Sterben (bio-ethisch) [1. Aufl.] 9783839401866

Sterben wird in der engagiert geführten Bio-Ethik-Diskussion begrifflich nicht unterschieden vom Tod; ausschlaggebend hi

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Sterben (bio-ethisch) [1. Aufl.]
 9783839401866

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Vorgreifender Exkurs: Ein Medium der Reflexion des Verhältnisses von Leben, Sterben und Tod – der Roman
Der modus ponens als Problem – literarisch gestaltet
Sterbenmüssen als ein ›Wissen, dass…‹
›Wissen um das Sterbenmüssen‹ als kulturelles, aber doch naturalistisch bestimmtes Wissen
Sterben und Tod als stärkste Anti-Utopien
Sterben und neu anfangen können
Sterblichkeit und Sterben: anthropologisch-naturales Faktum oder ›notwendige Möglichkeit‹?
Sterben als Schranke des individuellen Lebens
Weiterführende Literatur

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Michael Weingarten | Sterben (bio-ethisch)

2004-05-07 10-55-49 --- Projekt: T186.pantarei.bdg.sterben (bio-ethisch) / Dokument: FAX ID 01c452048636164|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 52048636172

Bibliothek dialektischer Grundbegriffe Bisher erschienene Bände Christoph Hubig | Mittel Renate Wahsner | Naturwissenschaft Werner Rügemer | arm und reich Michael Weingarten | Leben (bio-ethisch) Jörg Zimmer | Metapher Hans Heinz Holz | Widerspiegelung Volker Schürmann | Muße Angelica Nuzzo | System Michael Weingarten | Wahrnehmen Thomas Metscher | Mimesis Jörg Zimmer | Reflexion Hermann Klenner | Recht und Unrecht In Vorbereitung Andreas Arndt | Unmittelbarkeit Roger Behrens | Kulturindustrie Gerhard Stuby/Norman Paech | Völkerrecht Kurt Röttgers | Engel und Teufel Michael Weingarten | Tod (bio-ethisch) Thomas Metscher | Literatur

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) T00_02 Liste der Bände.p 52048636180

Edition panta rei | πντα ει Forum für dialektisches Denken

Bibliothek dialektischer Grundbegriffe herausgegeben von Andreas Hüllinghorst Band 13 | Michael Weingarten | Sterben (bio-ethisch)

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) T00_03 innentitel.p 52048636244

Die Bibliothek dialektischer Grundbegriffe ist eine Einführungsreihe in verschiedene Ansätze dialektischen Philosophierens. Weitere Informationen zur Reihe insgesamt als auch zu Autoren und einzelnen Bänden erhalten Sie auf der Internetseite www. transcript-verlag.de/main/prg_pan_edi.htm. Dort haben Sie auch die Möglichkeit, Fragen, die Ihnen bei der Lektüre kommen, an den Herausgeber bzw. an den jeweiligen Autor zu stellen. Die Bibliothek dialektischer Grundbegriffe kann auch abonniert werden. Bitte wenden Sie sich an den Verlag. Jeder Band kostet dann nur noch 5,50 € (plus Porto).

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© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Satz: Digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-186-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

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) T00_04 impressum.p 52048636276

Inhalt

6 | Einleitung 7 | Vorgreifender Exkurs: Ein Medium der Reflexion des Verhältnisses von Leben, Sterben und Tod – der Roman 10 | Der modus ponens als Problem – literarisch gestaltet 17 | Sterbenmüssen als ein ›Wissen, dass…‹ 24 | ›Wissen um das Sterbenmüssen‹ als kulturelles, aber doch naturalistisch bestimmtes Wissen 31 | Sterben und Tod als stärkste Anti-Utopien 36 | Sterben und neu anfangen können 43 | Sterblichkeit und Sterben: anthropologisch-naturales Faktum oder ›notwendige Möglichkeit‹? 48 | Sterben als Schranke des individuellen Lebens 50 | Weiterführende Literatur

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) T00_05 inhalt.p 52048636284

»Wenn schon gestorben sein soll, sterbe ich doch lieber gern als ungern.« Robert Walser1

Logisches Schließen auf Sterben

Sterben sollen – Sterben müssen

Einleitung | Utopien des ewigen Lebens finden heute wieder, gestützt auf gentechnisches Können, in der Medizin neue Nahrung. Das individuelle Leben solle, so lautet die Versprechung, über jede zeitliche Schranke hinaus verlängerbar sein, einzig technische Probleme und noch nicht wirklich zureichend fundiertes empirisches Wissen stehe der Realisierung dieser alten Utopie noch im Wege. Solchen Utopien widersprechend scheint Robert Walser dagegen die Unausweichlichkeit des Sterbens naiv zu bejahen und aufzufordern sich einverständig in das zu fügen, dem man sowieso nicht ausweichen könne. Doch lässt man sich auf diesen das Sterben scheinbar naiv hinnehmenden Satz ein, dann stolpert man sofort über die in ihm ausgesagte logische Beziehung. Ist dieser subjektlos anmutende erste Teilsatz formal äquivalent dem berühmten Obersatz des modus ponens ›Alle Menschen sind sterblich‹, aus dem dann über den Mittelsatz ›Ich bin ein Mensch‹ der Schluss folgt: ›Also bin ich sterblich‹? Oder zeigt sich nicht vielmehr dieses Schulbeispiel eines logischen Schlusses genau dann als problematisch, vielleicht sogar als brüchig, wenn man versucht von dem Obersatz ›Es soll gestorben sein‹ in irgend einer Weise über einen Mittelsatz auf ›Ich sterbe daher (gern oder ungern)‹ zu schließen? Wen oder was meint dieses ›Es‹ als Gattungsterminus, hinsichtlich dessen ich mich als Teil-Element zu verstehen habe, um dann auf mein Sterbensollen schließen zu müssen? Verhindert oder verunmöglicht nicht vielmehr dieses unbestimmte, eine Gattung meinende ›Es‹ die Formulierung eines Mittelsatzes, weil überhaupt kein Hinweis auf eine bestimmte Gattung gegeben wird? Und ohne Mittelsatz stehen der Obersatz ›Es soll gestorben sein‹ und der Folgesatz ›Ich sterbe gern/ungern‹ rein unvermittelt und möglicherweise unvermittelbar einander entgegen. Eröffnet, entgegen dem ersten Anschein, die Formulierung ›Es soll gestorben sein‹ nicht gerade die Möglichkeit, sich dem Sterben zu entziehen, weil die so behauptete Norm oder Regel das von ihr geforderte Sterben nicht erzwingen kann? Eine Möglichkeit, die in dem Satz ›Es muss gestorben sein‹ gerade nicht 1 | Robert Walser, Das Gesamtwerk, Bd. X, Frankfurt/Main 1978, S. 188.

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gedacht werden kann, weil das Sterben in diesem Falle in irgend einer Weise konstitutiv für das ›Es‹ ist, wenn von diesem zu Recht behauptet werden kann, dass ›es‹ sterben muss. D. h., das ›sollen‹ kann sich gerade nicht auf die naturale (bspw. biotische) Beschaffenheit oder das Wesen dessen beziehen, von dem behauptet wird, dass es sterben soll. Aus diesem Zweifel am Sterbensollen ergeben sich die Fragen: Auf was bezieht sich dann dieses Sollen? Wer formuliert dies als ein Sollen? Wie kann die merkwürdige Spannung der beiden Satzteile Abschließen aufgelöst werden, von denen der erste auffordert etwas (das des Lebens Sterben? Und im Vollzug des Sterbens das von jemandem gelebte Leben?) abzuschließen (›gestorben‹), während der zweite Satzteil eine reflexive Verhaltung (gern oder ungern sterben) auf die (noch) nicht abgeschlossene Vollzugsform (mein Sterben) beschreibt; wobei eben die Beschreibung des Sterbens als eines bestimmten, nämlich gelingen oder misslingen könnenden Lebensvollzugs aus der Perspektive des Abschlusses des Lebens, des Gestorbenseins erfolgt. Damit könnte versuchsweise Walsers so lapidar klingende Satz folgendermaßen rekonstruiert werden: ›Jedes (menschliche) Leben soll abgeschlossen werden‹; vielleicht sogar noch verschärfend: ›Jedes menschliche Leben kann als bestimmter Vollzug nur in der Form des Abgeschlossenseins gedacht werden‹.2 Das Abschließen des Lebens gehört somit selbst zum Vollzug jeglichen menschlichen Lebens. Und in der Art dieses Vollzugs als Abschluss meines Lebens realisiere ich mich wiederum als bestimmtes, von anderen Individuen unterschiedenes Individuum, indem ich bezogen auf mein bisher gelebtes Leben dieses, mein Leben bspw. gern abschließe.3 Vorgreifender Exkurs: Ein Medium der Reflexion des Verhältnisses von Leben, Sterben und Tod – der Roman | Es ist dem Thema gegenüber nicht willkürlich, dass die Überlegungen zum Sterben mit einem Rückgriff auf literarische Texte beginnen und sich auch im Weiteren auf solche stützen werden. Denn wenn, einer These Walter Benjamins (1892–1940) folgend4, die Frage 2 | Die Gründe dieses Sollens müssen hier noch offen bleiben. 3 | Damit wäre ein Anschluss an meine Überlegungen zu Helmuth Plessner und Josef König gewonnen; vgl. M. Weingarten, Leben (bio-ethisch), Bibliothek dialektischer Grundbegriffe, Bd. 4, Bielefeld 2003, S. 43ff. 4 | Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai

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nach dem Sinn des Lebens, nicht aber nach der Moral der GeErzählperspektive schichte »die Mitte ist, um welche sich der Roman bewegt«5, des Romans dann könne der Romanautor eine versuchsweise Antwort auf die-

se Frage nur dann geben, resp. der Romanleser eine mögliche Antwort nur dann finden, wenn das im Roman erzählte Leben einer Person als abgeschlossen unterstellt werde. Daraus ergebe sich für den Roman ein bestimmtes Tempus: Denn wenn erzählt wird, dass ein Mann mit 35 Jahren gestorben ist, dann folge daraus genau nicht, dass dieser Mann an jedem Punkt seines Lebens genau derjenige ist, der mit 35 Jahren stirbt. Vielmehr wird nur im Eingedenken des Gestorben-seins dieser Mann an jedem Punkt seines Lebens als derjenige erscheinen, der mit 35 stirbt. Mit diesem Eingedenken werde das Wesen der Romanfigur am besten dargestellt: Der Sinn des Lebens erschließe sich nur vom Tode her. Sinn des Lebens Benjamin hält zugleich aber auch einschränkend fest: »[D]er Satz, der für das wirkliche Leben keinen Sinn gibt, wird für das erinnerte unanfechtbar.«6 Denn für jeden, der sein Leben (noch) lebt, muss so der Sinn seines Lebens verborgen bleiben. Zum einen, weil er im Vollzug seines Lebens dieses nicht abschließend hinsichtlich des Gelungen- oder Misslungenseins beurteilen kann; zum anderen, weil ihm mit dem Abschluss seines Lebens, dem Gestorbensein, die Möglichkeit des Sinnerschließens seines Lebens unwiderruflich genommen wurde. Unwiderruflich deshalb, weil die Form des Romans nur eine sinnhafte Strukturierung eines bestimmten Lebens innerhalb des Lebensvollzugs als eingedenkende Erzählung nach Abschluss dieses bestimmten Lebens zulässt. Die Form des Romans schließt also eine dem (berichteten) Lebensvollzug jenseitige, den wirklichen Lebensvollzug transzendierende und daher exoterische religiöse oder mythische Sinngebung aus. Selbstverständlich gibt es mehr als genug Versuche, einen Roman zu schreiben, ohne von der Perspektive des Gestorbenseins her das Leben der Protagonisten als sinnhaft strukturiertes zu erzählen. Exemplarisch sei Astrid Lindgrens (1907–2002) für Kinder geschriebener Roman Die Brüder Löwenherz genannt. ErLesskows, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Frankfurt/Main 1980, S. 438–465 5 | Ebd., S. 456 6 | Ebd.

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zählt wird dort die Geschichte zweier Brüder, der eine, jüngere, ist todkrank, der andere, ältere, stark und mutig. Bei einem Brand der Wohnung rettet der Ältere den Jüngeren vor dem sicheren Feuertod und kommt dabei selbst ums Leben. Angesichts der (anscheinenden) Sinnlosigkeit des Todes seines älteren Bruders – denn er, der jüngere, muss ja, und er weiß auch darum, in Folge seiner Krankheit sowieso in absehbarer Zeit sterben – verbringt der jüngere Bruder den Rest seiner knappen Lebenszeit in Trauer und Verzweiflung. Nach seinem ›Tod‹ trifft er aber seinen Bruder in einer mythischen Welt des Abenteuers wieder, einer Welt des Kampfes der Guten gegen die Bösen, in der sein Bruder im Lager der Guten eine wichtige Position einnimmt. Und wieder: Während eines Kampfes wird der Ältere tödlich verletzt, kann seinem jüngeren Bruder aber noch sagen, dass sie sich in einer neuen Welt ja wieder treffen werden. Geschrieben ist der Roman sicherlich in der gut gemeinten Absicht, Kindern Erfahrungen über Sterbenkönnen und Tod zu vermitteln und zugleich solche Erfahrungen zu entdramatisieren. Doch letztendlich werden Sterben und Tod abstrakt negiert, sie finden nicht eigentlich statt, sondern es scheint nur ein unendlich perpetuierbares Leben in immer anderen und neuen Welten zu geben. Weder haben die Protagonisten eines solchen Romans Einfluss darauf, in welche Welt sie nach ihrem Ausscheiden aus der einen geraten – dies widerfährt ihnen ohne ihr Zutun – noch strukturiert sich ihnen ihr Leben in der einen Welt als sinnvoll oder sinnlos – es findet einfach statt, es ist so als schiere unhinterfragbare und unproblematisierbare Faktizität, die sich jeder Bewertung entzieht.7 Auch wenn aus der Lektüre eines Romans für das je eigene Leben und Sterben nichts unmittelbar folgt, so kann der Leser doch aus der im Lesen erfolgenden Einübung in das ›Es soll gestorben sein‹ durch das Eingedenken des abgeschlossenen und daher beurteilbaren Lebensvollzugs einer anderen Person Einsicht gewinnen in Möglichkeiten sinnhafter Strukturierung des Lebens unter Einschluss der Art, wie andere ihr Leben abgeschlossen haben und welche Konsequenzen sich daraus für die Sinnhaftigkeit dieses Lebensvollzugs ergeben. »Nun aber sucht

Sterben als Übergang

Modelle des Sterbens

7 | Die hier nur kurz benannte Problemstruktur wird im Zusammenhang der Analyse der blochschen Verwerfung von Sterben und Tod als Anti-Utopien (S. 31ff.) wieder aufgegriffen.

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der Leser des Romans wirklich Menschen, an denen er den ›Sinn des Lebens‹ abliest. Er muß daher, so oder so, im voraus gewiß sein, dass er ihren Tod miterlebt. Zur Not den übertragenen: das Ende des Romans. Doch besser den eigentlichen. Wie geben sie ihm zu erkennen, dass der Tod schon auf sie wartet, und ein ganz bestimmter, und das an einer ganz bestimmten Stelle? Das ist die Frage, welche das verzehrende Interesse des Lesers am Romangeschehen nährt.«8 Der Leser bekommt im Roman somit nicht nur Modelle von Lebensvollzügen, einschließlich des Sterbens als ebenfalls einem Lebensvollzug anderer Personen vorgeführt, sondern ihm kann einsichtig werden, dass jedes gelebte Leben, also auch sein eigenes, als sinnhaft strukturiertes nur im Abschluss des Lebens beurteilt werden kann: ›Es soll gestorben sein, um sinnhaft oder sinnlos, gelingend oder misslingend leben zu können‹ – so könnte man versuchsweise Walsers Satz weiterführen. Ob ich aber den Roman als Reflexionsmittel nutze, indem ich die Geltung des allgemeinen Satzes ›Es soll gestorben sein‹ akzeptiere, um mein Leben als in meinem Sinne – als meine besondere Art des Lebensvollzugs gewonnen im Vergleich u. a. zu den im Roman vorgeführten anderen individuellen und besonderen Lebensvollzügen – sinnhaftes und gelungenes zu führen und dann ›gern oder ungern zu sterben‹, das bleibt mir überlassen, so wie es mir immer überlassen bleibt, Regeln und Normen zu folgen – oder eben auch nicht – unter Einschluss der daraus in beiden Fällen sich ergebenden Konsequenzen. Die Brüchigkeit Der modus ponens als Problem – literarisch gestaltet | Bedes modus denkt man die menschliche Weltverhältnisse aufschließende ponens Funktion, die auch und gerade Literatur hat, dann kann es somit

nicht verwundern, dass das Thema von Sterben und Tod nicht nur auf Grund der Form des Romans, sondern auch material über die erzählten Gehalte eines der zentralen Motive moderner Literatur war und bis heute auch ist; genannt seien nur so unterschiedliche Schriftsteller wie Leo Tolstoi (1828–1910), Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), Rainer Maria Rilke (1875–1926), Hermann Broch (1886–1951) oder Elias Canetti (1905–1994). Gerade in der Literatur, besonders im Roman, kann mit spezi8 | Walter Benjamin, Der Erzähler, a.a.O. (Fn. 4), S. 456; vgl. auch Theodore Ziolkowski, Strukturen des modernen Romans, München 1972

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fisch ästhetischen Mitteln und dadurch mit einem radikal anderen Rationalitätstypus als dem wissenschaftlichen9 die praktische Dimension des Wissens um die Sterblichkeit des Menschen ausgesprochen werden. Wiederum exemplarisch sei hier Tolstois Erzählung Der Tod des Iwan Iljitsch herangezogen. Iwan Iljitsch, Beamter im zaristischen Russland, liegt krank im Bett. Für die behandelnden Ärzte ist zum einen klar, dass es sich um eine Krankheit handelt, die möglicherweise durch einen Sturz verursacht wurde; sie diagnostizieren eine Wanderniere, eine Blinddarmentzündung, vermuten also rein organische Ursachen. Zum anderen wissen die Ärzte aber auch, dass Iwan Iljitsch wird sterben müssen, dass sie ihn mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln nicht heilen können. Sie sprechen ihm gegenüber aber trotzdem nur von seiner Krankheit, die wie jede Krankheit prinzipiell heilbar sei. Dass er wird sterben müssen, wird ihm von den Ärzten, aber auch von seinen Angehörigen verheimlicht und dem Sterbenden so die (falsche, illusionäre) Hoffnung auf ein weiteres Leben ermöglicht. Und dann schildert Tolstoi beeindruckend den von Iwan Iljitsch in seiner Reflexion auf seinen Zustand erfahrenen Widerspruch zwischen dem theoretischen Wissen, dass alle Menschen sterblich sind und jeder einzelne Mensch daher sterblich ist (Wissen wie… [knowing how] und Wissen, dass… [knowing that]), und dem praktischen Wissen (Wissen um…), das sich im praktischen Lebensvollzug von diesem theoretischen Wissen aber nicht betroffen fühlt. »Es war Iwan Iljitsch klar, daß er sterben müsse, und darum befand er sich im Zustand ständiger Verzweiflung. In seinem tiefsten Innern wußte Iwan Iljitsch, daß er sterben mußte, allein er konnte sich nicht nur nicht an diesen Gedanken gewöhnen, sondern konnte ihn einfach nicht begreifen, die nackte Tatsache nicht begreifen. Jenes bekannte Beispiel für Syllogismen, das er in der Logik von Kiesewetter gelernt hat: Cajus ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, also ist auch Cajus sterblich, war ihm sein ganzes Leben hindurch rechtmäßigerweise lediglich als auf Cajus anwendbar vorgekommen, keinesfalls aber auf ihn, Iwan Iljitsch 9 | Vgl. als eine mögliche unterscheidende Abgrenzung dieser beiden Rationalitätstypen Josef König, Die Natur der ästhetischen Wirkung, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Freiburg, München 1978, S. 256–337; vgl. weiter Martin Seel, Die Kunst der Entzweiung, Frankfurt/Main 1985

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Modus ponens – theoretisches oder praktisches Wissen?

selber. Jenes war der Mensch Cajus, der Mensch überhaupt, und für diesen war das Gesetz völlig gerechtfertigt; er aber war nicht Cajus und ebenso wenig der Mensch an sich, sondern er war ein Wesen völlig für sich und völlig von allen anderen verschieden; er war der Wanja mit seiner Mama und seinem Papa, mit Mitja und Wolodja, mit Spielzeug und einem Kutscher, mit seiner Kinderfrau und späterhin mit Katjenka, kurz, mit allen Freuden, Leiden und Entzückungen der Kinderzeit und Jugend. War denn der Geruch des aus Lederstreifen zusammengesetzten Balles für Cajus bestimmt gewesen? Und hatte Cajus etwa, so wie er, die Hand der Mama geküsst? Und hatte vielleicht für jenen die Seide des Faltenkleides der Mama gerauscht? War es etwa Cajus gewesen, der in der Rechtsschule wegen der Kuchen revoltiert hatte? Cajus, der so verliebt gewesen war wie er? Und verstand etwa Cajus so wie er eine Verhandlung zu leiten? Cajus, der war in der Tat sterblich, und wenn er starb, so war es ganz in der Ordnung; ich aber, ich, Wanja, ich Iwan Iljitsch, mit all meinen Gefühlen und Gedanken – bei mir ist es nun einmal eine ganz andere Sache. Und es kann ja gar nicht sein, daß auch ich sterben muß. Das wäre viel zu entsetzlich. Derart waren seine Gefühle. ›Wenn ich, wie jener Cajus, sterben müßte, dann hätte ich es doch bestimmt vorher gewußt, und ganz sicher hätte es mir eine innere Stimme gesagt; allein es sprach nichts dergleichen in mir; und ich wie auch alle meine Freunde, wir wußten doch nur zu gut, daß es ganz anders sein müsse als mit Cajus. Und dabei dieses jetzt!‹ mußte er denken. ›Es kann ja gar nicht sein! Es kann nicht sein und ist doch da. Wie geht denn das nur zu? Wie soll man das verstehen?‹«10 Das am modus ponens exemplifizierte theoretische Wissen gibt gerade keinen Aufschluss über die praktische Dimension des je individuell gelebten Lebens und dessen möglichen oder wirklichen Endes, scheint mit diesem auch keine Berührung zu haben, sodass in der Erfahrung theoretisches und praktisches Wissen auseineinander zu fallen und völlig disparat zueinander zu stehen scheinen. Daher rührt die Verzweiflung und das Unverständnis Iwan Iljitschs über seine Situation. Nachdem nun aber für ihn der Widerspruch zwischen theoretischem und praktischem Wissen einmal als solcher überhaupt bewusst geworden 10 | Leo N. Tolstoi, Der Tod des Iwan Iljitsch, Wiesbaden o. J., S. 56f.

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ist, kann dieser nicht mehr verdrängt werden, d. h. die Erfahrung des praktischen Wissens um die eigene Sterblichkeit nicht mehr rückgängig gemacht werden. »Und er vermochte es nicht zu verstehen und bemühte sich, diesen Gedanken [sein Wissen darum, dass er wird sterben müssen] als falsch, unrichtig und krankhaft zu verjagen und ihn durch andere, richtige und gesunde Gedanken zu verdrängen. Allein dieser Gedanke, der nicht nur Gedanke war, sondern offenbar eine Tatsache, kehrte immer wieder zurück und richtete sich immer höher vor ihm auf. Er aber rief an Stelle dieses Gedankens immer wieder andere Gedanken auf, einen nach dem anderen, in der Hoffnung, in ihnen eine Stütze zu finden. Er versuchte, zu seinen alten Gedankengängen zurückzukehren, die vormals die Gedanken an den Tod vor seinen Augen verborgengehalten hatten, allein – wie sonderbar! – all das, was vormals dieses Bewußtsein des Todes verdeckt, verborgen und zerstört hatte, jetzt war es auf einmal nicht mehr in der Lage, die alte Wirkung zu erzielen.«11 Dies ist die erste Stufe eines in der Reflexion statthabenden Einstellungen Entwicklungsprozesses, in dem Iwan Iljitsch vermittels des Wi- zum Sterben derspruchs zwischen praktischem und theoretischem Wissen bemerkt, dass er als Mensch (Gattungsallgemeinheit), will er ein wirkliches Wissen um sich und die Art seines Lebensvollzugs und dessen mögliches Ende bekommen, sein Leben in der Hinsicht bedenken muss, inwiefern von dem von ihm gelebten Leben als einem gelungenen Leben gesprochen werden kann.12 Über den ihm als Pfleger zugewiesenen ›natürlich-unverdorbenen‹ Bauernburschen Gerassim wird Iwan Iljitsch deutlich, dass nicht nur ein Leben individuell ganz anders gelebt werden kann, sondern dass sich in diesem anderen Lebensvollzug auch die Einstellung zu Sterben und Tod ändert. Über Gerassim entwickelt Iwan Iljitsch als zweite Reflexionsstufe dann die Einsicht in den Lug 11 | Ebd., S. 57 12 | Für das Verhältnis zwischen der Gattungsallgemeinheit des immer schon Menschseins und dem im individuellen Lebensvollzug realisierten Menschwerdens vgl. M. Weingarten, Leben (bio-ethisch), a.a.O. (Fn. 3). Diese dialektische Figur wurde formuliert von Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV, Frankfurt/Main 1981; vgl. hierzu Hans Heinz Holz: Mensch – Natur. Helmuth Plessner und das Konzept einer dialektischen Anthropologie, Bielefeld 2003.

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und Trug, mit den ihn die Ärzte und seine Familienangehörigen umgeben, indem sie sein Sterben als Krankheit ansprechen und so die Illusion der Behandelbarkeit und Heilbarkeit erzeugen. »Das, was Iwan Iljitsch am meisten quälte, war die Lüge – jene aus irgendeinem Grunde von allen verbreitete Lüge, daß er nur krank sei und keineswegs auf den Tod darniederliege und daß er sich nur ruhig verhalten und kurieren lassen müsse, damit etwas sehr Schönes dabei herauskomme. Denn er wußte ja: was immer auch getan wurde, es konnte nichts dabei herauskommen, außer noch qualvolleren Leiden und dem Tode. Und ihn quälte diese Lüge, es quälte ihn, daß jene nicht eingestehen wollten, was alle wußten und was auch er selber wußte, sondern daß es ihr Wille war, ihn angesichts seiner entsetzlichen Lage zu belügen, und dass sie nicht nur wünschten, er solle selber an dieser Lüge teilnehmen, sondern dass sie ihn sogar dazu zwangen. Lüge, Lüge – diese noch am Vorabend seines Verscheidens sich über ihn ergießende Lüge, die die furchtbare und feierliche Tatsache seines Todes auf eine Stufe herabdrücken mußte, wie sie durch alle jene Besuche, jene mit Gardinen ausgeschmückten Zimmer und jene beim Diner servierten Störe gekennzeichnet wurde […] dies war für Iwan Iljitsch das allerqualvollste. Wie sonderbar, schon häufig war er, wenn sie ihn auf diese Art zum besten hielten, um ein Haar drauf und dran gewesen, ihnen zuzuschreien: hört auf zu lügen! Ihr wißt es, und ich weiß es ebenso gut, daß ich sterben muß, so hört doch wenigstens zu lügen auf! Und dennoch hatte er sich niemals getraut, es zu tun. Die furchtbare, die entsetzliche Tatsache seines langsamen Sterbens wurde von seiner ganzen Umgebung, das sah er nur zu deutlich, auf die Stufe einer zufälligen Unannehmlichkeit herabgedrückt, gewissermaßen einer Unschicklichkeit (etwa derart, wie man mit einem Menschen umgeht, der einen Salon betritt und dabei einen üblen Geruch um sich verbreitet) – und zwar nach dem Prinzip jener gleichen ›Wohlanständigkeit‹, deren Anhänger er sein ganzes Leben hindurch gewesen war; er sah, daß niemand Mitgefühl mit ihm hatte, weil kein Mensch willens war, sich in seine Lage hineinzudenken. Einzig Gerassim verstand seine Lage und hatte Mitleid mit ihm. Und darum fühlte sich Iwan Iljitsch nur wohl, wenn Gerassim da war. Es war ihm besser, wenn ihm Gerassim, manchmal ganze Nächte hindurch, die Beine hielt und nicht schlafen gehen wollte und sagte: ›Belieben Sie nicht, sich deswegen zu beunruhigen, Iwan Iljitsch, ich werde mich schon noch ausschlafen‹, 14

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oder wenn er, plötzlich zum ›Du‹ übergehend, hinzufügte: ›Wenn du nicht krank wärest; aber so, warum dir nicht gefällig sein?‹ Einzig Gerassim log niemals; er allein – das war aus allem ersichtlich – hatte begriffen, um was es sich handle, und er hielt es auch nicht für nötig, es zu verbergen, sondern er hatte ganz einfach mit seinem abgezehrten, schwachen Herrn Mitleid. Und einmal sprach er es sogar direkt aus, als Iwan Iljitsch ihn fortschicken wollte: ›Alle werden wir sterben. Warum sich nicht ein bißchen Mühe geben?‹ Das sagte er und drückte damit wohl aus, daß die Mühe ihm darum nicht lästig falle, weil er dies alles ja für einen Sterbenden tue und hoffe, daß einst, wenn ihm sein Stündlein schlage, jemand ihm ein Gleiches erweisen werde.«13 Indem Iwan Iljitsch den von den Ärzten und seinen Angehörigen erzeugten Schein als bloßen Schein erkennt, wird eine dritte Stufe des Prozesses der Bewusstwerdung vorgeführt: Iwan Iljitsch erkennt nun, dass der Wunsch (immer weiter) zu leben grundsätzlich verfehlt ist, weil er – bezogen auf sein individuelles Leben – auf die Fortsetzung eines Lebens im falschen Zustand hinauslaufen müsste: Er kann sein Leben nicht wirklich neu beginnen, sondern könnte sein altes, verfehltes Leben nur ohne grundsätzliche Änderung fortsetzen. Diese Einsicht führt Iwan Iljitsch dann letztendlich zum Akzeptieren seines Sterbens, wenn auch – weil es sich um das unkorrigierbare Ende eines falschen Lebens handelt – zu einem qualvollen Sterben, einem anhaltenden Aufschrei. Der Schrei erfolgt also nicht auf Grund der Todesangst, sondern aus der Einsicht in sein unkorrigierbar verfehltes Leben. Das, was Tolstoi hier literarisch gestaltet, versucht Josef König14 (1893–1974) als Inhomogenität des modus ponens aufzuzeigen, wenn dieser implizit problematisch verstanden wird als zusammengesetzt aus theoretischen Sätzen (›Jedes x ist sterblich‹; ›a ist ein Element der Klasse x‹; ›Daraus folgt: a ist sterb-

Sterben als Krankheit?

Die logische Struktur des modus ponens

13 | Leo N. Tolstoi, Der Tod des Iwan Iljitsch, a.a.O. (Fn. 10), S. 64f. 14 | Josef König, Der logische Unterschied theoretischer und praktischer Sätze und seine philosophische Bedeutung. Freiburg, München 1994, insb. S. 191ff. Leider sind für diesen Problembereich wesentliche Teile der Vorlesung nicht ediert. Eine von König selbst zur Veröffentlichung vorgesehene Ausarbeitung dieses Gedankens liegt mit seinem gleich betitelten Beitrag zur Misch-Festschrift vor: Eine Andere Hermeneutik. Georg Misch zum 70. Geburtstag, hg. von M. Weingarten, Bielefeld 2004.

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lich‹) und praktischen Sätzen (›Iwan Iljitsch ist ein Mensch und ist daher sterblich‹; ›Ich, der Leser oder die Leserin dieses Bandes, bin ein Mensch und daher sterblich‹) und wenn weiter behauptet wird, dass Sätze des Typs ›Jeder Mensch ist sterblich‹ formgleich seien mit Sätzen wie ›Ich, der dies geschrieben hat, bin sterblich‹; ›Du, der du dies liest, bist sterblich‹. Die behauptete Formgleichheit impliziert u. a. auch, dass mit all diesen Sätzen der gleiche Gegenstand gemeint sei, dass der universelle Satz (jeder Mensch, alle Menschen) als Summe der einzelnen wirklich existierenden Menschen (ich, du, Iwan Iljitsch, Cajus und alle anderen einzelnen Menschen) verstanden werden könne. So wird verkannt, dass die Geltung des Schlusses, würden in ihm wirkliche Menschen gemeint sein, an die Existenz von Menschen gebunden wäre und diese zur Voraussetzung hätte. Dagegen ist formal korrekt als Gegenstand der Behauptung ›Jeder Mensch ist sterblich‹ die Funktion ›x ist ein Mensch und x ist sterblich‹ bestimmt sowie deren behauptetes Immer-wahr-Sein; diese Behauptung würde bspw. auch dann gelten, wenn keine Menschen existieren würden. Drei Eckpunkte König deutet als eine weitere Konsequenz seiner Rekonstrukdes Denkens tion der logischen Form des modus ponens an, dass zwischen über Sterben ›Individuen der Logik‹, die als Argumente anstelle der Variablen x in die Satzfunktion eingeführt werden, und ›natürlichen Individuen‹ im Sinne von wirklichen Menschen unterschieden werden müsse. Mit dieser Unterscheidung erstens von ›natürlichen‹ Individuen im Zusammenhang praktischer Sätze und ›Individuen der Logik‹ im Zusammenhang theoretischer Sätze; zweitens dem behaupteten Unterschied theoretischer und praktischer Sätze sowie drittens der Überlegung, dass nur vom abgeschlossenen Leben, dem Gestorbensein, die Sinnhaftigkeit eines von einem Individuum gelebten Lebens beurteilt werden kann, sind die begrifflichen Eckpunkte benannt, die eine philosophische Behandlung des Sterbens erlauben sollen. Da sich alle drei Momente in unterschiedlicher Weise auf den Lebensvollzug und dessen Reflexion und nicht auf die ›Natur‹ des Menschen beziehen – sei es im Sinne eine konstitutiven Wesensbehauptung, sei es im Sinne einer biologischen Argumentation –, soll nun die Rede vom Sterbenmüssen weiter analysiert werden, da in diesem Kontext regelmäßig in naturalistischer Absicht bzw. mit naturalistischen Folgen auf biologisches Wissen zurückgegriffen wird.

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Sterbenmüssen als ein ›Wissen, dass…‹ | Die von Walser verwendete unpersönliche Formulierung (»wenn schon gestorben Sterben als ein sein soll«) und der in ihr zum Ausdruck gebrachte Sollenscha- ›Wissen, dass…‹ rakter wurde versuchsweise dahingehend interpretiert, dass einem individuellen Leben ein bestimmter Sinn (als gelungenes oder misslungenes Leben) nur zugesprochen werden kann, wenn dieses Leben als abgeschlossen (›gestorben sein soll‹ und nicht ›gestorben werden soll‹) unterstellt wird. Da wir, solange wir leben, unser eigenes Leben nicht als in diesem Sinn abgeschlossen erfahren können15, sind wir auf Reflexionsmittel angewiesen, mit denen wir versuchen, uns unser Sterben und Gestorbensein zum Zweck der (vorläufigen) Beurteilung unseres (bisherigen) Lebensvollzugs zu imaginieren. Walser bringt diese reflexive Dimension zum Ausdruck, indem er von der unpersönlichen Formulierung des Konditional-Satzes ›wenn schon gestorben sein soll‹ mit dem Folge-Satz in die persönliche Rede (›ich‹) wechselt und das Gestorbensein als Resultat eines Tuns (›ich sterbe‹) aufzeigt. Neben der Erfahrung des Todes Anderer16 kann insbesondere der Roman ein solches Reflexionsmittel sein. Wird dagegen vom Sterben als einem irgendwie gearteten Müssen gesprochen, dann wird nicht nur dieses besondere Tun (sterben) und das Resultat dieses Tuns (gestorben sein) in ein als unausweichlich vorgestelltes Widerfahrnis transformiert, das mir (passiv als dem dies Erleidendem) zustößt oder widerfährt, sondern zugleich wird dieses, mein besonderes Tun resp. das sich an mir Ereignende insofern als etwas Allgemeines, gerade nicht als je Besonderes, nur von mir zu Tuendem oder nur an mir sich Ereignendem, vorgestellt (›alle Menschen sind sterblich‹), 15 | Zwar können wir versuchen, unser Leben mit der Vorstellung zu rekonstruieren, dass es jetzt – im Augenblick der Rekonstruktion – beendet sei. Da wir aber ›in Wirklichkeit‹ weiterleben, kann ein so autobiografisch als gelungen beurteiltes Leben immer noch misslingen, und sei es im Vollzug des Sterbens als eines Tuns; und umgekehrt kann ein als misslungen rekonstruiertes Leben doch noch gelingen. 16 | Die Erfahrung des Sterbens Anderer und zugleich des eigenen Überlebens kann, wie Canetti gezeigt hat, durchaus problematisch als ›Überleben‹ auf Grund einer besonderen Leistung oder besonderen Stellung, als Auszeichnung des Überlebenden im Unterschied zum Gestorbenen missverstanden werden; vgl. Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt/Main 2003, S. 267ff.

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Eine anthropologische Perspektive

Eine biowissenschaftliche Perspektive

sodass sich mein individuelles, von niemandem sonst vollziehbares Sterben zu diesem Allgemeinen wie ein Typen-Exemplar (token) zu dem Typus verhält. Damit wird ein praktischer Satz, der kontextgebunden ist und in dem in Form eines Satzes ein bestimmtes Tun ausgedrückt wird, bezüglich seines Satzcharakters behandelt, als wäre er ein theoretischer Satz. So schreibt etwa Helmuth Plessner (1892–1985) als theoretischen, nämlich irgendwie aus den Biowissenschaften oder einer Naturphilosophie abgeleiteten allgemeinen Satz: »Die Endlichkeit, das Sterbenmüssen, teilt der Mensch mit allem, was lebt.«17 Insofern das Sterbenmüssen etwas bezeichnet, das allen Lebewesen gemeinsam ist, scheint damit ein Sachverhalt ausgesprochen zu sein, der, indem er von der Natur in irgend einer Weise allem Lebendigen vorgegeben ist, auch nur naturwissenschaftlich weiter thematisiert werden kann. So beginnt auch der Artikel Sterben/Sterblichkeit im Lexikon der Bioethik konsequent mit der Beschreibung des naturwissenschaftlichen Wissens um die Ursachen des Sterbenmüssens. »Sterben bezeichnet die letzte Phase des Lebens eines organischen Individuums, in welcher seine Lebensfunktion unumkehrbar verlöscht. Die Sterblichkeit, also die Tatsache des Sterben-Müssens, gehört zu den Grundkonstituenten aller mehrzelligen Lebewesen. […] Der Alterstod ist in unserem Erbgut vorprogrammiert und die jedem Individuum erblich vorgegebene maximale Lebensdauer beträgt beim Menschen (mit wenigen Ausnahmen) 85 bis 95 Jahre. […] Die Lebensdauer kann durch nichts über die vorgegebene Grenze hinaus verlängert werden.«18 Aber diese so apodiktisch vorgetragene biowissenschaftliche Beschreibung wirft sofort Fragen auf, die letztendlich die Behauptung des Sterbens als eines Müssens durchaus hinterfragbar erscheinen lassen. Denn offenkundig müssen – entgegen Plessners Behauptung – nicht alle Lebewesen sterben, sondern nur 17 | Helmuth Plessner, Der Mensch als Lebewesen, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VIII, Frankfurt/Main 1983, S. 327 18 | Lexikon der Bioethik, hg. von Wilhelm Korff, Gütersloh 1998, Bd. 3, S. 454; Hervorhebungen von mir. Ohne die biowissenschaftlichen Sachverhalte kennen zu können, auf die sich das Lexikon der Bioethik beruft, hat Elias Canetti in seinem Drama Die Befristeten die anthropologischen Konsequenzen dargestellt, die die Behauptung eines vorgegebenen und damit auch erkennbaren Endes des individuellen Lebens haben.

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mehrzellige resp. nur solche Lebewesen, die mehrzellig sind und von denen als Individuen gesprochen werden kann. Bei einzelligen Lebewesen dagegen könne – auch für den Fall, dass sie biowissenschaftlich sinnvoll als Individuen bezeichnet werden könnten – nicht eigentlich von Sterben und Tod gesprochen werden. Was aber ist biologisch gesehen ein Individuum?19 Mit diesem Wort muss mehr gemeint sein als nur ein einzelnes Lebewesen – aber worin dieses ›mehr‹ besteht, darüber geben die Biowissenschaften keine verbindliche Auskunft: Besteht die Individualität in der spezifischen Funktion eines einzelnen Gens (womit das Gen ein Individuum wäre) oder in der einmaligen Genkombination, die mit einem einzelnen Lebewesen vorliegt? Oder – nur um die Bandbreite möglicher Antworten anzudeuten – handelt es sich bei der Individualität um den Gen-Pool einer Population einzelner Lebewesen? Oder gar um die jeweilige Art als Summe der Populationen einzelner Lebewesen? Biowissenschaftlich ist höchst unklar, was mit der Behauptung gemeint ist, dass Lebewesen, insofern es sich um Individuen handelt, sterben müssten. Wenn aber biowissenschaftlich unklar ist, was ein Individuum ist, dann muss notwendig auch eine biowissenschaftliche Bestimmung von Sterben als einem ›Müssen‹ unklar bleiben, da eben von Sterbenmüssen nur bezüglich Individuen geredet werden kann. Gestehen wir für den Augenblick nun zu, dass es eine zurei- Alterstod chende biologische Bestimmung von Individualität gebe und das Sterbenmüssen solcher Individuen dann bspw. damit begründet werden könne, dass es in Folge der Zellteilung zu irreversiblen Alterungsprozessen bei den sich teilenden Zellen komme. Der Zeitpunkt des ›programmierten Todes‹ als Alterstod könnte dann anhand der Summe der stattgefundenen Zellteilungen abgelesen werden. So wird etwa in der biowissenschaftlichen Altersforschung vermutet, dass es bei jeder Zellteilung zur Verkürzung der sog. Telomere komme, an deren Länge bestimmt werden könne, wie viele Teilungsvorgänge die jeweilige Zelle schon hinter sich hat und wie viele ihr bei voller Funktionsfähigkeit noch möglich sind. Aber genau die Aufschlüsselung eines solchen 19 | Zur Unklarheit des Individuum-Begriffs in den Biowissenschaften vgl. bspw. Wolfgang Wieser, Die Erfindung der Individualität, Heidelberg, Berlin 1998. Einzelheit und Individualität werden dort nicht begrifflich unterschieden.

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Wer muss oder ähnlichen biologischen Mechanismus, der Alterungsvorgänsterben? ge verursacht und so Sterben und Tod des jeweiligen Individu-

ums herbeiführt, bietet auch einen Einsatzpunkt experimenteller Forschung, um diesen Prozessen entgegenzuwirken. Sterben und Tod sind in dieser Hinsicht schon dem Leben, insofern es individuiert ist, eingeschriebene, immanente Faktoren. Sollte ein Lebewesen vor dem programmierten Alterstod sterben, dann könne dies nur durch externe und/oder dem Lebensvollzug kontingente Faktoren wie Krankheiten, fehlender Nahrung, Gefressenwerden und dergleichen mehr verursacht sein. Fasst man diese beiden Perspektiven zusammen, dass erstens nicht alle Lebewesen sterben müssen und dass zweitens für das faktische Sterben von Lebewesen Ursachen benannt werden können, denen im Prinzip kausal entgegengewirkt werden kann – durch Medizin, gesicherte Ernährung, Ausschaltung von Gewalt –, dann kann gesagt werden: Biowissenschaftlich gesichert ist, dass Lebewesen durch externe Einflüsse sterben können; dass (bisher, faktisch) einige Formen von Lebewesen sterben müssen, nämlich solche, die als Mehrzeller und als Individuen existieren; dass Sterben und der Tod von Lebewesen nicht konstitutiv für Lebendiges ist, sondern diesen gegenüber bloß faktisch und kontingent ist. Und daraus kann durchaus gefolgert werden, dass bei mehrzelligen und individuierten Lebewesen im Prinzip der Mechanismus, der für Alterung, Sterben und Tod die Ursache ist, außer Kraft gesetzt werden könne und somit das bisherige faktische Sterbenmüssen solcher Lebewesen (unter Einschluss der Menschen) zu einem Sterbenkönnen reduziert werde, solange nämlich die notwendigen Reparaturmaßnahmen noch nicht bekannt sind und/oder noch nicht funktionieren. Sterben als Genau hierdurch, dass die Naturwissenschaften, zumindest Krankheit in ihren Anfängen, eine technische Praxen stützende Funktion haben, eröffnet sich auch die Möglichkeit einer technischen Beschreibung menschlicher Lebensvollzüge einschließlich des Sterbens und des Todes, in der jegliches Sterben als Sterben in Folge einer Krankheit reartikuliert werden kann. War es, wie eingangs erwähnt, immer schon ein Traum von Menschen, unbegrenzt leben zu können, so scheint mit den Bio- und Gentechniken auf Grund ihres kausalen Wissens dieser Traum (wieder einmal) eine technisch realisierbare Perspektive bekommen zu haben. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es sich bei Leben, Sterben und Tod auch und gerade des 20

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Menschen ausschließlich um erstens naturale Prozesse handelt, die zweitens kausal erklärt und über das Wissen um kausale Zusammenhänge dann auch drittens technisch manipuliert werden können, denen gegenüber aber viertens die praktischen Dimensionen der Lebensvollzüge von Menschen sekundär und nachgeordnet sind. Eine solche, der Technik und dem technischen Handeln abgelesene Beschreibung des Sterbens und des Todes von Menschen könnte folgendermaßen aussehen: Geht bei einem technisch strukturierten Ding, bspw. einem Auto, eine Komponente entzwei, so kann man sich bekanntlich auf einem ›Autofriedhof‹ relativ kostengünstig ein entsprechendes Ersatzteil besorgen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Diskussion um Sterben und Tod in der gegenwärtigen Bio-Medizin und Bio-Ethik von Vorstellungen geleitet ist, die von solchen technischen, auf einem Kausalwissen basierenden Reparatur- und Austauschvorgängen abgelesen wurden: Kranke (unter Einschluss der in Folge ihres Alters Sterbenden) werden daraufhin beurteilt, ob und inwiefern bei ihnen eine ›Reparatur‹ noch möglich und lohnenswert ist, sodass den Kranken, deren Wiederherstellung als möglich und sinnvoll beurteilt wird, Komponenten von den Kranken eingebaut werden können sollen, deren Reparatur entweder nicht mehr möglich oder nicht mehr sinnvoll (bezüglich einer Kosten-Nutzen-Relation) ist. Der technische Praxen strukturierende Begriff eines Dings wird in dieser Konzeptualisierung von Medizin in den Begriff des Körpers (des Körper-Dings) übersetzt, der in dieser Weise ausschließlich natural über biowissenschaftliches kausales und funktionales Können und Wissen beschrieben und erklärt werden soll. Die Leiblichkeit des Menschen kann so gar nicht in den Blick kommen. Von ihrer Explikation aus kann die Differenz von Leib-Sein und Körper-Haben phänomenologisch (Maurice Merleau-Ponty [1908–1961], Hermann Schmitz, Gernot Böhme) oder naturhermeneutisch (Plessner) erst begrifflich gewonnen werden. Dies gilt erst recht für das Verständnis von Leiblichkeit als ›mittlere Eigentlichkeit‹ (König, G.W.F. Hegel [1770–1831]), die die Unterscheidung von Leib als Objektsubjektivem und Körper als Subjektobjektivem als Selbstunterschied der Leiblichkeit ermöglicht. Uns mag es zwar so scheinen, als ob ein solches technisches Verständnis von Leben, Krankheit, Sterben und Tod sich erst jetzt, in Folge der molekulargenetischen Revolution auch in der

Kausales Wissen und technische Beschreibung

Technisierung der Medizin

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Medizin, vollzogen habe. Aber schon Max Weber (1864–1920) hat eine solche, zu seiner Zeit schon absehbare Technisierung der Medizin als ein Moment der »Entzauberung der Welt« in Folge der instrumentell verkürzten Rationalisierung aller Lebensbereiche bestimmt. Bezüglich der Medizin als einer hoch entwickelten praktischen Kunstlehre hält er fest: »Die allgemeine ›Voraussetzung‹ des medizinischen Betriebs ist, trivial ausgedrückt: daß die Aufgabe der Erhaltung des Lebens rein als solchen und der möglichen Verminderung des Leidens rein als solchen bejaht werde. Und das ist problematisch. Der Mediziner erhält mit seinen Mitteln den Todkranken, auch wenn er um Erlösung vom Leben fleht, auch wenn die Angehörigen, denen dies Leben wertlos ist, die ihm die Erlösung vom Leiden gönnen, denen die Kosten der Erhaltung des wertlosen Lebens unerträglich werden – es handelt sich vielleicht um einen armseligen Irren –, seinen Tod, eingestandener- oder uneingestandenermaßen, wünschen und wünschen müssen. Allein die Voraussetzungen der Medizin und das Strafgesetzbuch hindern den Arzt, davon abzugehen. Ob das Leben lebenswert ist und wann?, – danach fragt sie nicht. Alle Naturwissenschaften geben uns Antwort auf die Frage: Was sollen wir tun, wenn wir das Leben technisch beherrschen wollen? Ob wir es aber technisch beherrschen sollen und wollen, und ob das letztlich eigentlich Sinn hat: – das lassen sie ganz dahingestellt oder setzen es für ihre Zwecke voraus.«20 Selbstverständlich können wir Leben, einschließlich menschlichen Lebens, technisch-instrumentell beschreiben. Und bezüglich bestimmter Zwecksetzungen ist eine solche Beschreibung auch unstrittig gerechtfertigt. Ob wir dies aber müssen21, weil nur so Leben, einschließlich menschlichen Lebens, erklärt werden kann, andere Beschreibungen – weil nur die proximaten, nicht aber die ultimaten Ursachen22 erfassend – also prinzipiell 20 | Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, S. 599f. 21 | Wie in vielen Konzeptualisierungen einer ›Lebenswissenschaft‹ behauptet; vgl. hierzu M. Weingarten, Die Biologie auf dem Weg zur TechnikWissenschaft? Anmerkungen zu den Life-sciences, in: J. Schulz (Hg.), Focus Biologiegeschichte – Zum 80. Geburtstag der Biologiehistorikerin Ilse Jahn, Berlin 2002, S. 159–168 22 | Vgl. hierzu Gerhard Schlosser, M. Weingarten (Hg.), Formen der Erklärung in der Biologie, Berlin 2002

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ausgeschlossen sind, darf mit guten Gründen bestritten werden.23 Weber hält fest, dass eine technische Beschreibung dann und nur Ziele und Zwecke dann sinnvoll und gerechtfertigt ist, wenn die Ziele und Zwecke einer solchen Beschreibung gerechtfertigt und nur die Mittel zur Erreichung dieses Zwecks klärungsbedürftig sind. Sind aber die Ziele und Zwecke unklar oder gar strittig, dann ist vor einer jeden wissenschaftlichen Bemühung eine praktische Stellungnahme erforderlich, die von keiner Wissenschaft geleistet werden kann. Denn was bei der wissenschaftlichen Arbeit wichtig im Sinn von wissenswert ist, kann selbst nicht mit den Mitteln der Wissenschaft bewiesen werden, sondern muss im verständigungsorientierten Diskurs der Zeitgenossen immer wieder neu ausgehandelt und auf seine Universalisierbarkeit hin überprüft werden. Und – das zeigen alle Beiträge zum Thema Leben, Sterben und Tod – dies betrifft in eminenter Weise all die Fragen, die um die Klärung der Rede vom Sinn und Wert menschlichen Lebens zentriert sind: Die Ziele und Zwecke ärztlichen Handelns bezüglich des Umgangs mit Sterbenden sind unklar und können von der Medizin als Wissenschaft mit den ihr zur Verfügung stehenden begrifflichen Mitteln auch gar nicht geklärt werden.24 23 | Vgl. M. Weingarten, »Versuch über das Mißverständnis, der Mensch sei von Natur aus ein Kulturwesen«, Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie VIII, Berlin 2001, S. 137–172; ders., »Der falsche Traum der Schöpfung. – Oder: Wie Befürworter und Kritiker der Gentechnik auf dem falschen Terrain streiten«, Das Argument 242/2001, S. 562–574 24 | Insofern wehren sich viele Ärzte auch völlig zu Recht gegen die ihnen von Patienten und deren Angehörigen aufgenötigte Verantwortung zu entscheiden, ob auf Grund des Gesundheitszustands des Patienten passive oder aktive Sterbehilfe geleistet werden soll. Letztendlich sind es ja die Ärzte, die dann das Sterben eines Menschen zulassen oder bewirken. Dies gilt auch für Patientenverfügungen: Denn es ist wiederum der jeweils behandelnde Arzt, der entscheiden muss, ob die konkrete, besondere Situation des Kranken und möglicherweise Sterbenden genau eine solche ist, wie sie notwendigerweise allgemein (denn niemand kann genau um die Bedingungen und Konstellationen seines Sterbenkönnens wissen) in der Patientenverfügung beschrieben wurden. Für eine solche, ihr weiteres Tun dann leitende Entscheidung sind die Ärzte auf einen in öffentlicher Diskussion herbeigeführten Konsens bezüglich des Sterbens und Gestorbenseins angewiesen. Argumente für den Umgang mit Sterbenden, die auf dem jeweils zur Verfügung stehenden medizinischen Können und Kennen beruhen, sol-

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Praktische Werden nun praktische Stellungnahmen durch wissenschaftStellungnahmen liche Beschreibungen substituiert, also wird bspw. behauptet,

dass das von Menschen gelebte Leben genauso beschrieben werden müsse wie jedes nichtmenschliche Leben auch, dann braucht oder sogar kann das Sterben eines Menschen etwa in Folge einer Krankheit oder eines Unfalls begrifflich nicht mehr von dem Sterben am Ende eines gelebten Lebens unterschieden werden. Das Sterben erscheint in beiden Fällen als Folge von Krankheiten, die von Seiten der Medizin bekämpft und – im Idealfall auch – besiegt werden müssen. Dies hat zur praktischen Folge, dass der Arzt sich verpflichtet fühlt, auch den alten und sterbenden Menschen mit allen technischen Mitteln ›am Leben‹ zu halten, so wie es selbstverständlich geboten ist, einen Kranken oder Verletzten mit sämtlichen ärztlichen Mitteln wieder in den Zustand der Gesundheit zu überführen. Kurz, in dieser technischen Perspektive erscheint das Sterben eines Menschen in jedem Fall als kontingent, grundsätzlich abwendbar, das individuelle Leben prinzipiell unabschließbar und somit – zumindest perspektivisch und der Möglichkeit nach – ewig dauernd. ›Wissen um das Sterbenmüssen‹ als kulturelles, aber doch naturalistisch bestimmtes Wissen | Wenn naturwissenschaftlich nicht bestimmt werden kann, inwiefern das Sterben ein Müssen ist, das dem Einzelnen widerfährt oder von ihm getan werden muss, können kulturwissenschaftliche Untersuchungen darüber Aufschluss geben. Oder müssen sie, weil sie ja Wissenschaften sind oder doch beanspruchen, solche zu sein, aus denselben Gründen an der Aufklärung dieses Sachverhalts wie die naturwissenschaftlichen Bemühungen scheitern, weil auch sie ihre Beschreibungen und Erklärungen nach dem type-token-Schema des theoretischen Wissens strukturieren? Die Perspektive Von Historikern wie Philippe Ariès25 und von Soziologen wie eines Historikers Norbert Elias26 (1897–1990) und Zygmunt Bauman27 wurde – len und müssen in diesen Diskurs eingebracht werden, können ihn aber nicht allein und ausschließlich bestimmen. 25 | Philippe Ariès, Geschichte des Todes, München 1982; ders., Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, München 1981 26 | N. Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden, Frankfurt/Main 1982 27 | Zygmunt Bauman, Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien, Frankfurt/Main 1994

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sozusagen in Bestätigung der weberschen These der Entzauberung der Wirklichkeit in Folge des Dominantwerdens zweckrationalen Denkens und Handelns – materialreich herausgearbeitet, dass sich mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl die technische Strukturierung des Sterbens, und damit einhergehend die Identifizierung von Sterben am Ende des Lebens mit Sterben in Folge einer Krankheit, als auch die Verdrängung von Sterben und Tod im öffentlichen Bewusstsein durchgesetzt haben. Benjamin hat diese Veränderung im Kontext seiner Untersuchungen zum Erzähltyp des Romans in der Krise der Mitteilbarkeit von Erfahrungen wie folgt beschrieben: »Der Gedanke der Ewigkeit hat von jeher seine stärkste Quelle im Tod gehabt. Wenn dieser Gedanke schwindet, so folgern wir, muß das Gesicht des Todes ein anderes geworden sein. Es erweist sich, daß diese Veränderung die gleiche ist, die die Mitteilbarkeit der Erfahrung in dem Grade vermindert hat, als es mit der Kunst des Erzählens zu Ende ging. Seit einer Reihe von Jahrhunderten läßt sich verfolgen, wie Verdrängung von im Gemeinbewußtsein der Todesgedanke an Allgegenwart und an Sterben und Tod Bildkraft Einbuße leidet. In seinen letzten Etappen spielt sich dieser Vorgang beschleunigt ab. Und im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts hat die bürgerliche Gesellschaft mit hygienischen und sozialen, privaten und öffentlichen Veranstaltungen einen Nebeneffekt verwirklicht, der vielleicht ihr unterbewußter Hauptzweck gewesen ist: den Leuten die Möglichkeit zu verschaffen, sich dem Anblick von Sterbenden zu entziehen. Sterben, einstmals ein öffentlicher Vorgang im Leben des Einzelnen und ein höchst exemplarischer (man denke an die Bilder des Mittelalters, auf denen das Sterbebett sich in einen Thron verwandelt hat, dem durch weitgeöffnete Türen des Sterbehauses das Volk sich entgegen drängt) – sterben wird im Verlauf der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter herausgedrängt. Ehemals kein Haus, kaum ein Zimmer, in dem nicht schon einmal jemand gestorben war. (Das Mittelalter empfand auch räumlich, was als Zeitgefühl jene Inschrift auf einer Sonnenuhr von Ibiza bedeutsam macht: Ultima multis.) Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien oder in Krankenhäuser verstaut. Nun ist es aber an dem, daß nicht etwa nur das Wissen oder die Weisheit des Menschen, sondern vor allem sein ge25

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lebtes Leben – und das ist der Stoff, aus dem die Geschichten werden – tradierbare Form am ersten Sterbenden nimmt. So wie im Innern des Menschen mit dem Ablauf des Lebens eine Folge von Bildern sich in Bewegung setzt – bestehend aus den Ansichten der eigenen Person, unter denen er, ohne es inne zu werden, sich selber begegnet ist –, so geht mit einem Mal in seinen Mienen und Blicken das Unvergeßliche auf und teilt allem, was ihn betraf, die Autorität mit, die auch der ärmste Schächer im Sterben für die Lebenden um ihn her besitzt. Am Ursprung des Erzählten steht diese Autorität.«28 Vorrang So wichtig solche Studien auch sein mögen, so eignet allen praktischen historischen, kulturwissenschaftlichen und sozialen ForschunWissens gen zu den Problembereichen von Leben, Sterben und Tod doch eine prinzipielle Grenze, die von Jacques Derrida präzise herausgearbeitet wurde: »Es gibt zunächst die Beschränkung des semantischen oder onto-phänomenologischen Typs: Der Historiker weiß, er glaubt zumindest zu wissen, er gibt sich das in Frage stehende Wissen dessen, was der Tod ist, was Totsein besagt und folglich all die Kriterien, die erlauben werden, die Gegenstände seiner Untersuchung oder des thematischen Feldes seines historisch-anthropologischen Wissens zu identifizieren, wiederzuerkennen, zu selegieren und abzugrenzen. Die Frage nach dem Sinn des Todes, und des Wortes ›Tod‹, die Frage: ›Was ist der Tod im allgemeinen?‹, ›Was ist die Erfahrung des Todes?‹ und die Wissensfrage, ob der Tod ›ist‹ – und was der Tod ›ist‹ –, bleiben als Fragen grundsätzlich abwesend. Sie werden von vornherein als durch dieses historisch-anthropologische Wissen als solches gelöst unterstellt, und zwar in dem Moment, wo es sich einrichtet und seine Grenzen errichtet. Diese Voraussetzung nimmt die Form eines: ›Das versteht sich von selbst‹ an; jedermann weiß genau, wovon man spricht, wenn man den Tod nennt.«29 Also nicht nur gegen naturwissenschaftliche Definitionsversuche von Leben, Sterben und Tod ist Einspruch zu erheben, sondern (zunächst zumindest) gegen jegliche wissenschaftliche Bemühungen in diesem Problembereich, insofern sie als Wissenschaften das Primat theoretischen Wissens vor dem praktischen 28 | Walter Benjamin, Der Erzähler, a.a.O. (Fn. 4), S. 449f. 29 | Jacques Derrida, Aporien. Sterben – Auf die »Grenzen der Wahrheit« gefasst sein, München 1998, S. 50. Dort findet sich auch eine brillante Kritik der zynischen Todes-Metaphysik von Heidegger.

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behaupten. Denn auch wenn der Historiker Geschichten des Sterbens und des Todes erzählt, so erzählt er sie doch als exemplarische Geschichten des entweder ›richtigen, weil natürlichen‹ oder ›falschen‹ Sterbens und des ›guten‹ oder des ›wilden oder verbotenen, weil technisch entgrenzten‹ Todes, strukturiert also seine Erzählung nach Maßgabe des type-token-Schemas, in dem der einzelne Fall als Beispiel – und nur als solches – einer allgemeinen Regel fungiert. So schreibt Ariès unter dem programmatisch und normativ gemeinten Titel Der gezähmte Tod: »Festgehalten sei, daß die Ankündigung [des Todes] sich aus natürlichen Zeichen ergab, oder, häufiger noch, eher aus einer inneren Überzeugung als aus einem übernatürlichen oder magischen Vorgefühl hervorging. Es war das etwas sehr Einfaches, sich durch alle Zeiten Hindurchziehendes, das noch in den heutigen Industriegesellschaften zum Teil überlebt hat. Etwas, das sowohl der Sphäre des Wunderbaren wie der der christlichen Frömmigkeit fremd ist: das spontane Erkennen. Da gibt es nichts zu mogeln oder so zu tun, als hätte man nichts bemerkt.«30 Und an anderer Stelle unter dem ebenfalls programmatisch und normativ gemeinten Stichwort »Der eigene Tod«: »Die Vertrautheit mit dem Tode ist eine Form der Anerkennung der Ordnung der Natur – einer Anerkennung, die sich im Alltagsleben naiv gibt und zugleich in astrologischer Spekulation geschult ist.«31 Aber schon Benjamin hatte geschrieben, dass die Leser eines Romans (als einer Art des Erzählens) in der Erzählung nach ›Zeichen‹ des Sterbens suchen, des sich ankündigenden Todes, nach irgendwie ›objektiven‹, ›natürlichen‹ Zeichen, nicht nur für das Sterben und den Tod derjenigen Person, deren Geschichte erzählt wird, sondern für jegliches Sterben und jeglichen Tod signifikante Zeichen sind. Diese Erwartung des Lesers könne nie befriedigt werden. Und insofern ist die Rede von Zeichen, erst recht von ›natürlichen‹ Zeichen, äußerst erklärungsbedürftig. Ariès aber sieht dies weder als Problem noch als Aufgabe. Er erläutert nicht, was ein ›natürliches Zeichen‹ noch was eine ›innere Überzeugung‹ ist; auch nicht, was ›spontanes Erkennen‹ und inwiefern dies ›etwas sehr Einfaches‹ ist. Gleichfalls bleibt un-

Der ›gezähmte Tod‹

Zeichen des Sterbens

30 | Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, a.a.O. (Fn. 25), S. 20, Hervorhebungen von mir 31 | Ebd., S. 31, Hervorhebungen von mir

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klar, ob die ›Anerkennung‹ mehr meint und, wenn ja, was sie mehr meint als ein bloßes Hinnehmen des faktischen So-seins der ›Ordnung der Natur‹. Sind – so muss gefragt werden – solche Terme erkenntnistheoretische, ontologische oder in einer Theorie des Wissens basierte begriffliche Konzepte? Oder handelt es sich vielleicht nicht nur um die subjektive Meinung der Person Ariès? Genau diese Unklarheiten bestätigen den Einwand Derridas gegen Ariès und andere Historiker, dass sie solche begriffliche Konzepte immer schon zur Verfügung haben müssen, um ihre Quellenmaterialien interpretieren zu können. ›Richtiges‹ oder Als normative, weil auf das ›richtige‹ Sterben und den ›rich›exemplarisches‹ tigen‹ Tod abzielende Folgerungen aus dem historischen MateriSterben? al stellt Ariès bspw. vor, dass man den Tod liegend, »auf dem Krankenbett«32 erwartet; dass der Tod eine vom Sterbenden organisierte öffentliche und genau festgelegte Zeremonie ist. Zugestanden, solche Folgerungen ließen sich aus dem historischen Material ziehen, müsste gerade von einem Historiker doch die Frage gestellt werden, welchen Status das Erzählte auf Grund der Form der Erzählung hat. Ob etwa die erzählte Geschichte einer mit einem Eigennamen versehenen Person gar nicht das individuelle Sterben dieser Person berichtet, sondern das exemplarische Sterben und der exemplarische Tod? Also berichten, wie eine Person dieses oder jenes Standes sterben soll, wenn sie denn schon sterben muss und auch im Sterben und Tod ein würdiges Mitglied dieses Standes sein oder bleiben möchte, im Unterschied zu oder sogar in Kritik am faktischen Sterben und Tod der Angehörigen dieses Standes. Die Zielrichtung der Kritik solcher exemplarisch gemeinten Erzählungen könnte etwa am Sachverhalt des gewaltförmigen Sterbens und Todes gerade von Rittern deutlich werden. So könnte sich das Sterben im Bett eher als Ausnahme der Regel vom gewaltsamen Tod herausstellen und nicht als in irgend einem Sinne ›natürlich‹. Die von Ariès herangezogenen Texte formulieren dann das Ideal des Sterbens – so wie die Ritter- oder Königsgeschichten, auch wenn sie einen Eigennamen verwenden, nicht die faktische Beschreibung des Lebens, 32 | Ebd., S. 24; in der Logik der arièsschen Argumentation müsste es eigentlich ›auf dem Sterbebett‹ heißen: denn der so Liegende weiß ja, dass er nicht krank ist und möglicherweise wieder geheilt wird, sondern dass er stirbt. Ich möchte aber nicht ausschließen, dass es sich um einen – dann allerdings bezeichnenden – Übersetzungsfehler handelt.

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Sterbens und des Todes genau dieses Ritters oder genau jenes Königs sind, sondern Idealisierungen, die – unter Verwendung eines Eigennamens – darstellen, wie ein richtiger Ritter oder ein guter König sein Leben zu führen habe? Aber auf den Status der Texte als Erzählungen geht Ariès gar nicht erst ein, sondern er behandelt sie als sichere Fakten, faktisches Wissen. In Kritik an Ariès hält Elias zu Recht fest, dass dieser Geschichte als bloße Beschreibung verstehe. Sichtbar werde dies in der Reihung von Bild an Bild, ohne dass die jeweiligen Bilder oder der Zusammenhang der Bilder in ihren Gemeinsamkeiten oder ihren Unterschieden erklärt würden. Trotz des resp. entgegen dem Anspruch(s), nur zu beschreiben, verknüpfe Ariès mit seinen Beschreibungen normative Ansprüche, dass ›früher‹ das Sterben menschlicher, humaner gewesen sei.33 Dagegen setzt Elias, dass gar nicht das wirkliche Sterben und der wirkliche Tod für den Menschen problematisch sei, sondern das »Wissen vom Tod«.34 Und dieses Wissen sei im Zuge der biologischen Evolution des Menschen zustande gekommen. »Im Zuge der biologischen Evolution, so kann man annehmen, entwickelte sich bei menschlichen Lebewesen eine Art des Bewußtseins, die es ihnen ermöglichte, das Ende, das sie von anderen Lebewesen kannten – von anderen, die ihnen zum Teil als Speise dienten –, auch auf sich selbst zu beziehen. Dank einer unter Lebewesen einzigartigen Vorstellungskraft lernten sie allmählich, dieses Ende vorwegnehmend als unvermeidlichen Abschluß jedes menschlichen Lebenslaufs, auch des eigenen, zu erkennen. Aber Hand in Hand mit der Voraussicht des eigenen Endes ging vermutlich von jeher das Bemühen, dieses unwillkommene Wissen durch willkommenere Vorstellungen zu verdrängen und zu überdecken; und das einzigartige Phantasievermögen der Menschen stand ihnen bei. Das unwillkommene Wissen und die verdeckenden Phantasien sind also wahrscheinlich Geburten der gleichen Stunde der Evolution.«35 Da er mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Mitteln offenkundig weder die Vorgänge des ›wirklichen‹ Sterbens und ›wirklichen‹ Todes – diese bleiben in seinen Untersuchungen völlig

Sterben und das Wissen vom Tod

Defizite kulturwissenschaftlicher Forschungen

33 | Vgl. Norbert Elias, Über die Einsamkeit des Sterbenden, a.a.O. (Fn. 26), S. 23 34 | Ebd., S. 12 35 | Ebd., S. 55f.

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ausgeklammert – noch das Wissen um Sterblichkeit und Tod adäquat thematisieren kann, flieht Elias zu höchst gewagten evolutionsbiologischen Annahmen, von denen er selbst nur sagen kann, dass man sie annehmen könnte, aber nicht wie und warum (aus welchen Gründen) man sie annehmen sollte. Genau damit, dass die Sozial- und Kulturwissenschaften auf einem naturalen Fundament aufruhen, bestätigt aber Elias den Einwand von Seiten der um die Biowissenschaften zentrierten Lebenswissenschaften, dass nämlich die herkömmlichen Sozial- und Kulturwissenschaften nur die proximaten, phänomenalen, nicht aber die ultimaten, kausal relevanten Ursachen der sozialen und kulturellen Entwicklung der Menschen erforschen könnten. Naturalistischer Einen solchen naturalistischen Kulturalismus vertritt Ariès Kulturalismus nicht; er spricht genau nicht von Natur im Sinne der Biowissenschaften, braucht Naturwissenschaften auch nicht zur Begründung seiner Historik. Mit ›Natur‹ ist eher das ›Wesen‹ des Menschen gemeint, so wie in Plessners Naturhermeneutik oder in folgenden Ausführungen Georg Simmels (1858–1918) zum Wesen des Menschen, dem Sterben und Tod konstitutiv zugehören. »Der Tod steht nicht wie ein Schicksal vor uns, das in irgend einem Augenblick eintreten wird, vorher aber nur als Idee oder Prophezeiung, als Furcht oder Hoffnung da ist, ohne in die Realität dieses Lebens bis zu ihm hin einzugreifen. Sondern, dass wir sterben werden, ist eine von vornherein dem Leben einwohnende Qualität, in all unsrer lebendigen Wirklichkeit ist etwas, was nachher als unser Tod nur seine letzte Phase oder Offenbarung findet: wir sind, von unsrer Geburt an, solche, die sterben werden. Freilich sind wir es auf verschiedene Weise; nicht nur in der Art, wie wir subjektiv diese Beschaffenheit und ihren Schlusseffekt vorstellen und auf ihn reagieren, ist verschieden, sondern die Art, wie sich dieses Element unsres Seins mit dessen andren Elementen verwebt, ist von äußerster Mannigfaltigkeit.«36 In diesem Falle ist von einem konstitutionstheoretisch-naturalistischen Kulturalismus zu sprechen. Derrida hat somit völlig Recht, wenn er gegen solche historischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Konzepte den Einwand erhebt, dass sie alle ein (nicht expliziertes) praktisches Wissen um Leben, Sterben und Tod voraussetzen. Vielleicht findet sich in diesem Sachverhalt auch eine Erklärung dafür, dass 36 | Georg Simmel, Soziologie, Frankfurt/Main 1992, S. 102

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philosophisch-anthropologische Bemühungen im 20. Jahrhundert nicht oder doch nur ganz am Rande auf Sterben und Tod eingehen. Denn auch in der Philosophie, insbesondere dort, wo sie sich selbst als Wissenschaft verstand, galt lange, zu lange, der Vorrang theoretischen Wissens vor praktischem, wurde das Verhältnis von theoretischen und praktischen Sätzen nicht zum Gegenstand der Reflexion gemacht.37 Dem müsste die Einsicht entgegen gesetzt werden, die Hegel im zweiten Teil seiner Enzyklopädie schon formulierte: dass zwar Wissenschaften und Philosophie in ihrem Bemühen um einen Begriff des Allgemeinen beide am praktischen Wissen anschließen, das Allgemeine resp. theoretische Wissen, das dann von der Philosophie zu erarbeiten sei, als Allgemeines resp. theoretisches Wissen aber ein radikal anderes sei als das Allgemeine resp. theoretische Wissen, das die Wissenschaften erarbeiten. Sterben und Tod als stärkste Anti-Utopien | Die wohl radi- Anti-Utopien kalste Form der Negation des Sterbens als eines Müssens und des Todes hat Ernst Bloch (1885–1977) in der Verknüpfung dreier Utopien entwickelt: der medizinischen Utopie der letztendlichen Heilbarkeit aller Krankheiten, der politischen Utopie des Kommunismus als sozialer Voraussetzung der naturphilosophischen Utopie des Identischwerdens von Gesellschaft und Natur. Die Verknüpfung der medizinischen mit der sozialen Utopie lautet daher: »Schmerzloses, langes, bis ins höchste Alter, bis in einen lebenssatten Tod aufsteigendes Leben steht aus, wurde stets geplant. Wie neu geboren: das meinen die Grundrisse einer besseren Welt, was den Leib angeht.«38 Diese schon immer verfolgte Planung werde nur realisierbar im Sozialismus. Als Beispiele für das Gelingen solcher Planungen führt Bloch die Erfolge der Sowjetunion im Kampf für ein gesundes und kräftiges Alter im Kampf der Erhaltung »wertvoller Kader auf allen Gebieten des großen Aufbaus« an sowie die »gelungenen sowjetischen Versuche der Wiederbelebung kurz nach eingetretenem Tod«.39 Bloch träumt 37 | Mit, soweit ich sehe, nur zwei, allerdings bedeutenden Ausnahmen: Georg Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, Freiburg, München 1994; Josef König, Der logische Unterschied theoretischer und praktischer Sätze, a.a.O. (Fn. 14) 38 | Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, Frankfurt/Main 1973, S. 546 39 | Ebd., S. 535f.

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Sterben als Abbruch von Zweckrealisierungen

sogar von einer »sozialistischen Eugenik«, die sich in ihren Zielsetzungen, nicht aber in ihren Mitteln radikal unterscheide von der »reaktionären bürgerlich-kapitalistischen Eugenik«. In der Perspektive der gelungenen Verknüpfung der medizinischen mit der sozialen Utopie ergebe sich dann: »Der Leib wurde bisher nur auf begrenzte, auch fragwürdige Arten von Gesundheit orientiert, auch hat die Gesellschaft eine Menge Krankheiten möglich gemacht (venerische, tuberkulöse, neurotische), von denen die Tierwelt wenig oder nichts weiß. Dafür aber meinte der organische Wunschtraum mindestens einen Leib, auf dem nur Lust, nicht Schmerz serviert wird und dessen Alter nicht Hinfälligkeit, als Schicksal, ist. Es ist also dieser Kampf gegen das Schicksal, der medizinische und soziale Utopien trotz allem verbindet.«40 Als Gründe für die Aktualität einer solchen Utopie führt Bloch an, dass heute gesellschaftliche Entwicklung und individuell mögliche Zweckrealisierungen so weit auseinander klaffen würden, dass das je einzelne Individuum sein Leben und die von ihm im Vollzug seines Lebens realisierten Zwecke nur als vollkommen unzureichend erfahren könne gegenüber dem, was gesellschaftlich an Zweckrealisierungen schon wirklich und weiterhin möglich ist. Es bestehe also ein steigendes Missverhältnis zwischen der Bewegung und Länge unserer je individuellen Zweckreihen und der gleich bleibenden Kürze des Lebens. »Heute ist der Zug der Ereignisse so sehr viel länger als unser Leben, der Geschichtsgang ins Neue geometrisch wie dynamisch so verschieden von unserem sich naturhaft senkenden Lebensbogen, daß kein wackerer Mensch noch lebenssatt, im historischen Sinn, sterben kann.«41 Genau aus diesem Missverhältnis gesellschaftlicher und individuell möglichen Zweckrealisierungen auf Grund der Kürze des individuellen Lebens zeigten sich Sterben und Tod als die stärksten Anti-Utopien, die es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln – und d.h. zunächst: durch die Herbeiführung des Kommunismus weltweit – zu bekämpfen gelte. »Kein Feind erschien darum zentraler, keiner war so unausweichlich postiert, keine Gewißheit in dem durchaus ungewissen Leben und seinen Zweckbildungen ist mit der des Todes auch nur vergleichbar. Nichts steht so finalistisch wie er am Ende, und nichts 40 | Ebd., S. 541 41 | Ebd., Bd. 3, S. 1300

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zerschmettert zugleich den Subjekten der historischen Zwecksetzung ihre Arbeit so antifinalistisch zum Fragment. Die Kiefer des Todes zermalmen alles, und der Schlund der Verwesung frißt jede Teleologie, der Tod ist der große Spediteur der organischen Welt, aber zu ihrer Katastrophe. Keine Enttäuschung also mißt sich mit seinem negativen Ausblick, kein Verrat kurz vor dem Ziel scheint dem des Exitus letalis gleichzukommen. Desto heftiger aber auch die Notwendigkeit, Wunsch-Evidenzen gegen diese so wenig einleuchtende Gewißheit zu setzen, als gegen eine bloße Tatsachen-Wahrheit in der mit dem Menschen unvermittelten Welt.«42 Jedoch bleibt auch im Kommunismus der Tod immer noch Sterben und ein naturhafter, der durch eine gesellschaftliche Revolution allei- Tod naturhaft ne nicht beseitigt werden könne. Das im Kommunismus mit sich identisch gewordene – durch die Aufhebung der Klassenwidersprüche – gesellschaftliche Subjekt eröffnet nun die Möglichkeit bzw. stelle als die im Kommunismus zu lösende letzte Vermittlungsaufgabe die Aufhebung des Widerspruchs zwischen dem Gesellschafts- und dem Natursubjekt. »Die Vermittlung mit dem Naturhaften daran ist nun gerade für die befreite, solidarisch gewordene Menschheit ein spezifisch welthaftes, weltanschauliches Problem. […] Die Vermittlung mit dem Subjekt der Gesellschaft ist in der klassenlosen gelungen, jedoch das hypothetische Subjekt der Natur, woraus der Tod kommt, liegt auf einem anderen Feld, auf einem weiteren als dem des geglückten sozialen Einklangs.«43 Solange der Prozess der Vermittlung zwischen gesellschaftlichem Subjekt und Natursubjekt noch anhält, ist der Tod des Individuums schicksalhaft, zeigt sich im Sterben und Tod der Einzelnen der Widerspruch zwischen Gesellschaftssubjekt und Natur als einem noch bloßen Objekt im Humanen selbst und lässt damit jedem im Sterben der Anderen bzw. im eigenen Sterben deutlich werden, dass die Vermittlung mit dem (hypothetischen) Subjekt der Natur, die Humanisierung der Natur noch nicht gelungen ist. In dem mit ›Heimat‹ umschriebenen Zustand am Ende aller Geschichte, der gelungenen Aufhebung des letzten aller Widersprüche zwischen dem Subjekt der Gesellschaft und dem Subjekt der Natur, wäre endlich der Kerninhalt in den bisher nur als Prozess und Entwicklung zu beschreibenden Zustand der Welt 42 | Ebd., S. 1301 43 | Ebd., S. 1381f.

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Der ultimate Zweck

Identität von Individuum und Gattung

eingetreten, in dessen Folge dann die Selbst-Objektivierungen, Selbst-Intensivierungen, Selbst-Realisierungen des identisch gewordenen Gesellschaft-Natur-Subjekts keine Prozesse mehr wären und eben damit nicht mehr dem an den Prozess gebundenen Tod unterlägen. Selbst Kennern der blochschen Philosophie erschien diese Utopie des letztendlich in der ›Heimat‹ wirklich gewordenen ›ewigen Lebens‹ als krude Phantastik.44 Dabei verkennen sie aber, dass Bloch nur mit genauer logischer Stringenz die Konsequenzen seines teleologischen Konzepts der Zweckrealisation gezogen hat. Denn wenn jedes individuelle Leben als unendliche Kette von Zweckrealisationen verstanden werden muss, dann können Sterben und Tod nur als willkürlicher Abbruch dieser unendlichen Kette erfahren werden, als Verhinderung der Verwirklichung all jener Zwecke, die das Individuum noch hätte realisieren können, wäre es nicht gestorben. Nur dann, wenn es einen ultimaten letzten Zweck gebe und dieser von dem Individuum, dem dieser Zweck der ultimate und letzte ist, verwirklicht werde, könne von diesem Individuum gesagt werden, es habe alle seine Zwecke so verwirklicht, dass Sterben und Tod ihm an seinem Leben nichts mehr wegnehmen könnten. Einen solchen ultimaten, höchsten und letzten Zweck gibt es für Bloch: nämlich den Kommunismus. Dieser aber könne von keinem einzelnen Individuum als einem einzelnen erreicht werden, sondern in der Selbstverwirklichung der Klasse des Proletariats. Das Proletariat sei als Subjekt der Geschichte in der Lage diesen letzten Zweck des Kommunismus zu verwirklichen, die einzelnen Individuen dagegen seien bloße Mittel der Verwirklichung oder Behinderung dieses höchsten Zwecks. Die gegen Bloch zu erhebenden Einwände dürfen also gar nicht erst bei der Utopie des überwundenen Todes im Kommunismus bzw. in der verwirklichten Identität von Gesellschaftsund Natursubjekt einsetzen, sondern sie müssen an der Art und Weise einsetzen, wie Bloch völlig undialektisch die Individualität des je als besonderen gelebten Lebens zugunsten der Identität bzw. des Identischwerdens des Einzelnen mit seiner Klasse bzw. mit der Menschheit als Gattungssubjekt negiert. Denn nicht 44 | »Da wird’s dann ganz und gar obskurantistisch im Reich der Hoffnung, wo sie das ewige Leben sich vorsetzt« (Hans Heinz Holz, Logos spermatikos, Darmstadt, Neuwied 1975, S. 112).

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der Einzelne realisiert die von ihm gesetzten eigenen Zwecke, um sich so als Subjekt seines Tuns verstehen zu können, sondern der Einzelne wird immer nur als Mittel für die Zwecke einer ihm übergeordneten Instanz – der Klasse, der Gesellschaft als Subjekt – verstanden, der er sich zu unterwerfen hat. In seiner Mystik des »roten Helden« hat Bloch deutlich ausgesprochen, dass die Überwindung des Todes schon in der Art und Weise beginnt, wie der rote Held sein Ich in seinem Opfer für das höchste Ziel negiert. »Nur eine Art Menschen kommt auf dem Weg zum Tod fast ohne überkommenen Trost aus: der rote Held. Indem er bis zu seiner Ermordung die Sache bekennt, für die er gelebt hat, geht er klar, kalt, bewußt in das Nichts, an das er als Freigeist zu glauben gelehrt worden ist. Sein Opfertod ist deshalb auch von dem der früheren Blutzeugen verschieden. […] Das macht: er hatte vorher schon aufgehört, sein Ich so wichtig zu nehmen, er hatte Klassenbewußtsein. So sehr ist das Personenbewußtsein in Klassenbewußtsein aufgenommen, daß es der Person nicht einmal entscheidend bleibt, ob sie auf dem Weg zum Sieg, am Tag des Siegs erinnert ist oder nicht.«45 Das Klassenbewusstsein zeige sich so schon – auf dem Weg der Verwirklichung des Kommunismus – als das »Untötbare«, das dann im Kommunismus und dem damit verwirklichten Verschwinden des Individuums in der Gattung zum wirklich ewig Lebenden werden kann. »So empfängt und hält das Untötbare des revolutionär-solidarischen Bewußtseins, einer Geborgenheit ohne alle Mythologie, mit aller Einsicht und Tendenz. Dieses Bewußtsein bedeutet – auf seinen Träger bezogen – das Unsterbliche in der Person als das Unsterbliche ihrer besten Intentionen und Inhalte: wonach sich dieses Beste durch die faschistische Exekution sowenig vernichtet fühlt wie vorher durch das faschistische Blutgericht widerlegt.«46 Bloch kann die Überwindbarkeit des Todes als Utopie nur deshalb formulieren, weil er Individualität und Personalität nicht zu denken vermag. Subjekt der gesellschaftlichen Vermittlung ist die Klasse resp. das Gattungssubjekt Menschheit. Das klassenbewusste Individuum opfert sich, versteht sich als Mittel für den höchsten Zweck der befreiten Gesellschaft, auch wenn es selbst durch sein Opfer nicht in den Genuss des realisierten Zwecks kommen kann. 45 | Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, a.a.O. (Fn. 38), Bd. 3, S. 1378ff. 46 | Ebd., S. 1381

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Probleme der Die notwendig weiter zu führende Kritik an Bloch könnte sich an blochschen folgender Problemstrukturierung orientieren: Utopie 1. Durch die teleologische Struktur wird der Tod des Einzelnen

zum Mittel der Verwirklichung des Kerninhalts des identischen Natur-Gesellschaft-Subjekts. Insofern die Einzelnen in und mit ihrem Tun den Prozess des Herausprozessierens des Kerninhaltes vorantreiben, ist ihre Opferung Bedingung der Möglichkeit des Werdens des Kerninhalts. 2. Da in der befreiten Gesellschaft, im Zustand des Kommunismus, die Aufgabe nicht lautet, wie sich der Einzelne, das Individuum, die Person mit dem hypothetischen Subjekt der Natur vermittelt, sondern das Subjekt der Gesellschaft, das im Zustand des Kommunismus nichts anderes als das Gattungssubjekt sein kann, die Gemeinschaft aller Menschen ist, scheint Bloch letztendlich gar nicht so weit weg von z. B. Ludwig Feuerbach (1804–1872), für den ja auch das Individuum mit seinem Tod in der Gattung verschwindet, weil es nur Exemplar (token) der Gattung (type) sei, nicht aber individuierter Einzelner.47 3. Tod als Natur, genauer als Mittel des Natursubjekts für den Zweck der Realisierung der Identität von gesellschaftlichem und natürlichem Subjekt als natürliches Subjekt (Natur als das übergreifende Allgemeine des Prozesses, wobei die beiden Arten des übergreifenden Allgemeinen, Natur und Gesellschaft, mit Erreichen des utopischen Endpunkts in dem übergreifenden Allgemeinen verschwinden): Ohne den Tod des Einzelnen könnte das hypothetische Natursubjekt gar nicht bewirken, dass es auch durch das Tun der Menschen, durch die Herausbildung des Subjekts der Gesellschaft im Kommunismus, herausprozessiert werden könnte. Mit der Ausführung dieser Kritik stellt sich vielleicht heraus, dass Blochs Utopie vom ewigen Leben nur dann verwirklicht werden kann, wenn es keine Individuen, Personen mehr gibt – eine gewiss eher erschreckende Perspektive. Gebürtlichkeit – Sterben und neu anfangen können | Gegen die blochsche Sterblichkeit Vorstellung, nur bezüglich der menschlichen Gattung bzw. der

verwirklichten Identität von Individuum und Gattung könne von 47 | Vgl. Ludwig Feuerbach, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, in: ders., Werke in sechs Bänden, Bd. 1, Frankfurt/Main 1975, S. 77–349.

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einem sinnvollen, gelungenen Leben gesprochen werden – gerade, weil es dann nicht mehr ende –, und gegen die Vorstellung eines ontologischen oder methodologischen Individualismus48, die den Sinn des Lebens im je einzelnen Leben und dessen Zweckrealisierungen suchen, hält Elias daran fest, dass vom Sinn eines einzelnen gelebten Lebens nur im Verhältnis zu anderen Lebensvollzügen gesprochen werden könne. »Aber die Kategorie ›Sinn‹ läßt sich nicht verstehen, wenn man sie auf einen einzelnen Menschen oder eine von ihm abgezogene Universalie bezieht. Konstitutiv für das, was wir Sinn nennen, ist eine Vielheit von Menschen, die in dieser oder jener Weise voneinander abhängig sind und miteinander kommunizieren. ›Sinn‹ ist eine soziale Kategorie; das zugehörige Subjekt ist eine Pluralität miteinander verbundener Menschen.«49 Ausdrücke wie »sinnvolles, sinnerfülltes Leben« oder »sinnloses, sinnleeres Leben« hängen aufs engste mit der Bedeutung dessen zusammen, »was ein Mensch für andere Menschen ist und tut«.50 Elias erläutert diese Überlegung gleichfalls im Rückgriff auf einen literarischen Text, nämlich Tolstois Erzählung Herr und Arbeitsmann, eine Erzählung, bei der man sofort an Hegels Herr-Knecht-Abschnitt in der Phänomenologie des Geistes und damit an das Problem der Anerkennungsverhältnisse erinnert wird. Dabei kommt es Elias, in Die Dialektik von Weiterführung der tolstoischen Überlegungen, insbesondere auf Herr und Knecht den Zusammenhang zwischen der Art des Lebens und der Art des Sterbens im Kontext von Anerkennungsverhältnissen an. Damit versucht er Anerkennungsverhältnisse als synchronen Zusammenhang der gleichzeitig Lebenden und als diachronen der Generationenfolge zu verstehen. Für den Herrn habe sein Leben einen hohen Sinn und Wert wegen des materiellen Gewinns, den er aus seiner Aktivität zieht. Für den Knecht dagegen gelte, dass er sein Leben ziellos, sinnlos, ohne Wertschätzung führe und da48 | Ontologischer und methodologischer Individualismus sind in dieser Hinsicht nur die Rückseite der blochschen Behauptung des Verschwindens des Individuums in der Gattung. Denn – dies wurde anlässlich der Ausführungen Blochs schon bemerkt – die Reihen der Zweckrealisierungen stellen sich für das Individuum als unabschließbar dar. Von daher kann das Sterben und der Tod nur als die Verwirklichung des Individuums zerstörendes Geschehen angesprochen werden. 49 | N. Elias, Über die Einsamkeit des Sterbenden, a.a.O. (Fn. 26), S. 83f. 50 | Ebd., S. 84f.

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her auch bereit sei, es einfach hinzugeben. Da der Herr als Zweck des Tuns nur seinen Gewinn gelten lassen möchte und er den Knecht dazu bloß als Mittel zur Realisierung seines Zwecks sieht, das Tun des Knechts zwar zu Produkten führt, die er aber nicht als Resultate seines Tuns begreifen kann, weil ihm der Zweck seines Tuns vom Herrn vorgegeben wurde, scheinen Zweck und Mittel des Tuns sich so gegeneinander verselbstständigt zu haben, dass eine Bewertung des Tuns und damit die Beurteilung eines tätig gelebten Lebens als gelungen oder misslungen nicht möglich ist. So könne der Herr zwar für sich behaupten: »Die Art des Sterbens hängt in der Tat nicht zuletzt auch davon ab, ob und wie weit ein Mensch die Möglichkeit hat, sich für sein Leben Ziele zu setzen und sie zu erreichen, sich Aufgaben zu stellen und sie zu erfüllen. Sie hängt davon ab, ob und wie weit der Sterbende das Empfinden hat, sein Leben sei ein erfülltes, ein sinnvolles, oder, je nachdem, auch unerfüllt und sinnleer gewesen.«51 Denn er wird ja als der Zwecke Setzende vorgestellt. Die Resultate des von ihm veranlassten Tuns – der Knecht ist derjenige, der die gesetzten Zwecke realisiert – können aber nicht von dem so tätig Gewesenen selbst allein und abschließend beurteilt werden, sondern bedürfen der Anerkennung Anderer als gelungenes oder misslungenes Tun. »Die Sinnerfüllung des Einzelnen, so sah man, hängt aufs engste mit der Bedeutung zusammen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens, sei es durch seine Person, sei es durch sein Verhalten und seine Arbeit, für andere Menschen erlangt hat.«52 Das Umgekehrte gilt für den Knecht: zwar ist er der Produzent der Produkte; in ihnen kann er aber nicht die Realisierung seiner Zwecke erkennen, weil und insofern sie ihm vom Herrn vorgegeben wurden. Sterben Soll das Sterben als ein Tun beschrieben werden können53, als Tun in dem derjenige, der stirbt, auch derjenige ist, der dieses Tun nicht einfach ausführt, so wie der Knecht den vom Herrn gesetzten Zweck ausführt, sondern im Vollzug dieses Tuns darum weiß, dass es sein, von niemand Anderem an seiner Stelle ausführbare Tun ist – wie kann dieses Tun weiter spezifiziert werden? Dass 51 | Ebd., S. 93 52 | Ebd., S. 96 53 | Es könnte daher sein, dass Beschreibungen des Sterbens als eines Widerfahrnisses, als Schicksal gerade die Position des nicht arbeitenden Herrn reflektieren.

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dieses Tun nicht eigentlich als teleologisch strukturiertes ZweckMittel-Verhältnis begriffen werden kann, sollten die Ausführungen zu Bloch verdeutlicht haben. Diesem so als Telosrealisation beschriebenen Sterben fehlt einerseits die Dimension des Intersubjektiven, die für die Beurteilung des Tuns und seiner Resultate unentbehrlich ist; zum anderen scheint das Resultat des als ein Tun verstandenen Sterbens nur schwer als ›Produkt‹, ›Vergegenständlichung‹, ›Verdinglichung‹ verstanden werden zu können; und zum dritten muss das Sterben in dieser Beschreibung als teleologischer Zweckrealisierung immer als Abbruch der Kette von Zwecksetzungen und deren Realisierungen, damit als ›sinnlos‹, ›willkürlich‹, ›kontingent‹ erfahren werden. In seinem Buch Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge hat Rilke den Vorschlag gemacht, das Sterben als ›Arbeit‹ des Sterbenden zu verstehen; gleichzeitig hat er aber die Missverständlichkeit dieser Beschreibung festgehalten: »Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. […] der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. […] Man stirbt, wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit gehört, die man hat (denn seit man alle Krankheiten kennt, weiß man auch, daß die verschiedenen letalen Abschlüsse zu den Krankheiten gehören und nicht zu den Menschen; und der Kranke hat sozusagen nichts zu tun).«54 Sterben als Arbeit meint nicht – so könnte Rilke interpretiert werden – so etwas wie serielles fabrikmäßiges Tun, in dem ein für alle gleiches Produkt (der Tod) durch ein standardisiertes Verfahren (Sterben) hergestellt wird. Viel eher scheint Rilke, wenn er mit positiven Konnotationen von Arbeit spricht, auf das Tun des Handwerks abzuzielen, der sein Produkt insofern immer als je besonderes, einmaliges herstellt, indem er es ›gut herausarbeitet‹. Diese Unterscheidung scheint sich zu berühren mit Hannah Arendts (1906–1975) Unterscheidung von Arbeit (labour) und Arbeit (work) als einem Herstellen. Rilke versteht

Sterben als Arbeit?

Arbeit im Spannungsfeld von Natur und Kultur

54 | Rainer Maria Rilke, Werke in drei Bänden, Frankfurt/Main 1966, Bd. 3., S. 113f.

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dann unter der Arbeit des Sterbenden nicht das fabrikmäßige, serielle und standardisierte Tun (Arbeit als labour), sondern eher das handwerkliche Tun, weil dieses zumindest die Möglichkeit enthält, das je eigene Tun des Sterbens als individuellen und einmaligen Vollzug begreifen und vollziehen zu können. Doch bezogen auf Sterben und Tod könnte man – gerade im Rückgriff auf Arendt – auch versucht sein zu sagen, dass das Sterben als Tun eher Arbeit (labour) als ein Herstellen ist. Denn: »Das Herstellen produziert eine künstliche Welt von Dingen, die sich den Naturdingen nicht einfach zugesellen, sondern sich von ihnen dadurch unterscheiden, daß sie der Natur bis zu einem gewissen Grade widerstehen und von den lebendigen Prozessen nicht einfach zerrieben werden. In dieser Dingwelt ist menschliches Leben zuhause, das von Natur in der Natur heimatlos ist.«55 Den Tod als Resultat des Sterbens genannten Herstellens der ›künstlichen Welt der Dinge‹ zuzurechnen, mutet doch eher seltsam an. Passender, den spezifischen Vollzugscharakter dieses Tuns und seines Resultats genauer erfassend scheint Arendts Bestimmung von Arbeit. »Die Tätigkeit der Arbeit entspricht dem biologischen Prozeß des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt und zubereitet, um sie als die Lebensnotwendigkeiten dem lebendigen Organismus zuzuführen. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, ist das Leben selbst.«56 Gerade die über die Bestimmung des Begriffs ›Arbeit‹ vorgenommene Verknüpfung von Natural-Biotischem und Sozialem scheint eine Thematisierung des Sterbens als einem Tun im Sinne von Arbeit näher zu kommen als der Begriff des Herstellens und seine Konnotationen mit der Welt der ›künstlichen Dinge‹. Zugleich aber wird das Sterben als Arbeit so wieder in die Nähe eines sich natürlich ereignenden Prozesses gerückt, der uns eher widerfährt als das wir ihn tätig vollziehen könnten, denn Arendts Bestimmung von Arbeit enthält eben auch, dass diese die für die Gattung Mensch kennzeichnende artspezifische, sie von anderen Arten von Lebewesen unterscheidende Form des Stoffwechsels darstellt. In genau dieser Hinsicht unterscheiden sich Arbeit und Herstellen auch darin, dass Arbeit auf die Gattung Mensch abzielt, ohne die Individualität der Ar55 | Hannah Arendt, Vita activa, München 1981, S. 14 56 | Ebd.

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beitenden thematisieren zu können. Das Herstellen dagegen meint das je vereinzelte Individuum und sein Tun, ohne den Zusammenhang mit der Gattung denknotwendig erscheinen zu lassen. Aber Arendt kennt noch eine dritte Form des Tuns: das Handeln, das im Unterschied von Arbeit und Herstellen nur in der Pluralität von Menschen geschehen kann. »Das Handeln ist die einzige Tätigkeit der Vita activa, die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt. Die Grundbedingung, die ihr entspricht, ist das Faktum der Pluralität, nämlich die Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern.«57 Nur im Handeln könnten sich die Menschen als Angehörige einer Gattung und zugleich als je Besondere, sich von allen anderen Unterscheidende verstehen, nämlich auf Grund der Besonderheit ihres Handelns. »Jede wie immer geartete ›Idee vom Menschen überhaupt‹ begreift die menschliche Pluralität als Resultat einer unendlich variierbaren Reproduktion eines Urmodells und bestreitet damit von vornherein und implicite die Möglichkeit des Handelns. Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf merkwürdige Art und Weise, daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird.«58 Zwar sind sowohl bezogen auf die Gattung Mensch als auch auf die Natalität alle drei Tätigkeiten gleichursprünglich, jedoch sei das Handeln enger an die Grundbedingung der Natalität (und auch an die Besonderheit der Gattung Mensch im Vergleich zu anderen Arten von Lebewesen) gebunden als Arbeiten und Herstellen. Denn Arbeiten diene allein dem Erhalten der Individuen, und Herstellen schaffe Dinge von Dauer, die über die einzelnen Produzenten hinausweisen. Nur das Handeln könne die Bedingungen schaffen, die dem Arbeiten als dem Erhalten der vielen Einzelnen, dem Herstellen als dem Schaffen von Dingen von

Sterben und Handeln

Verhältnis von Arbeit, Herstellen, Handeln

57 | Ebd. 58 | Ebd., S. 15. Damit formuliert Arendt dieselbe dialektische Gedankenfigur, die auch den von ganz anderen Traditionen herkommenden Überlegungen von Josef König und Helmuth Plessner zu Grunde liegt: Dass nämlich zugleich jeder immer schon Mensch ist und dies erst doch im Vollzug seines Lebens werden muss; vgl. wiederum M. Weingarten, Leben (bioethisch), a.a.O. (Fn. 3).

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Dauer einen Sinn zuweisen, weil das Handeln gerade auch die Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft benenne: Denn angesichts der hergestellten Produkte können wir uns erinnernd die Hersteller dieser Produkte vergegenwärtigen. Zugleich können diese Produkte in ihrer Nutzung durch die Nachkommen der (ursprünglichen) Hersteller variiert, verändert und entwickelt werden. »Was die Mortalität anlangt, so sichert die Arbeit das Am-Leben-Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung; das Herstellen errichtet eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält; das Handeln schließlich, soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient, schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte.«59 Neu anfangen Damit rückt Arendt die Bestimmung von Sterblichkeit und können Sterben in einen radikal anderen begrifflichen Zusammenhang: Denn bei ihr wird Sterblichkeit und Sterben nicht mehr vom Tod im Alter oder in Folge einer Krankheit her gedacht, sondern von der Natalität aus. Und zugleich benennt sie einen Grund dafür, warum jeder einzelne Mensch sein Leben als je besonderen und individuellen Vollzug zu leben hat oder dies zumindest der Möglichkeit nach kann. »Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln.«60 Damit überhaupt die Fähigkeit des ›Neuankömmlings‹ – selbst in seinem Handeln einen neuen Anfang zu machen – von diesem wirklich vollzogen wird, indem er handelt, muss gestorben worden sein. Das Handeln, wenn es als nicht über Materie, Material oder Dinge vermittelter, sondern als direkter Bezug zwischen Menschen beschrieben wird, umfasst also nicht nur die kommunikative Verständigung der miteinander lebenden Menschen bezweckende Dimension des Miteinandersprechens. Es verknüpft zugleich auch Sterblichkeit und Gebürtlichkeit, das Handeln des Sterbenden und das Handelnkönnen des Geborenen. Versuchsweise könnte gesagt werden: Um Handeln zu können, muss gestorben worden sein. Da derjenige, der stirbt, nach 59 | Hannah Arendt, Vita activa, a.a.O. (Fn. 55), S. 15 60 | Ebd.

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Abschluss dieses, seines Handelns, als Gestorbenseiender ein- Verknüpfung von sichtigerweise nicht zugleich der sein kann, dessen Handeln- Handeln- und können durch sein Gestorbensein ermöglicht wird, meint das Sterbenkönnen Handelnkönnen, das durch das Gestorbensein des Einen das Können eines Anderen ermöglicht wird. Wenn dies der Fall ist, erwächst daraus ein doppelseitiges, normativ relevantes Verhältnis. Es könnte nun nämlich auch gesagt werden – in der Absicht, das Muss des Gestorben-worden-Seins aufzulösen: Es soll gestorben sein, damit ein Anderer handeln (im Sinne des neu anfangens) kann. Wenn mir dies einsichtig ist, dann kann ich bezogen auf mein Sterben resp. schon bezogen auf mein Sterbenkönnen sagen: Wenn schon gestorben sein soll, dann sterbe ich eher gern als ungern, wenn ich durch mein Sterben einem Anderen die Möglichkeit des Neuanfangens eröffne. Bezogen auf den Geboren-worden-Seienden könnte der normative Gehalt dann so herausgestellt werden: Weil der Sterbende mit seinem Gestorbensein dem Geborenen die Möglichkeit eröffnet, seine Fähigkeit des Handelnkönnens zu nutzen, indem er neu anfängt, erwächst dem Geborenen durchaus die Pflicht, seine Fähigkeit des Handelns zu nutzen, indem er im je besonderen Vollzug des Lebens als seines Lebens zu einem Individuum, einer Person wird. Denn die Möglichkeit der Verwirklichung dieser Fähigkeit wird ihm erst durch das Gestorbensein des Einen gegeben. Sterben und Sterblichkeit bezieht sich so nicht mehr auf einen Tod, der kontingent, willkürlich, naturhaft ins Leben einbricht, bezieht sich auch nicht auf einen Zustand des Jenseits, der nur durch das Sterben in dieser Welt erreicht werden könnte, sondern wird von Arendt strikt innerweltlich und intersubjektiv gedacht als Bedingung der Möglichkeit für das Wirklich-werdenLassen der Fähigkeit, über die jeder als Neugeborener verfügt: Das Sterben des Einen eröffnet dem Anderen als Nachgeborenem die Möglichkeit, neu anfangen zu können. Sterblichkeit und Sterben: anthropologisch-naturales Faktum oder ›notwendige Möglichkeit‹? | An zwei Momenten wurde versucht aufzuzeigen, dass Sterblichkeit und Sterben als Sachverhalte begriffen werden können, die an das von einem Individuum gelebte Leben selbst und nicht auf etwas, das Leben Transzendierende zurückgebunden sind: Zum einen kann ein individuelles Leben nur dann als gelungen oder misslungen, sinner-

Abschluss und Beurteilung individueller Lebensvollzüge

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füllt oder sinnleer beurteilt werden, wenn es unter der Perspektive des abgeschlossenen Lebensvollzugs (des Gestorbenseins) thematisiert wird; Autobiografien lassen sich in dieser Hinsicht als Modelle des je eigenen reflexiven Bezugs auf ein Leben als mein besonderes, eben individuelles Leben begreifen; Biografien oder auch Romane als Modelle, in denen ein Anderer das von einem Individuum gelebte Leben als besonderes und individuelles beurteilt und darstellt. Zum anderen wurde versucht, den Sinn des Sterbens darin zu sehen, dass mit dem Sterben des Einen einem Anderen die Möglichkeit des Neuanfangens eröffnet wird. Durch diese rein immanente, auf den Vollzug eines individuellen Lebens oder auf das Verhältnis von individuellen Lebensvollzügen orientierte Sicht gehören Sterblichkeit und Sterben zwar irgendwie zum menschlichen Leben dazu, aber doch nicht in der Weise, dass das menschliche Leben in all seinen Vollzügen von vornherein auf Sterben und Tod ausgerichtet und die Sterblichkeit daher als ein Konstitutivum des Menschseins zu begreifen sei. Eben dies scheint auch Arendt zu meinen, wenn sie schreibt: »Andererseits können die Bedingungen menschlicher Existenz – das Leben selbst und die Erde, Natalität und Mortalität, Weltlichkeit und Pluralität – niemals ›den Menschen‹ erklären oder Antwort auf die Frage geben, was und wer wir sind, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil keine von ihnen absolut bedingt.«61 Sterblichkeit ist zwar eine Bedingung menschlicher Existenz, aber genau keine, die absolut bedingt, weil ausgehend von der Sterblichkeit (und den anderen Bedingungen menschlicher Existenz) nicht gesagt werden könne, wer und was wir sind; nur wenn Sterblichkeit neben und mit den anderen Bedingungen menschlicher Existenz eine absolute Bedingung für diese Existenz wäre, könnte sinnvoll von einem anthropologischen Faktum oder einem das Menschsein konstituierenden Moment gesproJenseits von chen werden. Das Bedingungsein der Sterblichkeit für die type und token menschliche Existenz gilt nur und ausschließlich für den Menschen als einem Exemplar (token) der biologischen Gattung (type) und deren Erhaltung durch Fortpflanzung einzelner62 Menschen. 61 | Ebd., S. 18 62 | Damit soll nicht gesagt werden, dass ein einzelner Mensch sich fortpflanzen könne. Vielmehr ist damit gemeint, dass, um von sexueller Fortpflanzung reden zu können, eine Vereinzelung der Exemplare der Art vorliegen muss in bspw. männliche und weibliche Exemplare; ein Exemplar ei-

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Und das nicht absolute Bedingen dieses Bedingungseins meint, dass die Menschen sich selbst von dem biologischen Lebensprozess der Gattung, der sie angehören, im Vollzug ihres Lebens als eines je individuellen Lebens, einer je individuellen Lebensgeschichte unterscheiden. »Eingelassen in eine Ordnung, in der alles unsterblich war außer den Menschen, wurde Sterblichkeit als solche das eigentliche Merkmal menschlicher Existenz. Menschen sind ›die Sterblichen‹ schlechthin, nämlich das Einzige, was überhaupt sterblich ist, und sie unterscheiden sich von den Tieren dadurch, daß sie nicht nur als Glieder der Gattung existieren, deren Unsterblichkeit durch Fortpflanzung gewährleistet ist. Mortalität liegt in dem Faktum beschlossen, daß dem Menschen ein individuelles Leben mit einer erkennbaren Lebensgeschichte aus dem biologischen Lebensprozeß heraus- und zuwächst. Diese individuelle Lebensgeschichte unterscheidet sich von allen anderen natürlichen Prozessen dadurch, daß sie linear verläuft und so den Kreislauf des biologischen Lebens gleichsam durchschneidet.«63 Von einem individuellen Leben als einer »erkennbaren Lebensgeschichte« kann aber – im Unterschied zu einem Bericht des chronologischen Verlaufs eines einzelnen Lebens – nur gesprochen werden als einer Geschichte, wenn deren Ende bekannt ist. Insofern kann gesagt werden, dass der Prozess der Individuierung genau dann abgeschlossen ist, die Individualität dieses Lebensvollzugs voll ausgebildet vorliegt, wenn das Individuum sein Leben beendet hat, gestorben ist. Um in dieser Weise die Individuierung als das sich im je eigenen Lebensvollzug selbst unterscheiden von der Erhaltung (Unsterblichkeit) der Art bestimmen zu können, muss der in dem Wort ›sterblich‹ ausgedrückte Modus weder einfach als bloße Möglichkeit des Sterbenkönnens begriffen werden noch als Notwendigkeit des Sterbenmüssens, der dieser Klasse von Entitäten konstitutiv zukommt, sondern als Iteration von Modi: Sterblich als notwendige Möglichkeit.64 Denn würde mit ›sterblich‹ nur der Modus der Möglich-

Individuelles Leben

Sterblichkeit als notwendige Möglichkeit

ner Art als weibliches oder als männliches Exemplar ist aber eben noch kein Individuum. 63 | Hannah Arendt, Vita activa, a.a.O. (Fn. 55), S. 24, Hervorhebungen von mir 64 | Auf die mit der Iteration von Modi verbundenen logischen Probleme kann hier nicht eingegangen werden. Es sei verwiesen auf die einschlägigen Arbeiten von Josef König, insbesondere auf den Aufsatz »Über einen neuen

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keit des Sterbens gemeint sein, so wie es in Sätzen wie ›Alle Menschen sind sterblich‹ oder ›Alles Lebendige ist sterblich‹ in aller Regel gemeint ist, dann wird damit eigentlich behauptet, dass das Sterben ein bloßes Faktum ist, das Lebendigem so (bspw. weil es krank ist) oder so (bspw. weil es seinen Beitrag zur Erhaltung der Art geleistet hat und daher biologisch gesehen alt ist) widerfährt, zu dem sich Lebendiges ausschließlich passiv hinnehmend verhalten kann. Würde dagegen mit ›sterblich‹ der Modus der Notwendigkeit gemeint sein, dann müsste gezeigt werden können, inwiefern Sterben für das So-sein einer bestimmten Klasse von Entitäten konstitutiv ist, also müsste bspw. gezeigt werden, inwiefern Menschen nur dann als solche bezeichnet werden dürften, weil oder wenn sie sterben oder gestorben sind. Anthropologie In gewisser Weise hat Plessner in seiner Anthropologie auf als Natur- die begriffliche Durchdringung dieses Problems des Sterblichphilosophie seins als notwendiger Möglichkeit hingearbeitet.65 In gewisser Weise, denn Plessner diskutiert Sterben und Tod im naturphilosophischen Zusammenhang der Rede vom Leben überhaupt – während, wie zitiert, Arendt die Rede von Sterblichkeit gerade verstanden wissen möchte als Besonderheit der Menschen gegenüber allen anderen Entitäten, wenn und insofern sie ihr Leben als individuelles führen und sich selbst so nicht nur von dem natürlichen Gattungsprozess des Menschen, sondern dann als Sterbliche von allen anderen Entitäten unterscheiden. Schränkt man Plessners Rede vom Leben auf das von Menschen gelebte Leben ein, dann kann – mit Modifikationen, die in Klammern notiert werden – an dessen Überlegung zu einem dritten Begriff des Todes (neben dem Begriff des empirisch-faktischen und dem apriorisch-konstitutiven) angeknüpft werden: »[D]er Tod ist dem Leben unmittelbar äußerlich und unwesentlich, wird jedoch durch die lebenswesentliche Form der Entwicklung [des individuellen menschlichen Lebens] mittelbar zum unbedingten Schicksal [zur Notwendigkeit] des [menschlichen] Lebens.«66 ontologischen Beweis von der Notwendigkeit alles Geschehens« in: ders., Vorträge und Aufsätze, a.a.O. (Fn. 9), S. 62–121. 65 | Diese einschränkende Formulierung wird im Band Tod (bio-ethisch) weiter zu erläutern sein; zum einen hinsichtlich des von Plessner vorgeschlagenen Begriffs des Todes, zum anderen hinsichtlich der unzureichenden Unterscheidung von Sterben und Tod.

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Dass der Tod mittelbar zur Notwendigkeit des menschlichen Lebensvollzugs wird, darf nicht so verstanden werden, als sei das Sterben die Vermittlung zwischen dem Leben einerseits und dem Tod andererseits. Dies würde zumindest bedeuten, dass das Sterben, wenn es eine solche Vermittlung leisten können soll, nicht nur zum Vollzug des Lebens zu rechnen wäre, sondern auch ein Gemeinsames mit dem Tod haben müsste. Damit aber wäre der Tod dem Leben nicht mehr unmittelbar äußerlich und unwesentlich, das ganz Andere des Lebens. Um das mittelbar zur Notwendigkeitwerden des Todes für das Leben begrifflich fassen zu können, versucht Plessner zu zeigen, dass Sterben und Tod sich auf Verschiedenes beziehen. Sterben gehört dem Leben an, ist eine bestimmte Form des Lebensvollzugs, der Tod dagegen bezieht sich auf das Gestorbensein. »Der Tod will gestorben, nicht gelebt sein. Er tritt an das Leben heran, das sich natürlicherweise ihm zuneigt und doch von ihm überwältigt werden muß, damit es stirbt. Nur dies ist der echte Sinn des Todes, daß er das Jenseits des Lebens und für das Leben, die vom Leben selbst zwar getrennte, doch durch das Leben erzwungene Negierung des Lebens ist. […] Der Tod wird von der Entwicklung möglich gemacht. In der Entwicklung sind dem Leben Jugend, Reife und Alter a priori. Von sich aus kann und muß das Lebendige sterben. Es hat die Möglichkeit des natürlichen Todes.«67 Pointiert formuliert: Der Tod will gestorben sein – das Sterben will gelebt sein. Worin besteht nun die Besonderheit der Vollzugsform des Sterbens im Unterschied zu anderen Tätigkeiten. Wie jedes körperhabende Lebewesen ist auch der einzelne Mensch als Körperhabender begrenzt, indem er seine räumliche Grenze hat. Das Grenzehaben und nicht einfach das Begrenztsein bestimmt Plessner als Positionalität. »Seiende Grenze heißt Werden. Durch die Bestimmung des Richtungsgegensatzes ist das Werden notwendigerweise ein doppeltgerichtetes, ein Werden über den Körper hinaus und in den Körper hinein. Aus dieser Abhebung von ihm selber ist der Körper in seiner Begrenzung ein in ihm hinein,

Tod als mittelbare Notwendigkeit des Lebensvollzugs

Grenze und Schranke

66 | Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a.a.O. (Fn. 12), S. 204f. 67 | Ebd., S. 206; auch hier gilt die von mir oben formulierte Einschränkung, dass Plessners Rede von Leben als eingeschränkt auf menschliches Leben verstanden werden soll.

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aus ihm heraus gesetzter, steht er außerhalb und innerhalb seiner.«68 Die seiende Grenze als Werden hat nun nicht nur eine räumliche, sondern zugleich eine zeitliche Dimension mit einer aufschließend-(über sich hinaus in sich hinein)-abschließenden Funktion. Die abschließende Funktion, die jeder Grenze auch eignet, kann zum einen als Begrenzung angesprochen werden, zum anderen als Schranke oder Beschränkung. Während jedoch das solcherart Umgrenzte als Beschränktes vor seiner Grenze Halt machen muss, um im Werden in aufschließender Hinsicht seine Einzelheit und ggf. Individualität als Einzelheit und Individualität aufrecht erhalten zu können – im Werden wird die Grenze als Begrenztsein immer wieder neu gesetzt –, eignet der Schranke nur die abschließende Funktion, d. h., sie ist nicht überschreitbar. In dieser Hinsicht kann nun gesagt werden, dass Vorstellungen, wie sie etwa im Verweis auf Lindgrens Roman Die Gebrüder Löwenherz angedeutet oder wie sie in religiösen Jenseitsvorstellungen gedacht wurden, Sterben zwar als Begrenzung menschlichen Lebens thematisieren, aber weil jede Begrenzung zugleich Bedingung der Möglichkeit des Überschreitens der Begrenzung als Grenze impliziert, thematisieren sie dies eben immer noch als ein Werden, nur nicht mehr in dieser bisherigen, bspw. irdischen Begrenzung. Das Sterben als notwendige Möglichkeit eines Lebens anzusprechen, um dieses so als gelungen oder misslungen beurteilen bzw. den Vollzug des Lebens als einen individuellen, je besonderen Vollzug begreifen zu können, meint dagegen etwas radikal anderes, nämlich die unüberschreitbare Beschränktheit von Lebensvollzügen. Sterben als Schranke des individuellen Lebens | In Fortführung der plessnerschen Überlegungen zu Grenze und Schranke kann verdeutlicht werden, inwiefern das Sterben in Folge einer Krankheit und das Sterben am Ende eines Lebens als radikal verschiedenes Sterben gedacht werden müssen. Denn das Sterben in Folge einer Krankheit, einer Verletzung, aber auch in Folge naturaler, bspw. mit der Zellteilung einhergehender Prozesse, bezieht sich auf eine Grenze, die mit dem faktischen Stand unseres medizinisch-technischen und biologischen Wissens und Könnens gegeben ist, von dem wir aber hoffen und erwarten dürfen, dass 68 | Ebd., S. 212

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diese Grenze durch besseres medizinisches und biologisches Kennen und Können immer wieder überschritten wird. Zugleich kann gesagt werden, dass es sich bei den Sätzen, mit denen die Grenze individuellen menschlichen Lebens beschrieben wird, also etwa unser gegenwärtiges Wissen und Können bezüglich der Heilbarkeit erkrankter Individuen bestimmt wird, um theoretische Sätze handelt. Wird aber als ein zumindest möglicher und ggf. anthropologisch zu fundierender Gedanke zugestanden, dass jedes menschliche Leben im Vollzug seines je individuellen Lebens nicht nur an eine prinzipiell überschreitbare Grenze stößt, sondern immer schon auch eine prinzipiell unüberschreitbare Schranke hat, dann handelt es sich bei Sätzen, in denen das Wissen um diese Schranke mitgeteilt wird, um praktische Sätze, mit denen wir uns über unser Menschsein zu verständigen versuchen, indem wir miteinander den Sinn unserer Sterblichkeit erschließen möchten. In diesem Sinn kann gesagt werden, dass der modus ponens insofern inhomogen ist, als es sich bei dem Obersatz ›Alle Menschen sind sterblich‹ um einen theoretischen, bei dem Mittelsatz ›Cajus (du, ich) ist (bist, bin) ein Mensch‹ um einen praktischen Satz handelt. Praktische Sätze, über die der Unterschied theoretischer und praktischer Sätze überhaupt erst eingeführt werden kann69, können nun – dies zeigt die hier fragliche Verwendung des modus ponens – nivellierend als theoretische Sätze verstanden werden, und zwar mit der Konsequenz, dass die Verschiedenheit von Grenze und Schranke individuellen Lebens ausschließlich zur Thematisierung der Grenze hin nivelliert wird. In genau dieser Hinsicht wäre die Systematik der stoischen Konzeption des ›guten Todes‹ zu problematisieren, insbesondere die dort gegebene Rechtfertigung der Selbsttötung, um damit vor Erreichen der Schranke des je eigenen Lebens sein Leben zu begrenzen. Diese Vorstellung verweigert sich der Aporie, dass wir zwar um die Beschränktheit, die jedes individuelle Leben hat, wissen, dass wir aber nicht wissen, wann die Schranke meines bzw. des je eigenen und besonderen Lebensvollzugs erreicht ist. Wird es Ernst genommen, dass es sich hier um eine Aporie im praktischen Wissen handelt, dann müssen wir uns dieser Aporie im Dialog, im Miteinandersprechen, immer wieder neu zuwenden und dürfen 69 | Vgl. Josef König, Über den logischen Unterschied theoretischer und praktischer Sätze, a.a.O. (Fn. 14); ders., Sein und Denken, Tübingen 1969.

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genau nicht hoffen, dass uns durch irgend etwas anderes, bspw. wissenschaftliches Wissen, eine definitive Antwort gegeben werden könne. Weiterführende Literatur Braun, Edmund (2002): Der Mensch vor seinem eigenen Anspruch, Würzburg. Braun, Kathrin (2000): Menschenwürde und Biomedizin, Frankfurt/Main Canguilhelm, Georges (1989): Grenzen medizinischer Rationalität, Tübingen. Charlesworth, Max (1997): Leben und sterben lassen. Bioethik in der liberalen Gesellschaft, Berlin. Lindemann, Gesa (2002): Die Grenzen des Sozialen. Zur soziotechnischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin, München. Manzei, Alexandra (2003): Körper – Technik – Grenzen, Münster. Rosenberg, Jay F. (1983): Thinking Clearly About Death, Englewood Cliffs, New Jersey. Sternberger, Dolf (1977): Über den Tod, Schriften I, Frankfurt/ Main. Tugendhat, Ernst (2003): Egozentrizität und Mystik, München.

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Martin Endreß Vertrauen 2002, 110 Seiten, kart., 10,50 €, ISBN: 3-933127-78-5

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2004-05-07 10-55-59 --- Projekt: T186.pantarei.bdg.sterben (bio-ethisch) / Dokument: FAX ID 01c452048636164|(S.

52- 53) anzeige einsichten in bdg mai 04.p 5204

Einsichten. Themen der Soziologie Paul B. Hill

Raimund Hasse, Georg Krücken

Rational-Choice-Theorie

Neo-Institutionalismus

2002, 92 Seiten,

2000, 86 Seiten,

kart., 9,50 €,

kart., 10,50 €,

ISBN: 3-933127-30-0

ISBN: 3-933127-28-9

Gunnar Stollberg

Volkhard Krech

Medizinsoziologie

Religionssoziologie

2001, 100 Seiten,

1999, 100 Seiten,

kart., 10,50 €,

kart., 10,50 €,

ISBN: 3-933127-26-2

ISBN: 3-933127-07-6

Ludger Pries

Uwe Schimank, Ute Volkmann

Internationale Migration

Gesellschaftliche Differenzierung

2001, 84 Seiten, kart., 9,50 €,

1999, 60 Seiten,

ISBN: 3-933127-27-0

kart., 9,00 €, ISBN: 3-933127-06-8

Klaus Peter Japp Risiko

Sabine Maasen Wissenssoziologie

2000, 128 Seiten, kart., 12,00 €,

1999, 94 Seiten,

ISBN: 3-933127-12-2

kart., 10,50 €, ISBN: 3-933127-08-4

Urs Stäheli Poststrukturalistische Soziologien 2000, 88 Seiten, kart., 10,50 €, ISBN: 3-933127-11-4

Theresa Wobbe Weltgesellschaft 2000, 100 Seiten, kart., 10,50 €, ISBN: 3-933127-13-0

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