche Einleitung

23

der Trennung von Hauptgegenständen, oder nicht zur Kunst rechnen? Ja wo diese Trennung aber nicht angeht z. B. in Beziehung auf die Sprache[,] wird nicht die Poesie allein für eine Kunst gehalten, sondern auch die Beredsamkeit. Denke ich eine antike politische Rede, ja so muß die ganz darauf gerichtet seyn, die Versammelten in einer bestimmten Zeit auf eine bestimmte Weise zu bewegen. Vermöge des vorläufig Festgesezten, wäre also die Rede kein Kunstwerk, der Eindruck ist bloß der einer großen Geschicklichkeit der Behandlung des Gegenstands und der Menschen, also bloß praktische Virtuosität, aber Kunst nicht. Findet man aber eine äußre Harmonie und Wohllaut im Periodenbau cet., ja so empfangen wir einen Kunsteindruck, der auch da seyn könnte, wenn die Rede gar nicht so auf einen Zwek eingerichtet wäre, aber wer will da trennen? Soll da, was nicht Hauptsache ist, das ganze Werk zum Kunstwerk machen, oder soll diese ganze Gattung nicht zur Kunst gehören, sondern so daß sie nur das Künstlerische aus einem andren Gebieth hernähme? Da wir das in so verschiednen Zweigen finden so fragt sich: Macht das, daß etwas von Kunst an einem Werk ist, dieses selbst zum Kunstwerk und die Gattung zum Kunstzweig? Anders z. B. [die] grammatikalische Regel gehört nur in [die] Kunst, wenn man sie in Verse bringt, ist es dann ein Kunstwerk? Da sagt man nein, sondern was daran Kunst ist, das Metrum ist herabgewürdigt zum Dienste eines gewissen Zweks. Betrachte ich aber die Regel der Verse, so muß ich sie doch nach denselben Regeln beurtheilen wie die Verse der Aeneide.* Erst fragt sich also: Wie weit wollen wir den Umfang von Gegenständen stellen, an denen wir unsern Begriff zu suchen und zu greifen haben? Aber sind wir nun ans unendlich Kleine gekommen, so laßt uns auch nach dem unendlich Großen sehen. Da ist eine alte Rede, die ganze Welt sey ein Kunstwerk und das sey der die Menschen ursprünglich bestimmende Grund der Religion. Da müßten wir fragen: Sollen wir bey [der] Aufstellung des Begriffs darauf auch Rücksicht nehmen, daß die Welt darunter passe? In praxi ist das nicht bedeutend, da uns die ganze Welt nicht gegeben ist, wir müßten jedes Kunstwerk als Ganzes in uns haben können, was da nicht der Fall ist. Doch ist die Frage

37

24

38

39

Ästhetik

11 – 13

interessant, wenn man sie so stellt: Indem dies gesagt wird, denkt man dabey an die Kunst wie wir es hier fassen wollen, oder an die Kunst im mechanischen Sinn? Sagt man es ist höchstes Ziel aller Weltbetrachtung sie auf einen Calcül zu reduciren, die Himmelskörper zu wägen wie zu messen, so scheint die mechanische Kunst zum Grunde zu liegen. Gehen wir aber zu Kant z. B. wie er den gestirnten Himmel als das größte Beyspiel von Erhabenheit in der Natur darstellt*, so scheint doch wieder der Begriff des Kunstwerks in unsrem Sinn zu Grunde zu liegen; denn von der Seite hat man die Natur viel mehr behandelt als man daran dachte es auf [einen] Calcül zu bringen. Also auf Seiten des unendlich Großen entsteht die Frage so gut wie beym unendlich Kleinen. Da müssen wir erst einen Entschluss fassen, weil wir sonst nicht können den Anfang sezen. | Das alles ist nöthig, den Begriff Kunst zu bestimmen. Die lezte Frage ist das leichtre, weil uns nun schon das Gebieth der Kunst sich in die Mitte stellt zwischen das unendlich Kleine und unendlich Große. Selbst wenn wir die sittliche Schönheit noch herziehen, was der Analogie nach auf dasselbe führt, was wir Erhabenheit in der NaturErfahrung nannten, daß ein sittliches Leben auch den Eindruck des Kunstwerks macht, als Harmonie; so ist das doch nicht die Betrachtung von der man ausgeht bey [der] Construction der Sittenlehre, aber doch ist, was als Kunst könnte angesehen werden, wie dort bey der Welt, eigentlich an einem andern. Vorläufig würden wir uns nur verwirren, wenn wir das, was nur [als] Kunst scheinen will, weil etwas von Kunst an ihm ist, nicht ausschieden. Fehlt nichts!* | Ob wir von oben herab wollen, speculativ oder von unten herauf empirisch und wie weit, müssen wir uns entscheiden. Die Kunstbestrebungen sind da, ehe wissenschaftliche Betrachtungen darüber, d. h. die Kunst ist ursprünglich uns ein Gegebnes. Dasselbe gilt von allen menschlichen Thätigkeiten, auch von den ganz bestimmt sittlichen. Obgleich diese offenbar ein gegebnes sind, so sucht doch die Wissenschaft sie als solche aus dem Begriff des Menschen abzuleiten. Insofern nun die Kunstthätigkeiten doch auch freye, vom Willen ausgehende sind, müssen sie auch

13

Geschichtliche Einleitung

25

auf das Ethische zurückgehen. Begnügt man sich aber, zu zeigen, daß die Kunstfertigkeiten mit keiner andren sittlichen Thätigkeit im Widerspruch wären, d. h. etwas Erlaubtes seyen, so sind sie damit nicht erklärt. Wir sehen nun, daß wenn der Trieb zu solcher Thätigkeit entsteht, die Sittlichkeit ihn nicht unterdrückt; was aber sein Grund wäre, bliebe unerklärt. Folgen wir dem Begriff als der Freiheit angehörend, so muß man sie mit allen andren freyen Thätigkeiten zugleich erklären; d. h. sie muß aus der Ethik erklärt werden aus dem Begriff des Menschen, so daß wo sie gar nicht entstehen, ein positiver Mangel in [der] Entwicklung des geistigen Lebens wäre. So hätten wir von unten herauf ein Ziel erreicht und das müssen wir erreichen, wenn es Wissenschaft bilden soll. Es kann viel Lehrreiches über Geschmack usw. gesagt werden, aber das ist nicht das wissenschaftliche. Wie weit müssen wir aber doch auch auf dieser andern Seite gehen und welches ist die Gränze? Betrachten wir die eigentlich technischen Vorschriften, so können wir sagen, es seyen wesentlich zweierley, Vorschriften für den Künstler und solche für den Kenner, technische und kritische Regeln, die sich aber doch auf das technische bezögen. Offenbar wird es unter diesen Regeln solche geben, die nicht allein aus dem Begriff des bestimmten Kunstzweigs abzuleiten sind, sondern zugleich aus dem Verhältnis desselben zu dem Material, z. B. dem bildenden Künstler Vorschriften für [die] Behandlung des Marmor, oder Erzes, können sie sowohl für den Künstler seyn, wie er es zu handhaben, als für den Kenner. Welches der Grad der Vollkommenheit sey, den ein solches Kunstwerk haben muß und so die Verbindung der Theile, was abweicht sind Mängel, das sind kritische Vorschriften, aber in Beziehung auf das Technische. Stelle ich diese Betrachtung hier auf, so ist darin, daß diese Regeln nicht aus dem Begriff des Kunstzweigs allein sondern auch [aus] ihrem Verhältnis zum Stoff gegründet seyen, so ist das für uns Grund genug, dieses auszuschließen und der Kunstschule zuzuweisen, wohin Kenner so gut als Künstler [gehören]. Dies [ist] unsre Grenze: Wir betrachten nichts, was gänzlich aus dem Begriff der Kunst hinausgeht. So bestimmt das scheint, kann es noch zu mancherlei Mißverständnissen Anlaß geben. Betrach-

26

40

Ästhetik

13 | 14

ten wir nehmlich die verschiednen untergeordneten Arten und Gattungen in einem bestimmten Kunstgebieth z. B. in Poesie das Sonnet, Elegie usw. und fragen: Können wir diese unmittelbar aus dem Begriff der Poesie ableiten? Nein, sie sind ein Gegebnes und wo sie gegeben sind können sie nur als Poesie betrachtet werden, aber wer wollte behaupten, nirgends wo diese Formen nicht alle sind, ist die Poesie ausgebildet; z. B. Madrigal und Triolet hat sich bey uns nicht zur Gattung gebildet, ist selbst in Frankreich wieder im Aussterben und in England gar nicht, bey uns nur Nachahmung.* Solche Formen erscheinen relativ unmittelbar als willkürlich und gewissermaßen zufällige Formen. Dennoch sind diese nicht ebenso gut auszuschließen als jenes rein Technische, sondern an solches werden wir auch denken, wenigstens wo von der Begränzung die Rede seyn wird. Sie gehören her, wenn auch nur zur Betrachtung des Unterschieds | der wesentlichen und zufälligen Formen, den wir aus dem Kunstbegriff selbst herleiten wollen. Also unter derselben Formel finden wir Auszuschließendes und Aufzunehmendes, also durch diese Formel geht unsre Gränze. Hinaufwärts haben wir uns keine zu setzen, denn ist der ethische Ort der Kunstthätigkeit gefunden, so ist es auch der für den Eindruck der Kunstwerke. – Hinabwärts wäre die Gränze nun so zu bestimmen, da die Kunst einmahl schon vor der Theorie da ist, zu suchen alles Gegebne in den Begriff der Kunst in verschiednen Abstuffungen aufzulösen, wogegen alles was in die Schule gehört, wir ausschließen. Nun können wir den Umfang ganz übersehen und daraus die Anordnung und Art des Fortschritts abnehmen. Offenbar würden wir die Untersuchung verwirren, wenn wir mit den am meisten nach unten zu liegenden zuerst anfingen, wiewohl Veranlaßung dazu vorhanden ist. Daß die Kunstanlage vorhanden ist als das erste und die Betrachtung erst dadurch gewekt, könnte leicht zu folgendem Gang verleiten: Um aufzubauen, müssen wir zuerst sehen, was denn das ursprünglich Gegebne ist, d. h. wir müßten mit dem Mannigfaltigen in der Kunst beginnen; denn die bedeutendsten Kunstzweige waren alle da ehe eine Theorie entstand; und wenn nicht wäre Theorie doch erst vollständig, wenn alle entwickelt sind. Das gäbe

14

Geschichtliche Einleitung

27

den Gang zuerst die einzelnen Kunstzweige alle zu bestimmen, aber ohne den allgemeinen Begriff der Kunst schon aufgestellt zu haben, sondern erst nach [der] Bestimmung jener zu diesem hinaufsteigen. Das wäre ein sehr mißliches Unternehmen, da wir schwerlich zu [einem] einheitlichen Begriff von den einzelnen Kunstzweigen kämen, wenn wir sie nur vom Gegebnen auffaßten, und wären nicht sicher, daß wir es nicht bloß mit leeren und noch dazu mangelhaften Abstractionen zu thun haben, weil wir so nie Sicherheit darüber hätten, daß weder die Kunstzweige vollständig mit aufgenommen wären ins Material, woraus der allgemeine Begriff zu suchen wäre, noch daß sie gleichmäßig aufgenommen wären und nicht Untergeordnetes als coordinirtes. Wollten wir umgekehrt anfangen und rein zur Ethik zurückgehend sagen: Soll die Kunst etwas seyn, womit der Mensch sich beschäftigen soll, ohne daß es als ins Speculative gehörend nach und nach zu verschwinden hat, so muß sie in der Ethik wurzeln, und dann wäre [die] Aufgabe die ganze Kunst in ihren geschichtlichen Erscheinungen bis zu unsrer Gränze abwärts rein a priori zu construiren. Das ist so vergeblich wie das erste gewagt; denn nicht nur ist hier die Täuschung so ungemein leicht und den größten Männern begegnet. Man glaubt rein im Deductionsproceß von Oben begriffen zu seyn, aber man schielt doch immer aufs Vorhandene herunter und fühlt so die Nothwendigkeit dieses mit zur Construction zu nehmen; je größer die Geschicklichkeit ist, desto leichter verstecken sich solche Willkürlichkeiten; aber geholfen ist der Sache nicht; denn kommt dann ein recht Genauer; so zeigt er diese Willkürlichkeit und dann ist die ganze Theorie umgestürzt. Wie haben wir dann zu Werke zu gehen, wenn keins von beyden das richtige ist? Ganz so verhält es sich, wenn wir das Leben der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft betrachten. Diese Staaten nehmlich, die in so erstaunlich vielen Formen existiren, sind auch das Werk freyer menschlicher Thätigkeit und die Thätigkeiten selbst eher da als man an eine Theorie darüber denkt. Da sind die Staaten in mannigfaltigen Formen gegeben, potentielle Verschiedenheiten und formelle, und wir können es nur als das

28

Ästhetik

14 | 15

Gegebne auffassen. Wenn man nicht meinen will, daß das ganze Staatsleben lediglich zur Corruption gehöre und in der Natur nun das Gegentheil indicirt sey, sondern annimmt, das Leben im Staat gehöre zur menschlichen Entwicklung: so muß es seinen Ort in der Ethik haben. Nun gibt es hier auch was dort Künstler und Kenner ist, doch hier nicht so streng wie dort, da eigentlich jeder im | Staat mit Künstler ist und mit arbeitet am Staat. Da muß die Wurzel ebenfalls in der Ethik gezeigt werden, daß solches Leben in der Natur aufgegeben sey und da muß der allgemeine Begriff des Staates seinen Ort haben. Auch hier kann man auf beyde Arten verfahren, viele Formen sind gegeben, daher der allgemeine Begriff des Staates schwierig, wollte man sagen: wenn wir sicher sind, alle Formen beysammen zu haben, so wollen wir daraus den allgemeinen Begriff entwickeln, so ist das ein Verfahren, aber nie sicher, da wir nie wissen, ob wir alle Formen hätten. Von da wäre er auch nichts als eine Abstraction, nichts als die einzelnen gegebnen Formen, in denen man wegließe, was sie von einander unterscheidet. Will man das andre Verfahren und in der Ethik den Ort finden[,] also die Aufgabe den Staat zu bilden und so daß man daraus die einzelnen Staaten deduciren könne: so treten da wieder alle die Täuschungen und Willkürlichkeiten ein, nach dem Gegebnen zu schielen. Da ist die Theorie dann leer und nicht ausführbar. Wenn nun weder das eine noch das andre in ihrer Entgegensezung das richtige ist: wie haben wir nun zu Werke zu gehen? Wir können gar nicht anfangen ehe wir uns entscheiden, ob wir unsern Gegenstand unter [der] Form der Thätigkeit oder des pathematischen Eindrucks betrachten wollen. Nun sind wir darüber einig, daß wir beydes als Eins betrachten müssen, und ist entschieden, daß in jedem Fall unsre Disciplin in [die] Ethik falle, so ist damit entschieden, daß die pathematische Seite untergeordnet werde der productiven. Dies vorausgesezt fragt sich: Werden wir in der Ethik die Aufgabe so finden, wie wir sie brauchen können, um in unsrer Betrachtung so weit zu gehen, wie wir uns vorgesezt haben. Wenn wir den Begriff der Kunst so finden, daß wir die wesentlichen Kunstzweige daraus ableiten können. Das kommt darauf an, wie die Ethik selbst gestaltet ist; doch ist

15 | 16

Geschichtliche Einleitung

29

offenbar [eine] Entscheidung nicht möglich ohne die Sinnlichkeit des Menschen in ihrer Besonderheit zu betrachten und die kann die Ethik nicht construiren, sondern nimmt sie nur auf. So wird alles doch auf ein ursprünglich Gegebnes zurückgeführt. Dieses gibt zwei wesentliche und in gewissem Sinn entgegensezte Theile: Wir werden vom Gegebnen und mehr oder weniger in jedem gegebnen Bewußtseyn der Kunstmäßigkeit [Vorhandenen] ausgehen und dann rükwärts um den allgemeinen Begriff der Kunst in der Ethik zu finden. Dieses speculative wird der erste Theil seyn, und nach [dem] allgemeinen Begriff [der] Kunst werden wir die verschiednen Kunstzweige einerseits in Beziehung auf den allgemeinen Begriff [betrachten] und andrerseits [in Beziehung] auf die Möglichkeit solcher verschiednen Formen in jedem Gebieth und inwiefern diese den einzelnen Kunstzweig erschöpfen. Dabey werden wir was in so unmittelbarem Verhältnis zu einem Kunstzweig steht von dem, was mehr zufällige Erscheinung ist aber allemahl sich unter einen bestimmten Zweig stellt unterscheiden. Dieses Zweyte ist der schon mehr auf der geschichtlichen Seite liegende aber doch im Allgemeinen bleibende Theil. Mit allen diesen Angaben könnten wir auch umgekehrt operiren, dann erhielte unsre Untersuchung andren Charakter. Wir könnten die einzelnen gegebnen Zweige voraussezen und mit der Untersuchung anfangen die verschiednen Classen, wie sie sich finden in Coordination stellen und kämen so auch dazu durch eine gewisse Abschätzung das Zufällige vom Wesentlichen zu unterscheiden, dieses festzustellen und zum Allgemeinen heraufsteigen. Erstes Resultat wäre so das Gebieth der äußren Kunst in seinen verschiednen Äußerungsarten als Ein Ganzes anzuschauen; und das durch die verschiednen Zweige durchgemacht würde man versuchen, ob sie sich unter einen allgemeinen Begriff subsumiren werden, und ob das Gegebne dann einen Ort darunter finde oder nicht. Dabey würde das leztre vorläufig problematisch gelassen und überall eine solche Abschäzung seyn, nur zu unterscheiden was sich zur lezten Aufgabe eignet [und] was nicht. Dieses beständige Arbitriren ist aber das dem wahrhaft philosophischen entgegengesezte, ist das Empirische. |

30

41

Ästhetik

16

Wir schlagen den ersten Weg ein. Zuerst rechtfertigen wir die Ästhetik als selbständige Disciplin und doch von Ethik abzuleitende, finden aber die Rechtfertigung nur im Verhältnis zwischen Ethik und Ästhetik. Es ist nicht möglich eigentliche wissenschaftliche Untersuchungen zu rechtfertigen, ohne die Voraussezung daß das Wissen Eins ist, und alle Gliederungen die wir daran machen auf jene Einheit des Wissens zurückgehen muß. Daraus folgt, daß alle einzelnen Wissenschaften gegeneinander in zweifachem Verhältnis stehen können, der Coordination und der Subordination. Coordinirt sind [diejenigen,] die in Einem und demselben Act aus der Idee des Ganzen können aufgestellt werden; subordinirt sind diejenigen, von denen die eine nicht kann aus der Idee des Ganzen aufgestellt werden, ohne daß die andre vorher aufgestellt sey. Ein ganz andres ist es, von einer Disciplin auf eine coordinirte zurückzugehen, oder auf eine der sie subordinirt ist. Damit ist nicht gesagt, das eine sey unrichtig, sondern beydes gleich nothwendig, nur jedes an einem andern Ort. Wenn wir auf die von Anfang [an] aufgestellte und im Wesentlichen bestimmt beibehaltne Organisation des Wissens [und das] vorhin aufgestellte Princip zurückgehen: so hat man überall Ethik und Physik als coordinirte Wissenschaften aufgestellt; über beyde eine höhere, der beyde subordinirt sind, die man Dialektik oder Metaphysik usw. nannte. Neben jenen beyden aber hat man keine andern gestellt, also vorausgesezt es gehöre wesentlich zusammen der menschliche Geist und [die] Natur und kein Drittes dazu. Fragen wir nun nach unsrer Disciplin so muß sie, wenn jene zwei nun sich coordinirt sind, der Ethik subordinirt seyn, denn das agens in der Kunst ist der freye menschliche Geist in seiner Thätigkeit. Existirt also eine Objectivität unsrer Disciplin, so ist sie nur der Ethik subordinirt. Also kann wesentlich die Ästhetik nur bestehen als der Ethik untergeordnet, daher kann man sie nur aufstellen durch Zurückgehen auf die Ethik.* Nun ist aber schon gesagt, es sey nicht möglich dies zu thun, wenn wir nicht die menschliche Sinnlichkeit als Organ der Kunst ebensowohl in Beziehung auf [die] thätige als [auf die] receptive Seite als

16 | 17

Geschichtliche Einleitung

31

ein Gegebnes vorausnehmen. Ebenfalls ist beyläufig angeführt eine Äußerung Schellings[,] freylich über die bildende Kunst[,] man werde sie mehr aus der Naturwissenschaft als dem Geiste erklären müssen, womit uns ein Zurückgehen auf die Physik zugemuthet wird.* Was ich sage erfordert das auch; denn die menschliche Sinnlichkeit hat zwar ein Ende vermöge dem sie dem Geiste angehört, in ihrem Daseyn ist sie aber in der Natur und nur aus dieser zu verstehen. Das unsrige ist nun weit allgemeiner als das von Schelling; denn jeder Kunstzweig muß eben deswegen weil er mit der menschlichen Sinnlichkeit zusammenhängt, auch etwas Besondres in der Natur haben, worauf man zurückgehen muß z. B. aus dem entgegengesezten Kunstzweig der Musik. Ihre Principien gehen auf [die] Entstehung des Schalles und [die] Bedingung unter der er ein Ton wird zurück. So muß jede Kunst ihre physische Basis haben. Nun müssen wir das beydes als sehr verschieden unterscheiden, das Zurükgehen auf Ethik und das Hinübergehen (nicht Zurückgehen) auf die Physik. Jenes ist für uns das ursprünglichre als das, was das Princip construirt; und es ist daher wesentlich Eins, das Sichbegründen aus der Ethik. Das Hinübergehen auf Physik ist hingegen ein vielfaches; aber nichts ursprüngliches, denn nie können wir auf Physik übergehen auf unsrem Weg unmittelbar, sondern nur von der Ethik aus, also muß das Hinübergehen auf Physik begründet seyn im Zurückgehen auf die Ethik. Die Ethik hat subordinirte Disciplinen, von denen die unsre eine ist, die sich in ihr begründen müssen. Aber es ist in diesen nothwendig indem sie sich ausbreiten und zur Anschauung werden wollen, ein Hinübergehen in die Physik. Der Ethik subordinirte Wissenschaften müssen mehr seyn, nicht Eine; kann man nun behaupten, daß von andren der Ethik subordinirten Wissenschaften auch ein Hinübergehen auf Physik nothwendig sey, oder nicht? Wenn | nicht, so wäre es der Ästhetik eigenthümlich. Wenn andre auch, so läge es in ihrer gemeinsamen Natur, und die ist nur daß sie in der Ethik liegen und da wäre [schon] in der Ethik ein solches Hinübergehen auf die Physik nothwendig. Nun ist in [der] Politik ebenso ein Hinübergehen auf Physik nothwendig, da die Verschiedenheit der Staatsbildung

42

32

Ästhetik

17

als die wesentlichen Elemente jedes Staates werden ja, weil da die Thätigkeit des Menschen in der Natur liegt nur verstanden unter Voraussezung dessen, was seinen wissenschaftlichen Ort in [der] Physik hat. Also ist dieses Hinübergehen ein allgemeines. Sind nun Ethik und Physik wirklich coordinirt und es ist in der einen ein Übergehen in die andre nothwendig, so muß umgekehrt in der andren auch ein Hinübergehen in diese nothwendig seyn, sonst wäre [es] Subordination, nicht Coordination. Fände sich das nicht, so ist es ein Mangel, der blieb lange Zeit in diesen Wissenschaften und diese Seite ist daher noch unausgebildet. Ist ein gegenseitiges Hinübergehen aufeinander nothwendig, so kann das seinen Grund nicht haben in den Entgegengesezten; das Coordinirte ist aber durch seine Besonderheit einander entgegengesezt; also muß es gegründet seyn in dem, was über ihrer Entgegensezung steht; also muß es in jener höhren Wissenschaft begründet seyn, die man Dialektik nennt. Daraus folgt, daß der erste Theil unsres Verfahrens nicht so einfach seyn kann wie es schien, daß Zurückgehen auf Ethik nicht genügt, sondern um das Hinübergehen auf Physik zu begründen man zu jener höhern Wissenschaft aufsteigen muß. Würden wir nun vergeblich in [der] Ethik den Ort dieser Disciplin suchen, wenn menschliche Sinnlichkeit nicht als gegeben vorausgesezt wird; so sind wir schon von Anfang [an] in dieser Nothwendigkeit.

43

1. Teil. Allgemeiner spekulativer* In dieser ersten Aufgabe des speculativen Theils, die den Ort unsrer Disciplin in [der] Ethik finden will, liegt eine große Schwierigkeit, die nicht völlig beseitigt werden kann. Wir können nehmlich nicht sagen, daß es eine Ethik gebe, auf die man sich ohne Weiteres berufen kann, sondern von jedem philosophischen System aus ist sie anders gestaltet. Beruft man sich auf eine bestimmte Ethik, so sezt man also das besondre System voraus, was keine Anerkennung hat. So scheint jedes philosophische System, weil es seine eigne Ethik hat, auch seine eigne Ästhetik [zu] haben.

17 | 18

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

33

Einen vollkommen sichern Anfang für unsre Disciplin gibt es also nicht eher, bis ein System der Wissenschaften allgemein anerkannt ist. Das hieße die Sache aufschieben ins Unendliche (als absolut Unbestimmtes). Die Geschichte des menschlichen Wissens zeigt deutlich, daß sie in entgegengesezte Perioden zerfällt, in Zeiten, wo eine gewisse Gestaltung des Wissens allgemein anerkannt ist, dann folgt eine, wo dieses Anerkannte aufgehoben wird, womit eine Genesis von relativ entgegengesezten Methoden gewöhnlich verbunden ist. So gab es [eine] Zeit der allgemeinen Herrschaft der aristotelischen Philosophie.* Das fiel und eine Mannigfaltigkeit folgte. Das kann sich also mehrmals wiederholen, und käme eine Zeit allgemeinen Anerkennens eines philosophischen Systems, so wäre auch da noch das Aufstellen der Ethik nach diesem nur problematisch. Diese Schwierigkeit vermindert sich einigermaßen, da wir nun eine bestimmte Richtung haben, die Kunst anzuknüpfen. Alle Ethiken, die hierauf keine Rücksicht nehmen, können wir also bey Seite legen und fragen: Was muß uns eine Ethik geben, in der wir sollen die Begründung der Ästhetik finden. Denken wir uns eine Sittenlehre sey einseitig, entweder als Pflichtenlehre, oder Tugendlehre: so kann uns die nichts nutzen, da noch nie, daß man Künstler sey, als Pflicht ist aufgestellt worden, ja nicht einmahl, daß einer ästhetischen Geschmack haben soll, sondern das Fehlen desselben sieht man nicht als Sittlichkeit, sondern als Naturmangel an. So wenn es bloße Tugendlehre ist; denn sezt man die Kunst einmahl voraus, so gibt es Tugenden, die der Künstler in [der] Ausübung seines Berufs üben muß, aber gar nicht solche, die er als Künstler allein üben muß, sondern bey jedem Berufe. Wo die SittenLehre so ist, bleibt zweierley, entweder es fehlt einem philosophischen System an der Fähigkeit, dieses Gebieth zu begründen, oder man muß über die Ethik wegspringen | und [die] Begründung der Ästhetik in einem Höhren suchen, aber das ist unrecht, wenn Kunst menschliche freye Thätigkeit ist, die als solche nur aus der Ethik begriffen wird, da ihr nur die Physik gegenübersteht. Man kann einwenden, das Denken sey ja auch eine freye Thätigkeit und in seinem ganzen Umfange zusammengefaßt führt es auf den Begriff der Wissenschaft; also

44

34

Ästhetik

18

aufs Wissen und nun wird ja die Begründung des Wissens auch nicht in der Ethik gegeben, also ist es ganz dasselbe. Das will ich nicht anfechten, man stellt ja auch Kunst und Wissenschaft immer zusammen, als coordinirte also müssen beyde [die] gleiche Begründung haben. Will man nun beyde davon dispensieren und sie ihre Begründung finden lassen in dem was über jenen zwei Wissenschaften liegt, so ist es unmöglich, da wir die Kunst als vor dem Fragen nach der Theorie vorhanden ansehen. Das Vorangehen ist nur begriffen durch [die] Voraussezung des menschlichen Sinnesvermögens und der Außenwelt; und das sind doch Begriffe, die in die Physik gehören. So die Wissenschaft auch, denn die Richtung auf das Wissen und Elemente des Wissens und Versuche [diese] zusammenzustellen sind immer schon da, ehe man nach dem Grund des Wissens fragt, also auch die Aufgabe den Kreis der Wissenschaften zu begreifen. Überall ist da der Gegensaz vorausgesezt, Verschiedenheiten in den Gegenständen des Wissens und des Verfahrens des Wissens; und das gehört ebenso in die Ethik weil freye Thätigkeit, als jenes in [die] Physik. Also bleibt die Bedenklichkeit stehen auf beyden Seiten. Die eine geht uns hier nichts weiter an. — Wie läßt sich denn die Ästhetik so wie wir es wünschen begründen? Es muß uns gegeben seyn eine vollständige Anschauung von den freyen Thätigkeiten des Menschen insofern sie zu seinem geistigen Leben gehören. Ist das zunächst ein Punkt, der in die Ethik gehört? Fassen wir diese weiter als nur in Form der TugendLehre und PflichtenLehre und sollen darin Geseze seyn für die freyen Thätigkeiten des menschlichen Geistes, so muß daraus auch begriffen werden können der Complex von Allem, was durch diese freyen Thätigkeiten möglich ist und also wirklich werden muß. Die Ethik muß also gleich darauf Rücksicht nehmen, daß dieses durch sie zu begreifen ist. Also muß die Kunstthätigkeit entweder da mitbegriffen werden, oder sie ist etwas, was gar nicht dahin gehört, also auch gar nicht seyn soll. Wenn wir nun die Thätigkeit unsres geistigen Lebens so fassen wollen, so können wir nun, da uns nichts andres ob liegt, als was wir aus der Ethik heraus nehmen sollen, erst vorläufig hineinlegen, da sie noch nicht so behandelt ist, bloß eine solche

18 | 19

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

35

Gesamtanschauung der freyen menschlichen Thätigkeiten zu bilden. Da werden wir uns leicht verständigen über zweierley, aber die Art der Verständigung wird hier auch nur unsrer Aufgabe angemessen seyn; d. h. das Begründen dieser Construction der Ethik noch höher hinauf müssen wir dieser selbst überlassen. Wir unterscheiden in den menschlichen freyen Thätigkeiten solche, von denen wir voraussezen, daß sie von Allen, die wir unter Menschen subsumiren, auf dieselbe Weise verrichtet werden und vorkommen, identische Thätigkeiten; und dann auch solche, bey denen wir gleich die Verschiedenheit voraussezen: individuelle Thätigkeiten.* Stellen wir uns z. B. das Denken vor, so sezen wir es im Allgemeinen betrachtet als identisch voraus, sonst gäbe es keine Verständigung verschiedner Menschen. Aber allerdings wenn wir das Denken nun in seiner Wirklichkeit betrachten, so denkt jeder nur in einer bestimmten Sprache und darin liegt schon eine Verschiedenheit; so differencirt sich das allgemeine identische Denken in der Wirklichkeit. Beyspiel für das Entgegengesezte sey uns die menschliche Thätigkeit, die wir das Empfinden nennen. Man kann freylich fragen, ob es eine freye Thätigkeit ist; und fragt man ob es von mir abhänge, ob ein solcher Act so oder so ausfalle, mir angenehm oder unangenehm sey, so kann man das nicht sagen im Einzelnen. Ist aber deßwegen die Thätigkeit selbst keine freye? Es hängt ja immer mehr oder weniger von meiner freyen Thätigkeit ab, ob ich mich von einem Gegenstand afficiren lassen wolle oder nicht. Nimmt man freye Thätigkeit einer bestimmten Richtung, so afficirt mich Andres nicht, das mich sonst afficiren würde. Also hängt die Möglichkeit | eines solchen Afficirens vom Zustand der freyen Thätigkeit ab. Ist nun das Empfinden selbst ein überall identisches oder nicht? Da scheint die Verneinung schon im Gesagten zu liegen, das sey nicht der Fall, denn niemand bestrebt sich den Andern zu corrigiren, wenn er etwas anders empfindet als jener; sondern man sezt gleich die Differenz der beyden Persönlichkeiten für dieses sinnliche Gebieth voraus. Nun gibt es auch Empfindungen von weit mehr geistiger Art z. B. der Eindruck den eine sittliche Handlung macht. Gilt auch von diesen Empfindungen, daß nicht

45

36

Ästhetik

19

alle auf einerley Weise empfinden? Ja das scheint nicht; sondern sinnliche Empfindungen scheinen rein zufällig, ob sie in Allen gleich sey oder nicht; hingegen was man mit Unwillen empfindet, das scheint man von jedem Andren auch zu verlangen. Allein diese Voraussezung beruht noch [auf] einer andern, zwischen den Menschen wo man dieses voraussezt als identisch, sezt man schon etwas Andres früher voraus. Keiner sezt voraus, ein Barbar solle das Gute und Böse so wie er empfinden, also sezt man das nur von denen unsres gleichen voraus; also begründet es sich auf eine schon bestehende Gemeinschaft zwischen ihnen und dies ist eine Auffhebung des Differenten; und was nicht in dieses gemeinte Gebieth gehört, davon gestalten wir gleich differente sittliche Empfindungen. Also ist die Differenz das ursprüngliche. Sehen wir nun dieses Differiren als etwas allgemeines an, so daß jede menschliche Thätigkeit entweder identisch oder different sey und fragt nun, wohin gehört dann die Kunstthätigkeit, so kommt man in Verlegenheit. Denkt man an den allgemeinen Typus einer Kunst z. B. der Mahlerey, so erscheint es im Allgemeinen in Allen als dasselbe; ein äußres Hervorbringen von Gestalten; so von der Musik als Bewegung der Stimmwerkzeuge. Aber doch muß man sagen, dieses Identische ist eigentlich noch gar nicht die Sache selbst, denn die kann man, wenn auch als Thätigkeit betrachten, doch nicht von der pathematischen Seite trennen. Das Hervorbringen von Formen, ja das ist nicht an sich die Mahlkunst, sonst gehörte ein Grundriß eines Gebäudes usw. auch dahin. Also ist diese Thätigkeit nicht die Kunst um ihrer Identität willen, sondern nur insofern sie einen bestimmten Eindruck hervorbringen will. Insofern nun die Kunst ein methodisches Verfahren ist in diese Richtung, so erscheint sie eine verschiedne, aber freylich nicht unmittelbar als in jedem Menschen verschieden, wohl aber als in einem gewissen Complex von Menschen anders als in andern; sie erscheint in einer nationalen Differenz, da nicht jedes Volk dasselbe schön nennt, also diesen Eindruck nicht auf dieselbe Weise empfängt. Da nun das Hervorbringen gleich eine Richtung hat für einen solchen Complex, so ist es keine persönliche Thätigkeit, sondern eine nationale; denn der Künstler macht sein Werk nur

19 | 20

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

37

äußerlich um dieser willen, um der Nation willen. So trägt die Kunst die nationale Differenz wesentlich in sich. Noch ein Bedenken könnte einfallen. Als ich das Denken aufstellte als Beyspiel κατ΄ ἐξοχὴν* von identischen Thätigkeiten, so machte ich gleich die Beschränkung, es sey aber in der Wirklichkeit different in der Sprache und diese ist ja etwas nationales; warum kann man also die Sache nicht umkehren und auch vom Denken sagen, es beruhe auf der nationalen Differenz, wenn gleich Identisches noch darüberliegt; und warum sagen wir von der Kunst nicht auch dieses Umgekehrte, sie sey in Allem identisches, differencire sich aber in der Wirklichkeit? Kann man so umkehren, so ist der Gegensaz aufgehoben für die Thätigkeit. Soll der Gegensaz wirklich Eintheilungsgrund seyn, so müssen wir dieses Bedenken beseitigen. Wollen wir eine Formel in Anwendung bringen, so erledigt es sich. Vom sinnlichen Empfinden sahen wir, daß da keiner den Andern auf Einstimmung mit sich zu bringen suche. Der Grund kann nur seyn, daß die Differenz hier allgemein vorausgesezt sey. Wollen wir nun das Denken auf der nationalen Differenz beruhen lassen, so ist es falsch, sobald jene Formel angewendet wird. Nationale Differenz liegt freylich in der Sprache aber es ist ja gerade [die] Tendenz des Denkens, diese Differenz aufzuheben und stellt allgemeine Geseze des Denkens auf für alle Sprachen. Das sezt also die Identität voraus. | So corrigirt man Andre auch in differenten Sprachen. Hingegen will man sich nie bey Verschiedenheit des nationalen Geschmacks corrigiren und einem andren Volk wohlgefällig machen, was uns [wohlgefällig ist]. Das ist nur durchzuführen, wenn die Nationalität selbst im Verschwinden ist. Wie wollen noch eine Eintheilung. Es gibt wesentliche geistige Thätigkeiten, die ihr Wesen immer nur innerhalb des Einzelnen selbst haben und dagegen andre, deren Wesen es ist, daß das einzelne Leben aus sich herausgeht und etwas in einem Andern hervorbringt gleichviel ob in Beziehung auf sich oder auf das Gesamtleben. Z. B. das Denken hat sein Wesen ganz innerhalb des Menschen selbst; ob und wie weit er es herausgibt, ist secundär, das Denken vollendet sich in ihm, sowohl das des Sinnlichen

46

38

47

Ästhetik

20

als des Höchsten. Sehen wir hingegen auf die Wirksamkeit des Menschen in der Außenwelt von den ersten Operationen an, so sind dies solche Thätigkeiten die ihr Wesen im Heraustreten haben. Das Innerliche ist nur der Impuls, den wir in dieser Beziehung für nichts achten. Alle Bearbeitung der Natur gehört nur unter diese Art. Fassen wir diese beyden Gegensäze zusammen und sagen in jedem Glied des zweyten müssen beyde Glieder des ersten Gegensazes gehören und umgekehrt: so ergibt sich leicht, daß darin der Complex von menschlichen Thätigkeiten beschlossen ist, was immer der Fall ist, wenn man in irgend einem Gebieth zwei Gegensäze ineinander aufnimmt; denn sollte es menschliche Thätigkeiten geben, die nicht den einen oder andren Charakter hätten, den Identischen noch Individuellen, so gibt es keine, ebensowenig solche, die nicht entweder im Menschen oder außer dem Menschen thätig seyen. Zunächst wollen wir den Ort finden, die Kunstthätigkeit aufzunehmen, so muß sie in einem von diesen seyn. Übrig bleibt nur noch, daß, da wir die Kunstthätigkeit nun ansehen als eine, wo die Differenz vorausgesezt wird, beantwortet werde, ob sie zu den Thätigkeiten gehöre, die ihren Zwek in einem Äußren haben oder zu denen, die im Menschen selbst beschlossen werden. Da kann man sich auf zwei Seiten einigen; denkt man an den Bildner, so ist doch das Ziel außer ihm, da schiene die Kunst unter diesen Theil zu gehören. Aber betrachten wir nun den mimischen Künstler, so scheint sein Werk sich ganz in ihm selbst zu vollbringen, da er nichts hervorbringt als Bewegung; so scheint der Sänger sein Werk auch ganz an sich selbst hervorzubringen als Bewegung seiner Stimmwerkzeuge. Das Ende sind freylich die Töne, aber die sind nirgends als in diesen Bewegungen und diese nichts andres als die Töne selbst; also [ist] das Vollbringen der Thätigkeit in sich und außer sich nicht zu unterscheiden. Hingegen der Bildner* steht auf der andern Seite. So schien die Kunst würde in dieser Beziehung nicht Eins, sondern zu theilen, so daß einige Kunstwerke der Mensch an sich selbst vollbringt und andre an einem Andern. Da wären wir nicht auf dem Wege, einen allgemeinen Begriff zu finden, sondern entweder gäbe es keinen und [es] müßten die Gebiethe speziell

20 | 21

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

39

betrachtet werden, oder man müßte einen andren Weg einschlagen. Wenn wir nun die bildenden Künste genauer betrachten, ist nur das äußre Bild dasjenige was wir eigentlich unter den Begriff der Kunst aufnehmen? Wir sehen, daß der Bildhauer am äußren Werk das wenigste macht, sondern das meiste durch Andre und zwar auf mechanische Weise, so daß es eigentlich nur [als] eine Copie erscheint. Der Bildhauer stellt sein Werk dar in weichem Thon, das im harten Stoff ist dann die Nachahmung. Das weiche Modell selbst ist aber offenbar nur die Nachahmung des innren Bildes, das er darstellt im Modell zwischen dem Urbild und der mechanischen aus jenem zu vollbringenden Nachahmung. Betrachten wir den lezten Proceß, wodurch das eigentliche Werk zu Stande kommt, so sind dann die leitenden Regeln etwas das wir uns als technisch abgeschnitten haben, so daß wir glauben unsre Theorie ohne das vollbringen zu können. So haben wir uns vom äußren Werk eigentlich schon getrennt und das innre Bild ist das zu betrachtende. Das Äußre als später hinzukommendes verhält sich zum Innren, wie die Mittheilung in Rede oder Schrift zum Denken. Das gilt nur, wenn es sich in andren Künsten auch so verhält. Diejenigen wo das Äußre für sich nicht allein kann aufgefaßt werden, verstehen sich von selbst. Aber wie ist es nun z. B. mit dem Dichter? Der hat eine gewisse Ähnlichkeit in Beziehung auf diesen Gegensaz mit dem Musiker. | Er kann sein ganzes Gedicht in sich haben, wie der Musiker, ehe er es herausgibt; aber vollständig in sich hat er es doch nur, insofern er es innerlich spricht; denn die Vollkommenheit des Gedichtes hat Vieles, das sich nur hören, nicht bloß denken läßt, wie der Rhythmus. So kann man sagen, das kann der Dichter, ohne die Sprechwerkzeuge zu bewegen; also ist dieses rein Innerliche das eigentliche Kunstwerk. Denkt man sich den Dichter der so sein Werk in sich hat und man seze ihn als stumm geworden durch irgend etwas. Wie kann er das zweyte auch machen, die äußre Hervorbringung? Ja da muß er es mit der Feder hinschreiben, das ist dann wie das Thonmodell zum Urbild, aus dem Andre die Statuen dann machen. Andre können nun dieses Schwarz auf Weiß lesen und das ist dann das Ende des Herausstellens, was sich zum innern Bild verhält, wie

40

Ästhetik

21

die Statue zum Urbild, dessen erstes Abbild das vergängliche Thonmodell war. Überall also können wir unterscheiden eine rein innre Thätigkeit die doch das eigentliche Kunstwerk ist; und das Heraustreten als ein Zweytes, Hinzukommendes, wozu es der eigentlichen Kunstthätigkeit nicht einmahl bedarf. Das letztre kann nun sehr angefochten werden von Seiten der Mahlerey. Der Mahler hat als eigentliche Erfindung ein rein innres Bild. Dazu gehören nicht bloß die Linien und Umrisse, sondern auch die Beleuchtung, also Gegensaz von Licht und Schatten, und nicht nur das, denn dann würde äußerlich eine bloße Zeichnung entstehen, sondern auch noch die Färbung, das alles muß der Künstler schon in seinem innern Bilde tragen. Denkt man nun freylich, daß der Mahler während des Werkes noch ändert, und will daraus schließen, das Äußre sey nun das Kunstwerk, da er die eigentliche Kunstthätigkeit und nicht bloß Mechanisches darauf verwendet. Das ist wie wenn der Dichter Verse ändert. Die Sache ist aber, daß der Künstler an seinem innern Werk selbst ändert und es noch nicht fertig gehabt. Zu dieser Änderung kommt er freylich durch die äußre Darstellung. Die wahre Vollkommenheit ist aber offenbar, daß der Künstler sein Urbild vollständig in sich trage, ehe er äußerlich thätig ist. Das so gut beym Mahler wie beym Dichter, es verräth nur Unvollkommenheit, und die kommt beym Wesen nicht in Rechnung. Also müssen wir sagen, die eigentliche Kunstthätigkeit ist etwas was sich rein innerlich vollbringt, und das Äußre ist ein Zweytes, das als solches auf eine mechanische Weise wird und daher nicht mehr unter den Begriff der Kunst gehört. Diesen allgemein aufzustellen, ist man nur berechtigt, wenn in allen Künsten sich das äußre und innre Bild so unterscheiden läßt. Nun machte ja der Mimiker darin eine bedeutende Ausnahme, denn das Innre und Äußre scheint da nicht unterscheidbar. Sehen wir auf die Bewegungen der mimischen Kunst, so ist es ja nur Eines. In den Gebährden eines Leidenschaftlichen ist freylich dieses beydes nicht unterscheibar, aber der ist auch kein Künstler und die Bewegung denkt man nicht entstanden aus unmittelbarer Gemüthsbewegung. Sondern das ist die eines Andern, und will er sich in dieselbe hineinversezen, so würden seine Bewegungen

21 | 22

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

41

nicht eben so unwillkürlich aus der innern Bewegtheit hervorgehen, sondern es tritt eine Besinnung dazwischen und diese ist eigentlich das Innre. Warum sind Bewegungen eines Zornigen nicht so gut Kunstwerk, wie ein Zorniger auf der Bühne? Weil jene kein Maaß halten, und daß es gemeßen sey ist [die] ursprüngliche Forderung eines Kunstwerks. Diese sind nun ungemeßen und unschön. Wir nennen etwas im Menschen Grazie und so kann ein Mensch von natürlicher Grazie auch im Zorn nicht so unschön seyn als bey andern, aber tragen seine Bewegungen so den Charakter des vorher Gewußten und Gemeßnen, so sagt man er sey nicht mehr zornig, sondern das äußre Bild eines Zornigen sei erst innerlich geworden. Der Unterschied verbirgt sich mehr, wenn alles am Menschen ist, aber da ist er doch, da wir Kunstwerk und Naturwerk unterscheiden. Finden wir dieses Innerliche auch hier, wo man es am wenigsten erwartet, so ist der Unterschied ein allgemeiner. Die eigentliche Kunstthätigkeit ist das Innre[,] | das Heraustreten erst das Zweyte und bey diesem gehen die technischen Regeln an. Die Kunstthätigkeit gehört also unter diejenigen menschlichen Thätigkeiten, die den Charakter des Individuellen haben und zugleich zu denjenigen Thätigkeiten die dem Wesen nach in sich selbst und nicht in einem Andern vollbracht werden. Die Kunst ist also eine immanente Thätigkeit bey der man die Differenz voraussezt. Dies ward apagogisch gefunden i. e. durch Abweisung des Gegentheils. Diese Form gewährt wohl Sicherheit aber keine Anschaulichkeit. Wir müssen betrachten die Thätigkeiten zu denen sie gehört und diese Rubrik für sich betrachten. Haben wir es mit immanenten Thätigkeiten zu thun, d. h. deren Wesen nicht das Heraustreten ist, so gehört auch alles Denken in dieses Gebieth, da Sprechen nicht das ursprüngliche [ist,] so wenig als das äußre Kunstwerk. Das Denken ist nun ein Solches, wobey wir die Identität bey Allen voraussezen; denn wo Differenz im Denken ist, sucht man sie auszugleichen und so weit man allgemeine Regeln dafür geben kann, greift die Identität. Die Kunstthätigkeit hat es nun doch auch mit dem Denken zu thun und innerlich kommt kein Kunstwerk zu Stande als mit einem Denken. Am wenigsten wäre das möglich in der Poesie, wo

42

Ästhetik

22

alle Elemente Gedanken sind. Aber auch in den andren Zweigen. Nimmt man Denken im weitern Sinn, so gehören alle sinnlichen Vorstellungen und Bilder dazu, sobald sie nur auf das Allgemeine bezogen sind z. B. ein bestimmtes Thier auf den Begriff Thier. Also können auch die bildenden Künste ihre Werke nicht innerlich vollbringen ohne das Denken. Wir fänden also schwerlich eine andre Kunst, die etwa nicht ins Denken irgendwie fiele, als höchstens die Musik. Aber würde da eine Ausnahme seyn, so gäbe das [einen] so großen Gegensaz, daß man keine Einheit fände ohne sich ganz in das Allgemeine zu verlieren. Das wollen wir einstweilen hingestellt seyn lassen. Gehört nun Kunst nicht zu den Thätigkeiten, wo Identität vorausgesezt ist, so muß auch die Poesie darein nicht fallen, also muß es ein Denken geben, wo man die Identität, und ein Denken wo man die Differenz voraussezt. Wie finden wir aber einen solchen Unterschied auf? Da weiß ich freylich nichts zu sagen, als etwas trivial scheinendes: nehmlich Jeder sagt: In den poetischen Gedanken sucht niemand eine Wahrheit. Das klingt trivial und doch kann es leicht geleugnet werden. Man kann sagen: Sind die Gedanken unwahr, so ist es ein schlechtes Kunstwerk[;] aber doch ist diese Wahrheit des Gedankens eine andre als die beym identischen Denken. Man denke sich z. B. in einem Gedicht sey ein Charakter dargestellt, so ist, daß keine Wahrheit darin sey, ein Tadel gegen die Poesie; sagt man hingegen, dieser Mensch ist keine geschichtliche Person, so nimmt man etwas andres, nehmlich, daß diesem Gedanken kein einzelnes Seyn entspreche, dieses[,] daß kein solches vorkommen kann. In jenem Falle entspricht dem Gedanken kein Seyn, aber die Wahrheit besteht darin, daß man die Elemente des Charakters zusammen denken kann, daß er möglich sey; im identischen Denken entspricht ihm ein Seyn. Sobald dem Gedanken ein Seyn entsprechen soll, so ist es eines, wo die Identität muß vorausgesezt werden, und hört auf, in das Gebieth der Kunst zu gehören. Dieses kann freylich auch wieder schwierig scheinen; denn denke ich ein Portrait, so besteht dessen Werth doch in der Ähnlichkeit; und vertritt es nicht die Stelle eines Seyenden, so hat es als Portrait keinen Werth. Aber in dem Maaße

22 | 23

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

43

als wir den Kunstwerth desselben hierauf beschränken, gehen wir aus dem Kunstgebieth; denn es gibt eine Art, eine Figur rein abzuschreiben, aber das ist kein Kunstwerk[,] so getroffen es sey. Ebensowenig wenn ich eine getrocknete Pflanze copiere, kann es ganz mechanisch geschehen und ist kein Kunstwerk. Halten wir also fest, daß in den Fällen, die die Schwierigkeit machen, doch etwas andres sey, wodurch etwas erst Kunstwerk wird, so hört das Bedenken | auf. So wäre Poesie kein Kunstwerk wenn von einem gegebnen Seyn aus jeder Andre auf denselben Gedanken käme als das dem Seyn entsprechende. Also können wir noch festellen und sagen: Unerachtet in der Kunst überall ein Denken im weitern Sinn vorkommt und nahmentlich in der Poesie, so ist doch dieses von dem identischen Denken so wesentlich unterschieden, daß es ein eigenes Gebieth bildet, welches sich von demjenigen, wo die Dieselbigkeit des Denkens vorausgesezt ist, bestimmt unterscheidet. Wenn wir sagen könnten, woran es sich bestimmt unterscheidet, so wären wir auf festem Boden. Allein hier kann ich nur auf eine Analogie hinweisen. Insofern z. B. die dramatische Poesie redende Personen aufführt und die lyrische Gedankenform des Dichters selbst ist, so unterscheidet sich dieses Denken von dem der Identität ebenso wie sich die Production von Anschauungen in der bildenden Kunst unterscheidet von denjenigen sinnlichen Anschauungen, von denen wir ebenfalls die Identität voraussezen oder beabsichtigen. Haben zwei dieselben Gegenstände vor sich gehabt in demselben Moment und sie sagen differentes von demselben Punkt des Gegenstandes, so leiden wir das nicht und suchen Ausgleichung. Identität der sinnlichen Anschauung ist da vorausgesezt und wo sie nicht ist, sucht man sie; hingegen fällt das keinem ein bey hervorgebrachten sinnlichen Darstellungen der Kunst. Also dieser Unterschied ist in den beyden Gebiethen derselbe und hat also denselben Grund. Was ist denn die Ursach, warum wir dabey Identität bezweken, und beym andern nicht, so muß folgendes die Antwort seyn. Im Denken und sinnlichen Vorstellen sofern ihm ein Seyn entsprechen soll, denken wir uns den Einzelnen durch und von eben diesem Seyn bestimmt und zwar so, daß was in ihm bestimmt

44

Ästhetik

23 | 24

ist, in Allen dasselbe ist und nur so weit diese Dieselbigkeit im Eindruck geht, suchen wir Ausgleichung, wenn Differenz da ist; d. h. wo wir den Zustand der Receptivität aufstellen, wo man vom Andern bestimmt wird und nicht selbstständig ist. Denke ich Productionen in Poesie und bildenden Künsten so ist die Thätigkeit freylich dieselbe, aber hier offenbar in Form der Productivität. Nun müssen wir noch sagen: Hier muß eine Productivität seyn, die auf der Verschiedenheit des einen von dem andern beruht und nicht auf der Dieselbigkeit. Man kann nun aufweisen ein Gebieth der Productivität der sinnlichen Anschauung, wo Identität ist und Productivität, nehmlich die mathematische Production; denn die Sachen sind gar nicht gegeben und ein Dreyeck construire ich, auch wenn ich nie im Leben eins gesehen habe. Für jeden sezen wir da die Aufgabe als dieselbige und jeder soll es leisten können auf dieselbe Weise. Da ist Productivität, aber eine der Identität; und in das Gebieth der Kunst gehört davon nicht das Mindeste, sondern mit dem Gebieth wo man einer Productivität Dieselbigkeit zuschreibt, schließt man sie von der Kunst aus. Eben das finden wir auf dem Gebieth des Denkens. Muthet mir ein Philosoph zu, ich soll einen Gedanken denken, der für ihn ein Grundgedanke ist; daß ich ihn nun denke und denselben Sinn hineinlege, das ist meine Productivität, denn durch das bloße Aufnehmen und Hören verstehe ich es nicht; von da an nöthigt er mich dann zur Einstimmung einer Reihe von Gedanken, also ist da eine Productivität der Dieselbigkeit und von da entsteht das Wissen, hingegen in Kunst ist nichts von Wissen. So beruht die Kunst auf dem Unterschied des einen und andern. Nun sagen wir haben wir unser apagogisches Verfahren aus dem Gebieth der Formel in das der Anschauung gebracht, denn wir haben nun die Verwandtschaften unsres Gebieths gefunden. Es gibt Productivität des Denkens und der sinnlichen Anschauung, welche den übrigen darin entgegengesezt sind, daß wir keine Identität bey ihnen vorausgesezt und daß sie daher der Ausdruck sind vom Daseyn der Einzelnen als solche. | Womit wird denn die Kunst an diesem Orte zusammenseyn; denn jene Dichotomie gab uns nur das allgemeine Gebieth wohin

24

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

45

die Kunst gehört nicht aber das Gebieth derselben bestimmt? Da alle menschlichen Thätigkeiten in diese vier Orte fallen, ist doch wahrscheinlich, daß mehrere Arten von Thätigkeit an jeden dieser Orte fallen. Was finden wir nun auch noch als immanente Thätigkeit, die rein der Ausdruck unsres individuellen Daseyns ist? Da kommen wir auf einen Punkt, den jeder zugeben muß, nehmlich was wir das unmittelbare Selbstbewußtseyn nennen.* Aufgabe ist den Menschen zu denken als sich seiner bewußt. Das ist nun geistig und zugleich thätig, da man Geist nie als bloß leidend denken kann. Nun aber ist gerade in seinem Sichselbstbewußtseyn der Einzelne nur der Einzelne, durch Zerlegung kann man zwar hernach Elemente finden, die in Allen dieselben sind. Aber das Ursprünglichste für diesen Ort ist also das Individuelle. Von hier aus werden wir nun finden, womit die Kunst da noch zusammen ist: das müssen wir haben, um sie davon zu unterscheiden und den wahren Begriff der Kunst zu finden. Diesen Begriff können wir nur von Außen gewinnen, da es uns an eingestandnen Prämissen fehlt. Ist nun Kunst bald ein Denken, bald ein Bewußtseyn[,] so muß sie da eine Gränze haben, weil nicht Alles Denken Kunst ist. Wir finden zunächst an diesem Ort das unmittelbare Selbstbewußtseyn. Wie sich die Kunstthätigkeit dazu verhält, ist damit nicht gesagt. Daher ist das unmittelbare Selbstbewußtseyn erst näher zu erklären. Einiges liegt nun schon in dem Ort, wo ich es finde, um es von ähnlichem zu unterscheiden; so verstehe ich darunter nicht das Denken des Ich, denn das gehört an den andren Ort, es ist nur das Denken eines Ich, und ein solches, wo Identität vorausgesezt ist, weil jeder unter dem Ich dasselbe versteht. Sage ich unmittelbares Selbstbewußtseyn, so muß es etwas geben, das sich dazu verhält wie ein mittelbares oder vermitteltes. Das Denken meines Ich ist immer etwas durch jenes unmittelbare Selbstbewußtseyn vermitteltes, also ist dieses etwas, was jenem vorausgeht. Was es aber sey, dafür berufe ich mich auf die Erfahrung. Das Denken des Ich und selbst das des bestimmten Ich bleibt immer dasselbige, als Beharrlichkeit desselbigen Lebens in der Verschiedenheit der Momente, das unmittelbare Selbstbewußtseyn ist eben die Verschiedenheit

48

46

Ästhetik

24 | 25

der Momente selbst, da ja das Leben ein sich entwickelndes Bewußtseyn ist. Wie kommen wir zu dieser Verschiedenheit der Momente, und ist das unmittelbare Selbstbewußtseyn die Verschiedenheit der Momente selbst, oder nur ein Ausdruck davon, dann wäre es ja ein vermitteltes? Darum denken wir dabey an die Verschiedenheit der Momente als Lebensmomente selbst. Gehen wir auf das einzelne Ich als in Entwicklung beharrliches und in einer Zeitreihe beständiges, so ist doch das Selbstbewußtseyn dieser Identität oder Selbigkeit erst ein abgeleitetes, so wie wir von allem Vermittelten abstrahiren, so ist jedes Selbstbewußtseyn das unmittelbar ist, immer ein Bewußtseyn von [der] Differenz der Momente, von einem Andersgewordenseyn. Z. B. eine Gemüthsstimmung ist ein unmittelbares Selbstbewußtseyn. Stimmung deutet eine Fortwirkung an, und nicht bloß momentanes, doch irgendwann entstanden und irgendwann vorüber; ein bestimmter qualitativer Moment dem ein andrer voranging und ein andrer folgen wird. Sage ich, es ist das unmittelbare Gegebne, so scheint das Selbstbewußtseyn in keinen Ort unsrer Theilung zu gehen, da wir ja nur Thätigkeiten theilen; ist es aber ein Gegebnes, das ich finde, so wäre es ja nur Passivität und unsrem Gegenstand nicht verwandt. Sage ich: Wir finden es in uns, so ist das das secundäre, hingegen das Ursprüngliche und Unmittelbare ist nichts als die geistige Thätigkeit des Ich selbst in einer gewissen Bestimmtheit; und als gewordnes seze ich es erst in der Betrachtung. Es ist also allerdings Thätigkeit: und zwar immanente Thätigkeit als das Allerinnerlichste, das an und für sich gar nicht heraustritt; also ein Moment, der nirgends anders als hierhin gehört. Zugleich ist es aber auch die Thätigkeit des Einzelnen als solchen in seiner Differenz. Es scheint hier auch das Gegentheil gesagt werden zu können. Denkt man sich mehrere Menschen in gleichen Umständen, so sehen wir voraus, daß sie in derselben Gemüthsstimmung seyen; diese wird also als Gemeinsames | gesezt, nicht als das rein Differente in jedem. Man denke z. B. an die Wirkung eines Kunstwerks. Im Hinausstellen desselben liegt die Voraussezung, daß das Werk als solches eine identische Wirkung hervorbringen werde. Denke ich an das öffentliche Leben, so könnte sich

25

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

47

keine Masse auf freye Weise zu bestimmter Thätigkeit vereinen, wenn sie nicht auf dieselbige Weise erregt würde. Allein diese Gemeinsamkeit ist doch nichts andres als eine Differenz. Denke ich an das Kunstwerk so glaube ich nie, daß ein Kunstwerk auf einen Menschen von andrer Race und Bildungsweise denselben Eindruck macht, wie auf mich. Also bezieht es sich doch auf eine Differenz, aber auf eine höhere. Dasselbe gilt im politischen Leben, wo die Differenz der Nationalcharakter ist. Das ist also nicht unsre Identität, sondern nur eine weitere Differenz. Also das unmittelbare Selbstbewußtseyn ist die Thätigkeit des einzelnen Lebens in seiner Differenz. Die Einzelheit kann Person oder Volk seyn. Was schließt dieses für Differenz in sich? Wir müssen gleich unterscheiden das unmittelbare Selbstbewußtseyn als ein rein geistiges und das unmittelbare Selbstbewußtseyn als ein rein sinnliches im Zusammenhang des Lebens mit dem Leiblichen gefaßt. Das schauen wir nur recht an in seiner Verknüpfung. Denke ich z. B. einen kranken Zustand, so sehe ich eine Stimmung voraus, die eine Depression ist, denn in krankem Zustand ist das Leben verringert, doch nur von leiblicher Seite. Nun ist Differenz in der geistigen Kraft, daß bey Einigen diese leiblichen Zustände auf das geistige Leben größern Einfluß üben als bey andren. Und finde ich bei animalischer Lebensverringerung den Ton des geistigen Lebens nicht afficirt, so beweist das die geistige Kraft des Individuums. Das werde ich gewahr am Ton des geistigen Lebens und das ist das unmittelbare Selbstbewußtseyn in seinem Gehalt. In ihm ist das Selbstbewußtseyn eine Stimmung die den kranken Einfluss zurückdrängt. So daß jeder Moment ein Zusammenseyn beyder Selbstbewußtseyn ist. Diese Duplicität muß durch das ganze Leben hindurch gehen. Es ist die Agilität des einzelnen Lebens in Beziehung zum Leiblichen und zum Idealen (also nicht Passivität). Wollen wir beydes vereinzeln, so finden wir uns dann in einer Abstraction, thun es aber, um bestimmter anzuschauen. Denken wir im Leben des Einzelnen diese Momente des unmittelbaren Selbstbewußtseyn sofern es seinen Coefficienten im leiblichen Leben hat, als eine Reihe für sich, so ist das nur eine Abstraction, weil im Leben selbst die geistige

48

Ästhetik

25 | 26

Empfindung mit da ist; aber denken wir es uns, so müssen wir sagen, daß wir einen Wechsel von Entgegengeseztem darin finden, Momente der Depression und Momente der Erhebung, und das unmittelbare Selbstbewußtseyn ruht auf diesem Gegensaz, ist nur in dem Wechsel dasselbe; d. h. denken wir dasselbe Verhältnis im Einzelnen identisch fortdauernd, so ist es nicht das, was wir Stimmung nennen, und eben deswegen wird es auch nicht als unmittelbares Selbstbewußtseyn wirklich seyn. Fingire ich einen Menschen, der immer vollständig gesund wäre, also nie leiblich gestört, und damit natürlich ohne daß Wechsel zwischen Schlaf und Wachen eine Verringerung des Bewußtseyns wäre, plötzlich ineinander übergehend ohne einen Zustand der Ermüdung: so würde ein solcher nun sagen, er habe durchaus kein Bewußtseyn von seiner Leiblichkeit, denn sie kommt nur durch den Wechsel zum Bewußtseyn. Eine Stimmung wird nur bewußt dadurch daß eine andre vorherging und nachvibrirt. Das unmittelbare Selbstbewußtseyn leiblich ist also im Allgemeinen der Wechsel von Lust und Unlust, was der allgemeine Gegensaz ist im sinnlichen Lebensmoment. — Betrachten wir das Geistige eben so isolirt in Abstraction, so kann auch nur in sofern ein Gegensaz besteht, es eine Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewußtseyn geben und [dieses] bezieht sich immer auf diesen Gegensaz. Wollen wir aber das Geistige rein fassen, so ist [es] schwierig den Gegensaz aufzustellen, denn das Geistige ist eben nichts andres als die Thätigkeit und da erkennen wir zwar in der geistigen Thätigkeit eine Mannigfaltigkeit von Functionen, aber diese geben eigentlich keinen Gegensaz der mit jenem verglichen werden könnte, so daß man Einiges als negativ, andres als positiv stellte; sondern das unmittelbare Selbstbewußtseyn in seiner Bestimmtheit müßte mit einer Unvollkommenheit und Hemmung des Geistigen Lebens zusammenhängen, und die könnte nur ihren Siz haben im Zusammenseyn des Leiblichen mit dem Geistigen. Das finden wir nun freylich nicht nur wie oben, sondern auch so, | daß vom rein leiblichen Bewußtseyn sich Thätigkeiten einleiten, die die geistige Thätigkeit hemmen, dieses sind die Begierden, in denen das Zusammenseyn mit dem Animalischen immer mitgedacht

26

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

49

wird. So wie diese das geistige Leben hemmen, und deswegen, d. h. der Wille nicht ganz in jener leiblichen Thätigkeit aufgeht, so entsteht im geistigen Leben eine Hemmung, und so ein Gegensaz. Nun freylich ist noch etwas andres zu betrachten, nehmlich, der Mensch mit seinem einzelnen Leben steht nun in der Welt, und seine geistigen Thätigkeiten sind durch dieses Zusammenseyn derselben bedingt, und in diesem Verhältnis ist auch etwas wodurch sich das geistige Leben kann gehemmt wissen. Man denke an die ganz geistige Thätigkeit des Erkennens, so ist dieses nie ein Moment, sondern eine Reihe, wir wollen etwas erkennen und es gibt eine Reihe von Momenten, bis erkannt ist. Ist nun hier ununterbrochner Fortschritt, so ist das geistige Leben nicht gehemmt, dann haben wir kein unmittelbares Selbstbewußtseyn, ausgenommen wir fixiren uns im Fortschritt und das ist angenehmes Bewußtseyn und wir gehen in dem Fortschritt ganz auf. Wird hingegen die Thätigkeit aufgehalten und wir können den Gegenstand nicht durchdringen, dann ist die Thätigkeit gehemmt und ein Bewußtseyn da von der Thätigkeit in ihrer Hemmung (aber nur von der Thätigkeit). So sind auch hier Gegensäze, die das unmittelbare Selbstbewußtseyn constituiren. Wollen wir diese Mannigfaltigkeit zusammenfassen und vom einen Punkt als einem Endpunkt ausgehen, nehmlich von der leiblichen Seite, insofern sie ein minimum von geistigem Gehalt hat, und wir fragen was denn das maximum von geistigem Gehalt seyn werde: so werden wir bey Betrachtung der Gegensäze im geistigen Leben sagen, diese enthalten ebenfalls Störungen aber nur daraus entstehend, daß der geistigen Thätigkeit ein andres gegenüber ist. Ohne daß ihm etwas gegenüber wäre könnte das unmittelbare Selbstbewußtseyn nicht seyn. Das maximum des geistigen Gehalts muss also in einer Relation seyn, die über diesem Gegensaz hinaus liegt. Das ist nun nur das, was wir [als] das Absolute, die höchste Einheit, das höchste Wesen bezeichnen. Das unmittelbare Selbstbewußtseyn welches in der Relation zu diesem wird[,] ist das maximum des geistigen Gehalts, und an und für sich aller Störung unfähig, allein in einem wirklichen Moment ist es so wenig isolirt als das andre, aber es ist das maximum des geistigen Gehalts, wie das rein

50

49

Ästhetik

26

Leibliche davon das minimum ist. In dieser Differenz und [dem] Zusammenseyn des minimum und maximum, darin ist die Wirklichkeit des unmittelbaren Selbstbewußtseyn und nun kann man fragen: Wie verhält sich hierzu unsre Kunst? Wenn wir nun jenes über allen Gegensaz sich erhebende geistige Selbstbewußtseyn und das sinnliche Selbstbewußtseyn ins Auge faßen, so kann sich die Kunstthätigkeit zweyfach in dieser Beziehung verhalten, die sich selbst wieder entgegengesezt. Man hat Kunst und Religion in unmittelbarer Beziehung gebracht und Kunstthätigkeit als ganz der Religion angehörig behauptet. Auf der andern Seite hat man die Kunst in das sinnliche Element zurückgedrängt, als eine auf Befriedigung des sinnlichen Selbstbewußtseyns ausgehende.* Das erste würde der Kunstthätigkeit nur die höchsten Stellen im menschlichen Seyn anweisen und gesezgebende Autorität für alles aus dem höhern Selbstbewußtseyn ausfließende. Die andre hingegen zählt sie unter dasjenige was genau genommen nicht seyn soll; denn die Ethik will nicht, daß ein Moment bloß sinnlich erfüllt sey. Beyde Ansichten stehen in Beziehung mit der Art, wie das unmittelbare Selbstbewußtseyn sich manifestirt hat in zwei Rücksichten. Wie steht es um die Wahrheit? Sezt sich eine exclusiv, die andre ausschließend, so scheint jede das Kunstgebieth einzuengen, aber immer gibt es eine Art Rechtfertigung. Wer sie dem Sinnlichen zuweist, gibt zu, daß oft Kunstthätigkeit dem Religiösen gedient habe, aber doch nur wo die Religion selbst noch im Sinnlichen war; daraus habe man es nun in geistigere Religionen herüber genommen, wohin sie eigentlich nicht gehöre. Denen, die sie dem Religiösen zuweisen exclusiv, hält man eine Menge leichterer Kunstwerke entgegen, in denen man von jener nichts findet. Aber da geben sie zu, diese seyen freylich im Dienste der Sinnlichkeit, aber nichts als Schmeicheley und eben das Verderben der Kunst; daher im religiösen Gebieth die Geseze der Kunst am strengsten hervortreten und die Geseze der Kunst daher genommen, während sinnliche Kunstwerke aus [dem] Verderben der Kunst kommen. So sind beyde Ansichten im offenbarsten Widerspruch. Wollen wir die Kunst in beyde theilen, so scheint die Einheit gefährdet. Unleugbar ist jedes jener zwey

26 | 27

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

51

Bestreben als exclusiv eine Einseitigkeit. Wollen wir aber nicht | bloß vermitteltn, sondern gründlich das Verhältnis bestimmen, so müssen wir fragen, was denn beyden gemein sey, daß man sie beyde ins Kunstgebieth rechne. Dabey vergesse man nicht, daß die Kunstthätigkeit welche es mit Gedanken oder sinnlichen Vorstellungen zu thun hat sich zu dem Denken und der Production von sinnlichen Vorstellungen die auf Wissenschaft oder Erfahrung zurückgehen sich verhalte, wie das Bestimmtseyn durch das äußre Seyn zur eigenen Productivität. Dieses Verhältnis müssen wir festhalten und fragen wir nun: Wir haben der Kunstthätigkeit den Ort anweisen müssen, in dem das unmittelbare Selbstbewußtseyn sich befindet, wie verhält sich beydes gegen einander? Wir beziehen es also auf das einzelne Leben, da das Selbstbewußtseyn und [die] Kunstthätigkeit in diesem nur ist. Das einzelne Leben in dem Gebieth immanenter Thätigkeit die auf der Differenz beruht, wie spricht es sich aus durch das unmittelbare Selbstbewußtseyn? Offenbar in seiner Bestimmtheit durch das Seyn, also [als] Ausdruck des einzelnen Lebens im Zusammenseyn mit demselbigen Seyn; denn gehen wir auf das höchste zurück, so wäre, wenn nicht diese höhere, religiöse Form zusammenträte mit dem Höchsten in der speculativen Richtung des Denkens, keine Wahrheit darin, diese will ja nur das Denkende und Seyende als Einheit sezen. Das Bestimmtseyn des Selbstbewußtseyns durch das Seyn schlechthin ist das Religiöse. Sehen wir auf das Seyn in seiner Mannigfaltigkeit und [seinen] Wechsel, so ist da das Einzelleben bestimmt durch dieses wechselnde Seyn und der Wechsel der Empfindungen ist der Ausdruck dieses äußren Wechsels. Was von diesen Endpunkten gilt, gilt auch von allem dazwischen liegenden Denken. Die Analogie führt nun darauf, die Kunstthätigkeit sey dasselbige in allen Gestaltungen vom einen bis zum andren Endpunkt, als freye Productivität, indem sich das Selbstbewußtseyn ausdrückt, also nicht in der Bestimmtheit durch das Seyn. Wie kann nun beydes an demselben Orte von einander verschieden seyn? Die Thätigkeit des einzelnen Lebens zerfalle in [die] Form der Receptivität i. e. durch ein Andres mitbestimmt seyn, und Spontaneität, i. e. freye Productivität, zwar

52

Ästhetik

27 | 28

auch mit bestimmt, aber mehr negativ durch das, worin sie sich ausdrückt. Dies ist nun dasselbe Verhältnis. Wie verhält sich das unmittelbare Selbstbewußtseyn in jener Form der Bestimmtheit durch das Seyn und in Form der Productivität von der Einzelheit des Lebens aus? Kann das Selbstbewußtseyn in seiner höchsten Geistigkeit in den Einzelnen eben so als Differentes seyn, wie das sinnliche Selbstbewußtseyn? Das muß man in einer gewissen Beziehung verneinen, da das über dem Gegensaz stehende kein veränderliches seyn kann, ebenso auf Seiten des Gedankens, kann es verschiedne Arten über das Absolute zu denken nicht geben, weil darin ein Gegensaz wäre und das Absolute über demselben ist. Wo solche Differenzen dennoch sind, halten wir sie für Täuschung oder sagen, sie sind nicht im Gedanken selbst, sondern nur in der unvermeidlichen Art, wie der Gedanke in der Rede wird. So müßte auch das religiöse Selbstbewußtseyn an sich von Identität ausgehen. Das wäre richtig seinem innren Wesen nach, allein dann gälte dasselbe vom sinnlichen Selbstbewußtseyn auch. Wir haben es aber mit der Erscheinung desselben in den Momenten zu thun, und da ist die Art des Hervortretens des religiösen Selbstbewußtseyns im Zeitlichen ebenso bestimmt ein Ausdruck der Differenz. Denke ich zwey einzelne Menschen ganz unter denselben Umständen und betrachte den Gehalt analoger religiöser Momente, so wird er in beyden derselbe seyn, so auch die Totalität zusammengefaßt; denke ich es hingegen in einer Reihe von Momenten, so liegt in der Vorstellung des einzelnen Lebens, daß wir sagen müssen, diese Reihen werden verschieden seyn; wo der eine einen Moment starker Erregung hat, da der andre [einen] schwächern und umgekehrt. Worin liegt hier das unmittelbare Selbstbewußtseyn der Einzelheit? Im Moment[,] in sofern ich ihn auf sein Fortschreiten beziehe, denn beziehe ich ihn mehr auf den Grund, so ist es der Ausdruck nicht des Einzelnen, sondern des Menschen an sich. Daß das sinnliche Afficirtseyn der Einzelnen unter denselben Umständen different sey, geben alle zu, aber nur in der Fortschreitung, im Zusammenfassen aller Momente, kann das gleiche Resultat herauskommen. Das einzelne Leben ist aber nur in Form der Zeitlichkeit, also | kann sich die Einzelheit nur

28

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

53

durch diese ausdrücken. Die Kunstthätigkeit[,] da das äußerliche Heraustreten nur secundär ist, und wir das innre suchen, ist auch eine solche Fortschreitung und also ebenso etwas, wodurch sich das einzelne Leben in seiner Differenz ausspricht und erscheint also als dem unmittelbaren Selbstbewußtseyn angehörig. Das einzelne Leben ist nun entweder bestimmt durch das Seyn oder in freyer Production. Ist nun jede freye Productivität in dem sich das einzelne Leben erfaßt, eine Kunstthätigkeit? Beantworten können wir das am besten, wenn wir von etwas ausgehen, was dieses auch ist, und doch am wenigsten zur Kunstthätigkeit gerechnet wird. Es müßte also freye Productivität seyn, so daß das einzelne Leben gar nicht durch das Seyn bestimmt sey. Sezen wir dieses Seyn als Außenwelt und suchen einen Zustand, wo der Mensch nicht durch sie bestimmt ist, doch in freyer Productivität begriffen, doch anerkannt nicht in Kunstthätigkeit. Welches ist der Zustand, wo der Mensch am meisten verschlossen ist gegen die Außenwelt? Der Schlaf, da ist freye Productivität der Traum; und so wäre ja da eine Kunstthätigkeit; allein wir wüßten nicht warum er näher der Kunstthätigkeit stehe als etwa der wissenschaftlichen.* Hingegen finden wir im Traum dieselben Elemente wie in der Kunstthätigkeit. Warum sehen wir ihn dann nicht als Kunstthätigkeit an? Das muß seinen Grund haben in einer Bestimmtheit dieses Zustandes, die eine andre ist als das Abgeschlossenseyn gegen das Seyn. Fragt man, ob sich nicht aus einem Traum ein schönes Gemählde machen ließe, ja so kann, wenn einer interessant träumt und die Richtung hat auch da schöne Gestalten zu produciren, dies der Fall seyn, aber es ist nicht möglich, weil man im Traum keinen Moment fixiren kann. Eine Analogie muß man zugeben, will man nun die Thätigkeit des Künstlers verfolgen bis in ihre erste Regung zurück; da gehören nicht nur die innern Bilder dazu, die er wirklich äußerlich darstellt, sondern viel mehr, wenn einmahl die freye Productivität so dominirt, daß sie die äußre Thätigkeit bestimmt und sogar den Beruf. In dem Maaße als einer Künstler ist, muß er immer innerlich bilden; ist er im Leben in andren Thätigkeiten, so tritt das zurück, aber er sieht es nur als Sache der Noth an, und jenes

50

54

51

52

53

Ästhetik

28 | 29

innre Bilden als Hauptsache. Diese Bilder können aber nicht alle erscheinen, weil das Herausbilden eine Menge Zeit erfordert, in der ihm immer neue Bilder entstehen. Es treten nur die heraus, die die meiste Kraft haben. Die welche die wenigste Kraft haben, werden die seyn, die sich so wenig fixiren lassen, wie die Traumbilder. Das ist das wachende Träumen des Künstlers. Die bilden den dunklen Hintergrund, aus dem klarere hervortreten, die ihn zur Production treiben. Also scheint selbst das Träumen nicht nur in seinem Element, sondern auch in der Analogie mit dem was im künstlerischen Zustand des Wachens das am wenigsten wachende ist, als von der selben Art zu seyn. Unsre Säze aus der Ethik her gaben der Kunstthätigkeit ihren Ort, die bisherigen sind aber aus der Psychologie, aber nur als klare und bestimmte Aufstellungen aus dem Gebieth der Erfahrung, nicht also, wo Psychologie streitig ist, versirend.* [Die] Kunstthätigkeit verhalte sich zum unmittelbaren Selbstbewußtseyn nicht anders als wie das Hervorrufen sinnlicher Bilder und Anschauungen in der Kunst zu denen, die die Erfahrung wissenschaftlich construiert, sahen wir schon. Auf die Frage: Ist alles, was wir so sehen Kunst? antworteten wir durch sceptische Form, d. h. suchten etwas von der Art, das doch nicht Kunst sey. So muß nun Kunst von dieser Seite bestimmt werden. Im Traum also kommen freye Productivitäten vor, die mit dem Seyn nichts zu schaffen haben, und doch sieht Niemand den Traum als Kunstwerk an. In der Kunstthätigkeit auf die ersten Anfänge im einzelnen Leben zurückgehend, kommen wir auch auf solche Gedanken und Bilderzeugungen die gleichsam den Grund bilden, aus dem das bestimmte hervorwächst, analog jener Grund dem Traum. So ist bey Traum und Kunst eine bestimmte Differenz und doch eine bestimmte Analogie. Worauf beruht die Differenz? | Die Alten sagten, im Traum habe jeder seine eigne Welt. Im wachen Zustande alle dieselbe.* Darin ist etwas Wahres, aber auch Falsches. Im Traum ist eigentlich keine Welt; denn gewöhnlich im Griechischen κόσμος* liegt ganz bestimmt der Begriff Ordnung, und dies ist der Welt wesentlich, sonst wäre es Chaos. Daß aber jeder da in seinem Eigenen, das ist wahr, nur

29

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

55

nicht Welt, das sezte Zusammenhang mit dem Außen [voraus], im Traum aber ist das einzelne Leben ganz in sich abgeschlossen. Wäre im Traum jeder in seiner eignen Welt, ja dann wäre der Traum ein Kunstwerk. In einzelnen Fällen bleibt im Traum ein stetiger Zusammenhang und dann kann er Kunstwerk seyn, oder ein Ansatz dazu, wie etwa das Urbild zu einem Drama; aber dann ist eben die Abgeschlossenheit in einer Mannigfaltigkeit zu einer Einheit dem Begriff Welt analog. Das Princip der Differenz, sogar in diesem Fall den Traum kein Kunstwerk zu nennen, würde nur seyn die Unmöglichkeit der äußren Darstellung; denn die würde sich nur auf Erinnerung im wachen Zustand berufen können. Doch fängt da das Kunstlose an mit Kunst zusammenzuhängen. Über was für Künste erstreckt sich dieses, den Traum als Analogie anzusehen, und gibt es für andre Künste ähnliches? Der Traum ist freye Gedanken- und Bilderzeugung, also in Beziehung auf die redenden und bildenden Künste und darin liegt alles Wesentliche was man Kunst nennt, außer etwa die Musik nicht, rein für sich [betrachtet], doch Gesang kann auch im Traum vorkommen und dann haben wir alle Elemente. Dieses Analogon kann uns also für das ganze Gebieth gelten. Worin liegt nun die Differenz außer dem, daß keine äußre Ausführung des Traumes möglich ist, was nur ein Secundäres betrifft. Betrachten wir das gewöhnlich Unstäte des Traumes und die Zufälligkeit von etwas Fixem, so fehlt dem Traum gerade der Begriff Welt, i. e. Zusammenhang, Ordnung, Maaß. Wo jedes Element rein für sich, da ist keine Kunst. Im Traum existirt eigentlich keine Zeit und er ist seinem Wesen nach ordnungslos; es fehlt die Stetigkeit des Gegensazes zwischen dem Beharrlichen und Wechselnden: Alles kann sich verwandeln, es ist das rein Chaotische, je mehr dieses aufhört, desto mehr auch die Differenz und es tritt die Analogie ein. Das ist also, was wesentlich zur Kunst gehört, sie fängt erst an, wo in freyer Gedanken- und Bilderzeugung Maaß und Ordnung ist, Einheit und Mannigfaltigkeit auf bestimmte Weise auseinander tritt. — Worin besteht nun die Analogie? Was jedem Kunstwerk des Mahlers z. B. zum Grunde liegt, ist ein innres Bild; je vollkommner dieses in ihm, desto vollkommner das Kunstwerk vor

56

Ästhetik

29 | 30

seiner ersten Ausführung. In einem Künstler bildet es aber immer, er ist überwiegend in dieser Thätigkeit[,] eine Menge Bilder dringen durch seinen Sinn, die nicht der Anfang von Kunstwerken werden, weil es ihnen an Klarheit und Anschaulichkeit fehlt. Sagen wir dieses eben so vom Dichter und denken dann beydes zusammen in Einem aber auf jener Stuffe der Unvollkommenheit und des Wiederverschwindens, so hat das die größte Analogie mit dem Traum. Sind nun diese etwas Willkürliches? nein[,] sondern offenbar unwillkürliche geistige Thätigkeiten die mitten in das Leben hineintreten. Je mehr die das wirkliche Leben constituirenden Thätigkeiten bestimmt sind und in das Äußre übergehen, desto dunkler werden jene unwillkürlichen Thätigkeiten, und treten hervor, je mehr das äußre Leben zurück tritt. Der Anfang des Kunstwerks besteht nun in dem Act, wodurch der Künstler ein Bild fixirt. Das ist nun ein vollkommen freyer, willkürlicher Act; nur in dem Maaß als ein unwillkürliches Bild sich zu diesem Act schon eignet, wird der Act ein momentaner. Oft hingegen ist eine Art Widerstreit zwischen diesem unwillkürlichen Innern und dem Willensact des Lebens, daß man es zum Kunstwerk hervorrufen will. Da ist die innre Conception dann kein momentaner Act, sondern der Künstler muß sich damit abmühen; er hat eine Ahnung, die Elemente seines dunklen Bildes brauchen zu können zum Kunstwerk. Was nun dort momentan, hier auseinanderstrebend ist, das ist das, wodurch [sich] das Kunstlose vom Kunst | mäßigen unterscheidet, indem jenes um dieses zu werden, erst muß mit Maaß erfüllt werden und umgestaltet, um Princip eines Kunstwerks zu werden. Wie weit sind wir nun gekommen in [der] Construction des Begriffs Kunst? Wir haben nur Elemente, folgende: 1.) Wo Kunst seyn soll, da muß Gedanken- und Bilderzeugung seyn (Bild für alles was sinnliche Anschauung und Realität hat im weitesten Sinn) und zwar muß diese seyn rein vom Seyn unabhängige, d. h. nicht wodurch wir [das,] was ist, erfahren oder bezeichnen wollen, sondern innre Productivität. Offenbar kann sie also nur seyn das einzelne geistige Leben, das sich selbst in einem Moment sezt. Das ist nur möglich wenn man voraussezt, daß das Gedanken-

30

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

57

und Bilderzeugen zum Wesen des menschlichen Geistes gehöre. 2.) Wo Kunst seyn soll, da muß in diese Production von Gedanken oder Bildern Maaß hineinkommen, also Bestimmtheit und mit dieser Entgegensezung, und zugleich Einheit, damit es fest sey; und sagten wir noch, dieses kommt in das unwillkürlich erzeugte Kunstlose nur hinein durch den Act der Besonnenheit[,] der jenes zur Kunst macht. Diesen Act bezeichnen wir durch das Eintreten der Besinnung. Aber in was hinein tritt er nun? d. h. Wie bezeichnen wir dieses, was dem, wodurch etwas Kunst wird, vorausgeht? Bilder sezen den Organismus voraus, hängen mit den Sinnen zusammen, als sinnliche Realität habend (Töne dazu gehörend). Die Gedanken aber sezen zwar auch einen Organismus voraus, aber einen andern, den nehmlich des Verstandes. Denken wir diese Organismen in einer solchen Thätigkeit so haben sie die nicht aus sich selbst, sondern vermöge eines höhern Impulses, der also Thätigkeit des Geistes auf diesen zweifachen Organismus ist, also eine Begeisterung desselben. In der Begeisterung und Besonnenheit ist also der Begriff der Kunst. Wo diese beyden sind, da ist sie. Es gibt in der Kunst ein großes Gebieth, was wir zwar untergeordnet betrachten aber doch nicht ganz ausschließen, das der Nachahmung. Ist die nicht durch jene Fassung von Kunst ausgeschlossen, da man ja dem Nachahmen die Begeisterung gewöhnlich abspricht? Das ist nicht der Fall in dem Sinn, wie wir Begeisterung verstehen, sondern sie ist auch ein Nachahmen, wenn schon untergeordnet. Die Richtung auf Bild- und Gedankenerzeugen muß im Nachahmen seyn, doch mit einem Mangel, so daß man sich an ein schon gegebnes anschließt. [Der] Nachahmer ist nun nicht Nachschreiber und Copist, denn der versirt ganz in der mechanischen Ausführung. Sieht man hingegen deutlich, daß ein Mahler z. B. einen andren nachgeahmt hat, so ist in ihm doch das Zusammenseyn jener beyden Momente. Die wesentlichen Momente müssen nun auch aus dem Begriff der Kunst heraus abgeleitet werden können, nur sieht man dann auf das menschliche Leben im Großen. Um dieses noch von einer andren Seite zu erläutern, betrachten wir ein Paar Kunstgebiethe die in der allgemeinen Theilung von

58

Ästhetik

30 | 31

redender und bildender Kunst nicht ursprünglich hineinfallen, die Kunst der Töne haben wir zwar noch hineingebracht, aber die Mimik scheint nicht hinein zu wollen, die Kunst die ihr Werk darstellt am äußren Menschen selbst in seiner Beweglichkeit. Was ist wohl der Ursprung dieser Kunst? Er ist allgemeine Erfahrung: Wenn der Mensch in aufgeregtem Zustand, so entstehen Bewegungen in ihm, die die Zeugen jenes Zustands sind. Unter diese Bewegungen kann man die Töne subsumiren, als Bewegungen der Stimmwerkzeuge, obgleich man jene dann wieder unterscheidet. Dieses so unmittelbar aus innrer Aufregung [Entstehende] ist auch kunstlos, wie von bildender Kunst der erste Anfang. Doch werden hernach daraus die Kunstwerke des Gesangs und der Musik: Wie werden sie daraus? Diese Antwort schließt das Kunstgebieth ab, weil es hier ein schon äußerlich werdendes Kunstloses vom Kunstwerk scheidet und die Scheidung dann durch äußres und innres durchgeht. Allein das Äußre haben wir ja schon ausgeschieden, offenbar ist jedoch innres und äußres bey diesen | Thätigkeiten unmittelbar eins, innre Aufregung und mimische Bewegung, sofern es keine Kunstthätigkeit ist. Wie verhält sich dieses Kunstlose zum Bewußtlosen? Jenes unwillkürlich pathematische, was eine Thätigkeit wird, ist ein Ungemeßnes, Verworrnes, sowohl Gefühle der Lust als Unlust [Enthaltendes], ebenso unwillkürliche Töne. Darum schließen wir dieses äußerlich werdende Innre von [der] Kunst aus[,] so gut wie den Traum. Denken wir hingegen den Schauspieler, der die Leidenschaften darstellt und [den] Musiker, der sie in Gesang bringt, so ist da Unterschied. Entsteht das eine aus dem andren, oder ist beydes einander ganz fremd? Der Schauspieler soll gar nicht bey der Darstellung in Leidenschaft seyn, denn ginge die in ihn über, so ginge auch ihr ungemeßnes äußre in ihn also das Kunstlose. Ebenso muß Leidenschaft erst aufhören, ehe der Musiker componirt, der sein Kunstwerk mehr an [die] Erinnerung an den leidenschaftlichen Zustand anknüpft[,] als an diesen selbst. Der Moment der Leidenschaft ist nicht der der Kunst. Betrachten wir, wie sich Gebildete in Leidenschaft gebehrden und Ungebildete, so ist bedeutende Differenz; bey [ersteren] ist Annäherung

31

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

59

an das Gebieth der Kunst; das Verworrne wird sich gelöst haben und eine Art Maaß hineinkommen; aber im Moment der Leidenschaft ist das nicht beabsichtigt, sondern rührt daher daß das ἔθος* auf andrer Stuffe und Besinnung etwas Habituelles ist, das auch auf unbewußte Weise überall mitwirkt. Kunst ist dies noch nicht, aber eine Annäherung, die herrührt von größerm Maaß von Besonnenheit, ohne daß im Moment ein bestimmter Act derselben ist, sondern Wirkung von den allgemeinen Zuständen aus. Denken wir diesen der Kunst ähnlichen Ausdruck als eines und mimische Kunstdarstellung als ein andres, wie unterscheiden wir beydes? Leidenschaftliche Aufregung muß aufgehört haben und damit [ein] Kunstwerk entsteht[,] muß ein besondrer Act der Besinnung eingetreten seyn. Nachdem wir ausgegangen sind vom Moment, wo Innres und Äußres dasselbe waren, sind wir nun zu einer Scheidung gekommen, verursacht durch das Aufhören des pathematischen Zustands und [das] Eintreten der Besinnung. Die Anwendung von diesem Begriff kann nun folgen. Kunst sahen wir aus zwei Elementen entstehend, aus Begeisterung des Organismus und aus der Besinnung. Wenn wir nun beym Mimiker fragen, was der Organismus sey, der begeistet wird, so ist es das System der willkürlichen Bewegungen und diejenigen nur können Mimiker seyn, in welchen diese Thätigkeit der willkürlichen Bewegungen als Ausdruck des Innren in einem gewissen Grad dominirt, was man mit Begeisterung immer mit versteht. Wo diese fehlt kann das Mimische nur auf der Stufe der Nachahmung seyn. Völker, in denen diese Function des Organismus nur geringe Thätigkeit hat, haben keine Mimik, wie die ursprünglichen Bewohner des nördlichen Amerika, die heftiger leidenschaftlicher Erregung fähig sind, ohne daß diese im Organismus sich zeigen. Das mag vom Willen ausgehen oder vom natürlichen Mangel an Erregsamkeit des Organismus von da aus, so ist das für [die] Kunst dasselbe, es fehlt der erste Moment, daß Begeisterung nicht habituell ist. Daher haben sie keine Mimik; Tanz zwar aber von ganz andrer Art. Ebenso kann dergleichen nicht hervorgehen aus einem gesellschaftlichen Zustand, wo, es sey entstanden wie es wolle, es sich gleich verhält. Dieses Kunstgebieth in eine sol-

54

60

Ästhetik

31 | 32

che Region zu tragen, ist Willkür z. B. die französische Tragödie versiert im Gebiethe der höchsten Stände; in diesem ist aber die äußerliche Bewegung des Organismus durch Erregung fast auf nichts gebracht. In dieser Tragödie entsteht also eine willkürliche Darstellung gewisser innrer Zustände, ohne allen Zusammenhang mit dem was kunstlos in diesen Ständen erscheint. Wollen wir das Kunstlose und Künstlerische in subjektivem Zusammenhang denken, so wird überhaupt im Großen dieses Kunstgebieth nur seyn, wo im natürlichen Leben starkes Gebehrdenspiel statt findet, wo dieses nicht ist, wird mehr oder weniger Willkürliches, Gemachtes, Gekünsteltes, nicht Künstlerisches | da seyn. Im Kunstlosen ist reine Identität des Äußren und Innren. Wenn es Kunst wird, scheidet sich beydes, das Innre geht vorher, ist innerlich vorgebildet, was äußerlich werden will; also in der Besonderheit ist es Product der Besinnung, im Ganzen der Begeisterung. Obgleich wir hier etwas Bedeutendes gewonnen haben, Begeisterung und Besinnung für alle Kunst, worin als Zweiheit schon Princip zur Construction ist, so fehlt uns immer noch eine Einheit, denn wir gingen immer vom Einzelnen aus, sahen gewisse Thätigkeiten und sagten, wenn nur Begeisterung dazu kommt, wird es Kunstthätigkeit; aber Einheit fehlt uns, und auf diesem Wege würden wir sie nur dadurch gewinnen, wenn wir den Begriff Organismus statt einer Mannigfaltigkeit von Functionen in eine Einheit zusammenfassen könnten. Dabey ist nicht Organismus im gewöhnlichen Begriff zu brauchen, gäbe es keinen andern als diesen, und man wollte nun Einiges davon ausnehmen, so gibt es keine Einheit. Die bildenden Künste arbeiten für das Gesicht nicht nur, sondern das Innre als Product von Begeisterung und Besinnung ist selbst ein innres Sehen, wie in [der] Musik ursprünglich ist ein innerliches dieses Product hören. Das sind zwei Functionen des Organismus die zum System der Sinne gehören. Dieses könnte nun nicht alles aufnehmen, was wir Kunst nennen, denn Poesie arbeitet nicht in demselben Sinn für das Gehör wie die Musik, sondern [die] Aufgabe ist etwas andres und was sich davon auf das Gehör bezieht, ist untergeordnet. Betrachten wir die übrigen Sinne, so ist da nichts, was ein Kunstgebieth constitu-

32

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

61

iren kann, für Geruch, Geschmack und Tastsinn gibt es nichts; als wenn man sagen will Sculptur unterscheide sich von Mahlerey dadurch, daß sie zugleich für den Tastsinn arbeite, aber das wäre doch ebenso das Untergeordnete wie die Poesie was sie für das Gehör thut (Jenes Tasten verbitten sich die Künstler). So entginge uns ein großer Theil der Kunst und dann könnten wir dieses Sinngebieth gar nicht mit Kunst in allen seinen Theilen erfüllen. Woher kommt es, daß es für diesen Sinn kein Kunstgebieth gibt? Wenn man einen fragt, ob er das kann, was ich ein innres Sehen, Gestaltbilden mit Sehen nannte, so bejaht es jeder und ebenso von dem Gehör. Wollen wir hingegen eine Aufgabe stellen für ein innres Riechen oder Schmecken, so wird es keiner leisten können. Dieser bestimmte Unterschied ist lange anerkannt, man faßte ihn aber so, daß für [den] Kunstunterschied nichts erfolgte, man sagte, die einen seyen deutliche Sinne, die andren dunkle. Hauptsache ist vielmehr, die einen sind ein maximum von Passivität, ohne [die] Fähigkeit der Selbstthätigkeit, während jene im Stande sind, ohne afficirt zu seyn, Gestalten und Töne zu bilden und zu sehen. Also ergibt sich, daß wir statt des allgemeinen Organismus der Sinne, nun werden das System der willkürlichen Bewegungen (im losen Sinn) für die Begeisterung annehmen. Nur die Sinne, die zugleich Functionen willkürlicher Bewegungen sind, die zugleich das Gebieth des Sinnlichen ausfüllen, haben ein Kunstgebieth. Jenes maximum von Passivität denke ich nicht absolut, da es im Leben nichts gibt ohne minimum von Selbstthätigkeit; denn wenn man in Gedanken etwas genießt, so braucht man es nicht zu schmecken, aber es gehört eine willkürliche Thätigkeit dazu; und so wenn man in Gedanken, ohne zu riechen, unter den stärksten Gerüchen herumgehe, da ist die Richtung der Aufmerksamkeit des Thätigen, aber weiter geht sie nicht. Nicht einmahl in der Erinnerung können wir uns Gerüche wieder hervorrufen, weil der Geruch innerlich keine Thätigkeit hat. Also alles was im weitesten Sinne zum Organismus des Geistes gehört, ist unfähig ins Kunstgebieth einzugehen insofern es nicht willkürlicher Bewegung fähig ist, insofern es nicht durch den Willen in die ihm eigenthümliche Bewegung versezt werden kann. Ein Künstler sieht

62

Ästhetik

32 | 33

sein Bild nicht erst äußerlich und erstaunt nun darüber, weil er es schon gesehen hat. So in [der] Musik: jeder der laut vorliest, hört sich ehe er das Einzelne ausspricht, folgen die Sprachwerkzeuge seinem innerlich Gehörten nicht, so fühlt er den Fehler. | Was ist dann das ganze System von diesem dem Willen so unterworfenen Organismus, in dem Sinn, daß er durch den Willen in Bewegung gesezt werden kann (denn ohne Wille kommt auch kein Auffassen zu Stande)? Das ist schon die Oberfläche des Leiblichen als Fundament der mimischen Kunst. Das Sehen innerlich ist Fundament der bildenden Kunst; und das Vermögen Töne innerlich hervorzubringen[,] reine und articulirte[,] ist Fundament der Musik und des Musikalischen in der Poesie. Wo bekommen wir nun das Wesentliche in der Poesie her, woher das eigentlich Künstlerische in der Architectur? Da scheint es doch schwerlich, daß dieser lezte Ausdruck, der in Kunstthätigkeit zu begeisternde Organismus sey das Gebieth der willkürlichen Bewegungen, genüge. Beyde sind gleichsam äußerste Enden. Wir sahen die Architectur an [der] Gränze, da es zweifelhaft ist, ob ihr ganzes Werk Kunst sey oder nur etwas daran. Da ich sie als ein äußerstes Ende der Poesie entgegen stelle, so meine ich etwas andres. In Poesie wären auch willkürliche Bewegungen aber nur der Gedanken, die sich unabhängig vom Seyn entwickeln. Architectur erscheint so auch als willkürliche Bewegung, aber solcher, die sich vom Heraustreten nicht mehr trennen lasse, da es um das Aufstellen der Masse zu thun ist. Insofern sind beyde äußerste Enden. Vergleichen wir beyde mit den schon aufgestellten Gebiethen, zunächst die Architectur und Sculptur, so ist da ein gemeinsames Gebieth von soliden Gestaltungen. Der wesentliche Unterschied ist, daß die Sculptur es mit organischen Ganzen, die Architectur mit unorganischen Ganzen zu thun hat; denn was an dieser organisch ist, ist nur Sculptur, sobald man es isolirt. Betrachten wir Poesie und die bildenden Künste zusammen, so ist auch da eine gewisse Zusammengehörigkeit. Wenn wir in einem Gedicht fortschreitend unter vielen Gestalten keinen Moment finden, der Gemählde seyn könnte, so erscheint dies als ein Mangel. Dieses gibt einen Indicator daß die Gedankenbewegung in

33 | 34

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

63

[der] Poesie doch eigentlich auch Gestalten bildend ist, indem sie den Stoff hervorbringt für Künste, die gestalten. Es ist also die Bewegung der Gedanken nach der Seite der Gestaltbildung hin, d. h. wo der einzelne Gedanke auch ein Besondres und Bestimmtes werden will; während hingegen der Gedanke in der wissenschaftlichen Bewegung nach der Formel, dem allgemeinen Ausdruck hin ist, der eine Menge einzelner Gedanken unter sich enthält. Ist aber die Bewegung des Gedankens auch eine das Einzelne suchende und zur Einheit zusammenstellende also bildend, so ist auch zwischen Poesie und den andern Analogie. Nun noch die Architectur als anorganische Gestaltbildung. Wo haben wir denn diese Gestalten her, wenn wir alles, was der Mensch von dieser Art gemacht hat, hinwegnehmen? Da sind wir an das kosmische Leben gewiesen; Gestaltung die mit Kugel zusammenhängt ist die eigentlich Weltbildende bey allen Gestaltungen von innen heraus. Hingegen die geradlinige Gestaltung ist auf untergeordneter Stuffe, mehr in oberflächlichen Theilen der Erde zu sehen, an den Crystallisationen nehmlich. Da liegt ein Typus für die Architectur, so wie in der animalischen menschlichen Natur der Typus für die Sculptur liegt. Zusammenfassen können wir dieses alles nur wenn wir eine Stuffe höher steigen. Kunst fanden wir als eine freye Productivität von derselben Art, wie wir zugleich eine Gebundne haben, worin der Geist mehr receptiv ist und von einem Gegebnen bestimmt. Das muß nun von unsern zweyen gelten. Poesie also freye Gedankenbildung nach dem Einzelnen hin ist also eine vom Allgemeinen ausgehende. Die Erfahrung bringen wir zu Stande auf ähnliche Art, als Bewegung des Gedankens zum Sinneseindruck als Vorstellung werdend. Von da erscheint dann alles Verschiedne sich zusammziehend zu Einem. Der Mensch im lebendigen Verkehr mit der Welt muß immer in dieser untergeordneten Gedankenbewegung seyn, aber immer bestimmt durch das Seyn, oder es fixiren wollend, da der Geist sich selbst als Seyn durch das Seyn bestimmt sezt, wo Productivität mehr receptiv. In der Kunst wird nun [eben] das freye Productivität. Fragt nun | Jemand: Worin liegt dieses, daß diese Gedanken, die so bestimmt sind, nun freye seyn wollen? Es scheint dies nur auf Kosten der

64

55

56

Ästhetik

34

Wahrheit möglich und so entsteht die Ansicht, die besonders Schiller aufstellt, daß Kunstthätigkeit als freyes Spiel dem Ernst gegenübersteht.* Auskommen können wir aber nicht, ohne eine Berechtigung aufzuweisen gegen die Moralisten, daß der Mensch zu so etwas als Spiel eigentlich seine Zeit nicht verwenden soll, da er im Gebieth der Wahrheit immer genug zu thun habe, das heißt die geringste mechanische Beschäftigung mehr nüze als Gewalt des Menschen über die Natur fördernd. Dieser Charakter hat sich am stärksten ausgesprochen im Fichteschen System, das sich selbst dadurch bindet, daß es der Kunst eine pädagogische Bildung des ästhetischen Sinns zuschreibt, als Wirksamkeit, die den Menschen zum Idealen emporziehe.* Allein da läßt sich kein rechter Unterschied fixiren zwischen dem ästhetischen Sinn und der Kunst selbst. Das gibt sich dann in Vereinigung der pathematischen und thätigen Auffassung der Kunst, die wir noch geben müssen. Wie verhält es sich mit diesem Gegensaz daß nur die gebundnen Thätigkeiten die Wahrheit enthalten, wo die Thätigkeit rein durch das Gegebne bestimmt ist, und die freye Thätigkeit dagegen nur wie Spiel sich verhalte? Diese Behauptung beruht auf einer sehr allgemeinen Ansicht, die uns aber mitten in die Speculation hineinführt, wo wir allein den Schlüssel finden. Es kann wohl nicht streitig seyn, daß der Gegensaz zwischen Productivität und Receptivität nur ein relativer sey, weil das Lebendige nie in absoluter Passivität seyn kann, sondern auch aufnehmend thätig ist; nur die Thätigkeit freylich unter Potenz des von Außen Afficirtseyns gestellt. Fassen wir empirisch Gestalten auf, so gibt es da zwey Ansichten über die Art, wie das geschehe, die eine sich nähernd einer absoluten Passivität, die andre sich davon entfernend. Ist jene so erkannt, so muß man sie nothwendig fallen lassen, da absolute Passivität sich mit [dem] Begriff des Lebens nicht verträgt. Denken wir den Menschen als Gestalten auffassend mit dem Auge und so, daß die Gestalten erst gegeben wurden mit dem, was den Eindruck auf die Sinne macht, so übersieht man etwas Wesentliches. Wenn nehmlich der Sinn geöffnet ist, so ist er auch zugleich erfüllt und so daß diese Erfüllung eigentlich Eins bildet. Man sieht ursprünglich alles auf Einer Fläche und

34 | 35

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

65

die ist auch erfüllt, da immer etwas den Hintergrund bildet. Wie kommen wir zur Sonderung der Gestalten und Entfernungen? Entweder ist der Mensch in dieser Beziehung rein Null und kann nur aufnehmen was ihm gegeben ist und die Gestalten an sich werden ihm erst durch das Aufnehmen, oder dann trägt er die Typen der Gestaltung schon in sich und in der Auffassung ist Zusammenseyn dessen was in ihm ist und heraus will und das außer ihm, was er aufnimmt. Jenes ist die Ansicht, die die Richtung auf das Wissen und alle Wissenschaft und Philosophie aufhebt; denn nähert man sich der Nullität des Menschen in den ersten Acten seines Aufnehmens, so hat man gegen die Scepsis verloren Spiel. Bringt hingegen das in das Aufnehmen erst die Sicherheit, Überzeugung also vom Objectiven die Wahrheit, daß die Identität zwischen den allgemeinen Gattungen des Seyns und denen des Denkens sich bewährt, so gibt dies erst die Sicherheit der Welt. Von Allen die auf dem Gebieth des Wissens nach Speculation hin etwas leisteten, ist das immer anerkannt worden, wenngleich unter verschiednen Formen, denn ohne von diesem Punkt aus, gibt es kein Wissen, keine Speculation. Stellen wir also zweyerley gegenüber für einander das Außen und die geistigen Formen, so sind wir schon im Gebieth des Gegensazes und wir müssen in der absoluten Identität die eigentliche Begründung suchen.* Hier können wir im Gegesaz stehen bleiben. Dann ist der Geist immer productiv, immer in Richtung auf Gestaltbilden und Bewegung aber nur in entgegengesezter Richtung vom Allgemeinen zum Besondren und umgekehrt, und in der Productivität; was er vom äußren Seyn ergriffen und in diese Thätigkeit gebunden, das ist der Zustand der Receptivität. Haben wir nun eine ziemlich allgemeine Er | fahrung, daß die Form dem Menschen mit dem Stoff erst gegeben ist und sehen wir die Möglichkeit dieser Ansicht darin, daß die receptive Thätigkeit keine unmittelbar bewußte ist: so gehört zur Vollständigkeit des Selbstbewußtseyns, daß dieselbe Productivität auch eine freye werde, damit der Geist von der Täuschung, er empfange die Form nur mit dem Gegenstande, loskomme. So haben wir unmittelbar, was oben apagogisch, daß Kunstthätigkeit in das Gebieth des unmittelbaren Selbstbe-

57

66

58

59

60

Ästhetik

35

wußtseyns gehöre, also die Gestalten dem Geist angehören und [die] Zusammenstimmung dessen, was er producirt und in sich trägt eigentlich die Wahrheit ist. Sagt man auf der andren Seite, die Kunstthätigkeit ist Nachahmung der Natur, so gehört dieses der sceptischen Ansicht an, die die andre Erklärung der Kunstthätigkeit als Receptivität in absolutem Sinn hat.* So sehen wir, welchem Princip jede dieser Ansichten angehört. Wenn man die Kunstthätigkeit als Spiel ansieht und die unfreye Auffassung und Gedankenbildung als Ernst, wie Schiller, so ist dieses eine unhaltbare Ansicht.* Nur auf untergeordnetem Standpunkt erscheint jenes als Ernst, was nur Sache der Noth ist. Spiel erscheint daher als zu geringfügig und das Wesen der Sache nicht ergreifend. Ist nun Kunstthätigkeit erst die Vollendung des Selbstbewußtseyns, so muß sie, wird man sagen, allen gemeinsam seyn, sonst hätte der eine vollständiges Selbstbewußtseyn, der andre nicht; und nun sehen wir wie nothwendig wir jene kunstlose Thätigkeit aus der sich die kunstmäßige herausbildet aufstellen mußten. Von da aus werden die zwey Ansichten der Kunstthätigkeit als aufnehmend und als producirend [als] wesentlich einander postulirend angesehen. Nichts, was uns im geistigen Leben vorkommt, gibt es, wo wir nicht auf das Zusammenseyn des Geistes im Erscheinen des einzelnen Lebens mit der materiellen Welt zurückgeführt werden; beyde Factoren sind in Allen zusammen nur in verschiednem Verhältnis. Da sind nun folgende Differenzen. Auf der einen Seite sagt man die Wirksamkeit der äußern Welt auf den menschlichen Geist bestimme ganz und gar seine geistige Thätigkeit, so ist der Geist ganz und gar das Secundäre und der Schlüssel ist das Sogewordenseyn durch äußern Eindruck. Gegenüber ist [die] Behauptung: Der Geist mache die Dinge, d. h. es sey für den Geist nichts als was er selbst sezt, und so ist er in seinem ganzen Lebensgebieth allein herrschend und productiv. Jene nennt man gewöhnlich die materielle, diese die ideale Ansicht.* Diese erscheinen offenbar vollkommen einseitig, und jede findet consequent durchgeführt etwas, woran sie sich stößt, das nur gewaltsam wegzuräumen ist; die erste findet dieses Hindernis im Bewußt-

35 | 36

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

67

seyn der Freyheit, was eben das Negative ist, daß der erste Anfang einer Reihe geistiger Thätigkeiten nicht von äußren Einflüssen bestimmt werde; denn die positive Seite des Begriffs ist in der Masse nicht so bewußt, wie gerade jene negative. Die andre Ansicht hat ihr Hindernis darin, daß sich jeder der Unmöglichkeit bewußt ist, sich die Außenwelt anders vorzustellen, als sie da ist, also sich seiner Thätigkeit als gebunden bewußt ist. So stehen beyde gegen einander. Leicht wird man geneigt seyn, auch auf gar nicht speculativem Standpunkt[,] jede für richtig zu halten, wenn sie das Hindernis aufnehmen könnte, also die materielle richtig, wenn uns Bewußtseyn der Freyheit; und die ideelle, wenn uns das der Gebundenheit mit könnte darin aufgenommen seyn. Wollte man so weitergehend ausgleichen, so gibt es nur approximatives. Nun gibt es aber eine dritte Ansicht, auch so alt als das speculative Denken überhaupt, aber in verschiednen Formen: daß nehmlich beydes, worin diese Hindernisse liegen, von ein und demselben herstammen, Bewußtseyn der Freyheit vom Wesen des Geistes insofern er ein thätiger ist; und daß die Gewalt der Dinge von eben demselben her sey. Nun ist dieses doch der höchste Gegensaz durch das ganze Seyn hindurch, also daß der höchste Gegensaz, wie alle sich aus ihm entwickeln[,] von Einem her ist. Faßt man den Gegensaz so als aus dem Einen hervorgegangen, so ist in jeder der beyden Glieder eine Thätigkeit auf das andre und in dem andern zugleich etwas, was seine Thätigkeit hemmt. Daher ist alles, was als einzelnes Moment des geistigen Lebens vorkommt aus beyden zusammengesezt, aber nur auf die verschiedenste Weise. | Beziehen wir jene beyden darauf, so ist der Geist in allen seinen Thätigkeiten bedingt durch das äußre Leben; denn das einzelne Leben, die Bedingung seines Daseyns liegt in den Thätigkeiten der Außenwelt, den lebendigen Kräften der Welt; denn so erscheint die Organisation gebunden so wie der Erzeugungsproceß, aus dem doch das geistige Leben hervorgeht. In dieser Beziehung hängt also der einzelne Geist von jenem ab. Die andre Ansicht, daß der Geist die Außenwelt auch[,] in sofern sie ihn selbst zu bestimmen scheint, aus sich sezt, hat Wahrheit darin, daß wir keine Einwirkung der Dinge auf unser Einzelleben kennen, außer

68

Ästhetik

36

sie seyen erst Bewußtseyn geworden und dieses ist das dem Geiste eigenthümliche, und nach dessen Gesezen allein hat er die Außenwelt. Beyde Ansichten erscheinen also als vollkommen wahr, aber in verschiedner Beziehung; denn die leztre muß zugeben, daß das Seyn jeder einzelnen Erscheinung des Geistes abhängig ist von einem Naturproceß in Zeugung. Die andre hat ihre Wahrheit darin, daß sie dieses zugebend sagt, was nun geworden ist, ist der Geist, und von da an begegnet und wird ihm nichts als was in den Gesezen des Bewußtseyns beruht, die die Einwirkung der Dinge auf ihn bestimmen. Diese Bestimmung ist aber nicht vom einzelnen Geiste ausgehend, sondern vom allgemein Geistigen, da die Geseze des Bewußtseyns für alle dieselben sind. Fragen wir nun nach der Wahrheit, so hat die ihr Wesen in diesem Verhältnis. Wahrheit besteht darin, daß das Außeruns wirklich so ist, wie wir es sezen und ebenso darin, daß was wir im Außeruns hervorbringen wirklich so wird, wie wir es gedacht haben. Dazu gehören nun auch die Geseze des Seyns, also Bedingung der Wahrheit ist Identität der Geseze des Seyns und derer des Bewußtseyns. Was also der einzelne Geist in sich trägt als seine Lebensmomente in seinem IndieWeltgeseztSeyn, das ist immer zuerst Bewußtseyn, Bewußtseyn von sich, von einem Außer ihm und von der Relation zwischen ihnen beyden. Alle Wahrheit beruht also darauf, daß das Denken der Ausdruck des Seyns ist für den Geist und das Seyn der Ausdruck des Denkens für den Geist, d. h. daß beydes auf seine Weise jeweils nach seiner Natur für das andre ist und das ist dasselbe was jene dritte Ansicht. Indem jedes von demselben Einen her ist, will es dieses ganz und sucht also das andre. Betrachten wir so auch einmahl das einzelne Leben zugleich wie es begründet ist im Materiellen. Hier wie auf der andern Seite können wir nicht unbedingt von dem Geist an sich und vom Seyn an sich reden, sondern sind gleich gewiesen an das was eben für uns nur ist, das ist das irdische Seyn, unser Weltkörper und sonst was und insofern es sich auf ihn bezieht, also von andrem nur diese Relation. Nun wollen wir die Anschauung vom Leben der Erde entwickeln, d. h. von ihren Thätigkeiten als in ihrem Wesen gegründet. Was sich als

36 | 37

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

69

einzelnes Seyn sondert ist ein Product von der Einheit des Lebens im Zusammenseyn mit dem cosmischen Leben. Das niedrigste Gebieth ist das vegetabilische Leben, da alles Niedrige um die Erdmasse selbst ist. Die Organisation des Animalischen ist auch ein Erzeugnis von [der] Lebensrichtung der Erde, wie sie relativ selbstständig ist. Beyde Gebiethe sind ein abgeschlossnes Ganzes, worin sich das Vermögen der Erde ausspricht. Die Einzelheiten selbst finden wir da in verschiednen Abstuffungen und erst auf der höhren Stuffe sondern sich beyde Gebiethe auf bestimmte Weise, und da scheinen die Producte aus beyden zusammengesezt. In diesem Aufstreben finden wir [die] Tendenz das Bewußtseyn hervorzubringen im Gebiethe des Irdischen, nur daß das Animalische diese Form viel bestimmter entwickelt, und hervortretend im Menschen. Als Product des Lebens der Erde ist er der Gipfel in dieser aufsteigenden Reihe, die sich nun vollendet, da Bewußtseyn ist. In diesem Geiste entwickelt sich dann das ganze Seyn der Erde wieder in Form des Bewußtseyns und dieses ist der Cyclus ihres Lebens und Daseyns. Von da aus wollen wir auf jene verschiednen Ansichten sehen | nicht sagend, der Geist selbst sey Product der Erde, sondern nur diese Bestimmtheit desselben, d. h. daß das Bewußtseyn schon ursprünglich so ist, daß es dem adäquat ist, was die Erde entwickelt, sonst wäre der Mensch nicht für die Erde, und das Leben der Erde für ihn nicht vollendet. Auf den Gegensaz zurückgehend wie wir ihn gaben sagen wir: Den Menschen auf der Erde betrachtend machen wir die Theilung, er sey von der Erde her, was seine den übrigen Producten analoge Seite betrifft, aber als Geist und Bewußtseyn sey er vom Geiste her; er ist also das Seyn des Geistes für die Erde und das Seyn der Erde für den Geist und beydes ist in ihm ausgesprochen und gleicht sich in ihm aus. In den ersten Lebensacten erscheint das Geistige im Menschen untergeordnet, das nächste ist das sich selbst Erkennen des ihm einwohnenden Geistes in der menschlichen Gestalt und der Einwirkung Andrer auf ihn; so wird in ihm die Entwicklung des Gattungsbewußtseyns und das ist das Specifische im Seyn der Menschen als Gattung verglichen mit andren, daß dieses beydes, das allgemeine Bewußt-

70

Ästhetik

37

seyn von sich als Mensch und von seinem einzelnen Leben, sich als Eines sezt, jenes nur habend im Zusammenseyn mit andren Menschen. Was wir nun Wahrheit nannten, entwickelt sich in ihm auf sehr allmählige Weise und jenes reine Abspiegeln des Seyns in seinem Geist ist erst ein spätres Product, später erst tritt das Bewußtseyn von diesem Gegensaz klar hervor. Denken wir den Menschen im Zusammenseyn mit dem Außerihm, das ihn afficirt, und sein einzelnes Leben als Entwicklung das Bewußtseyn des Seyns zu haben, so ist darin der Geist selbstthätig und das Alles seine Freyheit, wenn wir auf den Anfang zurückgehen, aber in jedem Resultat findet er sich gebunden, durch die Einwirkung von Außen afficirt. Also kommt er so nicht zum Bewußtseyn seiner Selbstthätigkeit und des ihm ursprünglich einwohnenden Seyns[,] sondern er scheint in all seinen Thätigkeiten von Außen bestimmt. Nun kommen wir auf die Entwicklung des Geistes selbst zum Bewußtseyn auf der andern Seite, als hier nicht gebunden vom äußren Seyn und das ist das Selbstbewußtseyn, das aber nicht Ergänzung des andern wäre, sondern fremdes, wenn es nicht dieselben Geseze des Bewußtseyns hätte und weil so das productive Selbstbewußtseyn nach denselben Gesezen producirt wie das Bewußtseyn so entsteht der Schein, daß der Mensch nur producirt was er durch äußre Einwirkung habe. Das Innerliche (Ideen, Urbilder) ins Einzelne hineinzubringen ist die eigentliche Thätigkeit des Geistes, aber in den wahrnehmenden Momenten binden ihn die Affectionen und er erhält das in das Bewußtseyn was die Sinne bestimmt. Ohne dieses Binden erscheint sein Bilden auch rein innerlich und frey; es sind immer dieselben Schemata, daher man sie der Natur abgewonnen glaubt, womit nicht erklärt wäre, wie man mit bloßer Nachahmung seine Zeit ausfüllen kann. Das Gebundne als Bewußtseyn des Außer uns, oder das bestimmte Selbstbewußtseyn abgerechnet, ist die ganze freye Thätigkeit eins. Ein großes Gebieth haben wir abgesondert, das Heraustreten nehmlich der Geisteskräfte und so versieren wir rein im innerlichen Leben; da erscheint Alles, was nicht jenes gebundne Bewußtseyn wird, eins und dasselbe, anfangend im Traum und sich durchziehend neben den Momenten des

37 | 38

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

71

bestimmten Bewußtseyns aber immer nur als innerliches Spiel, hernach Anfangspunkt werdend zu einem äußerlichen Heraustreten. Das Gebundne und Freye ist in der bildenden Thätigkeit schon von Kindheit an neben einander, obwohl natürlich da noch weniger hervorhebend, wie Subject und Object noch nicht auseinander treten. Dieses Auseinandertreten ist Bedingung, daß jenes sich auch sondere. Dieses gibt nun den Übergang zur Aufgabe, die beyden entgegengesezten Ansichten unsrer Untersuchung, ob sie überwiegend auf das Pathematische oder die Kunstthätigkeit selbst gerichtet seyn solle, mit einander zu vereinigen. So gefaßt wie bisher ist diese Thätigkeit eine allgemein menschliche und jeder muß sie haben; der Geist erscheint uns auch als Seele innerlich thätig. Von einer Beschaffenheit der so sich erzeugenden Bilder ist nun nicht die Rede; zwischen den einzelnen Menschen ist da der Unterschied groß, da sie festgehalten werden von den äußren Eindrücken; und nur wenige sich der freyen Thätigkeit freuen. | Eindrücke von Außen fordern ihn stets zum Einwirken nach Außen und in diesem stetigen Wechsel hört die freye Thätigkeit auf, ihr bleibt nur Entwicklung im Traum und in ganz dunklen Vorstellungen. Ist aber etwas dem Wesen des Geistes in seinem Daseyn als Seele angehörig, so muß es ununterbrochen in Bewegung seyn, nur freylich daß es ein minimum seyn kann, das sich der Wahrnehmung entzieht. Was ist das minimum, das bald mit Null verwechselt wird, bald als minimum erkannt? Das ist das Verlangen dessen man sich als Richtung bewußt ist, ohne daß es Resultat wird; nicht ein Wollen, was innrer Anfang der That ist, sondern Wünschen, Sehnen, daß diese Thätigkeit frey werde. Den Geist als menschlichen in seiner Erscheinung als menschliche Seele können wir nicht denken ohne das zweyfache Bewußtseyn, daß er in Einzelheit ein andrer ist als die Übrigen, und zugleich Bewußtseyn der Identität, Gattungsbewußtseyn. Nur darin, daß vermöge der Identität was in einem ist, kann in den Andern übertragen werden, liegt nun auch, daß wo in Richtung der eine nur beym Verlangen bleibt, der Andre Thaten [folgen] läßt, jener sich diese That aneignet und so sein Verlangen befriedigt; als Erhebung des Gattungsbewußtseyns über das einzelne; Wohlgefallen daß

72

Ästhetik

38

ein Andrer erreicht, was er selbst nicht. Dies ist das Wohlgefallen an der Kunstthätigkeit bey denen, die sie selbst nicht üben. Durch das Befriedigtwerden kommt jeder zum Bewußtseyn, daß er jenes Verlangen in sich gehabt hat; und durch das Aneignen anerkennen sie, daß diese Thätigkeit in ihnen eigentlich auch seyn sollte. Dieses kann auch in den verschiedensten Abstuffungen seyn. Hat einer Wohlgefallen, wo er die Kunstthätigkeit findet, so hat er Geschmack (guten oder schlechten), was die Steigerung des bloßen Verlangens ist und erfordert, daß der Mensch von Noth und Bedürfnis doch so viel Ruhe hat, zu solcher Betrachtung zu kommen; und dann daß das Verlangen eine gewisse Stärke haben muß. Dieses thut dem Grundverhältnis keinen Eintrag, denn dieselben Allen wesentlichen Functionen sind in jedem in andrem Verhältnis, aber alle nothwendigen Functionen müssen da seyn, sonst wäre es nicht dasselbe geistige Leben. Stumpfsinn ist wo das minimum gleich Null zu sezen ist, von da an steigert es sich, bis zum Geschmack, d. h. wo das Verlangen, die Richtung so gesezt ist, daß man das Vorhandenseyn derselben in Werken mit Wohlgefallen wahrnimmt. Steigern wir also dieses, so werden Einzelne, so weit sie von Bedürfnissen und Noth frey sind, dieses Bedürfniß realisiren und sich der Production hingeben. Aber nicht alle von diesen werden nun auch äußerlich Kunstwerke hervorbringen, denn dazu gehören noch zwey Bedingungen, einmahl mehr Zeit, was innerlich als Eins da ist, in einer Reihe von Momenten äußerlich hinzustellen, was auch von der Dichtkunst gilt, da im Insichtragen die technische Vollkommenheit noch nicht ist, ja nicht einmahl das Ganze in Worten, aber der lebendige Keim des Ganzen; also muß man Herr einer größern Muße seyn und zweytens gehören dazu gewisse organische Bedingungen, die nicht mehr in derselben geistigen Richtung ihren Grund haben, sondern vom Leiblichen und Psychischen abhängt, das sich nicht im Maaße wie jenes entwickelt. Mancher würde gerne Andern seine innerlichen Bilder geben zur Ausführung, aber dieses Übertragen ist nicht statthaft und so bleibt die Thätigkeit rein innerlich. Erst wo diese zwey Bedingungen noch sind, wird der Mensch in der Entwicklung der innren Thätigkeit ein wirklicher Künstler. Es ist

38 | 39

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

73

dasselbe, was beym einen das Wohlgefallen erzeugt, aber nichts weiter, und beym andern wirklich künstlerische Thätigkeit; nur in verschiedner Entwicklung und Freyheit von Hemmungen. — Nun haben wir ein allgemeines Schema für die Kunst gefunden, können auch von diesen Betrachtungen aus diese geistige Richtung von den andern bestimmt unterscheiden, haben sie zwar nur betrachtet in ihrer Differenz von der gebundnen Thätigkeit, die das Bewußtseyn der Außenwelt constituirt; aber es wird leicht seyn, auch die übrigen geistigen Thätigkeiten noch aufzustellen, was von zwey verschiednen Gesichtspunkten aus geschieht. In der Kunst ist die Thätigkeit | nach Außen ein Zweytes und andren Bedingungen unterworfen, so daß wir das Wesen der Kunst fassen, ohne auf ihr Äußerlichwerden Rücksicht zu nehmen. Wie verhält sich nun das ganze Gebieth der Thätigkeiten die sich aufs gemeinsame Leben beziehen, also das eigentlich Praktische, [zu] jenem Schillerschen Ernst im Gegensaz gegen das Spiel*? Da ist das reine Gegentheil der Kunstthätigkeit; denn hier hat man gar nichts ohne das äußere Werk; die innre Vorbildung der Handlung gibt nicht den Werth des Menschen, macht er es nicht äußerlich, so ist er da gleich Null, das Wesen der Thätigkeit ist also hier das nach Außen treten. Je mehr nun diese praktische Richtung immer nur bestimmt wird durch ein gebundnes Bewußtseyn um desto untergeordneter ist es, weil es nur versirt in dem Gebieth, wo am meisten das Einzelleben von der äußren Natur [abhängig] ist. Ist diese praktische Thätigkeit aber bestimmt durch die Idee vom gemeinsamen Leben, die er hat, so ist diese Idee auch eine solche Productivität ähnlich der Kunstthätigkeit, aber ihr Werth ist nur, daß sie sich beständig äußerlich realisirt. So sondern sich diese beyden Gebiethe. Denken wir uns nun in der Gesamtheit des menschlichen Lebens die Masse derer, die nicht auf so drükkende Weise unter dem Bedürfniß stehen, daß sie nicht zu freyer geistiger Thätigkeit kommen, so nehmen doch Viele eine ganz andre Richtung als zum Kunstgebieth. Unsre Kunstthätigkeit gleicht darin dem gebundnen Bewußtseyn, daß was durch sie wird, Einzelnes ist und in diesem Sinn ist die Kunst Nachahmung der Natur, denn

61

74

Ästhetik

39

diese gibt uns das Einzelne eher. Nun gibt es eine entgegengesezte Richtung, daß dasselbe im Bewußtseyn wirklich wird unter [der] Form des Allgemeinen, und überall aus dem Einzelnen das Allgemeine gebildet wird. Dies ist sowohl unsrer als jener praktischen Richtung entgegengesezt und beyden auf dieselbe Weise, da das Praktische auch immer auf Einzelnes geht. Die Richtung aufs Allgemeine ist überall das, was wir Speculation nennen. Gehen wir vom gebundnen Bewußtseyn aus, das durch äußre Eindrücke wird, so sucht jenes dieser Naturthätigkeit Geseze; gehen wir auf das gebundne Selbstbewußtseyn, so sucht diese Richtung aber Geseze des Geistes in all seinen Functionen. So sind wir im Stande ein allgemeines Schema für die Kunstthätigkeit zu finden und ihr wesentliches Verhältnis zu allen andern menschlichen Thätigkeiten; und zugleich die Identität des Selbstständigen auf diesem Gebieth und dessen, was bloß als Receptivität erscheint, klar zu machen. Erst müssen wir aber die Verschiedenheit der Kunstgebiethe aus diesem unserm Schema ermitteln und uns bewußt werden, daß sie auch das Schema ganz ausfüllen. Da scheint noch viel zu fehlen, daß wir dieses Mannigfaltige als nothwendig so sich gestaltende Totalität auffassen, so daß sie einzeln nicht zufällig erscheinen und es eben so gut noch andre geben oder diese oder jene fehlen könnten. Wir stellen, was bisher davon vorkam zusammen und sehen, wie weit wir sind. Als wir das gemeinschaftliche Element der Kunst vom Kunstlosen unterschieden, faßten wir zuerst als allgemeines Beyspiel das Mimische [als] freye Bewegung im Leiblichen und besonders der Stimmorgane als Musik. Diese dachten wir von den Zuständen des Menschen bewegt und das war die Natur des Kunstlosen. Wir unterschieden das davon, was ehe es äußerlich wird, innerlich vorgebildet ist; wo äußerliches und innerliches zusammen finden, war das Kunstlose. Das Wesentliche der Kunst war das innerliche Vorbilden; das Heraustretenlassen ist dann secundär. So bilden Mimik und Musik zwey Kunstgebiethe, als Ausdruck innrer Zustände. Dann kamen wir zu den redenden und bildenden Künsten. Von denen konnten wir nicht sagen, sie hätten einen Naturausdruck individueller innrer Zustände. Da war Duplicität, zu der wir keine Auffassung

39 | 40

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

75

fanden. Anderswo sahen wir die Kunst mit der Sinnesthätigkeit in Zusammenhang und mußten doch einige ausschließen, indem wir sagten Kunstthätigkeit sei was von freyer Selbstthätigkeit ausgeht, und unterschieden die Kunst als die ungebundne von der gebundnen Thätigkeit. Folgt nun aus dem Bisherigen der Begriff, aus dem die Künste entstehen, da Selbstthätigkeit zu Grunde liegen müsse, die gebunden und ungebunden wirken kann? Das kam noch nicht vor und man müßte sagen, | So viel verschiedne Arten von Selbstthätigkeit als gebunden und ungebunden [es] gibt, so viele Arten von Kunst [gibt es]. Also wäre es aus der Anthropologie zu entnehmen. Im Bisherigen ist nicht zu übersehen, daß wir immer von einem bestimmten Punkt aus einzelne Künste zusammenstellten, und andre von einem andern aus. Das scheint darauf zu deuten, daß es nur Partialverwandtschafen gibt in den Künsten und der allgemeine Begriff Kunst wäre eigentlich kein realer Gehalt, sondern eine aus lauter Negation sich ergebende Abstraction. Hingegen ein Gattungsbegriff muß aus sich die Arten von selbst und nothwendig entwickeln. Unsre Abstraction soll also Gattungsbegriff werden. Die lezte Auseinandersezung enthält nun allerdings dieses in sich, daß wir ihn so gestalten, aber das Verhältnis zum Einzelnen fehlt noch. Gehört es zur Natur des Geistes als einzelne menschliche Seele, daß wir die Thätigkeit in der wir durch äußre Affection gebunden sind, von der Gebundenheit zu befreyen suchen und zu selbstständiger Darstellung des Äußren zu erheben und das ist dann Kunst? Das ging schon nicht von bloßer Negation aus, sondern von einer idealen Thätigkeit; und die befreyen wir von der Gebundenheit, die den Zusammenhang mit dem Äußren mit sich führt; und diese Thätigkeit als selbstständige Werke erzeugend sezend. Werke nach Außen haben wir aber abgesondert, aber nicht so, daß es Künste geben könnte, die nicht äußres Werk würden; die Richtung nach Außen zu treten liegt ursprünglich im innern Begriff. Jetzt fehlt uns nur dieses, daß wir vom allgemeinen Begriff ausgehend nun die verschiednen einzelnen Künste als jenen allgemeinen Begriff erschöpfend nothwendig aus demselben hervorgehend anschauen können. Auf diesem Punkt will ich jetzt stehen bleiben und

76

62

63

Ästhetik

40

nun noch gechichtliche Betrachtungen voranschicken, die fast unentbehrlich sind uns auf die Punkte zu weisen, worauf es für diese Untersuchung ankommt. Wenn wir die einzelnen Künste wie sie sich unter verschiednen Völkern gebildet haben[betrachten], so ist auffallend, daß verschiedne Völker, die abgeschlossen sind und nicht mehr existiren sich sehr in der Kunst unterscheiden, einige sehr einseitig nur bestimmte Gebiethe üben, andre vielseitig, so daß sie fast auf allen Gebiethen einige Vollkommenheit erlangten. Unter diesen stehen die Griechen oben an, und wenn sie gleich nicht in allen Künsten Vollkommenheit erlangten, so doch in allen einen gewissen Entwicklungspunkt und in jeder ist etwas, wenn auch nur eine einseitige Richtung zur Virtuosität gebracht worden. In ihrer Mahlerey ist das Vollkommenste, was der Sculptur am nächsten ist i. e. die Zeichnung und zwar der menschlichen Gestalt. In allem Andern brachten sie sie gar nicht so weit. Diese beyden bildenden Künste haben also da ein eigentlich gemeinschaftliches Gebieth; was hinzukommt [ist,] beyde selbstständig von einander zu machen, das brachten sie nicht so zur Virtuosität. Bey den Egyptern finden wir*, daß was sie anstreben, das Normale zu seyn scheint, gar nicht sich so hoch wie das Griechische erhoben. Doch davon abstrahiren wir noch lange, was für die Künste das Vollkommne ist. In einigen Künsten leisteten sie hingegen Bedeutendes, von andern ist kaum eine Spur. Große architectonische Werke und solche der Sculptur sind überwiegend; von Poesie und Musik ist wenig die Rede bey ihnen, eine Poesie wenig wahrscheinlich deswegen, weil sie für die Sprache ein solches Zeichensystem hatten. Daß die Musik ebenso in Vergessenheit kam und man schließen könnte, keine Werk der Musik sind geschichtlich geworden, so scheint beydes von einem gemeinschaftlichen Mangel herzurühren; und sie erscheinen einseitig im Kunstgebieth überhaupt; ihre Architectur und Sculptur hat ebenfalls eine einseitige Richtung in das Colossale; und man möchte für diese gemeinschaftliche Einseitigkeit und jenen Mangel einen gemeinschaftlichen Grund suchen, obgleich beyde Paare zu einander eher im Gegensaz sind als verwandt*; aber die einseitige Virtuosität in einem Paar und

40 | 41

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

77

das Zurückbleiben im andern deutet doch auf Zusammenhang. Schon das zeigt, daß wenn es auch Gruppenverwandtschaften gibt, doch auch Gründe sind, für die gerade getrennt erscheinenden Verwandtschaften zu suchen. | Betrachten wir die verschiednen Kunstgebiethe in ihren Äußerungen, so finden wir, daß einige nicht ohne die andern erscheinen, und daß einige über das Naturgemäße hinauszuwollen scheinen. Solche Künste die nicht von einander lassen, kann man nachweisen. Die Mimik hat ein gewisses Servitut gegen die Poesie. Versezen wir uns in eine Zeit, wo man die Rede nicht mit dem Auge aufnahm wie nun beym Lesen, sondern ein unmittelbares Auffassen, so finden wir den Vortrag mit der Mimik verbunden, der Rhapsode war zugleich Mimiker*, Tragödie war lebendige Darstellung vor großer Menge und Rede da von Mimik unzertrennt. Ein andrer Zweig der Mimik, der Tanz, scheint damit nicht zusammenzuhängen und sondert sich auch bey andern Völkern. Er ist der künstlerische Ausdruck zum Kunstlosen des Wohlbehagens und der Freude. Dieser Zweig unterscheidet sich oft so von der übrigen Mimik, daß man sie nicht als Eins ansieht und dieser Zweig hat ebenso Verwandtschaft zur Musik wie jene zur Poesie. Doch ging der Tanz wegen der Verwandtschaft auch in die dramatische Darstellung ein, als Bewegung der Chöre, wenn schon auf strengen Styl beschränkt. Finden wir dann, daß die eigentlich darstellende Mimik sich von Poesie löst und selbstständig seyn will z. B. in Pantomime, so scheint das über die Natur hinausgehend und man fragt gleich, ob das allgemein oder nur bedingt zuzugeben sey. So geht man von einer Ansicht aus, die Mimik als etwas abhängiges zu fassen. Mimik scheint der Poesie zu dienen; beym Tanz scheint umgekehrt die Musik eher das Abhängige und Dienende; aber wenn wir nun bey den Chören und lyrischer Poesie alle drei zusammen betrachten, denn lyrische Poesie ward immer gesungen und mit mimischer Bewegung verbunden, so erscheint Mimik doch überhaupt abhängig und untergeordnet. — Betrachten wir nun das streitige Gebieth der Architectur, das daher besondres Interesse hat und einen besondern Schlüssel für [die] richtige Ansicht des Ganzen zu enthalten

64

78

65

Ästhetik

41 | 42

scheint, weil es so streitig ist, so scheint sie ganz vereinzelt zu seyn. Ein ästhetisches Wizwort sagt zwar, Architectur sey gefrorne Musik*, was mehr willkürlich aufgefundene Ähnlichkeit zu seyn scheint, als wesentlich. In der Architectur ist das Wohlgefallen abhängig von Verhältnissen die sich auf Zahlen bringen lassen. Das wollte man nun in der Musik auch behaupten und zwar nicht etwa die Intervalle, sondern die Töne selbst in ihren unendlich kleinen Elementen, d. h. in ihren Schwingungen. Da scheint also eine Ähnlichkeit, daß wir in fast unbewusster Reduction auf Zahlverhältnisse begriffen wären, und so wäre Musik dasselbe im allerflüssigsten Zustande, und Architectur im Starren, aber gefroren läßt sich nicht brauchen. Aber sey das nur ein bloßes Wizwort so ist es doch eine Andeutung auf Verwandtschaft und das [ist] immer zu beachten. Warum hat man nicht durch ähnliches Wizwort Architectur mit Mimik in Verbindung gebracht, da diese ja mit der Musik so verwandt ist? Die Mimik hat es ja mit den willkürlichen Bewegungen des menschlichen Leibes zu thun und das architectonische Werk kann auch nur durch solche werden; und wenn Musik auf dieselbe Art in [die] Luft hinein, wie Architectur in feste Masse, so könnte man auch sagen, Mimik arbeite auf dieselbe Art in die Luft, wie Architectur in die feste Masse. Aber beydes ist [ein] ganz andrer Gesichtspunkt; jene zwey sind auf Zahlen reducirbar, die Mimik gar nicht, sondern nur Darstellung des Individuellen in einer gewissen Bestimmtheit durch eine Reihenfolge von Bewegungen. Die Architectur ist eigentlich etwas Nationales also ebenfalls Darstellung des Individuellen nur im Großen; und so verschwindet der Schein des ganz Isolirten, und es scheint ein Zusammenhang zu seyn. Aber alles, was wir als Ausdruck des Individuellen gefaßt haben, [es] scheint daraus noch kein allgemeiner Begriff der Kunst hervorzugehen, wie wohl mancherley Andeutungen darin liegen. | Unser Gebieth fällt also in die willkürlichen Bewegungen, als der Freyheit und [dem] Willen unterworfen und zugleich von der Art, daß äußre Darstellung möglich ist. Ebenfalls ist gesagt, da es Thätigkeiten des einzelnen Lebens seyen, so seyen es zugleich solche, die ein gemeinsames Innres ins Einzelne hineinbilden, also

42

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

79

die entgegengesezte Richtung nach oben und den Gedanken ausgeschlossen. Ein Gesez war auch ursprünglich innre Thätigkeit und ward ein Äußres[,] hat aber die der unsrigen entgegengesezte Richtung, es wird ein Allgemeines. Was für Thätigkeiten bleiben uns nun noch übrig? Das zeigt die menschliche Natur wie sie in unsrem Bewußtseyn und [der] Erfahrung gegeben ist. Es fragt sich, auf wie vielerley Weise eine innre Thätigkeit ein Einzelnes äußern werden kann. Dieses geschieht immer als Wahrnehmung sinnlicher Gegenstände, wo der Mensch aus dem verlorenen Zustand zum Bewußtseyn übergeht, d. h. bestimmte Gegenstände sondert aus dem früher Chaotischen. Diese Eindrücke werden durch den Gesichtssinn und sind in ihm. Wir sezten aber voraus, daß die Formen des Seyns die zu unsrem Weltkörper gehören, auch dem Geiste, insofern er zu unsrem Weltkörper gehört, einwohnen, er also aus sich schon in der Richtung ist[,] im Gebieth dieses Sinnes Gestalten zu bilden. Dies ist das erste, als natürliche Folge unsrer ursprünglichen Voraussezung. Nun sind wir aber auf Einmahl zu weit gegangen, und hätten erst eine allgemeine Eintheilung unsrer ursprünglichen Formel suchen sollen, denn vom Einzelnen aus ist keine Gewähr der Vollständigkeit. Indem wir aber auf dem Gebieth des Bewußtseyns bleibend sagen, jede willkürliche Bewegung die Kunst seyn will, muß vorher Bewußtseyn seyn; also ist gleich das Bewußtseyn einer Theilung unterworfen, und da ist gleich gegeben die des gegenständlichen Bewußtseyns und des unmittelbaren Selbstbewußtseyns. Stelle ich diese einander gegenüber, so erscheint es ungenau, da gegenständliches Bewußtseyn und Selbstbewußtseyn schon reiner Gegensaz [zu sein] scheint, und wenn man unmittelbares Selbstbewußtseyn sagt, scheint es gleich noch ein andres Selbstbewußtseyn zu geben, das nicht unmittelbar ist. Ein solches gibt es, sehen wir uns im Spiegel, so bekommen wir Bewußtseyn von der eignen Gestalt. Das ist nicht das unmittelbare Selbstbewußtseyn, denn es wird von Außen; ist es unmittelbares Selbstbewußtseyn, aber nicht unmittelbar, und doch kein gegenständliches Bewußtseyn, so ist es schon ein Fall aus einem dritten Gebieth. So wenn wir an Erinnerung denken frührer eigner Lebensmomente, ist es auch

80

Ästhetik

42 | 43

ein Selbstbewußtseyn, aber nicht unmittelbar; denn Erinnerung ist immer vermittelt durch etwas was sie aufregt, und vergegenwärtigt wird die ganze Scenerie, von der wir nur ein Theil sind und sehen uns gleichsam außer uns. Das Selbstbewußtseyn hat also da die Form des Gegenständlichen nicht des unmittelbaren. Jenes erste Beyspiel auch. Also ist es eigentlich gegenständliches Bewußtseyn nur daß wir selbst der Gegenstand sind; hingegen das unmittelbare Selbstbewußtseyn ist das völlige Aufgehen in einem Moment. Diese Theilung festhaltend fragen wir, ob die gesamte Kunst auf Seiten des gegenständlichen Bewußtseyns liege, oder ob ein Theil auf der Seite des unmittelbaren Selbstbewußtseyns. Da fragt sich erst, wie es in dieser Beziehung mit den willkürlichen Bewegungen stehe und da ist das unmittelbare Selbstbewußtseyn keine solche, denn in unsrer Gewalt haben wir es nicht, es so oder so zu haben; d. h. daß es so ist, hat freylich seinen Grund in der Reihe vorheriger Momente, aber der Act ist nicht in unsrer Gewalt. Dennoch gehört zum Wesen des eignen Lebens, daß das unmittelbare Selbstbewußtseyn freye Thätigkeiten hervorruft und diese gehören nicht demselben Gebieth an, worauf sich die freyen Thätigkeiten des gegenständlichen Bewußtseyns beziehen als ein Gestalt bildendes, sondern es ist immer nur der Zusammenhang des einzelnen Lebens mit dem Ganzen, wodurch es bestimmt wird, daher die davon ausgehenden Thätigkeiten nur den Werth haben, das unmittelbare Selbstbewußtseyn zu manifestiren, die einzelnen Momente nach der Verschiedenheit des unmittelbaren Selbstbewußtseyns zu sondern. Das führt dahin zurück, daß es zum Wesen des menschlichen Lebens gehört, sich seiner als Gattung bewußt zu seyn, i. e. Bewußtseyn von seiner Einzelheit nicht zu haben ohne zugleich Bewußtseyn von andren Menschen, d. h. der Einzelne ist nicht, ohne Menschen zu sezen. | Von da aus können wir sagen: So wie daraus, daß die Formen des Seyns dem einzelnen Leben einwohnen die Thätigkeit folgt, diese Formen im Einzelnen zum Bewußtseyn zu bringen, und dieses da wir in die Welt gestellt sind, auf gebundne Weise[,] geschieht in der Wahrnehmung; so sezt jener Saz, daß das einzelne Leben nur ist mit Bewußtseyn der Gattung, ebenso voraus, daß die Formen des

43

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

81

geistigen Seyns uns auch eingeboren seyen und wir von Anfang an im Bestreben begriffen sind, diese Formen im Einzelnen zu haben, d. h. im Menschen suchen, und im Erkennen des Menschen uns befriedigt finden. Dies ist [die] Thätigkeit einzelne menschliche Leben gestalten zu wollen außer dem eignen, in Beziehung und aus dem Gattungsbewußtseyn. Als Correlation folgt, daß das einzelne Leben ebenfalls als solches will erkannt seyn von dem, der es als Gleiche sezt, nun ist es nur im Wechsel des unmittelbaren Selbstbewußtseyns; also liegt im Gattungsbewußtseyn auch dies, die Verschiedenheit der Momente des eignen Lebens den Andern darzustellen und das geschieht in jenen pathematischen Bewegungen, die das noch Kunstlose aber der Kunst vorausgehend sind. So ist Zusammenhang zwischen [den] Thätigkeiten, die das einzelne menschliche Seyn in Form des unmittelbaren Selbstbewußtseyns wollen einzeln gestalten und denen[,] die die uns eingebornen Formen des Seyns wollen gestalten. Für beyde gilt also der Gegensaz zwischen der gebundnen und freyen Thätigkeit. Andre freye Thätigkeiten des unmittelbaren Selbstbewußtseyns gibt es nicht als durch die leibliche Bewegung und da ist nun das Mimische vom Musikalischen zu sondern, was auf Duplicität des Sinnes beruht, der allein das menschliche Seyn bestimmt wahrnimmt, die Bewegungen an [der] Oberfläche des Leibes sind für das Gesicht, die Bewegungen der Stimme für das Gehör. Die gebundne Thätigkeit darin ist, das allgemeine Bewußtseyn das wir alle davon haben, aber das Bewußtseyn soll bestimmt das seyn, daß wir uns den Umgebenden kund machen wollen. Die freye Thätigkeit will diese Gebundenheit überwinden und die Gesamtheit alles dessen, wodurch sich innre Zustände kund thun können, selbstständig im Einzelnen darstellen. Fragen wir nun, wie sich denn Mimik und Musik in ihrem ganzen Umfang verhalten als Kunstthätigkeit[,] d. h. was dadurch deutlich wird, so wird dadurch keine andre Form deutlich als menschliche und zwar innre menschliche Zustände, d. h. Modificationen des unmittelbaren Selbstbewußtseyns. Hier haben wir das Kunstgebieth, das vom unmittelbaren Selbstbewußtseyn ausgeht, insofern es seiner ganzen Natur nach durch seine freye Thätigkeit will

82

Ästhetik

43 | 44

zur einzelnen Erscheinung gebracht werden; denn sobald von Kunstthätigkeit die Rede ist, ist nicht mehr die Rede von innern Modificationen in der sich der Handelnde befand, denn so lange er in innerlicher Bewegung ist, ist nicht an Kunstthätigkeit zu denken, weil da nichts der Willkür unterworfen ist, Ausdruck so wenig, wie die Bestimmtheit des Selbstbewußtseyns selbst. Vorausgesezt, dies sey Alles, was von [der] Kunstthätigkeit sich aus dem unmittelbaren Selbstbewußtseyn ergibt, was ergibt sich, wenn wir vom gegenständlichen Bewußtseyn ausgehen, i. e. vom Bestreben die Formen des Seyns gebunden in Einzelnes zu bringen als Bild und Vorstellung, nun für [eine] freye Thätigkeit, wenn wir hier das Gebundne aufheben? Offenbar erhalten wir da die bildende Kunst als freye Thätigkeit im Gebieth des Bildes, und die redende Kunst als freye Thätigkeit im Gebieth der Vorstellung. Andre Formen sind hier nicht möglich; die innre Thätigkeit ist also eine des Sinnes, durch den uns Gestalten werden, oder des Gedankens aber nur als Richtung nach dem Einzelnen hin. Wie nähme sich diese Eintheilung aus, wenn wir zusammenstellen? Unmittelbares Selbstbewußtseyn will alle seine möglichen Modificationen darstellen die zugleich in der Wirklichkeit das Selbstbewußtseyn äußerlich machen, und gibt so die bedeutsamen Bewegungen der Oberfläche des Leibes und bedeutsame Bewegungen der Stimmorgane; von der andern Seite erscheint die Theilung unendlich reicher, also ungleich, denn vom gegenständlichen Bewußtseyn aus haben wir es ja mit allen Formen des Seyns zu thun und nicht mehr bloß im Gebieth des menschlichen Einzellebens. Die bildende und redende Kunst haben weit größren Umfang, denn von der bildenden Kunst dürfte nichts irgend Wahrnehmbares ausgeschlossen werden, alles Natürliche also und alles, was die menschliche Thätigkeit selbst gestaltet; so auch von der redenden Kunst soll die ganze freye Thätigkeit im Erzeugen von einzelnen Vorstellungen das Kunstgebieth seyn. Hier wissen wir nun noch gar nichts | von Poesie ihrer äußren Form nach, sondern allgemein [von] redender Kunst, aber jene muß sich auch über Alles erstrecken können, was natürlich oder menschlich ist. So scheinen die zwey Künste des einen Gliedes

44

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

83

höchst beschränkt gegen diejenigen des zweyten Gliedes. Dies ist nicht zu läugnen. Sehen wir von dem ab, was die eigentliche Kunst in der Thätigkeit ist, so ist der Gehalt im Allgemeinen betrachtet auf beyden Seiten derselbe; denn die Bewegungen vom Selbstbewußtseyn aus entstehen aus dem Geseztseyn des Menschen in der Welt, und so bildet sich doch das gesamte Seyn ab, aber freylich nur in seinem Verhältnis zum Menschen, aber vom Bewußtseyn aus wird auch nur das Seyn gegeben, insofern es dem Menschen wahrnehmbar ist. So sind beyde Glieder in Rücksicht auf den innren Gehalt ganz gleich, hingegen in der äußren Erscheinung das eine viel mehr als das andre. Wie sich nun die Theile der Glieder selbst verhalten, ob gleicher, oder auch so ungleich, und aus welchen Theilen jeder bestehe, ist noch zu betrachten. Ist unsre ursprüngliche Eintheilung erschöpft, sc. was wir in der Ethik zur Darstellung bringen ist doch auch Thätigkeit aber gebunden nicht von dem was gegeben ist, sondern [durch das] was man thun soll. Gibt es nun so einen Gegensaz gebundner Thätigkeit und freyer, welche Kunst seyn soll? Es scheint so, das Bilden des einzelnen Daseyns im Verhältnis zu dem in der Erfahrung gefaßten, ist ebenso einem Gesez folgend wie in der ethischen Thätigkeit überall; und es läßt sich nicht einsehen warum hier nicht überall Übergehen einer gebundnen zu einer freyen Thätigkeit wäre. Da entsteht ein großes Gebieth von menschlichen Thätigkeiten ganz analog dem Traum als kunstloser Bildung. Betrachten wir die sittliche Thätigkeit entweder als Arbeit an der Natur oder als Thätigkeit im gemeinsamen Leben, so finden wir, wenn wir von einem bestimmten Entschluß rükwärts gehen zu seiner Entstehung, so finden wir in der vorausgehenden Überlegung ebenso mannigfaltige, aber nie vollständige innre Bildung; es schweben verschiedne Möglichkeiten von Handlungen vor, die im täglichen Leben versierend schon eine Art innres Drama seyn können. Aus dieser Mannigfaltigkeit fixirt sich dann das, was als Entschluß ausgeht, als das am wahrsten die Gesamtheit der Verhältnisse in sich schließend und diese Wahrheit ist die des gebundnen Handelns. Es ist also eine kunstlose Gestaltung von

84

66

Ästhetik

44 | 45

Handlungen hier[,] wie dort von Formen. Ebenso ist es auf dem Gebieth der Arbeit an der Natur. Je weniger eine Handlung schon durch das Gegebne vollkommen bestimmt ist, desto mehr Spiel von Bildern, aus dem sich hernach eine Gestalt fixirt. Einer, der zuerst ein Stück Land urbar macht, muß ihm Gestaltung geben nach innern mathematischen Formen aber auch nach Beziehung auf die äußre Beschaffenheit des Bodens und seiner Organe; dazu kommt das Dritte, daß sich ihm ein Wohlgefallen daraus ergebe. Je nachdem das eine oder andre überwiegt, kommt die Handlung verschieden heraus, entweder überwiegt [die] Schwierigkeit, der die regelmäßige Gestaltung da unterläge, oder diese Eine von diesen wird in ihm fest und Urbild der dann eintretenden Handlung. Das ist das Kunstlose, wozu es eine Kunst geben muß. Ist dieses nun eine neure* In Handlungen im geselligen Leben kann zweyerley werden, bildende Kunst oder Poesie, je nach dem ich es als Bild oder Vorstellung fasse. Thätigkeit an der Natur gibt Bilder, die als solche heraustreten und ganz der bildenden Kunst anheim fallen; sie können aber auch heraustreten nicht als bloße Abbilder, sondern als wirkliche Gegenstände. Da gibt es zweyerley, Architectur und Gartenkunst; die leztre ist Arbeit an der Natur aber nicht als gebundne Thätigkeit, sonst ist sie nicht Kunst und fällt der Oekonomie anheim; als Kunst stellt sie dar die Art wie der Mensch sich denkt, daß die Natur um ihn seyn soll; so stellt sich das Bild als Gegenstand dar. So bey Architectur ein Bergwerk, so viel Kenntniß es fordert, sieht man nicht als Kunst an, so wenig als einem bestimmten Zwek dienende Gebäude; denn das sind gebundne Thätigkeiten abhängig nur von den äußren Beziehungen. Aber wenn sich diese Gestaltung davon | frey macht wie z. B. beym Monument, da ist es Kunst. Als wesentliche Bedingung geht nun hervor, und das ist zugleich Entscheidung zwischen dem streitigen Gebieth, daß die bürgerliche Baukunst nicht Kunst ist, weil sie ganz gebundne Thätigkeit. Aber alle andren Werke dieser Analogie haben irgend eine Beziehung auf das öffentliche Leben, politisch oder religiös, aber auch da muß das Kunstwerk nicht gebunden seyn, nicht bestimmt durch die Tüchtigkeit zu einem bestimmten Geschäft, sondern als freyes

45

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

85

Product des Menschen in der Masse; also in anorganischer Natur was Gartenkunst in organischer. – Diese Betrachtung kam uns nun aber zu einer schon abgeschloßnen Eintheilung hinzu und scheint Verwirrung; denn auf der einen Seite bekamen wir eine Production, die doch unter die Poesie subsumiert werden mußte; denn da es Poesie gibt, die aus der innern Vorstellungsbildung wird, die mit der ethischen Thätigkeit zusammenhängt, so ist das eine andre, als wenn das objective Bewußtseyn vom gegebnen Äußren frey wird und Vorstellungen bildet. Ebenso kann freye Darstellung der Gestaltung des Menschen in der Natur Kunst werden, Mahlerey, so haben wir diese auch schon von einer andern Seite gefunden. Auch die Unterordnung [der] Thätigkeit im geselligen Leben, was als Vorstellung Poesie wird oder auch Bild; und die auf Natur könnte auch Bild werden, oder selbst ein Gegenstand. Es scheint also nicht befriedigend. Es mag seyn, daß wir alle Künste von unsrer Eintheilung aus zur Darstellung gebracht haben, und überall das unwillkürlich Kunstlose und das was gebundne Thätigkeit wird, ausgeschieden. Hätten wir von Anfang getheilt so: Weil alle Kunst Bewußtseyn voraussezt, so müssen wir das Bewußtseyn theilen, so wäre unsre Theilung geblieben, das gegenständliche Bewußtseyn theilt sich in das mehr aufnehmende, d. h. das die ihm einwohnenden Schemata durch Eindrücke von Außen erfüllt erwartet, das andre, das selbstthätig durch eigne That diese Schemata erfüllt; nun wäre auf der einen Seite bloß das Mimische und Musikalische, auf der andern unendlich mehr. Dann wäre nicht dieselbe Kunst an verschiednen Orten zum Vorschein gekommen. Also ist es entweder nur Schein, daß das an verschiednen Orten entstehende Eine Kunst sey, dieser Schein kann entstehen aus der Gleichheit der Art des Hervortretens, was jenseits unsrer Aufgabe liegt, z. B. bey der ersten Theilung könnte uns ein einzelnes Bild werden, das zu keiner gegebnen Gestalt gehört, aber auch eine Handlung. Das ginge bey der bildenden Kunst, das erste wäre Sculptur die wesentlich in der einzelnen Gestalt versiert; Mahlerey wäre dann das Ethische. Als Bild gäbe Arbeit an [der] Natur die Landschaftsmahlerey. In der Poesie ginge solche Sonderung nicht.

86

67

Ästhetik

45 | 46

Es bleibt nun übrig zu sagen, die Wirklichkeit der Kunst wodurch eine Kunst Eins wird, hängt auch von etwas andrem ab als der Verschiedenheit des zum Grunde liegenden Bewußtseyns. Das wäre nun zu suchen, und da müssen wir uns auf den Gesichtspunkt stellen, das ganze Gebieth als freye Thätigkeit zu betrachten. Wir haben schon gesagt, die Anfänge der Kunst als das wo Kunstloses und Künstlerisches unterschieden ist, die hat jeder Mensch[,] aber nicht jedem entsteht daraus eine Thätigkeit, die Kunstausübung ist.* Viele sehen jenes Spiel als Ballast an, den sie gerne loswürden; aber sie können es nicht, dies ist größte Einseitigkeit. Etwas höher steht das Wohlgefallen an der Kunst. Diese Kunstthätigkeit nun in einem Einzelnen überwiegend ist das maximum, aber dies ist nun die überwiegende Richtung auf freye Thätigkeit bey Hintansezung der gebundnen. Was für ein Künstler man werde, das ist uns gleich, es fehlt uns die Bedingung wodurch diese Richtung eine besondre wird. Ungeachtet der scheinbaren Negativität haben wir da etwas aufgestellt, was allen Künstlern gemeinsam ist, ein Zurückstoßen des Bindenden; ich meine nicht, daß dieselben nach allen Seiten für Libertins seyen, sondern ohne Nachtheil des Ethischen suchen sie das Bindende zurückzuweisen, nur als die innre Freyheit bindend. Überall ist in | der äußern Sitte viel Willkürliches; und ein Künstler ist der nicht, der sich in Allem an diese bindet, sondern das Gegentheil, wo freye Gestaltung möglich ist, das bindende zurückzuweisen, ohne ihr Gewissen über den Haufen zu rennen, obwohl sie gerne sceptische Tendenz haben, ob auch alle Sitte innren Grund habe. Sceptische Richtung gegen alles Bindende können wir voraussezen, aber das läßt das künstlerische Leben nicht in seiner Bestimmtheit in einzelnen Zweigen begreifen. Das Einzelne ist zu bestimmen. Man sagt oft, was Kunst hervorbringe, sey kein Einzelnes sondern allgemeingültig, und wirklich es ist nicht in dem Sinn Einzelnes, wie was Sinne und Erfahrung uns geben, sondern wenn das Bildnis eines Menschen nichts andres ist als eine Copie der Art wie er erscheint, so ist es kein Kunstwerk. Das Kunstwerk will etwas andres als das Einzelne sehen. So auch Poesie darf nicht Zusammenschreibung des Ge-

46

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

87

schichtlichen seyn. Darin liegt nichts andres, als daß die wirklich auf das Einzelne gehende Richtung nicht gehemmt wird durch das, woraus nur die Erscheinung in der Wirklichkeit wird, sondern wir wollen die Richtung selbst sehen, wie sie auf das Einzelne geht und dieses ist ein ganz allgemeines. Eine andre Bemerkung ist: Eine Statue ist allerdings ein Einzelnes, aber ein historisches Gemählde ist eben so gut ein Einzelnes, ein einzelner Act der Production des innren Auges. Der Begriff des Einzelnen ist daher im wahren Sinn auf alle Kunstwerke anwendbar. Dieses ist das Gemeinsame aller Kunst und wir sind darin übereingekommen, daß ein Künstler nur werde, wo diese in das Einzelne bildende Richtung großes Übergewicht hat. Weitere Bestimmungen können wir von hier nicht ableiten. Darum gehen wir zurück und fragen, woraus die ungebundne Richtung entsteht und bedingt ist, da sahen wir sie gehe von zwey Punkten aus[: der] Geist in seiner Einheit als Intelligenz und der Organismus in dessen Verbindung die Intelligenz im einzelnen Leben wird. Auf welchem Kunstgebiethe eines jeden [das] maximum von Kunstthätigkeit sey, und auf welchem das minimum, das muß vom Organismus aus betrachtet werden. Freylich nicht so, daß wir beym Gebiethe der eigentlichen Sinne bleiben, sondern diesen Organismus in der Gesamtheit verschiedenartiger Functionen [betrachten]. Was ist denn die organische Function, welche der Mimiker macht? Nichts andres als Beweglichkeit der menschlichen Gestalt, um Ausdruck von den Affectionen des unmittelbaren Selbstbewußtseyns zu seyn. Was gehört dazu hier vom minimum zum mimischen Künstler zu werden? Da ist keiner, dessen menschliche Gestalt, wenn er träumt, sich nicht sollte mimisch bewegen wie im Wachen. Je weniger einer beweglich ist, desto weniger fähig, mimischer Künstler zu werden, desto weniger wird auch dieses Kunstwerk für ihn Bedeutung haben. In dem Maaße als der Einzelne weniger beweglich ist, wird er weniger Geschmack haben. Diese Verhältnisse sind besondre Naturgaben, nur solche vorausgesezt, kann einer ein Künstler werden. Ist nun noch etwas andres das Talent, das den Künstler bildet, und das, was wir Begeisterung nennen? Offenbar kann

88

Ästhetik

46 | 47

man beydes wohl unterscheiden z. B. ein Einzelner kann große Beweglichkeit haben und seine ganze Erscheinung sich eignen, daß seine Bewegungen als Kunst könnten angesehen werden, und doch in ihm keine Lust seyn zu dieser Thätigkeit. Im Allgemeinen gebe ich diesen Unterschied nicht zu, daß Talent sey ohne Trieb es auszuüben. Aber ganz etwas andres ist es in diesem bestimmten Sinn, wo das Talent sich zeigen soll auf dem Gebieth der ganz freyen Darstellung. Wer solches Talent der Bewegung hat, wird gewiß etwas damit machen, aber fehlt ihm Richtung auf freye Production, so wird er nicht als Künstler auftreten, er wird Einzelne die ihm auffallen nachahmen, und so bleibt er beym bloßen Copiren stehen, aber müßig läßt er sein Talent nicht. Talent kann also seyn ohne Begeisterung. Begeisterung ist die allgemeine | Richtung auf freye Productivität, wird aber eine bestimmte durch Verbindung mit einem bestimmten Talent. In unsrer vorigen Betrachtung fanden wir noch ungesondert Bildhauer und Mahler. Worin liegt der Unterschied? Beydes ist ein Gestaltbilden. Auffallend ist nun zwar der Unterschied, daß der Mahler eine Einzelheit hervorbringen kann, die aus vielen zusammengesezt ist, der Bilderhauer hingegen ist auf besondre Weise an die einzelne Gestalt gewiesen, nur sehr beschränkt ist die Ausdehnung zu Gruppen. So könnte man denken, beyder Talent sey dasselbe, aber beym Mahler von größrem Umfang. Das kann man aber nicht bejahen, sondern der Grund muß in der Sache liegen. Wir haben bey unsrer Ableitung diesen Unterschied nicht gefunden, freylich als sie an einem andren Ort entstand, fanden wir nun etwas, aber als wir das gegenständliche Bewußtseyn betrachteten[,] dachten wir nicht bloß an den Bildhauer; und die ethische Thätigkeit kann auch bilden, aber nicht bloß Gemählde, sondern auch Sculptur. Also können wir nicht sagen, dieser hat es mehr mit den Gestalten als Lebenseinheiten zu thun, und [der] Mahler mit dem Ethischen. Wir müssen eine andre Unterscheidung suchen. Wir sagen, der Bildhauer hat es allein mit den Gestalten zu thun, der Mahler außer den Gestalten noch mit dem Licht. Wie kann man dieses als eine besondre Richtung der Thätigkeit denken? Denken wir, wie Wahrnehmung wird

47

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

89

unter [der] Form des Bildes aber als gebundne Thätigkeit, so ist offenbar, daß wenn wir die einzelnen Gestalten nur als solche wahrnehmen, wir unsre Wahrnehmung auf eine bestimmte Form des Seyns zurückführen, wovon dieses ein Exemplar ist. Also ist auch das Selbstthätige was dabey in einem wirkt und sich vom Gebundnen losmachen will, nichts als auch der Typus des Seyns der uns als ideales Seyn einwohnt, und nur dieses ideale Seyn jener Naturthätigkeit in mir, macht mich der Wahrnehmung fähig und der Befreyung vom Gebundnen. Wäre in unsern geistigen Functionen nichts andres als alle diese Formen des Seyns jede für sich, so fragt sich, ob dieses dem Realen adäquat sey; dann trügen wir ideal in uns die reale Kraft der Erde. Nun hat aber die Erde kein selbstständiges Seyn, sondern ist in wesentlichem Zusammenhang mit einem bestimmten cosmischen System und die Art, wie sie zusammenhängt, ist eben das Licht. Wäre in uns nicht dieser Zusammenhang zum Bewußtseyn zu bringen, so wäre kein Entsprechen zwischen Geist und Natur, denn der Natur ist dieses wesentlich.* Der Mahler hat es nun wesentlich mit dem Licht und dessen Wirken auf die Gestalten zu thun und dieses bringt er zur unmittelbaren Darstellung, während der Bildhauer die Selbstständigkeit des Erdkörpers repräsentirt, so ist dieses der wahrhaft speculative Grund der Differenz zwischen beyden. Wollten sich aber diese zwey Künste nicht trennen, so hatte es den Grund, daß wir nicht die ganze geistige Thätigkeit des Bewußtseyns darstellten? Dort wollten beyde Eine bildende Kunst seyn, und es gibt verschiedne Stuffen in beyden Künsten, wodurch sie sich nähern. Sobald der Bildner Gruppen gibt, so treten unvermeidlich die einzelnen Figuren in ein Verhältnis der Beleuchtung, doch ist es nicht das, was er will. Gibt er ein Relief, so schaut er sich die Möglichkeit uns Beleuchtungsverhältnisse zu geben, denn da kann er Vordergrund und Hintergrund geben, was Lichtverhältnis ist. Aber in dieser Thätigkeit ist er im Übergang zur Mahlerey. Umgekehrt wenn ich beym Mahler die Farben wegdenke, bleibt zwar das Beleuchtungsverhältniß, aber es fehlt uns schon das wesentliche Element der Einwirkung des Lichts in die sichtbaren Formen. Denkt man gar die bloße Zeichnung

68

90

Ästhetik

47 | 48

und gar die einzelne Figur, so weiß man nicht, ob es Zeichnung werden will für den Bildhauer oder Bild für den Mahler. So ist ein Übergang in diesen Künsten, aber der Gegenstand der einen ist die reine Gestalt, der der andern deren Zusammenseyn mit dem cosmischen System, woher das Licht ist. So ist [die] Verschiedenheit des Talents begreiflich. | Es ist in beyden dieselbe Function des Gesichtssinns und der Gestaltbildung. Der Organismus ist die Vermittlung zwischen dem Geist im einzelnen Leben und der Gesamtheit des Seyns und es kommt darauf an, das Seyn im Geist aufzunehmen und den Geist im Seyn darzustellen. Sculptur[,] die mit der Gestaltung in ihrer Selbstheit und Mahlerey[, die] im Zusammenseyn mit dem cosmischen Leben sich beschäftigt, findet also die Differenz im Organismus. Die Arbeiten der Sculptur die sich wesentlich auf [die] menschliche Gestalt beschränken, ruhen durchaus auf der Anatomie, dem Scelet, und werfen Vernachlässigung desselben den Mahlern vor. Diese geht es aber nichts an, wenn sie nur die Oberfläche in der vollkommen wahren Beleuchtung darstellen, die freylich von dem Scelett abhängt, aber hierauf braucht der Mahler nicht zurück. Die Kunstthätigkeit ist nun immer im Zusammenhang mit der gebundnen Thätigkeit zu betrachten, über welche sie hinausgeht. Fassen wir eine Gegend auf in ihrer Beleuchtung, so ist die Thätigkeit nicht auf das Einzelne in Selbstständigkeit gerichtet, sondern auf das Ganze. Betrachten wir hingegen eine einzelne Gestalt, so wollen wir die Selbstständigkeit der Art und Weise eines individuellen Lebens und so sind wir da im Gebieth des Individuellen. Der Sinn, der auffaßt ist derselbe, aber die geistige Richtung eine andre. — Wir sagten, die innre Thätigkeit die das Einzelne zum Bewußtseyn bringen will, ist zweifach, sie kann es als Bild und als Vorstellung. Beydes ist an sich keine andre Auffassung des Seyns sondern es ist dasselbige und beydes muß einander ergänzen. Wir fixiren nie ein Bild, ohne daß das innre Sprechen dabey eintritt, d. h. die Vorstellung; und umgekehrt, wenn wir durch die Rede ein Einzelnes von einem andern als Vorstellung erhalten, so fehlt nie die Richtung, es als Bild zu produciren. Nur ist das Verhältnis beyder

48

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

91

sehr verschieden in Verschiednem. Das eine wird uns redende Kunst, das andre bildende, allein auf diesem Standpunkt kann man sie nicht trennen, da Bild und Vorstellung nicht können getrennt werden, weder in der freyen noch gebundnen Thätigkeit. Achten wir auf jenes, daß auch die ethische Thätigkeit über das Gebundne hinauswolle und wie uns auch von da aus redende und bildende Künste entstehen, da Fixiren eines ethischen Moments Historienmahlerey und Gedicht wird; so wären wieder zwey ganz verschiedne Künste Eine geworden, und doch können wir sie nur als zwey ansehen. Wie steht es dabey um die organische Thätigkeit? Beydes, ein Gegebnes Seyn auffassen und eines produciren wollen, ist von Seiten des Organismus angesehen, vollkommen dasselbe; d. h. die Poesie wie sie am einen und am andren Ort entstanden war[,] ist uns wieder Eins, und so in der bildenden Kunst. Die Differenz scheint nur zu seyn, daß das eine Bild wird, das andre Vorstellung. — Man bedient sich fast in allen Künsten des Ausdrucks „poetisch“ indem man vom bildenden Künstler sagt uns sey ein poetisches Element in seinem Kunstwerk oder nicht. Worauf beruht dies? Das Umgekehrte findet auch statt, daß man von einem Gedicht sagt, es sei pittoresk oder plastisch, was auf Unbestimmtheit der Vorstellung zu beruhen scheint. Den Unterschied zwischen dem Pittoresken und Plastischen haben wir festgestellt und fragen nun, was können die, wenn ein Sinn dabey seyn soll, in der Poesie seyn und was dies Poetische in der Sculptur oder Mahlerey? Die Verwirrung scheint im Gebrauch des Wortes poetisch zu liegen; denn das andre gibt sich gleich. Eine pittoreske Stelle in einem Gedicht beruht auf der Erfahrung, daß die Mahler Momente aus einem Gedicht zu einem Gemählde machen. [Die] Stelle in einem Gedicht, die sich dazu eignet, ist pittoresk. Ginge aber die Richtung einer Stelle weniger auf Zusammenfassen der einzelnen Gestalt, als vielmehr auf das Fassen jeder Gestalt für sich, so wäre das plastisch. Das Poetische in der bildenden Kunst ist viel schwieriger; etwas ist damit gemeint, aber [eine] bestimmte Fassung und Rechtfertigung ist schwierig. Wollen wir ebenso fragen wie dort, was das Poetische in einem Gemählde sey,

92

Ästhetik

48 | 49

so wäre es daß die Gesamtheit der Gestalten sich in eine Reihe von Momenten aus | einanderziehen lasse. Sind aber Gestalten zur Einheit zusammengestellt durch rechte Gruppierung und Beleuchtung, so ist es in seiner Kunst vollkommen, sehe ich aber in der einzelnen Gestalt nichts Bestimmtes für sich, sondern nur das Zusammenseyn mit den andren, so kann man kein Gedicht daraus machen; da es zu wenig Vorstellung zuläßt. Das was fehlt, ist das Ethische. Man kann nicht verlangen, daß der Mahler soll auf einen Zusammenhang von Vorstellungen Rücksicht nehmen, aber wenn er eine Anzahl menschlicher Gestalten zu einer Einheit des Bildes zusammenstellt, so sollen sie auch vermöge eines Moments im Leben zusammengekommen seyn können; dann ist das Ethische darin, und nun muß es der Dichter gebrauchen können. Dies ist das Verbindende zwischen den Künsten, die es mit dem menschlichen Seyn zu thun haben. Aber das ist jenes Plastische und Pittoreske, daß einer seine Vorstellung auch als Bild haben will. Ob aber im Verlauf eines Gedichtes einzelne solcher Punkte vorkommen, oder ob ich aus einem Gemählde soll eine bestimmte Reihe von Vorstellungen entwickeln können, ist ganz different. Jenes kann man vom Dichter fordern, dieses vom Mahler nicht. Was man fordern kann, ist nur jenes Ethische und hat er es nicht, ist es dann ein Mangel des Künstlers oder des Menschen? Fehlt dem Dichter die Anschaulichkeit seiner Gestalten, so ist es ein Fehler des Dichters, bey dem die Vorstellung vom Bilde soll begleitet seyn. Daß die Gestalten des bildenden Künstlers das Ethische haben, kann im Gebieth der Kunst liegen oder außerhalb. Wenn wir die geistige Seite der organischen Thätigkeit betrachten, so ist das Auffassenwollen der Gestalten und Producirenwollen derselben als geistige organische Function dasselbe. Also wenn dem Mahler in seinem Bilde das Poetische fehlt, so ist seine organische Thätigkeit unvollkommen, da man sie nicht eben so gut als vom Ethischen ausgegangen ansehen kann, wie von der bloßen Receptivität, und dies ist eine künstlerische Unvollkommenheit. Statt die Künste zu trennen, betrachten wir sie ja in einer vereinigenden Beziehung, als einander begleitend. Ist es nun gleichgültig, ob der Mahler seinen Gegenstand aus

49 | 50

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

93

einem Gedicht nimmt, oder aus der Geschichte oder ob er ihn willkürlich hervorbringt? Es scheint, daß wenn der Mangel des Poetischen ein künstlerischer ist, so scheint die Vollkommenheit nur möglich, wenn der Mahler seinen Gegenstand selbst erfindet, dann erst ist man sicher, daß das Ethische in ihm lebt. Fragen wir die Erfahrung, so erscheint es umgekehrt. Die bedeutendsten Kunstwerke in der bildenden Kunst (bey Sculptur wäre es [die] menschliche Gestalt in all ihren Bewegungen darstellen zu können) sind nicht selbst erfunden, sondern schließen sich an Geschichte oder Poesie, und den entschieden historischen Bildern geben wir den ersten Rang (wirkliche Geschichte oder Poesie, denn ein bloßes Abschreiben des Geschichtlichen ist nur Copie). Daß der Gegenstand auf irgend eine Weise gegeben sey, thut dem Kunstwerk keinen Eintrag, und wir stellen es ganz so hoch wie [ein] selbst erfundnes; also fordern wir dieses poetische Produciren nicht vom bildenden Künstler, sondern nur das Ethische, daß seine Einheit von Gestalt und Licht ihm als Lebensmoment vorschweben könne. Der Künstler wäre sonst zwar in einer freyen Productivität, aber diese hat nicht denselben Gehalt, welche die Thätigkeit des Menschen für einen Lebensmoment hat. Das meint der Ausdruck, in einem Bild sey keine Poesie. Diese Zusammenstellung gewisser Künste kann die eigentliche Unterscheidung geben, doch muß die Zusammenstellung erst maximum werden. Wir wollen indeß da fortschreiten, wo uns dieses entstanden war, daß man in Poesie etwas Mahlerisches suche, in bildender Kunst etwas Poetisches. Gedicht ist ein beständig Forschreitendes, Gemählde ein Moment. Wäre ein solches reines Abschreiben eines poetischen Moments, so wäre das Dichterische im Dichter zu suchen, allein als Bild existirte es doch unvollständig in ihm und er ist sich nicht bewußt, in diesem Moment sich ein Bild so innerlich gestaltet zu haben, wie der Mahler, | sonst hätte er divinatorisch construirt, was der Mahler thäte. Denkt man aber, im Dichter sey das Bild gar nicht vollendet, sondern Tendenz geblieben, der Mahler aber gibt die wirkliche Darstellung des Moments, so schreiben wir das Poetische dem Mahler zu, obgleich

94

69

Ästhetik

50

er die Elemente dort gefunden hat; denn der Mahler ist zwar auf das Gestalten gewiesen, hat aber die Vorstellung des Dichters in die Gestalt hineingelegt, also was beym Dichter dominirt, sich untergeordnet, und was jenem untergeordnet war, zum dominirenden [gemacht]. Das ist aber noch nicht das Poetische, sondern das hängt wesentlich zugleich an der Sprache, ehe wir es in dieser haben, hat man kein Poetisches. Das muthet man dem Mahler doch nie zu, sondern jenes, was ein ganz allgemeines Element ist. Schon einmahl sahen wir, daß Kunstthätigkeit als Act eines einzelnen Lebens zugleich das Gattungsbewußtseyn, i. e. Bewußtseyn vom menschlichen Geist an sich, wie er da ist in unendlicher Mannigfaltigkeit von einzelnen Gestalten, in sich habe. Davon hängt nun das Ethische ab, aber auch das Mahlerische und Plastische, wenn wir auf menschliche Gestalten sehen; denn das einzelne geistige Leben ist nicht zu trennen vom Leiblichen und im Gattungsbewußtseyn ist beydes gesetzt als zusammen. Producirt man aus sich eine menschliche Gestalt, die aber keine Beziehung hätte auf das Verhältnis des einzelnen Lebens zum Gattungsbewußtseyn, so ist sie Nullität, oder etwas Unwahres; jenes, wenn wir gar nicht auf dieses Höhre getrieben werden, dieses, wenn es demselben widerspricht. Z. B. im Alterthum gab es ein Bild menschlicher Gestalt, das man Kanon nannte*, als dieselbe am besten gebend, wonach alle andren sollen beurtheilt werden. Da ist das Poetische nicht darin, sondern es ist völlig physiologisch als Verhältnis des Festen zum Flüssigen u. s. w. Darin kann sie vollkommen gewesen seyn, hat sie aber nicht als Geist eine innerliche Wahrheit gehabt, so fehlt ihr das Poetische. Dasselbe gilt, wenn nicht von einzelner Gestalt, sondern von einem sittlichen Moment die Rede ist. Da ist jeder Moment ein Zusammenseyn von einzelnen menschlichen Seelen, die jede für sich ihre Wahrheit haben müssen im Gattungsbewußtseyn und [in der] Volksthümlichkeit. Das Ganze muß Wahrheit haben in der Entwicklung der menschlichen Verhältnisse, sonst ist das poetische Element Null oder Unwahrheit. Das heißt wir verlangen auch auf [dem] Gebieth der bildenden Kunst daß der Künstler seiner Gestaltbildung die Richtung auf Vorstellung so weit zum

50 | 51

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

95

Grunde lege und sie begleite, daß die Production [sich] auf jenes höhre Bewußtseyn zurückführen lasse. Das fordert man auch vom Dichter, aber das macht noch nicht den Dichter, dennoch nennt man es das Poetische, weil es in Poesie unmittelbarer dargestellt wird. — Wir gehen noch einmahl zurück auf das Mimische, was wir als Beweglichkeit der menschlichen Gestalt als Ausdruck des Geistes fanden, das die frey werdende Productivität des Lebendigen sey; wenn er Talent habe, diese Beweglichkeit überall zu schauen und in sich zu realisiren, so kann er dieses Gebieth bereichern. Gesezt man könnte diese Bewegungen so auf Regeln bringen wie die Verhältnisse der menschlichen Gestalt in jenem Kanon, so wäre [es] doch, wenn nicht jenes Ethische darin ist, d. h. ein einzelner Moment dargestellt ist, der seine Realität hat im Verhältnis zum Gattungsbegriff, kein eigentliches Kunstwerk. So haben wir ein neues, gemeinsames Element gefunden, von dem man im Voraus behaupten kann, es müsse in allen Kunstgebiethen seyn; nehmlich die freye Productivität muß überall zurück gehen auf das höhre Allgemeine, unter welchem das Einzelne seinen Ort hat, sonst ist der Künstler kein wahrhafter. | Auch das physische Leben des Ethischen ist darunter gemeint, jeder Baum muß eine Naturwahrheit haben, i. e. angeschaut werden als Einzelnes einer bestimmten Gattung, aber eben so muß das ganze Zusammenseyn des Naturlebens und des Individuellen wirkliche Naturwahrheit haben, so zusammen seyn können. Da kommen wir schon auf die hohe Stellung der Kunst als freyes Realisiren von dem, worin alle Auffassung ihren Werth hat, im Princip, daß alle Formen des Seyns dem menschlichen Geiste einwohnen. Fehlt dieses Princip, so ist keine Wahrheit möglich, sondern Scepsis. — Sehen wir von hier auf jenes Verhältnis der Künste zurück, daß sie aus einander seyn wollen und auch zusammen und daß uns jede nach den Nahmen als Eine erscheint und doch ihre verschiednen Theile von verschiednen Punkten ausgehen: so wird uns nun die Übersicht. So wie wir von diesem höhren speculativen Saze aus die ganze Mannigfaltigkeit im Kunstgebieth betrachten, so kommen wir auf das zurück, daß empirisch die Arten, wie wir das Einzelne haben können in [der]

96

70

Ästhetik

51

Vorstellung oder [im] Bild, immer zusammen sind, wenn auch auf ungleiche Weise. Das sind nun, von hier aus betrachtet, die beyden Arten, wie jene ursprünglichen Formen des Seyns im Menschen Einzelnes werden wollen, bald dominirend als Bild, bald als Vorstellung. Wenn in ursprünglicher Agilität des Geistes eins und dasselbe ist, so ist der Grund der Differenz schon in der Mannigfaltigkeit der Lebensformen, die man Organismus nennt. Das Ganze zu übersehen, müssen wir nun jenes erste Element, daß die Richtung auf das Einzelne eine freye wird, verbunden damit, daß jene Richtung immer darstellen soll jenes ursprünglich ihr Einwohnende, das dann dem äußren Sinn entspricht, auf der andern Seite aber rein als Ausdruck der geistigen Productivität erscheint: so stellen sich diese zwey Ansichten schon nicht mehr als gegenüber, daß Kunst nichts andres sey als Nachahmung der Natur*. Gestalten muß man freylich gesehen haben, ehe man solche producirt, und insofern das Auffassen das erste ist, kann man die Kunstproduction secundär denken. Nimmt man Kunst als Nachahmung des Natürlichen, so ist es einseitiger als der Natur, denn diese bringt eben so aus innrer Kraft das Einzelne hervor, hingegen das Natürliche ist das einzelne Gegebne. Ist nun gesagt, Kunst sey nicht Nachahmung, sondern Kanon der Natur, so ist das auch wahr, weil wir die Natur nur beurtheilen können auf unsre geistige Weise nach dem, was der Geist producirt. — Die Aufgabe ist also nun, [die] relative Differenz zu suchen. Bild und Vorstellung fassen ist immer zusammen. Die strenge Entgegensezung hört hier auf; aber in jedem einzelnen Leben ist die Productivität bedingt durch das eigenthümliche Verhältniß dieser Elemente. Wir fanden auch eine andre Entgegensezung, es gebe Künste versirend mehr in Darstellungen der bestimmten Formen in ihrer Selbstständigkeit und andre mehr in Darstellungen dieser bestimmten Formen mit dem allgemeinen Leben, wie in Sculptur und Mahlerey es sich bestimmt sonderte, in Poesie gar nicht so. Wäre also diese Differenz des Talents nur in der Richtung auf das Bild, und nicht auf Vorstellung, so wäre diese Ungleichheit freylich erklärt, aber ein Schein von Mißverhältnis ist dieses, daß wenn sich in der redenden Kunst [eine] Differenz finde, die in

51 | 52

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

97

bildender Kunst nicht [ist], so wäre das Gleichgewicht da; aber doch eine Art Mißverhältnis. Kunst gibt ideal was Natur, was diese gäbe, wenn nicht andre Coefficienten mitwirkten.* Kunst fanden wir im Gebieth des unmittelbaren Selbstbewußtseyns; nun sind aber diese Typen des Seyns in Allen dieselben; und nimmt man noch die Naturgegenstände als solche, so scheinen wir ganz im objectiven Bewußtseyn | und nur einen Theil vom unmittelbaren Selbstbewußtseyn, Mimik und Musik, und andre vom ethischen Selbstbewußtseyn aus. Dem einen wird sie Bild, dem andren Vorstellung, dem einen Einzelheit, beym andern Zusammenseyn. So geht hervor, daß [die] Kunstthätigkeit eines jeden in ihrer bestimmten Art doch davon ausgehe, wie er als unmittelbares Selbstbewußtseyn als einzelnes, besondres Leben sich verhält. Also die Art und Weise des unmittelbaren Selbstbewußtseyns ist doch die Quelle der Bestimmung der Kunstthätigkeit. Nun haben wir uns doch von den Künsten die unmittelbar am Selbstbewußtseyn sind, sogar gesagt, Kunstwerke gingen nicht hervor aus einem unmittelbar afficirten Moment, und so kommt man auf untergeordnete Weise doch wieder auf das objective Bewußtseyn zurück. Aus dem Bestreben nun, die einzelnen Künste zu finden vom Organismus überwiegend als geistige Functionen aus, [sind wir] nicht zum Ziel gekommen, da dieselben Functionen uns thätig erschienen in verschiednen Künsten. Die Kunst also in ihrer wirklichen Verzweigung muß als Eine und Viele noch von etwas andrem abhängen, aber innerhalb der Linie die wir von Anfang [an] zogen, von innerster Bewegung an bis zur Vollendung nach Außen. Die wirklich äußre Darstellung mußten wir freylich als secundär ansehen und zum Finden des Begriffs bey Seite stellen. Aber dennoch würden die innren Elemente keine Kunst werden, wenn [ihnen] nicht die Richtung auf das Heraustreten von Anfang an innewohnt. Also die Differenz in der Art, wie die Kunstwerke ein Äußres werden, müssen wir mit in Anschlag bringen und so weit dieses Eins, so weit auch die Kunst als Eine, wenn gleich die Differenz bliebe. So gäbe es verschiedne Arten, wie man die

71

98

Ästhetik

52

Künste theilen könne. Geschichtliches im Gegenstand muß die Eintheilung dominiren, die sich auf die Art des gegenständlichen Werdens bezieht. Dies ist im Zusammenhang mit der von uns aufgestellten Differenz. Wir sagten die zwey Formen Einzelnes zu werden, Bild und Vorstellung, seyen immer zusammen, weil die sinnliche Anschauung doch nicht zu der Constanz eines menschlichen Bewußtseyns gelangt, wenn sie nicht von Vorstellungen begleitet wird und die Richtung von den einwohnenden Ideen ausgeht. Einzelnes als Vorstellung zu produciren ist zugleich immer Production des Bildes. Sagten wir der eine wird Dichter, weil diese Richtung in ihm dominirt, und das Bild nie so vollendet in ihm wird, wie die Vorstellung, und der Andre wird Bild-Künstler, weil das Bild zu größrer Vollendung bey ihm gelange als die Vorstellung, so sind wir nahe daran zu sagen, sie sind verschieden auch durch [die] Art des äußerlichen Werdens. Der Dichter kann seine Vorstellung nur heraustreten lassen durch die Sprache und der bildende Künstler sein Bild nur an einem gegebnen Stoff. Da gehen freylich Differenzen an. Sagt man der bildende Künstler wird ein solcher, weil das Bild dominirt, so ist [die] Differenz zwischen Mahler und Bildhauer nicht gefunden. Daß dieser es überwiegend mit einzelnen Gestalten und [der] Mahler [es] mit Zusammenstellungen zu thun habe, war uns doch selbst relativ. Nun ist mehr Differenz. Der Bildhauer bringt sein Bild hervor als ein körperlich Undurchdringliches, [als] körperliche Gestalt, der Mahler auf der Fläche, weil jeder jenes Relative im Sinn hat; denn daraus entsteht, daß der eine nur kann in der Fläche, der Andre nothwendig muß in körperlicher Masse darstellen. Die Selbstständigkeit der productiven Kraft erschiene nicht auf der Fläche, und die Verhältnisse der Beleuchtung können nicht in Körpern dargestellt werden, weil da die Beleuchtung wie sie äußerlich schon ist wechselt, der Mahler aber sein Licht selbst machen muß als eines, das immer dasselbe bleibt. So wird das Verfahren ganz ein andres, doch haben wir es damit nicht zu thun, was die Technik ist, noch mit der Art des Materials, sondern der eine gibt selbstständige Gestalt, der andre Gestalt in Beziehung auf das allgemeine Leben.

52 | 53

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

99

Was Poesie betrifft, so entsteht da die entgegengesezte Schwierigkeit, sie ergab sich als in sich different und doch ist sie Eine. | Durch [den] Vergleich mit [der] Differenz der Mahlerey und Bildhauerey blieb sie immer Eine. Jetzt sagen wir, sie muß auch nur Eine seyn, weil sie es mit der Art, wie [eine] Vorstellung äußerlich wird, zu thun hat, mit der Sprache nehmlich. In [der] Sprache ist nun Gegensaz zwischen gebundner und ungebundner Rede und da könnte man denken sey ein Grund zur Theilung; aber daß nun die freye Productivität als Vorstellung Vers werden will, dazu haben wir noch keinen bestimmten Punkt gefunden, und wissen nicht ob dieses ein innerliches Motiv hat; vielmehr zeigt die Geschichte der Kunst dieses als nichtig, da fast alle Zweige in Versen und Prosa sich finden. Roman und Epos ist uns in Beziehung auf alles schon Betrachtete völlig darstellbar, eben so im Drama hält sich beydes neben einander.* Hier kann dieses nicht erörtert werden, aber das stellen wir fest, daß die Poesie deswegen Eine ist, weil sie es nur mit der Sprache zu thun hat und zwar nicht erst bey der äußren Darstellung, sondern schon das Vorstellen in seinen ersten Elementen war innre Rede, also geht es in die innre Thätigkeit zurück. Die Kunst in ihrer Wirklichkeit theilt sich also nach der Art, wie sie erscheinen kann; das haben wir freylich erst am Gegensaz der bildenden und redenden Kunst gezeigt, aber fragt man nach dem Unterschied der Sculptur und Architectur, so können wir freylich wieder aufnehmen, daß jene es mit organischen Formen, diese mit mathematischen zu thun habe; und dazu sagen wir, die eine arbeitet ebenso ein Solidum hervor wie die andre. Aber die Art des Verfahrens ist schon im äußerlichen Werden ein andres. Wo ist in [der] Sculptur [die] Grenze zwischen [dem] eigentlichen Verfahren des Künstlers und dem Hervortreten des Kunstwerks? Ja wenn er sein Kunstwerk hervorbringen will, so muß er sich an das Solidum machen, er muß das Modell als Solidum machen, und damit erst ist sein Innerliches fertig. Da geht dann das Handwerkmäßige an. Der Architect steht von seinen technischen Arbeiten weiter ab. Jener macht die lezte Arbeit am Marmor doch wieder selbst; hingegen der Architect nimmt nichts Handwerkmäßiges an die Hand, sondern er gibt

72

100

Ästhetik

53 | 54

seinen Handwerkern nur den Grundriß und Durchschnitte, eben weil es mathematisch ist; das Solidum macht er gar nicht. Der Grund dieser Differenz ist aber daß der eine es mit Lebendigem zu thun hat, was im Audrucksvollsten sich nicht auf mathematisches Maaß zurückführen läßt, der andre ganz mit solchem [mathematischen]. Dasselbe sehen wir auf der entgegengesezten Seite Mimik und Musik nehmlich. Der Mimiker ist dem Architect darin am meisten entgegengesezt, daß er das ganze Kunstwerk an sich selbst vollbringen muß, ohne alle Arbeiter, und der eigentliche Ursprung, das Interesse für Beweglichkeit der menschlichen Gestalt als Ausdruck der geistigen Bewegung, ist nur in dem Maaße da, als er Trieb zu solcher Bewegung hat. Die Art zur Erscheinung zu kommen knüpft sich auch an die Art der innren Erregung. Wollen wir die Kunst aber als Einheit erkennen, so kann der mimische Künstler auch die Gestalt als Selbstständiges Einzelnes darstellen, aber auch einen ethischen Moment von verschiednen Personen, dann kann er es aber nicht an sich vollbringen. So wäre doch Möglichkeit zu solch relativem Unterschied; wer ein Ganzes entwirft und andern Rollen darin vorschreibt, so sind diese doch seine Handwerker, nur weihen sie sich einander gegenseitig dazu; ist aber ein Ganzes aus Einem hervorgegangen, so wird es auch mehr mitwirken, dennoch ist [die] Kunst dieselbe, weil [die] Art und Weise, wie sie äußerlich werden kann, dieselbe ist. Wie steht es mit der Musik? Das Ursprüngliche ist der Gesang, gemeßne Bewegung der eignen Stimmwerkzeuge. Da gilt alles was von der Mimik, nur daß die Bewegung nicht zum Vorschein komme, sondern die Wirkung derselben in der Luft. Musik in ihrer Erweiterung scheint andres zu seyn, aber doch Eine, weil innre Thätigkeit und wesentlich die Art äußerlich zu werden dieselbe ist. – Von demselben Punkte einstweilen abgesehen fragen wir, ob es etwas andres sey, als die möglichste Mannigfaltigkeit, innre Erregtheit durch Töne kund zu thun; denn etwas | objectives kann Instrumentalmusik nicht seyn. Aber nun tritt etwas andres ein, ob [die Töne] in Manifestation durch körperliche Bewegung und Stimme uns werden ohne andre Hilfsmittel, lassen wir und sagen nur, daß sie auch durch die Rede kund werden, und so entstünde

54

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

101

Poesie. Diese wird uns genaugenommen von allen Punkten aus entstehen. Diese Kundgebung von hier aus durch die Rede ist keine unmittelbare, sondern etwas ist schon dazwischen getreten, freylich bey den Bewegungen und Tönen muß auch etwas zwischen sie und [die] innre Erregung eintreten, damit es Kunst wird; denn kunstlos sind die Bewegungen der Stimme und Töne als eigentlich ursprünglicher und unmittelbarer Ausdruck, rein identisch mit der innern Erregung selbst. Würden es Worte, so ist selbst das Kunstlose eine Übersezung in den Gedanken, und nicht unmittelbar. Freylich gibt es Übergänge von Tönen zu Worten, man nennt sie Interjectionen, und die bezeichnen den Weg vom einen zum andren. Vom Ton aus erscheint uns die Interjection unbestimmt, in der Sprache wird es etwas bestimmtes, aber kein Gedanke, sondern nur der Ausdruck des bestimmten Selbstbewußtseyns. An dieses erste Element knüpfen wir den ganzen Proceß und sagen, es gebe eine Gattung von Poesie, welche dieselbe Bestimmung hat wie Mimik und Musik, aber doch eine Stuffe weiter von den unmittelbar innern Bewegungen, da eine Reflexion darüber vorausgegangen ist. Hieraus sehen wir das Verhältnis zwischen [der] ersten Unternehmung, die Kunst in ihrer Mannigfaltigkeit zu suchen, und zwischen dieser. In jenem gingen wir von einem einzelnen Punkt aus, die Bestrebungen des unmittelbaren Selbstbewußtseyns zu fassen, wie es Kunst wird. Hier nun entstehen uns aus demselben Punkt drei verschiedne Künste, freylich, die eine nur als Theil einer andern. Ob nicht die Mimik noch andre Theile hat als Kundgebung innrer Bewegungen, ist also nicht sicher von empirischer Seite, es könnte auch eine geben, die in das Objective ginge. Was also von einem Standpunkt Eins ist, ist vom andern Vieles, und das geht in alle Kunstzweige hinein, nur nicht mit derselben Ursprünglichkeit und [demselben] Verwandtschaftsgrad. Wenn wir aus Mimik und Musik als den unmittelbaren einen Übergang fanden in Poesie, wie steht es mit der bildenden Kunst? Sobald diese den Menschen darstellen will in einer bestimmten Gemüthserregung, so nimmt sie offenbar die Mimik in sich auf, und hat dieselbe Tendenz wenngleich nur in einem einzelnen Element. In einem historischen Gemählde

102

Ästhetik

54 | 55

ist der Ausdruck des Verhältnisses in dem jede Einzelheit zur Totalität das Moment [der Gemüthserregung] mit darstellt, i. e. das Bild bekommt zugleich einen mimischen Werth. Gehen wir auf die entgegengesezte Seite hinüber, auf diejenige Thätigkeit, die unser sittliches Leben constituirt, [so] hat [auch diese die] Tendenz freye Productivität i. e. Kunst zu werden. Insofern diese Thätigkeit in den geselligen Verhältnissen versiert, ist Poesie das ursprüngliche Produciren dieser Art. — Epische und dramatische Poesie ist eine Reihe von Bewegungen. Was ist das Innre, das sich hier zur freyen Productivität durcharbeitet? Offenbar die sittliche Gesinnung vermöge der jeder Einzelne das ganze Gesamtleben constituiren möchte; aber im Leben selbst wird jeder durch die Thätigkeiten andrer bestimmt und kann seine sittlichen Thätigkeiten nur gebunden manifestiren, und wird nur verstanden, wenn das ihn Bindende verstanden ist. Da ist Anfang freyer Productivität und das geschieht nur, wenn was in der Wirklichkeit den Menschen bindet, sein eignes Product wird. Da ist [es] nicht nöthig, daß Eine seiner Personen eigentlich der Dichter sey, sondern alle zusammen sind sein Ausdruck. Will einer im wirklichen Leben nach ungebundner Darstellung streben, so sagt man er trage seine Poesie auf das Leben über, und das läßt man nicht gelten, entweder zerschellt er, oder wird doch gebunden, es ist Mißverständnis der Richtung. Geht das nun nicht in wirklicher That, so bleibt nur Poesie als Ausweg auf unmittelbare Weise. Doch kann ja in einem Einzelnen die ethische Richtung auf das Gesamtleben stark sein, und er doch nicht zur Poesie kommt, weil ihm das überwiegende Talent in der Sprache fehlt; so bleibt ihm dann nur eine mittelbare, i. e. es bleibt ihm der Weg zu den bildenden Künsten, die aber dann nie vollständig sind, sondern Anlehnung haben müssen entweder in Geschichte oder einem gegebnen Dichtwerk. | Wenn nicht, so muß der Künstler sein Bild mit Worten erklären, was nicht seyn sollte. Nimmt es Bezug auf bekannte historische oder poetische Personen, dann kann es Ausdruck der ethischen freyen Thätigkeit werden. In den bildenden Künsten entsteht überall mehr oder minder, was man Symbolik nennt i. e. eine Art und Weise, die aber nur durch

55

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

103

Überlieferung sich fixirt, die bildende Kunst zur Darstellung des Ethischen zu gebrauchen, ohne daß sie aber auf Geschichte, noch epische Poesie Bezug nähmen.* Ähnlichen Ursprung legt man oft der Mythologie bey. Denkt man eine symbolische Figur, z. B. Caritas*, so erkennt jeder was es seyn soll, aber nun darum weil die Bedeutung durch eine Tradition sich festgestellt hat. So ist Übergang von Poesie zur bildenden Kunst als Ausdruck des Ethischen. Doch ist so große Beziehung zwischen dem Ethischen im gemeinsamen Leben der Menschen und zwischen der Sprache, die ja alle gemeinsam Handelnden vermittelt, so ist doch das natürlichste, daß der diese Richtung besonders hat, in der Kunst ein Dichter werde und ist in einem bildenden Künstler [das] Streben ethische Momente darzustellen, nur als Surrogat der Poesie, die ihm nicht gegeben ist, so wird er nie ein Meister seyn, da er nicht ursprünglich bildende Tendenz hat, sondern ein zu einem Mahler verunglückter Dichter. Nun auf unsern lezten Punkt kommend, auf die freylich auch ethische Thätigkeit des Menschen auf die Natur, wie sie zur freyen Production durchdringen wird, ist hier gerade die Seite, wo eine gewisse Auffassung von der Kunst sich am meisten einschleicht, daß es nur Zwekmäßigkeit ohne Zwek sey*. Der Mensch hat bey seiner Thätigkeit an [der] Natur immer zunächst einen Zwek der Selbsterhaltung und Eroberung der Natur. Aber die unmittelbaren Thätigkeiten dazu sind immer rein mechanische. Wenn der Mensch die Erde in Beziehung auf Vegetation erobert, so ist es freylich eine Thätigkeit in organischen Kräften, aber diese organischen Kräfte in [der] Natur läßt er nur wirken und seine unmittelbare Thätigkeit ist rein mechanisch, Bearbeitungen des Bodens und Aussäung. Ebenso wenn der Mensch baut, über der Erde, um sich zu schüzen, unter der Erde, um etwas auszubeuten, so sind es mechanische Thätigkeiten, und wie der Zwek erreicht ist, bleibt schwerlich ein Überschuß von Neigung zu freyer Production. Und doch finden wir es so, ja gerade in den ersten Culturstufen bey Völkern und Zeiten, wo von Paradisen schon die Rede, i. e. künstlichen Gärten, und großen architectonischen Monumenten, Pyramiden, in denen ist noch wenig von

73

74

75

104

Ästhetik

55 | 56

andern Künsten, sondern das sind die Anfänge und da ist durchaus zwekmäßige Thätigkeit aber der Zwek ist verschieden, also ist es nur Product einer Richtung auf vollkommen freye Productivität. Ohne einen solchen Überschuß wäre sie leer; was ich nur als Mittel will, will ich eigentlich gar nicht, also auch diese Arbeit nicht, wenn sie einen bestimmten Zwek außer ihr hat, und dann will man auch keine freye Production ohne Zwek. Wie entsteht dann eine freye Production? Nur wenn in der Thätigkeit selbst, die einem Zwek dient, noch etwas darin ist, das sich durcharbeitet zur freyen Thätigkeit. Der zuerst ein Stück Land bearbeitet, theilt es in regelmäßige Formen, wo nicht, so ist es Ausnahme, die von Hindernissen herrührt. Das sehen wir so sehr voraus, daß wir nicht regelmäßige Acker für [ein] Spiel des Zufalls hielten. So steht die Form in keiner nachweislichen Verbindung mit dem Zwek, denn der Acker trüge gleichviel. Da ist eine innre Richtung auf regelmäßige Gestaltung. Ein Grad von Symmetrie ist bey aller Agricultur vorausgesezt. Das ist also der Punkt, an dem sich die freye Productivität in dieser Richtung anschließt, nur dieses Element, abgesehen von allem Zwek, zur Darstellung zu bringen, ist eine Kunstthätigkeit. Hieran schließt sich die Architectur und Gartenkunst, wie Sculptur und Mahlerey, jene einzelne Werke hinstellend, diese hingegen Gruppierungen und ist wesentlich auf das Zusammenseyn der vegetativen Organisation mit dem Lichte und | [den] Gesamteindruck des Lichts, der Färbung berechnet, wie die Mahlerey. Da man das Künsterlische daran nicht so fixirte, so zweifelte man oft. Dies führt zu der Betrachtung, die den Aufschluß gibt: Die Architectur gehört durchaus dem öffentlichen Leben an und will immer zugleich als Ausdruck der Gesamtheit der Gesellschaft erscheinen in Beziehung auf anorganische Natur aber nur für das öffentliche Leben. Im ersten Anfang herrscht Neigung zum Colossalen und Monströsen, weil man auf einer gewissen Stuffe kein andres Maaß hatte, die Thätigkeit des Menschen zu schätzen, als das Massenverhältnis. Das mindert sich dann und wird mehr ein übersichtliches, doch immer für das gemeinsame Leben. Wäre uns nun jedes Werk der Archtitectur, das in das Gebieth der Zwekmä-

56

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

105

ßigkeit, des Geschäfts gehört, kein Kunstwerk, sondern nur eine gewisse Kunstmäßigkeit an der Zwekmäßigkeit als Nebensache, so fragen wir, was ist die Bestimmung der großen architectonischen Kunstwerke? Es sind immer Werke die einen Zwek des öffentlichen Lebens haben, Gebäude, in denen man sich sammelt zum öffentlichen, bürgerlichen, religiösen oder Kunstleben. So entsteht bloß die Kunst aus der Richtung auf regelmäßige Gestalt, und die regelmäßige Thätigkeit im Öffentlichen darzustellen, das gibt ihr die Kunstbedeutung, indem das Ethische, der Moment hinein kommt. Ist hier das Ethische überwiegend, so wollen wir auf den Anfangspunkt, auf die Momente des unmittelbaren Selbstbewußtseyns zurück, wie sie das Kunstlose hervorbringen, woran Mimik und Musik sich anschließt. Da dachten wir immer nur an die Momente im einzelnen Leben, aber diejenigen Erregungen des Selbstbewußtseyns, die mit dem gemeinsamen Leben zusammenhängen, würden doch würdigere Gegenstände auch dieser Künste. Würden wir nun nicht auschauen, wie die allgemeine Kunsttendenz sich in der Erscheinung [ver]mannigfaltigt als wo das Innerliche heraustreten will, so geht die Richtung von Anfang an doch immer schon auf Mittheilung und wäre nicht, wenn das einzelne Bewußtseyn nicht zugleich Gattungsbewußtseyn und organischer Bestandtheil eines ganzen Lebens wäre. Daher ordnet sich von selbst alles, was nur könnte aufs besondre einzelne Leben bezogen werden, unter. Wenn also alle Künste einen solchen Ausgangspunkt vom einzelnen Bewußtseyn haben, so streben sie doch alle nach dem gemeinsamen und öffentlichen hin und in jeder selbst werden wir eine solche steigende Reihe anerkennen müssen, daß die es mit dem einzelnen Leben bloß zu thun haben, die untergeordnete Gattung sind, hingegen die größten werden die seyn, die auf einen ethischen Moment zurückgehen und ihre gegenständliche Richtung im Öffentlichen und Gemeinsamen haben. — Dieses führt auf eine schon angeregte Betrachtung die aber damahls nur zufällig entstand und nicht weiter zu bringen war. Als wir Übersicht suchten von der Art, wie sich die allgemeine Richtung auf freye Productivität vermannigfaltigt, bemerkten wir Verbindungen der einzelnen Künste unter einander. Über-

106

Ästhetik

56 | 57

sehen wir dies nun von diesem Punkte aus, so verstehen wir es vollkommen. In den untergeordneten Gattungen wo das einzelne Leben mehr für sich hervortritt sondern sich die Künste mehr, je mehr wir zu der geistigen Production aufsteigen, desto mehr nähern sie sich, und das lezte ist die Umschließung derjenigen Kunstproductionen und ihrer Darstellungen die am meisten vom öffentlichen Leben ausgehen, in die architectonischen Räume und diese sind dazu bestimmt, die Künste in ihrer Vereinigung zusammenzufassen auch im Charakter der freyen Productivität. — Dieses fordert eine andre Betrachtung. Lassen wir jetzt das bewegte unmittelbare Selbstbewußtseyn als das Einzelne, und begeben uns ganz in das gemeinsame Leben, so erscheint dieses aber so als ein durch eine bestimmte Eigenthümlichkeit besondres, wie das Einzelleben selbst, und dieses ist die Volksthümlichkeit in ihren Abstuffungen je nachdem die Menschen in kleinre Ganze zertheilt, oder diese kleinern schon vereinigt sind. Da sind dieselben Elemente wie im einzelnen Bewußtseyn die in freye Productivität ausgehende Kunstthätigkeit werden. In einer solchen Masse von Menschen gibt es ebenso leidenschaftlich bewegte Elemente, wie die im Einzelleben, wo das Kunstlose der Mimik und Musik entsteht. Was ist denn für eine solche Masse die gesamte Production dieser beyden Künste in ihrer Mitte? Das, worin sich alle wieder erkennen nach ihrer eigen | thümlichen Organisation, Sprache und Sitte, und nur das so sich selbst auf dieselbe Weise bewegende und sich manifestirende Wiedererkennen sichert das Bestehen und ist der Erfolg der Kunst. Sehr entfernte Menschen sind sich darin fremd. Die innren Bewegungen von Völkern andrer Zonen und außer unsrem Verkehr sind uns fremd und unverständlich, erscheinen uns ganz willkürlich, und die unsrigen ihnen. Dasselbe gilt von der Musik. So hat jede Kunst ihre eigenthümliche Gestaltung für jede Volksbesonderheit. Hieraus folgt, daß auch solche mimischen und musikalischen Darstellungen, die es nur mit Darstellung der Bewegung des einzelnen Lebens zu thun haben, doch weil derselbe Typus zum Grunde liegt, für alle die denselben Kreisen angehören verständlich sind und KunstWerth haben, mehr noch haben es diejenigen Werke,

57

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

107

worin sich ein Moment des Gesamtlebens manifestirt. Aber diese Künste für sich allein reichen nicht hin, eine solche Leistung in ihrer höhren Dignität zu geben, sondern das ist die eigenthümliche Aufgabe der Poesie und daß Mimik und Musik einzeln oder verbunden sich nun an die Poesie anschließen. Denkt man solche Werke in kleinren Kreisen dargestellt, so wird es das öffentliche Leben in seinen verschiednen Momenten zum Bewußtseyn bringen, aber dies ist nicht von solchem KunstWerth, als analoge Werke die für einen Moment des öffentlichen Lebens und nicht bloß für kleinre Kreise, aber dann auch in größrem Maaßstabe sich darstellen. Dies vollendet gedacht, gibt das Höchste eine Vereinigung aller Künste zu einer gemeinschaftlichen Leistung. Halten wir dieses fest und betrachten nun das gemeinsame Leben von der andren Seite. Jetzt sehen wir erst, daß es auch ein bewegliches Selbstbewußtseyn für die Volkseigenthümlichkeit gebe, das [in] allen Gliedern derselben identisch ist. Dieses in Bewegung gesezt bringt unwillkürliche Äußerungen hervor, tritt Kunst hinzu so entsteht jene Sonderung die dann Anfang ist. Nun betrachten wir den andern Anfang und sagen, das gegenständliche Bewußtseyn ist auch in jeder größren oder kleinren Nationalität ein eigenthümliches von den andern Verschiednes, aber es kommt ursprünglich nur zum Vorschein in einer gebundnen Thätigkeit, sc. der menschliche Geist in einer Nationalität an eine eigentliche Organisation gebunden, ist durch diese in natürlich naher Relation getreten mit einer eigenthümlichen Modification aller der Erde angehörigen Kräfte, und so entspricht sich ein Eigenthümliches im Seyn und eins im Bewußtseyn und dieses ist besonders für jenes prädeterminirt. Diese Eigenthümlichkeit des gegenständlichen Bewußtseyns drükt sich aus in der Sprache, und jede Sprache repräsentirt eine eigenthümliche Modification unsres Denkens und Vorstellens. Dasselbe gilt von den auf das Seyn gerichteten Sinnen (auch von denen die gar nicht in Kunstthätigkeit eingehen) besonders von denen, die Kunstthätigkeit üben. Nun haben die weit entfernten Theile der Erde von Natur [aus ein] andres Farbensystem und [andre] Beleuchtung und der Sinn der menschlichen Organisation entspricht diesen, so daß

108

Ästhetik

57 | 58

für uns das Farbensystem der Tropenländer nur einen fremden Eindruck macht. Daher entsteht etwas Eigenthümliches in den Künsten und dazu kommt noch die verschiedne Constitution des menschlichen Körpers selbst, denn, je größer die Racendifferenz ist, um desto verschiedner [der] Typus menschlicher Gestalt i. e. verschiednes Ideal menschlicher Schönheit in sich hat, was wir so denken, wie es die Natur üben würde, wenn sie nicht durch andre Coefficienten gebunden wäre, sondern frey. Das entspricht dem Freyen und Gebundnen in menschlicher Thätigkeit. So wird sich auch die bildende Kunst nationalisiren und diese wird in jeder solchen Gesellschaft nichts andres seyn, als das Heraustreten ihrer Thätigkeit im Gebieth des gegenständlichen Bewußtseyns in [die] freye Production. Je mehr sie noch mit den gesamten Kräften an gebundne Thätigkeit gewiesen ist, desto weniger wird die ganze Gesellschaft zu freyer Production kommen, und nur allmählich entwickelt es sich. Wenn es sich entwickelt, so will es auch zum Gesamtbewußtseyn gelangen und dieses ist in jeder Kunst [die] Richtung auf das öffentliche Leben und diese wird das größte in der Kunst seyn. Könnte man | einwenden, in den modernen Völkern gebe es schon lange bildende Kunst und doch sey sie nicht in das öffentliche Leben übergegangen: so ist es erstens nicht wahr und zweytens steht was daran wahr ist in natürlichem aus unsren Säzen folgendem Verhältnis. Nicht wahr ist es, insofern die Kunst von Anfang [an] in das öffentliche religiöse Leben überging und da ihren Ort fand, was freylich von Mahlerey mehr als Sculptur gilt, was in [der] Natur der christlichen Religion seinen Grund hat; denn die hat es nicht mit einzelnen symbolischen Personen zu thun, sondern ist ganz und gar ethisch und hat es mit dem Zusammenleben zu thun und diesem ist die Mahlerey am günstigsten. Wahr daran ist nur dieses, daß insofern die Kunst einen solchen Ort im Gesamtleben hat, man doch in vielen Völkern die Masse wenig Theil daran nehmen sieht und viele Künste nur auf einen kleinen Theil wirken; das hat seinen Grund in den geschichtlichen Verhältnissen; denn je mehr der Mensch in der gebundnen Thätigkeit aufgeht, desto weniger entsteht die freye Thätigkeit, sogar auch nur als Empfänglichkeit

58

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

109

gedacht. Nun war in den Völkern solcher Gegensaz zwischen der Masse und den dominirenden Einzelnen, daß nur in diesen freye Thätigkeit erscheinen konnte; je mehr dieser Zustand aufhört, desto mehr erwacht jenen der Kunstsinn, zusammenhängend mit Auflösen der Leibeigenschaft und Knechtschaft. Eben dieses, daß die Kunst erst im öffentlichen Leben ihre größte Wirkung hervorbringt, zeigt wie die Wirkung aller andren Künste sich immer anschließt an die Wirkung der Poesie und wie diese eigentlich das öffentliche Centrum bildet. Wo wir das öffentliche Leben in poetischen Werken sich aussprechen sehen, und diese in der unmittelbaren Darstellung von Mimik und Musik begleitet und die selbstständigen Werke von Mahlerey und Sculptur auf diesen Kreis bezogen und in architectonischen Räumen aufgestellt, die dem öffentlichen Leben angemessen sind, da erst ist die Kunst als Gesamtbewußtseyn. Auf diesem Punkt ist die Stellung der Kunst als Vollendung des menschlichen Geistes in seiner Thätigkeit vollkommen der Sache entsprechend, und das Erheben zur freyen Thätigkeit von allen diesen wesentlichen Punkten und vermannigfaltigt in den Darstellungsmitteln und wieder zusammengefasst, gibt den Maaßstab für die Entwicklung des Geistes. Wir fanden also, um Übersicht zu nehmen, daß Kunstthätigkeit die Richtung ist, die geistige Thätigkeit völlig frey von Innen heraus im Einzelnen darzustellen; indem aber hier nur von dem menschlichen Geist die Rede ist und das einzelne Leben in Wechselwirkung mit dem gesammten steht, so nahmen wir die eigentliche Abstuffung an, das minimum ist diejenige [Thätigkeit], die so nur Reaction ist auf die Impreßionen von Außen; dann die [Thätigkeit] des Bewußtseyns worin der dem Geist inwohnende Typus des Seyns sich vereinzelt, galt uns als freye Thätigkeit, Gestaltung und Vorstellung. Zuletzt stellten wir auf die nach Außen hin auch im gebundnen Zustand producirende Thätigkeit, die die Ethik ist und sich zur vorigen analog verhält. Von dort bis hier war Abstuffung, und von jedem Punkt aus konnten wir die Richtung nachweisen, daß die Thätigkeit sich von allen Schranken befreyen und rein von Innen heraus manifestiren will. Daraus folgt, daß das einzelne Leben zugleich Bewußtseyn der Gattung in sich

110

Ästhetik

58 | 59

trägt, und nichts andres ist als der Geist an sich in Verbindung mit den Bedingungen des einzelnen Lebens. Hier ist eine Verschiedenheit im Zusammenseyn der beyden Coefficienten, je nachdem in den Lebensmomenten hervortritt, daß der Geist Einzelnes geworden, oder das Einzelne Geist und sich in einer Gesamtheit manifestirt. Beydes so zusammengenommen liegt in der Natur der Sache. Was aber von anderm Wege aus dargestellt war, daß unser erster Gesichtspunkt, der das Auseinander der verschiednen Künste erklärend ist, dieses das Ineinander begründet. Das Auseinander hängt zusammen mit der Differenz der Einzelnen als Besondrer, denn denken wir bey Einzelnen die verschiednen Kunstrichtungen einander gleich, so würde das Auseinanderseyn in der Production zufällig seyn, weil sie wesentlich ineinander und Eins wären. In jenem Zweyten liegt die Vereinigung der Künste, sc. es gibt keine Wirksamkeit des Einzelnen für sich, sondern das Gattungsbewußtseyn ist immer darin, also | auch die Richtung auf Aufhebung des Seyns des Einzelnen in der Gesamtheit. Daher wollen die Künste in einer Organisation Eins werden. — Drittens sahen wir die Wirklichkeit der Kunst als äußerliche Erscheinung bedingt durch die im psychischen und leiblichen Organismus bedingte Art und Weise, wie überhaupt Innres äußerlich werden kann, so war Äußerlichwerden in der Bewegung, Gestaltung und Rede. Mimik und Musik; Sculptur und Mahlerey, und redende Kunst, die noch in Zweiheit aufzulösen ist. Das Gemeinsame in diesen Zweiheiten war nicht das Äußerliche, sondern da war das Trennende im Bilden als Selbstständigkeit oder als Zusammenseyn mit cosmischem Seyn. So ist der Cyclus geschloßen; und auch die zwey Zweige der Massengestaltung aufstellbar. Dann fanden wir auch, daß jede Kunst im Anfang wesentlich vereinzelt ist und sich auf das einzelne Leben bezieht und abstuffend hinauf bis zur Darstellung des Gesamtlebens und Zusammenfassen, jenes sind die mindern Gattungen, dieses die höhern, wo alle Künste zusammenwirken. Wollen wir nun auf der andern Seite die Hauptmomente welche die Kunstthätigkeit als solche constituiren zusammenstellen, so verlangen wir 1) Kunstthätigkeit ist überhaupt nur unter der

59

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

111

Bedingung, daß im einzelnen Leben diese Richtung auf vollkommen freye, ungebundne Thätigkeit nach Außen hin hervortreten kann; 2) Tritt dies ein, so kommen wir auf die eine Abstuffung, die vereinzelt [die] ganz andre Ansicht constituirt, sc. daß dieses heraustritt als bloße Receptivität, d. h. wo solche Thätigkeit anderswoher entsteht, aufzufassen in ihrer Freyheit, i. e. Kunstsinn, Geschmack. Wo die Richtung freye seyn kann, wird sie productiv. Dieses ist der gemeinsame Ursprung. Aber auf diese Weise wird keine wirkliche Kunst, sondern es ist der gemeinsame Keim zu Allem, der eine bestimmte Richtung erhalten muß, um etwas wirkliches zu werden. Dies knüpft sich an die organischen Functionen der geistigen und mehr äußren Organisation an zum Heraustreten. Das besondre Element der beyden Künste findet sich, wenn man beyde zusammennimmt, z. B. das gemeinsame Element der bildenden Kunst ist, wenn jene allgemeine Richtung auf freye Production sich bestimmt als Bild oder Gestaltung; da ist in der äußern Organisation Unterschied zwischen Darstellung im Soliden oder Fläche, in dem geistigen Darstellen eines Bildes als Repräsentation einer substanciellen Form, oder [als] Repräsentation des Zusammenseyns. Beydes gesellte sich zusammen, und erschien uns als Eines seiner Natur nach; in der Wirklichkeit aber trennen sie sich von selbst und es ist zufällig, ob der Mahler zugleich Bildhauer ist und umgekehrt. Weil es aber von Innen Eins ist, so fanden wir Übergänge vom einen zum andren, beym Mahler das Zurüktreten der Färbung; von [der] Sculptur aus die Gruppierung und das Relief. Nehmen wir Architectur und Gartenkunst in demselben Verhältnis, so muß dieselbe Analogie seyn. Ihr Verhalten wie Sculptur zur Mahlerey ist erklärt, nur noch, daß es Übergänge zwischen ihnen gibt. Das scheint sich nicht auf dieselbe Weise zu zeigen. Aber in was für verschiednen Formen auch die Gartenkunst sich zeigt, hat sie doch immer [danach] gestrebt, Architectur mit aufzunehmen und wir postuliren, daß sie architectonische Räume aufnehme. Umgekehrt postulieren wir zu einem architectonischen Werk einen umgebenden Raum, der durch jene gestaltet ist. Das sind freylich nicht Übergänge, sondern Vereinigung, also doch etwas andres; aber das

112

Ästhetik

59 | 60

Analoge hierzu finden wir in einer gewissen Vermischung der Principien, die freylich gewöhnlich etwas Mannigfaltiges in sich schließt. Das sagen wir in gewissem Sinn auch von der bloß umrissartigen Zeichnung, sie sey mangelhaftes, aber nicht fehlerhaft. Gartenkunst nun in der Form, daß sie es auf eine mathematische Gestaltung in der freyen Production anlegt, wie im Gebundnen, also mehr das Mathematische das Organ darstellt, so ist das so ein Übergang. So wenn Architectur die | mathematische Gestaltung so umhüllt durch andre Linien des Organischen, so ist es ebenfalls ein Übergang, aber eine fehlerhafte Vermischung. Aber gerade aus ihrem Verhältnis, wenn es nicht klar bewußt geworden ist, entstehen diese fehlerhaften Übergänge. Hier entsteht nun eine Frage, die beantwortet werden muß, obgleich sie von einem Terminus abhängt, der erst zu bestimmen ist. Das allgemeine Element ist eine bestimmte Thätigkeitsrichtung des Geistes, also indem wir es nur finden in seiner Wirksamkeit auf den psychischen und leiblichen Organismus, fassen wir es als eine bestimmte Art der Begeistung oder Begeisterung desselben. Dieser Ausdruck spielt eine große Rolle, ehe wir also uns trennen von der Kunst in ihrer Genesis im Organismus wollen wir dieses erklären. Diese Thätigkeit als Richtung auf freye Productivität unterscheiden wir von denselben Formen der Thätigkeit, inwiefern sie gebunden sind durch die gegebnen Verhältnisse des Menschen zur Außenwelt und [zum] menschlichen Gesamtleben. Denke ich mir das objective Bewußtseyn als ein im menschlichen Organismus entstehendes, so entschlugen wir uns dessen, es als Product der Außenwelt in uns anzusehen, vielmehr nahmen wir auch eine innre Geistesthätigkeit an. Indem so dem Menschen das entsteht, was man seine Erfahrungskenntnisse nennt, so werden diese auch nur durch eine Begeisterung, [er] ist aber gebunden, ergriffen von den afficirenden Gegenständen und befriedigt sich darin, diese in Bewußtseyn zu verwandeln. Darum ist sie aber nicht weniger Begeisterung als das andre; denn der Geist zeigt sich als Quantum, da zwey Verschiedne in demselben Verhältnis, der eine weit mehr in das Bewußtseyn aufnimmt als der andre, und dies, weil des einen Organismus weniger begeistet ist. Dieses

60

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

113

mehr oder minder hängt vom Zustand der Begeisterung ab. Dieser Ausdruck ist also nicht etwas, das dem Kunstgebieth eigenthümlich wäre, also gibt es keine Fragen für [das] Kunstgebieth; denn für das Dritte, das ethische Gebieth[,] verhält [es] sich auch so, der eine zeigt sich in einer gebundnen Zeit viel wirksamer als der andre in denselben Umständen; immer wie das eine negative Trägheit, so ist das andre positive Begeisterung, sc. für seine ethische Thätigkeit. Das hat dieselbe Wahrheit wie für die freye Productivität. Wollen wir diesen Wortstreit lassend, uns daran halten, daß dieser Terminus für das Kunstgebieth allein gebraucht ward, so sagen wir weiter: Diese allgemeine Begeisterung ist etwas ganz unbestimmtes, soll eine wirkliche Kunstthätigkeit entstehen, so muß sie sich für eine der besondern Arten bestimmen, wie freye Productivität äußerlich werden kann. Aufgabe ist: Worin besteht die bestimmte Begeisterung, die den einzelnen Künstler in verschiednen Zweigen macht? Da sind zwey verschiedne Aufgaben ja nicht zu verwechseln. Wir sahen im Allgemeinen wie es in jedem Kunstgebieth verschiedne Gattungen von Kunstwerken gibt, von geringrem und größrem geistigen Werth nach Maaßgabe der Richtung auf das organische Gesamtbewußtseyn. Hiervon müßen wir jetzt abstrahieren und nur auf die verschiednen Kunstgebiethe sehen. Macht das den Mimiker, daß sich seine freye Thätigkeit zeigt, durch Bewegung der Gestalt die Beweglichkeit des Geistes zur Anschauung zu bringen (unentschieden ob nur solche des einzelnen Lebens, oder die sich auf das Gesamtleben beziehen), so prädeterminirt ihn diese Richtung zum Mimiker. Das wirkliche Hervortreten war uns secundär, also ist hier noch abzusondern der verschiedne Grad, in welchem diesem seine Thätigkeit durch die Wahrheit in der Erscheinung verständlich wird i. e. Virtuosität, nach der wir jetzt auch nicht fragen; sie ist nicht so, daß die Stärke der innern Begeisterung für einen bestimmten Zweig das Maaß der Virtuosität werde. Davon abstrahiren wir auch und so werden wir die specielle Begeisterung für jeden Kunstzweig finden, aber immer nur auf das sehend, wodurch die innre Richtung auf freye Productivität auch wirklich äußerlich werden kann und auf alles, was hier bestimmte Differenz constituirt, wobey die Verwandt-

114

76

77

Ästhetik

60 | 61

schaftsgrade der Künste freylich Einfluss haben. Die Frage ist: | Ob sich das Gemeinsame so theilt, daß es eine absolut besondre Richtung ergibt, oder ob das Verhältnis so [ist], daß wo eine Kunst gesezt ist, alle andern irgend wie mit sind? Sie verläuft vom minimum zum maximum, dieses im Gebieth des Gesamtbewußtseyns. Da ist einerseits das gemeinsame Erkennen, auf der andren die gemeinsame Thätigkeit. Muß es in diesem Gebieth in jedem Menschen eine Richtung auf freye Productivität [geben], die sich realisirt, aber rein innerlich, ohne Heraustreten, also einer Vorstellung gleich, ob sie wahr sey oder nicht, so kann man das rein innerliche zwar nicht nachweisen, aber [darauf] schließen, z. B. Ein Centaur* hat gar keine Wahrheit. Ist diese Gestalt nun doch in die Kunst aufgenommen, so muß sie in der sie darstellenden Vorstellung seyn, und den sie aufnehmenden Anklang finden. Nun finden wir sie nicht bloß als Gestalt, sondern auch als Vorstellung, was daher kommt, daß diese sich jener überall anhaftet. Es ist nicht daß der Auffassende es innerlich selbst producirt, sondern nur daß sie ihm entspricht. – Im Gebieth der ethischen Thätigkeit ist dies sehr ausgebreitet, aber immer mit der gebundnen Thätigkeit verbunden, nehmlich, daß wir die ethische Aufgabe allzu gern idealisiren, da sie doch an das Vorhandene anknüpft. Dazu gehört freylich speculative Darstellung der ethischen Idee, aber dieses ist ein Alles umfassendes. Hingegen als Kunstthätigkeit sollte es in das Einzelne gehen, und das Idealisiren im Einzelnen ist das freye Spiel, wenn jeder seine Eigenthümlichkeit in das Einzelne darstellt und dieses kann wenigstens äußerlich werden. Daran knüpft sich eine beyläufige Untersuchung. Wo die ethische Thätigkeit nicht bloß so geübt werden soll, sondern als aus dem Gesamtbewußtseyn der ethischen Thätigkeit [die Menschen] zu leiten, wie verhält sich dieses zu den andren menschlichen Functionen? Die einen sagen, es müsse mit speculativer Thätigkeit verbunden seyn, d. h. Regiren und Philosophiren zusammen, und wirklich soll das Anknüpfen der Gesamtheit entsprechen, so muß man es an die ethische Gesamtaufgabe schließen. Andre sagen, nur keine Philosophen zum Regiren, sondern solche die an Alles sorgfältig anknüpfen.* Da sieht man wie da jene speculative Entwicklung

61 | 62

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

115

der ethischen Idee vermischt wird mit dem Idealisiren im Einzelnen. Was ist nun das Verhältnis dieser leitenden Thätigkeit zu dem was Fundament aller Kunstbegeisterung ist? Da ist nun dieses Idealisiren und denkt man es als freyes Spiel des Einzelnen, und er wolle dieses realisiren an einem Gebieth menschlicher Gesamtthätigkeit, so wäre das eine Willkür und Übergreifen des bloß Individuellen ins Gemeinsame. Jenes Idealisiren aber als innres Spiel hat freylich auch die Nationalität an sich, und also wenn ein Einzelner seine Natur nach Repräsentant eines bestimmten Gesamtbewußtseyns ist, so muß sein freyes idealisirendes Spiel nothwendig auch Darstellung des Gesamtbewußtseyns seyn können; und dann entsteht kein Widersezen der Andern, sondern bloß wenn das freye Spiel bloß vom Einzelleben ausgeht und nicht vom Impuls des Gesamtlebens im Einzelnen. In jenem Fall kann das Spiel unmittelbar zum Zwekbegriff der Handlung übergehen. So wird oft der Begriff Kunst scheinbar als übergreifend auf das sittlich thätige Leben selbst angesehen, ist aber das Gesamtbewußtseyn dabey, so ist diese Leitung eines Gesamtlebens ein Kunstwerk, wenn das Spiel äußerlich fixirt wird, wenn die Andern sich wie Material verhalten. Hingegen wenn diese Leitenden sich mit Kunstdarstellungen abgeben, die vom Einzelleben überwiegend ausgehen, so machen sie sich lächerlich und verächtlich, wie Nero*. Wir könnten diese Abschweifung auch auf das andre Gebieth fortführend sagen, wenn die freye innre Production von Gestaltungen statt jener Unwahrheit wie Centauren durchaus das Wahre träfe, ohne aber jenes gegeben gehabt zu haben, also etwas als Ahndung träfe im Gebieth der substanciellen Formen und des cosmischen Zusammenseyns, und tragen wir dieses auf das Gebieth der Vorstellung über, und die sittliche Gestaltung und Entwicklung des Gesamtlebens entstünde auch so, | so leitet das zur Ansicht die Welt sey [ein] Kunstwerk Gottes, weil diese das Wahre treffende menschliche Thätigkeit ein Abbild wäre von der Realität des Seyns wie sie aus dem Absoluten hervorging. Und doch können wir das an den allgemeinen Typus der innren Formen des Geistes anknüpfen, nur denkt man diese darauf höchste Stufe, die Typen des Seyns so stark habend, daß er sie wirklich hervorruft. —

78

116

Ästhetik

62

Was muß also zur allgemeinen Begeisterung hinzu kommen und selbst eine Begeisterung seynd, [um] jene zu einer bestimmten Thätigkeit zu realisiren? Einig sind wir schon, daß wenn wir meinen die geschichtlich gegebnen Künste, so müssen wir uns an die organischen Functionen halten, durch die sie heraustreten, aber so daß wir an Alles Technische nicht denken. Hier können wir auf alle Gebiethe keine andre Formel anwenden, als jene einfache. Fragt man unter welchen Bedingungen wird derjenige der Richtung auf freye Productivität hat, ein Musiker? Wenn sich diese Richtung auf das Tönen wirft, wenn es ihm innerlich tönt, und sich alles auf dieses Organ wirft; also wenn dieses Organ in ihm vorzüglich begeistet ist, so daß er selbst ein vorzügliches Organ dieser menschlichen Function ist. Wodurch wird denn der[, der eine] allgemeine Richtung hat, ein Bildhauer? Wenn sich ihm immer menschliche Gestalten erzeugen. In wie fern diese nun vollkommen oder unvollkommen, ethisch bedeutend sind oder nicht, das liegt in einem andern Gebieth, aber nur durch das Übergewicht dieser Form innrer Thätigkeit wird er Bildhauer. Was sagen wir vom Dichter? Da haben wir dieselbe Thätigkeit die dort Bild war, als Vorstellung gefaßt, dieses ist durch Sprache vermittelt und selbst ein innres Sprechen. Also der, dem diese Richtung auf freye Productivität ein bestimmtes innres Sprechen wird, der wird Dichter. Da scheint großer Widerspruch, alles innre Sprechen das sich auf das Geschäft bezieht ist ausgeschloßen, sondern es muß ein schöpferisches seyn; der Widerspruch ist der, daß wir beym Dichter gleich die gebundne Rede denken und in sofern ist es ein Widerspruch. Diese Erörterung wird noch kommen, jetzt ist uns [der] Dichter noch nicht in diesem Sinn, sondern nur allgemein [als] Redekünstler, dem [die] Rede ist, was dem bildenden Künstler die Gestaltung. Es ist freylich möglich, daß man sehr untergeordnet ein Dichter sey. — Nun noch ein schwieriges Gebieth, das der Architectur und Gartenkunst, jene hat äußre Verwandtschaft mit Sculptur diese mit Mahlerey und zwar Landschaftsmahlerey. Wenn dieses beydes dasselbige, so daß [sich] Mahler zum Gartenkünstler verhalte, wie Zeichner zum Bildhauer, so wäre unsre Darstellung falsch, denn wir bestimm-

62 | 63

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

117

ten diese Künste auf die Thätigkeit des Menschen in der Natur, hingegen die bildenden Künste auf das Auffassen der Natur. Also ist die freye Productivität in beyden Künsten eine andre, und ohne ein solches zu Grunde liegendes Bewußtseyn der menschlichen Thätigkeit auf die Natur wird einer nicht Künstler auf diesem Gebieth. Der Mahler, der sich ganz auf architectonische Arbeit verlegt, ist so wenig ein Architect, als der Landschaftsmahler ein Gartenkünstler; sondern Architect und Gartenkünstler müssen dieses innre Spiel haben als Richtung auf menschliche Thätigkeit in der Natur. Darin liegt, daß diese zwey Künste wesentlich zusammenhängen mit dem Gesamtbewußtseyn, welches bey den bildenden Künsten auf dieselbe Weise nicht der Fall ist. Der Architect ist nur einer, wenn er etwas für das Gesamtleben hervorbringt, [das] Privatgebäude ist kein Kunstwerk. Es kann Kunst daran seyn, aber das Ganze ist keines. Es gibt freylich Übergänge und darum ist dieses Gebieth als Kunst betrachtet streitig.* Wesentlich gehört es zum Künstler, daß er eine Menge von Kräften in Bewegung sezen will, an denen er nicht selbst Theil nimmt, also dieses Bewußtseyn von menschlicher Thätigkeit durch die das Werk werden kann, ist wesentlich in diesen zwey Künstlern, und bloß durch die Gestaltung würde einer ein bloßer Mahler solcher Werke. Zum Künstler selbst gehört also wesentlich die eigentliche Anschauung der menschlichen Kräfte die er bewegen | will, ist die in ihm nicht oder nicht wahr, so ist er kein Künstler. Die Gartenkunst hat es freylich mit einem Gesamtleben von geringrem Umfange zu thun, aber doch als freye Productivität. Ein Landhaus ist gebundne Thätigkeit, der Park nicht, jenes ist gerichtet auf das gebundne Zusammenleben, dieser gar nicht. Also nur die Arten zu produciren ist möglich, die unsre Kunstzweige bilden; dann ist eine Grenze zu ziehen, von wo an dann die Kunst an einem andren bloß ist. Das sahen wir an der gebundnen Architektur; aber es ist überall. Alle Rede, die einen bestimmten Zweck erreichen soll, also gebunden und doch von einem ausgehend, [in] dem freye Productivität überwiegt, wird überwiegend Kunst an sich haben, und es wird Wohlredenheit,

79

118

80

Ästhetik

63

und die sich daran hängende Kunstthätigkeit sondern wir ab. Wie es einen musikalischen Vortrag in der mündlichen Rede gibt, zusammenfallend mit der freyen Productivität auf dieser Seite hin, und die welche Richtung auf Mimik haben, doch in der leidenschaftlichen Bewegung selbst in der Grenze der Anmuth und Gracie bleiben, das ist wieder Kunst die an einem Andern ist. Dieses überall findend schließt sich uns das Gebieth der Kunst vollkommen ab. Die Kunstthätigkeit in Genesis darzustellen, ist noch nicht zu Ende. Ausgehend von allgemeiner Richtung auf freye Productivität haben wir es allgemein specialisirt. Betrachten wir es im lezten innerlichen Moment, unmittelbar wo dann das Äußre anfängt, so ist dieses die Vorbildung. Sehen wir dieses als Resultat der freyen Productivität an, so scheint darin die Forderung zu liegen, daß dieses innerliche Kunstwerk, sey es Reihenfolge mimischer Bewegungen oder musikalischer, oder Gestalt der Vorstellung bildend, müßte ein Neues seyn, wenn auch nur für den Künstler. Denn wäre dasselbe ihm schon bekannt gewesen, so wäre es mehr Resultat seines Auffassens als seiner freyen Thätigkeit. Diese Vorbildung und Richtung darauf ist Erfindung. Zeigt sich das in der Wirklichkeit der Kunst auch so als ein natürlich sich ergebendes Resultat, daß jedes Kunstwerk als eine Erfindung erscheinen müsse. Wir müßten alles umwerfen, wenn wir es leugnen wollen, und doch scheint die Geschichte der Kunst dem zu widersprechen. In der Mahlerey wie oft wiederholen sich nicht bey den größten Meistern dieselben Gestaltungen, z. B. die Menge von heiligen Familien, an denen also nichts mehr zu erfinden ist, und thut er es zu viel, so tadelt man ihn. In dramatischer Dichtkunst bey den Alten wie oft wurden dieselben Gegenstände wiederholt, ja die ganze Kunst versierte in gewissen mythologischen und geschichtlichen Kreisen. Dennoch hat man nie das Spätre für [einen] geringren Grad von Kunstwerk erklärt, wie die erste Bearbeitung. So in der Sculptur wo die porträtierte Natur εἰκών als untergeordnet galt, und die höhren Kunstwerke die ἀγάλματα der Götter waren*, also die ganze Kunst in diesem Cyclus, dessen Gegenstand aus der Poesie her war. Da gab es auch fixe Bestim-

63 | 64

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

119

mungen, von denen der Künstler sich nicht entfernen durfte, um Neues zu erfinden. Vergleichen wir die neure dramatische Poesie, das sogenannte bürgerliche Schauspiel, wo man nicht so in einen Cyclus eingeschlossen ist, sondern immer eine neue Erfindung postulirt, so wird ein richtiges Urtheil doch dahin ausfallen, dieses als eine sehr untergeordnete Gattung anzusehen, und vom höhren Drama verlangt man, daß es im geschichtlichen Gebieth versiere, also den Gegenstand nicht erfinde. Bey den Alten erst später zu finden ist z. B. der Roman.* Da sieht man zwar überall die Erfindungsgabe, aber es hat eigentlich den Untergang der Gattung bewirkt; da jeder erfinden wollte, ging die Gattung unter in einer Fluth von Seichtigkeit. So scheint also, als ob die Erfindung etwas Falsches sey. Der Schlüssel zur Verständigung liegt zum Theil in etwas schon Aufgezeigtem. Es zeigt sich aus der lezten Darstellung, daß es nur geringre Gattungen seyn können, Romane und bürgerliches Schauspiel, denn sie gehen nur aus vom einzelnen Leben, sind freye Productivität des Einzelnen in Beziehung auf das Einzelleben. Jenes höhre Princip, die Repräsentation des Gesamtbewußtseyns ist darin nicht zu finden. Sehen wir in der Mahlerey auf das Gebieth, worin die heilige Familie i. e. [die] Urgeschichte des Christenthums beständig behandelt war, so sieht man daß das Princip das religiöse Gesamtbewußtseyn ist, und die Kunstwerke sich beziehen auf das in dieser Hinsicht Allen Identische und gehen also von einem Gemeingut aus. | Darum aber sind sie eine höhre Gattung. Aber nothwendig muß sich die Erfindung nun in etwas Andrem zeigen als in den unveränderlichen Typen. Man kann aber sagen, nur solange die Darstellung in der heiligen Schrift versiert, so gilt dieses. Etwas weiter geht das Gebieth der Legende an und auch da ist Erfindung untergeordnet, und nur eine Auswahl aus einem gegebnen Gesamtbewußtseyn aber dieses hat jezt nicht mehr dieselbe Allgemeingültigkeit, und für einen Protestanten ist etwas aus diesem Gebieth ganz anders als aus jenem. Die Darstellung aus der Legende ist uns keineswegs werthvoller, weil die Erfindung freyres Spiel hat; sondern es kommt weniger aus dem Gesamtbewußtseyn und ist daher untergeordnet. Die alte dramatische Poesie war ganz und gar national

81

120

82

Ästhetik

64

und konnte sich nicht aus diesem Kreise entfernen. Freylich in der Comödie war Erfindung frey, aber diese ist schon ganz etwas andres; in der Comödie konnte sich gar nicht ein solcher Cyclus bilden, sondern die mußte immer frisch aus dem Leben den Stoff nehmen. So ist Gegensaz im dramatischen Gebieth: hier ist Erfindung als man postulirt, dort in sehr bestimmte enge Grenzen eingeschlossen. Worauf das beruhe, ist [eine] schwierige Frage und scheint nicht lösbar auf eine für alle Künste identische Art, sondern dieser Gegensaz stellt sich nicht in allen Künsten [auf] dieselbe [Weise], daher kann das Genauere nur in Betrachtung der einzelnen Künste hineingehen. Etwas Andres aber gehört noch hierher. Gibt es große Kunstgebiethe, wo Erfindung eigentlich gleich Null, so muß man dieses doch beschränken. Die Erfindung hat dann nur eine gemeinsame Basis, aber in diesen Grenzen freyen Spielraum. Bearbeiteten zwey Dichter dieselbe Fabel für die Tragödie, so wären es doch zwey differente Werke, und das soll man schon aus wenigen Buchstaben erkennen, obgleich nicht nur Identität des Gegenstands, sondern auch der Form als Wechsel zwischen Dialog und Chor und was daran sich schließt. Die Differenz ist aber abgesehn von allem Sprachlichen, und ist auf Erfindung beruhend. Die Handlung und Personen sind gegeben, aber wie es darauf ankommt, durch Behandlung die Personen in wirklich lebendige zu verwandeln, daß sie einen bestimmten eigenthümlichen Eindruck machen, so ist das Differenz aus dem Identischen. Electra und Antigone sind von Anfang [an] different, aber bey jedem Dichter wird jede anders lebendig.* Es gibt also gewisse Kunstgebiethe und zwar gerade die der höhern Gattung, in denen eine Gebundenheit statt findet an das, was im Gesamtbewußtseyn auf solche Weise gegeben ist, daß es für Alle schon dasselbige ist. Darin liegt [die] Sicherheit des allgemeinen Eindrucks und allgemeine Gültigkeit. Dennoch ist die Erfindung hier nicht Null, sondern findet sich überall, und derselbe Gegenstand ist jedem Künstler ein andrer. Ja sogar wenn sich Gegenstände so wiederholen wie die heilige Familie in der Mahlerey, so soll die eine Maria darstellende Mahlerey nicht dieselbe seyn, wie die andre. Man kann 1000 Figuren aufstellen, die nicht können diese

64 | 65

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

121

Maria seyn, aber für den allgemeinen Charakter derselben sind unzählige Vorstellungen möglich. Dieses specielle Element, das die bestimmte Kunstthätigkeit hervorruft, das muß Erfindung seyn. — Einen Schritt weiter gehend fragen wir: Worin ist der Grund, daß bey Identität des gegebnen Gegenstandes, doch die Production im Einen eine andre wird als im Andren? Dies führt darauf, daß wir von Anfang [an] den richtigen Punkt trafen, da wir sagten, die Kunstthätigkeit geht aus von der eigenthümlichen Besonderheit des einzelnen Lebens und ist eine Darstellung derselben. Bleiben wir bey der christlichen religiösen Mahlerey. Wollte da einer die gutmüthige Behauptung aufstellen, daß wenn ein Mahler eine Menge heiliger Familien darstelle, er von diesem Gegenstand durchdrungen gewesen sey und in diesem Sinn und Verkehr fromm war, so wird die Geschichte davon nicht viel zu sagen wissen, und Beyspiele des Gegentheils angeben. Auf keine Weise geht diese Kunstthätigkeit aus der Frömmigkeit des Mahlers hervor, hingegen allemahl aus der Frömmigkeit des Zeit-| alters, und dieses Gesamtbewußtseyn seiner freyen Thätigkeit diese Richtung gegeben hat auf sympathetische Weise, ohne daß seine Freiheit darunter leidet. Was nun im Kunstwerk Erfindung ist, das muß der Ausdruck seiner Eigenthümlichkeit seyn. Wollte man dagegen Zweifel erheben und sagen: nehme ich eine Anzahl Madonnen von Raphael und eine Menge von Ruben, so ist da [ein] Unterschied*; aber will man nicht sagen, daß dieser Unterschied auf ihrer persönlichen Differenz beruhe, sondern das sey der Unterschied der Zeit und Localität, so ist das wahr, aber keine Einwendung, denn die individuelle Besonderheit des Einzelnen ist ebenfalls durch Zeit und Localität bedingt, und wäre nicht so geworden in andrer Zeit und Localität. Aber außer diesen wird man doch noch die Grenzen der individuellen Persönlichkeiten finden, denn aus jenen zwey Anzahlen von Madonnen finde ich nicht nur einen Unterschied so fern beyde, jede für sich, einander ähnlich sind, sondern auch [eine] gemeinsame Differenz zwischen beyden Complexen. Nehmen wir einmahl jenes an, daß es Kunstgebiethe gibt, wo ihrer Natur nach die Erfindung an gewisse Cyclen gewiesen ist, und andre, wo sie vollkommen

83

122

Ästhetik

65

frey ist, so hat die Erfindung auch in jener ihr bestimmtes Gebieth, ja sie muß nur um so reicher seyn, aber gewissermaßen microscopisch. Die heilige Familie ist durch Geschlechts- und Altersdifferenz für die Zusammenstellung schon bestimmt, und doch soll Erfindung seyn in jedem Werke. Das würde bey den fixen Charakteren nicht möglich seyn, wenn nicht die specielle Begeisterung des Mahlers gerade nicht bloß auf die Gestaltung, sondern auf die Zusammenstellung und Beleuchtung gehe, und da ist unendliches Gebieth für Erfindung im festesten Cyclus. Das Specielle der Richtung des Künstlers auf einem speciellen Gebieth muß sich als Erfindung zeigen. Es gibt gewisse Methoden, gemeinsamer Typus oder Cyclus von Figuren oder Vorstellungen, von denen die Erfindung nur Modification. Die Entstehung derselben ist schwer zu finden, es ist keine Antwort, daß es in vorhistorische Zeit falle, denn das paßt ja von der christlichen Mahlerey nicht; sondern es ist so, daß dieses Gemeinsame zwar früher vorhanden ist für die Kunstthätigkeit des Einzelnen, aber daß sie früher nur in der Gestalt des Kunstlosen da waren, weil sie ihren Grund nicht im Bewußtseyn des Einzelnen haben, sondern [in] der Masse, die den Typus auf kunstlose Weise producirt hat. Dieses alles zugegeben entsteht eine neue Einwendung. Nehmlich, wenn wir sagen, diese Richtung auf freye Productivität, wenn sie in ihren Productionen das ist, daß die innre Gestaltung erfolgt, abgesehn von allen Bedingungen, die ihre reale Erzeugung in der Natur modificirt, so wird dabey sich zeigen, daß alle Kunstproductionen müssen das Ideal anstreben, i. e. die einzelne Production die ein vollständiger Representant ist vom innen einwohnenden Typus, ohne durch etwas gehemmt zu seyn. Dies der Sinn vom Ausdruck, das Kunstwerk stelle im Einzelnen das Allgemeine dar. Die Sache ist die. Uns wohnen die verschiednen Formen des Seyns ein, wie sie auch in der Natur erscheinen, in dieser sind sie selbstständige Kräfte, in uns selbstständige Formen, in jener sind sie immer durch andre ebenfalls wirksame Kräfte gehemmt und modificirt; aber so wie dieselbe Idee in der menschlichen Auffassung das Gegebne ergreift, so

65 | 66

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

123

hemmt ihn* nichts, da er aus dem Organismus rein heraus bestimmt.* Die Vollkommenheit ist also in Allen, und sollte die Erfindung sehr unvollkommen seyn, so muß doch ihr Charakter seyn, diese reine Idee anzustreben. Nun gibt es eine ganze Seite der Kunst, die gerade das Antiideale anzustreben scheint, das heißen wir im Allgemeinen das Komische, das finden wir in Mimik, Musik, Mahlerey, Poesie; in der lezten erkennen wir es am besten. Immer hat es große Schwierigkeit gemacht für jede allgemeine Theorie, die man aufstellte; daher Manche diese Seite von der Kunst ausschließen wollten, weil sie sich unter das Princip nicht bringen läßt. Entweder, wenn sie in unsrer Formel nicht aufgeht, müssen wir sagen, eben als nicht in Richtung auf das Ideale ist sie keine Kunst; oder unsre Formel ist nur partiell. Aber dann | ist die Einheit des Begriffs Kunst aufgehoben. Was ist denn der Sinn dieses ganzen Gebieths im Verhältnis zum andren. Erstens ist doch zuzugeben: Die ganze Form und Verschiedenheit der Entstehungsart ist doch ganz dieselbe, so die technische Fertigkeit; so sind dieselben Geseze für die comische Versification, Beleuchtung wie für die ideale, wenigstens sind es nur Modificationen von dieser Idealität[,] ist also nicht zu leugnen. Wie ist dann jene Differenz zu erklären? Ist diese Thätigkeit von der andern etwa ganz zu sondern? Wollten wir das zugeben, so entsteht immer die Aufgabe, dieses Außerhalbseyn genauer zu bestimmen, also das Verhältnis zur andern Seite. Da kommen wir auf einen Punkt, der schon da gewesen, aber hier besonders herauszuheben ist, sc. das Verhältnis zwischen dem Resultat der freyen Production als Kunstwerk und zwischen dem, was [als] Resultat derselben gebundnen Kraft erscheint. Wir sagten so: Die selbe Kraft ist, wenn es auf Realität ankommt, in Wechselwirkung mit andern, und die freye Thätigkeit als Kunstthätigkeit muß sich eben deswegen vom reellen Leben entfernt halten, wie wir das im Idealisiren der sittlichen Verhältnisse entfernten aus dem sittlichen Leben selbst; jenes ist freye Erzeugung derselben von Innen heraus. Diese Differenz ließen wir gelten. Betrachten wir nun den Gehalt des Comischen näher, so versirt er wesentlich im Gebieth der menschlichen Dinge; im Gebieth der Naturformen

84 85

124

Ästhetik

66

verschwindet es gleichsam zu einem minimum; und so schwach hervortretend, daß man es kaum erkennt. Wir bleiben also bey ihrem wesentlichen Gebieth, nehmen Poesie als Schema, ohne zu vergessen, daß es in allen Kunstzweigen in dem Maaße auch ist, als sie sich auf menschliche Verhältnisse erstrecken. Es verhält sich so, diejenigen Kräfte, aus denen das Wirkliche entsteht, sind dieselben, aus denen die freyen Productionen in der Kunst erscheinen. Worin hat die Differenz zwischen beyden Resultaten ihren Grund? In etwas, was außerhalb der menschlichen Natur läge nicht, also nicht in fremden mitwirkenden Kräften, die etwa die selbstständige Äußerung derselben störten. Betrachten wir die Abweichungen im Naturreich, so ist es ganz was andres. Pflanzen sind so oft verkrüpelt und Töne so oft nicht ideal entwickelt, weil da Kräfte von andrer Art die organische Kraft hemmen, was also in atmosphärischen Hemmungen liegt usw. Diese Unvollkommenheit in der Wirklichkeit habe also ihren Grund in der Mitwirkung von Kräften, die in relativem Gegensaz stehen zu derjenigen, die sich äußern soll; die atmosphärischen Kräfte in relativem Gegensaz zu den organischen, und diese zu den vegetabilischen, also Mitwirkung eines Entgegengesezten. Woher kommt dieses aber in das menschliche Gebieth, es ist ja da eigentlich gar nicht nachzuweisen. Fragt man: Warum sind die Handlungen der Einzelnen so wenig als Wirkung des Gemeinbewußtseyns wenn sie sich doch auf das gemeinsame Leben beziehen, so kommen wir doch nur auf Kräfte, die im einzelnen Menschen selbst sind. Gehen aber doch alle Differenzen auf einen Gegensaz zurück, und repräsentirt eine Äußerung die selbstständige Kraft nicht, so muß das minimum seinen Grund haben in einem Entgegengesezten zur selbstständigen Kraft. Dieses auf die Wirklichkeit des Lebens angewandt, so ist es Richtung des Mißverhältnisses zwischen dem Wirklichen und den innern Postulaten aufzufassen, aber in dieser gebundnen Thätigkeit finden wir uns auch ebenso gehemmt, daß wir in Beziehung auf das Wirkliche zu einer klaren Anschauung selten gelangen. Diese Unangemessenheit der Wirklichkeit an die innern Formen des geistigen Lebens erscheinen uns aber nicht als Ausnahmen, son-

66 | 67

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

125

dern überall, und also sollten wir sie auch unter einer Regel auf allgemeine Weise anschauen und hier finden wir das Wesen des Komischen seinem Orte nach. Es bezieht sich überall auf den Gegensaz zwischen dem wirklichen Leben und allem was wir als seine geistige Wurzel betrachten; die komische Darstellung verhält sich zum wirklichen Leben so wie überall die freye zur gebundnen Thätigkeit [und] bringt diesen Gegensaz an sich zur Anschauung, so daß wenn der Gegensaz im wirklichen Leben uns so klar wäre | wie in der Komödie, so wäre seine Irrationalität aufgehoben. Dazu gehört, daß wir diese gebundne Thätigkeit als eine nothwendige betrachten, denn dann nur kann es eine freye dazu geben. Das verstehen wir ja aber, daß wir beständig in dieser Vergleichung der wirklichen Erscheinungen in allem was zum gemeinsamen Leben gehört, mit den Forderungen die sich da eigentlich realisiren sollen, begriffen sind: sie constituirt unser Bewußtseyn des Historischen; das Erscheinende müssen wir in seiner Differenz vom ursprünglichen Typus auffassen. Im geschichtlichen Gebieth, welches des Komischen eigentliche Heimath ist, ist dieses eigentlich die Function des Gewissens, das überall diese Differenz zwischen dem Erscheinenden und innrem Typus aufsucht. Den Grund der Differenz können wir nur anschaulich machen unter [der] Form des Gegensazes. Wie eine Handlung keine reine Repräsentation des Gemeingeistes ist, so suchen wir den Grund der Differenz entweder in [der] Übereilung des Urtheils (logischer Gegensaz) oder in der Selbstsucht, die der Action des Gemeingeistes entgegen wirkt. Je mehr dieser als Motiv klar wird, desto befriedigter wird das Bewußtseyn. Indem aber diese vergleichende Thätigkeit eine wesentliche Function ist im geistigen Leben selbst, weil wir ohne sie nie unsre eigne Thätigkeit [verbunden] mit dem was geschieht finden können, so muß es dazu eine freye Thätigkeit geben, die ihr Wesen, das sich immer verbergen will, klar zu machen [sucht]. Das Wesen des Komischen ist, den Gegensaz zwischen dem Wirklichen und dem was eigentlich representirt werden soll, im Innern des menschlichen Lebens selbst zur Anschauung zu bringen. So erscheint es als eine ethische Function, aber in die freye Productivität umgesezt,

126

86

Ästhetik

67

und diese freye läßt sich nicht denken, ohne daß das, wovon die Abweichung im Wirklichen bemerklich gemacht werden soll, in dem so Thätigen in einer gewissen Klarheit ist. Wenn wir daher die komische Kunst ihrem Wesen nach betrachten, so erscheint sie, was ihre Dignität anbelangt, der idealen Kunst vollkommen gleich, und koordiniert, nur daß sie ganz in der Beziehung auf das Wirkliche versiert. Dagegen scheint freylich zu streiten, was Platon gesagt hat. Bey den Griechen war strenge Gränze zwischen Tragödie und Komödie, und keiner übte beydes. Platon aber stellt auf, es sey dasselbige, das eine müsse auch das andre seyn können, weil beyde Künste wesentlich dasselbe [sind].* Stößt nun die eine das Wirkliche zurück, da sie die Thätigkeit vollkommen frey machen will, und hat hingegen die andre ihre Richtung immer auf das Wirkliche, d. h. auf den Ort der Entgegen wirkt, so scheint [sich] das zu widersprechen. Aber es fragt sich, auf welchem Punkt der Gegensaz eigentlich angehe. Das Comische ist in verschiednen Kunstzweigen verschieden ausgebildet, am meisten in der Poesie zum dramatischen und epischen Gedicht; in [der] Mahlerey überwiegend [die] untre Form der Carricatur, doch auch in weitrem Sinn, da es auch comische Fictionen gibt, sowohl von ganzen Gestalten, wo die Forderung des Geistigen ein Haupttypus ist und die Wirkung eines Ungeistigen im Charakteristischen. Auf diesem Gebieth sind es immer untergeordnete Gattungen. Das Gesamtgebieth der Architectur läßt gar keinen Raum ist also Endpunkt; daß es auf der andern Seite ist, in Mimik und Musik, zeigt sich schon aus ihrer Beziehung auf dramatische Poesie. Die Architectur ist zu ernst und nahe verwandt dem geschäftlichen Leben, als daß das Comische da seyn könnte, weil ganze und bleibende Kunstwerke da seyn müßten auf einem Gebieth, das durchaus dem Gemeinbewußtseyn angehört, das man ja nicht in unterdrükten Zuständen darstellen kann. Da verliert sich ein solcher Gegensaz, denn er würde die Kunst selbst zerstören. Um die Aufgabe der Erfindung vollständig zu lösen, ist weiter zu gehen, der Übergang zur Erfindung als Kunstthätigkeit ist nun anschaulich, wie steht es nun um den Übergang von der Erfindung zur wirklichen Ausführung? Da stehen wir an unsrer

67 | 68

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

127

Grenze, da wir das äußre Hinstellen der Kunstwerke als secundär zur Seite lassen, weil dabey überall organisirende Thätigkeiten sind, die einen mehr mechanischen Charakter haben, | freylich mechanisch hier in weiterm Sinn, z. B. Behandlung der Sprache zum Vers. Doch wollen wir die Frage so beantworten, daß wir die aufgestellte Grenze halten. Das Verhältnis dessen, was Vollendung des innern Kunstwerks ist zur äußern Darstellung muß vorher näher bestimmt werden. Freylich ist das einfachste so darzustellen, daß die Erfindung, gleichsam auf Einem Schlag die Vollendung des innern Kunstwerks ist, z. B. Hat ein Mahler sein Bild erfunden, so denken wir er habe es ganz so, wie er es einst in der Darstellung für vollendet erklärt. Offenbar kann das aber nicht Act eines einzelnen Moments seyn, so wenig als [die] Erfindung eines größern Werks beym Poeten. Wir können es also der Wahrheit gemäß nur vorstellen als ein allmählig werdendes. Wodurch unterscheidet sich eine solche innre Gestaltung die dann Kunstwerk wird, von den vorübergehenden innern Bildern? Eben dadurch, daß sie sich von diesem Punkt an ankündigt, als einer solchen Vollendung fähig i. e. das Bewußtseyn von Sicherheit bey einer solchen Conception. Dies ist ein Zeichen davon, daß sie das bestimmte Resultat seiner gesamten Lebenskraft ist, das nur noch in der Zeit seine Vollendung finden soll, was auch eine innre Operation ist, aber nur vorstellbar, wenn wir auf die äußre mit Bezug nehmen. Gehen wir auf das Wesen der Mahlerey zurück, so hat doch der Mahler nicht ein Bild in sich empfangen, wenn es bloß die Umrisse sind, sondern es muß zugleich der Charakter der Färbung und Beleuchtung seyn, die ja mit jenen in bestimmter Harmonie steht. So lange er nur jenes hat, aber dieses nicht, ist seine Conception nicht vollendet; so wenig als wenn er umgekehrt zuerst einen gewissen Licht- und Farbenton hätte, und hernach erst die Gestaltungen suchte, an denen jene am besten hervortreten würden. Das liegt darin, wenn man sagt, diese Landschaft ist ein schöner Abend, oder Morgen. Da ist diese periodische Färbung das, was zuerst gewollt ward. So ist das eine ohne das andre noch nicht einmahl die erste Conception. Ganz ähnlich in der Poesie, nur daß da die umgekehrte Ordnung

128

Ästhetik

68 | 69

nicht so leicht denkbar; d. h. denken wir, ein Dichter habe eine Fabel erfunden, oder auf eigenthümliche Weise gesehen, so ist das keine Conception, wenn er nicht das metrische Verhältnis mit bestimmt hat. Nicht so leicht denkbar ist, daß er zuerst das Metrum sehe und dann den Gegenstand dazu. Aber jene Behauptung ist darum nicht geschwächt. In seiner Vollendung gedacht ist die Conception des Mahlers erst vollkommen, wenn das innre Bild so vollständig ist und bestimmt, daß nun auch das äußre von selbst jenem entsprechend hervorgeht, ohne daß er zu ändern braucht (organische Versehen ausgenommen). Das wird aber schwerlich je der Fall seyn oder ein Künstler zu behaupten wagen; sondern indem er in der Ausführung Manches ändert, schließt man rückwärts, daß sein innres Bild doch nicht die Vollständigkeit gehabt hat; was auf dem Verhältnis des innern Sehens zum äußern beruht. Die Bildungen des Traums und träumenden Wachens laboriren an einem bestimmten Schwanken und Wechsel, und daran streift oft das künstlerische Sehen. Daher kommt das äußre Sehen dem innern immer zu Hülfe, aber jeder Punkt ist doch in diesem früher als in jenem. So ist ein fortschreitendes Werden der Erfindung, und sie scheint unter der Bedingung der äußern Ausführung zu stehen. Das ist wahr, evoziert aber die Stellung der äußern Ausführung nicht. Überließe der Künstler die Ausführung ganz einem Andern, so wird dasselbe Verhältnis seyn. Fängt jener an nach seiner Beschreibung zu machen, so wird dadurch das innre Bild des Künstlers immer mehr zur Vollendung kommen, natürlich in dem Grad mehr, als der Arbeitende wirklich nur sein Werkzeug, sein Pinsel ist. Es wäre wohl schwer möglich, daß die Wahrheit des Verhältnisses zwischen innrer Thätigkeit des Sinnes und seiner Receptivität für Äußres nicht so sich verhielte, daß nur durch Hülfe dieses, das Bild jener vollkommen wird. Offenbar ist derselbe Fall in der Poesie. Denken wir das Verhältnis zwischen der metrischen Bearbeitung der Sprache | und dem Inhalt des Gedichtes so in Harmonie, so kann dieser als Vorstellung nicht völlig gegeben seyn, ehe die Sprachbehandlung für das Ohr mit gegeben ist, und diese erhält erst durch äußre Darstellung Vollendung. Also gibt es eine Rückwirkung von der äußern Darstellung

69

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

129

auf die Erfindung selbst, doch nicht das innre Vorbild alterirend, sondern nur näher bestimmend; sonst ist die erste Ankündigung [in] gewissem Maaße falsch geworden und die Sicherheit auch. Daß aber das innre Bild sich erst vollendet durch Mitwirkung der Ausführung wird in allen Künsten dasselbe seyn. Je mehr dieses geschehen kann, ohne daß das Kunstwerk selbst darunter leidet, desto leichter erreicht es die Vollkommenheit, z. B. Der Dichter hat es leicht, auszustreichen und zu ändern. Beym Mahler kommt es schon sehr auf das Material an, ob er Correctionen machen kann ohne Nachtheil des Bildes. Da gehört Beobachtung einer Menge technischer Cautelen dazu. Der Bildhauer realisirt sein Urbild zunächst an einem leicht beweglichen und veränderlichen Material, wenn er sein Modell in Thon macht. Dieses soll aber so vollkommen werden, daß der Marmor nur der Abdruck von diesem zu seyn braucht. Da ist große Leichtigkeit. Denke ich den Mimiker in einem Kunstwerk wo er mit mehrern zusammen wirkt, so ist die Aufgabe, daß er seine Darstellung für sich allein erfinden soll, nicht aufzulösen. Bis auf einen gewissen Grad kann er es, ist aber dann genöthigt, manches anders zu machen, als er gewollt hat, weil die Bewegungen der Andern es postuliren. Vollendung ist daher nur möglich durch eine mannigfaltige, sich wiederholende Ausführung, die noch nicht fest steht. Auf der einen Seite bleibt unsre Gränze; die eigentliche Kunstthätigkeit in der sich allein die Wahrheit unsrer Untersuchung bewähren muß, ist die rein innerliche, aber in ihrer Ausführung doch bedingt durch das äußre Hervortreten, freylich desto weniger, je vollkommner der Künstler ist. Zu dieser Vollkommenheit gelangt aber die innre Thätigkeit nur durch große Übung in der äußren Auffassung; nur dieses macht dem Künstler möglich, sein innres Bild äußerlich zu sehen; dann ist [es] möglich, daß die äußre Ausführung erst anfängt, nachdem die innre Erfindung bis in das Kleinste vollendet ist. Betrachten wir diese verschiednen Momente der Kunstthätigkeit zu einander, so sehen wir darin zugleich alle Abweichungen in [der] Erscheinung der Kunst und die Geschichte derselben insofern sie immer zugleich etwas Negatives in sich schließt. Ge-

130

Ästhetik

69 | 70

hen wir darauf zurück, daß die Kunst als Mittheilung geltend, auf gesellschaftlichem Leben ruht, also ein nationales ist. Unter den verschiednen Völkern ist diese Richtung in verschiednem Grad; das eine Volk im Ganzen kunstnäher als ein andres, und die einzelnen Künste in verschiednen Verhältnissen. Nun werden auch diese verschiednen Momente nicht im Umfang einer solchen Nation und Zeitalter auf eine gleiche Weise vertheilt seyn, sondern danach werden sich verschiedne Perioden in der Nationalexistenz unterscheiden lassen. Beym ersten Anfang, i. e. Richtung auf freye Productivität, so ist die durchaus nicht bey allen Völkern dieselbe. Je mehr in einem Gesamtleben das Individuum entwickelt ist, desto größer ist sie, weil dann der Einzelne selbst gleichsam ein Product von dieser ist; denn der menschliche Geist in seiner Seelen erzeugenden Thätigkeit ist freyer, wenn der größte Spielraum möglich ist. Unter solchen Massen kann diese Function nur ungleich vertheilt seyn, und das eigentlich Schöpferische nur bey Wenigen, bei Vielen nicht einmahl Empfänglichkeit. Dieselbe gedeiht aber nicht, wenn nicht die mechanischen Fertigkeiten vorhanden sind. Je mehr die zur Darstellung gehörigen Thätigkeiten mechanisch sind, desto leichter werden sie in gehörigem Maaße vorhanden seyn; das ist nun in der Architectur, daher diese eine der ersten Künste ist, an die sich dann Sculptur anreiht, doch vorzüglich in colossalen Verhältnissen, wo es fast nur mechanische Thätigkeit braucht. Diese colossalen Bilder in Egypten und Indien mit colossaler Architectur sind von der Art, daß mechanische Thätigkeiten sie darstellen. | Die lezte Hand des Meisters ist unnöthig, weil man sie aus solcher Entfernung ansehen muß, daß kleine Unebenheiten verschwinden. So haben wir freye Productivität zusammen mit [dem] Complex von mechanischer Thätigkeit. Je mehr jene mathematisch ist, wo [ein] minimum von eigenthümlicher Bildung, desto niedriger steht noch die Entwicklung. Jene Riesenarbeiten erforderten eine solche Masse von Menschen, daß in diesen nicht irgend etwas vom Princip der Kunst auch nicht die Empfänglichkeit da seyn mußte, und solche Werke fallen immer in eine Zeit, wo die Massen als lebendige Werkzeuge behandelt wurden. Ja dieses stellt einen Punkt dar, wo das Princip der Kunst

70

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

131

sich vom ethischen des Gesamtlebens in der gebundnen Thätigkeit noch nicht vollständig getrennt hat. Wir unterscheiden zwar mehr politische und mehr religiöse Beziehungen in solchen Werken, aber auch dieses war nicht recht geschieden, daher das Princip sich nur thätig zeigen konnte in Gebiethen, die rein vom Gesamtbewußtseyn ausgehen; denn auch die colossalen Bildnisse waren Erwekungen für das religiöse Gemeinbewußtseyn wie es sich eben im Volk gestaltet hatte. Denken wir das Princip in weitrer Entwicklung und größrer Vertheilung, so ist besonders Rücksicht zu nehmen auf die verschiednen Verhältnisse, die so entstehen. Kommt Kunstthätigkeit in allen wesentlichen Formen wirklich zum Erwachen in Einigen, aber ist die Empfänglichkeit auch erst noch in Einigen, aber vielseitiger ausgebildet, so hat die Kunst nur Existenz für die höhren Kreise der Gesellschaft. Das gibt ein Merkzeichen in Beziehung auf den Gesamtzustand, insofern die Empfänglichkeit für freye Productivität zusammenhängt mit Interesse an den geistigen Functionen an sich. Daher ist jenes ein sichres Zeichen, daß die Masse überhaupt noch nicht zu rechtem Interesse zu den geistigen Functionen an und für sich erwacht ist. Entsteht die Empfänglichkeit in der Masse, aber nur einseitig, so stellt der Zustand ein Übergewicht einer einzelnen Function dar. Im Anfang [des] 16. Jahrhunderts war Empfänglichkeit für Kunst in unsrem Volke im Allgemeinen nicht groß, und selbst die nationale Poesie lebte nicht in der Masse; nun entstand die Reformation. Es war eine Reaction des Nationalbewußtseyns in seinem eigenthümlichen Charakter gegen die Unterdrükung und Mißleitung des religiösen Princips und mit diesem erwachte nun [der] Sinn für den religiösen Gebrauch der Poesie und Musik, so daß gerade dieses zur Ausbreitung der Reformation wesentlich beytrug.* Das war [eine] einseitige Kunstrichtung, gegeben durch [ein] Übergewicht des religiösen Bewußtseyns. Unterdessen war Empfänglichkeit für antike Kunst erwacht, aber nur für die Poesie und nur in einer Klasse. Von Nationalverbreitung war damahls nicht die Rede. Berücksichtigen wir einen Zustand einer mehr allgemeinen Verbreitung des Sinns der Kunst mit Productionen, was eine größ-

87

132

88

89

Ästhetik

70 | 71

re Ausgleichung des geistigen Lebens nach allen Seiten hin in den Massen voraussezt, so kann sich da die Kunst in den verschiednen Zweigen, wenn schon in verschiednem Grad nach der Verwandtschaft mit [der] Nationaleigenthümlichkeit entwickeln, in allen ihren wesentlichen Zweigen. Wesentlich ist der Unterschied zwischen Kunstleistungen, die nur vom einzelnen Selbstbewußtseyn ausgehen und nur dieses frey darstellen, und zwischen solchen, die durchaus auf dem Gesamtbewußtseyn fußen. Dieser Unterschied, wenn er bedeutend hervortritt, bedingt verschiedne Gestaltungen der ganzen Kunstthätigkeit. Wenn das Gesamtbewußtseyn zurücktritt, wird sich die Kunst auf die andre Seite werfen, und so werden nur die geringren Formen überwiegend sich entwickeln; wenn hingegen das Gesamtbewußtseyn überwiegend hervortritt, die persönliche Eigenthümlichkeit aber nicht in demselben Maaße entwickelt ist, so schließt sich die Kunstthätigkeit an an das öffentliche Leben und tritt nur hervor, insofern dieses sie hervorruft und unterhält. In der modernen Kunst ist eine Erscheinung merkwürdig, die dieses sehr bestätigt. Man kann einen Zeitraum füglich den der französischen Kunst nennen, wo die Franzosen am meisten im Gebieth der Kunst thätig waren, eine Zeit, wo die Monarchie erst im beständigen Fortschreiten gegen die Aristokratie begriffen war.* Beyde Theile rissen die | Massen an sich, und diese folgten nach dunklem Bewußtseyn bald dieser bald jener Seite. Die französische Poesie brachte eine Menge kleiner Formen hervor, nur geeignet zu Darstellungen des kleinern Lebens (Madrigal, Triolet)*. Die großen Formen bestanden freylich auch, aber die französische Tragödie hat sich fast nur an den antiken Stoff gehalten, das eigne Gesamtleben ist dabey nicht zum Vorschein gekommen. So war die Sculptur reich in kleinern Producten zur Verzierung von Palästen und Gärten, aber die Darstellung fast so ganz willkürlich fingirt, daß sie kein Gesamtbewußtseyn waren, oder antike Mythologien in modernen Bearbeitungen. Da sieht man ein Unvermögen der Kunst in großen Formen, Reichthum in denen vom einzelnen Leben ausgehenden. Ein solches Mißverhältnis kann nicht einen bleibenden Kunstzustand bilden. Vergleichen wir den analogen

71

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

133

Zustand der Engländer zu Schakespeares Zeit, da ist rein das umgekehrte Verhältnis, auch nach großen bürgerlichen Unruhen.* Die persönliche Eigenthümlichkeit war bey weitem weniger entwickelt und der öffentliche Sinn bey weitem vorherrschend; da entstanden Productionen in den größten Formen, unmittelbar im Nationalleben wurzelnd, in den kleinren Formen war bey weitem nicht derselbe Reichthum. Sehen wir auf das Maaß, das in den verschiednen Perioden der Kunst das Verhältnis zwischen den größren und kleinren Formen enthält, so finden wir darin zugleich das Maaß, in dem die Nationalität und das einzelne Bewußtseyn entwickelt sind, und nur hiernach kann sich die Kunst gestalten, was zeigt, wie tief sie in der Entwicklung des Lebens gegründet ist. Nun wollen wir die möglichen verschiednen Verhältnisse zwischen den Momenten berücksichtigen auf denen die Kunstthätigkeit beruht. Im Zeitalter der colossalen Architectur und Sculptur sahen wir das Princip der Kunst noch nicht geschieden vom ethischen Bewußtseyn des Gesamtlebens, und in Verbindung mit einer Masse von mechanischen Thätigkeiten. Nun haben wir das zweyte Moment, sc. die Erfindung, innre Vorbildung der besondren Kunstwerke zu betrachten. Diese wird nicht in einem innern sich gleich bleibenden Verhältnis bestehen, weder mit der Kunstrichtung überhaupt noch mit dem Vorhandenseyn einer organischen Masse, welche die Ausführung bedingt. Denke ich einen Einzelnen, in dem das Princip der Kunst in gewissem Grad vorwaltet, so ist doch nicht die Erfindung das Maaß für das Vorwalten jener Thätigkeit; denn jenes Vorwalten können wir finden in ganz untergeordneten Gestalten, so daß nie es bis zu jener Sicherheit kommt, daß es Anfang sey oder darstellbares Kunstwerk. Wo die Richtung hohen Grad von Intension hat, aber es dazu nicht kommt, kann die Richtung auf freye Thätigkeit so stark seyn, daß sie der auf gebundne Thätigkeit Eintrag thut. Das ist die Richtung, was die Italiener dolce far niente bezeichnen, ein Mißverhältnis, wo der Impuls zur gebundnen Thätigkeit zu schwach ist, und der auf freye Productivität nicht Intensität genug hat, daß Kunstthätigkeit entstände; so entsteht ein mehr oder

90

134

Ästhetik

71 | 72

minder verträumtes Leben. Denken wir, es komme zu solcher Intensität, doch nicht als maximum, sondern nur [als] Richtung auf freye Productivität überhaupt als vorherrschendes. Nun sahen wir, daß das innre Werden des Kunstwerks nicht augenblicklich, sondern allmählig zu Stande kommt. Also gehört noch eine andre Richtung dazu, wenn ein solcher Keim eines Kunstwerks soll zur wirklichen Vollendung kommen, denn in der Fortsezung von [der] Gestaltung desselben tritt doch eine Analogie von gebundner Thätigkeit ein, da es durch die ursprüngliche Conception dominirt wird. Da muß eine Vorliebe für das, was innerlich einmahl ein gewisses Daseyn bekommen hat, vorwalten, um es innerlich zur Vollendung zu bringen; und dieses fällt schon unter den Begriff der Anstrengung; wo es der Richtung an dieser Energie fehlt, sich zur Anstrengung zu erheben, da verfolgt man jene Keime nicht und sie werden nicht Kunstwerk. Denken wir dieses zweyte Moment das allmählich fortschreitend nicht unterstüzt durch dieses dritte, | so werden nach und nach immer mehr unvollständige Kunstwerke zu Stande kommen. Verfolgen zur Vollendung ist nicht da, und kein Einzelnes wird fertig. Dies ist das Princip des Scizzirens das überwiegt, wo die innern Elemente in diesem Verhältnis stehen. So bewundert man an Vielen Reichthum der Erfindung, aber fertig machen sie nichts aus Mangel an gehöriger Intensität. Finden sich anderwärts in der Masse die mechanischen Fertigkeiten aber ohne Erfindung, doch mit vorwaltender Empfänglichkeit, so werden diese fremde Erfindungen ausführen, und so erscheint, was Eins seyn sollte, zerfällt, weil in den Einzelnen überall Ein Element zu sehr zurücksteht. Man muß unterscheiden die Kunstthätigkeit in ihrer vollkommnen Selbstthätigkeit und die Kunstthätigkeit an einem Andern. Diese leztre ist dann verbunden mit [der] Ausübung von mechanischen Geschiklichkeiten, durch die dasjenige hervorgebracht wird, wovon die Kunst ist. Der Punkt, wo sich beydes am besten bindet, ist in der Architectur. Betrachten wir einen bedeutenden Theil der Deutschen Kunstgeschichte, so sind erst die großen architectonischen Werke der sogenannten Gothischen Baukunst, die zwar mit religiösem verbunden anzusehen [sind,] aber den

72

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

135

Zwek weit überwiegen als Kunst; dann ist große Geschiklichkeit in [der] Production von trefflichen kleinen Kunstwerken, während in derselben Zeit die Mahlerey sich größtentheils nur äußerte in [der] Verschönerung der Handschriften und seltne Ausnahmen und Anfänge nur selbstständige Mahlerey versuchten. Diese Differenz im großen geschichtlich übersehend als gegründet in den verschiednen Verhältnissen der nothwendigen Elemente in der Kunstthätigkeit; und dabey berücksichtigend die verschiednen Verhältnisse der obern und untern Gattungen, i. e. von Gemeinund einzelnem Bewußtseyn: so erblicken wir die Entwicklung der Kunst in genauem Zusammenhang mit der ganzen übrigen geistigen Entwicklung. Von hier aus komme ich zurück auf die verschiednen ethischen Schätzungen der Kunst. Es ist nicht zu leugnen, daß von verschiednen Interessen aus oft gesagt ward, Kunst sey nur ein besondrer Zweig des Luxus, ein Zeichen, daß der menschliche Geist die eigentliche Bahn seiner Bestimmung verlassen habe. Dieses Urtheil fußt auf zwey entgegengesezten Elementen, einmahl auf demjenigen welches die mannigfaltige Entwicklung des menschlichen Geistes für Corruption hält und den wahren Typus desselben in der einfachsten Form des Lebens sucht, was sich in Rousseau am meisten fixirt hat, zusammenhängend damit, daß ihm auch der Staat als Sache der Noth in Folge von Corruption erschien.* Da wollte man zurück und von vorne die wahre Darstellung des menschlichen Geistes anfangen. Das andre Fundament ist das des Nutzens, die Ansicht, daß die geistigen Kräfte des Menschen ganz und gar verwandelt werden sollten auf das Gebieth, das als relativer Gegensaz zum Kunstgebieth von uns das der gebundnen Thätigkeit genannt ward, das der Zweke. Wir fanden hingegen ein rein selbstthätiges Element das seine vollständige Darstellung nirgends findet und in der Kunst sucht. Jene Herabwürdigung der Kunst ist offenbar eine einseitige, auf welches von beyden Elementen man zurückgehe, und weder auf ein speculatives noch ethisches Gebieth zurückgeführt worden. Oft vertheidigte man sich gegen diese beschränkte Ansicht auf beschränkte Weise durch Nachweisung bestimmter ethischer

91

136

92

Ästhetik

72 | 73

Wirkungen, die von der Kunst ausgingen. Dies ist etwas sehr Altes, daß ihre Tendenz sey, die Leidenschaften zu mäßigen, i. e. die Richtung des Geistes zu einem Extrem von pathematischer Art aufzuhalten und zu hemmen.* Ob man mäßigen oder reinigen sagt, ist [eine] sehr geringe Differenz. Geht man davon aus daß Kunstthätigkeit vom Gebieth der Zwekmäßigkeit ganz geschieden sey, so kann man nicht von Wirkungen derselben reden, es sind ihr keine zuzumuthen, als ihre eigne Circulation, der Umlauf ihres eignen Lebens. Dies gibt freylich eine große Vorstellung von ihrer Gesamtwirkung, aber rein in ihr selbst bleibend und auf nichts nach Außen. | Ist es Richtung die Thätigkeit zu befreyen von aller Gebundenheit und Hemmung, so gehört diese zur Vollendung des Selbstbewußtseyns. Je weniger es sich in einer abgeschloßnen Masse entwickelt, desto mehr sey der Mensch zurückgehalten in einem Zustand des Dienstes für seine Selbsterhaltung oder die des Gesamtlebens. — Sehen wir auf [die] Entwicklung des Erkenntnisvermögens, so ist da die bestimmte Analogie, daß das eigentlich Speculative hier dasselbe ist, was freye Production auf der andern Seite; denn da ist Selbstthätigkeit des Geistes auch von allen Beziehungen auf Zweckmäßiges gesondert und hat auch nur Wirkung auf ihrem eignen Gebieth bloß in der Circulation des Wissens, wirkend, daß das Wissen in einer Masse in gehörigem Maße vorhanden sey. Bestimmte Wirkungen des Wissens sind reine Nebensache, um die es nicht zu thun seyn kann, gerade wie bey der Kunst. Müssen wir nun allerdings zugeben, daß die rein wissenschaftlichen Bestrebungen nie unterlassen einen großen Einfluss auf das Leben auszuüben, also auf die Zweckmäßigkeit, so ist es mit der Kunst auch so, aber das hängt immer nur ab vom Zusammenseyn derselben mit einem Andern. Ihr Leben an sich verläuft rein im eignen Umkreis, und alles Andre sind zufällige Ausstrahlungen; bezieht man sie auf das Wesen der Kunst so verdirbt man sich die reine Ansicht. – Wenn sich Kunstthätigkeit in einer Masse entwickelt erst in Einzelnen, so wird dadurch die Empfänglichkeit in Allen entwickelt. Diese wird im unmittelbaren Selbstbewußtseyn des Einzelnen ein Wohlgefallen an der freyen Productivität. Wird dieses Wohlgefal-

73

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

137

len ein Lebenselement, so muß es je länger je mehr einen Raum einnehmen über dem pathematischen Zustand der befriedigten Sinnlichkeit; und weil im menschlichen Leben immer nur ein bestimmter Theil dieser Function des Selbstbewußtseyns auf Einmal da seyn kann, so treten freylich wo Kunstgenuß eintritt, die grob sinnlichen Genüsse zurück, und das ist freylich eine Veredelung der menschlichen Natur die von der Kunst ausgeht. Aber in ihrem eignen Gewissen erscheint das nur als ihr eignes wachsendes Leben, daß sie immer mehr die Masse durchdringt, wenn auch nur als Empfänglichkeit. Je mehr dieses sich entwickelt, was wir Geschmack nennen, da Productivität aber nur Antheil Weniger ist, so liegt im Geschmack eine Ausgleichung der Ungleichheit zwischen der Masse und den Ausgezeichneten bis auf einen gewissen Punkt. Dasselbe gilt im Gebieth des Wissens und der Ethik nur in andern Verhältnissen, und das eine bleibt nicht ohne Einfluss auf das andre, und so wird [die] Entwicklung der Kunstthätigkeit das allmählige Verschwinden der zu großen Ungleichheit im Leben überhaupt befördern, und da zur ethischen Entwicklung gehört, daß jeder sich allen Andern gleich sezt und weiß, so ist das eine ethische Wirkung der Kunst; aber in ihrem eignen Gebieth ist es nur eine Wechselwirkung zwischen den überwiegend productiven Punkten und den überwiegend receptiven. Was außerhalb von ihr für Nutzen ausgeht, erscheint also nur als Entwicklung ihres innern Lebens, wie diese von Außen her erscheine, ist aber für das Interesse dieses Lebens selbst gleichgültig und zufällig. — Ob es sich geschichtlich mehr herausstellt als andre Gebiethe begünstigend, oder mehr als von diesen begünstigt, ist für die Sache eine zufällige Differenz und stellt nicht den wahren Werth dar. Soll dieses der Maaßstab seyn, so ist das eigentliche Wesen schon verfehlt bey dieser Betrachtung, da nur eine Construction von Außen her übrig bleibt, die nie das Wesen offenbaren kann. Sagt man, dieses zu vermeiden, es komme bey der Kunst gar nicht darauf an, ob sie solche ethischen Wirkungen habe, oder nicht, sie müsse ihren Werth in sich selbst haben, so ist das vollkommen richtig, wenn es die wahre Behandlung sicher stellen will, unrichtig hingegen, wenn es den natürlichen Zusammenhang zwischen

138

93

94

Ästhetik

73 | 74

den verschiednen Functionen ableugnen will. Denn dieser existirt, ist aber das, was man das Zufällige nennt. | Eine analoge Betrachtung gibt die Vollständigkeit. Ich fing dieses an, man habe oft die Kunst geschäzt nach einer solchen ethischen Wirkung besonders in Beziehung auf die pathematischen Zustände. Das hat zweyfache Potenz, kann gesagt werden in Beziehung auf das Gesamt- und Einzelleben. In beyden Hinsichten stößt man auf geschichtswidrige Behauptungen, wenn man diese Wirkung für das Wesen der Kunst hält und diese nach denselben mißt. Fragt man, wo und wann die antike Kunst in höchster Blüthe war, und wie es da im öffentlichen Leben um diese leidenschaftlichen Zustände stand, so war die höchste hellenische Kunstentwicklung zusammen mit den allerleidenschaftlichsten Zuständen im öffentlichen Leben,* und die Kunst insofern sie an einem Andern war gerade diesen pathematischen Zuständen gedient hat; denn das Kunstmäßige in der Rhetorik brauchte man durchaus, um die momentanen pathematischen Wirkungen zu unterstüzen, welche die Redner auf die Masse üben wollten. Da war die Kunst also völlig unwirksam zur Milderung der Leidenschaften. Sehen wir auf die moderne Kunst, die ihre größten Leistungen in gewissen Gebiethen wenigstens immer in Beziehung auf das Religiöse gehabt hat: so ist offenbar für das religiöse Leben die Superstition der Ausdruck eines pathematischen Zustands. Wie hat denn die Kunst sich dazu gestellt? Da gibt es dasselbe Resultat, wie in der antiken Kunst auf dem politischen Gebieth. Die höchsten Leistungen der Mahlerey auf dem religiösen Gebieth sind in derselben Zeit, wo jenes den höchsten Gipfel erreicht hatte, und die Kunstleistung hat keineswegs die Befreyung von Superstition im religiösen Leben vorbereitet, sondern vielmehr das Gegentheil, als Kunst in Reformation überging, konnte sie sich nicht losmachen von dem Cyclus von Bildern, die eben eine Folge waren von jenem pathematischen Zustand. Daher nahm die eine ReformationsRichtung diese Kunstproducte ganz aus dem öffentlich religösen Leben, da ein richtiges Gefühl war, die Kunst wird immer wieder jene pathematischen Zustände erweken und die Reinigung der Religion aufhalten.* — Betrachten wir

74 | 75

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

139

die Frage in Beziehung auf das Einzelleben und stellen sie so: Ist ein natürlicher und verhältnismäßiger Zusammenhang zwischen der ethischen Entwicklung des Einzelnen und seinem Verhältnis zur Kunstthätigkeit? So kann man das gar nicht behaupten. Die Virtuosen der Mahlerey in [der] Zeit der höchsten Blüthe, wo die Kunst fast nur religiöse Gegenstände darstellte, sind keineswegs vom religiösen Princip in dem Maaß durchdrungen, als sie Künstler waren. Sondern das kommt gar nicht heraus, daß sie vorzüglich vom religiösen Princip ergriffen waren, sondern das war die Wirkung des Gesamtlebens auf sie, es war der Ort, den das Gesamtleben den Künstlern festgestellt hatte, und sie hätten für Niemand gearbeitet, wenn sie nicht auf dieses Gebieth eingingen. Nicht daß sie gebildet hätten, was sie verachteten, sondern das war Wirkung vom Gesamtleben auf sie unbewußt. So wenig die bestimmten ethischen Wirkungen das Maaß für [die] Entwicklung der Kunst im Großen sind, ebenso wenig ist eine ethische Virtuosität das Maaß der Entwicklung der Kunstthätigkeit im Einzelleben, sondern beydes kann völlig von einander gesondert seyn. Dies führt auf einen allgemeinen Saz, der genau mit unsrer ersten Position zusammenhängt und hier entscheidet, daß die Kunst überhaupt gar nicht geeignet ist, irgend eine Willensbewegung hervorzurufen, und daß sie nur Kunst ist, insofern sie dieses nicht ist, da alle solche Elemente derselben fremd sind. Dies hängt mit unsrer allgemeinsten Construction der Kunstthätigkeit zusammen, indem wir sie zurückführten sowohl bey [der] Aufnahme des Gegebnen als [auch] der Verhältnisse des Lebens vorkommende Thätigkeit, die Kunst ohne einen solchen Coefficienten hervortrete, i. e. frey; das Material worin es erfolgt, ist freylich unentbehrlich, kommt aber nie beym Kunstwerk an sich zur Sprache. Freylich durch diese Verschiedenheit des Gegenstandes entstehen verschiedne Affectionen aber nur als Modification des Wohlgefallens an dieser freyen Productivität. Mit gebundner Thätigkeit hängt dieses gar nicht zusammen, alle Willensbewegung aber hat es eben mit gebundner Thätigkeit zu thun, i. e. ist in Beziehung auf die Verhältnisse. | Erregt ein

140

95

Ästhetik

75

Kunstwerk [eine] Willensbewegung, so liegt dies in etwas andrem. Daß die Beredsamkeit als Kunst in den griechischen Staaten die leidenschaftlichen Zustände immer unterhalten habe, ist außer der Grenze, denn Beredsamkeit ist keine Kunst, sondern Kunst an etwas andrem. Der Redner will [die] Bewegung der Menge hervorbringen, diesen Zwek erreicht er durch Gründe oder Anregungen des Pathematischen, die gar nicht auf Kunst gegründet sind, die Wirkung liegt daher nicht in der Kunst. Daß sie aber in gewisser Anwendungsweise seinen Zwek befördert ist, daß die Zuhörer sich um so leichter bewegen lassen, insofern er der Urheber jenes Wohlgefallens ist. Dieses Wohlgefallen gehörte sehr oft zur Corruption der Kunst wie sie schon die Theoretiker als eine Schmeicheley der Sinne tadelten.* Wenden wir den allgemeinen Saz an auf die zwey wesentlichen Zweige, zunächst solche Gattungen die wesentlich vom Gesamtbewußtseyn und dann solche die wesentlich vom Einzelleben ausgehen, so sind die leztern allerdings häufig von der Art, daß der Gegenstand nachtheilige Wirkung auf den Willlen hervorbringen kann; so die Gattung des erotischen, die wesentlich vom Einzelleben ausgeht. Von dieser gibt es eine lascive Behandlung, aber die gehört gar nicht in den Kunstwerth hinein, sondern ist nur vermittelt durch die Sinnesart des Künstlers, und er kann dasselbe Übel auf ganz kunstlose Weise hervorbringen. Je mehr ein Kunstwerk Kunstwerth hat und sich daran hält, desto weniger wirkt es auf den Willen, weil es an der Kunstvollkommenheit festhält, die ja vom wirklichen Leben ablenkt. Also Willenserregung entsteht nur in dem Maaß, als im Kunstwerk etwas Andres ist als Kunst, und im Aufnehmenden etwas andres als Kunstsinn. Dasselbe gilt von der Production des Gesamtbewußtseyns. Denke ich ein religiöses Kunstwerk von größter Vortrefflichkeit, und es wäre eine bestimmte Handlung daraus hervorgegangen, so ist das gar nicht Wirkung des Kunstwerks. Beschenkt einer ein wunderthätiges Bild, so ist das keine Wirkung des Kunstwerks das dabey steht oder das wunderthätige Bild selbst ist; es wäre dies vielmehr der Glaube an die Thatsache, die man erziehlt, nicht der Kunstwerth. Etwas anders ist es, wenn man sagt, ein solches

75 | 76

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

141

Kunstwerk errege das religiöse Gefühl. Das ist wahr, wiewohl es nicht unmittelbare Wirkung des Kunstwerks ist, sondern des Reflexes des Gegenstandes auf das Kunstwerk; ein religiöses Gefühl ist aber keine Willenserregung. Also in beyden Gattungen sind heilsame und schädliche Wirkungen in ethischer Beziehung dem Kunstwerk als solchem fremd. Dies führt auf den Saz, daß es keinen andren Unterschied des Werthes gibt zwischen verschiednen Kunstwerken als den der Vollkommenheit in der Kunst selbst. Ist ein Kunstwerk vollkommen in seiner Art, so hat es einen absoluten Werth, der durch nichts, was damit zusammenhängen kann, erhöht oder erniedrigt wird. Wäre wirkliche Willensbewegung [eine] Folge von Kunstwerken so hätten diese noch einen andren Maaßstab; sc. nicht alle Gegenstände die der Künstler bearbeiten kann, sind gleich geeignet Willenserregungen zu veranlassen, und so gibt es eine Schätzung die mit der Kunstvollkommenheit keinen Zusammenhang hat. Mythologische Gegenstände können auf uns diesen Einfluss gar nicht haben, so vollkommen sie wären, hätten sie diesen Werth nicht. Da ein solcher Anspruch auf Kunstwerke nicht gemacht werden kann, bleibt nur die Vollkommenheit als Maaßstab. Wollte man unterscheiden zwischen Kunstwerken, die durch ihren Gegenstand größren Eindruck machen und solchen, die vermöge des Gegenstandes dazu nicht im Stande sind, so ist es wahr, thut aber dem Kunstwerk keinen Eintrag, weil es nur vom Gegenstand ausgeht, den Reflex, der vom Gegenstand auf das Kunstwerk fällt, nicht dieses selbst. Größte Gemählde und kleinste Arabesken sind in dieser Hinsicht vollkommen gleich, und größtes und kleinstes Gedicht auch, da der Kunstwerth in jedem nur von der Kunstvollkommenheit abhängt, und dem Grade als das Äußre dem innren Kunstwerk entspricht und dieses selbst ein Resultat der freyen Productivität ist. Diesen Saz muß man unbedingt festhalten, wenn man nicht fremdartige Elemente in die Betrachtung einmischen will. Allerdings z. B. ein Dichter, der nichts hervorgebracht hat, als Epigramme, und einen der tragische Kunst bereichert hat, | werden verschieden geschäzt, aber dieses ist [eine] Beurtheilung der Person, nicht des Kunstwerks. Jedes

142

96

Ästhetik

76

Epigramm kann vollkommen seyn, beurtheile ich den Dichter, so kann da ein Mangel zugegeben werden, daß er nie an größre Compositionen kommt; hat ein Drama nicht die Vollkommenheit in sich, wie ein Epigramm, so steht es der Kunst nach unter diesem, obwohl die Person des Künstlers einem lieber seyn kann als die des andren. Für das Kunstwerk an sich gibt es nur den aufgestellten Maßstab; ist die Conception innerlich vollendet gewesen, aber [die] äußre Darstellung entspricht ihr nicht ganz, und Mangel an Sicherheit es vollkommen zu erreichen findet die Verbesserung, so fehlen technische Fertigkeiten, aber das innre Kunstwerk ist vollendet; wir müssen beym innersten bleiben, und das äußre ist schon aus dem Maaßstab zu verweisen; da bleibt uns nur die freye Productivität selbst, so daß diese Thätigkeit nothwendig Erfindung wird. — Dies führt auf einen andren Unterschied, der eine Differenz zu sezen scheint zwischen den Kunstwerken, die eine Ausnahme wären von jenem absoluten Saze eines jeden in seiner Art vollkommnen Kunstwerks. Speculativ [ist] die Theilung zwischen Kunstgattungen, in denen der Künstler sich in Beziehung auf das Material seines Kunstwerks sich verhält als Organ eines Gesamtbewußtseyns, und in solche, wo er nur von seinem einzelnen Leben ausgehend bildet zwey verschiedne Gattungen, ja Style in jeder Kunst.* Eine analoge Differenz ist nun: Alle Kunst auch in den größten Compositionen vom Gesamtbewußtseyn aus, kann doch immer nur durch Einzelnes heraustreten, ob es Eine Einzelheit oder [eine] Zusammenstellung von Einzelheiten ist nach der Natur des Kunstzweiges. Diese haben nun beyde sehr verschiednen Werth in andrer Beziehung. Das Einzelne hat einen symbolischen Werth, insofern ein Allgemeines in ihm zur Darstellung kommt, und das Einzelne von diesem Zusammenhang ganz abgesondert, ist eigentlich Null. Wir mögen das Einzelne nehmen aus [dem] Gebieth der Natur oder des menschlichen Seyns so ist doch alles Einzelne, das in Kunst darstellbar ist, ein Moment von Thätigkeit einer bildenden Kraft, so ist der einzelne Mensch allemahl das Resultat dieser Function des Geistes an sich, wodurch er einzelnes Leben wird; jede Pflanze ist ebenso Resultat einer

76 | 77

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

143

bestimmten Naturthätigkeit die eben diese Form beständig reproducirt; jede Einzelheit also, die dieses zur Darstellung bringt und den Anschauenden mit einer gewissen Nothwendigkeit hierauf zurückführt hat diesen symbolischen Werth. Da kann man fragen: Kann es ein Einzelnes geben, welches diesen Werth nicht hätte? Was uns die Natur wirklich gibt in der einzelnen Erscheinung sowohl die organische als die mit ihr verbundene Geistige Natur, das ist immer noch etwas andres, als das Hervorgegangenseyn des Einzelnen aus der plastischen Kraft, denn diese ist afficirt worden durch andre Bedingungen und insofern ist dieses die Unvollkommenheit des Einzelnen. Wenn sich der Künstler von jenen Bedingungen und Gebundenheiten frey macht, sind seine Productionen etwas andres als dieses; und jene Mitwirkungen sollen da nicht seyn. Z. B. in der menschlichen Gestalt sind gewisse Typen festgestellt, doch mit einem gewissen Spielraum; über diesen hinaus zu gehen ist eine Krankhaftigkeit die dem einzelnen Leben inhäriert. Da der Künstler keinen Grund hat, dieses darzustellen, so kann seine Darstellung nie eine solche seyn, und so könnte es nichts geben als Symbolisches in der Kunst, aber was auch fast durch alle einzelnen Künste durchgeht und [eine] bedeutende Gattung ist, das Comische, das erscheint gerade als Gegensaz zu diesem Symbolischen. Der Werth dieses Comischen ist, daß der Künstler ein Einzelnes darstellt als Gegensaz zu diesem Symbolischen; daher beschränkt es sich auf das Gebieth des menschlichen Seyns und außerhalb desselben hätten solche Darstellungen keinen Sinn, weil nur im Gebieth der Freyheit dieses als Thätigkeit vorkommen kann. Daß das Einzelne abgesondert von diesem Symbolischen | Null sey, bestimmt sich so, daß wenn in einem Einzelnen nichts wäre als die Wirkungen jener Hemmung, so ist es durchaus Null; was in allem Comischen ist, aber dadurch wird dieses Einzelne gerade doch eine symbolische Darstellung und zwar von diesem positiven Nullwerth des Einzelnen, also ist es nicht geringer, da es nothwendig symbolisch wird. Unmittelbare Darstellung des bildenden Typus selbst (Ideal) ist kein Einzelnes mehr, sondern nur wenn es eine Modification des Menschseyns ist, hat es diesen symbolischen Werth, jenes

144

97

Ästhetik

77

wäre der Typus selbst, nicht dessen Symbol und wäre aus der Wirklichkeit herausgenommen. Von jener Nullität ist auch [ein] Symbol möglich, und so steht das Comische parallel [zu] allen andern Kunstarten. Daß [der] Gegenstand den Werth nicht different machte führt nun auf eine ganze andre Seite, was denn in der Kunst das Vollkommne sey, was sehr streitig ist und erst ist Verständnis nöthig, wie weit allgemeines fixirt werden konnte.* Könnte man den Begriff auch allgemein aufstellen, so würde doch große Differenz eintreten in den Geschmacksurtheilen; i. e. bey demselben Begriff der Vollkommenheit können zweye different ein Kunstwerk beurtheilen. Wie kommen wir zu einem solchen Begriff, der dann doch den Maaßstab für [die] Beurtheilung der Kunstwerke in sich schlöße? Es fragt sich: Gibt es einen gemeinsamen solchen Begriff für alle Künste, oder muß man für jede einen besondren aufstellen? Dies ist schwierig zu beantworten. Wollten wir davon ausgehen, jede Kunst müsse ihre eigne Vollkommenheit haben, die der bildenden und der redenden Kunst können nicht dieselben seyn, so fragt sich, wie weit unter dieser Voraussezung dennoch der allgemeine Begriff der Kunst bestehen kann. Wir gingen von einem gemeinsamen Punkt aus, ehe wir auch die verschiednen Künste fanden. Läßt sich von da aus ein Begriff der Vollkommenheit construiren, so muß er für alle Künste gelten als gemeinsames Element, wenn dann auch noch in jeder Kunst besondre Elemente dazu kommen. Ein solches gemeinsames Element suchen wir zuerst, fänden wir es nicht, wie könnte dann der Begriff Kunst als gemeinsame Einheit reell bestehen? Besteht er vor den Formen, so muß er auch sein Maaß haben, i. e. seine Vollkommenheit. Wollten wir dieses leugnen, so müßten wir erst prüfen, in wiefern man doch den allgemeinen Begriff seze. Nun fanden wir dieses Gemeinschaftliche, die Richtung einer Productivität auf freye Thätigkeit wobey wir den Gegensaz des Kunstlosen und Kunstmäßigen einschließend aufstellten. So scheint, was Kunst wird aber sich nur wenig vom verwandten Kunstlosen unterscheidet, als Kunst unvollkommen, das, worin der Gegensaz als maximum erscheint, als Kunstvollkommenheit.

77 | 78

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

145

Fassen wir jenes gemeinsame Element und diesen Gegensaz des Kunstlosen und Kunstmäßigen, so muß der Begriff der Vollkommenheit als allgemeiner können aufgestellt werden, der dann nur verschieden angewandt wird auf die einzelne Kunst. Jenes gemeinsame Element wiesen wir in allen Künsten nach, wo es überall freye Thätigkeit gab in der Productivität des Geistes als eines Einzelnen; ebenso fanden wir den Gegensaz zwischen Kunstlosem und dem was Kunst werden kann, rein hieraus. Gehen wir auf die erste Aufgabe zurück, so ist jeder geistige Lebensmoment ein Product zweyer entgegengesezter Coefficienten, Selbstthätigkeit und Empfänglichkeit, Spontaneität und Receptivität. Die Kunst betrachteten wir zunächst auf dem Gebieth der Spontaneität und [haben] gesagt, insofern wir uns denken einen Moment der überwiegend der Selbstthätigkeit angehört, aber doch bestimmt ist durch das Gesamtafficirtseyn in einem bestimmten Moment, so hat er seine Beziehung auf diese Gesamtrelation des Einzelnen und das war die gebundne Thätigkeit. Ist nun jeder Moment aus diesen zwey Momenten zu construiren, und besteht doch die Kunst in Richtung auf freye Productivität die nicht gebunden wäre, so scheint dies [ein] Widerspruch. Die Sache ist aber die, wenn wir einen Moment von Kunstthätigkeit in seiner Wirklichkeit uns denken, dann finden wir auch diese zwey Coefficienten darin, denn daß des Einzelnen Kunstthätigkeit diese und jene Richtung nimmt ist immer bedingt von seinen Gesamtrelationen, also Kunstthätigkeit in Erscheinung tretend macht keine Ausnahme von jenem Saz, daß jeder Lebensmoment von beyden Coefficienten gebildet sey. | Innerlich hingegen nicht.* Wie steht es nun mit dem Gegensaz zwischen Kunstlosem und dem, was nun Kunst wird? Diese Richtung auf freye Productivität faßten wir gänzlich gesondert von der Wirklichkeit des Lebens, und so fanden wir sie im Traum und verfolgten dann die Analogien.* Das so oder so träumen wird auch seinen Grund haben in der Gesamtheit seiner Lebensbedingungen, aber die Traumbilder selbst sind doch die freye Productivität. Was ist dann das Kunstlose davon? Man muß als möglich denken, daß im Traum eine Conception zu Stande komme, welche im wachenden Zustand ergriffen wird,

98

99

146

Ästhetik

78

um den Weg eines Kunstwerks zu machen, dann ist ein wahres Kunstelement im Traum zu Stande gekommen, ja eine Menge Tradition hätte sich nicht erzeugen können, wenn nicht eine Wahrheit in ihm wäre. Der Traum hat sein Wesen nur darin, daß in ihm selbst eine solche Beschaffenheit der Bilder rein zufällig ist. Wollen wir den Traum als Grundtypus des Kunstlosen in der Richtung auf freye Productivität aufstellen, so ist sein Wesen das durchaus Chaotische ganz in demselben Sinn wie im Physischen und Metaphysischen, es ist das Unbestimmte im Gegensaz von Einheit und Vielheit, was im geordneten Seyn auf bestimmte Weise auseinander ist, ist dort auf unbestimmte Weise ineinander; eine unbestimmte Mannigfaltigkeit ist das Wesen des Begriffs, eine Verworrenheit aus der sich erst der Gegensaz von Einheit und Vielheit herausbildet. Dem Traum am meisten analog sezen wir im wachenden Zustand die sich zwischen den Thätigkeiten auf das Geschäft hin durchziehenden dunkeln Bilder. Den Gegensaz finden wir in der Aufgehobenheit jenes Unbestimmtseyns, also in der Analogie dieser Productivität mit der Wirklichkeit selbst, Analogie sc. im Auseinanderstreben von Einheit und Vielheit. Wollten wir es durch einen allgemeinen Ausdruck bezeichnen, so ist es, daß jedes ein Gemeßnes sey, bestimmt gegen das Andre und bestimmt in sich selbst, gegen das Andre durch Differenzen, die sich auf Gegensäze reduciren lassen, in sich als Einheit. Diese Bestimmtheit ist der Charakter einer Wirklichkeit, wodurch das Seyn uns Welt wird, denn in dieser Bestimmtheit liegen Verhältnisse der Subordination und Coordination. Indem wir in der kunstlosen Production diese Unbestimmtheit dem Einzelnen beylegen, und von ihm sagen, daß es sich nicht fixiren lasse, so ist das die Richtung der Betrachtung auf das Elementarische, und das Merkmahl der Gemeßenheit ist das Wesen der elementaren Vollkommenheit im Gebieth der Kunst. Dieses läßt sich leicht durch alle Kunstgebiethe durchführen, aber es ist damit wenig gesagt. Im strengsten Sinn elementarisch ist z. B. [die] Differenz zwischen Ton und Laut, jenes, ein schlechthin gemeßnes, dieses ein relativ Unbestimmtes. Will man die Betonung im Reden auf musikalische Differenz bringen, so ist, weil jedes Einzelne schon

78 | 79

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

147

nicht ein in sich Gemeßnes ist, Irrationalität des einen gegen das andre aufgestellt, und das rein Gemeßenseyn ist das eigenthümliche Merkmahl der Kunst. Dasselbe gilt von der mimischen Bewegung. Was rein und ursprünglich aus bewegtem Gemüthszustand tritt, ohne daß Kunst dazwischen kommt, das kann nur ein Ungemeßnes seyn; finden wir bestimmte Gemessenheit so denken wir gleich eine künstlerische Tendenz, sey es Mimik bey der Rede, oder im Tanze. Dieses trifft aber, so gefaßt, nur die allersten Elemente. Gehen wir weiter und fragen, was ist der Umfang in dem dieses Merkmahl gilt in der bildenden Kunst so sind wir verlegen, weil sich da das rein Elementarische nicht auf solche Weise sondert. Denkt man eine einzelne Linie, so kann man gar nicht fragen, ob sie ein Kunstelement seyn könne oder nicht; sondern jede kann es seyn, wenngleich auf eine andre Weise. So wie sich etwas Architectonisches findet, so kann die gerade Linie vorkommen, und im Kleinsten hört der Gegensaz zwischen gerade und rund auf. Der Begriff des Elementarischen steigert sich daher wesentlich. So in der redenden Kunst; wenn das Wort Element seyn soll, kann man nicht im Allgemeinen sagen, ob ein solches nun ein poetisches Element sey oder nicht; zwar gibt es ein gewisses Gebieth, was die Poesie vindicirt, und ein andres, was sie ausschließt, aber von einzelnen Elementen kann man es nicht sagen, da das | am meisten Unpoetische im Comischen vorkommen kann und das am meisten Poetische in einem prosaischen Abschnitt. Diese eigentlichen Elemente gehen nicht gleichmäßig durch alle Künste, das ist, was wir sagten, unser Saz wird in jeder Kunst eine eigenthümliche Anwendung finden. — Halten wir hier inne und fragen: Gibt es noch einen andren gemeinsamen Begriff der Vollkommenheit als jenen elementarischen, insofern ja das Kunstwerk ein Ganzes ist? Da fragt sich, ob aus [dem] Gegensaz zwischen Kunstlosem und Kunstmäßigem [sich] einer entwickeln lasse. Den Zustand des Traumes und seine Fortsezung im Wachen als zwischen der bestimmten Thätigkeit sich durchziehend, betrachtend, finden wir immer ein Zusammenseyn von vielen Elementen, und es fragt sich, wie denn diese sich abschließen. Der Traum zeigt sich

148

100

101

Ästhetik

79

bisweilen in Form eines abgeschlossnen Ganzen, wo das Verworrne untergeordnet scheint und [ein] gewisses Maaß verdekt oder weggenommen werden kann. Da bliebe dann ein Dramatisches; da aber im Traum ein Element, woraus Kunst wird, nur zufällig ist, so ist diese Abgeschlossenheit im Traum auch nur zufällig und in den analogen wachenden Zuständen kommt es gar nicht vor; sezen wir beydes als Eins, so verschwindet diese Ausnahme völlig, und wir sagen, daß eben dieses Kunstlose seinem Wesen nach ein Unbegränztes bleibt. — So geringfügig diese Resultate, so lassen sich doch Einwendungen machen. In [einer] Landschaft gehört ja mit zur Wahrheit, daß Gestalten im Hintergrund sich in einander verlaufen und das bestimmt Unterschiedenseyn ist ja nicht in Elementen, die zum Kunstwerk gehören. Die organische Vollkommenheit betreffend, hat man verschiedne Vorstellunngen von epischer Dichtkunst der Alten; geltend machte sich eine Ansicht, daß ein episches Dichtwerk nie vollendet sey, so hat Göthe die Ilias fortgeführt bis zum Tode Achilles, dann kann man die νόστοι u. s. w. anfügen und so wird es ein unübersehbares.* Eine andre Vorstellung machte sich auch geltend, daß es zweifelhaft sey, inwiefern dieses homerische Gedicht von Anfang [an] ein Ganzes sey, sondern nur die einzelnen Gesänge seyen ein Ganzes und der Faden der Zusammenstellung habe im Dichter gelegen, ohne daß es als Ganzes in ihm war, die Art des Vortragens der Gedichte habe ihr Maaß gehabt in einzelnen Gesängen.* Beydes hat etwas für sich, aber ist die Iliade so ein Typus, so ist doch jeder Gesang für sich nicht auf gleiche Weise ein Ganzes in Beziehung auf Anfang und Ende. So bliebe für diese Gattung die organische Vollkommenheit problematisch. Beyde Resultate sind offenbar ungenügend und entsprechen dem Begriff der Vollkommenheit eines Kunstwerks gar nicht. Denkt man in jenem Gemählde alle einzelnen Gestalten bestimmt geschieden, ist dann das die ganze Vollkommenheit der Elemente? Offenbar nicht, denn gegen alle einzelnen Theile lassen sich oft eine Menge Einwendungen machen und zwar nicht bloß solche, die unsre übrigen Positionen fordern, es könnte reine Nachbildung eines Gegebnen seyn und wäre keine freye Productivität. Aber wie viele Landschaften sind

79 | 80

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

149

nicht durchaus Portrait, Nachbildung; ja gibt sich eine für eine reine Composition, so machen wir ganz andre Anforderungen an sie, und Viele haben schwächres Interesse an solchen. Soll man Portraits ausschließen, da doch die größten Künstler solche gemacht haben und wie viele historische Gemählde rechnen sich zum Verdienst an, eine Menge Personen mit der Treue des Portraits darzustellen. So scheint das Gesagte sich nicht auf die einzelnen wirklichen Künste zu erstrecken, welche nachbildend sind; und als selbstständiges Kunstwerk scheinen solche im Range zu verlieren nach unsren Voraussezungen. So scheinen wir die Vollkommenheit noch gar nicht zu haben. Wir mußten auf das eigentliche Wesen der Kunstthätigkeit, und so stellten wir jene Principien auf; und sollen wir Vollkommenheit und Unvollkommenheit aufstellen, aber das eine reicht nicht zu, das andre schließt etwas aus, was wir immer in der Kunst finden. Es in Übereinstimmung zu bringen wollen wir den umgekehrten Weg einschlagen und zuerst die elementare Vollkommenheit gehen lassend nach der Vollkommenheit des Ganzen eines Kunstwerks fragen. | Wir forderten, das Kunstwerk müsse ein vollständig Begrenztes seyn. Das kann eine Landschaft seyn, aber sie soll zugleich eine freye Production seyn. In der Wirklichkeit ist offenbar die Landschaft keine begrenzte, sondern die Begrenzung ist die freye Production des Künstlers. Denken wir den Künstler, der aus mehrern in der Natur unbegränzten und gesonderten, eins begränzt, so macht er sie zur Einheit; in einem Falle kann er dem Gegebnen mehr treu bleiben, im andern muß er mehr ändern, damit es Kunstwerk sey. Das Gegebne verhält sich also zum Kunstwerk nicht so, daß dieses weil es kein Gegebnes abbildet, Werk der freyen Productivität sey, sondern das Ganze ist ein Werk der freyen Productivität und als solches gar nicht gegeben; und ob der Künstler das Einzelne mehr oder weniger aufnimmt, ist auch Sache der freyen Productivität; das Einzelne gibt er nie, wie er es gibt, weil es in der Wirklichkeit so gegeben ist; sondern diese Übereinstimmung ist mehr zufällig, und das Äußre dem Innern subordinirt. So ist es ganz die freye Productivität, denn in dieser ist er doch an die Natur gebunden, da sie aber diesen organischen Naturtypus zum

150

Ästhetik

80

ursprünglichen Stoff hat, wie er ihr als Ideal einwohnt; producirt er etwas in der Natur gar nicht aufzuweisendes, so wird man ihn tadeln; ein phantasierter Baum ist fehlerhaft, weil er zu keiner Gattung gehört und nicht der Naturtypus im Künstler gewesen ist. So löst sich der Widerspruch. Wie in Beziehung auf das Räumliche, so ist es nun auch auf das Zeitliche. Der historische Moment für den bildenden Künstler ist gar nicht als Ganzes gegeben, sondern er ist ein geschichtlicher Fluß, und es ist die freye Productivität des Künstlers, die ihn fixiert. Beym Portrait stellt sich die Sache so: Denke ich den einzelnen Menschen in gemeinsamer Handlung mit Andern, so daß der Künstler einen Moment daraus fixiren kann, so ist der Moment in dieser Abgrenzung das Werk seiner freyen Productivität; nun kann er die einzelnen Personen, wenn sie ihm gegeben sind, nicht phantastisch produciren. Denken wir aber das Portrait als Einzelheit, so kann in einem wirklich gegebnen Moment die Gestalt nicht dargestellt werden, in der Wirklichkeit ist sie aber immer in einem gegebnen Moment. Es ist freye Productivität des Künstlers, davon zu abstrahiren und das Bild so zu geben, wie daraus alle seine Lebensmomente zu begreifen sind; denn als solches Ideal seiner selbst ist der Moment nie gegeben, daß daraus alle seine Lebensmomente zu begreifen sind. Nur ein solches Portrait ist Kunstwerk. Das Verhältnis der freyen Productivität zum Wirklichen ist auch in dieser Gattung, etwas auch auf besondre Weise modificirtes, im Wesentlichen dasselbe. Sieht mich der Künstler in einem bestimmten Moment, so muß er mich aus dem Ideal meiner selbst für diesen Moment begreifen. So begränzt der Künstler, was in der Wirklichkeit dem allgemeinen Fluß angehört; damit kann man auch einigen was über das Schwanken der alten epischen Dichtkunst gesagt ward. Denken wir eine Reihe solcher zusammengehöriger Ganzer wie jene einzelnen Gesänge, so ist jeder für sich ein Begränztes geworden durch den Dichter, und wovon die Iliade, oder die einzelnen Gesänge Eins seyen, so ruhen die leztern darauf, daß die Thatsache im Ganzen als bekannt vorausgesezt werden kann und daraus Momente fixiert werden können als ein Ganzes. In andrem Verhältnis ist der Dichter, wenn er erst einen Gegenstand

80 | 81

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

151

in das Volk bringen will, dann müssen die einzelnen Theile als Ganze weit bestimmter abgegrenzt seyn durch Anfang und Ende. Die Gesänge der Iliade sind nur Kunstwerke unter [der] Voraussezung, daß der Gesamtstoff den Hörenden gegenwärtig war, und jeder sich orientierte, der Gesang mochte anfangen, wo er wolle. So ist es kein Widerspruch gegen die organische Vollkommenheit. Begrenzung ist dann, daß der Dichter nicht hinausgeht über das in den Hörern schon so Vorbereitete, und da begrenzt er sich ein Ganzes durch freye Productivität aus Gegebnem; und ob etwas Ganzes sey oder nur organisches Theil, ist davon abhängig, in wiefern es auf dem schon gegebnen Gebieth ein solches Begrenztes gewesen ist. — Sagen wir die organische Vollkommenheit eines Kunstwerks ist, daß es ein vollkommen in sich Abgeschloßnes sey, so liegt darin zweyerley, 1.) daß das Ganze, wenn es da ist, nichts | vermissen läßt, und der es auffassende nicht darüber hinaus getrieben wird, sondern in seiner Totalität sich beruhigt und verharrt. Die organische Vollkommenheit kann daher nicht bloß von den einzelnen Theilen aus bestimmt werden, sondern auch vom Ganzen aus; was wir bloß vom Bestandtheil aus aufstellen, genügt nicht, denn dadurch daß dieser ein Gemeßner ist, liegt seine Beziehung zum Ganzen noch gar nicht, und ist mehr nur die conditio sine qua non, als die erschöpfende Vollkommenheit des einzelnen Theils. 2.) Ebenso wenn das Kunstwerk ein durch sich selbst vollkommen Begrenztes seyn soll, so muß darin nichts seyn, was nicht wesentlich hineingehört; denn fremdartiges darin findend sagen wir, es ist nicht durch sich begrenzt. Ein in sich noch so vollkommnes Element oder organischer Theil ist verwerflich, wenn er nicht im Ganzen nothwendig ist und durch dasselbe bestimmt. Hier finden wir den Übergang von einer unzureichenden Bestimmung zu dem was wir begehren, wenn Kunstvollkommenheit bestimmt werden soll. Doch wollen wir erst von dem vorhin Gefundnen eine weitre Anwendung machen. So wie man von den Elementen, Bestandtheilen eines Ganzen redet, so ist das völlig unbestimmt, wenn man sich nicht verständigt hat über das Verhältnis von Ganzem und Theil. Die Einwendung, daß

152

Ästhetik

81

es Kunstwerke gebe, in denen nothwendig Elemente sind, die nicht in sich gemessen und von andern unterschieden sind, ist so zu widerlegen, daß die einzelne Gestalt gar nicht für sich ein Bestandtheil des Gemähldes ist, sondern nur die Gestalt mit ihren Lichtverhältnissen, die Gestalt im Hintergrund als solche ist kein organischer Bestandtheil, sondern nur die Masse, die in dieser Beleuchtung steht; würde die einzelne Gestalt so bestimmt vom Ganzen unterschieden, so wird sie falsch, der ganze Hintergrund ist da organischer Bestandtheil. Hauptfiguren haben freylich jede ihre eigne Beleuchtung und sind organische Bestandtheile; die sich aber in der Masse verlieren, sind es nicht. So muß man sich in jedem Kunstzweige die organischen Bestandtheile aufheben, welche als selbstständige können angesehen werden. Da müssen wir zurück auf die Art, wie das Kunstwerk nach Außen tritt, als Formen des Seyns im Geist die als Einzelne heraustreten. Da ist das Allgemeine und Einzelne entgegengesezt. Immer liegt zum Grunde daß das Einzelne in seiner Gesamtheit gedacht, die Kraft, die allgemeine Form erschöpfe. Dies gilt von allen Formen des Lebens, da das nicht lebende kein selbstständiger Bestandtheil seyn kann. Was ist dies, das Einzelne im Kunstwerk müsse ein vollkommen in sich Gemeßnes und von allem Andern unterschiednes seyn? Daß alles andre dem Einzelnen analog und dazu gehörig sey. Das Verhältnis des Einzelnen zur Gattung ist different auf verschiednen Stufen des Seyns. Am Menschen fordern wir, daß jeder dieses ursprüngliche Geseztseyn auf eine von allen Andern unterschiedne eigenthümliche Weise [und] darin den gemeinsamen Typus darstelle. Schon in der Menschheit ist Unterschied zwischen verschiednen Völkern und Bildungsstufen. Dieses Individuelle ist in den einen mehr als in den andren; und wir sind in verschiednem Grade im Stande, das Eigenthümliche herauszufinden; so unterscheiden wir bey Europäischen Völkern leichter die persönlichen Individuen vom Nationaltypus als bey andern. In Italienern oder Spaniern unterscheiden wir dies besser als in einem Kolumbianer. Diese unsre Fähigkeit ist aber nicht das Maaß der individuellen Entwicklung, da bey größrer Bekanntschaft und Berührung, wir es doch auch da unterscheiden nur

81 | 82

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

153

als ein mehr sich verlierendes. Das Gemeßne des Einzelnen als freye Productivität besteht darin, daß die Gestalt, die der Künstler entwickelt und das Bild des Dichters seinen bestimmten Ort habe in der Gesamtheit des menschlichen Seyns und daß es ein Eigenthümliches sey. Das ist etwas andres, als wenn nur jedes Einzelne im Kunstwerk von andren unterschieden wäre, sondern es ist mehr nöthig. So bey untergeordneten Gegenständen; wo Baumgruppen sind, soll das Individuelle wie das Generelle dargestellt werden, z. B. ein bestimmter Eichbaum. So erscheint die Bedeutung der Kunst wieder in ihrem wahren Werthe als freye aus Selbstthätigkeit des Geistes hervorgehende Wiederholung dessen auf ideale Weise, was die Natur auf reale vor unsren Augen thut.* Bedenken wir, daß jeder Künstler [eine] besondre Art, Individualität ist und also auf eigenthümliche Weise producirt, daher man sie unterscheidet; | so hat jeder eine eigenthümliche Art, wie die Typen sich zum Einzelnen gestalten. Dies ist also Ergänzung der Natur, indem die Typen viel differenter vorkommen als in der Natur. — Wo nun das Einzelne zugleich das Ganze ist, wie bey einer Natur, da muß man die elementare und organische Vollkommenheit auf einander zurückführen, das gehört aber nicht in die allgemeine Kunstbetrachtung, sondern erst hin, wo wir von den verschiednen Künsten reden. — Dieses Gemeinsame ist aber nun in jeder Kunst auf eigenthümliche Weise: In [der] Mahlerey ist nicht die Form an sich der Bestandtheil, sondern nur die Form in ihrem Verhältnis des Zusammenseyns mit andren durch das Medium des Lichts. Das aber ist ja [die] Differenz zwischen Mahler und Bildhauer. Wir sezen die Betrachtung weiter fort. Wo das Einzelne in einem Kunstwerk in einem gewissen Zusammenhang mit der Wirklichkeit steht, da scheint nun doch der Ort der Anwendung unsres Merkmahls im andern. Wenn das Ganze etwas Historisches ist, so kommt Alles darauf an, wieviel davon wirklich gegeben ist. Die mythologischen Cyclen, welche die alte Tragödie behandelt, waren eigentlich nicht historisch, aber doch als Sagen schon auf gewisse Weise bestimmt; ein gewisser Charakter war da, aus dem ihre Helden nicht herausfallen durften, obwohl jeder

102

154

103

Ästhetik

82

bey jedem Dichter ein andrer war. Im historischen ist oft noch mehr fixirt; wenn von solchen Personen bekannte Abbildungen existieren, so muß man sich daran halten und doch muß darin freye Productivität möglich seyn. Der Einzelne ist doch Resultat der freyen Production, da der Künstler ihn nicht in wirklichen Momenten darstellt, sondern so, daß alle wirklichen Elemente sich aus dem dargestellten begreifen lassen. Das findet in Beziehung auf das Gegebenseyn keine Schwierigkeit, weil nie die Person in wirklichem Moment[, sondern] kunstmäßig erscheint. Immer ist Unterordnung des Wirklichen, z. B. von Raphael ist ein Freund als Violinspieler dargestellt*; ist denn das kein wirklicher Moment? Das Wirkliche ist dem Idealen untergeordnet, ist gewählt zwar in Beziehung auf [eine] Persönlichkeit, aber nicht dargestellt als ein bestimmter Moment musikalischer Darstellung, sondern er ist dargestellt, so daß ich sie in allen Momenten wieder daraus construiren kann, dies ist das Ideale, das Zusammenseyn alles Einzelnen. Bringt der Künstler eine Gestalt hervor, so muß sie eine in der gesamten Entwicklung des menschlichen Geistes gegebne seyn, und zwar eine, die eine Reihe von Momenten aus sich producirt, i. e. sie ist bestimmt gemessen in der Gesamtheit des menschlichen Seyns, und als bestimmt von allen andren unterschieden. Das ist auch das Ideale, denn in dieser einzelnen Gestalt erscheint der lebendige Typus selbst und zwar so, daß alle andern gewissermaßen daraus erkannt werden können; jede einzelne Gestalt muß symbolisch seyn, und auch wahr, i. e. [einen] Ort haben im Geist. Das zusammen ist das Ideale. Alles was aus Elementarer Vollkommenheit war, kann man auf dieses zurückführen, so verschieden es oft ausgedrückt ward, weil man nicht auf den tiefsten Grund zurückging. Dies führt auf den Begriff des Schönen zurück, der von Vielen allgemein gebraucht wird als Bezeichnung dieser Kunstvollkommenheit des Einzelnen, daß alles Dargestellte diesem Begriff entsprechen müsse. Den Ausdruck zu erklären, war schwierig: was er subjectiv sagt, sieht man leicht; ich nenne schön, was auf mich den Eindruck macht eines reinen, i. e. vom Verhältnis zu gebundner Thätigkeit geschiednen Wohlgefallens. Worauf aber

82 | 83

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

155

dieses Wohlgefallen beruhe, wird gar differencirt angegeben aber nicht befriedigend, z. B. Es sey die Einheit in der Mannigfaltigkeit usw. paßt auf ganz andre Gebiethe und Dinge ebenso gut. Dazu kommt noch, daß dem Ausdruck als auch [im] gemeinen Leben entstanden eine Beschränkung beiwohnt; er ist einerseits zu speciell, um alle Kunstgebiethe gleichmäßig zu umfassen, z. B. schöner Vers, schönes musikalisches Thema geht gänzlich aus der eigentlichen Bedeutung, da diese gänzlich an der sichtbaren Form haftet und anders wo nicht mehr dieselbe Klarheit herrscht. Der Mensch als Vorstellung kann nicht so anschaulich | schön heißen, wie als Bild. Dann gibt es auch für das Subjective so viele andre Ausdrücke, die doch auch von [einer] Einzelheit im Kunstwerk gebraucht werden wollen; z. B. Gestalt oder Darstellung in einem Kunstwerk sey rührend, bezogen auf einen subjectiven Eindruck, aber nicht so: Weil es rührend ist, gehöre es nicht in das Kunstwerk, sondern man meint eine Modification jenes reinen Wohlgefallens. Der Ausdruck Ideal hingegen kann eine Menge Modificationen enthalten, die sich nicht gleich stehen; hingegen schön und rührend wird man coordiniren und so sind viele Verwirrungen entstanden. So sagte man, es gebe zwey verschiedne Arten der Kunstvollkommenheit im Einzelnen des Kunstwerks, das Schöne und das Erhabne; das stellt man so als coordinirt und als zusammen den Begriff der Kunst erschöpfend. Das ist aber doch nicht der Fall; denn fragt man, wie sie sich gegen einander verhalten, so schließen sie sich auf gewisse Weise aus, aber doch so, daß sie beyde als Elemente im Kunstwerk bestehen, das Schöne ist nicht erhaben und umgekehrt. Soll aber dieses Ausschließen näher bestimmt werden, so geht die Noth an, und statt Erklärungen kommen große Schilderungen, die immer zeigen, daß ein eigentlicher Begriff nicht gefaßt ward. Warum sollten diese zwey Ausdrücke zusammen etwas erschöpfen? Man kann ja andre Ausdrücke dazwischen werfen, z. B. das Rührende, was man gleich als Drittes müßte gelten lassen, bis man das Schöne und Erhabne als eins und dasselbe darstellt. Wenn ein Philosoph wie Kant da muß rhetorische Schilderungen geben, so hat es gewiß mit der Sache keine Richtigkeit.*

104

156

105

106

Ästhetik

83

Schön hat engren Sinn in der gebildeten Welt, einen Begriff, der nur ein gewisses Kunstgebieth umfaßt, brauchen wir hier nicht. Schelling in einer Abhandlung, die [eine] bedeutende Stelle einnimmt aber als academische Vorlesung mehr rhetorischen Charakter hat, sagt, das Schöne sey das mangellose Daseyn, da aber die Abhandlung sich auf bildende Kunst bezieht, so beschränkt er den Begriff gleich auf diese.* Es wäre sehr wünschenswert, sagt er, diese Principien mehr aus der Natur abzuleiten suchen als psychologisch, was nur eine andre Einseitigkeit wäre, da wir ja von Identität der Natur und des Geistes ausgehen, also im absoluten Gleichgewicht dieser Einseitigkeiten. Dieses mangellose Daseyn ist allerdings ein Theil, aber nicht das Ganze unsres Idealen, sc. wenn die Form des Seyns nicht stark genug ist, sich im Stoff als Einzelnes darzustellen, so daß dieses jene representirt, so ist das ein Mangel, weil irgend eine Function zurückblieb, und dann ist das Schöne aufgehoben; so auch, wenn ein Bild die Verhältnisse zu andrem nicht erfüllt. Diese beyden Elemente haben bey verschiednen Nationen verschiedne Dignität; uns ist eine Frau schön, auch wenn sie klein ist, den Franzosen ist sie nicht belle, sondern jolie; beydes zusammen erst ist das mangellose Daseyn. Das ist aber nur die eine Seite unsres Idealen. Das Einzelne kann rein an sich zwar das Ideal representiren, aber wenn es in Verhältnissen dargestellt wird, wo es sich nicht geltend machen kann, so ist das Mangellose nicht aufgehoben, aber unsrer Forderung entspricht es nicht. So kann eine Gestalt eine nothwendige Modification des Tpyus [sein], [dann] hat man es das Charakteristische genannt und gestritten, ob das Schöne im Charakteristischen versinke.* Dies ist [ein] Mißverständnis und drückt die Sache nicht rein aus; denn versteht man unter Charakter [die] Beziehung auf gegebne Züge, auf Historisches, so ist das Charakteristische dem Schönen nicht wesentlich. Versteht man aber das, daß ein bestimmtes Verhältnis anschaulich wird zwischen der Einzelheit und den andren Einzelheiten, wie sie zusammen den Begriff erschöpfen, so ist das freylich wesentlich, braucht aber doch nicht dem Schönen zu entsprechen. Sehen wir nun auf das Erhabne, so schließt sich beydes von subjectiver Seite

83 | 84

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

157

betrachtet gewißermaßen aus; macht etwas den Eindruck des Erhabnen auf mich, so ist gemeint, ich soll nicht noch fragen, ob es schön sey, wogegen freylich etwas dem Schönen positiv Widersprechendes nicht den Eindruck des Erhabnen machen wird. | Man kommt darin überein, das Erhabne müsse etwas Überwältigendes haben, das Bewußtseyn dominiren, so daß man in Erhabenheit versinkt, nach Schönheit gar nicht fragen kann. Wie stellt sich das gegen unsre Auseinandersezung und besonders gegen das Ideale? Wir sagten, die verschiednen Formen des Daseyns wohnen dem Geiste ein, und machen sich als freye Productivität in der Kunstthätigkeit geltend. Aus diesen vorstellenden und bildenden Kräften geht das Einzelne hervor, und in diesem Act erscheinen diese Formen als geistige Ideen selbstständig. Aber doch wissen wir auch, daß sie zusammengenommen Ein Ganzes bilden und nur im Verhältnis zu einander eine Bedeutung haben; also ist immer [ein] Verhältnis zwischen den einzelnen Formen des Seyns mit allen andern in uns, mit denen sie in Wechselwirkung [stehen]. Denken wir eine solche Form, die überwiegend receptiv von andern bestimmt wäre, so könnte die freye Productivität nicht auf sie bezogen werden. Denken wir, daß diese Lebensform in ihrer Productivität in solchem Verhältnis zu den andern steht, daß das einzelne Seyn ohne alle Störung auf das Princip derselben bezogen werden kann, so stört keines das andre, und Kunst entsteht. Geschieht das so, daß z. B. eine Kraft das Zusammenseyn andrer mit ihr nicht gestattet, i. e. eine zerstörende, so würden diese wie die entgegengesezten aus der Kunst herausfallen. Nun gibt es Erscheinungen, wo die Selbstständigkeit des innren Princips, der bestimmten Lebensform sich so darstellt, daß das Daseyn der Erscheinung gedacht wird zugleich mit der Unmöglichkeit, daß sie durch etwas Andres überwältigt oder beschränkt werde, so fällt sie nicht aus der Kunst. Dieses positiv nicht überwältigt werden können macht den Eindruck des Erhabnen, der also seinen Ort hat zwischen der einzelnen Form, die Gestalten hervorbringt, und den übrigen. Also ist dieses Verhältnis gar nicht dem Kunstgebieth eigenthümlich, sondern ebenso gut im Gegebnen. Schroffer Felsen in das Meer und Brandung ist eine solche Entgegenwir-

158

107

Ästhetik

84

kung von Kräften, von denen die eine noch eine ruhende ist; das gibt Eindruck des Erhabnen, wenn ich denke, der Fels bleibe in aller Brandung. Gehe ich hingegen davon ab und denke, am Ende werde doch der Fels zerstört, so bekommt der Eindruck des Erhabnen, wenn er nicht verschwindet, einen andren Ort; nicht mehr daß der Fels fest steht, sondern daß unerachtet dieser zerstörenden Kräfte doch das allgemeine Verhältnis dasselbe bleibt; denke ich das Feste werde rein zerstört, ja so bleibt kein Eindruck des Erhabnen mehr. Der entgegengesezte Punkt wäre: Wir denken eine Form des Seyns in Hervorbringung des ihr entsprechenden Einzelnen, zu diesem rein Idealen denken wir nun mit, daß dieses Daseyn um sich zu erhalten, einer besondren Begünstigung bedürfe von den es umgebenden Kräften, so wäre dieses eigentlich Eindruck der Schwäche; überwiegt aber das, daß sich die bestimmte Lebenskraft im Einzelnen in gewisser Vollkommenheit äußert, so wird der Eindruck der Schwäche überwunden und es entsteht der des Zarten, Niedlichen, was dem Erhabnen entgegengesezt ist. Beydes sind Modificationen eines bestimmten Verhältnisses der productiven Kraft zu den andren. Diese Modificationen sind nun äußerlich in der Natur gegeben, denn da kommen beyde Seiten vor. Auf den geistigen Gebiethen gebe ich zwey Beyspiele die oft als normal für das Erhabne angeführt wurden: Stelle in Genesis: [„]Gott sprach es werde Licht und es ward[“].* Was ist denn das Wesen desselben? Da ist die Gottheit das agens und erscheint in ihrer Productivität. Worin liegt denn der Eindruck des Erhabnen, im Zusammenseyn von Sprechen und Geschehen oder gar in dem Licht, das das Resultat ist? Es muß der Zusammenhang zwischen Sprechen und Geschehen seyn, denn es erscheint die Kraft in Productivität als durch gar nichts hemmbar. Hernach aber in demselben Zusammenhang sind eine Menge Stellen, die dieses mit jener gemein haben; z. B. Hervorbringen von Kräutern usw. Das würde nicht das Erhabne? Liegt die Differenz darin, daß das eine Licht, das andre individuelles Leben hervorbringt? Nein, sondern bloß die Kürze des einen Aussprechens und [die] nothwendige Ausführlichkeit des Andern macht die Differenz. Der Eindruck verschwindet aber doch nicht bloß durch die Ausführlichkeit

84 | 85

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

159

und wird nicht an Brachylogie* gebunden seyn. Etwas | davon ist wahr, weil was die Gliederung nöthig hat, in seinen Theilen gegensäzlich bedingt und abhängig ist, das ist der eigentliche Grund. Ein andres ebenso oft angeführtes [Beyspiel] ist aus Calas von Voltaire: [„]Je crains Dieu et je nai point d’autre crainte[“].* Das ist erhaben, denn daß jenes eine Furcht ist, verschwindet ganz, weil Gott nicht äußerlich gegeben ist, sondern die Idee unser eignes Product ist, Gott fürchten ist eine in sich selbst abgeschloßne Bethätigung der geistigen Lebenskraft. Daß sie jede andre Furcht ausschließt, drückt aber das Unwiderstehliche aus, daß sie sich überall geltend macht. Ein andrer Punkt soll es deutlich machen. Wir schieden von Anfang [an] bestimmt die freye Productivität als Wurzel aller Kunstthätigkeit und die gebundne Thätigkeit derselben Function. Wenn wir nun den Eindruck des Erhabnen untersuchen und fragen, warum das Erhabne dann keiner Prüfung mehr auf das Schöne unterliegt, so ist es nicht, weil es ebenso erhaben ist, wenn es dem Schönen widerspräche; sondern theils weil es sich versteht, daß das Schöne darin ist, theils weil der Eindruck mich so afficirt, daß ich außer Thätigkeit gesezt werde. Da ist die äußerste Thätigkeit für [die] Kunstthätigkeit, und nur etwas mehr würde in die gebundne Thätigkeit fallen, da dieses Überwältigtseyn ein Zustand ist, der sich auf das wirkliche Leben mit bezieht. Träte dieses Verhältnis wirklich hervor, so wäre es kein Kunstwerk mehr; das Erhabne in Natur und Geschichte bliebe zwar, weil es hier seinen Ort hat, aber das der Kunst nicht. Dies ist also ein Grenzpunkt. So auf dem andren Ende, wenn das Zarte und Niedliche den Eindruck macht einer Begünstigung zu bedürfen von seiner Umgebung, um als schön fortzubestehen. Werde ich von diesem Eindruck so berührt, daß ich selbst ihm zu Hülfe kommen möchte, so geht dies in die gebundne Thätigkeit [über]. Es gibt nun in aller Kunst etwas, was dem reinen Princip widerstrebt, daß der Künstler auf einen Effect arbeite, d. h. in die Wirklichkeit in gebundne Thätigkeit herüberzieht. So ist das Rührende auch oft Kunsteindruck schlägt aber auch leicht auf diese Seite hinüber. — Elementare Kunstvollkommenheit wird also dieses seyn: Das einzelne (lebendige) Element ist insofern

108

109

160

Ästhetik

85

vollkommen, als das Ergebnis der freyen Productivität als eines einzelnen zugleich Representant seiner Lebensform ist und diese nicht nur in mangellosem Daseyn, sondern als eine wesentliche und bedeutende Modification desselben. Was dann das Einzelne [im] Zusammenhang mit dem Andern betrifft, so wird sich hier das Einzelne in gewissen Grenzen bewegen[,] als das maximum dieses Zusammenseyns, wenn das Einzelne bestimmendes Moment desselben ist, ist das Erhabne, als minimum in dieser Beziehung das Zarte oder Niedliche (je nachdem man mehr auf das ethische oder physische sieht). Jenseits der Kunst liegt auch jene Seite des Rohen und Wilden, auf der andren das Schwache und Unbedeutende als ausgeschlossen von Kunst. Immer ist zu unterscheiden der Gegenstand als der Natur angehörend und der in der Kunst; jener geht uns hier nichts an. Wenn Jemand schlösse, es könne ein reißendes Thier oder [ein diesem] ähnelnder Mensch gar nicht Gegenstand eines Kunstwerks seyn, so wäre das [ein] Schluß aus Natursache auf Kunstvollkommenheit. Das ist falscher Schluß; in gewissem Maaß zerstörend zu seyn, ist die Natur des reißenden Thieres, dennoch kann es Gegenstand der Kunst seyn, wenn nur das Maaß der Natur darin enthalten ist; so kann auch der Sturm und Schiffbruch dargestellt werden; denn das Zerstörende ist die Natur des Gegenstandes, nur wenn das Zerstörende in der Kunst als solcher läge, dann ist es nicht mehr Kunst; so wie wenn sie gerade ein Einzelnes in leidenschaftlicher Ungemessenheit nähme. Kunstdarstellung ist nicht an das einzelne Wirkliche gebunden, sondern an die innwohnenden Formen des Seyns bloß und stellt dieses kunstgemäß dar. Vergleichen wir, wie man sonst gewöhnlich das Schöne und Erhabne zusammenstellt, so entspricht es unsren Säzen nicht, denn diese würden das Schöne immer als die Annäherung an die Mitte zwischen diesem Erhabnen und [dem] Zarten darstellen; nicht aber beyde als die beyden Brennpunkte, sondern das Schöne ist einem Mittelpunkt zu vergleichen, das Erhabne einem Endpunkt, dem dann ein andrer, das Zarte, entsteht. Nun erst werden wir die Vollkommenheit des Kunstwerks als eines Ganzen weiter bringen, aber nur wie sie für alle Kunstzweige dieselbe ist. Insofern wir

85 | 86

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

161

das Kunstmäßige dem Kunstlosen in freyer Productivität gegenüberstellen, ist davon auszugehen, daß die Kunstlose Production den Charakter des Unbegrenzten hat, das Kunstmäßige aber ein vollkommen Begrenztes ist. Dagegen sahen wir | eine Einwendung von dem alten Epos her. Man kann auch andre Einwendungen machen. Z. B. In musikalischer Production gibt es viele mit Ruhepunkten, wo das Ganze zu Ende seyn könnte und doch nur ein organisches Theil endet. Gibt es da nun auch Beschränkungen? [Denken wir an eine] Composition die drey Säze habe, so ist da eine Beschränkung. Phantasirende Composition hat aber auch solche Ruhepunkte, wo es dann wieder anfängt, und am wirklichen Ende scheint es, man hätte auch fortfahren können. So scheint es unbgränzt, ähnlich ein Wandgemählde von solcher Größe, daß es successiv betrachtet seyn will. Es gibt nun solche, die doch durch [die] Einheit des Gegenstandes begränzt sind; es gibt aber auch solche, die man ebenso gut weiter hätte fortsezen können. In unsrem Saze war aber nicht überwiegend das äußre Begränztseyn gemeint, sondern überwiegend das innre, d. h. daß ein bestimmtes Verhältnis besteht zwischen jedem selbstständigen Theil des Ganzen und allen übrigen und daß alles durch diese Gegenseitigkeit der Beziehungen vollkommen bestimmt ist. Da kann man die Anzahl der Bestandtheile unendlich denken, aber sobald einer hinzu kommt, er in diese Beziehungen tritt und dadurch die andren etwas andres werden als eine neue Beziehung enthaltend. Diese äußre Unendlichkeit findet aber ihre Begränzung dann doch, wie wir später sehen. Es gibt einen vollständigen Gegensaz gegen das Kunstlose freyer Productivität wie es vom Traum beginnt und sich durch das Wachen fortzieht mehr oder weniger dunkel, bis es Conception wird. Denn dieses ist ebenso lose verknüpft und unbestimmt, nur vom Verhältnis der ganzen freyen Thätigkeit zur gebundnen überhaupt bestimmt. Die innre Bestimmtheit in allseitiger Gegenseitigkeit bildet den vollkommensten Gegensaz. Dieses in voller Schärfe genommen, scheint nun zu viel zu sagen, mehr als die Kunstwerke als ihren Ausdruck verlangen; denn genau genommen fordert ja der Saz, daß in einem Kunstwerk nichts andres sein kann, als es wirklich

162

Ästhetik

86

ist, ohne an Vollkommenheit zu verlieren, also das Merkmahl einer Nothwendigkeit unter Bedingung des Übrigen, i. e. wenn das Übrige so seyn soll, so kann das Einzelne nicht anders seyn als es ist. Dieser Maßstab scheint für das in der Kunst wirklich Gegebne nicht angemessen; man denke sich in [die] Entstehung eines Kunstwerks. In der Verfertigung, wo einige Theile schon da sind, überlegt der Künstler ja noch über andre Theile; aber die Beendigung der Überlegung ist doch nichts vollkommen Kategorisches, sondern man hätte sie fortsezen und dann ein andres Resultat erhalten können. So wie wir vor einem Kunstwerk stehen, muß es freylich, je vollkommner es ist, den Eindruck der Zusammengehörigkeit der Theile auf uns machen, aber gehen wir auf das Einzelne so gewinnen wir oft gar nicht ein bestimmtes Gefühl, daß das Kunstwerk verlieren würde, wenn dieser oder jener Theil anders wären. Das Merkmahl erscheint also als zwar fundamental, aber in gewissem Maaße verschiebbar in ein mehr oder weniger. Allein beydes verschwindet. Das erste betrachtend sagten wir ja, daß allerdings das innre Urbild nicht im ersten Moment der Conception schon ganz vollendet werde, sondern allmählich sich vollende und der Anfang der Darstellung noch Einfluss übe auf die weitre Fortbildung. Nur insofern als diese allmählige Fortbildung nun wirklich die vollkommne Darstellung ist von dem was im Moment des Anfangs der Empfängnis prädeterminirt war, ist das Kunstwerk vollkommen, und dann ist diese innre Fortbildung in Form der Überlegung nicht auf diesen Punkt gekommen oder darüber hinaus, so ist das Werk ein unvollkommnes, wenn auch die Unvollkommenheit ein minimum seyn kann, so daß man nicht immer bestimmt nachweisen kann wo es fehlt, da das Urbild nicht da ist. Das andre betrachtend, wie weit sich der Eindruck von Vollkommenheit des Ganzen ungestört in das Einzelne fortsezen lasse, ist ja Maßstab für die Kennerschaft des Beschauers, und der minder Kunstverständige wird immer Manches sich vorstellen, als anders seyn könnend, hingegen der Kenner weit weniger und wo er denkt es hätte etwas anders seyn können, wird das eine oder andre das Vollkommne seyn. Nun tragen nicht alle Theile des Kunstwerks dieses Ver-

86 | 87

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

163

hältnis im gleichen Grade in sich. Dieses führt auf einen andren | Unterschied in freyer Production, den des Werthes der einzelnen Theile für das Ganze. Einmahl kann man unterscheiden zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem und in jenem wieder zwischen Hauptsache und Nebensache. Was wir unwesentlich nennen können im Kunstwerk ist das, was man Beywerk nennt, als durch diese Bezeichnung vom eigentlichen Hauptwerk gesondert. Ein historisches Bild z. B. hat die Personen in ihrem Zusammenseyn zum Hauptwerk, ist etwa ein Hund dabey, so ist der Beywerk, das auch hätte fehlen können; ist er aber nun da in gewisser Begränzung seiner Ansprüche, so stört er nichts und diese für [die] Hauptsache indifferenten Füllungen sind Beywerk. So im epischen Gedicht sind [eine] bedeutende Anzahl mehr oder minder ausgeführter Bilder, Gleichnisse usw. Je weniger sie Hauptpunkte betreffen, desto mehr sind sie nur Beywerk, und die könnten oft fehlen unbeschadet der Kunst; aber eben weil der Charakter der Dichtung eine gewisse Breite verlangt, wie das Gemählde das einen gewissen Raum fordert, auch ein Erfülltseyn verlangt, so ist das Beywerk. Doch auch in den wirklichen Elementen des Ganzen ist different, daß die einen mehr beytragen zur Vollständigkeit des Ganzen als die andern, doch ist dies ein geringer Unterschied, da es sich mehr um ein mehr oder minder handelt. Aber doch bezeichnet er einen wirklichen Gegensaz, in den einen [Elementen] ist weit mehr das Bestehen den Forderungen der technischen Vollkommenheit übergeordnet, ist die Bestimmung durch die Aufgabe selbst [gesezt], und [in den] andern wo die Bestimmungen durch [die] Forderungen der technischen Aufgabe überwiegen. So sind Haupttheile und Nebentheile, und diese zusammen wieder verschieden vom Beywerk. Dennoch schließt unser Merkmahl das Beywerk gar nicht aus. So sind offenbar in jedem Kunstgebieth Gattungen, welche weniger Beywerk zulassen, andre, die mehr postuliren, so daß in diesen wenn es sparsam ist, sie dürftig erscheinen, jene wenn viel ist, überladen, oder aus dem Charakter ihrer Gattung herausgehen. Daraus folgt, daß diese Elemente als solche in den Begriff des Kunstwerks hineingehören und diesem etwas fehlt, wenn sie nicht in dem Maße, welches

164

110

Ästhetik

87

die Gattung fordert, vorhanden wären. Dieses scheint insofern willkürlich als ich mich auf ein vorausgeseztes Urtheil berufe. Die Begründung ist aber nicht schwer zu geben. So wenn wir denken, das Kunstwerk ist mit [der] Tendenz auf das Heraustreten von Anfang an concipirt und entwickelt worden, so muß das Auffassen des Kunstwerks sich verhalten in dem der davor steht, nicht wie eine freye Productivität, sondern wie eine gebundne Thätigkeit. Vor jedem zieht sich ein Spiel der freyen Productivität hindurch, und je mehr nun der Beschauende in dieser gebundnen Thätigkeit begriffen ist, wird dieses freye Spiel, dessen er sich nicht erwehren kann, auch in der Analogie mit dem seyn, was ihn eben beschäftigt; kann es außerhalb desselben versieren, so übte das Kunstwerk nicht seine Kraft, oder der Beschauende hätte noch nicht die Entwicklung es aufzufassen. Das Beywerk hat nun gerade die Bestimmung, diese freye Productivität zu binden und nun etwas außerhalb des Hauptwerks hinzustellen, das aber immer wieder auf das Hauptwerk zurückführt, und das ist es, was das Beywerk leistet, wenn es verständig und kunstmäßig sich zum Ganzen verhält. Stellen wir dieses fest und geben uns dann noch zu, daß es in der Kunstproduction selbst verschiedne Grade gibt, die dem Werthe des Kunstwerks nicht Abbruch thun, aber doch eine Abstuffung, so läßt sich damit die Vorstellung vereinigen, daß eine Differenz dabey sey, daß das eine eine vollkommne Gebundenheit des Ganzen durch die Theile darstellt, und [das] andre, wo dies in minderem Grade, ohne daß der Werth einer jeden Art verliere. Die Vollkommenheit des Kunstwerks im Ganzen besteht also aus begränzt verbundnen Einzelheiten. In den verschiednen Künsten verhält sich dieses verschieden. In Sculptur hat die Gestalt keine abtrennbaren Theile und so fällt die Vollkommenheit des Einzelnen und Ganzen so weit zusammen. Dehnt man sie zur Gruppe aus, so ist jede Einzelheit durch alle andren bedingt und das ist die innre Begrenzung. Da stießen wir auf das Beywerk. Auch dieses hat in den verschiednen Gattungen verschiednes Verhältnis. Ein strengrer Styl verträgt weniger, ein laxerer fordert es mehr.* Untergeordnet gilt dasselbe von [der] Differenz der Gat-

87 | 88

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

165

tungen. | Im strengen Styl prägt sich dieser Gegensaz am stärksten aus; der mehr reiche, üppige Styl hat dessen mehr, und so kann sich der Gegensaz verlaufen bis er fast sich ausgleicht und schon zu sagen ist, was wesentlich und was Beywerk ist. Da scheint der Begriff sich wieder aufzulösen. Das rührt daher, weil jenes gegensäzliche Bestimmtseyn durch einander, nicht überall gleich zu verstehen ist. Der Begriff Vollkommenheit in einem Kunstwerk wo beydes in einander zerfließt, gestaltet sich daher negativ, daß wir bey dieser latitudo nichts als ein fremdartiges uns störendes zulassen. Je zusammengesezter der Charakter einer Kunst desto schwerer ist die Vollkommenheit als Ganze zu bestimmen; und daher rührt die große Verschiedenheit der Kunstwerke und [die] Verschiedenheit des Geschmacks. Rechtfertigt sich also die Beschaffenheit des Begriffs so, so schwinden die Einwendungen, z. B. In unsren Untersuchungen über den Begriff Kunst in Anwendung auf die Zweige und bildende Kunst in Sculptur und Mahlerey durch den Begriff der Kunst unterschieden, da hatte es Sculptur allein mit Darstellung der Gestalten zu thun, Mahlerey mit [der] Differenz des Lichts an den Gestalten; so ist das ein solch zusammengesezter Begriff; daher in diesem Gebieth die Vollkommenheit des Ganzen, daß die einzelnen Theile durch das Ganze bestimmt seyn, different gefaßt wird. Der eine verlangt es mehr von der Gestalt, der andre von den Beleuchtungsverhältnissen; jener sucht die Vollkommenheit in [der] Gruppierung, dieser im Colorit und Beleuchtung. Da gehen beyde von verschiednem Maßstabe aus, und das gilt nicht nur von Beschauenden, sondern auch von Künstlern, da der eine mehr diese, der andre die andre Vollkommenheit erreicht. So in der Poesie, wo auch solche Duplicität ist. Was in Mahlerey die Gestalten sind, sind da die Gedanken, Manifestation der freyen Productivität, dort im Bild, hier in Vorstellung; was dort Lichtverhältnis, ist hier Verhältnis des Gedankens auf die Sprache. Da ist nun dieselbe Verschiedenheit; es ist eine Construction aus zwey Mittelpunkten wie eine Ellipse, wo [die] Entfernung von jedem Punkt das Verhältnis bestimmt. Die Bedingtheit der einzelnen Gestalten durcheinander ist different, wenn der Dichter überwiegend auf Vorstellungen

166

111

Ästhetik

88 | 89

geht, oder überwiegend auf Darstellungen der Sprache. Sagt man dieser ist ja kein Dichter, sondern ein Sprachkünstler, so ist dieses bloß wahr, wenn dieses so überwiegt, daß die Gedanken nur da sind um der Verse willen, wie Figuren um der Lichteffecte willen. Ist hingegen noch lebendiges Verhältnis zwischen beyden, so kann die Differenz sehr groß seyn und doch das Kunstwerk nicht untergeordnet. Verfolgen wir den Begriff des Beywerks noch weiter, so ist zu sagen: Was in jeder Kunst Beywerk ist, muß doch in das Gebieth der Kunst selbst gehören, sonst dürfte es nicht da seyn, also ist kein wesentlicher charakteristischer Unterschied zwischen dem was wesentlich und dem was Beywerk seyn kann; denn so wie etwas in die Kunst selbst gehört, muß es auch können an und für sich heraustreten. Sagen wir z. B. Es gibt in der Mahlerey gewisse Gattungen, wo das Architectonische mit zu dem Bilde gehört und andre, wo es als Beywerk erscheint; so die thierischen Gestalten; so finden wir gleich eine Gattung, wo architectonische [Gestalten] Hauptsache ist und Figuren Beywerk, und Gattungen, wo thierische Gestalten Hauptsache und menschliche nur Beywerk. Der Begriff hing also gar nicht am Gegenstand, sondern bezieht sich bloß auf die Form. An Architectur gibt es Verzierungen, die man Arabeske nennt und die sind da Beywerk, ist also Architectonisches in einem Gemählde selbst nur Beywerk, so hat es in sich wieder Beywerk.* Darum muß aber die Arabeske auch als selbstständiges Kunstwerk erscheinen können. In Poesie ist ein Gleichnis oft bloßes Beywerk und wenn auch als Nebengedanke, so muß es auch als ein besondres Kunstwerk heraustreten können, und viele kleine Arten der lyrischen Poesie sind gerade das Selbstständige dessen, was in größrer Poesie nur Beywerk. — Ja wenn wir auch im Allgemeinen unterscheiden zwischen dem eigentlichen Kunstgebieth und dem uneigentlichen, wo Kunst nur an einem andren. | So sind Elemente aus der schönen Kunst in einer Geschäftsrede nur Beywerk, da der Zwek auch ohne dieses erreicht würde. So kommen wir wieder auf jenes oben Verworfne, das sich hier erst bestimmt: die schöne Kunst sey nichts andres als ein für sich heraustretendes Beywerk. Sondern wie in diesem

89

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

167

Beyspiel das Musikalische in Sprache und [das] Mimische im Vortrag, so ist jedes ein Beywerk, und daher muß es auch selbstständig hervortreten können. Dieses entsteht nun daraus, daß die freye Productivität nicht an sich, sondern nur im Verhältnis zur gebundnen Thätigkeit beym Einzelnen gedacht werden kann; wo die gebundne Thätigkeit überwiegt, da sieht man die Kunst als ein für sich heraustretendes Beywerk zur gebundnen Thätigkeit an. Bestimmt die Metaphysik das Wahre und Gute als Element welches durch das Wissen und [die] Sittlichkeit bestimmt ist und das Schöne als freye Productivität, so hält sie nur jene für wesentlich und das Schöne für Beywerk, das dann für sich heraustrete. In der Folge finden wir noch eine andre Anwendung zwischen Beywerk und Wesentlichem, wo die verschiednen Künste gegen einander zu bestimmen sind. — Jezt führt es mich auf eine andre allgemeine Betrachtung. Wenn wir uns nun denken, daß was in einem Kunstwerk von größrer Bedeutung nur Beywerk ist, als Kunstwerk unabhängig für sich heraustritt, kann das in demselben Sinn Kunstwerk heißen wie jenes? Das ist nicht möglich sie gleichzustellen, wenn man das Verhältnis so erkannt hat; denn bestände die Kunst ganz und gar nur aus für sich herausgetretnem Beywerk, so wäre sie nicht dasselbe und gleichsam nur dazu da, um an einem Andern zu seyn. Aber in welchem Verhältnis stehen sie, das Beywerk in einem größren Werk und das selbstständig heraustretende Beywerk? Offenbar ist das leztre doch nur um des erstren Willen. Wenn wir vom Begriff der freyen Productivität ausgehen, als freyem Hervortreten dessen, was auch in gebundner Thätigkeit wie wohl unter [der] Form der Receptivität wahrhaft innre Thätigkeit ist, also ihre eigentliche Bedeutung im geistigen Leben hat, so kann, so wie einmahl das Merkmahl anhaftet, etwas nur als an einem andern zu denken, es eigentlich nicht mehr gefaßt werden als ein zum unabhängigen Hervortreten bestimmtes? Die Bedeutung für sich herausgetretnen Beywerks, obgleich es nur Kunstwerk wird, ja und wenn es auch in sich einen absoluten Werth hat, ist doch nicht gleich wie das der ursprünglich freyen Production; denn jenes ist im Ganzen der Kunst nicht um seiner selbst,

168

112

Ästhetik

89 | 90

sondern um eines Andren willen. Das meint man wenn man ein Kunstwerk ein Studium nennt; und das führt auf [die] Differenz zwischen eigentlichen Kunstwerken und zwischen Studien. Die leztren können allerdings einzeln als Kunstwerke an sich betrachtet werden[,] wollen wir sie aber in der GesamtKunstthätigkeit des Künstlers betrachten und als sein eigentliches Werk ansehen, so stellen wir ihn bedeutend herab, unerachtet wir dem Werk an sich absoluten Werth zuschreiben. Ein Künstler der nichts gemahlt als noch so vollkommne Arabesken, ja so ist nicht der eigentliche Kunstgeist in ihm, da dieses darauf deutet, daß es nur an einem Andern seyn will. So läßt sich ein Landschaftsmahler oft die Figuren von einem Andren machen, und wäre dieser ein solcher, der sich nur dazu gebrauchen ließe, Landschaften zu füllen, so würden wir ihn auch so taxiren. Vom Künstler fordern wir, daß seine freye Productivität in einem solchen Gebieth sich zeige, wo nun gegenüber derselben Function in der gebundnen Thätigkeit doch ein wesentlicher Inhalt ist, so daß aber Kunst Ergänzung und Vervielfältigung der Natur ist und eine wesentliche Modification der Formen des Seyns. Das kann man von Kunstwerken nicht sagen, die nur herausgetretne Beywerke sind. Als Kunstwerk können sie vollkommen seyn, als Thätigkeit des Künstlers aber dürfen sie untergeordnet nur seyn. Die Dürersche Arabeske als Ränder zu Kunstwerken sind absolut vollkommne Kunstwerke. Hätte Dürer nichts andres gemacht, so wäre er doch kein vollkommner Künstler.* Hier machen wir eine bestimmte Differenz. Ein ganz verschiednes ist der absolute Werth eines Kunstwerks als solches und der Werth desselben als Thätigkeit des Künstlers. Es ist nothwendig, daß die Thätigkeit des Künstlers sich so differenciert, daß einige Studium sind, andre Kunst. Ohne jene Vorübung wird er es nicht zur Kunst bringen. Nun gibt es aber Werke, die man als beydes ansehen kann und der Gegensaz verschwindet. | Solche Werke sind also um eines Andren in der Kunst selbst willen, d. h. Studien, und in jeder Kunst wird es solche geben, die einen bedeutenden Theil der Masse ihrer Producte ausmachen. In der Musik ist ein Canon nichts andres als ein contrapunctisches Studium. Jeder der Künstler werden will, muß

90

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

169

es als Übung hervorbringen, weil die Regeln des Verfahrens sich daran am besten zeigen und beurtheilen lassen. In der Poesie ist das Epigramm eine solche Gattung. Es kann für sich Kunstwerth haben; bringt einer nur Epigramme hervor, so stellen wir ihn als Dichter auf niedrige Stufe, denn für den wahren ist das Epigramm nur ein Studium nicht bloß für Versification, sondern für Combination. In einem größren Gedicht soll zwar nie ein Epigramm sich herausschmücken, dennoch wird sich zeigen an gewissen Punkten, welchen Einfluss dieses Studium hatte, an Stellen, wo solche Spitzen sind, wie im Epigramm. Auch in der Mahlerey gibt es neben den allgemeinen auch noch Studien zum Behuf eines bestimmten Werkes, die auch ihre Vollkommenheit haben können, so daß man ohne die Geschichte des Entstehens zu kennen, es nicht als bloßes Studium erkennen könnte, z. B. von historischen Gemählden mahlt der Künstler oft bedeutende Köpfe besonders, die sich als Portrait darstellen, bis man historisch weiß, es ist ein Studium auf dieses und jenes Bild. In der Architectur nun ist ein bestimmter Zusammenhang mit dem gemeinsamen Leben, [sie] hat also eine Bestimmung; und da kann man gewisse Aufgaben zwar als Studium behandeln, aber doch so, daß sie als eigentliche Werke da sind, und mehr nur für ihr Studium. Auf diesem Gebieth ist das Minimum dieses Unterschieds, der die Selbstständigkeit des Werks betrifft. — Nun gibt es noch einen andren, nicht in allen Gebiethen gleich, den Unterschied zwischen Skizze und Kunstwerk. Man könnte denken, das gehöre nicht in [die] allgemeine Betrachtung, sondern in die bildende Kunst und zunächst in Mahlerey, aber das Analogon findet sich in allen Künsten. Es beruht darauf, daß das innre Urbild von dem Moment an, wo es eine Conception ist, also auch [die] Entscheidung es darzustellen, doch noch ein innres Werk ist und allmählig nur zur Vollkommenheit gelangt. Dieses sahen wir jedoch geschehen im Zusammenhang mit der äußren Ausführung selbst. Das innre Urbild des Künstlers läßt sich also auf verschiednen Punkten fixiren. Fixirt es der Künstler nur auf einem Punkt, wo weder das innre Urbild, noch [die] Ausführung ihre Vollständigkeit in allen Theilen hat, so nennt man das eine Skizze. Diese

170

Ästhetik

90 | 91

sind oft auf solchen Punkten der Ausführung, daß nur der Kenner es vom Kunstwerk unterscheidet, besonders in der Mahlerey. In andren Künsten hat es hier und da Schwierigkeit, und [Skizzen] kommen nicht in allen Zweigen so zur Wirklichkeit wie in der Mahlerey. Der Punkt ist aber überall da, und überall von gewisser Bedeutung. Dieses allmählige Werden des innren Urbilds ist wie in der Natur überall nicht eine gleichmäßige Bewegung, sondern eine mit bestimmten Differenzpunkten, i. e. Entwicklungsknoten, wo eine neue Stuffe der Entwicklung angeht. Das sind nun Punkte, wo sich das Werk skizzieren läßt, während andre Punkte noch unvollständig sind. Je mehr dieses dem Anfang zu liegt, desto unvollkommner die Skizze, gegen das Ende hin kann sie so vollkommen seyn, daß nur noch die lezte Hand fehlt. In der Poesie sind die meisten Schwierigkeiten. Das innre Werden des Urbildes kann wohl gedacht werden, aber sollte es versificirt sich äußern, so scheint dann nichts mehr veränderlich; denn soll die lezte Hand noch an die Versification kommen, so ist diese eben als noch nicht fertig erklärt. Dennoch gibt es viele Darstellungen in [der] Poesie, die man nur für Skizzen halten kann, ob sich die Dichter desselben bewußt sind, ist eine andre Frage und | fällt in die specielle Betrachtung. — Wir berücksichtigen noch die Differenz zwischen einem ganz freyen Werk und einem gelegentlichen; ein sehr bedeutender Unterschied. Wie vom eigenthümlichen Wesen der Mahlerey die Rede war, war aber diese Richtung auf die Gestalt und Lichtverhältnisse als freye Productivität das, was der Mahler macht und beständig in ihm thätig sey, bis er Punkte als Urbilder fixiert. Diese innre Thätigkeit ist ganz unabhängig vom Gegenstand. Fragt man, woher diese komme, so gibt es viele Fälle, wo dem Künstler der Gegenstand gegeben wird, und andre, wo derselbe nie das Product seiner innren Thätigkeit ist. Gingen alle Werke so frey hervor und beschränkten sich überwiegend auf Gegenstände einer bestimmten Art, so müßte man eine bestimmte Richtung des Künstlers zu diesen Gegenständen hin voraussezen; während doch oft dieselben gegeben sind, z. B. die christliche Mahlerey hat Gegenstände der heiligen Geschichte. Da könnte man leicht schließen, die Bestimmung dieser Gegenstände ent-

91

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

171

stehe im Künstler aus besondrer religiöser Gesinnung; sieht man sie aber auch heidnische religiöse Gegenstände behandeln, so verschwindet der Schluß. Vom persönlichen Verhältnis des Künstlers zu seinen Gegenständen muß man unterscheiden, wo diese aus ihm selbst hervorgehen und wo sie ihm gegeben sind. Das leztre ist ein gelegentliches Werk. Das ist dem Künstler nicht als Ganzes aus Einem innren Moment hervorgegangen, obgleich man einen innren Moment abwartet, wo derselbe mit seiner innren Thätigkeit Eins wird, aber gelingt ihm auch dieses, so ist doch das Werk nicht rein aus seinem innren Moment hervorgegangen. Betrachten wir die Kunstthätigkeit in ihrer geschichtlichen Entwicklung und finden Perioden, wo gewisse Gegenstände dominiren und andre, wo andre, so hängt das schwerlich so zusammen, daß dieses Differenzen seyen nur in den Künstlern selbst, sondern im Gesamtleben, das den Künstlern zu verschiednen Zeiten verschiedne Gegenstände gibt. Nimmt man in [der] Mahlerey die relgiöse Periode[,] dann die des französischen Geschmacks, so liegt die Differenz in der herrschenden Richtung im Gesamtleben, das zeigt sich besonders in allen Kunstwerken, die den Künstlern gegeben wurden, was man freylich nicht allen ansieht. Es gibt in allen Künsten Werke vom größten Charakter, die doch nur solche gelegentlichen sind, aber ebenso eine Masse von kleinen Productionen, die nur solche Gelegenheitswerke sind. Die Dignität des Kunstwerks hat also mit diesem Unterschiede gar nichts zu schaffen. Ein heiliges Gemählde, ob dem Künstler aufgegeben, oder rein aus ihm, darf sich gar nicht unterscheiden. Das alte Drama war an festliche Zeiten gebunden und [durch] Concurrenz eröffnet, also ist Gelegenheitswerk; [die] Vorstellung dieser bestimmten Zeit und dieses Concurrenzverhältnis hat es hervorgerufen. In spätren Zeiten gaben die Accademien Kunstwerke auf, also Gegenstand und Gattung und da fordert man, daß es ein vollständiges Kunstwerk seyn soll. Daraus folgt nun schon, daß wenn man denselben Unterschied in kleinen Productionen sieht, man nicht deswegen sagen kann: Das ist Gelegenheitswerk oder Gedicht, da muß man nicht viele Ansprüche machen, sondern sie sind derselben Vollkommenheit fähig und sollen sie auch ha-

172

Ästhetik

91 | 92

ben. Betrachten wir ihre Genesis, so schließt dies das Verhältnis auf, in dem der Künstler steht zum ganzen gemeinsamen Leben in dem seine Kunstthätigkeit versiert. Wir müssen verschiedne Fälle unterscheiden. Am entferntesten vom Hervorgehen des Kunstwerks aus rein innrem Moment des Künstlers ist der Fall, wo ihm der Gegenstand von einem Andren aufgegeben wird in irgend einer bestimmten Beziehung. Da muß er sich hineinversezen und in einer bestimmten Zeit vollbringen; da kommen äußre Impulse vom ersten Anfang an bis zum lezten Ende. Fragen wir, erscheint nicht dadurch der Künstler auf untergeordneter Stellung, | macht er sich nicht zum Werkzeug eines Andern der doch hier weniger versteht und producirt eigentlich diesen[,] nicht sich selbst? Auf diese Spitze kann man es treiben, daß der Besteller den Entschluß eigentlich zu machen scheint, der Künstler nur die Ausführung, z. B. ein Componist muß oft die Kräfte der Aufführenden berücksichtigen. Dadurch erniedrigt sich der Künstler aber nicht; hingegen wenn in dem, was ihm gegeben wird, etwas im Widerspruch ist mit seiner eignen Kunstthätigkeit und er läßt sich es gefallen, dann steigt er von seiner Würde herunter; wenn er aber nur eine Ahndung hat, daß es so seyn könne, erniedrigt er sich nicht, und da der Bestellende nie die Vorstellung so fix hat, so hat der Künstler noch Spielraum. Grenzpunkt ist, daß der Künstler seine Freiheit nie aufopfere, sonst übt er nur das für ihn betrachtet eigentlich Mechanische. Selbst wo der Künstler Organ eines Andern ist, ist noch zu unterscheiden. Elemente aus verschiednen Zeiten zusammenzustellen, würde man geschmacklos nennen; früher aber fand das keinen Anstoß. Vergleichen wir die Künstler jener Zeit mit den unsrigen, warum gibt jezt Anstoß, was damahls nicht? Das liegt im Einfluss des Gesamtlebens auf die künstlerische Praxis selbst. Ein Gemeinwesen verlangt ein solches Kunstwerk für ihre Frömmigkeit, die darin zugleich dargestellt seyn sollte. Dieses ging durch das ganze religiöse christliche Leben hindurch, hatte also Einfluss; wäre jenes jezt noch, so hätte es jezt noch Einfluss. Die Veränderung ging nun nicht bloß etwa von Veränderungen des Geschmacks aus, sondern von geänderten Überzeugungen überhaupt. Dennoch

92

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

173

würde der Künstler nicht rein aus sich zusammenstellen, was nicht zusammen da seyn könnte, z. B. Personen des Neuen Testaments und spätre Heilige; nur wenn eines allgemein anerkannt war, braucht es der Künstler als gegeben, und fällt doch in [das] Gelegenheitswerk. Gelegenheitswerk ist, was dem Künstler von Außen her gegeben wird; aber wie wenn das eigne Lebensverhältnis des Künstlers selbst der Gegenstand ist? So ist es doch vom Einfluss der gebundnen Thätigkeit her; und dies fällt zusammen, ob von des Künstlers oder einer andren Subjectivität aus. Gibt sich der Künstler einem solchen Impuls hin, so wird er von der Composition ergriffen und so steigert sich die Forderung, die wir an jedes Gelegenheitswerk in Beziehung auf ursprüngliche Composition machen. Von der entgegengesezten Seite aus sagen wir: Wie dort die Darstellung des Künstlers vom Gesamtleben aus auf eine Art bestimmt wird, wie sie vom Künstler selbst aus es nicht würde, fragen wir: Wie ist es, wenn der Künstler Compositionen macht, die mit dem, was im gemeinsamen Leben gilt, nicht in Zusammenhang stehen? Das zerfällt in zweyerlei, er kann componiren auf eine Art, daß man keine Veranlassung in dem was im öffentlichen Leben gilt, irgend finden kann, aber auch so, daß eine Composition im Widerspruch steht mit dem was im öffentlichen Leben gilt. Wie verhalten sich beyde unter sich und beyde zusammen zur Kunst? Es findet überall zweyfaches Verhältnis statt zwischen dem Einzelnen und seinem Gesamtleben 1.) der Einzelne ist unter dem Gesamtleben befaßt und in allen seinen Bewegungen vom modus des Gesamtlebens gehalten. Je mehr dies ist, desto weniger persönliche Eigenthümlichkeit ist in seinen Bewegungen, i. e. desto mehr gehört er der Masse an; und sind sie nicht nur dem Gehalt nach bestimmt durch die allgemeinen Lebensbewegungen um ihn, sondern werden sie von diesen hervorgerufen, er von diesen dazu hingerissen, so gehört er zur Masse. 2.) Der Einzelne übt einen Impuls auf sein Gesamtleben [aus], sonst könnte keine Veränderung in diesem entstehen. Eine Veränderung im Gesamtleben muß irgendwo anfangen und zwar nicht gleichmäßig überall, sondern zuerst von einzelnen Punkten aus, die

174

113

Ästhetik

92 | 93

also den Einfluss auf das Ganze geübt hatten. Wenn wir einen Künstler durch seine ganze Production verfolgen und als Resultat finden, daß | alle seine Werke gelegentlich sind, insofern sie ihren Impuls vom Gesamtleben aus haben, so hängt [damit] zusammen, daß er immer von besondren Umständen aus bestimmt ward. Da ist ein Künstler aber doch in seinem Lebenscharakter der Masse angehörend, was seiner Künstthätigkeit wie seinen übrigen Handlungen anhaftet. Denken wir den Künstler aus sich selbst heraus producirend, so daß man darin seine persönliche Eigenthümlichkeit findet aber immer im Einklang mit der des Gesamtlebens i. e. mit dem herrschenden Geschmack, so ist sein politischer Einfluss auf die Gesamtheit gleich Null, von ihm aus entsteht nichts Neues im Gesamtleben, wenn auch alle seine Productionen rein in ihm selbst entstanden sind, er steht unter dem Einfluss des Gemeingeltenden. Nun die Fälle, [in] denen [die] Production sich nicht aus dem Gemeingeltenden erklären läßt; sind diese immer Zeichen einer neuen Richtung, die die Kunst nimmt? Offenbar nur, insofern sie sich geltend macht, also eine solche unter den ersten einer Reihe ist, die ihm nachfolgen. Je mehr sich anschließen, desto mehr hört das bisher Herrschende auf und ein Neues macht sich geltend. Da sind viele Fälle. Es kann in Vielen Abweichung vom Herrschenden seyn, aber sie sind nicht in Einheit. Das entsteht, wenn das Verhältnis zum Gesamtleben gleich Null, denn wenn dieses keine Gewalt hat über zersplitterte Erscheinungen, so hat es überhaupt keine Gewalt, und die Beziehung der Kunst auf das Gesamtleben hört auf, i. e. sie verliert ihren öffentlichen Charakter, z. B. Die erste Periode der modernen Mahlerey war überwiegend religiös; daneben existirten auch Kunstwerke, die ihre Gegenstände im Alterthum hatten, was mit einer allgemeinen Weltrichtung zusammenhing[,] mit [der] Wiederherstellung der Wissenschaften des Alterthums.* Das Religiöse war das populäre, dieses nur für die Classen, für welche die innre Richtung entstand. Nun verfiel das Religiöse, weil es meistens in den Ständen verschwand, die eine Empfänglichkeit für Kunst hatten. Das als Kunstwerk ganz verwerfliche Produciren dieses Gebiethes[,] Legenden cet.[,] hat nie aufgehört. Dafür entstand ein Andres,

93 | 94

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

175

was sich nur bey Einzelnen und im Privatleben geltend machen konnte. Das der Charakter der französischen Kunst die sich nun neue Gegenstände machte, sc. ein willkürliches allegorisches Gebieth in Beziehung auf Begebenheiten die nur für gewisse Kreise Interesse hatten, und eine Anwendung des Mythologischen ganz aus der des Alterthums herausgehend. Das war nur ein Zeichen vom Verfall der Öffentlichkeit der Kunst ohne daß je ein neues Kunstleben daraus entstanden wäre, weil es nie in das öffentliche Leben überging, sondern Decoration für die Vornehmen war, was mit [dem] Verfall des Gesamtlebens überhaupt zusammenhing im Zeitalter Louis XIV.* — Ein andrer Fall ist, wo das vom Herrschenden Abweichende Zusammenhang hat und Geltung gewinnt, aber eher ein Verfall ist als eine Verbesserung in [der] Gestaltung der Kunst. Im Großen betrachtet läßt sich das nicht als etwas eignes darstellen, ein solcher Verfall kann nicht als einzelne Periode gelten, sondern einerseits hängt er zusammen mit Unvollkommenheiten in der Kunst, die früher leichter übersehen wurden, weil durch andres überwogen. Tritt dann [ein] Verfall des Gesamtlebens ein und Kunst ist nicht mehr in Zusammenhang mit demselben, so bleibt nur, was früher die an den bessren haftende Unvollkommenheit war, aber nur insofern ein Interesse an der Kunst fortdauert. Das finden wir in der Poesie, wenn wir die Zeit der Meistersänger mit der der Minnesänger vergleichen. Das Unvollkommne was dieser anhaftete consolidierte sich unter jener, sc. die Art wie der Inhalt unter [der] Gewalt der äußren Form stand, als Mangel von Herrschaft über die Sprache. Wäre nicht ein äußres Interesse gewesen, ein Verlangen die Sprache in poetischer Form fortdauern | zu sehen, so hättte die Poesie eher aufgehört, als sich lange so erhalten. Auch hier gingen Einzelne voran und übten also Einfluss um einen Verfall hervorzubringen. Nun das Entgegengesezte. Die Anfänge einer wirklich neuen Richtung eines neuen Lebens in einem Kunstgebieth. Ist dergleichen möglich in einer Zeit, wo es noch eine lebendige Kunstproduction gibt unter Potenz des herrschenden Typus im Gesamtleben? Dies hat große Unwahrscheinlichkeit. Wer es behauptet, verkennt gewöhnlich den vorhergehenden Zustand. Das Vorherrschende in

114

176

115

Ästhetik

94

der Kunstgeschichte ist doch, daß der frühre Charakter irgendwie Null wird oder dem nahe, ehe sich ein neurer entwickeln kann. Das Entgegengesezte ist kaum möglich ohne einen so bestimmten Gegensaz, durch welchen das Alte als nicht mehr herrschend und das Neue als noch nicht herrschend [sich] zeigen könnte; und so kann ehe das Frühre seine Kraft verlor, das Neue nicht aufkommen als herrschend. Unsrer Poesie in [der] Mitte des vorigen Jahrhunderts z. B. gedacht, da war eine Zwischenperiode zwischen ihr und zwischen [der] Zeit der Meistersänger.* In dieser gab es Poesie, hin und wieder trefflich, wenn gleich an Sprachunbeholfenheit leidend, sowohl religiös als politisch. Aber der nationale Zustand war so, daß dieses nicht zu eigentlicher Geltung kam. So folgte dieser Zustand des vorigen Jahrhunderts eigentlich auf einen Verfall, wo Kunstthätigkeit vereinzelt war. Diese neure Periode war nur Nachbildung des Französischen, was überhaupt statt fand im Leben, auch als Corruption der Sprache schon herrschend, wie im vornehmen und gemeinen Leben. Diese Nachahmung kann [man] doch eigentlich nicht eine Periode des Deutschen Kunstlebens nennen, aber es war die Art, wie sich ein allgemeiner Verfall im Gesamtleben zeigte auch in der dichterischen Production. Entstand dann eine neue Richtung, so trat dieselbe nicht eigentlich als Gegensaz auf, da diese Nachbildung eher Null oder minus als etwas Positives war, das Verhältnis der Künstler zum Gesamtleben war eigentlich Null und in das Volk gingen ihre Productionen eigentlich gar nicht ein. Die Vorangehenden finden ihre Nachfolger, ohne daß diese nun ihre Nachfolger wären, d. h. kein klares Bewußtseyn hatten zwischen der Differenz dieser neuen Richtung und [der] alten; sondern die Richtung ist in diesen wie [in] jenen und jene gehen nur der Zeit nach voran. Verfolgen wir dieses Verhältnis noch weiter in das Specielle, die Rücksicht auf Succession fahren lassend, und denken einen erst entstandnen Kunsttypus, so kann es gleichzeitig oder nach einander wieder untergeordnete Mannigfaltigkeiten geben, und von diesen auch irgendwo der Anfang seyn. Dieses untergeordnete Verhältnis ist der Begriff von Schule[,] untergeordnet jenem großen allgemeinen vom alten

94 | 95

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

177

sich unterscheidenden Typus. Z. B. Bey [der] Wiederentstehung der Mahlerey wollen wir die Italienische herausnehmen. Dies ist eine solche neue Periode und da finden wir zugleich mannigfaltige Modificationen, die man verschiedne Schulen nennt, unter sich gar nicht so different, wie die Italienische Mahlerey Ende [des] 15. und 16. Jahrhunderts z. B. von der byzantinischen different. Die Erneuerung der Poesie in Deutschland betrachtend finden wir auch einen gemeinsamen Typus, der anfing unter [der] Form der Nachbildung des Antiken und Französischen, aber immer mehr sich zur Eigenthümlichkeit bildend, da unterschied man die Schweizerische und Sächsische Schule, beyde eine Modification desselben Typus, wie er vom frühren different.* In der Sächsischen warf sich einer mehr auf das Französische, ein andrer auf das Antike. Wie etwas nicht bloß Nachzuahmendes hervortrat[,] Noachide und Messiade, desto mehr amalgamiren sie sich.* Auch in den Schulen gibt es Vorgänger und Nachfolger; nicht nothwendig ist aber der Erste der vorzüglichste, sondern es ist natürlich und meistens nachweislich, daß die Vollkommenheit nicht am Anfang war, sondern die Spätren über den der die | Bahn gebrochen hat, hinausgehen. Sehen wir nun das Verhältnis sich so gestalten, daß nur eine Reihe bloßer Nachfolger folgt, so ist dies ein Zeichen, daß die Lebenskraft einer Kunst sich anfängt zu erschöpfen, was die periodische Natur ist aller untergeordneten Kunstarten. Halten wir diesen Begriff der Schule in der Kunst fest, so ist er bedeutend different von demjenigen im Wissen. In der alten philosophischen Schule ist gewöhnlich der Urheber der eigentliche Meister, und sein eigenthümlicher Typus dominirt über die persönlichen Eigenthümlichkeiten der Nachfolger, oder sogar die Schüler geben nicht mehr lebendige Productivität, sondern behandeln nur das Gegebne vom Meister. So ging es bald mit der Platonischen und Aristotelischen Schule. In der Kunst finden wir hingegen eben so oft den entgegengesezten Fall, einen sich entwickelnden Typus, aber da ist auch die Einheit einer Schule weit schwerer zu bestimmen, weil man ihn oft nach einer gewissen Localität mehr bestimmt, als daß der Typus sich durch alle Künstler hindurch zöge.

116

117

178

118

Ästhetik

95

Schon wenn wir zurückkommen auf den relativen Gegensaz zwischen ursprünglichen und gelegentlichen Werken und [die] Art wie derselbe sich ausgleicht, müssen wir sagen: Wenn die freye Productivität des Einzelnen wie sie in seiner persönlichen Eigenthümlichkeit den Grund ihrer Bestimmtheit hat und diese ausspricht, etwas werden soll, was sich fixirt, geschichtliche Bedeutung bekommt, so muß der nationale Typus ebenso so darin seyn. Denn dadurch ist bedingt die Empfänglichkeit der Masse, und die Möglichkeit, daß der Einzelne Andre zur analogen Kunstthätigkeit begeistre, was er vermöge der persönlichen Eigenthümlichkeit nicht kann, da sie unübertragbar ist, sondern nur vermöge des mit Andren gemeinsamen Eigenthümlichen, i. e. nationalen. So muß alle historisch bedeutende Kunstthätigkeit eine nationale seyn. In wiefern ist nun dieses wirklich ein Allgemeines, und kann man gegenüberstellen, wenn ein Kunstwerk nicht zugleich Ausdruck des allgemeinen Lebens ist, so kann es auch keinen historischen Werth haben, z. B. in der neuern deutschen Poesie hat sich nicht von Anfang [an] der nationale Typus gezeigt*, vielmehr waren die Anfänge eine Nachahmung; und doch sind Anfänge und Folgen in so genauem Zusammenhang, daß man keine Grenze ziehen könnte. Aus einem allgemeinen Gesichtspunkt: Betrachten wir die ganze moderne Sculptur so finden sie auf die Cultur der classischen Völker auf tiefe Weise gebaut, [sie] hat ihre Wurzel da, und sie wäre ohne dieses nicht so wie sie ist, obwohl wir sie jezt für ein Eigenthümliches anerkennen und sogar zwischen antiker und moderner Kunst unterscheiden. Soll nun alle Kunst national seyn, so war das doch nicht in erster Zeit der bloßen Nachahmung, und doch kann man keine Grenze machen. Ungeachtet nun die Sprachwanderung z. B. corrupt ist, so wird man der Sprache doch nicht alle fremden Federn ausrupfen wolllen, sonst reicht sie nicht hin. Man sagt freylich ja das Griechische und Latein ist doch so ähnlich, daß keine Differenz im Bewußtseyn da ist, wo man von ihnen brauche. Diese ursprünglich gemeinsame Abstammung der Deutschen, Griechischen und Lateinischen Sprache z. B. aus Sanscrit oder weiß Gott was, ist kein Bewußtseyn in uns, sondern nur daß jene

95 | 96

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

179

zwey uns fremd seyen.* Was deutsche Kunst wäre ohne jene Griechische und Lateinische, könnte man gar nicht angeben, so tief sind sie in unsre Entwicklung eingedrungen. Fassen wir es noch anders: Wenn jezt unter uns poetische Werke entständen, die sich in dem Maaße anschlössen an das Älteste, was wir für deutsche Poesie halten, so würde es uns ebenso als Nachbildung und uns Fremdes erscheinen, wie jene Kunstwerke, die sich an das Antike anschlossen. Offenbar hat jenes Princip seine Wahrheit aber nun in den gehörigen Schranken. Noch aus einem größren Gesichtspunkt werden | wir wieder in jedem Volk zwey Perioden finden, eine der Abgeschlossenheit in sich und eine der Gemeinschaft mit dem Fremden; die lezte nun ist die Zeit der Vollkommenheit in der Kunst. Im Antiken hat [die] Berührung mit den asiatischen Völkern und egyptischer Cultur entscheidenden Einfluss auf [die] hellenistische Entwicklung gehabt und die größten Productionen fangen erst an, wo der Sinn für andre Eigenthümlichkeiten des menschlichen Lebens sich in einem gewissen Umfange entwickelt hatte. Es läßt sich nicht denken, daß dieses Element gegenseitiger Berührung bloß ein theoretisches wäre, i. e. das Fremde einginge bloß in Form der Vorstellung und Beobachtung, sondern auch in Form des Wohlgefallens. Dieses rührt her von [der] Identität des menschlichen Geistes, der sich selbst in einer andren Productivität erkennend Wohlgefallen hat, weil es Bewußtseyn einer Lebenserhöhung wird. Kenntnis und Wohlgefallen am Fremden ist also in jeder natürlichen Entwicklung wohlthätig; das kann aber nicht abgehen ohne eine wenn auch nur scheinbare Verringerung des Nationalen als eines Auschließlichen; scheinbar, weil das Ausschließliche nicht das Wesen des Nationalen ist. Wird es von einem Fremden berührt, ohne daß dieses Wohlgefallen zu erregen vermag, so wird das Ausschließliche positiv bewußt, aber es entstehen Corruptionen, die Eigenthümlichkeit dieser Nation wurde nicht befruchtet durch andre. Aufnahme eines Fremden ist wesentliche Bedingung der Fortentwicklung. Auf [dem] Gebieth der Kunst gilt das nun überwiegend, daß das Wohlgefallen die analoge Thätigkeit hervorruft, weil die Productivität frey ist. In andren Gebiethen gar nicht so, das wäre da ein krankhafter

119

180

Ästhetik

96

Zustand, z. B. Wenn die Juden unsre classische Welt kennen, so haben sie Wohlgefallen an politischen Formen des classischen Alterthums, aber in Thätigkeit geht es nicht über, weil sie in einer Lebensgemeinde sind, die sie noch nicht dazu beruft, Wohlgefallen am Fremden und Thätigkeit im Vaterländischen besteht dann neben einander und erst, wenn dieses Corruptionen hat, gewinnt jenes [an] Einfluß. Dies darum, weil [die] Thätigkeit eine gebundne ist. Hingegen in freyer Productivität ist kein Wohlgefallen denkbar, ohne daß dadurch eine Analogie in der freyen Production selbst entstände. In dieser Hinsicht sind freylich die neuern Völker bedeutend different. Die Deutschen sagt man, haben am meisten Empfänglichkeit für das Fremde, weil sie weniger Einheit der Lebenskraft in sich selbst hätten. Dieses ist eine Unvollkommenheit, aber Irrthum ist es, jenes allein aus dieser Unvollkommenheit abzuleiten. In der neuesten Zeit hat sich nun bedeutend später freylich in den Nachbarvölkern Empfänglichkeit für das Deutsche entwickelt, die schon anfängt bedeutenden Einfluss zu üben, so daß das neue Element bey ihnen auch eintritt, nur später. Ihre Productivität in der frühen Zeit hat auch eine Erstarkung in den Formen des nationalen Typus entwikelt, das nun durch das Hinzustellen dieses Fremden verschwindet. In [der] Kunst kann man dieses Aneignen des Fremden gar nicht zu niedrig stellen; als bloße Nachahmung hat es freylich keinen Werth, aber bloß das wird es nie seyn, sondern immer sind neue Elemente darin, und aus diesen entwickeln sich dann neue Lebenszweige. Die Romanische und englische Kunstthätigkeit haben so Einfluss auf uns gehabt, aber von dem so in uns Gewordnen gingen neue Triebe auf jene selbst aus. Dies gibt also den Maßstab des Nationellen in der Kunst. Das Gesamtbewußtseyn ist nichts andres als Moment des nationalen Lebens, erst aus diesem entsteht höhre Kunstthätigkeit. Die auf das Einzelleben gerichtete Productivität ist untergeordnet. Wie verhält sich das rein Nationale zu dem von fremdem Einfluss modificirten? Das abstoßende Nationale ist nur mit Ausgeschlossenheit des Gattungsbewußtseyns; da es nicht Vollkommenheit des menschlichen Seyns überhaupt [ist], so [ist] auch der Ausdruck davon nicht die Kunst. Zwischenstuffe wäre

96 | 97

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

181

Beharrlichkeit des nationalen Typus bleibend wie vom Anfang, und zugleich | ein Anerkennen der fremden Nationalität, doch ohne Einfluss auf freye Thätigkeit. Aber die Geschichte zeigt, daß diese Mittelstufe nur eine Zwischenstufe, kein bleibender Zustand sey. Völker die einen kurzen Lebenslauf haben, sind zu betrachten, zertheilt in kleine Massen und dem großen organischen Ganzen des Lebens unfähig. Auf der andren Seite solche, die diese Fähigkeit haben, aber undenkbar ist, daß das vorher Abgeschloßne nicht durch Berührung mit dem Fremden umgestaltet werde. Es läßt sich auch nicht denken, daß eine stetige Gemeinschaft unter den Völkern bliebe auf der Zwischenstuffe, ohne Aneignung und Umbildung. Ein solch geschichtlicher Punkt findet sich sobald es organische Zustände gibt, die ihrer Natur nach über den Umfang der Volksthümlichkeit herausgehen. Das sind die religiösen und die wissenschaftlichen Zustände. Bey den wissenschaftlichen finden wir es in der Periode der Bildung der jezigen Völker, wo lange die lateinische Sprache die der Gebildeten war, die Volkssprache aber noch auf den kleinren Umkreisen des frühren Daseyns basiert war. Durch jene Sprache bildete das westliche Europa wissenschaftlich ein Ganzes; was mit der Kirche zwar zusammenhing, aber dennoch sind beyde zu unterscheiden. Als die Sprache die Stufe höhrer Bildung annahm und das wissenschaftliche Denken in die Muttersprache zurückkehrte, da blieb doch die Einheit der religiösen Zustände und da dieses in das Gesamtgebieth gehört, wo die höhren Kunstgattungen wurzeln, so müssen sie einen gemeinsamen Charakter haben, wodurch das Nationale zurückgedrängt wird, also das Nationale gar nicht nur mit Anerkennung des Andern, sondern das Andre in ihm ein wesentlicher Coefficient. Gilt dieses von den bürgerlichen Zuständen, so noch mehr von den freyen geselligen Zuständen, von denen die mindren Gattungen ausgehen, weil da das persönliche Individuum dominirt. Aber die Gemeinschaft da bringt auch auf diesem Gebieth einen gewissen gemeinschaftlichen Typus hervor. Da ist Stufenfolge von Erweiterungen, was vorher ein Ganzes war in der Abgeschlossenheit wird hernach nur einen untergeordneten Charakter in einer Einheit von größrem Umfange [haben].

182

120

121

Ästhetik

97 | 98

Seit geraumer Zeit ist ziemlich allgemein in der Kunsttheorie, daß man den Gegensaz aufstellt zwischen dem Antiken und Modernen*, als Bezeichnung brauchen wir es auch, aber um einen bestimmten Gegensaz aufzustellen, fanden wir keinen Ort. Wie steht es jezt um ihn? Ursprünglich bezeichnet er einen Unterschied von Zeiten, aber keineswegs repräsentiren jene Ausdrücke eine ganze Zeit; denn jenseits der Völkerwanderung gab es eine Menge von Kunstthätigkeit, total verschieden von der classischen Kunst die wir doch allein damit meinen. Also ist unter Antike nur eine bestimmte Volksthümlichkeit anzusehen, da die Römer den Griechen sich anschlossen, und das Moderne bezeichnet eine Mannigfaltigkeit von verwandten Volksthümlichkeiten. Aber da ist der Gegensaz zu ungleich, es sey denn man nehme die Differenz der jezigen Völker völlig [als] Null gegen die im Alterthum; allein [die] Differenz zwischen englischer und französischer Tragödie ist nicht geringer als die zwischen einer von beyden und der antiken. So verschwindet dieses Zusammengehören des Modernen als gegenüber dem Antiken ganz und gar. Diese Theilung verwirrt daher, da die Differenzen des Modernen unter sich dadurch in der Verkürzung erscheinen. Man muß vielmehr nationale Differenzen aufsuchen und sich | um die Zeit dabey nicht bekümmern. Jene Voraussezung ist zu annulliren, nur als Resultat erst könnte es eintreten, wenn man es findet. In [der] Behandlung der Philosophie teile ich zwar mit die Entstehung des Christenthums als Hauptwendepunkt anzunehmen und es dem Antiken gegenüber zu stellen.* Hier aber schlage ich ein ganz andres Verfahren ein. Rechtfertigt sich dies aus der Differenz der beyden Gegenstände? Ein Punkt ist nicht zu übersehen, daß die moderne Philosophie angefangen hat sich auszubilden und ihre Differenzen zu entwickeln noch anfing in jener Zeit, wo die Lateinische Sprache noch war, also die Differenz der Sprachen nicht mitwirkte und so das Nationale nicht eintrat. Hingegen die moderne Kunst hat mit jener Spracheinheit nichts zu schaffen und moderne Poesie ist nicht die lateinische, sondern die in den getrennten Sprachen entstand. So verhält sich hier die Speculation und Kunst verschieden und da er [(der Unterschied zwischen

98

1. Teil. Allgemeiner spekulativer

183

Antike und Moderne)] in jener entscheidnen Werth hat, nahm man ihn auch in diese auf, ohne die Differenz zu bemerken. Deswegen, weil wir ihn nicht als Gegensaz aufstellen, der hier könnte aufgestellt werden, wo wir noch in der Einführung der Kunst sind, verwerfen wir ihn nicht, sondern er ist auf specielle Weise zu behandeln, da er in jeder Kunst verschiednen Werth hat. Da wir zur ethischen Betrachtung der Kunstthätigkeit zurük sind, so wäre die allgemeine Ästhetik vollendet, aber haben wir nun ein Princip, das die Ordnung aufstellte, in der wir die einzelnen Künste betrachten? Ich bin eine Betrachtung schuldig geblieben, die ich andeutete beym Begriff des Beywerks.* Wenn wir [den] Gegensaz fanden in den selbstständigen Elementen der Kunst in allen Gebiethen, der aber fließend ist, in verschiednen Gebiethen fort sich verlierend, so daß wo Beywerk ist, oft für wesentliches Element gilt, und alles Beywerk auch selbst Kunst seyn kann. Dann sahen wir den Gegensaz eigentlicher Kunst und Kunst an einem andren sich auflösen in dem, daß Kunst wesentlich sey und daß Kunst Beywerk sey. Nun gibt es etwas Analoges im Verhältnis der Künste gegen einander. Wir haben die einzelnen Kunstgebiethe getrennt, indem die freye Productivität entweder auf Seiten des subjectiven oder objectiven Bewußtseyns ist; aus jenem kann sie nun heraustreten, indem sie objectiv wird aber nur als Reaction; im objectiven Bewußtseyn stellt sie die Selbstthätigkeit der gebundnen Thätigkeit dar als frey. Haupttheilung war also[:] Kunstzweige die ein 1.) bewegtes Selbstbewußtseyn voraussezen das reagirt unter [der] Form eines Objectiven, 2.) Künste, deren Elemente dem Objectiven angehören als Bild oder Vorstellung; bildende und redende Künste; jene zwey die es mit organischen und eine die es mit Zusammenseyn von Gestalten zu thun hat. Nun gibt es nicht nur vereinzeltes Daseyn von Kunstwerken dieser verschiednen Art, sondern es gibt ein Zusammenseyn bald so, daß [das] Beywerk als wesentlich erscheint, bald so daß mehrere Künste zusammen sind und Gegensaz zwischen Beywerk und Wesentlichem verwischt, z. B. Mimische Darstellung ohne Musik erscheint mangelhaft, man postulirt ein Zusammenseyn

122

184

Ästhetik

98 | 99

von diesen; was dabey Hauptsache oder Beywerk ist, kann man nicht immer sagen, bald scheint das, bald dieses Hauptsache, aber eine bestimmte Unterordnung ist nicht immer. Nun die dramatische Poesie. Da sind beyde in der Darstellung und das Drama hat | in körperlicher Darstellung seinen Unterschied und doch ist Poesie [die] Hauptsache. So ist Mimik und Musik wesentlich, wenn [das] Drama soll dargestellt werden. Sonst erscheinen beyde als Beywerk. Hat nun in dramatischer Darstellung die Mahlerey auch dieses Recht, so gibt es eine Kunstdarstellung, wo selbst die Mahlerey Beywerk ist, da das dramatische Gedicht seinem Wesen nach ohne sie da ist; hingegen wird die Darstellung mangelhaft seyn, wenn die Mahlerey fehlt; indem sie die Stelle vertritt sowohl einer bestimmten Naturumgebung als einer architectonischen. Das Gemählde soll da nicht als solches, sondern als schöner Gegenstand angesehen werden. Architectur und Sculptur sind hierbey auch vorhanden aber nur in einem Abbilde. Umgekehrtes Verhältnis gibt es auch. Auch die Poesie kann Beywerk seyn. Ein öffentliches Gebäude mit poetischer Inschrift; ein Gemählde, das erst vollkommen verständlich wird durch eine geschichtliche Beziehung und Poesie gibt sie an als eine Art Epigramm, so ist Poesie Beywerk. Da ist aber [ein] großer Unterschied. Die mimische Darstellung wird erst vollkommen und klar, wenn sie Beywerk ist, wenn sie der Poesie dient in Verbindung mit der Musik. Die Musik als Gesang ist von selbst schon an der Poesie und das ist das ursprüngliche, daß sie bey ihr begleitend ist, und wenn auch reine Instrumentalsmusik wie Pantomime darüber hinausgeht, so ist dieses ganz ein andres Verhältnis, als wenn wir in Poesie sagen, das Epigramm sey Wesen und das Andre gehe darüber hinaus. So sind gewisse Künste ursprünglich Begleiter andrer Künste und das sind die, welche auf das erregte Selbstbewußtseyn zurückgehen und dessen Reaction unter Form der freyen Productivität darstellen. Die sind ursprünglich begleitend. Die bildenden Künste sind auch zugleich begleitend aber nicht in demselben Grade. In der Poesie ist das Begleiten minimum, nur ihre kleinsten Arten. Die Betrachtung fängt am besten damit an, worin man das Elementarische am deutlichsten sieht. 1. Künste,

99 | 100

Theorie der einzelnen Künste

185

die überwiegend als begleitend erscheinen und sich auf natürliche Reaction des bewegten Selbstbewußtseyn stüzen 2.) bildende Künste 3.) Poesie.

2. Theorie der einzelnen Künste Die Ordnung ist schon im Allgemeinen bestimmt. Künste sind oft zusammen, die einen Beywerk, und es gibt Künste, die überwiegend so erscheinen, andre so entgegengesezt, daß wo sie Beywerk sind, ihr Wesen fast verloren ist.

I. Von den ihrer Natur nach ursprünglich begleitenden Künsten, i. e. Mimik und Musik Zwey Merkmale gehören zusammen, daß sie überwiegend begleitend sind, und die freye Productivität überwiegend in dem versiert, was in der gebundnen Thätigkeit überwiegend als Reaction vorkommt. Denn die darstellende Bewegung ist Reaction der freyen Productivität auf eine im Subject vorgegangne Veränderung, wenn Lust oder Schmerz erregt wird. Diese Reaction wird in der Mimik freye Productivität, i. e. unabhängig von irgend einem bestimmten Lebensmoment im Künstler, aber doch immer in Beziehung auf solche. So ist es mit der Musik in ihrer ursprünglichen Gestalt, i. e. als Gesang, da alle Instrumente hier nur als Erhöhung des ursprünglichen Organs erscheinen also als ein nur anders erregter Gesang. Der Ton im Gegensaz zum Laut ist nur unwillkürlich entstehend auch eine Reaction aus erregtem Gemüthszustand. | Beyde sind da zusammen, aber in verschiednem Verhältnis. Bey dem einen Volk sind im gleich erregten Gemüthszustande mehr mimische Bewegungen als bey andern, und ebenso der Gesang; denn es gibt Völker, deren Sprache schon eine Art halber Gesang ist;* und ebenso gibt es Gattungen der Sprache wie das Recitativ, wo es zwischen Laut und Ton schwankt, andre wo der Unterschied sehr bestimmt ist. Je mehr die Rede das

123

186

Theorie der einzelnen Künste

100

Wiedergeben eines Vorstellungsactes ist (objectives Bewußtseyn), desto mehr ist der Laut verschieden vom Ton und je mehr erregtes Selbstbewußtseyn dabey, desto mehr hat der Laut [ein] Analogon mit [dem] Ton, als das Deklamatorische. Der Gesang kann ursprünglich hervortreten ohne alles Wort, als Darstellung eines innren Zustands. Geht ein Mensch plötzlich aus [einer] Vorstellung in erregten Gemüthszustand über, so wäre es widernatürlich, in derselben Modification fortzureden, entwickelt sezt sich der Äußerungszustand fort und wird Ton, oder er wird unterbrochen. Denkt man den Einzelnen in absoluter Ruhe, was nicht vorkommt, und dann in einen positiven Zustand übergehend, ohne von Außen irgend wie erregt zu seyn, so ist es nichts andres, als daß er sich selbst sammelt und von innen erregt wird, erreicht dies eine gewisse Höhe, so tritt die regelmäßige, melodische Stimme hervor, um freudiges oder betrübtes Bewußtseyn auszudrücken. Dies ist nun so, daß das andre, mimische nicht irgendwie dabey wäre. Als freye Productivität bilden diese Tendenzen die zwey Künste. Der verschiedne Grad ihres Zusammenseyns gehört zur Individualität der verschiednen Nationen und es gibt zweyfache Abwandlung, gleichmäßige Abnahme von maximum zu minimum, und ungleichmäßg ein Überwiegendwerden der Mimik über [den] Ton oder umgekehrt. Soll das Unwillkürliche nun Kunst werden, so müssen wir diese beyden erst trennen, die im Kunstlosen immer irgendwie verbunden sind; denn nun ist noch eine dritte Abwandlung, denke ich dieses Übergehen des Kunstlosen in Kunst so läßt sich nie voraussezen, daß derselbe Einzelne ebenso gut werde Mimiker werden, wie Musiker oder umgekehrt, sondern das Talent, die unwillkürlich überwiegende Richtung zur Kunst zu steigern, kann nicht in den verschiednen organischen Systemen zweyer Einzelwesen dasselbe seyn; wenn auch im Kunstlosen beyde zusammen in jedem sind. Sobald beyde Element [der] Kunst werden, treten sie in den verschiednen Subjecten getrennt hervor, daher setzen wir es von vorn herein als zwey verschiedne Künste.

100 | 101

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

187

1. Von der Mimik Sie ist die freye Productivität unabhängig sowohl von einem zu erreichenden Zwek*, was nach dem Mechanischen hin läge, als auch unabhängig von vorangegangner innrer Bewegung, wovon die unwillkürliche Bewegung der Ausdruck ist. Wir haben es zunächst mit einem organischen Element zu thun. Wo willkürliche Bewegung ist, da kann auch ein mimisches Element seyn, aber die willkürliche Bewegung muß erst erscheinen können, und das kann sie nur durch Heraustreten auf die Oberfläche; denn diese allein kann als Bewegung erscheinen. Es gibt Bewegungen die ganz innerlich sind und vor sich gehen in von der Oberfläche ganz gesondertem Organ; z. B. Bewegungen in [der] Respiration im erregten Zustande, sind sc. in der Lunge, und nur indirect können sie wahrgenommen werden, da die Brustmuskeln damit in Bewegung sind. Will man einen Gemüthszustand darstellen, der natürlich mit starker Respiration verbunden ist, so stellt er jenes indirect mit dar. Das ist der physische Umfang des Materials, womit wir es hier zu thun haben. Da tritt der Umstand ein, daß durch die freye Handlung in den Menschen eine Differenz gesezt wird, die in der Natur nicht vorhanden ist, der Mensch entzieht einen Theil seiner Oberfläche dem Anblick durch Bekleidung. | Da kommen wir auf ein beschränkendes Element. Diese Theile verhalten sich wie jene von Natur verborgnen Theile, z. B. die Lunge. Ist etwas bewegt, so ist auch Alles bewegt; jeder Versuch, einen Theil zu bewegen bey absoluter Ruhe aller Andern ist nie erreichbar, und höchstens ein mechanisches Kunstwerk. So viel also auch verdekt ist, bleibt das Bewußtseyn, daß alles bewegt sey, wenn auch nur auf sympathetische Weise. Eigentlich soll kein Theil der menschlichen Gestalt gänzlich ausgeschlossen seyn von der Mitwirkung im mimischen Kunstwerk, aber man kann nicht die einzelnen Theile isoliren wollen und die einzelnen Theile als eigenthümlich bewegt denken, sondern Wahrheit hat es nur wenn man die ganze Gestalt, wie sie bewegt erscheint, als Eins faßt. Wie ist die Kunst gestellt durch dieses beschränkende Element? Dieses beschränkende Element selbst wird nicht durch die

124

188

125

Theorie der einzelnen Künste

101

Kunst bestimmt, sondern die Bekleidung geht ursprünglich vom Bedürfniß aus, der Abhaltung atmosphärischer Einwirkungen, oder Zusammenhaltung des organischen Zustandes gegen die äußren Einwirkungen. Da ist etwas, nicht unmittelbar unter der Kunst Stehendes als Beschränkung gesezt, denn Bekleidung kann so seyn, daß mimische Bewegung darunter fast ganz verschwindet, und die Mimik in hohem Grade beschränkt ist. Aber diese Beschränkung beschränkt sich selbst wieder; denn ganz abgesehen von [der] Richtung auf das Menschliche ist doch immer in der ganz gewöhnlichen Bekleidung noch ein andres Motiv als das Bedürfnis, jenes erste die eigentliche Umhüllung geht aus [dem] Bedürfnis hervor, sie ist aber auch Drappierung* auch im gebundnen Leben, und dieses Motiv unterliegt dem Geschmack i. e. dem Kunstsinn in negativer Form und so schleicht sich die Kunst selbst in das beschränkte Element hinein. Dieses ist nun im bestimmtesten Zusammenhang mit dieser bestimmten Kunst. Die Regel für Drappierung ist, daß die Gestalt in ihren Formen und [ihrer] Beweglichkeit doch sich manifestieren kann unter der Bedekung, und je weniger hiervon in der Bekleidung ist, desto weniger Geschmack finden wir darin, und da kann man ein gewisses Naturgesez nicht verkennen. Diejenigen Völker, die das meiste mimische Interesse haben, haben eine Bekleidung die in hohem Grade Drappierung ist, diejenigen, die das wenigste mimische Interesse haben, haben eine Bekleidung die mehr Verhüllung ist. Wäre das mit der Natur im Widerspruch, so [wäre das] ein Unglük, da Kälten des Klima warme Bekleidung fordern und mimisches Interesse eine leichte fordern könnte. Aber da ist eine natürliche Prädestination des Zusammenstimmens, die Polarvölker sind nicht in so hohem Grad in mimischer Richtung; die in gemäßigten Zonen und nach [den] Tropen hin, sind die beweglichsten und haben auch das wenigste Naturbedürfnis einer zusammengesezten Verhüllung. Wir müssen also diesen Gegensaz annehmen in diesem physischen Element. Nehmlich, die Bekleidung ist nie eine totale und das müssen wir auch auf diese Zusammenstimmung von Natur und Kunst zurückführen. Schwer entschließt man sich dazu, das Gesicht zu verhüllen und tritt Nothwendigkeit

101 | 102

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

189

ein, so fühlt sich jeder unbequem weil [die] Darstellung gewisser innrer Bewegungen ganz abgeschnitten ist, ehe man sich dazu versteht, sind schon die Extremitäten in Bekleidung, die Verhüllung ist. Gewisse Theile der menschlichen Gestalt sind also in der Regel dem Anblick am freysten gestellt, und andre bekleidet, und da sind die Grenzen verschieden nach Maaßgabe des Naturbedürfnisses und mimischen Interesses, welche beyden Motive die Sitte constituiren, da sie ethisch tadelnswert ist, sobald ein andres Motiv sie mit constituirt. Je mehr das mimische | Interesse verhüllt ist, desto mehr concentrirt sich die Darstellung in den unverhüllten Theilen, Gesicht und Arme und Beine, die doch so bekleidet sind, daß ihre Bewegungen durchscheinen. Je mehr das mimische Interesse selbst Motiv ist für die Bekleidung, so wird es ein Gebieth der Mimik nach eigenthümlichen Licenzen geben, so daß jeder Künstler während der mimischen Darstellung sich eigenthümlich bekleiden darf, also die Mimik als Kunst noch diese eigenthümliche Einheit hat. Je weniger ihr dieses gestattet ist, desto mehr leidet die Mimik; so wie wenn die Gestalt aus andren Motiven enthüllt ist, um Lüsternheit zu reizen, einen ethischen Einspruch thut. Die Mimik greift also in ihre Beschränkung ein und gestaltet die Bekleidung zur Drappierung i. e. daß sie ihr dienen kann statt zu widerstreben. Das innre Afficirtseyn ist allerdings auch Bewegung, aber von Außen veranlaßt, daher Reaction werdend und in das Leibliche hinüberpflanzend. Der Bewegung entgegen ist der Begriff der Ruhe, beide wesentlich einander bedingend. Soll beides aus einander hervorgehen, so scheint es als die alte Anomalie daß Übergang von Bewegung in Ruhe ein Verschwinden in Null sey, und Übergang von Ruhe in Bewegung ein Ausgehen aus Null.* Daher wird Ruhe als ein unendlich Kleines gesezt, und nicht als nichts, und so entsteht [das] Resultat, daß das Lebendige nie absolute Ruhe ist, sondern nur relativ verglichen mit dem was als Bewegung erscheint. Das ist ein Nacheinander was ich gestern vom Nebeneinander sagte, daß nicht ein Theil in Bewegung seyn kann und die andern in absoluter Ruhe. Das physische Element der Mimik stellen wir also nicht dar als beständigen Wechsel von Übergang

126

190

Theorie der einzelnen Künste

102

der Null in Bewegung und umgekehrt, sondern als ein Auf- und Absteigen der Bewegung. Daraus entsteht, daß wir in diesem Gebieth ebenfalls [in] der Ruhe müssen die Analogie der Bewegung finden, also kann Ruhe nur als Rest und Keim der Bewegung zugleich gefaßt werden, sonst hört die Continuität, also auch [die] Einheit des Kunstwerks auf. Wenn wir also die menschliche Gestalt als das Material aufstellen, worin das Kunstwerk ist, so fragt sich, was ist da die Ruhe als Rest und Keim der Bewegung? Es scheint, als ob wir den Gegenstand gleich wieder theilen müssen, weil unsrem Sprachgebrauch zufolge sie sich nicht ganz einfach beantworten läßt; denn wir pflegen zu unterscheiden und entgegenzusezen die Bewegungen der Gestalt im Ganzen und die Bewegungen des Gesichts. Worin dieser Unterschied gegründet ist, gehört nicht unmittelbar zu der gegenwärtigen Frage, aber anticipirend sagen wir soviel, die Bewegungen des Gesichts sind gleichsam was der Nonius am Thermometer oder Barometer, bezeichnet die kleinsten Veränderungen die die Scala nicht angibt. So geben die Bewegungen des Gesichts die kleinsten Affectionen wieder, während nur die größten als Bewegungen der ganzen Gestalt erscheinen. Denken wir den Menschen in bewegtem Gemüthszustand, aber noch mit Maaß also nicht aus der Analogie der Kunst herausgehend, so gäben die Bewegungen des Gesichts eine viel größre Zahl in derselben Reihe von Momenten, als die Bewegungen der ganzen Gestalt; und fangen diese an zu überwiegen und das Gesicht fängt an sich zu versteinern, so ist es Übergang in das absolut Maaßlose, Leidenschaftliche wo keine Herrschaft mehr ist. Zu unsrer Frage zurückgehend sagen wir, das was wir Ruhe der ganzen Gestalt nennen, doch noch mit einem Ausdruck z. B. nennen wir Stellung, Attitüde[,] und in den Bewegungen des Antlitzes ist die Ruhe in der doch Spuren von Bewegung [sind] das, was wir den Ausdruck nennen. Jene Bewegungen der Gestalt wollen wir Bewegung schlechthin nennen, und die Stellung; die Bewegungen des Gesichts, Minenspiel, die Ruhe Ausdruck des GesichtsAusdrucks. In fortlaufender Reihe muß dieses mit einander wechseln Bewegung und Stellung und so Minenspiel und Ausdruck. So bleibt Continuität, und Einheit.

102 | 103

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

191

Dieses ist der ganze physische Umfang des Kunstwerks, und darin | muß die elementare Vollkommenheit des Kunstwerks können angeschaut werden. Gehen wir nun auf das Genaure ein, wovon wir nur anticipirten in dieser Frage, und stellen auf die Bewegung des Gesichts hat im Erscheinen jenes Minimum von Wechsel innrer Erregungen; am Wechsel der Gestalt aber nur ein Mittel für größre innre VerhältnisDifferenzen, so daß das Minenspiel gleichsam nur die Töne wären von kleinem Zeitmaß, die Bewegung der Gestalt aber die großen, den Tact aushaltenden Töne, Grundtöne. Da liegt der Grund zu einer großen Theilung, daß das Kunstwerk ein ganz andres sey, und das eine ganz andre Gattung, wo das Hauptgewicht auf dem Minenspiel beruht, und eine ganz andre das, wobey dieses zurücktritt und das Kunstwerk verläuft in den Bewegungen der Gestalt. Machen wir uns dieses im eigentlichen Werthe anschaulich, so hat das Kunstwerk dessen Wesentliches im Minenspiel besteht, ausschließend das Individuum im Auge; denn je mehr ich auf Minenspiel geeicht bin, das ein großes Aufmerken erfordert, desto mehr muß ich mich gegen Andres verschließen, und diese Bewegungen des Antlizes sind immer zugleich etwas Solitäres. Hingegen bey einem Kunstwerk das in Bewegungen der Gestalt verläuft, bin ich nicht so an das Einzelwesen gewiesen, dazu ist aber das Positive zu finden, und das ist das, daß der Einzelne hierbey nicht das Ganze seyn kann, sondern daß diese Kunstwerke gesellige sind, und das Einzelwesen dabey nur ein Theil, der gegen die Totalität zurück tritt. Hingegen läßt sich sogleich eine Instanz einwenden aus dem, was unmittelbar in unsrem Kunstkreise gegeben ist. Sagt man die Bewegungen der Gestalt erscheinen uns an und für sich betrachtet im Tanz, wo je reiner er ist, desto mehr das Minenspiel verschwindet. Nun müßte also der Tanz gesellig sein, wenn nur nicht unser treffliches Soloballett wäre; allein in dramatischen Darstellungen ist doch das Minenspiel dominirend, und zugleich ist doch das Kunstwerk ein Geselliges. Das scheint also unsre Behauptung völlig aufzuheben. Aber dabei ist nun das nicht zu übersehen, einerseits, daß jenes mimische Zusammenwirken mehrerer Personen zu einem solchen

192

127

Theorie der einzelnen Künste

103 | 104

Ganzen, worin das Minenspiel das Capital ist, nicht möglich wäre als durch das Zusammenseyn mit der Poesie. Will man als Instanz auch hierzu die Pantomime anführen, so sind da die Kunstwerke, die dem Tanz angehören, so wesentlich, wie die dem Minenspiel angehören, und andrerseits, daß Pantomime auch nicht verständlich ist als durch Poesie; indem sie einen Gegenstand darstellt, der poetisch bekannt ist; ist Pantomime aber Erfindung, so muß das Subject gegeben werden, was freylich auf rohe, scizzirte Weise geschieht. Poetische Grundlage bedingt ihre Möglichkeit. — Diese Theilung ist nun die größte in diesem Gebieth, und es zerfällt die Mimik in die zwey Hauptzweige Orchestik* (Kunst des Tanzes) und eigentliche Mimik (Kunst des Gebehrdenspiels); um es recht zu sondern, ist noch eine physische Betrachtung nachzuholen, die erst hier deutlich wird: Nämlich wenn wir Bewegungen der Gestalt betrachten, wie sie in [der] Stellung vorkommen und sich aus der Stellung entwickeln, so unterscheiden wir darin Bewegungen, die zugleich Bewegungen in Beziehung auf die andren Gegenstände im Raum sind, i. e. Ortsveränderungen und solche, die dieses nicht sind, also die ganze Gestalt dasselbe Verhältnis zu den Gegenständen des Raumes behält. Diese Bewegungen bloß gewisser Theile der Gestalt, wobei Ortsveränderungen Null oder nicht dazu gehörend [sind], sind bestimmter dem Minenspiel verwandt und gehören demselbigen an, so daß das Gebieth der eigentlichen Mimik aus beiden besteht, wie der Tanz auch aus diesem Mittelglied [besteht], i. e. Bewegungen der ganzen Gestalt mit Ortsveränderung und Bewegungen der einzelnen Theile, wobey Ortsveränderung zufällig. | Ohne dieses gäbe es keinen Übergang aus orchestischer Bewegung in die Stellung; denn bloß aus den ortsverändernden Bewegungen entsteht keine Stellung. Dieses ist also beiden das gemeinsame Mittelglied. Nun haben wir sie erst in Beziehung auf das physische Element unterschieden, was aber nur die Möglichkeit zeigt, noch nicht die Begründung aus dem Begriff der Kunst selbst. Ehe wir aber an diese Betrachtung gehen, müssen wir doch erst, um zum Schluß für das Physische zu kommen, noch ehe wir in die Theilung der Mimik gehen, fragen, worin denn die elementare Vollkommenheit in diesem Gebieth

104

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

193

bestehe. Nämlich wenn wir einen mimischen Künstler loben und den andern tadeln, so haben wir dabei zum großen Theil einzelne Momente im Sinn, die wir loben und andre die wir tadeln; da die Bewegung nun das Element ist, wie sie durch die Momente verläuft, so ist dieses ein Urtheil über die elementarische Vollkommenheit. Dieses ist hier nur bestimmbar, wenn wir zurückgehen auf das, daß die Einheit des Kunstwerks wesentlich auf der Continuität beruhe, i. e. was ich als Einzelne unterscheide, miteinander verknüpft und auseinander abgeleitet sind; träte absolute Ruhe dazwischen, so wäre jeder Moment der Bewegung vereinzelt und es gäbe kein mimisches Kunstwerk. Daraus folgt, daß eben jenes nicht ganz Aufhören der Bewegung in der Ruhe und offenbar auch ein analoges nicht ganz Aufhören der Ruhe in der Bewegung und also diese innre Begrenzung, vermöge derer keins ohne das andre Glied des Gegensazes ist, das wird das Gebieth der elementarischen Vollkommenheit im physischen Element seyn. Wenn in der Ruhe immer noch die Beweglichkeit mit erscheint, ist das die Vollkommenheit desjenigen Elements, das die Ruhe darstellt; erscheint in der Bewegung immer noch die Ruhe, so ist das die Vollkommenheit desjenigen Elements, das die Bewegung darstellt. Die Ruhe erscheint aber in der Bewegung einerseits insofern die Ruhe Stellung ist, und insofern sie Ausdruck ist andrerseits. In der Ruhe als Minenspiel kann nie todte Ruhe erscheinen, aber in der Bewegung kann ich das Constante, i. e. den eigenthümlichen Ausdruck des Gesichts erkennen, sonst ist das Minenspiel zu tadeln. So wenn er so extravagante Bewegungen macht, die nicht Stellung sein können, ist es auch ein Vernichten des Maaßes, das die elementarische Vollkommenheit aufhebt, und ebenso wenn ich nicht in der Ruhe i. e. im Ausdruck die Keime der Bewegung sehe, so ist es nicht Ausdruck, sondern todte Ruhe und das Daseyn eines Kunstelements ist aufgehoben; ebenso wenn in [die] Gestalt statt Stellung eine Verfassung eintritt, daß erst ein Stoß, i. e. im Vorigen nicht begründeter Impuls neu erscheinen müßte, ist die Continuität aufgehoben. Wird dieses auf die verschiednen Fälle richtig angewandt, so ist es die allgemein hinreichende Formel für die elementarische Vollkommenheit dieses Kunstgebieths.

194 128

Theorie der einzelnen Künste

104 | 105

fehlt nichts!* | Die Bewegungen des Gesichts sind individuell, die der Gestalt sind gesellig; beiden gemein ist das, was wir Stellung nannten; jene von Poesie unterstützt wird auch gesellig. Wenn wir diese beiden Elemente, das dem physischen angehörende, und das ethisch ihm correspondirende betrachten, so treffen beide nicht genau zusammen; aber das ist überall und zugleich der Grund, warum die Künste nicht so rein einer Begriffseintheilung entsprachen, sondern sie individualisiren sich, und das ist das Positive, und eben Wahre, daß in praxi die verschiednen Künste an verschiednen Orten verschiedne Erscheinungen motiviren. Die Seite, wo Minenspiele Hauptsache sind und Alles andre ihnen subsumirt, nennen wir dramatisch, und die andre wo locomotive Bewegungen dominiren, dem Tanz zuschreibend, so gab das eine Theilung, die aber in der Geschichte der Kunst auf so verschiedne Weise erscheint, daß man sie ganz verschieden ansah, oft als zwei ganz verschiedne Künste, die nichts Gemeinsames haben; ich ziehe das Entgegengesezte vor, weil, sobald wir sie als zwei verschiedne Künste betrachten und nicht als zwei Unterarten, wir verlegen wären mit vielen Erscheinungen, in welche von beiden wir sie bringen; diese Verlegenheit ist nicht von solcher Bedeutung, wenn man bloß zwischen zwei Unterarten schwankt, die noch dazu der Theorie nicht genau entsprechen. Wir kehren zu einer allgemeinen Betrachtung zurück. Wir sahen, was die schöne Kunst (unsre Kunst) zu Einer macht, ist die hervorragende Richtung auf die freye Productivität, in den Theilen, die sonst der gebundnen Thätigkeit angehören, traten sie mehr receptiv, oder spontan hervor. Wenn wir dann theilen, so muß jede einzelne Kunst ebenfalls nur Eine sein, indem im ganzen Gebieth auf dieselbe Weise jener allgemeine Impuls modificirt ist. Mimik ist Eins, dadurch daß die freye Thätigkeit die willkürlichen leiblichen Bewegungen zum Stoff hat, so daß die specifische Begeisterung des Mimikers in allen Erscheinungen hierauf muß reducirt werden können. Das ist nun in beiden Unterarten gleichmäßig der Fall, im volksthümlichen Tanz schon ist diese Richtung auf freye Productivität in leiblichen Bewegungen und das Wesentliche ist, daß sich diese Bewegung

105 | 106

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

195

von jeder Unterordnung unter einen bestimmten Zweck befreit weiß. Der Mimiker der uns nun weit Größres, eine Reihe von Gemüthszuständen durch Minenspiel und was sich ihm unterordnet darstellt, hat eben jenen Charakter freyer Productivität in leiblicher Bewegung, aber nur in denjenigen Arten, die am meisten geistig bedeutend sind. Beides läßt sich sondern, nicht jeder zu einem Tanz mitwirkende ist im Stande als dramatischer Mimiker aufzutreten, und dieser nicht nothwendig an jenem Spiel, [sagt] man hingegen [die] Begeisterung des Mimikers müsse die für eine bestimmte Persönlichkeit sein, die einer darstellt, so ist dieses ganz falsch z. B. Will man sagen, der mimische Künstler als Greis solle ebenso darstellen können die Bewegung eines jugendlichen, so ist das [ein] Widerspruch, da er sich in Beziehung auf das Unveränderliche des Körpers nicht auf dieselbe Weise verwandeln kann; sagt man dann, nicht nur von persönlichen Lebenszuständen sind die mimischen Künstler beschränkt, sondern jeder kann auch nur gewisse Gemüthszustände darstellen, so ist das falsch, und wollen die Assoziationen von mimischen Künstlern so theilen die Personen in bestimmte Rollen, wie das meistens geschieht, so ist das falsch; es soll der mimische Künstler sich für jeden Gemüthszustand begeistern können zu dessen natürlichem Ausdruck in leiblichen Bewegungen; sonst fehlen ihm die Bedingungen seiner Kunst. | Alles, was sich durch sein Leibliches zur Darstellung bringen läßt, muß dem mimischen Künstler indifferent sein, ethisch ganz indifferent, Narren und lächerliche Personen muß der Ernsteste darstellen können. Freilich gehört dazu ungleich viel mehr als zur vollkommensten Virtuosität in der Orchestik, wo locomotive Bewegungen und Bewegungen der Gliedmaßen dominiren, weil diese weniger Bedingungen erfordert als jenes. Darum können beide doch vollkommen coordinirt sein. Wollten wir dieser Differenz wegen lieber zwei besondre Künste daraus machen, so wollen wir sehen, wie man auskäme. Was soll man dann von den Schauspielern der Alten sagen, waren sie Mimiker oder nicht? Das läßt sich gar nicht sagen, denn Mimiker in unsrem Sinn waren sie nicht, da sie Masken trugen und nur die Augenbewegungen darstellen konnten. Da scheinen

196

Theorie der einzelnen Künste

106

sie in die andre Kunst zu fallen, als orchestrische Künstler. Aber da kommen wir mit dem ethischen Element ins Gedränge, da sie wirkliche Individuen darstellen. Hingegen bloße Unterarten müssen sich so verhalten, daß bald das Ethische, bald das Physische entscheidend ist. — Um das Gebieth vollständig zu übersehen ist noch eine Betrachtung nöthig. Wir haben die Einheit der Mimik nun am physischen Element und am Impuls, i. e. Richtung der Kunstbegeisterung überhaupt auf dieses bestimmte physische Element. In diesen ward uns Theilung. Hervortreten locomotiver Bewegungen und Stellungen mit Zurücktreten der Bewegung der Gesichtszüge und das Umgekehrte. Das ward uns vom physischen Element aus als Classification von der Erscheinung aus. Nun hatten diese Bewegungen auch verschiednen Character in geistiger Hinsicht, die eine mehr die kleinen innern Veränderungen darstellend, die zuerst in Gesichtszügen sich zeigen, dann Gebehrdenspiel und erst, wenn sie noch größer werden sind sie locomotiv. Das Verhältnis in dieser Abstuffung ist bei verschiednen Völkern verschieden, beim Südeuropäer sind sie sich viel näher als beim Nordländer, der viel größre innre Erregung bedarf, bis er zu locomotiven Bewegungen kommt. In Südeuropa braucht sogar der Prediger eine Kanzel zum Herumspringen; aber immer zuerst gehen die psychischen Veränderungen in die Gesichtszüge. Diese beiden Classen haben also eine solche innre Differenz, die eine das Individuelle darstellend und die einzelnen Momente im psychischen Leben, die andre nicht. Sehen wir einen Menschen in bestimmtem Minenspiel, so können wir leicht seine Gemüthszustände sehen, man sieht, wann er nachdenkt, wann Entschlüsse faßt, wann leidenschaftlich ist und wie. Im Tanz sieht man solchen Wechsel nicht. Da ist also noch eine ethische Differenz mit jener, daß die eine mehr individuell, die andre mehr gesellig ist. Allerdings zusammenhängend, aber doch auch verschieden. Die mimische Kunst wird nur gesellig durch Unterstüzung der Rede, die andre Classe hingegen sezt das Gesellige schon voraus, tanzt einer allein, so denkt jeder es sei fatal, daß derselbe nicht noch jemand bei sich habe. Der Tanz kann also nichts andres sein als

106 | 107

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

197

der Ausdruck einer gemeinsamen Stimmung. So ist uns der Tanz überall gegeben in allen Zuständen der menschlichen Gesellschaft als allgemeines Lebenselement überall in verschiednem Maaß und [verschiednen] Formen. Das eigentlich Mimische aber erscheint als Kunst überall nicht selbstständig, sondern an einem Andern, an der dramatischen Darstellung. Nun gibt es noch ein Drittes, in dramatischer Darstellung ist es an [die] Rede gebunden. | Ein Drittes ist das, was man Pantomime nennt,* daß wo Mimik der Unterstüzung der Rede entbehrt, wo doch das eigentlich mimische Element, wo Minenspiel dominirt, ein Geselliges wird und also ein größres Ganzes, das ist das selbstständig werden wollen dieses Zweiges der Kunst der eigentlich nicht dazu gemacht ist, selbstständig zu sein. Das finden wir auch überall, aber freilich überall verschieden modificirt. Wie unterscheidet es sich vom bloßen Tanz, und unter welchen Bedingungen wird es selbstständig und kann Rede entbehren? Vom Tanz unterscheidet es sich dadurch, daß die Einzelnen als Einzelne unter der Bedingung der Bedeutsamkeit in den Gesichtszügen erscheinen, also das eigentlich Mimische immer dem Charakter nach dominirt, wenngleich eng verbunden mit orchestischem, also Combination von beidem. Wie wird es denn ein wirklich Auffaßbares, da uns die Verhältnisse so räthselhaft waren, daß man sie erst ermittelt, wenn das Ganze zu Ende ist? Es muß etwas voran gehen, wodurch das Verhältnis bekannt werden [kann]. Können es also immer nur bekannte Geschichten sein, die so dargestellt werden, und ist [die] Darstellung nur verständlich, wenn der Inhalt schon bekannt ist, so sieht man die Möglichkeit. Entweder muß das Geschichtliche für sich bekannt sein oder vorher bekannt gemacht werden, jenes herrscht in antiken, dieses in modernen Pantomimen. Insofern dieses Combination ist der zwei Hauptzweige, so ist dieses ein Drittes und das ganze Gebieth zerfällt dreifach. 1.) Orchestik, 2.) eigentliche Mimik, 3.) Pantomime. Diese drei erscheinen uns dadurch, daß die zwei ersten auf einem bestimmten Gegensaz beruhen und das dritte beider Combination ist, als das Ganze erschöpfend; aber inwiefern wir sie nun als Theile eines und desselben Ganzen behandeln können, ist eine andre Frage, da die

129

198

130

Theorie der einzelnen Künste

107 | 108

eigentliche Mimik Kunst an etwas andrem ist, sc. an dramatischer Poesie, und so scheint es kann man erst nach dieser von jener sprechen, und sie aufschieben, bis die dramatische Poesie behandelt ist, was schlimm wäre. Auf solche Schwierigkeit stößt man überall, sezt dann nur voraus, was als allgemein bekannt vorausgesezt werden kann von dramatischer Poesie, ohne die Theorie derselben schon in Ordnung gebracht zu haben. Ein Zweig sezt Kenntnis voraus, wie [die] innre Erregung sich in leiblichen Bewegungen manifestirt, ein andrer bloß leibliche Beweglichkeit. Da kann dieses viel einfacher entwickelt sein lange vor jenem, besonders wenn das Geistesleben sehr verwickelt und mannigfaltig gedacht wird. Die einfachsten Motionen des geistigen Lebens verlieren sich aber auch in denjenigen, welche sich im andern Gebieth auch kund geben, so daß der Impuls doch der gleiche ist. Dieses führt auf jenen Punkt, es gebe überall in den Künsten Arten von Productionen, die mehr vom Einzelleben ausgehen und solche, die mehr vom gemeinsamen Leben. Damit stand in Verbindung, wie das eine und andre, doch das eine mehr eine überwiegend sinnliche Seite hat auf der einen, eine überwiegend geistige auf der andern Seite, welches leztre am meisten representirt wird durch das unmittelbare Selbstbewußtseyn, i. e. [das] Religiöse, so daß es einen doppelten Styl gebe, einen religiösen von strengerem Charakter und einen geselligen von leichterem.* Ist dieses auch der Fall in der Mimik und ihren wesentlichen Theilen? Da müssen wir uns auf einen Gesichtspunkt stellen, der nicht ausschließlich in unsrem gegenwärtigen Leben steht. In diesem ist das Religiöse und Politische auf bestimmte Weise gesondert, | aber das leztre hat im modernen Leben nur an wenigen Orten den Character, daß die Kunst darin wäre, was mit dem Grad zusammen hängt, in welchem das Politische ein Öffentliches ist. Bei uns fehlt dieses Mittelglied, und es steht strenger gegenüber das Religiöse in seinem strengen Charakter und das Gesellige im leichten, welches leztre nicht politisches Zusammensein repräsentirt, sondern die Gemeinschaft abgesehen vom Politischen. Wenn wir aber diesen Standpunkt verlassen und die mit unsrer Cultur zusammenhängende Geschichte, alte und neue in Eins faßen, so sehen wir auch

108

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

199

Zeiten, wo das Religiöse und Politische wesentlich zusammenhängen, und die Kunst im strengen Styl des Gemeinsamen nicht bloß im religiösen, sondern auch in der politischen Form zu suchen ist.* Wie steht es von da aus mit der Mimik in ihrer Totalität? Wenn wir die Orchestik überwiegend dem leichten geselligen Gebieth und Spiel angehören sehen; aber auch unter allen Völkern, wo Kunst war, es religiöse Zusammenkünfte gab, denen zusammenstimmende Massen und Bewegungen wesentlich waren, die nichts andres waren als Ausdruck des religiösen Motivs in diesem Zusammensein wie bei festlichen Aufzügen von religiösem Charakter; so finden wir da dasselbe was wir als physisches Element unsrer Kunst aufstellten. In diesem Theil sind also die beiden Formen vereint. Wenn wir bey eigentlicher Mimik überwiegend das Zusammensein mit dramatischer Poesie denken, so erscheint diese überwiegend politisch, aber das Politische schließt bei den Alten das Religiöse in sich als im Innern des Motivs mitgesezt. Auch da zeigen sich beide Formen und in diesen zwei wesentlichen Zweigen geht die Mimik in diesen Gegensaz mit ein. Wenn wir nun noch die Pantomime als ein Zusammensein von beiden aufgestellt haben, als eine ein Neues constituirende Aufhebung des relativen Gegensazes zwischen ihnen, so sind dergleichen immer das Schwierigste, weil man die Punkte dabei verliert, an die man sich in den einfachen Gattungen zunächst hält. Ihrer Natur nach aber kann sie so gut in einem als [im] andern Styl gedacht werden; denken wir in einem religiösen Aufzug Gesang und Rede weg, aber mit der Bewegung den physiognomischen Ausdruck, so haben wir da beides, das Mimische hat mehr Spielraum als wo das Orchestische sehr rasch wäre. So geht der Gegensaz durch das ganze Gebieth, das wir nun in den einzelnen Zweigen betrachten. Einzelne Zweige der Mimik a. Orchestik Wir steigen von unten herauf. Die Richtung auf freie Productivität ist da am meisten in das Leibliche versenkt, und das umso mehr, je mehr die feinen Bewegungen die die feinen geistigen

131

200

132

Theorie der einzelnen Künste

108 | 109

Nuancen ausdrücken zurüktreten, so daß Massenbewegung das eigentliche Element [ist]. Dieser Kunstzweig dringt auch fast überall am meisten in die Masse des Volks, nicht leicht gibt es eine Ausnahme, daß das Volk nicht tanze. Die Masse des Volkes hat überall am meisten auch in ihrer gebundnen Thätigkeit es mit leiblichen Bewegungen zu thun, ihr Geschäftsleben hat großentheils keinen andren Gegenstand, auch nur als Masse auf Natur zu wirken, Ackerbau und unmittelbare productive Gewerbe. Da ist, wenn das menschliche Selbstbewußtseyn zu seiner wirklichen Vollständigkeit gelangen soll, in demselben Gebieth ein Ersatz aufgegeben. Diese Anstrengung der körperlichen Kräfte, die in ihren Erfolgen sich so sehr verbreitet [haben], daß das Wenigste vom Resultat den Thätigen selbst zu gute kommt, gewinnt gar zu leicht den Charakter eines Nothzustandes, einer Lebensbedrängnis. Denken wir [die] Zeit der Arbeit mit Muße | wechseln, wie wird diese sich ausfüllen? Da gehörten ganz andre Bedingungen dazu, wenn das Volk das leibliche Bewegen ganz einstellte und sich geistig beschäftigen sollte, was nur bei der religiösen Zusammenkunft ist. Aber diese kann natürlich nicht die Zeit ausfüllen, welche der Abspannung und Sammlung zufällt. Da ist das natürlichste und am leichtesten zum Bewußtseyn der Freiheit führende, wenn die Masse in das Gebieth der leiblichen Bewegungen zurükgeht, aber nicht solche, die einen Zwek haben, sondern als freie Productivität, da sie nun durch nichts von Außen gedrängt sind, so kommt ihnen dann auch die gebundne Thätigkeit als ein Gewolltes zum Bewußtseyn, da sie die Bewegung überhaupt wollen. So aufgefaßt, entsteht dadurch eine wahre Lebenseinheit und wir begreifen, wie beides sich immer gegenseitig erregt, wie hernach die gebundne Thätigkeit eben so entsteht, wie aus dieser eine freie Thätigkeit die materialiter denselben Typus hat. Ein geschichtliches Beispiel liegt vor wenigstens aus der modernen Zeit, das den Naturgegensaz am besten erklären läßt. In [der] Zeit der puritanischen und independentistischen Schwärmerei in England unter Cromwell*, war alles, was Erholung und Ruhe war, verpönt, und sogar der Ruhetag nicht nur lauter ascetischen Übungen gewidmet, sondern diese auch noch einen Theil der and-

109

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

201

ren Tage einnahmen. Da ist [dem] Charakter der Überspannung nicht angemessen daß die Masse eine solche Zeit mit geistigen Beschäftigungen zubringe. Da mußte Reaction hieraus entstehen, sonst wäre es vielleicht nie zur Institution Carls gekommen.* Die Unbehaglichkeit wußte man dunkel im Politischen gegründet, und das brachte die Reaction mit verhältnismäßig sehr geringen Mitteln. Fragen wir, was der eigentliche Charakter der orchestischen Kunst sei von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, so müssen wir sagen, zunächst ist es nichts andres, als durch freie Productivität in leiblichen Bewegungen die Einheit des Psychischen und Leiblichen zum Bewußtseyn bringen; denn so wie nun die körperlichen Anstrengungen in der Arbeit mehr oder weniger als Sache der Noth erscheinen, als erzwungen, so erscheint diese Identität aufgehoben, da es nur im Dienst des Leibes wäre, seine Bedürfnisse zu schaffen; da erscheint es nicht als Sache des Willens (außer es diene auch der Lust, wo dann keine Noth ist) und die Identität wird erst wieder hergestellt in freier Bewegung. So wundern wir uns nicht, wenn in demselben Maaße als körperliche Anstrengungen im Volk groß sind, [die tänzerischen Bewegungen] einen für Andre rohen Charakter bekommen und im Volkstanz nicht das leichte und graziöse ist, wie in den höhren Ständen, weil das Bewußtseyn bleibt, daß auch in diesen freien Bewegungen ein Charakter der Anstrengung ist; und freiheitliches Bewußtseyn bekommt das Volk davon in dem Maaße, als die freien Bewegungen wenigstens an die Anstrengungen gränzen. Denken wir Abstuffungen aufwärts, wo [der] Geschäftsmann auch dem Bedürfnis dient, wenn schon mehr einem Allgemeinen, so daß die Arbeit nicht in demselben Maaße Anstrengung ist, so kann freie Bewegung da etwas höhres manifestiren; dennoch ist kein wesentlicher Unterschied zwischen Tanz des Volkes und höhren Ständen, wenn schon nach Maaßgabe der Differenz ihrer Arbeit, die Formen darin differiren. Die Größe der Differenz hängt da ab von der Größe der Differenz zwischen den verschiednen Ständen. Überall aber ist der Tanz wesentlich gesellig aber drückt nur das religiöse Zusammensein der Individuen wesentlich aus, und von diesem Punkt aus, wo wir jezt ausgingen, entsteht

133

202

Theorie der einzelnen Künste

109 | 110

nicht der religiöse Styl in der Orchestik. In die Zeit der Muße fällt nun auch eine Zeit der geistigen Beschäftigung, wo sich der religiöse Styl dann anknüpft, jezt haben wir den geselligen Styl constituirt. Nehmen wir | dazu, daß [die] Richtung auf geistige Beschäftigung bei dem ganz leiblich beschäftigten Volk, nicht selbst entsteht, sondern unter Leitung der davon freien Stände, so sieht man wie von [der] Masse aus zunächst der gesellige Styl entsteht. Denken wir höhre Stände, aber climatische Verhältnisse so ungünstig daß Geselligkeit gering und nur da in dem Maaße als Vereinigung der Kräfte zur Arbeit nöthig ist, so verschwindet dieses Kunstgebieth beinahe, und das ist die niedrigste Stufe des menschlichen Daseins, der Mensch am wenigsten herausgetreten; wo diese Kunstübung dazu kommt, wenn auch nur in den rohsten Formen, so erscheint uns der Mensch erhoben. Ein richtiger Instinct lag also darin, wenn man der Kunst im Allgemeinen einen so hohen Werth beilegt. Zurückgehend auf den Punkt, von dem ich aus bin, ist da schon [die] Richtung zum Auseinandergehen in die verschiednen Style; das eine will eine freye Thätigkeit haben von derselben Art wie die gebundne; das andre will nach der körperlichen Anstrengung auch geistige Beschäftigung haben. Das eine geht nun in das Orchestische aus, dieses zweite aber das religiöse nimmt auch die orchestischen Bewegungen auf. Dieses bisherige erstreckt sich dem Ausgangspunkt gemäß nur auf den eigentlichen Volkstanz; von höhren Ständen, wenn sie diese Kunst üben, gilt es nicht, da ihre gebundne Thätigkeit keine leibliche Bewegung ist. In den gegenwärtigen Verhältnissen ist eben darum die ursprüngliche Nationalgestalt so gut als verschwunden; ist ein Volk einmahl in allgemeinem Weltverkehr, so verliert sich das eigenthümlich Nationale gegen ein Gemeinschaftliches unter denen, die daran Theil nehmen, und das verbreitet sich dann in die niedern Classen. So ist jetzt in Europa meistens der Volkstanz verschwunden, in dem Maaß als ein Volk am Weltverkehr theil nimmt und die Stände verschieden sind. Der gesellschaftliche Tanz der höhren Stände hat aber darum doch denselben Ursprung, er ist aus dem Volkstanze her und hinübergegangen als die Verhältnisse sich schon geändert. Betrachten wir, wie der Tanz als

110 | 111

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

203

eigentliche Kunst behandelt wird auf unsren Schaubühnen, so ist es, wie er gewöhnlich ist, eine Ausartung, aber das ist nie das Wesentliche, sondern allemahl an einem andern, natürlich also guten, daher auch die Rede davon sein kann. Der erste Anfang der Ausartung ist, wenn dieser Tanz reiner Tanz wird, er hat eigentlich seinen Ort in der Pantomime, wird er aus dieser herausgerissen, so wird er unverständlich, als Fürsichhervortreten der orchestischen Virtuosität in der Pantomime, also als epideictische Ausartung. Erst in [der] Pantomime kommen wir darauf. Wodurch ist nun die Begränzung und [die] positive Beschaffenheit der Bewegungen im Tanze bestimmt; es ist freilich freie Productivität in willkürlichen Bewegungen der ganzen Gestalt, aber eine nähre Bestimmung gehört zum Verständniß. Da ist das erst aus unsrem allgemeinen Princip, daß die Bewegungen rhythmisch sein müssen. Als wir überhaupt den Unterschied zwischen Kunstlosem und Kunstmäßigem im Gleichartigen suchten, ward das Kunstmäßige ein gemeßnes, und davon ist die Anwendung auf leibliche Bewegungen der Begriff des Rhythmus. Was ist der Grund dieses Wohlgefallens am Rhythmus und warum müssen diese Bewegungen durchaus rhythmisch sein? Das ist [eine] physiologische Frage und führt auf etwas in der Natur gegebnes. Das Rhythmische im Tanz und [in] Musik ist wesentlich dasselbe, also liegt die Frage über unsrem Standpunkt; aber in der allgemeinen Betrachtung konnte es nicht kommen und in der allgemeinen Betrachtung des ersten Theils kamen wir nicht | weit. Darum sondern wir das musikalische und rhythmische, jenes in Bewegungen der Stimmwerkzeuge, dieses [in die] des übrigen Leibes. Bewegung hat zwei Elemente, Zeit und Raum, Veränderung durch beide. Denken wir uns eine Reihe, so ist auch eine Gliederung, die Reihe der Bewegung zerfällt in Glieder, die in nicht eben gleichen, aber erkennbaren Verhältnissen sein müssen, damit der Charakter des Gemeßnen bleibe, i. e. Rhythmus. Dazu ist in der Bewegung [der] Gegensaz des schnellen und langsamen. Jenes hat in demselben Zeitmaß mehr Bewegungen als dieses; aber dieses Fließende Mehr und Minder muß, um gemessen zu werden, auf ein Bestimmbares gebracht werden. So muß in [der] Eintheilung

204

134

135

Theorie der einzelnen Künste

111

die Gliederung und im Ganzen der Wechsel zwischen lang und kurz entstehen. Dazu gehört noch der Gegensaz zwischen Arsis und Thesis*, i. e. dem Accentuirten und Tonlosen, ohne den die Meßbarkeit nicht wirklich gegeben wäre; mehr gleiche Bewegungen ohne Unterschied des Tons ließen nicht erkennen, wo eine Unterabtheilung anfängt, wo das erste Glied einer neuen Gliederung. Dies ist Übergang einer unwillkürlichen Bewegung in die willkürliche. Die Bewegung des Pulses und der Lunge tragen die Arsis und Thesis als wesentlichen Charakter, die stärkre Bewegung ist Arsis, die schwächre die Thesis. Dieser Unterschied ist nachweislich, obgleich er bald stärker bald schwächer hervortritt. Denken wir diese das ganze zeitliche Leben regulirenden Bewegungen in dieser Form, und nun sollten die willkürlichen Bewegungen hiermit im Widerspruch sein, also unregelmäßig, während jene immer regelmäßig [sind], so geht das sehr gut an in der gebundnen Thätigkeit, die um eines Andern willen ist, wo wir also die Befriedigung nicht in ihr selbst suchen, z. B. das Gehen und Sprechen in Geschäften hat keinen Theil an jenen Grundformen des Lebens, sondern Vernachläßigung desselben um des Zweks willen; so wie aber die Bewegung als freie Productivität um ihrer selbst willen sein soll, so wird nichts wahrgenommen als der Widerspruch und das wäre das absolut Kunstlose. Da finden wir sehr natürlich eine Steigerung; je nachdem der Sinn für diese Regelmäßigkeit entwickelter ist, desto weniger stark braucht das Gegentheil aufzutreten, um doch gefunden zu werden. Im rohen Volkstanz ist der Gegensaz zwischen Arsis und Thesis so stark, daß [es] einen Gebildeten stört, während die darin Begriffnen [sich] nur dadurch der freien Thätigkeit bewußt werden. Im Verschwinden fast begriffen, ist es nur als Ausnahme, z. B. in Musik, wo der Tact aufhört und der Spieler pro lubitu* spielen soll. Im Tanz als Geselligem darf die Arsis und Thesis, die den Tact bildet, nie verloren gehen, weil sonst die rhythmische Gliederung mit verloren ginge. Aber es gehört zur freien Entwicklung des Sinns, wenn der Gegensaz nicht so schroff hervortritt. Nun aber, wenn das Materielle der Bewegungen, i. e. ihre Gestalt und die Art der Veränderung hervortreten, so erscheint hier alles vollkommen

111 | 112

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

205

willkürlich und schwer Rechenschaft zu geben; je einfacher sie sind, desto verständlicher und Analogien in der Natur führen dazu, die Bewegungen im Tanz bis auf einen gewissen Punkt wenigstens als Classification zu construiren, z. B. Der Gegensaz zwischen geradlinigen und krummlinigen Bewegungen wird in fast jedem Tanz sein, aber das Verhältnis derselben ist sehr verschieden, bald ist das eine, bald das andre maximum, bald wechselt es in demselben Tanz. Das eigentlich Characteristische ist, daß die Bewegungen zugleich locomotiv sind und doch ruhen; locomotiv für den Einzelnen aber im Ganzen ruhend für die Masse. Die ganze Masse bleibt in der Regel in demselben Raum, aber die Einzelnen bewegen sich in diesem Raum. Denkt man die ganze Gesellschaft sich aus dem Raum heraus bewegend, so entsteht der Schein eines Zweks, oder von etwas, das außerhalb des Tanzes läge. Diese Beschaffenheit | des in demselben Raum Bleibenden ist nichts andres als die positive Verneinung jedes Zwecks. Von selbst entsteht nun, daß die Bewegungen als Reihe etwas cyclisches haben müssen, i. e. eine Folge von Bewegungen, die sich in sich selbst auf bestimmte Weise abschließt. Also das Rhythmische im Großen und Einzelnen[,] die Zusammensezung von gerad- und krummlinigen Bewegungen, und dieses zugleich locomotiv und in demselben Raume bleibend sein geben alle Eigenschaften des Tanzes, und alles weitre gehört nicht mehr in die Theorie und hängt schon an andern Bedingungen, denn diese verschiednen Mischungen aller dieser Elemente sollen in einem Nationalen gegründet sein, das ein verschiednes Verhältnis dieser elementaren Gegensäze bildet. Noch eines habe ich zu erwähnen, das aus der Betrachtung der Kunst nicht hervorgeht, aber im Leben, sc. die Ausartung des Tanzes nach der Seite der Geschlechtslust. Das ist eine Verunreinigung der Kunst und da ist [es] nicht nöthig, es von ethischer Seite zu betrachten, um, wo sich dieses findet den Tanz als ausgeartet zu erklären. Diese Ausartung ist keineswegs ganz darin gegründet, daß tanzende Gesellschaften aus beiden Geschlechtern zusammengesezt sind, denn die Orientalen, die nur vor sich tanzen lassen, haben oft [die] Tendenz durch Tanz Geschlechtslust zu

206

Theorie der einzelnen Künste

112

erregen. Offenbar ist das Wohlgefallen in [der] Entwicklung der Bewegungen unzertrennlich von der Kunst selbst als gerade das Maaß der Vollkommenheit. Zuerst liegt darin, daß das leibliche Leben in seiner ursprünglichen Bewegung nicht alterirt ist durch gebundne Thätigkeit, alle körperliche Arbeit ist nur partielle Bewegung und hat Richtung eine Alteration hervorzurbringen, indem die Beweglichkeit in den nicht geübten Theilen zurüktritt; also entsteht immer eine Schwerfälligkeit in den Bewegungen und Ungleichmäßigkeit in der Beweglichkeit durch die Arbeit. Im Tanze ist die freie Productivität in solchem Wechsel der Formen, die jenen Gegensaz in sich tragen, vollkommen ungehindert fortschreitend, und da ist diese natürliche Beweglichkeit nicht alterirt. Das ist bloß die negative Seite des Wohlgefallens, die positive ist die Sympathie mit dem Reichthum der Bewegungen, die in der menschlichen Gestalt möglich sind, dieses kommt nun zum Bewußtseyn in einer Mannigfaltigkeit von gemeßnen Bewegungen, also kann es nur an diesem Ort zur Anschauung kommen. Offenbar ist nun hier eine Differenz durch das Geschlechtliche bestimmt, die Beweglichkeit des männlichen und weiblichen Körpers ist different, also ist jene Vollkommenheit nicht wahrnehmbar, ohne daß die Geschlechtsdifferenz mit wahrgenommen wird. Aber es ist Mangel an Kunstsinn, wenn dieses Wohlgefallen in Geschlechtslust übergeht, denn Wohlgefallen ist von allen Begierden frei; aber so wie in der Art der Bewegungen Tendenz dazu ist, so ist Ausartung in dem Ausüben, wie in jenem Falle im Beschauen. Und hat sich so etwas eingeschlichen, so steigert es sich natürlich von beiden Seiten. Das ist also die Aufgabe des Tanzes sich in solchen Grenzen zu halten, daß diese Ausartung nicht entsteht Dies führt auf einen andren Punkt zurük, auf die Verhältnisse, die in der Gestalt entstehen durch Bekleidung. Diese kann günstig und ungünstig sein für [die] freie Entwicklung der Bewegung; wo diese Kunst ein besondres Gebieth und Ort hat, hat sie auch eine besondre Bekleidung. Jene Ausartung hat in diesen Verhältnissen ihren ursprünglich ersten Sitz. So wie eine Tendenz ist, die Gestalt [für andres] hervortreten zu lassen als nur für die Bewegungen

112 | 113

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

207

die in der Kunst selbst vorkommen, so ist dieses der Anfang der Ausartung, da sich alles auf die Darstellung selbst beziehen soll; was sich auf Fremdes bezieht, verunreinigt. Das zweite ist die Ausartung ins epideictische, was eine Ausartung in die mechanische Virtuosität ist, für die Kunst ebenso fremd. Wenn beide vermieden sind, hat der Tanz erst seine reine Entwicklung. In Ableitung der Orchestik schien sie noch gewissermaßen in der Mitte zwischen Kunstlosem und Kunst. Das innre Motiv der Kunst war überall[,] | [daß] das erregte Selbstbewußtseyn durch die freie Productivität sich unterscheide von dem unmittelbaren Ausdruck desselben, der mimischer und musikalischer Natur war, und da die Kunstübung analoger Natur ist wie die gebundne Thätigkeit so schloß sie sich an den bewegten Zustand an. Die unmittelbaren Äußerungen sind aber unbesonnen und ungemessen, die Kunst hingegen besonnen und gemessen. An dieses Kunstlose lehnten wir uns an, indem es durch gemessne und vorausgedachte Stimmung Kunst wird, also ein Übergang aus kunstlosem in Kunst wäre diese Gattung, aber noch nicht die eigentliche Kunst. Daß es aber solche Übergänge gibt, leidet keinen Zweifel. Nun schließt sich die künstlerische Production in den ersten Anfängen doch gleich an an das festliche Leben, absolute Befreiunng einer zusammengehörenden Gesellschaft von der gebundnen Thätigkeit, erscheine es nun in Form der freien Geselligkeit, oder mehr des Religiösen und Speculativen. In diesen äußren Raume allein lassen sich alle großen Kunstleistungen einreihen. Da der Volkstanz gesellig war und Gegensaz zur gebundnen Thätigkeit bildet, so fällt er von selbst in Periode der Muße, was dann dasselbe ist mit den Elementen des festlichen Lebens. Da ist die Stimmung, die eigentlich das ursprüngliche Motiv ist, nicht das Product des Augenblicks, wie alle dem Tanz und [der] Musik analogen Bewegungen entstehen, sondern sie ist bedingt durch die Lebensordnung, gleichsam aufgesammelt in der Zeit der gebundnen Thätigkeit, so daß es sich in den Zwischenräumen entwickelt. Also ist sie vom Bewußtseyn einer geordneten Lebensweise her. Daher ist da kein bestimmtes Element des Kunstlosen, sondern ist gleich in die Besonnenheit

208

136

Theorie der einzelnen Künste

113 | 114

umgewandelt und ursprünglich schon an das Maaß des Wechsels zwischen Arbeit und Muße geknüpft, also ein Gemeßnes. Dennoch liegt ein bedeutender Unterschied zum Grunde zwischen der abendländischen und nordländischen Art und Weise und der südländischen und orientalischen. Bei uns ist Volkstanz die dem Begriff der Kunst angehörende Erhebung in der Zeit der Muße, um da derselben Kräfte als freie Thätigkeit bewußt zu werden. In den Morgenländern aber sind theils Sclavinnen, theils freie Weiber, die den Tanz üben und den in Muße seienden sich darstellen zur Anschauung, denn für die Tänzerinnen ist Kunstübung nicht frei, sondern Gewerbe oder Pflicht, und der Zustand der zu Bewußtsein kommen soll, ist in denen, die sich vortanzen lassen, also in den Tanzenden selbst ist das Motiv nicht. Was bestimmt sie denn, wenn sie freie Personen sind, zu diesem Geschäft, wie einem Berufe? Das wäre zufällig, wenn man sagen wollte, Sclavinnen seien aber gezwungen und von freien, z. B. indischen Bajaden, seien es nur die dem Geschlechtsgenuß sich dargebnen*; allein wir müssen den Impuls im Künstlerischen suchen, specifische Begeisterung für [die] Entwicklung der menschlichen Gestalt in freien Bewegungen. So haben wir da die Kunst in vollständiger Sonderung. Wir finden bei uns das Analogon im Tanz der höhren Stände, die in gebundner Thätigkeit auch nicht leiblich thätig sind, daher der Tanz nur als einzelnes Element erscheint, abgeleitet aus dem Volkstanze. Wenn der Tanz noch in seiner Kraft besteht und nicht bloß formelle Sitte ist, so muß dasselbe Motiv [da] sein, specielle Begeisterung für schöne Beweglichkeit der Gestalt. Verliert nun der Tanz in höhren Classen allmählich das Nationelle, je größer [der] Weltverkehr ist, und je näher die Masse jenem steht, desto mehr Theil erhalten sie auch an diesem Verlust des charakteristischen; aber doch eignet sich der Tanz der höhren Stände doch eigentlich am besten, die eigentlichen Kunstformen auszubilden, und daß dieser Tanz das Normale ist, an welchem der Volkstanz sich hält, daß er nicht in das Wilde und Kunstlose ausarte. Da ist aber kein fremdes Element, sondern der Tanz hält sich wie wir ihn construierten. Allein ein Zusammenhang ist da mit der epideictischen Ausartung die wir auf der Schaubühne |

114

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

209

finden, wo in Ballets Vieles dem Tanz nicht angehört, sondern in das Seiltänzerische übergeht, und nicht Freude an den körperlichen Bewegungen, sondern der überwundne Schmerz. Da ist, was in das Mechanische fällt. Die Beweglichkeit der Glieder auf das Höchste zu treiben ist allgemeine menschliche Aufgabe, da von jeder naturgemäßen Function irgendwo das maximum hervortreten soll, also auch beim Willkürlichen. Ausarbeitung des Körpers in dieser Beziehung ist also aufgegeben, ob das aber ein Beruf sein soll, den sich einzelne Menschen wählen, ist eine andre Frage, die nicht hier zu beantworten ist. Die Sache selbst ist aber unbestritten eine, die sein soll, aber in das Gebieth der schönen Kunst nicht eigentlich gehörig. Es gibt allerdings nirgends eine Epideixis in dieser Beziehung, sofern sie nicht athletisch ist, sondern Seiltänzerisch als überwundne Schwierigkeit aller Bewegungen, wo schon der nicht hinreichende Raum nur Epideixis ist. Dies gehört ganz zur Kunst an einem andern, wie die Verzierungen, das Wesen ist mechanische Epideixis. Wenn nun solche Bewegungen in den eigentlichen Tanz aufgenommen werden, so ist das Vermischung. Tanz kann als Verschönerung an der mechanischen Epideixis sein, diese als solche aber hat im Tanz nichts zu thun. Dieses ist nun jener Ausartung auf Geschlechtslust hin an die Seite [zu] stellen als Ausartung, da beides von der Idee der schönen Kunst abweicht. Wie steht es nun um die andre Hauptform der Orchestik, diejenige im strengen, ernsten Styl mit den Affectionen des höhern Selbstbewußtseyns verbunden? Den Übergang finden wir in der Art, wie wir die periodische Muße von [der] Naturordnung herleiteten. In Beziehung auf das Volk sie darstellend trat ein zweifacher Gegensaz heraus, Richtung auf das Geistige die gehemmt ist, wo gebundne Thätigkeit überwiegend leiblich ist, und dann Richtung auf freie Bewegungen analog dem leiblichen Gebieth. Dieses gab die Geselligkeit, jenes gibt nun das höhre Gebieth. Beides ist also insofern ursprünglich gesondert. Wo die Sonderung recht streng ist, wie bei den Engländern*, da ist auch beides der Zeit nach völlig geschieden. Wo das nicht ist, sind die Zwischenräume der Muße theils zur geistigen Erhebung, theils

137

210

138

Theorie der einzelnen Künste

114 | 115

zur Erhebung in freie leibliche Bewegung bestimmt, beides der Sache nach gesondert. Denken wir zurük an eine uns fremde Gestaltung der Religion, so gibt es (auch im Christenthum) Arten, wo symbolische Handlungen ein bedeutendes Element bilden. Den religiösen Charakter lassen wir dahingestellt und verstehen darunter Thätigkeiten, die Element der religiösen Darstellung sind durch eine gewisse Bedeutsamkeit, und wo sie constituiert sind, sie auch verständlich sind, also der Rede nicht bedürfen. Sie werden also körperliche Bewegungen sein und da sind wir im mimischen Gebieth. Zum Theil sind das solche, womit außerdem eine eigentliche Handlung verbunden ist, z. B. bei einem Opfer ist [die] Handlung, daß das Thier geschlachtet wird, was eine Allen verständliche Bedeutung hat. Zugleich ist die Bedeutsamkeit in der Art, wie die Handlung verrichtet wird und das ist körperliche Bewegung. Denken wir eine Messe, so ist da freilich viel Rede, aber diese als solche unwesentlich, daher in fremder Sprache für das Volk, das freilich deutsch nachlesen kann, was aber gänzlich Nebensache ist. Der Act, der Messe beizuwohnen, ist gleich kräftig, ob einer die Rede vernehme oder nicht, wenn er nur die Bedeutung [der] Handlung versteht, i. e. die Transsubstantiation verbunden mit [der] Erhebung der Monstranz, was Signal ist zu einer körperlichen Bewegung die durch die ganze Versammlung durchgeht. Weiter finden wir das Umstellen der heiligen Schrift auf dem Altar, erst auf die eine und dann auf die andre Seite; aber das ist schon keine Handlung mehr, obgleich in Verbindung mit Rede, sondern nur Bewegung, ohne auf Erfahrung* zu zielen. Da sind Theile die in unsre Kunst gehören und der religiösen | Gemüthserregung angehören. Verlezend wäre es, wenn diese Bewegungen in Zeitmaß und Form des geselligen Tanzes vorkämen, das indicirt schon einen andern Styl. Sieht man auf das, was nun weniger die Einzelnen thun als die Masse, Niederfallen, Processionen, so ist [es], wenn diese absolut kunstlos erscheinen, ungeordnet und ungemessen, ein widriger Eindruck, also haben sie natürliche Richtung in das Kunstgebieth aufgenommen zu werden. Denken wir noch dazu die Musik, so ist Aufforderung zum bestimmt Gemeßnen noch größer. Wir haben also wesentlich

115

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

211

ein Zusammensein von Mimik im engren Sinn und von Orchestik; also würde es der Pantomime angehören, wenn wir die Rede ganz wegdenken. Daß eigentliche Mimik hier vorkomme, ging noch nicht hervor, aber jeder dachte es hinzu, insofern wir die Masse in religiöser Stimmung denken, die sich also in den Gesichtszügen ausdrückt und nicht bloß als Ruhe, da das Ganze in [einen] Wechsel von Momenten zerfällt, sondern als Bewegungen der Gesichtszüge. So scheinen wir in einem vermischten Gebieth zu sein; die Orchestik nicht selbstständig, sondern mit dem eigentlich Mimischen zusammen, was wir aber schon als ein zusammengeseztes fanden als wir von den physischen Elementen ausgingen; und im geselligen Tanz war Minenspiel nicht wesentlich. Hier scheint es anders, aber recht betrachtet ist es doch ebenso und Minenspiel gehört nirgends zur Darstellung, wenn es sich um Bewegungen der Masse handelt, sondern höchstens da, wo Einzelne sich in relativem Gegensaz zu ihr befinden. Das rein Orchestische im höhren Styl tritt bei uns nur hervor als ein Mimisches, und kann selbstständig nur sein, wo überhaupt das Religiöse noch sinnliche Kräfte hat, sich zu äußern. In rohern Völkern sind beide Style nicht geschieden; erst wenn die religiöse Erhebung sich reinigt, nimmt es mimische Elemente an. b. Die eigentliche Mimik Sie unterscheidet sich durch [das] Hervortreten der Gesichtszüge, dem die Bewegung der Gliedmaßen subsumirt ist und es ist zu unterscheiden was mehr Stellung ist und in den Bewegungen die locomotiven und die der Gebehrden i. e. freie Bewegungen der Extremitäten ohne Ortsveränderung. Leztere stehen in nährem Verhältnis zum Mienenspiel. Die Erregung kündigt sich zuerst in Gesichtszügen an, dann als Gebehrdenspiel. Die Stärke der Veränderung im Einzelnen und Ganzen bestimmt die Nationalität. Der Unterschied zwischen Kunstlosem und Künstlerischem ging in der Orchestik davon aus, daß die Stimmungen, an die sich die Äußerungen anschlossen, in den Kunstübenden selbst vorhanden waren, wenngleich nicht als Momentanes. Die eigentliche

212

139

140

Theorie der einzelnen Künste

115 | 116

Mimik nun soll gerade das Momentane ausdrücken. Als Naturausdruck ist der Einzelne selbst in der innren Bewegung der das Minenspiel angehört; dann ist die Äußerung keine vorher bedachte, kein innres Bild, das der Erscheinung vorausgeht, also nicht Kunst. In dem was Sache der Natur ist gibt es hier [eine] große Differenz. Hat diese im Gebieth der Kunst selbst Einfluss oder nicht? Betrachten wir verschiedne Menschen in ihrem Erregtsein, so sind uns Einige in ihren mimischen Äußerungen wohlgefällig, andre nicht. Dieser Eindruck ist gleich dem Kunsteindruck, geht aber doch von der Natur aus. Dies ist jedoch völlig zu trennen von den Gemüthszuständen selbst, die in das Epische gehen. Der Ausdruck des Gebehrden- und Minenspiels ist uns oft wohlgefällig, oft nicht. Worauf beruht dies an und für sich? Gehen wir zurück auf das vom physischen Element Gesagte von Bewegung und Ruhe.* Ist keine Ruhe absolut, sondern jede Stellung ein minimum von Bewegung und doch die Bewegungen von einander getrennt, und relativ | entgegengesetzt, so muß es einen Übergang geben von einem minimum zu einem ihm entgegengesezten ohne daß es durch Null geht. Ein solches Verhältnis setzt Null voraus, und die Consistentialverhältnisse gestatten doch keine.* Dies ist ein innrer Widerspruch. Derselbe findet sich nicht schroff wenn wir einen allmählichen Übergang denken und daher ist Vermittlung zwischen dem einen und andren. Allerdings kommt viel auf den Gemüthszustand selbst an, da eine größre Beweglichkeit und eine freiere dazugehört, wenn das Erregtsein sich auf jene Weise zu Tag geben soll; während das Pathematische mehr eine schroffe Umwandlung darbiethet. Dieß geht zwar auf die Gemüthsverfaßung zurück, ist aber Wohl- oder Mißfallen an der Art wie ein Individuum in Beziehung auf Gemüthszustände beweglich ist. Wo das Minimum Kunst sein soll, müssen wir ein maximum von Freiheit denken und das Pathematische selbst zurüktretend und dadurch kommen wir auf die ursprüngliche Position zurück, daß Künstlerisches nur da ist, wo die Verbindung zwischen dem erregten Selbstbewußtseyn und der Äußerung aufgehoben ist. Mimisch heißt eigentlich nachahmerisch, dasjenige soll nachgeahmt werden, was in seinem natürlichen Vorkommen Ausdruck einer

116 | 117

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

213

bestimmten Gemüthserregung ist, ohne daß diese Gemüthsbewegung ursprünglich vorhanden sei. Von der Orchestik konnten wir nicht dasselbe sagen denn die Bewegenden sollten das Bewußtseyn von der Mühe nicht verlieren. Hier hingegen verleugnen wir es; der Mimiker soll nicht im Gemüthszustand selbst sein, weil er sonst die Äußerung desselben nicht so in seiner Gewalt haben kann. Das maximum [ist], wenn er der natürlichen Veränderungen, die er darstellt selbst nicht fähig wäre, nicht selbst innerlich so erregt werden könnte. Dabei ist vorauszusetzen die eigenthümliche Begeisterung welche das Motiv seiner künstlerischen Thätigkeit ist. Er kann selbst über Gemüthszustände hinaus sein, aber von dem Bande zwischen dem Innern und Äußern begeistert und seine freie Productivität auf dieses Gebieth richten. Zu dieser speciellen mimischen Begeisterung gehört, daß einer im Auffassen dieses Ausdrucks begriffen ist also in beständiger mimischer Beobachtung. Der geschikteste wäre, wer den Ausdruck jeder innren Erregung, den er aus Beobachtungen gefunden, wiedergeben kann, indem er sich auf den Punkt stellt, wo das Innre in das Äußre tritt. Von diesem Extrem hinabgehend braucht ein Einzelner nicht in allen Beziehungen gleich beweglich zu sein, aber doch specifisch begeistert. Was hat diese Differenz für [einen] Einfluss? Ist einer geschikt zur Nachbildung derjenigen Bewegungen denen er wenig oder denen er sehr empfänglich ist? Nach dem Bisherigen ist Ersteres zu bejahen und dies ist das Gegentheil von dem allgemein beobachteten Verfahren. Der Rohe ist dem Mißfallen am meisten ausgesezt in Bewegungen die aus seinem Naturzustand hervorgehen. Dies kann dem Mimiker oft entschlüpfen beim Nachbilden von Bewegungen die der Ausdruck seiner eignen Gemüthsbewegung ist. Man denkt, wie einer selbst verfährt kann er am besten mimisch darstellen und das zeigt sich auch in Praxis in [der] Vertheilung der Rollen nach Lebhaftigkeit der Gemüthsart, oft darin gegründet, daß man nicht genug Rücksicht nimmt auf die mimische Begeisterung und mehr auf die Wirkung eines nachgebildeten innren Zustands rechnet. Aber die mimsche Bewegung soll nicht im Innern selbst | gebildet sein. Also fehlt die Begeisterung denen, die sich Rollen suchen.

214

Theorie der einzelnen Künste

117

Vom physischen Element aus und jenem obigen Gegensaz kommen wir auf drei Punkte 1.) die eigentliche Gesichtsmimik, Mienenspiel, 2.) Gebehrdenmimik, die immer erst bei größrer Intensität der innren Bewegungen eintritt. Nehmen wir dazu, daß Mimik meist verbunden ist mit der Rede an der dramatischen Kunst und dies für natürlich muß gehalten werden, daß dieselben Zustände einen mimischen Ausdruck und auch Gedanken hervorrufen, so haben wir ein drittes Element, auch rein mimisch, aber auf Bewegung organischer Theile beruhend 3.) Sprachmimik, Wirkung auf die Erscheinung der Rede, wie sie aus den Bewegungen der Sprachwerkzeuge hervorgeht; Höhe und Tiefe, Schnelligkeit und Langsamkeit. Diese in ihrem Zusammentreffen und Wechsel bedingen die Mimik der Sprache. Die drei Elemente können wir nicht von einander getrennt denken, wenn nicht absichtlich die Rede zurückgedrängt wird, was Pantomime ist. Folgerung: Wo diese drei zusammen sind und die eigentliche Mimik sich ganz geltend macht, da ist auch die Sprachmimik das eigentliche Centrum, sonst wäre kein Grund sie zurücktreten zu lassen um als Pantomime die andern hervorzuheben. Eine Leistung erregt Wohl- oder Mißfallen auf diesem Gebieth, je nachdem die Sprachmimik nicht verfehlt ist. Das Wohlgefallen an ihr übergeht das an den andren Elementen und bestimmt den eigentlichen Totaleindruck, also Centrum des Ganzen der Sprachmimik ist in der bloßen Rede ein andres als im Gesang, leztres gehört der Musik an, daher scheint es, als hätten wir nicht Höhe und Tiefe zur Sprache rechnen sollen, aber der Laut in [der] Rede und [der] Ton im Gesang sind irrational gegen einander. Auch in Beziehung auf Höhe und Tiefe läßt sich beides nicht in ein identisches auflösen, sondern ein minimum von Differenz bleibt immer. Diesem widersprachen Theoretiker mit Unrecht. Ton im Gesang und [auf einem] Instrument sind rational, aber nicht Laut der Sprache und Ton auf Instrument. Differenz als minimum wenigstens ist immer da; als größte Differenzen fand man[,] sie dürften nicht über eine Terze hinaufgehen, aber die Gränzen selbst musikalisch sind unbestimmbar. Laut und Ton sind verschieden, aber auch für jenen reinen Wechsel der Höhe und Tiefe in der Sprache,

117 | 118

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

215

Mißfallen oder Wohlgefallen erregend, dem Naturausdruck entsprechend oder nicht. Im Drama ist auch locomotive Bewegung aber von orchestischer so verschieden, daß wir sie mit unter [das] Gebehrdenspiel begreifen können. Im Volkstanz war die Stimmung selbst das, wovon die Kunst ausging; hingegen Mimik im wirklichen Leben ist das Kunstlose, Naturausdruck dessen, was vorgeht, [sie] kann zwar kunstmäßig sein, insofern die unwillkürlichen Bewegungen den wirklich künstlerischen ähnlich sind, aber nie sind sie künstlerisch. Mimik als Kunst fordert daß der Künstler nicht selbst in wirklichen Lebensmomenten sei, wie im Volkstanz die Muße. Mimik ist nur Kunst wo der auszudrückende Zustand nicht des Künstlers Zustand ist, also er eine fremde Rolle spielt. Denke ich einen Redner, so ist ihm Sprachmimik nothwendig und ebenso Gebehrdenspiel, aber immer als Naturausdruck; sind die Bewegungen hingegen vorausgedacht und geordnet nach den Regeln der Kunst so geht er in den andern Zustand über, daß der darstellende und productive Moment verschieden sind. | So nur kann seine Mimik künstlerisch sein, sonst bloß kunstgemäß. Gehen wir auf das, wie wir die freie Productivität als künstlerisch von ihrem Kunstlosen gesondert [hatten], so stellt jene nur dar, was in den gegebnen Zuständen von selbst geschehe, aber so nur, daß nichts Störendes, das Maaß übersteigendes dazwischen trete. Also ist es in gewisser Hinsicht Nachahmung der Natur; denn wäre es nicht in der Natur, daß die geistige Veränderung sich so abspiegele, aber sie ist zugleich Vorbild der Natur, weil sie alles was in der Wirklichkeit dieses alterirt, vermeidet. Des Redners Mimik ist nur kunstgemäß, insofern sie analog ist der künstlerischen Mimik, und diese ist nur vermöge eines Zurükgehens auf die Natur. Dies hängt mit jenem zusammen daß die specielle Begeisterung des Mimikers mit ihren Wirkungen zusammengedacht durchaus nicht abhängig ist von seiner persönlichen Beschaffenheit, sondern er alles muß darstellen können, wozu nur die leiblich nothwendigen Bedingungen da sind. Wir gehen auf die Natur zurück, und haben da zweierley wesentlich verschiedne mimische Elemente. Der Monolog und Dia-

216

Theorie der einzelnen Künste

118

log (Gespräch)[,] jenes gibt das Inidividuum in bewegtem Gemüthszustand aber für sich allein, das zweite denselben im Gemüthszustand bestimmt durch das Zusammenleben mit andren. Welches davon ist die Grundform? Das in leiblicher Bewegung hervortretende hat seinen Grund in der menschlichen Natur insofern sie Gattung ist, d. h. andre Individuen voraussezt und in Beziehung auf diese [ist]. Daher der Monolog nur untergeordnet als Zwischenraum von einem Moment des Zusammenlebens zum andren, bedingt durch diese beiden. Mimische Vollkommenheit ist also im Zustand des Gesprächs den innren Zustand zum Bewußtseyn zu bringen und zwar mit einer solchen Klarheit, daß alle Bewegungen in diesem Zustand verständlich sind, also nichts in dieselben komme, was nicht durch ihn bedingt sei. — Wie verhalten sich die verschiednen physischen Elemente in dieser Beziehung? Wenn wir das Zusammensein mehrerer denken und innre Bewegung[,] so denken wir von selbst die Rede mit, also Mimik durch die Rede bedingt und in der Beziehung auf sie. Von selbst ist klar, daß die Sprachmimik mithin das Centrum bildet, i. e. das wesentlichste Element ist, und zugleich das, was allen andern die Regel gibt. Nehmen wir die zwei andren Elemente, Gesichtsund Gebehrdenmimik, so muß jene auch vorhanden sein, wenn derjenige, der Hauptperson ist, nicht selbst der redende ist, denn in einem Dialog wird die Rede des einen immer einen bestimmten Eindruck machen auf den andern, d. h. Gesichtsmimik wo der eine noch schweigt (als empfangend). Ist Dialog also abwechselndes Reden und wir betrachten nur den einen Sprechenden, so muß er schon in der Pause dieses Element hervortreten lassen und das constituirt schon das, was man das stumme Spiel nennt, Gesichtsmimik die sich bezieht auf die Thätigkeit der Andern, ehe noch die eigne Rede hervortritt. Nun bilden sich die kunstlosen innren Bewegungen zuerst in Gesichtszügen ab, also wird Minenspiel das erste sein; und Gebehrdenmimik in der Regel erst die Rede begleitend. Fälle sind möglich, daß sie der Rede vorangeht, aber dann ist die Bewegung schon eine sehr starke. In der Regel geht Gesichtsmimik voraus, und Gebehrdenmimik [ist] das nachfolgende, die Rede begleitend. Fragen wir, was in

118 | 119

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

217

Sprachmimik eigentlich das Künstlerische sei, so tritt ein ganz eigner Umstand ein; wenn wir fragen: Ist es möglich, daß Jemand seine eigne Rede falsch vortragen kann i. e. daß das Resultat der Sprachmimik die relative Differenz für das Gehör in den einzelnen Elementen der Rede dem Inhalt nicht gemäß ist, so wird das jeder verneinen. Wer selbst spricht trägt es nicht falsch vor, denn da ist der Naturzusammenhang der innre Wahrheit ist. Etwas andres ist es, wenn einer eine eigne Rede darstellt, die aber in frühren Momenten schon producirt war. Ist dieser Moment ihm fremd geworden, so kann er auch die eigne Rede falsch vortragen. Vollkommne Richtigkeit ist das schlechthin Natürliche. | Tadeln wir natürliche Sprachmimik so tadeln wir nur verkehrte Bewegungen die aber auf dem künstlerischen Gebieth entstanden sind. Es kann einer beim Vorlesen falsch accentuiren und intoniren, wenn er nicht von der Rede durchdrungen ist und das kann in die eigne Rede dann übergehen, aber rein von Natur aus kann das Unrichtige nicht entstehen. Daraus folgt, daß der Künstler keinem Irrthum unterlegen ist, wenn er von der vorzutragenden Rede recht durchdrungen ist, sie so in sich trägt, wie der, der sie producirt hat, ausgenommen es müßte von der Schule aus i. e. von seiner Kunstübung her etwas Verkehrtes hineinkommen. Nun finden wir in [der] Sprachmimik sehr große Differenzen unter verschiednen Völkern, andre Zeitmaaße, Accentuation; ebenso läßt Intonation große Verschiedenheit zu und mit dieser natürlich auch die Modulation. Diese Differenzen sind nichts andres als das natürlich Richtige, abhängend von der Individualisierung der menschlichen Natur in verschiednen Völkern. Ist von Darstellung eines Fremden die Rede, so muß dieses mit aufgenommen werden. Dadurch entsteht aber eine so complicirte Aufgabe, daß man sie fast nicht lösen kann, da aus verschiednen Gesichtspunkten ganz verschiedne Methoden aufgestellt werden können. Aber das hängt sehr zusammen mit unsrem modernen Standpunkt, daß wir sc. unsren Gegenstand auf freiste Weise aus allen Regionen nehmen. Denken wir aber, die Kunst als eine nationale, so entstehen diese Schwierigkeiten nicht, oder nur sehr untergeordnet. Soll aber Fremdes dargestellt werden aus fremden Sprachen, so

218

141

Theorie der einzelnen Künste

119

entstehen sie, und [sind] nie vollkommen lösbar. So z. B. deutsches Drama, das [einen] Griechischen Gegenstand hat.* Sollte die Person vollkommen dargestellt werden, so muß es in den natürlichen Kreisen sein; da es aber in einer ihnen fremden Sprache geschieht, so ist schon Widerspruch. Diese Unauflöslichkeit ist in der Komik ein eigenthümliches und häufiges Motiv. Wenn in einer Handlung [ein] Fremder dargestellt wird und der Zwiespalt derselben gegen die Sprache mit, so ist das ein lebhaftes Motiv. Aber im Tragischen soll das ganze verschwinden und da entsteht [die] Unauflöslichkeit der Aufgabe. Schon dieses führt auf eine allgemeine Betrachtung, daß es sc. hier keine Vollkommenheit in der Kunst geben kann außer einer rein Nationalen. Sehen wir von Sprachmimik nun erst ab und denken an Gebehrdenmimik so finden wir bei allen Völkern sehr viel Positives i. e. mehr aus Sollen als aus Natur entwickeltes. Jedes Volk hat Gebehrden, die ein andres nicht hat, obwohl es keine Zustände hat, die das andre nicht auch hätte und [der] leibliche Ausdruck damit. Das hat noch den besondren Grund: Es mischt sich in die Gebehrde als mimischem Ausdruck immer noch etwas andres, was seine Zeichensprache sein will, i. e. nicht Ausdruck des Gemüthszustands, sondern Begriffsausdruck und das ist so positiv wie die Sprache. Zwischen zwei Sprachen gibt es immer gewisse Approximationen im Werth der Ausdrücke, aber die Töne selbst sind ganz verschieden und diese Differenz ist eben das Positive. Ganz so geht es in der Zeichensprache und da sich hievon immer [etwas] in die Gebehrden einmischt, so entsteht daraus der eigenthümliche Charakter jedes Volks in dieser Beziehung, den man erst auffassen muß. Vollkommne Auffaßung und Darstellung gibt es daher nur innerhalb derselben Nationalität. So wie man darüber hinausgeht, muß man entweder [eine] positive Grenze annehmen, die auch nur durch Sitte bestimmt wird, oder man ist immer in Gefahr, daß das Comische sich einschleicht; denn so wie eine Differenz eintritt, daß ein Theilnehmer als Fremder erscheint im Gebieth des Gesprächs und [der] Handlung und der Contrast tritt hervor als nicht überwunden, so ist da ein comisches Element. Da findet die große Differenz statt zwischen der antiken und modernen Kunst.

119 | 120

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

219

Das letztre weit hinaufgerückt, sogar die Römer umfassend, die ja auch Griechen darstellten. Bei den Griechen war das Drama wesentlich national außer im comischen Gebiethe. Von da ist vollkommne Auflösung. Darüber hinaus schwankt die Aufgabe. | [Der] Dialog verläuft in Abwechslung von Gesichtsmimik in aufnehmenden Momenten, und Gebehrden- und Sprachmimik mit der Rede als dem Willensausdruck. Dies der beständige Antagonismus. Ein gewisses Verhältnis ist immer gegeben, ist das Maaß der Bewegung zu klein für eine Rede, so tritt die Kunst zurück und es ist ein Mangel (erscheint als todt); ebenso gibt es ein Zuviel im Verhältnis der Bewegung zur Handlung, i. e. das Überladne. Hierin kann aber nie ein Volk Richter des andren sein, da jedes ein eignes Maaß hat. Dieses in der Relativität festhaltend, kann man es auf den ursprünglichen Begriff reduciren, [ein] Zuwenig beweist, daß der Leib als Organ die innre Erregungen zur Darstellung zu bringen nicht genug ausgebildet ist, Mangel organischer Ausbildung; andrerseits ist das Zuviel eine überwiegende Leiblichkeit, die deßwegen in das Thierische übergeht, wo die Erregung immer völlig aufgeht in der leiblichen Bewegung; indem das Bewußtseyn der Existenz gewissermaßen da ist, aber nicht fähig das Leibliche zu regieren. Dieses Überladne, wenn es ein künstlich Gemachtes ist, hat dann seinen Grund in Mangel an Einsicht über das Verhältnis zwischen dem kunstlosen und künstlerischen. So wie man glaubt, dieses müsse sich von jenem durchaus entfernen, um nicht [als] Nachahmung der Natur zu scheinen, so fällt man in das Todte oder Überladne. Beides hat also zweifachen Grund, der eine ein geistiger, Mangel an Erkenntnis der Aufgabe selbst, der andre ein leiblicher, der doch auf Ethik zurückzuführen ist, da der Leib nie allein. Ist ein Künstler so todt, so ist [die] specifische Begeisterung für leibliche Bewegung nicht da, er also mit seiner ganzen Existenz nicht auf dem rechten Wege. Geht einer auf das Überladne, so muß in seinem eignen Sein das Leibliche jenes Übergewicht haben, wenn es nicht von falscher Auffaßung der Kunst her affectiert ist. Weil wir aber die beiden Momente immer verbinden, wie sich künstlerisches und kunstloses immer unterscheidet und jenes doch nur das natürliche

220

142

Theorie der einzelnen Künste

120 | 121

ist, so ist auch ihr Gegensaz [eine] zweifache Unvollkommenheit. Entweder wird vernachläßigt, daß die Natur die Norm geben soll, so geht die Kunst ganz in Nachbilden des Natürlichen als Kunstlosem auf. Der Fehler ist da Mangel an specifischer Begeisterung; denn es wird mit aufgenommen, was in der Wirklichkeit nur aus Hemmung eines ursprünglichen mimischen Impulses her ist, sei es durch Gewöhnung oder Nichtausbildung. Auf der andern Seite steht das Extrem des Gekünstelten als absichtliches Entfernenwollen von der Natur. In Gebehrdenmimik ist also überall mehr oder weniger etwas positives, da sich immer etwas von Zeichensprache einmischt, die durchaus conventionell ist, d. h. sich so oder so als Sitte gebildet, daß Kopfschütteln so Bejahung ist und so Verneigung ist conventionell und könnte ebenso gut umgekehrt sein. Das führt alles mehr auf ein Logisches zurük, als unmittelbar auf erregten Gemüthszustand. Verbinden wir damit daß [das] Verhältnis des natürlichen und kunstmäßigen nicht richtig aufgefaßt ist, so entsteht, daß man rein Willkürliches in den Ausdruck bringen will, und merkt das der Zuschauer, so hat er von selbst Tendenz, es auf die Zeichensprache zurükzuführen und liegt das nicht im Cyclus des Gewöhnlichen, so verwirrt es ihn und das Ganze wird ihm unverständlich. In Beziehung auf diesen Gegensaz können wir die Formel uns so sagen: Der Typus der Bewegung muß rein derselbe sein, wie derjenige der in der natürlichen Bewegung in demselben Lebenskreise vorwaltet, und daß diese Naturbewegung ungebildet erscheine, ohne daß wir die Identität aufheben; das eine vermeidet Zurüksinken in Natürlichkeit und das andre das Erkünsteln. In Beziehung auf den Quantitativen Gegensaz des todten und überladnen | sagen wir, die künstlerische Bewegung müsse den Gemüthsimpuls zur Darstellung bringen und zugleich ganz aus diesem verständlich sein. Über das Verhältnis dieser drei Elemente in den verschiednen Formen der mimischen Ausübung ist noch darzustellen. Neulich habe ich aufmerksam gemacht, daß es auf diesem Gebieth Differenz gibt zwischen der gegenwärtigen Zeit und [dem] Alterthum*, die zum Vortheil des Alterthums erschien, weil da die mimischen Darstellungen ganz in den Grenzen des Nationellen

121

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

221

liegen und das Maaß dadurch rein gehalten war. Stellt man dar aus fremden Kreisen, so wird das Maaß unsicher und wenn Vermischung von Einheimischem und Fremdem eintritt entsteht Gefahr, daß der Gegensaz in das Comische ausarte. Gerade diesen Umstand von seiner Unvermeidlichkeit her betrachtend, i. e. wo die Völker sich so berühren, daß eine solche Neigung entstehen mußte in das Tragische auch das Comische einzumischen, und das [der] Triumph der Kunst ist, das Unvermeidliche mit in ihre Tendenz zu nehmen, weil sie so es besiegt: Da treffen wir noch auf eine Differenz zwischen antiken und modernen, daß in dramatischen Darstellungen der Alten die Gesichtsmimik zurücktritt überall wo die Maske vorherrscht. Diese erscheint uns willkürlich gemacht, hat aber seinen hinreichenden Grund in der ganzen dem alterthümlichen Leben angemeßnen Art der Kunstausübung. Allerdings ist das Mienenspiel etwas natürliches und jedem bewegten Gemüthszustand unvermeidlich im wirklichen Leben. Aber bei genauer Beobachtung zeigt sich, daß von selbst der Mensch sich [in] diesem nur gehen läßt in dem Maaße als es auch aufgefaßt werden kann und uns bei großer innrer Bewegung diese Gewalt des Bewußtseyns verloren geht. In einem kleinern Kreise, wo man in begrenztem Raume auf jeden aufmerken kann, wird im Hervortreten der innern Bewegung in Gesichtszügen keine absichtliche Hemmung statt finden, unbewußt werden sie erfolgen. In einem größrem Kreise aber, wo der Einzelne verschwindet ist das Verhältnis etwas anders, und darin ist nicht ein im Augenblick bestimmt Gewolltes, sondern das persönliche Selbstbewußtseyn bekommt ein andres Maaß, der Einzelne fühlt sich als geringer Theil des Ganzen und Ausdruck des persönlichen Selbstbewußtseyns tritt zurük. Freilich wenn hoher Grad von Gemüthserregung vorhanden ist, so gehen diese äußren Bewegungen doch vor sich, aber immer wird das Maaß verschieden sein. Vergleichen wir so das alte und neue Drama, so hat dieses den Charakter sich in engerm Kreise und Raum zu bewegen, jenes hingegen überwiegend das öffentliche Leben, was nicht von [der] Tragödie allein, sondern auch von der alten Comödie gilt, indem was hernach ins häusliche Leben gezogen

222

Theorie der einzelnen Künste

121 | 122

ward, schon Zeichen vom Verfall des öffentlichen Lebens war. Dem war die Räumlichkeit angemeßen, und das alte Theater nur in Zusammenhang mit großen Volksfesten und ungleich größrer Zuhörerzahl, daher von selbst größres Zurücktreten des Einzelnen und damahls kannte man das bewaffnete Auge nicht, so daß alles Mienenspiel für weit die meisten Zuschauer verlorengegangen wäre, daher trat es zurük. Dazu kommt, daß bei den Alten wegen [der] Darstellung des öffentlichen Lebens [ein] Gegensaz zwischen Chor und Einzelnem bestand, jener so wenig Nebensache, daß die Einzelnen nur in geringem Zahlenverhältnis dagegen sein durften; so ist Übergewicht einer Masse, wo der Einzelne selbst verschwindet. Wollte ein Chor seine Darstellung wesentlich in das Mienenspiel legen, so würde das lächerlich, weil in diesem persönliche Eigenthümlichkeit hervortritt, im Chor aber nur der gemeinsame Charakter sich zeigen soll. | Wenn der Einzelne in Thätigkeit übergeht, sehen wir das Minenspiel von selbst zurücktretend und dem Gebehrdenspiel weichend; und doch sollen die Gesichtszüge den Charakter darstellen, d. h. in Momenten der Rede selbstständig geworden sein als Stellung nicht als Ruhe, und nur Sprach- und Gebehrdenmimik dabei hervortreten. So ist Möglichkeit, wenn das Gesicht nur kann den Charakter darstellen wollen und das kann die Maske auch. Dazu kommt, daß sich die Momente, wo der Einzelne aufnimmt und nicht selbst redet, sich theilten, entweder hatte er es mit dem Chor zu thun oder einem andren Einzelnen, in jenem Falle hat er zu hören, was ihn nicht kann in lebendige Bewegung sezen, da des Chors Charakter ist einen dem leidenschaftlichen entgegengesezten ruhigen Charakter zu haben und die lyrische Einheit darzustellen; ist er aber mit einem Einzelnen zusammen, so ist es da der kurze Dialog, wo die Pausen des einen und andren fast verschwinden und der Schweigende schon in Replic begriffen ist. Im neuern Drama verhält es sich anders und es ist eine gewisse Nothwendigkeit, daß die Gesichtsmimik hervortrete, da der Einzelne und der Raum in ganz andrem Verhältnis zur Handlung steht[,] unter der Maske ist alle Gesichtsmimik auf die Augen beschränkt und auf geringe Entfernung genügt das nicht und

122

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

223

Masken kämen als ungenügend zum Bewußtseyn. Die Aufgabe wird schwieriger, weil jener Antagonismus des Wechsels zwischen Hervor- und Zurücktreten des Minenspiels und [der] Sprache mit Gebehrdenmimik besonders hervortritt, und daher befriedigen unsre Mimiker so selten, da sie das Maaß zwischen todt und überladen und zwischen gemein natürlichem und erkünsteltem halten müssen. Die Mimik der Alten ist also beschränkter, da nur Bewegung der Augen möglich, und die des Kopfes schon zur Gebehrdenmimik gehört. Das Drama ist immer eine Handlung und darstellen kann man nur die Wirkung der Handlung in ihren verschiednen Momenten. Dieselben Momente sind aber in und für jeden verschieden und bringen verschiednes hervor. Ist nun dramatische Poesie hinreichend um das handelnde Individuum so zu beschreiben, daß das Princip darin anschaulich wird? Das ist nicht der Fall, und je mehr die Bewegungen im Kleinen zur Darstellung kommen sollen, also im Minenspiel[,] desto mehr fällt Poesie und Mimik auseinander. Der Director sezt nicht auseinander wie die Einzelnen sich gruppiren und wie der Einzelne sein soll. Verschiedne mimische Künstler stellen dieselbe Rolle verschieden dar, weil sie jene Direction anders ergänzen und sich das Innre des Darzustellenden anders construiren. Der mimische Künstler soll daher zugleich Dichter werden, um den dramatischen Dichter zu ergänzen. Aufgabe ist, daß der Zuschauer durch mimische Darstellung die vollständige Anschauung vom Drama sei; also muß jener Zuschauer der dritte Künstler noch sein und das Verhältnis zwischen Mimiker und Dichter ergänzen. Denkt man Minenspiel weg, so beschränkt sich die Darstellung auf das, was der Dichter gegeben hat, und es bleiben nur die Gesichtszüge. Dann ist die Aufgabe in größrer Vollständigkeit lösbar. Damit hängt die Form des antiken Drama zusammen, wo [der] Dialog in kurzen Säzen [stattfindet]. Die antike Darstellung scheint sich also zu rechtfertigen und die Aufgabe zu einer eigentlichern Kunstaufgabe zu machen als die moderne. Gehen wir von dieser verringerten Aufgabe, wo Minenspiel wegfällt, noch weiter hinab, so kommen wir zur Recitation, wo Sprachmimik das einzige Element. Sprachmimik kann in unmittelbarem Vortrag eigner Rede

224

Theorie der einzelnen Künste

122 | 123

nie falsch sein als durch falsche Gewöhnung in der Schule oder unvollkommne Ausbildung des Sprachorgans. [Der] Künstler wird seine Rede, wenn er nie oratorische Vorübung hatte, unrichtig vortragen, ausgenommen wenn er früher aufgeschriebne Gedanken später vorträgt. | Ganz anders ist es mit dem Vortragen fremder Gedanken. Da dominirt Sprachmimik und richtig Recitiren als Sprachmimiker ist die erste Basis. Denken wir dieses im Vorlesen, so erscheint da die Sprachmimik meistens ganz isoliert, der Vorleser hat mit Mimik und Gebehrdenspiel gar nichts zu thun. Wo nun die Rede rein objectiv ist, vermißt auch niemand etwas; wo aber der Einzelne mit einer Art Öffentlichkeit ein ganzes Drama oder Dialog recitirt, so wird die Aufgabe schwankend. Soll einer bloß den Autor recitiren oder die Verschiedenheit der redenden Personen, wo sich dann gleich fragt, in wiefern er Minen- und Gebehrdenspiel einmischen und durchführen [soll]. Da sieht man wie wesentlich diese Elemente zusammengehören, und wie schwierig sogar das, was Hauptsache ist, zu isoliren; weil sobald die Objectivität des Gedankens nicht dominirt, sondern er sich das Reden einer Person denkt, so fordert er, daß diese sich vergegenwärtige. Fällt scenische Umgebung weg, so auch die locomotiven Bewegungen und es bleibt nur Natürlichkeit der Recitation im Wechsel der Personen, die in Sprachmimik hervortritt. Geschieht dieses mit Interesse, so ist Reiz zum Gebehrdenspiel fast unüberwindlich und schon ist da eine Grenze zu bestimmen; wenn nur der Eindruck so ist, daß man sich an der Zusammenstimmung dessen, was einer geben kann, erfreut. — Dieses führt auf einen andren Punkt freilich ganz an der Grenze unsrer Untersuchung. Wenn wir zur Totalität der Aufgabe zurückgehen und sie in moderner und antiker Gestalt vergleichen, so ist noch ein Punkt zu überlegen. Bei der antiken Darstellung des Drama war es eigentlich nicht nothwendig, daß die mimische Kunst ein abgeschloßner Beruf war, sondern das konnte man von jedem voraussezen, der nur die allgemeine bürgerliche Bildung hatte. Der Dichter sezte sich in Relation mit den Darstellenden und konnte nur so sicher sein, daß sein Bild, welches das Gedicht begleitet, nach Maaßgabe des bestehenden Typus dargestellt

123 | 124

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

225

wurde. Da durfte der mimische Künstler von Allem dispensiert werden, was die richtige Beobachtung voraussezt, wenigstens die Bewegungen des täglichen Lebens; und was in ihnen unvollkommen war, wurde ergänzt durch den Dichter. Dieser war das lebendige Princip der mimischen Darstellung und er mußte beides zusammensein. Desto weniger mußte der mimisch Darstellende sein wenn er nur die Sprache in seiner Gewalt hatte und den Sinn für Beweglichkeit da bei ihnen Gymnastik zur allgemeinen Bildung gehörte. In dieser Ausübung war er nur das Organ des Dichters und die Principien waren alle in diesem, daher die mimische Darstellung so gut wie die Worte sein Werk. In der modernen Ausübung ist das ganz anders, Mimische Darstellung [das] Werk der Darstellenden, woran [der] Dichter nur da Theil hat, daß er eine Art scenische Direction beischreiben kann, und nun noch, daß das Minenspiel jede kleine Bewegung darstellen soll; das sind die Ursachen, daß der Mimiker in dramatischer Darstellung als ein eigner Künstler hervortritt, und dramatische Darstellung vereinigtes Werk des Dichters und der Schauspieler ist, so daß es in verschiednen mimischen Societäten ein Verschiednes wird. Daher man oft wenn man den Dichter haben will, vom mimischen Darsteller abstrahiren und ihn recitiren [muss]. Vollkommne Einheit zwischen Dichter und mimischem Künstler ist nie zu erreichen, daß man sagte nur so und so kann dieses dargestellt werden. Aus dieser Irrationalität entsteht, daß dramatische Poesie von scenischer Darstellung ganz gesondert wird und Dichter [ein] Drama componiren ohne an mimische Darstellung zu denken, daher dann Modificationen nöthig sind. | Für die Poesie ist dieses eine vollkommne Entwicklung, da so die dramatische Poesie erst selbstständig wird durch Loswinden von diesem Körperlichen, was nur in unsrem Leben möglich. Damit hängt zusammen, daß die mimische Kunst ganz was andres ist auf diesem Gebieth, bei den Alten war sie Organ des Dichters, also nicht selbstständig (als nur in Pantomime). Damit steht in Verbindung, daß wenn die mimische Kunst selbstständig zur Darstellung kommen will, sie möglichst vom Dichten befreit sein muß. Da ergeben sich Formen, die im modernen Leben vorhanden waren und noch sind

226

143

144

Theorie der einzelnen Künste

124

sc. dramatische Erfindungen rein für den mimischen Künstler der aber Dichter werden muß, wenn er nicht Pantomime bleiben will. Im Trauerspiel nicht, aber im Lustspiel und das wurde besonders bei [den] Italienern ausgebaut* die am meisten mimische Beweglichkeit haben, daß der Dichter gleichsam nur den Plan eines Stücks gibt, freilich mit schon feststehenden Personen, also dem Publikum und Mimiker schon näher gerükt. Für diesen erfindet der Dichter einen Stoff, als Geripp von den einzelnen Scenen, und die Schauspieler führen es aus. Das ist [die] höchste Stufe von selbstständiger Entwicklung der mimischen Kunst, aber nicht möglich ohne zugleich in Poesie überzugehen. Sollten wir diese italienischen Stüke bloß als Pantomime denken, so ginge viel vom Genuß verloren. Aufgabe ist, daß der Dichter solche Situationen stellt, die die mimischen Künstler durch Rede ausfüllen können, ohne in dieser den Rang von Künstlern zu haben, was das Verhältnis zwischen Rede und Mimik umkehrt und zum Theil seinen Grund im Eigenthümlichen des Comischen hat. Den Begriff des Comischen haben wir im Allgemeinen bestimmt. Was für eine specifische Wirkung muß nun das Comische in der Mimik hervorbringen? Das Comische ist insofern ein Gegensaz in der allgemeinen Tendenz der Kunst als das einzelne künstlerische Sein nicht aufgestellt wird als Norm für das Sein sondern im Gegentheil die Nullität des Einzelnen wie es sich isoliren will, [wird] hervorgehoben. Hierin liegt eine andre Form, in der die zwei Elemente der Kunst in dieser Beziehung beisammen sein müssen. Das Verhältnis unsrer Kunst zur Natur haben wir so bestimmt, daß [es] gleich sei, ob wir sagen Kunst sei Nachahmung oder Norm der Natur denn jedes gilt nur insofern das andre mit ist.* Im Comischen heißt das, die Kunst soll die einzelne Wirklichkeit so darstellen, daß diese Darstellung eine Norm ist für die Erscheinung der Nullität des Einzelnen in der Wirklichkeit. Man ist an der Wirklichkeit festgehalten, aber in jedem Augenblick erscheint sie im Widerspruch gegen das, dessen Erscheinung sie sein soll, gegen die Idee. Also ist hier ein stärkres Halten an [der] Wirklichkeit durchaus nothwendig. Die Darstellung soll die Erinnerung aus diesem Gebieth des Wirklichen

124 | 125

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

227

erweken. Das Comische das den Eindruck des Neuen macht, wäre verfehlt. Der mimische Künstler muß nun um hier [Entsprechendes] zu leisten, specifische mimische Begeisterung haben und die ist unter den Italienern ein Nationalzug, dann braucht er nichts weiter als lebendige Beobachtung der gewöhnlichen Kreise, da muß er das finden, was jene Erinnerungen weken soll, und in diesen Kreisen muß die Darstellung versieren. Darin liegt [die] Möglichkeit zu diesem selbstständigen Hervortreten, und großen Talents der Rede bedarf es nicht, da die Sprache in diesem Kreise ja nicht in Vollkommenheit erscheint, und die scenische Direction des Componisten muß das übrige thun. Wo diese Seite relativ mehr zurüktritt wie im Norden, da ist auf ein solches selbstständiges Hervortreten der Mimik nicht zu rechnen; doch war unser Harlekin-Theater*, dasselbe konnte sich aber eben nicht halten, da wir zugleich geringre Richtung auf das Comische haben als die Italiener. | Da ist nun natürlich, daß das Minenspiel größre Gewalt hat, ja es liegt in der Natur des darzustellenden niedrigen Gebieths, daß kein fester Unterschied ist zwischen Spontaneität und Receptivität, Willen und Begehren. Im dramatischen Dialog sahen wir das Minenspiel zur Ruhe kommen, sobald einer in eine Thätigkeit geht, die durch Rede sich äußerte, weil [das] Minenspiel überhaupt nicht geeignet ist, Willensthätigkeit zu begleiten. Hier ist aber vom Willen in höhrem Sinn nicht die Rede, sondern die spielenden Personen werden ganz von Lust geleitet und sinnlichem Begehren. Lust und Begierde ist das Beharrliche und wechselt in [der] Erscheinung und diese sind immer im Minenspiel ausgedrückt, daher Maske zufällig, und eher hemmend als fördernd. Erst wo Maske wegfällt ist da die vollkommne Selbstständigkeit der Mimik möglich. Hat sie hier ihre Selbstständigkeit hingegen auf der entgegengesezten Seite kann sie die nicht haben, so kann sie selbstständig nur sein von der Rede gesondert i. e. in Pantomime. Dann ist aber eine falsche Tendenz in [der] Vorherrschaft des Minenspiels in dramatischer Darstellung; das neure Drama aber unvermeidlich dahin führt, weil eben das Drama nicht mehr national ist, sondern aus dem Volk nicht zugänglichen Kreisen.

145

228

Theorie der einzelnen Künste

125

Im Melodrama trägt nur Einer monologisch die Momente seiner Handlung und seines Zustandes mit musikalischer Begleitung vor, ohne daß seine Rede poetisch wird. Die poetische Behandlung versiert dann bloß in mindrer Region, in der Recitation, wo die Musik durch unbestimmtern Rhythmus sich der prosaischen Rede nähert. Auch dieses Beispiel zeigt, wie unsre drei Elemente sich beständig suchen und mannigfaltig verbinden. c. Pantomime

146

i. e. Darstellung einer Handlung ohne Rede vermittelst orchestischer Bewegungen, die aber auch von Gebehrden und Minenspiel begleitet sind.* Es scheint eine Verringerung der dramatischen Mimik, weil ohne Rede; hingegen von Orchestik aus scheint sie eine Erhöhung dieser weil die Bewegungen im Tanz bloß die Stimmung und das Bewußtseyn ausdrücken, in Pantomime aber ethische Bedeutung gewinnen. Dadurch wird man zweifelhaft, von welchen Seiten sie zu betrachten sey. Sieht man sie als ein um die Rede verkürztes Drama an, so ist die genetische Erklärung schwer, wie man der dramatischen Darstellung die Hauptsache, die Sprachmimik wegnehmen konnte. Leichter knüpft sie sich an die Orchestik. Der Volkstanz kann einer solchen Erhöhung nicht bedürfen, denn die Befriedigung entsteht aus einem Zusammenwirken freier Productivität in leiblicher Beweglichkeit und da hier die Virtuosität durch die volksthümliche Lebensweise bestimmt ist, so ist auch ein hinreichender Gegensaz zwischen freier Productivität und gebundner Thätigkeit ausgesprochen; und es kann die Forderung nicht entstehen für einen erhöhten Charakter der Bewegungen. Aber im höhren Tanz gehen die Tanzenden weniger von Einer Stimmung aus, entwickeln in [der] Darstellung von Fremden mehr Virtuosität und darin liegt der Übergang zu einer solchen erhöhten Kunstübung, da im höhren Tanz Darstellende und Zuschauende sich gegenüber stehen, im Volkstanz dieser Gegensaz Null ist und Zuschauer bei diesem nur ein gelegentliches, während beim höhren Tanz dieser Gegensaz fixirt ist und daher Tendenz entsteht, den Werth des Gesehenen

125 | 126

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

229

für die Betrachtenden zu erhöhen. Innre freie Productivität aus Selbstbewußtseyn hervorgehend gibt bloß für die Ausübenden Befriedigung. | Daher gibt man nun auch dem Cyclus von Bewegungen eine größre Bedeutung. Dies ist Übergang zur Pantomime. Sie sezt voraus natürlichen Tanz vor einem Publikum und stellt eine Handlung dar. Den Bewegungen des Volkstanzes ist Bedeutung nicht abzusprechen. In jedem geselligen Tanz ist ein Wechsel von sich Trennen und Wiederfinden und dies ist das Bedeutsame neben dem bloß Rhythmischen. Soll dies ohne Rede verständlich sein, so muß die Handlung so bekannt sein und die Ausführung dafür erkannt werden, daß jeder die Beziehung macht. Wo nicht, so kommt eine scenische Umgebung zu Hülfe wie in unsren Ballets. Im Alterthum waren die natürlichen Gegenstände der Pantomime[,] die mythologischen[,] allgemein bekannte Verhältnisse, da die mythologischen Personen schon in [der] bildenden Kunst ihre bestimmte Beziehung hatten und durch Poesie die Begebenheiten bekannt waren. Entwickelt sie sich heutzutage ohne diese Stütze mit dem Tanz in seiner epideictischen Ausartung in den Ballets zusammen, so ist dies eine Zwittergattung ohne wahre Kunsteinheit; denn die Darstellung soll in den fingierten Personen aufgehen, diese können nicht als Tänzer fingiert sein, sollen aber doch die Tanzübung machen, erscheinen also als zwei Personen[,] als darstellender und als epideictischer Tänzer. Diese heutige Kunstgattung ist daher verwerflich. Aber es gab eine alte italiänische Schule für diesen höhren Tanz, die sich frei hielt von diesen mechanischen epideictischen Ausartungen und Kunst einzig in Gracie der Bewegung suchte. Da war Pantomime reine Kunst; aber auf die französische heutige Pantomime gepropft ist sie bloß Zwittergattung.* Allgemeine Betrachtungen über die Mimik Wenn wir davon ausgehen, wie wir uns für das Gebieth der Mimik im weitren Sinn den Gegensaz von Bewegung und Ruhe gestellt haben, sc. beides als absolut, und nun überall hier von der Geselligkeit i. e. Erscheinung der Kunst in einem Zusammenwirken

147

230

148

Theorie der einzelnen Künste

126 | 127

Mehrerer ausgehen mußten, so gibt es eine specielle Aufgabe durch alle drei Formen: die Gruppierung i. e. Raumverhältniß der Zusammenwirkenden in den Momenten der Ruhe, denn nur in diesen können die einzelnen Wirkenden als Eines angeschaut werden als zusammengehörig. Es gilt hier dieselbe Regel wie für den Gegensaz von Ruhe und Bewegung überhaupt.* Wenn sich nur schwer aus einer Ruhe eine Zerstreuung der Mitwirkenden entwickelt, oder der Zuschauer eine Zerstreuung nicht als Einheit fassen kann, so ist beides fehlerhaft in diesem Gegensaz; jenes geschieht in zu großem Getheiltsein des Zusammenseins, dieses in zu großem Vereinzeltsein des Zusammenseins. In der dramatischen Mimik ist es natürlich, daß eine solche gemeinschaftliche Ruhe nur an einer Pause der Handlung, also an einem Ende einer solch partialen Reihe i. e. einer Scene Statt hat. Daher muß die Handlung in einzelne Reihen so getheilt sein, daß an jedem Ende derselben eine solche Zusammenstellung möglich ist, und die mimischen Darsteller müssen ihre Beweglichkeit so zügeln, daß sie jene Tendenz des Dichters nicht verfehlen, dann entsteht aus dieser Gruppierung ein Bild, obgleich kein feststehendes, sondern nur einen Moment dauerndes, und doch muß die Ruhe eines jeden die Spuren der frühren Elemente der Handlung in sich tragen und zugleich die Möglichkeit, daß sich die nächste daraus entwickeln kann. Dieser Gegensaz geht durch alle | drei Formen, sc. der die Theilnehmenden mehr vereinzelt oder in Ruhe zusammenfaßt. Beide sind gleich wesentlich für das Kunstwerk. Denn auch im Beschauer muß sich dieser Gegensaz erzeugen von Bewegung und Ruhe, da die Forderung, daß der Zuschauer den vereinzelten Bewegungen folgen soll, eine anstrengende [Aufgabe ist], aber das Zusammenfassen in Eines ist ein Erlaubtes für den Zuschauer. Daher soll Rücksicht genommen sein, dem Zuschauer die Verfolgung zu erleichtern und das Zusammenfassen leicht darzubieten. Daraus bildet sich von selbst auch in der heutigen Gestaltung ein Gegensaz der Analogie mit dem für uns untergegangnen Gegensaz von Einzelnem und Chor. In der höhren Orchestik hat sich dieser Gegensaz auf eine bestimmtre Weise erhalten als Gegensaz zwischen den höhren Virtuosen und einer

127

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

231

Masse, die mehr den Volkstanz repräsentirt. Im modernen Drama ist dieser Gegensaz verschwunden, weil es nicht mehr auf der Basis eines öffentlichen volksmäßigen Lebens beruht. Im Drama selbst werden wir sehen, wiefern er noch existiren soll. Aber sobald für die wirkliche Darstellung gearbeitet wird, muß etwas sein, das jenen Gegensaz ersezt, und in einem größren Gebieth bildet sich auch etwas dem Chor Analoges sc. stumme Personen, die als Masse erscheinen und weil stumm, nicht an der Handlung Theil nehmen. Hier wächst die Pantomime in das wirkliche Drama hinein, denn die nicht Sprechenden wirken pantomimisch, aber diese Pantomime ist nicht isoliert, sondern in das Drama verflochten. Wo dies nicht ist, tritt der untergeordnete Gegensaz zwischen Haupt- und Nebenpersonen ein; jene sind als dramatische Künstler von dem Zuschauer zu verfolgen, diese obgleich auch vereinzelt, doch subordinirt. In den Momenten der Ruhe, Gruppierung, werden beide auf solche Weise zusammen sein müssen, daß der Gegensaz zwischen Haupt- und Nebenpersonen mit erscheint sowohl als Erinnerung an vorhergehende und als Keim zu folgender Handlung. Der Dichter hat darauf in den Momenten der Handlung hinzuarbeiten, daß am Schluß jeder Person eine solche Gruppierung möglich wird. Dieser Gegensaz ist auch in der Pantomime, wo aber nicht ein Zusammenwirken des dramatischen Dichters und der mimischen Künstler, sondern des Componisten und der mimischen Künstler ist. Der Componist gibt die Situationen und Hauptsätze an, wenn nicht, so liegt die ganze Aufgabe auf dem mimischen Künstler. Zusammenfassen und Zerstreuen darf auch hier nicht fehlen, und dieses Gesondertsein der gemeinschaftlichen Bewegung durch die Momente der gemeinschaftlichen Ruhe ist das Höchste der Mimik; dieser Ruhe gleichsam die Thesis folgt dann wieder [eine] neue Handlung gleichsam Arsis. Die Gruppierung geht also durch alle drei Hauptgattungen aber in verschiednen Verhältnissen. In der Orchestik[,] der Quantität der Theilnehmer und dem Wechsel ihres Zusammenseins und [ihrer] Zerstreuung nach[,] ist sie das die Formen bestimmende Element; in der Mimik aber tritt die Gruppierung bloß hervor, um

232

149

Theorie der einzelnen Künste

127 | 128

die Grenzpunkte zu bezeichnen, ist also gleichsam der Tact des Ganzen wie die ganze Darstellung in größre oder kleinre, mehr oder weniger Abschnitte zerfällt, hierbei hat die Gruppierung am wenigsten mit den verschiednen Gegenständen des Drama’s zu thun. Eine andre Betrachtung. Wir sahen im Allgemeinen den Unterschied zwischen Kunst in ihrer Selbstständigkeit und Kunst gleichsam als accessorium an einem Andren. Unser eigentlicher Gegenstand ist allerdings bloß Kunst in ihrer Selbstständigkeit; | aber wenn wir ein Gebieth zur Anschauung gebracht haben, so möchten wir auch übersehen, wie in der ganzen geschichtlichen Entwicklung sich die Kunst in ihrer Selbstständigkeit zu der an einem Andern verhält. Dies ist hier, wie die Kunst in das eigentliche Leben übergegangen ist. Dies [ist] der Grenzpunkt, wie sie sich aus dem Leben entwickelt und wie sie sich dahin zurückzieht und ihr Maximum und Minimum bestimmt wird. Die Mimik kann nur in sofern an einem Andern sein, als von menschlichen Handlungen die Rede ist, da die Bewegungen aus freier Productivität bloß an den Handlungen der Menschen zum Vorschein kommen können. Dies führt uns in die Ethik zurück und theilt sich 1.) in die bestimmte Thätigkeit, Geschäft und Beruf und 2.) in die allgemeine des Zusammenlebens.* Im ersten fällt uns auf, wie der Einzelne im Beruf besonders als Redender hervortritt. Die Mimik des Redners ist allemahl Kunst an einem Andern; er ist nicht da, um sich darzustellen wie der Mimiker sondern der politische Redner hat eine politische Aufgabe zu lösen; der religiöse Redner ist zwar mehr in der Selbstdarstellung begriffen, aber diese ist eine rein geistige, und mit Ausnahme der Sprachmimik ist alles andre zufällig, und es ist bloß Sache des Geschmacks wie viel sogar von dieser der Sache zur Hülfe kommen solle. Denn da der unmittelbare Vortrag einer eignen Rede nie unrichtig sein kann, so steht alles, was sich an die Sprachmimik anschließt an dem Grenzpunkt, daß es nicht künstlerisch hervortreten darf, sondern Naturausdruck sein muß, und da die Darstellung des religiösen Redners nicht Production in demselben Moment sondern eine aus einem vergangnen Moment

128 | 129

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

233

her ist, so will sich dieses doch verbergen und alles Mimische muß wenigstens den Schein des Unwillkürlichen haben, also des Naturausdrucks. Da der Vortrag unrichtige Gewöhnungen von der Übung her haben kann, so nie von Natur [aus]. Je mehr der Moment der Entstehung zugleich derjenige der Darstellung ist, je mehr wird die Sprachmimik unter die Potenz des Naturausdrucks gestellt werden können, und je mehr einer selbst erregt ist, desto weniger tritt die falsche Gewöhnung hervor. Dieses gilt nicht bloß von bestimmten Berufsthätigkeiten, sondern vom ganzen Leben. Alles Mimische in der Geselligkeit ist da anders, wo ein Zusammenhang mit der Kunstübung ist und wo dieser fehlt. Man kann nie behaupten, daß es eine angeborne Differenz unter den Menschen gebe in Beziehung auf den Zusammenhang des geistigen und leiblichen; die geistige Lebendigkeit zweier manifestiere sich in den Bewegungen; aber sind sie außer allem Zusammenhang mit Kunstdarstellungen gesezt, so erkennt man, daß dem einen eine natürliche Grazie, dem Andern eine natürliche Schwerfälligkeit anhaftet. Der Einfluss der Kunst ob man mit ihr zusammengelebt hat, oder nicht, zeigt sich daher im Leben. — Wir können daher diese Kunst von Anfang bis zu Ende übersehen. Der Anfang ihrer Entwicklung lag im Princip der speciellen mimischen Begeisterung i. e. im Durchdrungensein von der Einheit des Geistigen und Leiblichen, wo jenes den Impuls zur Äußerung dieses gibt und in Zusammenhang mit freier Productivität steht. Das erste allgemeinste war die Entwicklung dieser Productivität in Orchestik wo alle Theil nehmen können, den Ausdruck des Lebensgefühls darstellend. Hierzu gehört keine besondre geistige Entwicklung und das Geistige gibt bloß den Impuls, aber manifestirt nichts von seiner höhren Richtung. Daß hiervon alles Minenspiel und [alle] Sprachmimik ausgeschlossen sei, heißt eben, daß das innre Princip noch nicht durch den Zustand des geistigen Lebens bedingt sei, der sich auf diese Art | manifestiere: es ist die ursprünglich geistige Lebensthätigkeit in Beziehung auf das Leibliche, beide als Leben gesezt. Das Minenspiel aber ist bedingt durch die Receptivität des Einzelnen durch das außer ihm, und Sprachmimik bedingt durch die geistige Thä-

234

150

Theorie der einzelnen Künste

129

tigkeit im Denken in dessen Modulation; hier treten Principien ein, welche höhere Entwicklung voraussetzen, also ein höheres Stadium. Orchestik ist in diesem Gebieth das größte Gemeingut, aber sie ist auf eigne Art bedingt durch einen Zustand, welcher der freien Productivität Raum gibt, erfordert also einen gewissen Grad der Freiheit. Z. B. die Sclaven haben aus ihrem Vaterland ihre Orchestik mit gebracht und es ist Klugheit ihrer Eigenthümer, ihnen diese Freiheit zu lassen, Gebrauch davon zu machen.* Sie gewinnen dadurch Bewußtseyn von dem Besiz ihrer ersten Freiheit und diese Lebensentwicklung vermehrt und belebt ihre ganze Thätigkeit. Der ursprüngliche Naturtanz sezt die Beschäftigung des Menschen in der gebundnen Thätigkeit voraus und da ihr die mechanische Beschäftigung zur Basis dient, so ist dies der entsprechende Zustand aller Menschen vor differentiirender Entwicklung. In diesem hat die Orchestik ihre Wurzeln. Aber die Orchestik ist zugleich auf eine bestimmte Lebensperiode beschränkt. Kinder tanzen bloß aus Nachahmung und Ankünstelung, das Alter tanzt nicht also bloß freie Leichtigkeit des Menschen in seiner Blüte, daher leicht Geschlechtslust sich hineinverirren kann. Worin hat diese Begrenzung ihren Grund? In der Kindheit ist das Bewußtseyn des Rhythmischen noch nicht entwickelt, die Basis des Rhythmischen Blutumlauf und Respiration sind noch nicht zum Bewußtseyn gekommen und sind überhaupt bei ihnen zu schnell, um auf bestimmte Weise gefaßt und gemessen zu werden. Von der andren Seite, wenn das Berufsleben Herrschaft gewonnen hat, so ist ein Kreis von Bewegungen eingetreten, der nicht Freiheit und Geschick zu den orchestischen Bewegungen zuläßt und dazu gesellt sich das Bewußtseyn daß sie in bestimmte Bewegungen gebannt nicht mehr Eindruck machen können, die Bewegungen werden dann nicht mehr aus dem Gesichtspunkt der Schönheit und Leichtigkeit hervorgehen. So haben wir für das persönliche Dasein den Kreislauf der Orchestik in sehr enge Grenzen eingeschlossen, und am allgemeinsten stellt sich also in der Orchestik dar: die erfrischende Kraft des Lebensgefühls auf das Gesamtleben, sc. im Volkstanz.

129 | 130

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

235

In der eigentlichen Mimik ist dasselbe zu betrachten. Sie entwickelt sich im eigentlichen Leben erst dann, wenn die Orchestik schon aufhört; denn zur speciellen Begeisterung gehört vor ihrer künstlerischen Äußerung daß das Individuum die größte Mannigfaltigkeit von Gemüthszuständen mit seinem Bewußtsein durchgemacht und durch Beobachtung gewonnen habe aus der Differenz der Andern. Dies kann nicht in der Lebensperiode geschehen sein, wo die Orchestik ihr Werk erst noch vollendet, denn nur indem man schon eine gewisse geistige Richtung gefaßt hat, geht erst ein Kreis von Beobachtungen Andrer an. Aber sie dauert so lange als der Mensch im geselligen Leben versiert und erstreckt sich auf jedes Alter. Denken wir uns einen Kunstsinn und Gemeinschaft in Einem, so hört dieser nie auf und hat seinen Einfluss für die ganze Existenz. Betrachten wir aber die Erscheinungen der Kunst selbst, abgesehen vom einzelnen Dasein der Übenden, so hat diese Kunst in ihrer Selbstständigkeit einen kurzen Kreislauf gegen andre Künste wovon der Grund darin liegt, daß sie begleitend ist und ihre Tendenz ist, an einem Andern zu sein. | Die Dauer der Orchestik in der Lebensperiode der Einzelnen hat außer obigem physischen Grund noch den ethischen, daß der Mensch noch wenig über sich hinausgegangen ist, weil je mehr sich das geistige Leben entwickelt, je mehr die Tendenz hervortreten muß, die freie Productivität mit einer geistigen in Zusammenhang zu bringen. Aber doch ist die Orchestik das Fundament der Mimik; denn dächten wir jene aus dem Gesamtleben weg, so fiele die Richtung in den geistigen Thätigkeiten weg, wo dieser Zusammenhang geistig angeschaut wird. Früher ward im Mittelstand in Deutschland alle leibliche Erziehung vernachläßigt und es existirte bloß Leben im Schatten, Stubenleben, daher alle leiblichen Bewegungen unbeholfen und schwerfällig waren. Die Mimik selbst ohne Zusammenhang mit Poesie läßt bloß den Tanz und diesen zur Pantomime gesteigert übrig, und diese leztre [ist] nur möglich unter Voraussezung der Poesie, also [ist] die Mimik in ihrer Selbstständigkeit sehr beschränkt. Also dieses an einem Andern sein wollen, diese natürliche Richtung der leiblichen Bewegungen sich mehr dem Geistigen einzuzwingen und mit ihm

236

151

Theorie der einzelnen Künste

130

zu verbinden, macht, daß die Mimik sich nicht in solche Mannigfaltigkeit verzweigt, wie die andren Künste, sondern kürzren Kreislauf hat. Noch ist das Verhältnis der Mimik zu den andren Künsten zuzufügen, so weit diese als bekannt vorausgesezt sind. Unter der Rubrik begleitende Künste sezten wir sie besonders in Verwandtschaft mit Musik, als beide die redenden Künste, und besonders Poesie begleitend. Dagegen erschienen die bildenden Künste außer allem organischen Zusammenhang ausgenommen insofern sie ebenfalls in gewissem Sinn begleitende werden. Doch gibt es noch ein specielles Verhältnis zwischen Mimik und bildender Kunst. Die Plastik im eigentlichen Sinn stellt überwiegend einzelne Gestalten dar, nicht Gruppierung, sondern dieses fällt der Mahlerei zu, die das Zusammensein der Gestalten in ihren Lichtverhältnissen gibt. Woher nimmt die Plastik ihre Geseze? Da tritt überall Gegensaz von Bewegung und Ruhe hervor. Das plastische Werk kann nun bloß ruhend sein, ohne darum nothwendig eine absolute Ruhe darzustellen, so wie freilich eine Bewegung die nur momentan sein kann, sich nicht eignet, ein plastisches Werk zu sein. Die Mimik ist also gesezgebend für [die] Plastik in Beziehung auf die Gränze, innerhalb welcher sie Bewegung und Ruhe darzustellen hat. In [der] mimischen Reihe fanden wir relative Ruhe als Übergang, die vergangne und folgende Bewegung in sich tragend. In bildender Kunst auf ihrer plastischen Seite ist also auf Mimik zurückzugehen. Stellt Mimik nun auch Gruppierung dar, so ist sie ebenso gesezgebend für die Mahlerei, da in einem gesezten mimischen Werk immer Momente des Zusammenseins sein sollen, die mahlerisch dargestellt werden können, wenngleich es vorübergehend ist. Wenn nun jede Zusammenstellung der Mahlerei momentan zu denken und hier doch eine bleibende ist, so verhält es sich wie dort in Sculptur, es müssen vergangne und künftige Bewegungen im Übergang darin angeschaut werden; also hier ist es die zur Kunst gewordne Natur welche der bildenden Kunst in dieser Beziehung die Regel gibt.* Wollen wir genauer noch die Mimik zur Poesie feststellen, insofern sie diese begleitet, so erscheint dieses zufällig, da wir gewohnt sind auch

130 | 131

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

237

die Dichtung mehr durch das Auge, als durch lebendige Stimme aufzufassen. Aber das ist nicht der eigentliche Zustand, sondern wie Schrift nur Vergegenwärtigung der Rede ist in Zeit und Raum, so ist jenes Lesen nur Abkürzen und Poesie muß verlieren, wenn sie nicht gehört wird. Wird sie gehört, so bezieht sich das nur auf diese Kunst und von Sprachmimik fragt sich, ob sie da Kunst sei oder nur Kunst an einem Andern. Diese Zweideutigkeit sagt nur ein mögliches Mehr oder Minder, das sie hier leistet. Ist [ein] Vortrag mehr Vorlesen, so tritt Sprachmimik zurük. | In [der] Declamation tritt sie mehr hervor und dann erst wird das Gedicht vollständig genossen. Poesie kommt also zu kurz, wenn sie nicht wenigstens die Sprachmimik zu ihrer Begleitung hat. Soll sie allein begleiten, oder auch die Gebehrdenmimik? Je weniger in [der] Dichtung eine Persönlichkeit hervortritt, desto weniger ist Begleitung der Gebehrdenmimik nöthig; denn wer so vorträgt, stellt nicht den Dichter dar, sondern den vom Dichter in Bewegung Geschilderten. Wo diese Persönlichkeit hervortritt, tritt auch Gebehrdenmimik ein. Die epische Poesie verlangt eigentlich nur Sprachmimik. Die alten Rhapsoden* thaten freilich mehr, berechneten aber für die Masse, die einer Anregung bedarf, um völlig empfänglich zu sein. Bei uns wird die Poesie alterirt, wenn mehr als Sprachmimik dabei wäre, es erschiene als Zustand eigner Bewegung also Übergang ins Lyrische, was das Epos alterirt. Die lyrische Poesie hingegen verlangt die Gebehrdenmimik, ausgenommen wenn der Vortrag musikalisch ist, und zwar wenn die Poesie gesungen und zugleich durch ein Instrument begleitet wird. Da sind die Gliedmaßen schon beschäftigt und es bliebe nur das Minenspiel frei. Durch das Bewegen der Sprachwerkzeuge und Stimme wird dieses auch zurükgedrängt und es bleibt nur übrig was unter der Maske auch [ist,] sc. in den Augen und den Theilen des Gesichts, die mit Sprachwerkzeugen nicht unmittelbar zusammenhängen. In der dramatischen Poesie begleitet die ganze Mimik, nicht nur Stimme und Gebehrdenspiel, sondern auch Orchestik, aber natürlich auf vertheilte Weise, da diese nicht gleichzeitig sein können. Von unsrem Gebieth ist also Übergang in alle andern.

152

238

Theorie der einzelnen Künste

131

2. Die Musik faßten wir mit Mimik als begleitende Künste. — Voran eine Bemerkung. Wenn wir den gegenwärtigen Zustand der Musik betrachten so ist ein sehr großes Gebieth, worin sie gar nicht als begleitende Kunst erscheint, sc. überall wo reine Instrumentalmusik ist es eine Kunstleistung rein für sich, nichts tritt dazu, und man sezt nichts voraus, da etwas andres nur die Einheit stört. Das ist also ein Hinausgehen über das, daß die Musik begleitende Kunst sei. Analog stellte es sich bei der Mimik, wo Pantomime auch Kunstwerk für sich ist, sei es nun als aus dem Tanze zu einer Handlung gesteigert, oder [als] eine dramatische Composition, die sich der Rede entschlägt. Wesentlich ist Mimik und Orchestik vereinigt; und Musik begleitet. Also ist bei der Musik auch Rüksicht zu nehmen auf dieses Streben für sich allein zu sein, da es in Musik bei weitem etwas größres ist als dort die Pantomime, indem die Musik weit größren Kreislauf hat als die Mimik. Der Begriff der begleitenden Künste wird darum doch nicht aufgehoben und geht ursprünglich darauf zurück, daß durch diese Künste der Ausdruck dargestellt wird von geistigen Zuständen, die noch auf eine andre Weise für sich darstellbar sind, aber dieses Ausdruckes nicht entbehren können, da sie mit diesem in nothwendiger natürlicher Verbindung sind. Schwierig wäre, die Musik verständlich zu machen, wenn man nicht von dieser ihr ursprünglichen Gestaltung ausgeht. Wir gehen also auf eine psychologische Grundthatsache zurük, daß sich das bewegte Selbstbewußtseyn in seiner Veränderung kundgibt durch den Ton ebenso wie durch die Gebehrde. Wir verstehen den Ton hier nicht als Sprachmimik sondern als eigentlich gemeßnen Ton, wenn gleich ursprünglich ebenso wohl bloß für sich heraustretend als auch mit der Rede verbunden. Der reine, nicht mit Rede verbundne Ton schließt sich an gewisse Naturbewegungen an in denselben Organen, die aber auch sprachlos hervortreten; Seufzen, Weinen (insofern es in Respirationsorganen und nicht in Gesichtsausdrücken liegt) sind reine Naturbewegung [und] nicht gemeßner Ton, aber doch [ein] Laut, doch ohne alle Objectivität,

131 | 132

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

239

nicht in Sprache gehörend. Übergänge in die Objectivität sind Interjectionen insofern sie einfache Laute (i. e. Eine Sylbe) sind; sie sind Mittelding zwischen materiellen und formellen Sprachelementen. Man kann sagen, daß jede Interjection ein modulierendes Ausrufungszeichen ist, also rein formelles Element, eine gewisse | Beschaffenheit des Tons, die an den Worten und auch für sich hervortreten kann. Hieran schließt sich der eigentliche, i. e. gesungne Ton, insofern er ebenfalls frei ist von der Sprache. Was in Mimik ein Zurükgehen der Kunst ins Leben war als Anmuth, das nehmen wir hier in diesem ersten Element wahr, diese reinen Naturlaute werden etwas andres, wenn sie durch das musikalische Element durchgehen, als wenn sie völlig von der Kunst abgelöst als der ursprüngliche Naturlaut hervortreten. Wie ist es nun mit dem Ton in Verbindung mit Sprache? Das schließt sich an die Sprachmimik, und die Übergänge des Gesprochnen und Gesungnen kann man in [einer] Reihe von Abstuffungen verfolgen. Als freie Naturproduktion gibt es ein Singen im Sprechen, das schon innerhalb derselben Volksthümlichkeit einen eigenthümlichen Eindruck macht, getadelt, weil es nicht mehr das reine Sprechen ist, gelobt, weil es mehr Ausdruck hat. Es gibt Formen der Rede, wo man diese Analogie mit dem Gesang fast nicht vertilgen kann. Stark fragen hat etwas singendes. Jene Duplicität des Urtheils darüber liegt also nur an den Enden und muß sich an gewissen Punkten ausgleichen. Hier ist ein Übergang von der Sprache aus; ebenso ist einer vom Gesang aus in die Rede, sc. das Recitativ, das in sich selbst große Abstuffung von mehr oder minder Gesungnem einschließt. Das musikalische Element finden wir also in der Natur hervorgehend aus einem Andern. Weder das Lautwerden der Empfindung, noch das Singende in Sprache ist Musik, aber Übergang dazu. Ist nun schon jedes bestimmte Hervortreten davon Kunst oder nicht? Das führt auf unsre erste Frage. Es ist nur Kunst insofern zwischen die innre Bewegung und äußre Erscheinung reiner Laute etwas andres dazwischen tritt. Denke ich zwei solche bestimmte Übergangspunkte, die dem gemeßnen Tone ganz nahe, und ich denke im einen Fall, hier ist das Wollen des gemeßnen Tons, tritt aber nicht rein heraus, so sage ich: Der

240

Theorie der einzelnen Künste

132 | 133

singt, aber nicht ordentlich; ist kein solcher Wille dabei, sondern bringen nur die Sprachwerkzeuge selbst es hervor, so sage ich: Dem fehlt nichts als der Wille, um zu singen, aber der Wille, i. e. freie Productivität muß dazwischen treten. Heben wir dieses Minimum der Differenz auf, so bleibt dieselbe Sache: Kunst fängt erst an, wo ein Ton von freier Spontaneität her ist. Wollen wir uns dieses Dazwischentreten des Bewußtseyns anschaulich machen, so ist das aber das Element der speciellen musikalischen Begeisterung. Wo das nicht ist, kann im physischen Element die größte Annäherung an gemeßnen Ton sein, es wird doch kein Kunstelement. Wo Begeisterung ist, kann freilich [die] Beschaffenheit der Organe das Heraustreten hindern, aber seinem Wesen nach ist das Kunstelement da. Dieses Hineintreten des Bewußtseyns[,] dieses frei Werden der Production geht nothwendig auf das rein Gemeßne aus und manifestirt sich in diesem. Der reine Ton aber ist also ursprüngliches Kunstelement. Darin liegt gleich eine solche Zunahme der Productivität im Umfang, deren eine andre Kunst nicht fähig ist, der Umfang der menschlichen Stimme wird von [der] Sprache nie erschöpft. In Mimik kommen auch große Mengen von Bewegungen der Glieder nicht zu Stande, wo die Kunst nicht ist, aber diese Bewegung in gemeßnem Ton ist so ungleich wichtiger, daß ich diese Betrachtung hierher versparte. Das physische Element beruht also im gemeßnen Ton; und in allem musikalischen Kunstwerk gibt es nichts andres als ein Zugleichsein und [eine] Succession solcher gemeßnen Töne. Denken wir an die Übergänge zwischen Gesang und Sprache, so weist das auf das Kunstlose zurück, woran sich die Kunst knüpft. An diesen Übergängen sehen wir die physiologische Neigung der Organe zum gemeßnen Ton hin. So gibt es innre Zustände, die von selbst in [die] Production gemeßner Töne übergehen. Der erste Anfang der Musik als Kunst liegt immer jenseits der Geschichte, und in der Gegenwart können wir nichts so auffassen, daß es von allem Einfluß der Kunst frei sei. Will man ein isolirtes Kunstloses denken vor der Kunst, so ist es also Fiction, aber eine natürliche, die unfehlbar Wahrheit ausdrückt. In Mimik waren die | Lebensbewegungen selbst viel geeigneter, das Kunstlose nachzuweisen. Hier

133

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

241

muß sich die Kunst auch an diese Naturproduction anschließen, ist aber erst da, wo das Bewußtseyn dazwischen tritt, und das Bewußtseyn als musikalische Kunstproduction bestimmend, ist dem vorigen analog, reine Begeisterung vom Zusammenhang des Geistigen mit dieser Function des Organismus. Gehen wir davon streng auf dieselbe Weise aus, so müssen wir dabei stehen bleiben, den Gesang insofern er Natur ist, als Ausdruck des bewegten Selbstbewußtseyns aufzufassen, i. e. unabhängig von Gedanken und ohne Wort. Das streitet anscheinend damit, daß wir die Musik unter die begleitenden Künste gestellt haben; die Musik zunächst rein der menschlichen Stimme wird uns aber eine eigne Kunst ohne daß wir das Wort beigesellten. Diese Vollendung finden wir, aber erst nachdem eine große Masse von Compositionen dazwischen getreten ist. Betrachten wir die ganze Mannigfaltigkeit musikalischer Instrumente, wie sie unter allen Völkern selbstständig und eigenthümlich erfunden wurden, und das Zusammenwirken dieser Instrumente: so haben wir da eine selbstständige Kunst und so könnte man dieses für das Capitale halten, [die] Verbindung des Gesangs mit Rede aber für zufällig halten. Bleiben wir unsren allgemeinen Betrachtungen treu, so fängt die Musik allerdings an, indem sie sich an jenen ersten Naturgesang anschließt* und freilich als Ausdruck des bewegten Selbstbewußtseyns; aber so wie dieses mannigfaltig wird und nuancirt, so kann es sich nicht manifestiren, ohne den Gedanken zu Hülfe zu nehmen, und so wird Musik erst verständlich durch das Wort. So wie die Musik nun anfängt, Kunst zu werden, so ist schon die Richtung auf Verbindung mit der Rede gegeben, und diese ist überall älter als die Geschichte. Umgekehrt erscheint uns die Instrumentalmusik nun so wie Pantomime in Mimik als Hinausgehen über den eigentlichen Beruf der Kunst im Versuch selbstständig zu sein, da die Musik sonst begleitend ist, daher die Verbindung mit Rede zu verlassen ist. Man kann sehr wohl der einen oder andren Ansicht folgen, ohne daß bedeutende Differenz der Betrachtung im Einzelnen entsteht, aber für [die] Entwicklung des Ganzen und die Aufgabe so viel [wie] möglich [von] dieser Kunstproduction zu verstehen, halte ich unsren Weg für

153

242

Theorie der einzelnen Künste

133 | 134

besser, daß wir von Anfang [an] die Richtung der Musik auf ihre Verbindung mit der gemeßnen Rede festhalten. Wenn wir auf den Punkt kommen werden, wo dieses Hinausgehen uns entgegen tritt, da werden wir beide Betrachtungsarten im Verhältnis zur Entwicklung vergleichen. Zunächst schreiten wir fort in [der] Entwicklung des physischen Elements, weiter entwickelnd, daß jede musikalische Production nichts andres ist als ein Reihe von gemeßnen Tönen und ein Zugleichsein von solchen; das leztre scheint schon eine Zusammensezung und nicht mehr das Einfache. Der gemeßne Ton, wie [die] Bewegung des Leibes geht vom einzelnen Leben aus und muß ursprünglich also im Einzelnen angeschaut werden und da ist immer nur Ein Ton zugleich. Verbergen können wir uns aber nicht daß hierin immer schon Richtung auf Zusammensein liegt, die dem Ton physiologisch schon eingeboren ist. Klingt ein Ton, so klingen immer andre Töne zugleich mit, besonders wahrnehmbar ist es an Saiteninstrumenten, aber überall vorhanden, wenn schon nicht überall die Töne sich gleichzeitig unabhängig von einander darstellen lassen. Das ist ein Element des gemeßnen Tons und will daher zur Erscheinung kommen. Bleiben wir bei der menschlichen Stimme, so ist alle musikalische Production auf den Umfang der menschlichen Stimme beschränkt, und Aufgabe ist, diesen Umfang wirklich zu erschöpfen. Der kann aber nie von einem Einzelnen erschöpft werden, da keiner den ganzen Umfang hat, sondern dieser nur vertheilt gegeben ist, zweifach getheilt in Geschlechtshälften männlicher und weiblicher Stimmen und Altershälften (was sich freilich nicht bestimmt an ein Alter knüpfen läßt). So ist [es die] Aufgabe diese Vertheilung zu realisiren und diese verschiednen Stimmen zu vereinen | damit der Umfang der menschlichen Stimme in Einer Composition erschöpft werde. So ist Richtung auf das Zusammensein physiologisch im Ton selbst bestimmt. Aber zwischen unsrem Anfang vom gemeßnen Ton und dieser Aufeinanderfolge mehr zugleichseiender liegen noch andre physische Elemente. Ich gehe davon aus, daß wir den Ton zuerst fassen in seiner qualitativen Eigenthümlichkeit und da unterscheidet er sich in jedem Gegebensein

134

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

243

qualitativ von dem gesprochenen Laut. Damit ist offenbar verbunden [die] Tendenz, nun auch in der Zeit ein Gemeßnes zu sein. Wir setzen also den Ton als einen bestimmten und gehaltenen, der also wahrnehmbar, eine Dauer hat, i. e. Zeitausfüllung. Denken wir einen Ton fortdauernd auf ganz gleichmäßige Weise von einem Organ aus, und denselben von einem andern, so ist da eine Differenz im Quantitativen i. e. Stärke, und Qualitativen, i. e. Reinheit des Organs. Nur in gehöriger Stärke (um im Zugleichsein mit Andren nicht Null zu sein) und gehöriger Reinheit (damit das Gemeßne des Tons in jedem Moment dasselbe sei) werden wir das Kunstelement finden. Diese Dauer des Tons muß selbst wieder gemeßen werden, sich in bestimmte Zeitabschnitte unterscheiden. Soll nun der Ton derselbe bleiben, aber sich doch unterscheiden in bestimmte Zeitabschnitte so müssen diese getrennt sein, können es aber nur dadurch daß der Ton aufhört und wieder anfängt. Soll der Ton derselbe bleiben, so ist das nur möglich durch Übergang in Null, vermöge einer Verringerung und dann Steigen, i. e. der Ton ist nicht meßbar seiner Dauer nach, als nur insofern er ein Anschwellen und Verringern in sich trägt. Das ist seine organische Gestaltung um ein als Dauerndes Meßbares zu sein. Differenz zwischen Mitte Anfang und Ende muß überall sein, wo der gemeßne Ton soll in seiner Vollkommenheit erscheinen. Ein solcher Ton, der durch Anschwellen und Abnehmen ein gemeßnes ist, bringt schon an sich eine Kunstwirkung hervor und erscheint als Kunstproduct; und wo wir das finden, schließen wir gleich, daß schon die Besinnung hineingetreten ist in die organische Thätigkeit. Denken wir dieses wieder in sich getheilt, längre und kürzre Einheiten des Tons, meßbar durch gemeßne Einheiten eines bestimmten Verhältnisses, so haben wir den Tact und damit das Rhythmische in [der] Erzeugung des Tons, ohne noch an Differenz von Höhe und Tiefe zu denken. Denken wir hier an die Naturlaute zurück, woraus der Gesang sich entwickelt und betrachten nun den Ton hier ebenso, so kehren diese Naturlaute vom Weinen und Lachen, und diese zusammen in ihrer Differenz vom articulirten Laut in der Rede uns gleichsam wieder im Gesang, in

244

Theorie der einzelnen Künste

134 | 135

welchem sich überall Analogien dazu finden; daher Übergang in den Gesang. Gehen wir über zum Umfang der menschlichen Stimme, so ist Differenz der Höhe und Tiefe in einem bestimmten Maaß, und wie wir jene Zeiteinheiten denken als nicht mehr denselben Ton durchführend, sondern [als] Wechsel von Höhe und Tiefe, so haben wir das, was Melodie heißt. Ein melodischer Saz von ganz einfacher Art ist nun, ebenso wie der einzelne Ton ein Kunstelement ist, schon ein Kunstganzes und macht auch einen bestimmten Eindruck. Hier sind wir gleich zur Frage geneigt: Wenn wir überall auf Kunst als freie Productivität zurückgehen und zwar Productivität derselben Functionen die auch in der gebundnen Thätigkeit des Menschen vorkommen, und nun sagen, so wie wir den Menschen betrachten im Wechsel seines Selbstbewußtseyns wo er durch seine ganze Umgebung bestimmt, also gebunden erscheint: so erkennen wir im Naturlaut allemahl ein bestimmtes Verhältnis. Weinen und Lachen deuten auf entgegengesezte Lebenszustände hin, sind also für sich bedeutsam und verständlich. Nur beim einfachen Kunstganzen fragt sich: Hat es wesentlich dieselbe Bedeutsamkeit und | Verständlichkeit, und ist diese in der Analogie mit jenen Naturlauten zu suchen, oder ist sie etwas andres, das ebenso verständlich wie jene die verschiedensten Zustände darstellt? So fragen wir leicht hier schon, aber in [der] Beantwortung könnten wir hier nur von jenen Naturlauten selbst ausgehen und sagen: Insofern in einem melodischen Saz eine Ähnlichkeit ist mit jenen, kann man seine Bedeutsamkeit und Verständlichkeit auf jene reduciren; und die Differenz wäre, daß diese innre Bewegtheit hier in freier Producitivität erscheint, daher Wohlgefallen erregt. Aber jene Analogie verbirgt sich immer in denselben Verhältnissen als die Mannigfaltigkeit der Töne zunimmt und sie nur zum Vorschein kommen kann als ein Totaleindruck, nachdem man das Ganze aufgenommen hat, und dann nur in dem Maaß als dieses verschiedne Theile hatte, i. e. das ursprüngliche kommt erst wieder, nachdem es einen bedeutenden Theil der Kunst durchlaufen hat. So wird das Bedeutsame und Verständliche schon hier verschieden und es stellt sich die

135

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

245

Aufgabe. Der Eindruck wird überall zugestanden, aber worauf er beruht und inwiefern die Kunst ihre Idee realisirt, dazu gehört eine Auffassung die wir hier noch nicht haben können, obgleich die Aufgabe sich hier schon stellt, aber nur als etwas, worauf wir fortwirkend unsre Aufmerksamkeit zu richten haben. Mimik und Musik vergleichend in Bezug darauf, wie sich das Kunstlose zur Kunst verhalte aus dem unmittelbaren Selbstbewußtseyn hervor. In Mimik wenn wir das natürliche Gebehrdenspiel als Ausdruck der Freude oder [des] Schmerzes betrachten in Vergleich mit Pantomime oder Drama, so ist hier der Übende gar nicht selbst in der Stimmung, sondern stellt einen Andern dar. Im unmittelbar Kunstlosen fanden wir Annäherung an das Künstlerische und die hänge zusammen mit der Kunst entweder so, derjenige dessen Bewegungen von Natur dem Künstlerischen analog sind, wird am leichtesten Künstler, oder es ist [eine] Rückwirkung dessen was die Kunst schon geleistet hat auf den unmittelbaren Zustand. Die Musik nun verhält sich ursprünglich analog. Die Gemüthszustände gehen in Töne über, die sich dem Gemeßnen immer mehr nähern; aber auch nicht das kleinste Ganze werden wir als Naturproduct erklären ohne [die] Voraussezung der Kunst mit welcher in Zusammenhang jenes entsteht, als der Wirkung auf das Leben. Es muß im Ursprünglichen etwas Andres dazwischen getreten sein, dieses etwas erleidet aber verschiednes Maaß; es tritt nicht ein bis [eine] Reflexion über den Zustand eintritt, dann ist es keine unmittelbare Äußerung mehr, oder der Zustand selbst wirkt noch fort, und in demselben ist nun der darin Befindliche musikalisch productiv aber nur mehr auf bewußtlose, unmittelbare Weise. Da könnte die musikalische Production ebensogut von einem Andern sein, der ihn in dieser Stimmung sah; denn es ist Losreißen von diesem ursprünglichen Zusammenhang. Dieses Losreißen und dann freie Producieren ist Anknüpfung für Kunst. Das Talent hängt dann gar nicht mehr zusammen mit der Erregbarkeit des Einzelnen für innre Zustände, die sich in Tönen äußern. Dieses führt nun auf die Grundfrage, die die schwierigste ist. Verhält sich denn nun die musikalische Composition zur Verschiedenheit der Gemüthszustände ebenso

246

Theorie der einzelnen Künste

135 | 136

wie sich die Naturlaute zu denselben verhalten? Das führt erst noch auf einen Vergleich mit der Mimik. Von Mimischem konnten wir nicht läugnen, es enthalte auch in seiner Ursprünglichkeit immer auch ein Element, das man von [der] eigentlichen Mimik als positives, conventionelles unterscheide. Das ist nur von und für die Gesellschaft, aber da der Einzelne in dieser aufwächst, so entsteht es mit dem Natürlichen zugleich, aber als ein der Ausbildung und Sitte nach hier und dort Verschiednes. Aller unmittelbare Ausdruck der Freude oder [des] Schmerzes in Bewegung der Gestalt wird allerdings leicht von einem jeden erkannt. | Aber doch sind sie verschieden in verschiednen Völkern. Von Einer Seite mögen sie zusammenhängen mit [dem] unmittelbaren Ausdruck, aber die Ableitung liegt uns zu fern. Mehr oder minder [starke] Beweglichkeit der Völker schreiben wir von phlegmatischer oder sanguinischer i. e. aus psychischer Differenz her; sie erscheinen dann als willkürlich. Ebenso sind Gründe in den verschiednen Bildungsstufen, indem wir einige als roh, oder fein oder anmuthig bezeichnen. Vergleichen wir nun das Musikalische so finden wir dasselbe und können wohl nicht läugnen[,] diese Differenzen in Beziehung auf die Naturlaute enthalten zugleich den Grund zu Differenzen in [der] Behandlung der Kunst. Aber wenn sie in Kunst übergehen, verhält sich diese noch ebenso zum ursprünglichen Zustand, wie der Naturlaut selbst. In Mimik war kein Grund zu einer solchen Differenz. Es waren dieselben Bewegungen und ebenso zu ganzen zusammenhängende Reihen ausgebildet wie z. B. in Orchestik, auch sind sie der Ausdruck derselben Stimmung aus [dem] Gegensaz der Muße und Anstrengung sich entwickelnd in freier Productivität. Aber ist nun ein musikalischer Satz ebenso verständlich in seiner Beziehung auf diejenigen innren Zustände, aus denen die Naturlaute hervorgehen, so ist das schwerlich auf dieselbe Weise zu bejahen; und je größer die musikalische Composition sich entwickelt, um desto geringer kann man bestimmt angeben, auf was für einen innren Zustand sie zu beziehen sei, aber der Eindruck ist darum nicht geringer. Ist die musikalische Composition in dieser Entwicklung je zu reduciren auf einen bewegten Gemüthszustand des Com-

136

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

247

ponisten? Nein, denn dieser müßte längst erschöpft sein in der Äußerung, ehe er nur innerlich die Composition zu Ende hätte, geschweige äußerlich producirt. Hat er aber einen bestimmten bewegten Gemühtszustand im Sinn, den er ausdrücken will, wie verhalten sich dann die verschiednen Momente die hier zusammenwirken zu den Differenzen im bewegten Gemühtszustand? Anknüpfend an den einfachen Gegensaz zwischen Freud und Schmerz, der sich in Naturlauten zeigt, könnte man sagen, hier wirkt das Anschwellen, Höhe und Tiefe, Rhythmus mit; aber dieses ist alles viel zu zusammengesezt für jenes Innre, das in seiner Einfachheit die Naturlaute hervorbringt. So scheint die Brücke vom Unwillkürlichen zur Kunst abgebrochen und nicht nachzuweisen, wie sich das eine aus dem andern entwickelt. Ja es entsteht ein Irrthum sehr natürlich auf einem andern Wege. Im Bisherigen ist nun Rüksicht genommen auf den gemeßnen Ton an sich. Nun knüpft er sich aber ursprünglich an das Wort ebensogut als an den Naturlaut. Das Wort nun ist das eigentliche Organ für die Vorstellung und [das] Denken und jeder geschloßnen Rede als Darstellung eines Gedankens. Wenn nun die musikalische Composition sich so an Rede knüpft, so entstand [die] Meinung, sie drüke stärker als das lebendige Wort die Gedanken aus, und das sezte sich so fest, daß die Componisten ein musikalisches Thema einen Gedanken nennen, was die sonderbarste Sache von der Welt ist, da wenn derselbe in Worte übersezt werden sollte, dieses in unzähligen logisch differenten Säzen mit ganz demselben Rechte geschehen könnte. Man muß hier einen Hauptunterschied feststellen. Überwiegend wird gleich zugegeben, daß musikalische Composition sich nicht der prosaischen Rede anschließt, sondern der Poesie und diese nur die Musik postulirt und Musik nur das Poetische in der Rede voraussezt. In Poesie hat der Gedanke selbst keine Unmittelbarkeit[,] er ist nicht Erkennen, sondern die Poesie hat es mit dem Einzelnen als solchem zu thun, und Alles muß in ihr und für sie Bild werden, aber dieses nur insofern als es in der Aufeinanderfolge oder [der] Art der Auffaßung einen innren Zustand zu erkennen gibt. Offenbar sezt nun nicht einmahl die Poesie im Allgemeinen die Musik

248

Theorie der einzelnen Künste

136 | 137

voraus, sondern das Epische postulirt keine Musik zur Begleitung, sondern die epische Recitation der Rhapsoden hat folglich Annäherung an musikalische Laute aber nur als Anstreifen an das Recitative des Vortrags und eigentlicher Gesang würde verlezen. Nur in Lyrik ist | das eigentliche Band und da ist Alles, was objective Darstellung scheint, doch eigentlich Ausdruck eines innerlich bewegten Zustands. So geht Musik auch wo sie an Rede sich anschließt auf diese zurük und ist in beiden Fällen dasselbe, nie zusammenhängend mit [der] Darstellung eines Gedankens, sondern eines bewegten Zustands. — Betrachten wir den Naturlaut als das ursprüngliche Darstellungsmittel in dieser Beziehung mit allem, was er Conventionelles an sich trägt, so hat er eine allgemeine Verständlichkeit aber je mehr das Musikalische sich entwickelt, desto mehr hört diese Verständlichkeit auf, die nur im ursprünglich Einfachen ist. Worin liegt nun die Ähnlichkeit zwischen den Differenzen in musikalischer Composition und den Differenzen in den Naturlauten? Da kann man etwas anführen, aber nur das einfache, und es nie in Zusammensezung nachweisen. Es gibt gewisse Gemüthszustände, deren musikalischer Naturausdruck mehr in die Höhe geht, andre in die Tiefe; es gibt solche, [wo] der Naturausdruck schnelle Bewegung des Tons hat, andre, wo diese langsam [sind]. Ein Largo wirkt also auf [eine] andre Gemüthsstimmung als ein Presto. Aber wenn wir nun das auch festhalten und sehen Compositionen von in dieser Beziehung entgegengeseztem Charakter doch zu Einem Ganzen verbunden, so scheint das eine das andre zu zerstören, oder einen Übergang von einem ins andre anzudeuten. Aber was trägt denn nun die unendliche Mannigfaltigkeit von Tönen und [die] Länge der musikalischen Säze dazu bei, um diesen Gemüthszustand herauszufinden und in denselben versezt zu werden; ja so steht da das Maaß in gar keinem Verhältnis zum Effect. Darin scheint eine bestimmte Ahndung zu liegen, daß es mit der Musik noch eine andre Bewandtniß haben muß. Vorbauend will ich gleich etwas abschneiden, sc. es gibt in Musik wie in allen Künsten[,] aber vielleicht in größrem Maaß ein eigenthümliches Verkehren zwischen denjenigen welche die Kunst treiben und daher in den

137 | 138

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

249

Kunstwerken [versiren,] was nur gefaßt werden kann von denen, die auch die Kunst treiben; und wollte man denken, was in Musik nicht unmittelbar analog ist, wie Naturlaute hervorgehen, das sei nur für diese, für Componisten und Künstler, so wäre das ein Irrthum; denn alle diese musikalischen Regeln und Ausnahmen und Erweiterungen derselben hätten keinen Sinn, wenn nicht doch in den Tonarten und ihren Verhältnissen selbst die eigentliche Idee und Tendenz der Kunst läge; denn wie alle technische Vorschrift sind sie nur entstanden aus [der] Beobachtung dessen, was die Kunst durch die bedeutendsten Meister wird. Allerdings hört ein Künstler genauer heraus, wie sich ein Componist zum gegenwärtigen Stande der Theorie verhält, aber wenn einer nur componirt für die Künstler, [um] ihnen etwas Neues zu geben, wäre [dies] ganz anders, als Compositionen wirklich sind. Die eigentliche Bedeutung ist nicht für diesen Kreis. Nicht leicht gibt es ein Gebieth, auf dem wiewohl es reines Naturgebieth ist, der Mensch so ungeheure Productivität ausgeübt hätte, als das musikalische. Wie wenig analoges mit gemeßnem Ton ist in lebloser Natur. Alles ist eigentlich nur Geräusch. Wenn wir die in der lebendigen Natur vorhandnen Töne zusammennehmen, so beschränkt sich das auf die Vögel, deren Stimme eine gewisse Analogie mit dem gemeßnen Ton hat, obgleich diejenigen Gattungen, denen wir gleichsam Virtuosität beilegen, doch nicht in [der] Reinheit mit der menschlichen Stimme zu vergleichen sind. Die menschliche Stimme ist [die] Spize der Naturproduction, aber [nur] sehr geringes, ehe die Kunst sie in Besiz nimmt. Vergleicht man nun, was sie durch Kunst geworden ist und die ungeheure Mannigfaltigkeit von Tönen durch Instrumente so ist hier eine unendliche Schöpfung des Menschen, die hat er rein gemacht als Erweiterung seiner Stimme und wozu? in welchem Zusammenhang mit dem von Natur Gegebnem? und mit der allgemeinen Kunstrichtung? Ja so erkennen wir die Effecte, aber [auch die] Analogie mit dem Allgemeinen der Kunst? Reduction auf | bestimmtes Innres läßt sich fast nicht machen, wogegen die innerliche Wirkung feststeht, die sich aber nicht in Gedanken auflösen läßt. Daher das Geheimnisvolle in Musik. Wir fragen nicht wo ist Musik her, sondern was

250

154

Theorie der einzelnen Künste

138

bewirkt sie eigentlich, und wie ist aus der Richtung auf diesen Effect diese ungeheure Schöpfung entstanden. Jene Naturlaute sind verständlich in hohem Grad, Musik je complicirter, desto weniger verständlich. Der Umfang zwischen tiefsten und höchsten Tönen ist freilich in gewissen Gattungen bestimmt z. B. im Choral soll so der Umfang einer Melodie eine Octave nicht überschreiten, und selten geht man mehr als eine Terze weiter; aber vergleichen wir, was innerhalb desselben Umfangs vorgeht in Choral und was in demselben in Kammermusik, so ist da die größte Differenz; und überall lassen sich die Differenzen im Einzelnen immer auf etwas die Bedeutsamkeit machendes zurückführen. So nimmt selbst ein einfaches Thema, so wie man es in irgend einem Umfang differenciirt, keine Differenz der Bedeutsamkeit an, z. B. in Händels Oratorium gibt es Stücke die in dem einen einen triumphirenden, im andern einen trauernden Charakter haben, obgleich das Thema wesentlich dasselbe ist.* Also liegt die Bedeutsamkeit in etwas andrem. Die meiste Anwartschaft scheint das Tempo zu haben, und da finden wir in Übergängen, [in der] genauen Verbindung von Stücken in ganz verschiednem Tempo ein Verfahren, das sich nicht darauf zurükführen lässt. — Ist wirklich Musik als freie Productivität angeknüpft an die natürlichen Bewegungen der menschlichen Stimme in Verbindung mit [dem] bewegten Selbstbewußtseyn? Wollte man das leztre annehmen, so fiele sie aus allen Analogien von den übrigen Künsten. Das erste betrachtend, sage ich behuthsam nur Analogien mit den Bewegungen der Stimme, also Rede und Naturlaute. Im Gesang der Vögel finden wir reine Naturproduction von der wir aber auch nicht behaupten, ihre Variationen gingen auf solche im innern Leben zurück. Singt der Mensch von Natur auch so? Offenbar nein, sondern der wirkliche Gesang hat gleich die Zeichen der Besonnenheit des Vorgedachten, wenngleich in großer Analogie mit innren Lebensbewegungen. Beides zu trennen, ist also unmöglich, aber ebenso wenig findet dasselbe Verhältnis statt wie in der Mimik, sondern wir müssen auf etwas andres gehen. Es ist kein Mittel, als von entgegengesezten Punkten auszugehen und nach den gegebnen Wirkungen der Musik zu fragen. Unmöglich

138 | 139

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

251

können diese in Differenz bleiben von demjenigen was Tendenz ist und der Künstler will; sondern sobald eine solche Differenz erscheint, würde die Kunst einen andren Gang einschlagen, um nicht zu wirken, was sie nicht will und umgekehrt. Daß der Ton sezende Künstler nicht in bestimmten Bewegungen des Selbstbewußtseyns zu sein braucht in der Compositionsthätigkeit, ist offenbar aus unsren ursprünglichen Positionen, weil Besinnung, Vorbedachtes, [ein] auf freie Productivität gerichteter Impuls dazwischen tritt. In der Mimik versezt sich der Künstler in einen Andern, seine Bewegungen manifestiren aber immer innre Zustände. Gilt dasselbe von Musik so müßten wir das eben Gesagte aufheben; denn trägt sie nicht eine solche Verständlichkeit in sich, die zugleich die der Differenz ist, so würde sie jenes nicht erreichen, ohne eine andre zu werden. Da sie nun sich nie auf ihrem Gange umgewandt hat, so kann nicht so ihre Tendenz sein, daß der Künstler die Töne wollte angesehen wissen als aus bestimmter Gemüthsbewegung. Das umgekehrte Ende, wo wir anknüpfen, ist also die Wirkung. Daß die Hörenden den Gemüthszustand anschauen, der dargestellt ist, ist es also nicht. Was ist dann die eigentliche Wirkung? Denn eine solche bringt sie offenbar hervor. Aus [dem] Alterthum sind Aussagen, die zu unsrer Erfahrung nicht zu stimmen scheinen, | [die] Erzählung sc. daß Massen von Zuhörern durch die Musik in bestimmte Affecte versezt worden. Eine bestimmte, auch jezt wiederkehrende Erfahrung ist es nicht; ist aber auch kein Grund, die Tendenz der Kunst anders zu modificiren. Ist von Gemüthsbewegungen die Rede, die Willensbewegung werden, wie Erweckung des Muthes durch kriegerische Musik, dann wäre die Kunst nicht eine reine, sondern an einem andern[,] einem Gebieth der gebundnen Thätigkeit angehörend, und fiele nach unsrer Ansicht außerhalb der eigentlichen Kunstbetrachtung. Wirkungen der Musik die in Willensbewegungen ausgehen, sind uns also nicht die künstlerische Tendenz; und die künstlerische Vollkommenheit ist uns nicht das, was diese Willenserregung bewirkt, sondern im bewegten Selbstbewußtseyn als solchem stehen bleibend. Setzen wir uns in dieselbe Position, so haben wir auch kriegerische Musik aber

252

Theorie der einzelnen Künste

139

in [der] eigentlichen Schlacht wird wenig darauf gerechnet bei Art des jezigen Krieges und den Massen dabei; sondern da sind musikalische Productionen weit mehr Signale, und das ist viel zu untergeordnet im Gesamtzustand als daß man ihnen eine solche Wirkung zuschreiben könnte. Allerdings wenn wir einen Marsch hören, nehmen wir einen solchen Eindruck wahr. Fragen wir aber, worauf er beruht, und vergleichen zwei solche Compositionen, die ganz verschieden und doch dieselbe Wirkung haben können, so sieht man wie die Wirkung mit der Differenz in den Elementen nicht zusammenhängt. Da stoßen wie also auf ebenso viele Schwierigkeiten. Wenn wir nun das Mannigfaltige noch erweitern wollten, so vermehren wir noch die Schwierigkeiten für diese Grundfrage, daher wollen wir uns zurückziehen und beim einfachen stehen bleiben. Wir unterscheiden das Melodische als Differenz in Höhe und Tiefe und das Rhythmische [als] Differenz in [der] Zeitbewegung. Fragen wir nun einfach so: Welches erscheint als die verständlichre Wirksamkeit so glaube ich, wird man sagen müssen, es sei die des Rhythmus, und das ist gerade dasjenige wodurch die Musik mit dem ursprünglichsten Gebieth der Mimik sc. mit der Orchestik zusammenhängt, die auch nicht durch Melodie, sondern Tact dominirt wird. Erweitern wir die Frage so: Sind wir nur einer Veränderung bewußt in der Wirkung des Tempo, jenachdem darin Differencirung der Töne in Höhe und Tiefe größer ist oder geringer? Da müssen wir sagen: in einer Abwechslung von langen und kurzen Zeittheilen aber immer in demselben Ton, ist der Eindruck des Rhythmus an sich derselbe aber die Wirksamkeit desselben unfehlbar geschwächt. Worauf das beruht, ist schwerlich anders zu sagen, als es sei die Identität des Tons die die Wirkung hemmt; indem Mannigfaltigkeit in Zeit und Gleichheit im organischen Eindruck in gewissem Widerspruch mit einander stehen. Fragen wir: Wird die Wirkung des Rhythmischen in demselben Grad erhöht als die Differenz der Töne in demselben zunimmt; so kann man das auch nicht sagen, da es ebenso ein zuviel, als ein zu wenig gibt, also für Stärke der Wirkung ein gewisses Verhältnis des einen zum andren postuliert wird, das von einem gewissen Extrem an sich alterirt.

139 | 140

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

253

Hier ist gleich ein bedeutender Unterschied. Denken wir denselben Ton in Menge kleiner Zeitabschnitte also in einer Reihe kurzer Tacttheile sich wiederholend, so muß er auf das bestimmteste abgesezt werden, weil sonst die Tacttheile nicht zum Vorschein kommen. Denke ich dieselben Tacttheile mit melodisch differenten Tönen ausgefüllt, so kann man diese gebunden und gestoßen vortragen, im ersten Falle treten die Tacttheile nicht so bestimmt aus einander sind aber wegen Differenz der Töne selbstverständlich aber beides gibt verschiedne Wirkung. Also bei gleicher Differencirung ist eine Wirksamkeit die in der Differencirung selbst auf den | Rhythmus zurückgeht, und für [die] unmittelbare Wirksamkeit der Musik ist nur das rhythmische Element dominirend und das melodische untergeordnet. Was ist dann das in der Naturäußerung woran sich das Rhythmische anschließt? Da kommen wir auf [die] Identität des Musikalischen und Mimischen. Was im Leben selbst als Tact und Rhythmus erscheint der Wechsel in den bestimmten Naturbewegungen. Wo gleichmäßige Bewegung ist zugleich mit Arsis und Thesis, da ist ein Rhythmus, also im Blutumlauf und [in der] Respiration. Auf diese geht ebenso gut die Operation der Naturlaute wie die leiblichen Bewegungen zurük. Im Anschließen an diese Naturäußerungen ist die ursprüngliche musikalische Wirkung gegründet und das Melodische erscheint secundär. Aber so wie wir darauf zugleich achten, daß dieses doch auch wieder verschiedne Wirkung hervorbringt, und sagen, diese Differenz des Umfangs kommt zum unmittelbaren Bewußtseyn auf ganz verschiedne Weise in geringren und größren Intervallen und hier auch solche Cautelen sind für bestimmte musikalische Gebiethe wie für den Umfang: so muß hier auch ein Element sein, das sich an ein natürliches anschließt, und da verfolgen wir wieder [die] Analogie mit [der] Mimik. Wie wir da Bewegungen der Extremitäten, Gesichtszüge und Sprachwerkzeuge unterschieden, so sind wir hier ursprünglich auf die lezten allein gewiesen, aber in diesen sind alle verschiednen Differenzen die erst im gemeßnen Ton auseinander treten. Da ist also eine Erweiterung dieses Elements aber nur möglich im gemeßnen Ton, da unterscheidet sich die Differencirung des Tacts und der Höhe

254

Theorie der einzelnen Künste

140

und Tiefe. Wie jene Elemente in Mimik ihren verschiednen Ort hatten, so haben dieselben in [der] Bewegung der Sprachwerkzeuge verschiednen Elemente auch ihren verschiednen Ort in Musik. Ist es nun, um einen bestimmten Zustand als den eines andern aufzufassen, so kommen wir in unsre alten Schwierigkeiten. Also müssen wir stehen bleiben zu fragen: Was wird im Hören durch diese verschiednen Elemente hervorgebracht? Wie wir hier auf [die] Analogie mit den natürlichen Lebensbewegungen zurükkommen, und achten auf das Verhältnis zwischen Gehör und Sprachwerkzeug, so wird darin der Schlüssel liegen, denn auf das unmittelbare Auffassen von veränderten innren Lebenszuständen, welche durch die Töne dargestellt werden sollten, können wir nicht zurükgehen, weil wir dabei immer auf Widersprüche stoßen. Alles Bisherige zusammengefasst: ist die Parallele zwischen Musik und Mimik so zu theilen, wie die Mimik selbst; wir sagen nicht, daß der Componist die Gemüthsbewegungen eines Andern darstellt; dies thut aber der Mimiker[;] aber insofern beide ein dramatisches Gedicht begleiten, haben beide Beziehung auf Poesie, besonders Lyrik als Reihe von Gemüthsbewegungen darstellend. In dieser Begleitung gibt es Verständlichkeit durch [die] Verbindung der einzelnen Elemente in [der] Musik selbst. Betrachten wir [die] Mimik für sich allein, so ist es Orchestik oder Pantomime. Bei jener knüpften wir unmittelbar an die gegebne NaturRichtung, indem freie Thätigkeit sich in den Zwischenräumen der selbartigen gebundnen hineinstellt. Hätten wir da gleich gefragt, was der Sinn sei dieser verschiednen Bewegungen, so wären wir in Verlegenheit gewesen. Hätte einer gesagt, um das Geheimnis zu merken, müsse man alles in Gleichzeitigkeit verwandeln und die Schönheit der Linien sei das, worauf es gehe, und solche Bücher hat man, die Tänze in solche Figuren auflösen, aber schön wird Niemand diese festen Linien finden, nicht die Linien, die die Füsse am Boden beschreiben, sondern [die] Bewegung des Leibes macht es aus. So wenn einer sagt, das Schöne der Musik beruht auf arithmetischen Verhältnissen. Das enthält auch keinen wahren Schlüssel. Allerdings kann man den

140 | 141

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

255

Ton auf solche Zahlenverhältnisse reduciren aber das Geheimniß der Wirkung der Musik liegt nicht darin, kein Mensch hat ein Bewußtseyn von solchem Auffassen, und arithmetische Capacität ist sehr verschieden in den Menschen; sagt man also Consonanzen und Dissonanzen cet. hängen ab davon wie leicht oder schwer das Zahlenverhältnis gefaßt werde. Aber die Seelen haben verschiedne Capacität, Mancher merkt das Verhältnis von 10:13 so schnell, wie ein gewöhnlicher das von 3:4. Gleichzeitigkeit von Verhältnissen die eine Unendlichkeit darstellen ist nicht durch | zuführen. Noch ein musikalisches Element ist zuzunehmen, die Harmonie, von der noch nicht die Rede war, sondern wir bestimmten erst die Töne als Rhythmus, ihre Differenz in Höhe und Tiefe i. e. Melodie, aber vom Zugleichsein verschiedner Töne in verschiedner Höhe haben wir noch nichts gesagt. Diese Thatsache können wir nicht entbehren, denn eine Composition in unisono für viele Organe würde bald keine musikalische Wirkung haben. Dennoch hat sich dieses Element erst spät in [der] Geschichte der Musik recht geltend gemacht und schwierig zu entscheiden ist, wie weit es die Alten darin brachten, doch fände sich gewiss eine ungeheure Differenz mit uns.* Unsre ganze harmonische Theorie beruht auf [der] Theilung der Tonleitern in Octaven, in solche Distanzen, wo die schwingende Saite im einen Falle halb so groß ist als im andern, und in Differenzen die dazwischen liegen. Zwischen jedem von unsren Intervallen auch zwischen halben Tönen liegt [die] Möglichkeit einer unendlichen Theilung, die wir aber nicht annehmen. Warum? Weiß niemand. Zwei etwas differente Instrumente leiden wir nicht, hören wir eins allein von beiden, so merkt Niemand etwas. Auf arithmetische Differenzen lassen sich diese Differenzen zurükführen, aber daraus nicht begreifen. Die Differenz, daß der Ton in seinem Unterschied von den dazwischen liegenden, auf der Faßlichkeit seiner Verhältnisse beruhte, die Reinheit des Tons müßte ja abhängig sein von dieser arithmetischen Operation. So das Zusammenfassen von zwei aufeinander folgenden Tönen in einem Intervall, wäre abhängig vom Auffassen der arithmetischen Differenz; und so der Accord auch. Ist es denn sonst etwas irgendwo Gegebnes, daß Zahlenverhältnis-

155

256

Theorie der einzelnen Künste

141

se im Aufeinanderfolgen ein Gegenstand des Wohlgefallens sind? Niemand wird sich leicht eine Reihe von arithmetischen Formeln für ein Concert geben lassen; man hat also das Physiologische verwechselt mit dem künstlerischen Zusammenhang[, der] ist zwischen beiden aber nur so, daß man sehr behuthsam sagt: Die Strucktur unsrer Organe schließt den Grund in sich, warum unter den verschiednen möglichen musikalischen Combinationen die einen mißfällig sind[,] die andren wohlgefällig. Aber behuthsam denn es gibt Differenzen zwischen verschiednen Völkern, einige finden unsre Musik so abscheulich als wir die ihrige. Auf diesem Wege lösen wir die Frage unmöglich. Kommen wir auf unsre ursprünglichen Positionen zurük und gehen vom Charakter der Kunst aus und wie wir nach Maaßgabe der verschiednen Functionen in menschlichen Lebensthätigkeiten die verschiednen Künste als freie Productivität betrachtet haben und eine solche Richtung als specifisches Princip einer Kunst ansahen, so ist [das] Princip der Musik die Begeisterung der freien Thätigkeit im Ton. Gehen wir hiervon aus, so stellt sich die Frage im Allgemeinen so: Wie hat sich diese Richtung auf freie Productivität im Ton in einer solchen Unendlichkeit über das in [der] Natur gegebne erweitern können, und welches Interesse hat dazu geführt? Wir wollen vergleichen die Poesie als freie Productivität in Sprache[, den] Zusammenhang zwischen Sprache und Vorstellung setzen wir voraus und eine bestimmte Richtung des Vorstellungsvermögens und gemeßne Sprache, so daß das Princip Begeisterung der freien Productivität in diesem Gebieth ist. Sehen wir nun was musikalische Instrumente aus der Stimme machten, als Erweiterungen der menschlichen Stimme, also das Elementare machten und fragen, ob Poesie dasselbe gethan habe an [der] Sprache; so ist offenbar die Productivität der Poesie in Beziehung auf ihr Element unendlich kleiner; auch der Wohllaut in Sprache ist sehr geringe Productivität sofern sie von Poesie her ist, es sind nur gewisse poetische Licenzen. Die elementare Productivität der Musik die nur durch Richtung der Kunst entsteht, ist ein unendliches im Vergleich mit den andern Künsten. Also muß ein sehr starkes Interesse sein an dieser frei-

141 | 142

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

257

en Productivität und das ist sc. das Wesentliche der Frage, die falsch gestellt ist, wenn man dem Grund des Wohlgefallens und Mißfallens nachfragt, und ebenso wenn dem, was eigentlich die Wirkung ist. Erste Frage ist: Was ist der Grund der so starken und verhältnismäßig ungeheuren Richtung auf diese Productivität[?] | Freilich zeigt sich [das] sehr verschieden in verschiednen Zeiten und Völkern; aber nicht leicht ist ein Volk, das nicht seine musikalischen Instrumente hat; freilich unentwickelt wo auch das gesamte Dasein unentwickelt. Diese Differenz tritt also zurück. Irgend ein Zusammenhang zwischen musikalischer Production und Beweglichkeit des Selbstbewußtseyns ist entweder da, wo diese noch gering, da auch jene und ebenso wo die Intensität und Extension der ganzen Entwicklung bedeutend ist, da ist dasselbe auch auf diesem wie auf jedem andern Gebieth von Thätigkeit. Das Gemeinsame ist das, worauf es hier ankommt, nicht die Differenz. Die Analogie zwischen Musik und Mimik können wir nicht fallen lassen, aber mimische Production ist eine unendlich kleine in Beziehung auf das Elementare, wenn wir sie mit der musikalischen vergleichen. Aber eine gewisse Ähnlichkeit ist unverkennbar. Die gemeßnen Bewegungen kommen so wenig außerhalb dieses Gebieths vor wie die gemeßnen Töne. Hier ist [dies] also auch durch die Richtung erst hervorgebracht aber der Grund zum Wesentlichen darin sc. dem bestimmt Gemeßnen, ist in beiden dasselbe, der physiologische Grund des Rhythmus, das Rhythmische in den Lebensbewegungen selbst. Der Zusammenhang der künstlerischen Production mit den Bewegungen des Selbstbewußtseyns die in Lebensbewegungen so sehr zusammenhängen, ist in musikalischer Production also die Hauptsache. — Wenn wir nun die logische Bedeutung der Stimme mit betrachten, als ursprüngliche Art, wie die Vorstellung hervortritt für andre Individuen so ist es eigentlich ein fremdes Gebieth, wenn wir auf die reine Selbstständigkeit der Musik sehen; aber so wie die Unendlichkeit der Combinationen [der] Töne dazu gehört, damit das Vorstellen in Sprache erscheine, so ist die Mannigfaltigkeit des gemeßnen Tons die Repräsentation der gesamten Mannigfaltigkeit der Bewegungen des Selbstbewußtseyns. Wenn sie nicht

258

Theorie der einzelnen Künste

142

Vorstellungen sind, sondern Lebenszustände, also auch nicht Bilder, denn will Musik das hervorrufen, so geht sie aus ihrer Bestimmung; und dieses Mahlerische in Musik ist streitig, in wiefern in gewissen Fällen erlaubt oder nicht. Was ist der Grund dieses Interesses an musikalischer Production? Die Richtung auf unendliche Mannigfaltigkeit der Combinationen im Gebieth des gemeßnen Tons ist die äußre Repräsentation der Unendlichkeit in den Bewegungen des Selbstbewußtseyns aber nicht als ob da eine bestimmte Correspondenz zwischen dem Einzelnen im einen und [im] andren wäre. Fassen wir es geschichtlich und vergleichen die Musik verschiedner Völker auf untergeordneter Stufe der Entwicklung: so ist eine Analogie zwischen der besondren Art ihrer musikalischen Production und der besondren Richtung ihres Selbstbewußtseyns, i. e. ihrer nationalen geistigen Temperatur. Die Völker von einer kriegerischen Neigung haben andre Musik als diejenigen von dissoluter Neigung und das ist vom Clima weit weniger abhängig als von innrer Lebensrichtung. Auch der verschiedne Grad der Beweglichkeit ist in Übereinstimmung mit [der] Art der musikalischen Composition. Die Wirkung der Musik in ihrem selbstständigen Erscheinen kann nur wollen, dieses Bewußtseyn wovon sie selbst ausgeht, allgemein machen, es erregen. — Das führt wieder auf jene arithmetische Theorie. Wir können eine musikalische Composition denken vollkommen tadellos alle jene Regeln die mit den arithmetischen Regeln zusammenhängen [einhaltend]: Consonanzen und Dissonanzen und Auflösungen cet.[, diese] macht aber gar keinen Eindruck, und eine andre, die in jener Beziehung nicht rein ist, sondern von jener Theorie aus viel auszusezen wäre, macht ungeheuren Eindruck. Jene ist als solches Kunststück gemacht, aber es lag nicht zu Grunde was beim andern sc. die wahre Richtung auf diese Productivität, daß wir uns der Beweglichkeit des menschlichen Selbstbewußtseyns bewußt werden. Aber der Wechsel, wie sich dieses zeigt, kann bei jedem ein andrer sein, allerdings so, daß ein gewisser Charakter immer da ist, aber nicht daß Einzelnes sich bestimmen ließe. Je vollkommner die Beweglichkeit des ganzen menschlichen Lebens erscheint in Mannigfaltigkeit und

142 | 143

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

259

Aufeinanderfolge der Töne, desto mehr ist [die] Idee erreicht. Richtung auf freie Productivität im Organ der Stimme mit allen möglichen Erweiterungen, mit [der] Beziehung der Bewegung des Selbstbewußtseyns auf das individuelle Leben; aber nicht in [der] Beziehung des Einzelnen auf das Einzelne sondern des Ganzen auf das Ganze, [d. h. einer] Reihe von Tönen auf die Beweglichkeit, nicht [auf] einzelne Bewegungen. Sowie man nun gleichsam den Ton einer bestimmten Reihe von innren Bewegungen in musikalischer Composition wieder | finden will, muß man vom Rhythmus ausgehen und die Wechsel der Töne unter diesen Gesichtspunkt stellen. Folge ich in einer Melodie der uniformen Bewegung i. e. der uns als sangbar gegebnen Töne fortschreitend, oder aber in Sprüngen vom Höchsten zum Tiefsten cet. so ist das der Rhythmus des Tonwechsels, denn die Intervalle sind ein Wechsel der Bewegung. Das angewandt auf Musik wie sie die Rede begleitet, und wie [sie] selbstständig [ist], da ist jenes so, daß ein Objectives da ist, das sich für sich fassen läßt, und darauf die Musik bezogen. Behandeln verschiedne Musiker dasselbe Gedicht, so ist immer einige Ähnlichkeit im Rhythmus und [den] Bewegungen; aber Ähnlichkeit im Thema findet sich nur als zufälliges. Denke ich eine Musik deren Gegenstand im Kirchenstyl liegt, so können da äußerst schnelle Töne vorkommen, wie wohl Langsamkeit der Charakter ist, aber ist die Musik rein, so enthalten diese schnellen Töne nicht große Intervalle, sondern nahe stehende Töne, so daß sie sich als Ein langsamer Ton ansehen lassen. So wird uns genaue Analogie zwischen Musik und Mimik, daß wir bestimmt unterscheiden die Differenz auf Verständlichkeit, auf Bestimmtheit dessen was hervorgebracht wird, in der begleitenden und für sich bestehenden Musik. Das Princip aber ist rein in beiden dasselbe; denn so wie man in begleitender Musik etwas andres darstellen will als den Gang der innren Bewegungen im Allgemeinen so entsteht Mahlerei in Musik was Ausnahme ist. Wie nun die Musik überhaupt ungleich größren Kreislauf hat, ehe sie von da an, wo sie Kunst wird, ins Leben zurüktritt, lassen sich bestimmtre Verzweigungen auffinden und Verschiedenheit tritt in bestimmtre Gruppierungen auseinander. Das Ganze in

260

Theorie der einzelnen Künste

143

allgemeiner Übersicht. Die begleitende Musik als Kunst wie sie vom Kunstlosen ausgeht schließt sich an die Neigung zum gemeßnen Ton die schon in der Sprache ist. Anknüpfungspunkt für selbstständige Musik aber ist nur in denjenigen Naturlauten, die nicht mit Sprache zusammenhängen. So finden wir schon, wenn wir nur alles was eigenthümlicher Zweig sein soll, eine allgemeine in Allen vorkommende Function sein muß, wenn auch in der Masse nur in Form der Receptivität, welcher Gegensaz zum Componiren erst in größrer Entwicklung derselben entsteht; daß jede Rede, die nicht reines Wissen will, i. e. Vorstellungen als solche darstellt, sondern nur Vorstellungen als Zeichen des innren Zustands, schon an sich Neigung zum gemeßnen Ton hat, das ist der Übergang zum Gesang, sei die Neigung mehr passiv i. e. Empfindung, oder activ i. e. Richtung auf eine Thätigkeit rein als innre Empfindung betrachtet. Dasselbe wird in dem Gebieth der Rede die Neigung zum Versmaaß [in der] Poesie, was eben dem gemeßnen Ton entspricht. Ebenso enthält jeder von den Naturlauten, die innre Zustände ausdrücken, schon eine Richtung auf den gemeßnen Ton und zugleich auf Modulation i. e. [die] Differenz von Höhe und Tiefe. Wenn ich dieses hier heraushebe, und beim vorigen Punkt nicht, so habe [ich] die Meinung daß hier, wo keine Beziehung auf das Wort ist, der Ton selbst die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht, während dort das Wort dominirt und der Ton nicht so bestimmt bemerkt wird. Aber beides ist freilich immer verbunden Rhythmus und Modulation aber in verschiednen Verhältnissen. Nun tritt die Erfahrung ein, daß der Umfang der Stimme sich mit der Richtung auf den gemeßnen Ton erweitert. Vergleichen wie unsre gewöhnliche, ja selbst ehrbare Sprache mit dem Bewegtern, das unmittelbar aus momentanen innren Bewegungen her ist, so ist Differenz des Umfangs. Dieser erweiert sich immer zugleich mit der Richtung auf den gemeßnen Ton. Nehmen wir dazu jenes über die qualitative Differenz in der Natur im gemeßnen Ton, wie in keiner einzelnen Stimme der ganze Umfang ist, sondern nur in den Organen beider Geschlechtshälften und der verschiednen Alter, und wie auch außerdem eine qualitative Differenz in den Stimmen liege, wie

143 | 144

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

261

Diskant, Alt, Tenor, Baß. Die qualitative Differenz ist so daß derselbe Ton von verschiednen Stimmen nicht dasselbe ist z. B. in Alt und in Tenorstimme. | Das ist die gegebne Differenz für die in den Instrumenten. Wäre in diesen nicht auch qualitative Differenz so wären sie unnüz, und würden die Stimme nur in Höhe und Tiefe erweitern, wozu Ein Instrument genügen könnte. Diese Differenz classificirt sich am bestimmtesten in die der Saiten- und Blas-Instrumente, die fast unter allen Völkern sich findet. Fragt man worauf die Differenz beruht, da der Ton doch immer dasselbe ist sc. die schwingende Bewegung der Luft[,] so muß es im Verhältnis des Organs zu dieser Bewegung liegen, ein Blasinstrument sezt ursprünglich den Menschen in Bewegung aber nicht vermittelst der Stimme sondern durch [den] Hauch; das Instrument ist da der schwingende Körper, bewegt sich aber nicht selbst, sondern durch den Hauch des Menschen und dann bewegt es wieder die äußre Luft und aus diesem Zusammensein entsteht der Ton. Im Saiteninstrument bewegt der Künstler den schwingenden Körper unmittelbar; und diese Bewegung sezt sich in die Luft fort. Nun sezt sich ebenfalls, woraus nur folgt, daß man überall ursprünglich von [der] menschlichen Stimme ausging, die Differenz der vier Stimmen in den einfachen Instrumenten fort; mit verschiedner Richtung auch Höhe und Tiefe und verschiednen Qualitäten des Tons z. B. die einfachen Saiteninstrumente, Violine . . . [Bratsche, Cello und]* Baß, so hat man die vier Stimmen. Alle diese Organe sind die reine Schöpfung des Menschen, und nichts darin hat einen ähnlichen Ursprung wie die Erfindung der gebundnen Thätigkeit, denn es wird daraus nichts als rein diese Production im Ton. Daraus sehen wir die natürliche Stärke dieser eigenthümlichen Richtung die sich in [eine] Mannigfaltigkeit von wahrer Schöpfung ergossen hat. — Betrachten wir noch einmahl, wenn man einseitig so leicht voraussezt, daß die Richtung des Individuums auf Mittheilung überhaupt eine logische sei, und gestehen nun, daß alle musikalische Darstellung an sich nur ein minimum von logischem Gehalt hat, so liegt in dieser Thatsache eigentlich [eine] gewaltige Widerlegung jener Thatsache, es muß ungeheure Intensität in dieser Richtung des menschlichen Geistes

156

262

Theorie der einzelnen Künste

144 | 145

sein, sich rein in seiner Beweglichkeit darzustellen, abgesehen von allem Logischen. Nun ist das auch eine allgemeine Erfahrung, allgemeiner als man sie findet, da nicht Wahrheit genug im Menschen ist, wenn diejenigen die sich exclusiv mit den bildenden Künsten beschäftigen und diejenigen welche in der eigentlich logischen Theorie sind, i. e. die reflectirenden und speculativen Menschen, wenig Empfänglichkeit für Musik haben; und wenn nun bildende Kunst Richtung auf das Bild [hat] i. e. einzelne Objectivität, und das andre auf Objectivität des Gedankens: so geht also auseinander diese Richtung auf das Vorstellen im Allgemeinen und [das] Bilden ins Einzelne und beide differiren von Richtung auf innre Beweglichkeit. Darin liegt der Keim für unsre Rechenschaft vom ganzen Gang der Musik. Was ergreift sie und womit hat sie es überwiegend zu thun? Immer die innren Zustände als solche, i. e. das geistige Einzelleben in seinem Wechsel im ganzen Umfang seiner Beweglichkeit. Da unterscheiden wir ebenso zweierlei Hauptrichtungen; sc. das Bewegtsein von einem geistigen Impuls aus und das von einem sinnlichen und das ist [die] Haupteintheilung der ganzen musikalischen Richtung. Wenn man die erste überwiegend die religiöse Musik nennt oder Kirchenstyl, so schließt man das ja nicht in zu enge Grenzen, sondern denkt dabei an die theokratische Form des Religiösen; wie sc. das Politische ebenso ein geistiger Impuls ist und daher auch gewisse Stuffen mit jenem genau verbunden. Daher ist es ein Instinct, daß die größten Musiker überwiegend sich an jene Vereinigung des Religiösen und Politischen halten; und andrerseits wenn wir unsre Zeit denken, wo [deren] Trennung sich der Vollendung nähert, und die Musiker behandeln ein rein Politisches, so wird das Religiöse immer als begleitend erscheinen. So wie wir vom Gemeinsamen absehen und | rein das Einzelleben suchen, so können wir es nur, wo Einzelnes gegen Einzelnes tritt, und da ist Musik die es mit der sinnlichen Beweglichkeit zu thun hat. Die Beweglichkeit des Einzellebens durch die geistigen Impulse stellen wir freilich höher, aber in Musik vorsichtig nur als dem Werthe nach größer, dem Gegenstand nach, nicht als ob sie als Musik i. e. Darstellung der Beweglichkeit der menschlichen Seele

145

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

263

durch gemeßne Töne: Tanz der Töne, in der einen vollkommner wäre als in der andern. Aber die Differenz ist sehr bestimmt, nur daß man sie gewöhnlich ungeschikt Kirchenstyl und Kammerstyl nennt.* Dies ist die größte Differenz auch in Beziehung auf alle Geseze der musikalischen Production. Eins fällt gleich auf als Differenz zwischen beiden; eine Neigung hier den Kirchenstyl mit Elementen des andern zu vermischen, wogegen das umgekehrte nicht vorkommt. Achten wir auf den Grund, so ist darin zugleich der eigenthümliche Keim zu dem, was in Musik ebenso Ausartung ist, wie im mimischen Gebieth. Die Musik theilt sich also in selbstständige und an das Wort gebundne, dann in jene zwei Style. In beiden [ist] ein Fortschreiten vom einfachen bis zum größten, nicht nur so, daß dieser Gegensaz immer gehalten war, sondern wie es einerseits Übergänge gibt zwischen Kirchen- und Kammerstyl, so andrerseits gibt es Zusammensezungen von der an das Wort gebundnen mit der selbstständigen Musik. Was wir von diesen vier Punkten aus betrachten können, gehört hierher, im Speciellen geht es in das Positive, sich beziehend auf den Naturcharakter und das ursprünglich physiologische Element i. e. unsre gegenwärtige Tonleiter, die ein positives Element in sich trägt, weil wir unter allen möglichen Tönen nur gewisse als musikalisches Element annehmen und was dazwischen ist, ausschließen. Unser Ohr ist nur an diese Tonleiter gewohnt. Das meiste hat nationalen Ursprung. Wir sind aber noch nicht auf einem solchen Punkt der allgemeinen Anschauung dieser Kunst daß das genügend geschehen könnte. Als höchsten Gegensaz stellt man gewöhnlich den zwischen antiker und moderner Musik der wirklich sehr stark hervortritt. Wie diese aus jener entstanden ist, ist historische Aufgabe. In der alten trat die Harmonie weit mehr zurück.* Sie hatte auch andre Fortschreitungssysteme, i. e. Tonarten, und die Entwicklung des harmonischen Elements brachte eine Verringerung in diesen hervor; die Alten hatten eine größre Mannigfaltigkeit von Tonarten, denen sie jeder einen bestimmten Charakter zuschrieben. Bleiben wir nun bei dem, was wir im Plato finden, und lassen die, die er als weichlich sinnlich und zu rauh verwirft, so sieht man diese Man-

157

158

264 159

Theorie der einzelnen Künste

145 | 146

nigfaltigkeit.* Bei uns ist es nun die Differenz zwischen Dur und Moll; denn unsre verschiednen Scalen in denselben haben nicht diese Bedeutungen. Das harmonische Element ist [der] Grund, warum die Schlüssel der alten Tonarten uns nicht befriedigen. Darum tritt aber diese Differenz bei uns nicht ein, keineswegs ein Zusammentreffen des Tons in den geistigen Bewegungen und diesem musikalischen Gegensaz. Das Einheitliche eines Ganzen ist nicht an die Glieder dieses Gegensazes gebunden. Wir bleiben bei der modernen Musik, da auch die, welche am meisten die alte Musik kennen, nichts darin componiren könnten, was die Wirkung hervorbringt, welche die Alten von ihrer Musik rühmen. Die moderne Musik hat sich erst höher ausgebildet zu einer Zeit, wo auch schon die nationalen Differenzen anfingen zu verlöschen. Da sie unter Herrschaft des Christenthums entstand, so kann die Kirchenmusik viel weniger von nationaler Differenz an sich tragen, und es ist nur der Gegensaz zwischen orientalischer und occidentaler Kirche, aber jene blieb erstaunend zurük in der Musik und hat dafür noch manches von [der] Musik der Alten, ohne daß dies unsre Kenntniß von dieser bis zur Praxis fördern könnte, da die Musik der orientalischen Kirche sich in den einfachsten Formen hält. Anders im geselligen Styl, wo die Tanzmusik das | ursprüngliche ist, und in dieser das Nationale ausgeprägt, als größter Gegensaz die slavische und germanische, die sich in das eigentlich germanische (nördliche) und romanische (südliche) theilt, von der das Italienische und Spanische das Bedeutendste ist. — Wir müssen die beiden Style erst von einander sondern. Der natürlichste Gang fängt da an, wo wir am unmittelbarsten die Musik mit Mimik zusammen finden und das ist bei der Musik die der Orchestik angehört, die im geselligen Styl liegt. Da herrscht das Rhythmische vor als die Bewegung regirend, das Melodische ist demselben untergeordnet; und gewißermaßen auf das Rhythmische zurückgeführt. Melodisches Herabsteigen in der rhythmischen Arsis, und melodisches Hinaufsteigen in der Thesis würde Verwirrung bringen, da Musik die Bewegung regire, und die Differenz der Theile die verschiednen orchestischen Reihen sondert, so dient

146

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

265

das Melodische dem Rhythmus. Das Harmonische tritt so zurück, daß nur das einfachste statt finden darf, ohne die Aufmerksamkeit von Rhythmus und Melodie ab auf sich zu ziehen. In diesem strengen Gebundensein an das Orchestische sind also diese ersten Anfänge, die Musik der Volkstänze sich zum strengen Styl neigend, wegen der Einfachheit und der Regeln, die unmittelbar aus den Bewegungen her sind. Darin zeigt sich aber ein gewisser Mangel an Selbstständigkeit der Kunst; und diese Geltung steht in der Mitte zwischen der freien Musik (i. e. wo Ton das Ganze leitet) und gewißermaßen in Form einer gebundnen Thätigkeit, weil Zwek ist, die Bewegungen des Tanzes sicher zu stellen. Je mehr sie sich davon löst, desto freier tritt sie hervor. Ein Beispiel dient als eine Art Kanon, i. e. es wiederholt sich dasselbe an verschiednen Orten. Das Musikalische im Volkstanze besteht aus Säzen, die den verschiednen Reihen des Tanzes entsprechen, ein solcher Saz muß melodisch einfach, leicht faßlich sein. So wie man ihn als Thema behandelt und variirt, so ist es dadurch losgerissen von [der] Verbindung mit dem Orchestischen, bringt aber die Verständlichkeit darin in das selbstständige Auftreten der Musik hinüber. Dieses ist [der] Schlüssel zu einem bedeutenden Theile der musikalischen Entwicklung. In Musik an sich dürfen wir nicht [eine] Beziehung auf Vorstellung suchen, doch ist da Gegensaz zwischen selbstständiger Musik und der mit Worten verbundnen. Denkt man musikalische Empfänglichkeit sich erst entwickelnd in einem Volk, so kann noch nichts sein als Musik oder Werke von Musik, welche die mimischen Bewegungen begleitet. Daran aber knüpft sich freie Entwicklung der Musik an sich. [Ein] Thema aus [dem] Tanz oder volksmäßigen Lied hat Verständlichkeit auch für das minder geübte Ohr, und da man dieses zur Basis macht, die in den Grundelementen immer da ist, so erhält die freie Musik einen Wiederschein von der Verständlichkeit, welche die an das Wort oder Bewegung gebundne enthält. Dieses ist die Regel für die ganze selbstständige Composition in reiner Instrumentalmusik: man will, daß ein Ganzes in seinen Haupttheilen sich auf einfache Säze zurükführen lasse, freilich nur vom geübten Ohr faßbar. Das versteht sich aus den ersten Anfängen. Die specifische

266

Theorie der einzelnen Künste

146 | 147

Begeisterung für Musik ist in der Masse immer zuerst in Zusammenhang mit orchestischer Bewegung. Aber je nachdem die Verständlichkeit im Volk groß ist oder geringer, entwickelt sich von da die Kunst in größren oder kleinern Cyclen. Denkt man das orchestische Thema vom Tanz sich lösend in freier Musik so hört die Strenge der Regeln auf, die für Tanzmusik [gültig] sind, und so entwickelt sich die Freiheit in Composition des geselligen Styls. Betrachtet man die verschiednen Formen, was aber in das Positive hineinführt und dieses [ist] nur verständlich, wenn man in das Technische geht, daher wir es nicht behandeln; so muß man sich an die Fortschreitung halten, wie sich in den entwikelten Formen der Zusammenhang mit dem einfachen Thema der orchestischen Musik | fassen läßt. Je näher sie diesem sind, desto verständlicher. Gehen wir auf einen andern analogen Anfangsgrund so ist Musik auch Begleitung des Volksliedes, dieses aber theils in ursprünglicher Verbindung mit dem Tanz. Alte lyrische Gedichte, die man Balladen nennt, sind eigentlich solche, die mit Tanz zusammen sein sollen, zu denen getanzt, oder die zum Tanz gesungen werden sollen. Darin ist schon das Analogon zur größten musikalischen Entwicklung, sc. der Oper, die auch Verbindung von Gesang, Tanz und Musik ist, und ihr Element also schon in diesen ersten Entwicklungen hat. Wenn [man] diese Gattung als unnatürlich ansieht, so zeigt das Zurückführen auf diese Elemente, wie musikalisch dieser Anfang ist. Hier entwikelt sich schon [die] Differenz zwischen beiden musikalischen Tonarten. Hat ein Lied überwiegend schwermüthigen Charakter, so [ist] die musikalische Begleitung [in] Moll, und überwiegend heitren Charakter in Dur. Da unterscheiden sich die beiden Tonarten in den meisten Bewegungen die sich in Musik darstellen. Die musikalische Begleitung des Gesangs soll sich nicht anschließen an das was in der Poesie Bild oder Vorstellung ist, sonst artet sie in das Mahlerische aus, verständlich zwar im einzelnen Moment, aber nicht musikalisch und was die musikalische Verständlichkeit des Ganzen nothwendig zerstören müßte. — Von hier aus ist Übergang in die Selbstständigkeit der musikalischen Compositionen. Es ließe sich nachweisen geschichtlich, wie eine Beziehung

147

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

267

statt findet, zwischen den Formen der lyrischen Poesie und den ersten Formen der selbstständigen Musik in einem Volke. Das verschwindet, je weiter sich die leztren vervollkommnen. In dieser ursprünglichen Verbindung der Musik mit Gesang, ist die Musik ebenso dienend, wie [bei] den orchestischen Bewegungen; aber weil hier schon eine größre Differenz ist zwischen dem einzelnen Objectiven und dem worauf die Musik geht, Beweglichkeit des Selbstbewußtseyns so ist hier schon größre Freiheit als dort und Musik als Begleitung des Gesangs nicht so strengen Formen unterworfen, wie die als Begleitung des Tanzes. In Poesie hat das Einzelne als Wort eine objective Bedeutung, an diese darf sich die Musik nicht lehnen, ist also nicht an das Einzelne gebunden, daher schon hier die größre Freiheit und Mannigfaltigkeit. In Tanzmusik gibt es auch zahllose z. B. Walzer, aber die Differenzen sind da in viel engren Grenzen. Von einem Volkslied kann es auch verschiedne Compositionen geben, aber nicht so große Differenzen im Ton wie [bei] Tanzmusik da als Lied einfacher; im Ganzen aber läßt es mehr Spielraum. Von Lied und Tanzmusik aus als den ersten Anfängen steigt es auf bis zur Oper, maximum des geselligen Styls; das größte hingegen der selbstständigen Musik ist die Symphonie? Was können dazwischen [für] bestimmte Stufen sein? In der an Poesie gebundnen Musik sind aber zuerst zu unterscheiden die beiden Style und so was im geselligen Styl die Oper ist, ist im religiösen das Oratorium. Beide analogisirend finden wir in ihnen zugleich die Repräsentation von kleinern dazwischen liegenden Gattungen. Das Lied ist ein Amphibolisches, kann beiden Stylen angehören. In der eigentlichen Ausbildung der modernen Musik ist da bedeutender Unterschied, da das Kirchenlied, Choral[,] wesentlich [eine] gemeinschaftliche Production ist, das Lied hingegen als Lyrische Composition wesentlich das Einzelne ausdrückt, daher in der Regel nur von einfachen Stimmen vorgetragen. Der Vortrag des Gesangs [ist] einstimmig wenngleich von der ganzen Gemeinde, und Harmonie dann von Instrumenten ersezt; und umgekehrt Harmonie vom Gesang aus und Instrumentalsmusik zurückgetreten oder ganz Null.

268

160

161

Theorie der einzelnen Künste

147 | 148

Geschichtlich füge ich bei, daß in den ersten Anfängen des Liedes beide Style sehr wenig auseinandergehen, sondern erst in weitrer Ausbildung. Mehrere unsrer bekannten Choralmelodien waren nothwendig ursprünglich auf gesellige, ja erotische Lieder componirt z. B. [die] Melodie „o Haupt voll | Blut und Wunden“ ursprünglich „Mein Geist will sich verlieren, daß du die Jungfrau zart.“* So die [Melodie von] Schönheit und Morgenstern ursprünglich: [„]Wie leuchten doch die Äuglein der allerliebsten Jungfrau mein?[“]* Dieses Ineinander beider Style ist unvollkommner Zustand; wo Gegensäze sind, da müssen sie aus einander gehen bis auf einen gewissen Grad. Wie verhält sich die Musik zur Poesie, kann man da nicht sagen, ohne gleich auf [die] Differenz von Vocal- und Instrumentalmusik Rücksicht zu nehmen. Von Anfang [an] war Lyrische Poesie nie ohne Musik und schon beide Formen des einzelnen Vortrags und Chors vereinzelt oder zusammen. Ist die Poesie des Liedes wesentlich individuell, und nur von Einem vorzutragen, so ist die Vervollständigung außerhalb des Gesangs in [der] Instrumentalbegleitung. Ist hingegen [die] Poesie eine solche, daß sie kann von einer Masse vorgetragen werden, so kann die musikalische Vollständigkeit im Gesange selbst sein; aber soll sich da die instrumentale Begleitung fortsezen; schwerlich kann man denken, die Vollständigkeit soll von Masse ausgehen, und die Instrumente etwa Eine Stimme vorstellen. Beide Formen [sind] möglich, Gesang einstimmig und harmonische Vollständigkeit durch Instrumente; trägt der Gesang die harmonische Vollständigkeit selbst in sich, so muß die Instrumentalmusik verschwinden, weil dann die Poesie die vollkommne musikalische Begleitung hat. – Im religiösen Styl finden wie beide Formen, Compositionen nur für den Gesang, und Compositionen für Gesang und Instrumentalmusik zusammen, so daß die musikalische Vollständigkeit in beiden; nur eine Eigenthümlichkeit des Chorals ist in Deutschland überwiegend daß der Gesang nur einstimmung von [der] Gemeinde, und Instrumentalmusik in [den] vier Stimmregistern die Vervollständigung [ist]. Aber da scheint ja die Vierfachheit der Stimmen schon in der Gemeinde. Der Einstimmigkeit des Alters liegt zu Grunde,

148

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

269

daß alle Differenzen des Geschlechts und Alters in der religiösen Stimmung sollen untergehen, dann kann nur Instrumentalmusik vervollständigen. In Vielstimmigkeit des Gesangs ist hingegen das Bewußtseyn der Differenz im Zusammenklang repräsentiert. Sehen wir aber auf die Praxis und berücksichtigen daß in unsrem Kirchenchoral dieselbe Melodie für sehr verschiedne Gedichte gehört [wird], die nicht denselben Ton haben, so ist eine größre Freiheit im unisono der Gemeinde, da die Orgel die Melodie variiren kann. Das kann man von [der] Gemeinde, die vielstimmig singt, nicht verlangen. Compositionen die ursprünglich nur für vielstimmigen Gesang gemacht sind ohne Instrumentalbegleitung[,] das nennt man Motett; hingegen was wir in religiöser Musik Chor nennen, da ist Vielstimmigkeit des Gesangs und Mannigfaltigkeit der Instrumentalbegleitung zugleich. — Sehen wir auf den geselligen Styl so knüpft sich [dieser] zuerst an das Lied, wo Vortrag durch den Einzelnen ursprünglich und dominirend ist, in Form der Ballade mit Begleitung zum Tanz beides, Gesang durch Einzelne und Refrain durch den Chor. Da schon ist die Zusammensezung. Nun ist auch eine dialogische Form des Lyrischen denkbar, auch schon in der alten Tragödie gegeben. Dann ist Zusammenwirken von einzelnen Stimmen in den verschiednen Stimmregistern entweder vollständig oder zu Zweien und Dreien, und dann in Instrumentalbegleitung die harmonische Vollständigkeit, wo dann im Gesang bald die eine Stimme gegeben ist, bald die andre, daher größre Richtung in [der] Art des Zusammenseins von Vocal- und Instrumentalmusik. Da ist schon Übergang zum Dramatischen. Ein lyrischer Dialog muß auf Voraussezung ruhen, und diese bekannt sein oder sich gleich im Anfang der Ausführung selbst geben. Also Beziehung auf eine Handlung und Übergang in das Dramatische. In diesem nun kommen dann alle diese Elemente* zusammen und es ist die kunstgerechte Zusammenstellung dieser Aller zu einem Ganzen. Dasselbe ist im religiösen Styl das Oratorium, und ganz ähnliche Elemente liegen darin; es kann Wechselgesang darin sein, was in Kirchengesang von kleinem Umfang vorkommt, also einzelne Stimmen und der Wechsel und gemeinsamer Gesang. Davon

162

270

Theorie der einzelnen Künste

148 | 149

unterscheidet sich der Chor in Vollständigkeit der Stimmen, und zugleich [im] Reichthum | der Instrumentalmusik in Begleitung. Für den Choral, wo Instrumentalbegleitung besteht, hat sich die Orgel die Herrschaft erworben, die sich dem religiösen Styl besonders eignet. Aller Vortrag auf der Orgel von Musik aus geselligem Styl, ist Ausartung weil schnelle Bewegung und Wechsel diesem Instrument nicht natürlich ist, dessen Töne nur in zureichender Zeit ihren richtigen und vollständigen Verlauf [haben]. Dennoch ist in [der] Orgel eine gewisse Einseitigkeit, weil sie allerdings eine große Mannigfaltigkeit von qualitativ verschiednen Tönen in den verschiednen Registern hat, doch nur Blasinstrument ist, das ist eine Einseitigkeit. Auf der andern Seite waren lange Zeit in Compositionen der religiösen Musik die Blasinstrumente ganz verworfen, so daß im Choral Alles mit Orgel war, [im] Oratorium hingegen wo kein Gesang, allein Saiteninstrumente, noch bis [in die] erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Im Oratorium auch Blasinstrumente zu verbinden ist ein Fortschritt. Gehen wir auf das Gebieth der selbstständigen Musik, wie sie von Poesie völlig entbunden ist, so war der natürlichste Anfangspunkt die Musik die den Tanz begleitet, die gebunden ist aber nicht an das Wort, sondern an orchestische Bewegung, der sie dient und die sie zugleich dominirt. Aber da es hier überwiegend Massen sind, die in Bewegung gesezt werden, so ist die Mannigfaltigkeit der Instrumentalmusik etwas natürliches, und doch nicht das ursprüngliche. Will man fragen, ob nicht auch hier der Anfang muß ganz einfach gewesen sein, i. e. Vortrag auf einem einzelnen Instrument, so ist das nicht leicht denkbar, sondern wo sich das findet, ist es immer nur aus dem andern heraus genommen. Hören wir ein einzelnes Instrument, so erscheint es uns als Vorbereitung, Übung oder als einzelner Theil eines größren Ganzen und für das Ganze fordern wir gleich die musikalische Vollständigkeit. Da nur wenig Instrumente die Vollständigkeit der Harmonie in sich tragen, wie die dem Clavier analogen diese haben, so postuliren wir den Gesang; hört man das einzelne Instrument allein, so vermißt man gleich die Vollständigkeit. Daraus geht hervor, daß die Instrumentalmusik durchaus auf Vollständigkeit ausgeht,

149 | 150

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

271

und das Vereinzelte darin nie als Kunst angesehen wird. Also Begleitung einer vollständigen Instrumentalmusik zu geselligem Tanz ist uns das ursprüngliche erste. Da sind wir von Poesie gelöst, aber unmittelbar im geselligen Styl. Wie verhält sich denn die Instrumentalmusik für sich allein zu dieser Duplicität des Styls? Man könnte sagen, sie habe diesen Gegensaz nicht, aber wenn wir uns an das erinnern was bei Mimik vorkam, daß auch symbolische Handlungen und Bewegungen in das Gebieth der Orchestik gehören, weil Besinnung dazwischen eintreten muß, und das nur im Cultus ist: so gibt es eine reine Instrumentalmusik die dem religiösen Styl angehört und sich ursprünglich ganz analog an mimische Bewegungen anheftet. Dergleichen gab es in allen Religionen die eine Mannigfaltigkeit von symbolischen Handlungen hatten, Opfer, Umgänge. In beiden Stylen entsteht Instrumentalmusik in Verbindung mit orchestischer Bewegung. Im Gebieth des Christenthums haben wir dieses[,] auch im römischen Gottesdienst konnte die stille Messe so gut musikalisch begleitet sein, wie die wirklich gesprochne. Bedenken wir, wie in der Praxis der römischen Kirche das Wort in seiner Einzelheit und als solches verloren ist durch die Gemeinde, so hat die Begleitung des Wortes hier für die Gemeinde schon den reinen Charakter der Instrumentalmusik. — Es gibt nun mehrere andre Übergänge von der die Poesie begleitenden Musik zur reinen Instrumentalmusik was sich in diesem Styl zeigen läßt, sc. die musikalische Begleitung prosaischer Werke. Die Prosa postulirt nicht den bestimmten Rhythmus, Musik aber kann sich dessen nicht enthalten. Gesang kann in Übergängen schwanken wie in Recitativ, aber die musikalische Begleitung desselben sucht diese Übergänge nachzuahmen, was sie nur künstlerisch kann, nicht ursprünglich; denn die einzelnen Instrumente sind an Rhythmen gebunden und der Schein daß diese verschwimmen besteht nur im Zusammensein der Instrumente. Wort ohne Rhythmus sondert sich so von Musik die Rhythmus haben muß, und die ist beides zusammen und auseinander. Die Worte werden recitirt, | aber dann folgt eine Instrumentalmusik die ihre Verständlichkeit hat in der Beziehung auf die Worte, wenngleich herausgesezt aus der Unmittelbarkeit

272

163

Theorie der einzelnen Künste

150

dieser Beziehung. — Je nach dem Saiten- oder Blasinstrumente dominiren, hat die Composition andren Charakter. Sind mehrere gleichtönende Instrumente einander gleichgeltend oder dominirt eines. Jenes ist im Quartett, Zusammenwirken von Instrumenten aus den vier Stimmregistern; vollständig in Symphonie, wo alle Saiten- und Blasinstrumente concurrieren können. Das Quartett muß mehr den Charakter der Verständlichkeit haben, die Symphonie aber in [der] Mannigfaltigkeit der Töne die Unendlichkeit der Beweglichkeit darstellen. In ursprünglicher Verbindung mit Tanz ist das Thema dominirend, i. e. [ein] bestimmter einfacher Saz. Daran schließt sich in Instrumentalmusik das Variirende, wo immer noch Abhängigkeit der Instrumentalmusik von etwas anderm, weil diese Themata gewiss aus orchestischer oder lyrischer Musik sind. Aus Wiederkehr eines solchen Sazes kann man dieses Thema herausfinden, je mannigfaltiger aber die Instrumente desto schwerer ist dieses kenntlich, nur dem Kenner, der Melodie und Harmonie zusammenfassen kann. Kehrt das Thema so wieder, so hat es den Charakter des Strophischen, wie in Lyrischer Poesie von Lied und Ode bis [zur] Dithyrambe, die das Strophische dann auch nicht mehr hat. Diese verschiednen Hauptgattungen von Gleichheit der Instrumente und der Unterordnung unter eins theilen sich weiter, aber das geht in das Positive. Nur das sage ich, daß in allen Compositionen der reinen Instrumentalmusik nach einem Zusammenhang der verschiednen rhythmischen Hauptformen gestrebt wird, was auf differenten Charakter der innren Bewegung zurückkehrt, das eine Tempo mehr repräsentirt das Heitre, Leichte, das andre die Gravität; und diese Hauptformen haben eine Analogie mit den verschiednen Temperamenten, also das Selbstbewußtseyn dadurch modificirt. Dies ist das Gebieth des zufälligen Wechsels, dem alle Darstellungsformen unterworfen sind. Wir können dieses auf einen Begriff reduciren der freilich außerhalb der eigentlichen Kunst liegt, aber großen Einfluss hat. Wir sahen die Drappierung gewissermaßen in Mimik gehörend.* Da ist nun auch Differenz von Formen, die auf etwas bestimmtem ruht, aber in diesen [liegt] ein bestimmter Wechsel, der bei einigen Völkern schnell vorgeht,

150 | 151

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

273

bei andern fast gar nicht. Wo jenes herrscht, ist die Mode. Das erstrekt sich auch in andren Kunstgebiethen auf Alles, was man nur als positiv auffassen kann. Auf die wesentliche Differenz kann man aber doch dieses Zufällige immer zurückführen. Die Ausartung in der Musik ist noch zu betrachten und dazu noch eine Differenz. Die specifische Begeisterung für Musik ist Richtung der freien Productivität auf den Ton. Im musikalischen Künstler soll Alles Ton werden, was ihn bedeutend bewegt, es tönt immer in ihm. Dieses innre Tönen ist zugleich ein innres Hören, es producirt sich nicht äußerlich durch [die] Stimme und wird nicht äußerlich durch das Ohr aufgenommen. Es ist das organische nur in seinen innren Enden Bewegliche. Doch müssen da die Geseze des Tons walten und Übereinstimmung mit dem was überhaupt die organischen Lebensbedingungen im Menschen leitet. Fragen wir, was in dieser rein innren Productivität der Hauptpunkt ist, ob die Stimme oder das Ohr? Das scheint hier eine unnüze Spizfindigkeit, hat aber bedeutenden Einfluss. Denn man fragt dann: Wer ist der musikalische Künstler[,] der welcher äußerlich hervorbringt durch Stimme oder Instrument oder der, welcher nur die Töne schafft für das Ohr i. e. der Componist. Er kann seine Schöpfung für das Auge sichtbar machen wie Redner und Dichter, ohne daß er sie dadurch lautbar macht, aber damit es da sei bedarf es solcher, die sie lautbar machen. Ist der Künstler der Tonsezer, oder [der] Sänger und Spieler, oder beide? Offenbar ist der Tonsezer der eigentliche Künstler denn die Virtuosität des Sängers und Spielers hat ein überwiegend mechanisches Princip; es kann einer sehr trefflich darstellen, aber nur mittelmäßig componiren, das ist kein eigentlich musikalischer Künstler. | Wäre in jenem innren Dasein die Stimme Hauptsache, so gäbe es ein andres Resultat; es dominirt aber vielmehr das Ohr, und der welcher für das Ohr schafft ist der eigentliche Künstler und kann das Hörbarmachen andren überlassen. Der bloße Virtuos ist nur das Organ des Componisten. Nun entsteht der Begriff einer Ausartung der musikalischen Kunst sc. wenn sich das Verhältnis umkehrt und der Componist das Organ des Virtuosen wird. Das Verhältnis zwischen beiden ist freilich nicht einfach, sondern sehr

274

Theorie der einzelnen Künste

151

zusammengesezt z. B. Ein musikalischer Künstler der eine Oper componirt soll sie nicht ins Blaue componiren, sonst könnte sie zwar trefflich sein, aber nie zum Vorschein kommen. Oft sagt man diese Rolle ist für diesen Sänger gesezt i. e. der Componist hat nicht auf das Ungewisse hin componirt, sondern eine gegebne Gesellschaft von Virtuosen im Auge gehabt, in der er es könnte wirklich machen; da benuzte er die organischen Mittel derselben, daß jede Stimme und [jedes] Instrument sich kann in einer Vollkommenheit zeigen. Das ist keine Ausartung sondern das wahrhaft Praktische. Nur Einen Schritt weiter stoßen wir auf die Ausartung die Oper und Oratorium haben. [Die] Einleitung von reiner Instrumentalmusik bei [der] Oper [wird] Ouvertüre genannt. Diese gehört in das Gebieth der Symphonie, da alle Instrumente zusammenwirken sollen. Als Ausnahme können Stellen vorkommen, wo ein Instrument dominirt. Überschreiten aber solche Stellen das Maaß und ist Tendenz da, die mechanische Gewandtheit des einzelnen Instrumentalisten in mehr sich lösenden Schwierigkeiten zur Darstellung zu bringen, so ist das Ausartung umso mehr, da es symphonische Musik ist, wo das Einzelne nur untergeordnet hervortreten darf. Wollen wir das Wesen dieser Ausartung [betrachten], so kommen wir auf Differenz der musikalischen Instrumente. Der Anfang dieser Differenz ist in der Verschiedenheit der Register der menschlichen Stimme, also Differenz des Hohen und Tiefen und [des] Umfangs. Schon in der Stimme ist oft größrer Umfang. Ist nun Absicht, diesen größren Umfang einer Stimme darzustellen so daß die natürliche Differenz der Stimmen gestört wird, so ist das epideictisch, ähnlich dem Seiltänzerischen in der Mimik. Tragen wir es auf die Instrumente über, so gewinnt es noch einen andren Charakter. Bei der menschlichen Stimme geht es nur auf quantitative Differenz, weil die qualitative einmahl gegeben ist und unveränderlich. Die Instrumente nun haben allerdings auch ihre qualitative Differenz des Tons abhängend von der Art, wie die Schwingungen der Luft hervorgebracht werden. Jedes Instrument soll sich in diesem seinem eigenthümlichen Charakter halten. Wird es aber statt dessen so gebraucht, daß es ein andres darstellt, so ist es epideictische

151 | 152

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

275

Ausartung. Tiek hat das einmahl anschaulich dargestellt, indem er eine Violine einführt, die ihren Handhaber kneifenden Satan nennt, indem das Piccicato der Violine nicht eigenthümlich ist, sondern der Bogen*; jenes ist dann der Harfe oder Guitare verwandt; im Kleinen und Einzelnen kann das gehen, wenn eines nicht lohnt, deßwegen ein besondres Instrument hineinzubringen und doch die Composition es fordert. Nimmt man dazu, daß ein Instrument über sein natürliches Stimmregister hinausgetrieben wird, so daß man mit [dem] Cello z. B. fast die Violine imitirt, aus tiefrem Tenor in Diskant gehend, so ist das gegen die Natur des Instruments. Diese Ausartung findet sich fast überall, ganz besonders in den Gattungen, wo ein einzelnes Instrument dominirt. Da ist freilich Tendenz, daß dieses Instrument in seiner Wirkung zu möglichst befriedigender Anschauung komme. Da könnte man es allein spielen, allein da Instrumentalmusik Vollständigkeit will, so ist auch ein solches Stük umso vollkommner, je vollständiger [die] Begleitung der andren Instrumente. Eins dominirt, die andren treten zurük, wird das dominirende Instrument seiner Natur nach behandelt, so kann es seinen Charakter entwickeln und der Virtuose seine Fertigkeiten. Aber wenn das Instrument aus seiner Natur heraus getrieben wird zur Imitation eines andern Instruments oder über den natürlichen Umfang, so ist epideictische Ausartung. | Offenbar ist der Kammerstyl diesem am meisten unterworfen, der gebundne oder Kirchenstyl weit weniger, schon darum, weil im Kirchenstyl die eigentliche Instrumentalmusik nie das Dominirende ist obwohl sie an größrer Stelle so hervortreten kann. Im Oratorium ist Einleitung reine Instrumentalmusik und in einer Messe sind Stellen, wo keine Stimme des fungirenden Priesters vorkommt, aber da begleiten Instrumente die symbolische Handlung. Weil im Ganzen die Instrumente da untergeordnet sind, ist weniger Ausartung von dieser Art. In unsrer Zeit fehlt es daran, daß der Styl dieser Messe nicht rein ist und man oft tanzen möchte. Im Opernstyl aber ist die Gefahr groß. Die Verbindung zwischen Componist und Virtuosen ist eine nothwendige und wenn auch dieser nie Organ von jenem ist, so kommt es doch auf seinen guten Willen an, daher der

164

276

165

Theorie der einzelnen Künste

152

Componist ihm etwas zu Gefallen thut, ist er eitel, so verführen sie ihn zu epideictischen Ausartungen oder zu Compositionen wo der Componist dem Virtuosen an Stellen eine gewisse Freiheit läßt pro lubitu.* Das darf nur vorübergehend sein, sonst geht die Ausartung vom Virtuosen aus; oft vom Componisten, der dann sündigt den Virtuosen zu lieben. — Auf der andren Seite im strengen und gebundnen Styl ist hingegen Gefahr, in das Trockene hinein auszuarten und alle harmonischen Künstlichkeiten geltend zu machen über das hinaus, was dem Ohr gefällt, Spielereien des Contrapunkts und der Harmonie, wo das zu Grunde liegende Mathematische das Verführende ist. Da Geschmack und Productivität in einer Kunst dasselbe ist nur in differenter Quantität, so ist jener Receptivität, diese Spontaneität; beide in derselben Totalität. Über den Sinn hinaus macht eine gewisse specielle Übung den Virtuosen. Das kann einer sein, ohne darum die Productivität zu haben. Gehen wir auf unsre Eintheilung der Instrumentalmusik in die symphonische (wo Gleichheit der Instrumente) und der wo ein einzelnes Instrument dominirt, der Concertmusik, so scheint es, als gehöre zur Productivität der leztren, als ob sie Kenntniß des Instruments vorausseze, so daß der Componist zugleich der Virtuose sei. Das ist in gewissem Sinn richtig; aber wird der Virtuose Componist, so fällt er leicht in jene Ausartung, über die Totalität der Instrumente hinauszugehen; wogegen der Sezer, der nicht virtuos ist, auch selten das Instrument erschöpfen kann, da er nicht auf dieselbe Weise dessen Grenzen anschaut. Da ist bedeutender Unterschied zwischen menschlicher Stimme und Instrumentalmusik; man findet weit mehr Sänger, die gar nicht Componisten sind, als man Virtuosen auf einem Instrument findet, die sich nicht zum Geschäft machten, Stücke zu setzen; und doch hätte man erwartet von der Stimme aus sei der Übergang leichter. Betrachten wir aber die qualitative Differenz in [den] Instrumenten, so ist es viel schwieriger, ohne eigne Übung die Instrumente anschaulich zu haben. Man denkt es so, am natürlichsten stehen die Ausübenden auf Seite der Receptivität, so im Gesang; aber das Schwierige und Mannigfaltige in Instrumentalmusik machen nöthig, daß die Ausübenden

152 | 153

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

277

zugleich in Composition übergehen. Das zeigt sich in einzelnen Passagen, die der Componist dem Ausführenden überläßt. Dem bloßen Componisten tritt Differenz zwischen symphonischer und Concertmusik nicht völlig heraus, und Ausübender als Componist artet aus von der Kunst weg. Sehen wir auf die Stuffen vom Künstler bis zum musikalischen Publikum, und so auf das Dasein der Musik in der Totalität des menschlichen Daseins; so müssen wir [fragen] was die musikalischen Productionen in Beziehung auf das ganze Leben sind. Da ist merkwürdige Abstuffung. In [der] eigentlichen Masse, Volk, finden wir keine musikalische Wirksamkeit getrennt von der mimischen Ausübung. An eigentlicher Instrumentalmusik hat es kein Interesse, als insofern sie den Tanz leitet. Die Musik rein zu genießen erfordert schon eine höhre Bildungsstuffe, also ist eine Verwandtschaft der Kunst in ihrem unabhängigen Heraustreten mit gewissen Verhältnissen und Zuständen des menschlichen Lebens. Offenbar wenn wir die Wirkung der Musik betrachten in Verbindung mit dem Tanz, so ist ein augenblickliches, oder immer mögliches Übergehen aus dem musikalischen Auffassen in die orchestische Productivität; und darum sehen wir den unmittelbaren Zusammenhang des Rhythmischen in Musik mit den unmittelbaren Lebensbewegungen. Wo Musik völlig für sich auftritt, ist also ein längres und ruhigres Verharren in bloßer Auffaßung | und das sezt eine gewisse Richtung auf Reflexion voraus sc. auf [die] Gesamtheit alles dessen, was als Bewegung des Selbstbewußtseyns im Leben des Einzelnen vorkommt. Dieses sich zu vergegenwärtigen ist der eigentliche musikalische Eindruck, nicht möglich ohne ein Insichselbstzurückgehen. Betrachten wir den Übergang vom bloß auffaßenden Publikum zur Teilnahme an musikalischer Thätigkeit, so ist häufig diese in großer Mittelmäßigkeit; und dabei bei einem großen Theil des musikalischen Publikums einen ungeschwächten Eindruck [hervorbringend]. Es ist also Differenz zwischen dem eigentlich ursprünglichen musikalischen Eindruck in seiner geistigen Beziehung und demjenigen der schon durch größre Übung des Sinns für die musikalischen Instrumente vermittelt sein muß. Viel in Instrumentalmusik geht daher für das

278

Theorie der einzelnen Künste

153

größre Publikum verloren, ohne daß dabei falscher Geschmack oder Mangel an Sinn für die Kunst zu Grunde läge. Sondern es ist nur das, daß die Bildung des Sinns für die Kunst sich nur allmählich in verschiednen Graden entwickelt. Sagt man es gibt Völker, die weit musicalischer sind als andre so kann das zweifachen Sinn haben, entweder es sei in einem Volk nicht diejenige Richtung auf Reflexion die die Wirkung der Musik bedingt, oder das specifische Organ i. e. Ohr für [das] Aufassen der Musik ist nicht auf eine so feine Art gebildetet und bildungsfähig in einem Volk wie im andern. Da die musikalischen Anfänge ursprünglich ein innres Hören sind mehr als ein ursprüngliches Produciren mit Stimme, so ist dieses das Maaß, in dem sich in einem Volk die Kunst entwickeln kann; hingegen jenes erste, die Differenz in Richtung der Reflexion trägt dieses Maaß nicht in sich. Also bei verschiednem Werth der Völker für Musik hat man bloß dieses physiologische zu beachten; und dann ist das Maaß nicht wie viel Componisten und Virtuosen es gibt, sondern wie weit die musikalische Production in den Massen verbreitet ist, wenn auch in geringem Grade. Nun betrachten wir den Rückgang der Kunst in das Leben selbst, worin der ethische Werth, die allgemeine Bedeutung derselben mit liegen muß. In dem Maße, als man die Musik an das Volk bringt, in demselben Maaße wird eine gewisse Richtung auf die Reflexion, als eine gewisse Neigung zur Besinnung im Volke vorausgesezt werden müssen, aber ebenso offenbar wird das Eintreten der Musik in das Leben selbst diese Richtung auf Besinnung vermehren. Dies von einem Punkt; vom andern aber: Denken wir in einem Volk weit verbreitet diese Bildung des innren Ohrs für die Kunst also eine Productivität in den Einzelnen, wenn sie auch nicht gerade hervortritt für alle, sondern als ein einzelnes Lebensmoment, und wieder verschwindet: so läßt sich das nicht denken, ohne jenes vorauszusezen, welches also die allgemeine Basis bleibt. Es ist schon ein Moment der Zurükziehung in sich und Freiwerden von gebundner Thätigkeit; und zugleich ein Eintreten der Besinnung in einen Zustand der innern Bewegtheit. In diesem Zusammentreffen liegt, daß auch in der Masse die

153 | 154

Begleitende Künste (Mimik und Musik)

279

innre Bewegtheit zusammentrifft mit Richtung auf Reflexion und äußrem Heraustreten von künstlerischer Art. Ein Hervortreten, ohne daß eine Besinnung dazwischen tritt, ist das Pathematische, je mehr also die Musik in beiden Richtungen in das Volksleben tritt, desto mehr muß sie die Leidenschaftlichkeit mäßigen, also die innre Bewegung voraussezend, ihr aber eine künstlerische Richtung gebend. Diese reine Theorie mit der Erfahrung verglichen will nicht gänzlich damit zusammentreffen, sondern diese zeigt eine merkwürdige* Duplicität, einerseits hervorragende musikalische Anlagen in einem großen Theile der Slavischen Völker, die auf der einen Seite freilich nicht so leidenschaftlich sind, wie die Romanischen, im Ganzen aber doch nicht gemäßigte Rohheit; und dann ausgezeichnete musikalische Anlagen in Romanischen Völkern mit der größten Leidenschaftlichkeit verbunden. Wie ist diese Duplicität aufzufassen? Die Reinheit dessen, was uns natürliche psychische Wirkung dieser Kunst war erscheint different in beiden, im einen bleibt ungeachtet dieser Anlage die Rohheit, da doch eine solche Richtung auf Reflexion diese bezwingen sollte, andrerseits bleibt die Leidenschaftlichkeit[,] wiewohl das Eintreten eines künstlerischen Moments die Leidenschaftlichkeit aufhebt. Sehen wir auf das erste, so kann es an ganz andren Verhältnissen liegen, die die Besiegung der Rohheit hindern; und diese Völker sind ja in Unfreiheit, und dies ist ein hinreichender Grund die Wirkung der Musik auf Rohheit zurückzuhalten. | Im zweiten Fall sieht man, es kann eine Differenz sein zwischen der besondren Bildsamkeit des Gehörs und dem allgemeinen Element der Richtung auf die Besinnung so daß das eine in hohem Grad vorhanden sein kann, während das andre fehlt. — Sehen wir auf den Werth, den die Alten auf die Musik sezten, so ist das nicht mit unsren jezigen Untersuchungen zu parallelisiren, denn wo sie von Musik und Gymnastik sprechen als Bildung des freien Mannes, da verstehen sie unter Musik viel mehr als wir, nehmlich alle Künste, die unmittelbar mit Bewegung des Selbstbewußtseyns zusammenhängen, die redenden und musikalischen Künste in ihrer zusammengehörenden Wirkung; und Musik als Theil des Volkslebens ist ja nur im Zusammenhang mit Volksge-

166

280 167

168

Theorie der einzelnen Künste

154

sang.* Das ist bedeutende Differenz. Die musikalische Anlage in den Slavischen Völkern hat weit mehr Richtung auf Virtuosität in Instrumentalmusik und volksthümlicher Gesang ist zwar auch da, aber bei weitem nicht in dem Grad, wie in romanischen Völkern. Bei uns fängt Gesang und Musik erst an, ein allgemeines Bildungselement zu werden. Denken wir die germanischen Völker in der Mitte zwischen jenen beiden, so ist der erste allgemeine Anstoß für die Musik da gegeben durch Verbreitung des Kirchengesangs, und da ist größtentheils noch ungeheure Unvollkommenheit in Bildung des Volks, so daß die Stimme im Volk nicht durch das Ohr geleitet wird, sondern der Vormundschaft bedarf und zwar nicht bloß des Vorsängers, sondern der Orgel. So lange dies nöthig ist, ist mindrer Grad der musikalischen Bildsamkeit. Dagegen ist Wirkung des Gesangs von Anfang [an] eine bedeutende und die Ausländer die in Reformationszeit das Leben in Deutschland beobachteten, viele Emissäre der Römischen Kurie erkannten, daß der Kirchengesang erstaunlich beitrage zur Verbreitung der Reformation*. Diese war zugleich bedeutende Anregung der Reflexion und daher ist beides zusammen. Von solchem Moment ausgehend müssen wir doch sagen, verhältnismäßig ist doch die Musik wenig in das Volk [eingegangen], so muß das seinen Grund haben in einem Mangel der realen Seite, dem physiologischen Organ. So wie aber jezt anfängt Gesang als allgemeines Bildungselement eingeführt zu werden, muß das bedeutenden Einfluss auf Bildung des Organs üben, und Gleichgewicht allmählich sich herstellen[,] und jene Einseitigkeit der Slaven einerseits und Romanischen Völker andrerseits bei uns nicht sein wird, wir aber dafür langsamer fortschreiten werden.

II. Die bildenden Künste Als das gemeinsame Princip fanden wir die Richtung auf freie Productivität in sinnlicher Anschauung, Bild, Gestaltung; so haben wir dieses schon näher bestimmt für Sculptur, Mahlerei, Architectur. Und an das erinnern wir uns wieder und suchen Be-

154 | 155

Die bildenden Künste

281

stimmung für die Ordnung. Bei allem was Auffassen eines äußren Gegenstands ist, ist eine Richtung des geistigen Subjects das die Normen desselben in sich trägt. In sinnlicher Wahrnehmung ist alle eigentliche Umgrenzung der Gestalten als Sonderung nicht ohne Thätigkeit. Das nannte man nun üblich, daß die Gestalten in der menschlichen Seele präexistierten.* Diese Richtung ist an [die] Veranlaßung des äußren Sinnenreizes [gewiesen], erscheint also überwiegend unter Form der Receptivität, und die Selbstthätigkeit erscheint als bloßes Aufnehmen. Da der Geist nur Selbstthätigkeit ist, so will diese Function auch sich ihrer Selbstthätigkeit bewußt werden, und das geschieht in freier Gestaltung unter Form des Einzelnen als Bild. Das ist die eine Seite von dem was specifisch die bildenden Künste constituiert. Gehen wir von da zur Sculptur, Mahlerei, Architectur und schönen Gartenkunst so stellt sich dieses im Wesentlichen so, daß die Sculptur überwiegend es nur mit der menschlichen Gestalt zu thun hat, Mahlerey hat viel weitres Gebieth und ihr Gegenstand sind die Gestalten nicht an sich, sondern in ihrem Verhältnis zum Licht. Architectur ist Gegenstand des Streits, ob einfach unter die schönen Künste [gehörend] oder nicht.* Das eine Extrem ist eine gänzliche Anerkennung, das andre Extrem, daß Viele [meinen,] nur was an der Architectur Verzierung sei, in die schöne Kunst gehöre, das Aufführen der Räume an sich aber sei Bedürfnißsache, gebundne | Gewerbsthätigkeit. Die schöne Gartenkunst bringt nicht nur das Bild, sondern den Gegenstand selbst hervor, sonst ist sie der Mahlerei correspondirend aber nur der Landschaftsmahlerei, dabei ist auch auf die Lichtverhältnisse gesehen, auf die verschiednen Färbungen der Gewächse. Die Gestaltung und Lichtverhältnisse sind also da wie in Mahlerei, aber nicht als Bild, sondern als Masse. Dieses zusammenfassend finden wie auf einer Seite in Sculptur und überwiegend in Mahlerei, und so in schöner Gartenkunst alle Gestaltungen organisch. Allerdings ist eine Gartenanlage im Grundriß betrachtet, so ist das die architectonische Ansicht, wenn vertical, so ist es die landschaftliche; und in jener Beziehung theilt sie sich in geradlinige also der Architectur analoge, und in solche die das Geradlinige meidet. Da aber die Kunst nicht

169

170

282

171

Theorie der einzelnen Künste

155

architectonisch will angeschaut werden, so gehen wir von der andern Betrachtung aus und da ist auch Production organischer Gestalten. In Architectur hingegen sind es anorganische Gestalten, das Princip aber hat eben so seinen verwandten Typus in der Natur, die gewisse anorganische Gestalten mit gewisser Regelmäßigkeit hervorbringt; Crystallisation und Zerklüftungen in den Gebirgsmassen; eine Crystallisation ist nach derselben Weise zu betrachten, wie ein Gebäude und umgekehrt,* also dasselbe was die in der menschlichen Seele prädeterminirte Form ist, die hier als freie Productivität hervortritt. Noch eine Theilung ist reine Richtung auf Gestalt und hinzukommend auf das Lichtverhältnis. Die leztre haben wir auf dieselbe Weise zu betrachten. Licht ist allgemeines Medium für Wahrnehmung der Gestalten durch das Auge; sonst wären wir auf den unmittelbaren Tastsinn beschränkt. Das Licht ist aber zugleich ein allgemeines cosmisches Princip, die Vermittlung des Zusammenhangs der zusammengehörigen Weltkörper, und wenn wir es einerseits überwiegend ansehen als bedingt nicht durch Sonne und andre Gestirne, sondern durch deren Wirkung auf unsre Atmosphäre: so ist auch ausgemacht, daß es auch eine Lichtausströmung aus der Erde selbst gibt. Wie nun alle Farbe aus dem Licht abzuleiten ist als dessen Modification so sehen wir dasselbe im innern der Erde, denn an allen Metallen und Gestirnen sehen wir die Wirksamkeit des Lichts; ebenso am menschlichen Körper, nahmentlich ist das Auge selbst ein vollkommen durch das Licht durchgebildetes Organ, indem sich alle Lichtverhältnisse und Farben in demselben gestalten, daher die alte Theorie, daß das Licht aus dem Auge herausstrahlt wie hinein, i. e. die Gegenseitigkeit zwischen der lebendigen Organisation und dem Weltkörper, wie zwischen den Weltkörpern selbst. Im Wahrnehmen des Lichts sind wir freilich negativ, aber die Lichtverhältnisse haben im Kreise unsrer Wahrnehmung ebenso eine Beziehung auf den Ton der innren Lebensbewegungen wie die musikalischen Elemente, z. B. anhaltende Beraubung des Sonnenlichts hat Einwirkung auf die Stimmung des Menschen, ändert Ton, Tempo der innren Lebensbewegungen; und wenn freie Wirkung des Lichts zurükkehrt, hebt sich die Stimmung

155 | 156

Die bildenden Künste

283

des menschlichen Lebens wieder. Hier ist also schon Übergang aus dem allgemeinen Princip, dahin wie eine freie Productivität in Beziehung auf die Lichtverhältnisse aus demselben Grunde existirt, wie im Gebieth der Töne, nur daß das Gebundensein an ein andres noch weit bestimmter ist und unbeschränkter als dort, wo Musik auch ursprünglich an das Mimische und Poetische gebunden war, dann aber frei ward, was Lichtproduction nie werden kann, sondern immer an den Gestalten. Der freien Instrumentalmusik analog kann man anführen, was aber jezt noch nicht Kunst ist, die Production von Gestalten durch das bloße Licht, Lichtgestalten, wie in der schönen Feuerwerkskunst, Hervorbringungen von Gestalten durch das bloße Licht oder den Schein daß es so sei. Dieses Überschreiten aber der gebundnen Thätigkeit wird sich nie so geltend machen wie das frei werden in Musik, wenn wir auch die Vervollkommnung zugeben und Eintreten in das Gebieth der schönen Kunst. Die Mahlerei und schöne Gartenkunst sind zusammengesezt aus beiden Motiven, Richtung auf freie Productivität in Lichtverhältnissen immer in Beziehung eine innre Stimmung anzuregen durch Vermittlung mit der Analogie der Lichtverhältnisse welche eine gehobne Stimmung hervorbringen. Dieses ist das hinzukommende, begleitende Element; denn es gibt Landschaftsmahlerei, die nur Zeichnung und Skizze ist, aber das Element der Färbung ist nicht da oder nur unvollkommen. Eben so ist eine gewisse Abstraction, wenn die Lichtverhältnisse | nur im Gegensaz von Licht und Schatten, ohne Brechung der Lichtstrahlen i. e. Färbung dargestellt werden. Sculptur und Architectur haben es nur mit Gestaltung zu thun, jene im Typus der organischen, diese der anorganischen Gestaltung. Indem aber so diese Künste ein Ganzes bilden aber nach doppeltem Theilungsprincip, so ist verschiedne Ordnung sie zu behandeln möglich. Am besten werden wir so zu Werke gehen, daß wir anfangen von demjenigen, wovon wir sagten, daß es als schöne Kunst eine gewisse Zweideutigkeit an sich trägt, i. e. Architectur, die darin liegt zugleich, daß sie ein Grenzglied ist. Von da aus ist doppelter Weg, entweder die ihr in Art der Production verwandte zuerst sc. die Sculptur, die auch rein auf die Gestaltung

284

Theorie der einzelnen Künste

156

geht. Aber das andre Element hat auch eine andre Verwandtschaft sc. die schöne Gartenkunst steht doch in bestimmtem Verhältnis zum Ackerbau, also auch eine gewisse Zusammengehörigkeit mit der gebundnen Thätigkeit, wie [bei] Mahlerei und Sculptur nicht, also ist sie auch ein Grenzglied und erscheint oft als Verzierung an der Agricultur selbst. Alsdann aber haben wir schon den Anfang gemacht mit einer Betrachtung in der das begleitende Element der Production in Lichtverhältnissen zu berüksichtigen war, daher wir die Mahlerei anschließen und mit Sculptur schließen, wo sich das erste anreiht, daß wir [es] mit Gestaltung allein zu thun haben. 1. Die Architectur

172

Nehmen wir sie ganz oder nur einiges, was unter diesem Nahmen befaßt wird, als schöne Kunst.* Die beiden Extreme habe ich bemerkt. Es muß nun deutlich sein, daß ich es nicht für richtig halte, nur dasjenige was in Architectur Verzierung ist als schöne Kunst anzusehen; wie kämen da auch zwei verschiedne Elemente, die nicht zusammenhängend zu betrachten wären: Verzierungen, die unmittelbar solchen Flächen anhaften, die zu dem Nothwendigen des Gebäudes gehören, diese gehören einer untergeordneten Gattung der Sculptur an, dem Relief, das zur Mahlerei überleitet. Auf der andren Seite aber wenn wir die Säulen betrachten, so erscheinen sie überall als Gegenstand der schönen Kunst mit dem es jene Bewandtnis nicht hat; also wäre da eine Zweiheit ohne allen Zusammenhang, dieses sonderbare Ansehen haben alle solche Theorien der Architectur, daß nur die Säulenordnungen in schöne Kunst aufgenommen werden, da doch gerade diese Distanzen am meisten auf zufälligen Verhältnissen beruhen. Es ist ja als Gesez anerkannt, daß die Säulen nie dürfen bloße Verzierung sein, sondern sie sollen etwas tragen und Stüzen sind also wesentliche Theile des Gebäudes von seiner Zwekbeziehung, und da würde nur, welche hiervon unabhängig wäre, in schöne Kunst gehören, und so alles zerfahren und die Architectur als schöne Kunst ganz verschwinden. Sehen wir, wie sie als freie

156 | 157

Die bildenden Künste

285

Productivität und Ausdruck der Eigenthümlichkeit des großen gemeinsamen Lebens erscheint, indem jedes Volk seinen eignen Typus hat, und da in so hohem Grade [bei] Gegenständen der Architectur jenes Wohlgefallen entsteht, wie von allen andren Künsten aus, und wie es specifischer Begeisterung für diese Kunst bedarf: so müssen wir sie in viel größrem Umfang als schöne Kunst ansehen. Was ist aber ihr Umfang? Sagen wir Gebäude, so ist die Sache zweideutig. Fangen wir bei [dem] äußersten Ende an, das Zelt ist dem Wesentlichen nach ein Gebäude, und doch keine Architectur darin; andrerseits die Höhle, die sich der Eskimo in die Erde gräbt, ist Gebäude, aber keine Richtung von schöner Kunst dabei. Eine Vorrathskammer ist ein Gebäude, ob Keller oder Scheune, hängt der Impuls es hervorzubringen nicht zusammen mit dem, von dem schöne Kunst ausgeht, sondern reiner Impuls des Bedürfnisses. Da ist Verlegenheit, eine Begrenzung zu finden; doch wollen wir bestimmt abgränzen, was ist schöne Kunst an sich, was bloße Kunst an einem andern, das wir uns abschließen. Diese Thätigkeit an sich ist Sache des Bedürfnißes. Jeder producirt seine Lebensbedürfnisse, ist ihr Anfang und allein erst auf hoher Cultur, wo feste Wohnsitze anfangen, geht es in Vertheilung der Arbeiten als Geschäft einer besondren Klasse. Von da aus kommen wir auf nichts andres, als daß an diesem etwas Kunst sein kann, was nicht unsre Betrachtung sein soll, bis wir die Principien haben. Ob da etwas sei, was nicht der Sculptur angehörte, ist hier überflüssige | Frage. Wir müssen von einem andren Motiv ausgehen. Betrachten wir die ältesten Werke der Baukunst so haben sie mit irgend einem Bedürfnis gar nichts zu schaffen, z. B. Egyptische Pyramide*, wo das, was darin geschah in keinem Verhältnis ist zum Werk, und nicht Motiv sein kann; die Grabstätten und Gemächer dazu, wenn sie Motiv wären, hätten nicht so ungeheure Werke veranlaßt. Dasselbe gilt von allen großen religiösen Gebäuden, Tempel in Jerusalem und Indien, wo dasselbe Mißverhältnis ist zwischen den Werken und einem bestimmten Zwek. Um Altäre zu stellen und Bildsäulen zu plaziren kann das Gebäude selbst nicht begriffen werden. Also ein andres Motiv, ob aber eins, das nach unsrem Princip Anfang

173

286

174

Theorie der einzelnen Künste

157

einer Kunst sein kann, ist eine andre Frage. Wir suchen gleich eine Analogie mit dem, was wir schon haben. Wir fanden ein Kunstloses und Natürliches in Bewegungen des menschlichen Körpers als momentaner Ausdruck der immer auch momentanen Veränderung, aber weil es an Willen fehlt, sei es nicht in dem Sinn freie Productivität, wie hernach in der Kunst, aber wenn der Wille dazwischen tritt, entsteht Kunstübung in Analogie mit dem natürlichen. Große Werke leiten wir ab aus großem Gemeinwesen, also von Einzelnen, nur insofern sie eine große Masse dominirten. Sehen wir das Materielle dieser Thätigkeit an, so ist sie eine Umgestaltung des unorganischen Stoffs, des Starren. Alles andre ginge schon über die rein materielle Frage hinaus. Dasselbe Thun ist nun überall die Basis des menschlichen Lebens, freilich Minimum ja Null, wo in nomadischem Zustand der Mensch nur das Organische verbraucht und zum Starren sich rein passiv verhält. Sobald Agricultur anfängt i. e. bestimmtre Ordnung in einem Gemeinleben, so hat der Mensch es mit dem Starren zu thun, Bearbeitung des Bodens, und daran knüpft sich [das] Bauen fester Wohnungen und Wälle cet. Dieses gehört allerdings in die gebundne Thätigkeit aber diese ist, so wie sie Product einer Vereinigung ist, auch der Ausdruck davon; und diese bestimmte eigenthümliche Art der Zusammengehörigkeit, den Boden auf bestimmte Art zu bearbeiten, ist ein Gesamtbewußtseyn. Ursprünglich getrennte [Gesellschaften]*, die zusammengewachsen haben Bewußtseyn der Differenz und Verschiedenheit des Ackerbauens zusammen. Hier ist also ein Ausdruck durch eine bestimmte Willensthätigkeit, nicht wie in künstlerischer Mimik, ein unwillkürlicher. Dieses Darstellen ist sc. ein Accessorium, nicht Zwek, wird aber ein Bewußtseyn; so wie es dann nicht bloß mit entsteht, sondern in seiner besondren Qualität betrachtet wird, so kann gleich eine Richtung auf freie Productivität entstehen, i. e. diese umgestaltende Thätigkeit des Menschen am Starren zu einem Ausdruck des Gesamtlebens zu machen. Das ist die eigentliche Wurzel der Agricultur als schöner Kunst. So wie wir Werke abgesehen vom Gesamtleben betrachten, gehen wir aus der schönen Kunst heraus wieder in

157 | 158

Die bildenden Künste

287

das Gebieth des Gewerbes. Eine vorläufige Betrachtung erörtere dies. Das Gesagte führt auf Differenz zwischen öffentlichen und Privatgebäuden, nur die ersten können unter die Formel gebracht werden, die leztern nicht, dennoch finden wir auch in diesen immer etwas der Architectur als schöner Kunst angehöriges. Denken wie an die Art zu wohnen der alten classischen Völker, so lag darin weit weniger Aufforderung den Privatgebäuden etwas von schöner Kunst zu geben; die Wohngebäude standen vereinzelter, in der Regel dem Anblick mehr entzogen durch seine Umgebungen; vergleichen wir die gegenwärtige Art unsre Städte zu bewohnen, wo ganze Reihen von Gebäuden beständig im öffentlichen Anblick sind und alle Geschäftsführung an diese Art gebunden ist: da ist eine bestimmte Aufforderung. Das Wohngebäude hat etwas, so Façade, wodurch es zugleich ein öffentliches wird, ein Theil des Gesamtlebens. Daher in der neuern Zeit ein viel bestimmtres Bestreben, diese Außenseiten den Gesezen der Kunst zu unterwerfen. Ja denken wir, was das jezt z. B. in London für Fortschritte macht*, so waltet [in] der Façade noch der Begriff eines öffentlichen Gebäudes vor; viele Wohngebäude bilden Eine Façade vermöge der Symmetrie, aber das Innre richtet sich nach dieser Façade; nicht wenig Material Säulen cet. ist aus dieser Kunstrüksicht allein abgeleitet, und wäre gleich Null für [den] Gebrauch der Privatgebäude. Da ist also ein | entscheidender Unterschied, Gebäude zu einem bestimmten Zwek, sind nicht Kunstwerk, da alles dem Zwek angepaßt und die Kunstrichtung ihm untergeordnet wird. Da dominirt Nutzen und Bequemlichkeit unbedingt. Der Gesichtspunkt hingegen, daß solche Werke Ausdruck des Gesamtlebens sind, postulirt nun die Kunst. Ist in einem Volk Richtung durch Gestaltung des starren Stoffes die Art und Weise seines Daseins zu manifestiren, so ist dies ein Kunstprincip, kann sich also nur zeigen in Werken, die jeder bloß auf das Gesamtleben beziehen muß; daher in solchen Werken überall das Kunstprincip vorwaltet, wenngleich auf verschiednen Stufen der Kunst. [Ein] Monument wie [eine] Pyramide muß man für [ein] Kunstwerk ansehen, wenngleich bei lauter geradlinigen mathematischen Linien [als] ein unterge-

175

288

176

Theorie der einzelnen Künste

158

ordnetes. So alle öffentlichen religiösen und politischen Gebäude. Eine Vorrathskammer aber vom Keller etwas aufwärts, es ist Umschließung zur Aufbewahrung bestimmter Gegenstände, unser Museum könnte einer als hübsche Vorrathskammer ansehen*, aber es gehört dem öffentlichen Leben an. Ein Privatmann kann sehr schöne Kunstwerke haben, stellt sie im Innern seines Hauses auf, was mit öffentlichem Leben nichts zu schaffen hat, daher die Räume, wo er sie für sich aufstellt, nicht architectonisch sind, sondern durch seine Bequemlichkeit eingerichtet. Ist aber ein Gebäude mit diesem Zwek zugleich Darstellung des öffentlichen Lebens, so ist es Kunstwerk vermöge des leztern. Nun ist das eigentlich die specifische Begeisterung daß nur diese Thätigkeit des Menschen am starren Stoff, die ursprünglich nur dem Bedürfnis dient, sich in eine freie Thätigkeit verwandelt, die nichts andres sein soll, als Ausdruck des Gesamtlebens. Also müssen diese Werke Beziehung haben auf das Gesamtleben, auf eine Function desselben. Dieses ist immer nothwendig, und ein absolut zwekloses Gebäude wäre eine Überladung. Von da aus können wir die Architectur als schöne Kunst vollkommen begränzen, sowohl von dem, wo das Bedürfniß dominirt, als vom uneigentlichen Kunstgebieth trennen. Vollkommen gültig bleibt dabei, das in [der] allgemeinen Betrachtung Gesagte, sie ist dasjenige Kunstgebieth das an der Grenze liegt nach der gebundnen Thätigkeit hin und mit dieser in einem Zusammenhang; und am entferntesten von der Mimik und Musik weil diese Lebensbewegungen nicht der Receptivität angehören und als Spontaneität nur Reaction sind, sondern von bestimmten Willensbewegungen ausgehen und nur durch sie denkbar sind. Also kann es kein architectonisches Kunstwerk geben, wo Beziehung auf einen Zwek schlechthin gleich Null, es könnte nicht Ausdruck des Gesamtlebens sein, weil keine Beziehung darauf habend; da dieses nur ist in einer Mannigfaltigkeit von gemeinsamen Thätigkeiten, so muß es auf eine solche sich beziehen. Je mehr es sich eignet ein reines Kunstwerk zu sein, um desto mehr darf die Beziehung auf den Zwek ein Minimum sein. — Dabei kommt noch eine andre Betrachtung hinzu. Sollen die architectonischen

158 | 159

Die bildenden Künste

289

Kunstwerke so vom Gesamtbewußtseyn ausgehen und eine Darstellung der Thätigkeiten des Gesamtlebens sein, so müssen sie auch eine Beziehung haben auf die zu einem Gesamtleben vereinigte Masse, [es] sind immer zugleich Räume für Bewegung oder [das] Zusammensein einer Menge von menschlichen Gestalten, eine Umgestaltung des starren Stoffs für die Bewegung des Lebens. Daher wird ihre Größe bestimmt nicht durch den bestimmten Zwek an sich, sondern durch eine Beziehung auf die Gesamtmasse, deren Leben sie darstellen soll. Das ist z. B. der specifische Unterschied zwischen einem Gebäude wo Kunstwerke die dem Gesamtleben angehören zur öffentlichen Betrachtung aufgestellt sind, von Vorrathskammer und Privatsammlung. Das Gebäude muß zugleich Raum bieten, daß eine Masse sich darin entwickeln kann, die im Verhältnis zur Gesamtmasse ist. — Allein dieses an und für sich sezt uns noch lange nicht in Stand, die eigentlichen Geseze aus der specifischen Begeisterung zu entwickeln. Fügen wir aber noch eine Betrachtung hinzu, so bahnt die den Weg. Nemlich es ist kein Gesamtleben möglich ohne Ordnung und das ist eine wesentliche Bedingung, was Ausdruck des Gesamtlebens sein soll, muß zugleich diesen Begriff der Ordnung darstellen, als Bedingung des Gesamtlebens. Ebenso wenn wir denken, das Kunstwerk kann nur entstehen | durch zusammenwirkende Thätigkeit vieler, so muß die Ordnung dabei sich auch darstellen. Daraus entwickeln sich die drei Hauptgeseze der architectonischen Kunst 1.) Die Symmetrie 2.) Eurythmie 3.) Richtigkeit der Massenverhältnisse. Wie das erste und dritte mit den zwei hier entwickelten Punkten zusammenhängt, sieht man leicht, aber wie das zweite i. e. Verhältnis in Beziehung auf wohlgefallenden Anblik, ergibt sich nicht so leicht. Die zweite soll sich auf die erste beziehen. Es ist [eine] Differenz die specifische Begeisterung zu bestimmen und hingegen die Vollkommenheit der Kunstwerke. In compendiarischen Verfahren aber müssen wir beides verbinden. Symmetrie hat seine ganze Beziehung auf die Raumverhältnisse der Gestalt, daß es für jede Fläche eine Linie geben muß, von welcher aus sie zu beiden Seiten gleich ist. Diese finden wir in allen Productionen, auch den gewöhnlichsten, aus

290

177

Theorie der einzelnen Künste

159

festem Stoff, sobald eine gewisse Freiheit die Form zu bestimmen eintritt, jedes Geschirr, Geräth, Instrument hat symmetrische Gestalt sobald sie nur neben der Bestimmung möglich ist; nicht nur ebne Flächen betreffend, sondern auch krumme. Dieses findet sich in allerkleinsten, beweglichen festen Dingen, auch in den ersten architectonischen Anfängen, im Zelt. Diese Regel scheint also der Architectur als schöner Kunst nicht eigenthümlich, sondern sie findet sich auch in derjenigen die dem Bedürfnis dient, so daß die Bestimmung sich immer mit einer gewissen Symmetrie vertrage. Fordert der Eigenthümer innre Einrichtungen, bei denen der Baumeister äußre Symmetrie nicht herausbringt, so fehlt es diesem an Geschik, oder der Eigenthümer dominirt mit seinem Eigensinn. Das ist doch nur das uneigentliche Kunstgebiet, durch Zwecke bestimmt. Worauf beruht diese Symmetrie? Da ist nicht die Rede von einem Ausdruck irgend eines individuellen Lebens, sondern die architectonischen Formen mögen so differiren als sie wollen, überall ist Richtung auf Symmetrie. Also ist etwas viel allgemeinres zu suchen, das so sich stellen muß, daß das Individuelle immer darauf ruhen kann. Soll in Beziehung auf das Kunstwerk das innre Bild im Künstler das ursprüngliche und eigentliche Kunstwerk sein, so steht dies in genauster Analogie mit [der] Auffaßung gegebner Gestalten durch das Gesicht, indem es dasselbe ist, nur als freie Selbstthätigkeit heraustretend. Alle organischen und anorganischen Gestalten, die die Natur im Übergang aus starrem in flüßigen Zustand hervorbringt, zeigen diese Symmetrie.* Dieses Reale in der Natur ist im Geist ein Ideales und nur vermittelst dieser Identität sind wir fähig aufzufassen. Also ist das der allgemeine irdische Typus von Gestaltung, und wird auch das Princip von dieser Gestaltung. Daher ist es von so absoluter Einheit. Wollen wir dieses weiter verfolgen und denken also eine solche Ebene wie die eine Seite eines großen architectonischen Werks, so fordre ich Symmetrie darin, aber wie? Zuerst so, daß die Theilung nicht könnte realisirt gedacht werden, ohne etwas in dem Ganzen zu zerstören. Z. B. [die] Façade eines Privatgebäudes liefe mitten durch eine verticale Line zu, die nichts theilte als das Gemäuer, und doch wäre zu beiden Seiten alles gleich, Fenster

159 | 160

Die bildenden Künste

291

und Eingänge, so würde das unsrer allgemeinen Forderung nicht widersprechen und doch jeder es tadeln, dem es zum Bewußtseyn käme; wenn hingegen die Linie auch wirklich bestimmte Theile theilt, in Mitte von Fenster und Thüre fällt, so tadelt man [es] nicht. Worauf beruht das? Es ist die Identität, das Ineinander von Einheit und Duplicität, was sich in den organischen Gestalten überall zeigt. Im menschlichen Körper weisen die zweifach vorhandnen Theile gleich die Theilungslinen an, aber in diesen liegen nur die bloß einfach vorhandnen. So im vierfüßigen Thier ist die Theilungsfläche auch nur so, die wesentlichsten, das Leben constituirenden Theile werden mitgetheilt. Jenes Gebäude war tadelnswerth, weil es dahinter ebenso gut zwei ganz getrennte Gebäude sein kann, da der positive sinnliche Eindruck der Einheit fehlt. Die Methode ist nun die Construction der Einheit. So geht dieses allgemeine Gesez auf unser allgemeinstes Princip zurük, als allgemeinster Typus jeder Gestaltung, welcher die Natur producirt durch alle lebendigen Wesen durch, nur freilich mannigfaltig modificirt, auch in allen crystallinen | Gestalten, wo es nicht ist, sezen wir gleich voraus, der Bildungsproceß der Natur sei gehemmt worden. Das Princip der Gestaltung in [der] Natur ist [der] Typus der vom Geist aufzunehmenden Gestalten und Princip derjenigen die er hervorbringt. Dieses Gesez hängt eigentlich nirgends mit dem Bedürfnis unmittelbar zusammen, sondern es ist innre Kunstrichtung die ihm zugleich anhängt bis ins unbedeutendste. Hat ein Acker gar keine Symmetrie, so sehe ich [den] Grund in Naturhinderniß, sonst müßte es sich dem Gesez der Symmetrie fügen, wie überall, wo Gestaltung sich selbst begrenzt und nicht von außen begränzt wird. Das Gesez ist also auch in der Agricultur, insofern das Ganze übersehen werden kann. — Diese erste Forderung ist gemeinschaftlich für das eigentliche Kunstgebieth der Architectur und für das uneigentliche, und wir sezen voraus, es müsse in jedem das Bewußtseyn daß er für sich etwas diesem Gesez zuwider gestaltet habe, ein störendes sein und Tendenz überall sein eine Gestaltung mit Zwek und Symmetrie in Übereinstimmung zu bringen. Wir gehen gleich zum dritten[,] Angemeßenheit der Massenverhältnisse. Das ist

292

178

179

Theorie der einzelnen Künste

160

etwas vom Vorigen durchaus unabhängiges, da Masse der Gestaltung entgegengesezt wird. Wenn wir an [einem] architectonischen Werk alles abrechnen, was Gestaltung ist, so bleibt übrig, was wir Masse nennen, Stoff in Beziehung auf seine Größe und sein Gewicht, wiewohl das leztre steht nur als Ausdruck für das Starre, Compacte. Die Angemeßenheit der Massenverhältnisse kann nur liegen in [der] Beziehung auf das öffentliche Leben dessen Ausdruck das Gebäude sein soll. Ein Gebäude von bedeutender Größe, das bedekt sein soll, erfordert bestimmte Anstalten, um als solches zu bestehen. Kirche von gothischer Form von sehr großer Breite, wird mehr Reihen von Gewölben neben einander erfordern, und unmöglich sein es in Einem auszuführen; denke ich aber, es sollte eine Capelle für kleine Gesellschaften in derselben Form gebaut werden, und ungeachtet der Kleinheit wollte man ihr so viel Schiffe neben einander geben, wie etwa dem Antwerpener Dom*, so wäre das lächerlich, weil da der Grund der Strucktur nicht in den Massenverhältnissen, nicht in der Größe läge, also beides nicht angemessen. Ebenso wäre es, wenn um diese Strucktur nachbilden zu können, eine kleine Gesellschaft für sich ein ebenso großes Gebäude aufführen wollte; da wäre Unangemeßenheit des Gebäudes zum Gesamtleben. Aus diesen beiden Momenten besteht die Angemessenheit der Massenverhältnisse. Denke ich noch ein Beispiel[,] ein öffentliches Gebäude, worin sich eine große Masse von Menschen entwikeln soll, so müssen da Theile sein, die eigentlich nur Zugänge und Ausgänge sind, und ein innrer Raum für das Zusammensein; beydes muß in einem gewissen Verhältnis sein, ist [der] eigentliche Versammlungsraum klein, und die Zu- und Ausgänge einer weit größren Menge angemessen, so ist [das eine] Unangemessenheit der Massenverhältnisse in sich. Die Ein- und Ausgänge drüken [die] Idee aus, daß sich da eine Menge Menschen entwikeln kann, dem widerstreitet dann der innre Theil. Man wollte es bei unsrem Theater* finden und man könnte [die] Inschrift machen: Hier ist auch [ein] Theater, weil Zugänge gränzenlos, Theater selbst klein. Das hat seinen besondren Grund, dem der Künstler etwa unterworfen, und vom Unternehmen herrührend; auch sind ne-

160 | 161

Die bildenden Künste

293

ben dem Theater noch andre Versammlungssaäle, also immer solche Mißverhältnisse. Da stehen wir auf dem entgegengesezten Punkte; denn das geht hervor aus [der] Beziehung auf das öffentliche Leben und [die ist] auschließliches Kunstprincip; denn dieses Gesez hat in Privatgebäuden, die dem Zwek dienen gar keinen Werth, weil jeder nicht mehr Mittel aufwendet, als sein Zwek erfordert. Wollte ein Privatmann sich Wohnung errichten über seinen bürgerlichen Zustand, so wäre da Lächerlichkeit, aber nicht architectonische sondern moralische; im öffentlichen Gebäude hingegen ist dieses eines der ersten Punkte. So ist dieses das specielle Princip für eigentlich schöne Architectur, wie hingegen Symmetrie das allgemeine für das eigentliche und uneigentliche. Diese beiden Geseze verhalten sich also so, wie die beiden Gebiete, und sie erklären diese, und umgekehrt. — Desto schwieriger ist es nun mit | 2.) der Eurhythmie, die uns auf das mimische Gebiet weist, wo etwas analoges. Eine Reihe von Bewegungen die in verschiedne Glieder getheilt ist; da sollen diese in einem gewissen Verhältnis zu einander stehen. Geht Theilung so weit, daß das einzelne Glied zu klein wird, um als Einheit gefaßt zu werden, so ist es Mißverhältnis; ist hingegen das Ganze groß und lang der Zeit nach, hat aber keine Theilung, so ist man auch verlezt, es fehlt die Richtigkeit im Verhältnis der Theile zum Ganzen, was etwas andres ist als das der Theile unter sich. Dieses leztre ist wieder Gleichheit oder Ungleichheit. Ein Ganzes von mannigfaltigen Bewegungen, wenn alle unter sich völlig gleich sind, aber in großer Anzahl macht auch unangenehmen Eindruck, weil die Ungleichheit wo eine gewisse Regel darin ist, wieder die Stelle einer Theilung vertritt, und das Ganze leichter übersehen wird. Beides wäre die Eurhythmie in Orchestik. Da nun diese die Musik zur Begleitung hat, und diese ihre Gliederungen theilen muß, so tragen wir dasselbe auf die Musik überhaupt über als Verhältnis zwischen Hauptsaz, Thema und Variationen. Hier ist es nun auf Raumgestaltungen anzuwenden, wie dort in Zeitverhältnissen. Sie ist aber in beiden dasselbe, und es liegt eine Regel zu Grunde für die sinnliche Anschauung in ihren beiden wesentlichen Formen, Raum und Zeit. Eurythmie sind die Linearverhältnisse

294

Theorie der einzelnen Künste

161

in einem Gebäude, insofern sie den Eindruck des Wohlgefallens machen. Es liegen da Zahlenverhältnisse zum Grunde. Da [sich] hier Alles auf quantitative Verhältnisse zurükführen läßt, so ist darin eine sehr entscheidende Ähnlichkeit mit dem, was über die Harmonie gilt, wo es auch ein Zugleichsein von Tönen ist. In diesen Zahlenverhältnissen kann man innren Indicator sehen, aber nicht einen Erklärungsgrund; so daß es auf der Deutlichkeit beruht, mit welcher die Seele die Zählung durchmacht. Hier ist es ganz dasselbe. Man wird selten ein Gebäude finden, dessen Grundfläche ein reines Quadrat wäre, außer wenn es einen Hof einschließt, wo dann jede Seite zu einem Oblongum gehört, da das Ganze nicht Eine Masse ist. So wie man keine Gleichheit der differenten Linien bildet, so will man auch nicht gewisse Arten der Ungleichheit. Dieses beides ist auf das arithmetische zurückgeführt, etwas Entgegengeseztes, und doch ist beides nicht wohlgefällig; dieses unmittelbare Einleuchten der Gleichheit oder Ungleichheit ist also nicht der Grund. Dasselbe erstrekt sich über alle architectonischen Linien, ja auch auf die, die nicht in der Oberfläche etwas sind: Vernachläßigung dieses Verhältnisses der Dimensionen ist ungebildeter Zustand. Ward Symmetrie zurückgeführt auf ein sowohl reales als ideales Verhältnis, so wird das hier nicht möglich sein; die Sache ist noch so unergründet wie in Musik. Man kann leicht sagen: Das wird wohlgefallen, das nicht, aber den Grund davon kann man nicht angeben. In Musik ist viel verändert; jezt erlaubt man sich Verhältnisse die früher nicht [erlaubt waren]. Hätte die Architectur eben solche Masse von Productionen so würde sich vielleicht das Auge auch in Verhältnisse einüben, die es früher nicht auffaßte. Gegen solche Veränderung hat die Architectur freilich größre widerstrebende Kraft, weil diese Werke etwas Bleibendes sind, und [zur] Zerstörung fast so viel Kraftaufwand gehört als zum Aufrichten. Daher nicht diese Kühnheit zu Veränderungen wie in Musik deren Werke vorübergehend sind. Das Verhältnis dieser drei Punkte in Architectur betreffend ist die Symmetrie gleichsam die conditio sine qua non, ohne welche keine Beziehung der Gestalten auf freie Productivität ist, sondern

161 | 162

Die bildenden Künste

295

nur auf einen bestimmten Zwek und Bedürfniß. Wie sehr das zusammenhängt mit der Differenz zwischen Gebäuden für Privatund für das öffentliche Leben, sieht man besonders im Alterthum und Mittelalter. Im Alterthum hatten Wohnhäuser wenig von Kunst als einzelne Theile bloß, also Kunst an einem Andern. | Im Mittelalter dasselbe; während die Kirchen im gothischen Styl gebaut wurden, waren die Burgen im Ganzen dem Zwek dienend gebaut; in schönen Verzierungen zeigt sich Kunst; aber im Grundriß nicht einmahl die Symmetrie. So die Wohnhäuser in den Städten. Wiewohl da zusammenhängende Straßen, dem öffentlichen Anblick frei, so dominirte doch Zwek; hingegen öffentliche Gebäude Rathhäuser cet. Kunstwerke sein wollten. — Die Massenverhältnisse bestimmen zunächst den Charakter eines Gebäudes. Zwei Extreme muß man am meisten im Auge haben. Das Princip der Festigkeit, das in den Massenverhältnissen ausgedrückt ist; und im Gegensaz das Princip der Schlankheit. Jenes macht den Eindruck, daß das Gebäude einen großen Widerstand leiste, was eine bestimmtre Beziehung ist auf Zwek und Bedürfniß: So rühmte man unser Gußhaus, und ein Gebäude das so viele Erschütterungen aushalten soll, muß diesen Eindruck machen und hat den Grund im Zwek, der auf das öffentliche Leben Bezug hat. Da solche Unternehmungen allmählich privat wurden, so traten sie aus dem öffentlichen Charakter. Das Princip der Schlankheit hat entgegengesezte Neigung sc. zum Epideictischen, zu zeigen, wieviel man in dieser Hinsicht wagen kann. Wenn eine solche Masse im Verhältnis zu [den] übrigen Dimensionen überwiegend in Höhe geht, erscheint es kühn, weil es größren Widerstand zu leisten hat und die Mittel dazu nicht im Eindruck liegen. Geht es in das Epideictische über, so ist es eine Ausartung. Beides bildet bestimmten Gegensaz. Parenthetisch schiebe ich hier ein, was selbstständig in das Technische fiele[,] das Capitel von den Säulenordnungen, was man oft als Schlüssel und Wesen der Architectur ansah*, so ist Gegensaz zwischen dem Dorischen und Ionischen die Hauptsache, was auf Massenverhältnissen beruht, denn Verhältnisse der Höhe zum Durchmesser, ist nicht Eurhythmie, aus Linien

180

296

181

182

183

Theorie der einzelnen Künste

162 | 163

der Oberfläche bestehend, sondern zeigt die Massenverhältnisse. Alle andren Säulen sind nur Abwandlungen dieser beiden, das Toskanische ist Abwandlung des Dorischen in stärkrem Gegensaz zum Ionischen, und das Corinthische umgekehrt. [Das] Dorische repräsentirt Festigkeit, weil Charakter der Höhe geringer gegen Durchmesser, das Ionische hingegen bezeichnet das Princip der Schlankheit. Dasselbe ist der Hauptgegensaz bei den Alten in der Musik, und auch dorische und ionische Musik so entgegengesezt;* so ist wieder eine unmittelbare Ähnlichkeit zwischen Architectur und Musik so daß das Witzwort paßt, Architectur sei gefrorne Musik*, wobei man an den Gegensaz des Stoffes denkt, Musik im Bewegten und Flüßigen in der Luft, Architectur im Starren, in gemeinschaftlicher Beziehung auf Zahlenverhältnisse. Dieses Entstehen beider Künste ist unleugbar, und eins wird in den weitern Forschungen das andre gegenseitig erläutern. Stellen wir beides so[,] Symmetrie und Massenverhältnisse, jene als dasjenige, was in jeder Gestaltbildung aus dem Starren ist, und die Beziehung zugleich der Architectur auf bestimmte Zweke ausdrückt, zugleich die conditio sine qua non aller Ansprüche auf Kunst; andrerseits Massenverhältnisse dasjenige was rein bestimmt wird durch Beziehung der Kunstwerke auf das öffentliche Leben und zugleich als das Charakteristische, so ist das Erläuterung der Art, wie wir die Architectur in die Kunst überhaupt stellen. Die Eurhythmie ist das, wovon die Eigenthümlichkeit der Construction ausgeht. An Symmetrie ist jedes Gebäude gebunden, Massenverhältnisse geben sich aus Beziehung des Gebäudes als eines Einzelnen auf das öffentliche Leben, aber alle freie Ausführung ist an Eurhythmie gewiesen, wie Freiheit des Tonsezers an die Verhältnisse von Harmonie und Melodie. An den architectonischen Kunstwerken gibt es noch etwas, was gleichsam außerhalb der Construction des Ganzen liegt, die Verzierungen.* Wollen wir diese aber zurükführen auf eins der drei Hauptpunkte, so müssen sie sich bestimmen nach den Massenverhältnissen | in Beziehung auf ihre Quantität; in Beziehung auf ihre Qualität sind sie an die Verhältnisse der Eurhythmie gebunden. Dorisches Gebäude kann man nicht [überladen,] wenn

163

Die bildenden Künste

297

auch mit den schönsten Verzierungen versehen, sondern zu diesem Charakter gehört Sparsamkeit der Verzierung; ein Ionisches Gebäude das Schlankheit ausdrückt erscheint hingegen dürftig, wenn Verzierungen sparsam. Jenes erste will Concentration auf das Wesentliche; dieses hingegen verlangt die Mannigfaltigkeit und es gehört mit zu dem Charakter, daß auch das Einzelne will für sich sein, und dieses Fürsichseinwollen des Einzelnen ist aber die Verzierung, die im Princip des Ganzen nicht ihren Grund hat. Wenn wir diese zwei Glieder, auf den Massenverhältnissen beruhend, als Hauptcharakter der Gebäude ansehen, was dominirt bei denen, die die Gebäude auf den Charakter der Säulen zurükführen, so scheint unser Unterschied zwischen religiösem und geselligem Styl * völlig dasselbe; allein da kommen wir in Widerspruch mit dem Wirklichen. Es sind eine Menge religiöser Gebäude, die nichts in sich tragen was den Eindruck stört, in denen dennoch die Schlankheit dominirt; so in der Gothischen Baukunst überwiegend. Ja die Schlankheit tritt in religiösen Gebäuden noch mehr hervor als in andern öffentlichen weil sie mehr freie Räume darstellen. Also ist uns dieses nur ein untergeordneter Gegensaz[,] nicht der höchste. Dasselbe ist, man kann nie das Politische und Religiöse in Gegensaz stellen, sondern nur das Religiöse und das Gesellige, insofern das leztre, wenn auch große Massen darstellend, doch als Aggregat von Einzelnen erscheint, während das Politische dem Religiösen hier gleich steht. Also haben wir einen höhren Gegensaz zu suchen, der zugleich die Ordnung mit veranlaßt, in der ich die bildenden Künste behandle. Wenn wir Alles Bisherige dem gebundnen und höhren Styl zuschreiben müssen, i. e. alle architectonischen Kunstwerke, die eigentlich vom öffentlichen Leben ausgehen, so entsteht noch ein ganz andres Gebieth, sc. Architectonische Kunstwerke die auch Richtung auf das öffentliche Leben haben, aber nicht von demselben ausgehen, so daß ihre Bestimmung den Charakter hat, daß indem sie für Viele sind, sie nur Aggregat von Einzelnen sind. In einem religiösen Gebäude ist die Menschenmasse die Gemeine, in einem politischen Versammlungshaus ist immer der Staat; denken wir aber architectonische Kunstwerke als unabhängig von einem

184

298

185

Theorie der einzelnen Künste

163 | 164

bestimmten Zwek und Bedürfnis, also ebenfalls [als] rein freie Production und als Kunstwerk für die Öffentlichkeit ausgestellt aber im rein geselligen Sinn, so ist das erst das andre Glied des Gegensazes, was aber immer auf den Übergang führt von Architectur zur schönen Gartenkunst, denn diese verschmelzen sich mehr oder weniger, wo von Bestimmung für das Gesellige die Rede ist. Dem alten Staatsmann war die Villa ein Kunstwerk, das städtische Wohnhaus nicht; dieses in die schöne Natur gestellt, eignete sich diese an, und diese das Gebäude, so daß beides wesentlich zusammen ist, und die eigentliche Richtung ist auf die Geselligkeit. Das Kunstwerk will nicht für den Besize aller sein; aber es bezieht sich nicht auf das gebundne öffentliche Leben, weder religiös noch politisch, sondern [auf] freie Geselligkeit, und das ist eigentlich der feine Styl, der leichte Styl in [der] Architectur, wo das Princip der Schlankheit mehr dominiren wird, aber nicht ausschließlich herrschen, so wenig als das Umgekehrte im öffentlichen gebundnen Styl dominirt; aber die Dorischen Gebäude haben doch andren Charakter, wenn sie dem geselligen als wenn dem gebundnen öffentlichen Styl angehörend. Das bildet den höchsten Gegensaz, aber soll Kunst als Kunst verstanden werden, so muß man sich jezt noch an jenen höhren, strengen Styl halten, weil im andern die Freiheit so groß ist, daß die Mannigfaltigkeit unübersehbar ist, und bei der Schwierigkeit dieser Kunst heißt das die Aufgabe verkehrt anfassen. | Gehen wir in das Alterthum in dieser Beziehung, so finden wir bei den Römern den Gegensaz zwischen Wohnungen in der Stadt und ihren Landsizen. Jene haben eine Außenseite, die sich nicht auf das öffentliche Leben bezog, weil ihre Städte so waren, daß die Gebäude einzeln nicht vor das Auge traten, aber Landsize waren Gegenstand der Kunst und Ort für Privatleben und Geselligkeit. Hier sind mannigfaltige Formen je mehr sich die schöne Gartenkunst entwickelte. Die freie Geselligkeit ist vom öffentlichen Leben nicht getrennt. Auch in der neuren Zeit, seit Cultur des Bodens die schöne Gartenkunst möglich macht,* finden wir ihre Werke freie Geselligkeit gestaltend, und verbunden mit Gebäuden, die so mit dem öffentlichen Leben nichts zu thun haben, und nicht eigentlich aus

164

Die bildenden Künste

299

dem strengen Princip abzuleiten sind. Die freie Geselligkeit der gebildeten Klassen ist aber der Ort, wo das öffentliche Leben vorbereitet wird, und von wo es sich wieder in das häusliche Leben ableitet. Alle bedeutenden Veränderungen im öffentlichen Leben ändern immer auch Ton und Charakter der freien Geselligkeit, so daß in dieser der Typus eines öffentlichen Lebens sich wieder findet und vermittelst dessen das Princip. Ob in einer bürgerlichen Gesellschaft Sclaverei besteht, oder nicht, gibt allen Geschäften der Herrschaft über die Natur einen ganz andren Charakter, und so auch der Art zu wohnen und ihre Umgebungen einzurichten der Vornehmen. Dasselbe gilt von der Art, wie sich die Stände in der Gesellschaft theilen und im Verhältnis zu einander sind. Das ist ebenfalls auch für die Architectur in Anwendung zu bringen. So wie die schöne Gartenkunst als nicht gebundne Thätigkeit Gebäude an sich hat, so müssen diese den Charakter von Kunstwerken tragen und werden immer den Typus des öffentlichen Lebens an sich haben und des Besizers Verhältnis zu demselben repräsentiren. Da nun aber die Beziehung auf bestimmte öffentliche Functionen wegfällt, so tritt mehr Freiheit ein, und so gehören alle Ziergebäude in öffentlichen Anlagen rein dem ungebundnen Styl. Oft erscheinen sie nur als Nachbildungen von bestimmten öffentlichen Gebäuden, die ihre bestimmte Bestimmung im öffentlichen Leben haben, z. B. antike Tempel, gothische religiöse Gebäude im Kleinen. Das ist aber nicht im Wesen der Sache gegründet, also kann man es nicht aus [dem] Gesichtspunkt der schönen Kunst tadeln, wenn solche Imitationen so zusammen sind. Manche Kritiker wollen, daß alle Gebäude in einer Gartenanlage entweder antik oder gothisch seien, wozu kein Grund ist, denn da etwas nicht mehr existirendes i. e. historisches nachgeahmt ist, so kann man so gut zusammenstellen als isoliren. Etwas andres wäre die Forderung der Übereinstimmung zwischen den verschiednen Stylen der Architectur und schöner Gartenkunst aber dieses ist nicht durchzuführen. — So würden wir die ganze Architectur ebenso gut hieraus construiren können, wie wir sie aus dem andern ableiteten und erst jezt auf dieses kommen sc. Es gibt keinen Anbau im starren Stoff als in Verbindung mit dem

300

Theorie der einzelnen Künste

164 | 165

Ackerbau. Denkbar wäre, wenn eine oder mehrere nomadische Gesellschaften innerhalb eines Bezirks ihren Aufenthalt wechseln, so könnten sie feste Punkte haben für ihr politisches und religiöses Leben; aber da der Gegensaz zwischen öffentlichem Leben im freien und im geschloßnen für [das] öffentliche nicht gewollt ist, so findet man es nicht. Eine allgemeine Basis ist also dasjenige was sich zur schönen Gartenkunst so verhält, wie die Architectur zu den Wohnungen; also [ist] Ackerbau Basis; er nöthigt zu festen Wohnungen, weil die kurze Circulation des Ernährungsprocesses aufhört, die im nomadischen Zustand war, wo die tägliche Ernährung täglich gewonnen wird. Daher ergeben sich Vorrathsgebäude und Wohngebäude. Daran knüpft sich dann die Architectur, wie an Feldbau die schöne Gartenkunst. Da scheint also die schöne Gartenkunst die erste [Kunst] von dieser Basis aus. Allein denken wir diese vor den Gebäuden, die sich auf das öffentliche Leben beziehen, so sind diese Gebäude nicht mehr im Stande solche nachzuahmen, sondern da schließen sie sich mehr an die Wohngebäude an, und es wird das erste, was vorher das lezte war. Ist Ackerbau nicht mehr gebundne Thätigkeit, sondern frei, so ist sie schöne Kunst aber für sich. Denken wir ein System des Ackerbaus in mannigfaltiger Natur aber gleichsam als Oase, rund herum nichts von menschlicher Thätigkeit, so bildet sie gegen die Wüste einen ähnlichen Ge | gensaz wie die schöne Gartenkunst zum gebundnen Ackerbau. Je höher die Cultur des Bodens steigt, desto mehr gewinnt eine ganze Gegend das Ansehen des Gartens i. e. der freien Anordnung. Dann lassen sich die einzelnen Wohngebäude als architectonische Masse ansehen, die in dieser Natur hineingestellt sind. Gewinnt das politische Leben [an] Umfang, und erfordert seine großen Gebäude, so ist dieses der Gipfel von jenem Princip aus. So ist bei dieser Behandlung das lezte, was oben das erste; überall das Streben aus der gebundnen Thätigkeit in die freie Construction, wo sich dieses gelöst hat und in ganz unabhängigen Werken erscheint, da ist Vollendung. Bei einem Volke ohne schöne Architectur fragen wir vergeblich nach einem hohen Grad von geistiger Bildung und Freiheit.

165

Die bildenden Künste

301

Dieses führt auf unsren ersten Punkt zurük, sc. die ältesten Werke der Architectur sind unstrittig Productionen des Despotism; die egyptische und orientalische, aber was ist auch ihr Character? Das überwiegende der Massenverhältnisse, i. e. dasjenige was am meisten mechanisch ist, die menschliche Thätigkeit will sich darstellen als den Widerstand der Masse überwältigend, indem sie in ungeheurem Maaßstabe, colossal arbeitet, und in dem Colossalen ist aber das untergeordnete Bestreben, nur die mechanische Gewalt zur Anschauung zu bringen. Da tritt häufig die Symmetrie zurük und die Eurhythmie ist eigentlich auch ganz vergraben, weiß sich wenigstens noch gar nicht zu irgend einer Mannigfaltigkeit zu gestalten. Dieses hängt damit zusammen, daß die große Masse der Menschen in dieser Thätigkeit aufgeht und das öffentliche Leben überhaupt so ist, daß von einzelnen Punkten aus der Impuls zu solcher Arbeit in die Masse ausgeht. So spiegelt sich der Charakter des öffentlichen Lebens im Typus der Gebäude. Wenn man was mehr dem religiösen angehört unter denselben Verhältnissen betrachtet, so sind da wunderbare Mißgestalten, abentheuerliche Idole wie in Asien und America, gewöhnlich in colossalem Maaßstab*. Das zeigt untergeordnete Stuffe des religiösen, daß es die Richtung auf das Ewige nur manifestirt in Form des Gegensazes gegen die Wirklichen, dem Endlichen angehörenden Formen. Das ist das Princip dieser Mythologie und auch dieser Werke, die sonderbares Mittelding sind zwischen Sculptur und Architectur, sc. weil Gestalten darstellend, [als] Sculptur[,] aber sie sind nur auf die Weise der Architectur zu construiren gewesen. Diese untergeordnete Entwicklung und der schroffe Gegensaz zwischen Einzelnen, von denen allein der Impuls ausgeht und einer ganz in mechanischer Thätigkeit versunknen Masse. — Versezen wir uns in das classische Alterthum, wo die Formen des öffentlichen Lebens freilich öfter wechselten, aber der Charakter aller Formen überwiegend derjenige der Gleichheit war, und Verhältnisse zwischen Freien und Sclaven so war, daß nur jene den Staat bilden, diese außerhalb desselben sind, während [dies] im orientalischen Despotism ganz anders war[:] immer despotisch, wenn auch eine Dynastie die andre stürzte; da

186

302

187

Theorie der einzelnen Künste

165 | 166

bekamen die Gebäude des öffentlichen Lebens mehr den Charakter einer größren Entwicklung von sich frei bewegenden Massen. Dieser Typus tritt hervor in öffentlichen religiösen Gebäuden, wo Gegensaz ist zwischen dem eigentlichen ναος* und dem zur freien Entwicklung der Massen bestimmten Gebäude nach dem Gegensaz von Priester und Laie. — Sehen wir uns historisch auf den Gegensaz zwischen antiker und gothischer Baukunst getrieben, so kann ich mich hier nicht ins Geschichtliche dieser leztern einlassen, aber von hier aus schon erscheint er als untergeordnet. In den großen Gebäuden trägt dieser [Stil] den Typus abgestuffter Unterordnungen, wie das im öffentlichen Leben der Germanen war. Dabei tritt auf eine andre Weise als im antiken Styl, aber beide mit dem orientalischen verglichen, in beiden die Eurhythmie in demselben Grade hervor, nur daß die gothische Baukunst hierin zu solcher Mannigfaltigkeit im Vergleich mit der antiken entwickelt ist, wie die moderne Musik zur antiken, und das gilt nicht bloß von dem was Verzierung ist, sondern in den eigentlich architectonischen Gliedern, [in] den Verhältnissen gegen einander aber die Eurhythmie ist. Dabei ist nicht zu leugnen, daß in gothischer Baukunst die Richtung auf das Schlanke überwiegt und die Ähnlichkeit mit der Richtung der Crystallisation; im Gegensaz damit in der Verzierung Neigung zu vegetabilen Formen, nicht an gewissen bestimmten Stellen gerade wie in antiker Architectur, sondern durchgehend. | Die Mannigfaltigkeit im freien Styl betrachtend, wie er immer verbunden ist mit dem Charakter der freien Geselligkeit und schöner Gartenkunst, kann hier eigentlich viel weniger ein bestimmter Typus herrschen; schon da die architectonischen Werke hier gerne Nachahmung sind, zeigt sich, daß die geschichtliche Richtung sich geltend machen will, und die ganze Vergangenheit im Gebiet der freien Geselligkeit zusammen sein kann; und nie die Mannigfaltigkeit, sondern nur die Überladung tadelhaft ist; wenn Gebäude sich häufen und durch zu große Nähe mit einander streiten, i. e. so daß man immer mehr die Differenz zwischen ihnen als sie selbst auffaßt. Das Centrum ist die eigentliche Villa und soll zu den vegetativen Gruppen in ebenmäßigem Verhältnis sein, i. e. Massenverhältnisse und Eu-

166

Die bildenden Künste

303

rhythmie zusammenwirken. In wiefern da Symmetrie sein soll oder nicht bildet den Hauptgegensaz im Geschmack, was sich aber mehr auf die schöne Gartenkunst bezieht. So sehr wir alles Technische übergehen, kommen wir doch überall auf einen Punkt, wo der Künstler und Besteller in Verkehr sind. Dieser besteht in zwei Stüken, sc. das Werk muß eine gewisse Verständlichkeit haben und einen Eindruck des reinen Wohlgefallens machen. Bei Mimik und Musik suchten wir diese Frage zu beantworten, ward aber nicht so herausgehoben, weil sie dort geringre Schwierigkeit hat, weil das Künstlerische dort mit dem Kunstlosen zusammenhängt für die Verständlichkeit besonders in Mimik, und in Musik auch, da die einfache Musik auch an sich verständlich ist als Darstellung eines innren Zustands; freilich [ein] größres Stück von Instrumentalmusik ist weit schwerer zu verstehen, weil der Sinn sich schon mehr entwickelt hat; hingegen alles Positive legten wir als zum Technischen gehörig bei Seite. Die Architectur nun schließt sich nicht an an ein schlechthin allgemeines. Die gebundne Thätigkeit in Gestaltung des starren Stoffs zu verschiednen Zweken ist freilich allgemein, bezieht sich aber ausschließlich auf diesen Zwek, und da ist alles verständlich. Diese Thätigkeiten sind in verschiedensten Völkern und Zeiten dieselben. Ein Gefäß zeigt durch seine Gestalt seine Bestimmung. Dasselbe gilt von den Gebäuden, die den unmittelbaren Lebenszweken dienen. Aber im eigentlichen Kunstgebiet beruht Verständlichkeit einerseits auf dem, wodurch es noch an gebundner Thätigkeit hängt, i. e. an derjenigen Function des öffentlichen Lebens, auf die es sich bezieht. Die eigentliche Kunstgestalt wird aber dadurch nicht verständlich. Wir sahen daß die Architectur, als das Starre sich aneignend, es nur zu thun hat mit den Anorganischen Formen, und organische nur als Verzierung; und daß der Geist seine Formen darstellen will, die die Natur real gibt. Diese zwei Principien sind von einander unabhängig. Wir fragen nach der Bestimmung des Gebäudes, was die der gebundnen Thätigkeit zugewendete Seite ist. Je mehr sich diese Bestimmung gleich kund gibt aus dem Gebäude, desto richtiger ist es hierin construirt. Da der Künstler aber seine Zeitgenos-

304

188

189

Theorie der einzelnen Künste

166 | 167

sen voraussezt, so muß man dieses Gesamtleben erst kennen, um die Bestimmung des Gebäudes zu finden. Da bedient sich die Kunst einer Hülfe, sc. die Künstler sezen oft Überschriften außen an die Gebäude, die gleich die Bestimmung kund geben, oder Verzierungen, die dieses thun z. B. Themis mit der Waage zeigt Gerichtsgebäude [an], kriegerische Verzierungen ein Zeughaus.* Vergleichen wir diese zwei Mittel, so ist eine Differenz; sc. steht einmahl fest, daß die Werke der Architectur solcher Verzierungen fähig sind, so sind sie mit in den Gedanken des Werks gezogen und da gehen sie aus der Kunst selbst hervor. Eine Inschrift aber ist ganz Fremdes, wenn sie daher nicht noch einen andern Zwek hat, so ist sie unrichtig, da das Kunstwerk aus Mitteln innerhalb der Kunst selbst klar sein sollte. Die Inschriften haben aber oft einen andren Zwek sc. bestimmte historische Data anzugeben. Ein Mausoleum erkenne ich gleich als Grabstätte aus dem Ort und [der] Strucktur. Da ist eine Inschrift überflüssig um die Bestimmung anzugeben, sondern diese gibt die historische Notiz, was außerhalb des Kunstwerks ist; der Künstler kann Erlaubnis dazu geben, sagt aber sich davon los. Soll die Inschrift aber die Bestimmung eines Werks kund thun, so ist sie nicht ein so gutes Hülfsmittel als ein Emblem. Unser Museum* zeigt nicht bestimmt den Zwek. Würde die Innschrift nur das geben, so wäre es unvollkommen, sie | enthält aber das historische Datum, wozu von selbst gehört, daß die Bestimmung mit gegeben ist. Kann man verlangen, daß an der Außenseite des Gebäudes seine Bestimmung erkannt werde? Versezen wir uns in die Lage des Künstlers, der für seine Zeitgenossen arbeitet; da weiß jeder schon was es sein soll. Kommt aber ein Fremder hin, so hat der Künstler für diesen nicht gearbeitet, sondern der Cicerone soll ihn in die Stellung eines Einheimischen bringen. Denken wir sehr verschiedne öffentliche Functionen so wird freilich im Äußern des Gebäudes gesehen, zu welcher es gehöre. Kirche und politisches Gebäude wird man immer unterscheiden, hingegen Gerichtshaus und Rathhaus zu unterscheiden, sieht man keinen Grund. Das ist nur die eine Frage, die Verständlichkeit des Gebäudes in Beziehung auf seinen Zwek. Wir wollen aber unter der großen Mannigfal-

167

Die bildenden Künste

305

tigkeit wissen: Wie ist der Künstler gerade auf diese bestimmte Construction gekommen, wovon ausgegangen? Das hängt mit einer andren Frage zusammen, d. h. aus diesen beiden entsteht eine dritte. Wenn das Gebäude einen Eindruck des Wohlgefallens auf mich macht, worauf beruht er? Das ist eine ursprüngliche Frage wie die auch, wie die Construction im Künstler entsteht. Können wir die lezte Frage anders beantworten als: Der Künstler hat einen bestimmten Eindruck hervorbringen wollen, und kann man die erste anders beantworten als: Weil der Gegenstand eine bestimmte Verständlichkeit hervorbringt? So wären die Fragen nur zusammen zu beantworten im Kreise herum, i. e. eins ist durch das andre bedingt[,] Verständlichkeit des Gebäudes in seiner Individualität und Wohlgefallen, jenes ist nur so viel als dieses der Fall ist und umgekehrt. — Wir müssen die Hauptpunkte uns wieder vorhalten. Was trägt zur Verständlichkeit bei? Symmetrie, Eurhythmie und Massenverhältnisse. Worauf beruht die Differenz des größren oder geringren Wohlgefallens, wobei das leztre in der Verlgeichung ein Mißfallen ist? Lassen sich diese Fragen unabhängig von einander beantworten, dann auch das Ganze, sonst nicht. In dieser Beziehung die einzelnen Punkte betreffend, ist die Symmetrie das schlechthin gemeinsame aller Gestaltung aus dem starren Stoff, also ein wesentlicher Typus. Von einer gewissen Seite schließt dieser das Geheimniß der Geometrie in sich, die immer auf dieses zurükgeht; die einfachsten Demonstrationen sind immer nichts andres als Anwendungen des SymmetrieGesezes, auf Bewegung einer senkrechten Linie auf horizontaler beruht die ganze Lehre vom Dreieck. So Alles was auf Ordinate und Abscisse geht beim Construiren ist Anwendung der Symmetrie. Ein Gebäude, dem die Symmetrie fehlt, schließen wir aus der Kunstbetrachtung aus. Die Künstler machen freilich mannigfaltige Ausflüchte, um auch solches in das Kunstgebiet zu ziehen, indem sie sagen, wenn das Symmetrische nicht auf der Oberfläche ist, so kann man es nicht bemerken, und doch sey es Kunst. Da die Symmetrie so allgemein ist, so kann sie nicht für sich die Besonderheit des Gebäudes mit bestimmen, ausgenommen, daß sie mit der gewöhnlichen Schärfe des Sinns

306

190

Theorie der einzelnen Künste

167 | 168

will aufgefaßt werden, i. e. die symmetrische Eintheilung müsse in gewissem Verhältnis zur Größe des Gebäudes stehen. Hätte unser Schloß* nur in der Mitte einen gewöhnlichen Eingang und weiter keine Abtheilungen zu beiden Seiten, so ist Symmetrie nicht verständlich, weil sie nicht übersehbar ist, sondern da müssen auch andre symmetrische Abtheilungen, z. B. noch andre Eingänge helfen. Eine Regel für die Verständlichkeit ist also, daß der Ausdruck der Symmetrie muß den Dimensionen angemessen sein für ein gewöhnliches Auge. Da ist der Durchschnitt der Zeitgenossen für die gearbeitet wird, der Maaßstab. Ist diese Verständlichkeit zugleich die Bedingung des Wohlgefallens oder ist dieses ein andres? Mangelt die Symmetrie, so ist ein Mißfallen da für ein Kunstwerk, verstehe ich die Symmetrie nicht, so ist sie mir so gut als nicht da und ich kann das Wohlgefallen nicht haben. Die Verständlichkeit ist also hier Bedingung des Wohlgefallens, aber zugleich sage ich, wenn die Symmtrie nicht nothwendig von Natur [aus der] Grund des Wohlgefallens wäre, so gäbe es aus ihr keinen Grund für Verständlichkeit. — Die Eurhythmie ist hier das Schwierigste wie in den musikalischen Verhältnissen. Quantitative Verhältnisse sind dabei, aber so aus Zahlenverhältnissen kann man das Wohlgefallen nicht erklären. Bei der Architectur haben wir es hier mit Linearverhältnissen auf der Ebene zu thun. Was kann in diesen Grund des Wohlgefallens sein und in wiefern ist Verständlichkeit damit zusammenhängend[?] | Wenn architectonische Werke nie ganz zu lösen sind von Beziehung auf ein bestimmtes Geschäft, so bezieht sich das auch auf die Principien; und wenn andrerseits sich manifestiren soll der im Wesen des Geistes und [der] Natur liegende Typus von Gestaltung, so muß auch dieses Elementare in der zu suchenden Regel zu finden sein. Wenn wir das Gestaltungsprincip als Hauptsache voranstellen, so finden wir in Natur zweifachen Gestalttyp 1.) durch welchen die Weltkörper werden, von Einem Punkt aus nach allen Seiten hin i. e. Kugelgestaltung 2.) Die Gestaltung in der Art, wie sich das Starre über die Oberfläche erhebt i. e. verticale, geradlinige Gestaltung in mannigfachen Formen. Offenbar ist die Architectur auf das lezte gebaut ähnlich der Crystallisation; und das

168

Die bildenden Künste

307

scheint unmittelbar auf die gothischen als antiken Werke zu passen, welche Differenz wir vorläufig ruhen lassen. Die Gestalt im Naturverhältnis betrachtet, wenn eine Masse entsteht, so haben die verschiednen Dimensionen eine verschiedne Bedeutung. Im Großen ist selten in Natur der Würfel, sondern eine Richtung hat immer die Oberhand, aber jede hat eine eigne Bedeutung in Beziehung auf das Gewordenseyn, z. B. Höhe eines vulkanischen Erzeugnisses ist Maaß der vulkanischen Kraft, Länge ist das Maaß der Masse in ihrer Freiheit, die Breite hingegen ist die Begränzung von andren Gegenständen her darstellend. Wären diese Dimensionen gleich, so wäre nichts verständlich, auch wäre es zufällig. Die Ungleichheit ist also vorauszusezen weil sie das verständliche ist. So in Architectur verlangt man die Ungleichheit. Die Gleichheit ist ein Extrem, das nicht darf erreicht werden, weil es unverständlich ist. Daraus folgt nicht, daß zur Verständlichkeit gehöre, den Grund der Differenz zu finden, sondern nur ihr Vorhandensein. Das entgegengesezte Extrem ist auch zu suchen. Jede Seite in architectonischen Werken gehört einer Dimension an, repräsentirt aber zugleich eine andre, ist also das Zusammen zweier Dimensionen. Wäre eine Vorderseite Quadrat, so ist das die unverständliche Gleichheit. Wesentlich aufgegeben ist die Ungleichheit zwischen horizontaler Länge und verticaler [Höhe, die] Kraft des Aufstiegs repräsentirend, und ich denke Linien auf dieser Ebene, so sind sie Theilungen von jener und haben Tendenz, daß das Ganze bestimmt als getheilt gefaßt werde. Würde diese Linie die Gleichheit repräsentiren so würde sie gerade das vorstellen, was im Ganzen vermieden ist, daher in [einer] selbst oblongen Vorderseite quadratische Theile ein Verstoß sind. Als Repräsentation beider Dimensionen soll nun die Façade sein. Denke ich aber Länge zu Höhe in solchem Verhältnis daß nicht beides überschaut werden kann von demselben Standpunkt, sondern jedes von einer besondren Entfernung, so ist das ebenfalls das unverständliche. Gehen wir in Analogie mit Naturtypus, so läßt sich das leicht erklären, daß eine solche Masse, wenn sie mit so geringer Kraft aufstiege von so großer Länge und so geringer Höhe, so finden wir das unnatürlich. So trifft das

308

Theorie der einzelnen Künste

168 | 169

unverständliche und nicht wohlgefällige zusammen. Man könnte dagegen eine Instanz machen und den Thurm anführen, wo Mißverhältnis zwischen Länge und Höhe ist. Im Thurm entsteht mir nun nicht jener fatale Eindruck, wie wenn es ein Gebäude wäre. Der Thurm ist ein strittiger Gegenstand und diejenigen die alles von Antike aus betrachten, verwerfen ihn, die vom Gothischen nicht; wir sind indifferent hierin, und fragen woher [kommt] dieser Naturtypus? Das kommt in der Natur vor, daß Masse von kleinrer Grundfläche zu unverhältnismäßiger Höhe sich erhebt, also nicht daß es Nachahmung wäre, aber Identität des Idealen und Realen. In diesem Fall ist ein noch so großes Übergewicht der Verticalen über die Grundfläche nicht im Widerspruch mit Naturverhältnis wie das umgekehrte. So haben wir [das] Extrem. Was ein Gebäude in seinen Dimensionen verständlich macht und zugleich Wohlgefallen bewirkt, das ist die Ungleichheit, die als solche aufgefaßt werden kann. Wollten wir nun die bestimmten unendlichen Arten dieser Ungleichheit classificiren in solche die einen größren oder schwächren Eindruck machen, so kommen wir in das Positive, | wie in Musik, wo das Harmonische im Anfang einfach ist, und Vieles nicht zuließ, das verwirrt hätte aber nur weil der musikalische Sinn nicht entwickelt war, je entwickelter dieser, desto kühner die Componisten. So in Architectur. Auf diesem engen Gebiet kann man also nicht irgend ein Bestimmtes als immer Feststehendes als immerwährende Regel ansehen. Sondern die Erfahrung stellt sie hier analog mit der Musik. Die Architectur hat freilich eine andre geschichtliche Form wegen ihrem Zusammenhang mit [dem] öffentlichen Leben. In diesem gibt es natürlich nur gewisse Perioden, die die Architectur in hohem Grad begünstigen, nachher erscheint sie nur auf sporadische Weise, und macht nicht neue Fortschritte, bis das öffentliche Leben einen neuen Stoß erhält. Alle Bewegungen im öffentlichen Leben haben einen gewaltsamen Charakter. Die erste Bewegung kann nicht die Architectur begünstigen, sondern das Aufhören der Aufregung und Übergehen in festen Zustand. Dieser Moment bringt die architectonischen Werke in größren Massen hervor und dann entstehen neue Formen, aber immer unter Bedingungen.

169

Die bildenden Künste

309

So ist das Wesen gleich wie in Musik, nur die Veränderung viel langsamer. Von großer Bedeutung scheint nun folgender Punkt. Wenn wir dieses Verhältnis betrachten: Architectur, im Gestaltungssystem der Typus, der auch in Natur ist zu Grunde legend und doch in ihren Werken in bestimmter Beziehung auf das öffentliche Leben i. e. Ethische. Da entsteht noch ein ganz andrer Grund des Wohlgefallens. Ein architectonisches Werk kann besonders in Rücksicht der Eurhythmie sehr unvollkommen sein und bringt doch diesen Haupteindruck hervor und in diesem verschwindet dieses Unvollkommne in gewissem Grad. Zwar das geübte Auge wird dieses immer mitsehen, aber nie so, daß es jenes verdunkelt. Das ist nun aber dieses Aufeinanderbezogensein des Physischen und Ethischen und zwar gerade in den größten Momenten der Existenz*; denn der Typus von Gestalt ist eigentlich der, durch den die Oberfläche der Erde ward, das Ethische aber ist die Art, wie die Entwicklungen des menschlichen Geistes werden. Indem nun beides aufeinander bezogen und Eins ist, so ist, indem der menschliche Geist für sich gestaltet, dieses der stärkste Ausdruck für [die] Herrschaft des Geistes über die Masse. Das findet sich schon in den ersten architectonischen Werken, obwohl unvollkommen, weil das Massenverhältnis dominirt. Je mehr das mit hervortritt, was ein feineres Wohlgefallen erregt, desto vollkommner, und das ist wie das Hinzukommen des Harmonischen zum Melodischen in der Musik. Nun läßt die Architectur zufällige Theile zu, die zugleich an der Gränze ihres Gebiets liegen und einen andren Typus haben, welcher den antiken und gothischen Werken gemeinsam ist, das Vegetative als Laubwerk und Rosetten in antiken, und die vielen blumenartigen Verzierungen in [der] Art wie die Säulen mit dem Gebäude zusammenhängen in der gothischen Architectur. Durch das Hinzukommen von diesem ist der ganze Gestaltentypus in dieser Kunst zusammengebunden, woraus eine gewisse Richtung auf Totalität entsteht. Wir finden auch die animalische Gestaltung im Relief der antiken Verzierungen und ebenso häufig in gothischen Werken, so daß die Verzierungen den ganzen Gegensaz von der andern Seite hervortreten lassen, dem organischen

191

310

192

Theorie der einzelnen Künste

169 | 170

zum anorganischen. Also ist das ganze Gestaltungsprincip da. Nur der eigentlich cosmische Typus, das Kugelförmige hat in Architectur eigentlich keinen Raum. Analogien finden wir aber immer nur als Theile, ein gewölbtes Dach ist ein Fragment einer Kugel, so das Gewölbe im Innern und so kommen in manchen architectonischen Systemen Verzierungen, welche kugelförmig sind. Aber es ist hier genau zu unterscheiden, was als Verzierung und was als dem Ganzen wesentlich erscheint. Das leztre gehört immer dem Haupttypus an und ist nur aus diesem verständlich. Dem Gewölbe entspricht in Natur die Höhle und es hat nichts zu schaffen mit der cosmischen Gestaltung, die ja das Solide, nicht den leeren Raum hervorbringt. Wenn wir nun finden, wie das Cylindrische und Kugelfragment einen bedeutenden Raum einnimmt in architectonischer Gestaltung des einen Systems, im andern aber nur crystalline | Gestaltung vorwaltet, so sehen wir nun zwei Arten, auf den Typus zurükzugehen. In der leztren kann geradlinig und rundes zusammenseyn, übertragen wir es aber auf die Eurhythmie, so widerstrebt diese jeder Zusammensezung aus dem Geradlinigen und Krummen. Eine Zeit gab es zwar, wo dieses herrschte, aber es konnte sich nicht lange halten. Das hat den Grund, daß das Geradlinige und Krumme gegeneinander unmeßbar ist, und daß diese Zusammensezung dem Naturtypus widerstrebt, der der Architectur zu Grund liegt. Niemand wird mehr eine Façade wollen wie unsre königliche Bibliothek, denn es ist unmeßbar und unverständlich.* Anders verhält es sich mit den Verzierungen, denn da waltet eben das Hauptgesez nicht, was den Unterschied statuirt zwischen dem Wesentlichen und Zufälligen; im leztren muß nicht der Naturtypus der Architectur walten, sondern ein andrer, und in dieser Unterordnung erscheint es eben als zufällig. Überall sind Verständlichkeit und Wohlgefallen hier durcheinander bedingt, aber es ist nur Verständlichkeit des sinnlichen Auges, je mehr dieses geübt wird, desto schwierigre Verhältnisse werden doch allmählig können aufgefaßt werden, dann wird das Mannigfaltige desto mehr erlaubt sein und die beschränkenden Regeln in dieser Hinsicht sind vorübergehend. Sonderbar ist es daher, wie die Einen nur das antike, die Andern

170

Die bildenden Künste

311

nur das Gothische, und noch Andre beide zusammen als das Ganze der Kunst erschöpfend erklären*. Vielmehr werden Entwicklungen des öffentlichen Lebens, die nicht unmittelbar mit dem, woraus das eine oder andre System der Architectur sich gebildet hat, zusammenhängen, auch neue Formen hervorrufen, aber immer auf dieses Gesez gewiesen. — Sehen wir noch auf die Werke des leichten Styls, i. e. die nicht unmittelbar mit dem öffentlichen Leben zusammenhängen, aber wiewohl aus Privatvermögen entstehend für freie Geselligkeit sind und zusammen sein wollen mit schöner Gartenkunst, so ist, weil das gebildete Leben überhaupt immer das geschichtliche, da ein Zusammensein von Formen aus verschiednen Zeiten und Zuständen denkbar. Aber dabei muß der Charakter der Leichtigkeit vorwalten, daß keine Versuchung ist, sie auf das öffentliche Leben zu beziehen, sondern im Zusammensein mit [der] schönen Natur analogem, oder als ein sich mehr in Kunst Hineinwagen des Privatlebens nun für ein großes Gebieth der Geselligkeit da zu seyn. Da ist große Mannigfaltigkeit möglich, und neue Formen, die nicht bedingt sind durch wesentliche Änderungen im öffenlichen Leben, indem der Künstler in den verschiednen Formen spielt, um ein Gefälliges und für diesen Kreis bedeutsames zu produciren.

193

2. Die schöne Gartenkunst Von Geschäftsseite der Agricultur verwandt, von der andern der Mahlerey wegen [der] Lichtverhältnisse und Färbung, da ohne die mannigfaltigen Farben der Gewächse schwerlich eine Kunst würde.* Die Agricultur ist die reale Bedingung; und die Kunst schließt sich wie die Architectur an dieses Geschäft als accidens an, ehe sie selbstständig hervortritt. Richtung auf regelmäßige Gestaltung ist von selbst in Agricultur und hier ist etwas Ähnliches wie die Symmetrie, die sich am starren Stoff in Architectur überall findet; vermissen wir diese regelmäßige Gestaltung, so suchen wir ein Hinderniß auf, weil wir die Richtung darauf voraussezen. Natürlich ist die Regelmäßigkeit eine geradlinige am Boden, weil das die Richtung ist, in der sich da alle Thätigkeit bewegt. Aber

194

312

195

Theorie der einzelnen Künste

170 | 171

es wird Gleichheit und Regelmäßigkeit dafür gesucht. Bietet das Terrain Hindernisse, so opfert man die regelmäßige Gestaltung oder opfert ihr zu liebe ein Stük des Bodens auf. Nehmen wir die Agricultur im eigentlichen Feldbau, so kommt sie schwerlich weiter als zur einfachsten Regelmäßigkeit. Denken wir dabei die Baumzucht, so entsteht schon, weil das Einzelne sich mehr hervorhebt, eine Theilung des Ganzen durch das Einzelne was der Eurhythmie ähnlich ist, und gleich sieht man die Regel, nach welcher die Bäume gepflanzt sind. Die | geschäftliche Aufgabe schon will jedem Baum so viel Raum geben als zu seiner Entwicklung nöthig ist, und dabei doch so wenig Raum als möglich zu verlieren. Daher hatten die Alten die Gestalt*. Aber darauf kommt es uns hier nicht an, sondern auf Regelmäßigkeit dieser Theile zum Ganzen; und das reducirt sich auf eine Ebene, die auf verschiedne Art durchschnitten werden kann. Sobald man aber die Baumcultur denkt in Form der Forstkultur, so ist da ein ganz andres Princip, da sind in freier Natur zusammenstehende Gewächse verschiedner Art unter einander gemischt; für das Geschäftliche ist dies eine Aufgabe ob es erträglicher sey, die Mischung zu erhalten, oder die verschiednen Arten zu sondern. In jenem nur kann die Abwechslung des Lichts und [der] Farbe hervortreten und nur durch das Hinzukommen dieses Moments kann die Kunst selbstständig werden. Es sind Verschiedenheit der gebrochnen Farben und zugleich verschiedne vegetative Formen, beides ist der Eurhythmie fähig, für verschiedne Entwicklung des Sinns verschiedne, wie in Architectur, Musik. Bedenken wir wie die rein geschäftliche Thätigkeit, an welcher Elemente der Kunst sind, freie Productivität wird: so geschieht das nur dadurch daß das reale, objective Interesse des Geschäfts zurüktritt, hingegen das Bewußtseyn der menschlichen Kraft und Thätigkeit an der Entwicklung der vegetabilen Gestalten und deren Wirkungen hervortritt. Es ist die Wirkung des Menschen in der Natur aber nicht insofern sie starrer Stoff ist, sondern das vegetative Leben entwickelnd, also Gewalt des Menschen über diese Function der Natur die aus Interesse der Selbsterhaltung nun in freie Productivität übergeht. Anschaulich soll werden die Vollkommenheit der vegetativen Formen und das

171

Die bildenden Künste

313

Zusammengeschautwerden ihrer Mannigfaltigkeit als Wirkung der menschlichen Thätigkeit. Falsch ist Vorstellung, es sey auf die Täuschung abgesehen, als ob das reines Product der Natur wäre, vielmehr soll die menschliche Thätigkeit daran angeschaut werden, als die Hindernisse des vegetativen Lebens entfernend, liegen sie im Mißverhältnis des Bodens zu dem was er tragen soll, oder [in] der Umgebung zur Entwicklung des einzelnen Gewächses. Andrerseits ist das Harmonische in der Mischung von Gestalten und Färbung nur durch menschliche Thätigkeit hier so geworden, veranlaßt freilich durch das, was die Natur hierin wild läßt, aber nicht daran gebunden. — Verwandt mit Architectur und Mahlerey; dabei denkt jeder von selbst an die Landschaftsmahlerei und man denkt, was diese auf der Fläche darbietet, bietet die schöne Gartenkunst auf eine objective Weise dar, so wie man sagte Sculptur zu Mahlerey sei wie Wirklichkeit zum Schein, welches leztre freilich offenbar falsch ist, da Wirklichkeit im Zusammenhang des Innern mit dem Äußern besteht. Anders hier, die Gewächse und ihre Gruppen sind Wirkliches und da kann man jenes sagen. Fragt man weiter: Was ist das Gesez, wonach man zusammenstellt? Was in einer Landschaft schön ist, das ist auch in der Gartenkunst schön, und was in dieser auch in jener. Da ist eine Parallele, Identität der Behandlung aber nur in dieser bestimmten Beziehung. Die zwei Verhältnisse zur Architectur und zur Mahlerey will ich erläutern durch zwei extreme Beispiele, wenn das Analoge übertrieben wird. Diejenige schöne Gartenkunst sc. welche die Vegetation in wirkliche architectonische Formen umbildet, ist eine Verkennung des Verhältnisses. Wände, Gewölbe, Säulengänge von Bäumen ist diese Mißgestaltung der Vegetation, aus falscher Auffaßung der Verwandtschaft mit Architectur. Allerdings ist da gar sehr die Gewalt des Menschen sichtbar an der Gestaltung der Vegetation aber nicht um sie zu befreien, sondern in eine ihr widernatürliche dem Leben widerstreitende Gestalt hineinzuzwingen. Indeß hätte sich dieses nicht so lange halten können, wenn es nicht ein Wohlgefallen bewirkt, nur konnte dieses nicht ausgehen von Freude am vegetativen Leben, sondern nur an der Gewalt des Menschen

314

196

Theorie der einzelnen Künste

171 | 172

über dieses, aber in willkürlich naturwidrigen Formen. Denken wir an jenes, in wiefern die Kunst Nachahmung der Natur sey, wo wir sahen es sei nicht Nachahmung, sondern was so erschien gehe von Identität aus dessen, was im Geist und in der Natur formbildend ist. Hier erscheint es umgekehrt | die Natur wird zu Nachahmung der Kunst gezwungen, die selbst eine Nachahmung der Natur wäre. So soll Architectur die starren Formen in der Natur nachahmen; da man alles in starres und lebendes theilt, da ließe man die Natur Rückschritt machen, indem das Lebendige in Form des Todten erscheinen soll. Dazu ist freilich viel Kraft des vegetativen Lebens nöthig, und kommt zur Anschauung, aber als Wand oder Hirsch oder Schwan wie in Holländischen Gärten* ist das ganz unnatürlich. Daher ist diese Auswucherung beseitigt. Das andre Extrem, wenn man von Verwandtschaft der Gartenkunst mit Landschaftsmahlerei ausgeht, so ist in dieser aufgegeben eine Mannigfaltigkeit des Terrains; denkt man es sey eine reine Ebene, so darf sie nur einen kleinen Umfang darstellen, sonst ist ein Mangel; hat sie nur etwas Umfang, so erscheint es dürftig; wenn kein Wechsel ist von Höhe und Tiefe. Sagt man was so die Landschaftsmahlerei auf [der] Fläche gibt, soll die Gartenkunst objectiv geben, so fordert man Abwechslung des Terrains, die man also hervorbringen müsse, wo sie nicht gegeben ist. So entstehen künstliche Berge und künstliche Felsen, die man epigrammatisch lächerlich machte. Dennoch dominirte auch diese Auswucherung eine Zeitlang obgleich man es doch als Kleinliches erkennen muß, da es das Naturverhältnis gar nicht darstellen kann, denn findet man in der Natur etwas wie einen gemachten Berg im Garten, oder finden sich einige Geschiebe, so achtet Niemand darauf; und weiter bringt es doch die Kunst nicht ist also lächerlich. Anders freylich verhält es sich mit der Abwechslung zwischen Land und Wasser, denn da hat die Kunst ihren Rückgang an dem Geschäftsinteresse, denn das Wasser zwekmäßig zu verbreiten über einen angebauten Raum ist für Agricultur sehr wichtig, findet sich also schon in dem was die Basis ist für die Kunst. Also: „Es dürfen keine Hunde laufen, damit sie nicht die Seen aussaufen“ ist zu weitgehende Satyre.

172 | 173

Die bildenden Künste

315

Schwerlich kann man eine schöne Gartenanlage denken, ohne das Wasser zu sehen, weil das Ganze sonst scheint auf einem Ungefähren zu beruhen; eine durch menschliche Thätigkeit außerordentlich gehäufte und gesteigerte Vegetation begnügt sich nicht mit atmosphärischer Befeuchtung, sondern erfordert mehr. Unsre schöne Gartenanlage auf der Pfaueninsel ist als Insel von Wasser umgeben und ist doch erst vollkommen mit künstlicher Bewäßerung zur Anschauung gebracht*, und die rechte Sufficienz erst bewirkt hier Erhaltung des vegetativen Lebens, wie es da gesteigert ist. Wo die Möglichkeit ganz fehlt, ist es vergeblich mit solchen Anlagen so fortzuschreiten, es fehlt das Gefühl der Sicherheit ihres Fortbestehens, und eine Gartenanlage die die Folgen irgend einer Trockenheit wie die wilde Natur in sich spielen läßt, ist ein schlechtes Kunstwerk, und nur das Mitaufgenommensein des Wassers in das Ganze kann diese Sicherheit geben. Dieses Sachverhältnis hat Analogien mit der Architectur, wo von allen Dingen das Gefühl der Sicherheit gewollt ist als Maaß der Kühnheit. Was da Princip des Schlanken ist, worin immer Kühnheit verticaler Erhebung vorwaltet bei geringer Basis, das ist hier das Hervorrufen einer starken Vegetation auf unfruchtbarem Terrain. Die Sicherheit muß dabei sein. Sicherheit muß die Gewalt des vegetativen Lebens verbürgen. Weit entfernt also, daß Täuschung seyn solle, als ob was menschliches Werk ist von Natur producirt sey, kann vielmehr das Kunstwerk keinen Eindruck machen, wenn man nicht überall menschliche Thätigkeit zur Anschauung bekommt. Je mehr also die Naturbedingungen so sind, daß das Fortbestehen scheint ohne Zuthun des Menschen zu erfolgen, desto mehr sind Elemente nöthig, die immer wieder auf menschliche Thätigkeit hinweisen. Denke ich zwei Gartenanlagen eine in ungünstigem Terrain, eine in höchst fruchtbarem, so begnüge ich [mich], wenn jene nur Mannigfaltigkeit darstellt von Vegetationen die unsrem Clima verwandt sind, hingegen in begünstigtem Boden genügt das nicht, sondern man verlangt, daß da der Natur durch menschliche Thätigkeit mehr hätte | abgelockt werden können, exotische Gewächse, die noch den Charakter des Fremden an sich haben.

197

316

Theorie der einzelnen Künste

173

Da die schöne Gartenkunst nichts mit Gestaltung des Lebendigen in seinen Lichtverhältnissen zu thun hat, so ist dieses von atmosphärischen Einflüssen abhängig, und man muß in gegenseitiger Beziehung der Vegetation und des Atmosphärischen sein. Da der Mensch mit dem ganzen Erdboden bekannt, so hat diese Kunst einen exotischen Theil, das Zusammenbringen von Gestaltungen aus verschiednen Gegenden. Das Zusammenbringen der Naturproducte aus verschiednen Gegenden und damit das Übertragen von Naturkräften in verschiednen Gegenden, schließt sich ganz an die gebundne Thätigkeit; man will, was von dieser Pflanze für [menschliche] Bedürfnisse ist; nun haben sie auch ihre Gestaltung, und deren Vollkommenheit ist noch mehr als bei einheimischen, Werk der menschlichen Pflege und Kunst also freie Thätigkeit. Die freie Productivität richtet sich also auf Thätigkeiten des Menschen an der Vegetation. Ist es aber bloß die epideictische Seite, die dominirt, so wäre es eher eine Ausartung der gebundnen Thätigkeit als eine Kunst. Da begründet sich, wie in Architectur die Eurhythmie, Linearverhältnisse in Beziehung auf Höhe und Tiefe, hier das Verhältnis der verschiednen Abstuffungen der Vegetation, zusammen mit dem Verhältnis der Differenz zwischen Boden und der Atmosphäre. Da ist Abstuffung von Rosen, Blumen, Stauden, Bäumen und sie sind beständig zusammenwirkend. Im richtigen Verhältnis dieses Zusammenwirkens ist die Vollkommenheit der Kunst. Nach Beschaffenheit des Terrains muß das eine oder andre an gewissen Stellen überwiegen aber immer mit den andren in relativem Gegensaz eine gewisse Harmonie des Ganzen [bilden]. Soll die Kunst mit Musik verwandt sein, so auch der Eindruck. Durch die selbstständige Musik kam zur Anschauung die Beweglichkeit der subjectiven Seite des Bewußtseyns durch den Ton wie dieser in innrer Verwandtschaft steht mit den Äußerungen des Bewußtseyns selbst. Nun ist hier die Vegetation nicht so ein Product des Menschen wie der Ton. Aber der Mensch ist von der einen Seite ein Glied im Gesamtleben der Erde und steht in Wechselwirkung mit seinem Einzelleben zum Gemeinleben. Die Atmosphäre im Wechsel und [der] climatische Ton üben Einfluss auf das innre Leben, und die

173 | 174

Die bildenden Künste

317

höchste individuelle Freiheit sogar kann sich davon nur befreien durch möglichste Abschließung. Sofern der Mensch sich receptiv verhält, ist also ein ähnliches Verhältnis wie beim Ton, auch das vegetative Leben in seinem atmosphärischen Zusammenhang betrachtet, afficirt uns und ein Typus läßt sich festhalten. Aber die Verständlichkeit ist nicht größer als das Musikalische. Finden wir nun hier ein bestimmtes Mittel, die Sache auf Bestimmtres zurückzuführen. Die Instrumentalmusik stellte innre Verwandtschaft dar mit einfachen Säzen aus der Poesie oder Mimik, begleitende Musik, die daher bekannt sind. In unsrem Gebiet ist da kein Mittel als der Zusammenhang mit dem Architectonischen, was seine größte Bestimmtheit hat. Eine Anlage, die nicht als Centrum ein architectonisches Werk hat, ist freilich dann unbestimmter. Zwischen Anlage und Wohngebäude ist eine Beziehung, und das Gebäude muß seine Verständlichkeit der Anlage mittheilen, und jedes Gebäude hat ja seinen Styl der Beziehung zum öffentlichen Leben, wenn auch Privatgebäude. Dieser Styl muß sich in der Anlage wiederholen und so entsteht eine Bestimmtheit. Anlage ohne architectonischen Mittelpunkt muß auf ganz andre Weise gefaßt werden, ohne eine Beziehung auf Architectonisches läßt sich aber nichts so denken. Denken wir unsren Thiergarten, den Prater*, so ist der Schlüssel zur Anlage ihre Beziehung zum Architectonischen der Stadt, und so wird der Charakter ein andrer. Bezöge sich der Thiergarten auf das Schloß Bellevue*, so müßte die Analge einen ganz andren Charakter haben. Indem so die Art und Weise des menschlichen Lebens sich bestimmt, für welches die Anlage gemacht ist, so gebe sie, mit jenem übereinstimmend, einen bestimmten Eindruck. Ist es, wiewohl ein zugleich seiendes, doch für jeden immer nur ein Aufeinanderfolgendes und bildet dieses solche Wechsel der Verhältnisse wie die musikalischen Abschnitte, so macht dieser Wechsel ebenso den allgemeinen Eindruck | von der Beweglichkeit des Bewußtseyns durch diese Naturverhältnisse. Die Werke sind zugleich da, aber im Kunsteindruck wirken sie nur successiv, was parenthetisch hier eine allgemeine Betrachtung erfordert. Man stellte sc. dieses als Hauptgegensaz: Künste, deren Werke zugleich da sind, und solche, deren

198

199

318

200

Theorie der einzelnen Künste

174

Werke nur successiv da sind. Aber dieser Gegensaz ist sehr untergeordnet, weil er sich gar nicht recht fixieren läßt.* Stellen wir uns einem Kunstwerk gegenüber, so gibt es sehr wenig, was daran von ihm als ein zugleich ganz daseiendes kann gefaßt werden. Oberflächlich betrachtet ist Mimik und Musik nur in Werken der Succession, Architectur und Gartenkunst solche, wo das Werk zugleich ist, und so scheint es von bildenden Künsten überhaupt, Poesie nur in der Succession. Aber genauer betrachtet, verschwinden diese Differenzen. Ein architectonisches Werk von einem gewissen Umfang, was ja wesentlich ist, so kann man es nicht als Eins gleichzeitig übersehen, sonst müßte man sich in solche Entfernung stellen, wo das Einzelne und seine Verhältnisse uns entgeht, stellt man sich vor das Einzelne nahe genug, so sieht man das Ganze nicht. Gebäude dann von verschiednen Façaden muß man ja ohnehin successiv betrachten. So ist ein Garten freilich zugleich da, aber als Kunstwerk auf mich Bezug habend ist er nie auf einmahl da, sondern entweder ein Überblick, wo das Einzelne mir entgeht, oder den Grundriß, aber da gibt sich die Sache selbst nicht. Denn auf der andren Seite nehmen wir die Mimik, so ist das Kunstwerk doch nicht nur im Ganzen, sondern auch in einzelnen Momenten seinen Schluß habend in der Gruppierung die die vorangegangne Bewegung repräsentirt; und wenn man auch das Ganze in Succession betrachtet, so müssen wir doch immer das schon Vorüberseiende vergegenwärtigen und in jedem Moment ist der Kunstgenuß nur da, insofern er die frühren in sich schließt. Aufgabe ist also, sich das Successive in ein Zugleichseiendes zu verwandeln. Der Unterschied ist von beiden Seiten angesehen doch nur ein fließender, und der Gegensaz bedeutet nichts weiter, als daß alles Auffassen, wie alle Productivität immer successiv ist, und ein Kunstwerk ist immer das Zugleichsein i. e. wahre Einheit sein und das Successiv sein i. e. in Reihe von Momenten nur hervorzubringende und aufzufassende. Dieses gilt auch von den bildenden Künsten. Schon die Alten machten auf einen Punkt aufmerksam der am liebsten mich von dieser Kunst auf die bildende hinüberleitet. In Beziehung auf Architectur sahen wir, es sei der Charakter der Kindheit der Kunst zusammenhängend

174 | 175

Die bildenden Künste

319

mit einer gewissen Stuffe der Entwicklung, auf der manche Völker stehen bleiben, wenn die architectonischen Kunstwerke nur colossal sind, wenn das Verhältnis der Masse da zur unendlichen Kraft des Menschen als das alles dominirende hervortritt. Das ist noch eine Rohheit der Kunst. In den Gartenanlagen findet sich große Abstuffung in Beziehung auf das quantitative Verhältnis, aber gewißermaßen umgekehrt. Sehen wir große Anlagen an [ein] Privatgebäude geknüpft, also auf das einzelne Leben bezogen, so daß es doch auch eine bedeutende Quantität hätte, wenn man es auf das ganze Land bezieht, so entsteht Bewußtseyn von großem Übergewicht des Einzellebens in der Gesamtheit. Denken wir umgekehrt die nationale Thätigkeit selbst überall als das uneigentliche Gebiet dieser Kunst hervortretend und nur im Einzelnen die Kunst rein für sich hervortretend, so ist dann in beiden Fällen Charakter des Colossalen aber im umgekehrten Eindruck. Alte Karten von England, die alle Parks der Großen mit angeben. Die bilden eine sehr bedeutende Masse, so daß der aristokratische Charakter sehr bestimmt hervortritt. Sagt man hingegen eine ganze Gegend ist ein Garten, so erscheint die gebundne Thätigkeit als Eins geworden mit der freien Kunst was so deren maximum ist, und die Kunst an ihr zugleich. Wo sind dann die Punkte, wo dann die schöne Gartenkunst selbstständig erscheint? Diejenigen wo gleich das öffentliche Leben centralisiert [ist], in monarchischen Staaten die Size des Regenten, aber indem der Gegensaz hier aufgehoben ist, so ist auch der Eindruck nicht mehr derselbe. Im | republikanischen Staate [gibt es] Punkte, wo sich das Volksleben centralisiert i. e. Städte. Also wo Städte in Gegenden die ganz Garten sind, und in Anlagen um sie herum frei werden, da kann man das Ganze nirgends übersehen. — Also in Beziehung auf die bildenden Künste sagten schon die Alten, daß Werke, die nicht könnten auf Einmahl übersehen werden, nicht eigentlich Kunstwerke seien, weil ihnen die innre Einheit fehlt. Dadurch stekten sie diesen Künsten eine sehr bestimmte Gränze der Quantität nach. Das scheint sehr wahr, aber es gibt auch eine entgegengesezte Betrachtung davon. Das führt auf die schwierigen Fragen [nach] der Grenze der bildenden Kunst. Colossale Statue wie Co-

320 201

202

Theorie der einzelnen Künste

175

loß zu Rhodos* muß natürlich in obren Theilen verlängert sein, weil es sich beim Anblick verbirgt; würde man es mit verändertem Maaßstab kleiner wiedergeben, so wäre es Mißgestalt und man sagte: Was durch Änderung des Maaßstabs seinen Kunstwerth verliert, ist kein Kunstwerk. So sagte man die Gothische Baukunst mache nur im Großen Eindruk, im Kleinen aber nicht, wohl aber die Verzierungen. Das ist nun kein allgemeines Urtheil, bestätigt aber die Regel. Oft hat man kleine Gebäude im Gothischen Styl in Gartenanlagen gemacht, und sie haben denselben Eindruck gemacht, wie die des Griechischen Styls. Also ist es nur ein Geschmacksurtheil, aber die Regel erleidet dadurch keinen Abbruch. Wollte nun einer in schöner Gartenkunst in kleinem Raum einen großen Park nachahmen, so ist es lächerlich; aber daraus folgt nicht daß die schöne Gartenkunst nicht mehr Kunst sei, und der fatale Eindruck ist nicht der verkleinerte Maaßstab an sich, sondern der aufgehobne, i. e. daß nicht alle Theile gleichmäßig sich verändern lassen. Also was allein von der Größe abhängt, ist freilich kein Kunstwerk. Auch in Architectur ist keine absolute Größe, sondern eine verhältnißmäßige zum öffentlichen Leben das nöthige. Nicht nur das Colossale in Sculptur, sondern auch in Mahlerei will man so ausschließen. 3. Malerei* Ein Gemählde in sehr großem Maaßstab wird auch nöthigen den Maaßstab aufzuheben, wenn man ihn verkleinert, das trifft dann alle Dimensionen, und so könnte ein Gemählde nur richtig angeschaut werden aus einem gewissen Standpunkt. Was ist das hier eigentlich, was den Begriff der Kunst aufhebt? Nicht bloß der Maaßstab, oder daß dasselbe [Kunstwerk] in andrem Maaßstab nicht denselben Eindruck mache, denn so etwas zu thun ist gar keine Aufgabe in der Kunst; allein es ist dieses, daß das so construirte Kunstwerk eigentlich nur besteht im Verhältnis seiner einzelnen Theile zu einander, es will nun aber für ein andres gehalten sein [als es] ist; denn es ist nur das, was es in jeder Größe gleich hätte; hat [es] diese Mißform so an sich und ich fasse

175 | 176

Die bildenden Künste

321

dann nicht dieses, was es ist, sondern ein andres, i. e. es ist eine Täuschung im Spiel und das eben schließt solche Werke von der Kunst aus, daß sie auf einer Täuschung beruhen. Dieses verlangt eine allgemeine Erörterung und hängt mit einem früher ganz allgemeinen Irrthum zusammen, sc. als ob es gewisse Künste gebe, deren Werth auf Täuschung beruht. So sieht man oft die dramatische Mimik an, als sei das der Maaßstab, daß man so hingerissen wird, die Schauspieler für die Personen selbst zu halten. Das ging sogar in die Theorie über und daher verwarf man die Masken der Alten und ihre unvollkommne Decorationsweise, weil das alles die Täuschung aufhebe. Aber klar besteht der Kunstwerth darin eigentlich nicht, sondern das ist ein fremdartiger Effect, welcher zeigt, daß wer dem ausgesezt ist, sich nicht auf den Standpunkt der Kunst erhält. Die Alten hielten sich nicht auf dem Standpunkt der Täuschung, auch wir jezt legen es nicht auf Täuschung an. Die mimische Wahrheit, daß die Bewegungen dieselben sind, die unter den vorausgesezten Bedingungen erfolgen würden, ist von der Täuschung, als sei der Schauspieler der Held ganz verschieden, ja geht darin verloren, weil mir dann der kunstlose Naturausdruck erscheint, da mir doch das Kunstwerk erscheinen soll. Daher wenn die Täuschung sich laut macht, so wäre es schlecht, wenn keiner vom Publikum thut, als ob er | mit in die Sache hineingerissen würde. Geht das so weit, daß kein Werk, wobei es auf Täuschung abgesehen ist, ein Kunstwerk wäre? Wie ist es mit der Decorationsmahlerei; ist es da nicht offenbar auf Täuschung abgesehen? Das Verhältnis ist nicht dasselbe wie bei den mimischen Personen; denn wollten wir uns etwas von der Person entfernen und auf die Drapperie, Kleidung sehen, z. B. Held geharnischt, ist nur Absicht, glauben zu machen, das sei wirklich Eisen; oder läßt man ihn [(den Zuschauer)] frei zu wissen, daß es Papier ist. Dieses kommt gar nicht in Betracht, wenn es einer weiß, oder nicht weiß, ist der Eindruck doch derselbe, aber nur darum, weil in den differenten Veränderungen kein Kunstwerth leidet; man sagt, die Bewegung würde schwer sein, aber das ist nicht; der Schauspieler würde schwerfällig in wirklichem Harnisch sein, der Held aber nicht und beide sollen freie Bewegung haben. Unwesentlich ist

322

203

Theorie der einzelnen Künste

176

eine gewisse Genauigkeit in Drapperie. In vielen Theatern studirt man darauf, daß die Personen im Costüm ihrer Zeit und [ihres] Standes erscheinen. Oft gehört es gar nicht zur Sache, daß die Zeit bestimmt werde, obgleich man wüßte, das Stük ist in der Zeit geschrieben und bei den ersten Aufführungen sind sie so erschienen; ob jezt so oder so, ist ganz unwesentlich, ja uns kommt dadurch ein fremder Eindruck, weil das uns auffällt, da doch im Wesen der Poesie diesem Auffallenden nichts entspricht. Die Decorationsmahlerei nun scheint die [für die] Beschaffenheit des Theaters nothwendige Täuschung zu wollen. Denkt man Scenen in einem Zimmer, so kann die Hinterwand sich naturgemäß darstellen, aber die Seitenwände dürfen das nicht, die Bauart des Theaters bildet sie nicht aus einem Stük, und doch soll sich die Localität darstellen. Erreicht nur die Mahlerey, daß diese Stüke in nicht ebnen Linien, doch eine ebne Seite darstellen, so ist das allerdings ein Vorzug, denn die Localität erscheint nun wie sie ist. Aber nun sagt man, das ist eine Täuschung und die Decorationsmahlerei fällt nicht mehr in das Kunstgebieth als Mahlerey, es ist nicht schöne, sondern mechanische Kunst. Gehört das wesentlich zu dem Kunstwerk als Einem in der Vereinigung der Poesie und Mimik dargestellten, daß diese Täuschung erreicht werde? Offenbar nicht, man könnte das sehr gut wissen und sehen, das soll eine Seitenwand vorstellen, aber es sind übereinander gestellte Stücke zum Ein- und Ausgehen; und dadurch würde dem Wesen des Ganzen kein Abbruch geschehen. Ist es nun richtig oder unrichtig auf die Täuschung auszugehen? In sofern ist es unrichtig als man sie doch nicht für alle Punkte erreichen kann, Seitenpläze sehen sehr gut, wie es damit sich verhält, stört ihn [(den Zuschauer)] das, so ist es seine Schuld. Warum sollte man denen die zufällig in der Mitte sizen etwas besondres geben. Also Zwek der Kunst ist das nicht. Einzig wie steht es dann mit unsrem Diorama, Erfindung der neuesten Zeit. Da ist es ausdrücklich auf Täuschung abgesehen, daß, was Eine Fläche ist, nicht Eine Fläche sei, und wird oft zum Verwundern errichtet. Vor kurzem wollte man einen Mahler in [der] Accademie der Künste aufnehmen, wenn er kein Diorama mehr machte.* Da ist also der Saz anerkannt, was

176 | 177

Die bildenden Künste

323

Täuschung will, ist mechanisches Kunststück. An den einzelnen Theilen kann dennoch wahre Kunst sein, aber das Ganze mit seiner Tendenz gehört wirklich in mechanische Kunst weil nur Täuschung beabsichtigend. Das führt auf eine sehr schwierige Grenze. Denken wir ein großes historisches Gemählde eine Menge Menschen umfassend, so ist es doch Darstellung auf Einer Fläche abbildend, was wirklich nicht auf Einer Fläche ist, da eine solche Masse eine Tiefe einnimmt; und so stellt man sie nach den Regeln der Perspective dar, daß sie die Tiefe einzunehmen scheinen. Soll man von unsrem Punkt aus so weit gehen, die Perspective als Täuschung auch aus der Kunst verbannen? Da blieb der Mahlerey nichts andres als die unvollkommne Form, daß die Figuren so gezeichnet sind, wie sie auf Einer Linie neben einander sind, wie in antiken frühen Stücken; in neurer | Zeit gibt man in einer Gruppe Heiliger lieber jedem seine eigne Einfaßung und läßt jeden für sich betrachten. Aber die Perspective kann man nicht verbannen aus der Kunst. Folgt daraus, es sei also kein Grund, Werke auszuschließen, die der mechanischen Kunst angehören? Auch dagegen spricht eine Ansicht. Aber wie soll die Grenze bestimmt werden, so daß Perspective nicht aus der schönen Kunst fällt, aber jene mechanische Kunst auf Täuschung hin auschließend? Wir müssen in die Naturbedingung tiefer hinein. In einem freien Raume sehen, aber zwischen sich und den Gegenständen eine durchsichtige Ebene, also ich sehe durch ein Glas, das so groß ist, daß es Alles umfaßt, was ich sehe, so ändert das nichts in meinem Sehen, ob das Glas da ist, oder nicht; sondern Differenz entsteht erst, wenn es nicht vollkommne Durchsichtigkeit wäre. Nun kann man ebenso gut sagen, ich sehe die Gegenstände auf dem Glase, als ich sehe sie hinter dem Glase. Von da aus angesehen legt es die Perspective nicht auf Täuschung an, sondern sie bewirkt das Sehen der Gegenstände auf dieselbe Weise, wie es ist. Also ist dieses perspectivische Sehen auch ein wirkliches Sehen, und geht nicht auf Täuschung aus, sondern ist die wirkliche Wahrheit des Sehens selbst, die auf dem Bilde repräsentirt wird. Worin besteht dann das Unkünstlerische in jenem? Das Gesicht faßt die uns umgebenden Gestalten auf, würde aber

324

Theorie der einzelnen Künste

177

das nicht können, wenn nicht ideal die Typen der Gestalten in ihm als das die Spontaneität vertretende Element, und das geht dann in Production über. Da sie es mit den Gestalten in ihren Lichtverhältnissen zu thun hat, so kommt dieses von demselben Grund, das Auge faßt nur vermöge des Lichts. Nun sehen wir immer nur die Ebene, nie eine Tiefe, nicht verschiedne Flächen hinter einander, sondern auf Einer Ebene. Daß sich das Sehen nicht in Widerspruch sezt mit den andren Mitteln, wodurch wir Dimensionen fassen, kommt vom Zusammenwirken der Sinne her. Wenn das Auge sich zuerst öffnet, erscheint vor ihm nichts als ein Planum, auf dem die Bilder sind. Daraus folgt, daß die perspectivische Behandlung in der Mahlerei nicht zu verwechseln ist mit jenem Ausgehen auf Täuschung durch unterbrochne Flächen nur Eine sehen zu lassen; sondern sie gibt was das Auge [sieht]. Daher die alten Gemählde, wo Perspective fehlt und damit natürlich die ganze Beleuchtung, Luftperspective, wo Reihe von Figuren neben einander sind, wie sie gesehen werden, wenn sie auf einer Linie stehen, erscheinen als Übergang und Abrisse von Sculptur, und verhalten sich gar nicht als wahrer zur perspectivischen Mahlerei, sondern das wahre Sehen ist noch nicht erreicht. Die Grenze der schönen Kunst ist also nicht so schwierig hier zu ziehen. Da, wo eine Täuschung beabsichtigt ist, die etwas andres leistet als die Wahrheit des Sehens, ist nur ein mechanisches Kunststück, und hat darum doch seinen Werth, Mahlerei nur mechanisches Mittel. Alles hingegen was die vollkommne Wahrheit des Sehens hervorbringt ist zugleich die Vollkommenheit der Kunst. Nun entsteht eine andre Frage hier, die auch nicht leicht ist. Die schöne Kunst hat ihr Wesen darin, daß gebundne Thätigkeit [in] freie Productivität bestimmter geistiger Functionen ausgeht. In Architectur sahen wir die Thätigkeit ursprünglich vom Bedürfnis ausgehen, aber auch wo sie frei wird, ist sie nie ganz zu lösen von Beziehung auf das Leben. Da wir dann sagten, dieses sei nothwendig, weil die Werke sonst keine Verständlichkeit hätten: so finden wir nun eine ganz andre Beziehung der Mahlerei auf gebundne Thätigkeit, wobei dieses lezte uns nicht zu Statten kommt. Die Mahlerei will Gestaltungen darstellen für das Auge. Da treffen wir

177 | 178

Die bildenden Künste

325

zuerst auf etwas, das im Gebiet der Wissenschaft liegt, die geometrischen Figuren; die gehen ja auch aus freier Productivität hervor und sind Gestaltung, haben aber ihren Zwek in Wissenschaft. Zur Mahlerei hat sie noch Niemand gerechnet, aber wir müssen uns ganz genau der Grenze bewußt werden. Dieses Gebiet scheidet sich gleich, da man 1.) nichts andres sehen will als bloße Abstractionen. Körper, die rein durchsichtig gezogen werden, haben schon eine perspectivische Darstellung, also ein Mittelding. Bei den rein geometrischen Figuren 2.) fehlt das | Lichtverhältnis gänzlich, also nur das Mechanische der Operation ist dasselbe, nicht die Thätigkeit. Wie ist es nun mit architectonischen Grundrissen, Plänen von Terrains? Das ist schon zusammengesezter und der wirklichen Zeichnung näher. Aber dennoch sind sie im Gebiet der rein geometrischen Figuren. Wie das Zeichnen, wodurch man Gras, und das wodurch man Wald andeutet, so ist es ganz willkürlich, wenn Zeichen und Sache selbst Ähnlichkeit hat, also ein Bild von etwas Wirklichem, das nur ein abstractes Zeichen sein will. So in geologischen Karten, wo die verschiednen Gesteine durch verschiedne Zeichen dargestellt, die so weit sich es thun läßt, auch ähnlich gegeben werden z. B. Crystallisation. Aber als Zeichen ist es willkürlich. Dieses würde also rein der gebundnen Thätigkeit zufallen, so streng, daß jede mahlerische Zuthat etwas Fremdes wäre z. B. wenn die Bäume Schatten werfen auf einem Plan, so verwirrt das eher; also auch nicht einmahl ein uneigentliches Kunstgebiet. Etwas weiter finden wir Abbildungen von sichtbaren Gegenständen als Erläuterungen der Beschreibung derselben. Gehört das nun in die Kunst oder nicht? Freie Productivität ist nicht dabei, sondern reine Abschriften von dem, was einer gesehen hat. Der Beschauer soll den Gegenstand sich gerade so vorstellen können, wie der Beschreiber es gesehen. Das wird oft als bloße Linearzeichnung gegeben, wo Beleuchtung [ein] minimum ist; da fehlt also schon das reine Element, also ist nicht eine eigentliche Richtung auf Kunst dabei, und da es nicht Kunstwerk sein will, ist es nicht als solches anzusehen. Wo ist nun die Grenze zwischen diesem und der Landschaftsmahlerey? Etwa daß jede Landschaft erfunden sein soll? Das wäre

326

204

Theorie der einzelnen Künste

178

falsch, schon deswegen weil man das nie unterscheiden kann. Es ist eine Reihe von Übergängen denkbar, daher schwierig zu begrenzen. Wir fangen an mit bloßer Linearzeichnung zu einer Beschreibung, daß nun jeder sich eine Landschaft freilich sehr unbestimmt vorstellen kann. Thut man etwas hinzu und colorirt das Bild, so hilft man der Einbildungskraft nach. Aber eine Landschaft kann es nicht sein; es gibt schäzbare Sammlungen von Schweizergegenden, aber Umrisse waren für sich und Colorirung für sich und colorirte Umrisse sind keine Landschaft. Der zu Grunde liegende Linearumriß drükt den Stempel einer Abschrift aus; ein Umriß ist freilich Perspectivisches. Der Zwek ist auch ein ganz andrer, einen in die Stelle dessen zu versezen, der in der Gegend gewesen ist, ein geographisches Interesse. Nun ist aber als sehr verwandt möglich z. B. Flachmannsche Umrisse zum Homer*; finde ich sie im Buch eingebunden, so scheinen sie erläuternde Bilder; aber die Abschrift verschwindet. Der Dichter beschreibt zwar hier und da die Gestalten und daran muß sich der Mahler halten, aber innerhalb dieser Grenzen hat seine freie Productivität Spielraum. Da ist nicht Charakter der Abschrift, daher gehört es in Kunst, weil es dem ganzen Sinn nach freie Productivität ist. Denke ich dasselbe beim Geschichtswerk, so sieht man daß auf die Wirklichkeit der Gegenstände nichts ankommt. So wird uns von dieser Seite die Grenze der Kunst. Die beiden Fälle haben große Ähnlichkeit, weil beides Accessorium zu einem andern Werk. Aber das eine ist Copie von etwas Wirklichem, das andre ein freies Kunstwerk für sich, wenn schon bloße Linearzeichnung. — Aber wenn nun jener Charakter verschwindet, daß Linearumriß und Colorit etwas besondres für sich ist, und die wirkliche Gegend abgezeichnet wird gerade mit Beseitigung jener Duplicität: worauf beruht nun das, daß man sagt: Es muß eine wirkliche Gegend sein? Durch die Unterschrift freilich, aber die ist gleichgültig und kann weg sein, und das Gemählde ist doch dasselbe und kann erkannt werden, ob es Darstellung zu bestimmtem Behuf sei und nicht eigentliches Kunstwerk. Den Unterschied da nun anzugeben, ist schwierig, die Wirklichkeit macht es nicht aus, da auch ihre Darstellung Kunstwerk sein kann.

178 | 179

Die bildenden Künste

327

Wenn der Zwek die Abbildung eines Wirklichen ist von einem bestimmten Umfang so erfordert dieser Zwek solche Dimensionen, wobei das Verhältnis der Gestalt- und Lichtverhältnisse nothwendig al | teriert wird, i. e. was sich auf Beleuchtung bezieht, wird in solchen Abbildungen zurüktreten, und so, daß man sieht, es ist nicht als ein Kunstwerk gewollt, wie es auf dieser Stufe sein müßte. Noch schwieriger ist der folgende Punkt. Denke ich Zeichnungen zu einem Geschichtswerk, so ist es allemahl ein Kunstwerk, da der Geschichtsschreiber nie einen Moment so beschreiben kann, daß er ein Regulativ für ein Gemählde wird. Finde ich aber statt solcher Zeichnungen einzelne Männer dargestellt, die in der Geschichte vorkamen: da wird streitig sein: Ist das eine Gestalt, die sich der Künstler so gedacht hat, oder soll es eine Abbildung sein vom wirklichen Aussehen des Manns; also ob es soll Kunstwerk oder erläuternde Abbildung sein. Entscheiden müssen wir uns, nur die Kunst in ihren Grenzen zu construiren, das alles führt auf die große Frage, ob das Portrait Kunstwerk sei oder nicht.* Wir müssen auf das Allgemeine zurück. Immer gehen wir aus von Identität derjenigen geistigen Functionen, die sich als freie Productivität in Kunst zeigen, und derjenigen die sich als Receptivität zeigen in [der] sinnlichen Auffaßung der Gestalten. Dies ist ein das Einzelne unter das Allgemeine fassen. In der Natur ist das Allgemeine als die Gattung gegeben, die sich im Einzelnen reproducirende Gestaltung. Betrachten wir die Thätigkeit des Auffassens und die des innren freien Bildens, so kommen wir darauf zurück, daß die Kunst in Hervorbringungen der einzelnen Gestaltungen Ergänzung der Natur sei*, denn wie wir auch das Einzelne nacheinander auffassen, erschöpft es nie den allgemeinen Begriff; immer ist noch übrig, was der Möglichkeit nach im Allgemeinen liegt, aber in Wirklichkeit nicht erscheint. Da ist Kunstproduction Complement der Auffaßung, producirend, was noch nicht ist, und reproducirend was schon gewesen war. Dieses angewandt im Allgemeinen auf alle dem menschlichen Geist ideal einwohnenden und in irdischer Natur als lebendige Kräfte gegebnen Formen des Lebens, erscheint die ganze freie Productivität als eben jene Ergänzung, und das gei-

205

206

328

207

208

Theorie der einzelnen Künste

179 | 180

stige Leben zusammenfassend in einem Moment, so ist es nur vollendet in beiden Functionen des Geistes, und in Natur gehört die ganze Zeitreihe dazu, daß die ganze Kraft sich im Einzelnen verwirklicht. Also im Geistigen ist die Gesamtheit repräsentirt als Auffassen des Wirklichen und freie Productivität. Übersehen wir geschichtlich das Gebiet der bildenden Kunst in dieser Beziehung, so sind mannigfaltige Verhältnisse dieser freien Gestaltung zur Auffaßung des Wirklichen; z. B. eine phantastische Gestaltbildung, der so nichts entspricht im Wirklichen; z. B. die Centauren, ohne daß je das Analogon in der Natur erscheinen kann. Auch jezt wird man ähnliche Erfindungen wohl machen z. B. die Arabesken von Dürer (als Einfaßungen von Blättern) haben allerlei Gestaltungen, Vögel cet., die gar nicht dem Wirklichen entsprechen.* Jenes aber correspondirt der Production des Mythus in Poesie, und da wir nicht mehr Mythen produciren so auch nicht solche Gestaltungen. Was ist der gemeinsame Ursprung des Mythus in Poesie und dieser Gestaltbildung in bildender Kunst? So wie der Mythus einerseits Ergänzung der Geschichte ist, als das Vorgeschehen in historischen Formen aussprechend, so auch ist eine Ergänzung der Natur, ausgehend vom Bewußtseyn, daß was uns umgibt, nicht die Totalität des Lebendigen Irdischen erschöpft; daher producirt die Phantasie Neues, was wohl angeht, wo noch wenig Raum der Erde entdekt war, also das nicht erfüllte Bedürfniß, das Wirkliche zusammen zu besizen, was aber nicht stimmen kann, weil die Naturbedingungen nicht gegeben sind. Daher jezt schwerlich noch phantastische Gestaltungen als in Arabesken, die nicht mehr dieselbe Bedeutung haben, sondern nur ein freies Spiel sind gleichsam vom zufälligen Zusammentreffen von an sich bedeutungslosen Linien. Noch eine andre phantastische Gestaltbildung ist in den Höllenstücken, wo Teufel in mannigfaltigen Gestaltungen sind, rein animalisch aber fern von Wirklichkeit.* Da ist es Belebung eines als allgemeine Vorstellung ausgesprochnen mit traditionellen Formen in der Phantasie, | Ergänzung des uns unbekannten Princips des Bösen. Ebenso kann es phantastische Gestaltungen des Himmelreichs geben, wo dann auch Abhängigkeit vom Mythus. Die freie Gestaltung kann

180

Die bildenden Künste

329

um so mehr über das Wirkliche hinausgehen, als eine Aufgabe besteht, sich außer dem Wirklichen noch ein Gebiet von Vorstellungen zu gestalten, angeregt durch das Bewußtseyn daß früher Vieles vom Wirklichen unbekannt war, und als Ergänzung der Totalität. Da wir freie Productivität und Gestaltung der Natur für identisch erklären, so gibt es also ein Hinausgreifen darüber und erklären es auf gesagte Art. Sonst ist in bildender Kunst nur freie Gestaltung in Einzelnem als Ergänzung des in der Natur wirklichen Einzelnen; dieses das Princip der Begeisterung. Im so begeisterten Künstler ist freie Gestaltung eine fortgehende innre Thätigkeit und was zu gewisser Lebendigkeit kommt in ihm, tritt dann heraus. Dieses Princip theilt sich wieder und ist selten zusammen[,] für die Sculptur ist die menschliche Gestalt der eigentliche Kern, Alles andre nur Zuthat; in Mahlerei läßt sich die ganze Gestaltbildung aufnehmen, und da haben Einzelne überwiegend Richtung auf die menschliche Gestalt, andre auf animalische Natur, andre auf vegetabilische (es ist nur von der einzelnen Gestaltbildung hier die Rede). Hier ist die Region, wo die freie Production der Gestaltbildung wie sie Ergänzung der Natur ist der Quantität, so auch Erfüllung der Natur der Qualität nach, i. e. Ideal. Der Künstler producirt aus dem allgemeinen Schema, abstrahirend von Allem, was im Zusammenhang des Wirklichen hemmend einwirkt; das ist das Ideal. Das ist das eigentliche Kunstgebiet, wo unsre Formel nicht überschritten ist, aber auch keine Begrenzung darin. Nun aber wenn der Künstler wirklich Gegebnes bildet, sei es einzelnes menschliches oder sei es Landschaftsporträt, so ist das ein Zurükziehen der Freiheit um sich anzuschließen an die Wirklichkeit. Wie kommt der Künstler aus sich selbst dazu? Gehen wir auf den Anfang so ist zuerst auffassende Thätigkeit. Der Künstler sieht eine einzelne Gestalt und es entsteht Verlangen, sie abzubilden. Denken wir uns ihn in einem Wettkampf mit der Realität, Tendenz die qualitative Ergänzung der Natur zu sein, i. e. Gestalten zu bilden, wie sie sein würden in der Realität, wenn nichts hemmend einwirkte. Davon nun entfernt sich mehr oder minder die Natur. Nähert sie sich in Einzelnem der Vollkommenheit, so findet sich der Künstler

330

209

Theorie der einzelnen Künste

180 | 181

gleichsam überwunden, da er auch nur Annäherungen produciren kann. So geht beides in einander und natürlich strebt der Künstler dieses Bild zu fixieren, so wie er von seinen innren Gestaltungen auch nur diejenigen äußerlich fixirt, die ihm diese Bedeutung haben. Nun soll seine freie Gestaltung auch quantitative Ergänzung der Realität sein. Z. B. die menschliche Gestalt individualisirt sich in das Unendliche. Die verschiednen Racen* sind stehende, sich wiederholende Typen, als Modification derselben allgemeinen menschlichen Gestalt; in jeder sind wieder mehrere Volkstypen, eins im allgemeinen Racentypus aber unter sich verschieden. So die einzelnen Gestalten unter diesen. Da ist Unendlichkeit von individuellen Bildungen möglich, jene innerlich postuliert, nach der wir immer gewissermaßen unbesonnen thätig sind. Die Gestaltungen, die sich der Künstler innerlich bildet sind also in demselben Werth, das Erscheinende ergänzen aber auch Modificationen einer bestimmten Constitution der menschlichen Gestalt. Mahlt einer einen, dessen Race und Volk niemand erkennen kann, so hebt das die Idee auf. Wollen wir die verschiednen Modificationen auf etwas Allgemeines zurükführen, so sind es nur Verschiedenheiten der Verhältnisse, in gewissen Grenzen, in denen die einzelnen Theile des Menschen unter sich stehen können, ohne eine Mißgestalt zu sein. Eine solche bestimmte Modification kann dem Künstler vor Augen kommen, dem räumt er Werth ein und bildet es als Kunst. Auffaßung und Gestaltbildung schlagen also hier in einander hinüber, ja, wird im Künstler productiv. Wird sich eine solche Darstellung des Künstlers verhalten wie eine Copie? Offenbar nicht, es | muß die ganze freie Productivität des Künstlers doch darin erscheinen. Die Grenze findet sich also. Ein bloßes Abschreiben als Copie hat die Umrisse als das allein eigentlich Gewollte, und die Lichtverhältnisse treten zurück. Und es kann nicht die Rede davon sein, daß die Gestalt da in einem bestimmten Moment gefaßt wird, sondern man will sie so, wie sie immer dieselbe ist. Wogegen der Künstler die Gestalt in irgend einem bestimmten Moment bildet und zwar in einem solchen, worin die Eigenthümlichkeiten der Verhältnisse am klarsten hervortreten, die ihm das Moment der Kunstgestalt war. Landschaft bildet er

181

Die bildenden Künste

331

in bestimmtem Beleuchtungsmoment, ist es nicht gegeben, so schafft er sie. So ist freie Productivität des Künstlers immer mit darin. So haben wir uns die Grenze nach dieser Seite hin begränzt, von Mitte aus die gänzliche Abweichung vom Wirklichen und das Zurückkehren auf das Wirkliche bestimmend, wie weit beides Kunst sei. Umfang der Mahlerei* Was Alles in dieser Beziehung umfaßt dann die Mahlerey? Daß rein phantastische Gestaltbildungen auch nur bezeichnen das Nichterkennen des vollständigen Typus, die Differenz zwischen dem wirklich Aufgenommnen und dem innren Bewußtseyn einer Totalität der Gestaltung, und daß einzelnes Gegebnes kann dargestellt werden aber nicht um seiner Wirklichkeit willen: haben wir gesehen. Erstrekt sich die Mahlerey weiter als über die lebendige Gestaltung? (im wesentlichen Sinn, vegetativ mit) Es bleibt noch übrig die Naturgestaltung des nicht lebendigen was einen frühren Proceß darstellt, und die vom Menschen ausgehende Gestaltung. Das erste erscheint als wesentliches Element der Landschaftsmahlerey, als Gestaltung der Oberfläche. Das zweite finden wir zunächst im Großen in architectonischen Werken, die auch Kunstgegenstände der Mahlerei sind. Also das ganze Gebiet der Gestaltbildung gehört der Mahlerei an und sie kann sich Alles aneignen. Darf nun Alles, was sie sich aneignen kann, Kunstwerk für sich sein, oder einiges nur an einem Andern? Da ist Differenz zwischen einfacher Gestaltung und Composition. Eine einzelne Gestalt kann so gut die Mahlerei geben als Sculptur aber ist sie nicht so gestellt, daß die Totalität der Beleuchtung dabei ist, so ist ein Element zu wenig. So kann die einzelne menschliche Gestalt doch das Hauptwerk sein, aber dieses [Beleuchtungselement] mit. Ein einzelnes Gefäß ist kein Gegenstand für die Kunst und in dem Maaße weniger, als es sich, als Fläche geschaut, der geometrischen Figur nähert. Freilich wenn ein Gefäß ein Kunstwerk ist, so bleibt auch die Abbildung ein Kunstwerk. Sonst nicht. Die architectonische Gestaltung ist sehr stark in der Mahlerei,

210

332

Theorie der einzelnen Künste

181 | 182

so daß architectonische Mahlerey eigentlich einen besondren Zweig bildet, aber freilich nur in sofern als dabei Zeichnung und Lichtverhältnisse in voller Geltung erscheinen können. Je mehr man nur Umrisse sieht, was geometrischen Charakter hat, desto weniger ist es Kunstwerk. Abbildungen von Städten geben nicht das Einzelne sondern die Composition, wobei Lichtverhältnisse, Reflexionen aufgenommen sein können. Vergleicht man das mit Darstellungen, wo das Innre von großen Gebäuden Gegenstand ist, so erscheinen die leztern als vollkommnes Kunstwerk, weil da die beiden Verhältnisse viel mannigfaltiger erscheinen. — Gehen wir vom andren Endpunkt sc. der menschlichen Gestalt aufwärts, so ist eine einzelne Gestalt immer unvollkommen und muß erst einen Apparat bekommen. Wo aber menschliche Gestalten in bestimmten Momenten erscheinen als Mehrheit und in gehörigen Umgebungen: da ist dann das, worin alles andre zusammengefaßt werden kann; da können alle andren untergeordneten Gestaltungen als Theile oder Beiwerk mit erscheinen. Solche Werke sind also die Culmination der Kunst. — Dieses führt noch eine andre Betrachtung herbei. Namentlich wenn wir bei diesem Gebiet stehen bleiben, so ist es die eigentliche Beschreibung der Historienmahlerei, wo gewisse Personen in dem Moment angehörenden Umgebungen sind. Sind sie im Freien, so ist ein Hintergrund nöthig, ein Theil der Umgebung kann auch architectonische Mahlerei sein, und Darstellungen des Terrains und Vegetation im Einzelnen als Vorder | grund, und das Animalische flicht sich von selbst ein. Von dieser Culmination aus erscheint alles andre als partielle Vereinzelung, i. e. alles andre hat Tendenz Theil davon zu sein. Deßwegen sieht man die Historienmahlerei als das Höchste an. Gewöhnlich glaubt man ihr Vorzug sei vielmehr der ethische Gehalt, was unten untersucht wird. Zunächst nur das: Es ist doch denkbar, daß eine Menge von Kunstwerken doch als solche sehr verschiedne Tendenz haben z. B. in den zwei Hauptformen, menschliche Gestalten und Landschaftliches. Ein Gemählde wo die Handlungen der menschlichen Gestalten Hauptgegenstand sind und Landschaft als nothwendige Andeutung bei Seite geschoben, so ist Haupttendenz am

182

Die bildenden Künste

333

Tage. Andre gibt es, wo auch menschliche Gestalten handelnd dargestellt sind, aber das Landschaftliche oder Architectonische tritt schon weit mehr hervor, und da erscheint es also nicht mehr subordinirt, sondern ein Gleichgewicht, woraus folgt, daß die dargestellte Handlung nur ein Theil sei der eigentlichen Idee des Gemähldes. Tritt nun vollends das Landschaftliche hervor, und menschliche Gestalten als handelnd seien zwar da, aber in solchen Dimensionsverhältnissen daß vegetative Formen überwiegend das Auge leiten, und menschliche Gestalt zurücktritt: so ist das Bild eine Landschaft. Die Tendenz, welches der Künstler überwiegend gewollt, muß sich zeigen. Fingire ich ein Gemählde von leztrer Art, die Handlung der menschlichen Gestalten aber kann eine sein, die als Gegenstand eines historischen Bildes gedacht werden kann, ja häufig vorkommt, etwa eine Flucht nach Egypten, wo das Landschaftliche zurük tritt, aber auch Bilder desselben Gegenstands, wo dieses hervortritt und jene Figuren mit ihrer Handlung zufälliges Beiwerk sind. Umgekehrt könnte bei historischen Figuren das Landschaftliche ganz anders sein. Also was der Gattung nach das Höhre ist kann unter das zurücktreten, was der Gattung nach geringer ist. So taxirt man noch den ethischen Gehalt, und ist versucht zu sagen, der Künstler hätte lieber andre Figuren nehmen sollen, weil die bekannte Geschichte nicht in ihrer Dignität erscheine. Der Künstler will das nicht und will aber diesen ethischen Gehalt nicht so hervorheben. Diese ethische Ansicht führt also zu andren Urtheilen als das, welches in der Kunst selbst dominirt. Also ist das ethische Urtheil nicht das wahre. Man kann dieses Urtheil noch weiter schrauben, bis man von ihm aus das Gebiet der Kunst gar nicht mehr ins Auge faßt. Dieser ethische Rigorismus könnte sagen: Weil der Künstler unbeschadet seines eigentlichen Kunstwerks ganz andre Figuren auch hätte hinstellen können, so hätte er diese heiligen Personen nicht wählen sollen, um als untergeordnete sie darzustellen. Der Künstler achtet gar nicht auf solches Urtheil. Damit hängt zusammen daß man als Wesen der Historienmahlerei eben diesen ethischen Gehalt ansieht und die Art, wie der Künstler ihn gefaßt hat. Gehe ich davon aus, so habe ich schon

334

211

212

Theorie der einzelnen Künste

182 | 183

das eigenthümliche Gebiet der Mahlerei verlassen, die Gestalt und [das] Licht erscheinen dann nur als das nothwendige Mittel um einen ethischen Moment zu fixiren, und dieses scheint dann der eigentliche Gegenstand. Vollends falsch glaubt man, die Mahler müßten eigentlich begeistert sein vom Gegenstande. Wie falsch dieses ist, zeigt die That. Es kann einer doch nicht zugleich begeistert sein für das Christliche und [das] Heidnische. Ein Mahler nun wie Garophalo, der auf eigenthümliche Weise die Scenen der heiligen Geschichte mahlte, und dann seinen Bacchus zugleich, da müßte wie jenes aus Begeisterung für das Christliche, so dieses aus Begeisterung für das Heidnische sein.* Beides kann aber nicht zusammen sein und ist also nicht Erklärungsgrund. Ja umgekehrt, wenn ein Künstler sich so beschränkt in Beziehung auf die Gegenstände, so erklärt man es eben für Beschränkung, die in Dürftigkeit des Talents ihren Grund hat. Denn wirft man sich auf eine solche Seite, so ist man in einem gewissen Cyclus von Gestalten beschränkt und es wird nicht die Totalität erscheinen können, sondern das Manirirte wird in seine Darstellungen hineinkommen. Also im Gegentheil[,] der Gegenstand als solcher muß dem Künstler gleichgültig sein, und jeder [hat] recht, an dem die zwei Elemente der Kunst | an einem eigenthümlichen Ganzen erscheinen können. Dasselbe zeigt sich im Großen, daß dasjenige was für sich Mittelpunkt der größten mahlerischen Composition ist, kann zum Untergeordneten gehören. Eine Landschaft ohne alle menschlichen Figuren fällt als mangelhaft auf, obgleich der Landschaft objectiv genommen nichts entgeht. Aber man will, daß in einem Kunstwerk die wesentlichsten objectiven Gegensäze zusammen sein sollen. Daher eine historische Composition ohne alles Landschaftliche und Architectonische ebenso mangelhaft erscheint. Auf unsrer lezten Ausstellung fand man diesen Mangel im Samson von Hübner* und wünschte mehr Hintergrund, das Innre des Tempels und die Menschen darin; das Architectonische ist nun hier aber freilich fragmentarisch und durch den Gegenstand gefordert. Aber die Figur hätte nicht diesen heroischen Charakter, wenn noch der ganze Tempel erscheinen soll. Da vermißt man nicht sowohl die Mannigfaltigkeit im Ganzen, als [man]

183

Die bildenden Künste

335

wünsche eine gewisse Vollständigkeit. Die Begrenzung ist aber durch den Gegenstand aufgegeben. Fehlt aber einer der Gegensäze ohne ein solches Verbot des Gegenstandes, so ist das Bild unvollkommen. Die Frage, ob man einen dieses verbietenden Gegenstand wählen soll, ist anderswo zu beantworten. Die menschliche Gestalt soll also mit erscheinen in Landschaft oder architectonischem Raum, und dann auch in einem ethischen Moment; haben die Figuren kein Centrum, so sind sie völligstes Beiwerk, vereinigt sie irgend ein ethisches Moment, so ist das Beiwerk historisch zusammengefaßt. Gegensaz zwischen Vor- und Hintergrund muß schon sein um der Beleuchtung willen. Von Culmination des Zusammenseins der Totalität geht eine Reihe bis zur Vereinzelung; richtiger faßt man die Reihe umgekehrt. Betrachten wir so diese Reihe, so ist in den zwei äußren Gliedern, in denen jedem das andre Beiwerk ist, der besondre Charakter beider [zu] erkennen. Ebenso wird noch eine andre und dritte Reihe nöthig. Wir sahen, wiefern die Abbildung eines Wirklichen Kunst sein kann; das bezog sich gar nicht allein auf einzelne Gestalten, sondern auch auf Zusammensezungen, Landschaften und historische Bilder. Dieses ist die zweite Reihe vom Einzelnen an bis zu einer den ganzen Umfang der Kunst in sich schließenden Composition. Hier fangen wir von allen Gegenständen gleichzeitig an. Die einzelne wirkliche Gestalt, Portraitfigur, die Kniestük, Brustbild oder eigentliches Portrait sein kann. Kann wohl ebenso eine einzelne Gestalt, die nicht Porträt ist, als Kunstwerk gegeben werden? Niemand macht jezt ein Brustbild von Alexander dem Großen. Ja wenn ihn jemand als ganze Figur darstellen wollte, aber abgesehen von einer Handlung und deren Umgebungen; so kommt das auch nicht vor; vereinzelt erscheint nichts in der Kunst was nicht Abbild ist. Das entgegengesezte. Mahlt Jemand einen einzelnen Baum, so kann das ein Kunstwerk sein, aber derselbe muß in seiner natürlichen Umgebung sein, in seinem Terrain und Atmosphäre, wenn auch weiter nichts. Da fragt man aber nicht so bestimmt, ob der Baum existire, oder ob es die Idee des Baums sey. Erkennt man nun eine bestimmte Gattung daran, so genügt das, und ganz gleichgültig ist,

336

213

Theorie der einzelnen Künste

183 | 184

ob es Abbildung oder Erfindung ist. Da legt man also ein andres Maaß an als bei der menschlichen Gestalt und das kann seinen Grund nur haben im Verhältnis beider zu ihrem Gattungsbegriff. Vom Menschen verlangen wir, weil es höchste Lebensform ist, auch die völligste Individualisirung. Unterscheiden wir z. B. verschiedne Völker so, daß beim einen mir leicht sei, die einzelnen Personen zu unterscheiden, beim andern aber die Einzelnen nicht mit dem allgemeinen Charakter Unterschiede haben: so sehen wir es als sehr bestimmten Unterschied in der Entwicklungsstuffe der beiden Völker, und höher ist das Volk, wo sich die Form des Lebens individualisirt. In untergeordneten Lebensgebieten fordern wir das nicht, und suchen den Grund der Differenz vielmehr in äußren Bedingungen als in innrer Entwicklung. Da fällt dieser Unterschied weg. Bei einem Alexander* frage ich: Woher weißt du, daß er so aussah? Erst wenn er in einem Lebensact dargestellt ist, kann ich die Motive des Mahlers mit der That selbst beurtheilen. | So begrenzt sich die Darstellung des Einzelnen auf verschiedne Weise. Das Einzelne als Wirkliches kann im Gebiet des menschlichen Lebens sogar ein Theil sein, hingegen die ideale Darstellung kann nicht einmahl im ganzen Einzelnen sich geltend machen, sondern im historischen Bild. Auf entgegengeseztem Gebiet fällt die Darstellung zwischen Wirklichem und Idealem völlig weg. Sehen wir aber Blätter an wie für Zeichnungsschulen [gemalt], wo Zweige von verschiednen Baumarten neben einander stehen. Das gilt nie für ein Kunstwerk, sondern kann nur einem bestimmten Zwek dienen, als Studium. So eine Landschaft worin verschiedne Baumgruppen; da soll jeder einen bestimmten Typus darstellen; will ich aber den einzelnen Baum herausnehmen, so kann ich es nicht, weil es eben Charakter der Gruppe ist, daß das Einzelne sich nicht isolire. Würde nun einer aus der Gruppe heraus Einen Baum isoliren, so ist das kein Kunstwerk es wäre innerlich unvollständig, so wie ein bloßer Zweig äußerlich unvollständig. Wo Unterschied zwischen Wirklichkeit und freier Bildung verschwindet, tritt Differenz zwischen Vollständigkeit und Unvollständigkeit desto stärker auf. Dasselbe gilt auf Gebiet der Architectur. —

184

Die bildenden Künste

337

Wir stellen also das Einzelne als äußerstes Glied auf verschiedne Weise und daraus entstehen die größten Compositionen bis zu jener Vollständigkeit. Da fragt sich: Die einzelne Abbildung der menschlichen Gestalt kann z. B. ein Brustbild sein; ist es aber zuläßig ein historisches Bild zu machen, wo alle Figuren nur Brustbilder sind? Das geht nur an unter Voraussezung, daß es Portraits sind. Da kann es Kunstwerk sein, wenn der Moment diese Darstellung zuläßt. So ein Familienbild wo kaum ein Paar ganze Gestalten drinnen wären und doch vollkommne Einheit einer Handlung. Könnte das auch sein, wenn es nicht Porträts wären? Z. B. Scene des Abendmahls läßt sich auch so denken, daß keine ganze Figur darin wäre. Da die Handlung eine solche ist, daß sie nicht zuläßt, daß die Gestalten alle ganz erscheinen, so kann die Differenz von mehr oder weniger nichts dabei machen. Da erweitern sich auch die unvollständigen Darstellungen der menschlichen Gestalt doch zum Kunstwerk in der Zusammensezung, für das Ideale wie für das Wirkliche. Vom Einzelnen aus ist denkbar eine einzelne Handlung die aus zwei Personen besteht, und aus mehrern, aber wo ist die Grenze? Eine Masse in als Einheit übersehbarem Raum, so daß das Einzelne noch unterschieden wird, bleibt Kunstwerk. Soll aber eine Handlung dargestellt werden, die gleichsam eine unendliche Menge Menschen erfordert, Volksversammlung oder Gefecht, so muß der Raum so getheilt werden, daß die Einzelnen so wenig unterscheidbar sind, wie in Landschaft die einzelnen Bäume in Gruppen, ja das Zusammenwirken ist natürlich noch näher. Ein Gemählde das ganz so erfüllt ist, ist schlecht befriedigend, man verlangt eine Haupthandlung dabei, die aus wenigen Personen besteht und diese sollen ganz heraustreten, die Andren nur als zur Handlung mitgehörig den Raum erfüllend. Das fordert man, das Gemählde mag sich zur Wirklichkeit verhalten, wie es will. Aber doch auf verschiedne Art z. B. große Darstellungen von einer militärischen Friedensscene, wo König mit militärischem Gefolge und Masse Soldaten; die Hauptpersonen wären Portraits, sonst wäre es nicht Kunstwerk gewesen. Hätte einer die Soldatenköpfe auch als Portraits ausgegeben, so hätte man ihn ausgelacht, weil da nur die Gruppe

338

Theorie der einzelnen Künste

184 | 185

gelten soll, in Hauptpersonen aber das Einzelne. Menschliche Gestalten, die auf einem Bild nur als Gruppe gelten, sind Beiwerk, nur daß sie zur Vollständigkeit der Handlung mit gehören, was bei Baumgruppen nicht so der Fall ist. Nun haben wir vom Einzelnen aus die Gliederung einer solchen Zusammensezung, Einfache Handlung von wenigen Personen, zusammengesezte Handlungen von größrer [Masse von] Personen, Handlungen, die einen Gegensaz zwischen den die Handlung vollbringenden und den bloß als Gruppe dazu gehörenden [aufweisen]. Wie entsteht nun hier das Beiwerk? In Porträtfiguren ist fast gleichgültig ob der Künstler ihre Umgebung gibt, oder nicht, denn sie ist doch zufällig, weil die Figur in keiner Handlung dargestellt ist, und gibt er ihr eine Umgebung, so ist es nur um bestimmte Lichtverhältnisse hervorzubringen. Je genauer der Zusammenhang der Umgebung mit der Figur, desto zusammengesezter können die Beleuchtungsverhältnisse sein. Das Kunstwerk wird also ein vollständiges, obgleich die Umgebung nicht zur Figur gehört, sondern nur als Vermittlung | für bestimmte Beleuchtungsverhältnisse. Ein Theil der Erfindung will also das Ganze nicht nur als Darstellung der Figur sondern auch der Beleuchtung zum Kunstwerk machen. Je weniger die Umgebungen dieses leisten, z. B. eine Ferne hinter der Figur, desto mehr erscheint sie zufällig für die Figur. Dieses zweite Element der Composition ist wesentlich bedingt durch ein Zusammensein von mehrern Gegenständen. Soll also das Kunstwerk vollkommen sein, so müssen diese darauf erscheinen, und wenn die Figur eine einzelne ist, so müssen die Umgebungen, um Mannigfaltigkeit von Beleuchtungsverhältnissen realisiren zu können, gemacht werden. Handlung aus mehrern Personen, so daß diese unter einander schon eine solche Mannigfaltigkeit hervorbringen, und die Nothwendigkeit von andren Umgebungen verschwindet, ausgenommen insofern noch ein Raum zu erfüllen ist; denn immer muß die ganze Fläche des Bildes wenigstens mit Pigment erfüllt werden, ist noch großer Raum, so eine Aufgabe und da kann nothwendig werden, was unmittelbar für die Hauptfigur es nicht wäre, und so erscheint Landschaftliches oder Architectonisches als Beiwerk für den Gegenstand, für [das]

185

Die bildenden Künste

339

Kunstwerk aber sind sie da, um die Gesamtaufgabe der Mahlerei besser zu erfüllen. Die Localität der Handlung ist darzustellen, weil die Beleuchtungsverhältnisse dadurch different werden; das soll mit der Ursache erkannt werden können, und so viel von Gegenständen außerhalb des eigentlichen Gegenstandes wird immer da sein müssen. Gehen wir von hier wieder zurük auf Differenz zwischen Abbildung und freier Production, wie wir sie stellten als in gleicher Dignität. Hat es nun der Künstler mit bloßer Gestalt zu thun und ist sie Kunstwerk wenn die Beleuchtung mehr oder weniger vernachläßigt ist? Je mehr diese vernachläßigt ist, desto mehr scheint alles was im Werk Kunst ist, nur uneigentliche Kunst und der Zwek des Werks außer der Kunst. Also auch das Portrait ist der zweiten Forderung unterworfen, die Lichtverhältnisse als bestimmte Wahrheit i. e. Mannigfaltigkeit zur Anschauung zu bringen. Nun ist schon die Construction des menschlichen Antlizes, daß die einzelnen Theile aufeinander Schatten und Farben werfen, und so liegt die Aufgabe schon im Gegenstand, muß aber noch auf andre Weise bestimmt werden sc. durch den Grund, auf welchen gemahlt wird, der das Princip der Lichtverhältnisse in sich trägt und die Mannigfaltigkeit der Gegenstände in dieser Beziehung ersezt. Je mehr vom Raum da ist, desto leichter kann man Gegenstände als Beiwerk aufnehmen, was einen größren Theil der menschlichen Gestalt voraussezt; da hat schon das Porträt Beiwerk, so wie es sich der vollständigen Gestalt nähert und da kann es schon die ganze Mannigfaltigkeit von Gegenständen in sich aufnehmen. So wie dieses auch so verschwinden kann, daß nur bleibt anzudeuten die Localität, sofern sie Princip der Beleuchtung ist. Das zeigt den Anspruch den ein Werk haben kann, als Kunstwerk behandelt zu werden. So wie auch die theilweise Darstellung sich die ganze Aufgabe der Kunst stellt, so haben wir auch [ein] Kunstwerk. Eine andre Reihe ist die Differenz in der Vollständigkeit. Anfangs herrscht nur Gestalt vor und Beleuchtung tritt erst allmählig hinzu, doch ist, wo sie nicht als minimum da ist, keine Production der Mahlerei. Das einfachste ist Darstellung der Gestalt in ihren

340

Theorie der einzelnen Künste

185 | 186

Umrissen, Zeichnung. Denke ich hier einen einzelnen Gegenstand, Figur, so kann ich sie vollständig darstellen ohne daß etwas von Lichtverhältnissen da ist. Aber eine menschliche Gestalt so abgebildet erscheint dann nur als eine Vorzeichnung, Studium für das Vorkommen der Figur im zusammengesezten Bilde oder als Statue. Man erkennt es als Kunstwerk. Denke ich aber diese Figur auf einem Terrain, so daß die Wahrheit des Sehens, die Tiefe in der Fläche schon mit angedacht ist, so sind auch schon Beleuchtungsverhältnisse da, die Umrisse für das Terrain treten nicht so hervor wie die der Figur, und es ist schon Perspectivisches. Mit diesem minimum sind beide Elemente der Kunst da, also Anspruch als Kunstwerk zu gelten, obgleich nur als unvollkommnes und Anfang. Darin versiert jeder im Anfang und die Kunst selbst wird zuerst in diesem versiert haben. Das nächste wird nun sein, wenn zu den Umrissen noch die verschiednen Theile der Figuren heller oder dunkler erscheinen je nach dem sie dem Licht zu- oder abgewandt sind, das gibt Licht und Schatten an. Da ist die Wahrheit des Sehens schon in großem Umfang nicht nur im Gegensaz | der Figur und ihres Hintergrundes, sondern [in] ihren Theilen selbst. Aber es ist nicht vollständig, nicht nur weil keine Färbung da ist, sondern weil die Umrisse nicht erscheinen als Theile der Fläche, sondern als für sich, während in der Wahrheit des Sehens die Umrisse nichts sind als diejenigen Theile der Oberfläche die von Umgebung trennen. Bilden sie besondre Linien, so sind sie dargestellt als etwas für sich. Natürliche Täuschung als Wahrheit des Sehens ist different vom Ausgehen auf Täuschung, und jene Bezeichnung der Umrisse durch Linien ist mehr symbolisch als [eine] Wahrheit des Sehens. Doch ist es nicht eine Täuschung auf die man ausgeht, sondern der Beschauer soll gerade von dem abstrahiren, was nicht Wahrheit des Sehens ist. Die nächste höhre Aufgabe von der schattierten Zeichnung aufwärts, wo Schatten und Licht auch durch Striche dargestellt sind, ist, daß diese zwei Willkürlichkeiten aufgehoben werden, i. e. daß die Umrisse nicht als selbstständige Linien, sondern als Theile der Oberfläche erscheinen, und dem gemäß der Gegensaz zwischen hell und dunkel, d. h. die Linie soll ganz verschwinden und nur die sich

186

Die bildenden Künste

341

selbst beschränkende Fläche dargestellt werden, ohne bestimmte Linien. Das ist nun was durch Zeichnung in Sepia, Tusche usw. erreicht wird, durch ein zusammenhängendes flüssiges Pigment, so daß Umrisse nur die Grenze dieser bestimmten Färbung sind, und hell und dunkel durch schwächre und stärkre Wirkung des Pigments. Auch das ist noch nicht Wahrheit des Sehens, denn die Färbung ist völlig willkürlich, man könnte jede beliebige Farbe anwenden, nimmt aber nur solche, die im stärkren Auftrag mehr die bloße Dunkelheit des Schattens darstellt, und keine bestimmte Färbung. Aber Willkür ist immer hier, also Unvollkommenheit in [der] Darstellung. Also fehlt nur noch das lezte, die der Natur angemeßne Färbung, die sich verschieden denken läßt. Denken wir ein Gemählde aus verschiednen Farben, jede für sich wenn auch bei Einer Beleuchtung, so ist es unvollkommen, denn die Gegenstände wirken aufeinander in Färbung und Lichtverhältnis, i. e. Reflexe, und diese im Verschmelzen aller Farben bildet das Helldunkel. Ist jede Farbe für sich, so merkt der gebildete Sinn die Unvollkommenheit. Das sind die verschiednen Stufen vom ersten Anfang bis [zur] vollendeten Nachbildung der Wahrheit des Sehens in freier Productivität. Nachbildung nenne ich es, um die Vollkommenheit in der Darstellung zu bezeichnen; aber es scheint dadurch für dieses Gebiet geltend zu werden, Kunst sei Nachbildung der Natur; aber es ist nicht von Nachbildung die Rede, sondern von vollkommner Gleichheit des innren Sehens mit dem nach Außen, was nicht Nachahmung von Gegenständen ist, sondern Darstellung des Sinns. Vielmehr wäre die Nachbildung der Natur da, wo man von diesem Verhältnis des wahren Sehens abstrahirt. Die Zusammenstellung[,] was rein Werk des Auges ist, mit darzustellen, ist erst Kunst. — Ist nun alles dieses von den ersten Anfängen an doch wirklich Kunst oder liegt das eine Ende noch außerhalb der Kunst? Das gab ich zu, wo in Zeichnung die Beleuchtungsverhältnisse völlig Null sind, aber sie fangen schon an in der Perspective. Stellt man aber die Frage so: Wird wohl, wenn die ganze Kunst vollkommen da ist, ein Künstler noch Zeichnungen auf jener Stufe produciren? Wenn er es thut, thut er es nicht als Kunstwerk,

342

Theorie der einzelnen Künste

186 | 187

sondern entweder als Lehrmittel oder als Vorarbeit; aber die Selbstständigkeit [der Zeichnung] wird aufhören, Kunstwerk sein zu wollen, aber die wird schon sein, sobald die Willkür entfernt wird, Umrisse durch Linien darzustellen und jede Aufhebung einer Willkürlichkeit führt dahin, daß man frühre Formen dann nicht mehr als Vollkommenheit der Kunst ansieht. Anfangen kann ein Mahler mit Linearumrissen, aber nicht außer der Kunst selbst, Scizze entfernt schon die Willkür der Linearumrisse, und Umrisse welche nur Grenze der Fläche seien und schon alle Beleuchtungsverhältnisse, wenn auch nur in einfacher Färbung. Er kann auch Farbscizzen entwerfen. Doch ist das Alles nicht das Kunstwerk selbst. Alle diese Stufen stellen nicht nur verschiedne Perioden der Kunst dar, sondern auch die Stufen durch die sich jedes Kunstwerk von innen heraus entwickelt; ob es an demselben Stoff geschieht, oder in verschiednen Wiederholungen, ist dasselbe. Das Resultat ist nun: Da es das Eigenthümliche der Mahlerei im allgemeinen Begriff der bildenden Kunst war, daß die innerlich gebildete Gestalt sich nun entwickelt zugleich mit ihren Beleuchtungsverhältnissen und wir so diese Kunst als die ganze freie Thätigkeit des Gesichtssinns aufgestellt haben, die nur äußerlich wird durch ein Nachbilden des innerlich Gesehnen: so ist das eigentliche Motiv der Kunst i. e. das wodurch einer künstlerischer Natur ist, als besondres | Motiv, warum er Mahler wird, nur diese wechselseitige Beziehung der Gestalten und des Lichts. — Nun wird ein früher angedeutetes Element, daß sc. das Princip der Mahlerei durchaus nicht in einem Ethos liege i. e. man nicht sagen kann, es wird einer ein Mahler, um gewisse Gegenstände, die das Gemüt auf eine bestimmte Weise bewegen sollen, zur Darstellung zu bringen. Das werde ich, wie hier, auch für alle einzelnen Künste negiren, aber nur um es für alle ins Gesamt geltend zu machen. Aber nie erkläre man daraus das Specifische, daher der Maaßstab für die richtige Schätzung des Künstlers gar nicht darin. Ob der Mahler sehr ernste Gegenstände behandelt, oder solche, die für uns keine Wahrheit haben, wie Mythologie, das hat gar keinen Einfluss auf den Werth des Kunstwerks. Ja

187

Die bildenden Künste

343

wäre ein Kunstwerk auf einen bestimmten Effect dieser Art gearbeitet, so ist sein Werth untergeordnet sei der Effect ein lasciver oder religiöser. Sondern das Wesen ist Darstellung der Gestalt in Lichtverhältnissen, und dadurch nur soll die Erfindung bestimmt werden. Dieses führt auf einen andren Gegenstand, der zwar auf eine bestimmte Gattung der Mahlerei zu gehen scheint, aber die Wahrheit ist eine allgemeine, daher hier zu behandeln. Es finden sich häufig Fälle, ja es überwiegt, daß die Erfindung des Künstlers nicht ganz frei ist, man bestellt bei ihm die Gemählde z. B. eine heilige Familie, oder bestimmte historische Scenen. Erkennt der Künstler den Gegenstand als künstlerische Einheit, so macht er keine Einwendung. Dieser so Bestellende beabsichtigt allerdings eine Wirkung des Gegenstands, die ist aber eben nicht des Künstlers Sache, sondern nur die Kunst an diesem Gegenstand darzustellen, so daß die Einheit und Vollständigkeit der Kunstelemente in Zusammenstellung der Gestalten und Lichtverhältnisse erscheinen. Da ist es gleich, ob er den Gegenstand erfindet, oder bekommt. Die Künstler nun sehen nie den ethischen Gegenstand als das Motiv des Künstlers an, i. e. als den Punkt, worin sich die Einheit des Gemähldes bestimmt, sondern dafür sehen sie solche an, die ein bestimmtes Princip für [das] Zusammensein der Figur und Beleuchtung enthalten. Das ist die eigentlich mahlerische Erfindung, nicht der Gegenstand, daher es gleichgültig ist, ob dieser sein oder eines Andern Werk ist. Von den großen Meistern gibt es Werke, die dem Gegenstand nach keine Einheit enthalten, aber wenn nur Einheit im Zusammensein der zwei Hauptmomente der Mahlerei da ist, so machen sie sich nichts daraus. Bei einer heiligen Familie können die das Gemählde Bestellenden mit abgebildet werden, und dann ist keine Einheit im Gegenstand. So viele Meister behandeln Gegenstände aus dem gemeinen Leben, die keinen moralischen Werth haben. Was ich für jede einzelne Kunst abweise, will ich für die Kunst überhaupt. Die Richtung auf freie Productivität selbst als Thatsache im einzelnen Menschen soll zusammenhängen mit der Einheit des menschlichen Wesens und Lebens und wenn einer lauter

344

Theorie der einzelnen Künste

187 | 188

geringfügige Gegenstände behandelt, so gibt er seiner freien Productivität eine Richtung, daß man eine andre wünschen möchte. Das ist aber die moralische Würdigung der Person[,] nicht der Werke in ihrem Kunstwerth. Wollen wir diese Reihe zusammen in Gruppen sondern, so ist 1.) Historienmahlerei, 2.) Landschaftsmahlerei 3.) Architectonische Mahlerey. Charakterisiren kann man sie dem Gegenstand und auch dem Kunstcharakter nach. In historischer Mahlerei dominiren menschliche Gestalten, in Landschaftsmahlerei Naturgestaltungen, in architectonischer Mahlerei die größren menschlichen Werke. Dem Kunstcharakter nach kann man sie unterscheiden und dann tritt da ihr Verhältnis zu den andren Künsten am meisten vor Augen. Die architectonische Mahlerei hat große Annäherung zum Mechanischen, weil überwiegend in geometrischen Linien und von geometrischen Regeln dominirter Perspective versirend. Landschaftsmahlerei sezt beim Künstler voraus überwiegende Richtung auf die Natur insofern sie in dem, was sich dem Auge darbietet, einen Eindruck hervorbringt. Fragen wir nach dem Eindruck der wirklichen Landschaft so ist Analogie mit musikalischem Eindruck. Es sind Bewegungen des Selbstbewußtseyns nach Ton und Character, die durch diesen Natureindruck hervorgerufen werden. Das ist nicht Widerspruch gegen unsre Behauptung, das Ethische kann nicht Motiv sein, denn der Werth der Landschaft als Kunstwerk bestimmt sich nicht darnach, wie stark und allgemein dieser Eindruck sei, sondern er ist minimal bey ausgezeichneten Werken; und bedeutend ist er, wo Gegensäze in Natur bedeutender hervortreten. | Das eigentlich den Eindruck hervorruft als analoge Bewegung des Selbstbewußtseyns wie in Musik[,] das sind die Lichtverhältnisse. Es muß daher ein bestimmter Charakter durch eine bestimmte Tageszeit dargestellt werden, da des Morgens Beleuchtung anders als Nachmittag, was sich besonders an der Erde heraushebt. Das ist der eigentliche musikalische Charakter der Landschaft. Das Bestimmtre, was aus den Naturgegenständen hervorgeht, ist hingegen jenes Zufällige was häufig als minimum verschwinden kann. Die Differenz des Gegenstandes hat mit Kunstwerk nichts

188

Die bildenden Künste

345

zu thun, wenngleich Künstler sich oft mehr diese oft andre wählen, was mehr ihr Charakter ist, und auf das Selbstbewußtseyn ganz verschieden wirkt; in der Subjectivität des Künstlers ist die Neigung zu diesem oder jenem[,] der Kunstwerth aber ist nur im Grade, in dem die zwei Elemente der Kunst in ihrem Zusammensein zugleich die vollkommne Richtigkeit darstellen. Die historische Mahlerei in ihren größten Werken betrachtet, hat gewisse Verwandtschaft mit dem Mimischen. Man verlangt die Richtigkeit des Mimikers, gegeben ist nichts als die Gestalten selbst, freilich sind solche darunter, die durch traditionelle Charaktere oder willkürliche Attribute sich zu erkennen geben, aber theils ist es dieses[,] nicht beides, theils reicht es nicht hin, um den Moment zu erklären. Das Bild darf eigentlich keine Überschrift haben, sonst ist es mangelhaft, seines Publikums nicht sicher. Es soll aus sich erkannt werden, daher muß in der Bewegung eine solche Beziehung unter den Figuren sein, daß das Wesentliche der Handlung daraus erkannt wird. Ist der bildende Künstler überhaupt immer in Gestaltbildung, so ist der Historienmahler in Erzeugung menschlicher Gestalten, um den Typus des Menschen in allen verschiednen Modificationen zu realisiren; aber indem das durch Zusammenstellung geschehen soll, so muß [sich] in ihm auch die Beweglichkeit der menschlichen Gestalt im Verhältnis zu den geistigen Impulsen ausbilden. Das kann nur ausgehen von Beobachtung. So müssen sich ihm die Gestalten erzeugen in Beziehung auf die ethischen Verschiedenheiten. Das ist nun nicht so, daß nur große oder würdige ethische Momente sich so in ihm gestalten sollen, das ist gleich, sondern vielmehr soll das Menschliche in seiner Totalität sich in ihm entwickeln. Und es kann nicht fehlen, daß wenn eine Einseitigkeit des Künstlers in dieser Beziehung ist, sich dasselbe durch eine Trockenheit manifestirt. — In den Künstlern selbst finden wir zweifache Richtung[,] in einigen Richtung nach der Universalität, in Andern Richtung nach dem Specialisiren. Es gibt sc. Mahler, die in allen Gattungen arbeiten successiv oder zugleich, Andre halten sich nur an Eine Gattung und dann gewöhnlich nur in einem besondren Gebiet derselben. Vergleichen wir diese, so sind wir geneigt zu urtheilen, daß die

346

Theorie der einzelnen Künste

188 | 189

Richtung auf das Specialisiren mit größrer technischer Virtuosität verbunden sein soll, wenn sie sich rechtfertigen soll, und daß Richtung auf Universalität sich nur rechtfertigt durch Reichthum an geistreicher Erfindung in allen diesen Gebieten. Denkte man sich es so, daß das eine das andre begrenzt, i. e. das Erfinden ist nichts andres, als dieselbe innre Production in Gestaltbildung[,] innres Sehen von innerlich erzeugten Gestalten, von denen die der Idee der Kunst gemäßen so beharrlich werden, daß sie heraustreten wollen; und das Bewußtseyn dieser Überzeugung, wenn es sich fixirt, ist der eigentliche Conceptionspunkt. Je mannigfaltiger nun die Arbeiten sind, desto mehr sezen sie eine solche innre Production voraus, aber die äußre Thätigkeit in Ausführung wenn sie Virtuosität werden soll, sezt allerdings sehr große Übung, und diese sehr großen Zeitaufwand voraus; aber die Beschäftigung des Künstlers mit äußren Darstellungen ist eine ihn so dominirende, daß während derselben schwerlich innre Productionen entstehen, die zu Lebendigkeit kommen, wenngleich freilich diese lange Beschäftigung diese wiederum befruchten; aber je mehr Zeit auf die äußre Darstellung, den secundären Act verwendet [wird] und Thätigkeit, desto mehr muß die Erfindungskraft zurüktreten und beides begrenzt sich. Je mehr nun einer in verschiednen Gattungen erfindet: desto mehr ist in allen diesen eine mannigfaltige Production vorangegangen als natürliche Vorübung, aber desto weniger Zeit fand sich für äußre Darstellung. Darum machen wir uns gleich gefaßt, einem so in verschiednen Gattungen arbeitenden Künstler etwas nachzusehen in der | Virtuosität; aber das nur, wenn die Erfindung geistvoll ist. — Gehen wir hiervon aus und betrachten die äußre Darstellung als bloßen secundären Act: so sagt man leicht auch, es wäre wünschenswerth, daß der Künstler um recht im Erfinden zu bleiben, jenen secundären Act Andren überlassen könne. Das sahen wir in Sculptur und postulirten es in Architectur. Wie steht es da um die Mahlerei? Etwas Ähnliches kann man zugeben. Der Künstler entwirft die Umrisse, i. e. Gestalten und von Lichtverhältnissen was Perspective ist, aber als Andeutung, dann scizzire er die Farbe und Beleuchtungsverhältnisse und gibt die Stärke davon an, überlasse die Ausführung

189

Die bildenden Künste

347

einem Andern; zulezt aber macht er die Vollendung als Harmonie. Zu diesem leztren gehört die Virtuosität ebenfalls, denn zu Ende sieht man die Hülfsarbeiter nicht, sondern den lezten Pinsel und den muß die Hand des Meisters führen. Die Virtuosität muß er also haben, braucht aber nicht die ganze Zeit auf die Succession der Arbeit zu wenden. Das finden wir in der Geschichte der Mahlerei*; nun ist von Sculptur die Differenz, daß in dieser die Hülfsarbeit mechanisch ist, in Mahlerei aber immer schon eine künstlerische, daher es da die Schüler sind, die so sich übend dem Meister Zeit sparen. Daher die große Production vieler Meister, daß [es] unmöglich wäre, daß alles, was als das ihrige geschichtlich beurkundet ist, ihr Werk wäre, wenn nicht durch solches Zusammenwirken entstanden. Die historische Mahlerei im ganzen Umfang betrachtet umfaßt auch das Portrait und was man heutzutage die Genremahlerei nennt. Diese in Differenz von historischer Mahlerei ist etwas willkürlich. Man denkt, ein historisches Bild ist ein bestimmter Moment, geschichtlich oder poetisch, aber als bestimmter Moment seinen Ort habend. Genremahlerei ist Darstellung einer allgemeinen Handlung in unbestimmtem Fall. Z. B. Bilder von der Schlacht des Constantin*, das ist ein Moment, Thatsache. Ebenso kann Schlacht aus einem Gedicht dargestellt werden, und hat ihren Moment dann in diesem. Nun aber kann ein Bild nur überhaupt ein Gefecht sein wollen, nicht ein bestimmtes, stellt nur im Allgemeinen diese Verhältnisse dar. Ist das eine bestimmte Unterscheidung? Nein, denn die bestimmte Thatsache ist nie so bestimmt beschrieben, daß nicht der Mahler sie auf sehr verschiedne Art darstellen könnte, also Darstellung zum Dargestellten doch wie das Einzelne zu einem Allgemeinen. Die Aufgabe ist freilich eine etwas bestimmtre[,] aber beim Genrebild doch auch; denn wie kann man ein Gefecht darstellen, ohne zugleich [zu bestimmen,] welchem Zeitalter und [welcher] Nation [es angehört]. Der Unterschied erscheint also nur als gradueller. Dennoch gibt es wenig Fälle, wo man nicht gleich unterscheidet, ob es historisches Bild sein soll oder Genrebild, aber doch gibt es solche Fälle. Darstellungen poetischer Momente können so gehalten

214

215

348

216

Theorie der einzelnen Künste

189 | 190

sein, daß der Eine darin den bestimmten poetischen Moment sieht, der andre ein allgemeines. Das Lessingsche Bild von Bürgers Lenore* ist poetisch bestimmter Moment. Wer das wußte, sah es darin, wer es nicht wußte, konnte es für Genrebild halten. Auf Seite der Landschaftsmahlerei ist noch weniger möglich bestimmte geographische Momente von bloßer allgemeiner Landschaft zu trennen, derselbe Punkt kann auf verschiedne Arten gefaßt werden und frei erdachte Landschaft wäre ja allgemeiner geographischer Punkt an unbestimmtem Beispiel. Diese Differenz macht Niemand, da sich der Gegensaz nur auf der einen Seite geltend macht, so ist er nicht wesentlich. Ein andres ist zu betrachten, eine Frage, die nicht sehr erheblich scheint und schon fand sich Gelegenheit zum Gegentheil. Die Dimensionen sc. die bei Architectur zur Sprache kamen, wo Einige das Gothische verwarfen, weil es nur durch Dimensionen wirke. Hier aber ist allgemeine Bemerkung, daß nie ein Genrebild sich zu solchen Dimensionen erhebt, wie ein historisches Bild. Darin will ich nicht ihr Wesen setzen, aber fragt man empirisch, ob sie, seit sie bestehen je die großen Dimensionen an sich hatten, so muß man es verneinen. Dahinter liegt: Die Bestimmtheit eines Gemähldes hängt mit seinen Dimensionen zusammen: [ein] Gemählde das im öffentlichen Leben | bestimmt ist, muß große Dimensionen haben, weil es von Vielen zugleich, d. h. aus Entfernung soll aufgefaßt werden. Für diese Bestimmtheit ist der historische Moment das einzig Postulierte, Alles andre wäre von untergeordneter Bedeutsamkeit, Vergangenheit in Gegenwart hineintragend. Das Genrebild kann nie eine Bestimmtheit für das öffentliche Leben haben, weil nicht Darstellung eines bestimmten Moments: Dieser Unterschied hat auf die Dimensionen Einfluß nur nach Einer Seite hin. Im religiösen Leben kann man nicht unterscheiden zwischen öffentlichem und häuslichem Gottesdienst in Beziehung auf Kunst, aber die Räume sind different, und im Verhältnis des Gebäudes müssen auch die Gemählde sein. Ja auch der Einzelne kann solche Kunstwerke auf sich beziehen als Glied der Gesellschaft, aber dann sollen sie im Verhältnis sein zu den Räumen, über die er gebietet. Also historische Gemählde

190

Die bildenden Künste

349

sind in allen Dimensionen möglich. Hingegen ein Genrebild von großen Dimensionen in öffentlichen Räumen wäre unpassend, diese sollen mit Bestimmtrem erfüllt sein. Beides zusammenfassend haben wir Charakteristisches, Genrebild ist Darstellung einer menschlichen Handlung ohne bestimmten Moment. Damit hängt eben so wesentlich zusammen: Ein historisches Gemählde kann nur bestehen aus den wenigen Figuren, die die Handlung bilden. Nun gibt es Handlungen, die noch eine Menge Andrer zulassen, doch als Hintergrund. Im ersten Fall müssen die Hauptfiguren das Gemählde ausfüllen bis auf das, was für es Beiwerk ist; höbe sich dieses heraus, so träte das Geschichtliche zurük. Im zweiten Fall muß das Gemählde weit größren Umfang haben, und es entsteht bestimmter Gegensaz zwischen Hauptfiguren und der Masse. Nie ist eine Menge Menschen in historischem Gemählde, ohne daß sie in diesem Gegensaz wären. Die darzustellenden Motive sind immer nur in Wenigen und die Masse durch diese in Bewegung versezt, also die Stärke des Motivs bezeichnend. Denke ich ein Genrebild z. B. das ein Gefecht darstellt, so kann das in Form eines allgemeines Genres, aus lauter einzelnen Gruppen [bestehen,] wenn der Gegensaz zwischen Vor-, Mittel- und Hintergrund nothwendig wird. Einige können bestimmter hervortreten, aber das ist nur Scheidung des Vor- und Hintergrunds. Treten hingegen einige Figuren zu einer bestimmten Handlung heraus vor den Andren, so ist man gleich versucht es für einen bestimmten Moment zu halten und [zu] fragen: Wer sollen jene sein? Dasselbe ist in allen Fällen und es gehört zum Charakter dieser Gattung, daß der Gegensaz zwischen Haupt- und Nebenpersonen da mehr zurüktritt, weil er sonst den Beschauer nur mißleiten würde. Weil sie nur bloße Beziehung auf das Privatleben haben, so tragen sie auch nicht die großen Dimensionen an sich. Das Genrebild ist von Anfang [an] auf das Privatleben berechnet, versiert wesentlich in Darstellungen menschlicher Gestalten; und nun sehen wir, warum dieser Gegensaz nicht ist in Landschaftsmahlerei, weil diese sc. ihre Beziehung nicht hat auf das öffentliche Leben, da sie nicht Handlungen darstellt, und Differenz der Behandlung gar nicht solchen Gegensaz hervorbringt.

350

217

Theorie der einzelnen Künste

190 | 191

Materiell angesehen kann man eine ähnliche Differenz finden, aber nie so hervorgehoben, weil der Gegenstand keine Beziehung auf den Gegensaz öffentliches und privates Leben hat. Das leitet zu noch zwei verschiednen Betrachtungen über die Mahlerei überhaupt 1.) Frage über [das] Verhältnis der Dimensionen zum eigentlichen Gebiet der Kunst, 2.) [die Frage] nach dem Verhältnis der beiden Style, dem gebundnen und strengen und dem mehr leichten und geselligen welche wir in andren Künsten fanden, für die Mahlerei. Das erste betreffend sahen wir gleich beim Übergang von Architectur zur bildenden Kunst kam vor, daß das Colossale in der bildenden Kunst die natürlichen Verhältnisse der Dimensionen verschiebt, also mit geändertem Maaßstab das Werk nicht mehr dasselbe wäre. Diese Dimensionen schlossen wir von der Kunst aus. So ist es mit dem entgegengesezten im grünen Gewölbe in Dresden[, ein] Kirschkern mit weiß Gott wie vielen menschlichen Gesichtern*. Das ist bloß ein Kunststück, kein Kunstwerk; ist Epideixis einer mechanischen Vollkommenheit, dieselben Bewegungen mit der Hand, die es größer bilden würden, in demselben Verhältnis im kleinen durchzuführen, menschliche Hand ist wie ein accurater Storchenschnabel. Das ist ein entgegengesezter Punkt. | Wie wir das Colossale ausschließen, wo Verschiebung der Verhältnisse der Schwäche des Sinns zu Hülfe kommt, so schließen wir dieses unendlich kleine aus. Gesezt ein so unendlich kleines sei etwas eignes auch als Werk, z. B. jene Gesichter nicht etwa Copien, sondern ordentlich ausgeführt sehr gute Kunstwerke wären, so ändert das unser Urtheil nicht, sondern es ist Thorheit, daß der Verfertiger die Richtung der Kunst unterordnete einer mechanischen Epideixis. Wie weit geht aber dieses? Die Grenze scheint sich zu verwaschen. Wo das eigentliche Kunstgebieth von beiden Extremen aus angehe, scheint unbestimmbar und somit auch die Endpunkte selbst. Es gibt nun eine Miniaturmahlerei, allerdings eine eigne technische Form, aber ist wesentlich an ein gewisses Minimum von Dimensionen gebunden. Aus der Kunst ausschließen kann man sie nicht, aber es ist ein Grenzgebiet, und Werke derselben Gattung können als

191

Die bildenden Künste

351

Kunstwerk, andre aber nicht anerkannt werden. So wie sc. Totaleindruck mechanische Epideixis ist, ist es kein Kunstwerk, wohl aber wo es Eindruck der Kunst ist. In der Sculptur ist ein Gebiet, das man sich nicht scheut in [das Gebiet der] Kunst zu stellen, sc. die geschnittnen Steine*, durch Bestimmung an kleinen Umfang gebunden, dem Werk, [das] vergrößert gedacht doch durchaus KunstWerth hätte, daher man sagt, bloße Verkleinerung thut dem Werth keinen Eintrag. Dasselbe ist von der Mahlerei zu sagen, aber die Kleinheit des Maaßstabs muß auch aufgegeben sein von einem bestimmten Grund. Die Scheidung geht also durch ein Grenzgebiet, und wird individuell. Gehen wir vom Colossalen aus, so ist nicht Alles, was den natürlichen Maaßstab überschreitet außerhalb der Kunst, aber auch Vieles was sogar hinter dem natürlichen Maaßstab bleibt, kann außer der Kunst fallen. Denkt man Giganten gemahlt, so müssen sie weit über den natürlichen Maaßstab hinaus, wenn die Alteration der Verhältnisse eintreten müßte, was nicht der Fall ist, wo das Werk sich auf Einmahl übersehen läßt. Das Landschaftliche in Decoration aber geht auf Täuschung aus oder vermeidet sie doch nicht und fällt deswegen außerhalb [der] Kunst. Von dieser Grenze abstrahirend finden wir bedeutenden Einfluss der Dimensionen auf den Eindruk eines Kunstwerks. Ist er vollkommen erklärt dadurch, daß was auf das öffentliche Leben berechnet ist, Dimension haben muß, die von Vielen und aus Ferne betrachtet werden kann; und hier wieder daß Alles, was kleinre Dimension hat, schon deswegen, weil es nicht auf das öffentliche Leben geht, andren Eindruck macht. Heben wir in Gedanken alle andren Differenzen auf und denken nur diese eine z. B. Gemählde der heiligen Geschichte, wie es Altarbild sein kann, und dasselbe im kleinen Maaßstab als Cabinetsstück. Das leztre ist gar nicht weniger ein Kunstwerk. Dennoch ist verschiedner Eindruck; aber ist diese Differenz im Kunsteindruck oder in etwas andrem? Offenbar von etwas Hinzugekommnen her, gerade vom Bewußtseyn der verschiednen Bestimmung; da ich mit dem großen Bild nun zugleich die Wirksamkeit denke, so daß mein Eindruck andre Dimension bekommt, was den eigentlichen Kunsteindruck nichts

218

352

219

220

Theorie der einzelnen Künste

191 | 192

angeht. Denken wir die Kunstdimension in einer gewissen Mitte, oder den Gegenstand so, daß er seiner Natur nach nicht Stelle im öffentlichen Leben haben kann, so verschwindet gleich der Gegensaz[,] wir sind nicht aufgefordert das eine oder andre zu denken, aber der Kunsteindruck bleibt derselbe und von da aus sieht man wie auf beiden Seiten hier die andren Elemente erst dazukommen, je nachdem ihre Bestimmung hervortritt. [Denke ich ein] Heiliges Gemählde von solch mittiger Dimension, so abstrahire ich vom Gegensaz und es ist bloß der Kunsteindruck. Jedes Hinzukommende gehört also nicht zum unmittelbaren Kunsteindruck. Denke ich Darstellungen der Juden in babylonischer Gefangenschaft (auf Ausstellung), so ist es historisches Bild, obgleich [es] nur einen bestimmten historischen Zustand nicht Moment und bestimmten Fall vorstellt, sondern Zustand an einem einzelnen Beispiel.* Der Gegenstand ist ein solcher, daß er nicht in öffentlichen religiösen Gebäuden sein will in christlichen Kirchen. Da tritt also kein Gegensaz der Bestimmung mit ins Urtheil, es ist unabhängig vom Einfluss der Dimensionen. Die Dimensionen[,] abgesehen von zwei Endpunkten die außer die Kunst fallen, machen allerdings einen Eindruck aber nicht den Kunsteindruck. | Die Differenz der Dimensionen hängt mit der Bestimmung zusammen, und wenn das Kunstwerk wesentlich verändert wird durch Veränderung der Dimensionen: so [ist es] außer der Kunst, [wie] das Colossale und unendlich Kleine. Aber auch wenn man gewisse Stücke der Niederländischen Mahlerei* betrachtet, so sind sie oft so, daß das unendlich kleine z. B. Haare so genau dargestellt sind, daß man es nur durch eine Lupe ganz faßt, aber dann sieht man das Ganze nicht. Auch das liegt außer den Grenzen der Kunst. Solche Werke behalten im Übrigen KunstWerth, aber diese Bestandtheile sind als Kunstwerk verloren. Es ist also in Mahlerei allerdings eine mechanische Virtuosität, Führung des Pinsels, Farben, alles technische ist zum Theil mechanische Virtuosität. Diese gehört also zur äußren Darstellung also dem secundären Act nothwendig. Ist sie mangelhaft, so tadelt man das Kunstwerk, wenn auch alles sonst trefflich wäre. Also muß sie da sein, aber

192

Die bildenden Künste

353

sich ganz und gar der Kunstbetrachtung unterordnen; wie sie für sich hervortreten will, artet es in Epideixis aus und das ist nicht aus dem reinen Kunstprincip. — Zweitens ist festzuhalten, daß der Eindruck den Gemählde machen vermöge verschiedner Dimensionen allerdings verschieden ist, dieses aber nicht der eigentliche Kunsteindruck ist. Gemählde die ursprünglich durch [ihre] Dimension für Privatleben sind, heißt man Cabinetsstücke, von größrer Dimension sind die, welche Bestimmung für öffentliche Gebäude haben, Galeriestücke nennt man sie nicht richtig, da kein Gemählde auf eine Sammlung hin gemacht ist. Man kann nicht sagen, es sei einer daher ein größrer Meister, weil er nur im größren Maaßstab gearbeitet, sondern davon ist der KunstWerth unabhängig, und [es] ist immer die Vollkommenheit mit welcher die zwei Elemente der Mahlerei zu einem Ganzen vereinigt sind. Sehen wir wie gewöhnlich bei uns noch über solche Kunstwerke geurtheilt wird, so ist zu unterscheiden Historienmahlerei, und Landschaftsmahlerei. Bei jener läßt man sich überwiegend durch den Gegenstand bestimmen, also die Richtung der Auswahl aus der innren Gestaltbildung für äußre Darstellung, wobei man ein ethisches Motiv unterlegt. Dieses ist dem Künstler eigentlich fremd. Das zweite ist dann dieses, daß man den Ausdruck der Gestalten vorzüglich als Gegenstand der Beurtheilung ansieht. Das ist wieder nicht das eigentlich Mahlerische, sondern das Mimische, das dem Künstler nothwendig ist, insofern er Historienmahler ist. Das erste verirrt sich also in ein ethisches, das zweite in das mimische Gebiet. Es kann ein Künstler den Ausdruck auf gewisse Weise verfehlt haben, und der Tadel gerecht sein, aber er trifft den Mimiker in dem Mahler, einer construirt sich nicht richtig, wie die Gemüthszustände sich in Stellung und Bewegung ausdrücken. Verfehlt er es bis auf einen gewissen Grad, so kann er freilich nicht Historienmahler sein, aber in hohem Grade Mahler, der sich in der Gattung vergriff. Das erste betreffend ist zu bedenken, daß der Mahler, besonders Historienmahler in Wahl seiner Gegenstände selten frei ist, sie selten ganz sein eignes Werk sind. Wäre das der Fall, so hätten diese Kunstwerke gar keinen andren Zusammenhang als innerhalb der Kunst also für

354

221

222

Theorie der einzelnen Künste

192 | 193

Gallerien bestimmt. In einem gewissen Sinn ist Göthes Wort wahr (aber nicht allgemein leitend), „daß jedes Kunstwerk (in bildender Kunst) immer die Verzierung eines bestimmten Raumes sein müsse.“* Wahr ist etwas daran. Ein Bildhauer wird mit seiner Statue nicht ganz gleich verfahren, wenn er weiß, sie soll frei stehen, oder in einer Nische; und wer ein Kunstwerk sich verschafft bestimmt dann, wie es besser sei es aufzustellen. So ist auch jedes Gemählde in einem gewissen Verhältnis zu denken zu einem bestimmten Raum. Aber das liegt nicht unmittelbar im Gebiet der Kunst sondern wie möglicher Weise die Kunstwerke entstehen. — Der Künstler, der Mahler sein will, soll beständig ein begleitendes Bewußtseyn der innren Gestaltbildung sein in Beziehung auf Beleuchtungsverhältnisse. Diese innre Thätigkeit hat sehr verschiedne Grade, und nur wenn es zu einer gewissen Klarheit und Bestimmtheit kommt, entsteht Reiz es darzustellen. Ist der Künstler in günstiger Lage, so | entstehen ihm so viele Momente, daß er nicht alle ausführen kann, aber doch scizziren, und so entsteht Sammlung innrer Productionen zu künstlerischer Bearbeitung. Sind ihm alle gleich Werth, so kann er nicht alle gleich sehr ausführen. Er findet daher einen Bestimmungsgrund zu seiner Wahl aus Anreizungen, die ihm kommen aus dem öffentlichen Leben und Privatgeselligkeit, das Urtheil seiner Freunde z. B. Die Kunst ist zum öffentlichen Leben in verschiednen Zeiten in verschiednen Verhältnissen. Es gibt Übergewicht der Impulse von der einen oder andern Seite. Weitre, wo im öffentlichen Leben Drang ist nach Kunst, und sie sehr begehrt, ganz, oder einzelne Zweige. So haben alle Künste ihre Periode, wo sie das öffentliche Leben dominiren. Aus dieser allgemeinen Richtung auf die Kunst entstehen dem Künstler Impulse zur Wahl, aber in jenem sind die Gegenstände schon auf gewisse Weise bestimmt, und im öffentlichen Leben ist die Kunst nie so rein wie im Künstler, sondern immer in Verbindung mit den vorherrschenden ethischen Momenten. In den Zeiten des Wiedererstehens dieser Kunst in Italien und Deutschland, herrschte das religiöse Element sehr vor.* Also entstanden religiöse Forderungen an die Kunst. Ist es natürlich daß die Künstler in denselben Verhältnissen religiös

193

Die bildenden Künste

355

waren, als sie religiöse Gegenstände bearbeiteten? Offenbar nicht, sondern diese innre Productivität wurde mit bestimmt durch das Gesamtleben, und die Impulse kamen auch von Außen zu solchen Werken. Werden überwiegend religiöse Gegenstände verlangt, so wirft sich von selbst der Künstler in seiner freien Productivität auf dieses Gebiet, in dem er sonst nichts wirkte und nichts war für das öffentliche Leben. Das ethische Moment liegt also nicht im Künstler sondern in der Zeit und [im] öffentlichen Leben und ist eben deßwegen ganz etwas andres als das KunstUrtheil. Das ginge auf entgegengesezter Seite ebenso; daher das Urtheil über Gegenstände und das Urtheil über das Mimische vom eigentlichen Kunsturtheile gesondert werden muß. Sehen wir auf die andre Seite, die Landschaftsmahlerei, so ist da die Kunst viel freier von andren mitwirkenden Motiven; denn da ist kein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Ethischen, Geschichtlichen. Aber eben deßwegen steht die Landschaftsmahlerei gar nicht in demselben Verhältnis zum öffentlichen Leben, sondern ist da nur Nebensache, und von da aus betrachtet ist Landschaftsmahlerei nur Studium für Geschichtsmahlerei; aber das ist einseitiges Urtheil, da die Kunst so sehr mit Natur als [mit] dem Ethischen zusammenhängt. Betrachten wir Landschaftsmahlerei auch im Verhältnis zur Natur so ist da auch eine große Abstuffung auch in Beziehung auf einen ethischen Eindruck der aber nichts mit dem öffentlichen Leben zu thun hat. D. h. die Landschaftsmahlerei hat quasi einen musicalischen Charakter. Indem sie die Natur vergegenwärtigt regt sie die Beziehung des Menschen auf die Natur in ihm auf, und sezt ihn in die Stimmung wie er sie in solcher Naturumgebung hätte. Das Zusammensein des Menschen mit der Natur wenn es von gebundner Thätigkeit befreit ist, ist immer eine gewisse Einladung zum freien innren Spiel seines Bewußtseyns indem er einerseits sich dem Eindruck hingibt und auffaßt, und andrerseits dieses solche innren Veränderungen in ihm erregen die dem Eindruck angemessen sind. Dieses ist bestimmt durch das Verhältnis der Naturgegenstände unter sich, und derselben zu dem Menschen. Komme ich von ruhigem Orte der Natur aus in sehr angebaute Gegend, so bekomme ich

356

223

Theorie der einzelnen Künste

193 | 194

Eindruck der Herrschaft des Menschen, und Verschönerung der Natur durch Abspiegelung des Geistes darin. Bin ich umgeben von Gegenständen über die die Gewalt des Menschen noch so gut als Null ist: so ist das Eindruck von der Gewalt der Natur über den Menschen. Beides gibt einen entgegengesezten Ton für die freien innren Bewegungen die von solchen Zuständen ausgehen. Ebenso im Verhältnis der verschiednen Theile der Natur unter sich ist Zusammenstimmung oder Streit und beides bringt entgegengesezten Ton hervor; Sturm oder heitrer Himmel und diese im Aufleben oder Sich zur Ruhe legen der Natur. Das sind die ethischen Differenzen, aber nicht der eigentliche Kunstwerth. Gemählde von diesem oder jenem Ton können ganz denselben Werth haben. Wohl kann ein Künstler sich mehr zum einen wenden, aber nicht ganz rein als seine That, wiewohl er hier freier ist, da diese Verhältnisse nicht so durch das öffentliche Leben bestimmt | werden; sondern für Gemählde jeder Art wird er seine Liebhaber finden. Viel natürlicher ist es, daß dem Künstler bestimmtre Aufgaben entstehen in Historienmahlerei als in Landschaftsmahlerei, wo freie Wahl mehr bloß dem Künstler zufällt. Der eigentliche KunstWerth hängt also nur ab von der Wahrheit, mit der der Künstler die Naturgestaltung auffaßt und darstellt, und von Richtigkeit der Beleuchtungsverhältnisse; aber seine individuelle Richtung geht mehr auf diese als jene Seite, was rein qualitative Differenz ist. Wenn wir von diesen zwei Hauptpunkten aus die Nebenzweige in dieser Beziehung betrachten so ist das Schwierigste die richtige Auffaßung des Porträts.* Die freie Productivität soll den reinen Typus der Gestalt darstellen, wie er in Natur erscheinen kann, insofern keine Hemmungen da sind. Das ist unendliche Mannigfaltigkeit; da jeder Mensch z. B. eine Eigenthümlichkeit der Gestalt sein soll, aber seine Wirklichkeit ist immer in einer Mitte zwischen seinem Ideal und seiner Carricatur, aber auch abgesehen von der Verbildung kommt das Ideal selbst nicht ganz zur Wirklichkeit. So kann der Künstler doch das Wirkliche gestalten, insofern es seinem Ideal in gewissem Grad zu entsprechen scheint. Nun entstehen die wenigsten Portraits aus Impuls des Künstlers selbst,

194

Die bildenden Künste

357

sondern dieser wird ihm gegeben, und sehr bedeutender Theil der größten Künstler haben in dieser Gattung gearbeitet. Wir müssen zu jenem Allgemeinen noch ein Besondres fügen, um klar zu sehen, wie dieses Kunst sein kann. Da ist nun das eine: die Aufgabe des Künstlers [in Beziehung] auf wirkliche menschliche Gestalten ist, das Ideale in ihnen herauszufinden, und andrerseits alles was Verbildung ist, mit der Kraft des innren Auges wegzusehen. Das ist die Aufgabe desjenigen ganz im Allgemeinen der wirkliche menschliche Gestalten darstellt. Nun aber wenn ein Künstler vorzüglich sich auf das Portrait legt, ist Aufgabe: diese Aufgabe so zu lösen, daß doch das Wirkliche bleibt, i. e. Bild einerseits ähnlich, andrerseits idealisirt ist. Das ist der KunstWerth des Portraits, aber nur die eine Seite. Die andre Seite bezieht sich auf die Lichtverhältnisse. Das Portrait ist hier eine sehr beschränkte Gattung, weil es die Figuren isolirt. Das einfachste ist, daß die Gestalt nur mit ihrem Hintergrund zusammen ist; mannigfaltiger, wo die Umgebung mannigfaltig ist. Es gibt da Annäherung an Grenze der Kunst. Es gibt eine geringre Gattung wo das Interesse an den persönlichen Verhältnissen überwiegt, wo dann eine Masse von Producten entsteht, die an Grenze ist, weil Viele nur abschreiben, und weil es nur im Interesse der Erinnerung ist, für die die Ähnlichkeit genügt. Solche Grenzen finden sich in allen andren Gebieten auch. Die Landschaft nähert sich den Umrissen, die bloß abschreiben. So gibt es eine untergeordnete Gattung, das sogenannte Stillleben, Darstellungen lebloser Gegenstände, theils herabsteigend von architectonischen, theils mit Thiermahlerei als Darstellung vegetabilisch. Da findet eine Dimension nicht statt, die das öffentliche Leben in sich schlöße; und es dominirt mechanische Virtuosität. So finden wir die Kunst umgeben von einem großen Gebiet zweideutiger Art. In allen diesen Productionen sind einerseits Richtung nach Gelegenheitswerk, andrerseits immer ein Studium enthalten, weil in mechanischer Virtuosität immer Aufgaben liegen für Richtigkeit der Zeichnung und Lichtverhältnisse und richtige Handhabung der Instrumente und des Materials. So findet man natürlich, wie sich die Virtuosität in das Gebiet der Kunst theile, und beim einen dieses, beim andren das andre

358

224

225

Theorie der einzelnen Künste

194 | 195

Element überwiegt. Ist ein Mahler überwiegend Virtuos im Colorit, aber in Zeichnung auszusezen, ein andrer in diesem Meister, aber weniger in jenem, so sind das die verschiednen Richtungen nach den beiden Hauptmomenten. Das Colorit gehört nicht bloß zur Beleuchtung sondern ist im Lebendigen das Product des Lebens selbst im Gebiet des Lichtes. Da ist Differenz zwischen dem, was dem Gegenstand eigen ist, sei es ganz oder in bestimmten Momenten, und dem, was der Zusammenstellung angehört. Dasselbe findet für die Zeichnung statt, wo es etwas gibt, das dem Zusammensein angehört, was gar nicht gleich ist der Darstellung eines einzelnen. Auch da ist dieselbe Differenz begründet. So sieht man verschiedne Richtungen und natürlich getheilte Meisterschaft, | weil so verschiedne Beziehungen zusammentreffen. Von der Kunst selbst aus ist noch ein großes Gebiet zu betrachten, die der Mahlerei verwandten Kunstgebiete, die es mit Vervielfältigung der Kunstwerke zu thun haben; jezt kann man schon sagen, Kunstgebiete, weil die Methoden sich schon auseinander gelegt haben. Seit langer Zeit ist Streit, ob das Kupferstechen eine eigenthümliche Kunst sei oder nicht.* Von einer Seite kann man es bejahen. Wenn man von unten aufsteigt von kleinen Umrissen zur Ausführung, die Licht und Schatten geben, so stellt uns der Kupferstich eine solche Zeichnung dar, fähig verschiedner Ausführungen. Es können kleine Umrisse sein, oder Flächen, wo Licht und Schatten einfache Gegensäze bilden; oder das wo jedes ein andres ist, oder ein hoher Grad, daß Licht und Schatten ohne Linien sich als gleichmäßige Verhältnisse verhalten, und die Umrisse dadurch als die Grenzen erscheinen, oder Licht und Schatten durch Linien, die zugleich die Grenzen sind. So erscheint es als einzelne Zeichnung auf einer Stufe. Kupferstich hat aber immer Tendenz zur Vervielfältigung. Auch Gemählde gibt er wider. Nun ist der Kupferstich auch üblich außer der eigentlichen Kunst, als erläuternde Darstellungen zu Kunstwerken, aber offenbar ist es ein Grenzgebiet; und nicht immer repräsentirt der Stich ein Gemählde, sondern oft ist von vornherein ein Werk so ausgeführt. Dieses gilt oft auch von wirklichen Kunstwerken, jezt besonders, seitdem wir die Lithographie* haben, wo bloßes Zeich-

195

Die bildenden Künste

359

nen auf den Stein statt findet; da kann dieses für Vervielfältigung Bestimmte das Primitive sein. Die Lithographie bleibt nicht bei Licht und Schatten, sondern kann auch Färbung hineinbringen, also ist Möglichkeit, daß [das] vollständige Kunstwerk schon ursprünglich so für die Vervielfältigung kann producirt werden. Da verliert sich beides in einander, aber natürlich ist es nur für Kunstwerke von geringerm Umfang; für große Werke wird es immer nur Vervielfältigung auf frührem Wege geben und meistens in verkleinertem Maaßstabe. Dieses ist auch ein solches Grenzgebiet. Denken wir an den Werth der Dimensionen überhaupt, wie es solche gibt, die außerhalb der Kunst liegen, innerlich der Kunst aber diese Differenz einen differenten Eindruck macht, der nicht der Kunsteindruck ist. Dennoch geschieht immer eine Veränderung an einem Kunstwerk, wenn es auf einen andren Maaßstab gebracht wird. Sieht man große Gemählde in Almanachformat, so muß es ganz differenten Eindruck machen. Der Nebeneindruck der ursprünglichen Dimensionen geht nicht nur verloren, sondern es kommt der entgegengesezte hinzu, und da muthet man dem Beschauer zu, vom Eindruck der Kleinheit zu abstrahiren und sich den entgegengesezten innerlich [zu] schaffen, um die Copie zu ihrem Original gleichsam zu erweitern. Das kann man nur Wenigen zumuthen, daher die Künstler für solche Vervielfältigung ihrer Werke in [einem] Maaßstab der den ganzen Charakter ändert nicht sehr dankbar sein werden, es sei denn daß sie voraussezen dürften, die Beschauer vermöchten alle sich es innerlich zum Original zu erweitern. Der Künstler hat die Umrisse und Lichtverhältnisse auf das Colorit berechnet, fällt das im Stich weg, so fällt das Motiv weg, warum die Gestalten so gestellt sind. Daher ist diese Vervielfältigung der Kunst nie ohne allen Nachtheil ausgenommen wo Veränderungen der Dimension nicht nothwendig sind, und kein Element verloren geht. Als eignes Kunstgebiet läßt sich dieses auf Vervielfältigung unmittelbar gehende Werk nur unter der Bedingung aufstellen, daß man es nur für Kunstwerke anwendet, die ihren Charakter in mäßigen Dimensionen beibehalten können. Unleugbar haben diese Erfindungen den großen Werth, den Sinn für die Kunst zu

360

Theorie der einzelnen Künste

195 | 196

weken und verbreiten. — Es gibt außerdem noch einen Maaßstab für den Kunstcharacter eines Zeitraums, auf was für Gegenstände sich diese vervielfältigenden Gebiete werfen. Da Vervielfältigung ihr Zwek, so gehört dazu, den Geschmack des Publikums zu kennen, und nur zu nehmen, was allgemeinen Beifall hat. Freilich ist zu berüksichtigen, daß manche Gattungen mehr, manche weniger vom Kunstgehalt verlieren, man also die | vorzieht, die am wenigsten verlieren. Dennoch bleibt jener Schluß. Dieses führt zur zweiten Frage, wie es in Mahlerei steht um den allgemeinen Gegensaz zwischen einem strengen und höhern und einem leichtern und freiern Styl. Fassen wir ihn, wie in Musik so läßt sich das nicht unmittelbar übertragen. Wir müssen von einem andren Punkt ausgehen. Das nächste, was sich übertragen ließe, wäre, daß in Musik der strenge Styl am meisten dargestellt wird durch Kirchenmusik, und dem könnten die Gemählde heiliger Gegenstände entsprechen. Von da aus müssen wir aber unterscheiden Compositionen die für das öffentliche religiöse Leben sind, und solche, die als Cabinettsstücke sind; dem Gegenstand nach werden beide ganz gleich sein, als Kunstwerke aber bedeutend different. Ist das die Differenz des Styls in demselben Gegenstand? Offenbar nein. Daher suchen wir sie auch innerhalb einer dieser zwei Classen. Da sind freilich wirklich sehr große Differenzen des Styls. Heilige Gemählde aus spätrer Schule sind überwiegend Lichteffecte, und die haben einen bestimmten Charakter von grellen Gegensätzen, was bei den heiligen Gemählden der ältren Schulen gar nicht vorkommt. Auch diese Differenz ist dem nicht analog, sondern das ist eine Differenz, wo das eine an eine Ausartung grenzt, das andre es auch kann; diese Lichteffekte beherrschen den Betrachter so, daß man die Gestalten für sich nicht unabhängig sieht. Das könnte höchste Vortrefflichkeit sein, wenn es deßwegen, weil alles vollkommen durch Lichtverhältnisse gebunden ist, nicht möglich wäre, sich die Lichtverhältnisse zu isoliren. Anders ist es, wenn die Lichtverhältnisse nur so auffallen, daß man auf die Gestalten nicht kommt. Die rechte Einheit geht dann verloren. Eine Menge Einzelheiten kommen dann nicht in rechte Beachtung und sind

196

Die bildenden Künste

361

vernachläßigt. Das andre kann auch eine Ausartung sein. So wie die Gestalten sc. so auseinander streben, daß ihre Beleuchtung nicht gegensäzlich bestimmt ist[,] was sich dem nähert, daß sie auf einer Fläche neben einander erscheinen. Aber das ist nicht dasselbe wie wir Ausartung finden für den strengen und andre für den leichten Styl, sondern wir sind hier in einer andren Region. — Erweitern wir die Sache und sagen, nicht die heilige Mahlerei allein ist es, sondern die politische oder historische dazu, also alle Kunstwerke für [das] öffentliche Leben bilden den strengen Styl, und alle zu Cabinettstücken bestimmten bilden den leichten Styl. Aber die Differenz der Dimensionen bringt freilich manche Differenz in Behandlung aber nicht diese. Oder so, daß in der Cabinettmahlerei dieser Gegensaz aufgehoben ist, hingegen in Mahlerei für das öffentliche Leben tritt er hervor. Ja das erscheint doch nur als ein mehr oder weniger, daß sie dort nicht so stark hervorträte wie hier. Aber den Grund des Gegensazes hätten wir dadurch doch nicht. Am gewöhnlichsten sucht man ihn in den Gegenständen aber das ist auch unrichtig, da Gegenstände der verschiednsten Art beiderlei Behandlung zulassen. Es gibt auch einzelne große Meister, die etwas eigenthümliches haben, man hat aber bei demselben Künstler zu verschiednen Zeiten verschiedne Manier oder Styl besonders in der Zeit des ersten Wiederaufblühens der Kunst. Wenn man Raphaels und Correggios Werke aus der ersten Zeit mit ihren spätesten vergleicht, so haben die frühern eine einfache Strenge, die spätern mehr die Fülle und Pracht in Zeichnung und Colorit.* Das hängt zusammen mit weitren Entwicklungen der Kunst selbst; und in jedem Künstler ist ein solches Fortschreiten; hier freilich ist Differenz größer da Anfangs Unkenntnis der Mittel u. s. w. Dasselbe ist in der Kunst überhaupt, Anfangs eine gewisse Unvollkommenheit, nicht das rechte Bewußtseyn vom ganzen Verhältnis der Gestalten zu ihren Lichtverhältnissen. Eine Entartung ist die frühste starke Unvollkommenheit, und eine Entartung später das Spiel mit Effecten und Lichtreflexen. Aber dieses alles bildet eine Reihe und ist nicht was wir suchen. Gibt es jene Theilung in Mahlerei oder nicht? Wenn wir die ganze Kunst in die Historienmahlerei und Land-

226

362

Theorie der einzelnen Künste

196 | 197

schaftsmahlerei theilen im weitesten Sinn, so fragt sich, läßt sich ein solcher Gegensaz denken in Beziehung auf beide gleichmäßig oder nicht? | Landschaftsmahlerei hat es zu thun zuerst mit vegetabiler Gestaltung und Differenz der Erdoberfläche. Je mehr dieses hervortritt, desto mehr jenes zurück. Je kleiner das Terrain, desto mehr tritt vegetabile Gestaltung hervor. Von einzelner Gestalt ausgehend, wie sie hier auch ein Lebendes ist, gibt es da zweierlei Darstellungsweisen[,] eine mehr von Innen heraus und eine mehr von Außen her. Jene faßt mehr den eigentlichen Typus auf, geht mehr von dem aus, was man in weiterm Sinne als gewöhnlich den Canon nennt, i. e. vom Grundverhältnis der Gestalten in ihren wesentlichen Theilen. Dieses im vegetabilen und animalischen zusammenfassend, wird hingegen das leztre sein mehr diejenige Gestaltung die sich auf die Oberfläche bezieht und ihre Darstellung nur in einer gewissen Fülle hat. Im Winter tritt an der Eiche der wesentliche Typus stark hervor, hingegen seine wesentliche Oberfläche, die Belaubung fehlt. Schreitet diese fort, so entsteht am Ende eine Darstellung, die den Baum zwar auch in seiner Eigenthümlichkeit zeigt, aber doch mehr in dem, was nur seine Oberfläche ist. Je reicher belaubt, desto weniger sieht man vom Geripp. Da ist entgegengesezte Richtung[,] die auf das innre Einheitsprincip und die auf die äußre Fülle. Hingegen ist es noch ganz abgesehen von Beleuchtungsverhältnissen; wir reden bloß von Gestaltung bei dieser Duplicität; denkt man eins im Extrem, so hört der Zusammenhang mit dem andern auf. Denken wir Darstellungen rein von der Oberfläche aus, so ist sie eigentlich nichts andres als Wirkung der Beleuchtungsverhältnisse und es kommt darauf an, ob der Künstler den wahren Typus aufgestellt hat oder nicht, wie die Bildhauer den Mahlern vorwerfen, das unter der Oberfläche nicht recht zu denken. Das annehmend würden wir über die entgegengesezte Grenze hinausgehen, weil sie dann nicht mehr ideale Darstellung der Naturgestaltung wäre. Der eine Styl ist der, welcher die Warhheit von innen herausarbeitet, und der andre Styl ist der, welcher die Richtigkeit mehr von der Oberfläche herausarbeitet. Beides isolirt, ist das außerhalb der Grenzen hinausfallende. Nun erstrekt sich dasselbe auf die

197 | 198

Die bildenden Künste

363

Composition des Zusammenseins einer Mannigfaltigkeit von Gestaltung in einer Einheit. Ich knüpfe an Frühres an, daß in Gemählden von großer Composition Gegensaz sei zwischen einzeln hervortretenden Gestalten und Masse auch in Landschaftsmahlerei, und in dieser so gut das Terrain als die vegetabile Gestaltung betreffend. Dieses betrachten wir in Beziehung auf die hervortretenden Figuren, abstrahirend von den Massen. Es gibt ein Streben nach Einfachheit, welches die Klarheit des Eindrucks begünstigt; einfacher sind auch Beleuchtungsverhältnisse. Also das Ganze von dieser Seite ist überwiegend klar, wogegen die Richtung auf Fülle beschränkt wird. Denke ich umgekehrt die Hauptfiguren in bedeutend größrer Zahl, so entstehen verwickelte Verhältnisse. Diese bringen manche Kunstelemente in großer Virtuosität hervor, je mannigfaltiger die Figuren und Beziehungen desto mannigfaltiger Licht[,] Farbe, Reflexe. Da kann auch eine eigenthümliche Wahrheit heraustreten, die aber nur für das geübtre Auge da ist. Was aber ohne Unterschied da ist, macht die größre Fülle. Dieser überwiegende Eindruck der Fülle gibt ganz verschiednen Charakter von jenem der Einfachheit. Wie verhält sich diese Differenz zu der obigen in der einzelnen Gestaltung für sich? Es ist Harmonie zwischen beiden, sc. wird einzelne Gestalt von Oberfläche aus dargestellt, so ist mehr Fülle postulirt, ist die Gestalt von innen heraus gesehen, so muß der Typus weniger verdekt sein, das wird er aber durch jene Fülle. Beides gehört zusammen, und die Art des Zusammenseins ist der eigenthümliche Charakter des Styls[,] gebundne Darstellung der einzelnen Gestalt von innen und größre Complicirung der Composition ist der Strengre Styl; Darstellung des Einzelnen von Außen und Einfachheit der Composition ist der Reiche Styl; kreuzen sich diese Verhältnisse, so entsteht ein gemischtes. Im strengen Styl muß also Zeichnung mehr dominiren, im reichen Styl mehr die Beleuchtung. Aber dieses ist nur Folge, nicht Princip, sonst kommen wir auf ein ganz andres Gebiet. So kann in Composition Gestaltung oder Licht dominiren. Der Charakter dieser zwei differenten Style nun ist so: der reiche | ist mehr geselliger und äußerlicher Natur, weil alles durch das Zusammensein bestimmt

364

Theorie der einzelnen Künste

198

ist; im strengen Styl ist mehr die Richtung auf innre Wahrheit des Sinns an sich und das Zusammensein gleichsam nur als das Mittel gilt und untergeordnet. Das ist nun Alles unabhängig vom Gegenstand, derselbe Gegenstand kann in beiden Stylen behandelt werden, obgleich allerdings einige sich mehr für diesen andre für den andren eignen und ein Vergreifen möglich ist. Profane Gegenstände kann man im strengen Styl darstellen, und religiöse im reichen. Hier ist überhaupt keine Abschäzung denkbar, so daß das eine an sich das beste wäre, und das andre unvollkommen; denn nur die Extreme schließen eine Unvollkommenheit wesentlich in sich. Daß man etwa nachweisen kann, es sei innerlicher Bau falsch gedacht, so ist es ein Fehler, denn die Oberfläche selbst und Beleuchtung muß dann unvollkommen sein. Auch geht nicht das eine unmittelbarer aus dem eigenthümlichen Motiv der Kunst [hervor] als das andre. Der strenge Styl liegt nicht näher, weil das Motiv da nicht das Specifische der Mahlerei ist, sondern der Sculptur mit; und das andre ist nicht eigentliche Mahlerey, weil es etwa noch vom Specifischen der Mahlerey ausgeht, denn Beleuchtung ist nur unter der Bedingung der Gestalten. Nun ergeben sich Folgerungen. Denke ich einfache Composition mit dem andren Element verbunden und dabei Gegensaz zwischen Hauptfiguren und Masse, so scheint zu folgen, je einfacher jene, desto schärfer ihr Gegensaz zur Masse, und je mannigfaltiger die Hauptfiguren, desto mehr müssen sie sich mit den Massen gegen einander vermitteln, da die Hauptfiguren selbst eine Masse bilden. Allein dieses ist nicht etwas nothwendiges, sondern wo es außer den Hauptfiguren keine Masse gibt, tritt Beiwerk ein und in demselben Verhältnis. Im strengen Styl tritt es mehr zurück, im reichen muß es sich mehr herandrängen; und es ist natürlich, daß nicht nur von Innen, sondern auch von Außen her eine größre Mannigfaltigkeit gesezt wird. Dieses ist also unmittelbare Folgerung, und läßt als Merkmahl auf die zwei Style zurückschließen. Noch ein Paar Bemerkungen 1.) Wie es sich in Mahlerei verhält in Beziehung auf den Gegensaz zwischen dem Ernsten und Comischen. Das Comische ist allerdings auch in Mahlerei, Dar-

198 | 199

Die bildenden Künste

365

stellungen des Einzelnen in der Umkehrung seiner Verhältnisse zum Allgemeinen als Gemeinheit. Diese Darstellung des Gemeinen als Comischen ist weit verbreitete Gattung in Mahlerei, freilich mehr in gewissen Gegenden der Kunst, in Italien Mahlerei nicht so stark wie in Deutschland und besonders Niederlanden. So Differenzen des Styls. In französischer Mahlerei findet man nicht leicht ein Werk, das ganz dem strengen Styl angehört, und im ältren Deutschland Mahlerei fast nichts als im strengen Styl. Dieses Comische nimmt also seinen Ort in Mahlerei mit demselben Recht ein wie überall, aber allerdings kann es doch nur auf die eine Seite fallen; das Comische kann nie eigentlicher Gegenstand sein in der Mahlerei sofern sie vom öffentlichen Leben ausgeht und für dieses ist, sondern in Mahlerei des Privatlebens: denn das öffentliche Leben ist schon für sich Unterordnung des Einzelnen, und da würde der Widerspruch auf das grellste hervortreten. Dagegen kann man es nicht für unerlaubt halten, wenn das Comische in Gemählden von großen Compositionen als Nebenwerk auftritt, um Contrast zu bilden, aber es soll auf das natürlichste mit dem Ganzen zusammenhängen und immer zum Beiwerk gehören. So ist in religiöser Mahlerei das Comische in einzelnen Nebenfiguren ohne kunstwidrig zu sein, da es das andre nur um so stärker zum Bewußtseyn bringt. 2.) Die freilich sehr interessanten, aber zu sehr im Technischen liegende Frage dessen, was man in Mahlerei die Schulen nennt. Es gibt eine gewisse Vermischung im Sprachgebrauch die diese Gegenstände im Unklaren läßt. Man nennt die Schulen sc. nach Localität, nur ist in dieser gar nicht Nothwendigkeit eines bleibenden eigenthümlichen Charakters; indeß haben wir Ähnliches in Geschichte der Philosophie, die alten Schulen. Da sind also zwei Beziehungen vermischt, eine rein historische, in einer Localität zusammenhängende Reihe, das andre ist ein eigenthümliches Verfahren und das aber fällt bei weitem überwiegend in das technische Gebiet. Eigentlich sollte man nicht nur bei den Mahlenden | der Europäischen Kunst seit ihrer Wiederherstellung, sondern auch die der Alten und der nichteuropäischen Völker so betrachten, um Continuität zu finden, z. B. chinesische Mahlerei, ob sie

366

Theorie der einzelnen Künste

199

Kunst sei oder Mechanik. Noch schwieriger ist, den Verfasser zu erkennen, was große Kenntnis der Technik erfordert, und schwere und kritische Aufgabe ist. Man muß von historisch bewiesenen Kunstwerken ausgehen und durch sie ein Urtheil bilden. Nehmen wir diejenigen Productionen hinzu, die nicht eigentlich Kunst sind aber so viel [wie] möglich davon sich aneignen, so ist die Productivität unendlich reich. Die ganze lebendige Schöpfung der Erde kann dem Gesicht vergegenwärtigt werden im Einzelnen, und in Typen der Existenz in allen Modificationen darstellen. Betrachten wir die menschliche Gestalt als Eines und die Welt als Eines, so ist die innerste Operation, das Auffassen der Welt am meisten bewährt durch die Productionen der Mahlerei und der Sinn, welcher ursprünglich auffaßt durch das medium des Lichtes, sezt sich durch das mitproduciren dieses medium das größte Denkmahl. Es umfaßt auch das ganze Gebiet des geschichtlichen Lebens, damit das Bestimmte sich in einer Einheit des Moments wiedergeben kann. Denkt man wie Mahlerei mit Mimik zusammenhängt und dieses mit dramatischer Poesie, so hat die leztre allerdings eine Einheit, die eine Reihe mahlerischer Momente in sich schließen kann, aber die Mahlerei kann Vieles darstellen, was nicht auf dramatische Weise kann behandelt werden. — Die Mahlerei ist nicht wie Poesie an Eigenthümlichkeit der Sprache gebunden sondern an den Allen gemeinsamen Sinn des Gesichts, das Christenthum ist das gemeinsame Band des Europäischen Völkerkreises, daher überwiegend dieses Gebiet bearbeitet wurde, weil es für Alle dasselbe Interesse hat. Da nun die Productivität nicht in dem Grad allein vom Künstler abhängt, so sehen wir, daß beides immer zusammenwirkt, Productivität der Künstler und Receptivität derer, die den Sinn für die Kunst haben. Sehen wir auch auf Landschaftsmahlerei noch zurück, so hat diese es weniger mit Darstellungen einzelner Formen in gewisser Gleichförmigkeit zu thun. Sondern das sind hier nur untergeordnete Gattungen, auch weniger Richtung den Typus der Gestaltung von innen heraus zur Darstellung zu bringen. Der eigenthümliche Charakter dieser Seite ist eben das Zusammensein des Menschen mit der Natur auf musikalische Weise auf-

199 | 200

Die bildenden Künste

367

zufassen, während Historienmahlerei in dieser Beziehung dem Plastischen näher steht. Alle Natureindrücke aus entferntester Gegend und [mit] fremdem Character kann sie zur Darstellung bringen und vervielfältigen. Denken wir Zeiten, wo diese Kunst noch gleichsam ruhte, so ist schwierig das geistige Leben sich zu vergegenwärtigen, so wie es schwierig ist, Zeiten zu denken, wo die gegenseitige Vermittlung ihrer physischen Lebensbedürfnisse noch nicht so war. Die lezte Rückwirkung dieser Kunst auf das Leben muß bis auf gewissen Grad allgemein werden. Die eigentliche Productivität von der sie ausgeht, ist eine allgemeine Function des Geistes; in jedem geht eine eigenthümliche Gestaltbildung vor sich im Traum und Wachen, wo nicht sowohl Bilder aus der Erinnerung immer auftauchen, sondern neu bildend. Zweierlei gehört hierzu. Das erste Resultat, daß die Werke der Kunst immer zugänglicher werden, erhöht das Gesicht für diese Kunst durch das genauere Eingehen desselben durch das Verhältnis der Gestalt zum Licht. Der Charakter des Mahlers ist, daß die innre Gestaltenbildung in ihm immer zugleich die Genesis der Beleuchtungsverhältnisse in der Wahrheit ist. Anschauen der Kunstwerke schärft aber den Sinn für die Wahrheit. Also Erhöhung der Kraft des Sinns wird nur so erreicht und beides muß sich steigern, da der richtig gewordne Sinn immer strengre Forderungen an Kunst macht. Das ist die Geschichte der Kunst von Anfang an, wo das Perspectivische noch fehlte, also der Sinn noch in bloßen Linearverhältnissen feststeckte. | Dieses geht dann auch in das Auffassen der natürlichen Umgebungen über und das Sehen selbst wird immer mehr ein Mahlerisches. Soll die Kunst allgemein werden, so nicht nur Virtuosität des Sinns, sondern auch die Hand soll immer mehr künstlerisch werden. Etwas ist in dieser Beziehung schon aufgestellt, aber noch außerhalb der Kunst. Es ist allgemeine Forderung des Unterrichts, in jedem das Vermögen zu üben bis auf gewissen Grad, Gestalten richtig nachzubilden, was natürlich sich nur auf Zeichnung, und in dieser mehr auf das Einzelne als [auf] Zusammenstellung erstreckt. Erst wenn dieses allgemeiner geworden ist, stellt man eine höhre Forderung ebenso allgemein auf.

368

Theorie der einzelnen Künste

200

Es ist nicht möglich daß diese Kunst Vollkommenheit erreiche, wenn es nicht eine Continuität gibt von Einzelnen, die diese Kunst zu ihrem eigentlichen Geschäft machen, Continuität der Schulen. Daß die Kunst Gemeingut werden soll, strebt diesem scheinbar entgegen, da in dem Maße als sie Gemeingut geworden, dieses nicht nöthig wäre, aber dieses Resultat ist in unendlicher Form. Immer wird es in der Kunst Geheimnisse geben, i. e. Fertigkeiten der Werkzeuge und Materialien die nur erworben werden durch eine solche beständige Übung. Dieses bringt nun mit sich, entweder, daß die diese Continuität der Schule bilden über das Bedürfnis erhaben sind, oder die Ausübung der Kunst zugleich das Bedürfnis befriedigen muß. Der Künstler der sich nach Geschmack seines Publikums richtet, ist freilich Motiv zu Ausartungen, denn die Vervollkommnung geht von Künstlern aus. So wie aber die Kunst in das öffentliche Leben tritt, so entsteht daß die Kunst auf das Publikum wirkt, und dadurch muß jenes aufgehoben werden. Das gibt zusammen den Maaßstab für den Zustand, in dem sich die Kunst in jeder Region eines öffentlichen Lebens befindet: Wo die Kunst eine Öffentlichkeit hat und Künstler nicht es benuzen den Geschmack zu läutern, da ist ein ethischer Mangel, denn jene Bedingung genügt zu immer weitrer Vervollkommnung. Das kann nur statt finden in gewissen Centralpunkten des öffentlichen Lebens. Diese Bedingung ist nun in höhrem Grade da, als je seit [dem] Wiederaufleben der Kunst in Europa, also ist zu erwarten, eine immer größre Vervollkommnung der Kunst, wenn nicht große politische Umstürze es hemmen. 4. Die Sculptur Zunächst betrachten wir sie vom Gesichtspunkt der Mahlerei aus. Zwischen beiden gibt es eine Vermittlung, das Relief, nicht Mahlerei, weil nicht auf Ebene, und nicht Sculptur, weil die Gestalten nicht von allen Seiten darstellend. Das Relief verflacht sich zum Gemählde, oder löst sich in Sculptur auf, Gemählde ist sc. Minimum vom Relief, da stärkres Auftragen des Pigmentes

200 | 201

Die bildenden Künste

369

eine Erhöhung ist. Daher ist es möglich das Gemählde von seinem Grunde abzulösen und auf einen andren überzutragen. Das Relief hat aber schon verschiedne Abstuffung, Figuren mehr oder weniger hervortretend, kann perspectivisch sein, was durch geringres Hervortreten bewirkt wird. Diese Differenz kann in einem Relief schon das Maximum sein, eine Figur fast ganz frei hervortretend, und andre fast auf Fläche sich verlierend. Vom KunstWerth des Reliefs wird jezt abstrahirt. Denke ich dieses Maximum von Differenz so verliert dadurch die Einheit des Werks, je stärker einzelne Theile hervortreten und andre zur Ebene werden, ist die Differenz zu groß, um Einheit zuzulassen. Nur große Abstuffung würde das gewähren und diese eine sehr große Zusammensezung erfordern. Nun sind aber diese Werke immer auf sehr geringen Raum eingeschränkt. Könnte man eine Figur im Relief wirklich lösen vom Grund, so würde sie vollständig isolirt, erschiene aber ursprünglich schon isolirt; so ist Mahlerei immer das Zusammensein der Gestalten suchend, weil nur in dieser Mannigfaltigkeit der Beleuchtung, und Sculptur die einzelne Gestalt, weil sie nur so vollständig aufgefaßt werden kann. | Dies ist jedoch eine bloße Vergleichung, aus der das Wesen und [die] Differenz von Sculptur und Mahlerei nicht hervorgeht. Die Gestalt trägt immer eine Amphibolie, ob sie Gemählde oder Natur sein soll. Die Mahlerei stellt das reine Sehen auf Einer Ebene dar, die Sculptur gestaltet hingegen im freien Raum. Dieses und daß jene Zusammenstellung diese isolirte Gestalt hat, hängt zusammen; denn die Gestalt existirt nur im freien Raum, wenn ich kein Hinderniß habe, sie von allen Seiten zu besehen. Sie arbeitet nicht ursprünglich für das Gesicht, sondern sezt schon voraus, daß wir in verschiednen Ebenen d. h. in die Tiefe sehen. Das haben wir aber erst durch das Sehen verbunden mit der Bewegung oder mit Tastsinn, der eben sein Werk nur in der Bewegung verrichtet. Daher muß sich die Gestalt isoliren. Von da aus geht die Sculptur daß sie die Gestalt in ihrer Einzelheit und Ungebundenheit in Beziehung auf den Sinn i. e. daß sie für die Auffaßung mit nichts andrem verflochten ist, darstellt. Knüpfen wir aber dieses an den Punkt, von wo die Mahlerei ausgeht, so entsteht die Präsumtion,

370

Theorie der einzelnen Künste

201

daß so wie der Standpunkt der Mahlerei ein frührer sei als der der Sculptur[,] so die Mahlerei früher als die Sculptur; was man nicht nachweisen kann. Freilich gehen die geschichtlichen Notizen nirgends auf den ersten Ursprung zurück, so daß man nur nach Wahrscheinlichkeit mit psychologischen Principien schließen könnte. Die Mahlerei ist nun ein sehr allmählig entstehendes, denn daß sie vollkommen da sei, dazu gehört Besiz von Färbungsmitteln, die, entdekt oder erfunden, nur allmählich erworben werden, und die Zeichnung ging voran, die ursprünglich indifferent ist gegen Sculptur und Mahlerei. Wenn nun die Frage nach dem Standpunkt ein andrer ist als nach dem Motiv, wir aber beide als bildende Kunst zusammenfaßten, so daß sie ein Gemeinschaftliches haben müssen, so haben wir jezt in besondrer Beziehung auf Sculptur dasselbe zu thun nach Verhältnis der gemeinsamen zu der besondren Frage, wie in Mahlerei. Für beide gingen wir von der geistigen Function aus, die wir überwiegend unter Form der Receptivität üben, ein ursprünglich als Thätigkeit im Geist einwohnendes enthaltend, das nun frei für sich nach außen tritt. Für das Auffassen haben wir zweifachen Gesichtspunkt. Gehen wir mehr aus von den einzelnen Formen, wie sie zwar im Zusammensein aber jede ein selbstständiges Glied des Lebens auf der Erde überhaupt darstellt, so ist das die eine Richtung, aber betrachten wir nun das Irdische selbst in seinem Gebundensein durch die allgemeinen cosmischen Verhältnisse, so entsteht jene Beziehung auf das Licht als das das Zusammensein in cosmischer Beziehung vermittelnde, nicht bloß als Vermittlung für den Sinn, sondern auch für das Leben auf der Erde überhaupt, insofern sie nur in diesem cosmischen Verhältnis ist. Das ist die specifische Richtung der Mahlerei, das erstre die der Sculptur. — So müssen wir ihr aber größren Umfang zuschreiben als sie hat; sie hätte es mit allen einzelnen bestimmten Lebensformen zu thun, unabhängig von dem, was von Außen ihre Erscheinung begränzt. Das ist nicht der Fall, sondern alle untergeordneten Lebensformen verschmäht sie. Das ist freilich ein fließender Gegensaz. Finden wir eine Grenze, die ihn in einen bestimmten verwandelt? Hat je die Sculptur einzelne vegetabile Gestalten hervorgebracht? Nein,

201 | 202

Die bildenden Künste

371

aber absolut kann dieses nein nicht sein, wir sehen ja solide Nachbildungen von vegetabilen Gestalten in allerlei Masse, die sich so bearbeiten lassen. Aber das stellt niemand in die gleiche Reihe mit der eigentlichen Sculptur. Auf Seite der Mahlerei da ist die Blumenmahlerei ein Untergeordnetes der Landschaftsmahlerei, und kann auch einzelne Gestalten darstellen, als Portrait ebensogut wie als Idee, aber sie erscheint immer nur als ein Studium, obgleich man sie in einen eignen Kunstzweig isolirt; doch immer bezogen auf Landschaftsmahlerei. Betrachten wir aber Nachbildungen von Blumen in gewebten Stoffen oder Wachs, so nimmt man das nicht in eigentliche Kunst wogegen der Blumenmahler ein Künstler ist, insofern er die zwei wesentlichen Elemente der Kunst aufnimmt. Man möchte zweifeln, ob man zu dieser Differenz einen Grund habe, vom allgemeinen Gesichtspunkt der Theorie aus. Fragt man aber, wie werden diese Productionen behandelt, so werden sie viel mehr vernachläßigt als in Mahlerei. Der Grund liegt darin, daß sie für die solide Darstellung nicht dieselbe Haltung haben, wie in Mahlerei. Diese kann das ganze Gebiet ausfüllen, den einzelnen Baum wie die Blume darstellen, | die Sculptur nur auf begrenztem Gebiet. Einen Baum auf dieselbe Weise im natürlichen Maaßstab wie die Blumen nachzubilden und in einem Material, das solide Darstellung zuließe, liegt außer allen Grenzen und so ist dieses ein ganz abgerißnes Gebiet, das also nicht dasselbe Motiv hat, sondern mechanischer Kunst angehört; wogegen in Mahlerei der Zusammenhang zu verfolgen ist. Die animalischen Gestalten. In Sculptur finden sich nur die höhern und größern Formen des thierischen Lebens, die untergeordneten nicht. Allerdings Insecten in Steinschneiderei, aber schwerlich für sich, sondern insofern sie eine symbolische Beziehung haben; und diese Gattung selbst ist eigentlich ein von der Sculptur ganz abgerißnes, eben weil sie im Maaßstab der Wirklichkeit nur die klarsten Formen behandeln kann, andre nur in sehr verjüngtem Maaßstab, und dann weil sie nicht eigentlich solide Darstellungen enthält, sondern sich immer mehr dem Relief nähert. Worauf beruht, daß die eigentliche Sculptur außer den menschlichen nur noch die höhren animalischen Formen

372

227 228

Theorie der einzelnen Künste

202

aufnimmt, und alles andre von ihr abgerissen ist und nicht aus demselben Motiv zu erklären. Aber für Differenz des Motivs fehlt der Grund, es könnte ja dasselbe Motiv sein und die Lücke zwischen beiden wäre nur aus Mangel an den Bedingungen das Ganze in einer aufsteigenden Linie hervorzurufen. Die höhren animalischen Formen in Sculptur kommen vor 1.) in Verbindung mit der menschlichen Gestalt; nicht etwa das Phantastische, wie Centauren, meine ich, sondern wo die menschlichen und thierischen Gestalten in einer Handlung Eins sind, also im Moment Ein Ganzes bilden; 2.) nur in den untergeordneten Gattungen, wo Sculptur entweder in das Relief übergeht, oder solide Verzierung ist also im Gebäude der Architectur; denn da findet man in alten und neuern Kunstwerken dieser Art auch animalische Formen, die nicht leicht in Zusammensein mit der menschlichen Gestalt vorkommen. So wenn wir dieses beides in seinem relativen Gegensaz betrachten, so könnten wir uns für das lezte Gebiet einen weit größren Umfang vorbehalten, ja für das Relief brauchten wir eigentlich gar nichts auszuscheiden, sondern da könnten alle untergeordneten Lebensformen vorkommen, wie in Mahlerei als Beiwerk, und für [das] Gebiet solider Verzierung, wie Vasenbildung, würden wir uns vorbehalten, daß alle Formen, die dazu dienen, aufgenommen werden. Nun ist dieses leztre aber eine untergeordnete Gattung. Sagen wir: solche Gefäße sind oft zu keinem Gebrauch, also reine Kunstwerke, insofern sie sich nicht auf eine gebundne Thätigkeit beziehen, aber doch nur entstanden, insofern die Form in der gebundnen Thätigkeit ihren Ort hat. Hier ist also Übergang vom uneigentlichen Kunstgebiet, wo die Kunst an einem Andren ist, zum eigentlichen, und daher ist dieses zu sondern. Das eigentliche Kunstgebiet aber werden wir nun suchen im Zusammensein der menschlichen Gestalt mit den höhren thierischen insofern sie mit denselben zur Einheit der Handlung verbunden werden können, also wo der Mensch im Kampf ist mit thierischer Natur oder sie sich angeeignet hat. Das ist ein Constantes in gewisser Beschränkung: oft an bestimmten mythologischen Fall gebunden, z. B. Arion auf Delphin*, Adler der den Ganymed aufhebt*. Das eigentliche Gebiet der Sculptur ist also

202 | 203

Die bildenden Künste

373

nur die menschliche Gestalt, und nur was von andren lebendigen Gestalten mit ihr zur Einheit der Handlung verbunden sein kann in Ein Ganzes, darf damit verbunden sein. Alles andre werden wir als ein besondres Gebiet ansehen, das schon den Übergang zum uneigentlichen Kunstgebiet bildet, weil die Grundgestalt der gebundnen Thätigkeit angehört. So z. B. haben wir schöne Cantelaber*, sc. Geräthe aber nur für Kunstdarstellung. Die Grundgestalt des Geräths ist nur die Bedingung für die Art, wie die Kunst erscheinen kann, obgleich diese die Hauptsache ist, und jenes nur um dieser willen existirt. — Beides zusammen gibt den Umfang der Sculptur; und jene soliden Nachbildungen von vegetabilen und untergeordneten Formen sind nur abgerißne Glieder, wiewohl ihnen das eigentliche Kunstmotiv möglicher Weise zu Grunde liegen kann, aber das ganze Gebiet läßt sich nicht ausfüllen daher sie abgerissen sind. So theilt sich uns das Ganze in zwei Gebiete; die mit den zwei Hauptgebiethen der Mahlerei eine gewisse Analogie haben, nur daß die Landschaftsmahlerei nicht | auf ein uneigentliches Kunstgebiet hinführt; aber analog, insofern die menschliche Gestalt im einen dominirt, im andern fehlen kann oder nur als Beiwerk erscheinen. Dieses leztre Gebiet würden wir uns wesentlich von der Architectur aus construiren, da alle diese Kunstwerke einen architectonischen Charakter haben und überwiegend in Beziehung auf architectonische Räume sind. Das Hauptgebiet aber würden wir uns nur aus der Beschränkung der freien Gestaltbildung auf die menschliche Gestalt und ihrem unmittelbaren Verhältnis erklären. Nehmen wir es nun aber geschichtlich, so findet dieses leztre große Schwierigkeit und es entsteht Aufgabe die Kunst noch auf andre Weise zu begrenzen. Nemlich wenn wir auf Griechische Sculptur gehen, so finden wir da die Haupteintheilung in ἀγάλματα und εἰκόνες, Götterbilder und menschliche Gestalten als Portraits*, d. h. wirkliche Gestalten darstellend. Noch weiter zurük fragen wir: Was sind die ältesten ἀγάλματα gewesen? Die alte Kunstgeschichte antwortet ξόανα*, ungebildete, nicht bestimmt gegliederte, rohe, unausgeführte hölzerne Figuren, in denen eine Richtung auf menschliche Gestalt war aber oft nur

229

230

231

374

232

Theorie der einzelnen Künste

203

angedeutet; das Wesentliche war, daß diesem ξόανον die Vorstellung übermenschlichen Ursprungs und Kraft zugeschrieben war; also etwas, was unsrem Princip ganz fremd. Ist denn das Anfang von Kunst oder nicht und wie kommt dieses Element hinein und nachher wieder heraus, so daß die reine Kunst übrig bleibt? Also ist eine Grenze zu stellen, oder noch ein Motiv in dieses Kunstgebiet aufzunehmen. Die mangelhaften Beschreibungen bei Pausanias etc. von solchen unvollkommnen Werken*, auf welche hernach die Götterbilder gepfropft worden sind, sind so daß man sieht, Gestaltung war Nebensache und das Wesentliche war das Verkörpern einer höhern Macht im einzelnen Dinge. Sie gehen in eine Zeit, wo die Götterlehre noch nicht ausgebildet, sondern Fetischismus war, d. h. das Ding und die höhre Macht die es darstellte, wurden nicht unterschieden. Das ging dann allerdings in Gestaltung über und jene ursprüngliche Tendenz hat sich nicht ganz verloren. So sind eine Menge Kunstwerke entstanden, die unsrem Princip zu widersprechen scheinen, gar nicht die Formen des Geistes wie der Natur zur freien Erscheinung bringen zu wollen, sondern etwas, dem nichts in Natur entspricht, und das in sich selbst verschwimmt und unbestimmt ist. Dasselbe ging auch in Mahlerei über, aber ich versparte es hierher, wo es ursprünglich ist, so daß man nun etwa fragen kann, ob die Poesie (in weiter Beziehung auch historisch) oder Sculptur darin voranging. Wenn wir dieses Symbol betrachten[,] in Sculptur ist es wesentlich darin und wie verhält es sich zur allgemeinen Formel, die aller Kunst das gemeinsame ist? Einen Verbindungspunkt zwischen dieser allgemeinen Formel und dieser Erscheinung könnte man ungefähr so finden. Wir gingen davon aus, daß was in der Auffaßung der Welt, wie sie den Einzelwesen gemein besteht[,] Receptivität ist, soll in Kunst Productivität werden und also die äußre Erscheinung, die sonst zuerst da ist, soll nun vermöge der Kunst das zweite werden, da das Bewußtseyn derselben als innres Urbild auch als Einzelnes das erste gewesen. Dieses ist die ursprüngliche Umkehrung wodurch wir Verhältnis der auffassenden Thätigkeit und der Kunstproduction erklären. Wie stellt es sich, wenn wir uns denken diese Richtung, ein Sein, das uns nirgends gegeben

203 | 204

Die bildenden Künste

375

ist, z. B. als Ahndung zuerst entstehend, [als] eine bestimmte Gestaltung heraustreten zu lassen. Wie verhält sich diese zu jenem? Ob der äußre Gegenstand hervorgebracht sei oder nur bestimmt ist gleich viel; das leztre ist im rohsten Fetischismus, wo der Gegenstand, ohne daß man ihn gestaltet mit einer gewissen Idee verbunden gedacht wird; hervorgebracht, wenn wie es auch sei dem Gegenstand etwas als Zeichen dieser Verbindung angeheftet wird. Ist hier ein ähnliches Verhältnis, wie das Kunstverhältnis? sc. die ganze Erscheinung ruht auf der Voraussezung, daß jener Idee einer höhren Macht eine Wahrheit einwohnt. Das genügt aber, daß es eine Wahrheit im Bewußtseyn ist, derer es sich nicht enthalten kann und die dasselbe wesentlich mit constituirt. Wie steht es um diese erste Voraussezung zu der Zeit, wo die Kunst auf diesem Gebiet ihre höchste Vollkommenheit erreicht hat? Da erscheint es als sehr problematisch; von jenen rohen Anfängen aus, die überall local waren und locale Differenzen darstellen, oft ein, wenn auch dunkles, geschichtliches Verhältnis in sich schließend, hatte sich allmählich die Griechische Mythologie gebildet, lange Zeit als volksthümliche Wahrheit, wo die mythologischen poetischen Darstellungen als das Auseinandergetretensein einzelner Gedanken, und Kunstwerke als das Realisiren dieser Vereinzelung [erschienen]. In spätrer Zeit aber | zweifelt man, ob es noch eine Wahrheit gewesen, wenigstens für die Gebildeten. Das ganze mythologische System war schon auf eine Weise angefochten, daß die Gestalten als wirkliche gedacht schon in das Gebiet der Scepsis fielen; aber was jenseits dieser Vereinzelung lag, als ihr Motiv, war doch noch eine Wahrheit, sc. die Voraussezung eines Seins als Macht, welches nicht auf dieselbe Weise in der Vereinzelung erscheint, aber sie auf irgend eine Weise beherrscht. Dieses den Typen der Gestalt zu Grund liegende blieb immer eine Wahrheit. Können wir nun ein Verhältnis aufstellen zwischen dieser Richtung auf Darstellung in einem vom Wirklichen abweichenden System und dem was wir das eigentliche Kunstgebiet nennen? Können wir beide als Eines ansehen? Die Eintheilung der Sculptur in ἀγάλματα und εἰκόνες ist nun eben diese Duplicität selbst, und wenn auch jene voll-

376

233

Theorie der einzelnen Künste

204

kommen menschliche Gestalten geworden waren, so lag doch die Aufgabe darin, sich darin nicht das Menschliche, sondern dieses als eine rückwirkend liegende Analogie als Darstellung dieser höhren innren Wahrheit [zu erklären]; nicht das Menschliche, sondern das Θειον* wolle dargestellt sein im Menschen. Da sind zwei differente Operationen zu unterscheiden 1.) Eben diese Voraussezung eines höhern, nicht selbst in einzelner Leiblichkeit erscheinenden Seins, in einem Complex von doch wieder vereinzelten Gestalten darzustellen, also ein innres System von Gestalten producirend und 2.) Das Hervorgehen der Kunst aus diesem. Sezen wir einmahl ein solches System von innern Bildern zur Darstellung des höhern Seins voraus, so verhält sich Kunst gerade wie das einzelne Werk zu seinem Urbild, das ja auch ein solches Innerliches ist. Aber wenn wir uns nun erinnern, daß das innerliche Urbild das eigentliche Kunstwerk ist und das Heraustreten äußerlich nur das secundäre, daher man die Kunst aus jenem begreifen müsse, so kommen wir auf etwas oben verworfnes zurück, wovon der eigentliche Grund uns hier erst deutlich wird, sc. Was wir als die eigentliche Thätigkeit der Kunst erklärt, ist das Entstehen eines innren Bildes, das hernach sich äußerlich verwirklicht, jenes innre Entstehen geht aber nur hervor aus dem dem Geiste einwohnenden System von Gestaltungen, die ihm einwohnen vermöge seines Zusammenseins mit dem irdischen Leben. Diese Bilder nun, die nicht ein dem irdischen Leben gehörendes Einzelnes darstellen, sondern das über allem vereinzelten Stehende, gehen nun nicht auf jene Zusammengehörigkeit zurück und diese Richtung scheint also eine andre. Ist denn dieses ein Gebiet das der Sculptur besonders eigen ist auf irgend eine Weise? Wir finden dasselbe auch in der Mahlerei, wenn es auch da ein spätres ist, so doch nicht bloßes Abbild das in Sculptur schon gegeben; auch in der Pantomime, denn mythologische Scenen und Personen versuchte man auch mimisch darzustellen. Dasselbe ist noch in Poesie, aus der wir freilich hier bloß anticipiren können, sowohl in epischer, dramatischer als lyrischer Poesie kann man jenes beides verbinden und auch sondern. —

204 | 205

Die bildenden Künste

377

Nun müssen wir einen großen Abschnitt machen, wenn wir das ganze Kunstgebiet der Zeit noch verfolgen: denn wenn jezt noch mythologische Gegenstände durch eine Kunst dargestellt werden, sind sie nun in demselben Sinn ursprüngliches, oder beziehen sie sich nur als Nachbildung auf das frühre? Es ist ein großer Unterschied zwischen der Zeit, wo die griechische Kunst in höchster Vollkommenheit war aber der Glaube an jenes mythologische System schon wankte, und zwischen der modernen Zeit. Da ist ein schneidender Unterschied, und jenes ist eine Tendenz, die ganz und gar aufgehört hat und nur einer gewissen Periode des menschlichen Geistes eigen sein konnte. Es kann uns nicht mehr einfallen, die allgemeine Voraussezung des Göttlichen als allem Sein zu Grunde liegend, in einzelnen Gestaltungen darzustellen. Wie verwandelt man es denn jezt in ein bestimmtes Bewußtseyn? Es geschieht durch das Wort, in Sätzen. Wie verhält sich denn das, was in diesen Säzen von jener Grundvoraussezung ausgesagt wird seiner Wahrheit nach zu dem, was in jenen Gestalten ausgesagt wurde? Genau genommen haben die Säze ebensowenig Wahrheit als Darstellung dieser Grundvoraussezung, als jene Gestalten hatten, denn sie können nicht anders als zurükgehen auf den menschlichen Geist in Zusammensein mit dem äußren Sein, und es nur nach dieser Analogie ausdrücken. Das aber ist ebenso wenig die Wahrheit selbst als jener Complex von mythologischen Wesen die Wahrheit des griechischen Wesens waren. Aber die Richtung dieser Darstellung des griechischen Wesens für das zeitliche Bewußtseyn ist vom Bild in die Vorstellung übergegangen und verzeinzelt nun in Säzen was gar nicht in der Vereinzelung ist, wie es früher die Bilder thaten. Nun werden wir jenen Punkt, wo zuerst | die Richtung, das Göttliche als Bild darzustellen in die menschliche Gestaltung überging, und den Punkt, wo dieses System von menschlichen Gestaltungen nicht mehr als der Grundvoraussezung gleich angesehen wurde, herausheben als Übergang zur Vereinzelung des Göttlichen durch das Wort. Das bildet also eine Reihe. Wie verhält sich also dieses zu unsrer ursprünglichen Kunstformel? Es geht nun nur einen Schritt weiter zurük, denn das Haben der Gestalttypen im Geist und Bewußt-

378

Theorie der einzelnen Künste

205

seyn und das Darstellen und Wahrnehmenwollen ruht selbst auf jener Grundvoraussezung. Der Mensch will im wirklichen Bewußtseyn das ganze Leben darstellen, jenes versirt aber nicht mehr im Gebiet des Irdischen wie dieses, und deßwegen ist es in seinem ersten Versuch ein durchaus willkürliches[,] willkürlich an eine Gestalt gebunden, als flüchtiges Fixiren dieser innren Richtung. Wo dieses in freie Production übergeht, ist natürlich daß sich die Gestaltung anknüpft, aber dem ersten Ursprung nach schon als symbolisch, weil sie diesen innersten Grund darin will wahrgenommen haben. Dieses Symbolische verhält sich also zu diesem Grund des Bewußtseyns gerade wie die Darstellung die sich an Naturtypen hält, sich verhält zum irdischen Grund des Bewußtseyns. Daher geht es auf gleiche Weise in allen Künsten über, aber nicht in demselben Grad und Constanz. Vergleichen wir das Mimische und die bildende Kunst, nahmentlich Sculptur, so müßte [es] wohl noch viel eher dem einzelnen Menschen widerstreben, das Göttliche darstellen zu wollen in seinen eignen Bewegungen als in der Verkörperung eines in ihm gewordnen Bildes. Aber Sculptur und Mahlerei und mythologische Poesie stehen in dieser Beziehung einander ganz gleich. Nun kann jedes Volk sein eignes System von solchen symbolischen Gestalten haben, aber jedes, wenn es die ganze Reihe der geistigen Entwicklung selbstständig bleibend durchmacht, wird auch davon wieder abkommen und die sinnliche Gestaltung des Bildes wieder zurükziehen auf das Gebiet des irdischen Bewußtseyns ausgehend im Bestreben, das Höhre sich nur zu vergegenwärtigen im Wort. Auch da sind zwei Perioden 1.) Wo die einzelnen Säze als die reine Wahrheit des Göttlichen darstellend [angesehen wurden] und 2.) eine solche wo sie auch wieder nur als symbolisch erkannt wurden. — Denken wir in bildender Kunst ein mythologisches System von phantastischen Gestaltungen so liegt das näher an jenem ersten Punkte, als wo es ganz in die menschliche Gestaltung übergegangen ist. In hellenischer Gestaltung findet sich ein solcher umkehrender Proceß. Anfangs war alles Fetisch, dann blieben die höhren Darstellungen des Göttlichen noch phantastisch, während die untren (Heroen cet.) schon menschlich waren; und endlich das höhre

205 | 206

Die bildenden Künste

379

in das menschliche übergehend und dann das untergeordnete als phantastisch erscheinend, wo die allegorischen und eigentlich symbolischen Darstellungen mannigfaltig in einander übergehen. Eine νίκη ist phantastische Gestaltung*, da menschliche Gestalt keine Flügel hat, aber eigentlich mehr allegorische Darstellung, als eine mythologische oder symbolische Person, da das Persönliche eigentlich verflüchtigt ist, und ein Verhältnis dargestellt wird unter Form der Persönlichkeit. Dieses führt zurück auf jenes, daß bei Mahlerei die große Production religiöser Gemählde gar nicht auf überwiegend religiöse Begeisterung der Mahler beruhe, da diese Kunst vom Gegenstand unabhängig. Was wir nun vom Symbol und Mythologischen in Sculptur sagten, könnte wieder so angesehen werden. Woher sind eigentlich diese Ideen? Allerdings gingen wir auf etwas ganz allgemein Menschliches zurück, aber die Art und Weise, wie sich dieses ausspricht, ist zunächst etwas Nationales; aus diesem entspringt also erst das andre; ob man nun historisch entscheiden kann, oder nicht, ob die Bildwerke oder die Poesie das ursprüngliche ist, so muß immer etwas allgemeines vorangegangen sein, dem erst die bestimmte Kunstproduction im einen oder andren gefolgt ist. Die ältesten ἀγάλματα*, die schon auf diese Vorstellung zurückgehen, sind ja noch etwas kunstloses gewesen. Freilich hingen sie schon mit etwas öffentlichem zusammen, und fragen wir, wie es zum ganzen System stehe, so müssen wir sagen, wenn wir in der christlichen religiösen Darstellung finden, wie solche Bilder entstehen konnten, daß die eine Maria auf die andre eifersüchtig sei, wie ein König von Frankreich sich bei einer Maria entschuldigen ließ, daß er immer die andre bei sich trage*; so sieht man wie die Ansicht, die Götter auf historische Personen zurückzuführen erst später ist. In Mythologie scheint es umgekehrt, die verschiednen | Zeus, Apollons cet. wurden erst allmählig Einer aus verschiednen und an verschiednen Orten entstandnen Mythen. Das ist das Nationale, das an verschiednen Orten kunstlos entstand, dessen sich dann die Kunst bemächtigte. Weder die Bildhauer noch Dichter haben in sich eine Begeisterung für symbolische Darstellungen des Ewigen überwiegender; sondern das war in einem Gesamt-

234

235

236

380

Theorie der einzelnen Künste

206

bewußtseyn. Gab es einen Nahmen allgemein, so das Bild dazu, zuerst innerlich, dann bemächtigt sich die Kunst desselben. Ihr Interesse liegt nicht in der Vorstellung, sondern darin, das, was in dieser gegeben ist, auf die vollkommenste Weise in der sinnlichen Gestalt darzustellen. Möglich ist, daß diese Richtung bei einem Volke bloß poetisch werde, und bei einem andren bloß gestaltbildend, wiewohl es sich nicht nachweisen läßt, so doch daß das eine da, das andre dort überwiegt. Da folgt nicht daß in einem Volk diese religiöse Begeisterung besonders in den Bildhauern, im andren unter den Dichtern gewesen; sondern welche Kunst in einer Zeit dominirt, in der prägen sich die Gegenstände aus. In Griechischer Kunst gingen die Hauptgestalten sehr bald überwiegend in das Menschliche und die Götter wurden menschlich gestaltet. Wie diese verschiednen Charaktere sich gebildet, liegt außerhalb des Gebiets der Kunst weil es in jener allgemeinen Productivität liegt, die nicht mehr Kunst ist, sondern vom religiösen Motiv aus. Was diese Vorstellungen ausbildete, war nicht von Kunst aus entstanden, sondern aus religiösen Vorstellungen; und die Kunst verhält sich dann zu dem außer ihr fixirten, gerade wie zu historischen Gegenständen, daß sc. die Gestaltbildung und das Mimische zusammentreffen. In der Sculptur nimmt es einen andren Charakter an als in der Mahlerei. Allerdings hat sie auch in der Darstellung als Bewegendes doch ruhend ihre Grenze, in Sculptur aber sind diese Grenzen noch enger. Mahlerei hat größre Lincenz in Darstellung mannigfaltiger Bewegungen wie die Sculptur. Die Zurückführung auf das Gebiet der Sculptur ist viel unmittelbarer, als für Mahlerei; es fragt sich, ist die Bewegung eine solche, daß sie kann gedauert haben um aufgefaßt zu werden. — Noch ein andrer Punkt kommt hier in Betracht. Von vorn hinein sagte ich, daß aus demselben Grund, durch den die Mahlerei die Gestalten in Lichtverhältnissen darstellt, die Sculptur von diesen abstrahire, aus demselben Grunde die leztre mehr auf einzelne Gestaltungen gehe als auf Zusammensein. Hieraus folgt auch, daß die Sculptur in ihren Gestalten eine größre Ruhe fordert, weil in der Bewegung immer eine Beziehung auf ein andres ist. Finden wir geschichtlich daß die Sculptur früher die Gestalt nicht

206 | 207

Die bildenden Künste

381

gehörig auseinander gelegt darstellte, i. e. ohne daß die Glieder sich von einander lösten, sondern in ununterbrochner Masse, so kommt das von zweierlei. Zuerst zeigt dieses den Übergang aus dem Kunstlosen in die Kunst. Die Gestalten aus dieser Periode sind überwiegend nicht historisch, sondern symbolisch; schließen sich zunächst an jene gestaltlosen Heiligthümer an, und sind Übergänge von diesen in die Gestaltung. Das andre Moment ist, daß die Sculptur ursprünglich von der Gestalt an und für sich ausgeht, und daß erst ein stärkres Bewußtseyn von der Art, wie sich die Gestalt in der Bewegung manifestirt gegeben sein mußte, um nun in die Kunstdarstellung überzugehen. — Häufig sezen die Bildhauer an den Mahlern aus, daß sie die innre Wahrheit der menschlichen Gestalt nicht gehörig studirten, ihre Beleuchtung oft so sei, daß keine wahre Vorstellung vom Innern der menschlichen Gestaltung (Knochenbau) zu Grunde liege, sondern sie würde durch Spiel des Lichts auf der weichen Oberfläche zur Darstellung geführt, die mit dem innren Bau im Widerspruch stände. Man kann nun dieses umkehren, und von Mahlerei aus der Sculptur vorwerfen, daß diese Kunst deßwegen länger in jener unnatürlichen Darstellung blieb, weil sie in der Gestalt, wenn sie in Bewegung ist, das, wovon sie ausgehe sc. das Princip der soliden Gestaltung, das in den festen Theilen liegt, darin nicht so anschauen könnte, wie in der ruhigen Gestalt. So ist allmähliche Fortschreitung aus dem gedoppelten Motiv. Die Gestalten in Masse immer bestimmter sich ausbildend, die einzelnen Theile sondernd bis zu Darstellung der Gestalt in der Bewegung. — So wie wir die Sculptur überwiegend von einzelner Gestalt ableiten und sagen die Bewegung sezt eigentlich immer ein Verhältnis einer Gestalt zur andren voraus, weil Bewegung eine Richtung und diese einen Zwek hat; so fragt sich: Wie weit ist die Sculptur hierdurch beschränkt und welche Beschränkungen liegen ihr vermöge des eigentlichen Charakters der Kunst auf, so daß was darüber hinausgeht nicht mehr den eigentlichen Charakter der Kunst ausdrückt? Wir gehen vom Vergleich der Mahlerei aus, vom ursprünglichen Sehen, wie die Mahlerei es nachbildet. | Wäre es möglich daß die Sculptur ein solches Zusammensein der

382

237

238

Theorie der einzelnen Künste

207

Gestalten darstellen kann wie die Mahlerei, i. e. einen historischen Moment, woran verschiedne Personen theilnehmen? Auf der Bühne stellen ihn lebende menschliche Gestalten dar. Könnte die Sculptur nun einen solchen Moment fixiren wollen? Die Aufgabe läßt sich stellen und Realisirung läßt sich denken. Warum geschah es denn nie? oder ist es geschehen? Denkt man es ausgeführt analog der mimischen Darstellung, so ist diese in einem beschränkten Raum, der wesentlich dazu gehört; die Decoration mag noch so flüchtig und bloß angedeutet sein, so gehört sie wesentlich zur mimischen Darstellung, wie der Rahmen zum Gemählde, wodurch erst dieses wahre Einheit wird. Dächte ich diese Gestalt in Sculptur dargestellt in demselben Moment aus der mimischen Darstellung, so würden es immer nur mehrere neben einander stehende Kunstwerke sein, weil überwiegende Richtung jedes für sich zu betrachten; und erst durch bestimmte Umgebung müssen sie Einheit haben. Diese kann aber die Sculptur nicht hervorrufen, und dächte man es sich, so würde man sich auf einem fremden Gebiet denken. Wie weit kann also die Sculptur gehen über die einzelne Gestalt hinaus? An welchen Grenzen hört ihr Gebiet auf? Eins ergibt sich von selbst als Erweiterung. Denkt man sich Gruppen wie Amor und Psyche als sich umschlingend, oder die zwei Dioscuren, oder sonst zwei Gestalten so, daß sie auf demselben Postament stehen können*, so daß Einheit der Basis ist, was der Einheit des Grundes im Gemählde entspricht: so ist das eine wahre Einheit umso mehr als die Glieder in einander verschlungen sind, daß man sie auch abgesehen von der Basis nicht voneinander trennen kann. Kann das nicht noch weiter gehen? Wir haben ja Darstellungen wo drei zusammen gehören, Horen und Grazien in verschlungner Bewegung als Eins auf derselben Basis, und theilweise aufeinander ruhend. Denken wir uns diese nehmlichen aber nicht mehr auf Einer Basis, ist dann noch Einheit des Kunstwerks? Also in demselben Raum an verschiednen Orten drei Figuren, jede mit Charakter einer Hore oder Grazie oder Parze*; dann ist zwar eine gewisse Beziehung unter ihnen, aber doch will jede für sich sein; zusammengestellt sind sie nur durch ihre Zusammengehörigkeit außer dem Kunstwerk. Ständen sie auf

207

Die bildenden Künste

383

Einer Basis und doch völlig gesondert, so ist das unvollkommen, weil weniger Leben dargestellt ist als unter diesen Bedingungen möglich wäre; stände sie so isolirt, aber doch jede in der Stellung wie wenn sie nur aus der Umschlingung gelöst wären, so ist es auch unvollkommen, und nur das innre Auge kann die Verschlingung sich wieder denken, aber nicht unmittelbar in Beziehung auf das Kunstwerk. Also zweierlei ist zu unterscheiden[, die] Einheit als Kunstwerk wie sie bestehen kann noch bei Mehrheit von Gestalten; und Zusammenstellung mehrerer Kunstwerke durch eine gewisse Beziehung unter einander, wo dann eine Einheit des Raums sein muß, in dem diese zusammengehörigen Kunstwerke ausschließlich vorhanden sind. In unsrer Kunstsammlung ist ein merkwürdiges Beispiel wie dieses zu falschen Urtheilen verführt; eine Anzahl alter Sculpturwerke, die man früher die Gruppe des Lycomedes, wo Achill gefunden wird[,] hieß.* Das sind einzelne Gestalten, die sich auf den mythologischen Moment zurükführen ließen; man sezte voraus, es sei zusammengehörig gemacht worden eine bedeutende Zahl einzelner Gestalten, die zusammen den dramatischen Moment darstellen. Das war eine falsche Auslegung und die Gestalten gehörten nicht zusammen. Ich glaube nicht das je in der alten Kunst so etwas aufgegeben und ausgeführt wurde, weil das nicht in der Natur dieser Kunst liegt; sondern erst durch Einheit des Raums so entstanden. Was auf Einem Postament steht in Sculptur ist ein Ganzes. Daraus folgt, daß das Mimische sich beim Bildhauer mehr auf die Stellung beschränkt als auf eigentliche Bewegung. — Betrachten wir die Aufgabe von Griechischer Kunst aus in der Theilung von Götterbildern und Portraits: so erscheint hier für den Bildhauer der Charakter der einzelnen mythologischen Figuren als ein gegebner, fixirt im Gesamtbewußtseyn. Hieraus folgt, daß so wie die einzelne Gestaltbildung von diesem Gegebnen ausgeht, ein gewisser Typus sich feststellte, also die einzelnen Darstellungen nur innerhalb eines solchen Typus variiren können. Dieses geht auch auf die zweite Classe der mythologischen Figuren, auf die mehr heroischen über. Wie stand es wohl bei den Alten mit der geschichtlichen Gestaltung wie sie mehr der Historienmahlerei

239

384

240

241

Theorie der einzelnen Künste

207 | 208

und [dem] Portrait gegenübersteht? Nicht zu bezweifeln ist, daß insofern die einzelnen historischen Personen gleichzeitig oder aus frührem Andenken | dargestellt wurden, die Persönlichkeit wollte dargestellt werden. Hierauf ist Alles anzuwenden, was in Mahlerei vom Portrait gesagt ist, nur daß hier dem Portrait nicht eine solche Masse von zusammengehörigen Kunstwerken gegenübersteht, wie in Mahlerei. — Da entsteht eine vergleichende Betrachtung, in wiefern diese Aufgabe in beiden Künsten dasselbe ist, und welche von beiden Künsten dafür mehr leisten kann. Für unrichtig erklärte ich, daß Mahlerei den Schein darstelle, die Bildhauer aber die Wahrheit, denn insofern sie nur das Äußre darstellen, ist es auch nur Schein, und andrerseits hat die Mahlerei eine Wahrheit (die Färbung), welche die Sculptur nicht hat. In wiefern steht der Sculptur frei, ihren Werken auch diese Wahrheit der Färbung zu geben, oder ganz ohne dieselbe? Bei den Alten gab es gemahlte Statuen, selbst in großen Kunstwerken gab es etwas wenigstens, in die Statuen eingelegte Augen von einem den Glanz und [die] Durchsichtigkeit nachahmenden Stoff*. Jetzt würde beides auf uns widrigen Eindruck machen. Warum? Man meinte, weil das eine zu genaue Nachahmung des Lebens sei; aber das kann man doch nicht tadeln, insofern die Kunst einmahl Nachbildung sein soll. Daher die Büsten aus späterm Alterthum wo man wie bei geschnittnen Steinen zweifarbigen Stoff sucht, dem Gewand einen andren als das Gesicht, und je näher es der Natur kommt, desto weniger störend*, obgleich es nicht Aufgabe ist, sondern ein glücklicher Fund. Andre wollten es tadeln deßwegen, weil es auf Täuschung ausgehe, aber darauf ist gänzlich zu erwidern, was ich über das Perspectivische der Mahlerei gesagt, daß es eben das wirkliche Sehen darstelle. Dennoch hat man dieses ganz verworfen. Wie stellt es sich von unsrem Begriff aus gegen die Aufgabe der Kunst? Das Färben der Natur war immer etwas beschränkt, und ich weiß nicht ob eigentliche Färbung sich in Portraitstatuen findet. Bedenkt man, daß die erste Periode die von colossalen Statuen ist, so ist dies vielleicht ein Anknüpfungspunkt zu dem ich noch dieses zweite nehme, daß eine Büste von zweifarbigem Stoff schwerlich denselben Eindruck macht, wie

208

Die bildenden Künste

385

eine gefärbte Statue. Das Resultat von beidem wird dieses sein. Die Sculptur indem sie solide Gestalten darbietet, will dieselben auch eigentlich von allen Seiten her betrachtet haben, aber indem sie zugleich die solide Oberfläche darstellt, so sind auch alle die feinen Erhebungen der Form dargestellt nicht durch Beleuchtungsverhältnisse sondern in der Oberfläche selbst. Da fragt sich: Ist nicht noch ein andrer Sinn, durch den die Vollkommenheit der Form gefaßt werden kann als nur das Gesicht? Geht man davon aus, daß das Gesicht uns ursprünglich nicht die Tiefe gibt, die man erst durch Tastsinn erlangt, so könnte man meinen, die Sculptur arbeite auch für den Tastsinn; und nicht ganz zu leugnen ist, daß die Kunst wirklich darauf ausgeht, daß die Kunst auf den Tastsinn dieselben Differenzen vom Eindruck machen soll, wie die menschliche Gestalt selbst. Freilich liebt niemand die Betastung von Statuen, aber nur weil dieses das Werk leicht alterirt; ahmt sie aber auch für die Fingerspizen die menschliche Gestalt nach, so ist das eigentlich eine Vollkommenheit die eigentlich das Höchste ist, nur daß man sie nicht unmittelbar so gefaßt haben will, da Berührung eine chemische Schädigung bringen kann, sondern auch durch das Auge. Wir sagten uns vom Verhältnis des innren Kunstwerks zur äußren Darstellung, daß der Mahler sein Bild innerlich sieht, was sein eigentliches Urbild ist, das immer der äußren Darstellung voran sich entwickelt. So kann nicht der Bildhauer seine Statue innerlich sehen, wenigstens nicht in einer Einheit, weil sie nicht zugleich vom Auge gefaßt werden kann. Sein Urbild also ist das Modell, das schon äußerlich hervortreten muß, und da stellt sich das Verhältnis der mechanischen Hülfe ganz anders als in Mahlerei. Da war wenig rein Mechanisches, sondern Kunstsinn und Kunstfertigkeit mußten dieselben sein. Der Bildhauer hingegen stellt das Modell hin und das ist dasselbe, sei es bestimmt in Marmor oder Erz ausgeführt zu werden. Nun treten die mechanischen Arbeiten ein, aber das lezte ist offenbar wieder die Arbeit des Künstlers, daher die Oberfläche diese lezte Vollkommenheit erhält, wo in Marmor dargestellt wird. Nicht so, wo in Erz gegossen wird, denn Künstler werden auf Bearbeiten des Marmors mehr eingeübt, der Ciseleur* hat sein Geschick

242

386

243

Theorie der einzelnen Künste

208 | 209

mehr in mechanischer Arbeit in Erz und kommt von daher die lezte Vollendung zu geben. Die Gelegenheit Statuen in Erz zu gießen ist nicht genug gegeben, um die Künstler selbst hier vollkommen zu | machen, aber jene Ciseleure haben doch Richtung auf die Kunst und werden oft producirende Künstler. Wie steht es nun mit allem was Oberfläche ist, Muscelbau, Kleidung cet. wenn man sich gefärbte Statuen denkt? Alle Stellen könnten dann nicht gleich viel Farbe haben und bestimmte Differenz für Tastsinn wäre die reine Oberfläche und die gefärbte, welche dem Tastsinn schaden würde; also das eigenthümliche der Sculptur, die reine Oberfläche würde aufgeopfert einem der Sculptur nicht eigenthümlichen Element. Nun haben die Statuen eine gewisse Größe, oft über das Leben (nur nicht colossal, d. h. alterirt in den Dimensionsverhältnissen), so ist das Werk für einen fernen Standpunkt und die Berührung abgeschnitten, also kann dieses nur durch die Oberfläche geleistet werden. Da hört der Nachtheil auf, der die Färbung hervorbringt, und das Kunstwerk ist mehr analog dem der Mahlerei. — Es gibt nun Verschiedenheiten in verschiednen Zeiten, die Unwahrheit enthalten. Unsre Statuen markiren oft die Augäpfel durch einen Einschnitt, das ist eine Unwahrheit, durch die dargestellt werden will, etwas, das eigentlich nur die Färbung darstellen würde; dieser Einschnitt ist eine Unwahrheit. Ja man markirt auch im Auge den Lichtpunkt, was noch größre Unwahrheit ist, denn der ist nur ein beweglicher Schein und stellt die Büste unter ganz andre Bedingungen, da er, so wie das Licht anders fällt, anders spielen würde, also sich nicht durch ein Feststehendes markiren läßt. Die alten Statuen zeigen gar keine solche Unterscheidung, sondern geben bloß die Rundung des Auges in seinem Abschnitt von den Augenlidern, ohne die gefärbten Theile irgend zu unterscheiden.* Diese Enthaltsamkeit hat die neure Kunst aufgegeben. Worin liegt der Grund? Doch wohl darin, daß wir in Betrachtung der menschlichen Gestalt das Antliz in ein ganz andres Verhältnis stellen als die Alten, unsre ganze Betrachtung der menschlichen Gestalt ist weit mehr physiognomisch; das bewegliche Antliz imprimiren wir uns mehr als die ganze Gestalt. Das hängt mit der ganzen Lebensweise

209

Die bildenden Künste

387

zusammen und zeigt sich so in der ganzen Geschichte der Kunst. Betrachten wir die älteste Mahlerei, so ist gleich eine große Tendenz auf physiognomische Auffaßung, wo die Gestaltverhältnisse viel mehr vernachläßigt sind. Das zeigt ein Übergewicht nach dieser Seite, wie es bei den Alten nicht war. Das hängt z. B. auch mit ihrer dramatischen Darstellung durch Masken zusammen, und mit der größren Gewöhnung, große Massen zu sehen, wo physiognomische Differenz sich mehr verknüpft; und mit größrer Gewöhnung die Gestalt selbst zu sehen, was in Differenz der Bekleidung und des ganzen Lebens gegründet ist. Da kann man nicht unbedingt das eine vorziehen; offenbar drückt sich das Ethische überwiegend im Gesicht aus, also nahmen die Alten Vieles nicht so wahr, wie wir, und Vieles Ethische war bei ihnen im Einzelnen gar nicht so ausgebildet wie bei uns, daher die Richtung auf die Betrachtung eine andre sein mußte. Daher glaube ich, es sei der neuren Sculptur angemessen und zu Gute zu halten, obgleich es über die strengen Geseze der Kunst hinausgeht. Jeder entbehrt etwas, wenn in Büste das Auge ganz antik dargestellt würde, wir verlieren einen Punkt für die Betrachtung der uns zu wichtig ist. Läßt sich denn der Eindruck der das Auge auf uns macht durch die moderne Darstellung in Sculptur erreichen? Beschränkt bleibt dieses Mittel, aber doch kommt dieser Theil gleich mehr in das Verhältnis, das wir ihm einräumen; wenn also auch die Richtigkeit der Betrachtung nicht auf den höchsten Gipfel kommt, so wird doch die Vollständigkeit erleichtert. Halten wir hieran jene Formel, daß Sculptur die Wahrheit mehr darstelle als die Mahlerei, so ist es hier ganz verkehrt, da sie hier etwas ganz falsches darstellt. Dennoch gewinnt dadurch für uns die Wahrheit und auf Täuschung ist es nicht abgesehen; sondern es sind zwei verschiedne Methoden der Kunst von verschiednen Gesichtspunkten aus. Mit Zerfall des alten öffentlichen Lebens trat das Persönliche und Individuelle mehr hervor und bedurfte mehr der Darstellung. Es entsteht nun die wichtige Frage über die Bekleidung der Gestalten. Je mehr die Auffassung auf die Gestalt geht und weniger auf das Antliz, desto mehr ist die Kleidung ein Hinderniß;

388

244

Theorie der einzelnen Künste

209 | 210

je mehr das Antliz dominirt, desto mehr läßt man sich eine der Wahrheit entgegenstrebende Verhüllung gefallen. | Wie wir in Mimik die Drapperie nicht zur mimischen Darstellung rechneten, so ist in Sculptur Behandlung des Gewandes bedeutend. Gibt es nun etwas Constantes in der Kunst, was die Verhältnisse dieser zwei Momente fixirt, oder ist es ein veränderliches? Daß es in gewissem Sinn veränderlich geht schon aus Differenz zwischen Antik und Modern in Beziehung auf den mimischen Gehalt in Sculptur hervor. Aber als indifferent gegen die Vollkommenheit der Kunst wäre es erst bewiesen, wenn das Antike und Moderne gleich ständen. Aus den tiefsten Gründen Entscheidung suchend gehen wir bis auf den ersten Punkt, sc. die innre Gestaltbildung im Künstler selbst. Kann man eigentlich voraussezen, daß diese innre Gestaltbildung ursprünglich immer auf das Nackte gerichtet sey, und die Verhüllung ein erst für äußre Darstellung Hinzukommendes? Bejaht man das, so hat die Verhüllung ihre Grenze in diesem ersten Acte, indem sie nur so seyn dürfte, daß der erste Act dadurch nicht verloren gehe i. e. die Gestalt in allen ihren Verhältnissen gleichsam vollkommen hindurchschaue. Fixirt man diesen Punkt, so ist die Sache entschieden. Aber ist dieses die richtige, und einzig richtige Entscheidung? Sehen wir auf das Verhältnis zwischen Auffaßung und Bildung der Gestalten, so ist allerdings in unsrem gegenwärtigen Zustand nicht zu behaupten, die innre Kunstbildung gehe in das Nackte, ohne daß wir den Zusammenhang zwischen dem wirklichen Leben und freier Productivität aufheben. Die Auffaßung ist immer nur von verhüllter Gestalt. Will der Künstler von dieser Auffaßung ausgehen und von dieser her immer seine freie Production erfrischen, so muß er sich jenes Nakte erst machen in nacktem Zustande. Das geschieht in Schulen der Bildhauer als Studium nach dem Modell. Das Antike und Moderne aber sind da bedeutend different wegen ganz andrer Art der Bekleidung. Dieses hat hernach auf die Ausführung einen bedeutenden Einfluss. Die neure Sculptur war eine Zeit lang theils in allen (Nicolovischen)* Figuren auf oft willkürliche Weise das Nakte mit willkürlicher Phantasie [darstellend], die es mit nichts historisch gegründetem in Verbindung bringt.

210

Die bildenden Künste

389

So die französischen Künstler. Auf der andren Seite stellte man die Gestalt in dem Costüme der Zeit dar, wobei dem Beschauer unmöglich wurde aus demselben zurück die Gestalt zu erfassen. Geht man davon aus, was die Bildhauer immer aufstellen, daß sie die Gestalt von innen aufbauen, also vom Knochenbau aus, und Studium des Knochenbaus und der Musculatur, jenes als Gerüst und dieses als nächste Verhüllung immer das erste ist; so ist die nackte Haut das nächste was dem Künstler erscheint. So wäre es gefährlich für den Bildhauer, wenn er nicht immer vorher die Gestalt in ihrer Nacktheit dächte und erst auf dieser die Bekleidung legte. Denken wir, wie der Bildhauer in weichem Stoff arbeitet, so ist dieses leicht möglich. Da hat er dann viel größre Sicherheit, daß die Wahrheit in seinem Kunstwerke ist auch bei der Verhüllung. Aber keineswegs kann man dieses als nothwendig fordern; sondern wer schon einen höhren Grad von Sicherheit hat, bedarf der äußren Ausführung dieser Operation nicht, sondern ergänzt das Nakte von Innen. Aber verfahre der Künstler wie er will, thut er das Seinige, wenn er dem Beschauer die Bekleidung [der] Gestalt so darstellt, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob dieser die Gestalt selbst darin auffaßt oder nicht? Dieses dem Beschauer so leicht als möglich zu machen ist das maximum der modernen Behandlung, was als Entartung kann angesehen werden. Wie steht es in Beziehung auf die zwei Hauptgattungen dieser Kunst; kann der Künstler in Beziehung auf nicht historische Figuren (mythologische oder symbolische); kann er da die Umhüllung ganz frei einflechten, und hingegen historischen Figuren die wirkliche Bekleidungsweise der Zeit und Localität geben? Sobald wir das leztre in allen Fällen als Nachtheil ansehen, wo die historische Verhüllung so ist, daß das Auffassen der Gestalt nicht möglich ist, und stellen doch diese Trennung auf, so ist Differenz so groß, daß die Portraitstatue eigentlich aus dem Kunstgebiet herausgerückt, und nur Kunst an einem andern ist, so weit es der eigentliche Zwek erlaubt. Will die Kunst die Typen der Natur darstellen, so muß man die Gestalt in ihrer Wahrheit darstellen; also muß möglich seyn, daß die Kunst nur Bedingungen aner-

390

Theorie der einzelnen Künste

210 | 211

kenne, die sich damit vertragen. Auf der andren Seite ist aber Bekleidung dem Menschen wesentlich, die Sculptur kann sich also nicht ganz davon losmachen. Wie weit ist er dabei an das Gegebne gebunden? So wie die Alten Götterbilder darstellen, waren sie in dieser Beziehung in absoluter Freiheit, denn den Göttern gab man die Wahrheit der menschlichen Gestalt, aber nicht unter der Bedingung, woraus Bekleidung Bedürfniß | wäre; also stand frei, sie nackt oder bekleidet darzustellen. Einen Übergang von diesen zum Historischen hatten sie an den Heroen, wo wir dasselbe sehen. Es gab immer etwas neben der Gestalt, wodurch die Heroen bestimmt wurden. Nun finden wir daß die Künstler sobald sie aus symbolischem Gebiet herabsteigen und im menschlichen Leben versiren, die Bekleidung hatten, aber mit dem Vortheil einer solchen Bekleidung die in der Lebensweise begründet das Durchscheinen der Gestalt begünstigte. Es gehört schon eine Entwicklung des Sinns [dazu], wenn Kunst sich in Anordnung der Bekleidung geltend macht; also ist sie ein Gegenstand schon in der Wirklichkeit des Lebens, an welchem Kunst seyn kann. Es verbindet sich das Bedürfniß und das Schmücken mit der menschlichen Gestalt. Dieses hat der Künstler darzustellen. Kann er nun gebunden sein, eine Darstellung zu geben, die der Kunst widerstrebt? Dann verliert er sich aus dem Gebiet der Kunst heraus und sein Kunstwerk ist nicht mehr ein reines, sondern steht unter andren Bedingungen, ist untrennbar. Das ist also ein Nothstand, wenn die Künstler um in Kunst thätig seyn zu können, sich unter solche Bedingungen stellen müssen. Dann sind sie auch von da aus zu beurtheilen und nicht rein von Kunst aus; und man sieht nun, wie der Künstler diese Duplicität löst von Kunst und einem andren Princip. Offenbar soll der Künstler möglichst gegen solche Bedingungen ankämpfen, was man auch bei allen wahren Künstlern finden [kann, jedoch] nicht in allen Zeiten gleich. Wo am wenigsten, da muß das reine Kunstinteresse am wenigsten dominirt haben. Da ist die Periode selbst, wo die Künstler sich solcher Drapperie anschlossen, die die Gestalten nicht durchschimmern läßt, eine Periode der Entartung und alle Virtuosität darin ist auf untergeordneter Stuffe. Daraus folgt aber

211

Die bildenden Künste

391

gar nicht, daß der Künstler überall auf das Nackte ausgehe und das eigentlich das Motiv seines Widerstrebens gegen jene Bedingungen sei; sondern dadurch würde einer seinem Kunstwerk die mimische Wahrheit rauben; und die ist in geschichtlicher Arbeit viel wesentlicher als in mythologischer. In dieser ist der Moment immer rein zufällig, nur der Typus des Charakters der mythologischen Gestalt in menschlicher soll zur Anschauung kommen; daher ist ein geschichtlicher Moment dabei zufällig; also hat man es bloß mit der Stellung zu thun, und da die Figuren von allen Bedürfnissen frei gedacht werden, so steht frei, sie bekleidet darzustellen oder nackt; und daher kann der Künstler hierin leicht den Forderungen eines Andern entsprechen, da beides für die Kunst indifferent ist. Nun gibt es für historische Sculptur zwei differente Methoden, die beide anzugeben sind als gleichstehend 1.) Im Geschichtlichen muß der Künstler für Bekleidung von der Wirklichkeit ausgehen, sich aber eine solche Freiheit dabei vorbehalten, daß er so viel [wie] möglich der Aufgabe seiner Kunst genügt. 2.) Der Künstler muß ausgehen davon, daß seine eigentliche Aufgabe ist die Gestalt in ihrer realen Totalität. Davon darf er nur so viel abweichen als Annäherung zur Wirklichkeit, als die Aufgabe der Kunst selbst nicht gefährdet wird. — Da ist differente Schäzung; man kann sagen, die zweite stellt mehr die Kunst rein auf, die erste die Bedingungen mit, welche die Kunst finden kann. Aber beide treffen auf einem Punkt zusammen. Durch die erste Methode sezt sich der Künstler am meisten in Fall auf das Kunstlose oder Kunstwidrige in Bekleidung normal einzuwirken und die Kunst auf einem andren Gebiet geltend zu machen, wodurch der Nachtheil sich hebt, wogegen die zweite Methode leicht stehen bleibt bei einem Punkte, von dem aus noch keine Verbesserung der Wirklichkeit ausgehen kann. So wie die Sculptur wirkliche Personen darstellt, ist sie genöthigt, sie in ihrer geschichtlichen Position darzustellen und darin liegt schon eine gewisse Nothwendigkeit. Wenn ein Feldherr dargestellt wird, muß man ihm das ansehen, i. e. der kriegerische Charakter in der Bekleidung da seyn als wesentlicher Theil des Kunstwerks. Aber dennoch strebt der Künstler dieses so

392

245

Theorie der einzelnen Künste

211 | 212

zu modificiren, daß dieser Zwek erreicht wird aber auf eine Weise, die dem allgemeinen Kunstzwek am wenigsten schadet. So ist es schwierig, die Frage auf allgemeine Weise zu entscheiden und verschiedne Zeiten können sich auf verschiedne Seiten neigen, da hier immer eine Art Conflict ist zwischen der ursprünglichen Richtung die bloß die Gestalt will und dem Specifischen in den einzelnen Aufgaben der Kunst. Ich abstrahire hierbei [davon], inwiefern der Künstler da unter Gebot eines Andern steht, da dieses Specifische schon nothwendig in das Gebiet der Wirklichkeit führt. Dieselbe Frage kam im Mimischen vor für dramatische Darstellung, wenn [von] Personen aus geschmack- und kunstlosen Zeitaltern die Rede [war]. In Mahlerei tritt die Frage weniger stark hervor, und wird besser in Sculptur betrachtet, an der einzelnen Gestalt. Wir sehen, wie die Kunst so auf das Leben zurückwirkt, insofern sie Personen aus demselben Sittenkreise darstellt. | In unsren allgemeinen Erörterungen haben wir abgewiesen als ob Ästhetik die Theorie des Schönen sey, um die mehr selbstthätige Seite in [der] Production hervorzuheben. Alles an sich Darstellbare will dargestellt sein. Schön aber hat man in neurer Zeit über das Gebiet der Gestalt aus erweitert*, wovon man wieder zurückkommen sollte; hier sind wir in seinem eigentlichen Gebiete und betrachten den Begriff des Schönen als Grenze dessen, was und was nicht dargestellt werden soll. Die freie Productivität soll also ergänzen, was der Natur abgeht, die durch andre Bedingungen in ihrem Gestaltbilden beschränkt ist. Schön wäre also nur, was die menschliche Gestalt so darstellt, daß nichts sich denken lasse, was von außen her durch Beschränkung der bildenden Kraft entstanden wäre. In Natur ist dem Kind der Zusammenhang mit der Mutter schon etwas Äußres, und was von Mutter aus die Bildung der Gestalt des Kindes nachtheilig influencirt, ist uns auch ein Äußres. Wie sollen wir nun stehen bleiben bei Anwendung dieser Formel? Es gibt ausschließliche Verehrer des Griechischen Ideals, voraussezend, die Griechische Gestaltung sei der wahre Naturtypus; da sie die Natur am wenigsten beschränkt, daher alles sich diesem Typus annähern solle. Also würden sie sagen: Die plastische Kraft der Natur denken wir

212

Die bildenden Künste

393

als Eins, aber in verschiednen Zonen vertheilt, ist sie verschiednen Einflüssen ausgesezt, nimmt also verschiedne Modificationen an in den verschiednen Racen und Volksthümlichkeiten, das sind nicht Wirkungen von der plastischen Kraft aus, sondern der climatischen Einflüsse auf jene; also sind sie alle unvollkommen, i. e. ein partielles Unschönes. Daher solle sich die Gestaltbildung hinwenden zu dem, was von diesen Modificationen nichts an sich trage. Das wäre die Rechtfertigung der Ansicht nach unsrem Princip. Es geht tief zurük, darauf, daß alle menschliche Gestaltung Ein Typus sei, und alle Modificationen von Außen. Wer hingegen behauptet, die menschliche Natur ist nicht ein einfacher Typus, sondern ist in sich schon ein andrer in allen verschiednen Racen cet.* Die Kunst müsse dann das vollkommne von diesem Typus darstellen und nur entfernen, was diesen hemmt. Also gäbe es so viele schöne Typen als es menschliche Constitutionen der menschlichen Gestalt gibt, in jeder Race und sich heraushebender Volksthümlichkeit ein eignes. Der Streit, bis hierher verfolgt, liegt außer unsrem Gebiet; es sind zwei Hypothesen, zwischen denen nur die NaturWissenschaft entscheiden kann, nach welchen Forschungen, können wir nicht angeben. Was ist also von unsrem Standpunkt zu thun? Wir können es nur geschichtlich behandeln. Allerdings unter den Griechen ist die Sculptur als einzelne menschliche Gestalt darstellend, zu einer Vollkommenheit gediehen, von der wir vorher kein Beispiel haben. Das ist eher ein Beweis gegen als für die Theorie; denn es ist ein geschichtlicher Vorsprung, vermöge dem es eine Präsumption hat für die allgemeine Anerkennung, in diesen Typen finde sich die vollkommne menschliche Gestalt. Dieses Urtheil ist also eher bestochen von der hohen Entwicklung die die Kunst dieser Nation erlangt hat. Andre Forschungen scheinen es wieder aufzuheben. Vergleicht man die menschliche Gestalt mit der ihr nächsten animalischen, so hat man immer die vierhändigen Thiere der menschlichen Gestalt am nächsten gerechnet. Da die moderne Ansicht überwiegend vom Antliz und Kopf ausgeht, richtete man die Vergleiche auf diese, und hat einerseits die Affenschädel und andrerseits die Menschenschädel gegenübergestellt nach ihrer Differenz. Da-

246

394

Theorie der einzelnen Künste

212 | 213

raus ergab sich, daß es gewisse Menschen gibt, die den Schädeln der vierhändigen Thiere am nächsten liegen und von da an eine Abstuffung weg; und sagten, die vollkommenste menschliche Schädelbildung muß diejenige sein, die sich am meisten von jenem entfernt und das fällt mit der kaukasischen Race zusammen, wozu alle jezt geschichtlichen Völker gehören. Dies scheint die Ansicht zu stüzen, daß die verschiednen Typen der menschlichen Gestalt sich nicht verhalten wie gleiche Modificationen, sondern wie verschiedne Grade der Vollkommenheit. Aber da die moderne Ansicht, bloß den Kopf zu untersuchen einseitig ist, so gut als die antike die bloß die Gestalt betrachtet, so müßte man wie den Schädel, so das ganze Knochenscelett vergleichen, um zu entscheiden. Aber dann glaube ich nicht daß sich eine solche Abstuffung ergeben würde. Da würden die menschlichen Formen im Abstand von animalischen viel näher zusammentreten. So ist die Entscheidung auch nicht gegeben. Daher fragen wir, | was denn diese Theorien für Einfluss haben auf die bildende Kunst. Die Anfänge der Kunst liegen in einer Zeit, wo die Völker für sich isolirt waren. Da war keine andre Richtung möglich, als den einheimischen Typus aufzufassen und an diesem die Kunst darzustellen. Da würde die eine Theorie gar nicht existiren, also die andre allein würde die Kunst bestimmen. Woher konnte denn jene Theorie doch entstehen? Nur in dem Maaß als die Kunst eines Volkes rein auf die hellenische gepfropft wäre, da könnte es sein, daß der einheimische Typus gleich sich diesem unterordnete. Das hellenische Ideal kann nur das sein, von dem die freie Kunstentwicklung ausgeht. Gesezt die Kunst hätte sich in allen Racen bis auf einen gewissen Punkt entwickelt, so würde erst aus dem allgemeinen Verkehr aller so entstandnen KunstWelten jene Anerkennung als ein comparatives Urtheil entstehen. Nun ist aber unter allen andren Racen die Kunstbildung zurück, und offenbar nicht etwa daher, weil ihr Typus nicht so vollkommen wäre, sie zur Kunst zu reizen, denn Kunstrichtung ist eine Function für sich und tritt doch heraus, auch wo keine vollkommne Gestaltung von außen reizen würde. — So dürfen wir jenes nicht als allgemeines Gesez aufstellen, sondern die Kunst ist anzuerkennen,

213

Die bildenden Künste

395

auch wo sie sich an den zunächst gegebnen Typus hält. Die Frage käme auf das: Würde wohl bei allgemeiner Kunstentwicklung das Urtheil, daß dieser bestimmte Typus allein die freie Thätigkeit der plastischen Natur bezeichnen könnte, so festwerden, daß es hier wieder der naturwissenschaftlichen Forschung die Regel geben könnte? Das liegt so weit ab, daß Entscheidung noch lange nicht möglich ist. — Gegenwärtig ist alle bildende Kunst beschränkt auf Völker, die derselben Race, also derselben wesentlichen Modification der menschlichen Gestalt angehören; und wir wollen die Frage auf diesem Gebiet betrachten. Sollte es einem Bildhauer nun einfallen, einen Neger darzustellen, oder läge das außer der Kunst, weil er sich nicht das Schöne zum Gegenstand mache? Das kann man nicht sagen, sondern nur, es sei eine wunderliche Laune, weil man sich keine bestimmte Veranlaßung denken kann; das Werk selbst kann man deßwegen nicht verwerfen, sondern im Gegentheil könnte eine Richtung entstehen, in diesem Typus die innre Kunstthätigkeit darzustellen. So könnte es an allen Racen geschehen; nur liegt die Aufgabe nicht vor, und es ist kein Motiv dazu da. Kann man nun sagen, daß es auch in der Bekleidung ein an und für sich schönes und unschönes gebe? Manche glaubten, daß moderne Kleidung erniedrige die Kunst, weil sie absolut unschön sei. So weit treiben es die einseitigen Vertheidiger des Hellenischen. Daraus würde folgen, daß die ganze historische Seite der Sculptur disharmonisch würde, sc. Statuen von Männern unsrer Zeit als geschichtliche Personen dargestellt, aber in einer Bekleidung die ihrer geschichtlichen Existenz fremd ist, so wäre das eine Disharmonie: die Gestalt der Wirklichkeit angemessen, die Bekleidung aber gar nicht. Gar nicht als ob das Wirkliche absolut wiederzugeben sei, sondern nur daß Gestalt selbst und Verhüllung in Harmonie seien. Nun kann geschichtliche Person nicht dargestellt werden ohne geschichtliche Stellung, ein Feldherr also in kriegerischer Kleidung, nicht im Schlafrock, wie Männer, deren Thätigkeit und Ruhm in das Zimmer fällt; wollte man nun einen Blücher* in Römischer Kriegskleidung denken, so wäre die Unwahrheit noch auffallender, und es entstände eine Unvollkommenheit, die weit größer wäre, als die welche man

247

396

248

Theorie der einzelnen Künste

213 | 214

vermeiden wollte. Es gibt nun solche Bekleidungen, die die Richtung der Kunst absolut aufheben; freilich weniger in den höhern Ständen, die überhaupt für die ganze äußre Existenz der Kunstrichtung schon verschuldet sind, und Menschen aus mindern Ständen werden nicht Gegenstand der Kunst in einzelner Gestaltung. So scheint die Gefahr nicht so groß. Aber der Künstler, der immer die Gestalt durchscheinen lassen will, wird immer eine Abstuffung finden. So ist weibliche Gestaltung unten wie Tonne, enge Gestalt und darauf ein umgekehrter Kegel, völlig der Kunst zuwider. Hingegen ist unbedingt Griechische Drapperie ebenso unzweckmäßig. Da ist etwas Mittlres nöthig. Bei historischen Personen entfernt man sich nicht ganz von historischer Bekleidung, behält aber Freiheit, es künstlerisch zu modificiren. Wollte man nun so weit gehen, die Sculptur solle moderne historische Gestalten gar nicht darstellen, weil die Bekleidung ihr nicht gemäß ist: ja | dann bliebe ihr so viel als nichts übrig. Wenn mythologische Personen als wirkliche Personen sollten gebildet werden, so ist das unstatthaft, als nur als Studium. Die Poesie hat diesen Weg nicht behaupten können und Mahlerei und Sculptur auch nicht. Je mehr sich das Moderne in die Kunst hineingebildet hat, desto unpraktikabler sind Gestalten, die für uns keine Wahrheit haben. Also bleiben bloße symbolische Gestalten, d. h. eine Productivität, bei der Mahler und Bildhauer immer erst die Poesie in Anspruch nehmen, denn Erfindung des Symbolischen fällt der Poesie anheim, sind sie mimisch auch in das Leben übergehend, dann kann bildende Kunst sie darstellen; aber der Künstler fußt nur auf ein Gesamtbewußtseyn nie auf individuellen Einfall eines Dichters. Für uns gibt es eigentlich gar keine ἀγάλματα*, auch die religiöse Darstellung liegt rein im geschichtlich Menschlichen. So hat diese Eintheilung der alten Kunst in der neuern keine Wahrheit, sondern alte Sculptur muß in ihr den Charakter des Historischen haben. — Die ganze Gattung von Götterbildern ist uns nur noch Studium, außer dem Portrait bleibt noch übrig die symbolische Darstellung häufig genug in moderner Kunst geübt, Tugenden, Gemüthszustände als Personen vorgestellt, was eine etwas zweideutige Gattung

214

Die bildenden Künste

397

ist, da das Ganze überwiegend conventionellen Charakter hat. Wenn dieses das Ethische ist in Beziehung auf den einzelnen, so haben wir auch ein politisches Gebiet, wo das Vaterland z. B. als Statue, ebenso politische Tugenden und Zustände, Tapferkeit, Sieg, Frieden cet. Da ist ein bloß Conventionelles, das ebenso gut ein ganz andres seyn könnte. Ähnliche Personificationen sind allerdings auch in Poesie, aber das sind so wenig Parallelen, als man das in Sculptur von dem Poetischen abzuleiten versucht ist. Was sollten dann als öffentliche Denkmähler an die Stelle dieses Symbolischen treten? Etwas Historisches; also statt von einem Verstorbnen z. B. gewisse Tugenden darzustellen, oder die Trauer um ihn als symbolische Figur: so müssen Momente dargestellt werden, in denen sich dieses manifestirt, und es würde keine vollkommne Selbstständigkeit in einem solchen Kunstwerk sein, weil sie in dem Maaß als sie mehr dem Privatleben angehören, nicht verständlich wären. Müßte da Differenz sein zwischen Darstellung und Bezeichnung (Unterschrift) so ist doch da eine so große Einheit wie in symbolischer Darstellung, das Symbolische mit der Sache. Wie steht es dabei mit der innren Wahrheit? Es liegt ein aus dem modernen Leben genommnes Motiv zu Grunde, analog dem, woraus sich das Mythologische bei den Alten [entwickelte]. Der Sinn der Figuren wäre verständlich, wenn ohne Unterschrift und ohne Conventionelle Bezeichung. Woran dann? Am physiognomischen Ausdruck. Eine Borussia und Germania* zu unterscheiden ohne Unterschrift fiele schwer, weil das Symbol in das Historische hineingedrungen ist; hingegen verschiedne Religionen lassen sich immer erkennen auch ohne Kelch und Kreuz; ebenso Trauer cet., denn hier ist es durch das Physiognomische klar; und was hinzu kommt, ist nur eine Unterstüzung theils durch die verschiednen Grenzen dieses Gebiets, theils durch Unvollkommenheit des Künstlers oder der Beschauer gebothen. Dies der Maaßstab, die Vollkommenheit solcher Werke zu beurtheilen. — Nun hat sich freilich etwas in sie eingeschlichen, worüber sich fragt, in wiefern es ein Kunsturtheil gibt oder nicht, sc. es ist nicht so selten, daß man disparate Elemente vermischt, z. B. symbolische Darstellungen mit Christlichem

249

398

250

Theorie der einzelnen Künste

214 | 215

und Heidnischem, Modernem und Antikem vermischt. Ist das zuläßig oder nicht? Diese Frage ist jener analog, von welcher Wichtigkeit die Genauigkeit im Costüm sei bei theatralischen und mahlerischen Darstellungen. Das Costüm freilich ist ein rein materielles, hier aber haben wir ein Geistiges, aber beide haben für die Darstellung denselben Werth sc. einer Erläuterung der darzustellenden Verhältnisse. Diese Vermischung scheint eine Täuschung, denn als aufgehobne Einheit kann man es nicht erklären; hier müßte man sagen, der Künstler muß gewiß sein, daß beides zusammen verständlich ist. Müßte er voraussezen, daß ein solches Antikes denen unverständlich wäre, denen das Christliche verständlich ist, so würde er die Einheit des Kunstwerks zerstören[,] kann er aber ähnliche Verständlichkeit voraussezen so kann | es nicht stören. Freilich ist in diesem Gebiet immer schwer, eine allgemeine Befriedigung zu erreichen. Woran liegt das? Daran, daß man etwas andres als das reine Kunsturtheil hineinmischt. — Zwischen dieser Gattung die die Götterbilder cet. vertritt und der eigentlich historischen Sculptur haben wir in der Mitte ein Gebiet das dem Genrebild der Mahlerei parallel steht. Werke der Sculptur die es mit dem Wirklichen zu thun haben, aber nicht mit dem bestimmten Einzelnen, also nur allgemeine Verhältnisse der Gestaltungen darstellen, z. B. Gruppen wie die Pferdebändiger auf dem Museum*, ein Moment, der sich in der Wirklichkeit repetirt, aber die Darstellung ist eine allgemeine, und hat nicht historischen Charakter. Diese Gattung wird jezt immer häufiger und bietet ein immer größres Feld dar, sowohl in menschlicher Gestaltung, wo sie sich an symbolische Darstellungen anschließt, als auch im Zusammensein von menschlichen und thierischen Gestalten. Da sieht man das rechte Studium der Gestalten in seinem Resultat, sc. solche Momente künstlerisch darzustellen, worin die Entwicklung der Gestalt in gegensäzlichen Verhältnissen eine normale Dignität hat; denn die gibt es im animalischen wie im menschlichen Gebiet; die größren und edlern Thiere sind auch einer idealen Darstellung fähig, und ein solches gibt es auch im Zusammensein der Gestalten, Thierkämpfe, Jagdmomente, die nicht mehr Figuren erfordern, als die Sculptur in Einem Kunst-

215

Die bildenden Künste

399

werk darstellen kann. Solche Darstellungen werden in der Regel im verkleinerten Maaßstab ausgeführt; weil sie allgemein sind so liegt in jeder schon die Forderung einer großen Menge, um die Möglichkeit, die in jedem liegt, zu erschöpfen, die daher dargestellt sein muß; also nicht bloß um zu großen Aufwand einer Kraft zu ersparen, nimmt man den verkleinerten Maaßstab, wie ja der KunstWerth nie auf der Größe beruht, sondern solche Werke könnten nicht in solcher Mannigfaltigkeit darstellen, wie die Natur der Sache es erfordert. Historische und symbolische Darstellungen, die an bestimmte Momente gebunden sind, fordern das nicht, weil nur ein Ausgezeichnetes dargestellt sein kann, das eben das Seltene ist und nicht häufig vorkommend. In der allgemeinen Darstellung liegt mit der Möglichkeit die Forderung einer Mannigfaltigkeit der Entwicklung. Sieht man einen Moment dargestellt, so denkt man gleich, das könnte auf mannigfaltige Art dargestellt sein, und dem würde der große Maaßstab widersprechen. Aber das innre Gestaltbilden kann sich in diesem Gebiet in sehr großem Reichthum entwickeln. So wie diese Werke also kleinen Maaßstab wollen, eignen sie sich vorzüglich zur Darstellung im Relief, wovon hernach. Nun die historische Sculptur. Sobald ein Bildwerk, weil es eine unmittelbare Beziehung auf eine große Masse hat, zugleich soll von großer Masse angeschaut werden, so erfordert es einen vergrößerten Maaßstab, und es kann sogar das eigentlich Colossale in dem Sinn daß Alteration der Theile nöthig ist, von der Natur der Sache gefordert sein. Diese Forderung ist oft mehr motivirt durch die Localität, wo die Bildwerke aufgestellt werden sollen. Jedes Bildwerk in großem freiem Raum und nahe bei großen Gebäuden erscheint dem Auge wenn es nur den natürlichen Maaßstab hat, unter demselben; aber das eigentlich Colossale wird dadurch noch nicht gerechtfertigt, sondern durch die Bestimmung zu gleichzeitiger Beschauung einer großen Masse. Da kann nur der colossale Maaßstab genügen; und wiewohl eine gewisse Alteration der Kunstgeseze da ist, da dasselbe Bild in kleinem Maaßstab kunstlos würde, so muß doch eine gewisse Licenz da sein. Überschreitung der Lebensgröße aber in geringem Grade

400

251

Theorie der einzelnen Künste

215 | 216

wird schon für alle Bildwerke nöthig, die im freien und nahe bei öffentlichen Gebäuden aufgestellt sind; nur in geschloßnen Räumen sind die natürlichen Maaßstäbe von Wirkung. Göthe will, jedes Kunstwerk solle Verzierung eines bestimmtes Raums sein*, das ist nur darin wahr, daß der Maaßstab eines Kunstwerks bestimmt wird durch die Localität, es also nicht willkürlich in einer andren Localität von andrem Maaßstab umgestellt werden kann. Nun können wir von da in historische Sculptur herabsteigen bis zu jeder beliebigen Verkleinerung je nach Forderung des Raumes. Bildwerke als Verzierung großer Säle wollen andren Maaßstab als für ein Cabinet, andren, wenn sie unmittelbar im Raum stehen | oder erst etwas andres in dem Raum zieren sollen. So liegt das Kleinste nicht außer der Kunst sobald es sich durch seine Localbeziehung rechtfertigt. Nur so kleiner Maaßstab, daß die Richtigkeit durch bloßes Auge nicht mehr bestimmt wird, müssen wir ausschließen; und kein Werk, zu dessen allgemeinen Überblick eine andre Operation nöthig ist, als dessen Theile zu fassen. Aber sollen die Figuren von gebranntem Thon (Porcelan) auch in schöne Kunst gehören? Ja, wenn sie noch so sind, daß alle wesentlichen Theile der Figur noch bestimmt erkennbar sind; nun freilich liegen sie an derjenigen Grenze, wo die Kunst an einem andern ist. Aber urgieren kann man das nicht, sonst könnte man weit zurükgehen und sagen, alle Bilder, die zu einem Gebäude gehören, seien Kunst an einem andern. Sobald das Bild seinen Kunstwerth nicht verliert, wenn man es aus der Beziehung mit dem, woran es ist, herausbringt, in ein nicht zu Disparates, so ist es selbstständig auch ein Kunstwerk. Den kleinsten Bildern räumt man das nicht ein, und das liegt in ihrer Genesis, sobald sie einer Gattung angehören, die wir zu mechanischen Geschäften rechnen, so wurzeln sie außer der Kunst, wenn sie auch in diese übergreifen; ist aber das Modell für die mechanischen Arbeiten doch von eigentlichen Künstlern gemacht, so war jenes Urtheil voreilig, denn die Hauptsache ist dann Kunst. Die Sculptur wo sie vegetabile Darstellungen solid geben will, erscheint nicht mehr selbst, sondern das findet sich nur in Stoffen, die nicht mehr der soliden Kunst angehören, und in diesen

216

Die bildenden Künste

401

tendiert solche Darstellung bloß zu Verzierungen, als architectonische und Verzierungen von Geräthen, insofern sie Kunstwerke sind, d. h. [ihre] Bestimmung zu einem bestimmten Zwek mehr Schein als Wahrheit ist. Da kommen wir an eine Grenze und in diesem niedern Gebiet stößt das Phantastische an die Realität, und dieses niedre Gebiet vegetabilischer Verzierungen verliert sich in das Phantastische, z. B. Akanthus als Capitäl gewisser Säulen. So geht es allmählich in das über, was der Arabeske in Mahlerei entspricht*, aber nur als Relief, nie in wirklich solider Darstellung. Insofern das Relief die Landschaft zuläßt, findet man auch dieses. Man stritt, ob Relief ächtes Kunstwerk, weil Mittelding zwischen Sculptur und Mahlerei*. Eigentlich läßt es keine Beleuchtung zu, nimmt aber die Perspective auf, und so kann man es als zurükgetretne Sculptur, oder hervorgetretne Mahlerei ansehen. Es leidet aber keinen Zweifel wegen Analogien des Stoffs und Mangel der Färbung, daß es wesentlich der Sculptur angehört, also zu erklären aus einem Gesichtspunkt der zwischen Sculptur und Mahlerei genommen ist. Im Großen wandte man es an für Zusammenstellungen menschlicher und thierischer Gestalten, z. B. Kampf der Centauren an den alten Gebäuden. An diesen gab es Flächen, die füglich so konnten benuzt werden. — Es gibt noch andre der Sculptur verwandte Kunstzweige. Der bedeutendste wäre Steinschneidekunst, bei den Alten schon in zwei Formen, der der Camäen und der der Gemmen*. Die leztern besonders führen noch auf einen andren Punkt. Bei Mahlerei fanden wir Kupferstiche und Lithographien. Kunst auf Vervielfältigung zwar ursprünglich gerichtet, aber doch auch eine eigenthümliche Kunst da das Kunstwerk ursprünglich auf diesem Stoff dargestellt werden kann. Etwas Analoges sind die Gemmen. Das ursprüngliche Kunstwerk ist freilich nicht das, was eigentlich gesehen werden will; nur insofern der Stoff fast durchsichtig ist, läßt sich an ihm das Kunstwerk erkennen; eigentlich aber ist es zu Abdrucken bestimmt, an denen erst das Kunstwerk erscheint, wie es eigentlich gesehen werden soll. Dieses Abdrucken ist aber ein mechanisches; und nicht dasselbe Verhältnis wie Kupferstecherkunst zur Mahlerei. Von allem also, was bloß auf Vervielfältigung

252

253

254

402

Theorie der einzelnen Künste

216 | 217

geht, abstrahiren wir. Betrachten wir aber diese kleinen Producte, geschnittne Steine, gehört das noch in das Gebiet der Kunst? Aus der alten Zeit haben wir noch bedeutende Mengen solcher Steine, die den ganzen Charakter der Kunst in ihrer ganzen Geschichte an sich tragen, parallel der Entwicklung der Kunst. In neurer Zeit gab man sich viel damit ab, solche Kunstwerke als antike zu unterschieben; allein betrachtet man es genauer, so ist in jedem Fall diese ganze Kunst größtentheils Charakter des Mechanischen. | Hier ist nicht wie in Sculptur Unterschied zwischen Künstler und seinen mechanischen Organen, noch zwischen dem was er und was diese machen. Also muß er großen Theil seiner Zeit verwenden, sich diese Virtuosität zu erwerben. Fragt man nach der eigentlich künstlerischen Productivität dabei, so ist ebenso möglich, Nachbildungen von Kunstwerken, die im Großen existiren, als möglichst frei zu erfinden. Aber denkt man sich das Ganze als ein zusammengehöriges von großer Sculptur an durch das Relief bis zu diesen kleinern Werken so ist doch bei dem großen Verhältnis das die mechanische Production hier nimmt, die künstlerische Productivität doch da immer erscheinend als Nachbildung, da auch Erfindungen mehr aus Reminiszenzen aus der eigentlichen Kunst entstehen. Gehen wir von hier zum Nebenzweig der Sculptur welche vegetabile Formen darstellt, als reliefartige Verzierung im Innern der Gebäude, oder an Geräthen, so findet man da eine analoge Mischung von künstlerischer Production und mechanischer Virtuosität und dieses zeigt das Übergehen der Kunst in das Gebiet der mechanischen Gewerbe. Die Kunst in der neuern Zeit ist eigentlich erst da einheimisch, wo dieser Übergang mit ist; erst da ist die Kunst in einem gewissen Grade volksthümlich geworden. In den Werken der Griechen finden wir überall den Einfluss der künstlerischen Production auf mechanische Gewerbe. Alle Gefäße haben eine Form, die mit künstlerischen analog sind. Was wir Geschmack nennen ist Resultat der künstlerischen Production die sich über ihr Gebiet hinaus erweitert. Das ist überall nur im Zusammenhang mit einem in die größre Masse übergegangnen Kunstsinn. Sie besteht also in einem Grade von Ungleichheit, findet aber durch diesen Übergang eine Grundlage

217 | 218

Die Poesie

403

im gewöhnlichen Leben und Sinn für Kunst ist in das Gebiet des Mechanischen eingedrungen, was erst das allgemeine Leben des Kunstsinns in dem Volk ist. Allerdings läßt sich dies in zwei verschiednen Formen denken. Im Griechischen Alterthum findet man eher die Spuren eines umgekehrten Ganges, den allgemeinen Kunstsinn als etwas ursprüngliches, i. e. das Unterscheidungsvermögen desjenigen in gegebnen Formen, was rein Resultat einer natürlichen bildenden Kraft zeigt, von dem was durch andre Einflüsse alterirt ist. Die eigentliche Kunst hebt sich aus diesem allmählich als eine gleichsam persönliche Verkörperung dieser allgemeinen Richtung in Einzelnen. In moderner Kunst eher der entgegengesezte Weg, ursprünglich KunstAntheil von Wenigen, die sich erst geltend machen können zunächst bei den in andren Beziehungen Gebildeten, und erst allmählich geht dieses in das Allgemeine über. Doch finden wir sehr zeitig im mechanischen Gewerbe eine Richtung auf das Künstlerische, und immer muß man beides zusammenschauen, wo man die Anschauung von einem eigentlichen Kunstleben haben will. Wo nun die Richtung, das Künstlerische den mechanischen Thätigkeiten anzueignen schon in der mechanischen Thätigkeit ist, da ist Kunstsinn allgemein; wo dieser Einfluss erst gewekt wird durch beabsichtigte Impulse von der Kunst aus, da soll das allgemeine Kunstleben erst begründet werden. — |

III. Die Poesie Wenn wir vom Begriff der freien Productivität ausgehen, so ist es hier rein in der Sprache, aber dieses ist ein so weiter Ausdruck, daß es noch nährer Beschränkung bedarf. Bisher haben wir es zu thun gehabt mit dem was außerhalb des Menschen ohne ihn vorhanden ist, und freie Productivität schloß sich an an das, was ursprünglich als Receptivität existirt. Aber dieses Auffassen des Gegebnen in der Natur war nur möglich, weil dieselben Formen uns innerlich gegeben sind, die mit dem sinnlichen Eindruck im Bewußtseyn zusammentreffen und Eins werden. Der Geist in

404

Theorie der einzelnen Künste

218

der menschlichen Seele ist ebenso Gestaltbildner in denselben Formen wie die Natur. Aber er kann sie nur produciren als Bilder, faßt die äußren Gegenstände im Zusammentreffen mit diesen auf. Auf das Auffassen wirkt also Äußres ein und die künstlerische Thätigkeit ist da gebunden, in der Kunst stellt sich die ganze Freiheit her. Das war die Grundlage der bildenden Kunst. In Poesie nun scheint das ganz zu fehlen, daß sich die künstlerische Production anschließt an etwas außer uns Gegebnem. Bei weitem die größten Productionen, ja die bedeutendsten Gattungen der Poesie, haben es gar nicht mit etwas Gegebnem zu thun, sondern mit dem, was durch den Menschen entsteht. Was mehr mit äußerlich Gegebnem sich abgibt, i. e. die beschreibende Poesie erscheint als Nebengattung. Für diese fänden wir leicht Anknüpfungspunkte an bildende Kunst. Wir sahen, daß die bildende Kunst ihre Gegenstände auch aus den Werken der Poesie nehmen kann, insofern diese darstellen, was in dem Menschen vor sich geht und durch ihn geschieht. Das galt auch von der Mimik. Insofern also die Poesie diese Beziehung hat auf jene beiden, könnten wir leicht ihren Ort auf umgekehrte Weise angeben, d. h. wie es Gemählde und mimische Darstellungen gibt, die sich auf poetische Darstellungen beziehen, so gäbe es dann auch poetische Productionen die sich auf Werke der bildenden Kunst oder mimische Darstellungen beziehen. Die Poesie kann sie ergreifen und weiter ausbilden. In Werken bildender Kunst ist ja sehr gewöhnlich sie andren zu beschreiben und das kann in künstlerische Production durch Sprache übergehen, i. e. Poesie werden. So läßt sich denken, daß dieses Gebiet der Poesie in einer Abhängigkeit von Mimik und bildender Kunst entsteht. Aber wollte man von da aus die ganze Poesie construiren, wie wäre das möglich? Es ließe sich geben, sobald man jene zwei Gebiete als schlechthin ursprünglich ansieht und die Poesie nur durch diese gewekt. Denke ich ein Drama als poetisches Kunstwerk gehe ich von Voraussezung aus, der Dichter sehe zuerst die Gestalten in ihren Bewegungen, die er dann reden und handeln läßt, so ist dieser erste Act eine mimische Conception oder Reihe von solchen. Der Künstler aber modificirt sie nicht, sondern thut

218 | 219

Die Poesie

405

dann gleich das zweite. So läßt es sich erklären, aber dann ist der Künstler ursprünglich mimisch erregt, und wird nur Dichter, indem er die mimische Ausführung überspringt. Denke ich, er sehe die Gestalten erst in ihrer Reihe in verschiednen Momenten; da wäre sein Ausgangspunkt die Sculptur insofern diese rein die Gestalten sieht, er überspringe aber die Ausführung, die freilich keine Einheit haben würde, da Sculptur ein Drama nur in einzelnen Theilen und Momenten darstellen könnte. So wäre der Dichter in erster Conception bildender Künstler überspränge die Ausführung, und stellte die Einheit dann dar in der Poesie. So kann man es in gewissem Sinn sagen, erklärt auch etwas damit, aber nicht die Kunst, weil man so die Einheit nicht findet, da der Dichter wenn er ursprünglich von Sculptur ausginge oder von mimischer Production[,] ginge von ganz andrer Einheit aus, als die Poesie dann darstellt. So entstehen nur untergeordnete Arten. Im Größern haben wir eine schon anerkannte Verwandtschaft zwischen Poesie und Mimik aufgestellt und dasselbe ist noch zur Musik zu sagen. Poetische Darstellungen von Werken der bildenden Kunst und Mimik angenommen, so kann man auch Werke der Musik poetisch darstellen, so daß eine Gegenseitigkeit dieser Künste statt findet. Das scheint eine gewöhnliche Classification der Poesie zu rechtfertigen. Die dramatische Poesie scheint die in Verbindung | mit Mimik; epische Poesie dann in Verbindung mit der bildenden Kunst; Lyrische Poesie dann in Verbindung mit der Musik. Wäre also diese Eintheilung der Poesie der Grundtypus ihrer Verzweigung, so wäre [dies] wahrscheinlich der Schlüssel des Specifischen in dieser Beziehung zu den andren Künsten. Freilich ist [es] mißlich über Classification zu reden, ehe das Wesen bestimmt ist, aber die Praxis geht der Theorie voraus, wir gruppieren uns die gegebnen Werke selbst und suchen die dazu gehörige Thätigkeit. Jene Classification geht durch das classische Alterthum durch als Hauptgattungen der Poesie, und alles andre erscheint als gar sehr untergeordnet und doch so, daß es immer auf die eine oder andre Weise unter eine dieser Gattungen subsumirt wird. Aber wir gründen unsre Betrachtung nicht ausschließlich auf das classische Alterthum, sonst könnten wir ein Nationel-

406

255

256

257

Theorie der einzelnen Künste

219

les für das Allgemeine aufstellen. Hat denn jene Theilung ihren Werth in der modernen Poesie? (die orientalische einstweilen beseitigt*) Offenbar hat sie da nicht denselben Werth wie im Alterthum. Bei uns ist dramatische Poesie nicht so an mimische Darstellung gebunden, wie bei den Alten, wo dramatische Gedichte nur für die mimische Darstellung gedichtet wurden, die der Dichter zugleich leitete. In der modernen Poesie kommen hingegen viele Drama’s, die gar nicht einmahl für mimische Darstellung berechnet sind, sondern für diese erst müssen modificirt werden. Die Lyrische Poesie war bei den Alten auch so, daß Dichtung und Composition zusammen gehörten, in moderner Kunst ganz anfangs auch, so lange es reine Nachahmung der Alten war; jezt ist beides so getrennt, daß die Musiker oft klagen, daß die Dichter gar nicht die Bedingungen der musikalischen Composition im Auge hätten. Die epische Poesie ist in moderner Kunst gewißermaßen auseinandergegangen, ist nicht so bestimmt Eins und nicht so bestimmt von den andern Gattungen gesondert, wie in antiker Kunst. Das zeigen die Übergänge, die es in der modernen Kunst gibt zwischen diesen beiden. Einmahl hat die moderne epische Poesie schon ganz andre Art von Einheit, die viel größre Verwandtschaft mit der dramatischen hat. Ebenso hat die dramatische Poesie in moderner Kunst starke Hinneigung zum Epischen, z. B. die historischen Dramen Schakespeares, die noch unter sich eine Reihe bilden*; da wäre die Differenz zwischen dieser und der epischen Poesie nur in der äußren Form, die leicht in erzählende zu verwandeln wäre. Dazu kommt, daß wir schwer die Grenze ziehen können zwischen Gedichten, die wir zur epischen Poesie rechnen und die das äußre Sylbenmaß haben, und zwischen solchen, die ohne das leztre auftreten. Denn im Metrischen ist Differenz zwischen epischer und lyrischer Poesie gar nicht so fest wie bei den Alten; die Italienischen Stanzen* sind in beiden; und auf alle Weise wollen diese zwei Arten sich vermischen. So werden wir wieder irre an der eigenthümlichen Beschaffenheit, die die alte Poesie gibt. Die poetische Production muß eine ganz andre Einheit haben als jede der andren Künste. Also ist hier etwas in Betrachtung zu ziehen, aber nicht so, daß man sich daran

219 | 220

Die Poesie

407

halten kann, um das eigenthümliche Wesen der Poesie daraus zu constituiren. Was ist denn die eigenthümliche Productivität der Poesie? Wir recapituliren wie wir in den andern Gebieten zu Werke gingen. Freie Productivität die aus dem Zusammenhang mit dem gebundnen Charakter der Auffaßung sich löst, ist das Allgemeine. Die Production in mimischer und musikalischer Kunst war die Bewegung die sich als das Äußre zu innren Zuständen zeigte, die als Reaction von äußerlichen Einflüssen im täglichen Leben ausgehen, in der Kunst aber davon entbunden werden, also diese Function durch Bewegung und Ton das Innre zu manifestiren sollen sie in Vollkommenheit darstellen. In bildender Kunst haben wir es zu thun mit der sinnlichen Vorstellung, wir sie als Bild ist. Die Auffassung ist hier bedingt durch die dem Geist einwohnenden Gestaltsysteme als Formen seiner Thätigkeit. Die Auffassung im Einzelnen ist bedingt durch die Gegenstände, die nicht reine Productionen der bildenden Kraft sind. Das soll die freie Darstellung rein darstellen. Da haben wir einerseits den durch einen innren Zustand des Selbstbewußtseyns bewegten Willen, der die freien Bewegungen hervorruft. In der bildenden Kunst war es die Thätigkeit wodurch der Geist hineingeht in das, was die Natur ihm für seine Sinne bietet. Womit hat es dann die Poesie zu thun, an und für sich betrachtet? Wir müssen zunächst | sagen: Alle poetische Kunstthätigkeit ist Thätigkeit in der Sprache, die aber hier ein eigenthümliches Gebiet haben muß. Die Sprache führt auf Identität zwischen Denken und Rede, Denken in weiterm Sinn, doch so, daß das sinnliche Bild nicht mit begriffen ist, sondern nur alles was in das Gebiet der Vorstellung hineinfällt. Wir versuchen die bildende Kunst als freie Thätigkeit auf etwas zu beziehen, was ursprünglich als gebunden, als Auffaßung da ist. Auffaßung eines Gegebnen hat es mit der Wahrheit zu thun, wenn es Vorstellung betrifft, und da sind wir im Gebiet der Wissenschaft, denn Vorstellung und Auffassen in Form der Vorstellung muss auf einer bestimmten Stuffe der Allgemeinheit oder Besonderheit stehen und diese alle gehören wesentlich zusammen, und jede Vorstellung ist von diesem Zusammenhang abhängig, der nichts andres ist als die Wissenschaft dessen was ist. Hier können wir

408

Theorie der einzelnen Künste

220

Analoges aufstellen wie in bildender Kunst. Wir beziehen die verschiednen Abstuffungen des Allgemeinen und Besondren auf die Naturgegenstände die wir auffassen (das menschliche Leben mit), sehen es also als dasselbe an, wie es in der Wirklichkeit gegeben ist, und wie es uns auf geistige Weise einwohnt, und an etwas zum Bewußtseyn gebracht werden will. Aber wollte man nun fort fahrend sagen, hier gilt es auch, die Vorstellung zu befreien, von dem was ihr Fremdes anhaftet, so kommen wir nicht in Kunst sondern bleiben in Wissenschaft. Davon ist die Poesie vollständig zu lösen, denn ihre Forderung ist eine ganz andre als diese Läuterung der ursprünglichen Auffassung im Bewußtseyn zur wissenschaftlichen Wahrheit. Sollen wir diese Analogie ganz aufgeben, weil sie nicht in Kunst führt, so ist zu sagen, die Poesie hat es mit der Sprache allerdings zu thun, aber nicht mit der Sprache insofern sie die äußre Hinstellung ist derjenigen geistigen Functionen die sich auf das wirkliche Sein beziehen. So trennen wir Thätigkeit der Poesie von der wissenschaftlichen, aber wir haben nur etwas Negatives aufgestellt. Ist denn die Sprache überall noch etwas andres als nur dieses, was wir nun einmahl ihren logischen Gehalt nennen wollen, im weitesten Umfang; denn das Alles ist Sache der Wissenschaft, und da gibt es eine analoge Ergänzung derjenigen Auffassung die durch eigentliche Erfahrung bedingt ist, durch eine freie Production des Geistes, die die Form des Seins an sich hinstellt, aber das ist nicht die Ergänzung der Kunst sondern eine andre Production. Was bleibt denn in der Sprache übrig, worin die Poesie ihr Wesen haben könnte? — Die Sprache wird ursprünglich eben so ein innerliches, wie in andren Künsten die ursprüngliche Production auch; äußerlich wird sie durch den Ton. Dieser hat ein Analogon mit dem musikalischen Element, und im Gebrauch der Sprache bekommen wir immer auch einen Eindruck von diesem musikalischen Element derselben. Allerdings ist uns da vieles indifferent, in Sprache des Geschäfts abstrahirt jeder von diesem musikalischen Element, das wir Wohlklang nennen wollen. Aber es gibt Andres, wo wir eine Berücksichtigung dieses Elements wollen. Hier leuchtet schon eine Analogie entgegen mit der Kunst insofern sie sich auf den

220 | 221

Die Poesie

409

Ton als Element der Musik bezieht. Dieses musikalische Element der Sprache producirt sich immer mit, indem wir uns der Sprache zu irgend einem Behuf bedienen, tritt aber nicht in ihrem ganzen Wesen in der Sprache auf, weil diese Seite zurükgedrängt ist. Sehen wir die Sprache an sich als eine geistige Function an, so ist das der Anknüpfungspunkt. Poesie ist die frei gewordne Productivität in Bezug auf das musikalische Element der Sprache. Sprache soll in Poesie heraustreten, als eine Totalität von Wohlklang. Aber da wird gleich eingewandt: Ist denn der Innhalt etwas völlig gleichgültiges? Und das traut sich Niemand zu bejahen; dann aber haben wir mit dem jezt Aufgestellten auch nicht das eigentliche Wesen der Poesie getroffen, sondern nur etwas, nicht Alles. Doch hält niemand ein Werk für poetisch, wo die Sprache keine Richtung hat auf den Wohlklang (worin das metrische noch gar nicht liegt). Wie steht es aber mit dem Innhalt? Gegenüber der Behandlung des Innhalts in der Wissenschaft ist in einem gewissen Sinn die Wahrheit des Innhalts für die Poesie gleichgültig, in einem andren Sinn nicht. Wenn wir diese Differenz finden, dann werden wir uns wohl zurechtfinden in Beziehung auf das Wesen der Poesie. Betrachten wir es einmahl an Beispielen von allgemeiner Art. Denke ich ein episches Gedicht und frage: Ist hier die Wahrheit des Innhalts als ein einmahl geschichtlich vorhanden und gefaßt gewesnes von Belang? Nein, wenn wir bei dem Einzelnen stehen bleiben, ist | die Wahrheit uns gleich, die Personen könnten völlig erdichtet sein; aber nur die Wahrheit des Einzelnen, denn so wie der Dichter nur Menschen aufführt, wie ich mir keine denken kann, so ist im Einzelnen nicht nur nicht die Wahrheit eines bestimmten Gegebnen (woraus ich mir nichts mache) aber auch nicht die Wahrheit der menschlichen Natur wenigstens nicht in der bestimmten Beziehung, in der er sie hinstellt. Vermisse ich diese Wahrheit, so hilft mir aller Wohlklang nichts, das eine hebt das andre auf. Ist die Wahrheit nun die Vollkommenheit des Gedichts als solche? Genau genommen ist sie nur Conditio sine qua non für die Gemeinschaft zwischen Dichter und dem der sein Werk sich aneignen soll, und deßwegen weil sie das Musikalische an der Sprache nicht auffassen können anders

410

258

Theorie der einzelnen Künste

221

als an dem Innhalt, und kann man diesen nicht fassen, so wird man an jenem gestört. Weiter aber befaßt sie nichts, als daß die logische Wahrheit nothwendige Bedingung ist in einem weitern Sinn, sonst hätte man nur eine Art Musik[,] nicht eine Darstellung der Sprache. Wie ein Werk nicht poetisch ist, wo keine Richtung auf Wohlklang, so nicht, wo keine Richtung auf diese Wahrheit ist. Poesie ist nicht bloße Kunst des Wohlklangs, wo dann ein Innhalt bloß da wäre damit jener erscheine, auch ist nicht jede Richtung auf Wohlklang in der Sprache Poesie; sondern ich wollte nur die Poesie ganz lösen, insofern sie nur in der Sprache arbeitet, von der logischen Richtung, die dann vollkommen empirisch sein kann oder speculativ. Von beiden ist das poetische Element völlig zu lösen. Andrerseits wollte ich dadurch nur feststellen das eigentlich Specifische in poetischer Begeisterung. Im Dichter muß beständig die Sprache leben und zwar in ihrer Richtung auf den Wohlklang. Nun aber gelöst von jener logischen Richtung, ist der Innhalt für die Poesie gleichgültig? Das sagt Niemand, aber jener logische Werth kann nicht der poetische sein des Innhalts, sondern dieser muß ein andrer sein. Wo kann er denn liegen im Gebiet der Sprache? In der Sprache kann man sondern jene logische und diese musikalische Richtung. Ist das eine ohne alles andre, so verlezt es; aber beides sind zwei differente Elemente, und die Sprachen selbst unterscheiden sich darin daß in der einen mehr dieses Element, in der andren das andre hervortritt. Die logische Seite betrachtend sagen wir: Es gibt kein Denken ohne Sprache, sobald es von sinnlichen Bildern gelöst auch nur die niedrigste Stufe des Denkens erreicht.* So scheint, als ob dieses beides, die Sprache abstrahirt vom musikalischen und das Denken eins- und dasselbe sei. Richtig ist es, wenn wir es als Forderung aufstellen. Wenn man aber diese geistige Function in ihrer wirklichen Erscheinung betrachtet, so gibt es eine gewisse Differenz zwischen Gedanken und Ausdruck, die noch etwas andres ist als die zwischen Denken und Musik. Dieser Ausdruck kann den Gedanken identisch in den Andern hinübertragen und das ist seine Vollkommenheit. Aber die meisten wirklichen Thätigkeiten in der Sprache nähern sich diesem nur. Liegt da eine Unvollkommenheit im Denken zu

221 | 222

Die Poesie

411

Grunde, oder bloß in der Sprache? Da werden Viele zweifelhaft sein, der Eine sagt, es kann vielleicht bloß im Mangel an Übung der Sprache liegen; der andre der von beider Identität ausgeht, sagt, wo Unvollkommenheit des Ausdrucks, da des Denkens. Diese Differenz beruht darauf, daß der eine die Identität voraussezt, der Andre aber, es gebe in der Sprache eine Thätigkeit, die nicht zugleich Thätigkeit im Denken sei, also eine Übung in der Sprache, die bei derselben Vollkommenheit des Denkens größer oder geringer sein kann. Dieses söhnt die beiden verschiednen Meinungen aus. Worin liegt diese Übung? Da kommen wir auf das, was ich als specifische Begeisterung des Dichters dargestellt. Je mehr es in einem innerlich spricht, desto mehr wird er Meister der Sprache, und das [hat] mit seiner zunehmenden Thätigkeit im Denken nichts unmittelbar zu thun. Dieses was uns vorläufig als x erscheint, hat aber doch eine Beziehung auf das Denken; dann ist der der Sprache so Meister, daß er seine Gedanken unmittelbar in mich hinübertragen kann, während der Andre so wenig, daß ich sein Sprechen immer ergänzen muß. Das ist weder das musikalische noch das logische, leztres nicht, weil es sonst die größre oder geringre Unvollkommenheit im Denken sein müsste. Was ist denn dieses uns unbekannte Element, das wir aber in seinen Folgen erkennen? Jede Sprache ist Darlegung eines eigenthümlichen Complexes von Begriffen. Wie verhält sich denn die Sprache ihren Elementen nach zu dem Complex von Begriffen? Wir finden in allen Sprachen mehr oder weniger so zusammengehörende Ausdrücke, daß wir sie nicht | mehr auf einfache Weise an den Begriff heften, sondern die Differenz ihres logischen Innhalts erst erklärt werden muß. Es gibt nicht zwei Wörter in einer Sprache die völlig identischen Innhalt haben, aber im Begriff leuchtet diese Differenz nicht unmittelbar ein, sondern fordert Erklärung. So ist eine Differenz zwischen Denken und Sprechen, die rein in der Sprache selbst geworden ist. Hier ist der Gegenstand für eine Übung wodurch eine Meisterschaft in der Sprache entsteht, die größer oder geringer sein kann bei derselben Vollkommenheit im Denken. Doch habe ich x noch nicht zu einer bekannten Größe gemacht, sondern nur einen Ort aufgestellt wo sie sichtbar ist.

412

Theorie der einzelnen Künste

222

Wenn wir diese, insofern sie in specifische poetische Begeisterung ausgehen soll, näher bestimmen wollen, so dürfen wir nicht beim abstrakten Begriff stehen bleiben, sondern die Function in ihren Verschiedenheiten anschauen, und sie anderwärts suchen. Da kommen wir auf die vorläufige Betrachtung zurük, mit der ich anfing; aber wir wollen es nun umgekehrt machen und fragen: Zugegeben das musikalische in Sprache sei dem Poetischen wesentlich, erschöpfe aber nicht die poetische Function, und die ganze logische Richtung an sich liege außerhalb der poetischen Thätigkeit: Was ist es, was uns die Poesie gibt, außer dem Wohlklang in Sprache? Das vergegenwärtigen wir uns an einzelnen verschiednen Fällen. Denke ich ein Element eines epischen Gedichts, wo einzelne Personen in bestimmter Thätigkeit dargestellt werden; die eine erscheint mir vollkommner als die andre. Worin liegt die Differenz? Je mehr der Dichter mich nöthigt und in Stand sezt, mir von der Person ein vollständiges Bild zu machen, desto vollkommner ist mir seine Darstellung. Je weniger mir das gelingt, daß ich zwar genöthigt bin aber er sezt mich nicht in Stand, so ist seine Darstellung unvollkommen. Der Dichter hat nichts in seiner Gewalt als Wörter, die immer im Gegensaz des Allgemeinen und Besondren sind, aber es soll ein vollkommen einzeln Bestimmtes geben, d. h. etwas, das sich durch die Sprache so nicht geben läßt, weil sie immer im Allgemeinen versirt, aber durch die Art, wie er dieses in einander flicht, soll er es erreichen. Dem sehr nah kommt etwas von entgegengesezter Natur, z. B. Beschreibung einer Pflanze in einem botanischen Handbuch. Da soll nicht ein bestimmtes Einzelnes gegeben werden sondern die Species, und freilich soll auch ein Bild hervorgerufen werden, aber nur ein so veränderliches Schema einer Gattung, das ich dann in unendlichen Exemplaren denken kann. Die Sprache, die Allgemeinheit ist, sezt mich in Stand, mir diesen Typus zu entwerfen, dann ist die Beschreibung vollkommen. Doch ist dieses rein das Gegentheil vom Poetischen. Weil die Beschreibung aus einem Aggregat von allgemeinen Ausdrücken besteht und nichts andres als ein Allgemeines beschrieben werden soll. Eine einzelne bestimmtre Pflanze kann so gar nicht beschrieben werden. Der

222 | 223

Die Poesie

413

Dichter nun soll nicht einen allgemeinen Typus geben, sondern die Wahrheit und völlige Bestimmtheit des Einzelnen und das hat er durch die Sprache zu leisten. Das ist nicht der logische Gehalt, auch nicht von seiner empirischen Seite, denn da kommt es auf Entsprechen eines Wirklichen an und würde Beschreibung. Der Dichter soll mich in Stand sezen, das Bild selbst innerlich zu construiren in seiner bestimmten Einzelheit. Was haben wir hier für ein Resultat? Eins von den verworfnen, eine Zurückführung der Poesie auf die bildende Kunst. Denn da bringt der Dichter mir ein Bild zur Anschauung, i. e. eine Bestimmtheit des Einzelnen. Dieses wird mehr plastisch sein, wenn er die Gestalt im Einzelnen darstellt, mehr pittoresk, wenn es in Zusammensein besteht. Läßt sich das ganze Geschäft der Poesie unter diese eine Forderung aufstellen und ist ihr Wesen, daß sie überall durch Meisterschaft in der Sprache Bilder hervorbringen will? Das ist nur die eine Seite. Was ist die andre? Da kommen wir ebenso auf Combination der Poesie mit der Musik, wie hier mit der bildenden Kunst. Die andre wesentliche Seite der Poesie ist die, daß sie bestimmte Momente als Gemüthsbewegungen oder Stimmungen hervorrufen soll, und das kann auch unmittelbar durch die Sprache gar nicht geleistet werden. Die Gemüthsbewegungen haben ihren natürlichen Ausdruck in Mimik und Musik aber dasselbe, was diese uns vergegenwärtigen soll nun durch die Sprache gegeben werden. Wo finden wir dazu einen Übergang? Er ist zweifach. Wir haben schon bei jenen Künsten gesehen, wie natürlich sie sich an die Poesie anhängen, weil sie an und für sich etwas unbestimmtes sind, das durch Heften an die Sprache an ein Bestimmtes kommt und von diesem einen Reflex anzieht, der das unbestimmte verschwinden macht. Auf der andern Seite aber wenn wir mehr auf die Gemüthsstimmungen sehen, so manifestiren sie sich in der Art und Weise der Combination der geistigen Functionen in ihren Momenten. | In der einen Stimmung nimmt das innre Vorstellen einen ganz andern Ton an, als in einer andren. Dieses innre Vorstellen ist schon ein innres Sprechen und das soll der Dichter zu seiner vollkommnen Klarheit und Bestimmtheit bringen, so daß indem ich diesen innren Proceß in seinem Werk anschaue, ich

414

Theorie der einzelnen Künste

223

mir die Gemüthsstimmung so klar vergegenwärtige wie in einer Reihe von mimischen Bewegungen. Hier ist also ebenfalls etwas durch die Sprache auf indirecte Weise zu leisten, was sie geradezu gar nicht leisten kann; denn die Elemente der Sprache sind feststehend, das Wort bleibt sich immer gleich, so der einfache Saz. Also durch und an diesem Festen will hier das Wechselnde, Schwebende der Gemüthsstimmung dargestellt sein, dem sich die Sprache sc. widersezt. Fassen wir beides zusammen, so sehen wir wie beides parallel liegt. Die Sprache ist nicht gemacht, das Einzelne zu geben, den Dichter zwingt sie dazu und das ist seine Meisterschaft. Die Sprache kann das in sich wechselnde nicht darstellen, da sie fix ist, der Dichter zwingt sie dazu auf indirecte Weise und das ist seine Meisterschaft. Dieses hat seine Beziehung auf die innre Veränderlichkeit des Seins, jenes auf die bestimmte Vereinzelung; was beides außerhalb der Aufgabe der Sprache liegt. Beides durch die Sprache hervorzubringen, ist die Aufgabe des Dichters. Vom logischen Gehalt ist also nicht die Rede, auf den die Sprache ursprünglich eingerichtet ist. — Wenn nun Poesie wesentlich Richtung auf das Musikalische in der Sprache ist, so ist es nicht einerlei, woran dieser Wohlklang ist, sondern so wie er an logischem Gehalt ist, so ist es zwar dieselbe Kunst aber an einem andern, es ist nicht ihr eigenthümliches Gebiet. So die Beredsamkeit hat es mit logischem Gehalt zu thun; da aber Richtung auf das Musikalische ist, so ist das poetische Element daran, aber die Beredsamkeit [ist] nicht Poesie, sondern die Poesie ist hier an einem andern und zwar von der Poesie nur das, was an dem Andern sein kann sc. jene abgetrennte musikalische Richtung. Sind nun das zwei differente Elemente, Richtung auf Wohlklang und etwas zu leisten was die Sprache ursprünglich nicht kann in zweifacher Beziehung? Das ist nicht etwas zweifaches, sondern nothwendig zusammen, dieses die nothwendige Vermittlung für jenes. Das Musikalische ist derselben unendlich verwickelten vorschwebenden Mannigfaltigkeit fähig, weil es in lauter Übergängen besteht, und vermöge dieses Elements ist die Sprache fähig gebraucht zu werden als unmittelbare Darstellung jenes Veränderlichen im geistigen Sein, und so von der andern Seite. Also entsteht uns hier

223

Die Poesie

415

mit der Einheit der specifischen poetischen Begeisterung, daß das innre Sprechen des Dichters nur in dieser Duplicität ist; und mit der Sprache in logischer Beziehung hat er nichts zu thun, sondern sein innres Sprechen ist in dieser Duplicität wodurch entweder die reine Objectivität oder die reine Subjectivität vergegenwärtigt wird. Das ist das Gebiet seines innren Sprechens und in dieser Duplicität gehen alle poetischen Zweige auf, und mit der Einheit der specifischen Begeisterung wird uns diese Duplicität, Objectivität, i. e. plastische Poesie und Subjectivität, i. e. musicalische Poesie. Vor dieser treten alle andern Theilungen zurück, jenes epische und dramatische, dieses die lyrische. Also [ist] Dichtkunst freie Productivität der Sprache nicht nur als Wohlklang sondern auch als Ausdruck nach den zwei Enden hin, die sich am meisten vom logischen Gehalt entfernen, nach Darstellung der Gemüthsstimmung und Bewegung und der Bestimmtheit des Einzelnen. Die Sprache constituirt das Eigenthümliche des Menschen in Zusammenhang mit den geistigen Functionen nicht nur auf Seite des Denkens, sondern auch der Willensthätigkeit, die in ihren größten Erweisungen nur vermittelt ist durch die Sprache (Impuls den ein Einzelner einer Menge geben kann). Betrachten wir die Grenze, von der wir ausgingen, daß uns sc. die Sprache im logischen Gebiet nie das Einzelne gibt, sondern gegen dieses schlechthin irrational ist, also auch nicht das Innre geben kann, insofern es sich in der Bestimmtheit eines einzelnen Moments darstellt. Die Poesie wäre also eine Erweiterung, neue Schöpfung in der Sprache, da sie über das logische Gebiet hinausgeht; so verhält es sich aber nicht, sondern die Möglichkeit dazu wohnt der Sprache ursprünglich ein, zeigt sich aber nur am Poetischen, sei dieses rein oder an einem Andern. Denke ich, was ich erfahre bei einem Dichtwerk, das ausschließend auf der einen Seite ist, so erscheint es um so vollkommner als Kunstwerk einerseits auf objectiver Seite, je mehr die Gestalten ein wirkliches, einzelnes Leben gewinnen als Bild, und andrerseits auf subjectiver Seite durch musicalische Poesie ebenso lebhaft innerlich erregt werde zu einem solchen innren Zustand, aus dem ich das was der Dichter sagt hervorge-

416

Theorie der einzelnen Künste

223 | 224

gangen denke, nur um so viel verständlicher als in Musik, als Wort über diese. So ist die Poesie die Vollendung und Culmination des eigenthümlichen Lebens, wie es an der Sprache hängt. Nur Ein Bedenken entsteht. | Ich stellte Gegensaz zwischen logischen und poetischen Gehalt der Sprache. Verstehen wir unter jenem logischen den weitesten Sinn, nicht nur die Abstraction, so wird die Wissenschaft, auch die der Principien[,] durch den logischen Gehalt der Sprache. Ist dieser nun ein Gegensaz zur poetischen Richtung: so müßte ebenso ein Gegensaz sein zwischen Wissenschaft und Poesie. Nehmen wir die einzelnen Wissenschaften, so gab es von jenen her poetische Productionen, Lehrgedicht genannt, die den Gegensaz aufzuheben scheinen, da sie wissenschaftliche Gegenstände poetisch behandeln. Das ist das eine Bedenken. Aber betrachten wir die Wissenschaft der Principien, die Philosophie, so zeigt die Geschichte, daß die ersten philosophischen Productionen im ganzen Gebiet, auf dem unsre Bildung ruht, poetisch war in Form und Gehalt. Auch das scheint den Gegensaz aufzuheben, aber das ist nur noch ein Weniges. Gehen wir über unser Gebiet hinaus, so sehen wir in orientalischer Entwicklung den Gegensaz zwischen Poesie und Philosophie gar nicht: es gibt keine Poesie die nicht philosophisch wäre, und keine Philosophie, die nicht poetisch. Poesie hat symbolischen Charakter, und die Philosophie stellt sich nur in dieser Form heraus. Es könnte also scheinen, als wäre der relative Gegensaz nur an den äußersten Enden. Wie haben wir das Verhältnis jener Entwicklung zu dieser anzusehen? Die abendländische Entwicklung ist diejenige die eigentlich allein eine Geschichte hat, und da erscheint uns jene Vermischung nur als der Anfang. Wo ist beider Vollendung? Nur da, wo sich der relative Gegensaz zwischen beiden vollkommen entwickelt hat. Dieses gegen jenes stellend, erkennen wir darin, daß dort beides ineinander blieb, nur die orientalische Stabilität, Mangel an geschichtlicher Bewegung; daher eine Reihe Generationen immer an frühren Productionen zehren muß und keine eigne hat. Von jenem Bedenken bleibt also nur übrig, daß wir nur daran ein Hinderniß haben, uns den Gegensaz nicht als absolut zu denken, was auch gar nicht in unsrer Anlage war; sondern wir

224

Die Poesie

417

kommen nur dazu, um für die speculative und poetische Sprache eine gemeinsame Formel aufzustellen. Jede speculative Thätigkeit ist offenbar auch nichts andres als freie Productivität in der Sprache. Entsteht in einem Einzelwesen ein philosophisches System, so ist es nur ein Entstehendes Eigenthümliches, als es freie Productivität ist im Einzelwesen, also so gut wie das Poetische freie Productivität in der Sprache. Aber nun ist gleich zu sagen, die speculative hält den logischen Gehalt fest, die poetische aber hält das in der Sprache fest, was Ausdruck ist, i. e. Darstellung der einzelnen Bestimmtheit. Wollen wir dieses auf eine noch bestimmtre Terminologie reduciren so müssen wir uns halten an etwas außerhalb der Sprache, nur die Endpunkte als Annäherungen zu erkennen. Die Richtung auf das Poetische führte auf das Bild, und wollen wir Poesie von Philosophie unterscheiden so müssen wir uns zunächst an die objective Seite der Poesie halten. Dieses ist die sinnliche Vorstellung außerhalb der Sprache, wogegen diese irrational ist. Auf der andern Seite ist etwas Ähnliches in dem was sinnlicher Ausdruck der einzelnen Anschauung ist der reinen Identität des Einzelwesens mit der Totalität, d. i. das Mathematische, denke ich es als Formel oder Figur, i. e. discrete oder concrete Größe. Auch dagegen ist die Sprache irrational, da sie was dort Eins ist nur wiedergeben kann auf zusammengesezte Weise. Das Speculative ist also die Annäherung der Sprache an die mathematische Formel, das Poetische die Annäherung der Sprache an das Bild. Die vollkommne Ausbildung der einen Richtung ist die Philosophie insofern sie zugleich Allem, was Wissenschaft ist, den Typus gibt, und die andre vollkommne Ausbildung ist die Poesie in beständiger Formung von Productionen. Die Poesie will immer neu sein, und neu bleiben, und besteht nur in immer variirender Productivität; die Philosophie aber will sich geltend machen und fixiren. — Was noch mangelhaft ist, ergänzt uns die Frage, ob in dieser Duplicität der musikalischen und bildenden Poesie wirklich das ganze Gebiet der poetischen Functionen gegeben ist: Wenn wir diese Duplicität zuerst auf eine allgemeine Weise, i. e. wie wir jezt in Theorien sind in wissenschaftlicher Richtung nach der Formel hin betrachten in ihrem eigentlichen

418

Theorie der einzelnen Künste

224 | 225

Innhalt: so ist das eine, wenn wir dabei stehen bleiben, daß wir es überall mit dem Einzelnen zu thun haben, die Gemüthsbewegung oder Stimmung ein schlechthin Einzelnes, ein momentaner Ausdruck einer Stimmung eines ganzen einzelnen Lebens im bestimmten Fall; und so ist auch das Bild ein schlechthin einzelnes Bestimmtes. Was die Poesie darzustellen hat, ist also seiner Form nach das Einzelne. Die beiden Seiten verhalten sich also wie die Richtung auf die Außenwelt, die im Moment nur das Einzelne suchen und finden kann, i. e. Wahrnehmung; das andre ist die Richtung nach Innen, also auf das Selbstbewußtseyn aber ebenso in der Einzelheit des Moments. Ist dieses Einzelne der Ausdruck des Ganzen Lebens, so des ganzen menschlichen Geistes, wie er sich | im Individuum abspiegelt und zugleich die Totalität in sich trägt. Ebenso da die Richtung nach Außen ein Einzelnes geben will oder eine Zusammenstellung von Einzelnen, die aber wieder ein Einzelnes werden muß (als den einzelnen Moment darstellend). Aber indem auch unsre auffassende Thätigkeit nur deßwegen ist, weil die Gesamtheit der Formen des Geistes dem Menschen auf geistige Weise einwohnt, und es ist nichts andres als die constante Production dieses inwohnenden Geistigen im bestimmten Bewußtseyn im Zusammentreffen mit dem äußerlich Gegebnen. Sezen wir dieses als eine Totalität, so trägt das Einzelne, so wie es durch freie bildende Thätigkeit entsteht die Totalität in sich. Das eine ist die Totalität des Geistigen für sich im Einzelnen aufgefasst, das andre die Totalität der Beziehungen des Geistigen auf das Leibliche ebenfalls im Einzelnen aufgefaßt. So scheiden wir beide Seiten auf das bestimmteste, und jede vollkommne poetische Production auf der einen oder andren Seite ist gleich der Totalität in der Wissenschaft, weil sie in dem Einzelnen die Totalität in sich schließt. Kann die Poesie in der Sprache nur in Form des Einzelnen produciren und nicht unter Form des Gegensazes zwischen Allgemeinheit und Besonderheit wie die Wissenschaft, so ist nichts außerhalb jener zwei Richtungen denkbar, was die Poesie produciren könnte, und sowohl was am meisten der Wirklichkeit nahe ist, oder was ihr am fernsten (als phantastisch) muß doch unter diese zwei subsumirt werden kön-

225

Die Poesie

419

nen. Aber hält sich diese Duplicität in der wirklichen Erscheinung der Poesie wirklich so auseinander? Da kann man nichts andres verlangen als was überall ist, daß sc. die Erscheinung immer irrational bleibt gegen die Construction, weil sie, was diese als Gegensaz aufstellt, immer durch Übergänge vermittelt. Also werden wir hier wie überall verfahren müssen, wo wir das Gegebne subsumiren. Das Einzelne subsumirt sich unter eine Theorie immer nur unter einer zwischen beiden Richtungen liegenden Form, sc. der Gruppirung des Verwandten und [der] relativen Trennung desselben von andrem, aber so daß solche Gruppen immer durch Übergänge vermittelt bleiben. Fassen wir diese Vermittlung gleich an ein paar bestimmten Punkten ins Auge. Halten wir an unsrer Duplicität die alte Triplicität, so füllt das lyrische allein unsre musikalische Seite, das epische und dramatische aber zusammen die bildliche Poesie. Vergegenwärtigen wir uns Pindars Poesie, etwa die griechische Pythische Ode des Argonautenzuges.* Das ist ein Gegenstand der ganz episch erscheint, hier ist er lyrisch behandelt. Da haben wir also einen Übergang, Form ist von der einen, Stoff von der andern Seite. Nehmen wir aus der modernen Poesie die verschiednen benannten Gattungen Romanze, Ballade, wohin gehört das? Es ist ein erzählender Stoff, treten Gestalten auf in bestimmten Handlungen. Das gehört also nach der bildlichen Poesie hin. Aber einmahl hat jedes solches Gedicht Richtung auf musikalische Begleitung und will also auf die musikalische Seite, was sich auch in der strophischen Form kund gibt. Auch da ist also ein Übergang. Wie beurtheilen wir es? In beiden Fällen ist der Stoff der Form ganz und gar untergeordnet; diese Pindarsche Ode ist vollkommen lyrisch, so unsre Romanzen und Balladen. Wie weit geht diese Unterscheidung? Kann man sie bloß im Ganzen festhalten? Vielmehr findet man sie in jedem Element. Wäre in einer Ode ein einziger Saz, der geradezu in einem epischen Argonautenzug stehen könnte, so wäre es völlig verfehlt, aber der Charakter der musikalischen Poesie geht eben durch alles Einzelne hindurch, was jeder wahrnimmt, wenn man es analysirt. Also auch nicht in einem einzelnen Saze darf in Ode eine Ähnlichkeit sein mit dem Epischen. Umgekehrt ist doch im

259

420

260

261

262

263

Theorie der einzelnen Künste

225 | 226

Epos auch etwa Stimmung und Gemüthsbewegung dargestellt, dem Stoff nach also lyrisch; aber die Darstellung darf durch es nicht Ähnlichkeit haben mit einem Lyrischen Saz, sondern das Epische muß rein durchgehen. Der Unterschied besteht nur darin, daß die bestimmten Charaktere bis in die einzelnen Elemente hinein vollkommen durchgebildet sind. Unvollkommen wäre, wenn einer im Epischen die Figuren vergäße und in Identität der Gemüthsbewegung versezt würde, bis in ihr Innres soll er sie durchschauen. Im Lyrischen aber ist auch nie Absicht, daß die einzelnen Figuren so gesehen werden, sondern nur die Thatsache in der Richtung die sie auf das innre Wesen der Lyrik haben kann (was bei unsrer lyrischen Poesie weniger einleuchtet). Die äußre Sprachbehandlung in gebundner und freier Thätigkeit im Verhältnis zu der poetischen und andren ist zu betrachten. Factisch stellt sich der Gebrauch der gebundnen Rede oder des Sylbenmaßes* auch nicht selten außerhalb der poetischen Thätigkeit. Viele alte Epigramme sind wirklich nur Innschriften und gar nichts von freier Productivität und doch in bestimmtem Sylbenmaß. | Bei andren Gegenständen ist das Sylbenmaß nur als Erleichterung für das Gedächtniß. Von der andern Seite finden wir Werke von poetischer Thätigkeit und doch nicht in gebundner Rede. Das ist im Alterthum freilich selten; die prosaischen Mythologen sind keineswegs in Einer Reihe mit Hesiod, sie sammeln Notizen auf gelehrte Weise; und ungeachtet der Gegenstand ein poetisches Product ist, so doch diese Schriften nicht.* Aber die sogenannten Milesischen Fabeln sind Erzählungen von poetischer Tendenz aber in Prosa.* In neurer Litteratur ist das Gebiet der Gedichte ohne Sylbenmaß groß. Viele dramatischen Werke, die sogenannte Romanlitteratur, die moderne Idylle* sind offenbar poetische Thätigkeit aber in ungebundner Rede, wenn sie gleich als solche einen eigenthümlichen Charakter hat. Also ein Hinüberschweifen des Sylbenmaßes in ein andres Gebiet, und andrerseits ein Hinüberschweifen der Prosa in ein andres Gebiet. Also ist die Verbindung nicht eine nothwendige zwischen poetischer Thätigkeit und Sylbenmaaß. Ja es läßt sich, von Sachkennern freilich nicht zugegeben, noch etwas sagen: Wenn wir Sylbenmaß denken,

226

Die Poesie

421

so nicht bloß bestimmten Gegensaz zwischen Länge und Kürze in bestimmten Verhältnissen, sondern auch eine frühre oder späthre Wiederkehr derselben Verhältnisse. Im Epos geht der Hexameter fort, in Lyrik Strophen; doch auch Gattungen, wo das Sylbenmaß nicht wiederkehrt wie die dithyrambische Poesie. Weil wir es zu verbinden pflegen, so erscheint es schon als Annäherung an Prosa, weil die Wiederkehr fehlt. Aber von höhrem Standpunkt sieht man nur auf den Gegensaz der gebundnen und ungebundnen Rede und sieht dithyrambischen Rhythmus so gut für poetisches Versmaß an. Also ist die Vorstellung von dem Gegensaz nicht dieselbe. In moderner Litteratur gibt es auch Verse ohne strophische Wiederkehr selbst bei Göthe, Schiller, Klopstock*; aber immer suchen wir die Strophe doch und finden sie nicht. Bei den Alten trat dieses Element nicht auf so bestimmte Weise hervor. Wie steht es also um Verbindung der innren Poesie und des Sylbenmaßes? Geraume Zeit wußte unser Drama gar nichts vom Sylbenmaß und fand es vielmehr unnatürlich; erst später kehrte man zurück zu dem, was freilich ursprünglich auch gewesen. Also eine Poesie wo man nicht Sylbenmaß wollte; während es keine prosaische Gattung gibt, die das Sylbenmaß fordert. So erscheint der Einfluss der ungebundnen Rede größer als der der gebundnen. Im Alterthum gab es eine bedeutende Periode, wo Alles was für das Öffentliche bestimmt war durchaus des Sylbenmaaßes nicht entbehren konnte. Worauf kann das beruht haben? Es schlöße sich leicht an jene Hülfe für das Gedächtniß an. Wenn längre Gedankenverbände ohne schriftliche Vervielfältigung sollten verbreitet und erhalten werden, so geschah es viel leichter im Sylbenmaaß in ursprünglicher Reinheit zu bleiben, als in leichter variirender Prosa. Aber der Ursprung des Sylbenmaßes ist das nicht; sonst wären die Schauspieler und das dramatische Gebiet vollkommner, wenn es einmahl dieser Hülfe des Sylbenmaßes nicht mehr bedürfte. Das ist also nicht der eigentliche Ursprung. Wir nehmen ein andres Element dazu. Wenn wir von musikalischer Poesie ausgehen, wo die größte Entwicklung des Sylbenmaßes ist, so war hier das ursprüngliche immer die Verbindung der Poesie mit der Musik*; die Musik kann nicht existiren ohne bestimmten Tact

264

265

422

Theorie der einzelnen Künste

226 | 227

(nur als Ausnahme von bestimmtrer Bedeutung kann das sein). Der besteht im bestimmten Gegensaz der Länge und Kürze, oder in von einander als aliquote Theile aufnehmenden Zeittheilen. Soll Gesang für die Rede aufgenommen werden, so tritt für diesen das Sylbenmaß ein. Da hätten wir den Ursprung, und dieser schließt die strophische Wiederkehr nicht ein. Aber denken wir an epische Poesie und die Dialoge im Drama, so ist da Poesie nicht mit Musik verbunden. Im alten Drama sind nur die Chöre unentbehrlich und gehören wesentlich der Poesie an und konnten nur so vorgetragen werden. Wäre der Dialog reine Prosa, so wären diese zwei Theile zu schroff entgegengesezt in demselben Werke, und daher habe sich das Sylbenmaß in den Dialog hinübergepflanzt. Dieses scheint um so angemeßner, als wir von einer Gattung sc. den Mimen Notizen haben, eine andre Art Drama, wo Gesang und Chor fehlt und auch für den Dialog das Sylbenmaß nicht eintrat. Wie erklären wir das Sylbenmaß für die epische Poesie? Wollte man sagen: Auch der mündliche Vortrag erreicht leichter eine sichre Bestimmtheit und wird leichter für eine Masse und große Entfernung vernehmlich durch das Sylbenmaaß, so daß es nicht nur für Gedächtnis sondern auch für das Gehör Erleichterung ist, so wäre auch das ein bloß äußrer Grund; und warum zeigt sich nichts so beim öffentlichen Redner, der einer noch größren Masse sich verständlich machte? Da ist freilich der wesentliche Unterschied, daß man voraussezte, der Redner producire seine Rede augenbliklich, wenigstens der Form nach. Müssen wir da für das | einen andren als jenen äußren Grund für das Sylbenmaaß im Epos suchen, so wohl für Sylbenmaß überhaupt, und die Verbindung der Poesie mit der Musik kann wenigstens nicht der einzige Grund sein für das Sylbenmaaß. Gibt es einen innren Zusammenhang vermöge dessen alle diejenigen Thätigkeiten in der Sprache die nicht von freier Production wie die Poesie ausgehen, also die wissenschaftliche und gesellige in Form der ungebundnen Rede verlaufen und warum die freie Productivität die gebundne Rede sucht? Wollen wir uns auf den rechten Standpunkt stellen, so müßen wir uns über den Gegensaz stellen. Gibt es denn in der Sprache etwas was über dem Gegensaz zwischen Poesie und

227

Die Poesie

423

Prosa steht? Das führt auf die Aufgabe diesen Gegensaz durch Übergänge zu vermitteln, so daß wir eine Reihe mit bestimmten äußersten Endpunkten erhalten. Diese Reihe würde über dem Gegensaz stehen, aber ihn in sich schließen, so wie wir bestimmte entfernte Punkte vergleichen. Das Gemeinschaftliche ist, daß die Sprache aus articulirten Tönen besteht, Selbstlauten und Mitlauten, woraus die Zusammensezung der Sylben entsteht. Betrachten wir wie es für das Ohr heraustritt, so kann man als Äußerstes denken eine solche Tonlosigkeit, vermöge der eine Sylbe von der andren gar nicht different ist. Die gänzliche Accentlosigkeit und Gleichheit aller Sylben als Quantum wäre ein Extrem und da kommen wir auf eine Unangemeßenheit der Sprache sowohl für logischen als geschäftlichen Gehalt. Denn in Gedankenverbindung gibt es immer einen Gegensaz zwischen Haupt- und Nebenpunkten. Berücksichtigt der Vortrag der Rede dieses nicht so ist Disharmonie zwischen dem Innern i. e. Gedanken und dem Äußern i. e. Ton. Dieses kann keiner einzigen Thätigkeit in der Sprache angemessen sein, da verschwindet also jeder Gegensaz von Prosa und Poesie. Denke ich in dieses Chaos irgend eine Sonderung und Gliederung hineintreten, so tritt die Sprache in Gegensaz von Accent und Accentlosigkeit, also von Arsis und Thesis*, und das finde ich im einzelnen Wort als Unterschied zwischen dem Kern und dem Zufälligen am Wort, und auch im Satz. Diese Differenz schließt sich unmittelbar an die logische Construction der Sprache[,] an diejenige die sich auf den Satz bezieht: Das ist keineswegs bloß die ungebundne Rede, sondern ich sage nur, daß sie nichts in sich trägt als die Beziehung auf die Natur des Satzes. Betrachte ich das Sylbenmaß so finde ich im Gegensaz zwischen Länge und Kürze und der Art wie die Füße hervortreten eine Opposition gegen jene rein logisch bestimmte Differenz; denn wo das Sylbenmaß vollständig entwickelt hervortritt, nimmt es gar keine Notiz vom logischen Innhalt. [Eine] Sylbe die bloße Endung oder Vorsazsylbe ist, kann so gut Länge sein als ein Stamm, und der Stamm kann so gut eine Kürze sein wie die Endungen. Da waltet also ein andres Princip ob. Wie kommt dieses in die Rede? Ist es zu erklären als eine Steigerung

266

424

267

Theorie der einzelnen Künste

227 | 228

von gänzlicher Tonlosigkeit durch den Accent hindurch zum eigentlichen Sylbenmaß? Genaure Betrachtung wird dieses verneinen und sagen da ein Gegensaz zwischen beiden ist, so läßt es sich nicht so als Gegensaz erklären. Verhält sich in dieser Beziehung das Sylbenmaß überall gleich, ist das vollkommen allgemein, daß Entwicklung des Sylbenmaßes einen Gegensaz bildet zur Entwicklung des Accents und Rhythmus als eines logischen und grammatischen? So wie wir eine Differenz zugeben und sagen, es ist möglich, daß in verschiednen Sprachen dieses Verhältnis nicht dasselbe ist, so wird dieses auf das Gebiet der gebundnen und ungebundnen Rede einen Einfluss haben. Wo das Sylbenmaß in seiner vollkommnen Entwicklung einen solchen Gegensaz bildet gegen logische und grammatische Gliederung, da ist, insofern der ursprüngliche Ort das Sylbenmaß des poetisch Thätigen ist, ein viel geringres Hinübergreifen der Prosa in die Poesie; wo aber das Sylbenmaß eine gewisse Schonung hat gegen die logische Differenz: da ist mehr dieses Hinübergreifen. Unsre germanischen Sprachen treten in dieses Verhältnis zu der antiken; bei uns kann sich das Sylbenmaß nicht in diesen Gegensaz zum logischen Gehalt stellen; daher uns das Lesen antiker Verse genirt, weil wir durch Betonung immer die Sylben zu verlängern befürchten. Das erklärt diesen Umstand, vorausgesezt daß der eigentliche Ort des Sylbenmaßes in der Poesie ist. Kann man das sagen bloß von musikalischer Poesie oder von der Poesie überhaupt? In der Theorie der Poesie war von jeher viel Präsumtion. Von unsrem Standpunkt aus der Kunst als freier Productivität kann man nicht sagen, die Theorie gehe voran, sondern folgt erst aus der Praxis. Davon war Aristoteles ganz durchdrungen*; er hat nie der Kunst Geseze geben wollen, sondern aus den Werken der Meister ihre Methode construirt um allgemeine Festsezungen zu machen. Nie wäre ihm eingefallen es über die Griechische Sprache auszudehnen, und will man seine Theorie allgemein machen, so mißkennt man ihren Sinn. Die Poesie ist überall | auf eigenthümliche Weise. Die Lateinische Poesie war freilich Nachahmung der Griechischen, da bei den Römern diese Functionen zurüktraten bei ihrem ganzen [öffentlichen] Leben. Im Orientalischen aber

228

Die Poesie

425

finden wir überall die Ursprünglichkeit und Eigenthümlichkeit. Sehen wir auf die moderne Poesie so hat freilich Kenntniß der alten Poesie nicht gefehlt, als sich die neue entwickelte, aber jenes übte auf die Eigenthümlichkeit der freien Productivität keinen Einfluss. Allgemeines kann es also da wenig geben, sondern differencirte Eigenthümlichkeit für jede Sprache und [jedes] Volk. Ob der Reim zuläßig sei oder nicht, ist Thorheit zu fragen, da einmahl eine Menge Völker sich seiner bedienen. Was haben wir nun von unsrem Element aus noch weiter zu thun, was können wir noch über die Entwicklung der Poesie sagen? Es kommt darauf an, den Gang, den sie in einem Volke genommen durch ihre verschiednen Momente zu verstehen und das Schwierigste ist, wenn eine Poesie nicht rein eigenthümlich ist, sondern auch in Imitationen des Fremden hinüberschweift. Das erschwert die Behandlung der modernen Poesie aber nicht überall gleich. Die Franzosen haben hier und da die antiken Sylbenmaße nachgeahmt*, aber das verschwand sogleich. Am schwierigsten ist die Deutsche Poesie. Wir haben eine alte Poesie die so gut als verschollen war, und es entsteht eine neue, die einerseits Imitation des Französischen später Englischen war und andrerseits Imitation des Antiken. Da ist es schwer den eigentlichen Gang zu zeichnen. Es hat seinen tiefen Grund in der Natur der Sprache und der ganzen volksthümlichen Anlage. Wir wollen von unsren festgestellten Elementen ausgehen. Den lezten Punkt haben wir schon in diesen nur auf Unbestimmtes bringen können, da wir das Verhältnis des Sylbenmaßes zur Poesie nicht absolut fixiren konnten, sondern fanden Sylbenmaß ohne poetische Production und umgekehrt, was freilich nur Grenzgebiete sind, von denen aus man eine Reihe ziehen könnte für das Verhältnis des Sylbenmaßes zur Poesie. Wir würden diejenige poetische Production suchen, die als solche ein minimum ist und sich zunächst anschließt an einen Gebrauch des Sylbenmaßes außer der Poesie. Das andre Glied wäre diejenige poetische Production die sich des Sylbenmaßes nicht bedient. Zwischen diesen zwei Endpunkten fiele uns das Ganze. Was ist die Gattung von der das erste gilt? Das ist das Epigramm; denn es enthält schon dem Nah-

268

426

269

270

Theorie der einzelnen Künste

228

men nach ursprünglich und wesentlich nur eine Notiz, die aber in Sylbenmaß gebracht ist. Unser Erstes, Richtung auf Wohlklang ist dabei und auch das andre Element das wir angaben in Beziehung auf die Sprache. Aber es ist sc. kein Gegenstand da, und wir sehen gleichsam isolirt das was die Poesie an der Sprache thut, ohne daß der Gegenstand eine freie Production wäre. Der Gegenstand ist ein durchaus gegebnes, aber in Art der Darstellung kann sich doch der poetische Charakter manifestiren. Und gleich tritt die Hauptdifferenz auf: es gibt schon hier eine mehr musikalische Auffaßungsweise, i. e. wo die Empfindung vorwaltet; andrerseits eine Richtung auf das Epische, wo die Notiz in ihrer Objectivität gefaßt wird und zwar wo Veranlaßung wäre, die Empfindung vorwalten zu lassen. — Verfolgen wir die Sache weiter von Seite des Sylbenmaßes aus, so haben wir einen Hauptgegensaz, der als fließend erscheint dem Ausdruck nach, aber in der That sich sehr bestimmt absezt. Lyrische Strophe[,] die epischen Sylbenmaße als kurze, meistens ein- und zweizeilige, und die Sylbenmaße nach der musikalischen Seite hin größer, zusammengesezte Strophe. Worin liegt der Grund? Diese Aufstellung bisher ist auch nicht allgemein; denn betrachten wir die Italienische Poesie, den Ariost und Tasso*, so finden wir Gedichte, die gar nicht von Antike ausgingen, auf der objectiven Seite, aber doch ist ja die achtzeilige Stanze schon ein sehr zusammengeseztes Sylbenmaß und hat nicht die Natur des Epos. Auch kann man nicht sagen, die Stanze verhalte sich zum Umfang der Gedichte wie der Hexameter zum Umfang der alten Gedichte. Also ist in moderner Poesie die reine Objectivität nicht so gehalten, wie in der alten, sondern sie haben eine Richtung zugleich auf das Musicalische und diese hat das Sylbenmaß mitbestimmt. Wendet man Klopstocks Messiade* ein, die ebenso starke Richtung auf das musicalische habe wie Tasso und doch den Hexameter, so muß man sagen, er ist in Nachahmung der antiken Sylbenmaße, sonst würde er vielleicht diesen Gegenstand in einer mehr dem Italienischen sich nähernden Form behandelt haben. So kann die Theorie sich zusammensezen von verschiednen Standpunkten aus, aber mit dem Gesezgebrauch steht es übel. Soll man das beschuldigen, wenn ein Dichter so aus

228 | 229

Die Poesie

427

zwei Gesichtspunkten arbeitet? Ich sehe es nicht ein, sondern über dem Zusammenhang zwischen der freien Productivität und Behandlung der Sprache gibt es keine andre Einheit als das innre Leben des Dichters selbst, und jenes beides kann in ihm Eins geworden sein. Ein andres freilich ist, ob das Gedicht nicht viel volksthümlicher wäre, wenn nicht diese Nachahmung darin wäre? Aber es war damahls keine bildende Periode in dieser Beziehung, sondern es würde nur eine | andre Nachahmung geworden sein, wahrscheinlich des Französischen. Diese zwei Massen wollen wir vorläufig sondern und sagen, die objective Poesie hat überwiegend Richtung auf sich kurz wiederholende Sylbenmaße[,] nur insofern die musikalische Richtung doch eine gewisse Bedeutung gewinnt, finden wir größre Sylbenmaße. Die musikalische Poesie die in Gedankenreihen innre Zustände darzustellen hat, hat im Ganzen genommen größres Sylbenmaß. Wie existiren denn diese zwei Hauptarten? Bei den Alten war die epische Poesie zu einer Zeit geworden, wo die Schrift noch selten und schwierig war, also für die mündliche Überlieferung und mußte sehr große Rücksicht nehmen auf die Behandlung des Gedächtnisses.* Die musikalische Poesie wurde überwiegend im Zusammensein mit großen Volksfesten, also eben deßwegen schon im ursprünglichen Zusammensein mit musikalischer Begleitung; ja oft zugleich auch mit einer orchestischen. Die moderne Poesie hat eigentlich nur Eine Gattung die sich damit parallelisiren ließe und diese nur auf beschränktem Raum und von spätrem Ursprung sc. das Kirchenlied, sonst geht die lyrische Poesie vom Einzelnen aus, nicht vom öffentlichen Leben und das Zusammensein mit musikalischer Begleitung ist zufällig. Im Kirchenlied findet man Ähnliches wie bei den Alten, daß der Dichter zugleich die Begleitung macht. Die große Masse unsrer lyrischen Poesie aber ist vom musikalischen getrennt und findet nur zufällige Verbindung, weil die Künste selbst getrennt sind. Die objective Poesie stand nicht mehr unter jener Bedingung: konnte also einen andren Charakter nehmen. Bei Homer wiederholt sich so Vieles wörtlich*, und das gehört mit zu dem, was zur Behandlung des Gedächtnisses gehört. Wunderlich ist es zu meinen, das sei der epischen Poesie wesentlich,

271

272

428

273

Theorie der einzelnen Künste

229

indem man das alles für allgemeine Regel hielt. Betrachten wir, was die Differenz in musikalischer Seite für Einfluss hat, so ist da eine Analogie: Eine große metrische Masse ist offenbar viel leichter zu fassen in Zusammenhang mit Musik und orchestischer Bewegung (wie beim Chor) als für sich allein. Bilden wir diese Strophe nach, so ist es nur für solche, die von der Griechischen Poesie her daran gewöhnt sind, in unsrer einheimischen lyrischen Poesie in ihrer Nacktheit wäre es verkehrt, nicht als ob unser Ohr weniger gebildet wäre, sondern wir haben jene Erleichterungsmittel nicht. — Ebenso steht es mit dem zweiten, sc. dem Verhältnis in dem das rein Metrische steht mit denjenigen Differenzen in der Sprache die logisch und grammatisch sind. Es ist ebenfalls ein differenter Charakter der Sprache der dabei zu berüksichtigen ist, und die Abstuffung läßt sich nämlich verfolgen. Bei den Alten war die reine Quantität in der Poesie das durchaus bestimmende und überwiegende, ohne daß das andre dabei ganz verloren war; aber indem die Sprache selbst beweglicher war, daher dem Gesang näher, so war eine Differenz mehr darin, die wir nicht hineinbringen können. Bei uns müssen sich doch beide Elemente auf bestimmte Art ausgleichen, während dort das eine ganz entwickelt sein konnte, oder das andre. Daher wir andre Regeln haben als die Alten. Dieses sah Voß nicht ein, und vieles seiner Übersezungen hat darum doch diese Alten nicht zugänglich gemacht*. — Wie steht es nun um diejenigen Gattungen der Poesie die das Sylbenmaß wieder verlassen? Bei den Alten sind das durchaus untergeordnete Productionen, die schon in der Region des Verfalls liegen. Bei uns kann man das nicht sagen. Worin hat aber diese Differenz ihren Grund? Wir müssen gleich hinzunehmen, daß es bei uns Compositionen gibt, wo Prosa und Poesie gemischt sind, wovon die Alten nichts wußten. Darum aber ist es noch nicht etwas verkehrtes: Denken wir uns eine solche Einheit wie eine dramatische, so finden wir da im Ganzen genommen immer sehr erregte Momente dargestellt; in jeder Katastrophe ein maximum von Erregung und alles frühre in Richtung darauf. Da erscheint das Sylbenmaß von selbst. Denken wir ein ganzes menschliches Leben zum größten Theil dargestellt, wie

229 | 230

Die Poesie

429

im Roman*, so ist nothwendig eine große Mannigfaltigkeit darin. Muß sich diese auch in der Sprache herausheben, so erscheint jene Mischung von Poesie und Prosa natürlich. Finden wir auch in unsrem Drama diese Mischung, so ist das analog, wie bei den Alten solche Sylbenmaße die dem Charakter der mehr objectiven Poesie eigen sind, vermischt sind mit mehr musicalischen Sylbenmaaßen. Ein Fortschritt ist es aber, wenn das Drama wieder Sylbenmaße will. Resultat: Es gibt in dieser Beziehung eine Entwicklung in jeder einzelnen Sprache für sich im Verhältnis des logischen und musikalischen und des eigentlich Rhythmischen in Beziehung zur Quantität. Einen allgemeinen Kunstverkehr gibt es in dem Maße, als [das] Bestreben sich andre Sprachformen zu assimilieren, worin die Sprachen ein maximum von Capacität haben, bis der Unterschied zwischen eignen und fremden Kunstformen aufhört. Ist dies verbunden mit Zurücktreten der natürlichen Entwicklung | selbst, so leidet die Eigenthümlichkeit. So konstituirt sich eine Reihe. Zweitens fanden wir daß vom minimum von poetischer Production aus, wo die Poesie noch mehr nur an einem Andern ist zur Erreichung eines besondern Zweks wie im Epigramm, schon eine Duplicität der Neigung zum epischen oder lyrischen. Von da aus entwickeln sich zwei verschiedne Reihen metrischer Production. Wollten wir dieses aus der metrischen Form des Epigramms selbst ableiten, so möchte sich das nicht durchführen lassen, aus dem Distychon will ich nicht den Hexameter und die lyrischen Stanzen entwickeln, sondern so wie wir ein Wiederholbares haben in gewissen Distanzen, so erkennen wir das Element des Strophischen. Das entwickelt sich zusammenziehend noch epigrammatischer, sich erweiternd nach lyrischer Seite hin. Vorzüglich in der Deutschen Sprache ist der Reim als Fundament das ursprüngliche Nationale, aber neben dem hat sich ein System von Nachbildungen des Fremden in Metrik entwickelt nach Seiten der antiken und der modernen Sprachen. In der ersten Beziehung sind wir begränzt theils durch das Verhältnis des rein grammatischen zum musikalischen das im Griechischen und bei

274

430

275

Theorie der einzelnen Künste

230

uns different, und dann dadurch, daß das Lyrische bei uns nicht mit musikalischer Begleitung auftritt. Näher betrachten wollen wir das Verhältnis zwischen Sylbenmaß der antiken objectiven Poesie und dem der modernen Romanischen, so steht damit in Verbindung, daß in der lezten eine gewisse Neigung der Poesie zum Musikalischen ist, die in der ersten nicht obwaltet, daher ihr eine Annäherung der ursprünglichen lyrischen Formen gestattet sind. Da führt das Sylbenmaß selbst darauf, den Hauptgegensaz nur als fließendes, als den [Gegensatz] überwiegender Richtungen aufzustellen. Betrachtet man die Strucktur der so vielfältigen lyrischen Sylbenmaße, so ist es kaum möglich sie auf ein System zurükzuführen, sondern man muß sie so ansehen, daß ihnen das Positive als Willkürliches anhaftet, eine bestimmte Irrationalität des einzelnen Bestimmten auch zum nächsten was man als Regel aufstellen kann. Betrachte ich das Sonnet, so ist darin eine sehr bestimmte Verbindung des Mannigfaltigen zu einer Einheit, eine zweifache Duplicität geht durch, die ein eigenthümliches Ganzes constituirt. Betrachtet man das als ein wesentlich construirbares, so gäbe es Gegenstände, wo Handlungen an dieses Sylbenmaß gebunden wären, und es müßte eine Übereinstimmung zwischen dem Innern und dieser Form statt finden. Das ist aber nicht[,] es gibt nichts Lyrisches von kleinerm Umfang das sich nicht in diese Form bringen läßt; ja es kam sogar vor, einen großen Gegenstand in einer Reihe von Sonnetten darzustellen. Beim Madrigal und Triolet* fällt das Willkürliche gleich auf. Sagen kann man nur, daß es gewisse kleinre lyrische Formen gibt, die gleichsam Rükgänge bilden vom Lyrischen in das epigrammatische, aber auch das läßt sich nicht auf bestimmte Weise construiren. — Man könnte noch eine Frage aufwerfen. Diese verschiednen metrischen Typen sc. gehen fast immer über die geschichtliche Zeit der Poesie hinaus, und da in modernen Sprachen die Entstehung der Poesie ganz in geschichtlicher Zeit liegt, so hat man dieselbe doch nicht geschichtlich aufgefaßt bis sie eine gewisse Bildung hatte. Also diese metrischen Typen erscheinen vielmehr als geworden, denn als gemacht, da ihre erste Genesis nicht nachweislich ist. In weitrer Entwicklung der Poesie

230 | 231

Die Poesie

431

werden aber mehr oder weniger metrische Typen gemacht: Gibt es hierüber ein allgemeines Gesez für alle Sprachen? Denken wir in der Sprache schon eine Mannigfaltigkeit von metrischen Typen und die poetische Production an sie gewiesen, woher kann dann ein Reiz entstehen, etwas Neues willkürlich zu machen? In unsrer Sprache haben wir diesen Fall sehr häufig nach beiden Seiten hin. In Klopstocks Oden* herrscht Nachahmung antiker Sylbenmaße aber auch eine Menge eigenthümlicher Strophen hat er gemacht allerdings im Sinne derselben wie er sie auffaßte, aber ohne bestimmte Vorgänger. Ähnliches ist in Beziehung auf Nachbildung der Romanischen Sylbenmaße, daß auch in unsrer Sprache eigenthümliche Formen, die den Charakter jener tragen aber doch darin ohne Vorgänger sind. Die selbsterfundnen Strophen nach antikem Sylbenmaß haben sich in der Sprache wieder verloren; Strophen die mehr den modernen Charakter haben, sind hingegen im Zunehmen. Der Grund ist doch, daß die Romanischen Sylbenmaße sich mehr an unsre ursprünglichen nationalen Formen anschließen als die antiken, daher sie sich länger erhalten haben als die ersten. So erscheint uns das als Eins, was man von einem andren Gesichtspunkt unterscheiden kann. Denken wir in der Sprache so lange sie lebt, auch das Metrische in bestimmter Entwicklung so erfolgt diese wie bei allem Leben nie gleichmäßig, sondern es gibt gewisse Entwicklungsknoten, Punkte schneller Bewegung und dann mehr Ruhe. | Das geht bis auf einen gewissen Punkt und jeder lebendige Körper hört auf zu wachsen ehe er seine eigentliche ἀκμή* erreicht hat. Diejenigen Formen, die wir nun als ursprünglich national ansehen, sind die Resultate der ersten Entwicklung. Auf diese folgen andre und so lange das der Fall ist im isolirten Zustande der Sprache, so nennen wir diese Formeln nationale. Nun dauert die Beweglichkeit der Sprache fort. Tritt ein allgemeiner Kunstverkehr ein, so wirkt er auf jene als ein eigenthümliches Incitament und bringt Formen hervor, die wir als Nachbildungen von fremden Typen erkennen, aber nicht als wären sie Wirkung einer fremden Kraft in unsrer Sprache sondern gehen aus der Beweglichkeit unsrer Sprache selbst hervor, tragen aber den fremden Coefficienten in sich. So scheinen sich diese

276

277

432

278 279

280

281

282

283

Theorie der einzelnen Künste

231

wieder zu verlieren bei einer allgemeinen Zusammenfassung. Ein fremdes Sylbenmaß wird in einer Sprache aufgenommen, doch immer etwas anders als in seiner ursprünglichen Heimath, und erscheint nur in dieser Differenz als ein wahres Product. Als man anfing in unsrer Sprache fremde Sylbenmaße nachzuahmen, z. B. Klopstocks Nachbearbeitung des Hexameter in Messiade,* und Kleistens in seinem Frühling*. Ein spätrer Kritiker versucht in einer neuen Ausgabe den Kleistischen Hexameter in zwei Hälften aufzulösen*, wodurch er aufhört Hexameter zu sein. Ein reiner war er nicht, da man einen Vorschlag hatte, der ihn der metrischen Form nähert, die schon einheimisch war. Dann fand man Klopstock habe auch keinen rechten Hexameter*, also hatten sie etwas Eigenthümliches von unsrer Sprache angenommen. Der Voßische Hexameter* nun gibt die größte Assimilation an das Griechische; in den Andern aber Tendenz es mehr mit unsren Formen in Analogie zu bringen. Aber in diesem Bestreben, den Hexameter in seiner vollkommnen griechischen Reinheit in das Deutsche zu übertragen ist so viel am Grundcharakter dieser Sprache modificirt worden, daß die Popularität desselben in unsrer Sprache gering ist. Göthes Hexameter erreicht den Vossischen nicht an klassischer Form*, aber da er viel weniger von Eigenthümlichkeit unsrer Sprache preisgibt, so hat er große Popularität. Also einerseits ist der Göthische Hexameter viel unvollkommner als der Vossische, andrerseits doch weit geeigneter, diese Nachbildung einheimisch zu erhalten. — Fragt man nun: Was für Werth die Erfindung von neuen Sylbenmaßen hat? Die Nachbildung von Fremdem war auch eine Erfindung; und will man das Erfinden verbieten, so muß man dieses auch verbieten, und man wüßte nicht wo stehen bleiben, da am Ende jedes Sylbenmaß einmahl erfunden ist. Also die Beweglichkeit der Sprache in metrischen Productionen repräsentirt sehr wesentlich ihr Leben. Tritt hier völlige Stabilität ein, so hat damit ihr Erstarrungsproceß begonnen. Bewegt sich eine Sprache lange Zeit nur in gewissen Formen, so ist es nur ein Nachlaß, aber es kann doch wieder ein neuer Entwicklungsknoten entstehen. Ein schlagendes Beispiel ist die französische Sprache. Die war lange bei uns was die Poesie be-

231 | 232

Die Poesie

433

trifft, proscribirt und nicht mit Unrecht, man zweifelte, ob ihre Poesie nicht vielmehr bloße Rhetorik sei; zudem war sie völlig erstarrt in ihren Sylbenmaßen und die frühre Mannigfaltigkeit größtentheils verloren. Nun geht ein neuer Entwicklungsknoten in ihr an, da sie sich seit kurzem mehr als sonst die englische und deutsche Sprache angeeignet hat und die antike mehr in ihrer ursprünglichen Natur als in französischer Maske. Daher tritt mehr Mannigfaltigkeit der Formen hervor. Es geht freilich von Einzelnen aus, aber was so sich erhalten soll, muß das vortreffliche sein, auf derselben Kraft ruhend, auf der die ganze Entwicklung [ruht]; aber auch manches jung wieder stirbt wie in Natur. Ähnliches Verfahren werden wir nun in Beziehung auf das Innre der Poesie einschlagen. Auszugehen haben wir von zwei scheinbar sehr weit von einander gelegnen Punkten. In den allgemeinen Erörterungen, worin die erste Anwendung des Princips der Kunst auf das Gebiet der Poesie gemacht wurde, hielten wir fest daran, daß sie sich auch unter der Form des Einzelnen für sich und im Zusammensein manifestiere, und wesentlich war das menschliche Sein der Gegenstand der Kunst. Hier sind wir nun insoweit stehen geblieben und haben vom minimum zum maximum ein Unendliches. Ein Minimum von poetischer Production ist, wo die Kunst noch an einem Andern. Der Gegenstand ist dann doch immer eine Thatsache aus dem Gebiet des menschlichen Lebens, auch ein Gebäude, das eine Innschrift hat, da drückt diese nur die menschliche Handlung aus, durch die es geworden. Das wäre ein Minimum in Beziehung auf den Innhalt. Der entgegengesezte Punkt ist: So wie hier die Poesie anfängt mit einer Angehörigkeit an das praktische Leben, so hat sie einen andren Anfang, ihr vermischt sein mit der | speculativen Richtung. Es gibt Völker, die Speculation und Poesie nie gesondert haben, da ist dann Poesie auch an einem Andern. Diese philosophische Richtung ist eine andre als die eigentlich poetische Production, denn sie hat das Allgemeine zum Gegenstand, die Geseze des Seins und Denkens. Wie steht es mit dieser Form der menschlichen Entwicklung wo diese Scheidung nie vollzogen worden, wie in der Indischen? Für uns sind die Resultate davon nicht befriedigend, wir können uns

434

284

285

286

Theorie der einzelnen Künste

232

fast nicht in jene Existenz versezen, sondern wir sagen lieber, die Poesie hat solche Gewalt gehabt, daß sie die Speculation in sich hineinzog, so sind es uns Figuren, in denen [sich] die ganze Wahrheit des Seins als in Einzelnem abbilden soll. Wo sich beides sonderte, erreichte jedes größre Vollkommenheit; wo wir Prosa in Speculation finden, da geht das Fürsichsein der Philosophie an. Die poetische Production verläßt dann auch die speculativen Gegenstände immer mehr in das Gebiet des Einzelnen. So ist die Scheidung vollzogen. Wenn ich dieses nun darstelle als unsre Art, diese Dinge anzusehen, so sage ich nicht daß sie unrichtig sei, sondern nur daß die orientalische Menschheit diese Ansicht nicht aufnehmen kann. In dem Gebiet, wo die Scheidung beginnt, unterscheiden wir gleich zwei verschiedne Formen. In der homerischen Poesie ist das Speculative auch gesezt, denn die homerischen Götter sind in dieser Hinsicht Amphibien, als ihr Leben in der Wirklichkeit Einzelheit zu sein [scheint] und dann doch auch gewisse Principien, Methoden des Daseins und Wirkens darstellend. Die physiologischen Poeten der Alten, wovon uns freilich nicht viel übrig blieb, aber bleiben wir z. B. bei den Fragmenten des Empedocles*, so werden da Principien dargestellt, aber das Verhältnis derselben wird rein geschichtlich dargestellt, also mit rein speculativem Gehalt die epische Form. Diese Duplicität ist gleich Anfangs. Denken wir aus der homerischen Form verschwinde diese Vermischung des Menschlichen mit dem Göttlichen so wäre der eigentlich speculative Gehalt ausgeschieden und bliebe das rein Epische. Da ließen sich Abstuffungen denken, z. B. zwischen Iliade und Odyssee* ist darin schon Unterschied, das Principienartige der Götter ist in Odyssee viel zurücktretender und das Menschliche hervortretend. In Hesiod* tritt das Principienartige für sich seiend hervor und hat sich vom eigentlich epischen Gebiet gesondert. Denke ich in Darlegung der Principien die poetische Form weg, ob der Dichter das Historische als solches gedacht, oder bloß als nöthige Form ist freilich schwierig [zu] entscheiden, so hat man das Speculative auch seiner Form nach isolirt, aber dann bildet sich die Prosa. — Das sind also relativ entgegengesezte Punkte als die eigentlichen Anfangspunkte, Poe-

232 | 233

Die Poesie

435

sie an einem Andern an Einzelnem des praktischen Lebens und an der speculativen Richtung. Aus diesen beiden entsteht hernach erst ihre Selbstständigkeit; denn auch von jener philosophischen Poesie existirt eigentlich überwiegend nur die poetische Form, die Wirkzusammengehörigkeit der speculativen und poetischen Form muß erst entdeckt werden. – Betrachten wir dieses Werden der Selbstständigkeit der Poesie so finden wir daß es sich in der ganzen alten Entwicklungsperiode eigentlich nie hat halten können, die Poesie ist eigentlich nie da isolirt hervorgetreten, sondern so wie sie von der einen Seite die Selbstständigkeit gewann, trat sie auf der andren nothwendig in Verbindung mit andren Künsten; und ist also aus einer Hand in die andre gegangen und ihr reines selbstständiges Dasein ist ein Minimum das man kaum festhalten kann. Die homerischen Gedichte haben sich ursprünglich erhalten durch die Recitation.* Das ist eine Verbindung der Poesie mit der Mimik, wenngleich nur die Sprachmimik; nimmt man zu, was im Platon Ion über die Rhapsoden steht, so sieht man auch die Gebehrdenmimik hinzukommen*, also hat sich diese Poesie die sogar von Speculation noch gar nicht ausgeschieden war, nur in Verbindung mit einem andern erhalten. Erst in Periode der Alexandriner* ist diese Poesie rein für sich, denn die ist für Leser und nicht für Vortragende, aber da sind wir eben schon im Verfall der eigenthümlichen antiken Weise in einem Übergang zum modernen. Die alte philosophische Poesie ist zwar allerdings nie recitirt worden, sondern für Leser, und war also nicht mit einer andren Kunst verbunden, war aber innerlich noch nicht selbstständig, sondern an speculative Richtung [geknüpft]. Nun wieder vom andren Anfangspunkt, vom Epigramm ausgehend, ist die Poesie im Dienst des praktischen Lebens, aber ganz frei von jeder Verbindung mit einer andren Kunst. Wenn wir nun die Duplicität [ansehen,] daß sie überwiegend Richtung zum Epischen oder Lyrischen hat, so denken | wir, so wie die Richtung auf das Lyrische die Oberhand gewinnt, so bleibt auch die Form, wenn sie dieselbe bleibt, in sehr enge Grenzen eingeschlossen. Sobald sie jene Form verläßt, gehen die eigentlich lyrischen Metren an und die Verbindung mit der Musik und die epigrammatischen

287

288

289

436

290

Theorie der einzelnen Künste

233

Formen, die doch Verbindung mit Musik haben, gehören wie Meleager schon einer spätern Zeit an.* Also entwickelt sich die Poesie fortschreitend in der Verbindung mit der Musik als Lyrik, mit der Mimik als Epik, das erste aber können wir nur für die ursprüngliche Periode festhalten. – Nun tritt eine andre Möglichkeit auf, denke ich wie der Mahler kann Stoff nehmen aus Poesie, so muß ein solches Epos eine ganze Reihe von Aufgaben für die Mahler darbieten, denke ich diese Reihe von Gemälden gegeben und nun das epische Gedicht, wie es recitirt wird, so entsteht eine noch lebendigre Auffaßung wenn sich zur Recitation noch das Gemählde gesellt. Dergleichen findet sich sehr viel wenn gleich häufig nur in sehr niedren Regionen der Kunst, wenn Gedichte durch Gemählde demonstrirt werden; so ist das schon Übergang des Epischen in das Dramatische, und es fehlt nur noch das rein Lyrische Element. Denke ich im Epos doch immer ein großes öffentliches Leben dargestellt, also Gegensaz zwischen Einzelnen und den Massen, so leidet das keine rein dramatische Darstellung, weil die Masse in ihrer Wahrheit nicht kann gegeben werden, aber nun gewinne ich die Idee des Griechischen Drama, wenn ich sage, aber deßwegen sollen sich die Massen zurückziehen in einen kleinern Umfang und in diesem in eine andre Art von Gegensaz treten gegen die Einzelnen, so daß es nicht eine Handlung des Einzelnen auf die Masse ist, wie im Epos sondern unter den Einzelnen versirt. Das ist schon das Wesen des Griechischen Drama im Gegensaz der Einzelnen und des Chor, aber da bleibt die Poesie durch das in Verbindung mit der Mimik. So wie ich die Gemählde, die im Epos das Zusammen zu vergegenwärtigen halfen, nicht aufheben will, sondern bloß behalte um [sie] als leblose Umgebungen der Handlungen mit zu haben, so habe ich Decoration, und vollkommne dramatische Darstellung, i.e Verbindung der Poesie mit Musik Mimik Mahlerei. Betrachten wir die moderne Poesie so bietet sie dasselbe dar aber in ganz andrer Form, die nicht auf dieselbe Weise begriffen ist. Dieses drückt den Gegensaz aus zwischen der antiken Poesie und [der] modernen; [uns] erscheint sie [(die antike Poesie)] ursprünglich als dem öffentlichen Leben angehörig, also auch

233

Die Poesie

437

an einem andern, das in gewissem Sinn ein Kunstwerk war, in gewissem aber ein Moment des praktischen Lebens. So an allgemeine Volksfeste, und früh (Pindar)* erreichte es hohen Grad der Vollkommenheit. Lassen wir den geschichtlichen Zusammenhang fahren, so ist uns rein parallel die lyrische Poesie als Element des religiösen Volkslebens, des Gottesdienstes. Jede festliche Versammlung ist in gewissem Sinn ein Kunstwerk, das ethische Princip des Zusammenlebens erscheint im Einzelnen, das wodurch das Ganze construirt ist wird freie Productivität einzelner Momente. Da ist also schon eine Subsumtion unter die Kunst und Forderung das Ganze als Kunstwerk zu betrachten. Je besser es organisiert ist, desto besser entspricht es der Forderung; und alle wesentlichen Theile der Handlung sollen unter Kunst subsumirt werden, Gesang, Poesie, orchestische Bewegung; und bildende Künste, die sich da freilich mehr zurükziehen, in dramatischer Kunst aber vortreten. Also hier überall die Poesie nur in Verbindung mit andren Künsten, und ein isolirtes Dasein verschwindet. In der modernen Poesie zeigt es sich umgekehrt. Jede Verbindung der Poesie mit andren Künsten ist zufällig, mit Ausnahme der eigentlich dramatischen Darstellung. Das Princip dieses Unterschieds müssen wir finden als den Schlüssel zum ganzen Verhältnis der antiken und modernen Poesie. – Was dann als beiden gemeinschaftlich erscheint, wird sich wohl als dem Wesen der Kunst selbst angehörig entwickeln lassen. Da ist auf zwei Differenzen zurückzugehen, sc. weil nicht nur die Poesie überhaupt in all ihren Gattungen rein selbstständig ist, sondern sogar die dramatische Poesie Bearbeitung findet ohne Beziehung auf die dramatische Darstellung. Von zwei Punkten ist auszugehen. Die Entwicklung der Poesie in der neuern Zeit ist einmahl mehr ausgegangen von der Voraussezung des Lesens, also einzelner Gebrauch; und hervorgegangen mehr vom Einzelnen, als dem öffentlichen Leben aus. Aus diesen zwei Punkten lassen sich alle Differenzen zwischen antiker und moderner Poesie erklären. Schon in der Römischen Poesie, die sich an die Alexandrinische anschließt ist dieses; da auch die leztre erst nach dem Verfall des öffentlichen hellenischen Lebens entstand, wol als in neurer Zeit das Hofleben

291

438 292

293

294

295

Theorie der einzelnen Künste

233 | 234

schon anfing unter Alexanders Nachfolgern.* | Poesie kann nicht untergehen, wo sie einmahl in der Sprache ist, aber nun war der Zusammenhang mit den Gegenständen und die Form des Lebens nicht mehr, also mußten entweder ganz neue Gattungen entstehen oder eine Nachbildung der Alten[,] aber mit diesem bedeutende Abweichungen. Das finden wir beides. Die Idylle* ist Übergang des Epischen in Drama der Form nach, aber ohne auf Darstellung zu rechnen. Die Nachbildungen waren in epischer und in dramatischer Form, doch nicht mehr im Gegensaz der Tragödie und Comödie, sondern der sogenannten neuern Comödie*, die wie die Idylle in den Verhältnissen des Privatlebens versirt. Auch in moderner Poesie war zuerst Vermischung des Geschichtlichen und Mythologischen; von Edda an bis auf die Nibelungen*, was in die Tradition zurückging der später zusammengemischten Völker, die sich erst im Mittelalter sonderten. Analog wurde es in Prosa als Chronik bearbeitet; eine Vermischung von bestimmten Personen und Thatsachen in verschiednen Zeiten, also in fingirter Verbindung – analog der homerischen Poesie. Gehen wir weiter, so finden wir eine mehr allgemeine Weltbegebenheit, die die in der Sonderung begriffnen Völker wieder in die mannigfaltigste Berührung brachte, in den Kreuzzügen und in diesen ein poetischer Stoff. Gleichzeitig war das Ritterthum ausgeprägt, das auch eine Art öffentlichen Lebens bildete aber zugleich in Form des Privatlebens, eine Existenz, die über das eigenthümliche Volksleben hinausging, einen bestimmten Typus darstellte, der menschliches Leben in sich schloß, das sich sehr hergab in freier Productivität in einer Reinheit dargestellt zu werden, wie es sich in der Wirklichkeit nicht fand. Hieraus folgte jene Spaltung zwischen der frühern Welt, an Fürstenhöfe geknüpft, und der Masse, und nun war die Poesie überwiegend an die erste gewiesen als lebendigem Dasein. Hier entstand nun jenes Dichten für das Auge, für den Gebrauch kleiner gesellschaftlicher Kreise. Gegenüber wäre freilich ein Ort gegeben für das wahrhaftige öffentliche Leben, sc. das religiöse; wäre da eine freie poetische Entwicklung möglich gewesen, so hätten wir eine von Lyrik ausgehende Volkspoesie bekommen, aber die Uniformität die von Römischer Kirche ausging und

234

Die Poesie

439

sehr natürlich war bei der Art, wie das Christenthum sich über diese Völker verbreitete, erstarrte durch den Gregorianischen Kanon.* Reste von Volkspoesie blieben aber, die sich an jenes zwischen Mythologie und Historie schwebende anschlossen. So sehr wie aus der Veränderung der ganzen Lebensweise und stärkern Abstuffung der Bildung die Poesie mehr an höhre Kreise gewiesen wurde, also an ein bloßes wiewohl erhöhtes Privatleben. Da hörte die Richtung auf Vereinigung mit andren Künsten auf, und [poetische Produktivität] hing nun an an jenen Resten der Volkspoesie, woraus der Kirchengesang und die mannigfaltigen Formen, kleine lyrische Poesie, die zugleich dem Tanz diente, wie die Ballade, entstanden. Das blieb in diesem kleinern Umfang. Auf der andren Seite gab es auch dramatische Darstellungen überwiegend comisch, ernsthaft nur in festlichen Darstellungen besonders der Passionszeit aber in sehr roher Form. Sehen wir, wie sich dieses verzweigt hat unter den verschiednen Völkern, so zeichneten sich die Italiener besonders durch eine epische in das musikalische hinüberspringende Poesie [aus], die besonders Kreuzzüge und Ritterthum besingt; in genauer Verbindung steht die Spanische. Bei den Engländern hebt sich später die dramatische Poesie und ergreift in der That die Geschichte des Volks, freilich erst in dem Punkt, wo die Form des Ritterthums, der Aristokratie hervortritt. Da ist Epos und Drama gemischt; wie Schakespeares historische Dramen*, die eine Reihe bilden, alle in einander greifend, also dramatische Darstellungen der Geschichte von viel größrem Zeitraum als Odyssee und Iliade zusammen. Die Darstellung war ursprünglich nur von den Großen aus; aus dem Volksleben würde sie in dieser Weise nicht entstanden sein. In dem aber waren die rohen Stoffe der Comödie gegeben und da sehen wir das Zusammenfließen von beiden, wovon Schakespeare Gipfel ist in seinen Comödien*, die meistens auf Novellen, früher episch bearbeiteten traditionellen Gegenständen beruhen, und die comischen Elemente hineingemischt. Er warf gewißermaßen eine Weissagung auf die nachherige geschichtliche Entwicklung, durch die sich das democratische Element in das Gebiet der Aristokratie hineindrängte. — In Frankreich

296

297

298

440

299

300

301

302

Theorie der einzelnen Künste

234 | 235

kommen wir am bestimmtesten auf den Punkt, wo die Poesie ganz und gar am Hofleben sich entwickelte. Betrachtet man diese sogenannte classische Poesie der Franzosen*, so finden wir im Wesentlichen die Nachahmung der antiken Tragödie, die auf uns häufig einen comischen Eindruck macht, weil wir jene in der ursprünglichen Gestalt inne haben, hier aber die Gegenstände in modernem Geist und Formen erscheinen. Aber diese Nachbildung hing sich sehr überwiegend an | das, was dem damahligen Monarchischen am nächsten kam. Die lyrische Poesie ist in sehr enge Grenzen geschichtlich durch die dürftige Quantitätsdifferenz der Sprache, da sie mehr eigentlich Sylben zählen als messen kann, so daß der Rhythmus fast nur am Anfang und Ende der Zeilen bemerkt ist, was als Imitation in das Deutsche überging. In dieser Beschränkung ist eine Mannigfaltigkeit von lyrischen Formen, aber Alles nur vom Einzelleben aus, und ohne alle bestimmte Richtung auf Vereinigung mit andern Künsten. Auch in der Italienischen Poesie ist ein solches Gebiet weit verbreitet, die erotische Poesie* sc. die in der modernen Entwicklung einen so überwiegenden Raum in der musikalischen Poesie einnimmt, die sich ganz und gar in das Religiöse und Erotische spaltet, ein Drittes nur als Ausnahme, vereinzelt. In der alten Poesie findet sich auch solches*, aber in ganz andrem Verhältnis und erstaunlich zurücktretend. Wenn es nicht im ursprünglichen Keim der Poesie läge, so hätte es nirgends einen so weiten Umfang erhalten. In demselben Maaß als die Poesie vom öffentlichen Leben ausgeht, tritt diese Poesie zurück, da sie entweder nur endigt in bloßem Scherz oder Begründung des Privatlebens. Daher es erst in der spätren Griechischen Poesie und in der Römischen stärker auftritt und so hernach in der modernen. Die Richtung der musikalischen Poesie auf das öffentliche Leben ist hier fast ganz auf das religiöse Gebiet beschränkt, weil im Politischen das Volksmäßige fast ganz zurücktrat; und nur die vom Privatleben ausgehende Poesie überwiegend erotisch. Sehr eigenthümlich ist, daß diese zwei scheinbar widerstreitenden Richtungen doch sich wieder in einander verflochten haben, das Erotische gesteigert ward bis zu einer religiösen Heiligung*; und das Religiöse in christlicher

235

Die Poesie

441

Form bis zu einer erotischen Darstellung des Verhältnisses zwischen den Einzelnen und demjenigen den man als Quelle der religiösen Gemüthszustände ansah; Verhältnis zu Christo und den Heiligen. Wollten wir nicht hierin erklären die Richtung jener zwei sich spaltenden Richtungen zu verbinden, so würden wir die Thatsache nicht fassen; denn fragt man[,] ist das eigentliche Original ursprünglich die erotische Bewegung oder poetische Erfindung, so war es offenbar das leztre, die aber hernach wirklich Wahrheit wurde. Dieses spielt nun an eine Aufgabe die uns noch übrig ist, sc. wie sich denn die poetische Darstellung: das ursprüngliche Urbild des Dichters verhält, insofern es doch nur Productivität unter Form des Einzelnen ist, zu der Wirklichkeit, i. e. was wir überwiegend als äußren Eindruck fassen, oder zu dem was man gewöhnlich Ideal nennt, wo man die Gleichstellung des Einzelnen mit dem Maximum des ethischen Werths darzustellen geneigt ist. Diese Streitfrage ist immer noch in der Theorie, die aber zugleich den Geschmack theilt in zwei streitende Regionen; so daß dieser Gegensaz nicht ganz identisch sein kann mit dem zwischen Tragischem und Comischem, denn es ist nicht durch Einzelne, insofern es sich in der Nichtigkeit darstellt, sondern die Frage [ist]: Ist das Einzelne in seiner Wirklichkeit oder so wie es rein das Allgemeine darstellt, daher nie ein Wirkliches sein wird? Auch da ist von entgegengesezten Endpunkten eine Reihe zu bilden. Alles Übrige schließen wir in diese Frage ein, da alles technische ausgeschlossen ist. Wir gehen von dem aus, was das Specifische sei in der dichterischen Begeisterung, innre freie Productivität aber in Form der Vorstellung also in der wesentlichsten und ursprünglichsten Verbindung mit der Sprache. Fragen wir was sich als Gegenstand dieser Production qualificirt, so ist das geistige Leben das hervorragende in der ganzen Geschichte. Das Verhältnis zwischen der Sprache die sich mit den menschlichen Dingen abgibt und die mit den natürlichen, ist weit geringer als die Differenz von Historien- und Landschaftsmahlerei, daher die Natur mehr durch musikalische Poesie dargestellt wird also als Factum im menschlichen Leben, nicht die Gegenstände in

442

303

Theorie der einzelnen Künste

235 | 236

ihrer Objectivität. Wir concentriren uns also überwiegend auf das Menschliche und da gehen gleich die zwei Hauptzweige auseinander, die lyrische Poesie hat es mit dem Moment zu thun, die epische mit einem zusammenhängenden Leben. Nehmen wir die dramatische als ein Mittleres, oder aus beiden Zusammengeseztes, so ist es die Darstellung eines Moments wie er hervorgeht unter dem Zusammenwirken einer Anzahl von Menschen, dieser definitive Moment ist in der Katastrophe. Betrachten wir sie vom Standpunkt des Epischen so will sie die Unmittelbarkeit des Gegenstandes, daß der Dichter ganz zurücktritt. Die dramatische Poesie kann mehr musikalisch oder mehr episch sein. Ist also alles, was Moment sein kann im menschlichen Leben ein Gegenstand für musikalische Poesie, und jede menschliche Figur Gegenstand für die epische Poesie, so geht die Dramatische in diesen beiden auf. | Auf diese Frage geht Alles zurück. Im Allgemeinen sagten wir die freie Productivität in der Kunst überhaupt solle die Form, die dem menschlichen Geist auf ideale Weise einwohnt und zugleich in der Natur als real im Einzelnen, so darstellen, daß sie dieses innre Princip rein ausdrücke frei von den Einwirkungen fremder Principien.* Welches sind nun die verschiednen Anwendungen, die man hiervon auf die Poesie gemacht hat? Die einen sagen, alle Unvollkommenheit im einzelnen menschlichen Dasein, auch die ethische, wenn das einzelne Dasein erscheint nicht rein und vollständig vom geistigen Princip durchdrungen, sondern irgendwie in der Gewalt des Leiblichen: alle diese Einwirkungen seien Einfluß fremder Principien auf diese geistig bildende Kraft der Natur. Also wenn der Dichter diesen Typus der kein andrer ist als der menschliche Geist in der Mannigfaltigkeit des einzelnen Daseins darstellen soll frei von jenen Einflüssen, so hat er nur darzustellen, völlig geistig durchgebildete Individuen, also jeden als sein eignes Ideal. Umgekehrt sagen die Andern, diese Vollkommenheit sei nichts andres als die unerreichte und für die endliche Erscheinung unerreichbare Aufgabe. Der Dichter soll den Menschen darstellen in seiner Wahrheit, und jenes, was jene als störende Einwirkung erklären wollen, gehört mit zur Wahrheit des einzelnen Lebens,

236

Die Poesie

443

jenes Ideal wäre also die Unwahrheit, nun soll aber die Wahrheit dargestellt werden, i. e. auch mit den ethischen Unvollkommenheiten, die eine vollständige Darstellung nicht finden. Die erste Forderung rein läßt schon das Comische gar nicht zu und würde nicht zulassen die dichterische Darstellung der gemeinen Natur, wie sich der Mensch in der Masse darstellt; denn eine so untergeordnete Masse würde dann nicht sein, wenn alles drückend und störend auf die Gesellschaft Wirkende wegfiele. Der andre Anfang würde Alles aufnehmen, sobald nur der Dichter was er darstellt als wahr erkennbar macht objectiv oder subjectiv in musikalischer Poesie. Das sind gar keine reinen Gegensäze, sondern beide Behauptungen gehen von einem andren Punkt aus, von denen keiner zu vernachlässigen. Vom Dichter gilt allerdings was vom bildenden Künstler, das ursprüngliche Kunstwerk ist ein rein innerliches in ihm und das Herausstellen in die Erscheinung ist schon ein zweiter Act, aber eben in der Poesie läßt sich dieses beides gar nicht so unterscheiden, die Differenz besteht nur in der organischen Bewegung. Beides muß aber berücksichtigt werden. Sobald der Künstler sein Innres heraustreten läßt, so will er seine innre Thätigkeit in die Andren hineinpflanzen; daraus sondern sich zweierlei Aufgaben. Hat der Dichter es überwiegend mit den Erscheinungen der menschlichen Natur zu thun also dem Geist in Form des Menschen und sagen wir, daß verschiedne Momente sich in ihm bilden, so ist, je mehr der Einzelne in seinem Bewußtseyn beschränkt ist, je weniger einer den andern auffassen kann, desto weniger kann er ein Dichter sein. Im bildenden Künstler müssen sich immer Gestalten bilden; so müssen im Dichter unaufhörlich ausgezeichnete Momente menschlichen Daseins und Gestaltungen des menschlichen Geistes sich bilden, was sich aber von der Continuität des Auffassens nicht trennen läßt; sondern der Dichter muß ein bestimmter Beobachter des menschlichen Geistes sein. Beides muß immer in ihm leben, je mehr, desto mehr ist er ein Dichter. Das muß zusammen sein mit jener Productivität und absoluter Gewalt in der Sprache. Wenn dieses das erste Moment ist, wie stellt es sich zur ersten Ansicht; kommen nun lauter idealisirte Figuren zur Darstellung?

444

Theorie der einzelnen Künste

236 | 237

Das wird Niemand behaupten, sondern soll ein Zusammenhang sein zwischen dem wahrhaftigen Auffassen und innrem produciren, so muß der Typus von dem er ausgeht, nothwendig im geschichtlichen Gegebensein der Menschen vorhanden sein; aber in dem ist nie eine solche reine geistige Durchbildung sondern nur ein Streben darnach. Jene rein idealistische Forderung scheint aufs Größte auszugehen, ist aber vielmehr dürftig; da kann ja die Objectivität nie zum Vorschein kommen, sondern das Subjective überwiegt, daher diese Theorie immer überwiegend sich an die musikalische Seite hält, weil da die Subjectivität hervortritt. Sehen wir nun auf den zweiten Moment, so sagen wir, wenn der Dichter viel mehr als jeder andre Künstler Richtung auf das Heraustreten hat, da sie ihm in diesem nur werde (in der Sprache), so ist seine wesentlichste Forderung, daß was er herausstellt so von den andern aufgefasst werden kann, wie er es gibt. Also er muß auch produciren in ihrem Auffassen, sonst ist seine Tendenz eine leere geblieben. Sehen wir die antike | Poesie überwiegend von und für das öffentliche Leben, die moderne für das einzelne Leben, so hat dieses leztre seine Grenze darin, daß nur was auffaßbar ist, kann darstellbar sein, also die Poesie doch immer vom Gesamtbewußtseyn der Mitwelt ausgehen soll i. e. sie muß in dem Umkreis der Wahrheit des Bewußtseins derjenigen[,] für welche sie darstellt, liegen. Keiner kann dafür stehen, daß sein Ideal auch das der Andern ist für alle Individualisationen. Diese Forderung geht also ins Leere und völlig Unsichre hinaus. — Nur die zweite Voraussezung wollte sich überwiegend an die Wahrheit halten i. e. so wie die Leser ein Kunstwerk zurückführen können auf ihre eigne Erfahrung, so sei es gut; da ist überwiegendes Zurückführen der ganzen Aufgabe auf den zweiten Moment. Dieses wollten wir in seinem ganzen Umfang verfolgen. Denke ich einen, in dem sich nur gemeine Naturen construiren wollen, aber er faßt sie in ihrer Wahrheit und stellt sie so dar; also er wolle ein Epos oder Drama aus lauter gemeinen Naturen durchführen, das würde niemand aushalten, und so wahr die einzelnen Figuren wären, nicht für Poesie halten. In einer geschichtlich größren Begebenheit müssen auch ausgezeichnete Naturen sein, daher wenn eine Darstellung

237

Die Poesie

445

lauter gemeine Naturen haben will, muß sie etwas Geringfügiges sein, also eine untergeordnete Gattung. Aber die ausgezeichnete menschliche Natur darf auch nur in ihrer Wahrheit dargestellt werden, und nur so wie sie im geschichtlichen Leben ist. Finden wir eine Richtung die Einzelnen so zu idealisiren, so finden wir uns aus der reinen Objectivität herausgesezt in das Gefühl, es sei nicht ein wirklich Seiendes dargestellt, sondern die Richtung die der Darstellende der menschlichen Natur erst geben will und das ist nicht Poesie sondern geht über sie hinaus. Was von dieser Art ist, verweisen wir in musikalische Seite, weil es da als des Dichters Betrachtung erscheint; will er es objectiv darstellen, so wird es eine Unwahrheit. — Der Gegensaz jener zweiten Forderung entsteht also daraus, daß man je mehr man sich zur einen befreit, die andre vernachläßigt. Wenn der Dichter Ideale darstellt so stellt er nicht die Wahrheit des menschlichen Seins dar, sondern eine Richtung die er ihr geben will und das ist nicht Poesie. Was ist es dann? Es ist ein andrer aber unrichtiger Rükweg in das Philosophische, denn es ist das Ethische, die Ethik soll die Richtung aussprechen, die dem menschlichen Sein zu geben ist, aber sie kann nicht ausgesprochen werden in Form des einzelnen Seins sondern der Maxime, Regel, Allgemeinheit; und die Vermischung dieses in der Form von jenem darzustellen[,] das ist das Protonpseudos der sogenannten idealistischen Richtung.* Daraus entsteht in den Figuren ein Schillern zwischen Wahrheit und Unwahrheit, Mangel an fester Begrenzung, das Nebulistische, wie Göthens neuerlich. Hingegen in musikalischer Poesie ist dagegen nichts einzuwenden, auch da erscheint es in doppelter Form, einerseits als Sehnsucht aus dem Wirklichen nach einem Höhren, andrerseits das Zurückstoßen des Wirklichen in seiner Unvollkommenheit. Dieses ist das Wesen der Satyre, sofern es sc. ein poetisches ist. In der objectiven Seite der Poesie aber müssen immer die Grundverhältnisse der Erscheinung des menschlichen Geistes in seinen verschiednen Abstuffungen vorwalten, gebaut auf die Principien der Welt, in und für welche der Dichter darstellt. Nicht als ob er sich beschränken müsste auf das unmittelbar Vorliegende, sondern er kann die ganze Vergangenheit mit aufneh-

304

446

305

Theorie der einzelnen Künste

237

men, dichtet aber dann nur für die im geschichtlichen Bewußtseyn Lebenden. Für die Masse aber kann er sich nur an das halten, was in ihrem Bewußtseyn liegt. Da entsteht eine Sonderung in dem Grad als daß Stände sich trennen. Dürftig war die Poesie als sie nur für die Höfe dichtete; auf der andren Seite sahen wir das ungeschlachte Niederschlagen für die Masse, wie in Bürger und noch mehr seinen Nachahmern.* Je mehr die Differenz aufhört, und das geschichtliche Bewußtseyn sich verbreitet, desto mehr kann sich die Dichtung veredeln. Erst wenn ein Volk vollkommen durchgebildet ist, so daß Alles sich in unmerklichen Übergängen verliert, so daß es Einen gemeinschaftlichen Boden für das Ganze gibt, erst dann wird jener Streit sich ganz und gar aus sich selbst erledigen. Ins Einzelne könnte man nur gehen, wenn man eine eigne Vorlesung über Poesie hielte, die nun hier als das lezte am schlimmsten weggekommen ist.

ÜB E R D E N BE G RI FF D E R K U NS T ( 18 31–3 3)

ÜBER DEN UMFANG DES BEGRIFFS DER K U N S T I N B E Z U G A U F DI E T HE O R IE DE R SE L B E N

1* Unsere Theorie der schönen Künste, auch Ästhetik, Theorie des schönen genannt, und was sonst noch für schwankende Benennungen von dem Schwanken des Gegenstandes zeugen, wird in ihrem dermaligen Zustande schwerlich bei irgend genauer Betrachtung auch nur einigermaßen befriedigen. Wir haben es an beiden Enden versucht; aber weder hat sich einer von beiden Wegen, der spekulative oder der empirische, irgend allgemein geltend gemacht, noch ist es bisher gelungen beide mit einander auf die rechte Weise in Berührung zu bringen. Jede philosophische Schule, wie sie neue ideale Elemente aufstellt und nicht nur aus diesen auf neue Weise die Erscheinungen der geistigen Welt erklärt sondern auch neue Kombinationen aus jenen Elementen als Beweise der eigenen Schöpfungskraft hervorruft, hat sich auch wenigstens beiläufig mit der spekulativen Seite dieser Theorie beschäftigt. Aber die Regeln der künstlerischen Überlieferung, nicht nur die, welche es mit der Handhabung des Stoffs und der Werkzeuge zu tun haben, sondern auch jene höheren, welche auf jedem Gebiet die Erfindung innerhalb gewisser Schranken zusammenfassen wollen, so daß sich keine zu weit von der Ähnlichkeit mit den vorhandenen Formen entferne, haben von diesem Wechsel wie rasch auch und wie gänzlicher Umwälzung gleich kaum die mindeste Kenntnis genommen. Ja kaum in der äußersten Gefahr überläßt sich der ausübende Künstler dem Philosophen, sondern er befindet sich erst wieder wohl, wenn er mit Arion ausruft, Ich kann nicht hier du dort nicht wohnen, Gemeinschaft | ist uns nicht verliehn*; und doch können als Gesetzgeber für die Kunst beide nur ihre Haltung finden in solcher Gemeinschaft

306

307

450

308

309

310

Umfang des Begriffs der Kunst

1v | 2r

und gegenseitigen Berufung auf einander. Bis diese hergestellt ist, streben vergeblich die Regeln der einzelnen Künste dem geflügelten Genius Zaum und Gebiß anzulegen*, und beweisen eben in diesem Unvermögen ihre Unwahrheit. Der Genius, wenn er sein Werk geltend gemacht hat, zwingt den Gesetzgeber zu einem neuen ihn rechtfertigenden Kanon, der aber wieder nur so lange gilt, bis ein folgender Meister die Schranken durchbricht. Kurz je mehr auf ein einzelnes Kunstgebiet sich beschränkend und von der Anschauung der darin vorhandenen Kunstwerke ausgehend, um desto mehr nimmt die Theorie die Richtung nicht sowohl den Prozeß der Erfindung zu verstehen als nur ihn mit schützenden Vorsichtsmaßregeln zu umstellen, und nur wenn fast zufällig einer von der Höhe der Spekulation her bis in diese Gegend sich verliert, zeigen sich einzelne Tendenzen zu einer positiven Theorie. Auf dieser Höhe nun entsteht freilich die Aufgabe, die künstlerische Tätigkeit, wenn sich doch in allem menschlichen Dasein Spuren derselben finden, wenn sie sich unter günstigen Umständen harmonisch mit allen bedeutenden Ausströmungen des Geistes entwickelt, auch in ihrem Zusammenhang mit diesen zu verstehen, und sie treu und lückenlos nach dem ganzen Verlauf von ihrem innersten gemeinsamen Keime aus ihren Verzweigungen folgend bis zu den äußersten Spitzen der Mannigfaltigkeit ihrer Formen zu begleiten. Dies erscheint mir als die vollständige Aufgabe unserer Ästhetik. So wurzelt sie mit ihren allgemeinsten Sätzen in der Ethik* oder in der Wissenschaft von den Lebenstätigkeiten des Geistes, und trennt sich nur deswegen von derselben als ein besonderer Ausfluß oder eine angewendete Disziplin, weil sie in ihren weiteren Ausführungen auf gegebene Bedingungen des Daseins eingehen muß, um das mannigfaltige zu begreifen und so weit zu gelangen, daß auf jedem einzelnen Kunstgebiet die technischen Regeln sich mit Leichtigkeit eben so an die Ästhetik anschließen, wie diese selbst | ihre Wurzeln hat in der Ethik. Vielleicht widerspricht dieser Rede auch der vortreffliche Mann nicht, welcher freilich zunächst nur von der bildenden Kunst redend den Rat gibt sie mehr aus der Wissenschaft von der Natur als aus der Lehre von der Seele begreifen zu wollen*; denn was

2r | 2v

Umfang des Begriffs der Kunst

451

wir hier unter Ethik verstehen ist wichtiger und umfassender, als was wir die Lehre von der Seele zu nennen gewohnt sind. Aber doch auf der einen Seite setzt sie das Verstehen der Seele als des im vereinzelten Leben erscheinenden Geistes voraus, und auf der andern Seite müssen wir jedem von beiden seine eigenen Ansprüche zugestehen an unsere Theorie. Die Kunsttätigkeit muß in ihrer Einheit als Geistestätigkeit begriffen werden aus der Natur der Seele und in ihrer Mannigfaltigkeit aus der Wissenschaft der Natur, weil doch diese die Bedingungen des Daseins enthält; und es würde mißlich stehen um die Einheit des Begriffs der Kunst, wenn das Verhältnis der bildenden Kunst zu beiden von dem der andern Künste zu denselben anders als nur dem Grade nach verschieden wäre. Eben diese Einheit des Begriffs der Kunst ist nun der nächste Gegenstand dieser Abhandlung. Sie will nicht an die in andern Abhandlungen aufgestellten Elemente der Ethik die ersten Prinzipien unserer Theorie anknüpfen, welches in gehöriger Form und weit genug entwickelt, um ersprießlich zu sein, in einem solchen Raum nicht geschehen könnte. Sie will nur einen untergeordneten aber doch nicht unwichtigen Dienst leisten, indem sie die Frage aufs neue vorlegt, ob und in wiefern die verschiedenen Hervorbringungen, welche alle wir durch den gemeinsamen Ausdruck Kunst zu bezeichnen pflegen, wirklich als Tätigkeit des Geistes Eins sind, woraus ja erst folgen muß, ob und wiefern sie gemeinsame Prinzipien haben und ein gemeinsames Maß. Denn ich glaube nicht, daß die Ant | wort schon erwünschterweise gegeben ist. Das Gebiet der Kunst müßte uns sonst als ein völlig abgeschlossenes begriffen sein, das gemeinsame aller und das besondere einer jeden deutlich auseinandertreten, und jeder einzelnen Kunst durch den Zusammenhang aller selbst ihr Gebiet und ihre Aufgabe genau abgegrenzt sein. Aber welche Unsicherheit in diesem allem tritt uns statt dessen entgegen. Wie zweifelhaft ist die Selbständigkeit des einen Gebiets, wie bestritten das Bürgerrecht eines andern, und welche Verlegenheit entsteht oft im einzelnen, wenn bestimmt werden soll, ob diese oder jene Leistung zur Kunst gehöre oder nicht. Ja wenn es fast noch das beste in dieser Hinsicht ist, daß bald diese bald

452

311

312

Umfang des Begriffs der Kunst

2v

jene Kunst aus dem Standpunkt einer andern behandelt wird, so daß man von malerischem in der Musik, von plastischem in der Poesie und von poetischem überall redet*: so werden hiedurch gegenseitige Beziehungen mehr angedeutet als begründet, und die tanzende Bewegung, in der jede Kunst bald diese bald jene vertraulich begrüßt, vergönnt keinen Schluß auf eine notwendige oder auch nur feste ursprüngliche Stellung derselben gegen einander. So steht die Sache, und daß sie noch so steht, darf uns nicht Wunder nehmen. Denn die Beantwortung unserer Frage wird auch dadurch noch erschwert, daß die Ausübung der verschiedenen Künste überall so anfängt, daß jede nur auf sich sieht. Diese Ausübung ist immer schon bedeutend vorgeschritten, ehe etwas von Theorie auch nur keimt. Entsteht dann endlich eine: so bildet sie sich ihre Sprache von der Ausübung her, also vom einzelnsten aus nach dem allgemeinen hin, so daß das allgemeinste in jeder schon ein eigentümliches ist, verschieden von dem allgemeinsten in anderen, und so sind sie auf alle Weise von einander getrennt, ehe von dem hohen wissenschaftlichen Interesse aus die Frage nach ihrer Einheit aufgeworfen wird. Haben wir nun hiezu keine andere Handhabe als den Namen Kunst: wie wenig ist dieser dasselbe in der antiken Grundsprache und in der modernen. Unser deutsches Kunst hängt mit Können zusammen und bezeichnet eben so die Meisterschaft in der Ausführung wie Kunde die in der Auffassung, das hellenische τέχνη hingegen mit Erzeugen und Gebären*. Bei uns also wollte die Kunst von dem äußerlichsten an das mechanische streifenden benannt sein, dort von dem innerlichsten und lebendigsten. Welch ein verschiedener Ausgangspunkt! Wie natürlich, wenn jene unter demselben Namen mehr zusammengefaßt hat, was dem eigentlichen Kunstgebiet nur ähnlich ist durch Mühe Fleiß und Geschick, und diese hinwiederum solches, was ihm nur ähnlich ist wegen des heimlichen verborgenen Ersinnens! Wie also ist die Grenze zu ziehen nach der einen und nach der andern Seite? Ja auch die Stellung der Frage schon ist eben wegen dieses Ganges der Sache schwierig. Ob wir fragen sollen, Was von dem vielen Kunst genannten läßt sich als wahrhaft gleichartig, weil von derselben Geistestätigkeit

2v | 3r

Umfang des Begriffs der Kunst

453

ausgehend, in ein abgeschlossenes Gebiet mit Zurücklassung des übrigen zusammenfassen? oder, Auf wie vielerlei Art kann sich jene in aller wahren Kunst eine und selbige Geistestätigkeit äußerlich manifestieren? das wäre, wenn das Wort des Rätsels schon gefunden wäre, völlig gleich. Bis dahin aber können wir nicht nur nicht erwarten auf dem einen Wege zu demselben Ergebnis zu gelangen wie auf dem andern, sondern nachdem wir auf den letzten schon vorläufig verzichtet wird schwer zu vermeiden sein, daß wir, wenn wir den ersten einschlagen, doch auf eine ganz willkürliche Weise beginnen, wenn wir doch nur einiges können mit in Rechnung ziehen und anderes müssen mit seinen Ansprüchen abweisen. | Denn wenn jede Kunst als Tätigkeit ihr Ziel findet in ihren Werken, was macht nicht alles Anspruch darauf ein Kunstwerk zu sein! Ich rede nicht von dem, was irgend einem Bedürfnis abhilft, oder irgend einem Zwecke dient, und wäre es auch der erhabenste wissenschaftliche: denn es ist jetzt schon eine alte Rede, daß was nach der Angemessenheit zu irgend einem bestimmten Zweck beurteilt werden muß, aus dem Gebiet der eigentlichen oder schönen Kunst ausgeschlossen bleibt*. Aber wenn wir uns auch auf diese Weise der mechanischen Künstler in Betreff ihres eigentlichen Berufs entledigen: so kehrt doch ein großer Teil von ihnen mit neuen Ansprüchen zurück, indem sie uns zeigen, wie sie aus reinem Interesse an dem schönen ihren Erzeugnissen schöne Formen geben, die für den Zweck derselben ganz gleichgültig sind, indem unbeschadet desselben die nämlichen Werke anderwärts roh und ungestaltet sind. Und wenn wir doch gestehen müssen, unser Wohlgefallen an diesen Formen sei der Art nach dasselbe wie das an den eigentlichen Kunstwerken: wie könnten wir umhin ihren Ansprüchen unsere Anerkennung zu geben, da keinen Unterschied zu machen zwischen groß und klein eher göttlich ist als verwerflich! — Und wie ist es mit dem Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft? Nicht so, daß wir beide auf der einen Seite einander gegenüberstellen, auf der andern nicht zu leugnen begehren, daß, wie es eine Wissenschaft geben soll von der Kunst, so es auch eine Kunst gibt in der Wissenschaft? Wie oft

313

454

314

Umfang des Begriffs der Kunst

3r | 3v

huldigen wir nicht trefflichen wissenschaftlichen Produktionen aus allen Fächern ohne Unterschied, selbst mathematische nicht ausgenommen, wie sehr auch der Calculus* mit der Kunst scheint in Widerspruch zu stehen, doch zugleich als wahren Kunstwerken! Und zwar nicht nur wegen kunstreicher Behandlung der Sprache, selbst wenn diese für die unmittelbare Abzweckung wenig austrägt, sondern tief aus dem innern heraus geht uns die Schönheit hervor in dem Ebenmaß und der Fülle der wohlgerundeten Teile, in dem Reichtum der Beziehungen, in der klaren Übersichtlichkeit des Zusammenhanges. Und wenn wir so der Analogie des Eindrucks folgen und sagen, was so geartet ist und erscheint, das ist ein Kunstwerk: warum sollen wir den Ausdruck auf das beschränken, was der einzelne hervorbringt, und was eine bestimmte Einheit in sich selbst hat? Wenn an festlichen Tagen große Volksmassen sich in mannigfaltigen Verhältnissen ordnen und sich mit Würde und Leichtigkeit bewegen, wenn bald einzelne dies und jenes kunstreich darstellend hervortreten, bald die Massen selbst sich spielend zerstreuen und wieder sammeln, wenn in solchem Gewühl Freiheit und Ordnung sich gegenseitig unterstützen und lebendig erhalten, und auch mitten darin jeder ein sicheres Gefühl hat von der freudigen Zusammenstimmung und der leichten Entwicklung des ganzen: ist nicht eine solche Fülle schöner freier Bewegung, ein solcher Inbegriff von Kunstdarstellung und unmittelbarem Lebensausdruck, deren Wechsel doch nur als Skizze angeordnet ist, das beste in der Ausführung aber improvisiert wird, nicht auch wieder ein Kunstwerk für sich, ohnerachtet keiner es hervorbringt? Und werden wir nicht dasselbe zugeben müssen von den Versammlungen der frommen, wenn sich erhabener Gesang und würdige Rede, bedeutsame Handlungen und ausdrucksvolle Bewegungen | zu einem ergreifenden ganzen bilden, daß auch dieses, nicht nur in dem Maß als jeder der einzelnen Teile kunstgerecht ist, sondern auch für sich als Einheit dieser Teile ein Kunstwerk sei? Doch auf eben diese Weise werden wir uns nicht erwehren können, auch noch weiter gehend uns über das menschliche überhaupt zu erheben. Oder sollte der Eindruck, den uns die unsern Kunstwerken ver-

3v

Umfang des Begriffs der Kunst

455

wandten natürlichen Gegenstände aufdringen, sich als ein anderer erkennen und beschreiben lassen? und enthüllt sich nicht unsern Blicken so wie wir sie nur hierhin wenden eine eben solche nur unermeßliche vom kleinsten bis zum größten in tausendfältigen Abstufungen sich erstreckende Reihe von göttlichen Kunstwerken? Sehen wir nicht an der Produktivität der Erde, und auch gleichgültig gleichsam für ihre Hauptbestimmung, diese Fülle von Zierlichkeit in den Gestaltungen, von Farbenschmelz und Pracht in den Kulminationsmomenten des vegetabilischen Lebens? Und an den Denkmälern der mannigfaltigen Umgestaltungen, durch welche erst der Planet sich zum Wohnsitz der Intelligenz entwickeln konnte, ist uns nicht an diesen als Zugabe geschenkt diese Fülle pittoresker Schönheit und Erhabenheit an den Abhängen des gewaltsam emporgetriebenen Bodens, auf den alten Kampfplätzen des starren und des flüssigen; und sind nicht an dem unentbehrlichen lebenbringenden Tanz, in dem sich Erde und Sonne bewegen, ein zufälliges und freies Kunstspiel jene musikalischen Fantasien, welche täglich zum Willkommen und Abschied die Sonne ausführt auf dem diatonischen Farbenklavier* unserer Atmosphäre? Und dann wieder nicht an sondern in der Anordnung und Verteilung des Lebens, welcher Reichtum von Harmonien in den aufsteigenden Stufen und in der Verschiedenheit des gleichen, worin doch das geübte Auge dasselbe Wesen und dieselben Grundformen mit Leichtigkeit entdeckt. Und welche Vollkommenheit der Konstruktion ahnden wir erst in der Zusammenstellung in den verborgenen Beziehungen eines jeden Systems von Weltkörpern. Ja werden wir nicht sagen müssen, es sei nur die Unvollkommenheit unserer Einsicht, nur die eigennützige Befangenheit unserer Betrachtungsweise Schuld daran, daß wir die göttliche Kunst nur einzeln als an anderm und in anderm erblicken; aber doch sollten wir getrost behaupten, daß sich die Welt in der gesamten Einheit ihrer Entwicklung wie das Eine alles umfassende Kunstwerk verhalte, und daß die höchste Bestimmung des Geistes in dem Genuß dieser göttlichen Kunst bestehe, die es eigentlich auch jetzt schon allein sei, wodurch wir künstlerisch aufgeregt werden, die aber wenn ganz erkannt erst

315

456

316

317

Umfang des Begriffs der Kunst

3v | 4r

den Menschengeist zu ewiger Musik und Poesie beleben wird. Denn erst in dem Maß wir erkennen, wie Gott in der Schöpfung Künstler sei, können auch wir in der Kunst schöpferisch werden; und das sei der wahre und tiefere Sinn der Formel, daß | die Kunst Nachahmung der Natur sei*, nicht Nachahmung im eigentlichen Sinn, sondern wie im großen alles gedichtet werde und gebildet, so wiederhole sich im kleinen dasselbe durch das einzelne Bewußtsein. Löset sich aber auf diese Weise alles in der Einheit der göttlichen Kunst auf, deren Werk dann auch die künstlerische Art und Richtung des menschlichen Geistes ist: so müssen wir wohl davon abstehen das besondere Gebiet der menschlichen Kunst nach derselben Formel auszumessen, indem wir nämlich zusammenstellen, was in uns dasselbe reine Wohlgefallen erweckt, und was wir zugleich nicht auf bestimmte Zwecke zu beziehen wissen. Nichts aber liegt uns alsdann näher als die Frage, wie eben dasjenige, was wir als Werk in dasselbe Gebiet mit der göttlichen Kunst stellen, auf seine eigene Weise als menschliche Tat und unterschieden von andern menschlichen Taten zu Stande komme. In dieser Frage selbst liegt aber schon die Aufforderung, damit wir leichter zu einer einfachen Antwort gelangen, das künstlerische, wie es an einem andern oder in einem anderen vorkommt, vorläufig bei Seite zu stellen und uns zunächst nur an die selbständig auftretende Kunst zu halten, welche Werke, die nichts anderes sein wollen, zu Tage fördert. Aber auch dies ist nicht leicht und einfach auszuscheiden, sondern — um nur Eines anzuführen — ein großes Kunstgebiet ist schon lange ein streitiger Gegenstand, ob es zu den selbständigen Künsten gehöre, oder ob es nur Kunst sei an einem anderen. Wenn die einen von der Größe und Hoheit der baukünstlerischen Werke hingerissen die Architektur eher vor als nach allen andern als eine selbständige Kunst verehren und sie verteidigen*, daß sie sich nur ihres guten Rechts bediene, wenn sie um Raum zu gewinnen und sich Bahn zu machen sich gern so anstelle, als wolle sie nur bescheiden allerlei würdigen menschlichen Zwecken dienen, dann aber sich leicht auch um der geringsten künstlerischen Rücksichten willen über alle Zweckmäßigkeit fast spottend hin-

4r | 4v

Umfang des Begriffs der Kunst

457

wegsetzt: so bleiben andere streng und fest dabei, jedes eigentliche Gebäude sei nur ein gemeinschaftliches Gewand für mehrere oder ein Gefäß, innerhalb dessen Menschen zusammengehalten werden und sich bewegen, und alle schönen oder erhabenen Formen seien nur insoweit zulässig, als zuvor der Zweck, für den das ganze errichtet werde, sichergestellt sei, und nicht einmal wollen sich diese zu einer Teilung verstehen, daß nämlich das kunstmäßige der Wohnungen und Geschäftsgebäude allerdings nur an einem anderen sei, die Baukunst aber in allen den Werken, welche nur dem festlichen öffentlichen Leben angehören, auch als eine selbständige Kunst müsse angesehen werden. Und ein ähnlicher zwar nicht so laut und wiederholt geführter aber doch nicht minder interessanter Streit erhebt sich auf der ganz entgegengesetzten Seite so weit als möglich entfernt von dem körperlichen Stoff, den die Baukunst behandelt. Nämlich wenn doch die Tugend Schönheit | sei, sagen einige: so müsse, wie alles ein Kunstwerk sei, dessen Element die Schönheit ist, auch ein in einer Reihe von freien Handlungen und wohlüberlegten Taten in einer gewissen Vollkommenheit sittlich durchgeführtes Leben als eine in schönem Ebenmaß zusammengehaltene Fülle von Tätigkeiten ein treffliches Kunstwerk sein, oder vielmehr ein solches, welches, wie die Welt die Gesamtheit göttlicher Kunstwerke in sich schließt, alles was einzeln so genannt werden kann als seine Teile in sich hat; denn jede einzelne Kunstleistung müsse doch vor allen Dingen als Element eines solchen Lebens gerechtfertigt werden können. Andere hingegen meinen, der sittliche Mensch könne zwar in diesem Sinne ein göttliches Kunstwerk sein, nichts aber könne für ein menschliches gelten, was einen natürlichen Anfang habe und ein natürliches Ende, mithin nicht in seiner Abgeschlossenheit vorher aufgefaßt gewesen sei. — Ist nun hier so vieles streitig: wie sollen wir einen Standpunkt gewinnen um unsere Aufgabe zu lösen? Denn wollen wir von oben herab von dem Wesen des Geistes ausgehen, sei es an sich oder so wie er sich in dem leiblichen Leben offenbart, um die besondere Tätigkeitsweise zu bestimmen, welcher alle wahren Kunstleistungen aber auch nur diese entquillen: so müßte es erst auf diesem Ge-

458

318

Umfang des Begriffs der Kunst

4v | 5r

biet etwas allgemein anerkanntes geben, damit wenn wir davon ausgingen auch jeder folgen müßte. Wollen wir uns aber unten hinstellen und den Begriff der Kunst so beschreiben, daß alle eigentlich sogenannten Künste aber auch nur sie Raum darin haben: so müßten wiederum erst jene Streitigkeiten über einzelne Gebiete geschlichtet sein, ohne doch daß wir einen Richterstuhl anzugeben wüßten, vor welchem. Und so scheinen diejenigen leider Recht genug zu haben, welche behaupten, nichts einzelnes könne gewußt werden als nur zugleich mit allem anderen. Was bleibt uns also übrig als nur sehr unkünstlerisch und eben so unwissenschaftlich irgendwo in der Mitte uns festzusetzen und zu versuchen, ob es uns geraten will, und wenn wir auch bald zugeben bald wieder abnehmen müssen, doch endlich etwas festes und sicheres zu finden. So wollen wir uns denn zunächst halten an eine alte Rede, die sich aber auch in dem Munde neuer Meister wiederholt, daß alle Kunst entspringt aus der Begeistung aus lebhafter Bewegung der innersten Gemüts- und Geisteskräfte*, und an eine andere eben so alte tief in unsere Denkweise eingewurzelte, daß nämlich jede Kunst ihr Werk muß aufzuweisen haben. Und so wäre wohl das nächste, zuzusehen inwiefern in den verschiedenen Künsten auf dieselbige Weise aus der Bewegung das Werk entsteht. Aber der Schwierigkeit der Sache wegen möchte es geraten sein den Versuch bei denen Künsten zu beginnen, wo der Weg zwischen beiden Punkten nur kurz sein kann, und der Prozeß sehr einfach erscheint. Und glücklich wären wir und hätten einen guten Wurf getan, wenn wir auf der einen Seite neben dem Kunstwerk auch ein verwandtes kunstloses fänden, um zeigen zu können, wie das eine sich von dem andern unterscheidet, und auf der anderen Seite das gefundene auch auf die anderen Künste übertragen könnten, bei denen der Weg nicht mehr so kurz ist und das Verfahren nicht mehr so einfach. Nun können wir wohl Freude und Schmerz ohne nach Inhalt und Veranlassung besonders zu fragen ohne weiteres als solche auch zu der innersten Quelle des Lebens durchdringende Erregungen | aufstellen. Beide haben ihre entsprechenden Äußerungen im Ton und in den willkürlichen leiblichen Bewe-

5r

Umfang des Begriffs der Kunst

459

gungen. Aber freilich wie die ausgelassene Freude springt und sich in kreisenden Bewegungen ermüdet, wie sie umarmend an sich reißt und fahren läßt, wie sie halb inarticulierte Töne bunt durch einander in mancherlei Höhe und Tiefe ausstößt; und wie eben so auch der Schmerz ohne Maß und Regel seufzt und schreit, sich in kläglichen Windungen umherwirft, und so die Tonleiter auf- und abläuft und alle barocksten willkürlichen Bewegungen am häufigsten wiederholt: so ist bei diesen Äußerungen an ein Kunstwerk nicht unmittelbar zu denken. Und doch sind dies unleugbar die Naturanfänge zweier Künste, das kunstlose zu Tanz und Gesang als dem kunstmäßigen, zwei Künste, aus denen sich doch die größeren Gebiete der Mimik und der Musik nur durch natürliche Erweiterung entwickelt haben. Was ist aber nun der spezifische Unterschied zwischen dem kunstmäßigen und kunstlosen? Dies unstreitig, daß die rohen und ungeschlacht wechselnden Bewegungen unter Maß und Regel gebracht werden; aber diese haben in der ursprünglichen Erregung je stärker sie ist um so weniger ihren Grund. Vielmehr ist es das Wesen jenes kunstlosen Zustandes, daß Erregung und Äußerung identisch sind, und völlig gleichzeitig durch ein bewußtloses Band vereinigt mit einander beginnen und mit einander verlöschen, oder noch genauer zu reden sind beide wahrhaft eins und nur von dem draußen stehenden Beschauer willkürlich getrennt; wogegen in jeder Kunstleistung diese Identität wesentlich aufgehoben ist. Die Erregung für sich weiß nichts von Maß und Regel, sondern finden wir ihre gewohnten Äußerungen unter die Ordnung gebracht und in Kunstelemente verwandelt, da ist auch was äußerlich erscheint innerlich vorgebildet gewesen. Eine andere höhere Gewalt ist zwischen eingetreten und hat das sonst unmittelbar verbundene geschieden; ein Moment der Besinnung schlägt gleichsam trennend ein, bricht auf der einen Seite schon durch das Anhalten durch die Weile jene rohe Gewalt der Erregung und bemächtigt sich zugleich während dieses Anhaltens der schon eingeleiteten Bewegung als ordnendes Prinzip. Dieser Moment ist es also, durch welchen sich die Kunst von dem bloßen Naturprozeß unterscheidet, es ist der Moment der Konzeption, in welchem was

460

319

Umfang des Begriffs der Kunst

5r | 5v

hernach äußerlich hervortritt sich innerlich vorbildet. Eine innere Erregung muß vorausgegeben werden, welche irgend eine nach außen gehende Funktion aus dem Schlummer weckt und aufregt, eine Tätigkeit in dieser muß eingeleitet sein durch jenen Impuls; aber dies sind nur die Bedingungen der Kunst. Kunsttätigkeit entsteht nur in sofern, als wo jene eintreten auch ein kräftiges Maß dieser Besinnung vorhanden ist, welche die Naturtätigkeit über sich selbst erhebt und zu einer Offenbarung | des sich seiner bewußten und die Erregung beherrschenden Geistes adelt. Und dieses ist der tiefere ursprüngliche Sinn der Formel, daß die Leidenschaften oder vielmehr die leidentlichen Zustände gemäßigt werden durch die Künste*. Wo der Trieb stark genug ist, welcher jede aufgeregte Bewegung in reine Darstellung verwandelt, da wird auch zurückgewirkt auf die Empfindungen und Gefühle, denn die Begierden freilich, welche einem bestimmten Ziele zueilen, sind diesem Gesetz nicht unterworfen. Unterscheidet sich nun auf diesem Gebiet das kunstmäßige von dem kunstlosen wesentlich durch diese zwischen eintretende vorbildende Besinnung, und finden wir diese zugleich in allen Künsten: so werden wir es vorläufig wenn auch nur als einen gewagten Satz aufstellen dürfen, daß diese das Wesen jeder Kunst als solcher sei. Ist aber durch die vorbildende Besinnung das unmittelbare Zusammenschlagen von Erregung und Außerung aufgehoben: so ändert sich natürlich auch das ganze Verhältnis zwischen beiden. Wirkt nämlich in dem kunstlosen Zustand der Erregungsmoment nur unmittelbar: so erschöpft er sich auch größtenteils durch einen kleinen Kreis von Bewegungen, und wenn er zu schwach ist bewirkt er gar nichts. Auf diese Weise entstehen dann von jeder Erregungsweise aus analoge und verwandte Äußerungen, aber alle geringfügig und vereinzelt. Wird aber der Prozeß durch die vorbildende Besinnung aufgehalten: so kann noch während dieser Hemmung ein zweiter erregter Zustand entstehen, der vielleicht für sich gar nichts bewirkt hätte, der aber nun doch etwas zur Darstellung hinzubringt und sie über jenes Maß hinaus erweitert. Auf dem Gebiet der Kunst also kann es Darstellungen geben, die sich auf eine Reihe von Erregungsmomenten beziehen. Und dieses wirkt

5v | 6r

Umfang des Begriffs der Kunst

461

auf die ganze Einteilung des Lebens, denn je mehr Kunstsinn in einem Volk um desto mehr bilden sich in demselben festliche Zeiten. Was den Menschen unter den Geschäften des Lebens innerlich bewegt, das bleibt innerlich verwahrt, die vorbildende Tätigkeit regt sich, aber tritt wieder zurück um sich nicht ins kleine zu zersplittern, und die festliche Zeit ist nichts anders als der gemeinschaftliche Entladungsakt für die aufgesparte Darstellung. Aber ebenso läßt sich nun auch denken, daß es Erregungsmomente gibt, die so tief das ganze Wesen ergreifen, daß sie eine gleichsam unendliche Aufgabe für die urbildliche Besinnung werden. Ein einzelner Akt auch nach dem größten Maß genügt ihr nicht, die Erregung ist noch nicht gestillt und fährt fort nach außen zu drängen, und Ein Moment, der mit einem Übermaß von erregender Kraft das ganze Wesen durchzieht, erhält auch die vorbildende Besinnung immer rege und wird das Thema eines ganzen Lebens. Und betrachten wir die Verhältnisse, welche zwischen den drei aufgezählten Elementen, der Erregung, der Vorbildung und der Ausführung, stattfinden können: so erkennen wir daraus fast alle die verschiedenen Gestaltungen, welche die Geschichte der Kunst uns bekannt macht. Nämlich fehlen gänzlich kann keines von allen dreien, wenn überall etwas von Kunst anfänglich zu Stande kommen oder zuletzt übrig bleiben soll, aber fast bis zum Verschwinden kann sich das eine gegen die andern zurückziehen oder im Übermaß über die andern hinausragen. Denken wir uns zuerst, | was leider häufig genug vorkommt ja gewissermaßen einzelne Perioden ganzer Künste charakterisiert, daß nämlich die organische Fertigkeit nicht gehörig entwickelt ist, welcher obliegt das vorgebildete zur wirklichen Darstellung zu bringen: so klagen wir über eine Ungeschicktheit, welche den Genuß der geistreichsten Erfindungen verkümmert, und auch einem kräftigen Genius die Freude einer allgemeinen Anerkennung verbittert. Eine Unvollkommenheit, an welcher in der ersten Periode der Produktivität jeder geistreichste Künstler am meisten leidet, bis er seinen eigentümlichen Stil in der Ausführung trotz der Dürftigkeit seiner Umgebungen oder aus dem Kampf mit einer abgestorbenen Überlieferung glücklich herausgearbeitet hat.

462

Umfang des Begriffs der Kunst

6r

Und ist es unvermeidlich, daß auch die Erfindung sich dürftiger gestaltet, wenn das Bewußtsein sie hemmt, wie wenig die Mittel zureichen, und muß sie, wenn sie sich über diese Dürftigkeit erheben will und es verschmäht sich zurückscheuchen zu lassen, doch wegen der Unfähigkeit den äußeren Anforderungen zu genügen notwendig unvermögend erscheinen: so bleibt dann nichts übrig als eine vergeblich ringende Genialität, welche zwar den geistigen Wert der Persönlichkeit wenngleich einer unerzogenen verkündigt, aber zu dem gemeinsamen Kunstschatz wenig oder nichts bleibendes hinzufügt. Wenn hingegen die Erfindungsgabe, in welcher eigentlich erst die zur wahren Begeistung gesteigerte ursprüngliche Erregung sich kund gibt, nur dürftig eintritt, während es doch einer lebendigen Natur nicht an erregenden Momenten fehlt, und auch die organischen Fertigkeiten auf einem bestimmten Gebiet so weit entwickelt sind, daß sie auch einer kräftigeren Erfindungsgabe genügen könnten: so wird nicht etwa, wie man denken könnte, der alte kunstlose Zustand wieder eintreten, denn weder kann sich dieser erhalten, wenn einmal in einer Gesamtheit nur überhaupt Kunstsinn und ein Kunstleben sich entwickelt hat, noch kann auch das kunstlose Hervortreten dem selbst genügen, in dem der Organismus irgend einer Kunstübung sich genugsam gebildet hat um auch größeres zu leisten. Vielmehr wenden sich dann beide, die Erregbarkeit, die sich äußern will, und die organische Fertigkeit, welche nach Beschäftigung verlangt, an eine fremde beiden am nächsten zusagende Erfindungsgabe, und so entsteht dann in der Kunst das weite und reich besetzte Feld der Nachahmung. Wir verstehen aber darunter zweierlei, nämlich nicht nur die fremden Mustern folgende und daher das Kunstgebiet nicht erweiternde Produktion, welche in jeder Gattung und jeder Periode einen so breiten Raum einnimmt, daß sie vorzüglich die Masse der Kunsterzeugnisse bildet, aus der man die einzelnen ursprünglichen Werke mühsam heraussuchen muß. Sondern auch diejenigen gehören hieher, welche fremde Werke, die in dem Gebiet liegen, für welches sie selbst erregt sind, sich und andern wiederholt zum Genuß darbieten, wie denn Übersetzer und Rhapsoden oder kunstreiche Vorleser auf diese

6r | 6v

Umfang des Begriffs der Kunst

463

Weise den Dichtern dienen, Kupferstecher, sofern sie auch selbst noch an der Kunst Anteil haben, wie man es freilich von den Formgießern der Bildhauer nicht sagen kann, den Malern, und die Virtuosen auf allen Instrumenten, die menschliche Stimme mit eingeschlossen, den Tonkünstlern. Alle diese haben einen selbsttätigen Anteil an der letzten Ausübung des Künstlers, ja er überläßt ihnen diese oft ganz, und bedarf solcher ausführenden Virtuosen nicht minder als sie seiner. Und diese Befreundung zwischen denen, bei welchen die künstlerische Erfindung so überwiegt, daß die organische Fertigkeit nicht Schritt halten kann, und denen wiederum, welche diese voraushaben jener aber ermangeln, beruht doch | darauf, daß das, was jeder besitzt von beiden, aus derselben Art erregt zu sein abstammt. Und nun dürfen wir nur denen, welchen schon die Gabe der Erfindung fehlt, auch noch die ausübende Fertigkeit nehmen: so haben wir den Ort gefunden für die selbst nicht produktiven aber doch für die Kunst erregten Kunstfreunde, welche doch nicht so befriedigt sein könnten durch den Genuß und nicht so begeistert für das Gedeihen der Kunsttätigkeiten, wenn nicht auch sie mit den Künstlern selbst wenigstens die ursprüngliche eigentümliche Erregung gemein hätten. Kaum scheint es möglich nach dem, was bisher gesagt worden, auch noch den dritten Fall einzuführen, nämlich daß die andern beiden Elemente vorhanden sein könnten, die Erregung aber fehlen, denn diese haben wir ja als den ersten Ursprung der beiden andern gesetzt. Allein alle schlechten Zeiten in der Geschichte der Kunst haben grade diesen Ursprung. Hat in einem Volksleben die Kunst geblüht: so ist es auch ein Ehrenpunkt geworden oder ein Artikel des Luxus Kunstwerke nicht nur zu besitzen sondern auch Kunstschüler in der Fremde bilden zu lassen. Und so wird denn die Kunst auch bei mangelnder Erregung noch fortgetrieben aus wenn auch nicht tadelnswürdigen doch allemal fremden Bewegungsgründen, wobei sie sich natürlich nur mehr in geistlosen Mechanismus oder falsche Tendenzen verliert, bis vielleicht ein neues Leben für sie anbricht. Können wir uns nun aus diesen einfachen drei Elementen so leicht die verschiedenen Stufen ja auch Ausweichungen in dem Leben der

464

320

Umfang des Begriffs der Kunst

6v

Kunst zurechtlegen: so fragt sich, ob wir nicht auch aus denselben sollten die übrigen verschiedenen Gebiete der Kunst bei genauerer Betrachtung entwickeln können. Offenbar nun muß das Geheimnis liegen zwischen dem, was wir die Erregung, und dem, was wir die vorbildende Besinnung nannten; denn ist diese einmal an ihrem Werk, so ist auch das Kunstgebiet bestimmt. Die Stimme mit ihren nachahmenden Instrumenten, die Hand mit ihren mancherlei Werkzeugen, der ganze Körper selbst bringen nur das zur äußeren Erscheinung, was in dem inneren Urbilde schon gesetzt ist; das innere Auge hat gesehen, das innere Ohr hat gehört, und nun wird für den äußeren Sinn gearbeitet. Hiebei nun muß ich zuerst bevorworten, daß wenn vorher Freude und Schmerz im allgemeinen als solche Erregungen namhaft gemacht wurden, deren sich die kunstmäßig bildende Besinnung bemächtigen könne, dies weder allgemein gelten kann, als ob alle Kunsttätigkeit von diesen beiden ausginge, so daß die Begeistung in allen dieselbe wäre, und nur zu zeigen bliebe, wie so nun hieran bei dem einen sich die dichterische bei dem andern die malerische Vorbildung anknüpfe, noch auch ausschließend, als ob unmittelbar und ohne weiteres an jede von beiden sich die vorbildende Besinnung anlehne. Sondern nur sofern in beiden mitgesetzt ist oder sich von selbst daraus entwickelt der Trieb der Äußerung; und nicht sind jene beiden die gemeinsame Begeistung aller Künstler, sondern jedes Kunstgebiet hat seine eigne. Daher gestaltet sich uns nun unsere Frage so, Welches ist bei jeder Kunst die ursprüngliche den Trieb auf die Äußerung schon in sich schließende und von da aus in eine bestimmte Werkbildung übergehende Erregung, die wir in dieser letzten Hinsicht vorzüglich Begeisterung nennen?* Und dann würde zu untersuchen sein, in wiefern diese ihrer Ähnlichkeit wegen, oder wenn wir es bis dahin bringen können, wegen ihres Verhältnisses zu den übrigen Geistestätigkeiten uns berechtigen sie mit allen ihren Wirkungen unter Einen gemeinsamen Begriff zu bringen. Wie uns nun dieses gelingt, in demselben Maß werden wir dem Begriff seinen Umfang bestimmen können, wo nicht, so würden wir dann anheimzustellen haben, ob auch dieser Versuch vergeblich

6v

Umfang des Begriffs der Kunst

465

und auf eine andere Lösung der Aufgabe zu warten ist, oder ob der Vermutung Raum zu geben, die Künste seien nur zufällige Erzeugnisse, bald so bald anders sich gestaltend, verschwindend und wieder zurückkehrend, ohne daß dies mit irgend etwas wesentlichem in der menschlichen Entwicklung zusammenhange. Stände es nun so mit der schönen Kunst, so müßte sich allerdings unsere Freude an ihr und unsere Liebe zu ihr gar sehr herabstimmen, sie sänke herab zu den unbedeutenderen Verschönerungen des Lebens und es müßte von ihr gleichfalls gelten, daß sie nur gefährlich und für die wesentlichen Verrichtungen des Menschen störend eingreifen müsse. Daß nun diese Vermutung um desto mehr Raum gewinnt, je mehr vergebliche Versuche die Theorie aufzuzeigen hat [. . .]*

321

466 322

Umfang des Begriffs der Kunst

6v | 1v

2* Wenn ich in der ersten Abhandlung ein Paar einzelne zwar sehr alte und weit verbreitete Kunstzweige in ihrem Verhältnis zu dem analogen kunstlosen betrachtet und daraus die drei wesentlichen Momente jeder Kunsttätigkeit, die Erregung die Urbildung und die äußere Darstellung, abgeleitet habe: so ist dabei keinesweges die Meinung gewesen, daß die Kunstwerke sollten aus denselben erregten Gemütszuständen entspringen, welche ihren natürlichen Ausdruck finden in dem kunstlosen Ton und der kunstlosen Gebärde. Vielmehr um eine solche Behauptung zu widerlegen wäre nicht einmal nötig zu fragen, ob wohl jene mit der Natur wetteifernden Schöpfungen der Maler und Bildhauer, ja welche ihr Gesetze vorzuschreiben scheinen, indem wir in denselben das Maß erblicken, an welches nur wenige von den Gestalten, welche die Natur hervorbringt, hinanreichen, und ob wohl jene Dichterwerke, in denen eine ganze Welt voll menschlichen Lebens sich vor uns bewegt, ob dieses alles wohl könnte aus einer eben solchen wenngleich noch so stark angespannten oder seit noch so langer Zeit aufgesammelten Stimmung hervorgegangen sein, welche in jenen kunstlosen Ausdruck ausgeht. Sondern gleich an das dort aufgestellte anknüpfend muß ja folgen, daß, sobald ein Moment der Besinnung zwischen eintritt, von welchem aus Maß und Bestimmtheit | in Ton und Gebärde übergeht, die Handlung schon dem Einfluß der bewegten Stimmung enthoben ist; sie ist nun nicht mehr die Reaktion des getroffenen und erschütterten Gemüts nach außen, sondern sie wird von diesem Augenblick an das Werk des Künstlers. Ja wir verlangen von diesem, er soll uns außer Stand setzen zu unterscheiden, ob es seine eignen Erregungen sind oder die anderer, welche er zur Darstellung bringt. Meine Absicht bei jener Zusammenstellung ging auch zunächst nur dahin, jenes Gebiet des kunstlosen mit dem der Kunst zusammenzufassen unter dem gemeinsamen Triebe, auch die flüchtigste innere Lebensbewegung an etwas äußerem festzuhalten, auch die, welche sich leicht ganz verbergen könnte, heraustreten zu lassen, damit alles auch das eigentümlichste nach Vermögen öffentlich

1v | 2r

Umfang des Begriffs der Kunst

467

werde und gemeinsam; und diesen Trieb, der aber freilich, damit er ein Werk hervorbringe, irgend wie muß bestimmt worden sein, diesen wollten wir als den Ursprung aller Kunst ansehn*. Um aber das Verhältnis beider zu einander noch genauer anzuschauen, und uns dadurch den Weg zu unserm weiteren Verfahren zu ebnen, müssen wir noch eine andere Betrachtung hinzufügen. Außer dem kunstlosen Ausdruck nämlich und dem Kunstwerk findet sich noch ein drittes, was zu diesem Triebe ebenfalls in bestimmtem Verhältnis steht. Gehen wir von der Voraussetzung aus, nach welcher ich auch in der zweiten Abhandlung über den Begriff des höchsten Gutes der Kunst ihren Ort angewiesen habe*, daß nämlich jedes menschliche Einzelwesen nach Maßgabe seiner Entwicklung nicht nur räumlich und zeitlich eine besondere Lebenseinheit ist, | sondern auch — zugegeben allerdings, daß es Verhältnisse gibt, unter denen der Unterschied als ein unendlich kleines verschwindet — doch in jedem auch der Geist selbst ein besonderer wird, die verschiedenen wesentlichen Teile der Aufgabe unseres Lebens in einem anderen Verhältnis auffaßt, sich mit mehr oder weniger Neigung zu dem einen und dem andern hinwendend, dieses aus einem höheren jenes aus einem niedern Gesichtspunkt auffassend, alles dieses jeder anders als der andere; gehen wir hievon aus sage ich: so wird auch zuzugeben sein, daß aus jeder Reihe von Handlungen des Einzelwesens, je länger wir sie fassen können und je mannigfaltiger sie ist, auch um so mehr jene innere Einheit, die wir den Charakter des Menschen zu nennen pflegen, ans Licht tritt und anschaulich wird. Und so kommen wir auf jenes oft gesagte und auch hier schon früher angeführte zurück, daß jedes sittlich und folgerecht geführte Leben selbst ein Kunstwerk sei, um desto vollkommner je klarer es jene Einheit zur Darstellung bringt. Aber doch unterscheidet es sich von dem eigentlichen Kunstwerk in dieser Beziehung auf entgegengesetzte Weise wie der kunstlose Ausdruck. Denn wenn dem letzteren auch derselbe Trieb zum Grunde liegt, aber er kommt nicht zum Bewußtsein, sondern unwillkürlich wird das innere ein äußeres, und wenn hier nur insofern das Heraustreten nicht etwas ganz unfreies ist, weil es wenigstens durch den Willen

323

324

468

Umfang des Begriffs der Kunst

2r | 2v

gehindert werden kann, wenn jemand die Absicht hat sich zu verschließen und zu verbergen: so sehen wir hier den umgekehrten Fall. Die gesamte Reihe von sittlichen Handlungen entspricht jener Aufgabe sich selbst kund zu machen in jedem beliebigen Grade, und keine unter ihnen ist nicht aus einem freien Entschluß hervorgegangen; aber die Absicht war doch nicht auf diese Kundgebung gerichtet, sondern bei jeder Handlung auf das, was sie für die GesamtAufgabe leisten sollte. Die Kunst also im eigentlichen Sinn steht zwischen diesen beiden Enden. Offenbaren kann sich einmal das innere nur in der heraustretenden Tätigkeit, in der Produktion, | aber um ein Kunstwerk zu sein muß die Offenbarung nicht unwillkürlich sein sondern bewußt und gewollt, und die Hervorbringung muß nichts anderes beabsichtigen als nur das Heraustreten und Kundwerden des inneren; alles was sonst dadurch bewirkt wird darf nur zufällig sein und auf das Werk selbst keinen bestimmenden Einfluß ausüben. Wollen wir also unserer Aufgabe, den Umfang des Begriffs der Kunst in diesem engeren Sinne des Worts zu verzeichnen, an dieses allgemeine Merkmal knüpfen: so würde uns obliegen nicht nur solche Hervorbringungen nachzuweisen, die nichts anderes bezwecken als dieses Hervortreten des inneren, und die eben dieses auch wirklich erreichen, sondern wir müßten auch die verschiedenen Arten derselben ausschließend zusammenfassen können und deutlich machen, daß es mehrere als diese nicht geben könne. So dürfte uns auch nicht genügen zu wissen, daß jeder solche Kunstzweig in der Tat gewisse Zustände ans Licht bringt, sondern wir müßten sicher sein, daß entweder jeder für sich, oder wenn das nicht, dann wenigstens alle in ihrem Zusammenwirken der ganzen Aufgabe vollständig entsprächen. Das erste haben wir allerdings schon getan. Denn gibt man zu, daß Ton und Gebärde der natürliche Ausdruck des irgendwie aufgeregten inneren sind, und daß sie nicht aufhören dieses zu sein, wenn auch der unmittelbare Zusammenhang zwischen beiden Momenten aufgehoben und die musikalischen oder mimischen Elemente unter sich gemessen und geordnet ein ganzes bilden: so folgt auch, daß Mimik und Musik nicht minder in ihrer entwickeltsten Gestalt als in

2v | 3r

Umfang des Begriffs der Kunst

469

ihrer ursprünglichen Einfalt solche der Aufgabe entsprechende Hervorbringungen sind. Aber was ist dieser geringe Anfang gegen die ganze Aufgabe! Unmöglich scheint es auch alle anderen Künste, denen nie jemand diese Würde streitig gemacht hat, aus diesen Naturelementen abzuleiten, und andere ähnliche scheint es nicht zu geben. Und doch wäre es besser die Aufgabe fallen lassen als etwas zur Zeit noch gar nicht zu lösendes, als sie zu verwirren durch jenes falsche aber auf diesem Gebiet nur gar zu gewöhnlich gewordene Verfahren, welches bei der Erfahrung zu Borg gehend das was diese | an die Hand gibt so lange hin und her zieht und zerrt, bis es sich selbst nicht mehr ähnlich sehend um so leichter dafür angesehen werden kann, als sei es selbst gefunden und von oben her abgeleitet. Aber auch der Punkt, auf dem wir gegenwärtig stehen, ist schwer fest zu halten, und es will mit den Künsten gehen wie mit den Tugenden, daß sie bald als mehrere erscheinen, bald wieder nur eine sein wollen. Denn was ist doch der Ton anders als auch Bewegung, wenn gleich nur eines einzelnen organischen Systems? und will man einwenden, das gelte doch nicht von den künstlichen Tönen der Instrumente: so sind diese genau genommen ja nichts anders als für die Stimme was die geschliffenen Gläser für das Auge sind, mit dem Organ eins, zugebildete Ansätze an dasselbe, um des Menschen Fähigkeit zu tönen zu erhöhen und alles, was ahndungsvoll in ihm innerlich geklungen hat, auch dem äußeren Ohre zuzuführen. Wäre also gar Bewegung in diesem weiteren Sinne des Wortes das einzige, wodurch sich das innere Leben kund gäbe? Zwei Anknüpfungspunkte bieten sich mir noch, indem ich auf die musikalische und mimische Bewegung hinsehe. Zuerst frage ich auf der einen Seite, worin hat denn diese letztere ihren Ort? und auf der andern frage ich, jene eigentümliche Auffassung der Lebensaufgabe, jene besondere Harmonie der einzelnen Neigungen, gibt sie sich nicht doch auch auf andere Weise kund als durch die gesamte Reihe der Handlungen? Auf beide Fragen weiß ich nur dieselbe Antwort. Jene Bewegungen, durch welche sich das eigentümliche Leben in seinen bestimmten Momenten und wechselnden Zuständen kund gibt, haben ihren Sitz in der Gestalt. Und das eigentümliche

470

325

Umfang des Begriffs der Kunst

3r | 3v

Leben in seiner sich immer gleichen Einheit gibt sich außer jener mittelbaren Anschauung, die wir uns zusammensuchen aus der Reihe verschiedener Tätigkeiten, auch unmittelbar kund durch die Gestalt. Derselbe Geist in seiner Besonderheit leitet unmittelbar jene Bewegungen ein, um den Moment hervorzudrängen, derselbe spiegelt sich und sein eigentümliches Wesen ruhig ab in der von ihm gebildeten Gestalt. Denn wer möchte leugnen, daß der Geist die Gestalt entwickelt, daß die Verhältnisse der Teile nach ganz anderem Maßstab als es im tierischen Leben geschieht sich ändern, so wie die geistigen Verrichtungen mehr hervortreten; und geschieht das vor unsern Augen: so ist es auch geschehen in der ersten Verborgenheit des Daseins; die Gestalt ist prädeterminiert in ihren ersten Grundzügen für die Besonderheit des Geistes. Wie die Intelligenz sich eigentümlich ausprägt, so manifestiert sie sich auch als solches in der Gestalt. Nicht als ob ich hierdurch wollte mit wenigen Strichen den alten Streit entschieden haben über die Bedeutsamkeit der festen Teile, des starren und unverschiebbaren an und für sich*; mir genügt, wenn man sie nur zugibt als bedingend die Bewegungen der weichen Teile, und die feste Gestalt erkennt für das Instrument, das nur für diesen Kreis von mimischen Bewegungen gebaut ist. Zuerst nun stellten wir uns die bedeutsamen Bewegungen nur dar als Reaktionen auf einen von außen empfangenen Eindruck, aber sie begleiten auch jeden Moment reiner Selbsttätigkeit als Erscheinung derselben | nach außen. Jetzt haben wir die gestaltbildende Tätigkeit des Geistes als ursprüngliche Offenbarung desselben in seiner eigentümlichen Einheit betrachtet; aber wir finden sie auch mitten im Verlauf des Lebens eben so wie die Bewegung als einen Versuch den innern Gehalt eines Momentes nach außen zu bringen. Ich erwähne nicht der geheimnisvollen Übungen dieses gestaltbildenden Talentes auch in der Form unwillkürlicher im Traum, auch nicht der Art, wie in erhöhter Spannung die Seele ihre inneren Bildungen mitten in die Wirklichkeit wenigstens so weit herauswirft, daß sie sie erst durch das äußere Auge in sich aufzunehmen glaubt. Aber wie oft sehen wir nicht das wirkliche anders als es ist, also nicht rein das, was die Dinge unserm Auge

3v

Umfang des Begriffs der Kunst

471

zubringen, sondern vermischt mit dem, was wir, jeder nach seiner eignen Weise, sie zu mildern oder um uns darein zu vertiefen, innerlich dazu bilden. Ja wenn wir nach der Verschiedenheit unserer Stimmungen, sei es um uns herauszureißen oder um uns darin gehen zu lassen, unsere Naturumgebungen wählen, jetzt den dichtesten Schatten, dann die offene sonnige Landschaft, bald den überhangenden Felsen, bald das durchsichtige Gebüsch: je tiefer wir uns hineinsehen in das, was uns so harmonisch anspricht, je mehr wir nichts anderes sehen wollen als dies, was ist das anders als nur der abgekürzte Prozeß des eigenen Bildens? wir freuen uns zu finden, was wir sonst würden selbst gebildet haben. Aber wie oft bilden wir nicht auch selbst oder vielmehr bildet es nicht in uns lebende Gestalten, gleichviel ob aus der Erinnerung oder nicht, wenn es darauf ankommt uns besonders einen geistigen Moment festzuhalten oder zu vergegenwärtigen. So sehen wir denn bedeutsame Bewegung und eben solche Gestaltbildung zusammenwirken und sich gegenseitig ergänzen; beide gleich ursprüngliche und gleich unwillkürliche Veräußerlichungen unserer momentanen Bestimmtheit. Hat sich die Kunst der Bewegung bemächtigt und aus beiden Formen derselben Kunstgebiete entwickelt: warum soll sie sich nicht der Kunst auch eben so der Gestaltbildung bemächtigen, um Kunstgebiete zu entwikkeln? Wenn uns die Gestalten des Bildners und des Malers durch einen bestimmten Eindruck überraschen: wie leicht tragen wir dasselbe auf seine Werke über, was wir so oft bei den Werken der Tonkunst empfinden, daß sie recht unser eignes inneres Tönen und Singen ans Licht zu bringen weiß. Und rechtfertigen wir uns nicht immer wieder durch den Eindruck, den jene Kunstgestalten machen, die Vorliebe für diejenigen, die ihnen in der Wirklichkeit des Lebens am nächsten kommen, wie auch unsern Widerwillen gegen das am meisten davon abweichende? und gehen wir nicht auch dadurch auf unser eignes innerstes Bilden zurück? Und der Landschafter, gibt er uns nicht an jedem seiner Werke eine eigentümliche Staffage für unsere verschiedenen Empfindungszustände, so daß wir in diesen richtig aufgefaßt auch wieder die beste Staffage für seine Landschaften sein würden? So ist es demnach auch hier das

472

Umfang des Begriffs der Kunst

3v | 4r

ursprünglich unwillkürliche, dessen sich die Kunst bemächtigt; und wenn man vielleicht sagen könnte, hier unterscheide sich die Kunsttätigkeit weniger dadurch, daß sie das Maß hinzubringe zu dem ursprünglich ungemessenen, als vielmehr dadurch, daß sie durch das Festhalten und Veräußerlichen dasjenige zur Vollständigkeit und Klarheit bringt, was sonst nur als ein Schattenbild gleich wieder würde verschwebt sein: so fällt doch beides wieder zusammen. Der Mangel an Haltung ist auch ein Mangel an Maß, das bloße Erzeugnis des inneren Bildens hat seine Bestimmtheit mehr in dem, was es bedeuten soll, als in sich selbst als Erscheinung. Zweitens aber ist auch wohl zu bemerken, daß mimische und musikalische Bewegung, vornehmlich aber die letzte, sich fast unfehlbar auch der Rede bemächtigt. Je stärker die innere Aufregung, von welcher Art auch, desto mehr fordern wir, daß die sich bewegende Gestalt auch rede, daß der unbestimmt aufund absteigende Ton Worte finde; wo nicht, so besorgen wir, daß die innere Bewegung sich irgendwie gegen das Leben selbst wende und in einen krankhaften Zustand ausbreche. Und nicht nur bei sinnlicher Aufregung fordern wir, daß der Schmerz in bestimmten Worten klage, die unerwartete Freude sich in jubelnder Rede ergieße, und Schelten erwarten wir vom Zorn, Schmeichelreden von der Liebe: sondern auch in geistigen Momenten gilt dasselbe. Wenn die fromme Versenkung sich nur in der Gebärde kund gibt, fürchten wir, daß sie sich allmählig in gehaltloser Grübelei verzehre; wenn das tiefe Leiden des vaterlandliebenden Gemütes bei öffentlichem Unglück sich wortlos zusammenhält: so ängstigen wir uns, ob es nicht leidenschaftlich umschlagen werde in verderbliche Tat. So natürlich erscheint uns überall der Durchbruch des Tons und der Bewegung in die Rede. Aber was ist hier der Gehalt der Rede? Nicht ist sie hier der Abdruck des Gedanken, der doch immer irgendwie auf dem Wege zum Wissen liegt, vielmehr ist von diesem ein so aufgeregtes Gemüt ganz abgewendet, keine Nachricht erwarten wir und keine Erkenntnis; nur erschöpfen soll sich die innere Aufregung in der Rede, indem sie | den Ausdruck durch Ton und Bewegung noch ergänzt und verstärkt. Wodurch sucht sie daher auch ihren Zweck am liebsten

4r

Umfang des Begriffs der Kunst

473

zu erreichen? Sie beschreibt Bewegungen, die dem aufgeregten versagt sind, sie häuft Lob und Mißbilligung durch Wörter, die oft nichts anderes sind als spezifische Interjektionen, und diese selbst sind ja in der Sprache nur das, was dem unartikulierten Ton angehört. Nicht also mit der Rede, wie sie unmittelbar dem Denken identisch ist, nicht mit der Rede, die dem Geschäft dient, haben wir es hier zu tun, es ist ein eignes Gebiet, ganz analog dem Ton und der Bewegung, an welche sie sich anschließt, auch nur Kundgebung einer momentanen Bestimmtheit, und der Hörer soll nur nachbilden was ihm als Ton als Bewegung nicht so leicht und sicher konnte gegeben werden. Aber eben so abwärts bleibend vom Gedanken und vom Gebiet des Wissens geht auch jene innere Gestaltbildung in Rede über. Das innere Bild, gleichviel wie einfach oder zusammengesetzt es sei, will heraus, aber es vermag sich nur teilweise und zerstückelt mitzuteilen durch die Beschreibung. Und doch wenn ich auch zuvor erinnere, daß auch den höchsten geistigen Zuständen dieser unwillkürliche Ausdruck zukomme, darf ich kaum hoffen auch nur angehört geschweige geglaubt zu werden, wenn ich nun weiter fortfahre, daß sich die Kunst nun auch dieser Ergänzung von Ton und Bewegung durch bewegte Rede, dieser Übertragung des inneren Bildens in wörtliche Darstellung, bemächtige, und daß so die Poesie entstehe und den Reigen der Künste abschließe, so daß sie alle aus jenem ursprünglichen und unwillkürlichen Ausdruck des bewegten Gemüts entspringen. Aber ich glaube doch, man wird zugeben müssen, wenn man die Elemente im Auge behält, daß in der Poesie alles Bild werden will. Der Gedanke hat keinen selbständigen Ort in der Poesie. Auch in dem Gebiet der Lyrik kann die erhabenste Sentenz, selbst wenn sie etwas aus den Tiefen der Naturanschauung mitteilt, oder wenn sie antreibend oder warnend die Charaktere menschlicher Handlungen zeichnet, nicht dasselbe sein und bedeuten, aber eben deshalb darf sie auch nicht auf dieselbe Weise erscheinen, sondern ganz dem zugewendet, an allen diesen Verhältnissen einen innern Zustand darzustellen. So sind auch in der sogenannten didaktischen Poesie, die aber freilich schon seit langer Zeit ein streitiges Gebiet ist, wenn sie

474

Umfang des Begriffs der Kunst

4r | 4v

Poesie bleiben will, die Beschreibungen der Dinge oder der Handlungen nicht eigentlich gegenständliche, und es ist nicht etwa nur ein überverdienstliches Werk sondern ein unverdienstliches, wenn man etwas daraus lernt, sondern | der Gegenstand ist nur der Faden, an welchem sich die Darstellung eines, gleichviel wie, innerlich bestimmten Daseins abwickelt. Welch ein bestimmter Unterschied zwischen jeder geschichtlichen Darstellung, die nicht etwa ihre Grenzen überschreitet, und einer epischen oder dramatischen! Aber auch die Überschreitungen beweisen von beiden Seiten. Wir tadeln den Geschichtschreiber nicht, wenn er urteilt, lobt oder tadelt, aber gewiß wenn er uns zu sehr merken läßt, wie sein eigenes Dasein von den Zuständen affiziert ist, die er beschreibt. Denn so rein er auch seine Prosa halten mag, fühlen wir doch einen lyrischen Ton durch sein Werk sich hindurchziehn. Und wenn der Epiker oder Dramatiker, wie schön auch die Verse sein mögen, seine Figuren reden läßt wie der Prolog es wohl darf: so finden wir ihn nicht etwa nur dürftig, sondern er scheint uns den Geist seiner Gattung zu verkennen. Und wie streng zeichnet sich nicht auch der Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung, zu der einer — man erlaube die Voraussetzung, daß dies nicht immer ungeschickt sei — die Briefform gewählt hat, und einer romantischen Dichtung, welche in Briefen fortläuft! Wie betrübt, wenn dieser aus dem lyrischen ins lehrhafte fällt! wie lächerlich, wenn jener der Form zu Liebe glaubt seine verständigen Positionen mit Ergüssen der Fantasie verbrämen zu müssen! Aber woran wollen wir den Unterschied festhalten? Dem Wort entspricht die Vorstellung, diese selbst schwebt auf und ab zwischen der Formel und dem Bild, und alle Gestalten der Rede, die dem Wissen angehört, stellen sich gegen einander, je nachdem ihre Elemente mehr Formeln sind oder mehr Bild. Aber die poetische Rede liegt nicht zwischen Formel und Bild; sie ist nicht das Bild, sofern es daß ich so sage die bekleidete Formel ist, ein allgemeines Schema unter bestimmte Verhältnisse gestellt; sie gehört gar nicht der logischen Seite der Sprache an, sondern der musikalischen. Nichts kann Poesie werden, was der Richtung auf das Wissen angehört und in derselben

4v | 5r

Umfang des Begriffs der Kunst

475

seinen Anfang gehabt hat, es müßte denn gänzlich umgestaltet und ein anderes geworden sein; vielmehr müssen alle poetischen Elemente zuerst gesehen und dann in Sprache umgesetzt worden sein, ursprünglich aber an jener innern Gestaltbildung hängen, welche selbst auf die nämliche Weise wie Bewegung und Ton aus der innern Bestimmtheit des eigentümlichen Seins geworden ist. Betrachten wir aber, diese Elemente vorausgestellt, das ganze der poetischen Leistung von | der sich gliedern wollenden Interjektion an bis zur Darstellung eines Welteindrucks im Epos oder Drama: so springt in die Augen, daß diese Kunst mehr als alle andern die ganze Aufgabe umfassen kann. Wie das eigentümliche Sein des einzelnen nicht nur in der Reihe seiner Handlungen sich kund gibt, sondern schon in seiner Gestalt angeschaut werden kann: so setzt die Poesie diese Bilder um in Reihen von Handlungen und Zuständen, und kann also auf die mannigfaltigste Weise das umfassendste erreichen, wie sie auch am lebendigsten das kleinste darstellen kann. Das kleinste, wie sie den flüchtigsten Eindruck wiedergibt im Epigramm in der kleinsten lyrischen Form; das umfassendste, wie sie nicht nur das eigentümliche Einzelleben sondern auch das eigentümliche Volksleben in ihren großen Produktionen zur Anschauung bringt. Aber in diesen verschiedenen Gebieten, Mimik und Musik, Malerei und Bildnerei, und in der allen andern sich gegenüberstellenden Dichtkunst hatten wir auch das ganze Gebiet der Kunst zusammengefaßt, wie sie das einzelne innere durch einzelnes äußeres in besonnener Gemessenheit zusammenstellend zur Anschauung bringt. Aber wenn gleich nur einzelnes durch einzelnes, so geht doch hervor, daß, wenn wir alle künstlerische Produktion zusammennehmen, da in allen geistigen Einzelwesen die ganze Welt sich spiegelt, aber in jedem anders, indem er sein eigentümliches Wesen in seinen Lebensmomenten abwickelt, auch gewiß die ganze Welt, und zwar nach allen verschiedenen Weisen, in ihr wiedergegeben wird. Wenn wir nun aber das bisher gesagte zusammenfassend zu unsern ersten Sätzen zurückgehen, wie freilich Ton und Bewegung aus dem Affiziertsein ursprünglich entstehen, die Kunst aber erst da beginnt, wo der Zusammenhang zwischen dem bewegten

476

Umfang des Begriffs der Kunst

5r | 5v

Zustand und dem äußern Hervortreten aufgehoben ist, und wie man auch nicht mehr sagen kann, daß die Kunsttätigkeit aus dem bewegten Zustand hervorgehe, vielmehr, ist einer selbst bewegt und seine Äußerung erhält Maß und Bestimmtheit sei es nun als Ton oder Bewegung, das nicht mehr geschieht, weil er so bewegt, sondern weil schon sonst her eine Kunsttätigkeit in ihm eingeleitet ist, und dem Künstler gleichgeltend sein muß, ob er hemmend und maßgebend in die eigne Bewegtheit oder in eine fremde | eingreift, wenn er sie nur recht erkannt hat: so könnte man zwar gelten lassen, daß, sofern die Kunst an die unmittelbare Äußerung gebunden ist, es nicht mehrerlei Kunstgebiete geben kann als die aufgestellten; aber die am Ende der ersten Abhandlung gestellte Frage, was überhaupt den Impuls zur Kunst gibt, warum einige Künstler sind und andere nicht, warum es mehrere Kunstgebiete gibt, wenn doch auch eins der Aufgabe genügte, und wodurch nun einige Dichter werden und andere Maler, das heißt, welches die dort schon zugegebene eigentümliche Begeisterung für eine jede Kunst sei, damit wären wir noch ganz im dunkeln. Zuerst nun möchte ich das streng genommen in Abrede stellen, daß nicht alle Künstler sind sondern nur einige und andere nicht. Nämlich eine Masse betrachtet, in welcher Kunst, wie unvollkommen es auch sei, sich bereits findet. Denn wo nur immer reges Leben ist, sei es auch nur wenig geistig entwickelt, wo nur die Not des Lebens einigen Raum läßt für freies Spiel, und die Strenge und Dürftigkeit der Umgebung nicht zu herbe ist, um eine Ahndung von Anmut aufkommen zu lassen: da findet sich auch Kunst. Musik und Mimik — denn der Tanz gehört doch offenbar auch der letzteren an — haben am meisten ausführende Teilnehmer; Poesie wird — wenn auch die Künstler selbst minder häufig sind — im weitesten Umfange genossen, und nur die verschiedenen Zweige der Bildnerei und Malerei müssen sich wohl mit einer beschränkteren Anerkennung begnügen. Alle aber, die sich auf irgend eine Weise Kunstwerke aneignen, sind selbst als Künstler anzusehen. Der Sinn und die Produktivität sind nur zwei verschiedene Stufen, die Kunst ist eben dieselbe in dem Liebhaber wie in dem Künstler, und nicht nur in dem, der mit

5v | 6r

Umfang des Begriffs der Kunst

477

einer gewissen Leichtigkeit urteilt, sondern auch in dem, welcher nur wirklich genießt und sich mehr oder weniger befriedigt findet. Der Impuls also ist ein ganz allgemeiner. Allgemein will das innere sich äußern, allgemein ist auch das Bedürfnis nach Zeitmaß und Ebenmaß, dem Menschen eingeboren im Typus seiner Gestalt und in seinen wesentlichsten Lebensbewegungen. Aber um die besondere Begeisterung für die eine oder die andere Kunst zu finden, müssen wir uns hüten uns zu sehr in die Differenz der einzelnen Unterarten zu vertiefen, noch mehr aber, daß wir die Begeisterung für die besondere Kunst verwechseln mit dem Interesse, durch welches freilich dem Künstler seine Werke bestimmt werden, nämlich dem Interesse an denen, für welche | er arbeitet, welche nämlich an seinen Werken sich selbst sollen ausgesprochen und ihre Zustände dargestellt finden. Wie sonderbar z. B. wäre die Voraussetzung, die Maler, welche vorzüglich heilige Personen und Momente aus der heiligen Geschichte bearbeitet, hätten dieses aus Begeisterung für das Christentum getan! aber gewiß wenn ihr Zeitalter nicht durch das Christentum wäre bewegt worden, wenn nicht auch die andächtigen sich mit ihrer frommen Stimmung in die Bilder hineinzusehen den Sinn gehabt hätten: so würden jene auch andere Gegenstände gewählt haben. Und hätten wir Ursach uns zu denken, der Maler, der nichts als heilige Familien hervorbrachte, sei ein ungläubiger: so würden wir ihn tadeln, daß er seine Kunst an einen Gegenstand wendete, der für ihn nichts ist; aber dieser Tadel träfe seine Sittlichkeit, nicht aber seine Kunst. Hatte er einen solchen Mangel an Erfindung was die Gegenstände betrifft, daß sich diese immer in einem engen Kreise drehten, oder er sie immer von andern borgte: so würden wir seinen Geist dürftig finden; aber waren nur seine Bilder als solche mannigfaltig und reich, sahen wir, daß er sein eigentliches Kunstgebiet ganz umfaßte und in allen Teilen desselben lebt: so würde er dennoch als Künstler bei seinen vollen Ehren bleiben. Die eigentümliche Begeisterung jedes Kunstgebietes ist allein bestimmt durch den unmittelbaren Ausdruck, welchen er in Kunstwerk umwandelt, aber so, daß er ihn eben durch die begeisterte Durchschauung in seinem ganzen Wesen gleichsam

478

Umfang des Begriffs der Kunst

6r | 6v

neu erschafft oder so erweitert, daß er nicht minder das Werk der Kunst ist als der Natur. Haben wir nun keine anderen Elemente als die eben schon genannten: so teilen wir die Bewegung dem Mimiker zu, den Ton dem Musiker, in die Gestalt teilen sich Maler und Bildner, und die alle andern mitvertretende Rede fällt wieder allein und ungeteilt dem Dichter zu. Der Mimiker ist begeistert von der Beweglichkeit und Durchsichtigkeit der menschlichen Gestalt. Darauf ist nicht nur sein Auge immer gerichtet um seine Anschauung zu mehren und zu ordnen, sondern er selbst muß sich immerwährend zum Studium werden. Was aber verdanken wir auch dieser Kunst! Wie unbeholfen und schwerfällig erscheint der äußere Mensch, und wie bleibt er in lebendiger Entwicklung zurück, wo es weder Gymnastik gibt noch Orchestik noch dramatische Mimik! | Gewiß die Hälfte aller schönen Bewegungen kommt auf Rechnung der Kunst, und das mannigfaltige reiche Spiel zwischen natürlichem und konventionellem auf diesem Gebiet verrät auf eigentümliche Weise ihre Pflege sowohl als ihre Gewalt. Ja selbst die Abnormitäten in dem Stil des Lebens, die wir unter diesen Künstlern so häufig antreffen, geben doch Zeugnis für das Dasein und die Gewalt dieser Begeisterung. Aber freilich nur in dem Maß fördern sie die Kunst, als sie Verständnis haben von allen geistigen Regungen, auch die sich nur am zartesten auf der leiblichen Oberfläche abspiegeln. Der Tonkünstler ist begeistert von dem Zusammenhang zwischen der beweglichen Stimme und den Lebenstönen, wenngleich niemand ihm zumutet, daß er was ihm darzustellen gegeben wird in demselben Augenblick mit empfinde. Auch wo er dem Dichter folgt, ringt der beste nach Unabhängigkeit, und enthält sich schwer, und niemals ganz, seine Wirkung zu trennen von jener. Aber freilich sein höchster Triumph ist, wo er der Sprache ganz Lebewohl sagt und alle Lebensschauer, welche die Seele durchziehen können, verkörpert in dieser unendlich abwechselnden Fülle von Tonfolgen und Zusammenklängen. Aber was haben auch seit der Reihe von Jahrhunderten die Virtuosen auf diesem Gebiet geschaffen! aus welchen Tiefen der Natur haben sie eine Welt von Tönen hervorgeholt, die in Holz und Metall ewig geschlummert hätten ohne

6v | 7r

Umfang des Begriffs der Kunst

479

das ahndungsvolle Drängen der Kunst. Wie scheiden wir aber den Maler und den Bildner? Der bloße Zeichner ist offenbar in der Indifferenz zu beiden. Er arbeitet auf der Fläche, wie der Maler; aber wer kann seinen Umrissen ohne Licht und Schatten ansehn, ob sie Studien sein sollen für den Maler oder Bildner? Der Maler ist nicht beschäftigt mit den Gestalten allein, noch weniger ist sein Beruf von dem äußern in das innere zu steigen und an jenem seinen Zusammenhang mit diesem deutlich zu machen, sondern weil sein Leben ganz Auge ist, so ist er begeistert von ihrem Verhältnis zu dem Licht, durch das sie uns sichtbar werden; wie beide auf einander wirken und sich modifizieren. Wenn er darin die Wahrheit gefunden hat und in einem verhältnismäßig kleinen Raum eine große Mannigfaltigkeit dieser Wahrheit darstellen kann, dann genügt er sich. Darum hat er auch seine Aufgabe erst recht gefunden, wenn er uns auf der Fläche die Tiefe darstellt. Aber freilich sind ihm die Gestalten nicht gleichgültig. Wieviel reicher und unerschöpflicher sind nicht die Verhältnisse der lebendigen Gestalten zum Licht als die der toten! Aber vergessen wir nicht auf der einen Seite, daß der, welcher ein Stilleben malt, in dem sich nichts lebendiges regt, doch weil er Tiefe hat mehr Maler ist, als der die geistvollsten Gestalten auf eine Linie neben einander stellt; und verlangen wir nicht auf der andern Seite, daß der Historienmaler begeistert sein soll von den Helden, die er sei es auch in einer noch so großen Tat darstellt. Hat ihm das der Dichter oder der Geschichtschreiber angetan: so ist ihm etwas rein menschliches begegnet, aber sein Kunstwerk wird dadurch an und für sich nicht gefördert. Wir lieben ihn darum, wenn wir an seinen Produktionen sehen, daß er sich mit hohen und edlen Gegenständen gefällt. Ist es aber nicht: so wollen wir deshalb um | ihn als Künstler keine Sorge tragen, wenn nur die eigentümliche Begeisterung seiner Kunst ihn ganz besitzt. Denn auf eine solche Verteilung dürfen wir überall rechnen in der Gesellschaft, daß nicht diejenigen allein, die nur von dem nichtigen bewegt werden, ihre Sprecher finden werden unter den Künstlern, die tieferen und edleren Gemüter aber leer ausgehen. Die Bildner nun im Gegensatz mit den Malern haben es mit der Gestalt allein zu tun;

480

Umfang des Begriffs der Kunst

7r

wir bleiben aber hier nur bei denen, welche es mit lebendigen Gestalten zu tun haben, und sondern diejenigen ab, welche ihre Kunst an mathematischen üben, zufrieden den Baukünstlern hier nur ihren Ort angewiesen zu haben, und die Frage nach ihrer eigentümlichen Begeisterung einen andern Ort aufbewahrend. Jene nun sind unmittelbar von den lebendigen Formen begeistert, und wollen diese in ihrer Wahrheit ganz und allein geltend machen. Darum indem sie ihre Werke dem vollen Licht nach allen Seiten aussetzen, entziehn sie sie dem Einfluß desselben, deshalb liegen schon ganz an der Grenze ihrer Kunst und wollen mit großer Vorsicht behandelt sein alle Gruppen, deren Teile einander beschatten könnten. Dagegen ladet der Bildner unaufhörlich durch die Form den Tastsinn ein das Leben der Gestalten zu versuchen, wenn gleich der Stoff fast immer die Berührung verbittert. Weil aber die Gestalt so für sich hingestellt auch ganz sie selbst ist, der bestimmte Moment nur lose an ihr haftet und fast immer untergeordnet ist: so findet auch ein entgegengesetztes Verhältnis statt zwischen dem Bildner und Dichter wie zwischen dem Maler und Dichter. Der Maler nimmt gern und häufig seinen Gegenstand vom Dichter, aber nicht leicht setzt der Maler den Dichter in Bewegung. Dem Bildner hingegen kann freilich auch seine Gestalt geworden sein mit Bezug auf die Art, wie ein Held sich im Epos oder im Drama handelnd gezeigt hat; aber eben so oft auch verhält es sich umgekehrt; die Gestalt, die als der Kanon irgend einer Lebensweise und Höhe der Fantasie des Bildners entsprungen ist, aber freilich auch nur eine solche in Bewegung zu setzen, das ist eine schöne und würdige Aufgabe für den Dichter. Aber was sollen wir nun von diesem sagen, wo seine Begeisterung suchen? Die in allen Dichtern dieselbe ist kann wohl eben deshalb keine andere sein, als daß sie alle ohne Ausnahme begeistert sind von der Sprache, eben so wie der Mimiker von der Gestalt und der Musiker vom Ton, so daß wir nur alles dort gesagte hier hinüber zu nehmen brauchen, und die Sprache in dem Gebiet genommen, welches oben schon bestimmt ist. Denn wenngleich dem Dichter wo möglich der ganze Umfang und Inhalt der Sprache zu Gebote | stehen muß: so hat er es doch unmittelbar nicht mit dem logi-

7r

Umfang des Begriffs der Kunst

481

schen in derselben zu tun, aber das mimische und musikalische in derselben, das pittoreske und plastische ist seine Begeisterung, dasjenige, wodurch er das Geschäft aller jener Künste treiben, wodurch er den Leser zwingen kann nachzubilden, als ob er gesehen hätte, und ihn so bewegen auch ohne Hülfe der Musik, als ob ihm erst jetzt verständlich würde, wohin ihn der Strom der Töne, der sich ihm wieder vergegenwärtigt, habe tragen wollen. Denn so verwandt sind diese Künste, daß auch getrennt ihre Werke sich doch auf einander beziehen und sich gegenseitig begleiten und verstärken. Und in dieser Behauptung, daß es die Sprache, und zwar die angeborne, das eigne Dasein mit konstituierende, ist, woraus die eigentümliche dichterische Begeisterung fließt, laß ich mich nicht irre machen, wenn auch ein Dichter behauptet, die Sprache hemme ihn ein Meister zu werden in seiner Kunst, noch sollen mich diejenigen irre machen, welche gleichsam mehr dem allgemeinen Weltverkehr zugewendet auch in mehreren Sprachen dichten. Aber freilich ganz andere Einwendungen machen sich hörbar von stärkerem Gewicht. Denn das will ich am wenigsten leugnen, daß in allen Künsten die Theorie erst hinter der Praxis kommt, daß mithin alle Forderungen an die Künstler nur aus ihren Leistungen entnommen, mithin die Vollkommenheit derselben ursprünglich doch aus ihrer Begeisterung muß hervorgegangen sein. Wenn wir nun alle von dem Dichter verlangen, er solle seine Charaktere folgerecht durchführen, er solle uns nicht durch Unwahrscheinlichkeiten Anstoß geben: stimmen diese Forderungen mit jener Quelle seiner Werke? Ich antworte, diese Forderungen stehen ziemlich gleich mit denen an den Maler, daß er nicht die Zeiten verwirre in Trachten und Umgebungen, daß er uns wo möglich nicht in Widerspruch bringe mit dem, was wir aus andern Quellen über seine Gegenstände wissen. Es sind Fürbitten, die wir einlegen für uns selbst, Ratschläge, die wir ihm geben in Beziehung auf uns, wie er es sich leicht machen kann oder schwer; aber wenn er uns keine Zeit verstattet zu jenen Berechnungen, wenn er allen Anstoß, ehe wir zum klaren Bewußtsein darüber kommen, immer wieder überbietet durch den Zauber der Rede: so hat er gewonnen Spiel über unsere Forderung; aber

482

Umfang des Begriffs der Kunst

7r | 8r

wenn seine Figuren nicht reden, daß es uns ergreifen könnte, wenn er unsere Fantasie nicht durch seine Sprache überwältigt, indem er sie anregt — wie genau auch jenes alles gehalten sei, wir gehen doch seitwärts. Wenn sich aber jemand wundert, daß der Dichter nur von der Sprache solle begeistert sein nicht von den Ideen: so ist es freilich schwierig sich abfinden zu sollen mit Ausdrücken von so schwankender Bedeutung. Aber ich werde doch immer sagen, Seid ihr eurer Ideen irgend anderswie mächtig als in der Sprache: so sind sie ihm auch insofern fremd; | aber auch sofern sie der Sprache angehören glaubt nicht, daß sie ihn ergriffen durch ihre Richtigkeit, sondern nur durch ihre Lebendigkeit. Aber um dieser willen wird er sie freilich suchen; wie sollte er auch sonst dazu kommen ein Werk zu vollbringen, er oder auch die andern Künstler? Denn denken wir uns nun diese, jeden von seiner eigentümlichen Begeisterung recht ergriffen und immer hinstrebend zur Produktion: so sind sie nach allen Seiten hin gleich unbestimmt angeregt; woher kommt ihnen nun ein Moment der Urbildung? Hiezu müssen wir sie uns in Berührung denken mit dem Leben; sie müssen wissen, was die Mitwelt bewegt; auf welche Weise sie dem von allen gefühlten Bedürfnis, dem aber kein unkünstlerischer zu genügen weiß, sein inneres recht kund zu geben, auf welche Weise sie dieses treffen können, das muß ihnen klar werden, dann entstehen ihnen die Urbilder, die sie ausführen. Je mehr nun in dem sie umgebenden Leben der Geist entwickelt ist, die Vergangenheit sich mit der Gegenwart verbindet, die allgemeinen Interessen alles andere verschlingen: um desto reicheres Feld ist ihnen aufgetan, desto größere Werke werden sie aufstellen können; je weniger dieses der Fall ist: desto mehr werden sie das einzelne und geringfügige suchen müssen. Aber dieses ist die gleiche Aufgabe aller Künstler, und es ist nur eine sonderbare Verwirrung, daß man diese Beziehung der Gegenstände auf das Leben das poetische in den Künsten zu nennen pflegt. Und so kommen wir auf unsere drei Momente zurück. Jeder Kunst eignet eines von jenen großen geistigen Erregungsund Darstellungsmitteln, welche die innigsten Verhältnisse des Geistes zur Natur ausdrücken, und die einzelnen, welche dazu

8r

Umfang des Begriffs der Kunst

483

von der Natur ausgerüstet sind eines derselben in ausgezeichnetem Grade zu besitzen, sind dadurch geordnet zu Dolmetschern der übrigen. Im Interesse von diesen, für welche sie sich durch ihren besondern Beruf bestimmen, ersinnen sie ihre Werke, aber in der Ausführung legen sie eine Vollkommenheit dar, die nur ihren Kunstgenossen ganz erkennbar ist, und das Anerkenntnis von diesen ist es eigentlich nur, wodurch sich ihre Begeisterung immer aufs neue auffrischt.

484 326

Umfang des Begriffs der Kunst

8r | 9v

3* Wenn ich die Ergebnisse der beiden Abhandlungen, welche ich die Ehre gehabt der Akademie vorzutragen, noch einmal in Gedanken durchlaufe, um die Frage zu beantworten, ob auch der Überschrift Genüge sei geleistet worden, welches nur geschehen sein könnte, wenn der Gegenstand, nämlich was wir im engeren Sinne Kunst nennen, oder auch durch den Ausdruck schöne Kunst bezeichnen, von allem andern näher verwandten getrennt und hingegen in sich zusammenhängend als ein vollständig verbundenes ganze und so wäre dargestellt worden, daß auch nichts dahin irgend gehöriges in dem abgesteckten Umkreise nicht seinen Ort fände: so ist dieses allerdings nicht in der strengen Form einer in kurzen Sätzen abgefaßten Dissertation geschehen, sondern in einer freieren, wie ich sie unsern Zusammenkünften auch bei streng wissenschaftlichen Verhandlungen von dieser Gattung angemessener halte. Wenn ich aber die abgesteckten Punkte verbinde: so kann ich doch folgendes in Anspruch nehmen. Indem ich von der Mimik im weiteren Sinne oder der Kunst der schönen Bewegungen ausging als von derjenigen, welche des mindesten Apparates bedarf, indem sie ihr Werk an dem menschlichen Leibe selbst und seinen Bekleidungen vollbringt: so wurde es leicht zunächst ein dieser Kunst verwandtes dem Inhalt nach, aber der Form nach kunstloses, nachzuweisen, zugleich aber auch bestimmt davon zu trennen, und für alle Kunst daran, daß sie mit ihrem Werke zugleich auch Maß und Regel hervorbringt, ein allgemeines Merkmal festzustellen, und zwar so, daß diese Tätigkeit zugleich an einen bestimmten Zustand, den einer höheren Aufregung, ihrem Ursprung nach gebunden wurde, den wir ebenfalls überall voraussetzen | müssen, wo Kunst sein soll, indem sonst Maß und Regel nur zu Mechanismus oder einer mechanischen Fortsetzung dessen, was ursprünglich Kunst war, führen könnte, wie denn auch die Annäherungen beider an einander von hieraus konnten gezeigt werden. Noch mehr aber wurde der bestimmte Unterschied von beiden dadurch aufgehoben, daß, richtig oder unrichtig, alle schöne Kunst nur als Selbstmanifesta-

9v | 10r

Umfang des Begriffs der Kunst

485

tion des Künstlers dargestellt wurde. Denn dadurch ist alles, was um eines bestimmten Zweckes willen gemacht wird, aus dem Gebiet der Kunst ausgeschlossen. Nur muß man freilich das platonische beobachten, und die χρηματιστική* als eine andere Geschicklichkeit von ganz anderer Art gänzlich sondern, so daß ihr natürlich auch keine Stimme gelassen wird, wenn es darauf ankommt das Verfahren in dem Gebiet einer eigentlichen Kunst zu bestimmen. Durch die Nebenbestimmung jenes Satzes aber, daß die Selbstmanifestation, wenn ein Kunstwerk daraus hervorgehen soll, auch eine gewollte sein muß, wird auch ein anderer Gebrauch abgesondert, wenn man nämlich von einer Lebenskunst redet, mithin den ganzen Inbegriff der freien Handlungen eines Individuums als ein Kunstwerk betrachtet. Denn in jeder von diesen einzeln betrachtet ist doch etwas anderes gewollt, als nur sich durch sie im Zusammenhang mit allen andern zur Darstellung zu bringen. Dasselbe gilt auch von dem, was an wissenschaftlichen Werken und Hervorbringungen Kunst genannt zu werden pflegt; wiewohl hier schon die Selbstdarstellung mehr hervortritt. Auch von diesen Seiten also ist unser Gegenstand völlig abgegrenzt. Nehmen wir aber nun noch den andern Satz dazu, daß es keine andere Selbstdarstellung gibt als vermittelst der Bewegung und des Tons oder auch der Gestaltbildung und der Rede: so ist auch, sofern die Behauptung richtig ist, dadurch zugleich bestimmt, daß es keine andern Künste geben kann als die dort aufgeführten. Denn wenn auch unter der Gestaltbildung nur Bildnerei und Malerei genannt waren: so schließen sich nicht nur an beide die kleineren verwandten Kunstzweige, sofern sie nicht bloß mechanisch zu Werke gehn, von selbst an, sondern der Architektur war auch ihr Platz wenigstens ausdrücklich angedeutet, und so findet sich auch der Gartenkünstler von selbst zurecht, daß er sich in dem einen Stil für einen Architekten in grünem geben kann, nach dem andern aber für einen Landschafter in lebendigem. Ja sollte mancher berühmte Mann die | Übungen mit dem wohlgebändigten Roß nicht wohlfeiler geben wollen: so wird es nur wenig Mühe kosten bei der Kunst der schönen Bewegungen auch diese zentaurischen unterzubringen, wenn er

327

486

Umfang des Begriffs der Kunst

10r

nur verhüten kann, daß bei dem Kunstreiter auch der Seiltänzer hinten aufsitzt. Und so muß auch der Begriff der Dichtkunst in der gehörigen Weite gefaßt werden, damit es nicht als unmöglich erscheine auch in der ungebundenen Rede zu dichten. Aber es kommt nicht darauf allein an die Künste alle zusammenzufassen, sondern auch darauf, daß nicht durch eine zu enge Erklärung die kleineren Gattungen der einzelnen Kunstgebiete von dem Raum, den sie gar wohl verdienen, ungerechterweise ausgeschlossen werden. Vorurteile hierüber haben und zwar vielleicht nicht in den unkünstlerischen Massen allein lange Zeit geherrscht und sind vielleicht noch nicht ganz überwunden. Und doch ist nichts gewisser, als daß derjenige das eigentliche Wesen einer Kunst gar nicht versteht, der es nicht auch in den kleinsten Produktionen erkennt, so wenig, daß der gewiß auch in den größten eher alles andere sehen wird als das eigentliche Wesen der Kunst. Darum mußte auf der einen Seite gesagt werden, daß der ethische Eindruck des dargestellten den Wert eines Kunstwerkes als solchen weder erhöhen könne noch herabdrücken, und auf der andern Seite mußte die eigentümliche Begeistung jeder Kunst so scharf gefaßt werden, daß dadurch auch die übrigens geringfügigsten Leistungen den ihnen gebührenden Platz einnehmen können. Sind gleich jene früheren Vorurteile in der herrschenden Praxis des urteilenden Kunstpublikums nicht mehr anzutreffen: so muß doch auch die Theorie einen bestimmten abwehrenden und schützenden Ausdruck dafür haben. So wäre daher durch die Hauptsätze beider Abhandlungen die Aufgabe, die ich mir gestellt, der Form nach gelöst, wenn nur die Sätze selbst ihrem Inhalte nach sich Billigung und Beifall erwerben. Dazu aber scheint mir vornehmlich zweierlei zu fehlen, und um deswillen zunächst habe ich mir noch diese Zusätze erlaubt. Zuerst nämlich, wenn ich die eigentümliche Begeistung einer jeden Kunst auf ihre eigentümliche Hervorbringungsweise genau zurückgeführt habe: so wird dadurch allerdings bewirkt, daß jeder auch das kleinste Werk, worin sich diese nur unverkennbar zeigt, muß gelten lassen; allein es scheint dadurch auch jeder andere Unterschied als der der technischen Vollendung aufgehoben zu sein, so daß ein Tier-

10r | 10v

Umfang des Begriffs der Kunst

487

maler oder ein Höllen-Breughel*, wenn sie nur in den Formen tadellos wären und vollendet in der Behandlung des Lichtes und der Farben, auf dieselbe Linie | gestellt werden müßten mit Rafael und Leonardo*, und einer solchen Schätzungsweise ist nicht zu verheißen, daß sie sich jemals werde geltend machen können. Und am unheimlichsten wird dabei gewiß jedem, wenn wir uns erinnern, daß als das eigentümliche des Dichters angeführt wurde begeistert zu sein von der Sprache. Denn es dürfte folgen, daß jeder Verskünstler, der es genau nimmt mit der Zeitmessung und sich gut versteht auf den Wohlklang, wäre er auch nichts als ein gewandter Phrasendreher, abgesehen von allem Inhalt, in die erste Reihe der Dichter gehen könne. Das zweite ist dieses. Der Satz, daß alle Kunsttätigkeit nur Selbstmanifestation sei, mag sehr gut sein um sie von allem, was irgend eines Zweckes wegen gemacht oder getan wird, zu unterscheiden. Wenn wir aber weiter fragen, was denn der Künstler von sich manifestiere, ob in allen Künsten dasselbige, oder wenn anderes, ob dieses auch zusammenhängt und als verschiedenes ein ganzes bildet, oder ob der Zusammenhang der Künste nur jener äußere ist, wie sie auf verschiedene genau bestimmte Darstellungsmittel angewiesen sind: so scheint die Antwort auf diese Frage in dem bisherigen noch gar nicht gegeben zu sein. Denn dieses zwar, daß nicht das jetzt so dann anders empfindende und affizierte Selbst sich in der Kunst manifestiere, wie es die der Mimik und zum Teil auch der Musik zum Grund liegenden kunstlosen Äußerungen hervorbringt, das ist deutlich genug gesagt. Wenn nämlich auch diese, so wie sie durch das Hineinbilden von Maß und Regel Kunst werden, zugleich von jenem Affektionsmoment losgerissen werden, und der Mimiker noch dazu uns unmöglich machen soll zu unterscheiden, ob es seine eignen oder fremde Gemütsbewegungen sind, die er uns darstellt: so kann ja aus beiden Gründen auch seine Kunstleistung nicht die Offenbarung seiner Affektion sein. Und was hernach gesagt wird, daß, denke man sich einmal den unmittelbaren Zusammenhang abgerissen, so lasse sich auch noch weiter denken, daß sich während eines ganzen Zeitraums der Stoff zu diesen Selbstmanifestationen sammle und dann erst in

328

329

488

330

Umfang des Begriffs der Kunst

10v | 11r

Darstellung ausbreche, das kann, wenn es auf die wechselnden Empfindungszustände bezogen werden soll, wohl von manchen Künsten und Kunstgattungen gelten, aber unmöglich allgemein. Denn was sollte wohl das sein, was ohne jene Unterbrechung kunstlos herausträte und sich eben so zur Malerei oder zur Dichtung verhielte, wie die kunstlosen Töne und Gebärden zur Mimik und Musik? ein solches möchte wohl nicht aufzufinden sein. Aber auch allgemein genommen müßte man dann sagen | können, daß die für irgend eine Mitteilungsweise begeisterten doch nur Künstler wurden in dem Maß als sie empfindungsreich waren, und umgekehrt, daß alle Gefühlmenschen, wenn es ihnen nur nicht ganz an jeder Mitteilungsfähigkeit fehle, auch gewiß Künstler würden. Keines von beiden aber würde sich behaupten lassen. Denn wenn es auch heißt, daß die Dichter, wir mögen aber auch immerhin sagen die Künstler überhaupt, ein reizbares Geschlecht sind: so ist damit doch gar nicht gemeint, daß diese Reizbarkeit der innerste Lebenskeim ihrer Kunst sei; vielmehr möchte diese ihnen in allen Momenten der Kunsttätigkeit eher hinderlich sein als fördernd. Ja es entstände aus einer solchen Voraussetzung nur die neue Aufgabe, zu erklären, warum so viele auch sehr gebildete Menschen von der regsten Empfindlichkeit, und denen das Leben die stärkeren Bewegungen häufig genug herbeiführt, diese dennoch nur im Leben auslassen, ohne sich mit irgend einem Zweige der Kunst zu befassen. Die höhere Aufregung also, die wir allgemein vorausgesetzt haben, ist eine ganz andere; und wenn eben dieses, daß die Mimik unser erster Anfang war, vielleicht Veranlassung geben konnte zu einem solchen Mißverständnis: so wird es vielleicht am besten sein, was uns noch fehlt an der Kunst deutlich [. . .]*

ANMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

S. 3 Disciplinen die man . . . sey. ] Der in der griechischen Antike verbreitete Begriff »techne« (τέχνη), der gewöhnlich mit »Kunst« übersetzt wird, bezeichnete zunächst die handwerklichen Fertigkeiten bei hervorbringenden Tätigkeiten. Im römisch-lateinischen Sprachraum war »ars« die allgemeine Bezeichnung für Kunst, wobei spätestens seit dem 5. Jahrhundert die freien Künste (artes liberales) von den mechanischen (artes mechanicae) unterschieden wurden. Von »Theorie« in Bezug auf die »schönen Künste« (bzw. »beauxarts«) wird konsistent erst im Entstehungskontext der »Ästhetik« als philosophischer Disziplin im 18. Jahrhundert gesprochen. Zu Schleiermachers Übersetzung von »techne« mit »erzeugen« und »gebähren« vgl. seine erste Akademierede »Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf eine Theorie derselben« (1831), in diesem Band: S. 452. Hierzu auch: Schneider 2011, S. 11–17. 2 S. 3 Das Älteste in . . . Kunst. ] Auf die Ansätze einer Kunsttheorie etwa bei den Vorsokratikern, den Pythagoreern, bei Xenophon oder in außereuropäischen Traditionen geht Schleiermacher an dieser Stelle nicht ein. Eine Theorie der Einheit der schönen Künste hat Platon allerdings nicht vorgelegt, Aussagen über »Kunst« (im Sinne von »techne«) oder über »Schönheit« (vorwiegend auf den »eros« bezogen) durchziehen aber seine Dialoge. Platons Verständnis der Kunst bzw. der Schönheit gründet weitgehend auf seiner Ideenlehre, seiner Konzeption der Wiedererinnerung (anamnesis) und seiner politischen Philosophie. In Betracht kommen daher zunächst die Dialoge Politeia und Nomoi sowie etwa Phaidros, Symposion, Timaios oder Ion, die Schleiermacher auch größtenteils selbst übersetzt hat. Vgl. KGA IV, Bd. 3, Platons Werke I,1, »Historische Einführung«. Hierzu auch: Tatarkiewicz 1979: S. 160–167; Schneider 2011: S. 28–34. (SB: 1489–1512) 3 S. 3 ob etwas hervorgebracht . . . Gränzen ] Schleiermacher bezieht sich hierbei auf Platons Einteilung der Künste in hervorbringende

1

4 90

Anmerkungen des Herausgebers

und nachahmende, wobei die letzteren durch den Begriff »Mimesis« bestimmt werden. Nachahmende Künste, wie etwa die Malerei oder die Dichtkunst, bilden demnach Erscheinungen nach, die selbst nur Abbilder der wahren Ideen seien, während hervorbringende Künste, wie etwa die verschiedenen Handwerke, diese Erscheinungen selbst erzeugen, womit sie den wahren Ideen näher kommen (z. B. Politeia X 596a–608b). Zu der Ansicht von der (ethischen) Unzulänglichkeit der nachahmenden Künste in der Politeia gesellt sich die Auffassung, so im Ion (533e, 534c) und Phaidros (245a), dass insb. die Dichtkunst einer göttlichen Inspiration bzw. Begeisterung entstamme, weshalb sie nicht durch ein bestimmtes Regelwissen begründet werden könne. Schleiermacher geht indessen davon aus, dass Platon die wahre Ausübung der Kunst zu schätzen wusste. Einleitend zu seiner Übersetzung des Phaidros schreibt er: »Wahre Kunst nemlich ist ihm nur diejenige Ausübung, von welcher es wiederum eine wahre Wissenschaft, oder wie die unsrigen es zu nennen pflegen, eine Theorie geben kann: denn so unterscheidet Platon Kunst und kunstloses Verfertigen.« Vgl. KGA IV, Bd. 3, S. 68. Hierzu auch: Tatarkiewicz 1979: S. 163–165. 4 S. 3 Einfluss der damahls . . . Ethik. ] Schleiermacher bezieht sich hier offenbar darauf, dass Platon die nachahmenden Künste wie Musik, Mimik und Dichtung überwiegend in ihrer Wirkung auf das Zusammenleben (in der Polis-Gemeinschaft) untersucht, weniger hingegen bezüglich ihrer Produktivität oder Selbstzweckmäßigkeit. In diesem Sinn fragt Platon, welche ethische Wirkung die Dichtung haben kann, wenn sie nur Erscheinungen nachahmt und damit dem Rezipienten etwas als wahrhaftig vortäuscht, was genau genommen nur Schein ist, die Affekte verwirrt und zum Verfall der sittlichen Tugenden beiträgt (Politeia X 600c–602a). Hierzu auch: Schneider 2011: S. 32–34. Grassi 1962: S. 108–111. (SB: 1509–1511) 5 S. 3 Die ersten Anfänge . . . περὶ ποιητικῆς. ] Eine einheitliche Theorie der schönen Künste findet sich bei Aristoteles ebensowenig wie bei Platon. Allerdings entwickelt Aristoteles in den von Schleiermacher genannten Werken, insb. aber in »περὶ ποιητικῆς« (Poetik) eine Theorie einzelner Künste, während er sich in »περὶ ῥητορικῆς« (Rhetorik) primär mit der Redekunst (techne rhetorike) auseinan-

Anmerkungen des Herausgebers

491

dersetzt. Aussagen über die Kunst und das Schöne finden sich aber auch in anderen Werken, wie der Metaphysik, der Physik oder der Nikomachischen Ethik. In der Poetik wird Poesie (poetike techne) jedoch nicht auf die Dichtkunst beschränkt, sondern steht allgemein für »machen, tun« (von altgr. »poiein«) als Poiesis. Diese allgemeine Bedeutung der Kunst liegt den einzelnen Künsten (technai) somit zugrunde, wobei die Kunstausübung als ein nachahmendes Tun (mimesis) konkretisiert wird. Das Schöne spielt dabei nur eine marginale Rolle (in Bezug auf Proportion, Rhythmus und Maß). Der überlieferte Korpus der Poetik umfasst daher neben poetischen Gattungen wie Tragödie, Komödie oder Epik auch den Tanz, die Musik oder die Malerei, die als erlernbare Fertigkeiten auch auf ihre Wirkung hin untersucht werden, wofür der Begriff der »Katharsis« (katharsis) bedeutsam wird. Vgl. Aristoteles, Poetik, in: ders., Werke, in deutscher Übersetzung, begr. von Ernst Grumach, Bd. 5, hg. von Arbogast Schmitt, Berlin 2014. Ders., Rhetorik, in: ders., Werke, in deutscher Übersetzung, Bd. 4, hg. v. Christof Rapp, Berlin 2009. Hierzu auch: Manfred Fuhrmann, »Nachwort«, in: Aristoteles, Poetik, übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 144–150. Müller 2011: S. 35–42. Tatarkiewicz 1979: 191–198. (SB: 77) 6 S. 4 Begriff der μίμησις ] Der altgriechische Begriff »Mimesis« (μίμησις) wird gewöhnlich mit »Nachahmung« übersetzt. 7 S. 4 Unter μίμησις freilich . . . nicht. ] In der Poetik geht Aristoteles auf die mimetische Grundlage der Künste ein und hat dabei primär die dramatische Kunst des Schauspiels (das Rollenspiel der Mimen in der Tragödie), aber auch die Dichtung und die Malerei im Auge: »Da der Dichter ein Nachahmer ist, wie ein Maler oder ein anderer bildender Künstler, muß er von drei Nachahmungsweisen, die es gibt, stets eine befolgen: er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, daß sie seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten.« (Poetik 1460a–1460b) Die von Schleiermacher erwähnte Streitfrage betrifft wohl eine Kontroverse im ausgehenden 18. Jahrhundert, die insb. infolge der Aufklärungsphilosophie in der ästhetischen Theorie virulent wurde und auf die Frage hinauslief, ob die schöne Kunst aus der Nachahmung der (schönen) Natur hervorgeht, oder aus der schöpferischen Qualität des

4 92

Anmerkungen des Herausgebers

Künstlers (vgl. dazu Anm. zu S. 3). Ferner könnte bei der »Streitfrage« auch an die zum Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich entfachte »Querelle des Anciens et des Modernes« gedacht werden, in der es u. a. um die Frage ging, ob die moderne Kunst die antike als maßgeblich für die eigenen Produktionen zu betrachten habe, oder sich von dieser zu emanzipieren habe. In Deutschland fand eine ähnliche Diskussion im späteren 18. Jahrhundert insb. aufgrund der Antike-Rezeption von Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) statt, dessen Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst (Dresden 1756) nicht nur für die Weimarer Klassik bedeutsam wurde. Vgl. Aristoteles, Poetik, übers. und hg. von Manfred Buhrmann, Stuttgart 1982. Hierzu auch: Tatarkiewicz 1979: 191–198. Thorsten Valk, »Einleitung«, in: Albert Meier und Thorsten Valk (Hg.), Konstellationen der Künste um 1800. Reflexionen – Transformationen – Kombinationen, Göttingen 2015, S. 9–20. 8 S. 4 Als die freye . . . Quintilian. ] Marcus Fabius Quintilianus (um 35 – um 96) war im Anschluss an Cicero einer der bedeutendsten Theoretiker und Lehrer der Rhetorik, er wirkte während der Herrschaftszeit von Vespasian und Domitian in Rom. Sein bedeutendstes Werk ist die in 12 Büchern verfasste Institutio oratoria (ca. 95 n. Chr.). Schleiermacher unterhielt mit dem Altphilologen Georg Ludwig Spalding (1762–1811), der die Werke Quintilians ab 1798 herausbrachte, einen Briefwechsel, in dem es primär um Schleiermachers Platonübersetzungen ging. Vgl. KGA V, Bd. 7, »Historische Einführung«, XLIV. (SB: 1550) 9 S. 5 Wie die alte . . . gewesen. ] Schleiermacher spielt hier auf die innere Einheit von Kunst und Religion an, die er bereits in den Reden Über die Religion (1799) in zeitdiagnostischer Hinsicht angemahnt und durch den Terminus »Kunstreligion« bezeichnet hatte. Diese innere Einheit von Kunst und Religion differenziert Schleiermacher insb. in seiner philosophischen Ethik systematisch aus und bezieht sie – ähnlich wie an dieser Stelle – in historischer Hinsicht auf die griechische Antike. Vgl. KGA I, Bd. 2, S. 185–326, 262 ff. F. D. E. Schleiermacher, Ethik (1812/13), hg. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1990, S. 74 f. 10 S. 5 Zuerst finden wir . . . Deutschland. ] Schleiermacher dürfte

Anmerkungen des Herausgebers

493

hierbei den infolge der Frühaufklärung, im Kontext der Entwicklung der Theorie des »moral sense« bzw. »common sense« entstandenen, englischen Sensualismus im Auge haben (z. B. Shaftesbury, David Hume), von dem eine Theorie des Genies (z. B. Edward Young) und des Erhabenen (z. B. Edmund Burke) ausging, die auch für die ästhetische Theorie der französischen Aufklärung bedeutsam wurden. Diese wendete sich meist gegen den cartesianischen Rationalismus der Pariser »Académie royale«, führte zu einer Hervorhebung der Empfindung (sentiment) gegenüber der Vernunft (raison). Wirkungsmächtig für diese Diskussion war Charles Batteux (1713–1780), der die Einheit der schönen Künste durch das Prinzip der Nachahmung der »schönen Natur« erklärt (vgl. Charles Batteux, Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, übers. und erl. von J. A. Schlegel, Leipzig 1770; Les beaux arts réduits à une même pincipe, Paris 1746). Der englische und französische Ästhetikdiskurs des 18. Jahrhunderts hatte wiederum eine wichtige Bedeutung für die deutsche Diskussion, insb. die Empfindsamkeit. Hierzu auch: Schneider 2011: S. 272–288. 11 S. 5 Die ersten Versuche . . . Logik. ] Der Name von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) wird hier nicht erwähnt, obwohl er an dieser Stelle gemeint sein dürfte. Baumgarten gilt als Namensgeber und Begründer der Ästhetik (von altgr. »aisthesis«) als philosophischer Disziplin. Als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis entwickelte er seine »Aesthetica« (1750, 1758) in kritischer Auseinandersetzung mit der rationalistischen Schulphilosophie (Leibniz und Christian Wolff). Schleiermacher wurde bereits durch seinen ersten philosophischen Lehrer Johann August Eberhard (1739–1809) in Halle mit dieser Tradition vertraut. Hierzu auch: Stefanie Buchenau, »Baumgartens Aisthesis: Sinnlichkeit als Dichtungsvermögen«, in: Elisabeth Décultot, Gerhard Lauer (Hg.), Kunst und Empfindung. Zur Genealogie einer kunsttheoretischen Fragestellung in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2012, S. 67–80. Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002, S. 35–37. 12 S. 5 so sollte Ästhetik . . . soll. ] Im Zuge der Aufklärungsästhetik, der Aufwertung der Sinnlichkeit und des Geschmacks als Erkennt-

4 94

Anmerkungen des Herausgebers

nisquellen des Schönen, entwickelte sich im deutschsprachigen Raum die Empfindsamkeit (z. B. Georg Ephraim Lessing, Friedrich Gottlieb Klopstock, Moses Mendelssohn). Dabei geriet die Empfindung als Vermögen des Wohlgefallens und Missfallens und damit als eine psychologische Qualität in den Blickpunkt der Kunsttheorie (z. B. Johann Christoph Gottsched; Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Leipzig 1771–1774). Über Mendelssohns Charakterisierung des Naiven hatte Schleiermacher bereits als Student einen kritischen Aufsatz verfasst (»Über das Naive«, 1789). Vgl. KGA I, Bd. 1, S. 177–187. Hierzu auch: Elisabeth Décultot, »Kunsttheorie als Theorie des Empfindungsvermögens. Zu Johann Georg Sulzers psychologischen und ästhetischen Studien.«, in: Elisabeth Décultot, Gerhard Lauer (Hg.), Kunst und Empfindung. Zur Genealogie einer kunsttheoretischen Fragestellung in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2012, S. 81–101. 13 S. 6 Daraus entstand . . . Disciplin. ] Hier bezieht sich Schleiermacher wohl auf die Kontroverse, die im ausgehenden 18. Jahrhundert in der ästhetischen Theorie im Kontext der Aufklärungsphilosophie aufkam. Es ging dabei um die Frage, ob die Kunstschönheit allgemein aus dem Prinzip der möglichst vollkommenen Nachahmung der (als schön empfundenen) Natur hervorgeht, oder ob sie eine spezifische Qualität aufweist, die der Natur nicht per se zukommt, sondern dem schöpferischen Talent des Künstlers. Die Position, Kunstschönheit basiere wesentlich auf der Naturschönheit, kam überwiegend bei Vertretern der Aufklärung und der Empfindsamkeit vor, in denen die aristotelische Mimesis-Konzeption noch wichtig war (z. B. Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst. Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Ueberall aber gezeiget wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe, Leipzig 1730). Der Standpunkt, der den Menschen als Schöpfer einer Kunstschönheit betrachtet, die nicht auf die Imitation von schönen Naturprodukten zurückführbar ist, ist überwiegend ein Phänomen der Genie- und Autonomieästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in deren Kontext die antike Mimesis-Konzeption nur noch

Anmerkungen des Herausgebers

495

eine geringe Rolle spielte (z. B. Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen, Braunschweig 1788). In August Wilhelm Schlegels (1767–1845) Berliner Ästhetik-Vorlesungen wird dieser Diskussion im Rekurs auf Aristoteles, Batteux und Moritz ein eigener Abschnitt gewidmet. Schleiermacher hat mit einiger Sicherheit Notiz von diesen für die Frühromantik und auch Schellings Kunstphilosophie wegweisenden Vorlesungen genommen. Einige der einzelnen Vorlesungen wurden von A. W. Schlegel sukzessive in der Zeitschrift Europa unter dem Titel »Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters« publiziert, die Schleiermacher neben einer Ausgabe von A. W. Schlegels Wiener Vorlesungen Über dramatische Kunst und Literatur (Bd. 1–2, Heidelberg 1809–1811) besaß (SB: 635, 1699). Vollständig wurden die Berliner Vorlesungen erst 1884 von Jacob Minor in einer dreibändigen Ausgabe veröffentlicht. Vgl. A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801–1804), in: KAV, Bd. 1, hg. v. Ernst Behler, Paderborn 1989, S. 252–259. Ders., »Über Literatur, Kunst und Geiste des Zeitalters. Einige Vorlesungen in Berlin, zu Ende des Jahres 1802, gehalten von A. W. Schlegel«, in: Europa. Eine Zeitschrift, hg. v. Friedrich Schlegel, Frankfurt am Main, 1803, 1. Bd., 2. Teil, S. 3–95. 14 S. 8 Er stellte sie . . . nicht). ] Schleiermacher vertritt die Ansicht, dass es geschichtlich drei bedeutende Avancements der Ästhetik gegeben habe, durch die sie zu den höchsten Geistesformen erhoben wurde (1. Kant und Schiller, 2. Fichte und Schelling, 3. Hegel; vgl. in diesem Bd. Einl. d. Hg., XXVII–XXXII). Er rekurriert hier zunächst auf Immanuel Kants (1724–1804) Kritik der reinen Vernunft (1781/ 87), die mit der Kritik der praktischen Vernunft (1788) und der Kritik der Urteilskraft (geteilt in ästhetische und teleologische Urteilskraft, 1790/93) den Kanon seiner kritischen Philosophie bildet. Schleiermacher war bekannt, dass Kants Ästhetik kritisch an den Ansatz ästhetischen Denkens anknüpft, der mit der Aesthetica (1750/58) von Baumgarten beginnt. So wird in der Kritik der reinen Vernunft die »transzendentale Ästhetik« als eine Konzeption der Sinnlichkeit (als Rezeptivität) vorgestellt, die Anschauungen liefert, die für die Verstandesbegriffe notwendig sind. Zugleich kritisiert Kant an Baumgartens Ästhetik, mit der Sinnlichkeit auch die kritische Beurteilung

4 96

Anmerkungen des Herausgebers

der schönen Künste unter Vernunftprinzipien stellen und deren Regeln zu einer Wissenschaft erheben zu wollen (KrV B 35; AA III, S. 35). In der »Kritik der (ästhetischen) Urteilskraft« bestimmt Kant das Schöne zunächst als ein »interesseloses Wohlgefallen«, ausgelöst durch die sinnliche Wahrnehmung eines Gegenstandes (KdU B 16; AA V, S. 210); als »Symbol des Sittlichen« ist das Schöne zugleich auf den Gemeinsinn bezogen (KdU B 258; AA V, S. 353) und steht im Gegensatz zum Erhabenen, das subjektives Wohlgefallen durch ein bloßes Überwältigtsein der Sinne erzeugt (KdU 114 f.; AA V, S. 267). Für die Beurteilung schöner Kunstwerke ist grundlegend, dass Naturund Kunstschönheit in allgemeiner Hinsicht gleichgültig sind: »schön ist das, was in der bloßen Beurteilung [. . .] gefällt« (KdU B 180; AA V, S. 306). Das Genie gilt Kant als das Talent des Künstlers, der Kunst die Regeln zu geben, ohne dass dieser diese Regeln klar und eindeutig reproduzieren kann; insofern das Talent eine Naturgabe ist, bleibt die letzte regelgebende Instanz der schönen Kunst die Natur (KdU B 181; AA V, S. 307). Vgl. ÄOd, S. 1, Anm. (SB: 1017, 1018, 1021). Auch Kants frühe Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1771), besaß Schleiermacher in seiner Bibliothek (SB: 1016). 15 S. 9 daß sich die . . . Briefen. ] Friedrich Schiller (1759–1805) war zunächst als Dichter bekannt geworden, bevor er sich als Theoretiker der Kunst einen Namen machte; er gilt für Schleiermacher als Wegbereiter der produktiven Ansicht der Kunst. In Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen (zuerst abgedruckt in drei Folgen in Die Horen, Tübingen 1795), setzt Schiller sich mit der Kantischen Verunftkritik auseinander und entwickelt eine Theorie der Erziehung zur Schönheit, die vermittelt zwischen einem Rigorismus der reinen Vernunft und der Orientierungslosigkeit einer Moral, die sich allein auf die Bedürfnisse der Sinnlichkeit bezieht. (SB: 2514) 16 S. 9 Das ist das . . . moderne. ] Schleiermacher bezieht sich hier auf Schillers Theorie der naiven und sentimentalen Dichternatur, die eine poetologische Periodisierung enthält, wonach die antike Dichtung überwiegend naiv und die moderne überwiegend sentimentalisch geprägt sei. Dabei steht die naive Dichtung für die Darstellung des aus-

Anmerkungen des Herausgebers

497

geglichenen Verhältnisses der menschlichen Sinnlichkeit zur Natur und eine möglichst vollständige Nachahmung des Wirklichen, während die sentimentalische Dichtung das in sich gespaltene Verhältnis des Menschen zur Natur zum Ausdruck und damit das Ideal (als Harmonie von naiver und sentimentalischer Dichtung) zum Vorschein bringen soll. Vgl. Friedrich Schiller: »Über naive und sentimentalische Dichtung.« [Tl. 1:] »Über das Naive.« In: Die Horen, 1795, 11. St., T. VIII., S. 43–76. Ders.: »Über naive und sentimentalische Dichtung.« [Tl. 2:] »Die sentimentalischen Dichter.« In: Die Horen, 1795, 12. St., T. I., S. 1–55. 17 S. 9 Freylich wird es . . . macht ] Hier nimmt Schleiermacher offenbar Bezug auf Johann Gottlieb Fichtes (1762–1814) System der Sittenlehre von 1798, in dem er seine praktische Philosophie aufgrund der Prinzipien seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95) entwickelt. Den ästhetischen Künstler hebt Fichte darin von Handwerkern und Fabrikanten ab, die zwar auch Kunstprodukte herstellten, die aber für den Tausch bestimmt sind. Eine eigene Ästhetik hat Fichte nicht ausgearbeitet. Vgl. J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, Jena und Leipzig 1798, S. 464–467, 477–481 (ders., Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 5, hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth, Stuttgart-Bad Canstatt 1977). (SB: 672) 18 S. 10 da Fichte sagt, . . . Menschen. ] Vgl. J. G. Fichte Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, Jena und Leipzig, 1798, S. 466. 19 S. 10 so nahm Kant . . . an ] Kant verwendet den Begriff »sittliches Gefühl« etwa in der Kritik der Urteilskraft (1793) im Kontext der Diskussion des intellektuellen Interesses an der Natur- und Kunstschönheit. Dabei legt Kant es als die Eigenschaft eines sein »sittliches Gefühl« kultivierenden Menschen dar, an der Natur Gefallen zu finden und ihre Schönheit, die sein unmittelbares Interesse weckt, zu suchen. Ein solcher Mensch zeige jederzeit »eine dem moralischen Gefühl günstige Gemütsstimmung« (KdU: B 165–168, AA V: S. 298– 300). Das »moralische Gefühl«, auf das Schleiermacher hiermit auch anspielt, bestimmt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft als eine Haltung der Achtung vor dem allgemeinen Moralgesetz, das

4 98

20

21 22

23

Anmerkungen des Herausgebers

den Willen motiviert, diesem Gesetz entsprechende Handlungen zu vollziehen (KpV: B 133, AA V: S. 75). S. 10 Eine neue Wendung . . . Schelling. ] Friedrich Wilhelm Joseph Schellings (1775–1854) Vorlesungen über die Philosophie der Kunst in Jena 1802/03, wiederholt in Würzburg 1804/05, wurden nicht zuletzt aufgrund vieler zirkulierender Nachschriften schnell populär; Schleiermacher hat wohl von ihnen Notiz genommen, möglicherweise verfügte er über eine Nachschrift der erst 1859 im Rahmen der Sämmtlichen Werke Schellings publizierten Vorlesungen. Schellings 1807 gehaltene Rede »Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur« exzerpierte Schleiermacher als Vorbereitung für sein erstes Ästhetik-Kolleg an der Berliner Universität 1819. Vgl. F. W. J. Schelling, Philosophie der Kunst, in: SW, 1. Abt., 5. Bd., hg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart und Augsburg 1859, S. 353–736. Ders. »Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur«, in: ders., Philosophische Schriften, Bd. 1, Landshut 1809, S. 341–396. Ders., System des transzendentalen Idealismus, in: ders., Historischkritische Ausgabe, Bd. 9 (1–2), hg. v. Harald Korten und Paul Ziche, Stuttgart-Bad Cannstatt 2005. ÄOd, S. XXXI (SB: 1688, 1689). S. 10 meisten ] ÄLo, S. 13: »leichtesten« S. 11 Er sagt, man . . . Naturwissenschaft. ] Vgl. F. W. J. Schelling, »Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur«, in: ders., Philosophische Schriften, Bd. 1, Landshut 1809, S. 341–396, 345. S. 11 Racendifferenz ] Eine Theorie der Entstehung der unterschiedlichen Menschenrassen kam in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert infolge der Fortschritte der empirischen Anthropologie, Physiologie und Anatomie sowie der kursierenden Reisebeschreibungen aus außereuropäischen Ländern auf. Eine Theorie der Entstehung der menschlichen Gattung und eine Diskussion darüber, ob diese aus einer oder aus mehreren Stämmen entstanden ist, findet sich etwa bei Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) oder bei Kant. Vgl. J. F. Blumenbach, De Generis Humanis Varietate Nativa, Göttingen 1775. Kant, Von den verschiedenen Racen der Menschen, Königsberg 1775 (AA II: S. 427–443). Ders., »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace«, in: Berliner Monatsschrift, 1785, Bd. VI, S. 390–417. (AA VIII: S. 89–106).

Anmerkungen des Herausgebers

499

S. 12 Bleibt man beym . . . Wissenschaft ] Das Nahverhältnis von »techne« (Kunst) und »episteme« (Wissenschaft) in der antiken griechischen Philosophie ist in den Schriften von Platon und Aristoteles verschiedentlich belegt. In der Metaphysik des Aristoteles findet sich etwa folgende Einteilung: 1. Wahrnehmung (aisthesis), 2. Erinnerung (mneme), 3. Erfahrung (empeiria), 4. Kunst/Wissenschaft (techne/ episteme) und 5. Weisheit (sophia) (Metaphysik 980a–982a). 25 S. 12 Der Unterschied zwischen . . . andrer ] Vgl. Anm. 1. 26 S. 12 als lezten Punkt . . . gehörig. ] Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) konzipiert in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse von 1817 die Kunst als eine Gestalt der höchsten Entwicklungsform des Geistes, d. h. des absoluten Geistes, allerdings noch als »Kunst der Religion«; in der 2. Auflage der Enzyklopädie von 1827 hingegen dezidiert als »Kunst«, auf welche nur noch die Gestalten der »Religion« und der »Philosophie« folgen; diese Einteilung wird in der 3. Auflage von 1830 beibehalten. Von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, die er bereits in Heidelberg und dann nahezu zeitgleich mit Schleiermacher an der Berliner Universtität hielt (1820/21, 1823, 1826, 1828/29), hat Schleiermacher wohl zumindest aus dem Lektionskatalog der Berliner Universität Kenntnis gehabt. Die Enzyklopädie von 1827 hat Schleiermacher für seine Theorie der »Avancements der Ästhetik« verwendet. (vgl. Anm. 14) Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), in: GW, Bd. 19, hg. von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas, Hamburg 1989. Vgl. Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch, Stuttgart 2016, S. 383– 413. (SB: 855, 856) 27 S. 13 z. B. seine naturhistorischen Werke ] Aristoteles widmete der Naturerforschung umfangreiche Studien; es sind eine Reihe naturhistorischer und -philosophischer Werke überliefert, von denen die einschlägigen in der kritischen Werkausgabe vorliegen: Physikvorlesung (Bd. 11, 1967), Meteorologie (Bd. 12, 1970), Über den Himmel (Bd. 12.3., 2009), Über Werden und Vergehen (Bd. 12.4, 2010), Über die Seele (Bd. 13, 1959), Parva naturalia II. De memoria et reminscentia (Bd. 14.2, 2004), Parva naturalia III. De insomniis (Bd. 14.3, 1994), Zoologische Schriften I. Historia animalium. Bücher 1 und 2 (Bd. 16.1– 24

500

28

29

30

31

32

Anmerkungen des Herausgebers

2, 2014), Zoologische Schriften II. Über die Teile der Lebewesen (Bd. 17.1, 2004), Zoologische Schriften II. Über die Bewegung der Lebenwesen. Über die Fortbewegung der Lebewesen (Bd. 17.2, 1985). Vgl. Aristoteles, Werke, in deutscher Übersetzung, begr. v. Ernst Grumach, fortgesetzt v. Hellmut Flashar, Berlin 1956 ff. (SB: 74–87) S. 13 So hat seine . . . Trugwerke; ] Auch Problemen der Logik widmete Aristoteles umfangreiche Studien, von denen die wichtigsten überlieferten (vermutlich nachträglich) zu dem sog. Organon (ὄργανον) zusammengefasst wurden. Zu diesem zählen (in Klammern die Bandnummern der kritischen Werkausgabe, sofern bereits erschienen): 1. Kategorien (Bd. 1.1, 2009), 2. De interpretatione bzw. Peri hermeneias (Bd. 1.2, 2009); 3. Analytica priora, (Bd. 3.1–2, 2009/ 2015), 4. Analytica posteriora, 5. Topik, 6. Sophistische Widerlegungen. Vgl. Aristoteles, Werke, in deutscher Übersetzung, begr. v. Ernst Grumach, fortgesetzt v. Hellmut Flashar, Berlin 1956 ff. S. 13 So seine Politik, . . . usw. ] Die Politik von Aristoteles behandelt die verschiedenen Formen des menschlichen Zuammenlebens aufgrund verschiedener Staatsverfassungen im Kontext der antiken Polis. Das in acht Bücher gegliederte Werk liegt in kritischer Werkausgabe vor: Politik. Buch I (Bd. 9.1, 1991), Politik. Buch II und III (Bd. 9.2, 1991), Politik. Buch IV–VI (Bd. 9.3, 2009), Politik. Buch VII und VIII (Bd. 9.4, 2009). Vgl. Aristoteles, Werke, in deutscher Übersetzung, begr. v. Ernst Grumach, fortgesetzt v. Hellmut Flashar, Berlin 1956 ff. S. 14 Wir müssen da . . . gab ] Zur Rhetorik von Aristoteles und ihrer Rezeption im Vergleich zur Poetik vgl. Anm. 5. S. 14 Das wiederholt sich . . . Seite. ] Schleiermacher bezieht sich hier wohl auf die ästhetischen Schriften des 18. Jh., in denen allgemeine Regeln zur Kunstausübung dargelegt werden. Einflussreich für die Dichtkunst war die sog. Regelpoetik, die im französischen Klassizismus und in der deutschen Empfindsamkeit verbreitet war und sich noch stark an antiken Regelwerken, die vielfach auf Aristoteles Poetik rekurrieren, orientierte (z. B. Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, Leipzig 1730). S. 15 Kirschkern z. B. mit . . . Orients. ] Zu den Exponaten des »Grünen Gewölbes« in Dresden gehört eine Mikroschnitzerei, der »Kirsch-

Anmerkungen des Herausgebers

33

34 35

36

501

kern mit den 185 Angesichtern«, auf den Schleiermacher hier offenbar anspielt. Als Gegensatz in Bezug auf die Größendimension denkt Schleiermacher hier wohl an die Kolossal- bzw. Monumentalbauten der altägyptischen Kultur, die im Kapitel über Architektur genauer betrachtet werden. S. 17 Wir behandeln sie . . . Allgemeinen ] In Schleiermachers Systematik der philosophischen Wissenschaften bildet die Ethik die Grundlagenwissenschaft für alle die menschliche Tätigkeit wesentlich behandelnden Disziplinen, so neben der Ästhetik auch die Pädagogik, Psychologie oder Staatslehre. Der Ethik ist die Physik als Wissenschaft von den Gesetzen der Naturproduktion entgegengesetzt und zugleich koordiniert. Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Ethik (1812/13), hg. von Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1990, S. 7, 126. Vgl. Andreas Arndt, Schleiermacher als Philosoph, Berlin 2013, S. 17–27. S. 19 Kurz entwickle ich . . . Natur. ] Vgl. Anm. 13. S. 20 Sagte man von . . . Natur. ] Von Aristoteles ist die Wendung überliefert, die Kunst sei die Vollendung der Natur: »Überhaupt ist es so, dass die Kunst vollendet, was die Natur zu vollenden nicht vermag, oder dass sie sie nachahmt.« (Physik 199a 15). Dass Naturprodukte insb. die Pflanzen durch Anomalien oder Störungen bedingt sind, die die Ausbildung ihrer idealen Gestalt verhindern, hatte Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) in seinen botanischen Studien herausgestellt. A. W. Schlegel hat Kunst in seinen Berliner Vorlesungen (1801–1804) als eine »durch das Medium eines vollendeten Geistes hindurchgegangne, für unsre Betrachtung verklärte und concentrierte Natur« (KAV, Bd. 1, S. 259) bezeichnet. Vgl. Anm. 13 sowie die Ausführungen auf S. 88, 96, 122, 152 f. Vgl. Johann Wolfgang Goethe, »Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen« (1790), in: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen (Weimarer Ausgabe), Abt. II, Bd. 6 (»Zur Morphologie 1. Theil«), S. 288. (SB: 791, 2360) S. 22 Die einen sagen, . . . Bedingung. ] In De architectura von Virtruv sind die Grundbestimmungen der Baukunst: Stabilität (firmitatis), Nützlichkeit (utilitatis) und Schönheit (venustatis), d. h. Schönheit bzw. Anmut und Nützlichkeit schließen sich hier nicht aus. Schleiermacher spielt wohl darauf an, dass sich die Diskussion über

502

37

38

39

40

Anmerkungen des Herausgebers

den Status der Architektur nach Kants Kritik der Urteilskraft (1790/ 93) zuspitzt, insofern darin die praktische Zweckmäßigkeit (Nützlichkeit) aus dem Bereich des Schönen herausfällt. Obwohl die Architektur vorwiegend dieser praktischen Zweckmäßigkeit folgt, wird sie von Kant als eine Art der Plastik unter die schönen Künste gebracht; Verzierungen, die Gebäuden äußerlich anhängen, könnten das Wohlgefallen an ihren Formen noch vergrößern (vgl. KdU B 43, 70 f., 207 f.; AA V, S. 226, 241 f., 321 f.). Schelling betrachtet die Architektur aufgrund seiner Identitäts- und Naturphilosophie in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1802–05) als eine Vermittlung von Musik und Plastik und nimmt sie als eine schöne Kunst auf. In Analogie zum Kunsttrieb der Tiere bezeichnet Schelling menschliche Bauwerke als eine Anpassung des Organismus an die anorganische Natur (vgl. SW, I, Bd. 5, S. 572–575). A. W. Schlegel handelte in seinen Berliner Vorlesungen über Ästhetik (1801–1804) bereits von der Architektur als einer schönen Kunst, die den Kunsttrieben der Tiere nahe stünde und sieht in ihr eine Verbindung von mechanischen Gesetzen und organischen Formgebungen (vgl. KAV, Bd. 1, S. 305– 321). Vgl. Marcus Vitruvius Pollio, De architectura libri decem, edidit Friedrich Krohn, Lipsia MCMXII, S. 13 (dt. etwa: ders., Baukunst, aus der römischen Urschrift übersetzt v. August Rode, 1. Bd., Leipzig 1796, S. 31.). S. 23 Aeneide. ] Gemeint ist das in Hexametern verfasste Epos Aeneis von Vergil, an dem dieser von ca. 29 bis 19 v. Chr. arbeitete. Schleiermacher besaß Vergils Opera omnia in der Leidener Ausgabe von 1669 (SB: 2066). S. 24 Gehen wir aber . . . darstellt ] Kant äußert im Schlusswort der Kritik der praktischen Vernunft (1788): »Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.« (KpV B 288, AA V, S. 161). Vgl. Anm. 14. S. 24 Fehlt nichts! ] Schweizer merkt dies an, weil der Text schon nach etwa zwei Dritteln der Seite (nach »ausschieden«) abbricht, aber auf der folgenden Manuskriptseite inhaltlich fortgesetzt wird. S. 26 z. B. Madrigal und . . . Nachahmung. ] Das Madrigal ist eine

Anmerkungen des Herausgebers

503

sehr freie Gedichtform, die im 14. Jh. in Italien geläufig war, während das Triolett eine Gedichtform französischen Ursprungs ist und ein bestimmtes Reimschema aufweist. Die poetologischen Formen Madrigal und Triolett wurden im Zuge der Erforschung der romanischen Literatur in der Frühromantik bekannt und etwa auch von Friedrich Ast (1778–1841) in seinem System der Kunstlehre behandelt. Vgl. Friedrich Ast, System der Kunstlehre oder Lehr- und Handbuch der Aesthetik, Leipzig 1805, S. 209–211. 41 S. 30 Also kann wesentlich . . . Ethik. ] Weil sie von der menschlichen Produktivität ausgeht, basiert die »Ästhetik« als eine kritische Disziplin auf der »Ethik«, ist ihr subordiniert, aber wie diese zugleich mit der »Physik« koordiniert, insofern sie aufgrund der Sinnlichkeit des menschlichen Körpers auch physisch bedingt ist. Vgl. Anm. 33. 42 S. 31 Ebenfalls ist beyläufig . . . wird. ] Schleiermacher bezieht sich hier wiederum auf Schellings Rede »Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur« (in: ders., Philosophische Schriften, Bd. 1, Landshut 1809, S. 341–396, 345): »Die bildende Kunst steht also offenbar als ein thätiges Band zwischen der Seele und der Natur, und kann nur in der lebendigen Mitte zwischen beyden erfaßt werden. Ja, da sie das Verhältniß zu der Seele mit jeder andern Kunst und namentlich der Poesie gemein hat, so bleibt die, wodurch sie mit der Natur verbunden und eine dieser ähnliche hervorbringende Kraft seyn soll, als die ihr allein eigenthümliche zurück: nur auf diese kann also auch eine Theorie sich beziehen, die für den Verstand befriedigend, für die Kunst selbst fördernd und ersprießlich seyn soll.« Schleiermacher hat bekanntlich keine eigene Naturphilosophie oder »Physik« ausgearbeitet, war aber mit diesem Gebiet gut vertraut. Er kannte insbesondere die naturphilosophischen Schriften seines Hallenser Kollegen Henrich Steffens (1773–1845), die in vielen Hinsichten auf Schellings Naturphilosophie rekurrieren, aber auch die botanischen Studien Goethes oder die biologischen Studien von Gottfried Reinhold Treviranus (1776–1837). In seinen Tageskalendern 1808 und 1809 notiert Schleiermacher den Besuch einer Vorlesung des Mineralogen Dietrich Ludwig Gustav Karsten (1768–1810) in Berlin; im Tageskalender 1828 den Besuch der öffentlichen Kosmos-Vorlesung von Alexander von Humboldt (1769–1859). Vgl. F. Schleiermacher, Tageskalender

504

Anmerkungen des Herausgebers

1808, Tageskalender 1809, erarbeitet von Wolfgang Virmond unter Mitwirkung von Holden Kelm, in: Schleiermachers Tageskalender 1808–1834. Hg. Elisabeth Blumrich, Christiane Hackel, Wolfgang Virmond (http://schleiermacher-in-berlin.bbaw.de/tageskalender/ index.xql). Der Tageskalender 1828 ist noch nicht veröffentlicht, er befindet sich im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (SN: 448). Vgl. F. W. J. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, Leipzig 1797 (SB: 1686). Henrich Steffens, Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, Berlin 1806 (SB: 1890). G. R. Treviranus, Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Aerzte, Bd. 1–5, Göttingen 1802–1818 (SB: 2016). Vgl. Anm. 35. 43 S. 32 1. Teil. Allgemeiner spekulativer ] Schweizer notiert diese Überschrift nicht selbst, am Rand steht aber die Bemerkung »Allg. T.« aus anderer Hand, mglw. von Lommatzsch. Bereits im sog. Grundheft 1819 ist die allgemeine Einteilung der Ästhetik dreigliedrig: Einleitung, Erster Theil (Allgemeiner speculativer) und Zweiter Theil (Darstellung der einzelnen Künste). Diese Gliederung hat Schleiermacher offenbar bis in das Kolleg 1832/33 beibehalten, sie findet sich auch – wenngleich rudimentär – in dieser Nachschrift von Schweizer sowie ausführlich in der Edition von Lommatzsch (1842), wo an dieser Stelle beginnt: »Theil I. Allgemeiner speculativer.« Vgl. ÄOd, S. 23; ÄLo, S. 46. 44 S. 33 So gab es . . . Philosophie. ] Schleiermacher spielt hier wohl auf die Tradition der Peripatetiker an, die das aristotelische Werk im 1. Jh. v. Chr. aufnahmen, interpretierten und lehrten. Vgl. etwa Christof Rapp, Aristoteles Handbuch: Leben–Werk–Wirkung, Stuttgart 2011, S. 405–410. 45 S. 35 Wir unterscheiden in . . . Thätigkeiten. ] Schleiermacher verortet die Kunst innerhalb der Ethik im Rahmen der Darlegung der Güterlehre. Darin unterscheidet er grundlegend 1.) zwischen identischen und individuellen und 2.) zwischen symbolisierenden und organisierenden Tätigkeiten. Die Kunstausübung wird in diesem Schema als eine individuell symbolisierende Tätigkeit dargelegt, die der identisch symbolisierenden Tätigkeit des Denkens entgegengesetzt ist und als äußere Darstellung des Gefühls, dessen genuine

Anmerkungen des Herausgebers

46

47

48

49

50

51

505

Sphäre die Religion ist, näher bestimmt wird. Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Ethik (1812/13), hg. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1990, S. 23–30. Vgl. Anm. 41. S. 37 Beyspiel ] »Kat’ exochen« (κατ΄ ἐξοχὴν, altgrch.) bedeutet hier mustergültig, hervorragend oder auch »par excellence«. S. 38 Bildner ] Vgl. ÄLo 1842: S. 57: »Mimiker« statt »Bildner«. Schweizer schrieb zunächst auch »Mimiker«, aber mit Fragezeichen und strich das Wort dann später (wohl bei einer zweiten Durchsicht) und schrieb dahinter »Bildner«, was an dieser Stelle auch zutreffend ist. S. 45 nehmlich was wir . . . nennen. ] Den Terminus »unmittelbares Selbstbewusstsein« entwickelt Schleiermacher erst in seiner Glaubenslehre von 1821, vorher – so auch in der Ästhetik von 1819 sowie bereits in den Reden Über die Religion von 1799 – spricht Schleiermacher in demselben Kontext meist von »Gefühl« oder auch (in der Ästhetik) von »Stimmung«. Vgl. KGA I, Bd. 7/1, S. 26. ÄOd, S. 54, 71. S. 50 Man hat Kunst . . . ausgehende. ] Schleiermacher konstruiert hier als Ausgangspunkt seiner Argumentation für die Einheit von Sinnlichkeit und Geistigkeit in der Kunst einen Gegensatz, der in dieser Abstraktionsstufe schwer historisch nachweisbar ist. Die erste Position scheint auf die (sakrale und kultische) Kunst des Mittelalters und die scholastische Ansicht anzuspielen, dass jede Kunst symbolisch auf die christliche Lehre bezogen und daher unvermeidlich religiös ist. Die zweite Position ist wohl auf die aufklärerische Kritik an der Religion als einem reinen Aberglauben gemünzt, infolge derer Kunst von der Religion abgekoppelt und an die empirische Natur bzw. die menschlichen Sinne zurückgebunden wurde. Vgl. etwa Kurt Goldammer, »Kirchliche Kunst im Mittelalter«, in: Die Kirche in ihrer Geschichte, Göttingen 1969, S. 183. Zum Sensualismus der Aufklärung vgl. Anm. 10. S. 53 Der Schlaf, da . . . wissenschaftlichen. ] Vgl. Schleiermacher über den Traum in seinen Vorlesungen über die Psychologie, in: ders., Sämmtliche Werke, 3. Abt., Bd. 6, hg. v. Ludwig George, Berlin 1862, S. 348–365. S. 54 Unsre Säze aus . . . versirend. ] Vgl. Anm. 50.

506 52

53

54 55

56

57

Anmerkungen des Herausgebers

S. 54 Die Alten sagten, . . . dieselbe. ] Die in anthropologischen Untersuchungen zu Schleiermachers Zeit geläufige Redewendung geht auf ein bei Plutarch überliefertes Heraklit-Fragment zurück: »Die Wachenden haben eine einzige und gemeinsame Welt [κόσμος], doch jeder Schlummernde wendet sich nur an seine eigene.« Ähnliches findet sich in Kants Anthropologie in pragmatischer Absicht (Königsberg 1798): »Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt; schlafen wir aber, so hat ein jeder seine eigene.« (AA VII, S. 190). Vgl. Die Fragmente der Vorsokratiker, Griechisch und Deutsch von Hermann Diels, hg. von Walther Kranz, Bd. 1, Berlin 1906 (2. Auflage), S. 75, B 89. S. 54 κόσμος ] »Kosmos« (κόσμος, altgrch.), bedeutet hier Ordnung, Anordnung, aber auch Welt. S. 59 ἔθος ] »Ethos« (ἔθος, altgr.) bedeutet hier Sitte oder Brauch. S. 64 Es scheint dies . . . gegenübersteht. ] Wie bereits einleitend rekurriert Schleiermacher offenbar auf Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen (zuerst abgedruckt in drei Folgen in Die Horen, Tübingen 1795. Im 15. Brief findet sich der viel zitierte Satz: »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«). Vgl. Anm. 15 S. 64 Dieser Charakter hat . . . emporziehe. ] Schleiermacher rekurriert wie bereits einleitend auf Fichtes Bestimmung der Kunst als Beruf zur Erziehung des ästhetischen Sinns in dem System der Sittenlehre (1798). Vgl. Anm. 17. S. 65 Von Allen die . . . suchen. ] Die in Schleiermachers Zeit verbreitete Ansicht von der Einheit von Sein und Denken geht u. a. auf die Spinoza-Diskussion zurück, die durch Friedrich Heinrich Jacobis (1743–1819) sog. »Spinoza-Büchlein« angestoßen wurde und einen systematischen Ansatzpunkt zur Kritik an dem zunächst von Jacobi selbst monierten Dualismus von Vernunft (Idealismus) und Empirie (Realismus) in der Kantischen Vernunftkritik bot. So ist auch für Schelling und Hegel die Identität von Sein und Denken eine grundlegende Annahme ihrer Konzeptionen des Absoluten, wenngleich diese Identität von ihnen als indifferent und unvordenklich (Schelling)

Anmerkungen des Herausgebers

58 59 60

61 62

507

bzw. als in sich widersprüchlich und begrifflich erfassbar (Hegel) verschiedentlich bestimmt wird. Vgl. F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785 (vgl. ders., »Schriften zum Spinozastreit«, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, hg. v. Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske, Hamburg und Stuttgart-Bad Cannstatt 1998) (SB: 974, 2408). Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), GW, Bd. 9, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Hamburg 1968, S. 17 f. (SB: 2386). Walter Jaeschke, Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik (1785–1845), München 2012, S. 24–30, 335. S. 66 Sagt man auf . . . hat. ] Vgl. Anm. 13. S. 66 Wenn man die . . . Ansicht. ] Vgl. Anm. 55. S. 66 Jene nennt man . . . Ansicht. ] Schleiermacher konstruiert hier einen Gegensatz für seine Argumentation von der inneren Einheit der »idealen« und »materiellen« Ansicht der Erkenntnis und der Kunsttätigkeit. Dabei dürfte er auf die Realismus-Idealismus-Kontroverse, die infolge des Spinozastreits in der nachkantischen Philosophie virulent wurde, rekurrieren; ferner auch auf den Widerstreit zwischen Materialismus und Spiritualismus in der französischen Aufklärung (etwa bei La Mettrie). Vgl. Walter Jaeschke, Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik (1785–1845), München 2012, 26–30. Vgl. Anm. 57. S. 73 zu jenem Schillerschen . . . Spiel ] Vgl. Anm. 55. S. 76 Bey den Egyptern finden wir ] Schleiermacher kannte die Kunst- und Kulturgeschichte des alten Ägyptens, der Phönizier, Perser etc. sowie der griechischen und römischen Antike nicht nur aufgrund seiner Kenntnisse antiker Quellen (insb. Platon und Aristoteles sowie etwa Herodot, Historiarum (SB: 888), Pausanias, Graeciae descriptio (SB: 1443), Plinius, Naturalis historiae (SB: 1516), Quintilian, Institutio oratoria (SB: 1550) oder Horaz, Ars poetica (SB: 936), sondern auch durch zeitgenössische Schriften, insb. Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Althertums (Dresden 1764; Schleiermacher besaß die sog. Weimarer Ausgabe (1808–1820), mitherausgegeben von seinem Schüler und späteren Berliner Kollegen Johannes Schulze, SB: 2145), Friedrich

508

63

64

65

66

67

Anmerkungen des Herausgebers

Creuzer (1771–1858), Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (Leipzig 1810–1812, SB: 482), Johann Gottfried Herder (1744–1803), Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Riga und Leipzig 1784–1791, SB: 2390), Johann Georg Sulzer (1720–1779), Allgemeine Theorie der schönen Künste (Leipzig 1771–1774, SB: 1943) oder auch A. W. Schlegels Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801–1804, vgl. Anm. 13). S. 76 beyde Paare zu . . . verwandt ] Gemeint sind offenbar die Paare: Skulptur und Architektur, Musik und Poesie. S. 77 der Rhapsode war zugleich Mimiker ] Im antiken Griechenland waren die Rhapsoden wandernde Sänger, die epische Dichtungen vortrugen und sich dabei meist selbst auf einem Saiteninstrument begleiteten. S. 78 Ein ästhetisches Wizwort . . . Musik ] Die häufig auf Arthur Schopenhauer (1788–1860) zurückgeführte Analogie von der Architektur als einer gefrorenen bzw. erstarrten Musik findet sich bereits in der frühromantischen Ästhetik sowie in Schellings Jenaer Vorlesung über die Philosophie der Kunst (1802–03), nachweislich in deren Nachschrift von Henry Crabb Robinson. Vgl. Ernst Behler, »Schellings Ästhetik in der Überlieferung von Henry Crabb Robinson«, in: Philosophisches Jahrbuch, 63, 1976, S. 133–176, 138, 146, 153. Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ders., Werke in zehn Bänden (Zürcher Ausgabe), Bd. 3, Zürich 1977 (Text folgt der historisch-kritischen Ausgabe von Arthur Hübscher, 3. Auflage, Wiesbaden 1972), S. 533. S. 84 Ist dieses nun eine neure ] offenbar unvollendet gebliebener Satz. S. 86 Wir haben schon . . . ist. ] Bereits in seinem Hallenser EthikKolleg 1805/06 bestimmt Schleiermacher die allgemeine Bedeutung der Kunstausübung als eine Ethisierung der Darstellung und des Gefühls (resp. der Religion): »Trennt man nun beide Seiten, so besteht die Ethisierung der Darstellung darin, daß jede Darstellung ein reines Product des Gefühls sei: alle Künstler sollen Genien sein. Die Ethisierung des Gefühls aber, inwiefern es ein gemeinschaftliches werden soll, darin, daß jedes Gefühl in Darstellung übergehe: alle

Anmerkungen des Herausgebers

68 69

70 71 72 73

509

Menschen sind Künstler.« Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/06), in: Schleiermachers Werke, 2. Band, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, nach den Handschriften Schleiermachers neu herausgegeben und eingeleitet von Otto Braun, 2. Neudruck der 2. Auflage, Leipzig 1927, S. 184. S. 89 Wäre in uns . . . wesentlich. ] Vgl. Anm. 35, 57. S. 94 Z. B. im Alterthum . . . nannte ] Hier spielt Schleiermacher auf den Begriff des Kanons in der bildenden Kunst der Antike an, d. h. auf ein anerkanntes und beispielhaftes Verhältnis der Teile des menschlichen Körpers zueinander. Zu denken ist hierbei vor allem an den sog. »Kanon des Polyklet«, der offenbar aufgrund der Statue des »Doryphoros« (bzw. durch römische Kopien derselben) überliefert worden ist und wohl auch auf eine Schrift des Polyklet selbst zurückgeht. Einer der ersten Antikeforscher, der die Bedeutung Polyklets als Bildhauer hervorgehoben hat, war J. J. Winckelmann. In seiner Geschichte der Kunst des Altertums rechnet er Bildhauer wie Polyklet, Phidias, Skopas und Myron dem hohen Stil zu (mittleres 5. bis früheres 4. Jh. v. Chr.) und erläutert die vorbildhafte Stellung ihrer Werke: »Denn da diese Meister, wie Polycletus, Gesetzgeber in der Proportion waren, und also das Maaß eines jeden Theils auf dessen Punct werden gesetzt haben, so ist nicht unglaublich, daß dieser großen Richtigkeit ein gewisser Grad schöner Form aufgeopfert worden.« Vgl. Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, 2. Auflage (Wien 1776), in: ders., Schriften und Nachlass, Bd. 4,1, hg. v. Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaethgens, Johannes Irmscher, Max Kunze, Mainz 2002, S. 446. Vgl. Rolf Michael Schneider, »Polyklet: Forschungsbericht und Antikerezeption«, in: Polyklet. Der Bildhauer der griechischen Klassik (Ausstellungskatalog), hg. v. H. Beck, P. C. Bol, M. Bückling, Mainz 1990, S. 473–476. Vgl. Anm. 62. S. 96 so stellen sich . . . Natur ] Vgl. Anm. 13, 35. S. 97 Kunst gibt ideal . . . mitwirkten. ] Vgl. Anm. 35. S. 99 Roman und Epos . . . einander. ] Vgl. Anm. 81. S. 103 In den bildenden . . . nähmen. ] Hier spielt Schleiermacher möglicherweise auf den Begriff der Symbolik in Friedrich Creuzers (1771–1858) Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (1. Bd., Leipzig 1810) an. Vgl. Anm. 62.

510 74

75

76

77

78

Anmerkungen des Herausgebers

S. 103 Caritas ] Karitas (von lat. caritas, frz. charité), Hochachtung, hingebende Liebe; im Christentum Bezeichnung für tätige Nächstenliebe und Wohltätigkeit; sie ist ein häufiges Motiv in der bildenden Kunst. S. 103 wo eine gewisse . . . sey ] Die Formulierung »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« findet sich in Kants Kritik der Urteilskraft (1793): »Die objective Zweckmäßigkeit kann nur vermittelst der Beziehung des Mannigfaltigen auf einen bestimmten Zweck, also nur durch einen Begriff, erkannt werden. Hieraus allein schon erhellt: daß das Schöne, dessen Beurtheilung eine bloß formale Zweckmäßigkeit, d. i. eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck, zum Grunde hat, von der Vorstellung des Guten ganz unabhängig sei« (KdU B 44; AA V, S. 226). Vgl. dazu Anm. 14. S. 114 Centaur ] Ein »Kentaur« (altgrch. »kentauros«) ist ein Fabelwesen der griechischen Mythologie, eine Mischung aus Mensch und Pferd. S. 114 Die einen sagen, . . . anknüpfen. ] Schleiermacher spielt hier offenbar auf die Konzeption einer politischen Herrschaft der Philosophen(-könige) an, die Platon in seinem Dialog Politeia dadurch begründet, dass Philosophen aufgrund ihrer Orientierung an den unwandelbaren Ideen zur Weisheit streben und daher besonders dazu befähigt seien, die Idee der Gerechtigkeit in einem Staat umzusetzen (vgl. Politeia V 473c–e). Kritisiert wurde diese Konzeption nicht erst von Aristoteles, der dem Philosophen keine exekutive, sondern nur eine beratende Rolle beim Regieren zuschrieb, sondern Platon selbst modifiziert sie in seinem Spätwerk Nomoi, indem er davon ausgeht, dass ein Gesetzwerk dem politischen Herrscher die Regeln zum Regieren weitgehend vorgeben müsse, da eine unumschränkte Machtfülle für die menschliche Natur nicht ohne eine Korruption ihrer Interessen verwaltet werden könne (Nomoi 713c–e, 875a–d). Hierzu auch: Otfried Höffe, »Vier Kapitel einer Wirkungsgeschichte der Politeia«, in: ders. (Hg.), Platon: Politeia, 3. Auflage, Berlin 2011, S. 259–280. S. 115 Nero ] Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus (37–68) war von 54 bis 68 der letzte Kaiser der julisch-claudischen Dynastie im Römischen Reich.

Anmerkungen des Herausgebers

511

S. 117 Es gibt freylich . . . streitig. ] Vgl. Anm. 36. 80 S. 118 So in der . . . waren ] Schleiermacher bezieht sich hier auf die Unterscheidung von »eikon« (εἰκών, altgrch., Bild, Ebenbild) und »agalmata« (ἀγάλματα, altgrch., Götterbilder bzw. -statuen) in der antiken griechischen Kunst. Dabei steht »eikon« für die naturgetreue Nachbildung eines Gegenstandes, etwa der menschlichen Gestalt, wo das mimetische Verhältnis von Abbild und Urbild zum Tragen kommt, während in Bezug auf Götterdarstellungen der Begriff »eikon« vermieden und der Begriff »agalmata/agalma« vorgezogen wurde, da dieser eine Realpräsenz der Götter in den Götterstatuen suggeriert, die nicht ebenbildlich dargestellt werden kann. Von Heraklit ist der Satz überliefert: »Und sie beten auch zu diesen Götterbildern [algamasi], wie wenn einer mit Gebäuden Zwiesprache pflegen wollte.« Vgl. Die Fragmente der Vorsokratiker, Griechisch und Deutsch von Hermann Diels, hg. von Walther Kranz, Bd. 1, Berlin 1906 (2. Auflage), S. 62, B 5. Hierzu auch: Timo Christian, Gebildete Steine: Zur Rezeption literarischer Techniken in den Versinschriften seit dem Hellenismus, Göttingen 2015, S. 250 f. Vgl. dazu im Kapitel über die Skulptur S. 373 f. 81 S. 119 Bey den Alten . . . Roman. ] Als terminus technicus war der Begriff des Romans (alt-franz. »romanz«) in der griechischen Antike nicht bekannt, er kam erst im 12. Jh. in der »lingua romana« als volkssprachige Erzählung in Prosa (anfangs auch in Versen) auf und löste ab dem 17. Jh. die Historie und Novelle auch im deutschen Sprachraum als epische Großform ab. Allerdings waren romanähnliche Erzählungen bereits in der Antike verbreitet, welche sich vor allem in Späthellenismus und früher Kaiserzeit verbreiteten, nachweislich etwa als parodistischer Liebesroman bei Petronius sowie bei Longos oder Heliodor. Schleiermacher spielt wohl darauf an, dass die fiktive und meistens vom Einzelleben ausgehende Erzählform des Romans im Gegensatz zu der in der griechischen Antike dominierenden Form des Epos steht, in dem die Mitteilung des gemeinschaftlich Gewußten (Mythologie) im Vordergrund stand. In J. G. Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste findet sich unter der Rubrik »Romanhaft« diese Einschätzung: »Da sich in unsern Zeiten der Charakter der Romane selbst dem natürlichen Charakter der wahren Geschichte 79

512

Anmerkungen des Herausgebers

immer mehr nähert, und unsre Schriftsteller es sich immer mehr zur Regel machen, ihren Geschmack nach den Alten zu bilden, die sich, wenigstens in den schönen Zeiten des Geschmacks, noch nicht ins Romanhafte verstiegen hatten: so ist auch zu erwarten, daß es sich allmählig unter uns gänzlich verlieren werde; es sey denn, daß man es zum Scherz in der poßirlichen Art beybehalte.« Vgl. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Leipzig 1771– 1774, Bd. 4 (1794, 2. Auflage), S. 110. Hierzu auch: »Roman«, in: Der kleine Pauly, Lexikon der Antike in fünf Bänden, bearbeitet und herausgegeben von Konrat Ziegler und Walther Sontheimer, Bd. 4, München 1979, S. 1451–1454. 82 S. 120 Electra und Antigone . . . lebendig. ] Schleiermacher bezieht sich hier auf die beiden Tragödien des antiken griechischen Dichters Sophokles (ca. 496 – ca. 406 v. Chr.) Elektra (uraufgeführt ca. 413 v. Chr. in Athen) und Antigone (uraufgeführt ca. 442 v. Chr. in Athen), die beide vielfach neu interpretiert, inszeniert und in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Vgl. A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur (1802–1803), KAV, Bd. 1, S. 738 ff., 756 ff. 83 S. 121 Wollte man dagegen . . . Unterschied ] Schleiermacher bezieht sich hier offenbar zunächst auf Raffaels (Raffael Sanzio Da Urbino, 1483–1520) Gemälde »Sixtinische Madonna« (1512/13, Gemäldegalerie »Alte Meister«, Dresden), die er von seinem Besuch in Dresden, sowie von verschiedenen Beschreibungen gekannt haben dürfte. (Am 5. September 1810 vermerkt Schleiermacher in seinem Tageskalender: »Ankunft in Dresden«, einen Tag später: »Vormittag Gallerie, Nachmittag Gallerie« sowie auch am Freitag, den 07.09.: »Vormittag Gallerie [. . .] Nachmittag Gallerie«, am 10.09.: »Ein wenig Gallerie«, am 12.09.: »Nachmittag Gallerie«, am 13.09.: »Vormittag Gallerie [. . .] Nachmittag Gallerie«, am 14.09.: »Vormittag Gallerie«, am 15.9.: »Mit Bendas auf der Gallerie«, am 17.09. begegnet er dort offenbar Goethe: »Gallerie. Goethe dort«.) Im Gegensatz zu Raffael war Peter Paul Rubens (1577–1640) weniger bekannt für MadonnenDarstellungen, es gibt etwa die »Madonna mit dem Papagei« (1615– 1625, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Antwerpen), die Schleiermacher aber wohl nicht gekannt hat. Vgl. F. Schleiermacher, Tageskalender 1810, erarbeitet von Wolfgang Virmond, in: Schleier-

Anmerkungen des Herausgebers

84 85 86

87

88

513

machers Tageskalender 1808–1834. Hg. Elisabeth Blumrich, Christiane Hackel, Wolfgang Virmond (http://schleiermacher-in-berlin. bbaw.de/tageskalender/index.xql). S. 123 ihn ] gemeint ist offenbar der »innen einwohnende Typus« S. 123 Uns wohnen die . . . bestimmt. ] Vgl. Anm. 35, 57. S. 126 Dagegen scheint freylich . . . sind. ] Nach Platons Einteilung der Künste in nachahmende und herstellende, gehören sowohl die Tragödie als auch die Komödie zu den nachahmenden, da sie nicht die ursprünglichen Ideen repräsentieren, sondern nur deren Erscheinungen. Eine Gleichstellung von Tragödie und Komödie, auf die Schleiermacher hier mglw. anspielt, findet sich in der Politeia: »Und jetzt denke ich dir schon deutlich zu machen, was ich vorher nicht vermochte, daß von der gesamten Dichtung und Fabel einiges ganz in Darstellung [im Sinn von Nachahmung] besteht, wie du sagst die Tragödie und Komödie, anderes aber in dem Bericht des Dichters selbst, welches du vorzüglich in den Dithyramben finden kannst, noch anderes aus beiden verbunden, wie in der epischen Dichtkunst und auch vielfältig anderwärts« (Politeia III 393b–c). Infolge der ethischen Ambivalenz der Dichtkunst hätten die Tragödien- und Komödiendichter, wenn sie in den Idealstaat aufgenommen werden wollten, nur das nachzuahmen, was die sittlichen Ansichten und Eigenschaften der Rezipienten zu verbessern in der Lage ist. Bei Aristoteles findet sich hingegen eine Unterscheidung von Komödie und Tragödie, die vor allem den Inhalt der Nachahmung (Mimesis) betrifft: »die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen.« (Poetik 1448a, vgl. 1449a–1450a) S. 131 nun entstand die . . . beytrug. ] Schleiermacher bezieht sich vor allem in seinen theologischen Vorlesungen, aber auch in manchen Predigten vielfach auf die Reformation. In seinen Vorlesungen über die Kirchengeschichte geht er insbesondere auf die historische Entwicklung der Reformation nach Luther und Zwingli ein. Vgl. KGA, Abt. II, Bd. 6, hg. v. Simon Gerber, S. 367–370. Hierzu auch: Simon Gerber, Schleiermachers Kirchengeschichte, Tübingen 2015, S. 354–385. S. 132 Man kann einen . . . war. ] Schleiermacher spielt hier wohl auf den französischen Klassiszismus an, der sich über den Zeitraum

514

89 90

91

92

93

Anmerkungen des Herausgebers

von ca. 1630 bis 1715 erstreckt hat und gänzlich unter die Regierungsund Lebenszeit von Ludwig XIV. (1638–1715) fällt. S. 132 (Madrigal, Triolet) ] Vgl. Anm. 40. S. 133 Vergleichen wir den . . . Unruhen. ] Die Schreibweise des Namens von William Shakespeare (1564–1616) variierte um 1800. Schleiermacher spielt wohl auf die Anfänge von Englands Autonomiebestreben an, als Heinrich VIII. (1491–1547) Oberhaupt der englischen Kirche wurde (1534), der Bruch mit der Römischen Kirche infolge der calvinistisch orientierten Reformation vollzogen war und England unter der Tudor-Dynastie eine kulturelle Blüte erlebte. Dieser historische Kontext fand mitunter Eingang in Shakespeares dramatische Dichtung, die in der Frühromantik vielfach rezipiert und etwa von A. W. Schlegel in großen Teilen ins Deutsche übersetzt wurde. S. 135 was sich in . . . erschien. ] Jean Jacques Rousseaus (1712–1778) kulturkritische und satirische Texte wurden in der Aufklärung kontrovers diskutiert. Schleiermacher spielt hier wohl auf dessen Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste (1750) an, in dem Rousseau die modernen Künste und Wissenschaften für den Verlust der menschlichen Freiheit und die Korruption des ursprünglichen Gefühls, die durch die menschliche Vergesellschaftung – dem Ausgang aus dem Naturzustand – hervorgerufen worden seien, mitverantwortlich macht. Vgl. Jean Jacques Rousseau, Discours sur les sciences et les arts, Genf 1750 (SB: 1625). S. 136 Dies ist etwas . . . hemmen. ] Die Ansicht von einer Reinigung oder Mäßigung der Begierden und Leidenschaften durch die Kunstrezeption, auf die sich Schleiermacher hier bezieht, ist zuerst in der Poetik des Aristoteles aufgrund seiner Katharsis-Konzeption entwickelt worden. Vgl. dazu Anm. 5. S. 138 so war die . . . Leben, ] In einigen Altertumswissenschaften wie der Klassischen Archäologie wird die Blütezeit der antiken griechischen Kunst und Kultur als »griechische Klassik« bezeichnet, die einen Zeitraum ca. vom Ende des 5. Jh. v. Chr. bis zum Tod Alexander des Großen 323 v. Chr. umfasst und in Frühklassik, Hochklassik, Reicher Stil und Spätklassik differenziert wird. Schleiermacher bezieht sich hier möglicherweise auf seine Kenntnisse aus J. J. Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums (1764). Vgl. Anm. 62.

Anmerkungen des Herausgebers

515

S. 138 Daher nahm die . . . aufhalten. ] Der reformatorische Bildersturm, die Vernichtung und Verbannung vor allem von Gemälden und Skulpturen mit christlichen Inhalten im 16. Jh., wurde insb. durch die ikonoklastischen Ansichten von Johannes Calvin bekräftigt. Vgl. Anm. 87. 95 S. 140 Dieses Wohlgefallen gehörte . . . tadelten. ] Hier bezieht sich Schleiermacher wohl auf die bereits in der Antike beginnende Tradition der Rhetorik als einer Untersuchung der Ziele Mittel einer gelungenen Rede, wie sie etwa bei Aristoteles, Cicero oder Quintilian zu finden ist. Bereits Platon hatte in seinem Dialog Gorgias die Redekunst als eine Praxis vorgestellt, die die Zuhörer – teilweise durch »Schmeichelei« – zu überzeugen sucht, indem der Redner bei ihnen ein Wohlgefallen erzeugt (vgl. Gorgias 463a). 96 S. 142 zwey verschiedne Gattungen, . . . Kunst. ] In Schleiermachers Ästhetik ist die Unterscheidung von geselligem (bzw. weltlichem) und religiösem (bzw. heiligem) Stil grundlegend, sie zeigt an, ob die Kunst mehr vom Allgemeinen (religiöser Stil) oder mehr vom Einzelnen (geselliger Stil) ausgeht; sie findet sich bereits in seiner Ethik und seiner Ästhetik von 1819. Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Ethik 1812/ 13, hg. und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1990, S. 74, Anm. Vgl. ÄOd, S. 69. 97 S. 144 Daß der Gegenstand . . . konnte. ] Schleiermacher kannte den Diskurs über die Vollkommenheit in der Metaphysik des 18. Jh. wohl nicht zuletzt von seinem philosophischen Lehrer J. A. Eberhard in Halle, der ein Anhänger der Wolffisch-Leibnizschen Philosophie war. In A. G. Baumgartens Aesthetica (1750/58) wird Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis mit Schönheit gleichgesetzt: »Die Wissenschaft der Regeln der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis und der Bezeichnung derselben ist die Wissenschaft des Schönen«. In J. G. Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste beginnt die Rubrik »Vollkommenheit« mit folgendem Satz: »Vollkommen ist das, was zu seine Völle gekommen oder was gänzlich, ohne Mangel und Überfluss das ist, was es sein soll.« In der Schleiermacher bekannten Rede Schellings »Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur« (1807) findet sich die Bestimmung: »Wie sollte aber irgend etwas ausser dem Wahren wirklich seyn können, und 94

516

98

99 100

101

Anmerkungen des Herausgebers

was ist Schönheit, wenn sie nicht das volle mangellose Seyn ist?« Schleiermachers Konzeption der elementarischen und organischen Vollkommenheit und des Ideals, die er im Folgenden entwickelt, kann als eine kritische Weiterführung der Schellingschen Position angesehen werden. Vgl. Bernhard Poppe, Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst einer Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens, Leipzig 1907, S. 45. J. G. Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 4 (2. Auflage), Leipzig 1794, S. 688. F. W. J. Schelling, »Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur«, in: ders., Philosophische Schriften, Bd. 1, Landshut 1809, S. 341–396, 355. S. 145 Innerlich hingegen nicht. ] Lommatzsch führt den vorigen Satz wie folgt zu Ende: »[. . .gebildet sey;] dabei besteht aber unsere Erklärung sehr wohl, daß der Kunstgedanke seinem Inhalt und eigenthümlichen Wesen nach betrachtet, aber nicht durch die Gesammtheit der gegebenen Relationen bestimmt sein soll.« (ÄLo, S. 225) S. 145 und so fanden . . . Analogien. ] Vgl. Anm. 50. S. 148 Die organische Vollkommenheit . . . unübersehbares. ] Vom Ende des trojanischen Krieges wird in Homers Ilias nicht erzählt, sondern im sog. Epischen Zyklus, einer Sammlung von altgriechischen Ependichtungen, zu denen auch die sog. νόστοι (nostoi) gehören, die von der Heimkehr der Kriegshelden nach dem Fall Trojas handeln. Goethe studierte Homer in der damals gängigen Übersetzung von Johann Heinrich Voß (1751–1826) und sah sich wohl dadurch veranlasst, eine »Achilleis« in 8 Gesängen über den Tod Achills zu verfassen, die er jedoch nicht vollendete (sie wurde dennoch 1808 als Fragment gedruckt). Schleiermacher kannte die Diskussion über das Vollendet- oder Unvollendetsein der Ilias aus seinen philologischen Studien und durch seine Bekanntschaft mit dem Altphilologen Friedrich August Wolf (1759–1824). Vgl. Dieter Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, Berlin 1993, S. 285 f. S. 148 Eine andre Vorstellung . . . Gesängen. ] Hier spielt Schleiermacher wohl auf die sog. Homerische Frage in der klassischen Philologie an, die bereits von antiken Kommentatoren Homers untersucht

Anmerkungen des Herausgebers

102 103

104

105

517

wurde und durch F. A. Wolfs Prolegomena ad Homerum (1795) eine neue Wendung erfuhr. Darin wird die alleinige Autorschaft Homers bei der Odyssee und der Ilias hinterfragt und damit auch der einheitliche Charakter dieser Epen. Vgl. Friedrich August Wolf, Prolegomena ad Homerum, Halle 1795. Robert Fowler (Hg.), The Cambridge Companion to Homer, Cambridge u. a. 2004. S. 153 So erscheint die . . . thut. ] Vgl. Anm. 35, 13. S. 154 von Raphael ist . . . dargestellt ] Gemeint sein könnte ein Fresco von Raffael, das als »Der Parnass« (1510/11) bekannt ist und sich in der Stanza della Segnatura im apostolischen Palast des Vatikan befindet. In dessen Zentrum ist ein Violinenspieler zu sehen, der Apollon Musagetes in seinem Heiligtum in Delphi darstellt. Inwiefern ein Freund Raffaels Modell für diese Figur gestanden haben könnte, konnte nicht nachgewiesen werden. Schleiermacher konnte dieses Fresco gekannt haben, weil von diesem Kupferstiche angefertigt wurden und veröffentlicht waren. S. 155 Wenn ein Philosoph . . . Richtigkeit. ] Schleiermacher spielt hier wohl auf Kants Gegensatz des Schönen und Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft (1793) an. In § 23 heißt es etwa: »Das Schöne der Natur betrifft die Form des Gegenstandes, die in der Begrenzung besteht; das Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegenstande zu finden, sofern Unbegrenztheit an ihm [. . .]: so daß das Schöne für die Darstellung eines unbestimmten Verstandesbegriffs, das Erhabene aber eines dergleichen Vernunftbegriffs genommen zu werden scheint.« Schleiermachers Kritik eines falschen Gegensatzes, der den Gegenstand nicht erschöpft, findet sich bereits in der Ästhetik von 1819: »Es müßte doch das Kunstmäßige dann eines sein und müßte sich in zwei Arme theilen: das Schöne und das Erhabene. So aber kommt es nie heraus.« (ÄOd, S. 102). Schleiermacher kannte zudem die Diskussion über das Erhabene im Anschluss an Moses Mendelssohns Abhandlung Über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften (1758/1771), mit der er sich bereits in seiner Jugendschrift Über das Naive (1789) kritisch auseinandergesetzt hat (KGA, Abt. 1, Bd. 1, S. 177–187). Vgl. Anm. 14, 12. S. 156 Abhandlung, die eine . . . diese. ] Gemeint ist Schellings Rede »Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur« (1807),

518

106

107

108

109

Anmerkungen des Herausgebers

in: F. W. J. Schelling, Philosophische Schriften, Bd. 1, Landshut 1809, S. 341–396, S. 355. Vgl. Anm. 20, 42. S. 156 So kann eine . . . versinke. ] Schleiermacher bezieht sich hier auf die von Aloys Hirt (1759–1837) eingeführte ästhetische Kategorie des Charakteristischen und die nachfolgende Diskussion über deren Bedeutung für die Kunsttheorie. Hirt, der der erste Professor für Klassische Archäologie an der Berliner Universität war, bestimmt in seinem Aufsatz »Versuch über das Kunstschöne« (1797) die Basis des Kunstschönen als das Charakteristische: »Unter Charakteristik verstehe ich nemlich jene bestimmte Individualität, wodurch sich Formen, Bewegung und Geberde, Miene und Ausdruck – Lokalfarbe, Licht und Schatten, Helldunkel und Haltung – unterscheiden, und zwar so, wie der vorgelegte Gegenstand es verlanget.« Vgl. Aloys Hirt, »Versuch über das Kunsttschöne«, in: Die Horen, Bd. 11, hg. v. F. Schiller, Tübingen 1797, S. 1–37, 34 f. S. 158 Stelle in Genesis: . . . ward“. ] Genesis, 1,3. Dieses Beispiel findet sich auch unter der Rubrik »Erhaben« in J. G. Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste (Bd. 2, 1792, S. 98) (SB: 1943). S. 159 Brachylogie ] Das Wort Brachylogie stammt aus dem Altgriechischen (von brachys, »kurz«) und bedeutet soviel wie Kurzwörtigkeit oder auch knappe Ausdrucksweise. S. 159 Ein andres ebenso . . . crainte“. ] Aus dem Französischen übersetzt sinngemäß: »Ich fürchte Gott und nichts anderes.« In der Zuordnung irrt Schleiermacher wohl, da dieser Vers offenbar nicht von Voltaire (1694–1778), sondern aus Jean Racines (1639–1699) klassiszistischer Tragödie Athalie (1661, 1. Akt, 1. Szene) stammt. Athalie erfuhr trotz des verbreiteten Misstrauenes gegenüber der französischen Kultur des Klassizismus eine vergleichsweise positive Resonanz im deutschsprachigen Raum um 1800. Voltaire berichtet in seinem Traité sur la tolérance (1763) allerdings von dem Fall Jean Calas, einem offenbar zu Unrecht zum Tod durch Rädern und Verbrennung verurteilten Mann. Ebenso wie das Beispiel aus der Genesis findet sich auch dieses unter der Rubrik »Erhaben« in J. G. Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste (Bd. 2, 1792, S. 100). Vgl. Björn Kühnicke, »Jean Racines Athalie als national-religiöse Erlösungsphantasie auf der deutschen Opernbühne der frühen Re-

Anmerkungen des Herausgebers

110

111

112

113

114

519

staurationszeit«, in: Marcel Krings und Roman Luckscheiter (Hg.), Deutsch-französische Literaturbeziehungen, Würzburg 2007, S. 113– 130, 113 f. S. 164 Ein strengrer Styl . . . mehr. ] Zu der grundlegenden Unterscheidung von religiösem und geselligem Stil vgl. Anm. 96. S. 166 An Architectur gibt . . . Beywerk. ] Zur Diskussion über »Verzierungen« an architektonischen Werken, zu denen Schleiermacher hier auch die Arabeske zählt und inwiefern sie ihrer Schönheit zu- oder abträglich sein können vgl. Anm. 36. Auf Friedrich Schlegels (1772–1829) Transformation des Begriffs der Arabeske zu einer poetologischen Gattung (»denn ich halte die Arabeske für eine ganz bestimmte und wesentliche Form oder Äußerungsart der Poesie«) geht Schleiermacher in seiner Ästhetik nicht näher ein. Vgl. Friedrich Schlegel, »Brief über den Roman«, in: KFSA, 1. Abt., Bd. 2, hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, München, Paderborn, Wien 1967, S. 331. S. 168 Die Dürersche Arabeske . . . Künstler. ] Schleiermacher spielt hier wohl auf die Randzeichnungen von Albrecht Dürer (1471–1528) an, die dieser für das »Gebet zum Heiligen Georg« in einem Exemplar des »Gebetbuchs« für Kaiser Maximilian I. 1514/15 angefertigt hat. S. 174 Die erste Periode . . . Alterthums. ] Schleiermacher bezieht sich wohl auf die frühe christliche Malerei, die aufgrund des byzantinischen Bilderstreits (8. und 9. Jh.) in zwei Traditionslinien zerfiel: die strengere Ikonographie der östlichen Kirche (byzantinische, russischund griechisch-orthodoxe Ikonenmalerei), und die Malerei der westlichen Kirche, die insb. in der Renaissance vermehrt weltliche Inhalte aufnahm und sich infolge des Bilderstreits in der Reformation aufspaltete. S. 175 Verfall des Gesamtlebens . . . XIV. ] Schleiermacher teilt seine vorwiegend kritische Perspektive auf die Kunst des französischen Klassizismus unter Ludwig XIV. (1638–1715) weitgehend mit A. W. Schlegel. Heinrich Heine (1797–1856) schreibt in der Romantischen Schule (1836) rückblickend: »Die Romantische Schule ging [. . .] Hand in Hand mit dem Streben der Regierungen und der geheimen Gesellschaften, und Herr A. W. Schlegel konspirierte gegen Racine zu demselben Ziel, wie der Minister Stein gegen Napoleon konspirierte«.

520

115

116

117

118

Anmerkungen des Herausgebers

Vgl. Heinrich Heine, Die romantische Schule, in: ders., Düsseldorfer Heine-Ausgabe, hg. v. Manfred Winfuhr, Bd. 8/1, Hamburg 1979, S. 141. S. 176 Unsrer Poesie in . . . Meistersänger. ] Schleiermacher bezieht sich hier wohl auf die Periode der Literatur des Barock, die gewöhnlich zwischen der Blüte der zunftartig organisierten Meistersänger im 15. und 16. Jh. und der Literatur der Aufklärung ab 1720 eingeordnet wird. S. 177 da unterschied man . . . different. ] Schleiermacher rekurriert hier auf den Zeitraum von der Verbreitung der neuen hochdeutschen Büchersprache nach Luther bis in die neuere deutsche Literatur in der Mitte des 18. Jh. Die sog. Sächsische Schule formierte sich um Johann Christoph Gottsched (1700–1766) im Rahmen der von ihm entwickelten Regelpoetik und Empfindsamkeit in Leipzig. Die sog. Schweizerische Schule, die sich um die beiden Zürcher Philologen Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitlinger (1701–1776) formierte, wendete sich gegen die formelle, am Kanon der aristotelischen Poetik und dem französischen Klassizismus orientierte Ansicht Gottscheds und rekurrierte vielmehr auf den englischen Sensualismus und die mittelalterliche Literatur, was für die frühromantische Bewegung in einigen Hinsichten bedeutsam war. Der Streit wird auch als eine deutsche Variante der »Querelle des Anciens et des Modernes« bezeichnet. Vgl. Annabel Falkenhagen, »Sinnesempfindung und Gemütsbewegung. Zum Konzept der ›empfindlichen Lust‹ in der Poetik Bodmers und Breitingers mit Blick auf ihr Verhältnis zur Empfindsamkeit«, in: Elisabeth Décultot, Gerhard Lauer (Hg.), Kunst und Empfindung. Zur Genealogie einer kunsttheoretischen Fragestellung in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2012, S. 37–66. S. 177 Noachide und Messiade, . . . sich. ] Schleiermacher spielt hier auf die im 18. Jh. populär werdende epische Bearbeitung biblischer Stoffe wie den Geschichten von Noah sowie vom Leben Jesu an. Vgl. etwa Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724–1803) Messias (Halle 1749–73, SB: 2426) sowie Johann Jakob Bodmers Der Noah. In zwölf Gesängen (Zürich 1752). S. 178 z. B. in der . . . gezeigt ] Vgl. Anm. 116.

Anmerkungen des Herausgebers 119

120

121

122 123

521

S. 179 Diese ursprünglich gemeinsame . . . seyen. ] Schleiermacher hatte offenbar Kenntnis von Friedrich Schlegels Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde (Heidelberg 1808, SB: 1703), in dem Schlegel die vom Indologen William Jones (1746–1794) festgestellte Ähnlichkeit zwischen dem Sanskrit und einigen europäischen Sprachen weiter verfolgt und vertieft hatte. Die von Franz Bopp (1791–1867) begründete Indogermanistik wurzelt auf diesen Einsichten Schlegels und war Schleiermacher – Bopp war ab 1821 sein Kollege an der Berliner Universität – wohl auch bekannt. S. 182 Seit geraumer Zeit . . . Modernen ] Der seit der »Querelle des Anciens et des Modernes« geläufige Gegensatz, der die Frage nach der Maßgeblichkeit antiker griechischer Kunst für die moderne Kunst betrifft, wurde infolge von Winckelmanns Antike-Rezeption erneut diskutiert und findet sich in vielen ästhetischen Theorien des späten 18. und frühen 19. Jh., insb. in der Frühromantik und den systematischen Kunstphilosophien der klassischen deutschen Philosophie. Vgl. Peter Szondi, »Antike und Moderne in der Goethezeit«, in: ders., Poetik und Geschichtsphilosophie, Bd. I, hg. v. Senta Metz und Hans-Hagen Hildebrandt, Frankfurt am Main 1974, S. 17–21. S. 182 In der Behandlung . . . stellen. ] In der Tat hat Schleiermacher seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie separiert in eine Geschichte der antiken (alten) und eine der christlichen (modernen) Philosophie. Vgl. F. D. E. Schleiermacher, »Geschichte der Philosophie«, in: ders., »Sämmtliche Werke«, 3. Abt., 4. Bd., 1. Teil, hg. von Heinrich Ritter, Berlin 1839. S. 183 die ich andeutete . . . Beywerks. ] Vgl. S. 163, 166. S. 185 Bey dem einen . . . ist; ] Schleiermacher spielt hier wohl auf eine zeitgenössische Ansicht über die innere Verwandtschaft von Sprache Gesang an, die etwa A. W. Schlegel historisch gewendet hat. In seinem Aufsatz »Über Poesie, Sylbenmaaß und Sprache« (1796) schreibt Schlegel: »Dagegen wissen wir historisch, daß die meisten Völker nie eine eigentliche, das heißt ohne Gesang für sich bestehende, Instrumentalmusik gekannt haben, und daß diese, wo sie etwa eingeführt ward, zu den späten, schwächenden Verfeinerungen der Kunst gehörte. Das Werkzeug des Gesanges bringt der Mensch mit auf die

522

Anmerkungen des Herausgebers

Welt, es begleitet ihn in jedem Augenblicke seines Lebens, und die Antriebe des Gefühls setzen es früh auf mannichfaltige Weise in Bewegung: die ersten unförmlichen Lieder mußten daher ohne Absicht, fast ohne Bewußtseyn entstehn.« Auch in seinen Berliner Vorlesungen über die Kunstlehre (1801–1802) teilt er diese Ansicht: »Vom Gesange hat alle Musik angefangen, denn die Stimme war vor den künstlichen Instrumenten da.« (KAV, Bd. 1, S. 375) Vgl. A. W. Schlegel, »Über Poesie, Sylbenmaaß und Sprache«, in: Die Horen, 1796, 1. Stück, V., »Dritter Brief«, S. 54–73, 58. Vgl. Anm. 13. 124 S. 187 Sie ist die . . . Zwek ] Die Konzeption der Mimik als erste Kunstform ist ein Spezifikum von Schleiermachers Ästhetik. Ein Eintrag über »Mimik« findet sich etwa in J. G. Sulzers Allgemeiner Theorie der Künste (1771–1776) nicht. Allerdings wird die mimische Kunst zum Ende des 18. Jh. häufiger zum Gegenstand der ästhetischen Untersuchung. Vgl. etwa Johann Jakob Engel, Ideen zu einer Mimik (1785/86), in: ders., Schriften, Bd. VII, Berlin 1804 (2. Auflage). 125 S. 188 Drappierung ] Drappierung von »Drapieren«, dem dekorativen Anbringen von Stoffen, hier bezogen auf die Bekleidung oder Kostüme der Tänzer bzw. Schauspieler. 126 S. 189 die alte Anomalie . . . Null. ] Schleiermachers Konzeption der Bewegung kennt kein reines Nichts (= Ruhe), sondern nimmt ein unendlich Kleines an, insofern das Verhältnis von Ruhe und Bewegung als relativer Gegensatz bestimmt wird. Schleiermacher kannte sicherlich das in Platons Dialog Sophistes (250a–251b) untersuchte Verhältnis von Bewegung und Ruhe sowie die Paradoxien der Bewegung des Zenon von Elea (z. B. das Pfeil-Paradoxon). Kant behandelte dieses Verhältnis u. a. als Beispiel einer Realentgegensetzung, d. h. einer Opposition, in der zwei Prädikate eines Dings einander entgegengesetzt sind, ohne dadurch einen logischen Widerspruch zu erzeugen. Z. B. wenn die Bewegung eines Gegenstands durch eine andere (Gegen-)Bewegung aufgehoben wird, wie bei einem Schiff das durch den Morgenwind gegen die Meeresströmung getrieben und dessen reale Bewegung dadurch neutralisiert wird: »[. . .] Ruhe ist in einem Körper entweder bloß ein Mangel, d. i. eine Verneinung der Bewegung, insofern keine Bewegkraft da ist; oder eine Beraubung [privatio, H. K.], insofern wohl Bewegkraft anzu-

Anmerkungen des Herausgebers

127

128

129

130 131

132

133

523

treffen, aber die Folge, nämlich die Bewegung durch eine entgegengesetzte Kraft aufgehoben wird«. Vgl. Kant, Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763) (AA II, S. 178). S. 192 Orchestik ] Orchestik (orchestike techne) bezeichnete im antiken griechischen Theater das Zusammenwirken von Musik, Gesang und Tanz. S. 194 fehlt nichts! ] Schweizer merkt dies an, weil der Text schon nach etwa zwei Dritteln der Manuskriptseite (nach »Kunstgebieths«) abbricht, aber auf der folgenden Seite inhaltlich fortgesetzt wird. S. 197 Pantomime nennt, ] In J. G. Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste (1771–1774) heißt es unter der Rubrik »Pantomime«: »Ist das lateinische oder griechische Wort ›Pantomimus‹, welches einen Schauspieler bedeutet, der eine ganze Rolle eines Drama ohne Worte, durch die bloße Sprache der Geberden ausdrükt. Gegenwärtig nennet man ein dramatisches Schauspiel, das durchaus ohne Reden vorgestellt wird, eine Pantomime; und dann drükt man durch dieses Wort auch überhaupt dasjenige aus, was im Drama zum stummen Spiel gehöret.« Vgl. J. G. Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 3, Leipzig 1793 (2. Auflage), S. 647. S. 198 einen doppelten Styl . . . leichterem. ] Vgl. Anm. 96. S. 199 Wenn wir aber . . . ist. ] Zu Schleiermachers Konzeption des Verhältnisses von Kunst und Religion vgl. Anm. 9. S. 200 Zeit der puritanischen . . . Cromwell ] Schleiermacher spielt hier auf die sog. »Independents« an, eine religöse Bewegung in England, die infolge der Reformation und der Gründung der anglikanischen Kirche entstand und von Oliver Cromwell (1599–1658) repräsentiert wurde. Im ersten englischen Bürgerkrieg (1642–46) gegen König Karl I. (1600–1649) war Cromwell Anführer dieser Bewegung, im zweiten (1648–49) besiegte er mit seiner Bauernarmee die schottischen Presbyterianer und regierte das zur Republik erklärte England nach dem Tod von Karl I. S. 201 Institution Carls gekommen. ] Gemeint ist offenbar Karl II. (1630–1685), der zweite Sohn von Karl I., der seinem Vater als König von England nachfolgen sollte, jedoch infolge der Bürgerkriege und dem Aufstieg Cromwells ins Exil ging und erst nach dessen Tod 1660

524

134

135

136

137 138 139 140

141

Anmerkungen des Herausgebers

offiziell vom Parlament zum englischen König erklärt wurde und damit die Restauration einleitete. Vgl. ÄLo, S. 309. S. 204 Arsis und Thesis ] Arsis und Thesis sind Begriffe aus der altgriechischen Metrik und bezeichnen die hebenden bzw. kurzen (Arsis) und die senkenden bzw. langen (Thesis) Teile eines Versfußes. Vgl. Anm. 260. S. 204 pro lubitu ] »Pro lubitu« (lat.), nach Belieben. In Bezug auf die musikalische Aufführungspraxis bedeutet dies, dass wenn an besonderen Stellen einer Partitur die Formel »pro lubitu« (gängig ist auch »ad libitum«) steht, den Aufführenden Raum für freies Spiel oder Improvisation gewährt wird. S. 208 Sclavinnen seien aber . . . dargebnen ] Schleiermacher spielt offenbar auf die sog. Bajaderen an, einer Bezeichnung für indische Tempeltänzerinnen, die vor allem bei religiösen Feierlichkeiten auftreten und im 18. und 19. Jh. im europäischen Abendland in den Ruf geraten sind, »Musik, Tanz und erotische Kunst als Gewerbe« zu treiben, »um die Sinne der Männer zu fesseln« (so etwa in der Encyclopädie von Ersch und Gruber unter der Rubrik »Bajadere«). Auch Goethes Ballade »Gott und die Bajadere« (1797) spielt mit dieser Ansicht. Allerdings gehören die Devadasis (so die heute übliche Bezeichnung) in Indien einer eigenen Kaste an und tradieren eine jahrtausendalte Tanzkunst. Vgl. Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, hg. v. Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber, 7. Teil, Leipzig 1821, S. 187. S. 209 wie bei den Engländern ] Vgl. Anm. 132. S. 210 Erfahrung ] Vgl. ÄLo, S. 323: »Erholung«. S. 212 Gehen wir zurück . . . Ruhe. ] Vgl. Anm. 126. S. 212 Consistentialverhältnisse gestatten doch keine. ] Der Begriff »Consistentialverhältnisse« wird heute nicht mehr verwendet. Eine konsistente Reihe von Werten zu schätzen, gehört zu einem Teilgebiet der modernen mathematischen Statistik. Schleiermacher meint hier wohl den inneren Zusammenhang der einzelnen Bewegungen z. B. eines Tanzes und das damit verbundene Problem, den Übergang von einer Stellung zur nächsten exakt zu bestimmen, ohne einen reinen Nullpunkt der Bewegung anzunehmen. Vgl. Anm. 126. S. 218 So z. B. deutsches . . . hat. ] Nicht nur im frz. Klassizismus,

Anmerkungen des Herausgebers

142 143

144

145

146

147

148 149

525

sondern auch in der Weimarer Klassik wurde in formaler und inhaltlicher Hinsicht häufig auf die antike Dichtung zurückgegriffen. So rekurriert etwa Goethe mit seinem Schauspiel »Iphigenie auf Tauris« (1787) auf »Iphigenie bei den Taurern« (ca. 414–412) von Euripides (ca. 480–406). S. 220 Neulich habe ich . . . Alterthum ] Vgl. S. 199, 178. S. 226 Im Trauerspiel nicht, . . . ausgebaut ] Trauerspiel und Lustspiel waren zunächst die deutschen Übersetzungen von Tragödie und Komödie. Schleiermacher spielt hier vermutlich auf die »Commedia dell’arte« an, die sich in Italien in der Renaissance, insb. in Venedig und Neapel, entwickelte, dann auch in Frankreich Verbreitung fand und im 18. Jh. als selbständige Theaterform wieder verschwand. S. 226 Das Verhältnis unsrer . . . ist. ] Vgl. Anm. 35, sowie S. 88, 96 f., 122, 152 f. S. 227 doch war unser Harlekin-Theater ] Die Figur des Harlekin wird häufig mit der italienischen »Commedia dell’arte« der Renaissance in Verbindung gebracht. In Deutschland wurde der Harlekin als komische Figur im Barocktheater des 17. Jh. bekannt (und konkurrierte mit der Figur des Hanswurst bzw. des Hofnarren), danach verschwand er weitgehend oder wurde nur noch im Puppentheater eingesetzt. S. 228 die aber auch . . . sind. ] Zum Begriff der Pantomime vgl. Anm. 129. S. 229 Aber es gab . . . Zwittergattung. ] Schleiermacher bezieht sich hier wohl darauf, dass die moderne Tanzform des Balletts sich zunächst aus Schauspielen entwickelt hat, die an italienischen und französischen Fürstenhöfen in der Renaissance aufgeführt wurden und nicht so artistisch choreographiert waren, wie etwa die Aufführungen des Balletensembles der Pariser Oper in der zweiten Hälfte des 18. Jh. Die älteste erhaltene Paritutur eines Ballets stammt aus dem Jahr 1581, das sog. »Ballet comique de la reine«, verfasst für die florentinische Prinzessin von Urbino, Katharina von Medici (1519–1589). S. 230 Es gilt hier . . . überhaupt. ] Vgl. Anm. 126. S. 232 Dies führt uns . . . Zusammenlebens. ] Der Unterschied, den Schleiermacher in Bezug auf die mimische Fertigkeit des politischen und des religiösen Redners ausführt, betrifft insofern die Ethik, als

526

150

151

152 153 154

155

Anmerkungen des Herausgebers

in der beruflichen (organisierenden) Tätigkeit die Kunst keine wesentliche Bedeutung hat, weil es in ihr primär um praktische und zweckmäßige Tätigkeiten geht. In der Systematik der Ethik ist die organisierende Tätigkeit durch den Gegensatz von Individualität und Identität bestimmt: als individuelle betrifft sie eher Privatinteressen (Familie, Eigentum oder auch Geselligkeit), als identische öffentliche Interessen (Gemeinschaft, Recht, Arbeitsteilung und den Tausch). Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Ethik (1812/13), hg. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1990, S. 39–43, 46–50. Vgl. Anm. 45. S. 234 Z. B. die Sclaven . . . machen. ] Es dürfte die Sklaverei auf den sog. westindischen Inseln in der Karibik gemeint sein, wenngleich sich in England bereits zu Beginn des 19. Jh. Gegner des Sklavenhandels gruppierten, wodurch dessen offizielles Ende unter britischer Regierung eingeleitet wurde. Vgl. ÄLo, S. 360: »[. . .] Zustand der Sclaven, wie er noch jezt auf den westindischen Inseln stattfindet.« S. 236 also hier ist . . . gibt. ] zum Verhältnis von Kunst und Natur vgl. S. 88, 96 f., 122, 152 f. (Anm. 35). S. 237 Die alten Rhapsoden ] Vgl. Anm. 64. S. 241 Bleiben wir unsren . . . anschließt ] Vgl. Anm. 123. S. 250 z. B. in Händels . . . ist. ] Schleiermacher spielt hier wohl auf das berühmte Oratorium von Georg Friedrich Händel (1685–1759) an: den »Messias« (HWV 56, Uraufführung 1742 in Dublin) für vier Solostimmen, Chor und Orchester. Es handelt vom Leben Jesu aufgrund der King-James-Bibel und des Book of Common Prayer der anglikanischen Kirche, das Libretto stammt von Charles Jennens (1700 oder 1701–1773). Weitere Oratorien von Händel, die Schleiermacher gekannt hat, sind: »Judas Maccabaeus« und »Samson« und »Joshua«. S. 255 Dennoch hat sich . . . uns. ] Eine Harmonielehre aufgrund der Unterscheidung der Tongeschlechter Dur und Moll und der entsprechenden Systematik von Tonleitern und Akkorden gibt es erst seit dem 17. Jh. In der griechischen Antike gab es eine Musiktheorie (das sog. systema teleion, auf dem die Kirchentonarten des Mittelalters weitgehend aufbauen), in der der sog. Tetrachord (bei dem vier Töne im Intervall einer Quarte zusammenklingen) ein grundlegendes Element ist.

Anmerkungen des Herausgebers 156 157

158

159

160

527

S. 261 Bratsche, Cello und ] Vgl. ÄLo, S. 399. S. 263 Aber die Differenz . . . nennt. ] Schleiermacher hält offenbar an seiner grundlegenden Unterscheidung von religiösem und geselligem Stil fest, wonach der Kirchenstil dem religiösen und der Kammerstil dem geselligen Stil angehört. Vgl. Anm. 96. S. 263 Als höchsten Gegensaz . . . zurück. ] A. W. Schlegel etwa formulierte in seinen Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801–1802): »Wenn wir nun in Ansehung dieser Hauptbestandteile die Musik der Alten und Neueren vergleichen, so finden wir daß in jener der rhythmische in dieser der harmonische Theil bey weitem complicirter ist und in dem ganzen vorwaltet.« Vgl. KAV, Bd. 1, S. 368. S. 264 Bleiben wir nun . . . Mannigfaltigkeit. ] Platons musiktheoretische Ansichten gehen weitgehend aus der pythagoreischen Zahlentheorie hervor, sie finden sich etwa in den Dialogen Timaios, Politeia und Nomoi. Er wandte sich gegen das Aufweichen der Systematik der Notenlehre durch individuelle (chromatische) Verschiebungen und Verzierungen, insofern diese nur auf den sinnlichen Genuß abzielen würden. Schleiermacher spielt hier wohl auf diese ethische Bewertung der Tonleitern an, die sich in der Politeia etwa wie folgt findet: »Welches sind nun die klagenden Tonarten? Sage du es mir, denn du bist ja ein Tonkünstler! – Die vermischtlydische, die hochlydische und einige ähnliche. – Diese also sind auszuschließen; denn sie sind Weibern nichts nütze, die tüchtig werden sollen, geschweige Männern. – Freilich. – Aber Trunkenheit ist doch für Wehrmänner das Unziemlichste, und Weichheit und Faulheit. – Gewiß. – Welche Tonarten sind also weiche und bei Gastmahlen üblich? – Ionische, sprach er, und lydische werden schlaff genannt. – Wirst du also diese, Lieber, für kriegerische Männer wohl irgend brauchen können? – Keineswegs, sagte er, und also scheint dir nur dorisch und phrygisch übrigzubleiben.« (III 398c–399a) Vgl. Musik in der antiken Philosophie. Eine Einführung, hg. v. Stefan Lorenz Sorgner und Michael Schramm, Würzburg 2010, S. 43. S. 268 die Melodie „o . . . zart.“ ] Schleiermacher rekurriert hier auf das Kirchenlied »O Haupt voll Blut und Wunden«, das in seiner

528

161

162 163 164

165 166

Anmerkungen des Herausgebers

geistlichen Form auf Paul Gerhardt (1607–1676) und Johann Crüger (1598–1662) zurückgeht, dessen Melodie eine Vereinfachung des Liebesliedes »Mein G’müt ist mir verwirret, das macht ein Jungfrau zart« (1601) von Hans Leo Haßler (1564–1612) ist. S. 268 die Melodie von . . . mein?“ ] Schleiermacher meint hier wohl zunächst das geistliche Choral »Wie schön leuchtet der Morgenstern« von Philipp Nicolai (1597), das im 17. Jh. parodistische Umschreibungen erfuhr, von denen eine »Wie schön leuchten die Äugelein« heißt, das wohl eine Variante des von Schleiermacher als Ursprung des ersteren erwogenen »Wie leuchten doch die Äuglein der allerliebsten Jungfrau mein« ist. Karl von Meusebach, ein späterer Herausgeber einer Liedersammlung des 17. Jh., die dieses parodistische Lied enthält, vertritt dieselbe Ansicht wie Schleiermacher, dass das geistliche Choral ursprünglich auf das weltliche Liebeslied zurückgeht, das demnach auch die Vorlage für die parodistische Variante war. Vgl. Tugendhaffter Jungfrauen und Jungengesellen Zeit-Vertreiber. Ein weltliches Lieder-Büchlein des XVII. Jahrhunderts, mit Nachweisungen der Quellen von Karl Hartwig Gregor Freiherr von Meusebach, Köln 1890, S. 22. S. 269 Elemente ] Vgl. ÄLo, S. 412. S. 272 Wir sahen die . . . gehörend. ] Vgl. Anm. 125. S. 275 Tiek hat das . . . Bogen ] Schleiermacher spielt offenbar auf den Auftritt der »Geige« in Ludwig Tiecks (1773–1853) Lustspiel Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Geschmack (1799) an, worin eine Geige gegen den sie zupfenden Spieler aufbegehrt: »Er reißt mir noch die melodische Zunge aus / Lange werd’ ich liegen müssen und mich besinnen / Eh’ ich diesen Schrecken verwinden kann. / Ei so kneif, du kneifender Satan! / Es wird ihm selber sauer, / Es neigt zu Ende mit der verfluchten Sonate, / Ach weh! o weh’ o welche Gefühle! / Die Ribben, die Seiten, der Rücken, / Alles wie zerschlagen!« Ludwig Tiek, Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Geschmack, gewissermaßen eine Fortsetzung des gestiefelten Katers. Ein Spiel in sechs Aufzügen, in: ders., Schriften, 10. Bd., Berlin 1828, S. 289 (SB: 2594). S. 276 pro lubitu ] Vgl. Anm. 135. S. 279 merkwürdige ] Vgl. ÄLo, S. 427.

Anmerkungen des Herausgebers 167

168 169

170 171

172 173

529

S. 280 denn wo sie . . . Volksgesang. ] Musik wurde in der griechischen Antike vor allem bei den großen kultischen Festspielen aufgeführt (olympische, pythische, nemeische und isthmische Spiele); insb. die pythischen Spiele (Pythien) waren auf musikalische Aufführungen konzentriert, zu Ehren des Apollon zu Delphi. Von der pädagogischen Bedeutung der Musik, auf die Schleiermacher hier anspielt, handelt etwa Platon in der Politeia: »Beruht nun nicht eben deshalb, o Glaukon, sagte ich, das Wichtigste in der Erziehung auf der Musik, weil Zeitmaß und Wohlklang am meisten in das Innere der Seele eindringen und sich ihr auf das kräftigste einprägen, indem sie Wohlanständigkeit mit sich führen und also auch wohlanständig machen, wenn einer richtig erzogen wird, wenn aber nicht, dann das Gegenteil?« (III 401d–401e). Vgl. Anm. 159. S. 280 Reformationszeit das Leben . . . Reformation ] Vgl. Anm. 87. S. 281 Das nannte man . . . präexistierten. ] Schleiermacher spielt hier wohl auf die Leibniz-Wolffsche Metaphysik der Seele an, die metaphysica specialis, insb. die rationale Psychologie und die sich auf sie berufende Ästhetik der Empfindsamkeit. Exemplarisch für eine bereits resümierende Fassung dieser Forschungsrichtung ist etwa Moses Mendelssohns Phädon oder Über die Unsterblichkeit der Seele (Berlin 1767), in der Mendelssohn Platons Lehre der Anamnesis (vgl. Phaidon) in Anlehnung an die Terminologie der LeibnizWolffschen Schulphilosophie reformuliert. S. 281 Architectur ist Gegenstand . . . nicht. ] Vgl. Anm. 36. S. 282 Crystallisation und Zerklüftungen . . . umgekehrt, ] Schleiermacher spielt hier auf die in der Naturphilosophie der Goethezeit populäre Theorie der Kristallisation an, die aufgrund der Fortschritte im Bergbau und der sich herausbildenden Chemie als Wissenschaft konkretisiert werden konnte. Vertreten wird diese Theorie u. a. durch Schleiermachers Freund, den Naturphilosophen und -wissenschaftler, Henrich Steffens (1773–1845), der in Kopenhagen und Freiberg u. a. Mineralogie (damals »Oryktognosie«) studierte, etwa in seinen Beyträgen zur innern Naturgeschichte der Erde (1. Theil, Freiberg 1801) (vgl. SB: 1889). S. 284 Nehmen wir sie . . . Kunst. ] Vgl. Anm. 36. S. 285 Egyptische Pyramide ] Mit Napoleons Ägyptenfeldzug

530

Anmerkungen des Herausgebers

(1798–1801) begann die moderne wissenschaftliche Erforschung der Pyramiden von Gizeh, auf die Schleiermacher hier wohl anspielt. 174 S. 286 Gesellschaften ] Vgl. ÄLo, S. 438. 175 S. 287 z. B. in London . . . macht ] Nach dem Sieg bei der Schlacht von Trafalgar 1805 und mit der beginnenden Industrialisierung entwickelte sich England und dessen Hauptstadt London zu einer führenden Metropole in Europa, was auch auf den Wohnbau Auswirkungen hatte, in dem – vom Holländischen Wohnhaus inspiriert – zunehmend zu funktionalen Lösungen gegriffen wurde und viele Reihenhäuser mit einfachen Fassaden hergestellt wurden, worauf Schleiermacher hier möglicherweise anspielt. Vgl. das Kapitel »Englischer Wohnbau«, in: Steen Eiler Rasmussen, London. The Unique City: Die Geschichte einer Weltstadt. Aus dem Englischen von Ulrike Franke und Torsten Lockl, Berlin Basel 2013, S. 177–242. 176 S. 288 unser Museum könnte . . . ansehen ] Das Alte Museum auf der Spreeinsel in Berlin Mitte wurde von Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) im Stil des Klassizismus entworfen, zwischen 1825– 1828 gegenüber vom Berliner Stadtschloss erbaut und 1830 seiner Bestimmung übergeben. Die am Fries der Frontseite deutlich sichtbar angebrachte Inschrift lautet: » FRIDERICVS GVILHELMVS III. STVD I O A N T I Q V I TAT I S O M N I G E N A E E T A RT I V M L I B E R A L I V M MV S E VM CONS TI T V I T M DC C C X X V I I I «.

S. 290 Alle organischen und . . . Symmetrie. ] Es muss sinngemäß wohl umgekehrt heißen: Im Übergang aus dem flüssigen in den starren Zustand (bzw. beim Abkühlen) bilden sowohl organische als auch anorganische Gestalten symmetrische Formen aus. Schleiermacher dürfte hierbei an die ihm u. a. durch seinen Hallenser Kollegen und Freund Henrich Steffens bekannte Theorie der Kristallisation denken. Vgl. Anm. 171. 178 S. 292 Antwerpener Dom ] Gemeint ist offenbar die Liebfrauenkathedrale von Antwerpen, ein siebenschiffiger Kirchenbau mit Querhaus und Umgangschor, dessen Bauteile im Stil der Gotik und Spätgotik gestaltet wurden. 179 S. 292 bei unsrem Theater ] Das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin wurde 1821 als »Königliches Schauspielhaus« eröffnet. Es ist ein klassizistischer Bau mit weitläufigem Eingangsportal, 177

Anmerkungen des Herausgebers

180

181

182 183

184 185

186

531

der von Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) entworfen und auf den Grundmauern des abgebrannten Vorbaus errichtet wurde. S. 295 Capitel von den . . . ansah ] Wohl in Anlehnung an griechische Autoren beschreibt Vitruv erstmals und für spätere Baumeister maßgeblich die grundlegenden Säulenordnungen der antiken Tempel. Vgl. Marcus Vitruvius Pollio, De architectura libri decem, edidit Friedrich Krohn, Lipsia MCMXII (dt. etwa: ders., Baukunst, aus der römischen Urschrift übersetzt v. August Rode, 1. Bd., Leipzig 1796); vgl. Anm. 36. S. 296 Dasselbe ist der . . . entgegengesezt; ] Die dorische Tonleiter ist ebenso wie die ionische (bzw. hypolydische) Bestandteil des altgriechischen Musiksystems (systema teleion). Die dorische Tonleiter galt am geeignetsten für das Singen und Musizieren, während die ionische Tonleiter dafür als ungeeignet galt. Platon zählt in der Politeia die ionische Tonleiter zu den ethisch bedenklichen und die dorische zu den ethisch unbedenklichen. Vgl. Anm. 159, 167. S. 296 so daß das . . . Musik ] Vgl. Anm. 65. S. 296 die Verzierungen. ] In J. G. Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste findet sich unter der Rubrik »Verzierungen« die folgende Beschreibung: »In der Baukunst sind die Statuen, Vasen, Laubund anderes Schnitzwerk, womit wesentliche Theile des Gebäudes geschmückt werden.« Vgl. J. G. Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 4, Leipzig 1794 (2. Auflage), S. 678. Vgl. Anm. 36. S. 297 Unterschied zwischen religiösem . . . Styl ] Vgl. Anm. 96. S. 298 Cultur des Bodens . . . macht, ] Als Pionier der synthetischen Entwicklung von Düngemitteln gilt der Chemiker Justus von Liebig (1803–1873), der nachweisen konnte, dass anorganische Stoffe wie Stickstoff, Phosphat oder Kalium auf bestimmte Pflanzen wachstumsfördernd wirken, deren Anreicherung im Boden die Äcker schneller regenerieren sollte. Weil Schleiermacher diese Entwicklung wohl nur in Ansätzen miterlebt haben dürfte, ist hier zunächst an die landwirtschaftliche Bodenbearbeitung, -pflege und -bewässerung zu denken. S. 301 abentheuerliche Idole wie . . . Maaßstab ] Schleiermacher spielt wohl auf Kolossalstatuen an, die schon im Altertum verbreitet waren und häufig dem Zweck dienten, Gottes- oder Herrschervor-

532

187

188

189 190

191 192

Anmerkungen des Herausgebers

stellungen materiell zu repräsentieren. In der fünften Vorlesung der Geschichte der alten und neuen Literatur von Friedrich Schlegel geht dieser u. a. auf die indischen Denkmale des Altertums ein: »Das hohe Altertum der indischen Mythologie wird im ganzen durch die alten Denkmale der indischen Baukunst bewiesen. Diese Denkmale sind in ihrer Riesengröße und ihrer ganzen Beschaffenheit den ägyptischen am meisten ähnlich, und wir können nicht wohl umhin, ihnen nach aller Wahrscheinlichkeit auch ein eben so hohes Altertum beizulegen«. Gedacht werden könnte hierbei etwa an die kolossalen BuddhaStatuen in Burma oder auf Ceylon oder ferner an die Moai auf den Osterinseln. Vgl. KFSA 1. Abt., Bd. 6, hg. v. Hans Eichner, München Paderborn Wien 1961, S. 117. S. 302 dem eigentlichen ναος ] »Naos« (altgr., ναος, Tempel) bezeichnet den Kernbau eines Tempels insb. beim antiken Peripteros, der umringt wird von je nach Stilart verschieden gestalteten Säulenreihen. Der Naos besteht in der Regel aus einer Cella, einer Vorhalle (Pronaos) und einem Adyton (einem für die Priester vorbehaltenen Raum). S. 304 kriegerische Verzierungen ein Zeughaus. ] Schleiermacher kannte sicherlich das Berliner Zeughaus Unter den Linden, das als Waffenarsenal erbaut (übergeben 1729) wurde und vielfältige Verzierungen aufweist, die auf den Zweck des Gebäudes hinweisen, wie etwa Prunkhelme, Köpfe von sterbenden Kriegern sowie zahlreiche Schlussstein-Skulpturen (Löwen, Adler u. a.). S. 304 Unser Museum ] Vgl. Anm. 176. S. 306 unser Schloß ] Das Berliner Schloss war zunächst das Residenzschloss der Hohenzollern. Es wurde 1442 im Auftrag der Markgrafen und Kurfürsten von Brandenburg auf der Spreeinsel in Berlin Mitte (damals Alt-Cölln) aufgebaut und nach barocken Erweiterungen ab 1702 zur königlich-preußischen Residenz. Die Kuppel wurde erst in den Jahren 1845 bis 1853 ergänzt, nach einem durch Karl Friedrich Schinkel bearbeiteten Entwurf von Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861). S. 309 Das ist nun . . . Existenz ] Vgl. Anm. 33, 41. S. 310 unsre königliche Bibliothek, . . . unverständlich. ] Die Königliche Bibliothek am Bebelplatz in Berlin wurde von 1775 bis 1780

Anmerkungen des Herausgebers

533

an der Westseite des damaligen Platzes am Opernhaus errichtet. Sie wurde im Auftrag von Friedrich II. von Preußen (1712–1786) durch Michael Philipp Boumann (1747–1803) und Georg Christian Unger (1743–1799) im Stil des Barock entworfen. Die dreistöckige Gebäudefront besitzt eine breite, nach innen gewölbte Fassade, die durch drei Eingangsportale gegliedert ist. 193 S. 311 Sonderbar ist es . . . erklären ] Im architektonischen Werk von Karl Friedrich Schinkel finden sich neben den überwiegend klassizistischen Bauten einige, welche die gotische Formensprache aufnehmen. In seinen frühen Jahren bringt er beide Stilrichtungen in ein konträres Verhältnis: »Die Verzierung der Goten dient einer frei wirkenden Idee, die der Antike einem Erfahrungsbegriff. Beide wollen charakterisieren, aber die eine charakterisiert nur die auf eine psychische Nützlichkeit gehende Zweckmäßigkeit, die andere hat den Zweck, eine freie Idee zu charakterisieren.« Aus den Bestrebungen die gotische Formensprache zu aktualisieren, ging der neugotische Stil sowie der Historismus und Eklektizismus im zweiten Drittel des 19. Jh. hervor. Exemplarisch für den neugotischen Stil ist die Friedrichswerdersche Kirche in Berlin, die nach Plänen von Schinkel zwischen 1824 und 1831 errichtet wurde. Friedrich Schlegel reflektiert in seinen »Briefen auf einer Reise« während seines Aufenthalts in Köln (wohl 1804) über den gotischen Baustil: »Das Wesen der gotischen Baukunst besteht also in der naturähnlichen Fülle und Unendlichkeit der innern Gestaltung und äußern blumenreichen Verzierungen«. Und er differenziert in Bezug auf den noch unvollendeten Kölner Dom die gotische Baukunst: »Es ist schon bemerkt worden, daß es zwei durchaus verschiedene Epochen in der gotischen Baukunst gebe: eine ältere, welche man wegen einiger Ähnlichkeit mit der konstantinisch-byzantinischen christlichen Bauart die gräzisierende nennen könnte; dann die vollendete spätere, ungleich künstlichere, eigentlich deutsche, von welcher bei der Beschreibung des Doms die Rede war.« Vgl. Goerd Peschken, »Karl Friedrich Schinkel – Lebenswerk«, in: Das architektonische Lehrbuch, Bd. 12, Berlin 1979, S. 36. Klaus Jan Philipp, Um 1800: Architekturtheorie und Architekturkritik in Deutschland zwischen 1790 und 1810, Stuttgart 1997, S. 70–75. Friedrich Schlegel, »Briefe

534

194

195

196

197

Anmerkungen des Herausgebers

auf einer Reise«, in: ders., Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, hg. v. Hans Eichner, KFSA, 1. Abt., Bd. 4, München Paderborn Wien 1959, S. 179 f. S. 311 Von Geschäftsseite der . . . würde. ] In dem ersten ÄsthetikEntwurf von 1819 ist die schöne Gartenkunst nur am Rande erwähnt und im Rahmen der Architektur behandelt. Schleiermacher hat sie offenbar erst in seinem Kolleg 1832/33 als selbstständige Kunstform betrachtet. Bereits in J. G. Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste heißt es zur »Gartenkunst«: »Diese Kunst hat eben so viel Recht als die Baukunst, ihren Rang unter den schönen Künsten zu nehmen. Sie stammt unmittelbar von der Natur ab, die selbst die vollkommenste Gärnerin ist.« Vgl. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 2, Leipzig 1792 (2. Auflage), S. 297. S. 312 die Gestalt ] Der Satz bricht unvollendet ab. In der Edition Lommatzsch findet sich ergänzend die folgende Sentenz: ». . .dies ist die Ursache, warum die Alten schon bei ihren Baumpflanzungen überall die Form des Quincunx vorgezogen haben«. »Quincunx« bedeutet »fünf Punkte«, d. h. eine Anordnung von fünf Punkten, wie sie etwa bei Spielwürfeln vorkommt. Vgl. ÄLo, S. 478. S. 314 Holländischen Gärten ] Der holländische Barockgarten ist dafür bekannt, in streng geometrischen und kleinteiligen Formen angelegt und mit üppigem Schmuck versehen zu werden, womit bei seiner Anlage weniger auf Fernwirkung abgezielt wird, im Gegensatz zu französischen Barockgärten, die weite Wasser- und Rasenflächen aufweisen können. S. 315 Pfaueninsel ist als . . . gebracht ] Der englische Landschaftsgartenstil verbreitete sich in deutschen Parks und Landschaftsgärten im 18. Jh. Exemplarisch sind etwa der von Goethe mit gestaltete Park an der Ilm in Weimar oder die Gärten, die Peter Joseph Lenné (1789– 1866), preußischer General-Gartendirektor, mit seinen Gehilfen etwa bei Sanssouci in Potsdam oder in Berlin und Umgebung entstehen ließ. Die Pfaueninsel befindet sich in der Havel zwischen Berlin und Potsdam und wurde zunächst von Friedrich Wilhelm II. (1744–1797) kultiviert, der die Insel 1793 erwarb. Sein Sohn Friedrich Wilhem III. (1770–1840) baute die Pfaueninsel aus, veranlasste die Umgestaltung der Parkanlagen durch Lenné 1821 und ließ eine Menagerie

Anmerkungen des Herausgebers

198

199

200

201

535

einrichten, in der einige exotische Tiere gehalten wurden, die den Grundstock für den 1844 eröffneten Zoologischen Garten von Berlin bildeten. S. 317 Thiergarten, den Prater ] Der Große Tiergarten in Berlin wurde in der Regierungszeit von Friedrich I. (1657–1713) in seiner bis heute grundlegenden Struktur westlich vom Pariser Platz angelegt. Zunächst als Jagdgebiet verwendet, wurde der Tiergarten 1742 unter Friedrich II. (1712–1786) als Lustpark für die Bevölkerung geöffnet. S. 317 Schloß Bellevue ] Nördlich an den Großen Tiergarten angrenzend und am südlichen Ufer der Spree gelegen, steht das Berliner Schloss Bellevue, das im Auftrag des jüngsten Bruders von Friedrich II., Ferdinand von Preußen (1739–1813), errichtet wurde. Das in drei Flügeln angelegte Gebäude wurde nach dem Entwurf von Michael Philipp Boumann (1747–1803) im Stil des Frühklassizissmus von 1785 bis 1786 erbaut. S. 318 Man stellte sc. . . . läßt. ] Hiermit distanziert sich Schleiermacher von der bereits von A. W. Schlegel diskutierten Aufteilung der Künste in zeitliche (sukzessive) und räumliche (simultane). Schlegel schreibt in seinen Berliner Vorlesungen über die Kunstlehre (1801– 1802): »Nun giebt es aber zwey Formen der sinnlichen Anschauung, Raum und Zeit. Darnach lassen sich zwey Gattungen von Künsten denken, solche die simultan und die successiv darstellen. [. . .] So wie der Raum die Form der äußern Anschauung so ist es die Zeit für den innern Sinn, dessen Gegenstand alles wird, was wir auf unsern Zustand beziehen: das eigentlich Zeiterfüllende ist die Empfindung.« (KAV, Bd. 1, S. 266). Diese Einteilung unterstellt Schlegel jedoch der übergeordneten – auf Kants Konzeption der inneren Zweckmäßigkeit bezogenen – Unterscheidung von mechanischen (nützlichen) und freien (schönen) Künsten (vgl. KAV, Bd. 1, S. 273 f.). Zunächst hatte wohl Herder in den Kritischen Wäldern die Einteilung in sukzessive und simultane Künste in Bezug auf Kants transzendentale Ästhetik ins Spiel gebracht. Vgl. Julia Burbulla, Kunstgeschichte nach dem Spatial Turn: Eine Wiederentdeckung mit Kant, Panofsky und Dorner, Bielefeld 2015, S. 124–126. S. 320 Coloß zu Rhodos ] Der Koloss von Rhodos war eine monumentale Bronzestatue des Sonnengottes Helios, die ca. 292 v. Chr. in

536

202

203

204

205

206

207 208

Anmerkungen des Herausgebers

der Hafenstadt Rhodos fertiggestellt wurde und mit ihren 30 Metern Höhe bereits in der Antike zu den sieben Weltwundern zählte. S. 320 3. Malerei ] Überschrift fehlt im Manuskript von Schweizer. Der Übergang von der schönen Gartenkunst zur Malerei beginnt mit der Besprechung des Maßstabs eines Kunstwerks, geht über zur Diskussion der Täuschung durch Kunst resp. der Dekorationsmalerei und führt zur Problematik der Perspektive in der Malerei, um daraufhin grundlegende Kategorien derselben zu untersuchen. Das von Schweizer gekennzeichnete Kapitel über die Malerei beginnt daher bereits mit der Bestimmung des »Umfangs« der Malerei (vgl. S. 331). Vgl. Anm. 43. S. 322 Vor kurzem wollte . . . machte. ] Vgl. ÄLo, S. 494: »In England trat der Fall ein, daß ein Künstler in die Academie der Künste sollte aufgenommen werden, aber nur unter der Bedingung, daß er nicht mehr ein Diorama verfertigte, so sehr war man davon durchdrungen, daß dies nicht in das Gebiet der Kunst gehöre«. Vermutlich ist hier die Royal Academy of Arts in Londen gemeint, die 1768 von George III. Wilhelm Friedrich (1738–1820) gegründet wurde. S. 326 Flachmannsche Umrisse zum Homer ] Die klassizistischen Umrisszeichnungen zu Homers Odyssee von dem britischen Bildhauer John Flaxman (1755–1826) bewirkten seinen Ruhm und wurden stilbildend für Illustrationen anderer literarischer Werke. S. 327 große Frage, ob . . . nicht. ] Diese Frage beschäftigte bereits A. W. Schlegel in seinen Berliner Vorlesungen über die Kunstlehre (1801–1802): »Manche haben es [das Portrait] gar vom Gebiete der Kunst ausschließen wollen, weil es ja eine bestimmte Wirklichkeit nachahme. Das ist gerade so, als ob man die Sonette und Canzonen des Petrarca nicht für Poesie wollte gelten lassen«. (KAV, Bd. 1, S. 346). S. 327 Betrachten wir die . . . sei ] hierzu und zum Folgenden vgl. Anm. 144. S. 328 z. B. die Arabesken . . . entsprechen. ] Vgl. Anm. 112. S. 328 Noch eine andre . . . Wirklichkeit. ] Ein Vorbild vieler bildlicher Darstellungen der Hölle ist der rechte Flügel des berühmten Triptychons »Der Garten der Lüste« (um 1500, Museum del Prado, Madrid) von Hieronymus Bosch (1450–1516). Ähnliche Gemälde

Anmerkungen des Herausgebers

209 210

211

212

537

wurden dem Maler Pieter Brueghel dem Jüngeren (1564–1638) zugeordnet, der deswegen den Beinamen »Höllen-Breughel« erhielt, allerdings werden diese Bilder heute zum Werk seines Bruders Jan Brueghel dem Älteren (1568–1625) gerechnet, z. B. das Gemälde »Der Triumph des Todes« (um 1562, Museum del Prado, Madrid). Schleiermacher hatte Kenntnis dieser Gemälde haben können durch Drucke und Abbildungen in Katalogen, Anthologien oder Zeitschriften. In der dritten Abhandlung von »Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf eine Theorie derselben« (1833) bezieht sich Schleiermacher ausdrücklich auf den sog. »Höllen-Breughel« (vgl. S. 487). S. 330 Die verschiednen Racen ] Vgl. Anm. 23. S. 331 Umfang der Mahlerei ] am rechten Rand. Schweizer unterlässt im Haupttext eine dezidierte Abgrenzung und Kennzeichnung des Kapitels über die »Malerei«. Lommatzsch schreibt an dieser Stelle: »3. Nähere Bestimmung der Malerei« (vgl. ÄLo, S. 508). Vgl. Anm. 202. S. 334 Mahler nun wie . . . sein. ] Gemeint ist offenbar der italienische Renaissancemaler Benvenuto Tisi Garofalo (1481—1559) aus Ferrara. Sein Ölgemälde »Triumph des Bacchus« (1540) befindet sich seit 1746 in der Dresdner Gemäldegalerie und dürfte Schleiermacher daher von Beschreibungen und eigenen Besuchen (etwa 1810) bekannt gewesen sein. Mit Garofalos Werken aus der heiligen Geschichte könnte Schleiermacher an die Gemälde »Verkündigung an Maria«, von dem sich eine Version seit 1815 in der Berliner Gemäldegalerie befindet, oder an die »Auferstehung Christi« u. ä., gedacht haben. S. 334 Auf unsrer lezten . . . Hübner ] Gemeint ist offenbar das Gemälde »Simson, die Säulen einreißend« des deutschen Malers Rudolf Julius Benno Hübner (1806–1882), das dieser 1832 für den Berliner Kunstverein produziert hat. Hübner wurde 1823 ein Schüler Wilhelm Schadows (1788–1862), dem er 1826 nach Düsseldorf folgte. Mit »unsrer lezten Ausstellung« spielt Schleiermacher offenbar auf die XXVII. Kunstausstellung der Königlichen Akademie der Künste in Berlin 1832 an, auf die er auch an anderer Stelle anspielt (vgl. Anm. 216, 219). Diese Ausstellung besuchte er häufiger (vgl. etwa den Tageskalender

538

213

214

215

216

Anmerkungen des Herausgebers

1826: 26. 9., 27. 9., 2. 10., 5. 10., 14. 10., 22. 10.). Im Ausstellungskatalog findet sich der Eintrag: »Rudolph Julius Benno Hübner, in Berlin, Mitglied der Academie. Kl. Wallstr. 11«, Nr. 289: »Simson«. Vgl. XXVII. Kunstausstellung der Königlichen Academie der Künste, Berlin 1832, Nr. 289, in: Die Kataloge der Berliner Akademie-Ausstellungen 1786–1850, Bd. 2, bearbeitet von Helmut Börsch-Supan, Berlin 1971. Vgl. F. Schleiermacher, Tageskalender 1826, erarbeitet von Christiane Hackel, in: Schleiermachers Tageskalender 1808–1834. Hg. Elisabeth Blumrich, Christiane Hackel, Wolfgang Virmond (http: //schleiermacher-in-berlin.bbaw.de/tageskalender/index.xql). S. 336 Bei einem Alexander ] Gemeint ist wohl bei einem Alexanderbildnis. S. 347 Das finden wir . . . Mahlerei ] Von Malern wie Guiseppe Cesari, Caravaggio, Rubens oder Raffael u. a. ist bekannt, dass sie Werkstätten gründeten, in denen Schüler und Gehilfen angestellt waren, die neben anderen Hilfsarbeiten auch für das Malen von Blumen, Früchten oder anderen Verzierungen zuständig waren und in einigen Fällen die Skizzen des Meisters im Stil des Meisters zu einem Gemälde vervollständigten, weshalb die Urheberschaft einiger derart entstandener Gemälde heute umstritten ist; z. B. die »Transfiguration« von Raffael (Pinakotek, Rom), an der er bis zu seinem Tod 1520 gearbeitet hat. S. 347 Z. B. Bilder von . . . Constantin ] Flavius Valerius Constantinus (zwischen 270 und 288 bis 337), späterer Gründer Konstantinopels, wurde auch Konstantin der Große oder Konstantin I. genannt und war von 306 bis 337 römischer Kaiser. Die von seinen Truppen gewonnene Schlacht an der Milvischen Brücke im Jahr 312 wurde zum Motiv zahlreicher Gemälde, Reliefs und Fresken. Berühmt ist etwa das Fresko in der Sala di Costantino (fertiggestellt zwischen 1517–1524) im apostolischen Palast des Vatikan, das der Werkstatt von Raffael zugeschrieben wird. S. 348 Lessingsche Bild von Bürgers Lenore ] Das von dem Maler Carl Friedrich Lessing (1808–1880) entworfene Ölgemälde »Lenore« (1832) ist offenbar durch die Ballade »Lenore« (1774) des Dichters Gottfried August Bürger (1747–1794) inspiriert. König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) erwarb dieses Gemälde und ließ es im Berliner Schloss ausstellen. Inzwischen wird es als Kriegsverlust geführt,

Anmerkungen des Herausgebers

217 218

219

220

539

jedoch kursieren zahlreiche Drucke. Offenbar hat Schleiermacher das Gemälde bei der Ausstellung der Berliner Akademie der Künste von 1832 gesehen, in dem Katalog heißt es: »Carl Friedrich Lessing, aus Wartenberg, jezt in Düsseldorf, Mitgl. d. Akad.«, Nr. 407: »Leonore nach Bürger, eigene Composition. Gehört dem Düsseldorfer Kunstverein.« Vgl. XXVII. Kunstausstellung der Königlichen Academie der Künste, Berlin 1832, Nr. 407, in: Die Kataloge der Berliner Akademie-Ausstellungen 1786–1850, Bd. 2, bearbeitet von Helmut Börsch-Supan, Berlin 1971. Zerstört, entführt, verschollen. Die Verluste der preußischen Schlösser im Zweiten Weltkrieg, hg. von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Potsdam 2004, S. 297. S. 350 im grünen Gewölbe . . . Gesichtern ] Vgl. Anm. 32. S. 351 geschnittnen Steine ] Gemeint sind offenbar Gemmen. Unter diesen werden geschnittene Schmucksteine verstanden, die (vorwiegend aus Quarzgestein) bereits im alten Ägypten hergestellt wurden. Unterschieden werden Gemmen nach der Art, wie das Motiv herausgearbeitet wird, ob es in die Steinoberfläche eingraviert, oder reliefartig gegen den Hintergrund abgehoben wird (dann auch Kamee genannt). S. 352 Darstellungen der Juden . . . Beispiel. ] Schleiermacher spielt hier auf das Gemälde »Trauernde Juden im Exil« des Düsseldorfer Malers Eduard Bendemann (1811–1889) an, das die Periode des babylonischen Exils der jüdischen Geschichte thematisiert (ca. 597 – 539 v. Chr.). Bendemann, ein Schüler von Wilhelm von Schadow (1788–1862), feierte mit diesem Gemälde auf der 27. Kunstausstellung in Berlin 1832 sein Debüt. Im Ausstellungskatalog ist vermerkt: »Eduard Bendemann, aus Berlin, in Düsseldorf«, Nr. 41: »Gefangene Juden in Babylon nach dem 137sten Psalm, eigne Erfindung. Im Besitz des Düsseldorfer Kunstvereins«. Vgl. XXVII. Kunstausstellung der Königlichen Academie der Künste, Berlin 1832, Nr. 41, in: Die Kataloge der Berliner Akademie-Ausstellungen 1786–1850, Bd. 2, bearbeitet von Helmut Börsch-Supan, Berlin 1971. Vgl. Anm. 212, 216. S. 352 gewisse Stücke der Niederländischen Mahlerei ] Wohl eine Anspielung auf die altniederländische Malerei (ca. 1425 bis 1525), in

540

221

222

223 224

225

226

Anmerkungen des Herausgebers

der stoffliche Oberflächen besonders detailliert und Körper aufgrund genau beobachteter Lichteffekte sehr plastisch dargestellt wurden, was insbesondere durch die Weiterentwicklung der Ölmalerei durch Jan von Eyck (1390–1441) ermöglicht wurde. S. 354 Göthes Wort wahr . . . müsse.“ ] Goethe schreibt im ersten Band seiner Zeitschrift Ueber Kunst und Altertum in den Rhein und Mayn Gegenden (1816) in Bezug auf die byzantinische Kunst: »Die höchste Aufgabe der bildenden Kunst ist, einen bestimmten Raum zu verzieren oder eine Zierde in einen unbestimmten Raum zu setzen; aus dieser Forderung entspringt alles, was wir kunstgerechte Komposition heißen. Hierin waren die Griechen und nach ihnen die Römer große Meister.« Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, »Kunst und Altertum am Rhein und Main«, in: ders., Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 12, München 1994, S. 148 (SB: 2358). S. 354 In den Zeiten . . . vor. ] In Italien entwickelte sich das Genre Historienmalerei bereits in der Renaissance neben dem Porträt, der Landschaftsmalerei und dem Stillleben. Spuren ihrer theoretischen Behandlung finden sich beim italienischen Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti (1404–1472). In Deutschland erlebte insb. die Landschafts- und Historienmalerei zum Ende des 18. und mit Beginn des 19. Jh. einen Aufschwung. S. 356 richtige Auffaßung des Porträts. ] Vgl. Anm. 205. S. 358 Seit langer Zeit . . . nicht. ] Erfunden wurde der Kupferstich bereits im 15. Jahrhundert und erlebte seine Blütezeit im Barock. Paul Rubens (1577–1640) etwa beschäftigte Kupferstecher in seiner Werkstatt, um Kopien seiner Gemälde anfertigen und sie dann in Katalogen verbreiten zu lassen. S. 358 seitdem wir die Lithographie ] Als ältestes Flachdruckverfahren war die Lithographie im 19. Jh. das einzige Druckverfahren, das eine größere Auflage von Farbdrucken ermöglichte. S. 361 Wenn man Raphaels . . . Colorit. ] Raffael (1483–1520) und Antonio da Correggio (1489–1534) sind Maler zur Zeit der italienischen Hochrenaissance. Die »Madonna des heiligen Franziskus« (1514/15) von Correggio befindet sich seit 1746 in der Dresdner Gemäldegalerie »Alte Meister«, wo Schleiermacher sie (etwa 1810) gesehen haben dürfte. Zu Raffael vgl. Anm. 329.

Anmerkungen des Herausgebers 227

228

229

230 231

232

233

541

S. 372 Arion auf Delphin ] Gemeint ist der antike Sänger Arion von Lesbos (um 600 v. Chr.), der für seine Dithyramben gerühmt wurde. Nach einer Legende wurde er, nachdem er auf hoher See von Seeleuten bedroht ein letztes Lied mit seiner Leier spielte und ins Meer gesprungen war, von einem Delphin gerettet. A. W. Schlegel hat diese Legende in seiner Romanze »Arion« verarbeitet. Vgl. A. W. Schlegel, »Arion«, in: Musenalmanach für das Jahr 1798, hg. v. Friedrich Schiller, Tübingen 1798, S. 278–286. S. 372 Adler der den Ganymed aufhebt ] Ganymed ist eine Figur der griechischen Mythologie, als Sohn des Königs von Troja wird er vor allem für seine Schönheit bewundert. In einer Version des Mythos verwandelt sich Zeus in einen Adler und entführt den Hirtenknaben Ganymed vom Berg Ida in Phrygien auf den Olymp, damit er dort den Göttern diene. S. 373 z. B. haben wir schöne Cantelaber ] Ein Kandelaber (von frz. candélabre) ist ein Kerzenständer mit meist mehreren Armen. Berühmt geworden ist die »Menora«, ein siebenarmiger Kerzenständer, der im Jerusalemer Tempel des 5. Jh. v. Chr. gestanden haben soll. S. 373 die Haupteintheilung in . . . Portraits ] Vgl. Anm. 80. S. 373 alte Kunstgeschichte antwortet ] »Xoanon« (altgr. ξόαναν, für Geschnitztes) bezeichnet vor allem in archaischen Kulturen eine anthropomorph gestaltete Holzfigur, die eine mythische Gottheit repräsentiert. S. 374 mangelhaften Beschreibungen bei . . . Werken ] Der griechische Autor und Geograph Pausanias (mitunter auch Pausanias Periegetes genannt, ca. 115 – ca. 180) berichtet in seinen Reisebeschreibungen des antiken Attika die folgende Legende: »Denn als Seleukos mit Alexandros aus Makedonien aufbrach und in Pella dem Zeus opferte, setzte sich das auf dem Altar liegende Holz von selbst gegen das Gottesbild in Bewegung und entzündete sich ohne Feuer.« (Paus. 1, 16, 1) Vgl. Pausanias, De situ Graeciae libri X, hg. v. Immanuel Bekker, Bd. 1, Berlin 1826 (SB: 1442). Pausanias, Reisen in Griechenland. Gesamtausgabe in drei Bänden auf Grund der kommentierten Übersetzung v. Ernst Meyer, hg. v. Felix Eckstein, ZürichMünchen 1986. S. 376 Θειον ] Mit dem Begriff »Theion« (altgrch., Θειον) wurde

542

234

235 236

237

238

239

Anmerkungen des Herausgebers

schon in der griechischen Antike das Göttliche, die Gottheit oder das göttliche Wesen bezeichnet. S. 379 νίκη ist phantastische Gestaltung ] »Nike« (altgrch., νίκη, von νίκα, Sieg) ist in der antiken griechischen Mythologie die Göttin des Sieges, die in der bildenden Kunst zumeist mit Flügeln dargestellt wird. Als Skulptur ist berühmt die beflügelte »Nike von Samothrake« (um 190 v. Chr.), von der die ersten Fragmente 1863 im KabirenHeiligtum auf der Insel Samothrake gefunden worden sind, die dort zusammengesetzt und nach Paris gebracht wurden, wo die Skulptur im Louvre besichtigt werden kann. S. 379 ἀγάλματα ] Vgl. Anm. 80. S. 379 wie ein König . . . trage ] Gemeint ist hier offenbar, dass zwei verschiedene Mariendarstellungen, obgleich sie dieselbe Maria repräsentieren, als verschiedene Personen betrachtet werden. Ob Schleiermacher diese Anekdote aus einer literarischen oder historischen Quelle bezog, konnte nicht nachgewiesen werden. S. 382 Gruppen wie Amor . . . können ] Die mythische Liebesbeziehung zwischen Amor und Psyche ist in der Antike, der Renaissance und im Klassizismus ein beliebtes und verbreitetes Motiv nicht nur der Skulptur. Als solche wurden beide häufig als umschlungenes Paar dargestellt auf einer Basis ausgearbeitet, so etwa in der berühmten Ausführung von Antonio Canova (1757–1822) aus dem Jahr 1793 (Louvre, Paris). Ähnlich verhält es sich mit skulpturalen Darstellungen der zwei Dioskuren, den Söhnen des Zeus, Kastor und Polydeukes, die etwa in der berühmten antiken Ildefonso-Gruppe (Museo del Prado, Madrid) als ein Doppelstandbild ausgeführt wurden. Dieses wurde seit dem 17. Jh. vielfach kopiert; berühmt ist etwa der Ildefonso-Brunnen in Weimar, auch in Goethes Weimarer Wohnhaus sowie im Park Sanssouci bei Potsdam stehen Kopien. S. 382 Parze ] Die Parzen sind in der römischen Mythologie drei Schicksalsgöttinnen, sie entsprechen etwa den drei Moiren der griechischen Mythologie. S. 383 In unsrer Kunstsammlung . . . hieß. ] Friedrich II. (1712– 1786) war bekannt als Sammler antiker Skulpturen. Im Jahr 1742 übernahm er die Figuren der sog. Lykomedes-Gruppe aus dem Nachlass des französischen Kardinals Melchior de Polignac (1661–1741).

Anmerkungen des Herausgebers

543

Von dieser Gruppe hieß es, dass sich Achilles unter ihren Figuren befände und sie eine Szene aus Homers Odyssee darstellen würde, was sich bereits zu Schleiermachers Zeit als eine falsche Deutung herausgestellt hatte. Denn obwohl die Fundsituation nahe der Hadriansvilla bei Rom eine Zusammengehörigkeit der Figuren nahe legte, handelt es sich tatsächlich um eine Apollon-Statue und mehrere einzelne Frauenstatuen, offenbar Musen, die nicht motivisch zusammengehören. Nachdem zu Beginn des 19. Jh. der Irrtum aufgeklärt war, überließ Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) die Skulpturen der Antikensammlung im 1830 eröffneten Alten Museum in Berlin, wo Schleiermacher sie offenbar gesehen hat. 240 S. 384 Bei den Alten . . . Stoff ] Dass antike Bauten und Statuen farbig bemalt waren (die sog. antike Polychromie), ist seit dem 18. Jh. bekannt. Ein seltenes Beispiel einer Statue, bei der die Augenpartien nahezu unverändert erhalten sind, ist der Wagenlenker von Delphi (entstanden wohl zwischen 478 und 474 v. Chr.), der 1896 im Apollonheiligtum von Delphi gefunden wurde und als ein Weihgeschenk des Polyzalos von Gela gilt. Diese Statue im strengen Stil gehört zu den am besten erhaltenen Bronzestatuen der griechischen Klassik und weist farbige Glasflusseinlagen der Augen auf, durch die ein natürlicher Eindruck des Gesichts entsteht. 241 S. 384 Daher die Büsten . . . störend ] Die späthellenistische und römische Porträtplastik unterscheidet sich von der der griechischen Antike dadurch, dass sie in der Regel nicht mit der gesamten Figur zusammenhängend, sondern abgetrennt in Büstenform und weniger idealisiert herausgearbeitet wurde. Dadurch wurde ein additives Verfahren möglich: Köpfe konnten kopiert und auf verschiedenen Körpern bzw. Oberkörpern aufgesetzt werden, die aus anderem Material gearbeitet sein und verschiedene Typologien aufweisen konnten. So existieren etwa verschiedene Porträts von Epikur mit identischem Kopf: eines als Ganzkörperskulptur (Rekonstruktion in Göttingen), eines als Büste mit Umhang (Rom, Capitol), eines als schlichte Büste (Paris, Louvre). 242 S. 385 Ciseleur ] Ziseleur (frz. ciseleur von »ciseau«, Meißel) ist eine Bezeichnung für Metallarbeiter. Das Ziselieren ist eine Art der Bearbeitung, bei der das Metall nicht geschnitten, sondern mit Ham-

544

243

244 245

246

247

248 249

250

Anmerkungen des Herausgebers

mer, Punzen und Stichel modelliert wird, wodurch Verzierungen der Metalloberfläche (etwa Ornamente) hergestellt werden können. S. 386 Die alten Statuen . . . unterscheiden. ] Schleiermacher konnte die neueren archäologische Funde nicht kennen, die belegen, dass es zumindest bei einigen antiken griechischen Statuen auch Einfügungen im Augapfel gab, die die Pupille darstellen sollten. Vgl. dazu Anm. 240. S. 388 (Nicolovischen) ] Vgl. ÄLo, S. 601: »mythologischen«. S. 392 Schön aber hat . . . erweitert ] Wohl Anspielung auf die Ästhetik des 18. Jahrhunderts, in der die Schönheit auf den sinnlichen Eindruck, den Geschmack, die psychologische Wirkung und das Urteilsvermögen konzentriert wurde. Zu Kants Bestimmung des Schönen in der Kritik der Urteilskraft (1790/93) als einem reinen und interesselosen Wohlgefallen vgl. Anm. 14. S. 393 in allen verschiednen Racen cet. ] zur Rassentheorie um 1800 vgl. Anm. 23. S. 395 Blücher ] Gemeint ist offenbar Gebhard Leberecht von Blücher, Fürst von Wahlstatt (1742–1819), der als preußischer Generalfeldmarschall aufgrund seiner Erfolge in den Befreiungskriegen gegen Napoleon auch »Marschall Vorwärts« genannt wurde und Gegenstand zahlreicher Porträts und Historiengemälde wurde. S. 396 ἀγάλματα ] Vgl. Anm. 80. S. 397 Borussia und Germania ] Allegorische Personifikationen von Staaten wie Preußen (Borussia), Deutschland (Germania), Frankreich (Marianne) oder Griechenland (Hellas), die zumeist weiblich sind, kamen am Anfang des 19. Jh. mit der Entstehung der Nationalstaaten auf. Sie wurzeln offenbar in der bereits in der Antike bestehenden Tradition lokaler Schutzgottheiten (»genius loci«). Künstlerisch dargestellt wurden die Nationalallegorien vor allem auf Münzen oder Gemälden. S. 398 z. B. Gruppen wie . . . Museum ] Die Pferdebändiger auf den Dachecken der Rotunden des Alten Museums in Berlin wurden von seinem Architekten, Karl Friedrich Schinkel, entworfen und vom Bildhauer Christian Friedrich Tieck (1776–1851), dem jüngeren Bruder des Schriftstellers Johann Ludwig Tieck (1773–1853), ausgeführt. Die Pferdebändiger sind Dioskurendarstellungen, über drei Meter

Anmerkungen des Herausgebers

251 252

253

254 255

256

257

545

groß und in Eisen gegossen. Christian Tieck war für Schinkel auch am Königlichen Schauspielhaus in Berlin tätig, war u. a. mit A. W. Schlegel bekannt und produzierte zahlreiche Porträtbüsten, so etwa von Goethe und Schiller. S. 400 Göthe will, jedes . . . sein ] Vgl. Anm. 221. S. 401 z. B. Akanthus als . . . entspricht ] Akanthus-Blüten sind typisch für die Verzierung korinthischer Kapitelle, die neben den ionischen und dorischen zu den Grundtypen der antiken griechischen Säulenordnungen gehören. Verfeinerungen der Darstellung pflanzlicher Ornamentik lassen Schleiermacher auf die Arabeske in der Malerei zu sprechen kommen; vgl. dazu Anm. 111. S. 401 Man stritt, ob . . . Mahlerei ] In der Besprechung des Basreliefs als einem Mittelglied zwischen Malerei und Skulptur stellt A. W. Schlegel in seiner Berliner Vorlesung über die Kunstlehre (1801–1802) die Frage: »Wenn die Darstellung des Basreliefs nun auf so mancherley Weise unvollständig und eingeengt ist, könnte man fragen, warum soll man es denn überhaupt cultiviren?« Daraufhin spricht Schlegel vor allem dem antiken Relief zu, aufgrund seiner symbolischen Potenziale zur hohen Kunst zu gehören; er kannte auch die Werke von Christian Friedrich Tieck (vgl. Anm. 250). Vgl. KAV, Bd. 1, S. 299 f. S. 401 Camäen und der der Gemmen ] Vgl. Anm. 218. S. 406 die orientalische einstweilen beseitigt ] Gemeint ist wohl das vorübergehende Ausklammern der orientalischen Poesie, insofern in ihr – wie oben ausgeführt – keine Abspaltung von der Philosophie stattgefunden hat. S. 406 z. B. die historischen . . . bilden ] Zu den historischen Dramen Shakespeares zählen etwa König Johann (1595/96) und Heinrich VI. (3 Teile, 1589–92), das zusammen mit Richard III. (1592) zur sog. York-Tetralogie gezählt wird, die sog. Lancester-Tetralogie, welche die Dramen Richard II. (wohl 1595), Heinrich IV. (2 Teile, wohl 1597) und Heinrich V. (um 1599) umfasst sowie Heinrich VIII. (1612/13) (SB: 1830). Vgl. Anm. 90. S. 406 die Italienischen Stanzen ] Der poetologische Begriff der italienischen Stanze (ital. stanza) bezeichnet die bestimmte Versform eines Gedichts, sie wird gelegentlich auch Oktave (ital. ottava rima) genannt. Dabei besteht die Strophe aus acht jambischen Verszei-

546

Anmerkungen des Herausgebers

len mit jeweils elf Silben, wobei sich unbetonte und betonte Silben abwechseln und häufig das Reimschema »abababcc« Verwendung findet. 258 S. 410 Es gibt kein . . . erreicht. ] In Schleiermachers Ethik wird der Gegensatz zwischen individuellem Symbolisieren als Religion und Kunst und allgemeinem Symbolisieren als wissenschaftliches Erkennen und diskursives Sprechen systematisch begründet. Seine Theorie des philosophischen Wissens und logischen Denkens findet sich ausgeführt in seiner Dialektik. Vgl. KGA, Abt. II, Bd. 10/1 und 10/2, hg. v. Andreas Arndt. Vgl. Anm. 45. 259 S. 419 Pindars Poesie, etwa . . . Argonautenzuges. ] Der antike griechische Dichter Pindar (522 oder 518 – nach 446 v. Chr.) ist vor allem für seine Oden (Epinikia) berühmt. Diese sind Preislieder für die Sieger der verschiedenen panhellenischen Spiele (Agone) – dementsprechend gibt es olympische, pythische, nemeische und isthmische Oden von Pindar. Er erzählt in der 4. Pythischen Ode (461. v. Chr.) von dem Zug der Argonauten, der in der antiken Dichtung häufig thematisch war (Argonautika). Die pythischen Spiele (musische und athletische) wurden zu Ehren von Apollon bei seinem Heiligtum in Delphi abgehalten. Vgl. Pindar, Werke, griechisch/deutsch, ediert und übersetzt von Friedrich Thiersch, Bd. 1–2, Leipzig 1820 (SB: 1471). 260 S. 420 Sylbenmaßes ] »Silbenmaß« ist ein gegenwärtig eher selten verwendeter Begriff, er bezeichnet allgemein die Anordnung von Versen, ihrer Länge bzw. Kürze nach sowie bzgl. der betonten und unbetonten Silben. Als kleinster Teil eines Verses gilt der Versfuß, z. B. der Jambus oder der Trochäus, der zwei Bestandteile aufweist: die betonte und unbetonte Silbe. A. W. Schlegel formuliert im ersten Teil seiner Vorlesungen über die philosophische Kunstlehre in Jena (1798): »Die Grundlage des Silbenmaßes ist der Rhythmus (Gliedfolge). Der Rhythmus ist die Anordnung einer Reihe von Bewegungen in der Zeit, wodurch Verhältnisse unter denselben wahrgenommen werden können.« Und ein Paragraph später: »Eine einzelne Bewegung heißt in der Musik eine Note, in der Sprache eine Silbe. Eine Silbe besteht in einem einfachen oder zusammengesetzten Vokal, der entweder von Artikulationen, die vermittelst seiner Hilfe ausgesprochen werden, begleitet ist, oder nicht. Metrum ist das Ganze einer Reihe

Anmerkungen des Herausgebers

547

von Rhythmen, oder Rhythmik in der 2. Potenz.« Vgl. KAV, Bd. 1, S. 33 f. 261 S. 420 prosaischen Mythologen sind . . . nicht. ] Der antike griechische Dichter Hesiod lebte um 700 v. Chr. wohl in Böotien. Insbesondere sein episches Hauptwerk Theogonie zählt neben Homers Odyssee und Ilias zu den ältesten Quellen der griechischen Mythologie. Das in Hexametern verfasste Epos schildert die Entstehung der Welt und die Genealogie der Göttergeschlechter. Dagegen folgen die verschiedenen, meist in kompendiarischen Sammlungen überlieferten, nordischen Mythologien nur selten metrischen Regeln. Deren Überlieferung erfolgte zumeist durch eine nachträgliche Zusammenstellung mündlicher Überlieferungen in isländischer Sprache und wurde – mit dem Aufblühen der isländischen Schriftsprache im 12. Jh. – vor allem in erzählender Prosa verfasst. Dazu kommt, dass die Lieder und Gedichte etwa des Codex Regius der Lieder-Edda (um 1270), die metrisch gestaltet sind, weitaus kürzere Versmaße aufweisen, als die griechischen Epen mit dem Hexameter, weshalb auch ihre ausführliche Nacherzählung die Prosaform nahe legte. 262 S. 420 sogenannten Milesischen Fabeln . . . Prosa. ] »Milesische Fabel« ist eine heute eher selten verwendete Bezeichnung für antike Liebesfabeln. Gottsched nennt die »milesische Fabel« in seinem Versuch einer critischen Dichtkunst (1730) auch »verliebte Fabel«, in der es dem Verfasser primär um die Liebe und das Lesevergnügen gänge. Er führt sie auf die erotischen Geschichten des hellenistischen Schriftstellers Aristeides von Milet (um 100 v. Chr.) zurück, die mitunter auch als Beginn des (griechischen) Romans betrachtet werden. Ferner erwähnt Gottsched die Metamorphosen des antiken Schriftstellers Apuleius (123 – wohl nach 170), in denen sich etwa die Geschichte von Amor und Psyche in prosaischer Form wiederfindet. Vgl. Johann Christoph Gottsched, Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen, Leipzig 1751 (4. sehr vermehrte Auflage, darin: »Von milesischen Fabeln, Ritterbüchern und Romanen«, S. 505–529, 505 ff.). Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke, hg. v. Joachim Birke und P. M. Mitchell, 12 Bde. (Bd. 6,2), Berlin / New York, 1968–1987. 263 S. 420 Romanlitteratur, die moderne Idylle ] Die poetologische Gattung der Idylle erlebte in der deutschen Literatur des 18. Jh. eine

548

Anmerkungen des Herausgebers

Blütezeit und geht wohl zurück auf den antiken Dichter Theokrit (um 270 v. Chr.). Eine ironische Wendung erfuhr die das ländliche und soziale Leben thematisierende Idylle mit Friedrich Schlegels »Idylle über den Müßiggang« in seinem Roman Lucinde (Berlin 1799). Im 238. Athenäumsfragment skizziert Schlegel die Idylle schließlich als eine Vollendungsweise der Transzendentalpoesie: »Es gibt eine Poesie, deren eins und alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzendentalpoesie heißen müßte. Sie beginnt als Satire mit der absoluten Verschiedenheit des Idealen und Realen, schwebt als Elegie in der Mitte, und endigt als Idylle mit der absoluten Identität beider.« Vgl. Friedrich Schlegel, Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), KFSA, Abt. 1, Bd. 2, hg. v. Hans Eichner, München Paderborn Wien 1967, S. 204. Zum Roman vgl. Anm. 81. 264 S. 421 In moderner Litteratur . . . Klopstock ] Gemeint sind offenbar Gedichte, die ohne die Wiederkehr eines bestimmten Reimschemas gestaltet sind. Solche finden sich in der Tat bei Schiller, Goethe und Klopstock. Welche Schleiermacher hierbei genau meint, ist ungewiss, er besaß jedoch von allen drei Autoren Bücher in seiner Bibliothek. Bei Friedrich Gottlieb Kloppstock (1724–1803) könnte an die Oden (Hamburg 1771) gedacht werden, bei denen er sich reimloser Strophenformen bediente; auch Goethes Gedicht Prometheus (1774) kommt ohne ein streng metrisches Reim- und Strophenschema aus. 265 S. 421 so war hier . . . Musik ] Ähnlich urteilt A. W. Schlegel im ersten Teil seiner Vorlesungen über die philosophische Kunstlehre in Jena (1798), wenngleich im Hinblick auf eine Naturgeschichte der Kunst, in der die Poesie (und mit ihr die Sprache) den Anfang machen müsse: »Da die Kunst der Töne und Gebärden als natürliche Musik und Mimik anfänglich von der Poesie unzertrennlich war und diese den Mittelpunkt ihrer Vereinigung ausmacht, so muß die Naturgeschichte der Kunst von der Poesie ausgehen.« Vgl. KAV, Bd. 1, S. 5. 266 S. 423 Arsis und Thesis ] Arsis und Thesis sind Begriffe aus der altgriechischen Metrik und bezeichnen die hebenden bzw. kurzen (Arsis) und die senkenden bzw. langen (Thesis) Teile eines Versfußes. Vgl. Anm. 260.

Anmerkungen des Herausgebers 267

268

269

270

271

549

S. 424 Davon war Aristoteles ganz durchdrungen ] Vgl. Anm. 27, 28, 29. S. 425 Franzosen haben hier . . . nachgeahmt ] Zur Hochphase des französischen Klassizismus werden die Autoren Pierre Corneille (1606–1684), Jean Racine (1639–1699) oder Molière (1622–1673) gezählt, die für ihre Tragödien und Komödien auf antike Vorbilder zurückgriffen und z. B. das Versmaß des Alexandriners verwendeten (etwa Racine in Phèdre und Andromache sowie Corneille in Médée). Vgl. Anm. 88. S. 426 die Italienische Poesie, . . . Tasso ] Torquato Tasso (1544–1595) und Ludovico Ariosto (dt. Ariost, 1474–1533) waren italienische Dichter des 16. Jahrhunderts. Torquato Tasso verfasste u. a. die Pastoraldichtung Aminta (1573), als Hauptwerk von Ariost gilt das Versepos Orlando furioso (1516, dt. Der rasende Roland), welches aus zuletzt 46 Gesängen mit insgesamt etwa 16 000 Versen besteht. Deren Strophenform ist die italienische Stanze bzw. Oktave, vgl. dazu Anm. 257. S. 426 Klopstocks Messiade ] Friedrich Klopstocks Messias (Halle 1749/73) ist ein Heldenepos in zwanzig Gesängen über das Leben Jesu. Dafür verwendet er (nahezu parallel zu Ewald von Kleists »Der Frühling«, 1749) als erster deutscher Schriftsteller durchgehend den Hexameter (wenngleich in freier Weise) und nimmt damit eindeutig auf die antike Metrik Bezug. Damit löste Klopstock einerseits Diskussionen aus, inwiefern die deutsche Poesie auf antike (bzw. französische) Vorbilder angewiesen sei und gab andererseits (zusammen mit seinen Oden) Impulse für eine kritische literarische Praxis, die sich von der Regelpoetik im Sinne Gottscheds emanzipierte. (SB: 2426) S. 427 Bei den Alten . . . Gedächtnisses. ] Homers Epen zählen neben den kyklischen Epen (und Hesiods Theogonie) zu den frühesten überlieferten Textquellen der altgriechischen Mythologie (8. bis 7. Jahrhundert v. Chr.). Sie stellen eine schriftliche Fixierung vorher mündlich tradierter Heldensagen im Themenkreis des trojanischen Krieges dar. Die Versformen dieser Dichtungen hängen auch mit ihrer mündlichen Überlieferungspraxis zusammen: Damit die Mythen besser im Gedächtnis blieben und rezitiert werden konn-

550

272

273

274 275 276

Anmerkungen des Herausgebers

ten, wurde ihnen ein bestimmtes Versmaß unterlegt. Vgl. Wolfgang Kullmann »›Oral Tradition / Oral History‹ und die frühgriechische Epik«, in: Vergangenheit in mündlicher Überlieferung, hg. v. Jürgen v. Ungern-Sternberg und Hansjörg Reinau, Stuttgart 1988, S. 184– 196. S. 427 Bei Homer wiederholt . . . wörtlich ] Ob Homer eine historische Person ist oder nur eine konventionelle Bezeichnung für eine Gruppe von Autoren, welche die Epen Odyssee und Ilias (beide im Übergang vom 8. zum 7. Jh. v. Chr.) nacheinander niederschrieben, war lange Zeit umstritten. Beide Epen sind in Hexametern verfasst und arbeiten mit wörtlichen Wiederholungen, die offenbar aus der mündlichen Überlieferungspraxis stammen. Zur »homerischen Frage« vgl. Anm. 101. S. 428 Dieses sah Voß . . . gemacht ] Johann Heinrich Voß (1751– 1826) war ein deutscher Dichter, der vor allem durch seine Übersetzungen antiker Texte (insb. Homers Odyssee und Ilias) bekannt wurde. Schleiermachers kritische Invektive gegen Voß gründet wohl nicht zuletzt auf seiner eigenen Theorie des Übersetzens, die er in seinen Platon-Übersetzungen vielfach selbst praktizierte und am 24. Juni 1813 vor der Philosophischen Klasse der Akademie der Wissenschaften vortrug. In dieser Akademierede kritisert er die Übersetzungen, in denen der Unterschied zwischen Mutter- und Fremdsprache zugunsten der Muttersprache eingeebnet wird ebensosehr wie solche, die diesen Unterschied nach der Seite des Fremdsprachlichen übertreiben, wodurch die Eigenheit des fremdsprachlichen Textes dem Leser unzugänglich werde. Der »Vossische Homer« wird hierbei (ebenso wie der »Schlegelsche Shakespeare«) als ein für die Jugendbildung überaus förderliches Werk angesprochen, wenngleich für die meisten Erwachsenen eine »metrische Übersetzung« angebracht sei, »wie wir sie freilich vielleicht noch nicht besitzen.« Vgl. Schleiermacher »Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens«, in: KGA, Abt. I, Bd. 11, hg. v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, S. 67–93, 76 ff. S. 429 Roman ] Vgl. Anm. 81. S. 430 Madrigal und Triolet ] Vgl. Anm. 40. S. 431 Klopstocks Oden ] Vgl. Anm. 270.

Anmerkungen des Herausgebers 277

278

279

280

281

551

S. 431 ἀκμή ] »Akme« (altgrch. ἀκμή) bedeutet soviel wie Höhepunkt oder Blüte. S. 432 Klopstocks Nachbearbeitung des . . . Messiade, ] Vgl. Anm. 270, 280. S. 432 Kleistens in seinem Frühling ] Ewald Christian Kleist (1715– 1759) war ein deutscher Dichter und preußischer Offizier und entstammt wie der Dichter Heinrich Kleist (1777–1811) dem Adelsgeschlecht der von Kleist. Sein Gedicht »Der Frühling« (1749), das schnell Bekanntheit erlangte und mehrfach aufgelegt wurde, war (parallel zu Klopstocks Messias, 1749) eines der ersten deutschen Dichtungen in Hexametern. Vgl. Ewald von Kleist, »Der Frühling«, Berlin 1749. S. 432 Ein spätrer Kritiker . . . aufzulösen ] In J. G. Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste heißt es unter der Rubrik »Hexameter«: »Man muß Klopstok und Kleist, die zu gleicher Zeit, und ohne daß einer von den Versuchen des andern etwas gewußt, versucht haben deutsche Hexameter zu machen, als die Erfinder derselben ansehen; [. . .] Der Hexameter, den Kleist zu seinem Frühling gewählt hat, fängt, wie man sich in der Musik ausdrükt, im Aufschlag an. Denn er sezt dem ersten Fuß eine kurze Sylbe vor.« Dies habe zu einer »monolithischen« Form des Gedichts geführt und der »Mannigfalitgkeit des Rhythmus« geschadet. Mit dem späteren Kritiker spielt Schleiermacher jedoch nicht auf Sulzer, sondern vermutlich auf Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) an, der mit Kleist befreundet war und dessen »Frühling« (teilweise im Einverständnis mit Kleist) stilistisch überarbeitet hat. Ramler war auch der erste Herausgeber einer Ausgabe der Werke Kleists nach dessen Tod, in der eine umgearbeitete Version des »Frühling« enthalten ist. Vgl. Des Herrn Christian Ewald von Kleist sämtliche Werke, hg. v. Karl Wilhelm Ramler, Berlin 1760. August Sauer, »Ueber die Ramlersche Bearbeitung der Gedichte E. C. v. Kleists. Eine textkritische Untersuchung«, in: ders., Ewald von Kleist’s Werke, 1. Teil, Berlin 1881, S. 819–837. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Leipzig (1771–1774), Bd. 2, 1792 (2. Auflage), S. 578 f. S. 432 Dann fand man . . . Hexameter ] Die Diskussion über die Verwendung des Hexameter in der deutschen Sprache nahm in der

552

Anmerkungen des Herausgebers

zweiten Hälfte des 18. Jh. ihren Lauf, nicht zuletzt aufgrund der Übersetzungsproblematik bei antiken Epen. Klopstock hatte selbst eine Abhandlung zu diesem Thema verfasst: »Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmasses im Deutschen«, die 1755 als Vorrede des zweiten Bandes der Messiade erschien. Darauf rekurriert Herder in seiner Abhandlung Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend (1767), wo er die freiere Verwendung des Hexameter gegenüber einer mechanischen hervorhebt, letztlich jedoch von seiner Verwendung im Deutschen abrät. Vgl. Daniela Kohler, Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung. Johann Caspar Lavater im Wettstreit mit Klopstock und Herder (darin Kap. 4.5. »Formale Erhabenheit: Klopstocks Anpassung des antiken Hexameters an die deutsche Sprache«), Berlin 2015. 282 S. 432 Voßische Hexameter ] Vgl. Anm. 273. 283 S. 432 Göthes Hexameter erreicht . . . Form ] Goethe verwendete Hexameter etwa in seinen Werken Reineke Fuchs (1794) oder Hermann und Dorothea (1797). Er kannte ihn wohl primär aus seinem Lateinstudium, von Vergil und Ovid, aber auch von Klopstocks Oden (1771), und begann in seiner Weimarer Zeit selbst damit, Hexamter zu schreiben. In Jena lernte Goethe den als Spezialisten des antiken Versmaßes geltenden A. W. Schlegel kennen, dem er seine Hexameter zur Korrektur gab, so etwa einige Elegien und Epigramme. Mit den ersten Jahren des 19. Jh. hörte Goethe mit dem Dichten in Hexametern auf. Vgl. Anm. d. Hg. in: J. W. Goethe, »Metamorphose der Tiere«, in: Johann Wolfgang von Goethe, Werke, Kommentare und Register (Hamburger Ausgabe), Bd. 1, Gedichte und Epen 1, S. 568–571. Zu Voß vgl. Anm. 273. 284 S. 434 Die physiologischen Poeten . . . Empedocles ] Auch der junge Friedrich Schlegel spricht in Bezug auf die ionischen Dichter von »Physiologen«, zu denen er »Empedokles, Xenophanes, Parmenides« zählt. Von Empedokles (um 495 – um 435 v. Chr.) sind nur zwei (Lehr-)Gedichte fragmentarisch überliefert. Sie enthalten kosmologische und kosmogonische Reflexionen, die mit mythischen Motiven durchsetzt sind. Darin findet sich u. a. eine Ausdifferenzierung der Lehre der vier Elemente (Erde, Wasser, Luft, Feuer), die vielfach rezipiert und bis ins 17. Jh. hinein weiter entwickelt wurde. Vgl. Friedrich

Anmerkungen des Herausgebers

285 286 287 288

289

290

553

Schlegel, Von den Schulen der Griechischen Poesie (1794), in: KFSA, Abt. I, Bd. 1, S. 3–18, 7 f. S. 434 Iliade und Odyssee ] Vgl. Anm. 272. S. 434 In Hesiod ] Vgl. Anm. 261. S. 435 homerischen Gedichte haben . . . Recitation. ] Vgl. Anm. 271. S. 435 was im Platon . . . hinzukommen ] Ion wird häufig als ein früher Dialog Platons eingestuft. In diesem Dialog wird über die Dichtung und ihre schöpferische Quelle reflektiert, der Gesprächspartner von Sokrates ist Ion von Ephesos, der als ein Rhapsode zu festlichen Anlässen epische Dichtungen vorträgt und auslegt. Sokrates sagt über dessen rhapsodische Kunst: »Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte, und ebenso die rechten Liederdichter, und so wenig die, welche vom tanzenden Wahnsinn befallen sind, mit vernünftigem Bewußtsein tanzen, so dichten auch die Liederdichter nicht bei vernünftigem Bewußtsein diese schönen Lieder, sondern wenn sie von Harmonie und Rhythmus erfüllt sind, dann werden sie den Bacchen ähnlich«. (Ion 536b–c) S. 435 Periode der Alexandriner ] Die Alexandrinische Schule (ca. 300 v. Chr. – ca. 600 n. Chr.), deren Zentrum die hellenistische Hafenstadt Alexandria war, bezeichnet einen losen Zusammenhang von Gelehrten, die sich der Erhaltung, Tradierung und Verbreitung alter und zeitgenössischer Schriften aus dem hellenischen Kulturraum widmeten. Aber auch hebräische, christliche, arabische und buddhistische Quellen wurden in der großen Bibliothek und im Museion gesammelt, katalogisiert und erforscht. Die Alexandrinische Schule erfüllte dadurch eine bedeutende Überlieferungs- und Deutungsfunktion antiker Quellen und galt lange Zeit als Vorbild der Schriftgelehrsamkeit. S. 436 Meleager schon einer . . . an. ] Meleagros von Gadara (lat. Meleager) lebte wohl im Übergang vom 2. zum 1. Jh. v. Chr. Er war ein griechischer Schriftsteller, der zusammen mit dem Dichter Antipatros von Sidon zur späthellenistischen Renaissance der epigrammatischen Dichtung beitrug. Die von Meleager überlieferten Epigramme thematisieren überwiegend erotische Inhalte, er soll aber auch einige Satiren verfasst haben.

554 291 292

293 294

295

296

297 298

Anmerkungen des Herausgebers

S. 437 (Pindar) ] Vgl. Anm. 259. S. 438 Schon in der . . . Nachfolgern. ] Die Ansicht vom Verfall der griechischen Kunst mit dem Ende des Hellenismus, für das häufig der Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.) angesetzt wird, ist ein verbreiteter Topos in der Antikerezeption der Klassik und Romantik. Exemplarisch hierfür kann die in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Althertums angelegte zyklische Figur von Wachstum, Blüte und Zerfall der antiken griechischen Kunst und die Behauptung ihrer Unnachahmlichkeit genannt werden. Vgl. Adolf Heinrich Borbein »Winckelmann und die Klassische Archäologie«, in: Thomas Gaethgens (Hg.), Johann Joachim Winckelmann. 1717–1768, Hamburg 1986, S. 289–299, 294 ff. S. 438 Idylle ] Vgl. Anm. 263. S. 438 sogenannten neuern Comödie ] Im Rahmen der antiken griechischen Komödie wird zwischen alter (insb. Aristophanes), mittlerer und neuerer Komödie unterschieden. Zu letzterer wird insb. der Dichter Menander (342 oder 341 – 291 oder 290 v. Chr.) gezählt, dessen Komödien in römischer Zeit mitunter, etwa bei Plautus oder Ovid, adaptiert wurden. S. 438 von Edda an . . . Nibelungen ] Die beiden im 13. Jh. in Altisländisch niedergeschriebenen Edda (Snorra- und Lieder-Edda) enthalten skandinavische Götter- und Heldensagen. Die ältere (Lieder-) Edda enthält nordische Bearbeitungen der germanischen Nibelungensage, deren bekannteste Fassung das mittelhochdeutsche Nibelungenlied (um 1200) ist. Vgl. Anm. 261. S. 439 Gregorianischen Kanon. ] Wohl unter Papst Gregor I. (gest. 604), dem Namensgeber des »gregorianischen Gesangs«, entstand in Rom die »Schola cantorum«, die für die Pflege und Entwicklung der kirchlichen Liturgie zuständig war. Das gregorianische Choral – ein einstimmiger, ursprünglich unbegleiteter und lateinischsprachiger Männerchorgesang – wurde unter Papst Vitalian (gest. 672) ausgebildet und blieb maßgeblich für die liturgische Praxis der römischkatholischen Kirche. S. 439 Schakespeares historische Dramen ] Vgl. Anm. 256. S. 439 Schakespeare Gipfel ist . . . Comödien ] Shakespeare schrieb eine Reihe von Komödien, zu den bekanntesten zählen etwa Ein

Anmerkungen des Herausgebers

299 300

301

302

303

555

Sommernachtstraum (1595/96), Der Kaufmann von Venedig (1596), Viel Lärm um nichts (1598/99) oder Die lustigen Weiber von Windsor (1600/01). S. 440 classische Poesie der Franzosen ] Vgl. Anm. 268. S. 440 Italienischen Poesie ist . . . Poesie ] In der italienischen Literaturgeschichte finden sich zahlreiche erotische Dichtungen, bereits in römischer Zeit behandeln Ovids (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) Metamorphosen oder seine Ars amatoria erotische Inhalte. Auch Giovanni Boccaccio (1313–1375) verfasste erotische Novellen in seinem Dekameron. Der italienische Dichter Pietro Aretino (1492–1556) orientierte sich zunächst an Francesco Petrarca (1304–1374) und seine Liebeslyrik, wie sie etwa im Canzoniere vorkommt. Aretino verfasste später die Sonnetti Lussuriosi (um 1525), die von Papst Paul IV. (1476–1559) auf den »Index Librorum Prohibitorum« gestellt wurden. Ferner kann an die Liebeslyrik von Torquato Tasso gedacht werden (vgl. Anm. 269). Nicht zuletzt ist die italienische erotische Literatur der Renaissance auch als eine satirische Antwort auf das Kurtisanenwesen des römischen Klerus zu verstehen. Vgl. Italienische Literaturgeschichte, hg. v. Volker Kapp, Stuttgart 2007, S. 108, 133 f. S. 440 In der alten . . . solches ] Vgl. Anm. 262 zu den sog. Milesischen Fabeln. S. 440 das Erotische gesteigert . . . Heiligung ] Die religiöse Überhöhung der erotischen Liebe findet sich vereinzelt in der Renaissanceliteratur Italiens im Kontext der neuplatonischen Lehre als spirituelle Liebeslyrik, etwa in Petrarcas Canzoniere (vgl. Anm. 300). Das Motiv einer Steigerung der erotischen Liebe zur platonischen, die eine Entgrenzung der Individualität der Liebenden, die Erhebung der Liebe über das Vergängliche zum Göttlichen beinhaltet, findet sich etwa in Friedrich Schlegels Lucinde (1799) und bei Friedrich Hölderlin (1770–1843), etwa in seiner Ode »Der Abschied« (1798). S. 442 Auf diese Frage . . . Principien. ] Erneut zeigt sich hier, dass Schleiermachers produktionsästhetischer Ansatz von der Annahme ausgeht, dass Kunst die Wiederholung dessen auf ideale Weise ist, was die Natur in realer Weise selbsttätig hervorbringt. Diese Annahme setzt die innere Identität von Natur und Geist voraus, die auf die spekulative Annahme der Identität von Sein und Denken zurückgeht, die

556

304

305

306

307

308

Anmerkungen des Herausgebers

Schleiermacher in seiner Dialektik näher untersucht. Vgl. dazu KGA, Abt. II, Bd. 10/1 und 10/2, hg. v. Andreas Arndt. Vgl. Anm. 35, 151. S. 445 Protonpseudos der sogenannten idealistischen Richtung. ] »Proton pseudos« (altgr., »πρῶτον ψεῦδος«) beuetet soviel wie Grundirrtum oder die falsche Prämisse einer Deduktion. In dieser Bemerkung kann neben einem Bezug auf die vorige Behandlung des Gegensatzes von Realismus und Idealismus auch eine Kritik am subjektiven Idealismus Kantischer und Fichtescher Prägung gesehen werden, insofern darin ethische Maximen in Form einer Pflichtenethik des Einzelnen ausgeführt werden. Vgl. dazu Andreas Arndt, »›Ausgehn von der Individualität‹. Schleiermacher philosophische Grundposition«, in: ders., Schleiermacher als Philosoph, Berlin 2013, S. 3–16, 8 (Fn. 7), 10 f. S. 446 Bürger und noch . . . Nachahmern. ] Gottfried August Bürger (1747–1794) war ein deutscher Dichter und früher Mentor von A. W. Schlegel. Er wurde insb. durch seine Balladen, etwa Lenore (1773), und seinem auf einer Übersetzung aus dem Englischen beruhenden Werk Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande – Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen (1786) populär. S. 449 1 ] Am unteren Rand steht die Notiz (offenbar aus der Hand von Ludwig Jonas): »Gelesen am 11. Aug. 1831 in der Plenarsizung der Königlichen Academie der Wissenschaften. J.« S. 449 wenn er mit . . . verliehn ] Gemeint ist der antike Sänger Arion von Lesbos (um 600 v. Chr.), der als ein Wegbereiter des Dithyrambus gilt. Nach einer Legende wurde Arion, nachdem er auf hoher See von Seeleuten bedroht ein letztes Lied mit seiner Leier gepielt hatte und ins Meer gesprungen war, von einem Delphin gerettet. A. W. Schlegel legt Arion in seiner Adaption dieser Legende die folgenden Abschiedsworte an den Delphin in den Mund: »Du kannst nur hier, ich dort nur wohnen / Gemeinschaft ist uns nicht verliehn«. Vgl. A. W. Schlegel, »Arion«, in: Musenalmanach für das Jahr 1798, Tübingen 1798, hg. v. Friedrich Schiller, S. 278–286, 284. S. 450 dem geflügelten Genius . . . anzulegen ] Schleiermacher spielt hier auf das gepflügelte Pferd Pegasus aus der antiken Mythologie an, das auch als ein Sinnbild der Dichtkunst gilt.

Anmerkungen des Herausgebers 309 310

311

312

313

314

315

316 317 318

557

S. 450 So wurzelt sie . . . Ethik ] Vgl. Anm. 33. S. 450 Vielleicht widerspricht dieser . . . wollen ] Schleiermacher rekurriert hier, wie auch in seiner Ästhetik-Vorlesung von 1832/33 mehrmals, auf F. W. J. Schellings Rede »Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur« von 1807. Vgl. Anm. 42. S. 452 daß bald diese . . . redet ] Analogien über die Verwobenheit der einzelnen Künste miteinander waren bereits in der Antike bekannt, etwa die Betrachtung der Malerei als einer stummen Dichtkunst – Plutarch schreibt diese Analogie in seinen Moralia (346 f.) dem antiken Dichter Simonides von Keos zu. In der Frühromantik und im frühen Idealismus werden Überkreuzungen der einzelnen Künste, wie Schleiermacher sie hier anführt, im Rahmen der Diskussion über die Einheit der Kunst, verstärkt diskutiert. In Schellings Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1859) findet sich etwa folgende Aussage: »Die Plastik für sich allein faßt alle andern Kunstformen als besondere in sich, oder: sie ist in sich selbst wieder und in abgesonderten Formen Musik, Malerei und Plastik.« (SW Abt. I, Bd. 5, S. 571) Vgl. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik 1795–1805, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1999. Zu Schelling vgl. Anm. 20. S. 452 das hellenische . . . Gebären ] Schleiermacher leitet das altgr. τέχνη (Kunst) hier etymologisch aus dem altgr. »τίκτω« (gebären, erzeugen) bzw. »τεκνόω« (erzeugen, hervorbringen) ab. S. 453 denn es ist . . . bleibt ] Schleiermacher spielt auf Kants Kritik der Urteilskraft (1790/93) an, worin die schöne Kunst als eine Zweckmäßigkeit ohne bestimmten Zweck bestimmt wird. Vgl. Anm. 14. S. 454 Calculus ] Calculus (lat.) bedeutet hier soviel wie Kalkül oder mathematische Berechnung. S. 455 diatonischen Farbenklavier ] Anspielung auf die diatonische Tonleiter, die eine Abfolge von Halb- und Ganztonschritten ist und in der Dur-Moll-Systematik die Regel darstellt. S. 456 und das sei . . . sei ] Vgl. Anm. 13, 35, 151. S. 456 Wenn die einen . . . verteidigen ] Vgl. Anm. 36. S. 458 eine alte Rede, . . . Geisteskräfte ] Bereits in Platons Dialog Ion (533e, 534c) und Phaidros (245a) wird die Quelle der Dichtkunst

558

319

320

321

322

323

324

325

Anmerkungen des Herausgebers

als eine göttliche Inspiration dargestellt, die sich dem reproduzierbaren Wissen (episteme) und der Kunst als einer zweckmäßigen Abfolge von Regeln (techne) entziehe. Auch in Friedrich Schlegels früheren Aphorismen spielt die Begeisterung (bzw. der Enthusiasmus) eine wichtige Rolle, z. B. heißt es im Lyceums-Fragment 63: »Nicht die Kunst und die Werke machen den Künstler, sondern der Sinn und die Begeisterung und der Trieb.« (KFSA, Abt. I, Bd. 2, S. 154). Zu Platon vgl. Anm. 2, 3. S. 460 der Formel, daß . . . Künste ] Zur Katharsis-Lehre bei Aristoteles vgl. Anm. 92. Von der Besinnung (resp. Besonnenheit) als einem Akt der die bewusste Kunstproduktion von der unwillkürlichen Gefühlsäußerung unterscheidet, schreibt Friedrich Schlegel im LyceumsFragment 37 bezüglich der Poesie: »Um über einen Gegenstand gut schreiben zu können, muß man sich nicht mehr für ihn interessieren; der Gedanke, den man mit Besonnenheit ausdrücken soll, muß schon gänzlich vorbei sein, einen nicht mehr eigentlich beschäftigen. So lange der Künstler erfindet und begeistert ist, befindet er sich für die Mitteilung wenigstens in einem illiberalen Zustand.« (KFSA, Abt. I, Bd. 2, S. 151) S. 464 Welches ist bei . . . nennen? ] In der Vorlesung 1832/33 bezeichnet Schleiermacher den Prozess der Begeisterung und Besinnung in Bezug auf das Selbstbewußtsein auch als freie Produktivität. Vgl. S. 21, 51–53. S. 465 . . . ] Manuskript bricht hier ab. Schleiermacher rekurriert in der zweiten Abhandlung auf den Schluss der ersten. S. 466 2 ] Am unteren Rand vermerkt Ludwig Jonas: »Gelesen in der Plenarsizung der Königlichen Academie der Wissenschaften am 2. Aug. 1832. J.« S. 467 und diesen Trieb, . . . ansehn ] In seinem Manuskript zum Ästhetik-Kolleg 1819 bezeichnet Schleiermacher diesen Trieb noch meistens als Kunsttrieb. Vgl. ÄOd, S. 45, 146. S. 467 in der zweiten . . . habe ] Vgl. Friedrich Schleiermacher, »Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung« (gelesen am 24. Juni 1830), in: KGA I, Bd. 11, hg. v. Martin Rössler, S. 657–677. S. 470 den alten Streit . . . sich ] Gemeint ist offenbar der Streit über die Bedeutung des menschlichen Knochensystems für die Beweglich-

Anmerkungen des Herausgebers

326

327

328 329

330

559

keit der muskelgelenkten Weichteile, d. h. insb. für die Gesichtsmimik bzw. die Physiognomie. Joahnn Caspar Lavater (1741–1801) vertrat die Ansicht, dass der Knochenbau die Grundlage der Interpretation auch des Gesichtsausdrucks sein müsse, wogegen sich vor allem Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) wendete. Vgl. Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Bd. 1, Leipzig u. a., 1775. S. 484 3 ] Die dritte Abhandlung ist unvollständig geblieben und wurde von Schleiermacher nicht mehr an der Akademie vorgetragen. Zur Datierung in das Ende des Jahres 1833 vgl. die Einleitung d. Hg. in diesem Band (insb. LXIX). S. 485 die χρηματιστική ] Die χρηματιστική (altgrch., chrematistike) bedeutet soviel wie Kunst des Gelderwerbs bzw. Chrematistik. Sie ist im Sinne des altgrch. »techne« eine Kunst, deren Regeln mechanisch reproduziert werden können, weshalb sie sich von der Dichtkunst, die (nach Platon) göttlicher Inspiration bedarf, unterscheidet. Schleiermacher übersetzt in seiner Übertragung des Gorgias »χρηματιστική« mit »Erwerbsamkeit« (Gorgias 478a). S. 487 Höllen-Breughel ] Vgl. Anm. 208. S. 487 Rafael und Leonardo ] Leonardo da Vinci (1452–1519) war ein italienischer Maler, Naturphilosoph und Ingenieur, dessen wohl berühmtestes Gemälde, die Mona Lisa (1503–1506), im Pariser Louvre ausgestellt wird. Zu Raffael vgl. Anm. 226, 215, 214, 103, 83. S. 488 . . . ] Das Manuskript bricht hier ab. In den bisherigen Editionen der dritten Akademiehandlung wurde an dieser Stelle eine zusätzliche Passage angefügt, die Jonas in seiner Edition der Reden bereits angeführt hat. Es wurde dabei angenommen, dass Ludwig Jonas diese Passage nach einem verlorenen Zettel von Schleiermacher niedergeschrieben habe (vgl. S. XLVII f.). Tatsächlich handelt es sich bei diesem Zusatz um eine Notiz von Schleiermacher, die nicht verloren ist und auch nicht zu dieser Niederschrift der dritten Abhandlung gehört, sondern zu den vorbereitenden Notizen. Diese vorbereitenden Notizen zur dritten Abhandlung inkl. dem Zusatz befinden sich in einem Heft mit Notizen Schleiermachers zur Ästhetik, das sich im Schleiermacher-Nachlass der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften befindet (SN 109, S. 16).

NAMENREGISTER

Arion aus Lesbos 372, 449 Ariost(o), Ludovico 426 Aristoteles 3–5, 11, 13, 14, 424 Blücher, Gebhard Leberecht von 395

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 12, 13 Hesiod 420, 434 Homer 326, 427 Hübner, Rudolf Julius Benno 334

Brueghel (der Jüngere), Pieter 328, 487

Kant, Immanuel 8–10, 24, 155

Bürger, Gottfried August 348, 446

Karl II., König von England 201

Constantin, Flavius Valerius 347 Correggio, Antonio da 361

Kleist, Ewald von 432 Klopstock, Friedrich Gottlieb 421, 426, 431, 432

Cromwell, Oliver 200

Lessing, Carl Friedrich 348

Dürer, Albrecht 168, 328

Louis XIV, König von Frankreich 175

Empedo(c)kles 434 Fichte, Johann Gottlieb 9–11, 64 Flaxman, John 326

Meleagros (Meleager) aus Gadara 436 Nero 115 Pausanias 374

Garo(ph)falo, Benvenuto Tisi 334

Pindar 419, 437

Händel, Georg Friedrich 250

Quintilian(us), Marcus Fabius 4

Plato(n) 3–5, 126, 263, 435

Namenregister

Ra(ph)ffael 121, 154, 361, 487

561

Tasso, Torquato 426 Tie(c)k, Johann Ludwig 275

Rousseau, Jean-Jacques 135 Ruben(s), Peter Paul 121

Vinci, Leonardo da 487

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 10, 11, 31, 156

Voltaire, François-Marie Arouet 159

Schiller, Friedrich 9, 10, 64, 66, 73, 421

Voß, Johann Heinrich 428, 432