Städtewachstum im Industrialisierungsprozess des 19. Jahrhunderts: Das Berliner Beispiel [Reprint 2013 ed.] 9783110832525, 9783110034172

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Städtewachstum im Industrialisierungsprozess des 19. Jahrhunderts: Das Berliner Beispiel [Reprint 2013 ed.]
 9783110832525, 9783110034172

Table of contents :
VORWORT
VORBEMERKUNG der Autorin
EINFÜHRUNG
Theoretische und methodische Probleme
Historisch-rechtliche Voraussetzungen
ERSTER TEIL: Industrielle Teilgebiete Berlins: Nördliche und südliche Vorstädte
1. KAPITEL: Der Wandel der ökonomischen Struktur und die Entstehung gewerblicher und industrieller Standorte
2. KAPITEL: Die Veränderungen in der Sozialstruktur und die Ausbreitung neuer Formen der Wohngemeinschaft
3. KAPITEL: Das Flächenwachstum und das Vordringen industrieller Baustrukturen
ZWEITER TEIL Die Entwicklung der Kolonie Moabit zur Industriegemeinde
EINFÜHRUNG
1. KAPITEL: Die wirtschaftliche Entwicklung Moabits zum Standort großindustrieller Betriebe
2. KAPITEL: Die Entstehung einer städtischen Sozialstruktur und die Anpassung an städtische Haushaltstypen
3. KAPITEL: Die Übernahme industrieller und städtischer Bau- und Wohnformen
DRITTER TEIL: Die Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde
EINFÜHRUNG
1. KAPITEL: Die Entwicklung vom Webereistandort zum Wohnort
2. KAPITEL: Der Wandel vom Bauern- und Weberdorf kur Wohngemeinde der unteren Schichten und die Verbreitung städtischer Haushaltstypen
3. KAPITEL: Die räumliche Expansion und das Eindringen städtischer Bauformen
AUSBLICK: Historische Ergebnisse der Siedlungsentwicklung für die Berliner Gesamtgeschichte im Zeitalter der Industrialisierung
TABELLENANHANG
TABELLE I: Entwicklung ausgewählter Gewerbezweige (Metallgewerbe – Maschinen/Werkzeuge/Instrumente/Apparate – Maschinenbauanstalten – Textilgewerbe – Bekleidungsgewerbe)
TABELLE II: Betriebe in Berlin [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV], 1875
TABELLE III: Bevölkerungsentwicklung
TABELLE IV: Bevölkerungsentwicklung in einzelnen Stadtteilen 1861–1875
TABELLE V: Bevölkerungsentwicklung in ausgewählten Stadtteilen
TABELLE VI: Gebürtigkeit der Bevölkerung im Jahre 1864 und 1875 in Berlin [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV]
TABELLE VII: Regionale Herkunft der Bevölkerung in Berlin, der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt, der Luisenstadt und dem Stralauer Viertel im Jahre 1875
TABELLE VIII: Herkunft der berufstätigen Bevölkerung und Stellung im Beruf in Berlin insgesamt [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV] im Jahre 1875
TABELLE IX: Die berufstätige Bevölkerung und ihre Stellung im Beruf in Berlin [I], der Rosenthaler und Oranienburger Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV] im Jahre 1875
TABELLE X: Die Zusammensetzung der Haushalte in Berlin insgesamt [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV]
TABELLE XI: Die Bevölkerung nach der Zugehörigkeit zu Haushaltungskategorien in Berlin insgesamt [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV]
TABELLE XII: Die Wohnungen und ihre Bewohner in Berlin insgesamt [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV]
TABELLE XIII: Die Wohnungen in Berlin insgesamt [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV], 1861, 1864, 1867 und 1875
TABELLE XIIIa: Die Wohnungen in Berlin insgesamt [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV], 1852 (1853)
TABELLE XIV: Betriebe in Moabit [I] und Berlin [II], 1875
TABELLE XV: Gebürtigkeit der Bevölkerung in Moabit [I] und Berlin [II]
TABELLE XVI: Regionale Herkunft der Bevölkerung in Moabit [I] und Berlin [II]
TABELLE XVII: Herkunft der berufstätigen Bevölkerung und die Stellung im Beruf in Moabit [I] und Berlin [II]
TABELLE XVIII: Die Bevölkerung nach der Zugehörigkeit zu Haushaltskategorien in Moabit [I] und Berlin [II]
TABELLE XIX: Die Zusammensetzung der Haushalte in Moabit [I] und Berlin [II]
TABELLE XX: Die Wohnungen und ihre Bewohner in Moabit [I] und Berlin [II]
TABELLE XXI: Die Wohnungen in Moabit [I] und Berlin [II]
TABELLE XXII: Die bäuerlichen und unterbäuerlichen Schichten Deutsch-Rixdorfs, 1834
TABELLE XXIII: Die bäuerlichen und unterbäuerlichen Schichten Deutsch-Rixdorfs, 1852
TABELLE XXIV: Verzeichnis derjenigen Personen, welche der Weber-Innung zu Deutsch-Rixdorf beitreten wollen. 11. Februar 1850
TABELLE XXV: Weber-Gesellen
TABELLE XXVI: Betriebe und Beschäftigte in Rixdorf [I] und Berlin [II] 1907
TABELLE XXVII: Die am Wohnort und außerhalb Beschäftigten
TABELLE XXVIII: Herkunft der Bevölkerung in Rixdorf
TABELLE XXIX: Berufliche Gliederung der nach Rixdorf Zugezogenen, 1865 bis 31. 3. 1866
TABELLE XXX: Berufliche Gliederung der Rixdorfer Bevölkerung 1846 bis 1866
TABELLE XXXI: Die Berufstätigen und ihre Stellung im Beruf in Rixdorf [I] und Berlin [II] 1907
TABELLE XXXII: Die Berufstätigen und die zugehörige Bevölkerung nach Berufsgruppen und Berufsstellung 1900 und 1907
TABELLE XXXIII: Die Zusammensetzungen der Haushaltungen in Rixdorf 1900. Die Bevölkerung nach der Zugehörigkeit zu Haushaltungskategorien in Rixdorf 1900
TABELLE XXXIV: Die Wohnungen und ihre Bewohner in Rixdorf, Berlin und den Vororten
TABELLE XXXV: Eigentümer der Grundstücke in Rixdorf, Berlin und den Vororten 1905
TABELLE XXXVI: Nutzung der Gebäude in Rixdorf, Berlin und den Vororten 1900
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
NAMENREGISTER
REGISTER TOPOGRAPHISCHER NAMEN
FIRMENREGISTER
SACHREGISTER

Citation preview

V E R Ö F F E N T L I C H U N G E N DER

HISTORISCHEN KOMMISSION ZU BERLIN

BAND 39

PUBLIKATIONEN GESCHICHTE

DER

ZUR

INDUSTRIALISIERUNG

BAND 3

W DE G Walter de Gruyter · Berlin • New York 1973

INGRID

THIENEL

STÄDTE WACHSTUM IM INDUSTRIALISIERUNGSPROZESS DES 19. JAHRHUNDERTS Das Berliner Beispiel

Mit einem Vorwort von OTTO BÜSCH

w DE

G Walter de Gruyter • Berlin · New York

1973

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bad Godesberg. Die Schriftenreihe der Historischen Kommission zu Berlin erscheint mit Unterstützung des Senators für Wissenschaft und Kunst, Berlin.

Lektorat der Schriftenreihe: CHRISTIAN SCHÄDLICH

© ISBN 3 11 003417 4 Copyright 1973 by Walter de Gruyter Sc Co., vormals G. J . Gösdien'sche Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbudihandlung · Georg Reimer · Karl J . Trübner · Veit & Comp. — Printed in Germany. Alle Redite des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — audi auszugsweise — vorbehalten. Satz und Drude : Franz Spiller, 1 Berlin 36 D 188

VORWORT Die Historische Kommission zu Berlin, die sich in ihrer Abteilung für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit der jahrelangen großzügigen Unterstützung ihres Forschungsschwerpunktes zur „Geschichte der F r ü h industrialisierung im Wirtschaftsraum Berlin/Brandenburg" durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft

unter Leitung des

Unterzeichneten

der A u f g a b e gewidmet hat, einen Beitrag zu dem international und interdisziplinär bedeutsamen T h e m a der Industrialisierung der m o d e r nen W e l t v o n der Geschichtswissenschaft her zu leisten, legt die folgende Arbeit v o n Ingrid Thienel über die Beziehungen zwischen I n dustrialisierung und Städtewachstum a m Beispiel der siedlungs- und stadtgeschichtlichen Entwicklung der preußisch-deutschen

Hauptstadt

Berlin i m 19. J a h r h u n d e r t als ein Ergebnis dieser ihrer Bemühungen v o r . * * Der Veröffentlichung der nachstehenden Studie von Ingrid Thienel sind in den Jahren seit 1965 die folgenden „Veröffentlichungen" und „Einzelveröffentlidiungen" der Historischen Kommission als „Publikationen zur Geschichte der Industrialisierung" vorangegangen: Ilja Mieck, Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806— 1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus. Mit einer Einführung von Wolfram Fischer und Otto Büsch ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 20), Berlin 1965; Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 24), Berlin 1967; Wolfram Fischer (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung ( = Einzel Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 1), Berlin 1968; Otto Büsch, Industrialisierung und Geschichtswissenschaft. Ein Beitrag zur Thematik und Methodologie der historischen Industrialisierungsforschung, Berlin 1969; ders., Gewerbe um 1849, in: Historischer Handatlas von Brandenburg und Berlin ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Lieferung 30: Karte im Maßstab 1 :500 000 [mit Text]), Berlin 1969; ders. (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin/Brandenburg ( = Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 6), Berlin 1971; ders., Industrialisierung und Gewerbe im Raum Berlin/Brandenburg 1800—1850. Eine empirische Untersuchung zur gewerblichen Wirtschaft einer hauptstadtgebundenen Wirtschaftsregion in frühindustrieller Zeit. Mit einer Statistik und einer thematisdien Karte zum Jahr 1849 ( = Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 9), Berlin 1971; siehe neuerdings auch Hartmut Kaelble, Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung. Herkunft, sozialer Status und politischer Einfluß ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 40), Berlin 1972.

VI

Vorwort

Die Autorin der vorliegenden Studie hat sich die Aufgabe gestellt, den Themen- und Problemkatalog der historischen Forschung durch die Verknüpfung quellennah arbeitender, historisch-kritischer sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Methodik mit siedlungs- und sozialgeographischen Fragestellungen und durch die Einführung einer sozialökologischen Betrachtungsweise zu bereichern. Die in diesem Band getroffenen Feststellungen über den Effekt der Industrialisierung auf die Entwicklung von Struktur und Funktion der einzelnen Glieder der Stadtregion Berlin und auf die Probleme der räumlichen Zuordnung und Unterbringung von Bevölkerung und Wirtschaft an ihrem frühindustriellen Standort beziehen ihre Rechtfertigung aus den quantifizierenden statistischen Aufnahmen sowie Kartierungen sozialhistorischer Daten und wirtschaftlicher Standortgegebenheiten, die in diesem Werk in umfangreichem Maße vorgenommen sind. Die reichhaltigen statistischen Tabellen und kartographischen Vorlagen dieser Arbeit werden der weiteren Detailforschung nützliche Dienste erweisen. Die von der Autorin angewendete, vornehmlich in den USA entwickelte sozialökologische Untersuchungsweise und die von ihr herangezogenen geographischen Modelle der Stadtregion werden in der vorliegenden Studie auf ihre Fähigkeit geprüft, die geschichtliche Wirklichkeit zu charakterisieren und zu erklären. Es entspricht einer durch die Historische Kommission zu Berlin von Anbeginn ihrer Tätigkeit geförderten Forschungsrichtung, daß neben Berührungspunkten mit Fragen des sozialökonomischen Wandels, der sozialen Schichtung, des Bevölkerungswachstums, der allgemeinen Entwicklung bestimmter Gewerbe- und Industriezweige, des Konjunkturverlaufs und der Unternehmergeschichte in dieser Arbeit auch zur kommunalhistorischen Entwicklung ein deutlicher Nexus hergestellt wird. Während es der Autorin ferner darum geht, die Bedeutung der wirtschafts- und sozialräumlichen Entwicklung für die kulturelle Entfaltung und den politischen sowie wirtschaftlichen Aufstieg der preußisch-deutschen Hauptstadt darzulegen, darf sie zugleich hoffen, mit ihrer Fallstudie für eine erweiterte Betrachtung der Interdependenz zwischen kommunaler, politischer wie kultureller Geschichte und der allgemeinen Wirtschafts- und Sozialgeschichte einen wertvollen Schritt vorwärts zu weisen. Als eine Erkenntnis bietet die vorliegende Arbeit an, daß entscheidende räumliche Veränderungen in der Stadtregion Berlin deshalb von den zentralisierten Fabriken ausgingen, weil die von ihnen hervorgerufene Trennung der Industriestandorte beziehungsweise Arbeitsorte von den Wohnorten zum wichtigsten Strukturierungsmerkmal des Ver-

VII

Vorwort

städterungsprozesses innerhalb sowohl der Stadt als auch des ländlichen Expansionsraumes wurden. Nach den Ergebnissen eines Kernstücks der Studie bestimmte zudem die industrielle Produktionsweise zunehmend das Ordnungsgefüge des Verstädterungsraumes unter anderem durch das Bestreben der sich entwickelnden Industrie, die Stadtrandlage als permanent faktorbegünstigten Standort beizubehalten, durch das die ständige Verlagerung der Wirtschaftsstandorte verursacht wurde. Das entstehende Stadt-Land-Kontinuum schuf, wie die Autorin nachweist, in Ablösung der bisherigen Abgeschlossenheit von Stadt und Land den relativ einheitlich strukturierten Raum der Stadtregion Berlin. Am Ende der Entwicklung standen danach als die neuen Siedlungstypen die von übergeordneten städtischen Zentren aus gesteuerten Vororte. Die Behandlung der Vorstädte, die als städtische Randsäume den raumprägenden Wirkungen des Industrialisierungsprozesses in besonderem Maße unterlagen, und die der inneren Stadtteile werden auf den folgenden Seiten bis zum Ende der frühindustriellen Phase etwa Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts durchgeführt. Im Hinblick auf die beiden exemplarisch hervorgehobenen Siedlungen im Umland Berlins, Moabit und Rixdorf, dehnt sich die Untersuchung sogar bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts aus. Nach der Reihe von Monographien, Aufsatzsammlungen und kartographischen Aufzeichnungen, die die Historische Kommission zu Berlin aus ihrem Schwerpunktprojekt zur Geschichte der Frühindustrialisierung bereits vorgelegt hat, möchte sie der wissenschaftlichen Öffentlichkeit mit dem vorliegenden Band einen weiteren Teilbeitrag zu diesem Themenkomplex zur Kritik und Anregung in Buchform übergeben. Allen denen, die zum Entstehen dieses Bandes wie der Reihe, in der er erscheint, mitgeholfen haben, besonders der Deutschen Forschungsgemeinschaft, sei an dieser Stelle gedankt.

Berlin-Zehlendorf, im August 1972

Im Auftrage der Historischen Kommission zu Berlin

Prof. Dr. Otto Büsch Stellvertretender Vorsitzender Abteilungsleiter fur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

INHALT VORWORT

von Otto Büsch

V

VORBEMERKUNG d e r A u t o r i n

XIII

EINFÜHRUNG Theoretische und methodische Probleme

2

Historisch-rechtliche Voraussetzungen

ERSTER

21

TEIL

Industrielle Teilgebiete Berlins: Nördliche u n d südliche Vorstädte

45

1. KAPITEL: Der Wandel der ökonomischen Struktur und die Entstehung gewerblicher und industrieller Standorte

47

2. KAPITEL: Die Veränderungen in der Sozialstruktur und die Ausbreitung neuer Formen der Wohngemeinschaft

85

3. KAPITEL: Das Flächenwadistum und das Vordringen industrieller Baustrukturen

ZWEITER

131

TEIL

Die Entwicklung der Kolonie Moabit z u r Industriegemeinde

175

EINFÜHRUNG

177

1. KAPITEL: Die wirtschaftliche Entwicklung Moabits zum Standort großindustrieller Betriebe

179

2. KAPITEL: Die Entstehung einer städtischen Sozialstruktur und die Anpassung an städtische Haushaltstypen

198

3. KAPITEL: Die Übernahme industrieller und städtischer Bau- und Wohnformen

216

χ

Inhalt DRITTER

TEIL

Die Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde

239

EINFÜHRUNG

241

1. KAPITEL: Die Entwicklung vom Webereistandort zum Wohnort

244

2. KAPITEL: Der Wandel vom Bauern- und Weberdorf Zur Wohngemeinde der unteren Schichten und die Verbreitung städtischer Haushaltstypen . . 280 3. KAPITEL: Die räumliche Expansion und das Eindringen städtischer Bauformen

316

AUSBLICK

Historische Ergebnisse der Siedlungsentwicklung für die Berliner Gesamtgeschichte im Zeitalter der Industrialisierung

T A B

E L L E

357

N A N H A N G

TABELLE I : Entwicklung ausgewählter Gewerbezweige (Metallgewerbe — Masdiinen/Werkzeuge/Instrumente/Apparate — Maschinenbauanstalten — Textilgewerbe — Bekleidungsgewerbe) 363 TABELLE I I : Betriebe in Berlin [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV], 1875 366 TABELLE I I I :

Bevölkerungsentwicklung

369

TABELLE I V : Bevölkerungsentwicklung in einzelnen Stadtteilen 1861—1875 . . 370 TABELLE V : Bevölkerungsentwicklung in ausgewählten Stadtteilen

371

TABELLE V I : Gebürtigkeit der Bevölkerung im Jahre 1864 und 1875 in Berlin [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [ I I I ] und dem Stralauer Viertel [IV]

372

TABELLE V I I : Regionale Herkunft der Bevölkerung in Berlin, der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt, der Luisenstadt und dem Stralauer Viertel im Jahre 1875 373 TABELLE V I I I : Herkunft der berufstätigen Bevölkerung und Stellung im Beruf in Berlin insgesamt [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV] im Jahre 1875 375

XI

Inhalt

TABELLE IX: Die berufstätige Bevölkerung und ihre Stellung im Beruf in Berlin [I], der Rosenthaler und Oranienburger Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV] im Jahre 1875 382 TABELLE X: Die Zusammensetzung der Haushalte in Berlin insgesamt [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV] 387 TABELLE XI: Die Bevölkerung nach der Zugehörigkeit zu Haushaltungskategorien in Berlin insgesamt [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV] 389 TABELLE XII: Die Wohnungen und ihre Bewohner in Berlin insgesamt [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV] 391 TABELLE XIII: Die Wohnungen in Berlin insgesamt [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [ I V ] , 1861, 1864, 1867 und 1875 393 TABELLE X l l l a : Die Wohnungen in Berlin insgesamt [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV], 1852 (1853) 395 TABELLE XIV: Betriebe in Moabit [I] und Berlin [II], 1875

396

TABELLE XV: Gebürtigkeit der Bevölkerung in Moabit [I] und Berlin [II] . . 398 TABELLE XVI: Regionale Herkunft der Bevölkerung in Moabit [I] und Berlin [ I I ] 399 TABELLE XVII: Herkunft der berufstätigen Bevölkerung und die Stellung im Beruf in Moabit [I] und Berlin [II] 402 TABELLE XVIII: Die Bevölkerung nach der Zugehörigkeit zu Haushaltskategorien in Moabit [I] und Berlin [II] 411 TABELLE XIX: Die Zusammensetzung der Haushalte in Moabit [I] und Berlin [ I I ] 413 TABELLE XX: Die Wohnungen und ihre Bewohner in Moabit [I] und Berlin [II] 415 TABELLE XXI: Die Wohnungen in Moabit [I] und Berlin [II]

417

TABELLE XXII: Die bäuerlichen und unterbäuerlichen Schichten Deutsdi-Rixdorfs, 1834 419 TABELLE XXIII: Die bäuerlichen und unterbäuerlichen Schichten Deutsch-Rixdorfs, 1852 419 TABELLE XXIV: Verzeichnis derjenigen Personen, welche der Weber-Innung zu Deutsch-Rixdorf beitreten wollen. 11. Februar 1850 421 TABELLE X X V : Weber-Gesellen

TABELLE XXVI: Betriebe und Beschäftigte in Rixdorf 1907

425

[I] und Berlin [II]

TABELLE XXVII : Die am Wohnort und außerhalb Beschäftigten

426 429

Inhalt

XII

TABELLE

X X V I I I : Herkunft der Bevölkerung in Rixdorf Berufliche Gliederung der nach Rixdorf Zugezogenen,

TABELLE X X I X :

bis

430 1865

31. 3. 1866

432

Berufliche Gliederung der Rixdorfer Bevölkerung

TABELLE X X X :

1846

bis

1866

433

X X X I : Die Berufstätigen und ihre Stellung im Beruf in Rixdorf und Berlin [II] 1907

TABELLE

[I]

435

Die Berufstätigen und die zugehörige Bevölkerung nadi Berufsgruppen und Berufsstellung 1900 und 1907 438

TABELLE X X X I I :

Die Zusammensetzungen der Haushaltungen in Rixdorf 1900. Die Bevölkerung nadi der Zugehörigkeit zu Haushaltungskategorien in Rixdorf 1900 444

TABELLE X X X I I I :

TABELLE X X X I V :

Die Wohnungen und ihre Bewohner in Rixdorf, Berlin und

den Vororten

445

X X X V : Eigentümer der Grundstücke in Rixdorf, Berlin und den Vororten 1905 447

TABELLE

X X X V I : Nutzung der Gebäude in Rixdorf, Berlin und den Vororten 1900 448

TABELLE

Q U E L L E N - UND LITERATURVERZEICHNIS

449

NAMENREGISTER

479

REGISTER TOPOGRAPHISCHER N A M E N

482

FIRMENREGISTER

487

SACHREGISTER

490

KARTOGRAPHISCHE

DARSTELLUNGEN

(in Tasche am Ende des Bandes) ABBILDUNG 1

: Berlin und Umgebung

ABBILDUNG 2 :

Die Stadtviertel Berlins

ABBILDUNG 3 :

Die Verteilung einiger Berufsgruppen in Moabit

1861

ABBILDUNG 4 :

Die gewerblidien Betriebe in Moabit

ABBILDUNG 5 :

Die Verteilung einiger Berufsgruppen in Moabit

ABBILDUNG 6 :

Die Wohnungen der Meister der Weberinnung zu Deutsch-Rixdorf

1861 1886

1850 ABBILDUNG 7 :

Die Verteilung einiger Berufsgruppen in Rixdorf

ABBILDUNG 8 :

Die Verteilung der gewerblidien Betriebe in Rixdorf

1897 1896/97

VORBEMERKUNG Die vorliegende Studie ist in den Jahren 1965 bis 1969 im Rahmen des Forschungsschwerpunktes zum Thema Frühindustrialisierung im Raum Berlin entstanden, der in der Historischen Kommission zu Berlin betreut wurde. Die Anregung zur Themenwahl und zur Anfertigung dieser Arbeit verdanke ich Prof. Dr. Richard Dietrich, der ihre Entstehung mit Anteilnahme und wertvollen Hinweisen begleitete. Ein Teil der Untersuchung wurde im Sommersemester 1969 von der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin als Dissertation mit dem Titel „Berliner Siedlungen unter dem Einfluß der Industrialisierung. Ein Beitrag zur siedlungs- und stadtgeschichtlichen Entwicklung im Raum der preußisch-deutschen Hauptstadt im 19. Jahrhundert" angenommen. Für die Aufnahme des Themas in den Forschungsschwerpunkt, aber auch für seine bereitwillige Förderung bei der Entstehung dieser Untersuchung bin ich dem Vorsitzenden der Historischen Kommission zu Berlin, Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Herzfeld, zu großem Dank verpflichtet. Für die ermutigende Unterstützung und Kritik sowie für die Geduld, mit der er die Anfertigung des Manuskriptes begleitete, möchte ich Prof. Dr. Otto Büsch meinen Dank aussprechen. Die von ihm geleiteten zahlreichen Diskussionen mit allen Mitarbeitern der Forschungsgruppe, in der anregende Kritik geäußert wurde, waren für mich von großem Wert und veranlaßten mich zu mancher Präzisierung und Verbesserung. Wertvolle Quellen einschließlich Flur- und Bebauungsplänen stellten die Mitarbeiter des Archivs und des Bauaufsichtsamts im Bezirksamt Neukölln zur Verfügung. Auch das Landesarchiv Berlin verhalf mir zur Einsicht in wichtiges Quellen- und Kartenmaterial. Für die unermüdliche und sorgfältige Betreuung des Textes, die graphische Gestaltung der Tabellen und Karten während der Drucklegung danke ich dem Lektor der Historischen Kommission, Herrn Christian Schädlich. Zwischen dem Manuskriptabschluß und der Veröffentlichung dieses Bandes liegt eine geraume Zeit. Spezielle Studien zur Stadtentwicklung im Berliner Raum sind seither nicht erschienen; wenn allgemeine Literatur zum Thema nicht mehr berücksichtigt werden konnte, so bitte ich um die Nachsicht des Lesers.

XIV

Vorbemerkung

Der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Drucklegung der Studie mit einem großzügigen Zuschuß gefördert hat, bin ich sehr zu Dank verpflichtet. Es ist für midi eine große Freude, daß die mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Forschungsschwerpunktes zur Frühindustrialisierung im Raum Berlin in der Historischen Kommission zu Berlin erarbeitete Studie in der Schriftenreihe dieses Hauses erscheint. Berlin, im Juli 1972

Ingrid

Thienel

M E I N E N ELTERN

EINFÜHRUNG Industrialisierung und Verstädterung sind in der europäischen Geschichte zwei eng miteinander zusammenhängende Prozesse, deren Verknüpfung große Bedeutung für den wirtschaftlichen Fortschritt und die Bildung der industriellen Gesellschaft beigemessen wird. 1 Diese Verknüpfung zeigte sich vor allem darin, daß vornehmlich die Städte, und darunter viele, in denen der gewerbliche Sektor auf eine längere Tradition zurückblickte, zum Standort einiger stark expandierender und im wirtschaftlichen Wachstum führender Gewerbe- und Industriezweige wurden. Die bedeutenden Städte des Mittelalters sind in erster Linie Marktorte beziehungsweise befestigte Handelszentren und dann erst Orte der gewerblichen Produktion gewesen, in der Kaufleute und Handwerker die tragenden gesellschaftlichen Gruppen bildeten. Im Zeitalter des Merkantilismus waren die aufstrebenden Städte Residenzen der Fürsten und Sitz der staatlichen Verwaltungsorgane, aber auch Standorte des Gewerbes. Dem ordneten sich das allmählich entstehende Beamtentum und eine zahlreiche gewerbliche Bevölkerung zu. Im 19. Jahrhundert entwickelten sich die Städte bei fortgesetzter Verlagerung des Schwergewichts auf den tertiären Wirtschaftssektor 1 Die Annahme einer prinzipiellen Korrelation zwischen der Industrialisierung und der Verstädterung kann nur für die wirtschaftlich entwickelten Länder, das heißt für Europa und Nordamerika gelten; allerdings wird ihr selbst hier unterschiedliche Bedeutung beigemessen. Der Beziehungszusammenhang wird von B. F. Hoselitz und S. Kuznets als direkt und zwingend angesehen, von P. M. Hauser wird die Urbanisation als Vorläufer wie als Konsequenz der Industrialisierung bezeichnet, während W. E. Moore einen nur indirekten und lockeren Zusammenhang anerkennt, vgl. Bert F. Hoselitz, The City, the Factory and Economic Growth, in: American Economic Review, Bd. 45 (1955), Nr. 2, S. 166; Simon Kuznets, Consumption, Industrialization and Urbanization, in: Β. F. Hoselitz/W. E. Moore (Hrsg.), Industrialization and Society. Proceedings of the Chicago Conference on Social Implications of Industrialization and Technical Change, 15.—22. September 1960, Unesco Mouton 1963, S. 102; Philipp M. Hauser, The Social, Economic and Technical Problems of Rapid Urbanization, in: a.a.O., S. 202; Wilbert E. Moore, Industrialization and Social Change, in: a.a.O., S. 334.

1 Thlenel

2

Einführung

seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts häufig zu Schwerpunkten der Industrie. Sie waren ferner durch die Entstehung einer zahlreichen Arbeiterbevölkerung gekennzeichnet, zu der allmählich eine breite Angestelltenschicht trat. Im 19. Jahrhundert übernahm „das Wirtschaftliche"2 die dominierende Rolle bei der Ausprägung aller Bereiche des städtischen wie des geschichtlichen Daseins überhaupt. Theoretische und methodische Probleme Um das für die vorliegende Untersuchung zentrale Problem des Beziehungszusammenhangs zwischen dem Wachstum Berlins, das über die engen Kommunalgrenzen und das Weichbild in die ländliche Umgebung hinausreichte, und der Industrialisierung zu präzisieren, muß nach jenen Veränderungen in Struktur und Funktion der Stadt und der betreffenden Siedlungen gefragt werden, die sich in sichtbaren räumlichen Verteilungen und im Architekturbild manifestierten und die durch den „langfristigen, relativen wirtschaftlichen Wachstumsprozeß", insbesondere den „relativ wachsenden Beitrag des sekundären Wirtschaftssektors zum Sozialprodukt",3 verursacht wurden. Unter ökonomischem Wachstum wird dabei der im Verhältnis zu den Produktionsfaktoren Boden und Arbeitskraft verstärkte Einsatz von Sachkapital verstanden.4 Die „Industrialisierung" brachte primär „Veränderungen wirtschaftlicher Maßnah8

Gerhard Mackenroth, Bevölkerungslehre.

Bevölkerung,

Theorie,

Soziologie

und Statistik

der

Berlin - Göttingen - Heidelberg 1953, S. 415, wählt diesen Begriff, der

für ihn den „geschichtlichen Akzent" im 19. Jahrhundert vor anderen setzte. 5

Siehe Sigurd Klatt, Zur

Bedingungen,

Wirkungen

schritt bestimmten

Theorie

und

der

Grenzen

wirtschaftlichen

Industrialisierung.

eines

Wachstums

vorwiegend

Hypothesen durch

über

technischen

die Fort-

( = Die industrielle Entwicklung, Abt.

A, Untersuchungen zur Volkswirtschaftspolitik, Bd. 1), Köln - Opladen 1959, S. 20, 33. Eine ähnliche Definition gibt Fritz Voigt, Verkehr Zeitschrift

für die gesamte Staatswissenschaft,

und Industrialisierung,

in:

Bd. 109 (1953), S. 193. Unter Wachs-

tum wird fortan die ständige Vergrößerung des Sozialprodukts verstanden. Der Begriff der „industriellen Revolution" tritt in der Literatur immer mehr in den Hintergrund; W . Fischer spricht daher von einer „Entthronung der industriellen Revolution zugunsten eines gesamtwirtschaftlichen, von anderen Sektoren der Wirtschaft mindestens mitgetragenen Wachstums" durch die Nationalökonomen, Wolfram ökonomische Aufgaben

und

soziologische

der Forschung,

hen Industrialisierung

Aspekte

in: Wirtscbafts-

der

frühen

Industrialisierung.

und sozialgeschichtliche

Fischer,

Stand

Probleme

der

und frü-

( = Einzelveröffentlidiungen der Historischen Kommission zu

Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Bd. 1 : Publikationen zur Geschichte der Industrialisierung), Berlin 1968, S. 7. 4

Siehe S. Klatt, Zur Theorie

der Industrialisierung

. . . , S. 20.

Theoretische und methodische Probleme

3

men und Einrichtungen", 5 das heißt, eine Steigerung der Produktion und Produktivität, technische Innovationen und organisatorische Neuerungen, eine Erhöhung des Sozialprodukts und neben sozialen, politischen und kulturellen Auswirkungen audi „räumliche Verschiebungen der Produktionsstandorte" mit sich.® Die Industrialisierung bildet zusammen mit der Demokratisierung den wichtigsten Teil des großen Strukturwandels seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts, dessen wirtschaftlicher Aspekt besonders hoch zu bewerten ist und dessen Ergebnis in unterschiedlichen Formulierungen die „moderne Industriegesellschaft", die „moderne Welt" oder das „technischindustrielle Zeitalter" genannt wird. Die größten räumlichen Wirkungen und Veränderungen löste die Entstehung der großen zentralisierten Arbeitsstätten, der Fabriken, mit ihrer erhöhten Arbeitsteilung, Spezialisierung und Mechanisierung sowie mit ihrem wachsenden Bedarf an mehr oder weniger qualifizierten Arbeitskräften aus.7 Die von diesen Faktoren hervorgerufene Trennung der Arbeits- und Wohnorte wurde zum wichtigsten räumlichen Merkmal des Verstädterungsprozesses im Zeitalter der Industrialisierung. Sie stellte eine funktionale Differenzierung und Strukturierung dar, die sich von den Gliederungsmerkmalen der Städte voraufgegangener Epochen prinzipiell unterschied. Denn in den Städten des Mittelalters und der frühen Neuzeit dominierten meist soziale Strukturierungsfaktoren wie Sprache, Religion, Berufsgruppen oder Stände. Unter der modernen, industriellen Stadt muß jedodi stets eine Stadt mit räumlicher Differenzierung bestimmter ökonomischer und sozialer Funktionen verstan5

A.a.O., S. 19.

• Siehe Walther G. Hoffmann, Zur Dynamik der „industriellen Gesellschaft". Wirtschaftssoziologische Bemerkungen, in: Beiträge zur industriellen Gesellschaft, hrsg. von Walther G. Hoffmann ( = Soziale Forschung und Praxis, Bd. 9), Dortmund 1952, S. 12. 7 Die Aufzählung der für die Expansion und den Strukturwandel des Gewerbes verantwortlichen Prozesse liegt außerhalb des Themas. Zudem variieren Zahl und Vorrangigkeit bei den einzelnen Autoren, vgl. Wolfram Fisdier, Der Staat und die Anfänge der Industrialisierung in Baden 1800—1850, Bd. 1 : Die staatliche Gewerbepolitik, Berlin 1962, S. 195; F. Voigt, Verkehr..., in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 109 (1953), S. 193; S. Klatt, Zur Theorie der Industrialisierung ..., S. 20; Herbert Giersch, Stufen und Fortschrittsperioden der wirtschaftlichen Entwiàtlung, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. 15 (1956), S. 67; Georg Jahn, Die Entstehung der Fabrik, in: Sdimollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 69. Jg. (1949), H. 1 u. 2, S. 89—116, 193—228. 1·

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Einführung

den werden. 8 Wie die Strukturverfassung jeder Gesellschaft sich in der Eigenart ihrer Einzelstrukturen widerspiegelt, so kann die industrielle Stadt als Teilstruktur der industriellen Gesellschaft durch die besondere Herausbildung getrennter Arbeits- und Wohngebiete charakterisiert werden. Daher wird der Aspekt der räumlichen Verteilung von gewerblichen und industriellen Standorten und Wohngebieten innerhalb einer Stadt zum zentralen Thema erhoben, weil gerade er als grundlegend für die spezifische Ausgestaltung des räumlichen Gefüges der Stadt anzusehen ist. Die Standorte und Wohnviertel sind die Träger der wichtigsten Raumfunktionen und dokumentieren die Ausrichtung aller Bereiche der industriellen Gesellschaft auf das Funktionalitätsprinzip, unabhängig von ideologischen Zielsetzungen. Die sozialen Veränderungen in der Umgebung der Produktionsstandorte standen in einem engen Verhältnis zu den wirtschaftlichen Wandlungen. Doch das Ordnungsgefüge der Stadt wurde in erster Linie durch die Verteilung ihrer wirtschaftlichen Einrichtungen, durch ihre Wirtschaftsstandorte bestimmt. So kann die Industrie als eigentlicher „Hauptgestalter" der industriellen Stadt im 19. Jahrhundert bezeichnet werden.® Auch die Unwirtlichkeit der Industriestädte und Industriereviere ist in erster Linie auf die technisch-industriellen Produktionsprozesse mit ihren für das Leben und die Gesundheit der Menschen negativen Wirkungen zurückzuführen. Die in der Frühzeit der Industrialisierung erstmals auftretenden Großbetriebe unterschieden sich in ihren regionalen und lokalen Standortbedingungen und in ihren Standortforderungen innerhalb des begrenzten Raumes einer Stadt. Für die facharbeitsintensiven Gewerbe- und Industriezweige, die in Berlin günstige Bedingungen fanden, erwies sich innerhalb des Stadtgebiets die Stadtrandlage als vorteilhaft. So suchten sie zunächst vorwiegend die Vorstädte auf und bestimmten nicht nur deren Struktur in stärkstem Maße, sondern nahmen auch auf die Entwicklung der gesamten städtischen Organisation Einfluß. Durch die sich ständig vollziehenden Verlagerungen der Standorte, besonders in zentrifugaler Richtung zu den Siedlungen der Umgebung hin, wurde die räumliche Expansion ausgelöst und die Dynamisierung der Gesell-

8 Vgl. Bert F. Hoselitz, Die großen Stadtlandschaften des 20. Jahrhunderts, Städtebauinstitut Nürnberg, Studienh. 23, o. O. 1966, S. 12 f. * Siehe Eduard Willeke, Zur Entstehung und Problematik der Großstadt, Soziale Welt, 6. Jg. (1955), H . 1, S. 5.

in: in:

Theoretische

und methodische

Probleme

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schaft, eines der Merkmale der Industrialisierung als Gesamtphänomen,10 in regionaler Hinsicht und in der Nutzung des Raumes bewirkt. Die großen Arbeitsstätten des Dienstleistungssektors, die eigentlich erst in der Phase der Hochindustrialisierung, in Berlin aber schon in der Mitte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts Bedeutung zu erlangen begannen, verstärkten diese Dynamisierung. Da sie jedoch zu einer zentralen Lage in der Innenstadt tendierten, setzten sie dem Stadtrand ein zweites dynamisches Kraftfeld entgegen.11 Die beiden Hauptfunktionen Berlins, zugleich Hauptstadt Preußens und später auch des Deutschen Reiches sowie Industriestadt zu sein, waren räumlich schwerpunktmäßig voneinander getrennt; die Einrichtungen, die Hauptstadtcharakter hatten, prägten das Stadtzentrum; die von der Industrie bestimmten Viertel erstreckten sich über viele Vorstädte und Siedlungen der Umgebung. Die weitere Gliederung innerhalb der Arbeits- und Wohnorte, das heißt die Konzentration bestimmter Industrie- und Gewerbezweige in unterschiedlichen Teilräumen wie auch die Agglomerationen und Segregationen verschiedener sozialer Schichten in bestimmten Vierteln innerhalb der Wohngebiete, stellte sich im 19. Jahrhundert als eine sekundäre, davon abzuleitende Erscheinung dar. Es kam nicht nur zu einer äußerst starken Bevölkerungsagglomeration in den Vorstädten, sondern audi zu einer Sonderung der verschiedenen sozialen Schichten und Berufsgruppen, die auf einen engen Beziehungszusammenhang zwischen Industrieansiedlung und Bevölkerungskonzentration hinweisen.12 Die Wahl der Niederlassung in diesem oder jenem Stadtviertel wurde darüber hinaus von anderen 10

Vgl. hierzu die Ausführungen von W. G. Hoffmann, Zur Dynamik der „industriellen Gesellschaft" . . . , in: W. G. Hoffmann (Hrsg.), Beiträge zur industriellen Gesellschaft..passim. 11 Zwar muß die Stadtmitte als konstituierender Teil jeder modernen Großstadt angesehen werden, ob jedodi „der Begriff der modernen Großstadt, auch und gerade der industriellen, in ihr . . . gipfelt", scheint eine etwas weitgehende Hypostasierung eines der drei wesentlichen Funktionskreise der modernen Großstadt — Zentrum, Gewerbe- und Industrieviertel und Wohngebiet — zu sein; vgl. hierzu Dasein s formen der Großstadt. Typische Formen sozialer Existenz in Stadtmitte, Vorstadt und Gürtel der industriellen Großstadt, bearb. v. R. Mackensen, J. Ch. Papalekas, E. Pfeil u. a. ( = Industrielle Großstadt. Studien zur Soziologie und Ökologie industrieller Lebensformen, hrsg. von G. Ipsen, Bd. 1 = Soziale Forschung und Praxis, hrsg. von der Sozialforsdiungsstelle an der Universität Münster, Bd. 20), Tübingen 1959, S. 14. 12

Das wichtige Problem des Beziehungszusammenhangs zwischen der Industrieansiedlung und der Bevölkerungskonzentration läßt sidi am ehesten bei kleinräumi-

6

Einführung

Faktoren, wie dem Wohnungsbau und den Mietpreisen, bestimmt. Die Bevölkerungsverteilung stellte in ihrer Gesamtheit das entscheidende Strukturierungsmerkmal der Wohngebiete18 dar und verdeutlicht die Bedeutung der Klassen- und Schichtenstruktur auch für die Gestaltung der Städte im 19. Jahrhundert. Das Bevölkerungswachstum der Stadt Berlin war nicht so sehr hinsichtlich seines überwältigenden quantitativen Ausmaßes — infolge der Zunahme von Geburtenüberschuß und Immigration — als vielmehr unter dem Aspekt der Verteilung der Einwohner im Stadtgebiet und ihrer Lebens- und Wohnverhältnisse problematisch und konfliktgeladen.14 Die veränderte Familienstruktur und die andersartige Zusammensetzung der Wohngemeinschaften schufen besondere Wohnansprüche, denen weder die vorhandenen noch die jetzt erst entwickelten Bauund Wohnungsformen entsprachen. So führte unter den zahlreichen sozialen Problemen

des 19. Jahrhunderts

die Wohnungsfrage in

Berlin zu krassen Mißständen, die von längerer Dauer und schwerer zu beheben waren als andere. Namentlich für die wachsende Zahl der in den aufstrebenden Industriezweigen beschäftigten wurden

keine

über

einzelne

Ansätze

hinausgehenden

Arbeiter adäquaten

Wohnformen von der liberalen bürgerlichen Gesellschaft geschaffen. Diese Seite der „sozialen Frage" war eines der vornehmlich in den Verstädterungsräumen in den Vordergrund tretenden Probleme, das dank verschiedener statistischer Erhebungen und der von den zuständigen Behörden durchgeführten Untersuchungen auch in seinem quantitativen Ausmaß nicht unbekannt ist.15 Die neuen Bevölkerungsteile waren gezwungen, sich in das bestehende räumliche Gegen Untersuchungen lösen, vgl. dazu W. Fisdier, Der Staat und die Anfänge Industrialisierung ...,

der

Bd. 1, S. 326.

Die Aussonderung ethnischer und religiöser Gruppen, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert auch in Berlin gegeben war und in anderen Großstädten wie zum Beispiel in London und noch heute besonders problematisch in den USA anzutreffen ist, spielte im Berlin des 19. Jahrhunderts keine Rolle. 14 Vgl. Adna F. Weber, The Growth of Cities in the Nineteenth Century. A Study in Statistics ( = Studies in History, Economics and Public Law, Bd. 11), New York 1963 [Reprint], S. 157—158. Diese Probleme in der Gegenwart behandelt unter anderen am Beispiel Chicagos R. Freedman, City ward Migration, Urban Ecology and Social Theory, in: Contributions to Urban Sociology, hrsg. von E. W. Burgess and D. J . Bogue, Chicago - London 1963, S. 178 ff. 13

Andere Fragen, etwa die Lebenshaltungskosten oder die Löhne und deren Ursachen sowie der Wandel im Bewußtsein des Bürgertums sind weit schwieriger zu 16

Theoretische und methodische

Probleme

7

füge einzugliedern und erreichten zusammen mit den wirtschaftlichen Einrichtungen die Veränderung ihres Wirkungsraumes. Aus der voraufgegangenen und im 19. Jahrhundert sich vollziehenden Entwicklung erhielt die soziale und räumliche Gestalt der Gemeinde ihre geschichtliche Individualität, die „das Ergebnis aus den vielfältigen Verschränkungen und Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Teilstrukturen ist".16 Die genannten ökonomischen, sozialen und ökologischen Prozesse blieben nicht auf die Städte und namentlich die Großstädte innerhalb ihrer herkömmlichen Grenzen beschränkt, sondern sie griffen auf das engere ländliche Vorfeld und auf einen größeren, ländlich strukturierten Raum, das Umland und Hinterland, über. Stadt und Land als soziale und wirtschaftliche Kategorien standen im Laufe der historischen Entwicklung in einem wechselnden Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung zueinander und zeichneten sich bis zum Beginn der Industrialisierung durch „eine gewisse Abgeschlossenheit" der „beiden Lebensbereiche" aus, wodurch „überhaupt die Entwicklung einer unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Einstellung" zu erklären versucht wird. 17 Die Vorstädte waren am Anfang des 19. Jahrhunderts keine selbständigen und geschlossenen Siedlungen, sondern bildeten locker verstreute Einzelsiedlungen wie Meiereien, Gärtnereien mit dazugehörigen Wirtschaftsgebäuden, Wind- und Lohmühlen, Invalidenhäuser neben Chausseehäusern, Holzmärkten und Friedhöfen. 18 Sie

erforschen und noch weitgehend ungeklärt; auf die wichtigsten neueren Beiträge zu diesem Problemkreis weist W. Fischer, ökonomische und soziologische Aspekte ..., in: W. Fischer (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme . . . , S. 12—13, hin. 16 Siehe Renate Mayntz, Soziale Schichtung und sozialer Wandel in einer Industriegemeinde. Eine soziologische Untersuchung der Stadt Euskirchen ( = Schriftenreihe des UNESCO-Institus für Sozialwissenschaften Köln, Bd. 6), Stuttgart 1958, S. 42. 17 Vgl. Herbert Kötter, Struktur und Funktion von Landgemeinden im Einflußbereich einer deutschen Mittelstadt ( = Schriften des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung Darmstadt, Monographie 1), Darmstadt 1952, S. 1. 18 Vgl. die Pläne von Berlin zwischen 1802 und 1850. Unter den vorhandenen Karten und Plänen von Berlin und Umgebung kann hier nur eine Auswahl getroffen und aufgeführt werden: Plan der Gegend 2 Meilen um Berlin. Gezeichnet von W. Wolff, 1804, Maßstab 1 :20 000, in: Ehemaliges Preußisches Geheimes Staatsarchiv, Allgemeine Kartensammlung (fortan zitiert: Allg. Ks.) 31; Grundriß von Berlin, hrsg. vom Kgl. Bauinspektor S. Sachs, 1812, Maßstab 1:12 500, Allg. Ks. 24; Topo graphische Karte der Gegend um Berlin, von Lieutenant Vogel von Falkenstein, 1829, Maß-

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Einführung

gruppierten sich besonders um die Stadttore und die von ihnen ausgehenden Landstraßen; daher erhielten sie ihre Namen meist nach den Toren. Die Städteordnung von 1808 wies sie verwaltungsmäßig dem städtischen Gemeindeverband zu. Rechtlich wie wirtschaftlich unterschieden sie sich von den anderen Teilen der städtischen Feldmark, in der die Kämmereidörfer, Kolonien und Güter der Stadt lagen, die weiterhin zum Land zählten. 19 Entsprechend ihrer Größe, wurden sie administrativ den angrenzenden Vierteln innerhalb der Ringmauer angegliedert, oder sie bildeten eigene Viertel. 20 Im Jahre 1841 wurden die nördlichen, östlichen und südöstlichen Vorstädte, die Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt, die Königstadt, das Stralauer Viertel außerhalb der Mauern und die äußere Luisenstadt, im Westen nur die Friedrichsvorstadt, eingemeindet. Die einzelnen Vorstädte entwickelten sich in den folgenden Jahrzehnten sehr unterschiedlich. Der Ausbau begann zunächst vorwiegend im Norden, Nordwesten und Südwesten Berlins, und noch 1850 hatte sich die Bebauung in diesen Gegenden am weitesten über die Zollmauer hinaus ausgedehnt.21 In den anderen Richtungen beschränkten fiskalische Anlagen wie der Tiergarten oder mehrere Exerzierplätze mit anschließendem Kasernengelände die räumliche Erweiterung. 22 Die westlichen Vorstädte, wie die vor dem Potsdamer Tor gelegenen Friedrichs- und Schöneberger Vorstädte, begannen sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt dank ihrer landschaftlich reizvollen Lage am Tiergarten und am Landwehrgraben allmählich zu Wohngebieten

stab 1 : 25 000, Allg. Ks. 21; Grundriß von Berlin mit nächster Umgegend 1850, in: Historischer Handatlas von Brandenburg und Berlin, Lfg. 1 ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin), Berlin 1962; Berlin und Umgebung 1874, in: a.a.O., Lfg. 21, Berlin 1967. 19 Die preußische Städteordnung von 1808 ( = Neue Schriften des Deutschen Städtetages, H. 1), Köln - Stuttgart 1957, S. 47—48, bestimmt in § 4, daß „zum städtischen Polizei- und Gemeinbezirk . . . daher alle Einwohner und sämmtliche Grundstücke der Stadt und der Vorstädte" gehören, und § 15 verleiht das Redit, „städtische Gewerbe zu treiben und Grundstücke im städtischen Polizeibezirk der Stadt zu besitzen". 20 Vgl. C. F. W. Dieterici, Statistische Übersicht der Stadt Berlin, in: Berliner Kalender 1844, Berlin 1844, S. 171. " Vgl. a.a.O., S. 165. 21 Derartige Siedlungsbarrieren waren im Westen außer dem Tiergarten der große Exerzierplatz mit der Kaserne des Ulanenregiments, im Osten der parkartige Friedrichshain sowie städtisdie Friedhöfe, im Süden und Südosten der Truppenübungsplatz Tempelhofer Feld und andere mit den jeweiligen Kasernenbezirken.

Theoretische und methodische

Probleme

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des wohlhabenden Bürgertums, namentlich zu einer vom „höheren Beamtenstande" 23 bevorzugten Wohngegend zu entwickeln, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die westlich anschließenden Dörfer Schöneberg, Steglitz und Wilmersdorf und auf die neu gegründeten Kolonien Friedenau, Lichterfelde und Grunewald erstreckte. In den südöstlichen Vorstädten, der Luisenstadt oder dem Stralauer Viertel, und den nördlichen Vorstädten, der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt, ließen sich besonders viele industrielle Unternehmen nieder. Außerdem hatte die zahlreiche Arbeiterbevölkerung gerade hier ihren Wohnsitz. Dadurch entsprachen die beiden nördlichen Vorstädte am ehesten dem Typ der industriellen Teilstadt. N u r sie blickten auf eine längere gewerbliche Tradition zurück; ein kleiner, relativ geschlossener Siedlungskomplex, das Voigtland, bildete ihren Kern. Während des ganzen betrachteten Zeitraums läßt sich ein gewisses Eigenleben der Vorstädte beobachten. Durch das Auftreten oder auch nur die Häufung bestimmter sozialer und wirtschaftlicher Merkmale unterschieden sie sich von den anderen Vierteln. Insofern könnten sie — analog den zentraler gelegenen Stadtteilen — als natürliche Raumeinheiten (natural areas) angesprochen werden. Im allgemeinen werden in der Literatur unter derartigen natürlichen Raumeinheiten innerhalb einer Stadt soziologisch relativ homogene Teilgebiete24 verstanden, in denen die sozialen Gruppen innerhalb der Wohngebiete streng voneinander getrennt leben. O f t werden nur solche Gebiete unter diesem Begriff erfaßt, die gleicher Nutzung unterliegen und in denen ausschließlich oder in bestimmter Kombination Wohnhäuser, Industrieniederlassungen, zentrale Verwaltungen und anderes lokalisiert sind; sie seien deshalb auch als „Funktionskreise" zu bezeichnen.25 Unter beiden Aspekten könnten die betrachteten Vorstädte als relative oder historische natürliche Raumeinheiten zusammengefaßt oder noch weiter untergliedert werden. 2 ® Siehe Carl Wilhelm Hoffmann, Die Berliner Gemeinnützige Bau-Gesellschaft. Gründung und Entwicklung der Gesellschaft ( = Die Wohnungen der Arbeiter und Armen, H. 1), Berlin 1852, S. 84. 24 Siehe René König, Grundformen der Gesellschaft. Die Gemeinde ( = rowohlts deutsche enzyklopädie, Bd. 79), Hamburg 1958, S. 57 ff. Grundlegend sind unter den zahlreichen Werken die Arbeiten von R. E. Park, E. W. Burgess und R. D. McKenzie, The City, Chicago 1925; vgl. audi Paul Hatt, The Concept of Natural Area, in: American Sociological Review, Bd. 2 (1946), S. 423—427. 25 Siehe R. König, Grundformen der Gesellschaft..., S. 60.

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Einführung

Sie waren einerseits Wohngebiete besonderer sozialer Schichten, die sich in ihrer Zusammensetzung von denen anderer Gebiete unterschieden. Andererseits waren sie sowohl Wohngebiet wie Arbeitsgebiet mit großen und kleinen Industriebetrieben oder Sitz des Heimgewerbes. Wohnund Arbeitsorte lagen dicht beieinander oder waren in den jeweiligen Vorstädten besonders eng miteinander verzahnt. Zunächst fanden die mit der Industrialisierung verbundenen Erscheinungen ihren stärksten räumlichen Niederschlag am Randsaum der Stadt, in dem zu Beginn des 19. Jahrhunderts ländlichen Vorfeld, dem Umland. Hier entstanden jene Teile der Stadt, die als Typus der „industriellen Teilstadt" der älteren „offenen Bürgerstadt" gegenübergestellt werden können.26 Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich die zu Beginn der Periode der Industrialisierung und Verstädterung noch „scharfe Grenze zwischen Stadt und Land" 2 7 zu verwischen, und allmählich entstand ein Stadt-Land-Kontinuum. Viele Städte entwickelten sich zu Stadtregionen und bildeten selbst nur den Mittelpunkt eines größeren Stadt- und Wirtschaftsraumes, die sogenannte Kernstadt. Das Wesen der industriellen Stadt, die funktionale Differenzierung, wurde aus dem alten kernstädtisdien Bereich auf den Expansionsraum, die entstehende Stadtregion, übertragen. Als Folge der Industrialisierung entstand daher ganz allgemein ein neues Verhältnis zwischen städtischen und ländlichen Siedlungen, das zu besonderen Siedlungsformen und -typen im Raum und in der Umgebung der industriellen Großstädte führte. So war Moabit zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine der unscheinbaren, kleinen ländlichen Kolonien mit unbedeutender Seidenproduktion. Rixdorf glich in dieser Zeit mit seinem agrar-gewerblichen Gefüge vielen anderen märkischen Dörfern im Hinterland Berlins. Die durch die Gewannverfassung bedingte relative Ge2 6 Diese Gegenüberstellung der beiden Funktionsbereiche findet sich besonders bei Gunther Ipsen, Artikel Stadt. IV. Neuzeit, in: Handwörterbuch der Soziahvissenschaften. Zugleich Neuauflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften, hrsg. ν. Ε. v. Beckerath, C. Brinkmann u. a., Bd. 9, Stuttgart - Tübingen - Göttingen 1956, S. 788 ff.; siehe audi Wolfgang Köllmann, Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage". 2ur Entstehungsgeschichte der deutseben Industriegroßstadt im 19. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 46 (1959), S. 46. 8 7 Vgl. B. F. Hoselitz, Die großen Stadtlandschaften.. ., in: Städtebauinstitut Nürnberg ..Studienh. 23, S. 12.

Theoretische

und methodische

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Probleme

sdilossenheit des sozialen Lebens in den Dörfern stabilisierte die Konstanz der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse bis zur Einführung der Agrarreformen. Nach der Durchführung der Reformen w a r die Offenheit für einen Wandel der ökonomischen und sozialen Verhältnisse institutionell verankert. Mit zunehmender Intensität der vom Zentrum ausgehenden Uberformungskräfte und der nach der Verdichtung im engeren städtischen Bereich über das ländliche Vorfeld der Vorstädte hinaus auf das Hinterland übergreifenden räumlichen Ausdehnung, wurden die hier befindlichen Siedlungen als ein Teilbereich in den vergrößerten Stadtraum einbezogen. 28 „Im Zuge dieser Entwicklung" vollzog sich „eine immer stärkere Integration städtischer und bisher ländlicher Gebiete in sozialer und kultureller", aber auch in wirtschaftlicher „Hinsicht". 29 So wurden die besonderen, im Industrialisierungsprozeß enthaltenen Entwicklungsimpulse den ländlichen Siedlungen vom Zentrum Berlin aus vermittelt. Entsprechend der Eigenstruktur der Siedlungen, das heißt der unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Ausgangssituation in Moabit und Rixdorf und ihrer Lagebedingungen im Wasserstraßensystem und im entstehenden Eisenbahnnetz, wurden andersartige Funktionen in ihnen lokalisiert: Moabit wurde zum Standort der Großindustrie im Metallgewerbe und Maschinenbau, w o die zugehörige Arbeiterbevölkerung weitgehend ansässig w a r ; Rixdorf entwickelte sich zu einer Textilheimarbeitergemeinde und danach zum Wohnort einer vorwiegend nicht am O r t beschäftigten Arbeiterbevölkerung. Diese Entwicklung war mit den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen in Berlin seit der frühen Industrialisierung direkt und unmittelbar verbunden durch die Etablierung industrieller Unternehmen und die Ansiedlung in ihnen tätiger, in der Stadt Berlin beschäftigter oder auf andere Weise wirtschaftlich eng mit der Stadt verbundener Personen. Wurde eine ältere dörfliche Siedlung, wie Rixdorf, mit relativ festem Gefüge von diesem Umformungsprozeß erfaßt, traten zunächst gewisse Desorganisationserscheinun-

28

V g l . O l a f B o u s t e d t , Die Stadtregionen

forschung,

i n : Die

Entwicklung

als Instrument

der Bevölkerung

der vergleichenden

in den Stadtregionen

(=

StadtRaum

und Bevölkerung, Bd. 2: Forschungs- und Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Bd. 22), Hannover 1963, S. 13. 2> Siehe Rudolf Hillebrecht, Städtebau und Stadtentwicklung, i n : Archiv Kommunalwissenschaften, 1. J g . (1962), 1. Halbb., S. 62.

für

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gen im wirtschaftlichen und sozialen Leben auf, die in der ein geringer verfestigtes Gefüge aufweisenden Kolonie Moabit weitgehend ausblieben. Die funktionalen und strukturellen Veränderungen in den ländlichen Gemeinden standen in engem Kausalzusammenhang mit dem ökonomischen und sozialen Wandel in Berlin und erstreckten sich hauptsächlich auf drei Bereiche. Die Siedlungen büßten ihre wirtschaftliche Basis als Standort der Nahrungserzeugung und des kleinen ländlichen Gewerbes zugunsten spezialisierter gewerblicher Produktion oder größerer industrieller Niederlassungen ein, die audi zur Rolle des Arbeiterwohnorts führten. Dabei änderte sich die Bevölkerungszusammensetzung durch hohe Zunahme und Ballung nicht nur quantitativ, sondern infolge der so plötzlich einsetzenden Invasion neuer Schichten von unterschiedlicher sozialer und regionaler Herkunft, die zu tiefgreifenden Veränderungen im sozialen Aufbau führte, auch qualitativ. Die agrarischen Bevölkerungsschichten traten immer mehr in den Hintergrund. Es entstanden neue Schiditen — vor allem ist die Arbeiterschaft hervorzuheben —, wobei Differenzierung und Gruppenbildung, „bedingt durch die zunehmende Spezialisierung und Teilung der Arbeit", ständig zunahmen. 30 Die wirtschaftlichen und sozialen Prozesse enthalten mit ihren besonderen Raumansprüchen spezifisdi raumprägende Elemente, die sich in der Entstehung neuer Siedlungstypen dokumentieren und die auch als Vororttypen anzusehen sind, da der gesamte Prozeß der Determinierung der Funktionen einer selbständigen Gemeinde und der Prägung ihrer Struktur von einem größeren städtischen Zentrum aus erfolgte. 31 Die Vororte entwickelten sich analog zur Entstehung getrennter Arbeits- und Wohnviertel zu „industriellen Teilstädten". 32 In den immer mehr städtische Merkmale adaptierenden, ehemals ländlichen Teilen der sich bildenden Großstadtregion entstanden als Haupttypen einerseits kleingewerbliche und Wohngemeinden mit Vgl. W. Fischer, ökonomische und soziologische Aspekte . . i n : W. Fisdier (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme . . S . 16. 3 1 Von geographischer Seite wurde versucht, die Vororte und die einzelnen Zonen systematisch und kartographisch zu erfassen durch die Darstellung städtischer Einflußzonen mittels verschiedener funktionaler Indizes wie städtischer Verkehrseinrichtungen, Gebieten der Versorgung mit Einzelhandelsgütern, Pendlereinzugsbereichen oder bestimmten Bevölkerungsdichten. 3 2 Siehe G . Ipsen, Artikel Stadt. IV. Neuzeit, in: E. v. Beckerath, C. Brinkmann u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaften ..., Bd. 9, S. 788 f f . 30

Theoretische und methodische

Probleme

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bestimmter sozialer Struktur wie Rixdorf. Andererseits entwickelten sich Industriegemeinden oder Arbeitsorte wie Moabit; diese zeichneten sich durch die überdurchschnittlich starke Niederlassung von Industrie- und Gewerbebetrieben aus, die oft nur zu einzelnen Zweigen und Branchen gehörten.33 Damit war ein „geradezu revolutionärer Gestaltwandel ihres Siedlungsbildes" verbunden. 34 „Mit der stürmischen Entwicklung" vieler Siedlungen in der Umgebung Berlins war innerhalb Deutschlands nur der Entwicklungsprozeß im sächsischen Industriegebiet oder in den Industriegemeinden an der Ruhr vergleichbar, die ebenfalls „aus stillen Dörfern" entstanden. 35 Parallel zur Kennzeichnung der jeweiligen kleineren selbständigen Siedlungen nach ihren dominanten Funktionen innerhalb der Stadtregion und der sozialen und wirtschaftlichen Struktur als Gemeindeoder Siedlungstypen kann, 36 gleichsam auf einer darunter liegenden Ebene, eine Gliederung in ähnlich charakterisierte Räume innerhalb der betreffenden Siedlungen vorgenommen werden. Audi hier sind Konzentrationen verschiedener Betriebe in bestimmten Straßenzügen und Blocks zu beobachten, die sich von den Wohnvierteln der zugehörigen und unabhängigen Bevölkerung abheben. Die funktionale Differenzierung, zu den grundlegenden Strukturierungsfaktoren des Industriezeitalters zählend, fand gleichermaßen Eingang in neu gegründete Siedlungen und ältere städtische und ländliche Gemeinden. Mit der Industrialisierung wurde eine allgemeine, von ökonomischem Wachstum und technischem Fortschritt eingeleitete Dynamisierung zum entscheidenden Kriterium der neuen Wirtschafts-, Sozial- und Raumordnung, die auf eine permanente „Veränderung der Struktur der Gesellschaft in Zusammenhang mit der immer 38 Siehe R. Hillebrecht, Städtebau ..., in: Archiv für Kommunalwissenschaften, 1. Jg. (1962), 1. Halbb., S. 58. 84 Siehe Josef Kaltenhäuser, Taunusrandstädte im Frankfurter Raum. Funktion, Struktur und Bild der Städte Bad Homburg, Oberursel, Kronberg und Königstein ( = Rheinmainische Forschungen, Bd. 43), Frankfurt/Main 1955, S. 221. 85 Vgl. Helmuth Croon, Zur Entwicklung der Städte im 19. und 20. Jahrhundert, in: Studium Generale, 9. Jg. (1963), S. 569; Johannes Meier/Werner Rust, Bibliographie zur Geschichte der Stadt Karl-Marx-Stadt, hrsg. von der Historisdien Kommission bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Leipzig 1959; vgl. die dort angegebene Literatur für weitere sächsische Gebiete. 88 Die hier genannten Gemeindetypen versuchen vor allem den wirtschaftlichen Charakter der Siedlung anhand der Zahl der Erwerbstätigen und ihres Beschäftigungswertes sowie der beruflichen Gliederungen sichtbar zu machen.

14

Einführung

stärkeren Durchsetzung des Industriesystems" 37 abzielte. Auch und vornehmlich in den Stadtlandschaften beziehungsweise den Stadtregionen gehörten ständige lokale und regionale Umschichtungen und Verschiebungen der Produktionsstandorte wie die Mobilität der Bevölkerung oder verschiedener Gruppen davon, die sich im dauernden und zeitweisen Wechsel der Wohnorte oder nur in der Pendelwanderung dokumentierte, zum Strukturwandel. Die industrielle Agglomeration gestaltet so nicht nur den Raum, den sie einnimmt, nach eigenen Gesetzen, „aus denen sich eine besondere, ihr eigentümliche Raumordnung ergibt", sondern „sie überspült Gemeinde-, Landes-, ja Staatsgrenzen", sie „bezieht Ortschaften und Städte ein und verändert sie völlig".38 Sofern diese Gesetze „nur aus dem Industrialisierungsprozeß als solchem zu verstehen" sind, müssen sie als „systemimmanent" 39 angesehen werden. In der siedlungshistorisdien Entwicklung stellte diese erhöhte Dynamik ein Phänomen dar, das sich prinzipiell von den vergleichsweise langsamen und kontinuierlichen Stadterweiterungen der voraufgegangenen Jahrhunderte unterschied. Bei der Frage nach den Vorbedingungen (prerequisites) für den räumlichen Wandel der Stadt Berlin sind von den Erscheinungen und Maßnahmen, die überregionalen Charakter tragen, solche von spezifisch lokaler Bedeutung zu unterscheiden. Während die Agrarreformen zweifellos zur ersten Gruppe der Vorbedingungen zu zählen sind, können die gewerbliche Tradition in der Stadt und in manchen ländlichen Siedlungen der Umgebung wie die zeitliche Stufung der freien Verfügbarkeit über Grund und Boden eher zur zweiten Gruppe geredinet werden.40 Bei dem Versuch, die strukturellen Veränderungen und den funktionalen Zusammenhang zwischen sozialökonomischem und räum37

W. G. Hoffmann, Zur Dynamik der „industriellen Gesellschaft" ..., in: W. G. H o f f m a n n (Hrsg.), Beiträge zur industriellen Gesellschaft..., S. 7. 38 Siehe R. Mackensen/J. Ch. Papalekas u. a. (Bearb.), Daseinsformen der Großstadt ..., S. 3. 39 Siehe W. G. Hoffmann, Zur Dynamik der „industriellen Gesellschaft" . . . , in: W. G. Hoffmann (Hrsg.), Beiträge zur industriellen Gesellschaft..S. 12. 40 In der räumlichen Detailforschung, das heißt in der Landesgesdiichte, können „vergleichende überregionale und internationale sowie interdisziplinäre Fragestellungen im Ausschnitt einer Landschaft aufgrund überschaubarer und gesicherter regionaler Quellen einheitlich beantwortet werden". Otto Büsch, Industrialisierung und Geschichtswissenschaft. Ein Beitrag zur Thematik und Methodologie der historischen Industrialisierungsforschung, Berlin 1969, S. 32.

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Probleme

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lichem Wandel in den Randsäumen des entstehenden Wirtschaftsraumes und der Stadtregion Berlin aufzuweisen, sollte der Historiker oftmals die Methoden der gegenwartsbezogenen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wie der Geographie für seine speziellen historischen Probleme nutzbar machen. „Die erprobte historisch kritische Methode mit der ihr eigenen Annäherungsexaktheit" 41 bedarf der Erweiterung. In der Verbindung „der individualisierenden, genetischen Methode, der ,erzählenden und berichtenden' der Historie",42 mit den stärker systematisch orientierten Methoden der Nachbardisziplinen soll versucht werden, die historische Forschung zu bereichern und den Methodenkatalog dieser Wissenschaft zu erweitern. Darüber hinaus kann ein Beitrag zur Uberwindung des Gegensatzes zwischen individualisierender, generalisierender und typologisierender Methode geliefert werden. Doch auch bei der Anwendung der historisch-verstehenden wie der historisch-kritischen Methode muß typologisierend verfahren werden, wobei das Bemühen um die bei der Quellenarbeit zu erreichende Konkretisierung der gewonnenen und die Kritik der übernommenen Typen als eigentliche Aufgabe des Historikers zu verstehen ist.48 Zumal auf einem Gebiet wie dem der Industrialisierungsgeschichte werden die Grenzen der klassischen, an der politischen und der Ideengeschichte erarbeiteten Methoden der Historie rasch evident und erlauben nur eine beschränkte Erkenntnis dieses Gegenstandes. Deshalb muß gerade bei einem Thema, das nicht im Zentrum traditioneller historischer Forschung steht, der es in erster Linie um die Strukturen, Motivationen und Wirkungen menschlichen Handelns geht, sondern das sich im Spannungsfeld zwischen Geschichte, Geographie und Sozialökologie bewegt, der überkommene Methodenkanon erweitert werden. Die Entscheidung, ob bei der Erforschung und Darstellung des gewählten Themas „die Blickrichtung . . . ent41 Werner Conze, Die Strukturgesàiidite des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht ( = Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe: Geisteswissenschaften, H . 66), Köln - Opladen 1957, S. 19. 42 Siehe Ridiard Dietridi, Probleme stadtgeschichtlicher Untersuchungen im Zeitalter der Industrialisierung am Beispiel Berlins, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittelund Ostdeutschlands, Bd. 16/17 (1968), S. 171. 43 Vgl. Werner Conze, Sozialgeschichte, in: Moderne deutsche Sozialgeschichte, hrsg. v. H . U. Wehler ( = Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 10: Gesdiichte), Köln - Berlin 1966, S. 25.

16

Einführung

weder mehr auf das Handeln und Geschehen oder mehr auf das Typische und Strukturelle" 44 zu richten ist, fällt bei dem gewählten Thema zugunsten des letzteren aus. Denn das Problem der Veränderungen von Siedlungen unter dem Einfluß der Industrialisierung verlangt eine Verknüpfung sozial- und wirtschaftshistorischer mit siedlungs- und sozialgeographischen Fragestellungen. Im Siedlungsbild werden soziale und wirtschaftliche Zustände nachhaltiger und dauerhafter als in anderen Teilen der Landschaft fixiert. Dies läßt erkennen, daß soziale und ökonomische Erscheinungen audi einen engen Bezug zum Raum haben. Quantifizierende Methoden, besonders die Bearbeitung von Statistiken, die Kartierung sozialhistorischer Daten und der Standorte, ergänzt durch erzählende Quellen, bilden die Materialbasis einer so ausgerichteten historischen Analyse. Die statistischen Daten vermögen nicht nur über quantitative Vorgänge genauen Aufschluß zu geben, sondern „jede statistische Berechnung strukturgeschichtlicher Erscheinungen... ist eine Aussage über Strukturzusammenhänge, die ohne die Zahl nicht darstellbar sind, mit der Zahl aber oft überraschend einsichtig gemacht werden können". 45 Die relativ abstrakte statistische Methode wird „für die Sozialgeschichte des industriellen Zeitalters [als geradezu] unentbehrlich" bezeichnet, und zwar aufgrund der mit ihr gegebenen „Prävalenz des Quantitativen vor dem Qualitativen". 46 Sie muß jedoch in der „Verbindung mit den systematischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften für die Erforschung der Strukturwandlung in unserer Weltepoche angeeignet werden". 47 Vor der Anwendung und kritischen Durchleuchtung von verallgemeinernden und typisierenden geographischen, soziologischen und ökonomischen Begriffen und selbst von Modellen, die diese Wissenschaften erarbeitet haben, sollte nicht zurückgeschreckt werden, sofern es sich nicht darum handelt, sie nur empirisch-historisch zu belegen. Es gilt vielmehr, sie als Arbeits44 Siehe W. Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters ..., S. 18 f. 45 A.a.O., S. 25. 48 Hans Mommsen, Sozialgeschichte, in: Moderne deutsche Sozialgeschichte, hrsg. v. H . U. Wehler ( = Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 10: Geschichte), Köln - Berlin 1966, S. 34; vgl. auch W. Conze, Sozialgeschichte ..., in: Moderne deutsche Sozialgeschichte ..., S. 26; W. Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters . . . , S. 25. 47 W. Conze, ebda.

Theoretische und methodische

Probleme

17

instrumente zu benutzen und auf ihre Fähigkeit zu prüfen, die historische Wirklichkeit zu charakterisieren oder zu erklären und sowohl die Einmaligkeit der historischen Erscheinung wie die in ihr enthaltenen allgemeinen Züge der Epoche zu kennzeichnen.48 Wenn nicht versucht wird, das Partikulare mit dem Universalen in Beziehung zu setzen, ist es unmöglich, einen Zusammenhang zwischen den sozialhistorisch-geographischen Entwicklungen in Berlin und in anderen Räumen und ebenso zu den sozialen und ökonomischen Vorgängen allgemein herzustellen. Die Sozialökologie ist ein fast ausschließlich in den USA entwickelter Zweig der Soziologie, der noch zu wenig Eingang in Deutschland gefunden hat. Sie hat sich das Studium der Verteilung der verschiedenen Institutionen und Bevölkerungskategorien im Raum der Stadt und der Prozesse, die zur Bildung der Verteilungsmuster führen, zur Aufgabe gemacht.49 Bei diesem aus der Biologie und der Verhaltensforschung entlehnten Modell wird vorausgesetzt, daß die Großstadt beziehungsweise die Metropole ein offenes System sei, das sich ständig verändert und in dem das Zusammenleben verschiedener Berufsgruppen, sozialer Schichten, Rassen, Altersklassen und der Geschlechter sich nach funktionalen Beziehungen ordnet. 50 Die Sozialökologie befaßt sich also nicht nur mit den Strukturen der Gemeinwesen, „sondern auch mit Bewegungsvorgängen innerhalb dieser Strukturen" 51 und ihren räumlichen Ordnungen, wobei in der historischen Akzentuierung besonderes Gewicht auf ihre geschichtliche Entwicklung zu legen ist. Einige der Hauptprozesse derartiger sozialökologischer Bewegungen sind für den Industrialisierungsverlauf als besonders typisch anzusehen. Bei den Agglomerationen handelt es sich um wachsende Bevölkerungsdichten in bestimmten Regionen. Innerhalb derartiger Agglomeratio-

48

Vgl. W. Fischer, Der Staat und die Anfänge der Industrialisierung ..., Bd. 1, S. 14. 49 Vgl. K. G. Spedit, Mensch und räumliche Umwelt. Bemerkungen zur Geschichte, Abgrenzung und Fragestellung der Sozialökologie, in: Soziale Welt, 4. Jg. (1953), H . 3, S. 202. 50 Vgl. Leonard J. Duhl, Introduction, in: L. J. Duhl (Hrsg.), The Urban Condition, People and Policy in the Metropolis, N e w York - London 1963, S. I X ; William C. Lehmann, Sozialökologie. Eine Methode der Gemeindeforschung in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 109 (1953), S. 424. 61 Vgl. W. C. Lehmann, a.a.O., S. 427. 2 Thienel

18

Einführung

nen können sich Zentralisationen bestimmter Einrichtungen und Dezentralisationen vollziehen. Die Konzentrationen und Zentralisationen bestimmter Einrichtungen oder der Bevölkerung können zu ihrer Dominanz in einem Gebiet oder Viertel führen. Davon heben sich die Segregationen ab, bei denen es sich um eine Absonderung bestimmter Bevölkerungsgruppen von anderen innerhalb eines Stadtviertels oder einer Siedlung im Umland, das heißt eines Vororts, handelt. Bei Invasionen ziehen bestimmte Bevölkerungsgruppen oder Schichten in bisher anderen Gruppen oder Schichten vorbehaltene Stadtteile oder Siedlungen ein, oder Industrieniederlassungen dringen in Wohngemeinden ein und umgekehrt. Sowohl Segregationen wie besonders Invasionen können zu Sukzessionen führen, wobei dasselbe Gebiet nacheinander von verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Schichten, Diensten und Einrichtungen wie Industrieanlagen und ähnlichem aufgesucht wird. 52 Auch das geographische Modell der Stadtregion, das weitgehend von deutschen Geographen und Raumforschern entwickelt und empirisch belegt wurde, erweist sich als fruchtbar. Der Gliederung und Zonierung der Stadtregion — den konzentrischen Aufbau und die zentrifugale Expansionsrichtung bei der städtischen Dynamik voraussetzend — liegt die Vorstellung ihres modellhaften Aufbaus aus einer Anzahl relativ homogener Einheiten, sogenannter local units, zugrunde. Das Modell hat in erster Linie mehr oder weniger den Charakter eines Ordnungsschemas. So werden innerhalb der Stadtregion mehrere Zonen unterschieden, die zusammen die Region als ein Gebiet umfassen, das „durch eine gleichartige Sozialstruktur und enge wirtschaftliche Verflechtung zusammengefügt wird und in dem eine bedeutende Kernstadt die maßgebliche Existenzgrundlage für die Bevölkerung des Gesamtraumes bildet". 53 Das „Kerngebiet" stellt das Zentrum der Stadtregion dar, in der die „Kernstadt" ihre Verwaltungseinheit und die Randgemeinden das „Ergänzungsgebiet" bilden. Die „verstädterte Zone" ist dem Kerngebiet strukturver82

Vgl. K. G. Specht, Mensch und räumliche Umwelt..., in: Soziale Welt, 4. Jg. (1953), H . 3, S. 202 f.; R. Mayntz, Soziale Schichtung ..., S. 48 f. 13 Zur Entstehung deutscher Stadtregionen vgl. vor allem O. Boustedt, Die Stadtregionen als ein Instrument..., in: Die Entwicklung der Bevölkerung..., S. 14; ders., Die Entwicklung der deutschen Stadtregion 1939—1960, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, 1. Jg. (1962), S. 179—202; ders., Die Stadt und ihr Umland, in: Raumforschung und Raumordnung, Bd. 1 ( = Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung), Hannover 1953.

Theoretische und methodische

Probleme

19

wandt und eng mit ihm verflochten. Die zentrifugal anschließende „Randzone" umgreift das Restgebiet der Stadtregion und bildet den allmählichen Übergang zum Umland. Die daran anschließende „Außenzone" nimmt den Raum zwischen Kerngebiet und Umland ein und erst an sie schließt sich das „Umland" an. 54 Die einzelnen Bereiche sollen nicht systematisch aus dem die Stadt Berlin umgebenden Raum ausgesondert werden, sondern nur Stadien des Durchgangs der beiden Gemeinden Moabit und Rixdorf durch einzelne Zonen sollen nachgewiesen werden: der Eintritt aus dem Einflußbereich in das Umland, und von hier aus in die Randzone und die verstädterte Zone bis in das Ergänzungsgebiet im Falle Rixdorfs beziehungsweise bis in die Kernstadt am Beispiel Moabits. Die Stadtregion hebt sich ihrerseits gegen die Umgebung als ein funktional verbundenes regionales System ab, das im Verhältnis zur Umgebung eine relativ einheitliche Struktur aufweist. Bei der Unterscheidung der einzelnen Zonen der Umgebung der Großstadt, die in einem Beziehungszusammenhang zueinander stehen, werden meist drei, nämlich Umland, Hinterland und Einflußbereich unterschieden.55 Das Umland ist durch nichtstädtische offene Bebauung, Bevölkerungszuwanderung, Gartenbau und zunehmende städtische Bevölkerungsstruktur gekennzeichnet. Das zentrifugal anschließende Hinterland wird durch ländliche Baustruktur, geringes Bevölkerungswachstum oder geringe Bevölkerungsabwanderung, durch eine auf die Stadt hin orientierte Landwirtschaft und den Wochenendausflugsverkehr charakterisiert. Dementsprechend kann „derjenige Umlandbereich zum Agglomerationsraum einer Stadtregion gerechnet [werden], dessen Einwohner überwiegend städtische, das heißt Vgl. O. Boustedt, a.a.O., S. 22. Zur Zonengliederung des die Großstadt umgebenden Raumes vgl. u. a. Peter Sdiöller, Aufgaben und Probleme der Stadtgeographie, in: Erdkunde, Bd. 7 (1953), H. 3, S. 161—184; Eugene Van Cleef, Hinterland und Umland, in: Geographical Review, Bd. 31 (1941), S. 308—311; vgl. audi die davon abweichenden Termini bei G. Kühne, Die Stadt Kamenz in den Beziehungen zu ihrem Hinterland, Dresden 1937; Hans Annaheim, Die Raumgliederung des Hinterlandes von Basel, in: Wirtschaft und Verwaltung, H. 3, Basel 1950, S. 85—122; Karl Heinz Hottes, Die zentralen Orte im oberbergischen Land, Phil. Diss., Köln 1952; vgl. audi die in der französischen Literatur entwickelten Begriffe banlieue immédiate, moyenne banlieue und grande banlieue bei Georges Chabot, Les villes. Aperçu de géographie humaine ( = Collection Armand Colin. Section de géographie, Nr. 250), Paris 1948, S. 186— 188; ders., Les zones d'influence d'une ville. Comptes rendus du Congrès international de géographie, Paris 1931, S. 432 ff. 54

55

2*

20

Einführung

nichtlandwirtschaftliche Berufe ausüben und von denen der überwiegende oder zumindest ein erheblicher Teil seine Existenzgrundlage in den Arbeitsstätten der Kernstadt hat". 5 6 Bei der ungefähren Abgrenzung der Zonen in der Umgebung Berlins können etwa das Gebiet des weiteren Polizeibezirks beziehungsweise die 1920 zur Einheitsgemeinde zusammengeschlossenen Gemeinden zu Anfang des 19. Jahrhunderts zur Hinterlandzone gezählt werden, während die Umlandzone sich etwa mit dem Gebiet der Vorstädte deckt. Die zeitliche Begrenzung der Arbeit ist nicht einheitlich. Die Untersuchung setzt etwa um 1800 ein. Die Behandlung der inneren Stadtteile und der Vorstädte e r s t r e i t sich bis zum Ende der frühindustriellen Phase in Deutschland um 1873. Zu diesem Zeitpunkt haben die Vorstädte als Randsäume der Kernstadt eine gewisse Konsolidierung erfahren. In der anschließenden Periode der Hochindustrialisierung wird ihr Charakter unter dem Einfluß der verstärkten „Peripheriewanderung" der Großindustriebetriebe an den Rand des dadurch weiter expandierenden Wirtschaftsraumes und durch die Reichshauptstadtaufgaben tiefgreifend umgestaltet. Die Betrachtung der beiden Siedlungen in der Umgebung Berlins wird dagegen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts beziehungsweise bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts weitergeführt. Die Eingliederung in die Stadtregion, die eigentlich mit der Einordnung Moabits ihren Anfang nahm, ist bei dieser Gemeinde vor 1873 abgeschlossen. Rixdorfs Verstädterungsprozeß zog sich über das ganze 19. Jahrhundert hin; erst in den letzten beiden Jahrzehnten gehörte dieser Ort zum Ergänzungsgebiet der Stadtregion. Wie bei jeder Fallstudie erhebt sich das Problem der Allgemeingültigkeit vieler hier getroffener Aussagen. Die Gefahr voreiliger Generalisierung mag in manchen Formulierungen stecken, wenn eine Arbeit dahin tendiert, nicht die Singularität ihres Gegenstandes zu beschreiben, sondern allgemeine, repräsentative Merkmale der frühindustriellen Stadt herauszustellen. Eine Entscheidung, wie repräsentativ viele der am Beispiel Berlin gewonnenen Ergebnisse sind, kann angesichts des Mangels an Parallelstudien erst getroffen werden, wenn andere, noch ausstehende Arbeiten ihre Richtigkeit bestätigen oder eine Korrektur erforderlich machen. Diese Studie über die Auswirkungen des Industrialisierungspro5 6 Siehe O. Boustedt, Die Stadtregionen lung der Bevölkerung ..., S. 14.

als ein Instrument...,

in: Die Entwick-

Historisch-rechtliche

Voraussetzungen

21

zesses auf die räumliche Struktur der Stadt Berlin stellt einen Teilaspekt des umfassenden Themas der Industrialisierung im Räume Berlin dar. Weitere Studien der Mitarbeitergruppe am Forschungsschwerpunkt über die Frühindustrialisierung in Berlin behandeln andere Teilgebiete, die mehr oder minder eng mit dem vorliegenden Beitrag verbunden sind. Es ist ihre Absicht, zusammen eine umfassende und historisch befriedigende Analyse des komplexen Vorgangs der Frühindustrialisierung in diesem Räume zu geben. Es werden die Randsäume und zwei kleine, weil überschaubare ländliche Siedlungen im Hinterland und im Umland Berlins betrachtet, die unter dem Einfluß der zu einem Industriezentrum heranwachsenden preußischen und deutschen Hauptstadt Berlin in das Stadium der Industrialisierung eintraten und in die Kernstadt oder ihr Ergänzungsgebiet eingegliedert wurden. Das Hauptaugenmerk dieses speziellen Beitrags zur Industrialisierungs- und Stadtgeschichte Berlins ist darauf gerichtet, die historische Wirklichkeit und Individualität dieses Raumes mit den generalisierenden und systematisierenden Begriffen und Modellen der Nachbardisziplinen zu erfassen. Denn erst am konkreten Beispiel werden die Kausalität wie die besonderen strukturell-funktionalen Verhältnisse und die Beziehungen zwischen sozio-ökonomischem und räumlichem Wandel zu klären sein. Gleichzeitig soll in dieser historischen Analyse versucht werden, die geographischen und sozialökologischen Modelle aus historischer Sicht zu präzisieren, zu korrigieren oder zu verfeinern. Historisch-rechtliche

Voraussetzungen

Das liberale Reformwerk Preußens kann als diejenige staatliche Maßnahme bezeichnet werden, die den größten Einfluß auf den Wandel der Siedlungen im 19. Jahrhundert ausübte. Im Zusammenwirken mit der Baugesetzgebung sdiuf es einerseits die Vorbedingungen für die Veränderungen in den Siedlungen, und andererseits steckte es den Rahmen ab, innerhalb dessen sich der Wandel einzelner Bereiche im Industrialisierungsprozeß, wie in der Bevölkerungsund Wirtschaftsstruktur, aber auch der Baustruktur vollziehen konnte. Die Reformen der Sozial- und Wirtschaftsverfassung stellen einen Teil des umfangreichen Reformwerks dar, das eine liberale Gesellschaftspolitik in Preußen einleitete, die in entscheidendem Maße

22

Einführung

zur Entstehung der kapitalistischen Gesellschaft beitrug. Aus dem Geiste der Aufklärung geboren, hatten sie mit ihren einzelnen Maßnahmen, wie der Einführung der städtischen Selbstverwaltung, der Gewerbefreiheit, der Aufhebung der Erbuntertänigkeit, der Freizügigkeit, der freien Verkäuflichkeit des Bodens, der Steuerreform und der Judenemanzipation das Ziel, eine Gesellschaft rechtlich gleichgestellter freier Menschen und freier Staatsbürger zu schaffen, in der jeder nach dem Fortfall ständischer Schranken seine Fähigkeiten frei entwickeln konnte. 57 Deshalb zielten alle Teilgesetze auf die Auflösung der Herrschafts-, Sozial- und Wirtschaftsverfassung der feudalbestimmten ständischen Gesellschaft in Stadt und Land.®8 In der liberalen Reformpolitik des preußischen Staates verband sich die politische Intention mit der Absicht, eine freie Wirtschaftsgesellschaft in der Stadt und auf dem Lande zu schaffen, die zum Träger des ökonomischen Fortschritts werden sollte und auch den Wandel der Kulturlandschaft auslöste.59 Die Verwirklichung der Agrarreformen im engeren Bereich des an die Stadt Berlin unmittelbar angrenzenden Raumes schuf auch hier die Grundlagen und den institutionellen Rahmen, innerhalb deren neue Siedlungstypen in der sich bildenden industriellen Massengesellschaft entstehen konnten. „Bauer — das war" in der ständischen Gesellschaft „die Standesbezeichnung für die breite Masse des ackerbautreibenden Volkes".60 57

Reinhard Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen, in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815—1848 ( = Industrielle Welt, Bd. 1), Stuttgart 1962, S. 85 f., der dort den Verweis auf den „geistigen Lehrer der Reformer, Kant", gibt; Werner Conze, Quellen zur Geschichte der deutschen Bauernbefreiung ( = Quellensammlung zur Kulturgeschichte, Bd. 12), Göttingen 1957; Ulrich Peter Ritter, Die Rolle des Staates in den Frühstadien der Industrialisierung. Die preußische Industrieförderung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ( = Volkswirtschaf tlidie Sdiriften, H . 60), Berlin 1961, S. 38 ff.; Friedrich Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 2. Aufl., Berlin 1960; Alexander Gerschenkron, Die Vorbedingungen der Europäischen Industrialisierungen im 19. Jahrhundert, in: W. Fischer (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme . . S . 21—28. 58 Vgl. D a v i d S. Landes, Die Industrialisierung in Japan und Europa. Ein Vergleich, in: Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme ..., S. 93 ff. 89 Ob und wie weit die „freie Staatsbürgerschaft" verwirklicht wurde, beziehungsweise ob nur eine vom Staat unabhängige liberale Wirtschaftsgesellschaft entstand, ist in der wissenschaftlichen Diskussion noch strittig; vgl. hierzu die Beiträge in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815—1848 ..., passim. 80 Siehe W. Conze, Quellen zur Geschichte ..., S. 13.

Historisch-rechtliche

Voraussetzungen

23

Sein Leben war durch die doppelte Gebundenheit an den Herrn in persönlicher und besitzrechtlicher Beziehung bestimmt, die sich vererbte, und durch seine Mitgliedschaft in der bäuerlichen Dorf- und Markgenossenschaft. Hatte sich die alte Sozialordnung an anderen Punkten schon aufgelöst,61 in der persönlichen und dinglichen Bindung an den Herrn war sie noch relativ starr geblieben. Der Beginn der Reformen mit der Zerstörung dieses Grundpfeilers im Agrargefüge war für die Durchschlagskraft des gesamten Programms wichtig. Die Reformen wurden mit dem Steinschen Regulierungsedikt vom 9. Oktober 1807 eingeleitet, das das persönliche Abhängigkeits- und Untertanenverhältnis des Gutsuntertanen mit besserem Besitzrecht vom Grundherrn ab sofort aufhob. Für die Bauern mit „schlechterem Besitzrecht" wurde die Erbuntertänigkeit am 11. November 1810 aufgehoben. Jetzt konnte die Landbevölkerung „ohne Erlaubnis des Grundherren und ohne die Zahlung eines Ablösungsgeldes . . . frei Ort und Art ihrer Erwerbstätigkeit selbst wählen". 62 Die Herstellung ihrer Freizügigkeit schuf die Voraussetzung für die spätere Binnenwanderung. Ähnliche, in die Sozialstruktur des Bürgertums eingreifende Wirkungen hatten die Gewerbereformen. Aufgrund des Edikts vom 11. Oktober 1807, vollends dann 1811, war jeder berechtigt, ein Gewerbe zu betreiben; ausgenommen waren einige Berufe, die das Gemeinwohl berührten, sie durften nur mit staatlicher Konzession ausgeübt werden. Der Zunftzwang wurde für alle Gewerbe aufgehoben und damit der Unterschied zwischen städtischer und ländlicher Gewerbetätigkeit abgeschafft. Die besitzrechtlichen Verhältnisse zwischen Gutsherren und Bauern mit erblichem wie nichterblichem Nutzungsrecht regelten das Edikt vom 14. September 1811 und die Deklaration vom 29. Mai 1816, denen zahlreiche Durchführungsverordnungen folgten. Die Bauern mit erblichem Nutzungsrecht hatten ein Drittel ihres Landes abzutreten; die Bauern ohne sicheres Nutzungsrecht, das heißt Lassiten und Pachtbauern, erhielten ihr Gut gegen Abtretung der Hälfte ihres

6 1 Es war die Regel, das Gewerbe auf die Städte, die landwirtschaftliche Produktion auf die Dörfer zu beschränken. Mit der Gründung ländlicher Gewerbekolonien

ist diese Regel durchbrochen worden; audi die Dreifelderwirtschaft war allgemein

stark rückläufig, vgl. R. Koselleck, Staat und Gesellschaft..in: schaft im deutschen Vormärz 1815—1848 ..., passim. 82 Siehe U. P. Ritter, Die Rolle des Staates . . S . 39.

Staat und

Gesell-

24

Einführung

Landes zu festem Eigentum. Alle Frohnden, Abgaben und Dienstleistungen entfielen. Da im ersten Entwurf des Edikts die Grundsätze für eine Entschädigung nicht klar genug herausgearbeitet worden waren, konnten der Adel beziehungsweise die Gutsherren die eigenen Positionen in den folgenden Regelungen verbessern. So setzte die Ablösungsordnung von 1821 die Ablösung der Dienstleistungen und die Abgaben der spannfähigen Bauern mit „gutem Besitzrecht" gegen Landabtretung oder Geld fest. Die Handdienste der kleinen Besitzer mit „gutem Besitzrecht" wurden im Interesse der Gutsherren sogar der freien Verfügbarkeit überlassen. Ihren Abschluß fand die preußische Agrarreform erst 1850, als alle Dienste und Abgaben in Geldrenten umgewandelt und gegen den achtzehnfachen Betrag der Jahresrente für ablösbar erklärt worden waren. 63 Zusammen mit der Separation schuf sie eine Schicht freier Landeigentümer. Eine selbständige Verwaltung ihrer Angelegenheiten wurde den Gemeinden jedoch erst mit Erlaß der Kreisordnung von 1872 zugestanden, die den Amtsvorsteher als unterste polizeiliche Instanz und den Gemeindevorsteher an Stelle des Schulzen einsetzte. Die negativen Auswirkungen der Agrarreform: die Vergrößerung des Areals der Rittergüter, die Schrumpfung des Bauernlandes neben der Entstehung eines kleinen, begüterten Bauernstandes und die starke Verringerung der Zahl der kleinen lassitischen Grundbesitzer, die zu Tagelöhnern absanken, waren im Teltow und Niederbarnim nicht so häufig anzutreffen wie in anderen Gegenden Preußens.64 Infolge der Umständlichkeit und Langsamkeit des Instanzenweges zogen sich auch die nach 1821 eingeleiteten Ablösungs- und Entschädigungsverfahren in der Umgebung Berlins hin, so daß erst um 1850 die ehemaligen „Erbpächter, Zins- und Erbzinsleute Eigent ü m e r der von ihnen besessenen Grundstücke geworden" waren. 95 63

Siehe Wilhelm Treue, Wirtschaftsund Sozialgeschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert, in: Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 3: Von der Französischen Revolution his zum ersten Weltkrieg, Stuttgart 1960, S. 318—325; P a u l Voigt, Grundrente und Wohnungsfrage in Berlin und in seinen Vororten. Eine Untersuchung ihrer Geschichte und ihres gegenwärtigen Standes, T. 1, hrsg. v o m Institut f ü r Gemeinwohl, F r a n k f u r t a. M. - Jena 1901, S. 105—108. 64

Siehe P. Voigt, ebda. Siehe Bericht über die Verwaltung der Stadt Berlin in den Jahren 1841 bis incl. 1850, hrsg. vom Magistrat Berlin, Berlin 1853, S. 183; gleichzeitig beklagte der Magistrat als bisheriger G r u n d h e r r u n d nun übergeordnete Verwaltungsbehörde das 65

Historisch-rechtliche

25

Voraussetzungen

U m die Mitte des 19. Jahrhunderts war die städtische und die bäuerliche Bevölkerung zivilrechtlich, aber audi wirtschaftlich Nachdem die ländlichen Besitzer die Zahlung von

frei.

Entschädigungs-

geldern — im betrachteten Gebiet waren Landabtretungen seltener —

geleistet hatten, traten sie als rechtlich freie Personen in die im

Entstehen begriffene industrielle Welt ein, in der die Landbevölkerung einen großen Teil der in den Industriebetrieben

benötigten

Arbeitskräfte stellte. Durch die Abschaffung der grund- und gutsherrlichen Gewalt waren so die fundamentalen Gegebenheiten der alten Sozialordnung beseitigt worden. Die mit dem Eintritt in den Einflußbereich der Industriegroßstadt Berlin zusätzlich auftretenden Faktoren im Wandel der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse brachten für viele dörfliche Siedlungen neue Funktionen mit sich. D a die soziale und ökonomische Angleichung der dörflichen an die städtischen Bevölkerungsschichten wechseins

aus

einer

Gruppe

durch die Möglichkeit des Über-

in

die

konnte, waren die Voraussetzungen

andere dafür

beschleunigt

gegeben, die

werden Trennung

von Land und Stadt aufzulockern, ihren Gegensatz zu mindern und neue städtische und ländliche Siedlungsformen und -funktionen zu entwickeln. Infolge der „Freisetzung der ländlichen Bevölkerung",

besonders

der „unterbäuerlichen Schichten", die nun zahlenmäßig am stärksten wuchsen, und

verzeichneten

Westpreußen,

die östlichen

Pommern,

preußischen

Schlesien,

Posen

Provinzen,

und

Ost-

Brandenburg,

die größte Bevölkerungszunahme im Zeitraum zwischen 1816 und 1871. 6 6 einige

Innerhalb der

der

Provinz

umgebenden

Brandenburg

Siedlungen

die

hatten

höchsten

Berlin

und

Wachstumsraten

aufzuweisen, die neben natürlichem Wachstum aus großer Zuwanderung

resultierten. 67

Wie

die Beispiele

Rixdorf

und

gesunkene Einkommen aus den Kommunen. Die Einnahmen aus

Schöneberg

Deutsch-Rixdorf

sanken zum Beispiel auf 80 Rthlr, während die Ausgaben 103 Rthlr ausmachten. ββ

Siehe Werner Conze, Artikel Agrarverfassung,

u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch I V bei Gunther Ipsen, Die schrift

für Agrargeschichte

preußische

Europe,

in: Journal

ten . . B d .

Bauernbefreiung

und A grar Soziologie,

audi bei H . J . Habakkuk, Family Century

in: E . v. Bedserath/C. Brinkmann

der Sozialwissenschaf

Structure

of Economic

1, S. 1 1 1 ; vgl. T a b .

als Landesausbau,

in:

Zeit-

1 . — 2 . J g . ( 1 9 5 3 — 1 9 5 4 ) , S. 5 0 ; vgl.

and

History,

Economic

Change

in

Nineteenth

Bd. 15 ( 1 9 5 5 ) , S. 1 — 1 2 , die dort

vertretenen Thesen über Beziehungen zwischen Erbsitten und Bevölkerungswachstum beziehungsweise Mobilität. 67

Siehe die Bevölkerungszahlen

bei Ernst

Fidicin,

Die

Territorien

der

Mark

26

Einführung

zeigen, blieb die Zahl der Bauernstellen konstant, die kleineren, etwas mehr als das Existenzminimum garantierenden selbständigen Eigenstellen der Büdner vermehrten sidi dagegen.68 Sie wurden häufig mit nachgeborenen Bauernsöhnen besetzt, die bisher in diesem Gebiet der Anerbensitte vom Erbhof weichen mußten oder als Gesinde tätig waren, jetzt aber mit kleinen Nebenstellen oder durch Landerwerb abgefunden werden konnten. Die unterbäuerlichen Sdiiditen wurden bei den Gemeinheitsteilungen nicht berücksichtigt. So verloren viele einen wichtigen Anteil zur Deckung ihres Lebensunterhalts mit dem Fortfall der Hütung von Kühen und Schweinen auf der Allmende. Dadurch wurden sie zu einer gewerblichen oder einer Tagelöhnertätigkeit als zusätzlicher oder ausschließlicher Verdienstquelle, zur Auswanderung ins Ausland oder zur Abwanderung in andere Teile Deutschlands, hier besonders in die Städte, gedrängt. 69 In Rixdorf zum Beispiel befanden sich nach 1845 besonders viele Weber, Arbeitsmänner und Tagelöhner neben anderen handwerklich Berufstätigen unter den Büdnern. 70 Eine Reihe von Dörfern um Berlin war — wie die Stadt selbst — durch Bevölkerungszuwanderung gekennzeichnet, wodurdi das Ubergewicht der

Brandenburg oder Geschichte der einzelnen Kreise, Städte, Rittergüter, Stiftungen und Dörfer ..., Bd. 1, Berlin 1857, S. 149 ff. 68 Siehe Friedrich Wilhelm August Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung der gesamten Mark Brandenburg, Bd. 1—3, Berlin 1804, 1805, 1809, kritisch durchgesehene und verbesserte Neuausgabe von Otto Büsch und Gerd Heinrich ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 22. Neudrucke, Bd. 2), Berlin 1968 (zitiert wird nach der Neuausgabe), S. (880), (890); Namensverzeichnis derjenigen Personen, welche zu Gemeindebedürfnissen beizutragen haben, 1852, in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation des Magistrats zu Berlin, betr. die Verwaltung des Dorfes Deutsch-Rixdorf, Archiv Neukölln, Hist. 1/5, 15; Eugen Brode, Geschichte Rixdorfs, Rixdorf 1899, S. 157. 68 Vgl. hierzu vor allem die Studie von W. Köllmann, Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage"..., in: Vierteljahrsàrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 46 (1959), S. 49 f., wo zwischen Auswanderung (ins Ausland) und Binnenwanderung (Ortswechsel innerhalb des deutschen Reiches und hier wiederum zwischen Nah- und Fernwanderung) unterschieden wird. 70 Nach Namensvergleich aus: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation des Magistrats zu Berlin betr. die Verwaltung von Deutsch-Rixdorf 1852 ...; Nachweisung der hier in Deutsch-Rixdorf Domicilirten Weber, welche den 26. Juli 1847 zum Termin vorgeladen sind, in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation des Magistrats zu Berlin betr. die Bildung einer Weber-Innung zu Deutsài-Rixdorf, 1847— 1865, Archiv Neukölln, Hist. 1/4, 21; Trauregister Deutsch-Rixdorf ab 1846, Archiv der Magdalenengemeinde Neukölln.

Historisch-rechtliche

Voraussetzungen

27

kleinen Stellen der Tagelöhner und der im Kleingewerbe Tätigen zunahm. In der Gemeinde Rixdorf wurden damit wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung zum Webereistandort geschaffen. Die Bauernbefreiung führte hier nicht wie in anderen Teilen Preußens zu einem „staatlich bewirkten Landesausbau", 71 sondern ermöglichte vor allem eine Umschichtung der Landbevölkerung durch die Zunahme des nichtbäuerlichen, besonders des gewerblichen Elements. Dieser Vorgang war mit der Entwicklung Berlins zum Industriestandort insofern eng verbunden, als die dort entstehenden Unternehmen über das Verlagssystem mit der dörflichen Bevölkerung in Verbindung traten, insofern auch, als sich Betriebe in ländlichem Gebiet mit für sie günstigen Voraussetzungen niederließen beziehungsweise insofern, als die außerhalb Berlins wohnhafte Bevölkerung ihren Arbeitsplatz aufgrund des Ausbaus der Verkehrswege häufig in der Hauptstadt hatte. In den Städten selbst brachte die Gewerbefreiheit eine gesteigerte berufliche Mobilität mit sich und schuf mit der Freizügigkeit der Arbeitskräfte im gewerblichen Sektor theoretisch den Arbeitsmarkt, auf dem die entstehenden Industriebetriebe ihre Facharbeitskräfte rekrutieren konnten. 72 Infolge der enorm großen Zuwanderung nach Berlin überstieg das Angebot von Arbeitskräften bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts generell die Nachfrage. 73 Da es sich neben kleinen städtischen und ländlichen Handwerkern in der Hauptsache um unterbäuerliche Schichten handelte, die vom platten Land und den Kleinstädten in die Großstadt Berlin und ihre Randgemeinden wanderten, „verlagerte sich mit der Entstehung der neuen Arbeiterschaft die ,soziale Frage' vom ländlichen Pauperismus auf die Problematik des städtischen Proletariats". 74 Diese Feststellung behält ihre Gültigkeit für den Berliner Raum mit einer inhaltlichen Erweiterung des Begriffs vom städtischen Proletariat, wenn zu diesem auch die in den umgebenden ländlichen Siedlungen lebenden Unterschichten gezählt werden, die

71

Als Ergebnis der Bauernbefreiung für Preußen faßt G. Ipsen, Die preußische Bauernbefreiung als Landesausbau . . i n : Zeitschrift für Agrargeschichte und AgrarSoziologie, 1.—2. Jg. (1953—1954), S. 56, zusammen: „So ist die preußische Bauernbefreiung im wesentlichen ein staatlich bewirkter Landesausbau." 72 Siehe U. P. Ritter, Die Rolle des Staates ..., S. 42. 73 A.a.O., S. 40 f. 74 W. Köllmann, Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage" ..., in: Vierteljahrsdrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 46 (1959), S. 51.

28

Einfährung

mit der Stadt Berlin durch soziale und ökonomische Funktionen verbunden waren. Die personen- und besitzrechtlichen Maßnahmen der Agrarreform und die Gewerbefreiheit, die die Änderungen in der Zusammensetzung der ländlichen Bevölkerung ermöglichten, wurden durch Maßnahmen zur Neuverteilung des Bodens ergänzt. Die Separation, die in die beiden „sinngemäß zusammengehörigen, aber meist nicht zusammen durchgeführten Maßnahmen" der Verkoppelung oder Kommassation und der Gemeinheitsteilung zerfiel, löste die alten gemeinschaftlichen Hiitungsrechte ab und ermöglichte die restlose Abkehr von der Dreifelderwirtschaft. Sie brachte mit der vollständigen Privatisierung des Grund und Bodens die ungehinderte Nutzung der Grundstücke.75 Seit dem 18. Jahrhundert erwies sich die der mittelalterlichen Wirtschaft angepaßte genossenschaftliche Flur- und Weideverfassung in steigendem Maße als hinderlich für eine durch den erhöhten Bedarf notwendige Produktionssteigerung. Steins politisches Ziel der Bauernbefreiung, ein politisch freies und mithandelndes Bauerntum zu schaffen, verband sich in Preußen mit der ökonomischen Forderung nach dem seinen Boden individuell und rationell bewirtschaftenden und möglichst hohen Gewinn erzielenden Bauern.78 Die Voraussetzung dafür war die Ablösung des Bodens von der herrschaftlichen wie von der genossenschaftlichen Bindung. Die herrschaftliche Bindung wurde im Ablösungsverfahren aufgehoben, die genossenschaftliche Bindung durch das Separationsverfahren. Bei der Auflösung der Allmende im Separationsverfahren erhielt jeder spannfähige Bauer, entsprechend seinem Anteil an der Ackerflur, einen Teil des Gemeinbesitzes zu privatem Eigentum. Die nicht spannfähigen Besitzer „unterhalb der vollen Ackernahrung", Büdner ohne Pferde und Kossäthen, in Deutsch-Rixdorf zum Beispiel 66, denen 53 spannfähige Besitzer, Bauern und Büdner mit Pferden und 11 weitere Separationsinteressenten gegenüberstanden, waren von 75

Die Separation — in der preußischen Gesetzgebung die übliche Bezeichnung für Verkoppelung und Gemeinheitsteilung — ermöglichte zudem unter anderem rationellere Landnutzungsmethoden wie die Fruchtwechselwirtsdiaft, vgl. W. Conze, Quellen zur Geschichte . . S . 17 f. 76 Ebda.; W. Treue, Wirtschafts- und Sozialgeschichte . . . , in: Handbuch der Deutschen Geschiáte ..Bd. 3, S. 325. In Preußen setzten sich weniger die romantischen Wirtschaftstheoretiker durch, sondern vielmehr die Schule Albrecht Thaers, die sich an englischen Erfahrungen orientierte.

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Voraussetzungen

der Landaufteilung der Gemeinheiten wie von der Regulierung bis 1850 ausgeschlossen.77 Nach Aufstellung des Vermessungsregisters und der nachfolgenden Vermessung der gesamten Feldflur wurden die zahlreichen kleinen Besitzparzellen zu größeren Besitzeinheiten arrondiert. Dadurch konnte die Ackerflur rationeller und, da der Flurzwang wegfiel, auch individuell bewirtschaftet werden. Das Separationsverfahren begünstigte eindeutig die größeren, spannfähigen Landwirte, die Bauern und großen Büdner, deren privater Grundbesitz sich auf diese Weise vergrößerte, während die kleinen Landbesitzer noch ärmer wurden. Die Separationsverfahren wurden allgemein zwischen 1821 und 1825 unter staatlicher Leitung aufgenommen. Da jedoch eine genaue Vermessung der Fluren erfolgen und ein entsprechendes Register angefertigt werden mußte, die Zustimmung von über 50 % der Separationsinteressenten erforderlich und ein umständlicher Instanzenweg zu durchlaufen war, zogen sich auch diese Verfahren meist jahrelang hin. Der Zeitpunkt des Abschlusses des Separationsverfahrens war für die räumliche Erweiterung Berlins und der benachbarten Dörfer von großer Bedeutung und trägt zur Erklärung der strukturellen Eigenart des Berliner Raumes bei. Denn erst dadurch wurde die Möglichkeit zur Parzellierung, zur Aufstellung von Bebauungsplänen, zur Errichtung und Verteilung von Gewerbebauten und Wohnhäusern und zur Ansiedlung neuer Einwohner geschaffen. Am deutlichsten fällt das dem Gang der Ablösungs- und Separationsverfahren folgende räumliche Wachstum in den Berliner Vorstädten auf. Die frühe und relativ geschlossene Ausdehnung der Rosenthaler und Oranienburger Vorstädte war dadurch möglich, daß die jenes Gebiet umfassenden Berliner Hufen bereits 1826 bis 1828 in privates Eigentum überführt worden waren. 78 Sie erstreckten sich auf dem unfruchtbaren ehemaligen Allmendland beiderseits der Panke bis zum ehemaligen Dorf Wedding in einer etwa 77

Siehe Eigentümerliste,

in: Repartition

mes von Böhmisch- nach Deutsch-Rixdorf, 78

der Kosten

Siehe C . Dieterici, Statistische Übersicht

lender..., Berlin.

S. 2 1 4 ; Paul Clauswitz, Die Festschrift

zur hundertjährigen

wegen

Pflasterung

des

Dam-

Archiv Neukölln, Hist. 1/2, 4. der Stadt Berlin...,

Städteordnung

Gedenkfeier

von

i n : Berliner 1808

der Einführung

die

der

Städteord-

nung, Berlin 1908, S. 167, läßt das Verfahren bereits 1826 enden, vgl. audi Plan Berliner

Hufen

aus dem Jahre

1822,

Geheimes Staatsarchiv, Sign. 19a, 675.

Ka-

und

Stadt der

nach Mencelius, i n : Ehemaliges Preußisches

30

Einführung

drei Kilometer breiten Zone beiderseits der Chausseestraße, die von den Ackerbesitzern eher zur Bebauung freigegeben wurden als die fruchtbareren, östlich anschließenden Ackerhufen.79 Die Ablösung und Separation der Köllnischen Flur, auf der die Luisenstadt sich entwickelte, war erst 1845 beendet.80 Die bauliche Erschließung war hier durch eine geringere Geschlossenheit im Bebauungsgang und in der Straßenerschließung gekennzeichnet, da schon vor 1845 auf vielen, zu privaten Hausgrundstücken gehörenden Parzellen kleine Häusergruppen entstanden waren, die nach der Privatisierung des Geländes in großer Geschwindigkeit sich zu umfangreichen Komplexen erweiterten und aneinanderschlossen. Mit der Uberführung der privatisierten, bisher landwirtschaftlich genutzten Flächen in potentielles Bauland und der dadurch möglichen beschleunigten und umfangreicheren Ansiedlung nicht mehr in der Landwirtschaft tätiger Bevölkerung in den ländlichen Siedlungen im Umland Berlins war ebenfalls eine wichtige Voraussetzung für die Veränderung der dörflichen Struktur geschaffen. In Rixdorf, das zu den Gemeinden in der Umgebung Berlins gehörte, die am frühesten ihren dörflichen Charakter verloren, stand die Feldmark schon 1850 den Besitzern zur freien Verfügung. 81 Im Gegensatz dazu wurde zum Beispiel in Reinickendorf zu diesem Zeitpunkt der Ablösungsrezeß erst zur Bestätigung vorbereitet, auch in Lichtenberg lief er um 1850 noch, und in Pankow wurden gar erst 1893 die letzten Ablösungen vollzogen.82 Auch die Gestalt und die Größe der einzelnen Acker- und Wiesenparzellen selbst wurden im Verkoppelungsverfahren, das hauptsächlich nur den Gesamtbesitz zu arrondieren suchte, geändert. Beobachtungen aus der Gemeinde Rixdorf ergeben, daß die der Verkoppelung unterliegenden Allmend- und Ackerflächen in größere Besitzeinheiten aufgeteilt wurden, während die Hofstellen und

79 Siehe Herbert Louis, Die geographische Gliederung von Groß-Berlin, Stuttgart 1936, S. 14. 80 Siehe C. F. W. Dieterici, Statistische Ubersicht der Stadt Berlin ..., in: Berliner Kalender ..., S. 214; vgl. P. Clauswitz, Die Städteordnung von 1808 ..., S. 167 f. Danach war die Separation erst zwischen 1857 und 1859 beendet. D a 1843 und 1846 bereits Bebauungspläne veröffentlidit wurden und eine starke Bautätigkeit einsetzte, dürfte jedoch der frühere Termin zutreffend sein. 81 Siehe Bericht über die Verwaltung der Stadt Berlin . . . 1841 bis incl. 1850..., S. 183. 82 A.a.O., S. 184; Rudolf Dörrier, Pankow. Kleine Chronik, Berlin 1949, S. 17.

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Gartenländereien die alten Abmessungen behielten.83 Die Bebauung des Gemarkungsgebietes begann mit der Errichtung von Wohnhäusern auf den nichtseparierten Hofstellen und Gartenländereien, die die alten Dorfkerne umschlossen.84 Auf diesen tiefen und meist auch schmalen Grundstücken wurden, um den bebauungsfähigen Grund und Boden auszunutzen, mehrere Hinter- und Seitengebäude errichtet. Bis zur Aufstellung des Bebauungsplanes für Rixdorf im Jahre 1875/76 waren das Hof- und Gartenland nahezu vollständig und das sich entlang der Straße nach Berlin anschließende Niederungsland teilweise bebaut. Der Bebauungsplan, der die Gemarkungsfläche in Bauland aufteilte und die Straßenführung festsetzte, schuf die Grundlage für die Gestaltung der einzelnen Baugrundstücksgrößen. Die Separationspläne und Bebauungspläne lassen sich so als hauptverantwortlich für die Herausbildung der formalen Struktur, das heißt der Grundriß- und Grundstücksgestaltung der Siedlungen bezeichnen. Waren die zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlassenen Reformgesetze ein aktives Instrument, um eine liberale Gesellschaftspolitik in Preußen zu realisieren, so wurde die Baugesetzgebung zwar auch von dem Geist der Aufklärung und des Liberalismus bestimmt, doch konnte sie als formales Instrument des liberalen Ordnungsstaates inhaltlich nicht zur Verwirklichung bestimmter gesellschaftspolitischer Vorstellungen beitragen und wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht einmal von einem einheitlichen städtebaulichen Leitbild geprägt. Die Bauvorschriften, darunter sind die Baupolizeiordnungen einschließlich der Ansiedlungsgesetze und Fluchtliniengesetze sowie die Bebauungspläne zu verstehen, stellten die Richtlinien für die Änderungen der Bauflächen- und Wegeeinteilung, der Grundstücks-, Haus- und Wohnungsgestaltung in den betreffenden Siedlungen auf. Sie setzten Schranken, lenkten das räumliche Wachstum in bestimmte Richtungen und engten so den 88

Siehe Karte von der Feldmark Rixdorf im Teltowschen Kreise. Behufs der Separation speciell vermessen, Bezirksamt Neukölln, Abt. Bau- u. Wohnungswesen, Bezirksvermessungsamt, Plankammer Abt. B, Schränk 1, Fadi 3, Nr. 88; Situationsplan von den zwischen der Feldmark Tempelhof und der Berlin-Rudower Chaussee belegenen Theilen der Feldmarken Rixdorf und Britz sowie der Dorflage von Rixdorf nebst dem Entwurf zu einem Bebauungs- und Entwässerungsplan für Rixdorf, gefertigt 1875 von Regierungs- und Baurat Keil, Maßstab 1:2000, Bezirksamt Neukölln, Abt. Bau- und Wohnungswesen, Bezirksvermessungsamt. 84 Ebda.

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Einführung

freien Spielraum der die Siedlungen verändernden sozialen und ökonomischen Kräfte des Industrialisierungsprozesses ein. Ihr Wandel im Laufe des 19. Jahrhunderts setzte einerseits unter dem Drude der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Entwicklung sowie der Abkehr vom Liberalismus ein, andererseits war er als Anpassungsplanung eine Reaktion auf das schnelle und unkoordinierte Wachstum vieler Städte und ihrer Wirkungsbereiche seit der Frühzeit der Industrialisierung. Eine Entwicklungsplanung im heutigen Sinne, das heißt, die Aufstellung eines „boden- und baupolitischen Programms", zumindest aber die Schaffung der „günstigsten Bedingungen für Arbeit, Verkehr, Wohnung, Erholung und Kultur", 8 5 war noch unbekannt. Erste Gedanken dazu tauchten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Einsicht in die Notwendigkeit städtebaulicher Planung auf. 86 Die preußische Baupolitik stand im 18. Jahrhundert unter königlicher Leitung und vereinigte ästhetische und politische Ziele — die stärkere Hervorhebung des Residenzcharakters der Stadt Berlin — mit fiskalischen Interessen — der Erhöhung der Akzise-Einnahmen durch die Vergrößerung der Stadt. 87 Sie wurde nach der Einführung des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1791/94 von .privater' Baupolitik abgelöst. Die im Preußischen Landrecht enthaltenen Bestimmungen, die jedem Eigentümer absolute Baufreiheit auf seinem Grund und Boden zugestanden, soweit sie nicht Schaden oder Gefahren für die Allgemeinheit verursachte, lenkten das Baugeschehen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie wurden durch die Bauordnungen selbst sowie durch besondere Ortspolizeigesetze nicht wesentlich eingeschränkt.88 Das Baurecht, das jedem Grundbesitzer nahezu völlige Baufreiheit sicherte, war „als Grundrecht im eigentlichen Sinne des Wortes a n e r k a n n t . . . so gut wie die landwirtschaftliche oder gewerbliche Benutzung des Grundeigentums". 89 8 5 Siehe Johannes Göderitz, Artikel Städtebau, in: E. v. Beckerath / C. Brinkmann u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaften ..., Bd. 10, S. 2. 8 6 Vgl. J . Göderitz, a.a.O., S. 1 ; vgl. auch Thomas Adams, Artikel City and Town Planning, in: E. R . A. Seligman/A. Johnson (Hrsg.), Encyclopaedia of the Social Sciences, Bd. 3, New York 1930, S. 483. 8 7 Vgl. P. Voigt, Grundrente und Wohnungsfrage . . . , Τ. 1, S. 79, 92—93. 8 8 Vgl. Otto Jaeckel, Bauordnungen und Bebauungsdichte am Beispiel Berlin, in: Blätter für Grundstücks-, Bau- und Wohnungsrecht, Bd. 11 (1962), H. 8, S. 120. 8 8 Siehe Reinhard Baumeister, Stadterweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung, Berlin 1876, S. 76.

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Dieser Grundsatz beherrschte die Baugesetzgebung bis zu den Bauordnungen von 1887 und 1898 und bildet die Erklärung für den kleinen Bereich staatlicher Baulenkung, der eine eigentliche Städteplanung ausschloß. Noch in der, in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzenden Krise des Städtebaus versuchten bürgerliche Architekten wie Reinhard Baumeister an der Technischen Hochschule Karlsruhe, an diesem liberalen Prinzip festzuhalten und es mit der als notwendig erkannten Planung der baulichen Entwicklung theoretisch in Einklang zu bringen. Baumeister forderte im Sinne der Anpassungsplanung die Aufstellung von Bebauungsplänen „als allgemeine Schranken zwischen dem öffentlichen Interesse und der privaten Baulust", die bei freiwilliger Anerkennung durch den einzelnen „nach dem voraussichtlichen Bedürfnis der näheren Zukunft" 8 0 ausgerichtet sein sollten. Die für städtische und ländliche Siedlungen getrennt erlassenen Bauordnungen stimmten in ihren Grundsätzen überein und differierten nur geringfügig in ihren inhaltlichen Bestimmungen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die 1641 festgesetzte Bauordnung gültig. Ihre Hauptvorschriften betrafen Nachbarschaftsrechte, Grenzverhältnisse, Feuerschutz und hygienische Bestimmungen. Die Gebäudehöhe und -breite, die Geschoßzahl, die Grundstücksaufteilung und die Bebauung des Hinterlandes waren nicht vorgeschrieben. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein war es allgemein üblich, auf dem Hinterland nur Neben-, Wirtschafts- und Stallgebäude zu errichten. Erst in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wurde damit begonnen, auf den schmalen und tiefen Grundstücken, die oft 2 bis 5 m breit, aber 18 bis 25 m tief waren, Hinter- und Seitengebäude zu Wohnzwecken zu erstellen, wobei man allgemein schon einen Zwischenraum von 17 Fuß (— 5,34 m) zwischen den einzelnen Gebäuden verlangte. 91 Ergänzend traten besondere Feuerordnungen hinzu, und seit 1818 wurden „SpezialBau-Observanzen" erlassen, die Regelungen für Grundstücksgrenzen, Fenster-, Luft- und Lichtlöcheranlagen, Durchfahrts- und

A.a.O., S. 77. Siehe Heinz Ehrlich, Die Berliner Bauordnungen, ihre wichtigsten Bauvorschriften und deren Einfluß auf den Wohnhausbau der Stadt Berlin, T. H. Diss., Berlin 1932; gedruckt: Jena 1933, S. 14, 20; O. Jaeckel, Bauordnungen und Behauungsdichte ..., in: Blätter für Grundstücks-, Bau- und Wohnungsrecht, Bd. 11 (1962), H . 8, S. 119. 91

3 Thienel

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Durchgangsgerechtigkeiten, Mauer- und Zaununterhalt, Brunnen und Wasserstellen enthielten.92 Nach jahrzehntelangen Vorarbeiten wurde am 21.4.1853 unter Leitung der Ortspolizeibehörde und des Magistrats eine neue Baupolizeiordnung in Kraft gesetzt.93 Die Hauptbestimmungen sind für den liberalen Ordnungsstaat charakteristisch. Sie betrafen die Feuersicherheit und enthielten die Vorschrift, daß nur noch an öffentlichen, bereits angelegten Straßen und Plätzen Bauten errichtet werden durften. Über 31,40 m tiefe und mit Hintergebäuden versehene Grundstücke mußten zum Transport von Löschgeräten eine Durchfahrt von 2,51 m Breite und 2,83 m Höhe aufweisen. Daneben brachte die Bauordnung einige Beschränkungen der Baufreiheit wie die Mindesthofgröße. Die einzelnen Gebäude auf einem Grundstück mußten einen Minimalabstand der Fronten von 5,34 m und eine Mindesthoffläche von 28,52 m 2 aufweisen. In der Baupolizeiordnung für die Städte vom 15. 7. 1868 wurde der Mindestabstand auf 6,28 m erhöht. Auch die Gebäudehöhe wurde beschränkt, und zwar auf 11,30 m an Straßen unter einer solchen Breite, auf maximal l'A der Straßenbreite wurde sie an 11,30 bis 15,07 m breiten Straßen festgesetzt und an breiteren Straßen blieb sie unbegrenzt. Eine 1860 ergangene Nachtragsänderung zum Gesetz von 1853 legte grundsätzlich an über 11,30 m breiten Straßen die maximale Fronthöhe entsprechend der Straßenbreite fest. Eine lichte Höhe von 2,51 m wurde als ausreichend für eine gesundheitlich nicht nachteilige Versorgung von Aufenthaltsräumen mit Luft und Licht angeordnet. 94 Diese Bestimmung über die Art der Wohnräume ist die erste gesundheitliche Mindestanforderung in einer preußischen Bauordnung; sie dürfte auf das preußische Gesetz über die Polizeiverwaltung vom 11.3.1850 zurückzuführen sein, das die Sorge für Leben und Gesundheit der ortspolizeilichen Gewalt übertrug. 95 Die Wohnbebauung in den Bereichen außerhalb der Siedlungskerne der Städte und der ländlichen Ortschaften beschränkte das Preußische Ansiedlungsgesetz aus dem Jahre 1845. Es grenzte die in 92

Siehe H . Ehrlich, Die Berliner Bauordnungen . . S . 14, 24. Baupolizeiordnung vom 21. 4. 1853, abgedruckt in: Berliner Intelligenzblatt 1853, Nr. 110, Amtsblatt 19, Beilage A, in: Akten der Stadtverordnetenversammlung, Sekt. I, Fach 2, N r . 4., Bd. 2: Mi—1878, Bl. 21 ff. 94 Siehe H . Ehrlich, Die Berliner Bauordnungen . . . , S. 27. 95 Vgl. O. Jaeckel, Bauordnungen und Bebauungsdichte ..., in: Blätter für Grundstiicks-, Bau- und Wohnungsrecht, Bd. 11 (1962), H . 8, S. 120. 83

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den Edikten „betr. den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums von 1807" und „betr. die Förderung der Landeskultur aus dem Jahre 1811" ausgesprochene grundsätzliche Ansiedlungs- und Baufreiheit durch die Einführung der Genehmigungspflicht bei der Errichtung von Wohnhäusern ein. Die „Baupolizeiordnung für das platte Land des Regierungsbezirks Potsdam vom 15.3.1872" und „für die Städte desselben Regierungsbezirks vom 26. 3.1872" ββ ähnelten in ihrem Inhalt weitgehend der Bauordnung von 1853. Die feuerpolizeilichen Vorschriften bildeten den Hauptinhalt und die sanitätspolizeilichen Anforderungen waren dürftig; eine Begrenzung der Gebäudehöhe und der bebaubaren Grundstücksflächen fehlte praktisch. Die Gebäudehöhe war entsprechend der Straßenbreite festgesetzt. Abgesehen von der Möglichkeit eines landrätlichen Dispens', wurde in ländlichen Siedlungen offene, in Städten geschlossene Bauweise verlangt. Die Mindesthoffläche sollte in Städten 36 m2 betragen. Auf dem platten Land wurden als Minimalabstand zwischen zwei Gebäuden mit feuersicherem Dach 5 m, bei einseitiger beziehungsweise bei fehlender feuersicherer Bedachung sogar 10 beziehungsweise 20 m Abstand gefordert. 97 Der Errichtung von großen Mietshäusern waren so auch hier keine Hindernisse in den Weg gelegt. Nur in den Landhauskolonien garantierte die Eintragung im Grundbuch den ausschließlichen Villenbau. Den ersten größeren Einschnitt im preußischen Baurechtsgeschehen des 19. Jahrhunderts brachte das „Enteignungsgesetz vom 11. 6. 1874" und das „Gesetz betr. die Anlegung und Veränderung von Straßen und Plätzen in Städten und ländlichen Ortschaften vom 2.7. 1875", das sogenannte Fluchtliniengesetz mit seinen Ausführungsbestimmungen vom 28. 5. 1876.98 Die Expropriation konnte von nun an nicht mehr von Fall zu Fall durchgeführt werden, M Siehe Baupolizeiordnung für das platte Land des Regierungsbezirks Potsdam vom IS. 2. 1872, in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1872, Berlin o. J., Nr. 8002, S. 85—94; Baupolizeiordnung für die Städte des Regierungsbezirks Potsdam vom 26. 3. 1872, in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1872, Berlin o. J., Nr. 8025, S. 118—132. " Vgl. P. Voigt, Grundrente und Wohnungsfrage ..., Τ. 1, S. 125 f. ββ Gesetz über die Enteignung von Grundeigentum, vom 11. Juni 1874, in: GesetzSammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1874, Berlin o. J., Nr. 8207, S. 221—237; Gesetz betr. die Anlegung und Veränderung von Straßen und Plätzen in Städten und ländlichen Ortschaften, vom 2. Juni 187S, in: Gesetz-Sammlung

3*

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sondern die Höhe der Entschädigungen wurde von der Gemeinde als verbindlich festgesetzt. Das Redit der Festlegung von Straßenund Baufluchtlinien wurde ebenfalls der Gemeinde als Selbstverwaltungsaufgabe übertragen. Den Verlauf der Fluchtlinien für einzelne Straßen und größere Grundflächen legte der Bebauungsplan generell fest, der inhaltlich jedoch einem Fluchtlinienplan statt einem Bebauungsplan im heutigen Sinn entsprach. Jede Gemeinde war verpflichtet, einen Bebauungsplan aufzustellen. So konnte die Erweiterung jedes Ortes von nun an in den von der Gemeindeverwaltung angestrebten Bahnen verlaufen. Am Beispiel der Gemeinde Rixdorf soll der reale Vorgang erläutert werden. 89 Der Gemeindevorstand übergab den Auftrag zur Aufstellung eines Bebauungsplans für die Gemeinde Rixdorf dem Regierungs- und Baurat Keil im Jahre 1875. Anfang 1876 wurde der ausgearbeitete Plan der Gemeindevertretung vorgelegt und von ihr gebilligt. Danach lag er vier Wochen der Öffentlichkeit zur Einsicht aus; in dieser Zeit konnten von einzelnen Grundbesitzern Einsprüche erhoben und dem Gemeindevorstand schriftlich unterbreitet werden. Dieser entschied über die Annahme oder die Ablehnung der Eingaben. Das Gemeinde-Interesse stand eindeutig im Vordergrund, und nur bei wenigen Anträgen gab man einem sehr berechtigten Privatinteresse statt. Im Oktober 1876 wurde der abgeänderte Plan als bindende und verpflichtende Bebauungsrichtlinie festgesetzt. Das Gesuch um den Baukonsens war an den Amtsvorstand zu richten, wobei ein Situationsplan und eine Bauzeichnung im Grund- und Aufriß in doppelter Ausfertigung einzureichen waren. Den Konsens erteilte der Amtsvorstand, nachdem er geprüft hatte, ob der projektierte Bau weder gegen den Bebauungsplan noch gegen die Bauordnung verstieß, und nachdem er das Votum des Kreisbauinspektors gehört hatte. Die ortspolizeiliche Bauaufsichtsbehörde nahm die Rohbauund Gebraudisabnahme vor, wobei wiederum geprüft wurde, ob der Bau entsprechend den eingereichten Entwürfen durchgeführt worden war und ob er die baupolizeilichen Vorschriften und die beste-

für die Königlichen Preußischen Staaten, 1875, Berlin o. J., Nr. 40 (8375), S. 561— 566. m Vgl. hierzu die folgenden Quellen zu entnehmenden Hinweise: Bebauungsplan Rixdorf, 2ur Einsicht der Öffentlichkeit und Zeit zu Widersprüchen und Eingaben, 21. Sept.—21. Okt. 1876, Archiv Neukölln 32 M/4, 2; Acta der Kgl. Polizei-Direktion zu Rixdorf betr. das Grundstück ..., Bauaufsichtsamt des Bezirks Neukölln.

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henden Baufluchtlinien berücksichtigte; außerdem mußten ausreichende Abwässeranlagen vorhanden sein. Die Gemeindebehörden wurden durch das Ortsstatut ermächtigt, die Anlieger in bestimmtem Umfang zum Bau der Straßen oder zu einem entsprechenden Anliegerbeitrag zu verpflichten. Diese beiden Gesetze bedeuteten den ersten Bruch mit den liberalen Anschauungen der vorhergehenden Jahrzehnte, und zwar aufgrund der erweiterten Planungskompetenz der Gemeinden, wodurch die private Baufreiheit jedoch nur den formalen Richtlinien der kommunalen Planung untergeordnet wurde. Die Erarbeitung der Bebauungspläne und die Aufsicht über ihre Durchführung waren bisher, wie der Erlaß und die Kontrolle der Bauordnungen, die Aufgabe der Polizeibehörden. Die Lenkung des Baugeschehens durch die jeweilige Gemeinde selbst führte zu einer größeren Selbständigkeit der Kommunalbehörden. Die Fluchtlinienfestsetzung war Aufgabe des Gemeindegesetzgebungsrechts geworden. Damit leiteten diese Gesetze den kommunalen Städtebau und die gemeindliche Planung der räumlichen Entwicklung in Preußen ein und führten die Aufspaltung des Baurechtskomplexes in einen baupolizeilichstaatlichen und einen städtebaulich-kommunalen Bereich herbei.100 Der Zeitpunkt des Erlasses beider Gesetze ist nicht als zufällig anzusehen und sicher nicht aus der bau- und siedlungsgeschichtlichen Entwicklung allein abzuleiten; denn der evidente Bruch mit dem liberalen Grundsatz der Baufreiheit erfolgte ein beziehungsweise zwei Jahre nach dem Einbruch der großen Depression im Jahre 1873, die „der Anfang vom Ende des liberalen Zeitalters' und der Hegemonie der individualistischen Wirtschafts- und Sozialphilosophie" war. 101 Der Umschwung im wirtschaftlichen Denken und die Wende zur staatlichen Intervention in der Lenkung und Planung der Wirtschaft erstreckten sich in steigendem Maße auch auf die bauliche Entwicklung der Städte und Dörfer. Die seit 1887 in kurzen Abständen 100

Dies hebt besonders hervor Rudolf Hartog, Stadtplanung und Stadterweiterung im 19. Jahrhundert, in: Raumordnung im 19. Jahrhundert, T. 1 ( = Forsdiungsund Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Bd. 39), Hannover 1965, S. 49. ιοί Vgl. Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Bd. 24), Berlin 1967, S. 62.

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einander ablösenden Bauordnungen engten die private Baufreiheit in gleichem Maße ein, wie sie die kommunalen und staatlichen Kompetenzen weiter verstärkten. Theoretische Grundlagen einer inhaltlichen Planung und konkrete Vorschläge für eine Gliederung der Stadt in funktionale Bereiche, wie sie der in der städtebaulichen Fachdiskussion führende Reinhard Baumeister formulierte, fanden allerdings noch keinen Eingang in die staatliche Baurechtsgesetzgebung.102 Ebensowenig wurde die zeitgenössische Forderung nadi einem Stadtplanungsamt realisiert, das „als freie Commission von Beamten der Reichs- und Communalbehörden", demnach also als Gremium ,,unabhängige[r], mit diesen Fragen vertraute[r] Personen", die anstehenden Probleme diskutieren sollte.103 Die 1897 eingeführte Zonenbaugliederung kann höchstens als Vorläufer solcher Bestrebungen bezeichnet werden. In seinem 1876 erschienenen Werk forderte Baumeister die Gliederung „einer großen Zukunftsstadt" in „drei räumliche Abteilungen". 104 Diese stellen die in der heutigen Stadtplanung als Haupttypen bezeichneten funktionalen Teilräume der Stadt, den Industrie-, den City- oder Geschäfts- und den Wohnbezirk dar. Industrie- und Großhandelsviertel sollten neben Fabriken und Speichern auch Wohnungen der dort beschäftigten Arbeiter, Angestellten und „Fabrikherren" aufnehmen und vorzugsweise die großen Fernverkehrslinien umschließen. Die Geschäftsstadt — Kleinhandels- und Kleingewerbeviertel sowie die dazugehörenden Wohnungen — sollte im Zentrum liegen. Als Wohngebiete für Berufslose oder außerhalb ihrer Wohnung Erwerbstätige, wie Rentiers, Beamte, audi Arbeiter, Gehilfen, Kaufleute und Fabrikanten, waren die Randbezirke gedacht. Sie wurden in „zerstreute Gruppen und Kolonieen von mannichfaltigem Charakter" unterteilt, so in „reiche Villenbezirke",

102

R. Baumeister, Stadterweiterungen..., passim; ders., Moderne Stadterweiterungen, Hamburg 1887, passim. Die 1887 veröffentlichte Denkschrift des österreichischen Ingenieur- und Architektenvereins legte Gesichtspunkte für eine funktionelle Differenzierung in die räumlichen Einheiten Geschäftsviertel, Arbeitsort und Wohnviertel vor; siehe Hans Bobek / Elisabeth Lichtenberger, Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ( = Schriften der Kommission für Raumforschung der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1), Graz Köln 1966, S. 45 f. 103 Siehe A. Orth, Zur baulichen Reorganisation S. 20, 38. 104 R. Baumeister, Stadterweiterungen . . S . 83.

der Stadt

Berlin,

Berlin 1875,

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„mittlere Wohnbezirke" und „Arbeiterwohnbezirke", mit den jeweils erforderlichen Verkehrsverbindungen zu den entsprechenden Arbeitsplätzen. Diese Gruppierung sollte weder „dem Zufall überlassen . . . noch zwangsweise herbeigeführt werden". 105 Der Gegensatz zwischen öffentlichem beziehungsweise „allgemeinem Interesse" und dem Redit der freien Wahl des Bauplatzes, der Bauart und der Nutzung der Gebäude sollte durch Einsicht und Vernunft der Baulustigen, durch Anerkennung der Zweckmäßigkeit von projektierten abgesonderten Bezirken und der freiwilligen Ansiedlung in demjenigen Bezirk, der den jeweiligen Bedürfnissen entsprach, und durch entsprechende baurechtliche Verordnungen überwunden werden.106 Während er die bestehenden Vorschriften für den Bau von Wohnungen und Geschäften als ausreichend erachtete, verlangte Baumeister für Industriebauten weitgehendere Bestimmungen, „um ihre gesundheitsschädlichen Einflüsse gleicherweise von den äußeren Wohnbezirken fern zu halten und aus der inneren Geschäftsstadt allmählich zu vertreiben, also in den ihr gewidmeten Bezirken zu concentrieren". 107 Als einzige der von freien Architekten vorgeschlagenen Maßnahmen der Stadtplanung wurde die Absonderung von Industriebezirken von den in der Regierung an verantwortlicher Stelle tätigen Beamten übernommen und planungs- und baurechtlich in der Baupolizeiordnung von 1903 eingeführt. In einigen Berliner Vorortgemeinden, zum Beispiel in Rixdorf, wurde von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. In der die Ordnung von 1853 ablösenden Baupolizeiordnung für Berlin vom 15.1.1887 — ab 24.6. 1887 auch für die Vororte im Kreise Teltow gültig — wurde die Bebauungsdichte der Grundstücke noch weiter als bisher eingeschränkt.108 Als Mindesthoffläche wurden 60 m 2 bei einem Mindest-

106

A.a.O., S. 82. » A.a.O., S. 84. 107 Ebda. 108 Siehe Baupolizei-Ordnung für den Stadtkreis Berlin vom 15. Januar 1887, in: Amtsblatt der Kgl. Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin, Jg. 1887, Potsdam 1887, 16 R. Pr., S. 37—42; Baupolizei-Ordnung für die Vororte von Berlin vom 24. Juni 1887, in: Amtsblatt der Kgl. Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin, Jg. 1887, Potsdam 1887, 104 R. Pr., Extrablatt vom 25. Juni 1887. Ihr Gültigkeitsbereich erstreckte sich auf die Gemeinden Charlottenburg, Treptow, Rixdorf, Britz, Tempelhof, Schöneberg, Wilmersdorf, Friedenau, Schmargendorf, Steglitz, GroßLiditerfelde, Stralau und Lichtenberg. Siehe P. Voigt, Grundrente und Wohnungsfrage ..., T. 1, S. 127. 10

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Einführung

abstand von 6 m gefordert. Hintergebäude und Seitenflügel durften in der Höhe den Gebäudeabstand nur um 6 m überschreiten. Die Höhe der Straßengebäude wurde bei einer generellen Minimalhöhe von 12 m und einer Maximalhöhe von 22 m auf die Straßenbreite beschränkt. Die Verwendung von Kellern zu Wohnzwecken wurde im Gegensatz zu der bisherigen Verfügung, nach der die Decke von Kellerwohnungen mindestens 0,94 m über dem Gelände zu ziehen war, eingeschränkt, wobei die Einsenkung des untersten Geschosses 0,50 m und bei der Anlage eines 1 m breiten Lichtgrabens 1 m zu betragen hatte. Bei der Bebauung der Grundstücke sollten als Höchstmaß Zweidrittel der Grundfläche bei bisher unbebauten und Dreiviertel bei bebauten und wieder zu bebauenden Grundstücken zugelassen sein, womit nodi eine Geschoßflächenzahl von 3,33 und 3,75 zu erzielen war.109 Die Erfahrung mit einer ungenügenden Reduzierung der bebaubaren Grundstücksfläche, besonders hinsichtlich der gesundheitlichen Verhältnisse für die Bewohner bei unzulänglicher Sonnen-, Lichtund Luftzufuhr in den Wohnungen, ließ den Gedanken der Abstufung der baulichen Nutzung aufkommen. Er wurde in der nur für den Stadtkreis Berlin gültigen Baupolizeiordnung vom 15.8. 1897 realisiert.110 Zur Ermittlung der bebaubaren Fläche wurden die Grundstücke parallel zur Baufluchtlinie in Streifen geteilt. Die zur Straßenfront gelegenen ersten 6 m konnten voll bebaut werden, der zweite Streifen bis zu einer Tiefe von 32 m zu 7/io, die dahinter gelegene Restfläche zu 6/io oder 5/io außerhalb der Stadtmauer. Neu war ebenfalls die Zulassung von Hofgemeinschaften: Bei der Berechnung der Höhe der Hintergebäude auf Höfen, die mindestens 6 m Abstand zwischen Vorder- und Hinterhaus aufzuweisen hatten, wurde außer dem eigenen Hof die halbe Fläche des Nachbarhofes in Rechnung gestellt. Voraussetzung dafür war die grundbuchliche Eintragung und die Verpflichtung der Eigentümer, die Hoffläche zuungunsten der Mitbeteiligten nicht zu verändern. 111 Der Vorteil, 109

Siehe O . Jaeckel, Bauordnungen und Bebauungsdichte..., i n : Blätter für Grundstücks-, Bau- und Wohnungsrecht, Bd. 11 (1962), H . 8, S. 120. Die Geschoßflächenzahl resultiert aus der Flädienangabe sämtlicher Geschosse, dividiert durch die Grundstücksfläche. 110 Siehe Baupolizeiordnung für den Stadtkreis Berlin vom Ii. August 1897, erlassen v o m Polizeipräsidenten zu Berlin, i n : Amtsblatt der Kgl. Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin, Jg. 1897, Potsdam 1897, N r . 54, R. Pr., S. 335—348. 111 Siehe O . Jaeckel, Die Bauordnungen für Berlin und für die ehemaligen Vororte

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Voraussetzungen

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den diese Maßnahme bot, bestand in einer besseren Belichtung der Wohnungen in den Seitenflügeln und Hintergebäuden. In dem an die Stadt angrenzenden Vorortgebiet außerhalb der Ringbahn galt die unter Mitwirkung des Architektenvereins erarbeitete Baupolizeiordnung vom 5. 12. 1892 in ihren durch die Polizeiverordnungen vom 31.5.1894 und vom 24.8.1897 abgeänderten Fassungen.112 Um dieses Gebiet der Bebauung in größerem Umfang zu erschließen, wurde nach dem Vorbild der Stadt Frankfurt am Main die Zonenbauordnung eingeführt. 113 Deren große Bedeutung für die Entwicklung der Baugesetzgebung ist in der Realisierung der von Huber theoretisch entwickelten und erstmals angewandten Bestimmungen über die Gebäudefunktionen zu sehen, die die ersten Anfänge einer planmäßigen funktionalen Gliederung von Siedlungen bildeten und sie zum Vorläufer des „Flächennutzungsplans späterer Zeit" machten.114 Das Umfassungsgebiet war in zwei Klassen unterteilt. Die Klasse I bildeten alle an die Kanalisation angeschlossenen, Klasse II alle übrigen Straßen. In der Klasse I war die Bebauung von 5/io, bei Eckgrundstücken von 6/io der Grundfläche mit bis zu viergeschossigen Häusern zulässig; in der Klasse II durften 4 /io, bei Eckgrundstücken 5/io der Bodenfläche mit bis zu drei Geschossen hohen Gebäuden bebaut werden. Kellerwohnungen waren überall untersagt und Dachwohnungen nur bei einem Bauwich, das heißt einem Gebäudeabstand von 5 m zugelassen. In beiden Bauklassen wurden umfangreiche Gebiete ausgespart, die mit Landhäusern bebaut werden sollten. Neben Bildungs-, Erholungs- und Vervon Berlin, in: Berlin und seine Bauten, hrsg. vom Architekten- und IngenieurVerein zu Berlin, Berlin - München 1964, S. 11. 112 Siehe Baupolizeiordnung für die Vororte von Berlin vom 5. Dezember 1892, in der durch die Polizeiverordnung vom 31. Mai 1894 und 24. August 1897 abgeänderten bzw. festgestellten Fassung erlassen vom Regierungspräsidenten zu Potsdam, in: Amtsblatt der Kgl. Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin, Jg. 1892, Potsdam 1892, R. Pr., Extrablatt vom 10. Dezember 1892, S. 527—542; a.a.O., Jg. 1894, Potsdam 1894, R. Pr., S. 229—232; a.a.O., Jg. 1897, Potsdam 1897, Nr. 190, R. Pr., S. 350—351. 113 1891 war in Frankfurt am Main unter dem Oberbürgermeister Adidies die erste Zonenbauordnung in Deutschland eingeführt worden. Vgl. Karl Haubner, Der Einfluß der Baugesetzgebung auf das Werden des Stadtbildes von Göttingen im 19. Jahrhundert, in: Raumforschung im 19. Jahrhundert, T. 1 ( = Forschungs- und Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Bd. 30), Hannover 1965, S. 61, 62. 114

Siehe a.a.O., S. 64.

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Einfährung

gnügungsstätten sollten sie reine Wohnbauten und nur zum Teil kleine Werkstätten und Geschäfte aufnehmen. Die einzelnen Häuser mußten an drei Seiten freistehen und durften bei zusätzlicher Nutzung der Hälfte des Dachgeschosses und 3U des Kellers zum dauernden Aufenthalt von Menschen nur zwei Geschosse tragen. Die Grundstücksfläche konnte zu 3/io und bei Edihäusern zu 4/io bebaut werden, so daß Geschoßflächenzahlen von nur 0,6 bis 0,9 erzielt wurden. Die folgende Bauordnung von 1903 brachte Änderungen in der Abgrenzung der einzelnen Bauklassen, weil infolge der rapiden baulichen Entwicklung und des Wachstums der Stadt Berlin und der einzelnen Vorortgemeinden große Gebiete mit einer bis dahin landhausmäßigen Bauweise der geschlossenen Bebauung überlassen werden mußten.116 Einen weiteren Schritt im Zuge der beginnenden Raumplanung und der Gestaltung der Entwicklung von Städten und Dörfern stellte das Verbot der Niederlassung von Anlagen, die Ruß, Rauch, schädliche Ausdünstungen, üblen Geruch oder laute Geräusche erzeugen, in bestimmten Gegenden dar. Damit wurde es erstmals möglich, die Nutzung bestimmter Gebiete festzulegen und bestimmte Einrichtungen, denn hauptsächlich wurden mittlere bis größere gewerbliche Betriebe von dieser Maßnahme betroffen, innerhalb einer Gemeinde zu lokalisieren. Daß diese Möglichkeit von einzelnen Gemeinden wahrgenommen wurde, zeigt das Beispiel Rixdorf. In einem bestimmten Teil der Gemeinde wurde die Errichtung von Fabrikanlagen untersagt, dafür wurde in der Umgebung des Stichkanals, einer Abzweigung vom Teltowkanal, ein Bereich für den Bau von industriellen Anlagen vorgesehen und so ein kleines Industriegebiet geschaffen.116 Auf diese Weise wurden durch gemeindliche Initiative bestimmte Flächen für Standorte mit besonderen Funktionen bereitgestellt. Die bis 1920 folgenden Bauordnungen brachten keine bedeutenden Änderungen oder neue Bestimmungen.

115 Siehe Baupolizeiordnung für die Vororte von Berlin vom 21. April 1903, erlassen vom Regierungspräsidenten zu Potsdam, in: Amtsblatt der Κ gl. Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin, Jg. 1903, Potsdam 1903, Sonderbeilage zum 18. Stück des Amtsblatts. 118 Da sidi nach längerer planerisdier Vorbereitung die Niederlassung von Industriebetrieben erst ab 1910 realisierte, wurde in der vorliegenden Untersuchung, die in dieser Zeit absdiließt, darauf nicht näher eingegangen.

Historisch-rechtliche

Voraussetzungen

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Die Bebauungspläne stellten zeichnerische Lösungen der mit der räumlichen und baulichen Erweiterung verbundenen Probleme dar.117 In ihnen verwirklichte sich ein großer Teil der gesetzlichen Regelungen in konkreten Richtlinien für die Erschließung bisher unbebauten Geländes. Bis zur Einführung der Zonenbauordnung waren sie als Fluchtlinienpläne auf die Projektierung der Straßen und Plätze und der Baublöcke beschränkt. Die einzelnen Teilbebauungspläne von Berlin, die jeweils nadi Beendigung des Ablösungsverfahrens für das betreffende Gebiet aufgestellt wurden, um die noch unbebauten Flächen einer Bebauung größeren Ausmaßes zugänglich zu machen, weisen diese Projektierung ebenso auf wie der unter der Leitung von James Hobrecht 1859 bis 1862 entstandene Generalbebauungsplan für Berlin und die Umgebung.118 Dieser Plan — Vorbild war der Entwurf von Hausmann für Paris — zeichnete sich durch sternförmige Plätze, große Straßenadisen und breite Diagonalstraßen aus, die zu sehr tiefen Baublöcken führten. 119 Daß die viel kritisierte Folge dieses Bebauungsplanes mit seinen oft 75 m tiefen Baublöcken der Mietskasernenbau mit mehrfachen Hintergebäuden war, kann nicht der aktiven Planung der damaligen Städtebauer angelastet werden. Sie hatten in den großen Innenhöfen der Baublöcke Gärten und Anlagen vorgesehen. Die tatsächliche Entwicklung hatte andere Ursachen, die nicht in diesem Plan zu suchen sind. Der Staat und die Gemeinden schufen durch den Erlaß von Bauordnungen und Fluchtliniengesetzen sowie durch die Aufstellung von Bebauungsplänen nur die zwar der jeweiligen Konzeption staatlicher Gesellsdiaftspolitik angepaßten formalen Bedingungen

117

Siehe K. Haubner, Der Einfluß der Baugesetzgebung ..., in: Raumforschung im 19. Jahrhundert..., T. 1, S. 66. 118 1825 erhielt das noch unbebaute Gebiet hinter dem Landsberger Tor und das Gartengelände der Friedrich-Wilhelmstadt einen Bebauungsplan; 1827 erschien der Lampe'sdie Plan für das Gebiet im Norden Berlins vom Landsberger bis zum Rosenthaler Tor und für den Wedding; 1833/35 wurde der nicht realisierte Bebauungsplan für den Berliner Südosten angefertigt, der in der Sektion IV das Köpenicker Feld und die gesamte Flur des benachbarten Rixdorf einbezog; 1840 bis 1843 wurde der zweite Bebauungsplan für die Luisenstadt erarbeitet; 1846 wurde der Plan für das Köpenicker Feld innerhalb der Stadt veröffentlicht; 1858 bis 1862 wurde der erste einheitliche „Bebauungsplan von den Umgebungen Berlins aus dem Jahre 1862" aufgestellt. " · Vgl. R. Hartog, Stadtplanung ..., in: Raumordnung im 19. Jahrhundert.. T. 1, S. 46 f.

44

Einführung

für die Bebauung der Grundstücke und die Gestaltung der Siedlungen. Angesidits der so ungeheuer sdinell sich vollziehenden räumlichen Entwicklung der einzelnen Gemeinden im Raum Berlin und ihres Zusammenwachsens zu einer Stadtregion erwies sich die Raumpolitik der liberalen preußischen Bürokratie als völlig unzulänglich, denn das ungelenkte und unkoordinierte Wachstum bestimmte die Gestalt der Stadt. Die von den Architekten entwickelten raumpolitischen Vorstellungen fanden ihren Niederschlag in der Baugesetzgebung zu spät, als entscheidende Phasen der räumlichen Expansion sich bereits vollzogen hatten. Daher kam es zu Fehlentwicklungen, die Zeugnis vom Versagen beim Erkennen der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse und des von der Industrialisierung bestimmten Lebens geben.

ERSTER TEIL

Industrielle Teilgebiete Berlins: Nördliche und südliche Vorstädte

ERSTES

KAPITEL

Der Wandel der ökonomischen Struktur und die Entstehung gewerblicher und industrieller Standorte Eines der entscheidenden Charakteristika der im 19. Jahrhundert entstehenden industriellen Großstadt wurde die aufgrund spezifischer Standortvorteile und Standortbedürfnisse sidi in ihr vollziehende Konzentration bestimmter Industrie- und Gewerbezweige. Diese waren stets lokalwirtschaftlich und häufig darüber hinaus audi gesamtwirtschaftlich in dieser Periode von großer Bedeutung und hatten zudem oft einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Stadt zur industriellen Agglomeration. 1 Parallel zu dieser in verschiedenen Großstädten sich vollziehenden Zentralisierung bestimmter Industrie- und Gewerbezweige verlief eine räumliche Neuordnung der wirtschaftlichen Einrichtungen und die „Ausbildung einer andersartigen lokalen Gruppierung der Stadtbevölkerung", 2 wie sie schon von Zeitgenossen, etwa Alfred Weber, beobachtet wurden. Ebenso erkannte Gustav Schmoller angesichts der frühindustriellen großstädtischen Entwicklung die eminenten räumlich-strukturellen Veränderungen, die von den großen Betrieben ausgingen, und zwar haben sie sich „in dem Maße, als die Unternehmungen größer, technisch vollkommener, geschäftlich besser eingerichtet und geleitet werden . . . zu lokal in sich abgeschlossenen, von den menschlichen Wohnungen meist ganz getrennten Anstalten ausgebildet". 3 Hier wird schon die Rolle erkannt, welche die in der

1 Vgl. R. Mackensen / J . Ch. Papalekas u. a. (Bearb.), Daseinsformen der Großstadt ..., S. 4. * Alfred Weber, Die Entwicklungsgrundlagen der großstädtischen Frauenhausindustrie, in: Hausindustrie und Heimarbeit in Deutsdiland und ôsterreià, Bd. 2: Die Hausindustrie in Berlin ( = Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 85), Leipzig 1899, S. X X I ; vgl. auch Gustav Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Statistische und nationalökonomische Untersudjungen, Halle 1870, S. 277.

* Siehe Gustav Schmoller, Über Wesen und Verfassung der großen

Unternehmen,

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I. Industrielle

Teilgebiete

Berlins

frühen Industrialisierung sich entwickelnde Betriebsform für die Funktionsgliederung des städtischen, aber audi des ländlichen Raumes in Arbeits- und Wohnorte spielte. Die Stadt Berlin entwickelte sich nicht erst im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Gewerbestandort. Obwohl das Gewerbe in den brandenburgischen Städten seinen historischen Standort hatte, kam es erst durch die merkantilistische Wirtschaftspolitik zu einer Schwerpunktbildung eines Gewerbezweiges in den Städten, nämlich des Textilgewerbes, zu dessen Zentrum Berlin wurde. So war Berlin bereits im 18. Jahrhundert ein „Manufakturzentrum der Kurmark" und wurde als „im eigentlichen Sinn ein Fabrikort" bezeichnet.4 Im Laufe des 19. Jahrhunderts nahm die Bedeutung der Textilbranche ab, nur wenige Spezialzweige blieben in der Stadt, und an ihre Stelle trat das Bekleidungsgewerbe. Daneben wurde die Ausweitung des eigentlich industriellen Sektors in entscheidendem Maße von dem in der Industrialisierung entstandenen und diese vorantreibenden Maschinenbau einschließlich der Metallverarbeitung getragen. Das quantitative Wachstum des Dienstleistungssektors, obwohl es in den Großstädten im 20. Jahrhundert das des sekundären Sektors allmählich übersteigt,5 blieb vor 1871/1873 merklich zurück. Gegenüber Gesamtdeutschland traten im Berliner Raum geringe Verschiebungen in der gewerblich-industriellen Schwerpunktbildung zugunsten besonders facharbeitsintensiver und absatzorientierter Zweige ein; denn für ganz Deutschland werden der Bergbau, die Eisen- und Stahlindustrie neben dem Maschinenbau und der Textilindustrie als die das beschleunigte wirtschaftliche Wachstum bewirkenden Industriezweige bezeichnet.6

in: Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart. Reden und Aufsätze, Leipzig 1890, S. 385. 4 Lothar Baar, Probleme der industriellen Revolution in großstädtischen Industriezentren. Das Berliner Beispiel, in: W. Fischer (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme ..., S. 529; vgl. O t t o Wiedfeldt, Statistische Studien zur Entwicklungsgeschichte der Berliner Industrie von 1720—1890 ( = Staats- und sociahvissenschaftliche Forschungen, hrsg. von Gustav Sdimoller, Bd. 16, H . 2), Leipzig 1898, S. 68; F. W. A. Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung ..., S. 682. 5 Vgl. G u n t h e r Ipsen / W . Christaller / W. Köllmann / R. Mackensen, Standort und Wohnort, ökologische Studien, Köln - O p l a d e n 1957, S. 18 f. β Siehe Walther G. H o f f m a n n , The Take-Off in Germany, in: W a l t W. Rostow (Hrsg.), The Economics of Take-Off into Sustained Growth. Proceedings of a Con-

ökonomischer

Strukturwandel

und Entstehung

von

Standorten

49

Unter diesen Zweigen, die sich den Rang strategischer Industrien innerhalb des sekundären Wirtschaftssektors eroberten, erreichte die Konzentration einiger Branchen neben dem Bekleidungsgewerbe in Berlin quantitativ so hohe Ausmaße, daß die Frage der Standortbedingungen oder der Agglomerationsvorteile, die die preußische Hauptstadt für die Niederlassung dieser Zweige zu bieten hatte, zentrale Bedeutung für die Erkenntnis der industriellen Entwicklung Berlins gewinnt. 7 Ein Standortfaktor soll im Anschluß an Alfred Weber als ein „Vorteil" angesehen werden, „der für eine wirtschaftliche Tätigkeit dann eintritt, wenn sie sich an einem bestimmten Ort, oder auch generell an Plätzen bestimmter Art vollzieht", die „eine Möglichkeit, dort ein bestimmtes Produkt mit weniger Kostenaufwand als an anderen Plätzen herzustellen", bieten. 8 Uber natürliche Standortvorteile, wie Rohstoffbasen oder Energiequellen, verfügte Berlin nicht, abgesehen vom Spreewasser für den Produktionsprozeß in der Textilindustrie. Bei der Betrachtung der Lage Berlins im östlichen Preußen fällt seine leichte Zugänglichkeit in offener Landschaft und seine zentrale Lage in dem von Havel und Spree gebildeten natürlichen und im künstlichen Wasserstraßennetz auf. Dieses wurde unter staatlicher Leitung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein ständig ausgebaut und stellte so eines der leistungsfähigsten Binnenwasserstraßensysteme in Deutschland dar. 9 Vor allem der innerstädtische Ausbau der Wasserstraßen war mustergültig. In den Jahren 1845

ference Held by the International Economic Association, London 1964, S. 111; vgl. audi W. Fischer, ökonomische und soziologische Aspekte ..., in: W. Fischer (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme .. ., S. 10. 7 Bei der Diskussion des Standortproblems kann es in einer historischen Betrachtung, die nicht besonders diesem Thema gewidmet ist, nicht um die Verifizierung mehr oder weniger umfassender Modelle und Theorien der Standort- oder der Landsdiaftsstruktur gehen. Es soll auch nicht versucht werden, eine Systematik der Standortfaktoren aufzustellen; einige wenige Literaturhinweise mögen an dieser Stelle genügen: Alfred Weber, Reine Theorie des Standorts, Tübingen 1922; Walter Isard, Location and Space-Economy. A General Theory Relating of Industrial Location, Market Areas, Land Use, Trade and Urban Structure, Cambridge 1956; Edvin von Böventer, Theorie des räumlichen Gleichgewichts ( = Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung), Tübingen 1962; E. Neef, Das Standortproblem, Forschungen und Fortschritte, 24. Jg. (1948), H . 19/20. 8

Siehe A. Weber, Reine Theorie ...,

in:

S. 16.

• Vgl. die Karte Ausbau der Wasserstraßen, in: Historischer Handatlas von Brandenburg und Berlin, Lfg. 3 ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommis4 Thienel

50

/. Industrielle

Teilgebiete

Berlins

bis 1850 wurde der Landwehrgraben zum schiffbaren Kanal erweitert, von 1848 bis 1852 wurde der Luisenstädtische Kanal angelegt und 1853 der Schöneberger Hafen in Betrieb genommen. Dadurch wurden die Versorgung der Stadt mit Massengütern, aber auch der Absatz erleichtert und die südlichen Teile Berlins verkehrsmäßig besser erschlossen. Als man im Jahre 1848 mit dem Bau des 1859 fertiggestellten Spandauer Sdiiffahrtskanals und der Anlage des Humboldthafens begann, dessen Zwecke vornehmlich die Entlastung der Unterspree und die Abkürzung des Weges zur Havel waren, erhielt auch das nördliche Berlin eine ausgezeichnete Wasserstraßenverbindung und einen weiteren Anschluß an die übrigen Binnenwasserstraßen.10 Die günstigen Verkehrsvoraussetzungen wurden durch den Eisenbahnbau entscheidend verbessert. Zweifellos nahm die Funktion Berlins als Verkehrs- und Handelszentrale Preußens und später des Deutschen Reiches an Bedeutung erheblich zu. Zuweilen werden die Eisenbahnen sogar als die wichtigste Voraussetzung dafür angesehen, „daß der Prozeß der industriellen Revolution auch in Berlin in Gang kam" und „die Entwicklung Berlins zu einer Industriestadt endgültig entschieden wurde". 11 Seit dem Beginn des Eisenbahnbaus wurde Berlin zum Mittelpunkt im entstehenden preußischen und deutschen Eisenbahnnetz; die wichtigsten Linien nahmen hier ihren Ausgang oder durchquerten die Stadt. Die Bahnen erleichterten sowohl die Zufuhr von Rohstoffen wie den Absatz der Fertigprodukte. 12 Im Jahre 1838 wurde die erste Linie nach Potsdam eröffnet; ihr folgten in kürzester Zeit weitere. Die Verlängerung der Potsdamer Strecke bis Magdeburg wurde im

sion zu Berlin beim Friedridi-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin), Berlin 1964; Lothar Baar, Die Berliner Industrie in der industriellen Revolution ( = Veröffentlichungen des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Ökonomie, Berlin - Karlshorst, Bd. 4), Berlin 1966, S. 17 ff. 10 Vgl. Otto Fischer, Der Einfluß der Berliner Wasserstraßen auf die Ansiedlung der Industrie, Diss. T. H., Berlin 1927, S. 13—25; Die Karte Ausbau der Wasserstraßen, in: Historischer Handatlas ..Lfg. 3. 11 Siehe L. Baar, Die Berliner Industrie ...; vgl. audi Hans Rothfels, Von der brandenburgischen über die preußische zur deutschen Hauptstadt, in: Berlin in Vergangenheit und Gegenwart ( = Tübinger Studien zur Geschichte und Politik), Tübingen 1961, S. 3. 12 Vgl. P. Clauswitz, Die Städteordnung ..., S. 256; Eberhard Schmieder, Wirtschaftsgeschichte Berlins im 19.120. Jahrhundert, in: Heimatchronik Berlin ( = Heimatchroniken der Städte und Kreise des Bundesgebietes, Bd. 25), Köln 1962, S. 669.

ökonomischer

Strukturwandel

und Entstehung von

Standorten

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Jahre 1846 fertiggestellt; 1841 konnte die Anhaltische Bahn dem Verkehr übergeben werden; 1842 wurde die Strecke nach Frankfurt/Oder in Betrieb genommen; diese wurde 1846 bis Breslau weitergeführt; 1843 wurde die Linie nach Stettin erstmals befahren; 1846 wurde die Hamburger Linie eröffnet. 13 Der systematische Ausbau der Anschlüsse an weiterführende Linien erfolgte fortlaufend. Auf diese Weise erhielt Berlin ausgezeichnete Verbindungen zu den rheinischen und sächsischen Industriegebieten und konnte seine industrielle Schwerpunktbildung im agrarbetonten östlichen Preußen intensivieren. Außerdem hat der große Bedarf an Eisenbahnmaterialien verschiedener Art, wie Lokomotiven, Wagen, Schienen etc., die Maschinen- und Metallindustrie entscheidend belebt und deren Produktion gefördert. Die Neugründung vieler Betriebe und ihre Spezialisierung auf diese Güter liefern einen klaren Beweis dafür. Die starke Bevölkerungsverdiditung bot einen weiteren Standortvorteil. Sie vergrößerte den lokalen Absatzmarkt und stellte vor allem ein Arbeitskräftereservoir dar, das sich zum großen Teil aus billigen und ungelernten Arbeitskräften zusammensetzte, aber nicht zuletzt auch aufgrund der gewerblichen Tradition Berlins eine Anzahl qualifizierter Arbeiter aufzuweisen hatte, die als „im Ganzen anstellig und auch im Lohne mäßig" bezeichnet wurden. 14 Eine nicht zu unterschätzende Rolle muß darüber hinaus der gewerblichen Tradition als solcher zugesprochen werden; denn im 18. Jahrhundert entstanden zahlreiche zentralisierte und dezentralisierte Manufakturen, 15 die Berlin bis zur Wende zum 19. Jahrhundert zu einer „wirklichen Manufakturstadt" machten.18 Auch die in der Stadt konzentrierten Bank-, Versicherungs- und Handelsunternehmen trugen zum Standortvorteil bei, da sie die Beschaffung von Krediten erleichterten und die Absatzmöglichkeiten erweiterten. Die staatlichen Maßnahmen zur Förderung des Gewerbes, die in Berlin

13

Vgl. E. Schmieder, a.a.O., S. 668; O. Wiedfeldt, Statistische Studien ..., S. 87; L. Baar, Die Berliner Industrie ..., S. 23 ff.; Berlin und seine Eisenbahnen 1846—1896, hrsg. im Auftrage des Kgl. Preußischen Ministers der öffentlichen Arbeiten, Bd. 1 u. 2, Berlin 1896. 14 Siehe C. F. W. Dieterici, Statistische Übersicht..., in: Berliner Kalender..., S. 231. 15 Vgl. L. Baar, Die Berliner Industrie ..., S. 15. 16 Siehe O. Wiedfeldt, Statistische Studien ..., S. 68. 4·

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I. Industrielle

Teilgebiete

Berlins

vor allem in Institutionen wie der Königlichen Seehandlung unter dessen Präsidenten, dem Staatsminister von Rother, oder in dem 1821 von Beuth gegründeten Verein zur Beförderung des Gewerbefleißes wirksam wurden, stellten einen weiteren Vorteil dar. Daneben war das gewerbliche Schulwesen in Gestalt der GewerbeSchule und des Gewerbe-Instituts ein Förderungsinstrument für gewerbliche Nachwuchskräfte, unter dessen Schülern sich so erfolgreiche Unternehmer wie August Borsig, Franz Anton Egells oder Theodor Hoppe befanden. 17 Die Bildungsinstitutionen und die staatlichen Förderungsmaßnahmen blieben von der Intention und Wirkung her nicht auf Berlin beschränkt, weshalb es auch bei der gegebenen Quellenlage außerordentliche methodische Schwierigkeiten bereitet, ihre Einflüsse auf die gewerbliche Entwicklung insgesamt und insbesondere auf einen wirtschaftlichen Teilraum vornehmlich quantitativ zu erfassen.18 Der Ausbau der Infrastruktur durch den preußischen Staat, namentlich die mannigfachen Einrichtungen zur Gewerbeförderung und die Erweiterungen des Verkehrsnetzes, deren zentraler Ort Berlin war, ließen neben der Bevölkerungsballung diese Großstadt im 19. Jahrhundert als optimalen Standort für verschiedene Bereiche der gewerblichen und industriellen Produktion erscheinen, so daß schon um 1840 „das ganze Fabrikwesen in Berlin . . . den Eindruck" machte, „daß ein lebhafter Erwerb und große Thätigkeit in dieser Beziehung in Berlin sich neuerlich entwickelt hat, welches der Stadt jetzt eine ganz andere Bedeutung giebt, als sie in früheren

17

Vgl. Ilja Mieck, Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806—1844 ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 20: Publikationen zur Geschichte der Industrialisierung, Bd. 1), Berlin 1965, passim; U. P. Ritter, Die Rolle des Staates ..., passim; vgl. audi Heinrich Eduard Kochhann, Mitteilungen aus den Jahren 1839—1848, o. O. 1906, S. 21, der den Bau von Eisenbahnen und die Gründung von Maschinenfabriken als „schöne Früchte der Beuthsdien Schöpfungen" beschreibt. 18 Der hier angesprochenen Problematik widmet sich eingehend der Aufsatz von Peter Lundgreen, Schulbildung und Frühindustrialisierung in Berlin I Preußen. Eine Einführung in den historischen und systematisdien Zusammenhang von Schule und Wirtschaft, in: Otto Büsch (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin!Brandenburg ( = Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-MeineckeInstitut der Freien Universität Berlin, Bd. 6: Publikationen zur Geschichte der Industrialisierung), Berlin 1971, S. 562—610.

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Zeiten hatte". 19 Das Gewicht der zentralen Funktionen der preußischen Hauptstadt als kultureller und Verwaltungsmittelpunkt des Staates nahm zugunsten der Industrie- und Gewerbestandortfunktion ab.20 Die vorgefundenen Standortvorteile begünstigten vornehmlich einige wenige Zweige, auf denen die dominierende Stellung Berlins in der deutschen Wirtschaft beruhte, so daß es seinen Ruf, „vielleicht der wichtigste Fabrikort Deutschlands" zu sein, verdiente. Es waren dies vor allem unter den arbeitsintensiven Zweigen der Maschinen-, Instrumenten- und Lokomotivenbau, die Kattundruckerei und die Färberei, das Bekleidungsgewerbe, auch die Zuckersiederei, die Brauerei und die Brennerei. Für die Standortwahl der Maschinenbaubetriebe in Deutschland zur Zeit der frühen Industrialisierung spielte die Rohstofforientierung eine untergeordnete Rolle. Als primärer Faktor wird die Absatzorientierung genannt. So entstanden Maschinenbaubetriebe zu einem Zeitpunkt, als sich bereits ein Maschinenmarkt entwickelt hatte, und an Orten, wo ein lokaler Maschinenbedarf, sei es in der Schwerindustrie, der Textilindustrie, der Landwirtschaft oder im Eisenbahnbau, bestand. Obwohl über ganz Deutschland verbreitet, konzentrierte sich der Maschinenbau „in den Gebieten mit bereits vorhandener Industrie, vor allem in Sachsen, Rheinland-Westfalen und Berlin".21 Bis 1870 entwickelten sich sowohl in Sachsen als audi in Preußen in zunehmendem Maße die großen Städte zum vorrangigen Standort, da im Zeitraum zwischen 1850 und 1870 nach Chemnitz in Berlin die meisten Maschinenbauunternehmen gegründet wurden. Als Standortfaktoren werden weiterhin immer wieder die Masse ansässiger Arbeitskräfte und für Berlin die gute Verkehrslage hervorgehoben.22

19

Siehe C. F. W. Dieterici, Statistische Übersicht..., i n : Berliner Kalender..., S. 231. 10 Vgl. L. Baar, Probleme der industriellen Revolution ..., in: W. Fischer (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme ..., S. 541. 21 Siehe A l f r e d Schröter, Die Entstehung der deutschen Maschinenbauindustrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Die deutsche Maschinenbauindustrie in der industriellen Revolution ( = Veröffentlichungen des Instituts f ü r Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule f ü r Ökonomie, Berlin - Karlshorst, Bd. 2), Berlin 1962, S. 103, 105, 124. 22

Vgl. die Tabellen bei Walter Becker, Die Entwicklung der deutschen Maschinenbauindustrie von 1850 bis 1870, in: Die deutsche Masdiinenbauindustrie ..., S. 216—

54

I. Industrielle Teilgebiete Berlins

Für die Textilindustrie, die bis zum Beginn der Aufschwungphase in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts der führende Gewerbezweig in Berlin war, hatte der ökonomische Wandel vorwiegend negative Auswirkungen. Die eintretenden strukturellen Veränderungen und regionalen Umschichtungen im gesamten Wirtschaftsgefüge äußerten sich im Textilgewerbe in einer regionalen Spezialisierung, die namentlich durch die höheren städtischen Grundrenten und Nominallöhne ausgelöst wurde. Sie äußerten sich für die Berliner Textilindustrie in Standortversdiiebungen der Mehrzahl der Sparten, das heißt in der Hinausverlagerung in die nähere und fernere Umgebung und in der Spezialisierung auf wenige, meist fabrikmäßig organisierte Branchen, vor allem auf die Weberei wollener und halbwollener Waren sowie auf Färberei und Kattundruckerei. Die Baumwoll- und Seidenweberei büßte ihre einst wichtige Rolle ein.23 In gewissem Maße setzte die innerhalb des Bekleidungsgewerbes entstehende und sie bald ganz beherrschende Konfektion die Tradition Berlins im Textilbereich fort. Die Konfektion, die eigentlich erst um 1840 mit der Gründung sogenannter Modemagazine für Damenmäntel aufkam, blieb weitgehend auf die Großstädte beschränkt,24 sofern das Bekleidungsgewerbe in Form der Schneiderei nicht handwerksmäßig betrieben wurde. Die Ursache dafür war vorwiegend darin zu sehen, daß das Bekleidungsgewerbe „die festeste lokalwirtschaftliche Basis" besaß, weil es „den unmittelbaren Bedarf der Stadt an genußreifen Gütern" 25 deckte. Soweit in der Konfektion, besonders der Damenkonfektion, der Modefaktor eine Rolle spielte, boten die Großstädte einen Vorteil. Zudem bestand hier, bei ständig steigender Bevölkerungszahl eine ständig

219; vgl. audi Κ . Berthold, Untersuchungen strie in Deutschland, Jena 1915, S. 122 f.

über den Standort der

Maschinenindu-

2 3 Vgl. Berlin und seine Arbeit. Amtlicher Bericht der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896, zugleich eine Darstellung des gegenwärtigen Standes unserer gewerblichen Entwicklung, hrsg. vom Arbpitsausschuß, Berlin 1901, S. 202 ff.; L. Baar, Probleme der industriellen Revolution..., in: W. Fischer (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme ..., S. 531 ff. 2 4 Vgl. A. Weber, Die Entwicklungsgrundlagen der großstädtischen Frauenhausindustrie ..., in: Hausindustrie ..., Bd. 2, S. X V I . 2 5 Siehe Otto Sdvwarzsdiild, Die Großstadt als Standort der Gewerbe mit besonderer Berücksichtigung von Berlin, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. F., Bd. 33 (1907), S. 752.

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und Entstehung von Standorten

55

wachsende Bedarfskonzentration. Ob die Produktionssteigerung aufgrund der Produktionsweise, das heißt der geringen Verwendung von Maschinen und der fehlenden technischen Innovationen bis auf die Nähmaschine, oder aufgrund des hohen und billigen weiblichen Arbeitskräfteangebots auf dem großstädtischen Arbeitsmarkt erreicht werden konnte oder ob aufgrund des „sozialen Charakters" dieses Gewerbe audi ohne technische und betriebsorganisatorische Neuerungen erfolgreich produziert werden konnte,2® soll hier nidit weiter untersucht werden. Jedenfalls rekrutieren die Unternehmen aller Branchen ihre Arbeitskräfte zu einem großen Teil aus dem großstädtischen Frauenüberschuß. Die Entwicklung Berlins zum Zentrum des deutschen Bekleidungsgewerbes bereits in frühindustrieller Zeit zeigt, daß der großstädtische Raum nicht nur für die Entstehung der eigentlichen Industriebetriebe, sondern audi für die Ausbreitung der kleinen Manufakturen und des Heimgewerbes Vorteile bot. Die zeitliche Fixierung der „Anlaufetappe" des Wandels vom traditionellen Wirtschaftswachstum der vorindustriellen Epoche zum modernen Wachstum ist für Deutschland in der ökonomischen Forschung noch umstritten.27 Für die wirtschaftliche Entwicklung Berlins scheint es jedoch zutreffend zu sein, den Autoren zu folgen, die die Durchsetzung des beschleunigten Wirtschaftswachstums in einigen Gebieten Deutschlands zu Beginn der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts ansetzen. In der sich von etwa 1849 bis 1873 erstreckenden Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs, die von wirtschaftstheoretischer, aber auch von wirtschaftshistorischer Seite meist als eigentliche „take-off-Phase" der deutschen Industrialisierung bezeichnet wird, erlebten Berlin wie ganz Deutschland ein stürmisches Wachstum. Die Zeit zwischen 1806 und dem Ende der dreißiger Jahre war charakterisiert durch die „Koinzidenz von langsamem Niedergang der wirtschaftlichen Rückständigkeit und stark beschleunigter Bevölkerungsvermehrung" und den Beginn der sich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts steigernden Zuwanderungswellen. Sie darf 2 6 Diese Thesen werden vertreten von A. Weber, Die Entwicklungsgrundlagen der großstädtischen Frauenhausindustrie..., in: Hausindustrie..., Bd. 2, S. X X X I X , und O. Schwarzsdiild, Die Großstadt als Standort..., in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. F., Bd. 33 (1907), S. 747 f. 27

Vgl. H. Rosenberg, Große Depression ...,S.

32.

56

I. Industrielle

Teilgebiete

Berlins

wohl als Vorbereitungsphase (pre-conditions period) bezeichnet werden. 28 U m 1840 galten auch die den napoleonischen Kriegen folgenden Krisen als überstanden. 20 Die zweite Hälfte des dritten Jahrzehnts und das vierte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stellten mit der Gründung einer Reihe mechanisierter Fabriken des Maschinen-, Instrumenten- und Apparatebaus und dem Entstehen der Konfektion im Bekleidungsgewerbe die „Geburtszeit der modernen Berliner Großindustrie" 30 dar. Die bestehende Struktur der Industrie wurde entscheidend umgestaltet durch die zunehmende Anwendung neuer Produktionsmethoden, den Einsatz von Maschinen und Apparaturen, die Konzentration steigender Arbeitskräftezahlen am Arbeitsort und die Arbeitsteilung, durch die Anlage konstanten fixen Kapitals, durch die Einführung neuer Organisationsformen und die dadurch erzielten Produktionssteigerungen,31 die die bisher gewohnten Zuwachsraten weit übertrafen. Außer der regen Gründertätigkeit in der Metall- und Maschinenindustrie — 1846 wies Berlin die höchste Zahl an Arbeitern im Maschinenbau an einem einzelnen Ort auf — fiel die Eröffnung der wichtigsten Eisenbahnlinien, denen die Funktion eines „wirtschaftlichen Multiplikatoreffekts nicht bloß auf das Verkehrswesen, den Kapitalmarkt und die unmittelbar beteiligten Industrien" 32 zugesprochen wird, in die Zeit zwischen 1838 und 1846. Als weiteres entscheidendes Moment kam das Einsetzen der ersten der großen Einwanderungswellen hinzu, die Berlin in raschem Tempo zur Millionenstadt anwachsen ließen und dem beginnenden beschleunigten Wandel der städtischen Struktur einen zusätzlichen Impuls verliehen. So darf dieser Zeit eine größere Bedeutung in der wirtschaftlichen Entwicklung Berlins zugesprochen werden als in der allgemeinen deutschen Wirtschaftsentwicklung. Darüber hinaus zeigt

28

A.a.O.,

(Hrsg.),

S. 3 4 ; vgl. audi W . G. Hoffmann, The Take-Off...,

The

Economics

of

Take-Off

...,

in: W . W . R o s t o v

passim; Hans Mottek,

schichte Deutschlands.

Ein Grundrtß,

liner Industrie

11 ff.; A. Sartorius von Waltershausen, Deutsche

. . S .

geschichte 1815—1914, 28

Wirtschaftsge-

Bd. 2, Berlin 1964, S. 65 ff.; L. Baar, Die

Ber-

Wirtschafts-

Jena 1923, S. 102 f.

Vgl. O. Wiedfeldt, Statistische Studien . . . , S. 82.

30

A.a.O.,

31

Diese Merkmalsbestimmung der industriellen Revolution gibt Joseph Schumpeter,

Kapitalismus,

S. 79. Sozialismus

Baar, Die Berliner 32

Industrie

und Demokratie, ...,

2. Aufl., Bern 1950, S. 114; vgl. audi L.

S. 12.

Siehe H . Rosenberg, Große Depression

. .., S. 36.

ökonomischer

Strukturwandel

und Entstehung

von

Standorten

57

der lokale ökonomische Aufschwung, daß der Beginn der Industrialisierung in Berlin dem wirtschaftlichen Aufschwung ganz Deutschlands etwa ein Jahrzehnt vorauseilte. Das quantitative Ausmaß wie das zeitliche Voranschreiten der gewerblichen und industriellen Agglomeration in Berlin manifestierte sich in dem Tempo der Verschiebungen zwischen den drei Wirtschaftssektoren, gemessen an den Beschäftigtenzahlen. Die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch innerhalb der Stadtmauer, umfangreicher aber außerhalb, auf den Berliner und Cöllnischen Hufen und anderen Ländereien betriebene Landwirtschaft verschwand wie die Fischerei und Gärtnerei in den folgenden Jahrzehnten. Waren 1801 noch fast 1,1 °/o der Beschäftigten im primären Sektor tätig, so sank ihr Anteil bis 1849 auf 0,7%, 1867 waren nur noch 0,5 °/o und 1871 knapp 0 , 6 % aller Erwerbstätigen in Landwirtschaft, Fischerei oder Gärtnerei beschäftigt. Der gewerblichindustrielle Sektor dagegen erlangte bis 1850 die absolut dominierende Stellung in der Wirtschaft Berlins. Gemessen an der Zahl der Beschäftigten, waren 1801 50,6% im sekundären Sektor tätig, bis 1849 war der Anteil auf 54%, bis 1867 auf fast 5 8 % und bis 1871 auf 6 7 % aller Beschäftigten gestiegen. Hinter dieser ungeheuren Konzentration des Gewerbes und der Industrie in der Hauptstadt Preußens blieb das Wachstum des Sektors Handel / Verkehr / Dienstleistungen zurück; dieser nahm weniger stark zu und ging daher in seinem Anteil zurück. Im Jahre 1801 gehörten ihm 47,7% der Beschäftigten an, 1 8 4 9 waren es noch 4 2 , 4 % ; sein Anteil sank bis 1867 auf 41,4% und hatte 1871 nur 32,5% der Erwerbstätigen aufzuweisen. 33

33

Vgl. Die Bevölkerungs-,

Gewerbe-

und Wohnungs-Aufnahme

vom 1.

December

1875 in der Stadt Berlin, bearbeitet von Richard Böckh, 4. Abt., 3./4. Heft, Berlin 1880, S. 4 ff. Es wird vorgezogen, bei der Betrachtung der wirtschaftlichen Verhältnisse ausschließlich auf die Gewerbezählungen Bezug zu nehmen. Bei Berufszählungen steht das Individuum im Mittelpunkt, und die Ergebnisse basieren im allgemeinen auf den durch Individualzählkarten vorgenommenen Umfragen am Wohnort der Erwerbstätigen. Bei den Gewerbezählungen steht die Betriebsstätte mit den in ihr Erwerbstätigen im Mittelpunkt; der Ort des Betriebes ist entscheidend. Infolge häufig wechselnder Aufnahmemodalitäten ist die Vergleichbarkeit vieler Zählungen eingeschränkt. Eine gewisse Kontinuität ist bei der Aufnahme bis 1861 gegeben; vor allem die Aufnahme des Jahres 1867 fällt heraus, da vielfach in den verschiedenen Gruppen nicht die gleichen Sparten wie bis dahin oder wie in den späteren Zählungen zusammengefaßt wurden. Bei den in dieser Arbeit aufgeführten statistischen

58

I. Industrielle

Teilgebiete

Berlins

Die Kongruenz der Entwicklung in den führenden Berliner Industriezweigen mit dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum läßt sich unter anderem an der numerischen Zunahme der Betriebe und Beschäftigten ablesen. Die Zeit zwischen 1837/38 und 1846 tritt deutlich als Gründerperiode im Maschinenbau wie im Bekleidungsgewerbe hervor. Das stärkere Wachstum wies in dieser Periode der Maschinenbau auf: Die Zahl der Betriebe nahm von drei im Jahre 1837 auf 33 im Jahre 1846 zu. In ungleich stärkerem Maße wuchs die Zahl der Beschäftigten, die von rund 720 auf 2821 anstieg.34 Das Textilgewerbe war, wie bereits erwähnt, bis 1873, abgesehen von einigen Spezialzweigen, von einer rückläufigen Tendenz gekennzeichnet.86 Um 1840 soll die Kattundruckerei einschließlich ihrer chemischen Nebengewerbe sogar „an zweiter Stelle" unter den Gewerbezweigen und Sparten gelegen haben.36 Im Jahre 1840 waren insgesamt 2115 Arbeiter in 22 Kattundruckereien 37 beschäftigt. In den Berliner Druckereien arbeiteten damit 43 % der gesamten preußischen Kattunarbeiterschaft. 38 Den stärksten Impuls erhielt diese Sparte des Textilgewerbes in den vierziger Jahren. Auch dies wird mit der Verbesserung der Transportmöglichkeiten durch den Eisenbahnbau in Zusammenhang gebracht.39 Unter den wichtigeren Sparten war die Baumwollweberei, die bis 1861 einen Rückgang um etwa 80 bis 90 % der Betriebe, aber nur um rund 25 %> der BeDaten wurde deshalb fast ausschließlich auf die rektifizierten Angaben in der zitierten Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme zurückgegriffen, bei denen versucht wurde, „die älteren Aufnahmen unter die später zur Anwendung gebrachten Bezeichnungen zu ordnen". Dadurch werden ab 1875 die älteren mit den neueren Aufnahmen vergleichbar, die der Ordnung der neuen Reidis-Gewerbetabelle entsprechen, w a s f ü r die i m ZWEITEN u n d DRITTEN TEIL dieser A r b e i t a u f z u z e i g e n d e E n t -

wicklung von Bedeutung ist. 34

A.a.O., S. 59 ff. Die Differenzen ergeben sich aus den untersdiiedlidien Aufnahmeverfahren. An anderer Stelle werden sogar 49 Betriebe aufgeführt, a.a.O., S. 6 ff. 35 Vgl. L. Baar, Die Berliner Industrie ..., S. 41 ; C. F. W. Dieterici, Statistische Ubersiebt..., in: Berliner Kalender . . . , S. 224 f. 36 Siehe Werner Piltz, Die Berliner Arbeiter 18Ii—1848 [Maschinenschrift], Phil. Diss., Jena 1922, S. 18. 37 Siehe C. F. W. Dieterici, Statistische Übersicht..., in: Berliner Kalender..., S. 223; Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Auf nähme vom 1. December 1875 ..., 4. Abt., H . 3/4, S. 9. 38 Siehe W. Piltz, Die Berliner Arbeiter ..., S. 18. 3 · Vgl. L. Baar, Die Berliner Industrie . . . , S. 42.

ökonomischer

Strukturwandel

und Entstehung von

Standorten

59

schäftigten verzeichnete,40 am stärksten von der Regression betroffen. Den größten Aufschwung erlebten die Veredelungszweige von 1831 bis 1846. In diesem Zeitraum verdoppelte sich die Zahl dieser Betriebe, aber auch die Zahl der Erwerbstätigen nahezu. 41 Im gleichen Zeitraum erlebte das Bekleidungsgewerbe eine beachtliche quantitative Zunahme, die diejenige aller anderen Zweige in den Schatten stellte. Schon in dieser Anfangsphase, in der die ersten Konfektionshäuser gegründet wurden, die allmählich den Ruf der Berliner Konfektion weit über die Stadtgrenzen hinaustrugen, hatte das Bekleidungsgewerbe etwa eine Vervierfachung bei einem Anstieg der selbständigen Erwerbstätigen von knapp 2000 auf knapp 9000 und der Erwerbstätigen überhaupt von knapp 4000 auf rund 14 200 Personen aufzuweisen. Der gesamte Gewerbezweig verzeichnete zwischen 1831 und 1846 eine Zunahme der Selbständigen von 3627 auf 11 884 und der Erwerbstätigen insgesamt von 7530 auf 20 918 Personen.42 Die Berliner Wirtschaft wurde von den „Niedergangs- und Stockungsjahren von 1846 bis 1848"43 schwer getroffen. Die Absatzstockungen dieser Jahre auf dem Weltmarkt zeitigten jedoch geringere Folgen als die totalen Mißernten des Jahres 1846/47, in deren Gefolge eine Arbeitslosigkeit um sich griff, und deren Wirkungen über 1848 hinaus spürbar waren. 44 In der Textilindustrie konnten die Rückschläge erst in den fünfziger Jahren allmählich wieder ausgeglichen werden. In geringerem Maße wurde das Bekleidungsgewerbe von der Krise zwischen 1846 und 1848 wie von der folgenden Krise getroffen; diese machten sich nur als Pausen in einem steilen Aufstieg bemerkbar. Im Maschinenbau und im Metallgewerbe rief die Krise von 1846/47 größere Reduktionen der Beschäftigtenzahlen und den Niedergang einer Reihe von Betrieben hervor; die Maschinenbaubetriebe gingen von 33 im Jahre 1846 auf 29 im Jahre 1849 zurück, während sich jedoch die Gesamtzahl der Maschinen-, Werkzeug-, Instrumente- und Apparatefabriken von 553 auf 630 Betriebe erhöhte. Die bemerkenswerte Erhöhung der

40 Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme 4. Abt., H . 3/4, S. 59. 41 Ebda. « A.a.O., S. 11, 59. 43 H . Rosenberg, Große Depression ..., S. 37. 44 Siehe O. Wiedfeldt, Statistische Studien ..., S. 83.

vom 1. December 1875

...,

60

1. Industrielle

Teilgebiete

Berlins

Zahl der Betriebe ergibt sich wahrscheinlich lichen Erhebungsmethode in beiden Jahren.

aus der

unterschied-

Bis zur Mitte der fünfziger Jahre setzte ein erneutes starkes Wachstum ein, 45 das sich neben der Steigerung der Erwerbstätigenzahlen und der Ausweitung der Produktion auch im Beginn der räumlichen Expansion einzelner Produktionszweige äußerte. Diese Standortverlagerungen bedeuteten kein Verlassen des Wirtschaftsraums Berlin, sondern seine Ausdehnung, da die funktionale Verbindung zur zentralen Stadt gewahrt blieb. Denn meist handelte es sich um Zweigniederlassungen oder nur um die Verlagerung einzelner Arbeitsprozesse, durch die das Umland mit dem städtischen Funktionsbereich verknüpft wurde. In den ersten Jahren dieser Trendperiode entstanden auch eine Reihe neuer Industriezweige oder Sparten, wie in der chemischen Industrie. Dazu rechnen besonders die Elektrotechnik, aber auch die Herstellung von künstlichem Mineralwasser, während andere Branchen ein jähes Aufblühen erfuhren, wie die Möbeltischlerei, die Papierfabrikation oder die Lederverarbeitung. Andere dagegen — vor allem rohstofforientierte Branchen — wichen an andere Standorte aus. 46 Allmählich begann sich der zentralisierte Großbetrieb audi in der verbliebenen Textilveredelung wie in vielen anderen Zweigen, abgesehen vom Bekleidungsgewerbe, durchzusetzen. Die kurzfristige Konjunkturkrise von 1 8 5 6 / 5 7 wirkte sich zunächst vor allem in der Textilindustrie mit einer Massenarbeitslosigkeit aus, von der besonders die Weber und Heimarbeiter zu Tausenden betroffen wurden. 47 Im Jahre 1858 griffen die Entlassungen audi auf andere Zweige, so auf die Metallindustrie und den Maschinenbau, über. Obwohl gleichzeitig die Arbeitszeiten verkürzt und die Akkordlöhne durch die allgemein niedrigeren Tagelöhne ersetzt wurden, vermochten diese Maßnahmen die Entlassungen indessen kaum einzudämmen. 48 So sollen schon 1857 etwa 30 °/o der

Vgl. Walt W. Rostow, The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifesto, Cambridge 1960, S. 38; W. G. Hoffmann, The Take-Off in Germany ..., in: W. W. Rostow (Hrsg.), The Economics of Take-Off ..., passim; H. Rosenberg, Große Depression . . S. 36 f., schließt sich dieser Datierung voll an. 4 e Vgl. O. Wiedfeldt, Statistische Studien ..., S. 91. 4 7 Vgl. L. Baar, Die Berliner Industrie..., S. 196, der sich auf Aktenmaterial des Deutschen Zentralarchivs Merseburg, Rep. 77, Tit. 1542, Nr. 2, Bl. 53 ff., stützt. 48 Ebda. 45

ökonomischer Strukturwandel

und Entstehung von Standorten

61

Maschinenbauarbeiter beschäftigungslos gewesen sein.49 Bis 1859 hielt der Notstand an, ja er verschärfte sich sogar noch. Erst im Jahre 1860 trat eine Wende ein, die durch Produktionssteigerungen und steigende Nominallöhne gekennzeichnet war, die aber auch für die arbeitende Bevölkerung allgemein bessere Lebensverhältnisse brachte. Bis zur großen, 1873 einsetzenden Depression folgte eine beschleunigte Aufwärtsentwicklung, die sich an den wachsenden Zahlen der Betriebe und vor allem der Beschäftigten ablesen läßt, wobei sich eine immer deutlichere Schwerpunktbildung innerhalb der Gewerbe- und Industriezweige beobachten läßt, die die gesamte Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung Berlins in der folgenden Zeit prägte. Für den Maschinenbau, die Eisenindustrie und das Bekleidungsgewerbe kann das Jahrzehnt nach 1860/61 nahezu als zweite Gründerepoche bezeichnet werden. Die in der Metallindustrie einschließlich der Waffenproduktion Tätigen nahmen mit etwa 1 5 0 % und die Betriebe mit rund 5 0 % etwas stärker zu als die Beschäftigtenzahlen in der Maschinen-, Werkzeug-, Instrumenten- und Apparateindustrie mit etwa 1 1 0 % und ihrer Betriebe mit etwa 25 % . Allein die Maschinenbauanstalten hatten eine Zunahme um knapp 100 % zu verzeichnen, die Beschäftigtenzahlen erhöhten sich jedoch um über 200 %. 50 Die Krise nach 1873 brachte eine Wende im Berliner Maschinenbau durch zahlreiche Liquidationen, darunter der Firmen von Wöhlert und Pflug. Im Bekleidungsgewerbe kennzeichnet die Verschiebung des Verhältnisses zwischen den Betrieben, das heißt den Selbständigen, und den Erwerbstätigen die strukturelle Veränderung. In den anderen Sparten war das Wachstum weniger stark. Wenn es audi in den Gesamtzahlen nicht zum Ausdruck kommt, so nahm die Zahl der Großbetriebe dodi allmählich zu, denn allein neun Eisenwerke beschäftigten 1861 insgesamt 1385 Arbeitnehmer und 21 Wagenfabriken (besonders Fabriken für Eisenbahnwagen) hatten 1419 Beschäftigte aufzuweisen. 51 Infolge des Eisenbahnbaus hatte in Berlin der Lokomotiv- und Eisenbahnwagenbau neben der Fabrikation anderen Eisenbahnmate-

48

Ebda. Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 ..., 4. Abt., H . 3/4, S. 6, 7, 59. 51 Das Fabrikwesen Berlins in den Jahren 1805 bis 1861. Besonderer Abdruck aus dem Preußischen Staats-Anzeiger, Jg. 1868, Nr. 3, 15, 22, 34, 40, 52, 98, 104, 109, 115, S. 49. 50

62

I. Industrielle Teilgebiete

Berlins

rials, der Herstellung von Kriegsausrüstungen, von Torpedos, Schiffsmaschinen, landwirtschaftlichen Maschinen und Nähmaschinen am stärksten zugenommen. Diese Branchen produzierten in den sechziger Jahren mehr und mehr im Großbetrieb. So arbeiteten im Jahre 1861 nur 35 Personen in kleinen Maschinenbauanstalten und 5427 in Großbetrieben; im Jahre 1875 dagegen waren 540 Beschäftigte in Kleinbetrieben und 16 038 in Großbetrieben des Maschinenbaus tätig. Im Gesamtindustriezweig einschließlich des Apparate-, Instrumenten- und Werkzeugbaus trat die Großbetriebsbildung noch krasser zutage; 1861 arbeiteten 2471 Erwerbstätige in Kleinbetrieben und 6867 in Großbetrieben, und 1871 waren nur 2674 in Kleinbetrieben, aber 20 847 in Großbetrieben beschäftigt.52 Im gesamten gewerblichen Sektor kam im Jahre 1867 ein Arbeitgeber auf 4,3 Arbeitnehmer, 1871 gestaltete sich jedoch das Verhältnis wie 1 : 6,2.58 Im Jahre 1871 stand die Metallindustrie zusammen mit der Maschinen-, Instrumenten-, Werkzeug- und Apparateindustrie an zweiter Stelle der Gesamtbeschäftigtenzahlen unter den Berliner Arbeitnehmerzahlen, denn nach einschlägigen Erhebungen arbeitete jeder 31. Einwohner in diesen Industriezweigen; jeder 47. Einwohner war sogar ein Maschinenbauer. An erster Stelle stand das Bekleidungsgewerbe, in dem jeder 13. Bewohner erwerbstätig war. 54 Alle anderen Zweige des Gewerbesektors folgten mit weitem Abstand. Diese Zahlen verdeutlichen, wie stark sich die gewerblich-industrielle Entwicklung vor 1873 in diesen Wirtschaftszweigen polarisiert hatte. Denn bis 1871 erlangte das Bekleidungsgewerbe zahlenmäßig die Spitzenstellung unter den Beschäftigten, obwohl ein großer Anteil meist weiblicher Arbeitskräfte der Hausindustrie statistisch nie erfaßt wurde. Sie würden die Zahl derjenigen, die von diesem Gewerbezweig lebten, noch erheblich vergrößern. Der gerade in den sechziger Jahren nochmals erfolgende Aufschwung muß nicht zuletzt auf die Einführung der zu jener Zeit schon in Berlin produzierten Nähmaschinen zurückgeführt werden, die in beachtlichem Umfang selbst sogar exportiert wurden. 55 In diesen Jahren wirt-

52

Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 ..., 4. Abt. H . 3/4, S. 59. 58 Siehe L. Baar, Die Berliner Industrie . . S . 97. 54 Siehe Hermann Schwabe, Die Residenzstadt Berlin in ihren Bevölkerungs-, Berufs- und Wohnungsverhältnissen, Berlin 1874, S. 69 f. 55 Das Fabrikwesen Berlins . . . , S. 48.

ökonomischer Strukturwandel und Entstehung von Standorten

63

schaftlicher Prosperität erlebte die Textilindustrie weitere Rückschläge bis auf die Jahre 1867/68, als die Ausweitung des Auslandsexports einsetzte.56 Während die Streich- und Kammgarnspinnerei nun ganz verschwand, wahrte die Kattundruckerei, deren Vorteil in der größeren Mechanisierung im Gegensatz zur vornehmlich manuell betriebenen Herstellung in den meisten anderen Sparten gesehen wird, ihre Stellung in Berlin. Die Stadtteile und Vorstädte unterschieden sich schon in vorindustrieller Zeit nach Struktur und Funktionen im städtischen Gefüge. Die zentralen Verwaltungsfunktionen waren vornehmlich in Cölln, dem Sitz der Residenz, und in der Friedrichstadt lokalisiert; doch blieb hier wie in den stärker gewerblich beeinflußten Stadtteilen die Einheit von Arbeits- und Wohngebiet und das Aufeinanderbezogensein beider aufgrund der dichten Mischung von Verwaltungsgebäuden, Geschäften und Wohnbauten erhalten, zu denen gerade in der Dorotheen- und Friedrichstadt eine Vielzahl von prinzlichen Palais und Häusern der Aristokratie sowie der bürgerlichen Oberschicht kamen. Daneben erhielten in diesen Stadtteilen die meisten der zuwandernden Hugenotten im 17. Jahrhundert ihr Ansiedlungsrecht. Die südliche und südöstliche FriedrichStadt kann eher den gewerbebetonten Stadtteilen, wie der benachbarten Luisenstadt, dem Stralauer Viertel, Alt-Berlin, der Königsstadt, dem Spandauer Viertel, der Oranienburger und der Rosenthaler Vorstadt zugerechnet werden, soweit diese randlichen Bezirke überhaupt bebaut waren. Konzentrationen einzelner Gewerbezweige in bestimmten Stadtteilen waren kaum anzutreffen; das trifft selbst für die Textilmanufakturen und mechanischen Werkstätten zu, wenn man von der Lage einiger Kattunmanufakturen am Ufer der Spree einmal absieht. Lediglich einige Alt-Berliner Gassennamen wiesen noch darauf hin, daß im Mittelalter dort „ganz bestimmte Gewerbe angesiedelt" waren, ihre Standorte inzwischen jedoch aufgegeben hatten. 57 Eine Trennung in Wohn- und Gewerbebezirke war mit Ausnahme des Voigtlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht eingetreten. Unter dem sogenannten Voigtland ist die Wohnsiedlung von Saisonarbeitern des

56

L. Baar, Die Berliner Industrie ..., S. 65. Heinrich Eduard Kochhann, Zeitbilder aus den Jahren 1830—1840 mit Rückblicken auf die vorangegangenen Jahrzehnte, o. O. 1906; vgl. Roman Heiligenthal, Entwicklungslinien der Berliner Industriesiedlung in: Berliner Wirtschaftsberichte, 2. Jg. (1925), Nr. 5, S. 50. 57

64

1. Industrielle Teilgebiete

Berlins

Baugewerbes zu verstehen, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts eingewandert waren. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts wohnten hier zahlreiche Handwerker, darunter viele verarmte Weber, namentlich Manufakturarbeiter oder im Verlagssystem arbeitende Weber mit geringem Verdienst, die „in der Hauptsache nur ordinäre" und daher schlecht bezahlte, minderwertige Waren verfertigten. 58 Es zeigt sich somit, daß die einzelnen Stadtteile von verschiedenen sozialen Schichten und Gruppen in zwar unterschiedlicher Zusammensetzung bewohnt wurden, daß aber reine Wohngebiete oder Manufakturkomplexe sich nicht herauskristallisiert hatten. 59 Grundsätzliche Veränderungen in der bisherigen räumlichen Ordnung, die die Unmittelbarkeit der Wirkungen des ökonomischen und sozialen Wandels auf die Raumstruktur anzeigen, bewirkte die in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzende Standortbildung der beiden wichtigsten Industrie- und Gewerbezweige in dieser ersten Phase des modernen Wirtschaftswachstums. Die Herausbildung solcher Standorte aufgrund einer funktionalen und räumlichen Trennung des Produktionsorts vom Wohnort in der Stadt verursachte im eigentlichen Sinne das Problem der Zuordnung von Wohn- und Arbeitsstätten, die sich bis in die heutigen Raumordnungspläne hinein neben der Aufteilung des Verkehrsnetzes als primärer Raumordnungsfaktor erweist. In Metallgewerbe, Maschinenbau und Apparatebau traten mit dem Entstehen größerer, flächenbedürftiger Betriebe, insbesondere der Eisengießereien und Maschinenbauanstalten, die Standorte der Arbeitsstätten und die Wohngebiete der Arbeitskräfte innerhalb der Stadt in ein im Verhältnis zur Expansion der Stadt wachsendes räumliches Spannungsverhältnis. Im Gegensatz dazu stand die Intensivierung der Einheit von Arbeits- und Wohnort im hausindustriell, im verlags- oder handwerksmäßig betriebenen Bekleidungsgewerbe, die zu einer anders gelagerten Problematik der Raumnutzung führte. Die innerstädtische Standortbildung erwies sich als eine Hauptgestalterin der städtischen Struktur in der Zeit der frühen Industrialisierung, und sie hatte weitgehenden Anteil an der von dieser Zeit ab 58

Siehe Horst Krüger, Geschichte der Manufakturen Preußen im 18. Jahrhundert, Berlin 1958, S. 345, 376. 59

und Manufakturarbeiter

in

Vgl. J. D. F. Rumpf, Berlin und Potsdam. Eine Beschreibung aller Merkwürdigkeiten dieser Städte und ihrer Umgebungen, 3. Aufl., Bd. 1, Berlin 1823, S. 531— 615.

ökonomischer

Strukturwandel

und Entstehung von Standorten

65

datierenden erhöhten Dynamik innerhalb des Stadtgefüges. Mit der Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts einsetzenden Gründung der ersten größeren und existenzfähigen Maschinenbauanstalten begann sich im Gebiet der nördlichen Vorstädte, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts weitgehend dem relativ ländlichen Umlandbereich der eigentlichen Stadt zuzurechnen war, erstmals ein ausgesprochenes Produktionszentrum am Rande des städtischen Gefüges herauszubilden, das die neue funktionale Differenzierung und die Expansion des städtischen Raumes anzeigt. Die besondere Eigenart der Berliner Maschinenbauindustrie, durch die die Standortbildung ihre außerordentliche Bedeutung erlangte, bestand in der Ballung der gerade vor 1850 gegründeten Großunternehmen dieser Sparte, die Weltgeltung erlangten und die die Rolle eines Motors in der technischen und ökonomischen Entwicklung spielten. Sie bildeten gleichsam den Agglomerationskern in dem sich fortlaufend erweiternden und verdichtenden Standort, in dem sich die diesem Industriezweig eigene ökonomische Dynamik in eine räumliche umsetzte. Denn der Maschinenbau wie die hier ebenfalls in großer Zahl ansässigen Eisengießereien expandierten nicht zuletzt deshalb so stark, weil sie die jeweiligen Produktionsmittel — Werkzeug- und Antriebsmaschinen — für andere heftig expandierende Zweige, wie die Textilindustrie oder das Bekleidungsgewerbe, lieferten und vor allem verschiedene Eisenbahnbedarfsmaterialien produzierten. Besonders aufgrund der Herstellung von Eisenbahnmaterialien erwies sich der Berliner Maschinenbau mit Teilen der angegliederten Eisenindustrie als Träger der industriellen Entwicklung und des technischen, ökonomischen und verkehrstechnischen Fortschritts. Die Betriebe entsprachen in ihren Anfängen weitgehend dem Typ der Protofabrik oder der primitiven Fabrik. Allerdings verließen viele Berliner Unternehmen dieses Stadium sehr rasch und konnten durch die Einführung der modernen Technologie und den erhöhten Einsatz von Maschinen und Kapital in der Organisation der Produktion und des Kontrollapparates „zu einer höheren Stufe der Fabrik" übergehen.60 In den ersten Jahren ihres Bestehens waren die Berliner Betriebe meist durch eine größere Zahl von Arbeitern

80

Siehe Herman Freudenberger, Die Struktur der frühindustriellen Fabrik im Umriß mit besonderer Berücksichtigung Böhmens, in: W. Fischer (Hrsg.), Wirtschaftsund sozialgeschichtliche Probleme..., S. 417. Die Merkmale der Protofabrik werden ausführlich beschrieben ebda, S. 416, passim. 5 Thienel

66

I. Industrielle Teilgebiete Berlins

in einer Werkstatt charakterisiert, die unter der Leitung des Unternehmers im arbeitsteiligen Prozeß produzierten. Besonders kennzeichnend waren der allgemein niedrige Stand bei der Verwendung von Maschinen, besonders von Dampfmaschinen, und das geringe Anfangskapital. 61 Als Standort bevorzugte der Maschinenbau in der Oranienburger Vorstadt, einer der nördlichen Vorstädte, besonders die zwischen der Thor-, Invaliden- und Ackerstraße gelegenen Teile mit dem eigentlichen Zentrum in der Chausseestraße. Die Königliche Eisengießerei war in der Invalidenstraße 4 4 — 4 6 im Jahre 1804 nach den Plänen des Ministers von Reden gegründet worden und bis 1828 als einziger Betrieb dieser Art hier ansässig. Sie stellte in der Hauptsache künstlerische schmiedeeiserne Geräte, technische Eisengußwaren und Artilleriematerial her.62 Die beiden danach errichteten Unternehmen, die eine bedeutendere Stellung im Berliner Maschinenbau einnahmen, waren die 1815/16 gegründete Fabrik für Werkzeugmaschinen, mechanische Webstühle, Apparate und Dampfmaschinen von James und John Cockerill sowie die im selben Jahr eröffnete Maschinenfabrik von Georg Christian Freund, der sich hauptsächlich dem Bau von Dampfmaschinen zuwandte. Bei beiden Firmen zeigte die angeführte Standortorientierung sich noch nicht, denn der Mechaniker Freund gründete sein Unternehmen in der Mauerstraße, das heißt in der Friedrichstadt, und James und John Cockerill gründeten ihren Betrieb in der Neuen Friedrichstraße 26—28 ;6S so war lediglich die Cockerillsche Fabrik im Norden der Stadt angesiedelt; sie lag jedoch nicht in der Vorstadt. Im Jahre 1821 errichtete Franz Anton Egells ebenfalls in der Friedrichstadt, und zwar in der Lindenstraße, eine Maschinenbau-Werkstatt. Bereits 1830 beschäftigte Egells fünfhundert Arbeiter in seinem Unternehmen. Zusammen mit C. Woderb gründete er 1828 die erste private Eisengießerei auf dem Grundstück Chausseestraße 3—4 vor dem Oranienburger Tor, wohin er noch vor 1850 seinen ganzen Betrieb

6 1 Vgl. L. Baar, Probleme der industriellen Revolution ..., in: W. Fischer (Hrsg.), Wirtscbafts- und sozialgeschichtliche Probleme ..., S. 540 f. 6 2 Vgl. Eridi Steffen, Die Königliche Eisengießerei in Berlin, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, 28. Jg. (1911), S. 25 ff. 8 3 Siehe Hugo Rachel / Paul Wallidi, Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, Bd. 3 ( = Veröffentlichungen des Vereins für die Geschichte der Mark Brandenburg), Berlin 1967, S. 180 f.; Paul Goldschmidt, Berlin in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1910, S. 188.

ökonomischer

Strukturwandel

und Entstehung von

Standorten

67

auf das erweiterte Grundstück Chausseestraße 2—4 verlegte, der dort bis 1873 existierte.64 A. Hamann folgte im Jahre 1829 mit der Gründung einer Fabrik für Drehbänke in der Schillingsgasse 23—24 im Stralauer Viertel; in derselben Gegend errichtete der Schlosser H. F. Eckert im Jahre 1846 die erste Fabrik ausschließlich für landwirtschaftliche Maschinen. Als August Borsig 1838 als Faktor bei Egells ausschied und seine Maschinenbauanstalt in der Chausseestraße 1 errichtete, als F. A. Pflug sich im selben Jahr in der Chausseestraße 7 — 9 niederließ und eine Maschinenfabrik gründete, als J. F. L. Wöhlert, der bei Egells und Borsig gearbeitet hatte, seine Fabrik im Jahre 1842 in der Chausseestraße 36—37 ansiedelte, als Carl Theodor Hoppe eine Fabrik in der Gartenstraße 9 im Jahre 1844 eröffnete und als schließlich Louis Schwartzkopff 1852 eine Maschinenfabrik und Gießerei mit breitem Produktionsangebot in der Chausseestraße 23 gründete,65 hatte sich eindeutig ein Standort dieses Industriezweiges vor dem Oranienburger Tor herauskristallisiert. Nach der nicht ganz zuverlässigen Aussage des Adreßbuches hatten sich hier bis 1850 schon 15 oder 2 8 % der insgesamt existierenden 53 Maschinenbauanstalten niedergelassen, 1861 befanden sich von insgesamt 109 Maschinenfabriken 33 % am Oranienburger Tor. 1868 waren es dann von 174 Fabriken sogar 40 beziehungsweise 23 °/o. Bis zum Beginn der siebziger Jahre hatte sich der Standort räumlich erweitert, und zwar nach Süden entlang der Neuen Friedrichstraße bis zur Auguststraße im Spandauer Viertel und nach Osten bis zur Wollankstraße, so daß in diesem erweiterten Standort 1868 rund 2 7 % aller Maschinenfabriken lagen, wobei es sich immer noch um die bedeutendsten Firmen dieser Brandie handelte, die hier ansässig waren, während kleinere Firmen häufiger ihren Standort wechselten oder nur kurze Zeit existierten und sich

6 4 H. Radiel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute ..., Bd. 3, S. 181 f.; Berlin und seine Arbeit..S. 509. 95 H. Radiel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute ..., Bd. 3, S. 182—186; Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für Berlin, Charlottenburg und Umgebungen auf das Jahr 1850, T. 2, S. 212. Die Angaben dieses Adreßbudies können bezüglich ihrer quantitativen Angaben nicht als zuverlässig bezeichnet werden; die Aufnahmen der Personen gingen „nicht von einem ganz festen Prinzip aus; die Ermittlungen erstreckten sich weder auf sämmtliche etablirte Geschäfts- und Gewerbetreibende, noch schloßen sie die nicht etablirten vollständig aus", außerdem kamen Doppelzählungen vor, vgl. Berlin und seine Entwicklung. Gemeinde-Kalender und städtisches Jahrbuch für 1868, 2. Jg. (1868), S. 144.

5*

68

l. Industrielle Teilgebiete Berlins

dann auflösten.66 Alle diese Unternehmen hatten sich zugleich auf den Bau von Lokomotiven, Dampfmaschinen, Eisenbahnmaterialien und Gußeisen spezialisiert. Die Firma Pflug, die 1856 in eine „Aktiengesellschaft für Fabrikation von Eisenbahnbedarf" umgewandelt wurde, produzierte in erster Linie Eisenbahnschienen. Schwartzkopff wandte sich erst 1866 neben dem Eisenbahnschienen- auch dem Lokomotivenbau zu, nachdem er vorher hauptsächlich Eisengußwaren erzeugt hatte. Egells hatte in der Lindenstraße vornehmlich Dampf- und Textilverarbeitungsmaschinen hergestellt und verlegte sich nach Inbetriebnahme der Eisengießerei vorwiegend auf die Produktion von Eisengußwaren.67 Gleichzeitig fand die starke Absatzorientiertheit der Berliner Maschinenindustrie am lokalen Markt ihren Ausdruck in der jeweiligen Ausrichtung der Produktion. Cockerill und Hummel stellten in den zwanziger und dreißiger Jahren Maschinen für die Textilindustrie her. 68 Die Ende der dreißiger und bis in die sechziger Jahre gegründeten Maschinenfabriken, denen meist Eisengießereien angegliedert waren, wie Borsig, Egells, Wöhlert, Freund, Hoppe und Schwartzkopff, hatten ihre Produktion auf Eisenbahnmaterial spezialisiert.69 Dieser Schwerpunktbildung innerhalb des Maschinenbaus und der Eisengießerei in der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt entsprach die Ende der fünfziger und in vollem Umfang in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts sich vollziehende Standortbildung vieler Nähmaschinenfabriken in den südöstlichen Teilen der Friedrichstadt und in der Luisenstadt. Damit erweist sich einerseits die ausgesprochene Standortorientierung auf den Absatz hin und andererseits die Agglomerationstendenz dieses Industriezweiges selbst innerhalb so kleiner Wirtschaftsräume wie der Stadt Berlin erneut. Für alle übrigen Branchen der Maschinenindustrie und der Metallindustrie können ähnliche Beobachtungen nicht gemacht werden.

ββ Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Adreß- und GeschäftsbandbuA für Berlin, dessen Umgebungen und Charlottenburg auf das Jahr 1861, Berlin 1861, T. 2, S. 219; Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger auf das Jahr 1868 . . T . 2, S. 307.

« Vgl. H. Radiel / P. Wallidi, Berliner Großkaufleute..., Bd. 3, S. 181 f., 185 f.; L. Baar, Die Berliner Industrie ..., Anhang, S. 225 ff. 8 8 Vgl. Franz Feldhaus, Zeittafeln des Berliner Handels und der Industrie seit 1800, in: Berlins Aufstieg zur Weltstadt, Berlin 1929, S. 321 f., 325. ·» Vgl. H. Rachel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute ..., Bd. 3, S. 181 f., 185 f.; L. Baar, Die Berliner Industrie ..., Anhang, S. 225 ff.

ökonomischer

Strukturwandel

und Entstehung

von

Standorten

69

Das hervorragendste Unternehmen der Berliner Maschinen- und Metallindustrie war das von August Borsig. Er war ein gelernter Zimmermann, der das Königliche Gewerbe-Institut besucht hatte und später Maschinenzeichner und „Faktor" bei Egells gewesen war; er stieg also wie viele andere Unternehmer aus dem Handwerk auf. Bei der Gründung seiner Firma genoß er die besondere Unterstützung von Beuth.70 Seine Fabriken stellten den neu entstehenden Typ des kombinierten Großunternehmens der verarbeitenden Industrie mit seiner für diese Zeit außerordentlichen Mannigfaltigkeit der Produktion am reinsten dar. Borsig vereinigte in seiner Hand je eine Maschinenbauanstalt und Eisengießerei in der Chausseestraße 1 und in Alt-Moabit 14 und ein weiteres Eisenwerk und eine Maschinenfabrik in Alt-Moabit 84—86, in denen er nach „der Bearbeitung des in seinen eigenen schlesischen Bergwerken gewonnenen Roheisens" alle Einzelteile „bis zur vollendeten Dampfmaschine"71 selbst verfertigen ließ. In der Produktion aller Eisenbahnbedarfsartikel, von den Schienen bis zu den Lokomotiven, nahm Borsig nicht nur für Berlin, sondern für ganz Deutschland die absolut dominierende Stellung ein. Bis 1857 kamen fast 5 0 % aller Lokomotiven, genau 833 im Verhältnis zu weiteren 897 aus 24 anderen Betrieben in Deutschland, aus den Werken Borsigs.72 Bis 1870 hatten diese mit 1885 etwa 6 0 % der insgesamt von den preußischen Eisenbahnen erworbenen 3417 Lokomotiven produziert. 73 Hinzu kamen noch die Lieferungen von Wöhlert und Schwartzkopff, so daß 1870 die Berliner Fabriken noch immer über 3 0 % der deutschen Lokomotivenproduktion herstellten.74 Dementsprechend groß war der Anteil der bei Borsig Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigtenzahl in diesem Industriezweig. Trotz höchst unsicherer Daten dürfte in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts etwa ein Drittel aller im Maschinenbau Tätigen diesem Unternehmen angehört haben, es werden 1000 bis 1100 Beschäftigte gegenüber mehr als 2800 Gesamtbeschäftigten in den Berliner Maschinenbaubetrieben aufgeführt. Unter dem Aspekt der Arbeits70

Vgl. Deutsàier Maschinenbau 1837—1937 im Spiegel des Werkes Borsig, Berlin 1939, S. 17; Berlin und seine Arbeit . . S . 110 ff. 71 Siehe Das Fabrikwesen Berlins . . S . 28; Berlin und seine Entwicklung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirtschaft und Statistik für 1871, 5. Jg. (1871), S. 127. 72 L. Baar, Die Berliner Industrie . . S . 103. 75 H. Rachel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute ..., Bd. 3, S. 183. 74 Siehe L. Baar, Die Berliner Industrie ..., S. 104.

I. Industrielle

70

Teilgebiete

Berlins

kräftekonzentration wird Ausmaß und Bedeutung der Maschinenindustrie und ihrer Akkumulation in der Oranienburger Vorstadt noch deutlicher. Allein aus einer Auswahl von Betrieben, für die uns Angaben zur Verfügung standen, wird ersichtlich, daß der überwiegende Teil der Beschäftigten dieses Zweiges hier tätig war. Im Jahre 1861 waren von den insgesamt 9338 Beschäftigten etwa 48 °/o in der nördlichen Vorstadt tätig und 1871 waren es von insgesamt 23 521 Beschäftigten noch 38 % . 7 5 Ein besonderes Problem stellte in diesem Gewerbezweig die Arbeitskräftebeschaffung dar, da von einem großen Teil der Arbeiter nicht nur besondere Qualifikationen verlangt wurden, sondern für die erste Arbeitergeneration vor 1873, im besonderen aber für diejenige vor 1850 audi nur beschränkte Möglichkeiten existierten, sich entsprechende Fähigkeiten anzueignen. Die meisten Fabrikarbeiter kamen aus dem Handwerk, vorzugsweise aus dem Metallgewerbe; sie waren Mechaniker, Schlosser, Schmiede, Uhrmacher oder Tischler. Besonders die zahlreichen, nicht im Berliner Handwerk verankerten zuwandernden Handwerksgesellen fanden neben Tagelöhnern für untergeordnete Tätigkeiten in den emporstrebenden Maschinenfabriken Beschäftigung.76 Dennoch war der Arbeitermangel in vielen Werken, so etwa bei Borsig, notorisch. Es wurden deshalb Versuche unternommen, gute und befähigte Arbeiter an das Werk zu binden.77 75 Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 ..., 4. Abt., H. 3/4, S. 4*, 7, 59; Das Fabrikwesen Berlins ..., S. 26 ff.; vgl. L. Baar, Die Berliner Industrie . . Anhang, S. 225 ff. 7 6 Die Maschinenindustrie rekrutierte ihre Arbeiter vor allem aus den Metallgewerben, was sich quantitativ in etwa aus den in den Statistiken zutage tretenden Differenzen zwischen gelernten Metallberufen (Berufsstatistiken) und Ausübenden im Metallgewerbe (Gewerbestatistiken) aufzeigen läßt; vgl. hierzu O. Wiedfeldt, Statistische Studien..., S. 228, 260; vgl. auch Walter Becker, Die Bedeutung der nichtagrarischen Wanderungen für die Herausbildung des industriellen Proletariats in Deutschland, unter besonderer Berücksichtigung Preußens von 1850 bis 1870, in: Studien zur Geschichte der industriellen Revolution in Deutschland ( = Veröffentlichungen des Instituts für Wirtsdiaftsgesdiichte an der Hodischule für Ökonomie, Berlin-Karlshorst, Bd. 1), Berlin 1960, S. 226, 231; Jürgen Kocka, Industrielle Angestelltenschaft in frühindustrieller Zeit. Status · Funktion · Begriff. Das Beispiel der „Privatbeamten" der Firma Siemens & Halske 1847—1867, in: O. Büsch (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung ..., S. 317—367, behandelt das Problem für die Elektroindustrie am Beispiel des Hauses Siemens. 77

V g l . d a s B e m ü h e n B o r s i g s in M o a b i t , ZWEITER T E I L , ERSTES KAPITEL, S .

D R I T T E S KAPITEL, S . 2 1 9 f f .

191,

ökonomischer Strukturwandel

und Entstehung von Standorten

71

Das Bekleidungsgewerbe entwickelte sich wie die Maschinenindustrie zum ausgesprochen städtischen Gewerbezweig.78 Das in seiner ökonomischen Struktur von der Metall- und Masdiinenindustrie gänzlich verschiedene Textil- und vor allem das Bekleidungsgewerbe wiesen völlig andersartige raumprägende Wirkungen auf. Die Tendenz zur Ausbildung einer funktionalen Differenzierung des Stadtgebiets trat jedoch in gleicher Weise hervor. Wenn auch die Textilindustrie wie das gesamte Handwerk sich nicht in besonderen Standorten konzentriert hatte, so machte die Kattundruckerei insofern eine Ausnahme, als sich eine Vielzahl von Kattunfabriken in der für den Fertigungsprozeß günstigen Lage am Spreelauf niederließ, und zwar hauptsächlich an den südöstlichen Ufern der Stralauer Vorstadt zwischen Jannowitzbrücke und Stralauer Tor. 79 Viele der Unternehmen dieses Zweiges waren vor 1840 gegründet worden. Unter den Kattundruckern befanden sich in Berlin „Bahnbrecher" dieser Sparte wie J. F. Dannenberger, der „ursprünglich ein Angestellter und Farbenbereiter" gewesen war und „1812 eine kleine Zeugdruckerei" in der Köpnicker Straße 3 gründete. Zu ihnen gehörte auch Ruben Goldschmidt, der zusammen mit seinen beiden Söhnen in der Köpnicker Straße 24 eine Kattundruckerei eröffnete. 80 Im Jahre 1844 gab es 47 Kattundruckereien in Berlin, von denen 19 °/o ihren Standort entlang der Spree hatten, davon fünf entlang der Köpnicker Straße in der Luisenstadt, und nur eine Fabrik lag in der Holzmarktstraße im Stralauer Viertel. Um 1850 werden die meisten Kattunfabriken im Wohnungsanzeiger verzeichnet — insgesamt 28. Davon befanden sich acht an den südlichen Spreeufern; bis 1861 ging ihre Zahl auf zwanzig Fabriken zurück, und 1868 werden nur noch neunzehn aufgeführt, von denen acht in den genannten Straßen lagen.81 In denselben Vorstädten, dem Stralauer Viertel, der Luisenstadt, aber auch der Friedrichstadt, die zusammen einen viel größeren 7 8 G. Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe ..., S. 276, 646 f., bei dem sich diese Feststellung auf ganz Deutschland bezieht. 7 8 Vgl. Carl Matschoß, Die Berliner Industrie einst und jetzt, Berlin 1906, S. 733. 8 0 Vgl. H. Rachel / P. Wallidi, Berliner Großkaufleute ..., Bd. 3, S. 178. 81 Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger ... auf das Jahr 1844..., S. 690 f.; Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger... auf das Jahr 1850..., T. 3, S. 176; Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger... auf das Jahr 1861..., T. 2, S. 179; Allgemeiner WohnungsAnzeiger ... auf das Jahr 1868 ..., T. 2, S. 257. Die erwähnten Vorbehalte gegenüber dem Wohnungs-Anzeiger gelten auch hier.

72

I. Industrielle Teilgebiete Berlins

Teil des Stadtgebiets als die nördlichen Vorstädte einnahmen, siedelte sich seit Anfang der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts das Bekleidungsgewerbe an. Vor allem die Luisenstadt entwickelte sich zum Standort des Bekleidungsgewerbes, besonders der Schneiderei und Weißnäherei. Denn waren noch im Jahre 1844 etwa 1 6 % aller im Wohnungsanzeiger aufgeführten Schneider und 1850 schon knapp 19 °/o in der Luisenstadt ansässig, so hatte sich ihr Anteil im Jahre 1861 auf rund 21 °/o erhöht und war bis 1868 weiter gewachsen. 82 Die Ballung der Schneidereien und Wäschenähereien war in den benachbarten Stadtteilen bei weitem nicht so stark, abgesehen davon, daß die Luisenstadt der flächenmäßig größte Stadtteil war. So wohnten im Jahre 1875 in der Luisenstadt über 20 %> aller in Berlin arbeitenden 10 3 0 7 Weißnäher, und etwa 2 5 % aller gezählten 9 5 2 2 Schneider Berlins waren dort ansässig. In der Stralauer Vorstadt lebten weitere 17°/o aller Weißnäher und etwa 1 0 % aller Schneider. Dazu wurden in der Friedrichstadt 6 % aller Weißnäher und etwa 15 % aller Schneider gezählt. 83 Somit hatte sich die H e r stellung von Oberbekleidungsstücken zu etwa 50 % in den südlichen Vierteln Berlins konzentriert, und die Wäschenäherei hatte sich hier zu rund 4 0 % etabliert. Daneben ließ sich aufgrund der besonderen Arbeitsverhältnisse, insbesondere des hohen Frauenanteils an der Arbeiterschaft, auch in den nördlichen Vorstädten, in denen viele Fabrikarbeiter wohnten, eine große Anzahl von selbständigen oder im Verlagssystem arbeitenden Weißnähern nieder. Sie hatten es leicht, aus dem hier vorhandenen Angebot arbeitswilliger Frauen der unteren Schichten, namentlich der Fabrikarbeiter und Tagelöhner, die weder im familiären Handwerksbetrieb noch im Haushalt einer „Herrschaft" tätig waren, billige Hilfskräfte zu finden. Im Jahre 1875 waren sogar 2 3 % aller Beschäftigten dieser Sparte des Bekleidungsgewerbes in der Oranienburger und vor allem in der Rosenthaler Vorstadt tätig; in der Schneiderei arbeiteten nur gut 11 % aller Erwerbstätigen dieser Branche in diesen beiden Vorstädten. Die übrigen Sparten des Bekleidungsgewerbes, Putzmacherei, H u t - und Handschuhmacherei, Schuhmacherei und das statistisch

82 Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger ... auf das Jahr 1844 ..., S. 735 ff.; Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger ... auf das Jahr 1850 . . T . 2, S. 230 ff.; Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger ...auf das Jahr 1861..., T. 2, S. 242 ff. 83 Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 ..., 4. Abt., H. 3/4, S. 61.

ökonomischer

Strukturwandel

und Entstehung von

Standorten

73

hinzugerechnete Reinigungsgewerbe (Wasch- und Badeanstalten und Bartpflege) konzentrierten sich in denselben Stadtteilen. 84 Die strukturellen Unterschiede zwischen der Metall- und Maschinenindustrie einerseits und dem Bekleidungsgewerbe andererseits stellen sich als so gravierend dar, daß diese Industrien geradezu als polare Typen unter den einzelnen Gewerbe- und Industriezweigen in jener Zeit bezeichnet werden können. Die Unterschiede machten sich in der zunehmenden Maschinisierung und Rationalisierung einerseits und im Verhaftetsein an einfache Produktionsmethoden und -mittel andererseits bemerkbar. Einer großen Anzahl qualifizierter, fast ausschließlich männlicher Facharbeiter und ungelernter Arbeiter stand eine Arbeiterschaft mit geringer oder einfach zu erwerbender Qualifikation und eine breite Schicht weiblicher Arbeitskräfte gegenüber. Einerseits war der Kapitaleinsatz hoch, andererseits waren die Investitionsanforderungen und Innovationen minimal. Der Tendenz zur Durchsetzung des großflächigen Fabrikbetriebs in der Metallund Maschinenindustrie stand das Anwachsen des hausindustriellen Verlagssystems oder des Werkstattbetriebs bei den „vorwiegend auf Heimarbeit beruhenden Berliner Gewerbezweigen", 85 namentlich im Bekleidungsgewerbe, gegenüber. Mit dem Aufkommen der Damenmäntelkonfektion begann das Bekleidungsgewerbe in Berlin aufzublühen und blieb seit den dreißiger Jahren das 19. Jahrhundert hindurch der Zweig mit den höchsten Beschäftigtenzahlen. Die Herrenkonfektion erlangte erst nach 1870 größere Bedeutung, als der Export intensiviert werden konnte.86 Die ersten Konfektionshäuser, Modemagazine genannt, ließen sich vorwiegend in der Innenstadt, dem allmählich entstehenden Einkaufszentrum, nieder. Hauptsächlich „die Gegend um den Hausvogteiplatz" war der Sitz „der dort alles überstrahlenden Damen-Konfektion"; die Herren-Konfektion hatte ihre Geschäftshäuser hingegen in erster Linie in der „Kaiser-Wilhelmstraße" und in der „Gegend am Neuen Markt" eröffnet. 87 Im Jahre 1837 gründeten die Brüder Mannheimer die erste Firma zur konfektionsei Ebda. 85

L. Baar, Probleme der industriellen Revolution ..., in: W. Fisdier (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme ..., S. 538. 86 Siehe O. Schwarzschild, Die Großstadt als Standort..., in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. F., Bd. 33 (1907), S. 755; L. Baar, Die Berliner Industrie . . ., S. 77. 87 Hans Grandke, Berliner Kleiderkonfektion, in: Hausindustrie und Heimarbeit

74

I. Industrielle Teilgebiete

Berlins

mäßigen Anfertigung von Damenmänteln und Herrenschlafröcken in der Oberwallstraße 6. Im Jahre 1839 eröffneten Rudolf Hertzog in der Breitestraße 15 und H . Gerson am Werderschen Markt 5 ihre Geschäfte; 1840 folgte D. Levin. Im zweiten Gründungsjahrzehnt entstanden als bedeutendste Unternehmen die Geschäfte von Orgler, Fidelmann & Co., die erstmals die Herstellung von Blusen und Kleidern konfektionsmäßig betrieben. Am Ende der fünfziger Jahre kam als zweite wichtige Branche die Wäschekonfektion hinzu. Im Jahre 1858 eröffneten die Brüder Ritter die erste Spezialfabrik für Herrenoberwäsche; 1864 erfolgte dann die Gründung des berühmten Wäschekonfektionshauses von Heinrich Stern.88 Von den Verkaufsmagazinen gelenkt, setzte sich in der Konfektion, der Herstellung von Fertigkleidung und gebrauchsfertigen Wäschestücken auf Vorrat und ohne Bestellung, das Verlagssystem mehr und mehr durch. Der reine Handwerksbetrieb wurde parallel zur Verbreitung der Konfektion zurückgedrängt. Der Konfektionär, auch Großkaufmann oder Fabrikant genannt, ließ zunächst die Modelle der kommenden Saison von bestimmten Modellarbeitern entwerfen; nach diesen wurde die Anfertigung der gesamten Produktion vorgenommen. Die fertigen, von den Zwischenmeistern gelieferten Waren — 1870 beschäftigten sechzig Berliner Konfektionshäuser insgesamt fünfhundert bis sechshundert Zwischenmeister — wurden später den Einkäufern präsentiert. 89 Der Großkaufmann lieferte dem Zwischenmeister die Stoffe, den Besatz, die Knöpfe und bestimmte die Anzahl, Größen und Lieferzeiten der Stücke; der Preis wurde entweder vor oder bei der Auslieferung vereinbart. Der Zwischenmeister, auch Unternehmer genannt, war meist ein gelernter Schneider; er schnitt die Kleidungs- oder Wäschestücke zu. Für die Erledigung der Näharbeiten stellte er ausführende Arbeitskräfte, häufig auch Frauen ein. Entweder wurden die Näharbeiten in den von ihm unterhaltenen Räumen, der sogenannten Werkstatt, die gleichzeitig seine Wohnung war, vorgenommen, oder er vergab sie an Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen, die in ihren eigenen Wohnungen nähten. Nicht selten wurde der Herstellungsprozeß

in Deutschland und Österreich, Bd. 2: Die Hausindustrie der Frauen in Berlin ( = Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 85), Leipzig 1899, S. 134. 88 Siehe F. Feldhaus, Zeittafeln des Berliner Handels..in: Berlins Aufstieg .. S. 325 f., 334, 336; L. Baar, Die Berliner Industrie . . S . 76. 8 » Vgl. O. Wiedfeldt, Statistische Studien . . S . 203 f.

ökonomischer

Strukturwandel

und Entstehung von

75

Standorten

aufgeteilt, einzelne Arbeitsgänge, etwa das Nähen an Nähmaschinen, wurden in der Werkstatt des Zwischenmeisters, andere, besonders Handarbeiten, in Heimarbeit durchgeführt.90 Daneben gab es eine weitere Produktionsorganisation, die in der H a n d des K o n f e k tionärs zentralisiert w a r ; so arbeiteten im Hause Gerson in Geschäftshäusern unter

der Leitung

von

fünf

zwei

Handwerksmeistern

und drei Direktricen im Jahre 1851 etwa 120 bis 150 Arbeiterinnen; außerdem Meister

wurden

mit

weitere

150,

durchschnittlich

in

zehn

schließlich für dieses Geschäft tätig fabrikation

und

bei

der

ihren

Wohnungen

Gesellen waren. 91

Herstellung

arbeitende

beschäftigt,

die

aus-

In der Berliner Wäsche-

von

Phantasieartikeln

und

Posamentierwaren war der Zwischenmeister allgemein ausgeschaltet. Hier trat der Konfektionär zu den hausindustriellen Arbeitskräften in direkte Beziehung. Das Arbeitsmaterial, die zugeschnittene Leinwand, Nähgarn und Zwirn, wurden direkt verteilt und der Stücklohn wie die Lieferzeit vereinbart. Daneben richteten seit dem Ende der

sechziger

Jahre

viele

Engrosgeschäfte

eigene

Zunächst ging man dazu über, die Herstellung Manschetten,

die

größere

Geschicklichkeit

Nähstuben von

ein.

Kragen

und

nicht

mehr

erforderten,

allein hausindustriellen Arbeitskräften zu überlassen. In den N ä h stuben

übernahmen

Kragen

und

männliche

Manschetten,

Arbeitskräfte

die

das

anschließende

Zuschneiden

Näharbeit

der

führten

meist Frauen aus.92 In den letztgenannten Branchen war breitetsten, Arbeit

oft

wurden

herangezogen.

durchschnittlich

zehn

darüber

Die

Arbeitszeit

Stunden,

die Frauenarbeit am ver-

hinaus

Familienangehörige

betrug

einschließlich

in

den

zwei

zur

Werkstätten

Stunden

Pause,

die Lohnzahlung erfolgte hier wöchentlich. I m Heimgewerbe wurde generell

bei

Lieferung

bezahlt.

Die

Arbeitszeiten

waren

jedoch

äußerst unregelmäßig, da sie bei den Frauen von der Haushalts-

90

Ebda.;

v . S t ü l p n a g e l , Über Hausindustrie

Kreisen, i n : Berichte aus der Hausindustrie und in S Alesien, Bd. 4 =

in Berlin

und den nächstgelegenen

in Berlin, Osnabrück, im

Die deutsche Hausindustrie

Fichtelgebirge

( = S c h r i f t e n des Vereins f ü r

Sozialpolitik, Bd. 42), Leipzig 1890, S. 12 f.; L. Baar, Die Berliner

Industrie...,

S. 78 f. 91

V g l . G . Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe ..., S. 646.

9i

J o h a n n e s Feig, Hausgewerbe und Fabrikbetrieb

in der Berliner

Wäsche-Indu-

strie ( = Staats- und socialwissensdiaftlidie Forschungen, Bd. 14, H. 2 = H. 61), Leipzig 1896, S. 4 f.

76

I. Industrielle

Teilgebiete

Berlins

arbeit, bei den mitarbeitenden Kindern vom Schulbesuch unterbrochen wurden. 93 Je mehr sich die Konfektion durchsetzte, desto mehr verbreitete sich die Beschäftigung weiblicher Arbeitskräfte, die sich somit in Berlin beträchtlich über dem preußischen Durchschnitt bewegte.94 Diese weiblichen Beschäftigten rekrutierten sich aus verschiedenen Schichten. Es waren die weiblichen Dienstboten, die einen großen Anteil stellten,95 es war aber auch ein beachtlicher Anteil nicht verheirateter Töchter aus den unteren Mittelschichten, „von Töchtern aus dem Krämer-, Handwerker- und Beamtenstand",9® und natürlich von Frauen aus der Arbeiterschicht, von Ehefrauen und Töchtern der Fabrikarbeiter und Tagelöhner, die mit ihrer Arbeit zum Lebensunterhalt der Familie beitrugen. Alleinstehende Arbeiterinnen lebten unter kärglichen Umständen häufig bei den Zwischenmeistern, andere wohnten in Aftermiete oder bei Verwandten. 97 In einer eigenen Wohnung, von denen häufig ein oder mehrere Zimmer abvermietet wurden, lebten meist nur Witwen, Geschiedene und Eheverlassene, die nun für ihren Lebensunterhalt aufkommen mußten. Die geringe Qualifikation, die in diesem Gewerbezweig erforderlich war, befähigte eine große Zahl nicht ausgebildeter Frauen, im Bekleidungsgewerbe tätig zu sein. Da das Angebot billiger und williger Arbeitskräfte in der bevölkerungsmäßig so stark gewachsenen Stadt groß war, stieg die Zahl der weiblichen Beschäftigten ständig. Das große Angebot wie die geringen Anforderungen an die berufliche Qualifikation drückten das Lohnniveau, so daß die Beschäftigten in den Sparten des Bekleidungsgewerbes an unterster Stelle der Lohnskala rangierten und zu den Gruppen gehörten, die in größter sozialer Not lebten.98

93 Vgl. v . Stülpnagel, Über Hausindustrie..., i n : Beridite aus der Hausindustrie ..., Bd. 4, S. 9 ff., 14, 17 f f . 94 Richard Boeckh, Wirtschafts-Statistik des Regierungs-Bezirks Potsdam mit der Stadt Berlin, Berlin 1861, S. 50 ff. 95 Vgl. W . Becker, Die Bedeutung der nichtagrarischen Wanderungen . . . , i n : Studien zur Geschichte der industriellen Revolution ..., S. 231. 9 8 Siehe G. Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe ..., S. 648. 9 7 Vgl. H . Grandke, Die Berliner Kleiderkonfektion ..., i n : Hausindustrie .. Bd. 2, S. 297; v. Stülpnagel, Über Hausindustrie ..., i n : Berichte aus der Hausindustrie ..., Bd. 4, S. 11. 9 8 H . Grandke, Die Berliner Kleiderkonfektion..., i n : Hausindustrie ..., Bd. 2, S. 297.

ökonomischer Strukturwandel und Entstehung von Standorten

77

Während sich in der Luisenstadt, der Friedrichstadt und dem Stralauer Viertel die Verdichtung der Erwerbsstandorte in Form neuer Niederlassungen von Gewerbetreibenden vollzog, während sich auch der nördliche Industriestandort ausbreitete und verdichtete, begannen sich Betriebe des Metallgewerbes und des Maschinen-, Instrumenten- und Apparatebaus in der Luisen- und Friedrichstadt anzusiedeln. Doch waren es hier in der großen Mehrzahl kleine mechanische Werkstätten, von denen nur wenige zu größeren Firmen aufstiegen. Die 1824 gegründete Neusilberfabrik Henniger & Co. ließ sich in der Alten Jacobstraße 106 nieder; 1844 wurde die Firma Guiremand für kunstgewerbliche Arbeiten aus Messing, Kupfer, Zinn und anderen Metallen errichtet. Zahlreicher waren die Gründungen in den fünfziger und besonders in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als sich in zunehmendem Maße mechanische und Edelmetallfabriken niederließen, wie die 1865 eröffnete Fabrik für Beleuchtungsgegenstände aus Bronze, Messing, Zink und Schmiedeeisen von C. Kramme in der Gitschiner Straße 76—77, oder die erst 1870 gegründete Bronzewarenfabrik von Arndt und Marons in der Oranienstraße 12 und die Bronzefabrik von Spinn & Sohn in der Wassertorstraße 9 . " Unter den feinmechanischen Unternehmen war besonders die Lampenfabrikation vertreten; eines der bekanntesten Unternehmen war die 1855 in der Alexandrinenstraße gegründete und 1862 in die Prinzenstraße 26—27 verlegte Firma von Wild & Wessel. 100 Nach der Einführung der Nähmaschine in Berlin und mit der Gründung der ersten Nähmaschinenfabrik von Beermann, Am Park vor dem Schlesischen Tor, im Jahre 1855, 1 0 1 bildete sich der Hauptstandort der Nähmaschinenfabrikation in der südöstlichen Friedrichstadt und in der Luisenstadt heraus, in den Stadtteilen also, in denen die größte Anzahl ihrer Produkte von den im Bekleidungsgewerbe Arbeitenden als Produktionsmittel benutzt wurde. So waren im Jahre 1861 von den etwa 109 in Berlin existierenden Maschinenfabriken 21 Firmen oder 19 °/o in diesem Stadtgebiet ansässig, 1868 befanden sich dort mit 42 Fabriken 23 °/o aller Maschinenbauanstalten, von denen zehn als Nähmaschinenfabriken

Vgl. Katharina Altmann (Hrsg.), Die Luisenstadt, Berlin 1927, S. 102 ff. Ebda. 191 Siehe F. Feldhaus, Zeittafeln des Berliner Handels..., in: Berlins Aufstieg..., S. 333; Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger ... auf das Jahr 1861 ..., T. 2, S. 219; Berlin und seine Arbeit..S. 217. 99

199

78

I. Industrielle Teilgebiete Berlins

bezeichnet wurden. 1 0 2 Die Verteilung dieser Fabrikationsstätten über die Straßen dieser Stadtviertel war viel diffuser als die der Firmen im Maschinenbaustandort des nördlichen Berlin. Einer der Gründe dafür war die in den sechziger Jahren schon weit fortgeschrittene Bebauung in weiten Teilen der südlichen Vorstädte. Die Konzentration von Betrieben der Metall- und der medianischen Industrie in der Friedrich- und der Luisenstadt kann als eine Sukzession der Standorte insofern verstanden werden, als sie eine Folge-Industrie der zurückgehenden Textilindustrie und der seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts stagnierenden Kattundruckerei darstellte. Daneben aber führte diese Standortbildung zu einer Intensivierung der gewerblichen Standorte in diesen Stadtteilen und löste eine Dynamisierung der städtischen Struktur durch die Rückbildung bestimmter und das Entstehen neuer Standorte aus, die von dieser Zeit an immer typischer für die moderne industrielle Großstadt wurde. Das Problem der innerstädtischen Standortwahl ist komplizierter als dasjenige des gesamtstädtischen Standortvorteils. Während sich für den Industriestandort Berlin eine Reihe günstiger Voraussetzungen und Vorteile erkennen lassen, erscheint die Verteilung innerhalb des städtischen Funktionsgefüges doch weitgehend von verschiedenen, unterschiedlich gewichtigen Momenten bestimmt zu sein. Viele der in der einschlägigen Literatur aufgeführten Standortmerkmale erweisen sich als nicht stichhaltig. Generell tendierten die größeren Betriebe zur Stadtrandlage, das bedeutet zur Niederlassung in der Verstädterungszone oder im Umland. Die anfängliche Lage vieler Maschinenfabriken und Eisengießereien am Wasserlauf der Panke war für den technischen Fertigungsprozeß entscheidend, audi dürfte die verkehrsgünstige Lage in der Nähe der Stettiner Bahn für viele dieser Firmen attraktiv gewesen sein. Die Nähe der Königlichen Eisengießerei in der Invalidenstraße wird vielfach als einer der wichtigsten Standortvorteile bezeichnet, 103 weil die „jungen Werke sich keine eigene Gießerei leisten konnten" und so „gezwungen" Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger... auf das Jahr 1861..., ner Wohnungs-Anzeiger ... auf das Jahr 1868 ..., S. 307. ios Vgl. Das Fabrikwesen Berlins..., S. 17; R . Heiligenthal, der Berliner Industriesiedlung ..., in: Berliner Wirtschaftsberichte, 5, S. 50; Alfred Zimm, Die Entwicklung des Industriestandortes der geographischen Lokalisation bei den Berliner Industriezweigen Bedeutung sowie die territoriale Stadtentwicklung bis 1945, Berlin 101

S. 219;

Allgemei-

Entwicklungslinien 2. Jg. (1925), Nr. Berlin. Tendenzen von überörtlicher 1959, S. 26.

ökonomischer

Strukturwandel

und Entstehung von

Standorten

79

waren, sich am Oranienburger Tor nahe der in der Invalidenstraße liegenden Königlichen Eisengießerei „anzusiedeln".104 Als Beweis wird angeführt, daß bei der damaligen schlechten Verkehrslage ein weiter Transport von Gußstücken aus der Königlichen Eisengießerei unrationell gewesen wäre.105 Es wird dabei jedoch übersehen, daß, nachdem F. A. Egells die erste private Eisengießerei gegründet hatte,106 sowohl Freund im Jahre 1837 wie Borsig und Wöhlert 1842 und Hoppe 1844107 ebenfalls eigene Eisengießereien errichteten, die ihnen die Unabhängigkeit von der Königlichen Eisengießerei sicherten. Als weiterer Standortvorteil wird die im ehemaligen Voigtland und im benachbarten Spandauer Viertel vorhandene Arbeitskräftekonzentration, besonders das große Angebot an Webern aus der niedergehenden Textilindustrie angesehen, also von Arbeitskräften, die in mechanischer Arbeit vorgebildet waren.108 Es dürfte sich dagegen jedoch als Argument anführen lassen, daß die potentielle, handwerklich vorgebildete Textilarbeiterschaft audi in anderen Stadtteilen anzutreffen war, ja, daß die neuentstehenden großen Arbeitsstätten in zentraler Lage sogar leichter von einer größeren Anzahl von Arbeitern zu erreichen gewesen wären. Für die Herausbildung der Standorte des Bekleidungsgewerbes in frühindustrieller Zeit wird vielleicht nicht zu Unrecht die Nähe der Kattunfabriken und deren für den Fertigungsprozeß so günstige Lage am Ufer der Spree angesehen, doch dürften sich auch hier andere Momente als gravierender erweisen.109 Die Orientierung auf die entstehenden Eisenbahnen, das zukunftsträchtige Massentransportmittel, kann zu den entscheidenden innerstädtischen Standortfaktoren gerechnet werden. Zwar gehörte die 1843 eröffnete Stettiner Bahn nicht zu den ersten Berliner Bahnen, und mehrere spätere Großunternehmen, wie Borsig, Pflug und Wöhlert, hatten sich bereits in den Jahren zuvor in der Chausseestraße niedergelassen; doch geschah dies vermutlich in Kenntnis des Projekts oder zur Zeit der Durchführung des Baus. Jedenfalls erwies sich die unmittelbare 104

Siehe R. Heiligenthal, Entwicklungslinien der Berliner Industriesiedlung..., in: Berliner Wirtschaftsberichte, 2. Jg. (1925), Nr. 5, S. 50. ios Vgl. A. Zimm, Die Entwicklung des Industriestandortes Berlin ..., S. 26. ιοβ ρ Feldhaus, Zeittafeln des Berliner Handels..., in: Berlins Aufstieg..., S. 322. 107 Siehe H . Rachel / P. Wallidi, Berliner Großkaufleute ..., Bd. 3, S. 182. ιοβ Vgl. A. Zimm, Die Entwicklung des Industriestandortes Berlin .. ., S. 26. 109 C. Matschoß, Die Berliner Industrie ..., S. 733.

1. Industrielle Teilgebiete Berlins

80

Nachbarschaft der Stettiner Bahn für die Entwicklung der Werke als gravierender Standortvorteil. In den späteren Jahren verfügten die in der Chaussee- und Ackerstraße ansässigen Betriebe von Borsig, Pflug, Schwartzkopff und Wöhlert über direkte Anschlüsse zur Stettiner Bahnlinie. Die Trassen führten vom Werksgelände zu den Gleisen der großen Fernverkehrslinie und ermöglichten den Transport von Rohmaterialien und Fertigprodukten. 110 Den Raum- und Bodenkosten muß für die innerstädtische Standortwahl der einzelnen Betriebe, Werkstätten und Wohnungen größere Bedeutung beigemessen werden, als es bisher geschehen ist, während sie dagegen „auf die Gesamtwirkung der Standorte der Industrie ohne nennenswerten Einfluß" 111 blieben. Die Bodenpreise waren an der Peripherie Berlins in damaliger Zeit weit niedriger als in den zentralen Stadtbereichen, wo die Grundrentenbildung in vollem Umfang eingesetzt hatte. 112 Da der Grund und Boden infolge der Errichtung von Gebäuden zu Wohnzwecken, Geschäftsund Verwaltungseinrichtungen aller Art eine intensivere Nutzung gestattete und auf diese Weise höhere Erträge erzielt werden konnten, dürfte der niedrigere Bodenpreis ein wichtiger Faktor bei der Wahl der Stadtrandlage für flächenbedürftige Betriebe gewesen sein. Ihm darf erhöhte Bedeutung beigemessen werden, wenn das Anfangskapital verhältnismäßig gering war, 113 wie etwa bei Borsig und wahrscheinlich auch bei anderen, aus dem Handwerk und als Faktoren aus kleinen mechanischen Werkstätten und Fabriken ausscheidenden Unternehmern. 114 Deshalb mußte versucht werden, die Kosten für den Ankauf von Grund und Boden möglichst niedrig zu halten. Diese Möglichkeit war bei der Niederlassung auf vorstädtischem Grund und Boden gegeben, wo der Preis etwa zwischen einem Drittel und einem Viertel niedriger war als in den inneren Stadtteilen; so hatte zum Beispiel ein Morgen Bauland in der Kochstraße einen Wert von 36 000 Thalern, vor den Toren der Stadt 110 Ingenieurwerke in und bei Berlin. Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Vereins Deutscher Ingenieure, Berlin 1906, T. 2, S. 132, 133, 137, 141, 142, 149. 1 1 1 Siehe H. Vowerg, Das industrielle Standortproblem, Frankfurt/Main 1935, S. 51. 112

V g l . ZWEITER TEIL, ERSTES KAPITEL, S. 1 8 7 , DRITTES KAPITEL, S. 2 1 9 f f .

Zur Frage der Herkunft der Unternehmer vgl. Jürgen Bergmann, Stabilität und Wandel des Handwerks in frühindustrieller Zeit. Das Berliner Beispiel, Berlin 1973. 114 Vgl. audi H. Radiel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute ..., Bd. 3, S. 182. 113

ökonomischer

Strukturwandel

und Entstehung von Standorten

81

jedoch nur einen Wert von 10 000 Thalern. 115 Um 1870 verzeichneten die bebauten Grundstücke in der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt, abgesehen vom Wedding, die bei weitem niedrigsten Kaufpreise, denen diejenigen in der Luisenstadt, im Stralauer Viertel, im Spandauer Viertel und der Tempelhofer Vorstadt mit einigem Abstand folgten. Die Werte für unbebaute Grundstücke lagen mit Ausnahme des Stralauer Viertels, wo sie sehr niedrig waren, auf einheitlicherem Niveau, an dessen unterer Grenze sich die Grundstückspreise der genannten Vorstädte befanden. Damit boten alle peripheren Stadtbereiche diesen Vorteil. In enger Verbindung mit den niedrigen Bodenpreisen müssen die verhältnismäßig großen Baulandreserven in den Vorstädten und in den städtischen Randbezirken allgemein hervorgehoben werden. Sie kamen dem die festgesetzten Produktionsausweitungen begleitenden Drang zur räumlichen Expansion der Fabrikgelände entgegen. Ein weiteres partikulares Moment war die Durchführung der Agrarreformen und der Separation. Die Ablösung der Hütungsberechtigungen und die Separation vollzogen sich in den einzelnen Stadtrandteilen in unterschiedlichen Zeitabständen. Auf den Berliner Hufen, der großen Ackerflur im Norden der Stadt vor dem Hamburger, Rosenthaler, Schönhauser und Prenzlauer Tor, lief das Separationsverfahren von 1819 bis 1828; auf der cöllnischen Feldmark im Süden der Stadt war es nirgendwo vor 1845 abgewickelt.116 Auf diese Weise konnten im Norden der Stadt wesentlich früher größere Grundstücke parzelliert und verkauft werden; darüber hinaus bestand die Möglichkeit, das erworbene Grundstück eventuell durch Ergänzungskäufe zu erweitern. Wie stark der tatsächliche räumliche Expansionsdrang vieler Betriebe war, beweisen die fast jährlich erfolgenden An-, Auf- und Neubauten für neue Maschinenhäuser, Lagerräume etc. auf dem Gelände der einzelnen Fabriken.117 Diese Erweiterungsmöglichkeiten gab es in den südlichen Vorstädten erst in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre. Vor der Separation konnte nur auf kleinen, in Privateigentum befindlichen Parzellen gebaut werden. Dies mag ein Grund dafür sein, daß mehr Wohn-

115 C. W. F. Dieterici, Statistische Übersidit . . . . in: Berliner Kalender Berlin und seine Entwicklung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirtschaft stik für 1872, 6. Jg. (1872), S. 106 ff. 116 A.a.O., S. 214; P. Clauswitz, Die Städteordnung ...,S. 167 f. 117

Β

V g l . ZWEITER TEIL, DRITTES KAPITEL, S . 2 2 3 f f .

THLENEL

.... S. 189; und Stati-

82

I. Industrielle

Teilgebiete

Berlins

häuser errichtet wurden, in denen sich Gewerbetreibende niederließen, die auf kleinem Raum in der Wohnung und in der Werkstätte produzierten, und daß sich mittelgroße Betriebe erst nach der Jahrhundertmitte zahlreicher ansiedelten. Doch läßt sich die Entstehung der beiden Schwerpunkte in seiner Ursächlichkeit nicht völlig aus rationalen Gründen erklären; denn es scheint „nur in den seltensten Fällen" ein Standort — besonders innerhalb eines komplizierten städtischen Funktionsgefüges — „tatsächlich auf der Ubereinstimmung von Standortvorteilen und Standortvoraussetzungen aufgebaut worden zu sein". 118 Vielmehr sind stets irrationale Momente und Zufälle im Spiel gewesen, etwa Erbschaften, günstige Angebote gerade zum Verkauf ausgeschriebener Grundstücke oder geeigneter Baulichkeiten. 119 Derartige partikulare Faktoren vermögen die auf rationalen Kriterien aufgebauten Regeln für die Standortbildung zu durchbrechen oder müssen als ein variabler Faktor eingeschätzt werden. Wenn auch die zeitlich parallel verlaufende Bevölkerungskonzentration nicht ausschließlich in einen Kausalzusammenhang mit der industriellen Standortbildung gebracht werden kann, so w a r für die Entfaltung aller Zweige des gewerblichen Lebens und für die Herausbildung der räumlichen Struktur dodi die Wechselwirkung von Industrieansiedlung und Bevölkerungszunahme ebenso entscheidend wie für die fortschreitende Erweiterung und Verdichtung der Standorte und für ihre Verankerung im gesamtstädtischen Wirkungsbereich. Denn „funktionsstarke Gebiete" besitzen die Eigenschaft, „weitere Funktionen, die den bereits vorhandenen zugewandt sind", anzuziehen. 120 Sie schaffen sich auf diese Weise eigene Einflußbereiche, die durch ihr Hineinwachsen und ihre Einordnung in den größeren Stadtraum eine funktionale Differenzierung hervorrufen und das gesamte Strukturbild verändern. Unter solchen, von den industriellen Unternehmen der Kattundruckerei und der Maschinenindustrie ausgehenden Einflüssen kann die Entstehung des Bekleidungsstandorts mit seinem hohen Anteil an zugewanderter Bevölkerung und der Niederlassung einer überdurchschnittlich gro-

118

E . N e e f , Das Standortproblem

...,

i n : Forschungen

und Fortschritte,

24. Jg.

(1948), H. 19/20, S. 243. 119

V g l . ZWEITER TEIL, ERSTES K A P I T E L , S . 1 8 2 f . ,

120

S i e h e E . N e e f , Das

Standortproblem...,

24. Jg. (1948), H. 19/20, S. 242.

187.

i n : Forschungen

und

Fortschritte,

ökonomischer Strukturwandel und Entstehung von Standorten

ßen

Zahl

von

Arbeitern,

die

in

der

83

Metallverarbeitung

und

mechanischen Berufen tätig waren, in den nördlichen und

in

später

auch in den südlichen Vorstädten verstanden werden. Denn die Tendenz der Arbeiterschaft, „möglichst nahe bei ihren Werkstätten zu wohnen", ist bis in die siebziger Jahre zu verfolgen, 121 wobei der Mangel

an

innerstädtischen

Verkehrsmitteln

und

ihre

ansonsten

hohen T a r i f e sicherlich maßgeblich beteiligt waren. Für die in den großen Unternehmen Beschäftigten war die Fabrik der Arbeitsplatz, in der Wohnung spielte sich das Familienleben ab. Die räumliche Entfernung zwischen beiden Orten war unterschiedlich groß. Beide Funktionen waren jedoch nie in einem Haus vereinigt, nur selten sogar auf einem Grundstück, nämlich dann, wenn der Fabrikbesitzer, einige Angestellte und Arbeiter im Vorderhaus des

Fabrikgeländes

wohnten;

die

große

Masse

der

Beschäftigten

lebte in fast reinen Wohnbauten in der näheren und ferneren U m gebung. I m waren

verlagsmäßig

Wohn-

und

betriebenen

Arbeitsort

Bekleidungsgewerbe

räumlich

miteinander

dagegen

verbunden.

Wurde in der Werkstätte des Zwischenmeisters genäht, befand sich der

Arbeitsplatz

waren

beim

in

der

Wohnung

hausindustriellen

des

Arbeiter

Zwischenmeisters. Wohn-

und

Ebenso

Arbeitsstätte

identisch. Bei den kleinen mechanischen Werkstätten waren Arbeitsund Wohnplatz zwar nicht in denselben Räumen vereinigt, aber viele der Betriebe

siedelten

Hofgebäuden

an, so

sich in Etagen daß

die

von

Trennung

Wohnhäusern

beider

oder

in

Funktionsbereiche

nur gering war. D i e Ausbildung von Arbeits- und Wohnorten beweist, in welch starkem Maße jede Lokalisation

von

bestimmten

quantitativen Ausmaßen an als ein „Impuls" wirkt, „der die kulturlandschaftliche Entwicklung anregt", 122 die sich in der Zeit frühen Industrialisierung

der

in hervorragendem Maße in der Entste-

hung getrennter Arbeits- und Wohnorte in bestimmten Bereichen des sekundären Sektors innerhalb größerer Städte zeigte. Die

entscheidende

Phase

der

städtischen

Expansion

und

Strukturwandels löste die Ansiedlung größerer gewerblicher

des

Unter-

nehmen auf dem Boden der Vorstädte aus, die dadurch noch in der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts aus dem Umland in das Kern-

121

R. Heiligenthal, Entwicklungslinien der Berliner Industriesiedlung ..., in: Berliner Wirtschaftsberichte, 2. Jg. (1925), N r . 5, S. 50. 122 E. Neef, Das Standortproblem..., in: Forschungen und Fortschritte, 24. Jg.

(1948), H . 19/20, S. 243. 6*

84

I. Industrielle Teilgebiete Berlins

gebiet der entstehenden Stadtregion integriert wurden. Die Großbetriebe waren der zukunftsträchtige Bereich der modernen Wirtschaft. Von diesem Träger der fortschrittlichen Technologie und des wirtschaftlichen Fortschritts gingen die erwähnten Wandlungen in der Stadt aus, die bis zur Gegenwart die Struktur der Städte mehr und mehr bestimmen. Die räumliche Nähe oder gar die Identität von Arbeitsplatz und Wohnung in der Heimindustrie und im Kleinhandwerk sind ihrer ökonomischen Organisation nach als ein Relikt der vorindustriellen Wirtschaft anzusehen. Durch die von den ökonomischen Veränderungen ausgelöste Integration der Vorstädte in die Kernstadt der sich bildenden Stadtregion um die Mitte des 19. Jahrhunderts erweiterte sich die ganze Stadt. In den folgenden beiden Jahrzehnten verstärkte sich die gewerbliche Konzentration und wurde gleichzeitig von einer Dezentralisation überlagert; denn in zunehmendem Maße wechselten namentlich größere Betriebe ihre Lage und zogen von der Kernstadt in die Außenzonen der nun ausgebildeten Stadtregion und in das Umland, um sich wiederum am Stadtrand anzusiedeln. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung in der Zeit nach 1873, in der sich die ehemaligen Vorstädte immer mehr in innerstädtische Wohngebiete verwandelten.

ZWEITES

KAPITEL

Die Veränderungen in der Sozialstruktur und die Ausbreitung neuer Formen der "Wohngemeinschaft Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist eine Bevölkerungskonzentration in bestimmten Gebieten Deutschlands, insbesondere in jenen Städten zu beobachten, die sich zum Standort der stark expandierenden Wirtschaftszweige entwickelten. Die Bevölkerungsballung war mit dem gleichzeitigen starken Bevölkerungswachstum eng verflochten, wenngleich sich beide Faktoren allgemein nicht notwendig wechselseitig bedingen. Die einzelnen Phasen stärkerer oder geringerer Bevölkerungszunahme unterscheiden sich von Stadt zu Stadt. „Die plötzliche Geburtsperiode der modernen deutschen Großstädte", das heißt der große Aufschwung,128 begann bei den meisten Städten in den sediziger Jahren des 19. Jahrhunderts und erreichte sein Maximum zwischen 1871 und 1895. 1 2 4 Die preußische und deutsche Hauptstadt Berlin war die bevölkerungsmäßig am frühesten und stärksten wachsende Stadt Mitteleuropas; ihr Bevölkerungswachstum lag zeitlich nur hinter dem der vergleichbaren Großund Hauptstädte Westeuropas London und Paris. 125 Im Bevölkerungswachstum Berlins lassen sich im Zeitraum zwischen 1801 und 1875 vier Phasen unterscheiden: ein relativ langsamer, allmählich ansteigender Zuwachs zwischen 1801 und 1837, 1 2 3 Alfred Weber, Die Entwicklungsgrundlagen der großstädtischen Frauenhausindustrie . . i n : Hausindustrie..., Bd. 2, S. X X I V , bezieht diese Periode nur auf die Zeit seit der Mitte der sechziger Jahre bis 1875; Karl Erich Born, Der soziale und wirtschaftliche Strukturwandel Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Moderne deutsche Sozialgeschichte ( = Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 10), Köln - Berlin 1966, S. 273. 1 2 4 Vgl. u. a. Hans Mauersberg, Wirtschafts- und Sozialgeschichte zentraleuropäischer Städte in neuerer Zeit. Dargestellt an den Beispielen von Basel, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover und München, Göttingen I960, passim. 125 Dieterici bringt vergleichbare Zahlen für 1831 bis 1844. Siehe C. F. W. Dieterici, Statistische Übersicht..., in: Berliner Kalender..., S. 191—193; vgl. auch die Arbeiten von Asa Briggs, Victorian Cities, London 1964; T . W. Freeman, The Con-

I. Industrielle Teilgebiete

86

Berlins

dem bis 1 8 4 6 eine beschleunigte Z u n a h m e folgte. V o n 1 8 4 6 bis 1 8 5 5 trat

ein

Rückschlag

im

Bevölkerungswachstum

ein,

der

bis

1858

wieder ausgeglichen w a r . V o n 1 8 5 8 bis 1 8 7 5 n a h m der Wachstumsprozeß

ungeahnte

Ausmaße

an

und

unterschied

sich

quantitativ

v o n der bisherigen Z u n a h m e der Einwohnerzahl. Bis 1 8 7 1 die Zuwachsraten danach

erhöhten

etwa

gleich hoch, v o n

1871

bis 1 8 7 5

sie sich abermals in beträchtlichem

blieben

und

Maße.

audi Dabei

hatte sich die Einwohnerschaft v o n 1 7 3 4 4 0 Personen im J a h r e 1 8 0 1 auf 3 9 7 0 0 1 im J a h r e 1 8 4 6 v e r g r ö ß e r t und w a r bis 1 8 7 5 auf 9 6 6 8 5 8 gestiegen. 1 2 6 A u f den Zusammenhang zwischen den wirtschaftlichen turen und der Bevölkerungsbewegung, Mobilität

oder

sen.

Zugrundelegung

Die

Kurve

der

rungssalden

der

Wanderungssalden, der

wirtschaftlichen weitgehend

schwungs wuchs

gemessen wurde

mehrfach

Wanderungssalden

Wechsellagen

glich:

die Bevölkerung

In

der

Zeiten

der

Städte

Konjunk-

an der H ö h e ergab,

Kurve

der

daß

die

Wande-

wirtschaftlichen durch

der

hingewie-

Auf-

Zuwanderung,

w ä h r e n d in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs eine A b n a h m e

der

Zuwanderung oder gar ein Rückgang der Bevölkerung zu verzeichnen w a r . 1 2 7 U m

angesichts zahlreicher differierender Ergebnisse

am

urbations of Great Britain, Manchester 1959; R. Price Williams, The Population of London. 1801—1861, in: Journal of the Statistical Society (1885); Louis Chevaliers, La formation de la population parisienne au 19e siècle ( = Institut national d'études démographiques. Travaux et documents, Nr. 10), Paris 1950; H. P. Chombart de Lauve / S. Antoine / J . Bertin / L. Couvreux / J . Gauthier, Paris et l'agglomération parisienne, Bd. 1 u. 2, Paris 1952. 126 Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 ..., H. 1, S. 25, 30 f. Die hier veröffentlichten Angaben beziehen sich auf die Stadt Berlin innerhalb ihrer kommunalen Grenzen, das heißt, sie schließen ab 1801/22 die Bevölkerung außerhalb der Ringmauer und der umgebenden Vorstädte mit ein. Dadurch ist die Gewähr dafür gegeben, daß das tatsächliche Wachstum der Großstadtbevölkerung erfaßt wird, weil die Zunahme an der Peripherie, das heißt außerhalb der Stadtmauern, mit berücksichtigt werden kann. Ferner zählt die genannte Statistik auch die „Bevölkerung der Ortschaften im weiteren Polizeibezirk von Berlin" auf, wodurch es möglidi ist, das Bevölkerungswachstum der entstehenden Agglomeration Berlin statistisch zu erfassen und so, zumindest für Berlin, die Feststellung Walter Beckers, daß das „tatsächliche Wachstum der Großstädte und Großstadtbevölkerung . . . statistisch nicht erfaßt" sei, zu korrigieren; siehe W. Becker, Die Bedeutung der nichtagrarisdhen Wanderungen..., in: Studien zur Geschichte der industriellen Revolution ..., Bd. 1, S. 219. 117 Emmy Reich, Der Wohnungsmarkt in Berlin von 1840—1910 ( = Staats- und socialwissensdiaftlidie Forschungen, H. 164), München - Leipzig 1912.

Änderungen

der Sozialstruktur

und neue

Wohngemeinschaften

87

Gesetz der zunehmenden Wanderungsgewinne in Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs und der Wanderungsverluste in Phasen wirtschaftlichen Rückgangs festhalten zu können, wurden die zahlreich feststellbaren Abweidlungen lediglich als lokale Besonderheiten erklärt. 128 Da in Zeiten des Aufschwungs der erhöhten Zuwanderung in bestimmten Regionen eine erhöhte Abwanderung in anderen Gebieten gegenüberstand, wurde von anderer Seite dem Kriterium des Ausmaßes der Mobilität der Vorzug gegeben und besonders für stark industrialisierte Länder mit hoher Städtedichte den Salden der Wanderungsbewegung gegenüber als brauchbareres Konjunktursymptom hingestellt.129 Darüber hinaus wurde eine „Abhängigkeit des Mobilitätsgrades und der Konjunkturempfindlichkeit der Mobilität von der Struktur der Städte", 130 von ihrer Größe und ihrem Agglomerationsgrad konstatiert. Ebenso wurde eine Abhängigkeit von der Art der vorherrschenden Industrie, insbesondere bei einer Einseitigkeit der industriellen Erzeugung angenommen.181 Bei einer isolierten Betrachtung Berlins würde die Heranziehung der Mobilität zur Beurteilung des Zusammenhangs zwischen der zyklischen Wirtschafts- und Bevölkerungsbewegung insofern in die Irre führen, als die zahlenmäßig starke Vorortwanderung als Abwanderung in Erscheinung träte, in Wirklichkeit bedeutete sie lediglich ein Verlassen der engen kommunalen Grenzen, nicht aber des städtischen Funktionsgefüges und Wirtschaftsraums. Da die Bevölkerungszunahme fast ausschließlich auf dem Wanderungsgewinn beruhte, treten die Wanderungssalden in der Kurve des Bevölkerungswachstums deutlich hervor und erweisen sich als adäquater Indikator der Bevölkerungsbewegung. Im ganzen Zeitraum zwischen 1822 und 1875 hatte Berlin jährliche Wanderungsgewinne zu verzeichnen. Zwischen 1822 und 1837, der längsten Abschwungperiode und der Zeit größter wirtschaftlicher und sozialer Not in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war die Bevölkerungszunahme dennoch stärker als in der kurzfristigen Rezession der fünfziger Jahre. Mit der befristeten zyklischen Aufschwungphase von der

1!8 Arthur Spiethoff, Boden und Wohnung in der Marktwirtschaft, der Rheinlande, Jena 1934. 129 Rudolf Heberle / Fritz Meyer, Die Großstädte im Strome der rung, Leipzig 1937. "» A.a.O., S. 16. 131 A.a.O., S. 17.

insbesondere Binnenwande-

88

I. Industrielle Teilgebiete Berlins

Mitte der dreißiger Jahre bis zur Mißernte von 1846 ging die Periode größter Bevölkerungszunahme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einher. Erst um 1860, in der Blüte der Hochschwungepoche von 1848/49 bis 1873, erreichte der Bevölkerungsgewinn wieder diese Höhe, um von nun an bis 1875 ständig zuzunehmen. Es läßt sich somit eine gewisse Koinzidenz der Phasen einer unterschiedlichen Höhe der Bevölkerungszunahme mit dem Verlauf der Wechsellagen der Wirtschaft nachweisen, und dies bedeutet einen engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung und Zunahme der Berliner Bevölkerung und dem wirtschaftlichen Wachstumsverlauf in seinen einzelnen Phasen. 132 Die Zusammenballung einer derart stark wachsenden Einwohnerschaft in Berlin verlieh, unter dem generellen Aspekt der räumlichen Veränderungen in der Großstadt gesehen, dem Problem ihrer Verteilung innerhalb des großstädtischen Raumes Vorrang vor anderen Fragen, die die wachsende Bevölkerung betrafen. Im Gegensatz zur Bevölkerung innerhalb der Stadtmauer wiesen die Vorstädte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, mit Ausnahme des Voigtlandes, das vor dem Rosenthaler und dem Hamburger Tor gelegen war, neben niedrigen Bevölkerungszahlen eine überwiegend agrare Bevölkerungsstruktur auf. Während sich in ganz Berlin dann aber von 1813 bis 1875 die Bevölkerungszahl nur etwa vervierfachte, verzeichneten die Vorstädte insgesamt eine Zunahme um nahezu das Sechzehnfache. Nahmen die Vorstädte 1831 nur gut 7 % der gesamten Berliner Bevölkerung auf, wohnten 1875 dort über 30 % . m Unter allen Vorstädten verzeichneten die Rosenthaler und die Oranienburger Vorstadt im Norden, die Luisenstadt und das Stralauer Viertel im Süden die höchsten Einwohnerzahlen. Bemerkenswert ist das enorme Wachstum der beiden südlichen Vorstädte, die 1861 allein über die Hälfte aller vorstädtischen Bewohner aufgenommen hatten. Weniger das Bevölkerungswachstum dieser Vor132 Yg[ Jen Aufsatz von Karin Weimann, Bevölkerungsentwicklung und Frühindustrialisierung in Berlin 1800—1850, in: O. Büsch (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung..., S. 151—190, in dem besonders hervorgehoben wird, daß die „Zunahme wie die Entwicklung der Berliner Bevölkerung" in diesem Zeitraum „als eine Industrialisierungsfolge anzusprechen" sei. 133 Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 ..., H. 1, S. 30—31, 113—116; Die Resultate der Berliner Volks-Zählung vom 3. December 1864, Berlin 1866, S. 1—8.

Änderungen

der Sozialstruktur

und neue

Wohngemeinschaften

89

Städte im allgemeinen als die Phasen unterschiedlicher Invasionsheftigkeit in den einzelnen Stadtvierteln wurden weitgehend von der baulichen Erschließungsmöglichkeit und von der wirtschaftlichen Standortbildung bestimmt. Durch den Abschluß der Separationsverhandlungen und der Ablösungsverfahren der Erbberechtigungen wurde bebaubares Gelände geschaffen, das sehr rasch mit größeren Bauten aller Art besetzt werden konnte.134 Die Friedrichstadt, die frühzeitig über einen Fluchtlinienplan verfügte, hatte im gesamten Zeitraum zwischen 1841 und 1875 den am regelmäßigsten wachsenden Zuzug zu verzeichnen, der nur den für Gesamtberlin beobachteten Schwankungen unterlag. In der Luisenstadt ist der Wanderungsgewinn einige Jahre nach dem Abschluß der Separation und der Erarbeitung eines Fluchtlinienplans im Jahre 1845 wie auch zur Zeit des allgemeinen beschleunigten Wachstums nach 1855 in die Höhe geschnellt. Das enorme Anwachsen der Einwohnerzahlen seit dem Ausgang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts betraf fast ausschließlich den jenseits des Landwehrkanals gelegenen Teil; es ließ die Luisenstadt, aber audi das Stralauer Viertel zahlenmäßig zu Großstädten werden. Die Rosenthaler und die Oranienburger Vorstadt verzeichneten ziemlich gleichlaufende Einwanderungswellen; doch war in diesem bereits vor 1830 erschließungsfähigen Gebiet der Zuwandererstrom vor 1850, zur Zeit der Niederlassung großer Industriebetriebe, relativ höher als in anderen Vierteln. In der Zeit nach 1867 nahm er nur noch in der Rosenthaler Vorstadt zu.135 In den inneren Stadtteilen Berlin und Cölln, dem Friedrichswerder, der Dorotheenstadt und teilweise audi in der Friedrichstadt begann sich aber 1861/64, deutlicher ab 1871/75 eine Bevölkerungsabnahme abzuzeichnen, die als Folge der mit der Funktion Berlins als Sitz des Norddeutschen Bundes und als Hauptstadt des Deutschen Reiches verbundenen verstärkten Niederlassung zentraler Verwaltungen und der Eröffnung von Büros und Geschäften vieler Zweige des tertiären Sektors zu werten ist. Die Vorstädte verzeichneten die höchsten Zuwachsraten. Zwei entgegengesetzt verlaufende Bewegungsrichtungen der Bevölkerungswanderung trugen zu dieser außerordentlichen Verdichtung bei: Der Zuzug von außerhalb wurde durch den Zuzug aus dem Stadtkern ergänzt. Darüber hinaus ver134

V g l . EINFÜHRUNG, S. 2 9 f.

135

S i e h e E R S T E R T E I L , ZWEITES K A P I T E L , A n m .

146.

90

1. Industrielle Teilgebiete

Berlins

lagerten sich in bestimmten zeitlichen Abständen die Schwerpunkte der Zunahmen sukzessiv von den inneren zu den peripherer gelegenen Teilen der Vorstädte, bis eine Vielzahl der Berlin umgebenden Siedlungen von der Bevölkerungswachstumswelle erfaßt war. So stagnierte das Bevölkerungswachstum in dem diesseits des Landwehrkanals gelegenen Teil der Luisenstadt schon vor 1871, während das jenseits des Kanals gelegene Gebiet der Luisenstadt, die Rosenthaler Vorstadt und dann der Wedding ihr Spitzenwachstum erreichten. Wie bei den meisten anderen Vorstädten kam ihr Wachstum erst in den achtziger Jahren zum Stillstand; danach wurden sie gleichfalls von einem Bevölkerungsrückgang infolge der sich weiter ausbreitenden Einrichtungen des Stadtzentrums erfaßt. 136 Die außerordentlich hohe Zunahme der Bevölkerungszahlen und die daraus resultierende Verdichtung der Bevölkerung in der Stadt Berlin seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, die sich bis ins 20. Jahrhundert erstreckte, war vor allem das Ergebnis der Einwanderung aus anderen Gebieten und weniger eine Folge der natürlichen Bevölkerungsvermehrung durch Geburtenüberschuß in der Stadt selbst. Das starke Bevölkerungswachstum in der frühindustriellen Zeit basierte auf dem Wandel der generativen Struktur auf dem Hintergrund des erweiterten Nahrungsspielraums. Das Verhältnis von Geburtenüberschuß und Zuwanderung betrug nach neuesten Untersuchungen für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa 1 : 13,137 von den Berliner Kommunalbehörden wurde es jedoch nur als etwa halb so hoch, nämlich auf 1 : 5—6, eingeschätzt.188 Audi das Ansteigen der Geburtenzahlen und nicht der Geburtenziffern „bestätigt die Tatsache, daß Berlins Bevölkerungswachstum als Ergebnis von Wanderungsbewegungen und nicht als Ergebnis der natürlichen Bevölkerungsvermehrung durch Geburtenüberschuß anzusehen ist".139

186

Berlin und seine Eisenbahnen ..Bd. 2, Tafel 5. Vgl. den Aufsatz von K. Weimann, Bevölkerungsentwicklung und Frühindustrialisierung..in: O. Büsch (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung ..passim. 138 Die „Vermehrung der Einwohner Berlins durch Einwanderung, welche die Vermehrung durdi den Überschuß der Geburten durchschnittlich um das 5—6fa der Bevölkerung Moabits umfaßte. 98 Auch darin zeigt sich die spezifische Sozialstruktur Moabits, die, einseitiger als diejenige Gesamtberlins, von der breiten Schicht der in dieser Epoche sich bildenden industriellen Arbeiterschaft innerhalb der unteren Schichten getragen wurde. Besonders erwähnenswert und charakteristisch ist das geringe Vorhandensein des Dienstpersonals, das in Moabit mit 4,8 % prozentual nur etwa halb so stark vertreten war wie in ganz Berlin. Konnte die prinzipielle räumliche Trennung von Arbeits- und Wohnplatz bei gleichzeitiger Zuordnung beider in geringen Entfernungen als eine der wichtigsten Funktionen der räumlichen Differenzierung in den Vorstädten erkannt werden, so fand dieser Vorgang in Moabit seine Entsprechung. Während sich auf dem Boden der Kolonie Alt-Moabit zwischen dem Spreelauf und der Straße Alt-Moabit der Standort der meisten größeren Betriebe gebildet hatte," lagen in NeuMoabit die Wohnplätze für die ständig wachsende Bevölkerung. So hatte sich hier bereis um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine nördlich und westlich des kleinen Tiergartens gelegene Wohnsiedlung herausgebildet, die den Gegensatz zu dem südlich des kleinen Tiergartens befindlichen Produktionszentrum bildete.100 In den folgenden Jahren nahm diese so klare Differenzierung zwischen Arbeits- und Wohnort innerhalb Moabits unter dem Druck der zunehmenden Verdichtung 98

Die Resultate der Berliner Volkszählung

"

V g l . ZWEITER T E I L , ERSTES KAPITEL, S . 1 9 4 f .

vom 3. December 1867 .. ., S. 44—47.

IM VGL. ¿¡g Karte Plan von Moabit im Jahre 1861, in: W. Oehlert, Moabiter Chronik . . . , S. 112; Die Karte Die Verteilung einiger Berufsgruppen in Moabit. 1861 am Ende des Bandes in Tasche zeigt die räumliche Trennung zwischen dem Wohn- und Fabrikviertel. 101 Vgl. die Karte Die Verteilung einiger Berufsgruppen in Moabit. 1886 in Tasche am Ende des Bandes. Sie läßt die Entwicklung während der voraufgegangenen 25 Jahre erkennen.

Städtische Sozialstruktur

und städtische Haushaltstypen

205

der Bevölkerung und der Verlagerung der Gewerbebetriebe ab.101 Die räumliche Nachbarschaft von Großbetrieben der Metall- und Maschinenindustrie und der dazugehörenden Arbeiterschaft wird in Moabit wie in den nördlichen Vorstädten durch die auffällige Häufung derjenigen Berufsgruppen in diesem Ort bewiesen, die in den entsprechenden Gewerbezweigen arbeiteten. Ähnlich war nach 1870 in Lichtenberg auf dem Gelände des ehemaligen Gutsbezirks ein Fabrikstandort entstanden, während sich die Bevölkerung gleichzeitig in der Frankfurter Allee und ihren Nebenstraßen verdichtete und in der nördlich bis zur Grenze nach Hohenschönhausen gelegenen Kolonie Wilhelmsberg das Terrain planmäßig für die unteren Bevölkerungsschichten erschlossen wurde.102 Hier wie auch in Boxhagen-Rummelsburg war der Beziehungszusammenhang zwischen Industrieansiedlung und der Niederlassung von Berufsgruppen, die die potentielle Arbeiterschaft dieser Betriebe bildeten, evident.103 In Moabit dominierten die abhängigen Erwerbstätigen in der Metallindustrie und im Maschinenbau unter allen Berufsgruppen. Selbst ohne direkte Nachweise, daß die im Ort Wohnenden in den am Ort ansässigen Fabriken tatsächlich arbeiteten, dürfte das Zusammenfallen der Konzentration von Betrieben und Arbeitskräften dieser Gewerbezweige diesen Schluß rechtfertigen. Es soll dabei als Selbstverständlichkeit nicht außer acht gelassen werden, daß eine gewisse Anzahl von Arbeitern aus den Nachbargemeinden, etwa aus Charlottenburg oder dem Wedding sowie aus Berlin täglich nach Moabit einpendelten und daß eine Reihe von Moabiter Arbeitern in diese oder andere Gemeinden auspendelten. Besonders nach der Eröffnung der Ringbahn und der Verbesserung anderer Nahverkehrsmittel dürfte sich die Pendelwanderung der Arbeitskräfte in Moabit, wie in anderen, entfernter gelegenen Vororten, 104 intensiviert haben. Im Jahre 1875 arbeiteten etwa 10,5 % aller Berufstätigen und 19 °/o der im Gewerbe Tätigen in der Metall- und Maschinenindustrie. In den darauf folgenden Jahren sank der Anteil auf etwa 7,8 °/o aller Erwerbstätigen oder 16,4 °/o der gewerblich Tätigen im Jahre 1885 ab. Bis zum Jahre 1895, kurz vor der Verlegung der Borsigwerke nach Tegel/Borsigwalde, erhöhte sich ihr Anteil leicht auf ungefähr 12,8 % der Berufstätigen oder 30,1 °/o der im Gewerbe beschäftigten Personen, 102 103

E. Kaeber, Lichtenberg ..., S. 139, passim. Ebda.; E. Stein, Boxhagen-Rummelsburg ..., S. 2 f. passim.

104

V g l . D R I T T E R T E I L , ERSTES K A P I T E L , S . 2 7 7 f .

105

Die Bevölkerungs-,

Gewerbe- und Wohnungs-Auf nähme vom 1. December 1875

206

II. Entwicklung

der Kolonie Moabit zur

Industriegemeinde

wofür namentlich die Zunahme der Arbeiter und Angestellten in der Maschinenindustrie verantwortlich war. 106 Obwohl im Jahre 1875 nur 3 , 0 % und 1895 7,9 % l o e der in ganz Berlin in diesen Zweigen Beschäftigten in Moabit ansässig waren, ergab sich daraus für den Ort die strukturbestimmende Konzentration. Die Segregation der dominierenden Berufsgruppen in bestimmten Straßen, wie in Rixdorf, läßt sich nicht beobachten. Damit bildete Moabit, wie analog die nördlichen Berliner Vorstädte, einen begrenzten Raum innerhalb der Stadtregion, der durch die Zuordnung des Produktionsstandorts und der zugehörigen Berufsgruppen gekennzeichnet war. Darüber hinaus war gerade in diesen Zweigen der höchste Prozentsatz der abhängigen Arbeiter zu finden, der zwischen 1875 und 1895 um 90 bis 95 % betrug und damit beachtlich höher als in Berlin lag.107 In dieser Gemeinde lebte somit eine Bevölkerung, in der in überdurchschnittlichem Maße Arbeiter vertreten waren, die dem eigentlichen Fabrikproletariat zuzurechnen sind. Die Beschäftigten im Baugewerbe nahmen zahlenmäßig die zweite Stelle unter der berufstätigen Bevölkerung ein. Damit überwogen sowohl in Moabit wie in Berlin insgesamt die Abhängigen in einem annähernd gleichen Verhältnis. Die beiden anderen seit der Anfangsphase des beschleunigten wirtschaftlichen Wachstums in Berlin führenden Gewerbezweige, die Textilindustrie und das Bekleidungsgewerbe, waren in Moabit der Beschäftigtenzahl nach kaum repräsentiert. Berufe in der Textilindustrie übten in der Zeit von 1867 bis 1895 nur jeweils 0,5 % bis 0,8 % aller Erwerbstätigen aus.108 Im Vergleich zu Berlin insgesamt, wo die große Masse der im Bekleidungsgewerbe tätigen männlichen und weiblichen Arbeitskräfte im gleichen Zeitraum zwischen 13,5 und 16°/o aller Berufstätigen und nahezu die Hälfte aller im gewerblichen Sektor Arbeitenden stellte, waren die männlichen und weiblichen Schneider, Posamentierer, Weißnäher, Kürschner, Schuster etc. in Moabit eine relativ kleine Gruppe, obwohl sie zahlenmäßig bei schwankenden Anteilen von nur 5,1 bis 8,7 °/o der Berufstätigen an zweiter Stelle standen.109

..., 4. Abt., H. 3/4, S. 46—52;

Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1885 ..., H. 1, S. 60—65; Die Bevölkerungs-, Gewerbeund Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1895 ..., T. 1, S. 72—77. "« Ebda. 107 Ebda. 108 Ebda. 109 Ebda.

Städtische Sozialstruktur

und städtische

Haushaltstypen

207

In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, nach der Auflösung oder Verlagerung einiger großer Industriebetriebe, begann sich die Sozialstruktur Moabits etwas zu wandeln und „bürgerliche" Züge anzunehmen. Daran läßt sich audi hier der enge Kausalzusammenhang zwischen wirtschaftlicher Funktion und sozialer Struktur erkennen. Die Dominanz der Arbeiterbevölkerung trat allmählich hinter einer stärker differenzierten Bevölkerungsschichtung zurück. In verschiedenen Straßenzügen ließen sich kleine Rentiers, Pensionäre und Akademiker nieder.110 Für sie war Moabit innerhalb der Kommunalgrenzen Berlins ein angenehmerer Wohnsitz als andere Viertel, die beispielsweise weniger Grünanlagen aufzuweisen hatten. Außerdem fehlte nun auch die Nähe von Fabriken. Andererseits war Moabit kein eleganter Vorort mit hohen, für die kleinen oder verarmten Mittelschichten unerschwinglichen Mieten. Der Kleine Tiergarten war eine bescheidene Grünanlage im grauen Häusermeer der Großstadt. Besonders in der Kirdi-, der Birken- und der Perleberger Straße und in den in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dort erschlossenen Straßen wohnten viele Rentiers und Pensionäre, kleine, mittlere und höhere Beamte sowie freiberuflich Tätige.111 Die geringe Anziehungskraft Moabits als Wohnort auf die im Bekleidungsgewerbe tätige Bevölkerung erwies sidi auch am verhältnismäßig geringen Anteil dieser Berufsgruppen an der zugewanderten Bevölkerung. Das Bevölkerungswachstum wie die Eigentümlichkeit der Sozialstruktur verdankt auch Moabit in entscheidendem Maße der selektiven Zuwanderung bestimmter Schichten und Gruppen. Ähnlich wie die Vorstädte Berlins durch ein relativ schnelleres Bevölkerungswachstum als die inneren Stadtteile und Berlin insgesamt seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet waren, so verzeichnete auch Moabit ein verhältnismäßig rascheres Wachstum als Berlin.112 Dabei lassen sidi, entsprechend den Zuwanderungswellen, Schwankungen im Verhältnis der eingewanderten zu der in Berlin geborenen Bevölkerung feststellen. Grundsätzlich war im Zeitraum zwischen 1864 und 1895 in dem randlichen Stadtteil Moabit der prozentuale Anteil der außerhalb Berlins geborenen Bevölkerung um 110

Ebda. Im größten Standort des Berliner Bekleidungsgewerbes, den siidlidien Berliner Vorstädten, waren derartige Arbeits- und Wohnverhältnisse der in diesem Zweige tätigen Abhängigen weit verbreitet. 112 Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 187} . . . , H . 1, S. 30 f. 111

208

II. Entwicklung

der Kolonie Moabit zur

Industriegemeinde

etwa 5 % höher als in Berlin. Insgesamt stieg er bis 1890 stetig an, wobei die für 1864 sich auf das gesamte neue Weichbild, das heißt die 1861 eingemeindeten Gebiete beziehenden Daten sogar fast 7 3 % außerhalb von Berlin geborene Haushaltungsvorstände113 aufweisen, während es in Berlin lediglich 67,5 % und nur 51,4 % der gesamten Bevölkerung waren. 114 Diese, für die breite Randzone der neu eingemeindeten Stadtteile zutreffende Angabe soll lediglich den audi in den sechziger Jahren äußerst hohen Anteil der Einwanderer in den Randgebieten Berlins illustrieren. Zwischen 1875 und 1885 verlief die Zuwanderung nach Moabit recht gleichförmig. Es waren ca. 61 % der Bevölkerung außerhalb der Berliner Grenzen geboren; bis 1890 setzte eine größere Zuwandererwelle ein, so daß in diesem Jahr das Maximum mit fast 65 % einer fremdgebürtigen Bevölkerung erreicht wurde. In den darauf folgenden Jahren nahm die Einwanderung langsam ab, denn 1895 waren nur noch 6 3 % der Einwohner Moabits außerhalb der Gemeindegrenzen geboren.115 Doch selbst die sehr starke Zunahme der innerhalb des Kommunalverbandes Geborenen, die weit mehr als eine Verdoppelung der Einwohnerzahl zwischen 1875 und 1885 brachte — die in Berlin geborene und in Moabit wohnhafte Bevölkerung stieg von 7813 auf 18 524 an —, darf kaum als ausschließlich natürliches Wachstum angesehen werden. Darunter verbirgt sich vielmehr die Bevölkerungsbewegung innerhalb der Stadtgrenzen. Infolge der wachsenden Raumbeanspruchung durch Einrichtungen des tertiären Wirtschaftssektors nahm die Bevölkerung in den inneren Stadtteilen langsam aber stetig ab. Sie wanderte seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in die Vorstädte, aber audi in die mehr peripher gelegenen Stadtteile wie etwa Moabit und in entferntere Vororte ab.11® Denn für Gesamtberlin setzte sich trotz des noch 1890 erreichten Maximums von 59,3 % außerhalb der Stadt geborener Einwohner seit 1875 die Tendenz der sinkenden Zuwandererraten durch. In Moabit

113

Es muß betont werden, daß sidi alle folgenden statistischen Angaben jeweils

auf Berlin als Geburtsort beziehen und nidit auf Moabit. Damit kann die sehr wichtige Frage der Bevölkerungsbewegung zwischen Berlin und Moabit nicht direkt beantwortet werden. 114

Die Resultate

der Berliner

S. L X I V , 4 0 ; Statistisdoes Jahrbuch 115

Statistisches Jahrbuch

kerungs-,

Gewerbe-

und

Volkszählung

vom 1. December

der Stadt Berlin Wohnungs-Aufnahme

...,

. . . , 4. Jg. (1878), S. 8 ; Die vom

S. 14 f. 114

1864

Tab. 20,

der Stadt Berlin . . . , 4. Jg. (1878), S. 8.

V g l . DRITTER TEIL, ZWEITES KAPITEL, S . 2 8 4 f f .

1. December

1895

Bevölke...,

T. 1,

Städtische Sozialstruktur

und städtische Haushaltstypen

209

war ebenfalls um 1890 der Gipfel der Einwanderung erreicht, als fast 65 % seiner Einwohner außerhalb Berlins geboren waren.117 Dementsprechend stieg auch der prozentuale Anteil der Einwanderung nach Moabit an der gesamten Einwanderung nach Berlin allmählich an. Waren es vor 1840 nur 1,5 % gewesen, so nahm der Anteil bis zum Zeitraum zwischen 1846 und 1850 auf 2,4 °/o zu und sank in den folgenden zwanzig Jahren auf rund 2 °/o. Erst von 1871 bis 1875 erhöhte er sich wieder auf 2,3 %. 118 Die aus anderen Gebieten Zuwandernden strebten vor allem in die in Moabit am stärksten besetzten Gewerbegruppen und repräsentierten die breite Schicht der Arbeiter in der Metallverarbeitung, im Maschinenbau, im Baugewerbe und im Bekleidungsgewerbe, in der Holzindustrie und in der Nahrungs- und Genußmittelindustrie, aber audi in dem ebenso wie die genannten Gewerbezweige expandierenden Verkehrswesen.119 Unter den Zuwanderungsgebieten stand die unmittelbare Umgebung, außer der Stadt Berlin die Stadt Charlottenburg und die Kreise Niederbarnim und Teltow an erster Stelle. Es waren also die Nachbarschaftsbereiche, aus denen die Menschen nach Moabit übersiedelten. Oftmals handelte es sich also nur um ein Uberwechseln über die Gemeindegrenze. In dem höheren Anteil der Nahwanderer in Moabit im Verhältnis zu Berlin spiegelt sich der kleinere Radius der Anziehungskraft auf die mobilen Bevölkerungsteile wider, den Moabit zweifellos besaß; denn aus dem Kreise Niederbarnim stammten im Jahre 1875 3,1 °/o der Moabiter Immigranten, aber nur 2,7 % der Berliner Einwanderer insgesamt, und im Kreise Teltow waren 3,0 % der Zuziehenden Moabits, aber nur 2,2 °/o aller Berliner Zuwanderer geboren. Aus der Provinz Brandenburg kam bei einem Anteil von 33,4 °/o ein Drittel aller Berliner, aber mit 3 6 % etwas mehr als alle Moabiter Immigranten.120 Schon aus dem Gebiet der nahen und weiteren Nahwanderung, den östlichen preußischen Provinzen, ließen sich mit Ausnahme 117

Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin . . . , 4. Jg. (1878), S. 8; Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1895 ..., H. 1, S. 14 f. 118 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 4. Jg. (1878), S. 9. 119 Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 ..., 4. Abt., H . 3/4, S. 46—52. 120 Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 . . . , 4. Abt., H . 3/4, S. 3; Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin . . . , 4. Jg. (1878), S. 13 f. 14 Thlenel

210

II. Entwicklung der Kolonie Moabit zur Industriegemeinde

der Pommern und Posener die Einwanderer in Berlin relativ zahlreicher nieder als in Moabit. Ebenso erweist sich die größere Attraktivität der zentraleren Stadtteile auf die mobilen Bevölkerungsteile aus den entfernteren, westlichen preußischen Provinzen und aus anderen deutschen Staaten oder dem Ausland. 121 Es bestätigte sich, daß die Größe einer Stadt in ein Verhältnis zu ihrem Einflußbereich, zu ihrer Anziehungskraft auf Zuwanderer 122 und zu ihrer Zentralität gesetzt werden kann. In den folgenden Jahren änderte sich das Bild der regionalen Herkunft der Immigranten in Moabit nicht.128 Die auffällige Entwicklung der Sozialstruktur Moabits unter dem Einfluß der engen funktionalen Beziehungen zu Berlin führte zur Ausbildung einer spezifisch städtischen Struktur, die durch das Zurücktreten der Agrarbevölkerung und die Dominanz bestimmter Schichten und einer in bestimmten Bereichen des gewerblichen und des Dienstleistungssektors tätigen Bevölkerung gekennzeichnet war. Der Wandel von der Agrarkolonie zu einem Bezirk innerhalb der randlichen Zone der Kernstadt vollzog sich auch innerhalb der Sozialstruktur in der so knappen Zeitspanne von rund zwei Jahrzehnten. In der zweiten H ä l f t e der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts setzte, von den sich niederlassenden Industriebetrieben eingeleitet, die Invasion der f ü r städtische Siedlungen typischen Bevölkerungsund Berufsgruppen ein, die dazu beitrugen, daß Moabit sich bis zur Jahrhundertmitte zu einem Ort des Umlands entwickelte und sich mit fortschreitender Zunahme der städtischen Merkmale in die randlichen Teile der eigentlichen Kernstadt eingliederte. Die Anpassung an städtische

Haushaltstypen

Parallel zur Entstehung der städtischen Sozialstruktur und in ähnlich raschem Tempo, wofür ebenfalls das Fehlen einer festgefügten überlieferten Sozialordnung in Moabit verantwortlich gemacht werden kann, nahm das Zusammenleben der Bevölkerung in den Wohngemeinschaften typisch städtische Züge an. Die Wohnweise wurde wie in allen anderen Stadtteilen so auch in Moabit vom Wachstumsverlauf und der sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung wie von der 121

Ebda. A. F. Weber, The Growth of the Cities ..., S. 259: „The larger the town the wider its circle of influence in attracting immigrants." 123 Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December MS . . T . 2, S. 74—78. 122

Städtische Sozialstruktur und städtische Haushaltstypen

211

Raumenge und vom Wohnungsmangel bestimmt. Sie beweist, wie stark alle Lebensbereiche selbst in einer verhältnismäßig kleinen Gemeinde von den industriellen Arbeitsverhältnissen geformt wurden, die die überkommenen sozialen Lebensformen in der Stadt wie in einer kleinen ländlichen Siedlung gleichermaßen erfaßten und nivellierten. Von der Wohnungsnot, die an der Aufnahme verschiedener fremder Personen in die zumeist engen Wohnungen erkennbar wird, wurde auch dieser Ort in vollem Ausmaß erfaßt. Innerhalb der 1861 eingemeindeten Gebiete scheint Moabit die ausgeprägteste städtische Struktur besessen zu haben. Die Zusammensetzung der Haushalte 124 näherte sich am weitestgehenden den in den nördlichen Vorstädten anzutreffenden Formen, so daß aus dieser Parallelität typische Merkmale des Zusammenlebens der Industriearbeiter in Berlin und Moabit hervortreten. Die ausschließlich aus Familienangehörigen sich zusammensetzenden Haushaltungen stellten 1867 ähnlich wie in den Vorstädten mit einem Prozentsatz von 70,6 %> aller Haushaltungen den höchsten Anteil. In ganz Berlin setzten sich nur 54,3 % der Haushalte ausschließlich aus Familienangehörigen zusammen.125 In den folgenden Jahren sank der Anteil der reinen Familienhaushalte auf knapp 56 % , um in den achtziger Jahren, nachdem die Phase größter Wohnungsnot überwunden war, wieder anzusteigen. Bis 1885 verstärkte sich die Tendenz der Zusammensetzung der Haushaltungen und Wohngemeinschaften ausschließlich aus Familienangehörigen sowohl in Berlin wie in Moabit, wobei in Moabit ihr Anteil stets bedeutend größer war als in Berlin. 126 Dementsprechend lebten schon kurz nach der Eingemeindung im Jahre 1861 in Moabit 82,8 % der Einwohner in reinen Familienhaushalten, und bis 1895 erhöhte sidi dieser Anteil nur unwesentlich.127 Die Familien-

124 Zur Erläuterung der einzelnen Gruppen der Haushaltszugehörigen und der Wohngemeinsdiaften vgl. Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Auf nähme vom 1. December 1875 . . . , H. 1, S. 48 f. 125 Die Resultate der Berliner Volkszählung vom 3. December 1867 . . . , S. 72—74; Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 ..., H. 1/2, S. 69—78, 82—83; Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Auf nähme vom 1. December 1885 . . 3 . Abt., S. 39; Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1895 . . T . 2, S. 57. 12· Ebda. 127 Die Resultate der Berliner Volkszählung vom 3. December 1867 ..., S. 12 f.; Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Auf nähme vom 1. December 1895 .. T. 2, S. 64—66.

14·

212

II. Entwicklung

der Kolonie Moabit zur

Industriegemeinde

und Kleinfamilienhaushalte stellten sich als besonders typisch für die Familienstruktur der industriellen Arbeiter und Angestellten, auch der kleinen Beamten heraus. Die Aufnahme von Burschen, Commis, Lehrlingen, Gesellen und Gehilfen in Kost und Logis, die hauptsächlich im Handwerk und im Einzelhandel üblich war, hatte sich in Gesamtberlin zur Ausnahmeerscheinung entwickelt. In noch geringerem Umfang als in den Vierteln der Berliner Industriestandorte lebten in Moabit solche Arbeitskräfte bei ihren Meistern und bei kleinen Kaufleuten. Waren es 1867 nur 1 °/o der Haushalte, in denen diese Gruppe lebte, so stieg ihr Anteil bereits bis 1875 leicht auf nur 1,5 % an, und fortan setzten sich nur verschwindend wenige Haushalte so zusammen; dementsprechend niedrig war der Anteil dieses Personenkreises an der Gesamtbevölkerung.128 Ebenso wie die Burschen oder Commis wurden die Dienstboten zum weiteren Familienverband gezählt. Die Dienstbotenhaltung war in Moabit zwar anzutreffen, doch gab es nur etwa halb so viele Haushaltungen mit Dienstboten wie in ganz Berlin; denn in Moabit beschäftigten 1867 nur 7,3 % , in Berlin dagegen 14,0 % aller Haushalte Dienstboten, und noch 1875 waren etwa die gl ei dien Anteile anzutreffen. Erst in den achtziger und vollends in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts verbreitete sich auch in Moabit die Dienstbotenhaltung, so daß um 1895 in dieser Gemeinde wie im Berliner Durchschnitt ungefähr 10 % aller Haushalte Dienstboten beherbergten.129 In den sehr ähnlich strukturierten Wohngemeinschaften der Oranienburger und der Rosenthaler Vorstadt waren nur unwesentlich weniger Dienstboten vertreten, was wahrscheinlich mit der in Moabit etwas stärker verbreiteten Schicht von Pensionären, Rentnern etc. in Zusammenhang steht. Der Anteil der Dienstboten an der Gesamtbevölkerung Moabits lag zwischen 3 und 4,5 %. 130 Während die Aufnahme von Dienstboten, Burschen, Lehrlingen, Gesellen etc. in die familiäre Wohngemeinschaft audi in vorindustrieller Zeit weit verbreitet war, blieb die Aufnahme weiterer fremder Personen in die städtischen Haushalte weitgehend unbekannt, zumindest war sie ungebräuchlich. Seit der Eingemeindung im Jahre 1861 und in engem Kausalzusammenhang mit der großstädtischen Wohnungsnot setzte sidi auch in Moabit das Vermieten von Zimmern an Chambregarnisten und die 128 128 130

Ebda. A.a.O., S. 72—74; a.a.O., S. 57. A.a.O., S. 12—13; a.a.O., S. 64—66.

Städtische Sozialstruktur

und städtische Haushaltstypen

213

Unterbringung von Schlafleuten in den von Familienmitgliedern bewohnten Räumen durch oder wird zumindest statistisch faßbar. Chambregarnisten wurden in Berlin am häufigsten von Witwen oder Mietern größerer Wohnungen aufgenommen, die einen Zuschuß zur Miete brauchten. In jenen Vierteln, in denen kleine Wohnungen vorherrschten und die vornehmlich von unteren Schichten, besonders von Arbeitern, bewohnt wurden, pflegten die Familien nur selten Zimmer zu vermieten. So war das Chambregarnistenwesen in Moabit zwar weniger als in den bürgerlichen Stadtteilen Berlins verbreitet, aber es gab mehr Haushaltungen mit Chambregarnisten als vergleichsweise in den nördlichen Berliner Vorstädten. Im Jahre 1867 hatten noch knapp 4 % aller Haushalte Chambregarnisten aufgenommen, und ihr Anteil an der Bevölkerung betrug nur 1 , 2 % . Schon 1875 waren es 2 , 6 % , 1895 gar 3 % der Haushalte. Da der Anteil der Chambregarnisten an der Bevölkerung nicht in gleichem Maße zurückging, sondern wieder leicht anstieg, kann daraus geschlossen werden, daß zeitweise zwar weniger Haushaltungen grundsätzlich Chambregarnisten aufnahmen, dafür aber nicht nur eine, sondern hin und wieder mehrere Personen.131 Die Chambregarnisten setzten sich aus allen Schichten der Bevölkerung zusammen. Zumeist waren es ledige, oft in der Ausbildung befindliche junge Männer. Unter ihnen waren im Jahre 1867 in Moabit rund 8 % von Angehörigen der oberen Mittelschicht der Gelehrten, Geistlichen, Lehrer, Künstler, Journalisten, Schriftsteller und der im Vorbereitungsdienst stehenden Beamten vertreten. Die größte Gruppe von 72 Personen oder 64,3 % aller Chambregarnisten gehörte den Unter- und Mittelschichten an. Es waren qualifizierte Industriearbeiter, Handwerker, Kaufleute, Gewerbe- und Handeltreibende. Nur zehn Chambregarnisten oder 9 % zählten zur Unterschicht der unqualifizierten Arbeiter und des Dienstpersonals. Unter den Frauen waren es besonders die Schneiderinnen, Näherinnen, Plätterinnen und Wäscherinnen, aber auch Dienstmädchen und Witwen, die in „Chambregarni" lebten.132 Als Ausdruck krassester Wohnungsnot im Berlin des 19. Jahrhunderts muß die Einrichtung des Schlafstellenwesens angesehen werden. Es handelte sich auch fast ausschließlich um die untersten Schichten der 131

Ebda.; Die Resultate der Berliner Volkszählung vom 3. December 1867..., S. 72—74; Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. Decern ber 1895 ..., T . 2, S. 57. 132 Die Resultate der Berliner Volkszählung vom 3. December 1867 . . S . 28 f.

214

II. Entwicklung

der Kolonie Moabit zur

Industriegemeinde

Bevölkerung, die davon sowohl als Vermieter wie als Mieter von Schlafstellen betroffen wurden. Im Jahre 1867 kamen in Moabit allein 46,6 % der Schlafleute aus der unteren Mittelschicht der Handwerker, Handel- und Gewerbetreibenden und 50,3 % zählten zu der unteren Schicht der Arbeiter, Tagelöhner, Handarbeiter, des Dienstpersonals und der sogenannten Aufwärterinnen. 133 Den gleichen Schichten gehörten auch fast ausschließlich die Vermieter von Schlafstellen an. Noch in den sechziger Jahren war es in Moabit weit weniger als in der Nähe der Industriestandorte in den nördlichen Vorstädten Berlins oder in den südlichen Vorstädten verbreitet, Schlafleute in die Wohngemeinschaft aufzunehmen. So beherbergten 1867 nur 1 4 , 3 % aller Haushalte, darin dem Gesamtberliner Durchschnitt ähnlich, Schlafleute in ihren Wohnungen. In den folgenden Jahren stiegen die Zahlen so enorm an, daß die siebziger Jahre als eine Zeit schlimmster Wohnungsmißstände in Moabit bezeichnet werden können; um das Jahr 1875 war das Maximum erreicht, als fast 2 3 % aller Haushaltungen — weit mehr als in Gesamtberlin — Schlafstellen vergeben hatten. 134 Nicht nur in den Jahren katastrophaler Wohnungsnot, sondern in der gesamten Periode der Industrialisierung im 19. Jahrhundert war das Schlafstellenvermieten die dominierende Form der Abtretung von Wohnraum in den unteren Schichten und besonders bei den in kleinen Wohnungen lebenden Fabrikarbeitern an andere Angehörige dieser Gruppen. Obwohl im Jahre 1895 nur noch weniger als 1 0 % aller Haushalte Schlafstellen vermieteten, blieb die Abgabe von Schlafstellen dennoch die vorherrschende Form, in der die Familiengemeinschaften erweitert wurden. 135 Nach den Familienangehörigen bildeten so die Schlafleute die größte Gruppe der zu Wohngemeinschaften und Haushalten Gehörenden. Zwar stellten sie 1867 nur knapp 5 % der Bevölkerung; 1875 aber waren es doppelt so viele und erst 1895 war ihr Anteil auf ein Minimum von 3,6 % gesunken.13® 133

Ebda. A.a.O., S. 12 f.; Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 ..., H. 1/2, S. 69—78, 82 f. 135 Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1895 ..., T. 2, S. 57. 136 Die Resultate der Berliner Volkszählung vom 3. December 1867 ..., S. 28 f.; Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 ..., H . 1, S. 49; Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. Decem134

ber 1895 ..., T. 2, S. 64—66.

Städtische Sozialstruktur

und städtische Haushaltstypen

215

Die innere Mobilität in der Gemeinde Moabit bringen die Schwankungen der Haushaltsgrößen in den verschiedenen Teilgebieten des Orts innerhalb kleiner Zeitabschnitte zum Ausdruck. Während 1867 der Humboldthafenbezirk die erheblidie Dichte von 9,8 Personen pro Haushalt aufwies, die sich nur durch die Aufnahme einer relativ hohen Anzahl von nicht zur Familie gehörenden Personen in die Haushalte erklärt, sank sie bis 1875 auf 5,3 Personen; dagegen stiegen die entsprechenden Anteile im Bezirk der Hamburger Bahn im gleichen Zeitraum von 5,4 auf 6,4 Personen pro Haushaltung.137 Die Formen der Wohngemeinschaften, die sich in Moabit entwickelten, erwiesen sich — wie in den anderen Teilen der Stadt Berlin — als eng verbunden mit der ökonomischen Situation, der sozialen Lage und der Schichtenzugehörigkeit der Einwohner. So dokumentiert sich audi in diesem sozialen Bereich die weitgehende strukturelle Anpassung an typisch städtische Lebensformen und Wohngemeinschaften, was die kurz nach der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogene Eingliederung in die eigentliche Kernstadt Berlin beweist.

137 Die Bevölkerungs-, 1875 ..., H. 1, S. 124.

Gewerbe-

und

Wohnungs-Auf nähme

vom

1.

December

DRITTES

KAPITEL

Die Übernahme industrieller und städtischer Bau- und Wohnformen Die Bauformen einer Siedlung pflegen im allgemeinen Ausdruck der mit ihnen verbundenen Funktionen zu sein, das aber nur dann, wenn kein Wandel in der Nutzung der Gebäude eingetreten ist. Für die Siedlung Moabit, die sich erst mit ihrer Industrialisierung im Raum Berlin zu einer größeren Gemeinde und zum Stadtteil Berlins entwickelte, wurde im ganzen 19. Jahrhundert — ähnlich wie in den gleichzeitig erschlossenen Berliner Vorstädten — eine weitgehende Übereinstimmung der baulichen Gestalt von neu errichteten Industrieanlagen und Wohnhäusern mit deren Nutzung kennzeichnend. Im Jahre 1765 verzeichnete ein Plan des Tiergartens kaum zehn Gebäude entlang der Straße Alt-Moabit; um 1805, als vierzehn Feuerstellen, zwei Wirtshäuser, sieben Gärtner und dreizehn Einlieger gezählt wurden, war Moabit kaum größer. 138 Mit der Gründung NeuMoabits entstanden die ersten Häuser nördlich des Kleinen Tiergartens. Einen wirklichen Aufschwung der baulichen Entwicklung brachte auch in Moabit der Abschluß des Separationsverfahrens, denn in kürzester Zeit wurde „die bisher unbebaut gewesene Stromstraße in N e u - M o a b i t . . . durch Parzellirung des angrenzenden ehemaligen Castner'schen Grundstückes auf der einen Seite fast ganz bebaut", das heißt, es wurden „17 Wohnhäuser errichtet". 139 Bis 1858 waren zwei weitere, von der Thiergartenstraße, der späteren Turmstraße, nach Norden abzweigende Straßen, die Wald- und die Beusselstraße, sowie die parallel zur Turmstraße verlaufende Birkenstraße entstanden. Während die Stromstraße bereits zweizeilig dicht bebaut war, hatten

138

P . C l a u s w i t z , Das Moabiter

Geschichte Berlins,

Beschreibung ..Bd. 139

Beriebt

S. 187.

über

Jubiläum

...,

i n : Mitteilungen

2 8 . J g . ( 1 9 1 1 ) , S . 1 4 ; F. W . A . B r a t r i n g ,

des Vereins

für

die

Statistisch-topographische

2, S. (726). die

Verwaltung

der

Stadt

Berlin

...

1841

bis incl.

1850

..

Übernahme industrieller und städtischer Bau- und

Wohnformen

217

die ersten Ansiedler in der Waldstraße zunächst an einer Straßenzeile Gebäude errichtet, und Beussel- und Birkenstraße wurden erst ab 1861 fortlaufend bebaut. Auch die Turmstraße war lange Zeit an ihrer nördlichen Seite dichter bebaut, da sich an ihrer südlichen Seite bis zur Straße Alt-Moabit der vom Fiskus als Park unterhaltene Kleine Tiergarten erstreckte, dessen südlicher, einst bis zur Spree reichender Teil um die Mitte des 19. Jahrhunderts den großen Industrieunternehmen Platz geboten hatte. 140 Die Bebauung Alt-Moabits wie Neu-Moabits breitete sich sowohl in östlicher Richtung auf Berlin wie in westlicher Richtung auf Martinickenfelde zu aus. Trotz einer schwachen Tendenz, die östlichen Gemeindegebiete früher zu bebauen, war die Bebauung in Moabit nicht ausgesprochen auf Berlin zu ausgerichtet, um damit den unmittelbaren baulichen Anschluß an die Berliner Randzone zu finden. Vielmehr manifestierte sich vor dem Inkrafttreten des von Hobrecht entworfenen großen Berliner Bebauungsplans und vor der Eingemeindung Moabits in die Stadt Berlin der Expansionstrend eindeutig als eine Bewegung aus dem Zentrum Moabits heraus nach Norden, Osten und Westen, also bis zur Hamburger Bahnlinie und dem Exerzierplatz, die beide markante Siedlungsbarrieren bildeten. Vor der Anlage der im Bebauungsplan vorgesehenen Straßen stellte die schmale Straße Alt-Moabit den einzigen direkten Anschluß an Berlin her. Im Süden bildete die Spree eine Expansionsschranke und nur im Westen war eine unbehinderte Bebauung möglich, die sich auch auf benachbarte Gemarkungen erstrekken konnte. So war die bauliche Erschließung Moabits in dieser Hinsicht — anders als bei den Wohnungs- und Hausformen — durch eine gewisse Eigenständigkeit gekennzeichnet und stellte kein unmittelbares Ubergreifen auf die Berliner Randzone dar. Der Wohnhausstil blieb vor der Einführung des neuen Bebauungsplans trotz des Wandels in der sozialen Struktur und des enormen quantitativen Wachstums der Bevölkerung noch gänzlich der ländlichen Bauweise verhaftet. Das mehrstöckige Wohnhaus hatte kaum Eingang gefunden. Allerdings stellten zu dieser Zeit die vier- bis fünfstöckigen Gebäude audi in Berlin noch eine Ausnahme dar. Im Jahre 1861 waren im gesamten Neuen Weichbild nur 175 Wohnungen im vierten 140 Berlin 1842. Grundriß von Berlin. Überdrude des mittleren Teiles aus Sineck's Situationsplan von Berlin mit dem Weichbild und Charlottenburg in 4 Blättern im Verlag von Dietrich Reimer, 1842, Ehemaliges Preußisches Geheimes Staatsarchiv, Allg. Ks. 9564.

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Industriegemeinde

Stockwerk, aber 557 im dritten Stockwerk anzutreffen. 141 Ausgesprochen große Wohnungen waren ebensowenig gebaut worden. Etwa 60 % der Wohnungen im Neuen Weichbild verfügten nur über ein heizbares Zimmer — in ganz Berlin waren es lediglich knapp 50 °/o. Nicht nur die sehr großen „herrschaftlichen" Wohnungen, selbst die mittelgroßen, über drei und vier heizbare Zimmer verfügenden Wohnungen hatten mit zusammen 13 % aller Wohnungen einen geringeren Anteil aufzuweisen als im gesamten Berlin mit knapp 1 7 % aller Wohnungen.142 Meist waren die kleinen und oft sehr schmalen Grundstücke von einem Garten umgeben, sie waren nur in Ausnahmen direkt miteinander verbunden. Viele Häuser lagen nicht direkt an der Straßenfront, sondern hatten einen kleinen Vorgarten. Fast jedes Grundstück verfügte über einen unterschiedlich großen, „mit Obstpflanzungen ausgestatteten Hintergarten". 143 Auch die Gastwirtschaften waren von Gärten umgeben, die ihnen das Gepräge ländlicher Ausflugslokale verliehen und den allgemein ländlichen Charakter des Ortes verstärkten. Eigentliche Seitenflügel oder Seitengebäude waren ebensowenig anzutreffen wie allein zu Wohnzwecken errichtete Hinterhäuser, obwohl selten ein Hofgebäude fehlte. In der Mehrzahl handelte es sich um Schuppen, Remisen oder Ställe, in denen allerdings bei zunehmender Bevölkerungsdichte wahrscheinlich nicht selten Wohnräume untergebracht wurden. Die Familien- und Bewohnerdichte pro Grundstück übertraf bereits 1861 in einigen Fällen die in ländlichen Siedlungen allgemein üblichen Werte. So lebten im Neuen Weichbild im Jahre 1861 durchschnittlich knapp 32 Personen auf einem Grundstück, in Berlin dagegen waren es mit 46 Personen fast ein Drittel mehr.144 In Moabit selbst wohnten durchschnittlich drei bis fünf Familien auf einem Grundstück, die sieben bis sechzehn auf den Grundstücken AltMoabit 15, 24 und 38 wohnenden Familien stellten Ausnahmen dar.145 Der Wohnhausstil hatte sich in den ersten Jahrzehnten zwischen 1840 und 1860 den mit der Invasion neuer Bevölkerungsschichten veränderten und gewachsenen Wohnraumansprüchen nicht angepaßt, und die typisch industrielle Wohnhausform, das hohe, einförmig ausgestattete 141 142 149 144 145

151.

Die Berliner Volkszählung vom 3. December 1861..Tab. VIII, S. 54 f. A.a.O., Tab. XIV, S. 66 f. W. Oehlert, Moabiter Chronik . . S . 121. Die Berliner Volkszählung vom 3. December 1861 ..., Tab. VIII, S. 54 f. Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger ...auf das Jahr 1861..T. 2, S. 107, 149,

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219

und mit einer großen Anzahl gleich oder sehr ähnlich geschnittener Wohnungen versehene Mietshaus, die Mietskaserne, war kaum verbreitet. Rings um den Ort, besonders im Norden und Westen, zogen sich „die Getreide-, Kartoffel- und Brachfelder" hin, „während saftige Wiesen den Lauf der Spree begleiteten" und so die ländliche Bauweise Moabits nach 1850 ergänzten. Das Bild wird durch die, abgesehen von der Straße Alt-Moabit, fehlende Straßenpflasterung und -befestigung vervollständigt, denn die übrigen, Sandwege darstellenden Straßen waren allenfalls durch Schlacke, Scherben und Hammerschlag aufgeschüttet.146 Die ersten Pläne, mehrstöckige und reine Arbeiterwohnhäuser für die in der Maschinenfabrik der Seehandlung Beschäftigten zu errichten, waren in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet worden. Diese „Sitte, die die Industrie von den Berg- und Hüttenwerken der älteren Zeit übernahm, deren abseitige Lage es meist nötig machte, die Arbeiter mit Wohnungen zu versorgen",147 wurde vorwiegend im Ruhrgebiet praktiziert, wo in kleineren und häufig isoliert liegenden Siedlungen größere Unternehmen des Kohlenbergbaus ihre Zechen anlegten und wo die Eisenindustrie sich niederließ. O f t wurden mit der Niederlassung solcher Industrien direkt audi Siedlungen gegründet. Auch aus dem Bereich der Textilindustrie lassen sich solche Beispiele anführen. 148 In Moabit mußten die zuwandernden Arbeiter ansässig gemacht werden, damit, wie bereits erwähnt, für eine ausreichende Belegschaft der Betriebe gesorgt war. Vor ähnliche Probleme sah sich die Königliche Seehandlung gestellt. Ihre Arbeiterschaft wohnte „zum Theil in der Stadt oder doch sehr entfernt und theuer". 149 Um den „Werkführern und beauftragten [das heißt qualifizierten] Arbeitern" nicht nur „ein angemessen billiges und bequemes Unterkommen zuzuweisen", sondern auch ihr „längeres Verbleiben" zu erreichen, fertigte der bei der Seehandlungs-Societät tätige Assessor Hoffmann

146

W. Oehlert, Moabiter Chronik . . ., S. 121. W. Fischer, Der Staat und die Industrialisierung in Baden ..., Bd. 1, S. 339. 148 Wolfgang Hofmann, Die Bielefelder Stadtverordneten 1850—1914, LübeckHamburg 1964, S. 57, berichtet, daß größere Firmen wie Dürkopp, die Ravensberger Spinnerei und die mechanische Weberei Wohnungsbauprojekte durchführten oder die Gründung von gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften unterstützten, um die Arbeiter an den Betrieb und gleichzeitig an die „Scholle" zu binden, sofern ein kleines Haus Eigentum war. 148 Acta der Seehandlungs-Societät betr. den Bau von Arbeiterwohnungen ..., Ehemaliges Preußisches Geheimes Staatsarchiv, Rep. 109, Nr. 350, S. 9. 147

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ein Promemoria über den Nutzen und die Durchführung des Baus von Arbeiterwohnungen an. Wenngleich die für vierundzwanzig Familien geplanten, in drei Gebäuden gelegenen Wohnungen „dem jetzigen Bedürfniße beiweitem nicht" entsprachen, sollten sie doch die Bildung eines festen Arbeiterstamms fördern. Es sollten ein Gebäude für Werkführer und zwei weitere für Arbeiter gebaut werden; jedes Haus hatte in vier Etagen je zwei Wohnungen, im ganzen acht Wohnungen aufzunehmen, die von einem gemeinschaftlichen Flur abzweigten. Die Wohnungsgrößen unterschieden sich mit zwei Stuben und einer Küche für die Arbeiter und drei Stuben und einer Küche für die Werkführer entsprechend ihrer Funktion und ihrem Prestige im Werk. Anders als etwa die Gemeinnützige Baugesellschaft in den Berliner Vorstädten, die vorwiegend kleine Häuser nach dem Vorbild des „cottage"-Systems und diese in erster Linie für Handwerker und kleine Beamte baute, waren die Pläne der Seehandlung für Arbeiterwohnungen streng nach dem Prinzip möglichst großer Raumnutzung und lediglich zur Unterbringung von Arbeitern ausgearbeitet worden, wobei soziale Gesichtspunkte weniger berücksichtigt wurden. An diesem Beispiel wird deutlich, daß der neue Mietskasernenstil auch von der Industrie für die Industriearbeiterschaft konzipiert und als adäquater Wohnhausstil für diese Schicht angesehen wurde. Die von der Seehandlung projektierten Arbeiterwohnhäuser entsprachen bereits völlig dem seit den zwanziger Jahren als Ausnahme auftauchenden, von den vierziger Jahren ab allmählich sich ausbreitenden und nach 1871 einwandfrei dominierenden Typ der Mietskaserne, wenn auch die hohe Gebäudedichte pro Grundstück noch fehlt. Die massiven, mit geräumigen Dachböden ausgestatteten Häuser sollten „im Falle der Noth auch noch zu Wohnungen eingerichtet werden" können, sogar die Aufnahme von Schlafburschen war eingeplant, wozu „die kleineren Stuben" benutzt werden sollten.150 Die Gebäude lagen mit der Vorderfront zur Straße und hatten einen geräumigen Hof, der zu Gärten umgestaltet werden konnte, falls dies „wünschenswerth" wäre. Da sie unmittelbar neben dem Fabrikgrundstück lagen, schloß sie eine sieben Fuß hohe Mauer gegen das Fabrikgebäude ab.151 Der Bau begann im April 1847, die Wohnungen sollten im Februar 1848 bezugsfertig sein. Die Fertigstellung verzögerte sich, zumal der Bau sich verteuerte; schließlich wurden die Arbeiten im 150 151

Ebda.·, a.a.O., S. 27. Ebda.

Übernahme industrieller und städtischer Bau- und Wohnformen

221

Juli 1848 eingestellt, und das ganze Vorhaben wurde aufgegeben, als die finanzielle Lage der Maschinenbauanstalt sich verschlechterte und die Fabrik schließlich im Jahre 1850 in den Besitz Borsigs überging.152 Borsig selbst hatte ähnliche Gedanken zur „Erbauung von WohnEtablissements für die Beamten, Meister und Arbeiter seiner Fabrik" gehegt. Er wollte ebenfalls „billige Wohnungen mit umgebenden Gärten" für das im Eisenwerk beschäftigte Personal bauen, die den „Sinn für Häuslichkeit fördern sollten", nicht weniger jedoch die Bindung an den Betrieb. Da die Bedingungen der Generalverwaltung für Domänen und Forsten für einen Landerwerb zu ungünstig waren und ihm vor allem der Kaufpreis als Spekulationspreis erschien, gab Borsig den Plan, wie bekannt, „nicht gern" auf.153 Mit dem Fehlschlag beider Projekte unterblieb der Bau werkseigener Wohnungen für Arbeiter in Moabit gänzlich. Erst die Erben Borsigs nahmen diesen Plan mit der Verlegung aller Werke nach Tegel wieder auf, als die Werkssiedlung Borsigwalde gegründet wurde. Einen nur unvollkommenen Ersatz für den unterbliebenen Bau betriebseigener Wohnungen bildete die Errichtung von drei Beamtenwohnhäusern auf dem Werksgelände und die bevorzugte Vermietung von Wohnungen auf Wohngrundstücken, die mit Mietskasernen besetzt waren, an qualifizierte Berufsgruppen der Metall- und Maschinenindustrie und der Verwaltung durch Albert Borsig in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Es ist zu vermuten, daß es sich vornehmlich um die in den eigenen Fabriken tätigen Arbeiter und Angestellten gehandelt hat.154 Aber audi das hohe Mietshaus verbreitete sich nach der Aufgabe der Wohnungsbaupläne der Seehandlung bis zum Beginn der sechziger Jahre kaum in Moabit. Einen anderen, infolge der industriellen Entwicklung in Moabit schon um 1850 eindringenden Wohnhaustyp stellte die Fabrikantenvilla dar. Einige der Besitzer der größeren ansässigen Industriebetriebe verlegten ihren Wohnsitz ganz oder wie Borsig nur in der warmen Jahreszeit nach Moabit. Sie ließen sich prächtige villenartige Wohngebäude errichten. Ähnlich wie bereits die vorindustriellen Oberschichten bekundeten sie mit diesen Häusern ihren Repräsentations152

A.a.O., S. 11, 16 ff. Benutzung und Parzellierung des Kgl. kleinen Tiergartens ..., Bd. 4, Landesardiiv Berlin, Pr. Br. Rep. 42, N r . 2695. 184 Vgl. die Häuser Birkenstraße 31 und 49, Berliner Adreßbudi ... 1881 . . . , T. 2, S. 43 f. 158

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willen und versuchten mit einem großbürgerlichen Lebensstil ihre Gleichrangigkeit mit jenen Schichten und ihre Zugehörigkeit zu ihnen zu dokumentieren.155 Insofern, als diese Villen als Ausdruck der individuellen und gleichzeitig einer bestimmten, schichtenspezifischen Normen und Werten unterliegenden Selbsteinschätzung und Selbstdarstellung von Trägerschichten der Industrialisierung gewertet werden können, sind sie in ihren Erscheinungsformen zu jenen Bautypen zu rechnen, die die Industrialisierung hervorbrachte. August Borsig ließ bereits kurz nach der Eröffnung des Eisenwerks in Alt-Moabit 84 auf den benachbarten Grundstücken Alt-Moabit 85—86/Ecke Stromstraße seine Villa in unmittelbarer Nachbarschaft der Fabrikanlagen bauen; der zugehörige Park erstreckte sich bis zum Spreeufer.156 Er hatte den damals bekannten Architekten Strack mit dem Bau beauftragt. Das anfangs einfache Landhaus wurde erweitert und mit der wachsenden Bedeutung der industriellen Unternehmen Borsigs immer pompöser. Sowohl die Fassaden, die zwar „in sehr dezenter Putzarchitektur" gehalten waren, wie die Festräume, die unter „Verwendung edlen Materials" 157 ausgestaltet worden waren, legten Zeugnis vom Reichtum und dem gesellschaftlichen Anspruch des Besitzers ab. Eine besondere Liebhaberei des Hausherrn, die er allerdings mit einer Reihe von anderen wohlhabenden Männern teilte, stellten die „Verbindung der Wohnräume mit den angebauten Treibund Palmenhäusern" und die kostbaren und seltenen Pflanzen im Park dar.158 In einem separaten kleinen Haus an der Straßenfront wohnte nur der Gärtner. Auch F. A. Pflug ließ sich eine große Villa im Stil der Epoche auf seinen Grundstücken Alt-Moabit 117/118 neben der Fabrik errichten. Sie wurde 1861 eingeweiht, nachdem er vorher mit seiner Familie in einem sehr einfachen zweistöckgien Backsteinbau auf dem daneben liegenden Grundstück Alt-Moabit 116 gewohnt hatte.159 Andere Unter156

Die Studie von I. Rarisdi, Der Wandel des Unternehmerbildes ... [bisher ungedruckt], behandelt das Bild der Unternehmergestalt in der zeitgenössischen Literatur. In der Konfrontation zwischen Fremd- und Selbsteinschätzung werden der Lebensstil, die Bildung und berufliche Ausbildung, der Tagesablauf, die Wohnung u. a. dargestellt. ι«« W. Oehlert, Moabiter Chronik ..., S. 80; Lilly Martius, Die Villa Borsig in Berlin-Moabit, in: Der Bär von Berlin, N . F., Bd. 14 (1965), S. 266. 157 Ingenieurwerke in und bei Berlin . . . , T. 1, S. 423. 158 Ebda. 159 W. Oehlert, Moabiter Chronik . . . , S. 84, 123.

Übernahme industrieller und städtischer Bau- und

Wohnformen

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nehmer pflegten ihre Villen gleichfalls unmittelbar vor den Toren der Stadt, besonders in der Nähe des Tiergartens und am Ufer der Spree, zu erbauen. In ähnlicher Weise ließ der Leiter der Firma Ravené & Söhne in der Werftstraße aus einem kleinen Wohngebäude durch sukzessiven Umbau und Erweiterungen im Laufe der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts von den Architekten Ende und Böckmann eine „durch die Fülle phantasiereicher Detailbildüngen", durch Türme, Balkone, Erker, Terrassen, Mosaikziegelsteine ausgezeichnete Villa erstellen, die ebenfalls mit einem kleinen Park und einer Blumenhalle versehen war. 180 Alle drei Gebäude existierten jedodi nur wenige Jahrzehnte. Als erste wurde die Villa Pflug abgerissen, weil sich im Jahre 1877 die „Aktiengesellschaft für die Fabrikation von Eisenbahnbedarf" aufgelöst hatte und die „Baugesellschaft Alt-Moabit" das Gelände der ehemaligen Firma Pflug aufkaufte und in Wohnparzellen aufteilte. Die Villa Ravené wurde etwa zehn Jahre später abgebrochen, und die Villa Borsig ereilte dies Schicksal nach der Verlagerung der Betriebe nach Tegel/Borsigwalde.161 Wie in den Vorstädten, so zeigt auch das Moabiter Beispiel, daß der große zentralisierte Fabrikbetrieb in höherem Maße neue Anforderungen an eine funktionsgerechte Bauweise stellte als die wachsende Arbeitnehmerschaft im Wohnungsbausektor. Denn die in Moabit entstehenden Werksanlagen der Maschinen- und Metallindustrie ähnelten den Betrieben in der Oranienburger Vorstadt. In ihrer Grundstücksaufteilung und der Art der Gebäudeanordnung spiegelten sich auch hier die Arbeitsabläufe in diesen Industriezweigen wider. Die Maschinenbauanstalt und Eisengießerei der Königlichen Seehandlung hatte noch mehrere einzelne kleine Fabrikationsgebäude aufzuweisen, die unregelmäßig über das Werksgelände verteilt waren. Die einzelnen Häuser waren sämtlich eingeschossig. Borsig gab dem Gelände durdi Umbauten, die bis in die siebziger Jahre andauerten, ein weitgehend neues Gesicht. Dennoch waren die Gebäude in Moabit lockerer angeordnet als in Berlin, die Freiflächen waren erheblich umfangreicher; denn durch den Erwerb der Moabiter Grundstücke hatte Borsig seine Produktionsfläche von ca. 12 000 auf 120 000 Quadratfuß vergrößert. 182 Das Eisenwerk, ein Zweigbetrieb der Berliner Lokomotivenbauanstalt, produzierte in erster Linie Räder, Kessel, no Ingenieurwerke

in und bei Berlin . . T . 1, S. 427.

161

W. Oehlert, Moabiter Chronik . . S . 155, 161, 164.

1M

Das Fabrikwesen Berlins von 1805—1861

...,

S. 29.

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II. Entwicklung

der Kolonie Moabit zur

Industriegemeinde

Achsen und Façonstûcke.163 Die einzelnen Fabrikhallen lagen dicht nebeneinander, um so den Transportweg der einzelnen Rohprodukte und Fertigteile abzukürzen. Die Schmiede wie die Kesselschmiede, eingeschossig wie alle anderen Hallen, bildeten den Hauptteil der gesamten Anlage; sie waren auch die größten Gebäude und lagen in nächster Nähe der Spree. In der etwa 200 m langen Schmiede verbesserte „eine sehr reduzirte Anzahl von Dachstützen" die Flächennutzung.1®4 In Längsachse waren eine Reihe von Kränen und fünfundzwanzig Dampfhämmer zum Fertigen der Eisenteile angeordnet, parallel zu ihnen verliefen vier Reihen von Schmiedefeuern, unterbrochen von einigen Gruppen von Glüh- und Schweißöfen. Zur Straßenseite schlossen sich an die Schmiede die Gasanstalt, der Raum für fünfzehn Dampfmaschinen und Ventilatoren, die Schlosserei, die Tischlerei und die Dreherei an. In einigem Abstand bildeten die Magazine, die Pferdeställe, der Arbeiterspeisesaal und das Kontorgebäude einen Hofraum. Zwischen ihnen befand sich der Haupteingang von der Straße Alt-Moabit, und außerdem bildeten sie eine Begrenzung zum Villengrundstück. Noch dichter zur Straße lagen drei Beamtenwohnhäuser,165 in denen im Jahre 1861 neben einem Dirigenten sieben Obermeister und ein Werkführer, also die leitenden „Angestellten" des Werkes wohnten; noch 1886 wohnte derselbe Dirigent dort, während die anderen Bewohner ausgezogen waren. Statt dessen hatten hier sechs Werkführer, ein Aufseher — mit größter Wahrscheinlichkeit wiederum Angestellte bei Borsig — sowie je ein Restaurateur, ein Kassenbote und ein Kaufmann in den erweiterten Häusern ihre Wohnung bezogen.166 Außerdem war ein Buchhalter in das Gärtnerhaus auf dem benachbarten Villengrundstück eingezogen.167 Das Wahrzeichen nicht nur der Fabrik, sondern „des ganzen Stadttheils" bildete der von Strack entworfene, in den Himmel ragende Schornstein. Die Backsteinflächen der Gebäude waren mit dekorativen buntglasierten Ziegeln versehen, um ihnen ihre Eintönigkeit zu nehmen.168 Die Fabrik der „Aktiengesellschaft für Fabrikation von Eisenbahnbedarf" 163 Ingenieurwerke 184

in und bei Berlin . . . , T. 2, S. 135.

Eine Abbildung der gesamten Anlage des Eisenwerks im Grundriß befindet sich a.a.O., S. 134. 165 Ebda. 166 Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger ...auf das Jahr 1861 ..., T. 2, S. 107; Berliner Adreßbuch ... 1881 . . T . 2, S. 286. 187 Ebda. íes Ingenieurwerke in und bei Berlin ..., T. 2, S. 136.

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hatte auf ihrem Moabiter Gelände ebenfalls nur einen Teil des ganzen Produktionsbereichs untergebracht. Die Fabrikationsstätten nahmen einen kleinen Teil der Gesamtfläche des Grundstücks ein, der größte Teil diente als Lagerplatz. Die Gebäude ähnelten in ihrem Aussehen sehr denen der Borsigwerke.169 Ein von diesem Schema abweichendes Aussehen hatte dagegen die erste Moabiter Porzellanfabrik Schumann aufzuweisen. Mit seinem andersartigen Produktionsprozeß erforderte dieser Fabrikationszweig eine andere Gebäude- und Flächennutzung, die in der entsprechenden Gebäudeform und -Zuordnung ihren Ausdruck fand. An der Straßenfront lag das Wohnhaus, in dem im Jahre 1861 je ein Direktor, ein Inspektor, ein Buchhalter und ein Maschinenmeister wohnten. 170 In dem anschließenden einstöckigen Seitenbau befanden sich die Kontorräume und die Porzellanmalerei. Das zweigeschossige Quergebäude nahm im Erdgeschoß die Brennöfen auf, während im ersten Stockwerk die Drehersäle untergebracht waren. Ein schuppenartiger Langbau beherbergte die übrigen Abteilungen, die Kapseldreherei, die Schlemmerei und die Schleiferei sowie Vorratsräume. Auch hier lag die Spree in nächster Nähe. Sie diente dem Transport der Rohstoffe und Fertigprodukte. 171 Die Industriebauten Moabits blieben in ihrer Grundkonzeption unverändert; alle Ausbauten fügten sich in das bestehende Muster ein. Es handelte sich bei ihnen nur um bauliche Erweiterungen, die den ökonomisdien Erfordernissen der Betriebe entsprachen. Der kontinuierliche Ausbau wurde jäh abgebrochen, als nicht zuletzt durch einschneidende Änderungen im Produktionsprozeß die vorhandenen Gebäude den an sie gestellten Anforderungen nicht mehr genügten und ein vollständiger Umbau und eine völlig veränderte Anordnung der Gebäude auf den Grundstücken nicht möglich war oder zu teuer gewesen wäre. Es erfolgten daraufhin Werksverlegungen, wie sie Borsig vornahm, als zunächst die beiden Werke in Moabit gegründet und als später alle Werke nach Tegel/Borsigwalde verlegt wurden. Andere Betriebe, wie die Fabrik von Pflug und einige Porzellanmanufakturen, lösten sich auf. So blieb der südliche Teil Moabits zwi-

"· A.a.O., S. 150. 170 Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger ... auf das Jahr 1861..., T. 2, S. 107; W. Oehlert, Die Moabiter Porzellan-Manufaktur ..., in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, 30. Jg. (1913), S. 114. " der Einkünfte, in sehr kleinen Wohnungen ein Unterkommen zu finden.191 So entstanden audi in Moabit wie insbesondere in den nörd188

A.a.O., Tab. XXV, XXVI, S. 84—89; Die Berliner Volkszählung vom 3. December 1861..., Tab. X, S. 68 f.; Die Resultate der Berliner Volkszählung vom 3. December 1864..., Tab. XIX, S. 58 f.; Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1885 ..., H. 3, Tab. VI, 6, S. 34—37; Die Bevölkerungs·, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1895 ..., T. 2, Tab. IX, 1, S. 20—23. 189 Elisabeth Pfeil, Soziologie der Großstadt, in: A. Gehlen/H. Sdielsky (Hrsg.), Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, DüsseldorfKöln 1964, S. 262; G. Berthold, Die Wohnverhältnisse in Berlin ..., in: Die Wohnungsnoth der ärmeren Klassen..., passim; Α. Voigt, Die Bodenbesitzverhältnisse ..., in: Neue Untersuchungen über die Wohnungsfrage ..., Bd. 2, S. 162. 190 G. Haberland, Der Einfluß des Privatkapitals . . . , S. 39. 1,1 Der Aufwand für die Wohnung in der Großstadt wurde als zwischen 15,6 und 23 °/o des Einkommens liegend berechnet; die Berliner Wohn- und Mietverhältnisse galten als ausnahmsweise ungünstig, da hier der Mietsatz häufig bei 30 °/o lag. Siehe E. Jäger, Die Wohnungsfrage, Berlin 1902/03, Τ. 1, S. 66 f.; M. May, Wie der Arbeiter lebt, Berlin 1897.

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liehen und südlichen Vorstädten jene kleinen Wohnungen, die mit ihren „billigen Miethen [als] den Verhältnissen der Arbeiter entsprechender"192 bezeichnet wurden und vor allem dem Hausbesitzer dennoch einen Gewinn brachten. In Moabit hatten sich die Nachfrage nach Wohnungen und die Mietpreise in einem sehr ähnlichen Verhältnis entwickelt wie in den anderen Stadtteilen Berlins. Das Mietgefälle innerhalb der Gemeinde war auch hier beachtlich. In einigen der erst in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts voll erschlossenen Straßen, wie der Rostocker und der Wittstocker Straße, aber auch in der Beusselstraße, der Emdener und der Lübecker Straße lagen die Mieten in diesen Jahren bei dem niedrigen Satz von etwa 200 M pro Jahr. 193 In anderen Straßen, in denen die Mieten diese Preisgrenze überschritten, ohne daß die Bewohner ein höheres Einkommen hatten oder bereit waren, eine höhere Miete zu zahlen, waren „die Hausthore mit Schlafstellenzetteln wie gepflastert", 194 um eine Verringerung der Mieten zu erreichen. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg wurde die Wohnungsfrage mit all ihren Problemen in der volkswirtschaftlichen, sozialpolitischen und statistischen Literatur, insbesondere von dem 1872 gegründeten Verein für Socialpolitik in zahlreichen Abhandlungen und Kongressen, die auf zum Teil sehr umfangreichen Enqueten basierten, in großer Ausführlichkeit diskutiert. Im Mittelpunkt standen dabei die Fragen der Mietpreisregelung, der Bodenpreisentwicklung, der Spekulation und des Wohnungsbaus sowie die Ursachen der ständig zunehmenden Mieten, die die Lebenshaltungskosten der einzelnen Familien aller Schichten so enorm verteuerten, und ihr Verhältnis zu den langsamer wachsenden Löhnen.195 Entsprechend der weltanschaulichen und politischen Stellung oder der 192 G. Berthold, Die 'Wohnverhältnisse in Berlin, in: Die Wohnungsnoth der ärmeren Klassen ..., S. 206. 193 Diese Beobachtungen machte Rudolf Eberstadt, Städtische Bodenfragen, Berlin 1894, S. 5 f. 194 Ebda. 195 Tabellarische Angaben zur Mietpreissteigerung zwischen 1816 und 1872 veröffentlichen Ernst Brudi, Wohnungsnoth und Hülfe, in: Berlin und seine Entwicklung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirtschaft und Statistik, 6. Jg. (1872), S. 20 ff.; E. Naeher, Die innere Entwicklung der 'Wohnungsmietpreise ..., S. 23; Lujo von Brentano, Die Arbeiterwohnungsfrage in den Städten mit besonderer Berücksichtigung Münchens ( = Schriften des Socialwissensdiaftlichen Vereins der Universität München, H . 1), München 1909; G. Haberland, Der Einfluß des Privatkapitals . . .; R. Eberstadt, Städtische Bodenfragen . . . , S. 41 f.

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Wohnformen

233

Zustimmung zu einer bestimmten wissenschaftlichen Lehrmeinung, fiel die Antwort aus. Von einigen Nationalökonomen wurde „das Steigen der Mietpreise" als eine Ursadie für das „Steigen des Preises des städtischen Bodens"196 angesehen, das heißt Miet- und Bodenpreise wurden in eine enge Verbindung gebracht. Für den städtischen Grund und Boden als ein „monopolistisches Produktionsmittel" wurde „der Ertrag, den er a b w i r f t . . . kapitalisiert mit dem herrschenden Zinsfuß" und so als Mietpreis ebenfalls als bestimmend für den Bodenpreis angesehen.197 Als maßgebend dafür, daß einerseits nicht genügend gebaut wurde und andererseits die Boden- und Mietpreise ein für die breite Bevölkerung erträgliches Maß überschritten, muß vor allem die Bodenspekulation angesehen werden. Denn „die Verteuerung des Bodens" sei „nicht so groß", daß sie als Hindernis für den Häuserbau wirke, „wenn das Grundstück unmittelbar aus der Hand dessen, der es bisher landwirtschaftlich genutzt hat, in die Hand desjenigen überginge, der ein Haus darauf baut"; doch „zwischen beide schiebt sich der Bodenspekulant". 198 Daraus geht hervor, daß die Bodenspekulation eine Verteuerung des Bodens zur Folge hatte, die zu überhöhten Mieten führte, weil der Besitzer dennoch einen Gewinn zu erzielen suchte. Als ein „Trugschluß" wurde es angesehen, „daß mit beschränkter Ausnutzungsfähigkeit" infolge von baupolizeilichen Bestimmungen „und so geringerem Boden werte sich auch die Wohnungsmieten entsprechend verbilligen" würden. 199 Auch die Meinung, daß durch eine größere Bebauungsdichte niedrigere Mietpreise erzielt werden könnten, wurde verworfen. Über die Tatsadie der Berliner Bodenspekulation als einem vom Gesetz von Angebot und Nachfrage auf dem engen städtischen und städtisch beeinflußten Raum bestimmten Phänomen des kapitalistischen Systems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschte sogar die Auffassung, daß sie nicht so sehr auf die Auswirkung ökonomischer Faktoren zurückzuführen sei, sondern lediglich „als das Produkt einer ganz bestimmten Verwaltungspraxis erscheint".200 Es wurde also versucht, die Entwicklung der Bodenspekulation allein auf bestimmte administrative Maßnahmen zurückzuführen, um im Interesse der Spekulationsgewinnler ihre tatsächlichen Ursachen zu

198 187 188 199 200

L. v. Brentano, Die Arbeiterwohnungsfrage ..., S. 7. A.a.O., S. 7, 10. A.a.O., S. 11. G. Haberland, Der Einfluß des Privatkapitals ..., S. 44. R. Eberstadt, Städtische Bodenfragen ..., S. 41.

234

IL Entwicklung

der Kolonie Moabit zur

Industriegemeinde

verschleiern. Sowohl durch den Bebauungsplan direkt wie indirekt durdi Bauordnungen, Ortsstatute, Grundbuch- und Hypothekenordnungen sei „eine bestimmte Parzellierung und Bauweise", nämlich die Mietskaserne, vorgeschrieben, „die den Charakter einer Zwangsschablone annahm".801 Dagegen wurde „der Zwang der künftigen Miethskaserne" ebenfalls „in dem hohen Bodenpreis anticipirt" gesehen;202 es war allein die Möglichkeit großer Gewinne, die ihn in die Höhe trieb. Das Mietshaus wurde von den Eigentümern nidit zuletzt deshalb erbaut, um aus dem Vermieten oder dem Verkauf einen Gewinn zu ziehen, denn da die Grund- und Bodenpreise sidi infolge der Spekulation bereits vor der Bebauung des Grundstücks so stark verteuert hatten, blieb kaum eine andere Wahl als der Mietskasernenbau, wenn nicht ein hoher Verlust in Kauf genommen werden sollte, zumal oft große Hypothekenbelastungen bestanden, die den verschuldeten Hausbesitzer veranlaßten, die Hypothekenzinsen und Steuern auf die Mieter abzuwälzen.208 Die unterbreiteten Reformvorsdiläge verrieten mehr ein ehrliches Bemühen um die Lösung des Problems, als eine wirkliche Einsicht in die strukturellen und funktionalen Zusammenhänge in der industriellen Großstadt. Sowohl die reaktionäre Forderung nach einer „Wohnungsreform durch Beseitigung der Mietskaserne"204 wie die Forderung nach einem Enteignungsredit und einem Gesetz für die städtische Flurbereinigung oder eine Wertzuwachssteuer, berechnet nach dem gemeinen Wert des Grundstücks, und die Forderung nach „Erwerb von Land an der Peripherie der Städte seitens der Gemeinde und die Wiedervergebung zu Erbbaurecht"205 erwiesen sich als utopisch, ebenso wie die Forderung des Manchester-Liberalismus, daß jeder Arbeiter ein Hauseigentümer werden solle.20" Weder das Versprechen der „Expropriation" der Gutsbesitzer und der „Bequartierung ihrer Häuser mit Obdachslosen und Arbeitern" nach der sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft und der Abschaffung der kapitalistischen ProdukA.a.O., S. 42. Ebda. 20 ' A.a.O., S. 13; E. Naeher, Die innere Entwicklung der Wohnungsmietpreise ..., S. 24. 204 So lautet eine Kapitelüberschrift bei R. Eberstadt, Städtische Bodenfragen ..., S. 93. 205 L. v. Brentano, Die Arbeiterwohnungsfrage ..., S. 16. 204 Emil Sax, Die Wohnungszustände der arbeitenden Klassen und ihre Reform, Wien 1869. 202

Übernahme industrieller und städtischer Bau- und

Wohnformen

235

tionsweise, die automatisch die Wohnungsfrage lösen würde, noch der „mahnende Ruf" und der Hinweis auf die „großen sittlichen Nachteile und Gefahren des Wohnungselends", auf die sozialen Revolutionen, die „kommen müssen", wenn es nicht unterbunden würde, daß die unteren Klassen durch ihre Wohnverhältnisse zu Barbaren gemacht würden, 207 brachten das Problem einer Lösung näher. In Moabit erfolgte die rasche Erschließung des Geländes nicht allein durch private Hand. Dennoch waren die Mehrzahl der Bauherrn und Eigentümer Privatpersonen. Unter ihnen befanden sich wie in allen anderen einst ländlichen Gemeinden der Umgebung Berlins alte Grundbesitzer; in Moabit traten die Kolonisten Matthes und Beussel hervor. Beide verkauften nur einen kleinen Teil ihres Grundbesitzes an andere Bauherrn, die restlichen Grundstücke bebauten sie selbst in den Jahren nach 1861 mit Mietshäusern.208 Während Beussel noch 1861 als Gutsbesitzer bezeichnet wurde, wurde Matthes Rentier genannt, und zwar deshalb, weil er vermutlich von dem Gewinn seines umfangreicheren Grund und Bodens lebte, der in den folgenden Jahren fortschreitend mit Mietshäusern bebaut wurde. Beide Familien wohnten zumindest bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre in Moabit auf den alten Familiengrundstücken.20® Der Fiskus, der nodi bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts umfangreiches Terrain besonders im Kleinen Tiergarten besaß, trat selber nicht als Bauherr auf, wenn man von der Errichtung der Eisenbahnanlagen und des Lehrter Bahnhofs absieht. Er verkaufte fortlaufend seinen Grundbesitz an andere Bauherrn, darunter an einige Industrielle wie Borsig und Pflug, aber audi an kleinere Bauherrn, die einzelne Grundstücke zum Zweck des Wohnhausbaus erwarben. Eine andere Gruppe unter den Grundbesitzern und Bauherrn in Moabit stellten die Fabrikanten dar. Borsig, der es vor 1850 abgelehnt hatte, eine spezielle Arbeiterwohnsiedlung zu errichten, ließ in den folgenden Jahrzehnten auf verschiedenen, separat gelegenen eigenen Grundstücken Wohnhäuser errichten, in denen vermutlich eine Reihe von Angestellten und Arbeitern seiner Betriebe wohnten, so daß

207

Friedrich Engels, 2ur Wohnungsfrage, Berlin 1872; Gustav Sdimoller, Ein Mahnruf in der Wohnungsfrage, in: Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart. Reden und Aufsätze, Leipzig 1890, S. 427 ff. 808 Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger ... auf das Jahr 1861..., T. 1, passim; Berliner Adreßbuch ... 1881..T. 2, passim. !0 » Ebda.

236

II. Entwicklung

der Kolonie Moabit zur

Industriegemeinde

nicht nur unmittelbar auf dem Werksgelände Werkswohnungen an einige der Beschäftigten vermietet wurden. Doch als Bauherr von Wohnungen für Betriebsangehörige im eigentlichen Sinne, um einen festen Arbeiterstamm heranzubilden, betätigte sich Borsig nicht. Viele Grundstücke ließ er überhaupt nicht bebauen, so etwa die Stromstraße zwischen der Stendaler und der Birkenstraße, die Birkenstraße 32—44 an der Bremer Straße oder die Wilhelmshavener Straße 1—19.210 Neben zahlreichen Privatpersonen verschiedener Schichten und Berufsgruppen, wie Handwerker, Fabrikanten, Kaufleute, Bankiers und Rentiers, trat audi eine Reihe meist als Aktiengesellschaft konstituierter Baugesellschaften auf, die als Terraingesellschaften bezeichnet wurden und Grundbesitz in Moabit erwarben. Unter den sechzig nach 1871 in Berlin tätigen Aktienbaugesellschaften, von denen knapp die Hälfte in der Umgebung Berlins ihren Wirkungsbereich hatte, traten in Moabit vor allem die Baugesellschaft „Kleiner Tiergarten", die „Norddeutsche Grund-Creditbank", die „AG für Grundbesitz und Hypotheken-Verkehr", die „Grundrenten-Gesellschaft" und in Alt-Moabit die „AG Alt-Moabit" auf und erwarben zum Teil umfangreiche Ländereien, die stets mehrere Grundstücke umfaßten. 211 Bei diesen Baugesellschaften handelte es sich nicht um Baugesellschaften im Sinne der Berliner Gemeinnützigen Bau-Gesellschaft, die nach dem Vorbild des „cottage"-Systems und des Schultze-Delitzsch'schen Genossenschaftsgedankens arbeiteten. Sondern es handelte sich größtenteils um Terrainspekulationsgesellschaften, eine spezifische Erscheinung der Gründerjahre und der Zeit der großen Depression, die den Grund und Boden lediglich erwarben, um Straßen gemäß den Bebauungsplänen abzustecken, zu (¿haussieren, oft auch zu kanalisieren und das in bebauungsfähige Parzellen aufgeteilte Land an andere Bauherrn zu verkaufen. Die oft sehr hohen finanziellen Gewinne erzielten sie aus der Differenz zwischen dem Ackerwert beim Ankauf des Geländes und dem Verkauf des derart erschlossenen und der Bebauung zugäng-

210

A.a.O., 1881, T. 2, S. 43, 409 f., 443. A. Voigt, Die Bodenbesitzverhältnisse..., in: Neue Untersuchungen über die Wohnungsfrage ..., Bd. 2, S. 159; P. Voigt, Grundrente und Wohnungsfrage ..., T. 1 ; R. Eberstadt, Handbuch des Wohnungswesens ...; ders., Städtische Bodenfragen ...; H . Albrecht, Der Bau von kleinen Wohnungen ..., in: Neue Untersuchungen über die Wohnungsfrage...; E. Leyser, Gemeinnützige Bautätigkeit in GroßBerlin...; Johannes Croner, Der Grundbesitzwechsel in Berlin und seinen Vororten 1895—1904. Eine statistische Studie, Berlin 1906. 211

Übernahme industrieller und städtischer Bau- und

Wohnformen

237

lieh gemachten Terrains zu Preisen, die hoch über denen des Ackerwertes lagen. 212 Daneben traten Einzelspekulanten auf. Die bekanntesten Vertreter waren Strousberg, Quistorp und Werkmeister, die Westend als Villenkolonie gründeten und Carstenn, der Lichterfelde als Villenvorort begründete. 213 In Moabit gehörte diesem Typ die „Baugesellschaft Kleiner Tiergarten" an, die größere Komplexe erwarb und baureif machte. Bebaute Grundstücke besaß sie nicht. Sie erwarb 1872 das Pulvermagazin und sieben Hektar des „Spiekermann'schen Landes" zur Bebauung. Ein Jahr später, im Oktober 1873, waren in diesem Gebiet die Straßen reguliert und gepflastert, und der Verkauf von Grundstücken wie ihre Bebauung hatten begonnen; zwei Jahre später waren auf dem Terrain dieser Baugesellschaft bereits zweiundzwanzig Vorderhäuser fertiggestellt und fünf weitere befanden sich im Bau. 214 Die „AG für Grundbesitz- und Hypotheken-Verkehr" sowie die „Grundrentengesellschaft" und die „Norddeutsche Grund-Creditbank" bebauten die erworbenen Grundstücke selbst und behielten sie in ihrem Besitz, selbst als längst Mieter darin wohnten. Größere Komplexe besaß die „AG für Grundbesitz und Hypotheken-Verkehr" in der Birkenstraße 1, 3, 4 und die „Grundrentengesellschaft" in der Birkenstraße 14—17. 2 1 5 Daneben existierte die „Magdeburger Bau- und Kreditbank", die die Grundstücke Borsigs in der Kirchstraße erwarb, und die „Baugesellschaft Neu-Bellevue", die andere Teile des Grundbesitzes von Borsig ankaufte und die schon 1899 den Plan zur Aufteilung des Geländes bei der Baupolizeiverwaltung einreichte.216 Das Grundstück der „Aktiengesellschaft für Eisenbahnbedarf" wurde von der „Bau-

2 1 2 A. Voigt, Die Bodenbesitzverhältnisse ..., in: Neue Untersuchungen über die 'Wohnungsfrage..., Bd. 2, S. 160; P. Voigt, Grundrente und Wohnungsfrage.. T. 1, S. 117 ff.; als extremste Werte führt P. Voigt, a.a.O., T. 1, S. 120, die Steigerung von 300—600 M pro Morgen auf 3000—12 000 M pro Morgen an. 2 1 3 A. Werkmeister, Das Westend und die Wohnungsfrage, Berlin 1867; Julius Kühr, Das Westend bei Charlottenburg, seine Lage und Umgebung, Berlin 1868; Johann A. W. v. Carstenn, Offener Brief an die Mitglieder des Reichstages und des Preußischen Landtages über meine Schenkung an den Staat und deren gerichtliche und außergerichtliche Folgen sowie die künftige Entwicklung von Berlin, Berlin 1892; Paul Lueders, Groß-Lichterfelde in den ersten fünfundzwanzig Jahren seines Bestehens, Berlin 1893. 214 215 218

Vgl. W. Oehlert, Moabiter Chronik ...,S. 139, 144. Berliner Adreßbuch ... 1881..T. 2, S. 43. Vgl. W. Oehlert, Moabiter Chronik . . . , S. 102, 196.

238

II. Entwicklung

der Kolonie Moabit zur

Industriegemeinde

gesellsdiaft Alt-Moabit" erworben. Bereits 1884 war das Gelände aufgeteilt, doch noch 1886 war es nur teilweise verkauft und mit Wohnhäusern besetzt.217 Das Vordringen der Wohnbauten in den frühen Industriestandort und die Verlagerung der späteren Industriebetriebe an den westlichen Ortsrand in die Beusselstraße und die Huttenstraße, die eine Sukzession in der Raumnutzung darstellten, dokumentierten den hohen Grad der räumlichen Dynamik der in der Gemeinde sich vollziehenden Prozesse. Ihre Eigengesetzlichkeit ging, wie bereits gezeigt, vom wirtschaftlichen und sozialen Bereidi aus und setzte sich bis zur Entstehung neuer Bauformen fort. Das architektonische Ergebnis ist auch in Moabit höchst unterschiedlich zu bewerten; denn während für den Industriebau adäquate und den Produktionsprozessen entsprechende Lösungen gefunden wurden, muß im sicher vielfältigeren und komplizierteren Bereich des Wohnhausbaus ein weitgehendes Versagen aller beteiligten und verantwortlichen Gruppen konstatiert werden.

217

Berliner Adreßbuch ... 1881 . . T . 2, S. 287.

DRITTER TEIL

Die Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde

EINFÜHRUNG Zu Anfang des 19. Jahrhunderts war Rixdorf, im Südosten Berlins an die Stadt angrenzend, eines der vielen im 14. Jahrhundert gegründeten Sackgassendörfer mit um den Anger gruppierten Bauernhöfen, einer planmäßigen Gewannflur und noch weitgehend intakter Hufenverfassung. 1 Die erste Erweiterung hatte es durch die Niederlassung von achtzehn böhmischen Weberfamilien auf fünf Hufen Land im Zuge der preußischen Peuplierungspolitik im Jahre 1737 erfahren. Mit der Ansiedlung in einem bestimmten, räumlich gesonderten Komplex innerhalb der dörflichen Gemarkung wurde die vorgegebene gesellschaftliche und wirtschaftliche Segregation beider Gruppen unterstrichen. Die verwaltungsmäßige Trennung in das dem Domänenamt Mühlenhof unterstellte Böhmisch-Rixdorf und das von der Forstund Oeconomie-Deputation verwaltete Deutsch-Rixdorf betonte die Verschiedenheit der beiden Dorfteile, die sich jedoch im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße verwischte. So war die nichtbäuerliche Bevölkerungsgruppe schon vor 1800 zahlenmäßig weit höher als in anderen, rein agrarischen Dörfern vertre1 Vgl. vor allem Johannes Schultze, Rixdorf-Neukölln. Die geschichtliche Entwicklung eines Berliner Bezirks, hrsg. aus Anlaß des 600jährigen Jubiläums am 26. Juni I960, Berlin 1960; Plan vom Dorfe Böhmisch-Rixdorf, aufgezeichnet nach dem Auftrage des Justiz-Amts Mühlenhof im November 1795, in: a.a.O., S. 114; Karte von der Feldmark Rixdorf im Teltow sehen Kreise Behufs der Separation speciell vermessen, Bezirksamt Neukölln . . . Plankammer Abt. B, Schrank 1, Fach 3, N r . 88; Eugen Brode, Geschichte Rixdorfs, Rixdorf 1899; Bernhard Fliegel, Geschichte der Brudergemeinde Rixdorf zum 150jährigen Jubiläum der Gemeinde am 14. März 1906, Gnadau 1906; Ernst Kaeber, Berlin-Neukölln, in: Deutsches Städtebuch, Bd. 1, Stuttgart 1939; Erwin Stein (Hrsg.), Monographien deutscher Städte. Darstellung deutscher Städte und ihrer Arbeit in Wirtschaft, Finanzwesen, Hygiene, Sozialpolitik und Technik, Bd. 1: Neukölln, Oldenburg 1912; 600 Jahre. Von Richardsdorf bis Neukölln, hrsg. vom Bezirksamt Neukölln zu Berlin, bearbeitet und gesichtet von K. E. Rimbach, Berlin-Neukölln 1960; H e l m u t Winz, Geschichte der äußeren Berliner Stadtteile bis zu ihrer Eingemeindung, in: Heimatchronik Berlin ( = Heimatdironiken der Städte und Kreise des Bundesgebiets, Bd. 25), Berlin 1962, S. 551—637; Martin Pfannschmidt, Die Siedlungslandschaft in der Umgebung von Berlin, in: Brandenburgische Jahrbücher, Bd. 10 (1938).

16 Thlenel

242

III. Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde

ten. Dennoch gab es die Geschlossenheit des dörflichen Lebens, die ihren Ausdruck im baulichen Bild und im deutschen Dorfteil vor allem in den sozialrechtlichen und den Wirtschaftsverhältnissen fand. Die in Deutsch-Rixdorf seit der Gründung des Dorfes festgesetzte Hufenzahl gehörte nicht nur zu einer konstant bleibenden Zahl von Bauernstellen, sondern blieb auch, sofern nicht eine Familie ausstarb, bei den gleichen Familien. Jede Stelle war als eigenständiger bäuerlicher Wirtschaftsbetrieb „auf die Arbeits- und Konsumnorm einer Bauernfamilie" 2 abgestimmt. Die Kleinbauern, Kossäten und die übrigen unterbäuerlichen Schichten fügten sich in die Produktionsordnung des Gewanndorfes ein, als neue Lebensmöglichkeiten durch den landwirtschaftlichen und gewerblichen Ausbau erschlossen wurden. Sie stellten ebenfalls eine relativ stabile Größe dar. Die Familiengründung war an den Erwerb beziehungsweise an das Erbe einer Stelle gebunden. „In dieser Abstimmung der sozial normierten Betriebsgröße auf die Familie als die Wachstumszelle des Bevölkerungsvorgangs liegt die entscheidende Verbindung zwischen Bevölkerungsweise und Wirtschaftsweise." 3 Nachgeborenen Söhnen und Töchtern gestattete man wie dem Gesinde in der Regel keine Familiengründung; ihnen standen die generativ nicht vollwertigen Arbeitsplätze offen. Die Aufteilung der Arbeitsbevölkerung auf „demographisch vollwertige und nicht vollwertige Arbeitsplätze" 4 wird als weitgehend verantwortlich für den Gleichtakt von Bevölkerungsvorgang und Wirtschaftsprozeß in vorindustrieller Zeit angesehen, so daß kaum „die Geschlossenheit des sozialen Lebens zerstört wurde". 5 Das Ubergreifen bestimmter Gewerbezweige auf ländliche Gebiete in der merkantilistischen Epoche stellte den ersten Bruch mit der festgefügten Ordnung insofern dar, als eine größere Anzahl „generativ vollwertiger" Arbeitsplätze mit der Möglichkeit einer Familiengründung geschaffen wurde, die eine Zunahme der Bevölkerungsvermehrung einschloß.β Für den ökonomischen Wandel spielte die Weberei bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts eine relevante Rolle. Infolge der von 2

G. Mackenroth, Bevölkerungslehre . . . , S. 421 ff.; Herbert Kötter, Agrarsoziologie, in: A. Gehlen/H. Schelsky (Hrsg.), Soziologie . . . , S. 209 ff.; Werner Conze, Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815—1848 ..., S. 209. 3 G. Mackenroth, Bevölkerungslehre . . . , S. 422. 4 Ebda. 5 W. Conze, Das Spannungsfeld . . i n : Staat und Gesellschaft..., S. 521. 6 G. Madkenroth, Bevölkerungslehre . . S . 439.

Einführung

243

den Agrar- und Gewerbereformen ermöglichten Freizügigkeit oder regionalen Mobilität setzte ein außerordentlich hoher Zuzug, vor allem von Gewerbetreibenden und darunter besonders von Webern ein. Trotz der Konstanz der bäuerlichen Stellen und Familien leitete die Intensivierung der gewerblichen Struktur den Wandel zur städtischen Struktur ein, den das Eindringen vorwiegend kleiner und mittlerer Fabrikbetriebe in der Zeit des Beginns der Periode der Hodhindustrialisierung förderte. So bedeutete die 1899 vollzogene Erhebung Rixdorfs, des größten Dorfes im Deutschen Reich, zur Stadt nur eine formale kommunalrechtliche Anerkennung der bestehenden städtischen Verhältnisse, ebenso, wie der 1873 erfolgte Zusammenschluß Deutschund Böhmisch-Rixdorfs durch die enge Verzahnung beider Gemeindeteile unerläßlich geworden war. 7 Auch in ihrem Niedergang in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erwies sich die Weberei noch als „Initiator" des sozialen und ökonomischen Struktur- und Funktionswandels, da die freiwerdenden Arbeitskräfte in den sich nun verstärkt niederlassenden Betrieben, häufiger jedoch in Berlin Beschäftigung fanden. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Rixdorf zur typischen und zu einer der größten Wohngemeinden der unteren Schichten, deren Arbeitsort in der Hauptsache Berlin war. Dieser neue Siedlungs- oder Vororttyp stand zwar in andersartiger, aber dennoch nicht weniger intensiver wirtschaftlicher Beziehung zu Berlin als das Weberdorf, so daß seine Position in der Randzone und dann im Ergänzungsgebiet der Stadtregion wiederum durch seine Funktion in Bezug auf die zentrale Kernstadt bestimmt wurde.

7

1β·

J. Schultze, Rixdorf-Neukölln ..., S. 138.

ERSTES

KAPITEL

Die Entwicklung vom Webereistandort zum Wohnort Ähnlich wie Moabit war Rixdorf von einer dualistischen Struktur gekennzeichnet, die auf der Verbindung von landwirtschaftlicher und gewerblicher Tätigkeit basierte. Doch während in Moabit die Seidenspinnerei schon im 18. Jahrhundert zurückging und die landwirtschaftliche Produktion in der erst um 1820 gegründeten neuen Kolonie nicht der festgefügten Dreifelderwirtschaft unterlag, prosperierte in Rixdorf die Weberei, und die Landwirtschaft wie der Gartenbau wurden von den Bauern, Büdnern und Kossäten eifrig weiterbetrieben. Die rein agrarische Struktur Rixdorfs — wobei beide Dorfteile als wirtschaftliche, soziale und räumliche Einheit aufgefaßt werden — war schon in vorindustrieller Zeit durch die Aufnahme des Weberhandwerks durchbrochen worden. Die Weberei erwies sich im Zusammenhang mit der einseitigen Ausbildung Rixdorfs zum Gewerbestandort als ein besonders günstiger Faktor für die im Zuge der industriellen Entwicklung des Berliner Raums einsetzende Veränderung der gesamten dörflichen Verhältnisse. Denn in den rein agrarischen Dörfern der Umgebung Berlins verharrte das Gewerbe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch weigehend im Zustand des 18. Jahrhunderts; gewerbliche Schwerpunkte bildeten sich nicht heraus.8 Lediglich standortgebundene Gewerbebetriebe, wie Eisenhämmer, Glasfabriken, Kalkbrennereien, Ziegeleien, Teeröfen und ähnliches, befanden sich auch im 18. Jahrhundert außerhalb der Eine Denkschrift über Berliner Manufakturverhältnisse aus dem Jahre 1801, mitgetheilt von Otto Hintze, in: Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins, H. 31 (1894), S. 102 ff.; Magnus Friedrich von Bassewitz, Die Kurmark Brandenburg, im Zusammenhang mit den Schicksalen des Gesamtstaates Preußen während der Zeit vom 22. Oktober 1806 bis zum Ende des Jahres 1806, Bd. 1—3, Leipzig 1851—1860, passim; F. W. A. Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung..., passim; Ernst Fidicin, Die Territorien der Mark Brandenburg ..., Bd. 1 u. 2; Richard Boeckh, Ortschafts-Statistik des Regierungs-Bezirks Potsdam mit der Stadt Berlin, bearb. im Auftrage der Kgl. Regierung zu Potsdam unter Beifügung einer HistorisdiGeographisdi-Statistisdien Übersidit desselben Landestheils, Berlin 1861. 8

Entwicklung

vom Webereistandort

zum

Wohnort

245

Gewerbekolonien auf dem Land. 9 Die durch die merkantilistische preußische Wirtschaftspolitik fixierte -wirtschaftliche Trennung zwischen Stadt und Land war noch kaum durchbrochen worden. Bei der Gründung der Kolonie Böhmisch-Rixdorf im Jahre 1737 auf fünf Hufen oder 317 Morgen 154 Quadratruthen Land der Gemarkung des mittelalterlichen Dorfes, in der achtzehn landwirtschafttreibende Familien und eine nicht genannte Zahl ein Handwerk ausübender Einlieger angesiedelt wurden, war die Bodenzuteilung sehr gering. Deshalb sahen sich die Kolonisten auch gezwungen, die Spinnerei oder Weberei im Auftrage von Berliner Verlegern als Nebengewerbe zu betreiben.10 Daher dominierte seit seiner Gründung in diesem Ortsteil die gewerbliche Tätigkeit in der Form der Weberei, der Spinnerei und Färberei, die im Verlagssystem betrieben wurden. Die böhmischen Weber verfertigten leinenes und baumwollenes Zeug für Berliner Fabrikanten, und auch die Färberei wurde für Berliner Fabrikanten durchgeführt. 11 Im Gegensatz zu den Standorten der Seidenspinnerei und Weberei in Neu-Schöneberg stieg die Zahl der Einwohner in Böhmisch-Rixdorf bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts an und das Textilgewerbe breitete sich aus. In Deutsch-Rixdorf beschränkte sich das Gewerbe um die Wende zum 19. Jahrhundert auf je eine Schmiede und Windmühle, das Schneiderhandwerk wurde vom Schulmeister ausgeübt.12 Auf den Sandböden des TeltowPlateaus, die den westlichen Bereich der Flur einnahmen, wurde, wie 9 Denkschrift über Berliner Manufakturverhältnisse ..., i n : Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins, H . 31 (1894), S. 103. 10 Die Gemarkung Deutsdi-Rixdorf u m f a ß t e 1454 Morgen 158 Q u a d r a t r u t h e n , von denen um 1858 nodi 1403 Morgen Ackerland, 319 Morgen Wiesenland und 111 Morgen Gartenland w a r e n ; in Böhmisch-Rixdorf nahmen 1836 nodi 288 Morgen reines Acker- und Gartenland ein, vgl. Ernst Lehnert, Böhmisch-Rixdorf. Baugeschicbtliche Untersuchungen mit besonderer Berücksichtigung der Alten Bruder-Unität in Böhmen und der Erneuerten Bruder-Unität in Deutschland, Berlin 1958, S. 79 f.; J. Sdiultze, Rixdorf-Neukölln ..., S. 128; I r m g a r d H o r t , Die böhmischen Ansiedlungen in und um Berlin, i n : Herbergen der Christenheit (= Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte, Bd. 3), Leipzig 1959, S. 26; E d u a r d Winter, Die tschechische und slowakische Emigration in Deutschland, im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der hussitischen Tradition ( = Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlidiungen des Instituts f ü r Slawistik, N r . 7), Berlin 1955, S. 115 f. H i e r w i r d ausführlich die Geschichte der böhmisdi-tschechisdien Emigration behandelt. 11

Ernst Fidicin, Historisch-diplomatische Beiträge zur Geschichte der Stadt Berlin, T. 1—5, Abt. 1, Berlin 1837—1842, T . 5: Geschichte der Stadt Berlin, Berlin 1842, S. 204. 12

J. Sdiultze, Rixdorf-Neukölln

. . . , S. 100.

246

III- Entwicklung

Rixdorfs

zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

in den meisten anderen Dörfern, ein reger Ackerbau, besonders Roggenbau, getrieben, während die Viehzucht dahinter etwas zurücktrat. Auf den ausgedehnten Gartenländereien, die an die Hofstellen anschlossen, auf dem trockengelegten Niederungsland im östlichen Gemarkungsteil und im Lauf des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße auch auf den unbebauten Ackerböden wurde sehr viel Gemüse angebaut; so verdienten bereits um 1800 „die Gartenund Küchengewächse bei Berlin und Potsdam . . . vor den übrigen in der Mark den Vorzug".13 Der gemeinsame Absatzmarkt für das in der Umgebung Berlins produzierte Gemüse war trotz der zum Teil mangelhaften Verkehrsverbindungen zumal in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Stadt selbst.14 Nicht nur für die Bauern, Büdner und Kossäten, auch für eine Vielzahl der Gewerbetreibenden stellte der Gartenbau eine erwünschte zusätzliche Einnahmequelle dar.15 Die Bauernstellen und anderen landwirtschaftlichen Betriebe existierten das ganze 19. Jahrhundert hindurch. Auf zunehmend beschränktem Ackerland wurde die Landwirtschaft bis zur vollständigen Aufgabe der landwirtschaftlichen Nutzflächen betrieben. Verringerte sich die Agrarproduktion auch lange Zeit hindurch absolut nicht und blieben die Betriebe auch sämtlich erhalten, so verlor sie für die Entwicklung der Siedlung mehr und mehr an Bedeutung und wurde mit der wachsenden Konzentration der Weberei zu einer untergeordneten wirtschaftlichen Tätigkeit. Während in Moabit die Metall- und Maschinenindustrie gleichsam der „Motor" der Entwicklung war, der den ökonomischen, sozialen und baulichen Struktur- und Funktionswandel in Schwung brachte, löste ihn in Rixdorf die Intensivierung des Heimgewerbes aus. Die bereits im 18. Jahrhundert in Böhmisch-Rixdorf ansässigen qualifizierten Weber arbeiteten, wie bereits erwähnt, im Verlagssystem für Berliner Fabrikanten, die mit dem verfertigten „Zeuge sehr zufrieden" waren. 16 Die ökonomisch-funktionale Beziehung zu Berlin war somit schon in vorindustrieller Zeit hergestellt. Doch beschränkte sie sich im gewerblichen Sektor auf einen örtlichen Teilbereich, nämlich auf BöhF. W . A. Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung ..., Bd. 2, S. 9. J. Sdiultze, Rixdorf-Neukölln ..., S. 95. " A.a.O., S. 118. w Vgl. die bei J . Sdiultze, a.a.O., S. 113, wiedergegebene Schilderung von Koenig, Historische Schilderung der Residenzstadt Berlin aus dem Jahre 1778...: „diese Leute verfertigen kleinere baumwollene und andere Zeuge f ü r berlinische Fabrikanten, mit denen man damals sehr zufrieden war." 13

14

Entwicklung vom Webereistandort zum

Wohnort

247

misch-Rixdorf, und sozial gesehen auf die Gruppe der böhmischen Ansiedler. Einen die Gesamtstruktur beider Dorfteile bestimmenden Wirkungsgrad erreichte sie erst im Zusammenhang mit der Standortverlagerung der Berliner Textilindustrie während der frühindustriellen Entwickung in Berlin. In der Periode des beschleunigten wirtschaftlichen Aufschwungs gehörte das Textilgewerbe in Berlin zu den Zweigen, die kaum an der Aufwärtsentwicklung beteiligt waren, in einigen Branchen stagnierte es sogar und war, relativ gesehen, in beachtlichem Ausmaß rückläufig. 17 Ein großer Teil der Berliner Textilfabriken wurde in kleinere Städte der Provinz Brandenburg, etwa Bernau, Potsdam, Brandenburg, vor allem nach Cottbus, Luckenwalde und Spremberg in die Niederlausitz verlegt; andere wanderten in entferntere Gebiete, besonders nach Sachsen, Thüringen und Schlesien ab.18 Als Hauptgrund für den Niedergang werden „Mängel in der Organisation der Berliner Textilindustrie" verantwortlich gemacht; das Verlagssystem war durch eine gewisse „Schwerfälligkeit", „Ungleichmäßigkeit der Waren" und mangelnde Abstimmung der einzelnen Arbeitsgänge gekennzeichnet.19 In Cottbus oder Spremberg beispielsweise wurden „die einzelnen Arbeitsprozesse wie Weben, Appretieren etc. . . . in gemischten Betrieben vorgenommen, die alle Produktionsprozesse in sich vereinigten und die rohe Schafwolle bis zum völlig fertigen Stoff verarbeiteten". 20 Aber auch die steigenden Produktionskosten, die in erster Linie aus den höheren großstädtischen Grundrenten und Löhnen resultierten und so bei weitem diejenigen in den Kleinstädten und auf dem Land übertrafen, gelten als typische Standortnachteile Berlins für diesen Gewerbezweig.21 Die günstigsten Bedingungen bestanden noch für die Wollweberei und die Veredlungsindustrie, die Teppich- und Schalherstellung und später die Jutespinnerei, während die Tuchfabriken nur in geringer Zahl in Berlin blieben.22 Die Auswanderung der Berliner Textilindustrie entsprach

17 O. Sdiwarzsdiild, Die Großstadt als Standort . . . , in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. F., Bd. 33 (1907), S. 776; R. Heiligenthal, Entwicklungslinien . . . , in: Berliner Wirtschaftsberichte, 2. Jg. (1925), Nr. 5, S. 49. 18 R. Heiligenthal, ebda. 19 O. Sdiwarzsdiild, Die Großstadt als Standort..., in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. F., Bd. 33 (1907), S. 778. 20 Ebda. 21 L. Baar, Die Berliner Industrie..., S. 41. 22 Das Fabrikwesen Berlins..., S. 71 ; Max Weigert, Die Krisis der Berliner

248

III. Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

insofern zum großen Teil einem tatsächlichen „Exodus" als oft jegliche produktionsorganisatorische Verbindung mit Berlin abgebrochen wurde. In anderen Fällen verblieb jedoch ein Vertriebsbüro in Berlin. In einzelnen Branchen erwies sich das Verlagssystem auch im 19. Jahrhundert als vorteilhaft. Hier blieb der Verlag in Berlin, während die Textilheimarbeiter sich in den ländlichen Siedlungen der näheren Umgebung niedergelassen hatten. Diese Form der Verlagerung des Textilgewerbes implizierte eine Intensivierung und Ausbreitung des funktionalen Beziehungszusammenhangs zwischen der zentralen Großstadt und ihrem Umland. Auf diesem Wege konnte in den ländlichen Gemeinden eine neue ökonomische Funktion von der Großstadt aus und in völliger Abhängigkeit von ihr lokalisiert werden. Bei schon vorhandenem ländlichen Textilgewerbe, wie in Rixdorf, verstärkte sie sich in einer einseitig, die gesamte Struktur der Siedlung bestimmenden Weise. Von der zentralen Stadt aus gesehen, bedeutete dies eine von der Verlagerung großer Industriebetriebe zu unterscheidende Art der Expansion des städtischen, räumlich-wirtschaftlichen Gefüges. Die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vereinzelt geförderte Aussiedlung Berliner Baumwoll-, Woll- und Seidenweber nach Bernau, Nowawes oder Rixdorf bildete den Auftakt der Siedlungsbewegung von Textilarbeitern in die nähere Umgebung der Stadt. 23 Die in den Jahren 1819 bis 1822 zum Fortzug bereiten Weber erhielten 5 bis 20 Thlr Unterstützung. 24 So kamen in dieser Zeit die ersten Baumwollweber aus Berlin nach Rixdorf. 25 Aus der Verlagerung von Gewerbe und Industrie aus der Stadt heraus resultierte weitgehend die stärkere gewerbliche Konzentration in den an Berlin grenzenden Landkreisen Teltow, Niederbarnim und Westhavelland, die das Wachstum des Gewerbes in den meisten anderen Kreisen der Provinz Brandenburg im Laufe des 19. Jahrhunderts

Weberei, in: Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirtschaft und Statistik, 1. Jg. = Berlin und seine Entwicklung, 7. Jg. (1874), S. 5 f.; L. Baar, Die Berliner Industrie . . . , S. 42, 52. 28 R. Heiligenthal, Entwicklungslinien..., in: Berliner Wirtschaftsberichte, 2. Jg. (1925), Nr. 5, S. 45; Joachim Nitsche, Die wirtschaftliche und soziale Lage der arbeitenden Klassen in Berlin von 1800—1830 [Maschinenschrift], Wirtsdiaftswiss. Diss., Berlin 1965, S. 216. 24 J. Nitsche, a.a.O., S. 253, 255. 25 G. Neuhaus, Die Frauenarbeit in der Berliner Textilhausindustrie, in: Hausindustrie und Heimarbeit.. ., Bd. 2, S. 4.

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übertraf. 26 Gleichzeitig mit der Einwanderung von Heimarbeitern aus Berlin band das Gewerbe viele heimische Arbeitskräfte. Andererseits war gerade aus diesen Kreisen die Abwanderung nach Berlin besonders groß. So kam es während des ganzen 19. Jahrhunderts zu einem dauernden Austausch von Arbeitskräften. Die staatlich nicht geförderte freie Niederlassung der im Produktionssystem von Berlin abhängigen Textilarbeiter in bestimmten Siedlungen der Umgebung folgte einem Selektionsprozeß, durch den sich die alten Weberorte wie Bernau, Nowawes und Rixdorf zu Konzentrationspunkten der Textilindustrie entwickelten. Aufgrund seiner räumlichen Nachbarschaft zu Berlin wurde Rixdorf stärker als die meisten anderen Orte von dem vielschichtigen Prozeß der Bildung einer Stadtregion erfaßt. Rixdorf lag in geringer Entfernung von Berlin, so daß dem Weber nicht übermäßig viel Arbeitszeit an den Tagen verloren ging, an denen er seine Waren dem Berliner Fabrikanten ablieferte.27 Es war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allgemein üblich, daß der Heimarbeiter ein- bis zweimal wöchentlich meist zu Fuß nach Berlin ging, um Material und Arbeitsaufträge einzuholen sowie die verfertigten Waren abzuliefern. 28 In ähnlicher Weise brachte der Gärtner seine Erzeugnisse auf den Berliner Wochenmarkt. Außerdem hatte das Textilgewerbe in Böhmisch-Rixdorf eine längere und im Gegensatz zu anderen Kolonien blühende Tradition aufzuweisen. Die Weberei war sozusagen in diesem Ort heimisch, so daß der zuwandernde Handwerker nicht in eine ihm völlig fremde Umwelt geriet und die Kontaktaufnahme zu den „Berufskollegen" und der Beitritt zu der seit 1850 bestehenden Weberinnung es ihm ermöglichten, sich schnell in die neue Umgebung einzuleben. Dieser psychologische Faktor wird ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Als dritte Komponente waren die in der ländlichen Gemeinde vergleichsweise niedrigen

26

Vgl. die Karten Gewerbe in Brandenburg um 1849, bearb., eri. und hrsg. von Otto Büsch im Rahmen des Forschungsschwerpunktes Industrialisierungsgeschichte in der Historischen Kommission zu Berlin ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin), Berlin 1968; Gewerbe in Brandenburg 187i, bearb. v. Ingrid Thienel u.a., unveröff. 27 J. Nitsche, Die wirtschaftliche und soziale Lage .. S. 214. 28 Ebda.

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Lebenshaltungskosten für das ständig in den untersten Rängen der Lohnskala rangierende Gewerbe von Bedeutung. Nahezu jeder Weber konnte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch ein kleines Haus, zumindest ein kleines Stück Land oder einen Garten erwerben. In Zeiten einer ungünstigen Arbeitslage trug diese zusätzliche Einnahmequelle zur Sicherung des Lebensunterhalts neben zusätzlicher Kleinviehhaltung bei. Zudem boten sich stets verschiedene Gelegenheiten zur Arbeit in Gärten oder auf Feldern. Diese ergänzenden Erwerbsquellen verbesserten die Lebensbedingungen mancher Weber- und Spinnerfamilie und erhielten vor allem das Gewerbe auf dem Lande 29 und auch im Berliner Raum konkurrenzfähig. In vielen anderen Landschaften hatten vor 1850 gleichfalls fast alle Weber wie die meisten anderen ländlichen Handwerker Land- und Gartenbesitz; sie betrieben somit zusätzlich eine kleine Landwirtschaft als bäuerlichen Nebenerwerbsbetrieb. 30 Das Wachstum des Webereistandorts Rixdorf beschränkte sich jedoch nicht einseitig auf den böhmischen Teil des Dorfes, auch im deutschen Dorfteil stieg die Weberei noch vor 1850 zum dominierenden Gewerbe auf. Die Zahl der Weber wie der zugehörenden Bevölkerung hatte die der landwirtschaftlichen Besitzer und der zu ihnen gehörenden Bewohner überflügelt. Während im Jahre 1852 wie in den Jahren zuvor in Deutsch-Rixdorf alle achtzehn Bauern-, Halbbauern- und Kossätenstellen besetzt waren und sich unter den 96 Büdnerstellen viele Gärtner und kleine Landwirte befanden, wurden schon 1847 allein 53 Webergesellen gezählt. Im Jahre 1850 erklärten sich 160 Webermeister bereit, der sich konstituierenden Weber-Innung beizutreten. 31 Es handelte sich jedoch nur zum Teil um Weber, die Berlin im Zuge der Standortverlagerung der Berliner Textilindustrie nach Rixdorf verlassen hatten. Aus anderen Wirt29

A.a.O., S. 217; G. Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe... Vgl. zum Beispiel f ü r das Ruhrgebiet Helmuth Croon / Kurt Utermann, Zeche und Gemeinde. Untersuchungen über den Strukturwandel einer Zechengemeinde im nördlichen Ruhrgebiet ( = Soziale Forschung und Praxis, Bd. 19), Tübingen 1958, 30

S.11. 31 Gesellen-Listen 1847 siehe Namenverzeichnis derjenigen Personen, weldhe zu Gemeinde Bedürfnissen beizutragen haben, 1852 ... Verzeichnis derjenigen Personen, welche der Weber-Innung zu Deutsch-Rixdorf beitreten wollen, 11. Februar 1850, in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation des Magistrats zu Berlin betr. die Bildung einer Weber-Innung zu Deutsch-Rixdorf, 1847—1865, Archiv Neukölln, Hist. 1/4, 21.

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schaftsgebieten mit einer bedeutenden, zum Teil von Krisen bedrohten Textilindustrie, wie Schlesien, Sachsen oder Böhmen, wanderten ebenfalls Weber zu.32 In der einheimischen Bevölkerung vererbte sich das Gewerbe nicht nur vom Vater auf den Sohn,33 sogar aus den alteingesessenen Bauernfamilien rekrutierten sich die Weber, wenn dies auch eine Ausnahmeerscheinung darstellte. Johann Chr. Jansa, wahrscheinlich ein nachgeborener Bauernsohn, ist 1850 als Webermeister in der Innungsliste verzeichnet; 34 auch der 1864 der Weber-Innung angehörende Joseph Schneider war, unter Vorbehalt einer Namensgleichheit, ein Bauernsohn.35 Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich Rixdorf somit zu einem Konzentrationspunkt des spezialisierten Textilgewerbes, ähnlich wie Moabit für das Metallgewerbe und die Maschinenindustrie, entwickelt. Es hatte dabei analog zu Moabit eine überlokale Zentralität erlangt und sich damit schon eines der Merkmale der städtischen Funktionen angeeignet. Die Spezialisierung des Gewerbes bezog sich in Rixdorf nicht nur auf das Textilgewerbe als solches, sondern in diesem Zweig auf wenige Branchen. Schon die böhmischen Ansiedler beschränkten sich im 18. Jahrhundert auf die Weberei von Leinen- und Baumwollwaren. Den Flachs für die Leinenerzeugung bauten die Kolonisten und ansässigen Bauern selbst an,36 die Baumwolle wurde ihnen von den Berliner Fabrikanten geliefert. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erweiterte sich der Produktionsbereich mit der Aufnahme der Wollweberei. Dem Modetrend folgend, wurden vornehmlich Waffelstoffe, Wollschals und Cacheneztücher hergestellt.37 Bald danach fanden auch die neuen Ginghams-Gewebe Eingang, daneben wurden Bett- und Schürzen-

32

Ebda, vgl. die Angaben des Geburtsortes. Liste der Garnweber-Gesellen 1851, in: Acta betr. die Bildung einer Krankenund Sterbekasse der Webergesellen zu Deutsch-Rixdorf 1848—1870, Archiv Neukölln, Hist. 1/4, 22. Von sieben dort aufgeführten Garnwebergesellen gaben sechs den Namen des Vaters als Meister an. 34 Namensverzeichnis derjenigen Personen, welche zu Gemeindebedürfnissen ...; Verzeichnis derjenigen Personen, welche der Weber-Innung ..., in: Acta der Forstund Oeconomie-Deputation ..., Archiv Neukölln, Hist. 1/4, 21. 35 Mitglieder der Weber-Innung vom 28. November 1864, in: Acta der For stund Oeconomie-Deputation des Magistrats zu Berlin, betr. die Bildung einer Weber-Innung zu Deutsch-Rixdorf 1847-1865, Archiv Neukölln, Hist. 1/4, 21. 33 W. Böhm, Die Rixdorf er Weberindustrie, in: Rixdorf er Zeitung vom 17. 4.1892. 37 Ebda. 33

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zeuge angefertigt. 38 In den folgenden Jahren wurde die Produktion baumwollener Plüsche, Tücher und Schals aufgenommen, die durch die Herstellung von Chenille und sogar von Teppichen abermals erweitert wurde. 39 Damit hatte sich das Textilgewerbe in der zweiten Jahrhunderthälfte von der starren Spezialisierung auf die traditionellen Gewebe gelöst, die erhebliche Gefahren für eine kontinuierliche Beschäftigung angesichts der wachsenden Bedeutung des Modefaktors mit sich brachte, und gleichzeitig eine größere Flexibilität erlangt. Da die Herstellung von Modeartikeln aufgenommen worden war, wurde eine gewisse Produktionsbreite zu einer Notwendigkeit, um die durch Modeschwankungen verursachte rückläufige Nachfrage nach bestimmten Artikeln auszugleichen. Die in der Breite der Produktion und ihren Variationen sich dokumentierende Beweglichkeit, Umstellungsfähigkeit und die Bereitschaft zu produktionstechnischen Innovationen gehörten neben den vorgegebenen Standortvorteilen zu den Ursachen für das Aufblühen der Weberei in Rixdorf. In dem ausgesprochen innovationsoffenen Verhalten und in der Anpassung an die unterschiedlichen Modeströmungen in diesem Gewerbezweig trat ein großes Verständnis für die Erfordernisse der kapitalistischen Produktionsweise und für die praktische Ausnutzung wirtschaftlicher Vorteile zutage; dies kann gleicherweise als eine dem dynamischen Lebensrhythmus des industriellen Zeitalters sich anpassende Haltung gewertet werden. Ihr entsprach auch die Einführung von Jacquard-Maschinen in den kleinen Textilbetrieben im Jahre 1864, die neben die Heimweberei getreten waren. Sie beweist, wie sehr sich die Rixdorfer Weber von den Maschinenstürmern anderer Landschaften in den vorangegangenen Jahren unterschieden. Zum Unterschied von der Weberei in anderen Gebieten wurden nicht „nur die gemeinen Sorten" im Heimgewerbe produziert, während „alle feinern und bessern Gewebe in der Fabrik" erzeugt wurden; auch arbeiteten nicht nur die „ungeschickten und unfähigen" Handwerker im Verlagssystem, während die qualifizierten Weber bei „höherem Lohne in die Fabrik" 40 gingen. Die Rixdorfer Heimweberei trug somit durchaus exzeptionelle Züge, da sie weder in der tradi-

38

Vgl. v. Stülpnagel, Über Hausindustrie

. . . , in: Bericht aus der Hausindustrie

...,

S. 2. 39 W. Böhm, Die Rixdorfer Weberindustrie..in: Rixdorfer Zeitung vom 17.4. 1892. 40 G. Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe . . . , S. 572.

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tionellen Spezialisierung verharrte, wenn sie sich auch auf einen bestimmten Produktionsbereich beschränkte, noch auf der Konkurrenz von Hand- und Maschinenweberei bestand, wo sie zwangsläufig unterlegen wäre; sie behielt die besten und tüchtigsten Kräfte, wobei ihr allerdings der mangelnde Konkurrenzdruck von seiten Berlins zugute kam. In der Organisationsform löste sie sich darüber hinaus teilweise von der direkten Abhängigkeit vom in Berlin zentralisierten Verlagssystem durch die Gründung am Ort ansässiger selbständiger Betriebe, die selber Heimarbeiter beschäftigten. Seit der Aufnahme der Leinen- und Baumwollweberei war das Gewerbe als Hausindustrie im Verlagssystem organisiert. Das Gros der Waren, das der Berliner Woll- und Baumwollfabrikant herstellen ließ, wurde von selbständigen Meistern, die in der Stadt oder in der Umgebung wie in Rixdorf wohnten, auf eigene Rechnung angefertigt. 41 Der Fabrikant oder Großkaufmann übergab dem einzelnen Meister seine Bestellungen und lieferte gleichzeitig die erforderlichen Garne. Die Meister führten ihrerseits die Aufträge auf den eigenen Webstühlen in ihren kleinen, mit einem oder mehreren Webstühlen besetzten Wohnungen aus.42 Auch in Rixdorf arbeiteten meist die Frauen und älteren Töchter am Webstuhl mit. Häufig wurden Lehrlinge und Gesellen beschäftigt, doch war dies nicht die Regel.43 Die Bezahlung erfolgte bei Lieferung und nach Prüfung der Waren entsprechend dem vereinbarten Arbeitslohn. Die Abrechnung zwischen Meister und Gesellen war so geregelt, daß der Meister dem Gesellen Dreiviertel des erhaltenen Preises für die vom Gesellen angefertigten Waren als Lohn auszahlte. Außerdem gewährte er ihm freie Wohnung und ein Mittagessen und stellte ihm das Arbeitszeug zur Verfügung. 44 Andere Fabrikanten lieferten nur ungefärbte Garne, die von den Rixdorfer Heimarbeitern eingefärbt wurden. Auch das Garnweben wurde vielfach selbst vorgenommen. Um 1850 waren knapp 5 % der in der Weber-Innung verzeichne-

41

Vgl. v. Stülpnagel, Über Hausindustrie . . i n : Bericht aus der Hausindustrie

..

S. 4. 42 M. Weigert, Die Krisis der Berliner Weberei . . . , in: Berliner Städtisches Jahrbuch . . 1 . Jg. = Berlin und seine Entwicklung, 7. Jg. (1874), S. 13. 43 Vgl. v. Stülpnagel, Über Hausindustrie . . i n : Bericht aus der Hausindustrie .. S. 4. 44 Ebda.

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HI. Entwicklung

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ten Meister Garnweber, die je einen Gesellen beschäftigten. 45 Selten existierte eine länger dauernde feste Verbindung zwischen Großkaufmann und Webermeister, meist wurden nur Einzelaufträge übernommen. Daher pflegten die Webermeister für mehrere Fabrikanten zu arbeiten.46 Um den Webern den Gang zur Entgegennahme von Bestellungen oder zur Lieferung der Fertigwaren nach Berlin zu ersparen, hatte sich in vielen Siedlungen in der Umgebung Berlins ein Zwischenhändler zwischen Großkaufmann und Webermeister geschaltet, der für ein unterschiedlich hohes Entgelt die Bestellungen vermittelte, das Material an die Meister verteilte und die fertigen Gewebe entgegennahm.47 Die Anzahl der Bestellungen wechselte mit den Jahreszeiten, nicht nur mit der Mode; so liefen die meisten Bestellungen in den Monaten Juni bis Oktober ein, die wenigsten dagegen in der Zeit zwischen November und Februar. 48 Die tägliche Arbeitszeit betrug bei den Heimwebern im allgemeinen durchschnittlich zehn Stunden und wurde von rund zwei Stunden Pause unterbrochen. Das entsprach in etwa der in den meisten Fabriken üblichen Regelung. Doch im Gegensatz zur Fabrikarbeit wurde mit der Arbeitszeit in der Heimindustrie recht großzügig verfahren; in Zeiten großen Auftragseingangs war der Arbeitstag länger, während in ruhigen Zeiten weniger gearbeitet wurde, sofern kein Nebenerwerb anfiel. 49 Der Sonntag war generell arbeitsfrei, und nicht selten feierte man zusätzlich einen „blauen Montag". 80 Größere selbständige Unternehmen existierten im dörflichen Textilgewerbe solange nicht, bis im Jahre 1842 der junger Weber August Heinrich Kießling ein eigenes Unternehmen gründete. Kießling wurde 1818 in Rixdorf als Sohn eines nach Berlin eingewanderten sächsischen Stuhlarbeiters geboren, der während der Befreiungskriege von dort in das Weberdorf umgezogen war. 61 Der Webersohn wuchs 45

Verzeichnis derjenigen Personen, welche der Weber-Innung ..., in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation ..., Archiv Neukölln, Hist. 1/4, 21 ; GarnweberGesellen-Liste 1851 ..., in: Acta betr. die Bildung einer Kranken- und Sterbekasse der Webergesellen zu Deutsch-Rixdorf 1848—1870, Archiv Neukölln, Hist.I/4, 22. 4e Vgl. v. Stülpnagel, Uber Hausindustrie ..., in: Bericht aus der Hausindustrie ..., S. 4. 47 A.a.O., S. 5. 48 Ebda. 48 A.a.O., S. 6. 50 Ebda. 51 Siehe die Schrift des ehemaligen Prokuristen der Woll Warenfabrik Fritz Klein,

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in bescheidenen Verhältnissen auf und erlernte selbstverständlich ebenfalls das Weberhandwerk. 62 Schon früh spezialisierte er sich auf die Produktion einer bestimmten Sorte von baumwollenen Samt, die damals gerade besonders in Mode war. Durch außerordentlich guten Verdienst erwarb er die nötigen Mittel, um im November 1842 eine eigene kleine Weberei mit fabrikmäßigem Betrieb an der Berliner Straße, Ecke Ganghofer Straße zu eröffnen. An den von ihm angekauften und in eigenen Fabrikationsräumen aufgestellten Webstühlen ließ Kießling mehrere Weber arbeiten. Bei einer Vielzahl von Berliner Fabrikanten dienten die im eigenen Hause aufgestellten Webstühle vorwiegend als Musterstühle, auf denen neue Muster gewebt wurden. 58 Ein so kleiner Betrieb wie derjenige Kießlings konnte sich einen solchen Aufwand nicht leisten. Neben festangestellten Webern beschäftigte er eine Reihe von Heimarbeitern. 54 Mit dieser Absicherung im Verlagswesen war es ihm als kleinem Handwerksmeister möglich, die selbständige Fabrikation aufzunehmen. Zudem galt ein Betrieb, der über einen kleinen Maschinenpark in diesem dem Modewechsel unterworfenen Gewerbe verfügte, als relativ risikolos. Außerdem konnten die Belastungen durch eine notwendig werdende Umstellung der Produktion zum großen Teil auf die abhängigen Heimarbeiter abgewälzt werden. 55 Die rege Nachfrage nach den von Kießling produzierten Samtstoffen dauerte recht lange an. Deshalb erwarb er im März 1857 das größere Grundstück Bergstraße 33; hier zog er mit seiner Familie in das Vorderhaus ein, während die Arbeitsräume in den Seitenflügeln untergebracht wurden. 56 So trat auch in Rixdorf die in den Berliner Industrievierteln und in Moabit beobachtete Trennung von Arbeitsstätte und Wohnplatz ein. Die räumliche Entfernung zwischen ihnen, eine Variable der Agglomerationsziffer und der jeweiligen Betriebsgröße eines Standorts, war in

Vom Waffeltud) zum Hosenkönig. Aus der Geschichte der Wollwarenfabrik August Kießling, in: Neuköllner Heimatblätter, Nr. 17 (1965), S. 484. » Ebda. 53 M. Weigert, Die Krisis der Berliner Weberei ..., in: Berliner Städtisches Jahrbuch .., 1. Jg. = Berlin und seine Entwicklung, 7. Jg. (1874), S. 7. 54 F. Klein, Vom Waffeltuch ..., in: Neuköllner Heimatblätter, Nr. 17 (1965), S. 485. 55 M. Weigert, Die Krisis der Berliner Weberei . . . , in: Berliner Städtisches Jahrb u d i . . . , 1. Jg. = Berlin und seine Entwicklung, 7. Jg. (1874), S. 8. " F. Klein, Vom Waffeltud) . . . , in: Neuköllner Heimatblätter, Nr. 17 (1965), S. 485.

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der Verbindung beider auf einem Grundstück noch sehr gering; doch die Trennung innerhalb der Gebäude war damit sowohl für den Eigentümer des Betriebs wie für die in anderen Häusern und Straßen wohnenden Arbeiter eingetreten. Mit der Einführung des Fabrikbetriebes waren die mit dem Industrialisierungsprozeß verbundenen räumlichen Segregationen in den dörflichen Gewerbestandort eingedrungen und damit war — ähnlich wie in Moabit — der entscheidende Schritt aus der ländlichen Atmosphäre des Umlands einer industriellen Großstadt in die Randzone der Stadtregion getan. Zwar nahm dieser Prozeß bereits in den vierziger Jahren, also kaum später als in Moabit und in den Berliner Vorstädten, seinen Anfang, doch schritt er wesentlich langsamer voran als dort. In Rixdorf blieb die kleine und bescheidene Firma Kießling lange Zeit eine singulare Erscheinung im gewerblichen Leben. Erst in den sechziger Jahren werden andere kleine Textilfirmen genannt.57 Der Handwerksbetrieb und das ländliche Heimgewerbe fanden in der dörflichen Umgebung des in der frühindustriellen Zeit allmählich entstehenden Berliner Wirtschaftsraumes noch günstige Bedingungen vor und vor 1873 dominierten sie in der Wirtschaft Rixdorfs eindeutig. In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts trat die Verselbständigung des Rixdorfer Gewerbes in ein neues, entscheidendes Stadium. Die Firma Kießling betrieb die Weberei in der bisherigen Form nicht nur in größerem Umfang, sondern wandte sich auch dem Auslandsexport zu. Bislang hatte sich die Absatzorganisation auf einen kleinen Fuhrpark für den Warentransport nach Berlin und auf den dortigen Absatz beschränkt.58 Nun erschloß sie sich den Weltmarkt mit einem bis nach China, Japan und den USA reichenden Absatzgebiet.59 Um 1865 exportierten Kießling und einige inzwischen entstandene Unternehmen ihre Produkte hauptsächlich nach England, wo wollene weiße Kindertücher ein zeitweilig sehr gefragter Artikel waren. Es handelte sich hierbei um die kleinen Firmen Hermann Sander, A. Lucas, B. Wenzel, Ignatz und Carl Krebs, C. Rahmig, A. Schreck und O. Sevin,60 unter denen August Heinrich Kießling zweifellos die fühW. Böhm, Die Rixdorfer Weberindustrie . . . , in: Rixdorfer Zeitung vom 17. 4.1892. 6 8 F. Klein, Vom Waffeltud) . . i n : Neuköllner Heimatblätter, Nr. 17 (1965), S. 485. 59 Ebda. 6 0 W. Böhm, Die Rixdorfer Weberindustrie ..., in: Rixdorfer Zeitung vom 17. 4. 1892. 57

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rende Position einnahm. Auch damit läßt sich wiederum die besondere Situation der Rixdorfer Weberei nachweisen. Die Nähe der Großstadt begünstigte die Anknüpfung von Geschäftsbeziehungen und den Abschluß von Exportgeschäften durch den in Berlin konzentrierten Handelsapparat, den kleinere, im Umland und in den Randzonen befindliche Unternehmen direkt in Anspruch zu nehmen vermochten. Unter den kleinen Fabrikanten gehörten außer Kießling nur Ignatz Krebs, geboren in Schierswalde in Böhmen, und sein Sohn Carl als Meister der Weber-Innung zu Deutsch-Rixdorf an.61 Sie waren nach Rixdorf zugewanderte Weber, die ebenfalls aus dem Handwerk kommend, sich zu kleinen selbständigen Wollweberfabrikanten emporgearbeitet hatten. Sie bewahrten die enge Beziehung zum Handwerk im Gegensatz zu vielen, ebenfalls aus dem Handwerk aufgestiegenen Unternehmern der Metall- und Maschinenindustrie. Auch dies kann als Hinweis auf die enge ökonomische und gesellschaftliche Bindung zum Handwerk angesehen werden. Mit der Gründung dieser kleinen Verlags- und Fabrikbetriebe hatte sich eine neue Form von gewerblicher Aktivität in dem vom Mittelpunkt Berlin beherrschten expandierenden Wirtschaftsraum entwickelt. Neben die Verlegung oder die Neugründung von Großbetrieben in den Siedlungen außerhalb der Berliner Gemeindegrenzen,®2 für die Moabit ein typisches Beispiel darstellte und deren Ursache hauptsächlich in der Flucht vor den in der Stadt enorm gestiegenen Bodenkosten und den eingeschränkten Ausdehnungsmöglichkeiten zu suchen war, trat ein neuer Standorttyp. In dem Heimindustriestandort löste sich das im Verlagssystem gebundene, von Berlin zentral geleitete Textilgewerbe aus dieser Bindung und damit aus der für ein rein ländliches Gewerbe typischen Organisationsform der Weberei. Mit der Gründung kleinindustrieller Unternehmen verschmolzen in den Rixdorfer Betrieben wie bei den in Berlin ansässigen Unternehmen die Züge des Verlagssystems und des Fabrikbetriebs. Die Etablierung derartiger Organisations- und Betriebsformen in den außerhalb der Stadt gelegenen Siedlungen stellte für 61

Verzeichnis derjenigen Personen, welche der Weber-Innung .,.; Mitglieder der Weber-Innung vom 28. November 1864, in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation ..., Ardiiv Neukölln, Hist. 1/4, 21. 62 Bericht aus dem Kreise Teltow vom Jahre 1861, in dem „die Verlagerung von Fabrikationsstätten in die Umgegend der Hauptstadt" durchaus zwiespältig betrachtet wird, in: Jahrbuch für die amtliche Statistik des Preußischen Staates, 2. Jg. (1867), S. 269. 17 Thienel

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sie eine neue Form der Beziehung zwischen der Stadt und dem umgebenden Raum dar. Aufgrund der Expansion typisch städtischer ökonomischer Strukturen wurde die Erweiterung des städtischen Gefüges erreicht, und der Unterschied zwischen Stadt und Land verringerte sich. Rixdorf war nicht länger ausschließlich Produktionsort von Textilwaren für Berliner Unternehmer, sondern entwickelte mit der Verselbständigung von Betrieben städtische Wirtschaftsformen. Im Gegensatz zu der weit häufigeren Erscheinung, daß aufgrund des Funktionswandels einer Siedlung ein Sturkturwandel eintrat, wie dies als Folge der Industriestandortbildung in Moabit der Fall war, vollzog sich in Rixdorf die Entwicklung zum Standort kleinerer Industriebetriebe aufgrund eines voraufgegangenen wirtschaftlichen Wandels, nämlich der Überwindung der ausschließlichen Heimweberei im Textilgewerbe. Allerdings wurde die Verselbständigung durch den Einfluß der Handels- und Verkehrsmetropole begünstigt, ohne den die Rixdorfer Unternehmen sich kaum einen so großen Auslandsmarkt hätten erschließen können. Der Aufstieg der Rixdorfer Weberei war mit dem wirtschaftlichen Wachstum Berlins in der Phase der Frühindustrialisierung direkt verbunden. Die in der Zeit der „großen Depression" sich vollziehenden Veränderungen des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens68 führten auch in Rixdorf zu einer grundlegenden Veränderung der ökonomischen und gesellschaftlichen Situation. Den allmählichen Übergang vom heimindustriellen Webereistandort zum Standort verschiedener kleiner gewerblicher und industrieller Betriebe und zur Arbeiterwohngemeinde signalisierte die Entstehung der selbständigen Textilfabriken. Die Krise der Rixdorfer Heimweberei begann sich in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts abzuzeichnen. Die Lebensverhältnisse der Weber waren, wie die aller in diesem Gewerbe Tätigen vergleichsweise schlecht. Doch darf es als durchaus normal angesehen werden, wenn im Jahre 1872 von den „traurigen Umständen der hiesigen Gewerbetreibenden" 64 gesprochen wurde, deren Löhne zu den niedrigsten zählten, ohne daß die günstigen Lebensverhältnisse und die Möglichkeit des Nebenerwerbs wie einst erhalten geblieben ω

H . Rosenberg, Große Depression . . . ; Walt W. Rostow, The Stages of Economic Growth ..., S. 9, 59 ff. β4 Protokollbuch der Gemeindevertretung von Deutsch-Rixdorf, pro 1871 bis 1874, Sitzung vom 27. Februar 1872, Archiv Neukölln, Wandschrank 106.

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wären.65 In der Zeit der allgemeinen Aufwärtsentwicklung der Löhne seit dem Beginn der achtziger Jahre68 erreichte die Krise einen Höhepunkt, als hundertfünfzig Webergesellen und vierzig Spulerinnen im Jahre 1892 streikten, um die Wiedereinführung der Tarife von 1889 durchzusetzen, die seitdem um 15 % gesunken waren.67 Es kam sogar zu blutigen Auseinandersetzungen.68 Dennoch nahm Rixdorf beim Lohnvergleich mit Berlin und anderen entfernteren Orten in der Berliner Umgebung eine mittlere Position ein. In der Skala des Lohngefälles von Berlin zu den ländlichen Gemeinden hin stand Berlin an erster Stelle, gefolgt von Rixdorf, wo ein Heimweber im Jahre 1900 bei guter Bestellzeit durchschnittlich 9 bis 18 Mark, in Bernau nur 9 bis 15 Mark und in Nowawes maximal 12 Mark im Monat verdiente.69 Gleichzeitig verringerte sich die Zahl der Heimweber in den neunziger Jahren einschneidend. Allein innerhalb von zwei Jahren, von 1888 bis 1890 ging die Zahl der Webstühle um rund 20 % von 500 auf 400 zurück und sank bis 1895 auf 337 Webstühle.70 In gleicher Weise verminderte sich die Zahl der Webermeister und Gesellen; im Jahre 1888 wurden nur 130 Meister aufgeführt; zwei Jahre später gab es zwar wieder 200 Meister, doch der Entwicklungstrend war eindeutig rückläufig, denn 1895 wurden nur noch 92 gezählt.71 Noch stärker nahm die Zahl der Gesellen ab, die auf ungünstige Konjunkturen leichter mit Abwanderung in andere Branchen und Zweige oder mit einem Berufswechsel reagieren konnten als die mit Arbeitsgeräten ausgestatteten und damit stärker gebundenen Meister.72 Von 400 im Jahre 1888 genannten Webergesellen blieben zwei Jahre später noch 150 in Rixdorf, bis 1895 sank ihre Zahl auf 115, so daß nur mehr als ein Viertel noch als Webergesellen arbeite65

O. Wiedfeldt, Statistische Studien ... Η. Rosenberg, Große Depression . . . , S. 45 ff. « Rixdorfer Zeitung vom 6. 5.1892 und 21. 6.1892. 48 Ebda. 69 Siehe v. Stülpnagel, Über Hausindustrie . . . , in: Bericht aus der Hausindustrie . . . , S. 5. 70 Rixdorfer Zeitung vom 24. 4.1895. 71 Ebda.; audi wenn die Daten keine letzte Exaktheit zu verbürgen scheinen, verdeutlichen sie doch einigermaßen zuverlässig die Entwicklungsrichtung. 72 O. Wiedfeldt, Statistische Studien ..., S. 161; aus den Differenzen zwischen den Angaben in den Gewerbe- und Berufsstatistiken schließt W., daß ein großer Teil der Textilarbeiter in anderen Berufen beziehungsweise Gewerben Beschäftigung gefunden hatte, bei den Zählungen als Berufsbezeidinung aber weiterhin den erlernten Beruf nannte. ββ

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ten.73 Noch rapider verminderte sich die Zahl der Spulerinnen und Knüpferinnen; von 200 im Jahre 1888 erwähnten Spulerinnen arbeiteten 1890 noch 32 in diesem Beruf, und die Knüpferinnen verschwanden ganz.74 Bis 1907, dem Jahr der ersten großen amtlichen Gewerbeaufnahme in Rixdorf, nahm die Zahl der in der Textilindustrie Beschäftigten nur noch langsam ab; es gab 99 Betriebe mit 205 Beschäftigten, von denen nur 78 als Arbeiter bezeichnet wurden. Die übrigen waren qualifizierte Gewerbetreibende, vor allem Weber.75 Unter den zahlreichen kleinen Betrieben sind besonders noch immer drei Firmen — Kießling in der Bergstraße 24 (33), Krebs in der Berliner Straße 135 (54) und Sander in der Berliner Straße 75 (92) — als bedeutend anzusehen, deren Inhaber freundschaftlich miteinander verkehrten. 76 Diese Unternehmen entwickelten sich trotz des allgemein fortschreitenden Niedergangs der Berliner Weberei weiter, wenn sie auch nicht zu wirklichen Großbetrieben aufstiegen. Das „Wollwaarenlager" Sander beschäftigte einige Zeichner, deren Entwürfe von Rixdorfer Hauswebern ausgeführt wurden. 77 Um 1896 waren durchschnittlich 40 Webermeister mit jeweils 1 bis 12 Webstühlen für das Unternehmen tätig, ferner über hundert Häklerinnen, Fransenknüpferinnen und Rahmenarbeiterinnen. 78 Das Geschäft hatte sich auf die Herstellung von Waffeltüchern und Kinderschals spezialisiert; ungefähr zwei Drittel der Produktion wurden ins Ausland exportiert und nur ein Drittel wurde im Inland verkauft. 79 Kießling hatte seine beiden Söhne 1873 ins Geschäft aufgenommen, von denen der eine, wie so häufig, sich um die Leitung der Produktion am Ort kümmerte, während der andere sich der Anknüpfung von Handelsbeziehungen im In- und Ausland zuwandte. Nach dem AusRixdorfer Zeitung vom 2 4 . 4 . 1 8 9 5 ; v. Stülpnagel, Über Hausindustrie..., in: Bericht aus der Hausindustrie ..., S. 5. 74 Ebda. 75 Gewerbliche Betriebsstatistik. Berufs- und Gewerbezählung vom 12.6.1907 ( = Statistik des Deutschen Reidies, Bd. 218, Abt. VI, Bd. 208), Berlin 1909. 711 Berliner Adreßbudi..., 1881..., T. 2, S. 90 f.; Berliner Adreßbuch für das Jahr 1897, Berlin o. J., T. 5, S. 129—131. Die Differenzen in der Hausnumerierung erklären sich aus den in dieser Zeit erfolgten Umnumerierungen; F. Klein, Vom Waffeltuch ..., in: Neuköllner Heimatblätter, Nr. 17 (1965), S. 486. 77 Das gewerbliche Leben im Kreise Teltow. Aus Veranlassung der »Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896" im Auftrage des Kreisaussdiusses hrsg. v. Christoph Joseph Cremer, Berlin 1900, S. 81. 78 Ebda. 79 Ebda. 73

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scheiden des Bruders führte Hermann Kießling seit 1883 den Betrieb allein bis nach dem Ersten Weltkrieg weiter.80 Das von ihm angebotene Sortiment ähnelte dem der Firma Sander; doch wurde zusätzlich die Produktion von Trikotagen aufgenommen, um von den Modeströmungen unabhängiger zu sein.81 Als sich in Rixdorf ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften bemerkbar machte, da die Lohnforderungen der städtischen Arbeiter vom Unternehmer als zu hoch angesehen wurden, errichtete Kießling ein Zweigwerk in Helmbrechts in Oberfranken. 82 Der Betrieb blieb als reiner Familienbetrieb bestehen und überdauerte den Weltkrieg. Für die gesamte Wirtschaftsstruktur hatte das Textilgewerbe am Ende des 19. Jahrhunderts seine einstige Bedeutung völlig verloren. Die textilgewerblichen Betriebe nahmen 1907 nur noch einen Anteil von 2,1 % aller Gewerbe- und Industriebetriebe ein. Anders als in Berlin, für das der Mittel- und Großbetrieb mit durchschnittlich 6,1 Beschäftigten repräsentativ war, dominierte der Kleinbetrieb mit durchschnittlich 2,1 Beschäftigten pro Betrieb.83 Den ganzen Umfang der Rückläufigkeit verdeutlichen die Beschäftigtenzahlen; denn 1907 waren nur noch 1,2 °/o aller gewerblich Tätigen in diesem Zweig beschäftigt, diesem Anteil nach weit weniger als in Berlin, wo es noch 2,8 % waren. 84 Die Weberei erwies sich in Rixdorf nur so lange als existenzfähig, wie sie den gleichen Bedingungen wie das ländliche Gewerbe unterlag, vor allem, solange auch die Lebensverhältnisse der Weberfamilien bei geringen Löhnen sich durch Landbesitz und Nebenerwerb verbessern ließen. Mit der sprunghaft einsetzenden und sich steigernden Bevölkerungszunahme, mit der sich wandelnden Sozialstruktur, dem Eindringen anderer Gewerbe- und Industriezweige, der Errichtung von Gebäuden auf allen Teilen der Feldmark und der damit verbundenen Abnahme des Acker- und Gartenlandes, mit der Verstädterung aufgrund der Interdependenz dieser Faktoren also, verschwanden die die Weberei begünstigenden Standortvorteile. Diese Entwicklung wurde durch die allgemein zu beobachtende rückläufige Tendenz in diesem Zweig im gesamten Berliner Raum ergänzt.

80

F. Klein, Vom Wafjeltuch . . i n : Neuköllner Heimatblätter, S. 486. 81 Ebda. 82 Ebda. 83 Gewerbliche Betriebsstatistik ..., Bd. 218, Abt. VI, Bd. 208. 84 Ebda.

Nr. 17 (1965),

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III. Entwicklung Rixdorjs zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde

Obwohl sich parallel zum Niedergang der Weberei in zunehmendem Maße vorwiegend kleinere Betriebe anderer Industriezweige in Rixdorf anzusiedeln begannen, erhielten sich in der rege betriebenen Gärtnerei, die wegen ihres geringen Nutzflächenbedarfs weit weniger rückläufig war als die eigentliche Landwirtschaft, Reste der alten dörflichen Funktion. Mit der enorm fortschreitenden Aufteilung des Geländes und seiner Umwandlung in Bauland war die Verkleinerung der agrarwirtschaftlichen Flächen unabwendbar. Dennoch verringerte sich die Zahl der Gärtnereien dank des günstigen Absatzmarktes in Berlin nicht. Im Jahre 1874 werden dreißig Gärtnereien erwähnt, „deren Besitzer durch Verkauf von Wochenmarktartikeln", das heißt, von Gemüse, Obst und Blumen in Berlin, mehr wohl noch durch die in diesen Jahren einsetzende „Parzellierung von Grundstücken und deren Veräußerung, zu den wohlhabendsten Einwohnern Rixdorfs gehören" sollten.85 Darüber hinaus stellten die in den westlichen Gemarkungsteilen zwischen Berliner-, Berg- und Hermannstraße zur Baumaterialgewinnung abgetragenenen Kies- und Sandberge durch den Verkauf der Erden für die betreffenden Grundbesitzer „eine ansehnliche Einnahmequelle" dar. 8 ' Noch 1907 gab es unter 31 landwirtschaftlichen Betrieben 27 Gärtnereien, so daß sich ihre Zahl seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts tatsächlich nicht verringert hatte. 87 Doch die Anbauflächen schrumpften so sehr, daß sidi die „intensive Bodenkultur in noch vorhandene Baulücken . . . nur wenige Schritte abseits der unausgesetzt vom lebhaftesten geschäftlichen Treiben durchflutheten Straßen" zurückziehen mußte, wie ein zeitgenössischer Beobachter des wirtschaftlichen Lebens in Rixdorf vermerkte. 88 Einen der größten Gartenbaubetriebe stellte die „Kunst- und Handelsgärtnerei B. Niemetz" in der Richardstraße 116—117 dar, die 1876 gegründet worden war. 89 Niemetz hatte dieses Gewerbe am Ort gelernt, aber seine Kenntnisse in London und Wien erweitert. Er selbst wohnte im eigenen mehrstöckigen, großstädtischen Mietshaus. Auf dem Hof des Grundstücks standen mehrere „Oeconomiegebäude", dahinter befanden sich die Anbauflächen, 15 1/2 Morgen 85

Gemeinnütziger Anzeiger vom 24.10.1874. » Ebda. 87 Gewerbliche Betriebsstatistik ..., Bd. 218, Abt. VI, Bd. 208. 88 Chr. J. Cremer (Hrsg.), Das gewerblidie Leben . . S . 37. 8 » A.a.O., S. 82.

8

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263

für Blumen und Frühgemüsekulturen, die teilweise in den zehn hier angelegten Gewächshäusern gezogen wurden. Daran Schloß sich ein Komplex von 20 Morgen Land an, den Niemetz gepachtet hatte und auf dem vorwiegend Gemüsesorten wie Kohlrabi, Salat, Blumenkohl, Wirsingkohl und Spargel angebaut wurden. Das Hauptabsatzgebiet war auch für diese Gärtnerei Berlin, entfernter liegende Städte wurden selten beliefert. Während des Sommers beschäftigte Niemetz gewöhnlich 30 bis 40 Arbeiter und davon 12 bis 14 Frauen, im Winter beschränkte er sich auf einen festen Beschäftigtenstamm von 12 bis 14 Personen. Darunter befanden sich ein Obergärtner, drei Kutscher, etliche Volontäre, Lehrlinge und weibliche Arbeitskräfte. 00 Den Gegensatz „zwischen großstädtischem Leben" und „ländlichem Charakter" 91 stabilisierte in Rixdorf die jahrzehntelange Parallelität von gewerblich-industrieller und landwirtschaftlicher Struktur, die außer im Gartenbau und in der Ackerwirtschaft ihren Ausdruck in einer bemerkswert ausgedehnten Viehhaltung fand. Anders als in Moabit bewies die Agrarwirtschaft eine ausgeprägte Beharrungstendenz in der sich wandelnden Gemeinde, die nicht zuletzt auf die Seßhaftigkeit der alten Bauern- und Büdnerfamilien und auf ihr Verharren in den althergebrachten Berufen zurückzuführen war. 92 Trotz des geringen numerischen Rückgangs der Betriebe verlor der Agrarsektor im wirtschaftlichen Gefüge Rixdorfs seine einstige Bedeutung infolge des rapiden Wachstums des gewerblich-industriellen Sektors, das durch die Niederlassung zahlreicher kleinerer und mittlerer Betriebe bedingt war. Noch um 1874/76 nahmen allein die Gartenbaubetriebe innerhalb der Gesamtzahl der Betriebe — wobei die Heimweber außer acht gelassen werden — trotz ungenauer statistischer Angaben eine dominierende Stellung ein.98 Erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts sank mit dem Gartenbau die Landwirtschaft in Rixdorf zur Bedeutungslosigkeit herab. Bis zum Jahre 1907

90 91 9!

93

Ebda. A.a.O., S. 37. V g l . Z W E I T E R T E I L , ZWEITES K A P I T E L , S . 2 0 1 f .

Gemeinnütziger Anzeiger vom 24.10.1874. Dort werden 30 Gärtnereien und 10 Gewerbebetriebe, das heißt dreimal mehr Gärtnereien als alle übrigen Betriebe genannt; das Promemoria vom 19.2.1876, abgedruckt bei E. Brode, Geschichte Rixdorfs..., S. 144, gibt nur 5 Gärtnereien gegenüber 14 gewerblichen Betrieben an, das heißt nodi rund 35 °/o.

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hatte sich die Zahl dieser Betriebe auf 0,3 °/o aller Betriebe reduziert, und nur noch 0,6 °/o der Beschäftigten arbeiteten im Gartenbau. 94 Im Zuge der Dezentralisierung der wirtschaftlichen Standorte entwickelten sich auf der Basis ihrer ökonomischen Funktion verschiedene Siedlungstypen innerhalb des zu einer großräumigen Einheit zusammenwachsenden Wirtschaftsraums. Es entstanden Industriegemeinden wie Moabit, Lichtenberg oder Boxhagen-Rummelsburg, wenn sich eine mehr oder minder große Anzahl von zumeist größeren und audi Riesenbetrieben dort niedergelassen hatte. Einen anderen Typ stellte die reine Wohnkolonie, wie Grunewald, Wilmersdorf oder Friedenau, dar, wo gewerbliche und vor allem Industriebetriebe weitgehend fehlten. Als dritter Siedlungstyp entstand der Wohnort besonders der unteren und hier der Arbeiterschichten, wie ihn Rixdorf repräsentierte, in dem sich gleichzeitig eine größere Anzahl meist kleiner Betriebe verschiedener Industriezweige niedergelassen hatte. Parallel zu der in den Vorstädten in der Phase der frühen Industrialisierung erkennbaren Trennung in unterschiedlich akzentuierte Arbeits- und Wohnviertel entwickelten sich unter den gleichen Bedingungen und Prozessen die Gemeinden des Umlands zu Orten, die vorwiegend als Arbeits- und Wohnort zu charakterisieren sind. Sie nahmen funktionale und strukturelle Ähnlichkeiten mit den Stadtteilen Berlins an und rückten so im Laufe der Expansion des großstädtischen Einflußbereichs wie die Vorstädte aus dem Umland in die Randzone, in das Ergänzungsgebiet oder gar in die Kernstadt der Stadtregion Berlin ein. Die Entwicklung Rixdorfs zur Wohngemeinde und zum Standort kleiner Betriebe begann zusammen mit der Entstehung der meisten Textilbetriebe nach 1860. In den Jahren 1869/70 folgte als erstes Unternehmen eines anderen Industriezweigs die „Bergschloßbrauerei", die ihre Fabrikationsanlagen in der Wißmannstraße auf einem Areal von 32 Morgen errichtete.95 Diese Brauerei, die 1896 etwa hundert Arbeiter beschäftigte, entwickelte sich ebenso wie das zweite, sich in diesem Ort 1872 zwischen der Hermann-, der Jäger- und der Berliner Straße niederlassende Unternehmen dieser Branche, die „Vereinsbrauerei Rixdorf", zu den größten Werken in Rixdorf. Im Jahre 1896 beschäftigte die Vereinsbrauerei einschließlich der Kutscher, Handwerker sowie der 35 kaufmännischen und technischen Angestell04 95

Gewerbliche Betriebsstatistik ..., Bd. 218, Abt. VI, Bd. 208. Chr. J. Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben . . . , S. 86.

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ten, doppelt so viele Arbeitskräfte wie die „Bergschloßbrauerei".96 In den folgenden Jahren siedelten sich jährlich neue Betriebe an, die entweder aus Berlin oder aus anderen Räumen hierher verlegt wurden, oder es handelte sich um am Orte neugegründete Unternehmen, oft zum Beispiel um Aktiengesellschaften. Bis zum Oktober 1874 hatten sich ferner je eine Gummi- und eine Lederfabrik hier niedergelassen und bis zum Februar 1876 hatten sich als „größere Fabrikstätten", das heißt als Fabrikbetriebe im Gegensatz zu kleinen Handwerksbetrieben, eine weitere Gummifabrik und sechs Großtischlereien hinzugesellt.97 Für die Ausbildung eines bedeutenden Standorts größerer Industriebetriebe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fehlten Rixdorf entscheidende Standortvorteile, besonders eine günstige Verkehrslage. Keine der großen, aus Berlin führenden Fernbahnlinien berührte Rixdorf. Lediglich die Ringbahn durchquerte den Ort im südlichen Gemeindeteil. Der Kanalanschluß war durch den insgesamt ausgezeichneten Ausbau des Eisenbahnnetzes zeitweilig zweitrangig und für die Ansiedlung vieler Industriezweige weniger attraktiv geworden.98 Rixdorfs größte Anziehungskraft auf Betriebe, die sich hier niederlassen wollten, bestand in seinem Angebot an freiwerdenden Arbeitskräften aus dem rückläufigen Heimgewerbe, zumal gerade in den achtziger Jahren und verstärkt von 1890 viele Betriebe in Rixdorf gegründet wurden. Es handelte sich in der Mehrzahl um Kleinbetriebe. In kaum einer Gemeinde im Umland und in der Randzone Berlins war das Kleingewerbe so stark vertreten wie in Rixdorf. Im Jahre 1907 waren fast die Hälfte, 46,7 %> aller Betriebe „Alleinbetriebe", das waren Betriebe ohne jede Hilfskraft. Von den verbleibenden 53,3 % , den „Gehilfenbetrieben", gehörten allein 45,9 °/o zu den Kleinbetrieben mit 2 bis 5 Beschäftigten. Weitere 3,8 % beschäftigten als Mittelbetriebe 6 bis 10 Personen und 3 , 2 % zählten zu den größeren Mittelbetrieben mit 11 bis 50 Beschäftigten; nur 0,42 % rechneten zu den Großbetrieben mit 51 bis 200 Beschäftigten, während lediglich 0,5 % eigentliche Großbetriebe »« Ebda. 97 Gemeinnütziger Anzeiger vom 2 4 . 1 0 . 1 8 7 4 ; Promemoria vom 19.2.1876..., in: E. Brode, Geschichte Rixdorfs . . . , S. 144. 98 Die Anlage eines Hafens und eines Verbindungskanals zwischen dem Landwehr- und dem TeltowkanaL wurde auf Gemeindeinitiative zwar um 1898 begonnen, dodi erst um 1914 fertiggestellt, das zugehörige Industrieareal war ebenfalls erst von dieser Zeit an besiedelbar.

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III. Entwicklung Rixdorf s zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde

mit mehr als 200 Beschäftigten waren." Innerhalb der einzelnen Gewerbezweige differierten die Betriebsgrößenzahlen. So dominierte der Kleinbetrieb wie in allen Gemeinden im Bekleidungsgewerbe, aber auch im künstlerischen Gewerbe, in der Leder- und Textilindustrie, im Druckereigewerbe, in der Papierindustrie und in der Industrie der Nahrungs- und Genußmittel. In fast allen diesen Zweigen waren in Berlin die Betriebe durchschnittlich größer. Teilweise zählten sie dort sogar zur Gruppe der Mittelbetriebe. Auch die Zweige, in denen in Rixdorf die Mittelbetriebe überwogen, wie in der Industrie der Holz- und Schnitzstoffe, dem Baugewerbe, der Metallverarbeitung, der Industrie der Maschinen, Instrumente und Apparate und der Industrie der Steine und Erden, verzeichneten durchschnittlich eine geringere Betriebsgröße als vergleichsweise in Berlin. Großbetriebe existierten lediglich in der chemischen Industrie und im Industriezweig Bergbau, Hütten- und Salinenwesen. Dort lag die durchschnittliche Betriebgröße, obwohl zur Gruppe der Mittelbetriebe gehörend, über der vergleichbaren in Berlin.100 Wie in den meisten Vororten rechnete die Mehrzahl aller Betriebe, nämlich 53,3 °/o zum gewerblichen Sektor. In Schöneberg waren es im Vergleich dazu nur 50,7 %. 101 Unter den Einzelzweigen stand in Rixdorf wie in Schöneberg der Handel, hauptsächlich der Kleinbetrieb mit durchschnittlich zwei Beschäftigten, mit allein 32,1 % aller Betriebe an der Spitze. Dieser Zweig setzte sich vorwiegend aus den der Versorgung der ansässigen Bewohner dienenden Einzelhandelsgeschäften zusammen. Die in beiden Orten verhältnismäßig große Zahl von Verkehrsbetrieben war durch den intensiven Nah- und Berufspendlerverkehr von und nach Berlin bedingt.102 In fast allen in Rixdorf ansässigen Gewerbezweigen waren einzelne mittelgroße hochspezialisierte Betriebe vertreten, die überregionale Bedeutung erlangt hatten, so daß das Rixdorfer Gewerbe keineswegs als ein lokales Gewerbe charakterisiert werden darf. Zu jenen Betrie-

99

Verwaltungsbericht der Stadt Rixdorf für das Rechnungsjahr 1908 und 1909, Berlin 1910, S. 43. Die Definition der Betriebsgrößen entspridit der in der preußischen Statistik angewandten Klassifikation. 100 Gewerbliche Betriebsstatistik ..., Bd. 218, Abt. VI, Bd. 208. 101 Ebda; Verwaltungsbericht des Magistrats der Stadt Schöneberg, 3. Jg. (für 1903—1908), Berlin 1910, S. 395. 102 Gewerbliche Betriebsstatistik ..., Bd. 218, Abt. VI, Bd. 208; Verwaltungsbericht des Magistrats Schöneberg . . . , S. 398 f.

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ben gehörte die „Deutsche Glasmosaik-Gesellschaft Puhl & Wagner" in der Berliner Straße 7—8.108 Sie war 1889 als kleine Feuerwerkstätte in der Ackerstraße in der Oranienburger Vorstadt gegründet und bald danach nach Rixdorf verlegt worden, wo sie 1896 rund vierzig Arbeiter zählte.104 Arbeiten in verschiedenen Kirchen, so der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, der Erlöserkirche oder der Jerusalemer Kirche, und Aufträge für bekannte Einzelhandelsgeschäfte, wie Rudolf Herzog oder Loeser Sc Wolff, machten die Firma weithin bekannt und brachten Aufträge für Theater in Dessau, Halle, Potsdam und sogar in Tokio.105 Besonders von den Metall- und Maschinenfabriken hatten sich in ihrer Produktion auf Teilbereiche beschränkte Firmen niedergelassen, wie die kleine „Fabrik für mechanische Verschlüsse mit Korkdichtung" in der Bergstraße 132, deren Produkte hauptsächlich von etwa 20 bis 25 Frauen hergestellt wurden. 106 Ebenso hochspezialisiert und ebenfalls auf einen größeren Absatzmarkt als Rixdorf ihn bot, waren die beiden Klavier- und Pianofortefabriken von W. Emmer in der PrinzHandjery-Straße 14 und von Leonhard in der Knesebeckstraße 112 angewiesen.107 Auch die fast ausschließlich Schockspiegel herstellende „Silberbelege-Anstalt" der Gebrüder Futter in der Bergstraße 132 gehörte zu dieser Kategorie von Betrieben.108 Die „Drahtweberei Reh & Sohn" in der Kirchhofstraße 45 muß ebenso dazu gerechnet werden wie die drei Buntmetallfabriken, die „Bronze- und MessingwarenFabrik" von Pfannenberg in der Prinz-Handjery-Straße 14, die „Berlin-Rixdorfer Bronze-Waaren- und Kronleuchter-Fabrik" von Heinrich Schrammer in der Richardstraße 116/117 und Max Kießlings Metallwarenfabrik, die in erster Linie Nippessachen in imitierter Bronze anfertigte. Die Zahl der Arbeiter bewegte sich in diesen Fabriken zwischen 17 und 90.109 Das größte Unternehmen dieses Zweiges, mit durchschnittlich 200 Arbeitern einer der wenigen Großbetriebe, waren die „Berlin-Rixdorfer Messingwerke" in der Berg-

103

Chr. J. Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben . . . , S. 80. Ebda.; Ferdinand Meyer, Die Clasmosaik-Anstalt zu Berlin-Rixdorf, in: Der Bär, 24. Jg. (1898), S. 581. "5 Ebda. 106 Chr. J. Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben . . S . 83. 107 A.a.O., S. 83, 86. 108 A.a.O., S. 82. A.a.O., S. 83, 86. 104

1898,

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III. Entwicklung Rixdorjs zum Gewerbedorf und zur

Wohngemeinde

Straße 89—91, dessen Inhaber C. Lehmann im Jahre 1891 den Betrieb von Berlin hierher auf ein Terrain von fünf Morgen verlegt hatte.110 In ihrer Produktion war diese Fabrik ganz auf die Rohr- und Drahtzieherei für Messing, Tomback, Kupfer, Bronze und Neusilber spezialisiert, wobei monatlich rund 100 000 kg Kupfer, Zink, Zinn und Nickel verarbeitet wurden. 111 Mit ihrem Anteil am Gesamtgewerbe war die Metallindustrie mit gut 2 % aller Betriebe, 5,9 % aller Beschäftigten, 3,9 % aller Gewerbebetriebe und 8,9 °/o aller im Gewerbe Tätigen etwa genauso stark, der Beschäftigtenzahl nach etwas stärker vertreten als in Berlin.112 Die geringere Bedeutung dieses Industriezweigs für die räumliche Struktur des Ortes war durch das weitgehende Fehlen eines mehr oder minder geschlossenen Standorts innerhalb der Gemeinde bedingt. Im Gegensatz zu Berlin hatte sich die Maschinenindustrie in Rixdorf kaum konzentriert; sowohl der Zahl der Betriebe, wie erst recht der Zahl der Beschäftigten nach war sie hier unterrepräsentiert. In Rixdorf gab es, abgesehen von der „Rixdorfer Maschinenfabrik G.m.b.H. vorm. G. Schlickeysen", fast nur Klein- und kleine Mittelbetriebe in diesem Zweig. In Berlin wies die Maschinenindustrie mit durchschnittlich knapp 30 Beschäftigten, abgesehen von der Elektroindustrie, die größten Betriebe auf. Die Elektroindustrie, der bedeutendste Zweig der Berliner Industrie, die seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung erlebte, war in Rixdorf von völlig untergeordneter Bedeutung.113 Die ansässigen diemischen Fabriken waren mit durchschnittlich 14,4 % der Erwerbstätigen der Beschäftigtenzahl nach die größten Betriebe; da in Berlin in diesem Zweig dennoch die größeren Betriebe die Regel darstellten, waren die Rixdorfer Betriebe vergleichsweise klein. Die chemische Industrie blieb auf wenige Branchen beschränkt. Die beiden Lackfabriken lagen im südlichen Ortsteil, die „Lackfabrik H . Pfanne & Co" befand sich in der Juliusstraße 64 und der Betrieb von W. Meyer und J. C. Schultze lag am Mariendorfer Weg; die drei Asphalt- und Dachpappenfabriken befanden sich in der Walterstraße 18—19, in der Berliner Straße 20 und in der Schinkestraße 10.114 Zu

110

A.a.O., S. 85. Ebda. 112 Gewerbliche Betriebsstatistik ..., Bd. 218, Abt. VI, Bd. 208. 113 Ebda. 114 Chr. J . Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben ..., S. 81, 85; Teltower blatt vom 6. 2.1878 und vom 7. 8.1880. 111

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den hochspezialisierten Firmen rechnete auch das „Chemische Laboratorium" unter der Leitung von Dr. Joseph Hörde in der Bergstraße 132, das die Gewinnung von Thoriumsilikat zur Imprägnierung von Glühlichtstrümpfen betrieb.115 Eines der bekanntesten chemischen Unternehmen war die Farbenfabrik von S. H . Cohn am Kottbusser Damm 70. Diese schon 1796 in Wörlitz bei Dessau gegründete Firma errichtete zunächst in der Berliner Luisenstadt im Jahre 1871 nur ein Kontor in der Alten Jacobstraße und zog 1884 in die Lindenstraße 78 um. Erst 1888 wurde die zentrale Verkaufsorganisation zum Kottbusser Damm verlegt. Nach der Stillegung des Wörlitzer Werkes wurde, da der akute Raummangel des Berliner Grundstücks dort jegliche Vergrößerung unterband, im Jahre 1885 die Produktion auf dem Rixdorfer Grundstück aufgenommen und hier die zentrale Fabrikationsstätte errichtet, während die Badenburger Wassermühle bei Gießen als Zweigwerk geführt wurde.116 Das in Rixdorf errichtete Gaswerk in der Cannerstraße mit 35 Beschäftigten verdient an dieser Stelle erwähnt zu werden.117 Die 1883 eröffnete „Rixdorfer Linoleumfabrik" mit anfangs 80 bis 100 Beschäftigten zählte zu den ersten derartigen Betrieben in Deutschland. Sie war mit englischer Kapitalbeteiligung errichtet worden und schon 1887 wurde, durch den erfolgreichen Absatz der Erzeugnisse veranlaßt, eine Vergrößerung in Angriff genommen.118 Bis 1894 wuchs der Betrieb zur Fabrik mit der größten Beschäftigtenzahl von 348 Erwerbstätigen in Rixdorf heran.119 Eines der imposantesten Unternehmen Rixdorfs war die „Deutsche Linoleum- und Wachstuch Compagnie" in der Bergstraße 102, deren „großartiger Gebäudekomplex" vielfach erweitert wurde, um über genügend große Produktionsräume zur Ausführung der stetig steigenden Zahl der Aufträge „aus dem In- und Ausland" zu verfügen. 120 Insgesamt jedoch herrschte audi in der Leder- und Gummiindustrie der Kleinbetrieb vor. Dem

115

A.a.O., S. 83. A.a.O., S. 80; C. H . Cohn, Neukölln, Farben und Lacke, Neukölln 1885. 117 A.a.O., S. 83; Betriebe der Steuerklasse l—II (1894), in: Gewerbesteuern. Einführung einer besonderen Gewerbesteuer in Rixdorf 1897/1898, Archiv Neukölln, 27 L/1,5. 118 Rixdorfer Zeitung vom 22. 3.1883; Teltower Kreis-Blatt vom 14. 6.1887. lw Betriebe der Steuerklasse I—II..., in: Gewerbesteuern..., Archiv Neukölln, 27 L/1,5. 120 Chr. J. Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben ..., S. 85. 118

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HI. Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde

Anteil an den Betrieben nach war sie mit 3,6 % sogar stärker vertreten als in Berlin, bei einer Beschäftigtenzahl von 1,9 °/o schnitt sie jedoch schlechter ab.121 Eine überdurchschnittlich hohe Anzahl von Betrieben der Nahrungsund Genußmittelindustrie hatte sich in Rixdorf niedergelassen, ohne jedoch eine so starke Konzentration zu erreichen, die den Ort zu einem wirklichen Standort dieser Branchen gemacht hätte. In Rixdorf gehörten ihr 10,5 °/o aller Betriebe an, in Berlin dagegen nur 6,4 %>; der Anteil der Beschäftigten lag mit knapp 13 % weit über dem Anteil, den dieser Zweig mit 8,6 % in Berlin zu verzeichnen hatte. Die relativ hohen prozentualen Anteile in beiden Gemeinden, die ihrem Rang in der industriellen Entwicklung und vor allem unter dem Aspekt der Standortentwicklung keineswegs entsprachen, waren auf die in diesen Sparten vertretenen Einzelhandels- und Einzelversorgungsgeschäfte meist handwerksmäßigen Charakters, wie Fleischereien oder Bäckereien, zurückzuführen. Dementsprechend dominierte der Kleinbetrieb. Unter den Fabriken waren so verschiedene Betriebe vertreten wie zwei Eiswerke, drei Brauereien, eine Dampf-Getreidepreßhefe- und Spiritus-Fabrik in der Delbrückstraße 52, eine Klauenfett- und KnochenölFabrik in der Kopfstraße 59 und eine Malzfabrik in der Hermannstraße 29—30.122 In diesem Zweig wurde hauptsächlich für den lokalen und regionalen Markt, also für den Berliner Wirtschaftsraum und die Provinz Brandenburg, produziert. So basierte zum Beispiel der Absatz der „Mineralwasser-Fabrik Robert Martens" in der Richardstraße 109 auf einer „ausgedehnten Kundschaft im Kreise Teltow". 123 Audi für die „Fleichwaren- und Wurstfabrik" von Hugo Seitmann in der Hermannstraße 53, einem kleinen Betrieb mit acht bis zehn Gesellen, der erst 1893 von Berlin nach Rixdorf übergesiedelt war, erstreckte sich das Absatzgebiet vornehmlich auf die Provinz Brandenburg und bis nach Stettin.124 Nur die etwa hundert Personen beschäftigende und zu den größten Betrieben dieses Zweiges gehörende „Schmalzfabrik C. und G. Müller" am Richardplatz hatte ihren Absatz auf das europäische und nordamerikanische Ausland ausgedehnt.125

lai Gewerbliche Betriebsstatistik ..Bd. 218, Abt. VI, Bd. 208. 122 Chr. J. Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben . . . , S. 85, 86; Betriebe der Steuerklasse I—II..., in: Gewerbesteuern ..., Archiv Neukölln, 27 L / 1,5. 12> Chr. J. Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben . . . , S. 82. 124 A.a.O., S. 86. i " Rixdorfer Zeitung vom 3.2.1889.

Entwicklung vom Webereistandort zum Wohnort

271

Eines der für Rixdorf und seine räumliche Struktur bedeutsamsten Gewerbe stellte die Industrie der Holz- und Sdinitzstoffe dar. Nach dem Bekleidungs- und Baugewerbe, die in allen Orten des expansiven Wirtschaftsraums quantitativ besonders stark vertreten waren, beschäftigte dieser Zweig mit 13 °/o aller im Gewerbe Tätigen den höchsten Prozentsatz. Sowohl was die Zahl der Beschäftigten wie der Betriebe betraf, spielte dieser Zweig hier eine größere Rolle als in Berlin. Dennoch lag die durchschnittliche Betriebsgröße nicht über der der größeren Stadt.126 Am Kottbusser Damm befanden sich eine Reihe von Nutzholzhandlungen und Holzgeschäften, die teilweise nur Bauhölzer oder Brennhölzer lagerten, während die Dampfmühlen an anderen Orten und in anderen Gebieten, etwa in Pommern oder Westpreußen, errichtet wurden.127 Es handelte sich meist um kleine Geschäfte mit durchschnittlich acht Arbeitern. 128 Die „Fabrik für Holzbearbeitung" von Adolf Butterweich in der Bergstraße 132 mit fünfzehn Arbeitern stellte ebenso wie viele andere kleine Betriebe Zubehör für Neubauten her; diese Firma hatte sich auf Fußböden, Türbekleidungen und Leisten spezialisiert; andere kleine Betriebe stellten gar nur Goldleisten her.129 Die größte Zahl der Betriebe dieses Gewerbezweiges, darunter auch größere Fabriken neben zahlreichen Handwerksbetrieben, hatte sich im südlichen Gemeindeteil, in der Knesebeckstraße und den anliegenden Straßen, niedergelassen. Die Möbeltischlerei von W. Laborenz in der Knesebeckstraße 107—108 hatte sich mit 140 Beschäftigten im Jahre 1894 und 150 Arbeitern und Angestellten im Jahre 1896 zu einem der größten Unternehmen entwickelt und sich neben der Herstellung anderer Möbel stark auf die Erzeugung von Nähmaschinengestellen spezialisiert. Die wöchentliche Produktion belief sich etwa im Jahre 1896 auf einige hundert Tische und ca. eintausend Nähmaschinengestelle.130 Die Agglomerationstendenz der modernen Industrie innerhalb unterschiedlich großer Funktionsgefüge trat audi in Rixdorf, entsprechend seiner geringeren Gewerbestandortfunktion, in abgeschwächtem Maße in Erscheinung. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verteilten sich die Webereien über das gesamte, in jener Zeit bebaute 12« Gewerbliche Betriebsstatistik ..., Bd. 218, Abt. VI, Bd. 208. 117

Chr. J. Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben . . S . 30. Ebda. A.a.O., S. 83. 130 A.a.O., S. 85; Betriebe der Steuerklasse I—II..., in: Ardiiv Neukölln, 27 L / 1,5. 128

Gewerbesteuern...,

272

III· Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

Gemeindegebiet, mit Ausnahme des alten und mit Bauerngehöften besetzten Dorfangers, wo nur punktuelle Ansätze eines Eindringens der Gewerbe zu verzeichnen waren. 181 Die zur Gemeinde Deutsch-Rixdorf gehörenden Meister der Weberinnung hatten sich sowohl in den älteren wie in den später angelegten Straßen, sogar in dem Gebiet der alten böhmischen Kolonie, der Berliner- oder späteren Richardstraße, niedergelassen. In der Mühlen-, der Kirchhof-, der Berg-, der Berliner und der Rosenstraße, aber auch in der Kirchgasse waren manche Grundstücke von einer Vielzahl von Weberfamilien bewohnt. Das extremste Beispiel dafür bietet hier die Berliner Straße 29, wo zehn Webermeister ihre Werk- und Wohnstätten hatten; auf vielen anderen Grundstücken wohnten fünf bis sechs Weberfamilien, meistens jedoch nur ein bis zwei Familien. 132 So handelt es sich durchaus um eine echte Segregation des führenden Gewerbezweiges beziehungsweise um eine räumliche Differenzierung zwischen den beiden Wirtschaftszweigen der Landwirtschaft und des Gewerbes, die in Rixdorf in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertreten waren. Im Vergleich zur großstädtischen Textilindustrie und zum Bekleidungsgewerbe in Berlin bildete das dörfliche Textilheimgewerbe in dem kleineren räumlichen Bereich keine so markanten Standorte aus, abgesehen von der geringen Invasion in den altbäuerlichen Dorfteil. Die Maschinen- und Metallindustrie dagegen entwickelte in den nördlichen Berliner Vorstädten, analog zu Moabit, trotz unterschiedlicher quantitativer Akkumulation, sich räumlich deutlich abhebende Konzentrationen. Diese Beobachtung deutet darauf hin, daß sich die Entstehung wirtschaftlicher Standorte in der doppelten Abhängigkeit von zwei Faktoren oder in einer Interdependenz zwischen ihnen vollzog. Aufgrund der Bindung an die Ortsgröße neigten größere städtische und multifunktionale Siedlungen auch in frühindustrieller Zeit mehr zur Differenzierung und zur Entwicklung räumlicher Funktionseinheiten als kleine dörfliche Siedlungen. In der Wahl des Wirtschaftsbereichs und speziell des Gewerbezweigs neigten die als Industrialisierungsphänomen auftretenden zentralisierten Fabrikbetriebe, sofern sie eine gewisse quantitative Bedeutung erlangten, bevorzugt zur Konzentration. lai Verzeichnis derjenigen Personen, welche der Weberinnung..., Forst- und Oeconomie-Deputation ..., Archiv Neukölln, Hist. 1/4, 21. 132 Ebda.; vgl. die Karte Die Wohnungen der Rixdorfer zu Deutsch-Rixdorf. 1850 in Tasdie am Ende des Bandes.

Meister der

in: Acta

der

Weberinnung

Entwidelung vom Webereistandort

zum

Wohnort

273

Als ein von Industrieanlagen relativ freigehaltener Raum innerhalb des Ortes zeichneten sich auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die beiden alten Dorfteile aus. Am Richardplatz, in dem anschließenden Dreieck der Kirchhof-, Berg- und Mühlenstraße, in dem an den Richardplatz anschließenden südlichen Teil der Richardstraße, in der Goethe- und Rosenstraße befanden sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts verhältnismäßig sehr wenige Betriebe. Dafür wohnten in diesen Straßen nodi am Ende des 19. Jahrhunderts, wie ein halbes Jahrhundert zuvor, eine Vielzahl von Webern. Die Bauern und Landwirte hatten ihre Grundstücke und Wohnsitze in erster Linie nodi immer am Richardplatz. Die meisten Weber waren wie seit je in der Mühlenstraße, in der südlichen Richardstraße und in der Kirchhofstraße, aber auch in Teilen der nördlichen Richardstraße (der früheren südlichen Berliner Straße), in der Berg- und der Berliner Straße ansässig. In diesen Straßen hatten sich verhältnismäßig wenige Betriebe in den teilweise zu Mietshäusern neu ausgebauten oder doch vergrößerten Gebäuden niedergelassen.133 In der räumlichen Wirtschaftsstruktur Rixdorfs können somit, entsprechend den jeweiligen ökonomischen Funktionen der Siedlung, mehr oder minder stark differenzierte Viertel unterschieden werden, in denen sie sich lokalisierten. Das alte Bauerndorf Deutsch-Rixdorf hatte sich um den Dorfanger, den späteren Richardplatz, gruppiert; die Weberkolonie Böhmisch-Rixdorf nahm die Richardstraße ein. Mit dem Aufblühen des Weberheimgewerbes dehnten sich die anfänglich kleinen Büdnerviertel als erste dörfliche Ausbaugebiete aus. Sie nahmen, entsprechend der Dominanz des Gewerbes über die Landwirtschaft und den Gartenbau, einen räumlich umfangreicheren Bezirk ein. Die einzelnen Heimweberarbeitsstätten drangen kaum in das bäuerliche Deutsch-Rixdorf ein. Als mit dem einsetzenden Niedergang der Textilheimindustrie in steigendem Maße Fabrik- und Werkstattbetriebe anderer Gewerbezweige sich niederzulassen begannen, siedelten sie sich in erster Linie wiederum auf den baulich neu erschlossenen Gemarkungsteilen an und nicht in den von vielen Webern aufgegebenen Räumen des Ortes. Es entstand also ein Strukturbild, in dem die jeweils für die gesamte Gemeinde dominante Funktion den jeweils größten Raum beanspruchte. Bei Verlust ihrer

»» Berliner Adreßbuch ... für 1897 . . . , T. 2, S. 219 ff., T. 5, S. 128 ff.; vgl. auch D R I T T E R T E I L , ZWEITES KAPITEL, S. 309 ff., D R I T T E R T E I L , D R I T T E S KAPITEL, S. 354 f.; die Karte Die Verteilung der gewerblichen Betriebe in Rixdorf. 1896/97 in Tasdie am Ende des Bandes. 18 Thienel

274

111. Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

Vorrangigkeit — ein komplettes Verschwinden war nicht zu beobachten — blieb sie dennoch dem alten Bezirk verhaftet. Die später vorherrschende wirtschaftliche Tätigkeit lokalisierte sich in einem anderen, der Bebauung sich gerade erst erschließenden Teil der Gemeinde. Daraus resultierte ein nur unvollständiges Durchdringen der verschiedenen ökonomischen Standorte. So handelte es sich nicht, wie dies besonders typisch für die Innenbezirke oder die City war, um eine Sukzession in der räumlichen Nutzung eines bestimmten Viertels durch verschiedene wirtschaftliche Funktionen, sondern ihre historische Abfolge wurde in einem räumlichen Nebeneinander anhaltend fixiert. Von einer relativen Sukzession kann nur bei der Verdichtung der Wohnstandorte in allen Vierteln der Gemeinde gesprochen werden, die allerdings wiederum als ein Ausdruck der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert überragenden Rolle Rixdorfs als Wohnort innerhalb der Berliner Region gewertet werden muß.134 Parallel zur Entwicklung in den Berliner Vorstädten ließen sich viele und vor allem größere Industriebetriebe ebenfalls in den „Randräumen" der Siedlung nieder. Die damit gegebenen Möglichkeiten einer Planung mit größeren Flächen und der Errichtung von Gebäuden, die den spezifischen Bedürfnissen angepaßt waren, wurden gleidiwohl kaum genutzt.135 Im Unterschied zur Standortentwicklung in den Berliner Vorstädten waren es in Rixdorf andere Gewerbe- und Industriezweige und Branchen, die als kleine Standorte innerhalb der neuen Gewerbebezirke in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Erscheinung traten. Andererseits signalisierte diese Entwicklung den entscheidenden Schritt Rixdorfs aus dem Umland, der durch den fortschreitenden Verlust ländlicher Merkmale und die allmähliche Übernahme der Rolle eines kleinen Industrieorts gekennzeichnet war, und seine Eingliederung in die Randzone der Stadtregion. Mit der Entstehung von kleinen Industrieanlagen und Lagerplätzen am Kottbusser Damm und am Maybachufer nach 1870 bildete sich ein nur kleines Gebiet mit betont gewerblidier Nutzung heraus. Es war in dem spitzen Winkel zwischen Maybadiufer und Kottbusser Damm innerhalb des Rixdorfer Gebiets außerordentlich verkehrsgünstig gelegen, da der Kottbusser Damm die Hauptverbindungsstraße nach Berlin bildete, der Landwerkanal sidi parallel zum Maybachufer hinzog und den Kottbusser Damm kreuzte. Außerdem verlief die Kommunal1M

V g l . D R I T T E R T E I L , ZWEITES K A P I T E L , S . 2 8 8 f . , 3 0 7 f f .

1S5

V g l . DRITTER TEIL, DRITTES KAPITEL, S. 3 3 6 f.

Entwicklung vom 'Webereistandort zum Wohnort

275

grenze zu Berlin entlang der Straße und dem Schiffahrtskanal. Dennoch siedelten sich bis 1897 hier außer Holzhandlungen, holzverarbeitenden Betrieben und kleinen chemischen Unternehmen keine anderen Werke an. 138 Nur unvollkommene Ansätze zur Herausbildung eines ebenfalls kleinen Standorts wurden südlich des alten Dorfkerns auf noch relativ unbebautem Gelände an der Cannerstraße und der Canner Chaussee unmittelbar nördlich der Ringbahn erkennbar. Außer der GemeindeGasanstalt und je einer chemischen und einer Nahrungs- und Genußmittelfabrik wurden hier je eine Metallgießerei und eine Pumpenfabrik sowie eine elektrotechnische Bedarfsartikelfabrik errichtet; etwas weiter südlich lagen die Rixdorfer Eiswerke. 187 Eine Orientierung auf die diesen Ortsteil durchquerende Ringbahn, lediglich eine Nahverkehrslinie, und den dortigen Güterbahnhof war nicht zu erkennen. Und eine wirkliche Konzentration der Betriebe der Metall-, Maschinen· und Elektroindustrie in diesem Ortsteil entwickelte sich nicht; denn die meisten der anderen Firmen dieser Zweige verteilten sich, wenn auch nodi diffuser, über das ganze Gemeindegebiet; am stärksten waren sie in den seit den achtziger Jahren erschlossenen Teilen der ehemaligen Rollberge zwischen der Hermannstraße, der Berg- und der Berliner Straße vertreten. 138 Nur im Südwesten der Gemarkung, ebenfalls einem der jüngeren Ausbaugebiete südlich der Ringbahn und des Güterbahnhofs, hatte sich, wie am Kottbusser Damm, ein Standort der Holzindustrie und des holzverarbeitenden Gewerbes entwickelt. In der parallel zur Ringbahn und zur Mittenwalder Kleinbahn verlaufenden Knesebeckstraße hatte der „Bauverein der Tischler- und Berufsgenossenschaft" im Jahre 1872 westlich der Hermannstraße mehrere Ackerstreifen angekauft und sie in bebauungsfähige Parzellen längs der Knesebeckstraße aufgeteilt.139 So ließ sich in dieser Straße anfänglich eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Tischlern nieder. Es gab nahezu kein Haus, in dem nicht mehrere Tischler und andere in holzverarbeitenden Berufen tätige Personen wohnten; in dem Haus Knese-

Berliner Adreßbucb ... 1881 . . . , T . 2 , S . 9 3 ; Berliner Adrefibttch ... für 1897 ..., T. 2, S. 291 f.; vgl. audi für die Lokalisation der anderen Industriezweige die Karte Die Verteilung der gewerblichen Betriebe in Rixdorf. 1896/97 am Ende des Bandes in Tasche. m Ebda. 1S8 Ebda. 189 Helmut Winz/Wilhelm Schmidt, Von Rixdorf zu Neukölln. Die Entwicklung der Stadtlandsdiaft eines Berliner Ortsteils, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittelund Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 183 f. 1M

18·

276

III- Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

'Wohngemeinde

beckstraße 62 lebten, was allerdings ein extremes Beispiel darstellt, neun Familien, von denen acht Haushaltsvorsteher Tischler waren und der neunte Zimmermann; in vielen anderen Häusern setzte sich die Hälfte der Mieter aus Tischlerfamilien zusammen.140 Diese Konzentration ist durchaus mit der Akkumulation einiger Berufsgruppen in den Berliner Vorstädten vergleichbar. Wie es sich dort um eine Segregation bestimmter Gewerbe- und Berufsgruppen und von Arbeitern in den nahegelegenen Fabriken handelte, kristallisierte sich in diesem Viertel Rixdorfs ein ähnlich strukturierter Teilraum heraus. Außer der Segregation der Berufsgruppen des holzverarbeitenden Gewerbes bildete die Knesebeckstraße „den Sitz einer hochentwickelten Möbelfabrikation", das heißt den Standort einer Reihe von Möbelfabriken. 141 Damit hatte sich — analog zur Entwicklung in den Berliner Vorstädten — ein Standort eines bestimmten Gewerbe- und Industriezweigs in unmittelbarer räumlicher Nähe der zugehörigen Berufsgruppen gebildet, jedoch mit dem unterschiedlichen Akzent, daß die ansässigen Möbelfabriken generell kleine Betriebe mit niedrigen Beschäftigtenzahlen waren. Nicht selten existierten auch mehrere dieser weder Handwerkshoch Fabrikbetrieb darstellender kleiner Möbelfirmen auf einem Grundstück, so in der Knesebeckstraße 109 und 110.142 Auf den Grundstücken der Möbelfabriken wohnte ähnlich wie in den Berliner Vorstädten eine Vielzahl ihrer potentiellen Arbeiter; so gab es auf dem Grundstück der Nähmaschinengestell- und Möbelfabrik Laborenz in der Knesebeckstraße 107—108 nur einen Buchhalter; dagegen wohnten auf einem benachbarten, dem Eigentümer der Möbelfabrik gehörenden Grundstück Knesebeckstraße 111 von insgesamt 24 Mietern neun Tischler und Möbelpolierer, drei Kutscher und ein Arbeiter.143 Auf den Grundstücken, die gleichzeitig kleine Fabriken und Wohnungen beherbergten und deren Mieter, sofern sie den entsprechenden Beruf ausübten, wahrscheinlich in diesen oder benachbarten Betrieben arbeiteten, aber auch anderen Berufen nachgingen, befanden sich die Fabrikationsstätten in den meisten Fällen in Hofgebäuden. Damit war die Trennung zwischen Gewerbe- und Wohnnutzung der Gebäude beziehungsweise zwischen Arbeitsort und Wohnort nur unvollkommen 140

Berliner Adreßbuch ... 1897 ..., T. 5, S. 137; Berliner Adreßbuch ... 1881 .. T. 2, S. 93. 141 Chr. J. Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben ..., S. 85. 142 Berliner Adreßbuch ... 1897 . . . , T. 5, S. 137. 143 Ebda.

Entwicklung

vom Webereistandort

zum

Wohnort

277

vollzogen. Neben den Typ der räumlichen Gruppierung und Zuordnung von Arbeitsort und Wohnort, in dem eine direkte Identität bestand, wie im Bekleidungsheimgewerbe und der Textilhausindustrie, sowie den Typ einer strikten Trennung dieser antagonistischen Faktoren bei der Ausbildung großer Industriebetriebe trat der Typ der Hinterhofindustrie, der sich als besonders charakteristisch für die Rixdorfer Industrie bezeichnen läßt. Diese Art der Kombination von Arbeits- und Wohnplätzen war nicht nur für den Standort des Gewerbezweigs mit den durchschnittlich größten Betrieben charakteristisch. In weit ausgeprägterer Form war die Hinterhofindustrie in den übrigen Ortsteilen vertreten, die seit den siebziger Jahren erschlossen wurden und in denen die Betriebe durchschnittlich kleiner waren und eine diffusere Verteilung der einzelnen Gewerbe- und Industriezweige herrschte und in denen sich daher die Durchmischung von Betriebsstätten und Wohnungen, jedoch nicht zwischen Gewerbebetrieben und zugehörigen Berufsgruppen, desto intensiver gestaltete.144 Die im Vergleich zu Moabit und anderen Siedlungen in den verschiedenen Zonen der entstehenden Stadtregion nur unvollkommene Ausprägung von innergemeindlichen Gewerbe- und Industriestandorten in Rixdorf zeigt, daß dieser Ort im Gegensatz zu den genannten Gemeinden keine eigentliche Industriestandortfunktion in diesem Raum ausübte. Rixdorf entwickelte sich nicht zu einem „Beschäftigungsort", sondern zu einer „Wohngemeinde" 145 wie eine Reihe anderer Vororte. Für viele Arbeitnehmer war Rixdorf um 1900 lediglich Wohnort, während der Arbeitsplatz in einer anderen Gemeinde lag. Die Stadt Berlin war für die außerhalb ihrer Wohngemeinde Arbeitenden der zentrale Beschäftigungsort in allen in der Zählung von 1900 erwähnten Vororten. Mit Ausnahme Rixdorfs, Treptows und Friedrichsfeldes, einschließlich Karlshorsts, verzeichneten alle Orte höhere männliche Beschäftigtenzahlen am Wohnort als außerhalb desselben. Insgesamt jedoch waren in Rixdorf mit 53,6 % gut die Hälfte der Erwerbstätigen am Wohnort beschäftigt, in den gezählten Vororten insgesamt waren es dagegen mit 68,7 % über zwei Drittel. Damit übertraf Rixdorf alle anderen Wohngemeinden, darunter Wilmersdorf, Friedenau und Schöneberg, an Intensität in der Wohnortbildung. In Berlin arbeiteten sogar 98 % der Erwerbstätigen innerhalb der Stadtgrenzen, worin

144

V g l . D R I T T E R T E I L , D R I T T E S KAPITEL, S. 3 4 1 f.

Mit diesen Bezeichnungen wird der „wirtschaftliche Charakter" Rixdorfs im Verwaltungsbericht der Stadt Rixdorf ..., 1908/1909, S. 40, erläutert. 145

278

/ / / . Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf

und 2ur

Wohngemeinde

sich Berlins überragende Rolle als Arbeitsort erneut widerspiegelt. Es hatte eine dominierende Stellung als Arbeitsort sowohl für die in den eigenen Kommunalgrenzen als audi für die in der Umgebung lebende arbeitende Bevölkerung inne. In Rixdorf waren lediglich 0,1 % der Berliner Berufstätigen beschäftigt; in Berlin arbeiteten demgegenüber 15 063 oder 40,4 %> der Rixdorfer Erwerbstätigen, während durchschnittlich mit 25,8 % nur ein Viertel der auswärts Tätigen, aber in den Vororten Wohnenden in Berlin beschäftigt waren. Ein Rest von nur 3,8 °/o der Rixdorfer Berufstätigen hatte seine Arbeitsplätze in anderen Vororten. 149 Aus diesen Daten spricht die extreme Orientierung Rixdorfs an Berlin als Arbeitsort und die zwischen den beiden Orten entstandene funktionale Beziehung. Diese Entwicklung hing nicht zuletzt mit dem Niedergang der Textilindustrie zusammen, deren freigesetzte Arbeitskräfte nicht zahlreich genug von der sich ansiedelnden Industrie aufgefangen werden konnten, und mit der in dieser Zeit dennoch „stets möglich gebliebenen verhältnismäßig billigen Lebenshaltung". 147 Die günstigen Nahverkehrs- und Personenverkehrsmittel, die durch den Anschluß an die Ringbahn und durch verschiedene Omnibus- und Pferdebahnlinien gegeben waren, aber auch ein reges Fuhrgeschäft, schufen außerordentlich günstige Verkehrsbeziehungen zwischen Rixdorf und Berlin. Die Ringbahn war im Jahre 1873 eröffnet worden; die erste Pferdebahnlinie nahm ein Jahr später den Verkehr auf, nachdem Omnibuslinien schon einige Jahre existierten.148 Die Pferdebahn, die einen großen Teil des Berufspendelverkehrs bewältigte, war für die Entwicklung Rixdorfs zum Wohnort weitgehend verantwortlich, da sie „es mit Berlin in innigen Zusammenhang brachte". 149 In den achtziger Jahren wurden Abonnementskarten, selbst Schülermonatskarten, ausgegeben und der Arbeiterfrühwagen setzte bereits um 5.20 Uhr morgens ein. In regelmäßigen Abständen verkehrten die Wagen ab 6.21 Uhr vom Rollkrug am Hermannplatz

1 4 8 Auf Veranlassung des Berliner Magistrats ließ der Minister des Innern für Berlin und 23 Nadibargemeinden bei der Volkszählung vom 1. Dezmeber 1900 auf den Individualzählkarten die Zusatzfrage nach dem Besdiäftigungsort und Wohnort zu; die Ergebnisse wurden veröffentlicht in: Die Grundstüdesaufnahme Ende Oktober 1900 sowie die Wohnungs- und Bevölkerungsaufnahme vom 1. Dez. 1900 in Berlin und 23 Nachbarorten, in: Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 1900—1902, 27. Jg. (1903), S. 40 f. 147 148 148

Chr. J . Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben . . . , S. 79. Gemeinnütziger Anzeiger vom 2 4 . 1 0 . 1 8 7 4 . A.a.O., vom 28. 6.1878.

Entwicklung vom Webereistandort zum Wohnort

279

und ab 6.47 Uhr von der Knesebeckstraße in das Zentrum Berlins zum Spittelmarkt, zum Dönhoffplatz und zu anderen Zielen.150 Der wirtschaftliche Funktionswandel, den Rixdorf im 19. Jahrhundert vom Gewerbedorf zur Wohngemeinde erlebte, stellte, wie gezeigt werden konnte, ähnlich dem Wandel in den anderen Siedlungen in der entstehenden Stadtregion, keine autonome Entwicklung dar, sondern stand in enger Beziehung zu dem übergeordneten Zentrum Berlin und dem sich dort vollziehenden sozio-ökonomischen Wandel. Sowohl die landwirtschaftliche Produktion in Deutsdi-Rixdorf wie das Textilheimgewerbe in Böhmisch-Rixdorf hatten schon in vorindustrieller Zeit eine funktionale Beziehung zu Berlin aufzuweisen. Sie hatten sich also nicht autonom entwickelt. Die Ausbreitung der gewerblichen Entwicklung in beiden Dorfteilen vollzog sich ebenso unter dem Einfluß der zentralen Stadt wie die nachfolgende Niederlassung von kleinen Industriebetrieben und die Determination zum Wohnort einer breiten Masse der berufstätigen Bevölkerung. Die Veränderung des Beziehungszusammenhangs zwischen der Stadt und dem sie umgebenden ländlichen Raum manifestierte sidi gleichzeitig in der Integration des Ortes in die verschiedenen, sich erst bildenden und schon expandierenden Zonen der Stadtregion.

150 RixJorfer Zeitung vom 17. 2.1884; a.a.O., vom 3. 4.1887; a.a.O., vom 10. 6. 1885; a.a.O., vom 28. 11. 1885.

ZWEITES

KAPITEL

Der "Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur Wohngemeinde der unteren Schichten und die Verbreitung städtischer Haushaltstypen Unter den Dörfern in der Nähe Berlins verzeichneten Rixdorf und Schöneberg, die beide infolge der in ihnen angesiedelten Weberkolonien eine überdurchschnittlich große nichtagrarische Bevölkerungsgruppe besaßen, die stärkste Zunahme ihrer Einwohnerschaft. Die Tendenz zum verstärkten Bevölkerungswachstum setzte früher als in den meisten anderen Dörfern bereits vor 1822 ein. Zwischen 1830 und 1840 steigerte sich diese Entwicklung in beiden Dörfern zu einem alles bisherige sprengenden Ausmaß. Wie die Stadt Berlin, Teile ihrer Vorstädte und Moabit traten diese Siedlungen bereits kurz vor dem Beginn der eigentlichen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsperiode in ein beschleunigtes Bevölkerungswachstum ein, das sich fortan rapide steigerte.151 Damit gliederten sie sich zugleich unverkennbar in die Zone des Umlands der Großstadt Berlin ein. Die quantitative Bevölkerungsentwicklung Rixdorfs verlief ab 1801 wesentlich schneller als die des gesamten Polizeibezirks oder Berlins, wobei Berlin allerdings aufgrund seiner höheren Ausgangsbasis geringere Zuwachsraten zu verzeichnen hatte. Nur Moabit als die sich am frühesten und am schnellsten im Berliner Umland entwickelnde Gemeinde wuchs seiner Bevölkerung nach besonders ab 1840 noch rascher.152 Mit 2074 Einwohnern war Rixdorf bereits im Jahre 1831 „das größte Dorf bei Berlin".153 In den folgenden zwei Jahrzehnten bis 1849 verlief die Entwicklung relativ ruhig im Vergleich zu dem dann einsetzenden, sich beschleunigenden Bevölkerungswachstum, das nur 1852 bis 1855 etwas

151

Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. 187Í . . . , H . 1, S. 30 f. 152 Ebda. 1M L. Helling, Geschichtlicb-statistisch-topographisches Taschenbuch von S. 337, zitiert nadi J. Sdiultze, Rixdorf-Neukölln . . S . 125.

December

Berlin...,

Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur

Wohngemeinde

281

stockend verlief. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdoppelte sich die Bevölkerung nahezu jeweils innerhalb von fünf Jahren; so stieg zwischen 1871 und 1874 die Einwohnerzahl von 8125 auf 15 323. Eine über hundertprozentige Zunahme wurde dann zwischen 1900 und 1905 erzielt, als sich die Bevölkerungszahl von 90 422 auf 187 358 erhöhte und Rixdorf dadurch großstädtischen Umfang annahm. 154 Schon im Jahre 1882 war Rixdorf zur drittgrößten ländlichen Gemeinde in Preußen herangewachsen und wurde als „größte Landgemeinde Deutschlands mit 59 885 Seelen" bezeichnet, dicht gefolgt von Schöneberg mit 59 060 Einwohnern. 155 Von der starken Bevölkerungsexpansion wurden vorwiegend die bäuerlichen Dorfteile, Deutsch-Rixdorf und Alt-Schöneberg, und weniger die frühen Weberkolonien betroffen. 156 Der böhmische Dorfteil war seiner Bevölkerung nach mit 319 bis 338 Einwohnern um 1800 nur wenig kleiner als der deutsche Dorfteil mit 376 Bewohnern.157 Dodi war der Zuwachs bedeutend geringer: im Jahre 1825 verzeichnete Deutsch-Rixdorf 1388 Einwohner, Böhmisch-Rixdorf nur 468. Bis 1849 stieg die Bevölkerung Deutsch-Rixdorfs auf 2231 Personen, in Böhmisch-Rixdorf auf 619 Personen. Bis 1875, der letzten für beide Dorfteile getrennt vorgenommenen Zählung kurz nach ihrer verwaltungstechnischen Zusammenlegung, hatte Deutsch-Rixdorf schon 10 843 Einwohner, Böhmisch-Rixdorf erst 4480 Bewohner erreicht.158 Die geringeren Bevölkerungszahlen wie die schwächeren Zunahmen Böhmisch-Rixdorfs hatten ihre Ursachen in erster Linie in der geringeren Flächengröße dieses Ortsteils, der mit 317 Morgen 154 Quadratruthen nur wenig mehr als 21 % der Grundfläche Deutsch-Rixdorfs von 1454 Morgen 158 Quadratruthen einnahm.159

154

Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 32. Jg. für 1908—1911 (1913), S. 59. R. Boeckh, Ortschaftsstatistik des Regierungsbezirks Potsdam . . S . 32; Statistisches Jahrbuch für den preußischen Staat, 1. Jg. (1903), S. 2 f. 155 Teltower Kreisblatt vom 8. 7.1882; Rixdorfer Tageblatt vom 17.12. 1895. 156 Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 ..., H . 1, S. 30 f. 157 Ebda.; F. W. A. Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung ..., Bd. 2, S. (888); die Diskrepanz zwischen den Zahlen für 1801 erklärt sich daraus, daß Bratring die Bewohner des Rollkrugs wahrscheinlich nicht mitzählt. 158 Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 . . . , H . 1, S. 30 f. 159 Anfertigung eines Urbariums von Deutsch-Rixdorf 1834—1836, Ardiiv Neukölln, Hist. 1/2, 14.

282

III. Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

Der Verlauf der Bevölkerungszunahme und seine Schwankungen weisen anders als das Wadbistum der Stadt Berlin auf keine Zusammenhänge mit dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum oder gar auf Parallelen dazu hin. Wohl aber stand das Bevölkerungswachstum in enger Beziehung zur lokalen wirtschaftlichen Entwicklung, besonders in der ersten Jahrhunderthälfte zur Entfaltung der Textilindustrie. Die erste Phase einer sprunghaften Zunahme der Einwohnerzahlen, der eine längere Periode ruhigen Bevölkerungsanstiegs folgte, vollzog sich zwischen 1822 und 1825.160 In diesen Jahren, in denen der Berliner Magistrat mit einigem Erfolg die Ansiedlung von Berliner Webern in der Umgebung der Stadt betrieb, war auch eine stattliche Anzahl von Webern nadi Rixdorf gekommen.161 Innerhalb von drei Jahren wuchs die Einwohnerschaft um rund 500 Menschen von 1318 auf 1856 Personen, die sich fast ausschließlich in Deutsch-Rixdorf niederließen. Böhmisdi-Rixdorf verzeichnete in dieser Zeit nur einen Zuwachs von 33 Personen.182 Der zweite größere Anstieg in der Bevölkerungszunahme lag zwischen 1849 und 1852. Ihm folgte eine Zeitspanne langsameren Zuwachses, die allerdings nur ein Jahrzehnt dauerte. Hier dürfte das 1849/50 abgeschlossene Separationsverfahren von Einfluß gewesen sein, denn kurz darauf wird berichtet: „Die Parzellierungen und neuen Ansiedelungen haben daselbst [so] bedeutend zugenommen."168 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Bestimmung aufgehoben, daß Häuser ausschließlich auf den Hofstellen und den Gartenländereien längs der Straßen sowie auf dem außerhalb der Allmende und den Hufen liegenden Beiland zu errichten waren. Die freie Verfügbarkeit des einzelnen Besitzers über seinen Grund und Boden ermöglichte die Niederlassung auf jedem beliebigen Gemarkungsteil, sofern sie den bestehenden Vorschriften entsprach.164 In dem dreijährigen Zeitraum zwischen 1849 und 1852, der der Beendigung der Separation folgte, wuchs die Einwohnerschaft insgesamt um 571 Menschen, um nur wenig mehr als zwischen 1822 und 1825. In dieser Zeitspanne verzeichnete jedoch auch Böhmisch-Rixdorf erstmals ein 160

187Í

Die Bevölkerungs-,

Gewerbe-

und Wohnungs-Aufnahme

1,1

D R I T T E R T E I L , ERSTES KAPITEL, S . 2 4 8 f .

162

Die Bevölkerungs-,

187Í 1,8

1.

December

Gewerbe-

und Wohnungs-Aufnahme

vom

1.

December

..., H. 1, S. 30. Bericht über die Verwaltung

der Stadt

Berlin ...

S. 183. 1,4

vom

..., H. 1, S. 30.

V g l . D R I T T E R TEIL, D R I T T E S KAPITEL, S . 3 1 7 f .

1841 bis incl. 1850

...,

Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur

Wohngemeinde

283

stärkeres Wachstum, mit dem es — bei einer Zunahme seiner Einwohnerschaft um 302 Personen — Deutsch-Rixdorf sogar überflügelte.165 Insgesamt gab der Abschluß der Separation und der Agrarreformen den Weg zur abermals beschleunigten Ansiedlung in Rixdorf frei, die allerdings erst nach 1861 einsetzte. Die das dörfliche Gefüge allmählich sprengende Bevölkerungsexpansion, von der neben Rixdorf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein immer weiterer Kreis von Siedlungen in der Umgebung Berlins erfaßt wurde, die damit in das Umland eintraten, war kein isolierter Vorgang, der sich nur in einzelnen Gemeinden abspielte, sondern ein Teil der großen Bevölkerungsagglomeration, die zur Bildung der Stadtregion Berlin führte. 166 Die Einwohnerschaft Rixdorfs hatte ab 1861 einen erneuten Wachstumsimpuls zu verzeichnen, der sich von 1871 an kontinuierlich verstärkte. Unter den Gemeinden des Vorortbereichs, jener Gruppe von 23 in der unmittelbaren Umgebung außerhalb der Kernstadt Berlin befindlichen, sich verstädternden ländlichen Siedlungen, hatte Rixdorf das größte quantitative Wachstum zu verzeichnen. Die Bevölkerung dieser Vororte nahm von 1875 bis 1910 von rund 166 000 auf ca. 1 636 000 Einwohner um nahezu das Zehnfache zu, während Rixdorfs Bevölkerung im gleichen Zeitraum von gut 15 000 auf rund 189 000 auf das Zwölfeinhalbfache wuchs. Berlin innerhalb seiner kommunalen Grenzen verzeichnete, schon durch seine Ausgangsgröße bedingt, den geringen Zuwachs um etwas mehr als das Zweifache von 966 000 auf gut 2 070 000 Einwohner. 167 Der Anteil der Vorortgemeinden an der Gesamtbevölkerung dieses Raumes betrug 1875 erst 14,6%, bis 1910 hatte er sich dagegen auf 44,1 % erhöht.168 Unter den verschiedenen Siedlungen der unmittelbaren und näheren Umgebung Berlins stellte Rixdorf eine der größten Gemeinden dar. Sein Wachstum war absolut 165

Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 . . . , H. 1, S. 30. ι«« Vgl. hierzu die Einteilung der Vororte in vier Gruppen, entsprechend dem Grad ihrer Angliederung an das «hauptstädtische Gebiet", in: Berlin und seine Eisenbahnen . . . , Bd. 1, S. 104. Zur ersten Gruppe gehören danach Charlottenburg, Rixdorf, Schöneberg; sie galten ab 1875 als dem hauptstädtischen Gebiet angegliederte Orte. Zur zweiten, ab 1885 dazu zählende Gruppe rechnete man Wilmersdorf, Lichtenberg, Weißensee. Die dritte, ab 1890 zugehörige Yorortgruppe bildeten Rummelsburg, Pankow, Friedenau. Darüber hinaus galten vereinzelte, entfernter liegende Orte, besonders Grunewald, Lichterfelde, Adlershof, als dem hauptstädtischen Gebiet angegliedert. 167 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 32. Jg. (1913), S. 56—59. "8 A.a.O., S. 59 f.

284

III• Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

am stärksten, doch prozentual wurde es von einer Reihe kleinerer und kleinster Orte übertroffen, die von den achtziger Jahren an geradezu kometenhaft aufstiegen. So nahm Rixdorfs Bevölkerung von 1875 bis 1885 absolut von 15 323 auf 22 775 Einwohner zu, das heißt um 4 8 , 6 % , und sie stieg von 1885 bis 1895 auf 59 945 Einwohner, also um 163,2 % ; im Vergleich dazu wuchs die Einwohnerschaft Pankows in den gleichen Zeitabschnitten um 28,5 °/o und 135,8 % , die Bevölkerung der Kolonie Friedenau nahm in diesen Perioden um 93,6 % und 267,4 % zu.169 Die Bevölkerungszunahme war auch in Rixdorf ihrer Größenordnung nach weniger ein Ergebnis des natürlichen Wachstums als eine Folge von Einwanderung und Konzentration der Bevölkerung im Raum Berlin, die sich schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht auf den engen Bereich der Stadt beschränkte, sondern auf einzelne Siedlungen in Um- und Hinterland übergriff und so erst ein breiteres Umland schuf. Es waren nur einzelne Siedlungen, die sich so früh zu Agglomerationskernen der Bevölkerung außerhalb oder am Rande von großen städtischen Zentren entwickelten. Doch wird dadurch evident, daß die Entwicklung der Großstadt von der frühindustriellen Zeit an nicht nur auf eine Expansion von innen her angelegt war. Die Ausbildung kleinerer Zentren als wirtschaftliche Standorte und die Entstehung von Bevölkerungskonzentrationen im Umland Berlins, die zunehmend die städtische Struktur übernahmen, führte zur Verwirklichung eines großräumigen Gefüges mit bestimmten funktionalen Beziehungen und einem bestimmten sozialen, ökonomischen und baulichen Strukturbild. Die Verknüpfung des Wachstums der einzelnen Siedlungen im Umland mit der Stadt selbst beweisen wie in Moabit vor allem die Parallelen in der Zuwanderung. Die Vermutung, daß auch die „Peripherie" schon zwischen 1850 und 1870 von der nach Berlin zuwandernden Bevölkerung aufgesucht wurde, ist zwar geäußert worden, da aber diese Erscheinung offiziell „statistisch nicht erfaßt" wurde, ist sie gleichzeitig als nicht erfaßbar hingestellt worden, weil die „Einwanderungsstatistik nach Berlin ungenügend" ist und die „Randgebiete" unberücksichtigt läßt.170 Den veröffentlichten Statistiken folgend, stellt sich die Entwicklung der groß199

Die Bevölkerungs-,

Gewerbe-

. . T . 1, S. XIV. 170 W. Becker, Die Bedeutung

und

Wohnungs-Aufnahme

vom

1.

December

1895

der nichtagrariscben Wanderungen zur Geschichte der industriellen Revolution . . S . 219, 230.

..., in:

Studien

Wandel vom Bauern- und Weberdorf

zur

285

Wohngemeinde

und industriestädtischen Randgebiete Berlins, gestützt auf die Volkszählung von 1910, 171 als ein Phänomen des ausgehenden 19. Jahrhunderts dar, wobei die These, daß die „überzählige Arbeitskraft in die Städte (!) der Randgebiete abwanderte, in denen nun die industrielle Entwicklung begann", nur bedingt der tatsächlichen Situation entspricht.172 Es handelte sich nur zum Teil um eine Uberschußbevölkerung, die aus den zentralen Teilen Berlins in die Vororte abwanderte. Es war vielmehr ein echter Bevölkerungsaustausch, der von den Gemeindevertretern selbst als „Fluktuationen in der Bevölkerung, wie sie in der Nähe der Haupt- und Residenzstadt zu Tage treten", aufgefaßt wurde, in dem die Abwanderung aus Berlin geringfügig größer war. Im Jahre 1900 zum Beispiel standen 48 567 aus den Vororten nach Berlin zugezogenen 54 046 aus Berlin dorthin gezogene Personen gegenüber.173 Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es nicht ausschließlich die Großstadt Berlin im engeren Sinne, die eine Anziehungskraft auf die mobile Bevölkerung ausübte.174 Eine gewisse Attraktivität besaßen auch einzelne Siedlungen im Umland, an deren Spitze Rixdorf stand. Der Anteil der Ortsgebürtigen an der Gesamtbevölkerung schwankte im Zeitraum von 1846 bis 1866 in Rixdorf zwischen 25 und 50 % . Diese, dem Trauregister von Deutsch-Rixdorf entnommenen Daten entsprechen in ihrer Genauigkeit etwa Stichprobenverfahren, 175 denn es wurden durchschnittlich nur 2,2 °/o der gesamten Bevölkerung erfaßt. Der durchschnittliche Anteil der am

171

Die bei der Volkszählung am 1. Dezember 1910 in Berlin und in 41 Nachbar-

gemeinden gezählten Zugezogenen (in oder außerhalb der Zählgemeinde Geborenen) nach dem Herkunftsort und dem Geschlecht, in: Statistisches

Jahrbuch

der

Frage"

...,

Stadt Berlin, 33. Jg. (1916), S. 5 0 — 6 1 . 172

W . Köllmann, Industrialisierung,

in: Vierteljahrschrift 173

Statistisches

Binnenwanderung

für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Jahrbuch

der Stadt

Berlin,

und

»Soziale

Bd. 46 (1959), S. 60.

27. Jg. (1903), S. 166; Besdiluß der

Gemeindevertretung vom 20. März 1899, in: Städtische Verfassung die Gemeinde 174

Rixdorf,

— Verleihung

für

Archiv Neukölln, Hist. I I / l , 3.

Diese These wird durchweg in der älteren Forschung vertreten, so bei A. F.

Weber, The Growth enhausindustrie 175

Bd. 2 : 1892—1899,

...,

Trauregister

of Cities...;

A. Weber, Die Entwicklungsgrundlagen

in: Hausindustrie von

...,

Deutsch-Rixdorf

der

Frau-

Bd. 2, S. X X I V . betr.

die

Jahre

1846—1866

...,

Archiv

der Magdalenenkirche Neukölln; anhand der hiermit zur Verfügung stehenden Quelle für den genannten Zeitraum können nur zufällige quantitative Aussagen getroffen werden, dodi dürfen sie ähnlich der im sogenannten Stichprobenverfahren willkürlidi getroffenen Auswahl als repräsentativ angenommen werden. Die den Angaben zu-

286

III. Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur Wohngemeinde

Ort Geborenen lag in diesem zwanzigjährigen Zeitraum bei 35 %. 17β Den Schwankungen innerhalb kleinerer Zeitabschnitte darf keine allzugroße Bedeutung beigemessen werden. Entsprechend dem sich beschleunigenden Einwohnerwadistum, mußten die Ortsgebürtigenanteile immer stärker rückläufig werden. Trotzdem scheint sich dieser Prozeß in Rixdorf erst nach 1871 in vollem Ausmaß bemerkbar gemacht zu haben; denn noch im Jahre 1871 wird mit 45,5 °/o fast die Hälfte der Einwohnerschaft als am Ort geboren bezeichnet, ein Anteil, der jedodi in anderen Gemeinden, außer in Schöneberg, allgemein höher lag.177 Bis zur Jahrhundertwende verminderte sidi die Gruppe der in Rixdorf Geborenen in beträchtlichem Maße, so daß im Jahre 1905 nodi 21 % und fünf Jahre später nur 18,6 °/o der dort wohnenden Bevölkerung in diesem Ort geboren waren. 178 Die auffälligen Parallelen in der regionalen Herkunft der zuwandernden Bevölkerung in Berlin, Moabit und Rixdorf weisen einerseits auf die große Ähnlichkeit der sozialen Prozesse hin, die sich in ihnen vollzogen und die zu einer fortschreitenden strukturellen Angleichung führten. Andererseits läßt sich hervorheben, daß die mit dem Berliner Industrialisierungsprozeß verbundene Bevölkerungskonzentration sich von ihrem Beginn an nicht nur quantitativ in einigen Siedlungen der Umgebung bemerkbar machte, sondern daß dort gleichfalls umfassende soziale Vorgänge den komplexen Ablauf der Industrialisierung kennzeichneten. Audi in Rixdorf war die Zuwanderung in erster Linie eine Nachbarschafts- und Nahwanderung. 179 Das Gros der Einwanderer stammte aus Berlin. Sowohl in den sechzigrunde gelegte Quelle erfaßt nur durchschnittlich 2 °/o der Gesamtbevölkerung und beschränkt sidi nur auf Deutsch-Rixdorf. Die numerischen Werte stehen für die ungefähre Größenordnung der Einzelaussage im Gegensatz zur genau quantifizierenden statistischen Erhebung. Sie ermöglichen einen Vergleich mit späteren, genauer quantifizierenden Erhebungen, woraus sich die Entwicklung der Gemeinde ablesen läßt. Der besondere Wert dieser Quelle besteht außerdem in den Angaben zur regionalen und lokalen, das heißt städtischen oder ländlichen Herkunft, die in den offiziellen Statistiken stets fehlen, und in den Aussagen über die soziale Herkunft und den Beruf der genannten Personen, die in den späteren Statistiken ebenfalls nicht enthalten sind. »« A.a.O. 177 Friedrich Leyden, Groß Berlin. Geographie der Weltstadt, Breslau 1933, S. 117. 178 Ebda.; Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jg. (1916), S. 50—61. 17 * Zur Bestimmung des Begriffs vgl. W. Köllmann, Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage" . . i n : Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte,

B d . 4 6 ( 1 9 5 9 ) , S. 5 2 ; v g l . ERSTER TEIL, ZWEITES KAPITEL, S . 9 6 f . ;

Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur

Wohngemeinde

28 7

ger Jahren des 19. Jahrhunderts wie nodi nach 1900 zog weit über ein Drittel der zuwandernden Bevölkerung aus Berlin zu, im Jahre 1865 waren es 36,4 °/o der Zuziehenden, zwischen dem 1. Oktober 1865 und dem 31. März 1866 sogar 65,2 % und 1910 nodi 38,1 %.180 Auch in den Jahren zuvor stellten die aus Berlin Zuwandernden in Rixdorf den größten Anteil.181 Damit wird deutlich, daß die Niederlassung von Teilen der Berliner Bevölkerung in den städtischen Randbezirken und im Umland nicht erst mit der Herausbildung der Stadtmitte als besonderer räumlich-funktionaler Einheit durch die Konzentration zentraler Einrichtungen des Dienstleistungssektors begann. Die Zuzüge nach Berlin und die Fortzüge aus Berlin standen seit etwa 1840 in einem Verhältnis zueinander, bei dem die Zuwanderung die Abwanderung generell übertraf. Eine längere Abweichung von dieser Regel bildete die erste Hälfte der fünfziger Jahre; später war lediglich in den Jahren 1891, 1894 und 1901 ein Fortzugsüberschuß aus Berlin zu verzeichnen.182 Wohl war die Bevölkerungsentwicklung in den inneren Bezirken von ungefähr 1860 an wie in anderen Groß- und Weltstädten, etwa in London, Paris oder Wien, rückläufig,188 aber die Randviertel der Stadt innerhalb der Kommunalgrenzen verdichteten sich nodi fortlaufend. Der Bevölkerungsaustausch innerhalb der Gemeindegrenzen Berlins oder der Kernstadt ist jedoch von der Mobilität zwischen der Stadt und den im Umland und vereinzelt schon in der Randzone der Stadtregion liegenden Vororten zu unterscheiden. Während die zweite Hälfte der sechziger Jahre die quantitativ stärksten Zuzüge und Fortzüge für Berlin brachte und so eine Zeit erhöhter Mobilität einleitete, aber nicht erst den Beginn der Vorortwanderung darstellte, überflügelten einzelne Siedlungen in der Umgebung in ihrem allerdings gehörte für Rixdorf der Kreis Niederbarnim anders als für Moabit nicht zum Gebiet der Nachbarschaftswanderung, sondern zum Bereidi der Nahwanderung. leo Verzeichnis der in Treptow und Deutsch-Rixdorf vom 1. October bis ultimo December 186Í als Miether neu angezogenen Personen ...; ... vom 17. Januar bis ultimo März 1866 als Miether neu angezogenen Personen, in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation des Magistrats zu Berlin betr. die Verwaltung des Dorfes Deutsch-Rixdorf, Archiv Neukölln, Hist. 1/5, 15; Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jg. (1916), S. 50—61. 181 Trauregister von Deutsch-Rixdorf betr. die Jahre 1846—1866 ..., Archiv der Magdalenenkirche Neukölln. 182 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 27. Jg. (1903), S. 158. 183 A. Briggs, Victorian Cities..., S. 324 f.; London. Aspects of Change, hrsg. vom Centre for Urban Studies, London 1964; H . B o b e k / E . Liditenberger, Wien..., S. 30 f.

288

HI· Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

relativen Wachstum Berlin bei weitem. Allgemein stand auch in Berlin der Zuzug einem geringeren Fortzug gegenüber, und die Verlegung der Wohnsitze aus Berlin in die Vororte übertraf erst ab 1900 nur leicht die gegenläufige Bewegung.184 So stellten die in die Gemeinden der Umgebung und auch nadi Rixdorf übersiedelnden Berliner das Hauptkontingent der dort zuwandernden Bevölkerung. Sie dokumentierten den bevölkerungsmäßigen Aspekt der außerordentlich dichten Verflechtung zwischen der zentralen Stadt und den Siedlungen ihrer Umgebung, die durch den regen Bevölkerungsaustausch zwischen den Vororten ergänzt wurde. Denn die übrigen Nahwanderungsbereidie, der ehemalige weitere Polizeibezirk und der Kreis Teltow, standen als Einzugsgebiet für Rixdorf an zweiter Stelle. Im Jahre 1865 waren es um 33 % und noch 1910 waren es mit 34,4 %> aller Zuwanderer etwa die gleichen Anteile; 185 so kam also um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wie ein halbes Jahrhundert später, weit über zwei Drittel der nach Rixdorf ziehenden Bevölkerung aus der unmittelbaren Nachbarschaft der Gemeinde. Der Ausbau der Verkehrsverbindungen zwischen Berlin und den Siedlungen der Umgebung spielte eine entscheidende Rolle bei ihrer raschen Bevölkerungszunahme nach 1873 und dem Fortschreiten der Dezentralisation der Bevölkerung wie der Industriestandorte, die eine Vertiefung und Erweiterung der funktionalen Beziehungen zwischen der zentralen Stadt und den außerhalb liegenden Orten darstellte. Abgesehen von Rixdorf, boten die neuen Verkehrsverbindungen für viele Gemeinden erst den Anstoß für das Einwohnerwachstum und die bauliche Erschließung.186 Für Rixdorf dagegen schufen sie die grundlegenden Voraussetzungen für den Wandel vom Gewerbedorf zur Wohngemeinde. Denn erst in der „Zeit, in der die Eisenbahnen ihren Einfluß auszuüben begannen", wuchs „die Zahl derer, die nach ihrem Beruf, ihrer Beschäftigung ihrer Arbeitsstätte Berliner waren . . . während sie ihren Wohnsitz außerhalb der Grenzen des Stadtbezirks in benachbarten Kolonien und Gemeinden hatten, in gleichem, wenn Statistisches Jahrbuá der Stadt Berlin, 27. Jg. (1903), S. 166. A.a.O., 33. Jg. (1916), S. 50—61; Verzeichnis der in Deutsch-Rixdorf neu angezogenen Personen ..., Verzeichnis der in Treptow und Deutsch-Rixdorf ..., in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation ..., Archiv Neukölln, Hist. 1/5, 15. 186 Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 ..., H. 1, S. 30 f.; Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1895 ..., T. 1, S. X I V ; die Karte Bebauung und Vorortverkehr..., in: Historischer Handatlas ..., Lfg. 3. 184 185

Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur

Wohngemeinde

289

nicht stärkerem Verhältnis als die Stadtgemeinde selbst". 187 Dadurch, „daß die verbesserten Transportmittel einem Teil der arbeitenden Bevölkerung das Mittel boten, ihre Wohnstätten außerhalb des Weichbildes aufzuschlagen",188 beschleunigten sie den Prozeß der Ausbildung einer ausgesprochen städtischen Sozialstruktur in den Vorortgemeinden, denn die Beschäftigten waren als Arbeiter und Angestellte in den verschiedenen großen und kleinen Industrie- und Gewerbebetrieben tätig, oder sie übten einen der vielfältigen Berufe in den verzweigten Sparten des Dienstleistungsbereichs aus. Die großräumige Trennung zwischen Arbeitsorten und Wohnorten und ihre Zuordnung, deren Folge die Entstehung besonderer Ortstypen in diesem derart funktional verbundenen Raum war, wurde im einzelnen durch die Politik der Direktoren der Personenverkehrsbetriebe nicht unwesentlich beeinflußt.189 In Rixdorf intensivierte sich darüber hinaus die schon in den vorausgegangenen Jahrzehnten eingeleitete Entwicklung zu einer Gemeinde der unteren Schichten der Bevölkerung. Daran waren in erster Linie die Einwanderer aus den Nachbarschaftsbereichen wie die Immigranten aus anderen Landschaften und Provinzen beteiligt. Die restliche Provinz Brandenburg, ausschließlich des ehemaligen weiteren Polizeibezirks und des Kreises Teltow, stand als Nahwanderungsbereich an dritter Stelle in der Skala der regionalen Herkunft der Rixdorfer Zuwanderer. Ihr Anteil schwankte von 1846 bis 1866 zwischen 6 und 26 % . Im Jahre 1865 betrug er 10,6 % . Zwischen dem 31. Oktober 1865 und dem 31. März 1866 zog dagegen niemand aus der restlichen Provinz Brandenburg zu. Im Jahre 1910 lag der Zuzug von dort mit 12,5 % ähnlich hoch wie 1865. 1 9 0 Im Gegensatz zu dem massiven Immigrantenstrom aus der Nachbarschaft und den engen Nahbereichen fielen die aus den entfernten Teilen des Nahbereichs Kom-

187 Bericht über die Gemeindeverwaltung Berlin in den Jahren 1861—1876, zitiert nadi Berlin und seine Eisenbahnen 1846—1896 ..., Bd. 1, S. 57. 188 A.a.O., S. 105. 189 Gerhard Buchholz, Der Einfluß der Verkehrspolitik auf die Bevölkerungsentwicklung in den Randgemeinden der Reicbshauptstadt Berlin 1871—1938, Wirtsdi.-H. Diss., Berlin 1941; gedruckt: o.O. 1942. 1,0 Trauregister von Deutsch-Rixdorf betr. die Jahre 1846—1866..., Ardiiv der Magdalenenkirdie Neukölln; Verzeichnis der in Deutsch-Rixdorf neu angezogenen Personen ...; Verzeichnis der in Treptow und Deutsch-Rixdorf..., in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation..., Ardiiv Neukölln, Hist. 1/5, 15; Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jg. (1916), S. 50—61.

19 Thlenel

290

III· Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde

menden und die Fernwanderer kaum ins Gewicht. Im Jahre 1865 stammten lediglich sechs Personen, immerhin 9 °/o, aus Pommern, und vom 1. Oktober 1865 bis 31. März 1866 zogen je 1,1 % aus Schlesien und dem Königreich Sachsen zu.191 In dem zwanzigjährigen Zeitraum von 1846 bis 1866 stammten die meisten Zuzügler aus der Provinz Schlesien, woher vor allem in den sechziger Jahren zwischen 5,8 und 9,6 °/o kamen. Aus der Provinz Sachsen zogen besonders in den Jahren von 1846 bis 1850 bei einem Anteil von 1,6 bis 6 , 2 % relativ viele Einwanderer zu. Auch zwischen 1860 und 1866 ließ die Zuwanderung von dort kaum nach. Aus den übrigen preußischen Provinzen kamen sehr wenige Immigranten. Ostpreußen, aber audi Mecklenburg und Thüringen waren nur mit einem sehr kleinen Personenkreis vertreten. Andere preußische, deutsche und nichtdeutsche Gebiete — Westfalen, die Rheinprovinz und Böhmen — stellten einige wenige Zuziehende.192 Die im Vergleich zu Moabit ähnlich geringe Präsenz von Einwanderern aus dem weiteren Nahbereich und den entfernteren Provinzen verdeutlicht die weitgehende Gleichrangigkeit Rixdorfs mit dieser Gemeinde in seiner Anziehungskraft auf die mobile Bevölkerung. Im Vergleich zu Berlin erwies sich jedoch die größere Anziehungskraft und der höhere Zentralitätsgrad der Kernstadt auf die Zuwanderer aus den entfernteren preußischen Provinzen, auf andere deutsche Staaten und das Ausland mit ähnlicher Eindringlichkeit wie bei der Immigration nach Moabit. Die nach Rixdorf einwandernde Bevölkerung kam zwischen 1846 und 1866 fast zu gleichen Teilen vom Land und aus den Klein- und Mittelstädten der Provinzen. Besonders bei der Einwanderung aus der Mark Brandenburg hielten sich beide Gemeindetpyen die Waage. Aus den entfernteren Provinzen Pommern und Sachsen sowie dem Königreich Sachsen scheint auch ein größerer Teil der Zugezogenen städtischer Herkunft gewesen zu sein; bei der Provinz Schlesien überwog die Immigration aus deren ländlichen Gebieten.193 Die Wanderungsbewegung der Agrarbevölkerung, die nach der Bauernbefreiung zur „sozialen Entlastung" des Landes führte, 194 wurde durch die Mobilität der

1,1

Ebda. Trauregister von Deutsch-Rixdorf betr. die Jahre 1846—1866..Archiv der Magdalenenkirdie Neukölln. M Ebda. 194 G. Ipsen, Die preußische Bauernbefreiung ..., in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 1.—2. Jg. (1953—1954), S. 37 ff.; W. Köllmann, Industrialisie192

Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur Wohngemeinde

291

klein- und mittelstädtischen Bevölkerung ergänzt, die von der Aufhebung des Zunftzwanges und der Einführung der allgemeinen Gewerbefreiheit ausgelöst worden war. Für die ländlichen sowie die klein- und mittelstädtischen Bevölkerungsüberschüsse mit ihrer meist sehr kümmerlichen Ernährungsbasis und einer schlechten Wirtschaftslage im allgemeinen boten die im industriellen Aufsdiwung begriffenen Städte und Räume einen Anreiz, wenn audi nicht immer eine bessere Möglichkeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts. Mit der Immigration verlagerte sich die „soziale Frage" vom Land in die Stadt und verschärfte dort allgemein die Lebensbedingungen vor allem in bestimmten überregionalen oder lokalen wirtschaftlichen Krisenzeiten, wie sie zum Beispiel Berlin und Rixdorf mit dem Niedergang der Textilindustrie trafen. Die halb städtische und halb ländliche Herkunft der Einwanderer war für Rixdorf unter mehrfachen Aspekten von Bedeutung; denn nicht nur „die mittleren und größeren Städte" waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts „nur zur einen Hälfte durch den Zuzug vom platten Land, zur anderen Hälfte durch Abwanderung aus den zurückgebliebenen kleinen Städten gewachsen",196 sondern auch die im Umland stark expandierenden Siedlungen unterlagen einem derartigen Uberfremdungsprozeß, der ihnen dieselben Bevölkerungsgruppen zuführte wie den großen Städten. Die außerordentlich enge Verflechtung zwischen Berlin als zentraler Stadt und einigen Siedlungen im Umland wie Rixdorf läßt erkennen, daß der in beiden Gemeinden durch die Immigranten ausgelöste soziale Wandel von Bevölkerungsgruppen gleicher lokaler und regionaler Herkunft bewirkt wurde. Darüber hinaus wurde der neben der Ausbildung einer städtischen Wirtschaftsstruktur vor allem auf der Entwicklung der städtischen Sozialstruktur basierende Verstädterungsprozeß in Rixdorf von einer Bevölkerung getragen, die weitgehend nicht in landwirtschaftlichen Berufen beschäftigt war. Damit wurde der Funktionswandel Rixdorfs in der entstehenden Stadtregion durch die berufliche Tätigkeit seiner Immigranten gefördert und weitgehend erst ermöglicht. Die von den preußischen Reformen am Anfang des 19. Jahrhunderts ausgelöste „Mobilität der ländlichen wie der städtischen Bevölkerung" bradi „die starren Schran-

rung, Binnenwanderung und „Soziale Trage" . . i n : Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte, Bd. 46 (1959), S. 59 f.; W. Conze, Das Spannungsfeld..., in: Staat und Gesellschaft..S. 252 ff. 195 A. Weber, Die Entwuklungsgrundlagen der großstädtischen Frauenhausindustrie .... in: Hausindustrie ..., Bd. 2, S. X X I I . 19»

292

III. Entwicklung

Rixdorfs

zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

ken zwischen Stadt und Land" 196 und ebnete den Weg für die Herausbildung großer Bevölkerungsagglomerationen, in deren Räumen sich neue Siedlungstypen entwickelten, wofür Rixdorf ein Beispiel bietet. Die Zuwandernden gliederten sich als neue Einwohner nicht in das bestehende Gefüge Rixdorfs ein, sondern veränderten die existierende Sozialstruktur der Zuzugsgemeinde vor allem durch die Segregation bestimmter Berufsgruppen, der Weber und der unqualifizierten „Arbeitsmänner" oder der Tagelöhner, radikal. Denn der in den Berliner Raum eindringende Immigrantenstrom verteilte sich nicht nur in quantitativer Differenzierung auf die Stadt und einige benachbarte Gemeinden im Umland, wie Rixdorf und Schöneberg oder Moabit. Darüber hinaus fand eine Selektion bestimmter Berufsgruppen statt. Die seit dem 18. Jahrhundert in Böhmisch-Rixdorf blühende Weberei, deren Standortvorteil, wie bereits erwähnt, in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts besonders infolge der günstigeren Lebensverhältnisse der Weber im Vergleich zu den städtischen Webern beträchtlich zunahm, veranlaßte eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Webern, sich in Rixdorf niederzulassen. Die Orientierung der Zuwanderer am ansässigen Gewerbe wird auch durch die unterbliebene Zuwanderung in andere ehemalige Kolonien, wie etwa Neu-Schöneberg, erwiesen, dessen Textilgewerbe damals, als der Einwandererstrom einsetzte, ebenso bedeutungslos geworden war wie die Seidenspinnerei in Moabit. Die Weber füllten nicht nur den begrenzten Raum Böhmisch-Rixdorfs aus, sondern sie siedelten sich seit Beginn ihres invasionsartigen Eindringens nach 1822 auch im deutschen Dorfteil an. Das Anwachsen der neuen Bevölkerungsgruppen ist zunächst nur an der einseitigen Zunahme der Büdner, Professionisten und Einlieger,197 mithin der nichtbäuerlichen Schichten, zu erkennen. Diese wurden zusammen mit „der Masse der kleinen Kötter, Brinksitzer, Neubauern und Heuerlinge" als „die unterste Klasse der bürgerlichen Gesellschaft" bezeichnet.198 Im Jahre 1801 zählte man erst 14 Büdner und 186

R. König, Grundformen der Gesellschaft..S. 108. Die Halbbauern, Kossäten, Büdner und Einlieger bildeten die unterbäuerlichen Schichten. Den Halbbauern gehörte ein geteilter H o f ; Kossäten blieben als Besitzer eines noch kleineren Hofes und einiger Ländereien ohne Anteil am Hufenland; Büdner waren die kleinsten Gartenbesitzer ohne Anteil am Acker- und Hufenland; Einlieger waren landlose Hausbesitzer, Professionisten nannte man die nidithausbesitzenden Handwerker und Gewerbetreibenden. 198 Carl Jantke / Dietrich Hilger, Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus 197

Wandel vom Bauern- und Weberdorf

zur

Wohngemeinde

293

30 Einlieger. Bis 1836 war die Zahl der Büdner auf 92 angewachsen und hatte sich bis 1840 auf 97 erhöht, während die Zahl der Einlieger bis dahin auf 241 gestiegen war und außerdem 174 Professionisten zu verzeichnen waren. 199 Unter diesen Bezeichnungen wurden auch die zuziehenden Weber geführt, und zwar als Büdner, wenn sie ein eigenes Haus erworben hatten, als Professionisten oder Einlieger, wenn sie zur Miete wohnten. Sie bildeten neben den Tagelöhnern die sich am stärksten entwickelnde Berufsgruppe der neuen Rixdorfer Bevölkerung und bestimmten so das gesamte soziale Gefüge Rixdorfs im 19. Jahrhundert. Aufgrund der langen Webertradition am Ort stellten sie keine im eigentlichen Sinne ortsfremde Gruppe dar. Dennoch leitete ihre so massive Invasion den totalen Strukturwandel ein, der mit einer vom Berliner Magistrat nach 1822 durchgeführten Aussiedlung von Webern in die Berliner Umgebung in die Wege geleitet wurde und sich mit dem bis zur Mitte der sechziger Jahre nachweisbaren ununterbrochenen Einwandererstrom aus verschiedenen Gebieten fortsetzte. Die 1850 gebildete Weberinnung hatte im Gründungsjahr unter den 161 Mitgliedern, die sämtlich Webermeister waren, nur 25 in Rixdorf geborene Meister aufgenommen; das bedeutet, daß 84,5 % der Mitglieder zugewandert waren. Die Angehörigen der alteingesessenen Bauern- und Kossätenfamilien wechselten nur in seltenen Ausnahmen in den Weberberuf über; nur zwei bereits erwähnte Mitglieder der Weberinnung stammten mit größter Wahrscheinlichkeit aus alten Bauernfamilien.200 Unter dem Aspekt der beruflichen Mobilität beziehungsweise des Uberwechseins in gewerbliche Berufe wurde die Isolation der agrarischen Schichten nur selten durchbrochen, wobei die fragwürdige und im einzelnen meist dürftige Existenz der Rixdorfer Heimindustriellen schwerlich einen Anreiz auf die Grundbesitzer ausübte. Die gewerbliche Entwicklung in diesem Zweig wurde daher

und

die Emanzipationskrise

Literatur, tariat'"...,

in Darstellungen

und Deutungen

Freiburg - München 1965, S. 1 3 3 ; W . Conze, Vom in: Vierteljahrschrift

der

zeitgenössischen

„Pöbel"

für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte,

zum

„Prole-

Bd. 41 (1954),

S. 336. 199

F. W . A . Bratring, Statistisch-topographische

Anfertigung

eines

schichte Rixdorfs 200 Verzeichnis Weber-Innung

Urbariums..Archiv

. . S .

Beschreibung

...,

Bd. 2, S. (888);

Neukölln, Hist. 1/2, 14; E . Brode,

Ge-

157.

derjenigen

. . . 28. Nov.

Personen,

welche der Weber-Innung

1864, i n : Acta der Forst- und

...,

Mitglieder

der

Oeconomie-Deputation...,

A r c h i v N e u k ö l l n , H i s t . 1 / 4 , 2 1 ; v g l . D R I T T E R T E I L , ERSTES KAPITEL, S . 2 5 0 f .

294

III- Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

fast ausschließlich von den alteingesessenen böhmischen Webern und den Immigranten getragen. Die Trennung zwischen Agrarbevölkerung und Gewerbetreibenden erwies sich in dieser Hinsicht, im Gegensatz zu anderen recht engen sozialen Kontakten, als wenig veränderlich. Die zahlenmäßig größte Gruppe unter den eingewanderten Webern stammte aus Berlin, woher 36 % aller 1850 zur Innung beitrittswilligen Meister kamen.201 Der Standortwechsel der Berliner Textilindustriebetriebe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte zur Abwanderung der Textilarbeiter und zu ihrer Ansiedlung in Nah- und Nachbarschaftsbereichen der Stadt. Dies stellte sich als eine Gegenbewegung zur stärkeren „Abwanderung von Arbeitskräften" aus einigen Kreisen der Mark Brandenburg heraus. Andererseits blieben die Berlin verlassenden Textilheimarbeiter der Wirtschaft Berlins erhalten, da „sie in ihren Heimatorten für Berliner Fabrikanten arbeiteten" 202 und so wie alle übrigen Heimarbeiter in diesen Siedlungen als Träger der Expansion des Wirtschaftsraumes Berlin fungierten. Zu den vermutlich auf Betreiben des Berliner Magistrats angesiedelten Berliner Webern gehörten 1850 die ältesten Mitglieder, wie der 67jährige Heinrich Spatzier, dessen Söhne in den Jahren 1850 und 1864 gleichfalls in der Mitgliederliste geführt wurden, oder der 60jährige Carl Linder aus Neu-Schöneberg, dessen Söhne Carl und August ebenfalls in der Mitgliederliste von 1850 und 1864 auftauchten. 208 Auch der Berliner Weber Johann Christoph Kießling war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nach Rixdorf gekommen. Sein Sohn August Heinrich wurde ebenfalls Weber und eröffnete 1838 — zusammen mit seinem Bruder Carl — die erste Textilfabrik in Rixdorf, die noch seine Enkel weiterführten. 204 Die häufige Vererbung dieses Handwerks vom Vater auf den Sohn — besonders eindringlich bei den Garnwebern zu beobachten, denn von sieben genannten Gesellen arbeiteten sechs bei Meistern, die ihre Väter waren 205 — ist ein eindeutiges Zeichen für die

201

Ebda. 202 -ψ. Becker, Die Bedeutung der nichtagrarischen Wanderungen ..., in: Studien zur Geschichte der industriellen Revolution ..., S. 231. 203 Verzeichnis derjenigen Personen, welche der Weber-Innung ...; Mitglieder der Weber-Innung ... 28. Nov. 1864, in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation ..., Archiv Neukölln, Hist. 1/4, 21. 204 F. Klein, Vom Waffeltudi..., in: Neuköllner Heimatblätter, N r . 17 (1965), S . 4 8 4 f f . ; D R I T T E R T E I L , ERSTES K A P I T E L , S . 2 5 4 f f . 205

Liste der Garnweber-Gesellen 18il..., in: Acta betr. die Bildung einer Kranken- und Sterbekasse ..., Archiv Neukölln, Hist. 1/4, 22.

Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur

Wohngemeinde

295

Tradition dieses Heimgewerbes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus bis in die achtziger Jahre, für seine Verankerung im sozialen und wirtschaftlichen Gefüge und seine Widerstandskraft gegenüber den Krisen des Textilgewerbes in Berlin und anderen Gebieten. Aus dem Königreich Sachsen und aus Böhmen stammte eine Vielzahl der älteren, über 50jährigen Meister der Weberinnung, die offensichtlich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nach Rixdorf eingewandert waren; der Anteil derjenigen, die — obwohl die Weberei meist ein ländliches Gewerbe darstellte — in Städten beheimatet waren, muß als auffallend hoch angesehen werden, während die aus Schlesien gebürtigen Weber ausschließlich vom Lande stammten.206 In der Weberinnung waren sie nur durch zwei Meister vertreten, die übrigen, in den Einwanderungslisten oder im Trauregister verzeichneten Weber gehörten als Gesellen nicht der Innung an. Aus dem Königreich Sachsen stammten 32 Meister. Diese Zahl war größer als der Anteil der in Rixdorf gebürtigen Webermeister; es folgten dann die Böhmen mit vierzehn Meistern. Die mittlere Generation der zwanzig- bis vierzigjährigen Webermeister kam meist aus Berlin und mit Abstand aus den Orten des weiteren Polizeibezirks oder aus der restlichen Mark Brandenburg, hierunter eine verhältnismäßig hohe Anzahl aus Nowawes. Einige der in Rixdorf geborenen jüngeren Jahrgänge zählten zur ersten ortsgebürtigen Generation der Einwanderer, dazu gehörten beispielsweise der 32jährige August Linder, Sohn des aus Neu-Schöneberg eingewanderten Carl Linder, oder August Kießling, Sohn des aus Berlin zugezogenen, aber in Sachsen gebürtigen Johann Chr. Kießling.207 Die Konzentration derjenigen Berufsgruppen in Rixdorf, die aus Standorten und Gebieten einst reger und weitgehend stagnierender oder niedergehender Textilindustrie auswanderten, war eine Folge der relativ optimalen Bedingungen, die sie zur Ausübung ihres Berufes vorfanden und die gleichsam als Magnet auf die mobile Bevölkerung wirkten. So wurde das Aufblühen der Weberei in hervorragendem 20e Trauregister von Deutsch-Rixdorf betr. die Jahre 1846—1866 ..., Archiv der Magdalenenkirdie Neukölln; Verzeichnis der in Deutsch-Rixdorf neu angezogenen ..., Verzeichnis der in Treptow und Deutsch-Rixdorf vom 1. October bis ultimo December 1865 als Miether ..., in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation ..., Archiv Neukölln, Hist. 1/5, 15. 207 Verzeichnis derjenigen Personen, welche der Weber-Innung..., in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation..., Archiv Neukölln, Hist. 1/4, 21; F. Klein, Vom Waffeltuch ..., in: Neuköllner Heimatblätter, N r . 17 (1965), S. 483 f.

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III. Entwicklung

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Maße von der zuziehenden Bevölkerung getragen, und nur zu einem Bruchteil rekrutierte sich die Weberschaft, abgesehen von der zweiten, schon heimischen und ortsgebürtigen Generation, aus der ortsansässigen Bevölkerung. Daran läßt sich die Interdependenz von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen und der Synchronisation des sozialen und ökonomischen Wandels innerhalb einer Gemeinde überzeugend demonstrieren. Der Zusammenhang und die unauflösliche Verflechtung beider Bereiche wird durch die anteilsmäßige Differenzierung der einzelnen Berufe erhellt, die selbst ein begrenzter Einblick in die Berufsstruktur im Ablauf zweier Jahrzehnte erkennbar macht.208 Im Zeitraum zwischen 1846 und 1866 werden die Anfänge eines allmählichen Wandels greifbar und meßbar. Mitte der vierziger Jahre waren die Schwerpunkte in der Berufsstruktur eindeutig festgelegt. Als landwirtschafttreibende Gruppe hatten Bauern und Kossäten einen Anteil von rund 2,6 °/o zu verzeichnen.209 Die Arbeitsmänner stellten als absolut und anteilsmäßig größte Gruppe 26 % der Berufstätigen. Dennoch gehörten die Weber, die mit Anteilen zwischen 1 8 , 5 % und 3 7 % die zweitstärkste Berufsgruppe bildeten, zu derjenigen Gruppe, die die Gesamtstruktur des Dorfes prägte; sie überflügelten sogar alle anderen Gewerbetreibenden zusammen.210 Die Schicht der Bauern und Kossäten blieb im Verlauf der betrachteten zwanzig Jahre absolut etwa konstant, die zu ihr gehörenden Dienstknechte als unterste Schicht war die am stärksten rückläufige Gruppe. Die Kolonisten, Nachkommen der im 18. Jahrhundert angesiedelten böhmischen Weber, wahrten bei gleichzeitig sinkender Bedeutung innerhalb der Berufsgruppen insgesamt ebenfalls ungefähr ihre numerische Größe. Unter den übrigen Berufsgruppen machten sich Veränderungen bemerkbar, die den Entwicklungstrend Rixdorfs in den kommenden Jahrzehnten anzeigten. Die Gewerbetreibenden, außer den speziell aufgeführten, verzeichneten absolut wie anteilsmäßig einen nur schwachen Zuwachs um etwa 1,6 %. 2 U Sie erreichten und übertrafen dennoch langsam die Anteile der Weber, so daß sich die gewerbliche und handwerkliche Basis Rixdorfs zu verbreitern begann. Die relativ am 208

Die nach dem Trauregister von Deutsch-Rixdorf betr. die Jahre 1846—1866 ..., Archiv der Magdalenenkirche Neukölln, vorgenommene, gleichsam wiederum methodisch als Stichprobenuntersuchung zu wertende Auswahl, wobei durchschnittlich knapp 2 °/o der Bevölkerung erfaßt wurden, muß als Materialbasis genügen. 209 Ebda. 210 Ebda. 211 Ebda.

Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur

Wohngemeinde

297

stärksten wachsende Gruppe, abgesehen von den Fabrikarbeitern, war die unterste Schicht in der Beschäftigtenhierarchie, die „Arbeitsmänner", die vom alten Typ des Tagelöhners zu dem des ungelernten Arbeiters hinüberwechselten. Die ungelernten Arbeiter hatten in den sechziger Jahren einen Anteil von ungefähr 36 % der Erwerbstätigen aufzuweisen. Zusammen mit dem Auftauchen der Fabrikarbeiter, die einen ähnlich starken Zuwachs von O auf knapp 5 °/o zu verzeichnen hatten, wird die Entwicklung zur Arbeitergemeinde und zu einem Ort der typischen industriellen Unterschichten im Ansatz sichtbar.212 In den sechziger Jahren begann zudem die Entwicklung zum Standort kleiner Industriebetriebe, so daß das Zusammenspiel von wirtschaftlicher und sozialer Entfaltung erneut zum Ausdruck kommt. Die Dienstleistungsberufe blieben weiterhin unterbesetzt, sie verharrten mit ihren Anteilen bei etwa 5,7 °/o. Auch unter ihnen waren meist nur Kutscher, Fuhrleute, Milchhändler und ähnliche untere Ränge der zugehörigen Berufsgruppen vertreten; unter den übrigen waren Lehrer, Beamte, Apotheker oder Ärzte für jede Gemeinde unentbehrliche und stets vertretene Berufe. Die Weber als Träger des in der Gemeinde vorherrschenden Gewerbezweigs verzeichneten in den sechziger Jahren gegenüber den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts bei etwa gleicher absoluter Präsenz einen kaum erkennbaren anteilsmäßigen Rückgang von etwa 22,4 auf rund 21,5 °/o.213 Der unmerkliche Bedeutungsverlust signalisierte die nur in Kenntnis der späteren Entwicklung faßbaren ersten Anfänge des Wandels von der Wohn- und Arbeitsgemeinde der Heimweber zur Wohngemeinde der breiten unteren Schichten. Mitte des 19. Jahrhunderts, zur Zeit der Gründung der Weberinnung mit 161 Webermeistern, hatte die Weberei ihren Höhepunkt erreicht. Um 1888 waren dagegen nur noch 130 Meister in Rixdorf ansässig. Doch hatte die Anzahl der von ihnen jetzt beschäftigten vierhundert Gesellen — neben zweihundert Spulerinnen und dreihundert Knüpferinnen — zweifellos zugenommen; es erscheint jedoch unwahrscheinlich, daß diese Arbeitskräfte noch in der Hausindustrie beschäftigt waren, vielmehr wird ein hoher Anteil in den am Ort ansässigen kleinen Textilfabriken und in außerhalb liegenden Betrieben gearbeitet haben. Unter der gesamten Weberschaft stiegen nur die neun Weber August Heinrich Kießling, Hermann Sander, A. Lucas, B. Wenzel, J. Ignatz 212 213

Ebda. Ebda.

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und Carl Krebs, C. Rahmig, A. Schreck und O. Sevin214 aus dem Kreis der Heimindustriellen, die für die Rixdorfer Weberei repräsentativ waren, in die Reihe der selbständigen Unternehmer auf. Die überwiegende Mehrzahl von ihnen blieb aufgrund ihrer gesellschaftlichen Beziehungen, der familiären Bindungen an den Ort und ihrer Mitgliedschaft in der Weberinnung der Sphäre der dörflichen Heimindustrie verhaftet. Die Organisation der Weberei als Heimgewerbe mit Rixdorf als Produktions- und Wohnort der Heimarbeiter stellte in gewisser Hinsicht ein retardierendes Moment hinsichtlich der Entwicklung einer spezifisch städtischen, stark differenzierten Bevölkerung dar. Die Heimindustrie war von Hause aus ein ländliches Gewerbe, das audi in anderen Gebieten, so in Schlesien, Sachsen, im Rheinland oder im Zürcher Land, 215 sdion in vorindustrieller Zeit in dieser Form betrieben wurde. In dem Gebiet der entstehenden Stadtregion Berlin bildeten die Weber zusammen mit den Bauern und Kossäten ein die dörfliche Struktur stabilisierendes Element, das trotz totaler funktionaler Eingliederung in den Berliner Raum die Entwicklung der städtischen Sozialstruktur verzögerte. Das Gegenbeispiel stellte Moabit dar, wo eine intakte bäuerliche Schicht fehlte und die ökonomische Entwicklung von großindustriellen Unternehmen getragen wurde. Innerhalb der Gemeinde bestanden zwischen den verschiedenen Schichten und Berufsgruppen zwar unterschiedlich enge Kontakte, eine wirkliche soziale Isolierung fehlte jedoch. Die vollständige Integration der neu einwandernden Bevölkerung in die ortsansässige Einwohnerschaft wird durch das uneingeschränkte Konnubium zwischen beiden Gruppen dokumentiert. 216 Ebenso unbeschränkt waren Heiraten zwischen den Gruppen der Weber, Arbeitsmänner, Fabrikarbeiter, den übrigen Gewerbetreibenden und den im unteren Dienstleistungsberuf Beschäftigten, ohne daß irgendwelche Schwerpunkte erkennbar wären. 214

Rixdorf er Zeitung vom 17.4.1892; vgl. D R I T T E R T E I L , ERSTES K A P I T E L , S. 256 f. Johannes Meier / Werner Rust, Bibliographie zur Gesthidhte der Stadt KarlMarx-Stadt ..., S. 408 f f . ; Rudolf Braun, Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) unter Einwirkung des Maschinen- und Fabrikwesens im 19. und 20. Jahrhundert, Erlenbach - Ziiridi - Stuttgart 1965. 216 Trauregister von Deutsch-Rixdorf betr. die Jahre 1846—1866..Ardiiv der Magdalenenkirche Neukölln; diese Quelle läßt zwar keine genauen Analysen des Bereichs der sozialen Kontakte innerhalb der Einwohnerschaft zu, spiegelt aber doch die „Entwicklung in ihren Grundzügen" wider; vgl. H . Croon, Methoden zur Erforschung der gemeindlichen Sozialgeschichte..., in: Westfälische Forschungen, Bd. 8 (1955), S. 144. 215

Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur

Wohngemeinde

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Die Büdner waren völlig in diesen Kreis der Heiraten einbezogen; die Gruppe der Kossäten verband sich in ihrer Mehrzahl mit den Schichten der Gewerbetreibenden und Arbeiter. Selbst die Bauern stellten unter diesem Gesichtspunkt keine sich deutlich abhebende Schicht dar. Zwar kann die Heirat zwischen Bauern als Regel angesehen werden, von der Abweichungen allerdings keine Seltenheit waren. Lediglich die wenigen ansässigen höheren Beamten und Akademiker heirateten innerhalb ihrer Schicht. Das sich andeutende Fehlen geschlossener sozialer Kreise kann als typisches Merkmal einer Gesellschaft angesehen werden, die von einer starken Mobilität der sozialen Entwicklung in einem Expansionsraum, wie die entstehende Stadtregion ihn darstellte, erfaßt worden war. Es handelte sich um eine Neuorientierung der verschiedenen Gruppen in ihrer Gemeinde in einer Phase des Wandels, in der sich die bisherigen starren sozialen Formen und Bindungen aufgelöst hatten und neue sich erst herauszubilden begannen. Die zweite Schicht, die für den sozialen Gestaltwandel Rixdorfs von Bedeutung wurde, bildeten „Arbeitsmänner" oder Tagelöhner und ungelernte Arbeiter; in den zwanziger bis vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts gehörten sie zu den als Einlieger, weniger als Professionisten bezeichneten Einwanderern, die sich bis 1840 zur zahlenmäßig stärksten Berufsgruppe innerhalb des Dorfes entwickelten.217 Sie verkörperten die im eigentlichen Sinne „zum Proletariat werdende Unterschicht"218 der freigesetzten, alten unterbäuerlichen Schichten in den Dörfern, die sich infolge des für sie teilweise eingeschränkten Nahrungsspielraums bei gleichzeitig zunehmendem natürlichem Wachstum zur mobilsten Schicht des 19. Jahrhunderts entwickelten. Sie wanderten nicht nur in die Städte im engeren Sinne, sondern wie das Rixdorfer Beispiel zeigt, füllten sie auch deren Randgebiete, sofern sich dort Aussichten auf einen Arbeitsplatz zu bieten schienen. Nach Rixdorf zogen die Arbeitsmänner besonders aus der engsten ländlichen Umgebung zu, aus dem weiteren Polizeibezirk, aus dem Kreis Teltow und der Provinz Brandenburg. Es befand sich aber auch eine Reihe aus Berlin übergesiedelter Personen unter ihnen. So bedeutete die Niederlassung in Rixdorf für viele von ihnen nicht mehr als einen Wohnsitzwedisel über die Gemeinde- oder Kreisgrenze hinweg. Unter den in den Jahren 1865/66 nach Rixdorf Eingewanderten kamen aus 217

E. Brode, Geschichte Rixdorfs..S. 157. W. Conze, Vom „Pöbel" zum „Proletariat" . . i n : Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 41 (1954), S. 333. 218

Vierteljahrschrift

für

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dem Polizeibezirk acht Tagelöhner und nur zwei andere Berufszugehörige, und aus dem Kreise Teltow stammten fünf Arbeitsmänner gegenüber drei in anderen Berufen Tätigen. Auch aus den anderen Gebieten wanderten in der Mehrzahl Tagelöhner zu.219 Daher bildeten sie bereits kurz nach 1840 einen Anteil von knapp 26 % der in Rixdorf Berufstätigen; bis 1866 wuchs dieser Prozentsatz auf rund 36 %. 220 Ein Jahrzehnt später hatte sich ihr Anteil, einschließlich der Fabrikarbeiter, auf 60,8 % erhöht.221 Die ungelernten Arbeiter, „die weder in festem Dienstverhältnis standen noch ein Grundstück" besaßen, bildeten auch in Rixdorf die unterste soziale Schicht; sie wohnten stets zur Miete und konnten sich nur „durch zu suchende Arbeit ernähren". 222 Der Zuzug in den Berliner Raum brachte ihnen keinen sozialen Aufstieg, sondern diese unter den Gewerbetreibenden und Landbesitzern stehende breite Schicht unqualifizierter Arbeiter determinierte die soziale Struktur der Zuzugsgemeinde als einen Ort der unteren Schichten, den eine „überwiegend arme Bevölkerung" 223 bewohnte. Sie spielten zusammen mit den Fabrikarbeitern eine ähnliche Rolle wie die Weber bei der Prägung der sozialen Struktur und der Funktionen Rixdorfs innerhalb der sich bildenden Stadtregion. Die Fabrikarbeiter tauchten unter dieser Bezeichnung erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts auf, doch muß die Frage offenbleiben, ob sie vorher nicht in Rixdorf ansässig waren, oder ob diese Berufsbezeichnung lediglieli nicht genannt wird. 224 Nodi in den sechziger Jahren bildeten sie bei einem ungefähren Anteil von 5 °/o der Berufstätigen eine unbedeutende Gruppe. Erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden sie für die sozialen und ökonomischen Funk2» Verzeichnis der in Treptow und Deutsch-Rixdorf vom 1. October bis ultimo December 1865 als Miether...; ... vom 17. Januar bis ultimo März 1866 als Miether..., in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation . . ., Archiv Neukölln, Hist. 1/5, 15. 220

Trauregister von Deutsch-Rixdorf betr. die Jahre 1846—1866. . Archiv der Magdalenenkirche Neukölln. 221 E. Brode, Geschichte Rixdorfs ..., S. 144. 222 Alexander Lengerke, Die ländliche Arbeiterfrage. Bearb. durch die bei dem Kgl. Landes-Oeconomie-Colloquium aus allen Gegenden der preußischen Monarchie eingegangenen Berichte landwirtschaftlicher Vereine . . . , Berlin 1849, S. 160. 223 Städtische Verfassung ... Bd. 1: 1877—1883 ..., Ardiiv Neukölln, Hist. I I / l , 3. 224 Die Feststellung, daß man die Berufsangabe im Heiratsregister scheute, trifft Pierre Ayçoberry anhand der Heiratsurkunden der Stadt Köln von 1845 bis 1865, ders., Probleme der Sozialschichtung in Köln im Zeitalter der Frühindustrialisierung, in: W. Fischer (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme. . ., S. 514.

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tionen Rixdorfs gleichermaßen signifikant wie die ungelernten Arbeiter. Im Gegensatz zu diesen befanden sie sich allgemein in einer günstigeren sozialen Lage.225 Neben den Berufsgruppen der „Fabrikarbeiter, Arbeiter und Weber" denen „die Mehrzahl der Einwohner" 226 angehörte, traten die anderen Gewerbetreibenden in den Hintergrund. Die meist zugewanderten Handwerksgesellen und Meister waren klein- und mittelstädtischer Herkunft, seltener kamen sie vom Land.227 Zwischen 1840 und 1850 hatten sie mit ca. 21 % aller Berufstätigen nur einen um weniges niedrigeren Anteil als die Weber aufzuweisen, der allerdings auf knapp 2 0 % nach 1860 absank. Die Tatsache, daß die Zahl der „Industriellen" — das waren wahrscheinlich die selbständigen Gewerbetreibenden, aber auch die im Verlagssystem arbeitenden Weber — zwischen 1876 und 1882 abnahm, wobei die genauen Daten allerdings fragwürdig zu sein scheinen, läßt die Vermutung aufkommen, daß die selbständigen Gewerbetreibenden in dieser Zeit in zunehmendem Maße in den Status abhängiger Arbeiter überwechselten. Im Jahre 1876 nahmen die Haushaltungen der „Industriellen" mit 1127 noch rund 31 % aller Haushalte ein. Sechs Jahre später waren es bei 726 Gewerbetreibenden mit gut 15 % nur noch die Hälfte; doch hatten alle übrigen Gruppen zugenommen, und die Zahl der Haushaltungen insgesamt hatte sich um über 30 % erhöht. Ein ungewöhnlich hoher Anstieg ist bei den Arbeitern zu verzeichnen, wobei jedoch 1876 nur die landwirtschaftlichen und Fabrikarbeiter, 1882 aber alle Abhängigen, auch die Angestellten und Beamten, zusammengefaßt wurden. Die Arbeiter allein hatten 1876 einen Anteil von 61 °/o und die Beamten und Rentiers von 2,3 % an allen Haushalten aufzuweisen. Im Jahre 1882 war der Anteil der Arbeiter, Angestellten und Beamten zusammen jedoch auf 79 % gestiegen.228 Trotz der im einzelnen ungesicherten Daten läßt sich die Ten-

225

Heinridi Bodemer, Uber die Zustände der arbeitenden Klassen, Grimma 1845, passim; A. Lengerke, Die ländliche Arbeiterfrage . . p a s s i m . 226 Protokallbuch der Gemeindevertretung von Deutsch-Rixdorf... pro 1871 bis 1874, Sitzung vom 27. Febr. 1872, Archiv Neukölln, Wandschrank 10 b. 227 Trauregister von Deutsch-Rixdorf betr. die Jahre 1846—1866 ..., Ardiiv der Magdalenenkirche Neukölln; Verzeichnis der in Treptow und Deutsch-Rixdorf vom 1. October bis ultimo December 1865 als Miether ...; ... vom 17. Januar bis ultimo März 1866 als Miether..., in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation..., Ardiiv Neukölln, Hist. 1/5, 15. 228 E. Brode, Geschichte Rixdorfs . . S . 144; Rixdorfer Zeitung vom 6. 7.1882 und Teltower Kreisblatt vom 8. 7.1882.

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denz einer „Proletarisierung" und eines Anwachsens der lohnabhängigen Arbeiterschaft in Rixdorf erkennen, die sich in den folgenden Jahren der Hochindustrialisierung verstärkte. Ohne über direkte Beweise für die Zeit zwischen 1870 und 1882 zu verfügen, kann angesichts der vorhandenen, aber im Verhältnis zur Zunahme der Arbeiterschaft geringfügigen Niederlassung von Industriebetrieben darauf geschlossen werden, daß in den Jahren der wachsenden Verkehrsverbindungen zwischen Rixdorf und Berlin ein großer Teil der abhängigen Erwerbstätigen außerhalb Rixdorfs, besonders in Berlin, seinen Arbeitsplatz innehatte. Die Fabrikarbeiter und Tagelöhner dürfen als eigentliche Träger der Funktion Rixdorfs als einer Arbeitergemeinde angesehen werden. Die Agrarbevölkerung — Bauern, Halbbauern und Kossäten — blieb in Rixdorf wie in Schöneberg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstant. Lediglich die Büdner, die zum Teil noch zu den landwirtschafttreibenden Schichten gehörten, verzeichneten zu dieser Zeit ein zahlenmäßig geringes Wachstum. Zu ihnen zählten jene Büdner, die ein „Haus und Gartenland und etwas Ackerland" erwarben. Vor der Separation siedelten sie sich auf dem Beiland und dem abgeteilten Gartenland der Bauern und Kossäten an, und später erwarben sie bebauungsfähige Grundstücke auf beliebigen Gemarkungsteilen, wo sie neben der Landwirtschaft und dem Gartenbau „meist ein Gewerbe" ausübten, seltener lebten sie ausschließlich von der Landwirtschaft und dem Tagelohn, sondern vermieteten häufig „ein bis zwei Stuben".229 Wie die anderen unterbäuerlichen Schichten blieb ihnen der sozialrechtliche Rang der bäuerlichen Besitzer vorenthalten; nur diese allein nahmen „auf die Leitung und Regelung der dörflichen Angelegenheiten . . . Einfluß". 230 Im Jahre 1852 gab es — wie ein halbes Jahrhundert zuvor — noch neun Bauern, einen Halbbauern und acht Kossäten.231 Nach 1834 war nur das Bauerngut der Familie Pflüger in den Besitz der Familie Hamann übergegangen, und das Kossätengut der Witwe Kastner hatte die Familie Strauß übernommen;232 die übrigen Höfe blieben in den

2211

A. Lengerke, Die ländliche Arbeiterfrage . . S . 157. E. Brode, Geschichte Rixdorfs ..., S. 120. 231 F. W. A. Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung ..., Bd. 2, S. (880); Namensverzeiâmis derjenigen Personen, welche zu Gemeindebedürfnissen..., in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation ..., Ardiiv Neukölln, Hist. 1/4, 21. 232 Ebda.; Nachweisung der Abgaben, welche von den Grundbesitzern zu Deutsch230

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Händen der alten Familien. Die bäuerliche Schicht nahm in Rixdorf ähnlich wie in Schöneberg trotz absoluter Stabilität relativ stetig ab und verlor so ihre einstige signifikante Stellung innerhalb der gesamten Sozialstruktur der Gemeinde. Um 1840 betrug ihr Anteil noch etwa 4 , 6 % . Bis in die sechziger Jahre sank er auf annähernd 2,2 °/o der Berufstätigen. 233 Ähnlich war es in Böhmisch-Rixdorf. Die Bauern und Ackerbesitzer ließen ihr Land parzellieren. Die so gewonnenen Baugrundstücke wurden teilweise von ihnen selbst bebaut, teilweise an andere Bauherrn verkauft. Sie selbst übten in der Regel keine andere Tätigkeit aus. Die böhmischen Kolonisten und Weber nannten sich weiterhin Landwirte oder Kolonisten. Die meisten bestellten die noch verbliebenen Felder weitgehend mit Gartenbaukulturen. Doch nur Carl Niemetz aus der verzweigten alten Bauernfamilie, ein Mitglied der Familie Bading und ein Mitglied der alten böhmischen Kolonistenfamilie Maresch hatten sich voll dem Gartenbau zugewandt und wurden auch im Adreßbuch als Gärtner bezeichnet.234 Einige wenige waren Rentiers geworden und lebten von den Einkünften aus ihrem Grundbesitz. Die Seßhaftigkeit der Bauern- und Kolonistenfamilien wird ferner durch die Tatsache bezeugt, daß nodi 1881 und 1896 von den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ansässigen neun Bauernfamilien in Deutsch-Rixdorf sieben am Ort lebten und von den 1795 genannten achtzehn Kolonisten ein Jahrhundert später zehn in der Gemeinde wohnten. 235 Obwohl die alten grundbesitzenden Familien zweifellos zu den wohlhabendsten Schichten Rixdorfs gehörten, scheinen sie bei weitem nicht den Reichtum der „Millionenbauern" Schönebergs erreicht zu haben, von deren durch günstige Bodenspekulationen erworbenem Wohlstand ihre Prachtvillen zeugen, die in Rixdorf völlig fehlen. Den Grad der Wohlhabenheit der Rixdorfer Bauern beleuchtet auch der Fall des Bauern Niemetz, der im Jahre 1880 den bei der Baupolizei beantragten Bau eines Wohnhauses auf seinem Grundstück zu-

Rixdorf an das Königliche Rentamt Mühlenhof zu entrichten sind. 1834, Archiv Neukölln, Hist. 1/2, 14. 239 Trauregister von Deutsch-Rixdorf betr. die Jahre 1846—1866..., Archiv der Magdalenenkirche Neukölln. 234 Berliner Adreßbuch für 1881..., T. 1, S. 80 ff.; Berliner Adreßuch für 1897..., 235

T . 5 , S . 1 2 8 f f . ; v g l . D R I T T E R T E I L , ERSTES K A P I T E L , S . 2 6 2 f .

Ebda.; Namensverzeidmis derjenigen Personen, welche zu Gemeindebedürfnissen... 1852, in: Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation ..., Archiv Neukölln, Hist. 1/4, 21; Eigenthümer nach dem Plan von Böhmisch-Rixdorf, in: J. Schultze, Rixdorf-Neukölln ...,S. 114.

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rückziehen mußte, weil ihm die Mittel zur Durchführung des Baus fehlten. Deshalb verkaufte er das Grundstück kurzerhand. 236 Die einstige soziale Vorrangstellung der Bauern und ihr Gewicht innerhalb der Sozialstruktur Rixdorfs schwand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend, und zwar stärker als das der gesamten Ackerbau- und Gartenbautreibenden. Denn die Zahl der Gärtner wuchs in der zweiten Jahrhunderthälfte absolut, obwohl der prozentuale Anteil der im Agrarsektor Erwerbstätigen zum Beispiel zwischen 1876 und 1882 mit 5,5 % konstant blieb, so daß unter dem Aspekt der in diesem Wirtschaftsbereich Berufstätigen keine entscheidenden Verschiebungen stattfanden. 237 Ein höherer Anteil landwirtschaftlich Tätiger als etwa in Moabit war für Rixdorf bis zum Ende des 19. Jahrhunderts typisch und zeigt, daß trotz der radikalen Veränderungen Reste des alten Dorfes erhalten geblieben waren und daß der städtische Charakter sich langsamer durchsetzte als anderwo, so daß Rixdorf seit den vierziger Jahren seinem sozialen Aufbau nach zu den Siedlungen des Umlands oder zumindest der Randzone der Stadtregion gehörte. Der kausale Zusammenhang der Resistenz der bäuerlichen Schicht gegenüber dem sozialen und ökonomischen Wandel, ihres Verbleibens in Rixdorf und in den traditionellen Berufen, das die fortschreitende Umstellung auf den nebenbei stets betriebenen Gartenbau mit seinen guten Absatzmöglichkeiten einschließt, mit dem im Vergleich zu anderen Siedlungen, etwa Moabit, langsamer verlaufenden Prozeß der Ausbildung einer städtischen Bevölkerungs- und Berufsstruktur kann nicht übersehen werden. Obgleich in Rixdorf wie in den Vorstädten und Moabit sich der Wandel der sozialen Verhältnisse nicht autonom, sondern unter dem Einfluß der von Berlin ausgehenden Expansion städtischer Funktionen auf die Umgebung vollzog, die sich so zu bestimmten Zonen innerhalb der Stadtregion entwickelte, wurden deutliche Unterschiede im Tempo und im Grad der Eingliederung erkennbar. Die Differenzierungen im sozialen Bild der verschiedenen Siedlungen erwiesen sich sowohl von der vorindustriellen Struktur wie von der Art der in ihnen lokalisierten Funktionen kausal determiniert; sie beruhten gleichermaßen auf einer Synchronisation der ökonomischen Veränderungen mit der Immigration neuer Schichten und Berufsgruppen. So kann in Rixdorf die dem Wandel gegenüber resistente und durch entsprechende wirtsdiaft236 237

Acta der Kgl. Polizei-Direktion zu Rixdorf ... E. Brode, Geschichte Rixdorfs . . S . 144; Rixdorfer

Zeitung vom 6. 7.1882.

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liehe Aufgaben und Möglichkeiten gestützte bäuerliche Schicht, ähnlich wie die Heimweberei, als retardierendes Element in dem so mehrere Jahrzehnte dauernden Ubergang vom Bauern- und Weberdorf zur städtischen Gemeinde angesehen werden. Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts beschleunigte sich die Einordnung in die inneren Zonen der Region entsprechend der zunehmenden Invasion von Berufsgruppen, die fast ausschließlich im Gewerbe und im Dienstleistungssektor tätig waren. Der durch den Niedergang der Weberei verursachte Umbruch in den ökonomischen Funktionen Rixdorfs war verantwortlich für seine Entwicklung zur typischen Wohngemeinde im Zuge der in der Industrialisierung enthaltenen räumlichen Differenzierung in Arbeitsorte und Wohnorte. Denn die zwischen 1888 und 1895 freigesetzten 780 Arbeitskräfte, darunter 35 Webermeister, 285 Gesellen und etwa 440 Spulerinnen, Knüpferinnen und Scherer,238 fanden in Rixdorf schwerlich einen neuen Arbeitsplatz. Arbeitsort- oder Berufswechsel oder beides waren die Folge des nicht synchronen Wachstums der Arbeitsplätze und Berufstätigen in Rixdorf. Sie verliehen dem Ort in noch stärkerem Maße die Funktion der größten Wohngemeinde im Raum Berlin mit einer zu über 46 °/o außerhalb des Ortes arbeitenden Bevölkerung.239 Das bisherige Dominieren der unteren Schichten blieb erhalten, so daß Rixdorf nicht nur wie etwa Schöneberg, Friedenau und andere Orte zum Wohnsitz breit gestreuter Bevölkerungsschichten, sondern in stärkster Einseitigkeit zur Wohngemeinde der unteren Schichten, der Abhängigen und Lohnarbeiter wurde. Die Berufsstruktur vermittelt einen umfassenden Einblick in die soziale Schichtung und ihren Wandel in Rixdorf im 19. Jahrhundert. 240 Die quellenmäßig bedingte Beschränkung auf Berufsstruktur und Stellung im Beruf, die zu den konstitutiven, objektiven Merkmalen der sozialen Schichtung gehören und eine der wichtigsten Gliederungsfaktoren der räumlichen Ordnung darstellen, vermag daher einen entscheidenden Einblick in das soziale Gefüge der Gemeinde zu geben.241

238

Rixdorfer Zeitung vom 24. 4.1895.

239

D R I T T E R T E I L , ERSTES K A P I T E L , S . 2 7 7 f .

240 R. Mayntz, Soziale Schichtung ..., S. 75 ff., 84; H . Croon, Methoden zur Erforschung der gemeindlichen Sozialgeschichte..., in: Westfälische Forschungen, Bd. 8 (1955), S. 139; R. König, Grundformen der Gesellschaft ...,S. 108. 241 R. Mayntz, Soziale Schichtung ..., S. 78 ; K. M. Bolte, Einige Bemerkungen zur Problematik ..., in: Soziale Schichtung ..., S. 31.

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IH. Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

In Rixdorf setzte sich der Trend der einseitigen Entwicklung zu einer „meist von den unteren Volksklassen bewohnten Gemeinde", die vorwiegend im Gewerbe, auch in Handel und Verkehr und weniger in der Landwirtschaft beschäftigt waren, noch nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert fort. Im Jahre 1900 waren knapp 65 % aller Berufstätigen in diesen Zweigen beschäftigt; einschließlich der ebenfalls vorwiegend dort tätigen „Arbeiter ohne nähere Angabe" waren es 83,3 %. 242 In Berlin gehörten diesen Gruppen dagegen nur 69,5 °/o der Beschäftigten an. Bis 1907 stiegen die Anteile in Rixdorf auf 86,7 % und in Berlin auf 79,4 °/o.24S Das Dominieren der Unterschichten beziehungsweise der „unteren Volksklassen", der „niederen Abhängigen, Gesellen, Gehülfen, Vorarbeiter, sonstigen qualifizierten Arbeitsgehiilfen und unqualifizierter Arbeiter" 244 zeigt sich darin, daß allein 49,6 °/o aller Berufstätigen zu dieser Gruppe zählten, hinzu kamen nodi 1 8 , 5 % Arbeiter ohne nähere Angabe, so daß über zwei Drittel der Beschäftigten Rixdorfs und 69 % der gesamten Bevölkerung diesen Gruppen der Unterschicht angehörten. Bis 1907 hatte sich der Anteil nur leicht verringert. In Berlin dagegen gehörte diesen Gruppen um 1900 bei einem Anteil von 45,7 °/o nicht einmal die Hälfte aller Berufstätigen an und im Durchschnitt der Vororte waren es mit 42,6 °/o noch weniger. Als sehr typisch für die soziale Struktur Rixdorfs muß auch die geringe Dienstbotenhaltung angesehen werden; im Jahre 1900 gehörten zu dieser Gruppe 4,1 °/o der Erwerbstätigen, in Berlin waren die Anteile mit 10 % und im Durchschnitt der Vororte mit 12,9 o/o erheblich höher. Von ihrem ökonomischen Status her betrachtet, gehörten die Unterbeamten ebenfalls den unteren Schichten einer Gemeinde an; zu ihnen zählten im Jahre 1900 1,3 % , aber 1907 nur 0,3 % der Berufstätigen. Die gesamte Beamtenschaft hatte einen Anteil von 2,6 %> der Erwerbstätigen im Jahre 1900 und von 2,2 °/o im Jahre 1907 aufzuweisen. Insgesamt wohnten mit 2,6 °/o der Beschäftigten im Jahre 1900 verhältnismäßig wenig Beamte in Rixdorf, gemessen daran, daß sie in Berlin immerhin zu 3,0 % und in den 242

Die Selbsttätigen ηαώ Berufs- und Hauptgruppen und die Angehörigen nach dem Beruf ihrer Familienhäupter, in: Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin für 1900—1902, 27. Jg. (1903), S. 34—38. 243 Berufs- und Betriebszählung vom 12. 6.1907. Berufsstatistik, Abt. VI (Großstädte), Η . 1 ( = Statistik des Deutschen Reidies, Bd. 207, 1), Berlin 1909, S. 29—38, 47—53. 244 Die Selbsttätigen ηαώ Berufs- und Hauptgruppen ..., in: Statistisches Jahrbud} der Stadt Berlin für 1900—1902, 27. Jg. (1903), S. 36—37.

Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur Wohngemeinde

307

Vororten durchschnittlich zu 2,4 °/o vertreten waren. Dies unterstreicht wie auch die geringe Ansiedlung von Vertretern freier Berufe, zum Beispiel von Künstlern und Literaten, wiederum den Charakter Rixdorfs als einer „typischen Arbeiterwohngemeinde". So können im Jahre 1900 insgesamt 73,5 % der Berufstätigen und knapp 73 % der gesamten Bevölkerung als zu den genannten Gruppen der unteren Schicht gehörend betrachtet werden.245 Alle anderen Bevölkerungsschichten waren angesichts des Übergewichts der Arbeiter und der niederen Abhängigen einschließlich der Unterbeamten minimal vertreten. Die Staats- und Gemeindebeamten in höherer Stellung waren nur mit 0,1 °/o der Berufstätigen vertreten, die Subalternbeamten mit 1,2 °/o, zusammen hatten sie einen ebenso großen Anteil aufzuweisen wie die unteren Beamten. Auch das Lehrpersonal und die Geistlichen waren in Rixdorf unterrepräsentiert. Zur mittleren und oberen Mittelschicht Rixdorfs, zu der nach der Zählung alle Selbständigen und leitenden Angestellten im Agrarsektor, im Gewerbe, im Handel und in einigen Dienstleistungszweigen, die Rentiers und pensionierten Beamten sowie die freien Berufe, Ärzte, höheren Beamten, Geistlichen und das höhergestellte Lehrpersonal, die Künstler und Literaten gehörten, zählten danach maximal 15 % der Berufstätigen und der Gesamtbevölkerung.246 Die übrige Mittelschicht umfaßte die nicht leitenden wissenschaftlichen und technischen Angestellten, das kaufmännische und Verwaltungspersonal in der Landwirtschaft, im Gewerbe und in einigen Dienstleistungszweigen, die Subalternbeamten, die niederen Angestellten im Unterrichts- und Kulturwesen, sowie die in der Berufsvorbereitung Stehenden. Zu ihnen gehörten nur 6,8 °/o der Berufstätigen oder 7,2 % der Gesamteinwohnerschaft Rixdorfs. Bis 1907 können einige Verschiebungen im sozialen Aufbau festgestellt werden, die zu einem leichten Anwachsen der Mittelschichten und einem geringen Rückgang der Unterschichten tendierten.247 Im Vergleich zu Berlin und dem Durchschnitt in den Vororten tritt die schichtenspezifische Segregation, die zur Bildung von Wohngemeindetypen führte, innerhalb der industriellen Stadtregion besonders deutlich hervor. Während in Berlin, dem zentralen Arbeitsort, im Jahre 1900 der höchste Prozentsatz der in Landwirtschaft, Gewerbe 245

Ebda. "« Ebda. «« Ebda. 20·

308

III• Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

und einigen Dienstleistungen Beschäftigten lebte, wohnten in den Vororten einerseits verhältnismäßig viele in der Statistik nicht näher definierte Arbeiter (knapp 10 % der Berufstätigen in typischen Arbeitergemeinden oder Industriestandorten wie Lichtenberg oder BoxhagenRummelsburg); andererseits wohnten in den Vororten mit 2,6 °/o der Berufstätigen und 3,6 % der Bevölkerung eine besonders große Anzahl höherer und subalterner Beamter, aber vor allem hatten sich dort Rentiers mit rund 5 % und etwa doppelt so hohen Anteilen wie in Berlin niedergelassen. Diese Gruppen konzentrierten sich vornehmlich in Wilmersdorf, Grunewald, Friedenau, aber auch in Schöneberg.248 Daß unter der Rixdorfer Bevölkerung „ein ganz erheblicher Theil" weniger in den „auf [der] Rixdorfer Gemarkung in erheblicher Zahl ins Leben getretenen mannigfachen gewerblichen Unternehmungen", sondern vor allem „in Berliner Etablissements, Fabriken und sonstigen Arbeitsstellen" beschäftigter Personen 249 lebte, beweisen nicht nur die höheren Zahlen der Berufstätigen gegenüber den am Ort Beschäftigten. Die überdurchschnittlich hohen Anteile der Gehilfen, Lehrlinge, Fabrik-, Lohn- und Tagearbeiter und des Dienstpersonals in den einzelnen Zweigen dokumentieren in gleicher Weise Rixdorfs soziale Struktur und Funktion. In erster Linie im Gewerbe, aber auch in der fast ausschließlich als Gartenbau betriebenen Landwirtschaft dominierten die niederen Beschäftigtengruppen mit ca. 83 % der in den betreffenden Zweigen Beschäftigten, während es in Berlin nur rund 74 % waren. Lediglich im Dienstleistungsbereich gehörten die in beiden Orten Wohnenden mit über 56 °/o in etwa gleichen Anteilen dieser Beschäftigtengruppe an. 250 Der Wandel der Berufsstruktur wird durch den geringen Anteil von 1,2 % der im Textilgewerbe Tätigen augenfällig deutlich, in Berlin waren es mit 1,5 % allerdings kaum mehr. Darüber hinaus zeigt der in Rixdorf hohe Anteil von 77,4 °/o an Gehilfen in diesem Zweig gegenüber 65,4 % in Berlin, daß die einst zahlreichen, innerhalb des Verlagssystems selbständigen Weber weitgehend zu abhängigen Textilarbeitern geworden waren. 251 Ein anderes Beispiel bieten die zur Industrie der Holz- und Schnitzstoffe zählenden Berufe, die innerhalb des sozialen und räumlichen Gefüges in Rixdorf eine

Ebda. Chr. J . Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben..., S. 79. 250 Berufs- und Betriebszählung vom 12. 6.1907..Abt. VI, H. 1 ( = Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 207, 1). 251 Ebda. 248

249

Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur

Wohngemeinde

309

dominierende Rolle spielten. Zu ihnen gehörte mit 8,4 % ein größerer Anteil aller Berufstätigen als in Berlin. Sie waren mit 90 % zu einem noch größeren Teil in abhängiger Stellung tätig als die in Berlin wohnenden Berufszugehörigen und die Textilarbeiter. Für sie wie auch für die große Zahl der im Maschinenbau und in der Metallindustrie Tätigen war Rixdorf meist nur der Wohnort. Für beide Zweige war Rixdorf kein eigentlicher Standort, und so lagen die Zahlen der Berufszugehörigen über denen der am Ort Beschäftigten.252 Mit der räumlichen Konzentration einiger Gewerbezweige innerhalb des Rixdorfer Gemeindegebiets stand die Segregation bestimmter Berufsgruppen in Zusammenhang. Um den Dorfanger, den späteren Richardplatz, hatten zur Gründungszeit des deutschen Dorfes die Bauern ihre Hofstellen erhalten. Hier bewohnten sie ihre Häuser noch zur Zeit der Invasion der Weber und anderer Bevölkerungsgruppen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und sie wichen audi in den folgenden Jahrzehnten nicht. Um 1850 vermochten sich nur wenige Weber bei den Bauern am Dorfanger und in der Dorfstraße einzumieten. In den sechziger Jahren ließ sich eine Reihe von Immigranten auf den bäuerlichen Grundstücken nieder, doch in der überwiegenden Mehrheit zogen sie in andere Ortsteile.263 So blieben die Bauern zwar als Eigentümer auf ihren überkommenen Grundstücken wohnen, dodi trat eine gewisse Überfremdung ein. Um 1880 hatten nur einzelne, nach 1890 fast zwei Drittel der Bauern auf ihren Grundstücken größere Wohnhäuser oder Anbauten errichtet, in denen sich nun in verstärktem Maße andere Schichten und Berufsgruppen, vornehmlich Tischler, einige Schlosser, Schmiede, Mechaniker und Metallarbeiter, seltener Weber, niederließen.254 Dennoch blieb auch um 1900 die Segregation der bäuerlichen Bevölkerung an ihrem traditionellen Wohnort eindeutig,

252 Ebda.; Gewerbliche Betriebsstatistik ..., Bd. 218, Abt. VI, Bd. 208. 253 Verzeichnis derjenigen Personen, welche der Weber-Innung...; Verzeichnis der in Deutsch-Rixdorf neu angezogenen Personen..., in; Acta der Forst- und Oeconomie-Deputation..Archiv Neukölln, Hist. 1/5, 15; Verzeichnis der in Treptow und Deutsch-Rixdorf vom 1. October bis ultimo December 1865...; ... vom 17. Januar bis ultimo März 1866 als Miether..., in: a.a.O., Archiv Neukölln, Hist. 1/4, 21. 254 Berliner Adreßbuch für 1881..., T. 2, S. 93 f.; Berliner Adreßbuch für 1897 ..., T. 5, S. 140 f.; die Lokalisation dieser und anderer Berufsgruppen stellt folgende Karte dar: Die Verteilung einiger Berufsgruppen in Rixdorf. 1897 (Landwirtschaft, Weberei, Holz-, Metall- und Maschinenindustrie). Siehe ABBILDUNG 7 am Ende des Bandes in Tasche.

310

III· Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

denn in allen übrigen Gemeindeteilen hatten sich Landwirte, meist jüngere Söhne der alteingesessenen Familien, nur punktuell niedergelassen. Lediglich die selbständigen Gärtner unter den Landwirtschaft treibenden Gruppen siedelten sich in den äußeren Ortsteilen an, wo sich das Gartenland unmittelbar an die Wohn- und Wirtschaftsgebäude anschloß, wie es bei B. Niemetz der Fall war. 255 In gleicher Weise behielten die alten böhmischen Kolonistenfamilien die ihnen einst zugewiesenen Wohnplätze in der Berliner Straße, der späteren Richardstraße, unmittelbar nördlich des deutschen Dorfes. Auch hier waren bis 1880 nur wenige neue Mieter ansässig, und die Grundstücke wurden ebenfalls erst nach 1890 dichter bebaut, und es zogen andere Bevölkerungsgruppen und -sdiichten zu.25® Die erste große Invasionsgruppe bildeten die Weber, die sich in den teilweise schon vorher von Büdnern erschlossenen und mit ihrer Einwanderung nun fortlaufend erschließenden Gemeindeteilen, der nördlichen Berliner Straße, der Berg-, Mühlenstraße und der Kirchgasse, audi in der Kirchhof- und Rosenstraße niederließen.257 Auf einzelnen Grundstücken kam es zu regelrechten Ballungen, die die Agglomerationen in Moabit und in den Vorstädten sogar übertrafen. Außer den Webergesellen und den übrigen in der Weberei Beschäftigten sowie anderen Handwerkern und Tagelöhnern wohnten um 1850 zum Beispiel in der Berliner Straße 29 allein zehn Webermeister, in der Berliner Straße 38 fünf Webermeister, in der Bergstraße 28 und der Bergstraße 14 je fünf Webermeister und in der Berliner Straße 45, in der Bergstraße 3 und der Bergstraße 22 je sechs Webermeister; in vielen Häusern lebten nur zwei Meisterfamilien. Das Bild von der tatsächlichen Konzentration der Weber wird ergänzt durch die zahlreichen Gesellen und Hilfskräfte, die teilweise im Haushalt der Meister, teilweise in eigenen Wohnungen auf denselben oder benachbarten Grundstücken wohnten. Diese Dichte lockerte sich in den folgenden Jahrzehnten, als die Bebauung auf bisher unerschlossene Gemarkungsteile übergriff und als die berufliche Struktur Rixdorfs mit der Niederlassung meist kleinerer Gewerbeund Industriebetriebe und der zunehmenden Einwanderung anderer Berufsgruppen vielfältiger wurde. Um 1880 stellte nur noch die nörd-

255

V g l . DRITTER TEIL, ERSTES KAPITEL, S . 2 6 2 f .

· Berliner Adreßbuch für 1881..., T. 2, S. 90 f.; Berliner Adreßbuch 1897...,Ί. 5, S. 140f. 857 Verzeichnis derjenigen Personen, welche der Weber-Innung..in: Acta Forst- und Oeconomie-Deputation ..., Archiv Neukölln, Hist. 1/5, 15. 25

für der

Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur

Wohngemeinde

311

lidie Kirchhofstraße einen Konzentrationspunkt und ein räumlich reduziertes Wohnviertel der Weber dar; in der Berliner Straße, der Bergund Rosenstraße war die Wohndichte in ähnlichem Maße rückläufig wie in der Kirchgasse, der Mühlen- und Kirchhofstraße. Dies führte zu dem Ergebnis einer etwa gleich diffusen Verteilung über das vor 1870 erschlossene Gemeindegebiet. In den nach 1880 erschlossenen Ortsteilen zwischen der Hermannstraße sowie der Berliner und der Bergstraße und südlich der Ringbahn hatten sich die Weber nur vereinzelt angesiedelt. Auch nach dem Rückgang der Weberei traten in der Lokalisation der Weber keine wesentlichen Veränderungen ein.258 Als stark rückläufige Berufsgruppe, die ihre bisherige Vorrangstellung verlor, vermochten sie keine Konzentration mehr zu bilden. Dennoch blieb die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene räumliche Nachbarschaft der bäuerlichen Schicht und der Weber prinzipiell erhalten. In beiden Fällen, bei der Ausbildung des Wohnplatzes der Bauern wie der Weber, waren die wirtschaftlichen Standorte mit den Wohnorten der die ökonomischen Funktionen tragenden Berufsgruppen identisch, und in beiden Fällen lagen sie auf den jeweils jüngst erschlossenen räumlichen Gebieten, ohne sich gegenseitig zu durchdringen.259 Als in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts neue Berufsgruppen die Dominanz der älteren aufhoben, ohne selbst eine derartige Position zu erringen, fand zwar eine stärkere Mischung statt, doch die Segregation zwischen den Bauern und den Webern blieb verhältnismäßig stabil. Die erst von den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ab zahlreich zuziehenden Tischler stellten einen neuen Segregationstyp dar. Analog zu den Absonderungen bestimmter Berufsgruppen und Gewerbezweige in den Vorstädten und in Moabit entstand das Tischlerviertel in Rixdorf. Den Ursprung bildeten in der Knesebeckstraße südlich der Ringbahn allerdings im Gegensatz zu den Vorstädten und zu Moabit nicht die Fabrikbetriebe, an denen sich die zugehörigen Berufsgruppen orientierten. Sondern der „Bauverein der Tischler und Berufsgenossen" hatte im Jahre 1872 in der Knesebeckstraße mit der Ansiedlung von Tischlern begonnen.260 Erst anschließend folgten die-

258 Berliner Adreßbuch 1897 ..., T. 5, S. 140 f. 259

280

für

1881...,

T. 2, S. 90 f.; Berliner

Adreßbuch

für

V g l . D R I T T E R T E I L , ERSTES K A P I T E L , S . 2 7 1 f f .

H . W i n z / W . Schmidt, Von Rixdorf zu Neukölln..., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 183 f.

312

III· Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

ser Tischlerkolonie kleine, zum Teil aus Handwerksbetrieben erwachsene oder neugegründete Möbelfabriken. Mit der nun auch in Rixdorf sich vollziehenden unmittelbaren Trennung von Arbeitsort und Wohnort als einem Merkmal industriestädtischer räumlicher Differenzierung manifestierte sich die fortschreitende Verstädterung und Eingliederung in die Randzone der engeren Stadtregion. In der Knesebeckstraße war dennoch die Durchmischung von Arbeitsort und Wohnort intensiver als in anderen vergleichbaren Vierteln. Um 1880 lagen in der Knesebeckstraße vor allem die Wohnstätten der Tischler, Drechsler und Möbelpolierer, und es gab kaum ein Gebäude, das nicht von Angehörigen dieser Berufe bewohnt war; in den meisten Häusern lebten zwei bis drei, nicht selten auch vier bis sechs Drechsler-, Tischler- und Möbelpoliererfamilien. 261 Fünfzehn Jahre später hatte sich sowohl die Zahl der ansässigen Tischler, Drechsler und Möbelpolierer wie der Möbelfabriken und anderer kleiner holzverarbeitender Betriebe beträchtlich erhöht, und der kleine Standort hatte sich auch räumlich in Richtung der Gemarkungsgrenze nach Tempelhof hin erweitert, aber kaum in östlicher Richtung über die Hermannstraße hinaus.262 Die hier wohnenden Angehörigen der holzverarbeitenden Berufe stellten, wie bereits festgestellt, die potentielle Arbeiterschaft der Betriebe dar. Während die Tischler vorwiegend in den an der Straßenfront gelegenen Vorderhäusern wohnten, waren die Betriebe vornehmlich in den Hofgebäuden und Seitenflügeln eingerichtet worden. In den Jahren nach 1890 verzeichneten gerade diejenigen Grundstücke die höchsten Zahlen berufszugehöriger Familien, auf denen sich kleine Fabrikationsstätten befanden. Darüber hinaus hatten sich Tischler in fast allen Ortsteilen, besonders in den nach 1870 erschlossenen Straßen zwischen der Hermannstraße sowie der Berg- und der Berliner Straße, in der Jäger-, der Ziethen-, der Prinz-Handjery-, der Steinmetz- und der Kopfstraße, aber auch im nördlichen Teil der Hermannstraße, am Hermannplatz, in der Bergstraße und in der Berliner Straße, abgesehen vom alten böhmischen Dorfteil, niedergelassen.263 Nur in der unmittelbaren Nähe der Holzplätze, die vornehmlich Lagerplätze waren, vermochte sich keine berufszugehörige Bevölkerungskonzentration auszubilden. Daraus kann der Schluß gezogen werden, daß es tatsächlich in größerem Umfang auch Beschäftigte bindende Fabrikationsstätten 281 2(12 283

Berliner Adreßbuch für 1881..T. Berliner Adreßbuch für 1897..T. A.a.O., S. 128 ff.

2, S. 93. 5, S. 137.

Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur

Wohngemeinde

313

waren, die eine Agglomerationstendenz auf bestimmte Berufsgruppen ausübten, wie umgekehrt mehr oder weniger flächenbedürftige geschlossene Betriebsstätten in der Nähe verwandter Berufsgruppen ihren Standort bezogen. Aus dem Überwiegen der in der holzverarbeitenden Industrie Erwerbstätigen gegenüber den am Ort in dieser Gewerbegruppe Beschäftigten resultiert die nur auf einen Teil der Tischler, Drechsler und Möbelpolierer zutreffende Verbindung mit den Arbeitsstätten und die Zuordnung von Arbeits- und Wohnplatz. Die sozusagen „überschüssigen" Arbeitskräfte dieser Berufe ließen sich, abgesehen von der größeren Häufigkeit in den jüngeren Erschließungsgebieten, verstreut und ohne erkennbare Orientierung in der Gemeinde nieder. Parallel zu den ökonomischen Standorten bildete nur die jeweils dominierende und einen bestimmten quantitativen Umfang erreichende Berufsgruppe mehr oder weniger geschlossene Wohnviertel. Abgesehen von der Identität zwischen Standort und Wohnort bei den Bauern und Webern, ist eine Korrelation zwischen dem innergemeindlichen Standort eines Gewerbe- und Industriezweigs und einem Wohnviertel nur bei den Tischlern und ihren Berufsverwandten zu beobachten. Bei anderen, quantitativ ebenfalls stark vertretenen Berufsgruppen, wie den Metallarbeitern oder den in der Maschinenindustrie Beschäftigten, unterblieb die Wohnviertelbildung ebenso wie die Standortbildung.264 Von einer echten Sukzession in der räumlichen Nutzung durch verschiedene Funktionen kann audi hier nur bedingt insofern gesprochen werden, als die Weber ihren alten, um die Mitte des 19. Jahrhunderts bezogenen Standort in späterer Zeit auflockerten und andere Berufsund Bevölkerungsgruppen einzogen. In gleichem Maße wie der rückläufigen Zahl der Weber eine in anderen Berufen beschäftigte Bevölkerung folgte, drangen auch meist kleine Betriebe verschiedener Gewerbezweige in den Webereistandort ein. Ebenso wie in Moabit entwickelten sich auch in Rixdorf die typisch industriestädtischen, in den zentralen Stadtteilen und in den Vorstädten auftretenden Formen der Wohngemeinschaften und Haushaltszusammensetzungen. Die Übernahme der dort weit verbreiteten Haushaltsgrößen und -Zusammensetzungen kann als ein Symptom der Integration in die verstädterte Randzone der Stadtregion und der Aufgabe ländlicher Lebensformen gewertet werden. Die bäuerliche Familie lebte ebenso wie die bürgerliche Familie in der Gemeinschaft mit den Knechten und Mägden und dem Dienstper294

Ebda.

314

III. Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde

sonai im eigenen, unterschiedlich großen Haus oder in einer mindestens ein Stockwerk einnehmenden Mietwohnung. Zur Bauernfamilie gehörten fast immer die Eltern der Hoferben als „Altsitzer"; dieser Familienverband war selbst am Ende des 19. Jahrhunderts in Rixdorf noch anzutreffen. Die unterbäuerlidien Schichten lebten teilweise in eigenen kleinen Häusern, hatten aber ebenfalls den zwei Generationen umfassenden Familienverband übernommen, obwohl sie in engeren, oft sogar extrem engen räumlichen Verhältnissen lebten und noch ein bis zwei Stuben vermietet hatten. 265 Damit begannen sich bei ihnen schon Formen des Haushaltsverbandes zu entwickeln, wie sie später für die industriestädtischen Unterschichten typisdi wurden. In Gegensatz zur bäuerlichen Einwohnerschaft waren die Weberfamilien als Kleinfamilien formiert. Die zuwandernden Weber kamen einzeln, sehr häufig mit noch nicht erwachsenen Kindern. Unter den Berliner Aussiedlern waren nicht selten „kinderreiche Familien . . . die es besonders schwer hatten eine Wohnung in Berlin zu finden" und so in die Vororte zogen, wo die Mietpreise zudem teilweise niedriger waren.266 Die Weber nahmen eine gewisse Zwischenstellung in der Entwicklung von der dörflich-bäuerlichen zu den industriestädtisch-proletarischen und kleinbürgerlichen Haushaltsgemeinschaften ein; denn bei ihnen war die Kleinfamilie bereits allgemein üblich, ohne daß außer Gesellen und anderen Hilfskräften in der Weberei etwa berufsfremde Personen häufiger im Haushalt aufgenommen wurden. Erst die außerhalb der Wohnung beschäftigten Arbeitnehmer konnten innerhalb des Familienverbandes in einer kleinen Wohnung leben oder sie fanden in fremden Wohnungen eine Schlafstelle. So begannen mit der Niederlassung von zentralisierten Arbeitsplätzen und Fabriken seit der Wende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts die Wohnweisen der städtischen Industriearbeiterschaft und der kleinbürgerlichen Kreise sich auch in Rixdorf zu verbreiten. Um 1900 gehörte Rixdorf zu den Vorortgemeinden mit den schlechtesten Wohnverhältnissen, die allerdings im Vergleich zu den inneren Stadtteilen Berlins und den Vorstädten als günstig zu bezeichnen sind.267 Das Dominieren der ausgesprochen proletarischen Wohnge295

A. Lengerke, Die ländliche Arbeiterfrage . . S . 157. Adolf Streckfuß, 500 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt, Berlin 1900, S. 765. 2,7 Zeitschrift des Königlich-Preußischen Statistischen Bureaus, 42. Jg. (1902), Tab. IX ff. Die hier wiedergegebenen Daten über die Haushalts- und 'Wohngemein2ββ

Wandel vom Bauern- und Weberdorf zur

Wohngemeinde

315

meinsdiaft ist am Verhältnis zwischen Zimmervermietungen und Schlafstellenwesen erkennbar. Es waren nur 572 Haushaltungen oder 2,6 °/o, die Zimmermieter aufgenommen hatten, in den sogenannten bürgerlichen Vororten wie Schmargendorf waren es 3,4 % , in Friedenau 6,4 % , in Wilmersdorf 5,3 °/o, in Schöneberg sogar 7,3 °/o, auch in Berlin waren es 7,1 °/ο.2ββ Im Gegensatz zu diesem Vermieten von Teilen der Wohnung an die einen selbständigen Haushalt führenden Untermieter, die nur in loser Beziehung zum Vermieter standen, war die Aufnahme von Schlafleuten in die selbst bewohnten Räume verhältnismäßig stark verbreitet. In Rixdorf hatte mit 9,3 °/o fast jeder 10. Haushalt Schlafleute aufgenommen; nur in Berlin waren es mit 12,7 °/o etwas mehr Haushalte. In den genannten Vororten waren es jeweils erheblich weniger Haushaltungen; die meisten Schlafleute wurden in Schöneberg bei 8,0 °/o der Haushalte beherbergt, in Friedenau waren es nur 5,0 °/o; es folgte Wilmersdorf mit 4,4 %> und Schmargendorf mit nur 2,4 %. ze9 Da es häufig audi Familien mit mehreren Kindern waren, die fremde Personen aufgenommen hatten — zumal auch die Aufnahme mehrerer Schlafleute keine Ausnahme darstellte — wurden auf diese Weise erstaunlich hohe Wohndichten erzielt. In der Berliner Straße 14 existierten zum Beispiel insgesamt 74 Haushaltungen, in denen 325 Personen lebten.270 Dennoch waren es nur 0,8 % der Bewohner, die in Untermiete lebten und nur 3,2 % der Bewohner, die in Schlafstellen eine Unterkunft gefunden hatten. 271 In Rixdorf lebte somit die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in reinen Familienhaushaltungen, wofür neben den, verglichen mit Berlin, Schöneberg oder Charlottenburg, durchschnittlich niedrigeren Mieten, vor allem der fast ausschließliche Bau kleiner, ein bis drei Zimmer umfassender Wohnungen verantwortlich war. 272

schaffen sind das Ergebnis der ersten in Rixdorf durchgeführten statistischen Erhebungen. 2 e « Ebda. 2 «» Ebda. m Acta der Kgl. Polizei-Direktion zu Rixdorf..., betr. Grundstück Bergstraße 14. 271 Zeitschrift des Königlich-Preußischen Statistischen Bureaus, 42. Jg. (1902), Tab. X, S. 175. 878 A.a.O., Tab. VI, S. 167.

DRITTES

KAPITEL

Die räumliche Expansion und das Eindringen städtischer Bauformen Der nodi weitgehend intakten dörflichen Sozial- und Wirtschaftsverfassung Rixdorfs zu Beginn des 19. Jahrhunderts entsprach eine einheitliche ländliche Baustruktur, geprägt von Bauernhaus, Stall und Scheune. Während sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im sozialen und ökonomischen Bereich signifikante funktionale und strukturelle Veränderungen vollzogen, blieben die architektonischen Formen der dörflich-ländlichen Sphäre verhaftet. Denn die Bauformen erwiesen sich in dem relativ festen dörflichen Gefüge im Vergleich zu den sozialen und wirtschaftlichen Strukturen als resistenter gegenüber dem durch die industrielle Entwicklung eingeleiteten Wandel. In seinem baulichen Bild glich Rixdorf bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts den meisten anderen märkischen Dörfern im Hinterland Berlins. Der Dorfanger stellte das dörfliche Zentrum dar, um ihn herum gruppierten sich die einzelnen Häuser und Hofstellen, meist Bauerngehöfte, die Kirche und das Lehnschulzengut. Die langen und schmalen Grundstücke der Bauern reichten bis zu den Ausfallstraßen, im Norden bis zur Richard- und Berliner Straße und im Süden bis zur später angelegten Canner Straße. 273 Bereits die ersten Ausbauten lagen fast ausschließlich an den nach Berlin führenden Verkehrsstraßen, wo sowohl in Rixdorf wie in Schöneberg schon die böhmischen Kolonisten ihre Wohnplätze zugewiesen erhalten hatten. Die frühen Bauern- und Kossätenhöfe dagegen wurden entlang der Dorfstraße angelegt. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden dann „mehrere neue Straßen", die Kirchhof-, Mühlen-, Berg- und Rosenstraße sowie die Kirchgasse, in denen sich akzelerierend „viele neue Büdner-Etablissements theils auf deutschem, theils auf böhmisdbem

273 Karte von der Feldflur Rixdorf im Teltowsdien Kreise. Behufs der Separation speciell vermessen, Bezirksamt Neukölln . . . Plankammer Abt. B, Schrank 1, Fadi 3, Nr. 88.

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer

Bauformen

317

Grund und Boden" ansiedelten. Der einstige Modus der Verteilung der Ackerparzellen an die böhmischen Siedler war dafür verantwortlich, daß die neuen bewohnten, „theils zu Deutsch-, theils zu Böhmisch-Rixdorf gehörigen Grundstücke durcheinander"lagen, und zwar „je nachdem der Acker, auf welchem solche errichtet" wurden, gerade zum deutschen oder böhmischen Dorfteil zählte.274 Im Separationsverfahren wurde das zukünftige potentielle Bauland Rixdorfs genau vermessen; zum deutschen Dorf gehörten danach 1830 Morgen 144 Quadratruthen und zum böhmischen Dorf nur 570 Morgen Land. Nach der Separation der Köllnischen Heide, in der beide Dorfteile Hütungsrechte besaßen, erweiterte sich die Rixdorfer Gemarkung um 194 Morgen 143 Quadratruthen. Jedoch erst nach 1885, als das Separationsverfahren dort abgeschlossen war, konnte dies Gelände zur Bebauung freigegeben werden.275 Ähnlich war es bei den Judenwiesen und der Rüsterlake sowie der angrenzenden Feldmark im südlichen Gemarkungsteil, ein Areal von 600 bis 800 Morgen, für das die besitzrechtlichen Neuregelungen erst nach 1890 abgeschlossen waren.276 So konnte die Bebauung erst kurz vor der Jahrhundertwende auch auf diesem Gebiet einsetzen. Damit fiel die bis dahin vorhandene Beschränkung der Ausdehnung des Ortes in nördlicher und westlicher Richtung fort. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war der Dorfkern relativ dicht, die Ausbauzonen dagegen waren wenig oder gar nur punktuell bebaut. Zur Zeit der Aufstellung des Separationsplans um 1827 waren außerhalb der beiden Dorfkerne lediglich einige Grundstücke in der Berliner Straße, der Berg-, der Mühlen- und der Kirchhofstraße mit kleinen Häusern besetzt, die auf Garten- oder Beiland außerhalb der Hufenflur und so verhältnismäßig verstreut lagen und kein in sich geschlossenes Erweiterungsviertel bildeten. In den folgenden Jahren und 274 Anfertigung eines Urbariums von Deutsch-Rixdorf, 1834—1836 ..., Archiv Neukölln, Hist. 1/2, 14; Acta des Magistrats zu Berlin betr. die Dorfstraße in Rixdorf, 1830, a.a.O., Hist. 1/2, 4; J. Sdiultze, Rixdorf-Neukölln ..., S. 126; H . W i n z / W. Schmidt, Von Rixdorf zu Neukölln..., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittelund Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 180. 275 In der Recapitulation der Extracte aus dem Menceliusschen Vermessungsregister der Feldmark Rixdorf vom 18.1.1836, in: Archiv Neukölln, Hist. 1/2, 4, wurden die Ergebnisse der Flurvermessung niedergelegt; vgl. auch Bericht über die Verwaltung der Stadt Berlin ... 1841 bis incl. 1850..., S. 183; J. Sdiultze, Rixdorf-Neukölln . . S . 128. 276 Rixdorfer Zeitung vom 6.2.1885 und vom 24. 4.1892.

318

III. Entwicklung

Rixdorf s zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

vor allem nach dem Abschluß des Separationsverfahrens verdichtete sich von etwa 1850 an die Bebauung in diesen Straßen fortlaufend, so daß bereits um 1856/58 nahezu jedes Grundstück bebaut war. Darüber hinaus wurde die bauliche Erschließung in Richtung Berlin entlang des Kottbusser Damms fortgesetzt; die bisher nur mit den Scheunen der böhmisdien Kolonisten besetzte Kirchgasse kam als Wohnplatz hinzu, und als einzige neue Straße war die Rosenstraße zwischen der Berliner- und der Bergstraße angelegt worden.277 Die baulidie Expansion blieb vor dem Inkrafttreten des ersten Bebauungsplans der vereinigten Rixdorfer Gemeinde im Jahre 1875/76 an die existierenden Straßen gebunden. Das bedeutete, daß die bauliche Entwicklung viel mehr zur Verdichtung statt zur Ausdehnung tendierte. Infolge des Fehlens neuer Straßenführungen wurden die an den vorhandenen Straßen liegenden Grundstücke nicht nur sehr dicht bebaut, sondern in den meisten Fällen erheblich überbebaut. 278 Bis zum Ubergreifen der Bodenspekulation auf Rixdorf kann zwischen Bebauung und Bevölkerungswachstum ein enger Zusammenhang gesehen werden. In der folgenden Zeit, also von den siebziger Jahren ab, setzten Spekulation und Grundrentenbildung ein, die nun den Zusammenhang zwischen dem Wohnraumbedarf und seiner Zunahme, entsprechend dem Wachstum der Bevölkerung, und seiner Deckung durdi den Bau neuer Wohnungen weitgehend bestimmten. Bis etwa 1870 war Rixdorf eine Siedlung, die sich, ähnlich wie Moabit, von ihrem Kern — den alten Dorfstraßen — aus räumlich erweiterte. Das dörfliche Zentrum, der Anger, war von der weiteren Bebauung und Verdichtung jedoch nicht betroffen, da die Genehmigung zum Bau von Wohngebäuden auf den Dorffreiheiten von der Regierung für alle preußischen Provinzen untersagt worden war. Sie sollten weiterhin der „Errichtung von Gemeindebackhäusern", der „Aufstellung von Feuerlösdigerätsdiaften und dazu erforderlicher Gebäude, öffentlichen Brunnen, Viehschwemmen, Baumschulen u. a. Bedürfnissen der Gemeinden" vorbehalten bleiben. Daneben spielte für diese staatliche Verordnung die erhöhte Feuergefahr bei einer diditeren Bebauung

277 Weitere Einzelheiten geben die Karte von der Feldflur Rixdorf im Teltowschen Kreise ..Berlin 1842. Grundriß von Berlin ... wieder; vgl. H . Winz / W. Sdunidt, Von Rixdorf zu Neukölln.... in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 180. 478

V g l . D R I T T E R T E I L , ERSTES K A P I T E L , S . 2 7 1 f . ; ZWEITES K A P I T E L , S . 3 1 0 , 3 1 4 f . ;

J. Schul tze, Rixdorf-Neukölln

. . S . 118, 156.

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer Bauformen

319

der Dorffreiheiten mit Gebäuden eine wichtige Rolle.479 Anders als in Moabit orientierte sich in Rixdorf der Ausbau vornehmlich an den Hauptverkehrsstraßen in Richtung Berlin, aber auch in Richtung Britz. Der unmittelbare bauliche Anschluß an die Großstadt wurde erst um 1870 sporadisch durch einige Bauten am Kottbusser Damm erreicht. In den Jahren davor „hing . . . außer Schöneberg keiner der Vororte direkt mit Berlin zusammen", sie waren trotz ihrer häufig engen wirtschaftlichen Verflechtungen und intensiven sozialen Beziehungen sämtlich noch „durch bestellte Feldfluren" 280 auffällig von der eigentlichen Großstadt geschieden. Die Straßenführung, die Art der Grundstücksaufteilung, Bauart und architektonische Gestaltung wahrten bis in die siebziger Jahre ihren ländlichen Charakter. Die Dorfstraßen, wie in den meisten ländlichen Siedlungen „sehr unregelmäßig angelegt", befanden sich wie allenthalben in den Dörfern des Kreises Teltow in schlechtem Zustand. Sie waren bis zu der vom Landrat im Jahre 1830 angeordneten Pflasterung mehr oder weniger reine Sandwege.281 Obwohl zwei Brände in den Jahren 1803 und 1849 beträchtlichen Schaden angerichtet hatten, änderte sich die außerordentlich dichte Anordnung der Wohn- und Wirtschaftsgebäude nur unwesentlich; nicht zuletzt unter dem Druck der wachsenden Einwohnerzahlen konnte ohne die entsprechende Erweiterung des Baulandes eine Auflockerung nicht erreicht werden. Unter dem Eindruck der ersten Brandkatastrophe ging man dazu über, stabilere Gebäude zu errichten, doch die Zahl der Bauten pro Grundstück nahm infolge der Bevölkerungsinvasion in den Jahren danach weiter zu. Die zweite Brandkatastrophe vom 28. April 1849, die in beiden Dorfteilen hundert Familien obdachlos machte, hundertfünfzig Gebäude verschiedener Art, darunter 52 Wohnhäuser, 70 Scheunen und 28 Ställe in Asdie legte, wurde von den Betroffenen und den Behörden in einen engen ursächlichen Zusammenhang mit der dichten Anordnung von oft vier bis sechs kleineren und größeren Gebäuden auf einem Grundstück gebracht.282 Zu den Schutzmaßnahmen zur Verhinderung 2711 Ministerialblatt für die gesummte innere Verwaltung in den Königlichen Preußischen Staaten, 1854, Nr. c, Seite 113, Archiv Neukölln, Hist. 1/2, 8. 280 P. Voigt, Grundrente und Wohnungsfrage . . . . T. 1, S. 112. 281 Die Regulierung der Dorfstraße, in: Acta des Magistrats zu Berlin betr. die Dorfstraße in Rixdorf, 1821—1830, Archiv Neukölln, Hist. 1/2, 4. 282 Altes Aktenstück von den Bränden in den Jahren 1803 und 1849 ..., Arthiv Neukölln, Hist. 1/1, 15; Berliner Intelligenzblatt, Nr. 107 vom 5. 5. 1849; Vossische Zeitung, Nr. 103 vom 4. 5.1849.

320

III· Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde

künftiger Brände gehörte deshalb das Verschwinden der alten märkischen Dielenhäuser und die allgemeinverbindliche Einführung von Ziegeldächern; ferner wurden die Häuser in größerem Umfang massiv ausgeführt und die Dorfstraßen geringfügig verbreitert. 283 Die Grundstücksaufteilung mit der Errichtung des Wohnhauses an der Straßenfront und einer unterschiedlich großen Zahl von Ställen, Schuppen, Remisen und ähnlichen Nebengebäuden auf der Hofseite änderte sich nicht. Die kleinen Häuser der Bauern und Kossäten bestanden, wie es in der Mark Brandenburg weit verbreitet war, „meist nur aus dem von einem steilen Ziegeldach gestützten Erdgeschoß",284 das unterkellert war und hin und wieder von einer Giebelstube ergänzt wurde. Villen und kleinstädtische Mietshäuser fehlten in Rixdorf ganz, bis sich wenige Bauern in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts dazu entschlossen, „bessere" und größere, „gelegentlich zweistöckige Häuser" zu bauen, vereinzelt auch, um sie an Handwerker, Tagelöhner und andere Familien, die kein eigenes Haus besaßen, zu vermieten.285 Die Häuser der böhmischen Kolonisten waren im märkischen Stil errichtet. Die bei ihrer Niederlassung von ihnen übernommene Verpflichtung, auf ihren Grundstüdien je eine landlose Familie, das heißt eine Einliegerfamilie aufzunehmen, hatte — analog zu den städtischen — zu einer Art ländlicher Hinterhofwohnungen geführt, da diesen Einliegern aus Raummangel häufig in den Scheunen, die die Grundstücke zur Kirchgasse begrenzten, eine Wohnung zugewiesen wurde. Später erbauten sie sich eigene kleine Häuser entlang der Kirchgasse, und viele von ihnen zogen nach dem Brand von 1849 als erste Bewohner in die neu angelegte Rosenstraße um.286 Da der Bau neuer Wohnhäuser mit dem wachsenden Bedarf bei weitem nicht Schritt hielt, waren viele Einwohner, in erster Linie aber die zuwandernde Bevölkerung, gezwungen, nicht nur auf engstem Raum zu wohnen, sondern auch in kleinen, unzulänglichen und nicht zu Wohnzwecken errichteten Gebäuden auf den hinteren Teilen der Grundstücke zu hausen. Wie in anderen von überdurchschnittlich 283 Bericht über die Verwaltung der Stadt Berlin ... 1841 bis incl. 1850 ..., S. 183; H. Winz/W. Schmidt, Von Rixdorf zu Neukölln..., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 178. 284 Chr. J. Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben ..., S. 83. 285 H. W i n z / W . Schmidt, Von Rixdorf zu Neukölln..., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 178. 288 A.a.O., S. 180.

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer

Bauformen

321

starker Bevölkerungszunahme betroffenenen Gebieten befanden sich „die Schlaf- und Stubenräume" vermutlich „häufig Wand an Wand neben den Viehställen".287 So läßt sich in Hinblick auf die frühindustriellen Wohnverhältnisse ein Wandel in der Nutzung verschiedener, ursprünglich landwirtschaftlicher oder gewerblicher Bauten feststellen, die für Wohnzwecke eingerichtet wurden. Ein derartiger Nutzungswandel ohne nennenswerte bauliche Umgestaltung signalisiert stets einen schnellen Funktionswandel, der einen relativ stationären Zustand oder eine evolutionäre Bewegung ablöst und neue Funktionen oder Strukturen lokalisiert, ohne das Erscheinungsbild des betreffenden Raums oder Viertels zu verändern. 288 Die Wohndichten erreichten in Rixdorf bereits 1858 eine für ländliche Verhältnisse erschreckende Höhe und bewiesen, wie sehr sich der Ort aus der ländlichen Umgebung des Hinterlands von Berlin gelöst hatte und in welch hohem Grade er sich auch unter dem Aspekt der Wohndichte auf dem Wege zur Anpassung an den städtischen Raum befand. Denn bereits 1858 lebten in Böhmisch- und Deutsch-Rixdorf etwa 17 bis 19 Menschen auf einem Grundstück.289 In Anbetracht dieser hohen Einwohnerdichte und des Baus fast ausnahmslos eingeschossiger Häuser darf mit Sicherheit angenommen werden, daß Keller und Dachstuben neben Schuppen und Ställen, vor allem angesichts der großen Zahl wirtschaftlich genutzter Gebäude, ebenfalls Wohnzwekken dienten. Unter der Rixdorfer Bevölkerung lebten die Heimweber in den schlechtesten Wohnverhältnissen. Auf einigen Grundstücken, die etwa nur mit drei kleinen oder ein bis zwei größeren Gebäuden besetzt waren, lebten um 1850 allein sechs bis zehn Webermeisterfamilien, wobei die Anzahl der Gesellen, Lehrlinge, anderer Handwerker und Tagelöhner, die zusätzlich dort gewohnt haben mochten,

287 Der Stadtphysikus W. Baring aus Celle hatte eine Untersuchung über die Wohnverhältnisse in Mittelstädten und ländlichen Gemeinden angefertigt, in der er die Forderung nach besseren und gesünderen Wohnungen vornehmlich für die sogenannten arbeitenden Klassen, das heißt kleine Handwerker, Fabrikarbeiter und Dienstboten, verbunden mit gezielten Vorschlägen aufstellte; vgl. William Baring, Wie Arbeiterwohnunzen gut und gesund einzurichten und zu erhalten seien, Basel 1859, S. 35. 268 Olaf Boustedt, Die Gebäude-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung für die Zwecke der Stadtplanung, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, 6. Jg. (1967), 1. Halbbd., S. 82—97. 289 In Deutsch-Rixdorf lebten rund 19 Menschen auf einem Grundstück, in Böhmisch-Rixdorf nur ca. 17; vgl. R. Boeckh, Ortschaftsstatistik..., S. 106.

21 Thienel

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/ / / . Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf und zur

Wohngemeinde

nicht erfaßt ist.290 Ebenso wie die von der bäuerlichen und der sonstigen landwirtschafttreibenden Bevölkerung bewohnten Häuser entsprachen die übrigen Gebäude, in denen Gewerbetreibende lebten, im Stil traditionellen Bauernhäusern.291 Die Nutzung der in Grund- und Aufriß für die bäuerliche Großfamilie konzipierten Häuser hatte angesichts des enorm zunehmenden Bevölkerungswachstums durch die vielen gewerblichen Kleinfamilien neben der generell hinter dem Bedarf zurückbleibenden Bautätigkeit die zweifellos stark überhöhten Wohndichten zur Folge. In gleicher Weise wie bei vielen der später erbauten Mietskasernen führte dies dazu, daß von menschenwürdigen Wohnungen nicht mehr gesprochen werden konnte. Das frühindustrielle Wohnungselend und die hohe Bewohnerdichte stellten sich deutlicher als in Moabit als ein in städtischen Randsäumen und Einflußzonen nicht erst mit der Mietskaserne auftauchendes Problem dar, sondern traten hier in unterschiedlichen Siedlungsformen und -typen auf, die von bestimmten wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen betroffen waren. Wohnungselend und hohe Bewohnerdichte erwiesen sich damit als unabhängig vom Bautyp wie von der geschlossenen städtischen Bauweise. Die Diskrepanz zwischen beschleunigtem sozio-ökonomischem Wandel und baulich-räumlicher Struktur sprengte die traditionelle bauliche Kapazität Rixdorfs. Daraus resultierte die Wohnungsnot. Die bauliche Entwicklung erwies sich somit im Gesamtprozeß der die Industrialisierung umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen als einer der retardierenden, zumindest aber rückständigen Bereiche. Wie sehr die räumliche Enge in Rixdorf als belastend empfunden wurde, verdeutlicht die Reaktion auf den Abschluß des Separationsverfahrens, denn kurz darauf hatten „Parzellierungen und neue Ansiedlungen . . . daselbst bedeutend zugenommen". Aber auch die sofortige Ausfertigung des Bebauungs- oder Fluchtlinienplans bei voraufgegangener eingehender Vorbereitung nach dem Erlaß der entsprechenden gesetzlichen Regelung ist ein Hinweis auf die von der Kommunalbehörde empfundene Notwendigkeit einer beschleunigten systematischen Erschließung neuer Bauflächen. Bereits der Ministerialerlaß Ergänzende Quellen zur Karte Berlin 1842. Grundriß von Berlin..., sowie Verzeichnis derjenigen Personen, welche der Weber-Innung..., in: Acta der F erstund Oeconomie-Deputation..., Ardiiv Neukölln, Hist. 1/4, 21, standen n i d « zur Verfügung; vgl. Beruht über die Verwaltung der Stadt Berlin. . . 1841 bis incl. 1850 ..., S. 183. 281 Vgl. die in den Situationsplänen später bebauter Grundstücke aufgeführten Zeichnungen von älteren Gebäuden, in: Acta der Kgl. Polizei-Direktion zu Rixdorf. 290

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer Bauformen

323

von 1854 schlug vor, dafür Sorge zu tragen, daß „nach und nach die Baufluchtlinien in den Dörfern festgestellt werden", um die bauliche Entwicklung allmählich unter Kontrolle zu bringen und in bestimmte Bahnen zu lenken.202 In Rixdorf trat, wie in den Vorstädten und Moabit, ein prinzipieller Wandel in der baulichen Erschließung und räumlichen Expansion mit der Ausarbeitung des ersten, im Auftrag der Gemeinde erarbeiteten Bebauungsplans vom Jahre 1875 ein. Er war aufgrund des Gesetzes vom 2. Juli 1875, betreffend die Anlegung und Veränderung von Straßen und Plätzen in Städten und ländlichen Ortschaften von dem Regierungs- und Baurat a. D. Keil ausgearbeitet worden und erfaßte die gesamte Rixdorfer Gemarkung, wobei die neu eingemeindeten Randgebiete, wie die Köllnischen Wiesen, für die die Gültigkeit des Berliner Bebauungsplans aufgehoben wurde, mit groben Straßenführungsgrundrissen in die bauliche Planung einbezogen wurden.2"3 Im Gegensatz zu den voraufgegangenen, von der Stadt Berlin begonnenen, aber nicht realisierten Planungen wurde der Fluchtlinienplan im Jahre 1875 in alleiniger Verantwortung der Gemeinde entsprechend den gesetzlichen Vorschriften als gültige Richtlinie für die künftige bauliche Entwicklung festgelegt. Die kurz nach 1820 begonnene und 1835 abgeschlossene, aber nicht verwirklichte Planung für die Bebauung des Köpenicker Feldes hatte zum ersten Male auch die Rixdorfer Flur systematisch aufgeteilt. Die vorhandenen Straßen sollten verbreitert und begradigt und nur wenige neu hinzugefügt werden. Die für die damaligen städtebaulichen Konzeptionen typischen Kreisplätze an sich kreuzenden Straßen wurden nicht übernommen. Der große Hobrechtplan hatte die Rixdorfer Gemarkung nicht berührt, lediglich die Köllnischen Wiesen und die Hasenheide mit dem Hermannplatz waren einbezogen, doch nach ihrer Eingliederung in den Rixdorfer Gemeindebezirk wieder freigegeben worden. 294 Der oben erwähnte Bebauungsplan stellte ähnlich anderen für die Berliner Nachbargemeinden aufgestellten Plänen oder dem „großen Bebauungsplan der Umgegenden Berlins" vom Jahre 1862 einen Fluditlinien-

Bericht über die Verwaltung der Stadt Berlin ... 1841 bis incl. 1850 . . S . 183. Ministerialblatt für die gesammte innere Verwaltung..., 1854, Archiv Neukölln, Hist. 1/2, 8. 284 Situationsplan von den zwischen der Feldmark Tempelhof und der BerlinRudower Chaussee belegenen Theilen der Feldmarken Rixdorf und Britz..., Bezirksamt Neukölln . . . Bezirksvermessungsamt. 282 293

21·

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III. Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde

plan dar. Sein Grundgerüst bildete eine Kombination von Hauptachsen, die zum Teil im Hermannplatz sternförmig zusammentrafen, und rechtwinklig zu ihnen verlaufender Querstraßen, ergänzt durch einzelne Diagonalstraßen, so daß sich das Rechteckschema in der Straßenführung und die Platzanordnung der Berliner Innenstadt wiederholten.295 Gleichzeitig mit der Festlegung der Fluchtlinien war auf Initiative der Gemeindeverwaltung ein Kanalisationsplan ausgearbeitet worden. Denn ein ausreichendes Abwässerleitungssystem war wie andere Versorgungseinrichtungen, so die Trinkwasserzuführung, Gas- und Elektrizitätsleitungen und die Straßenpflasterung, eine wichtige Voraussetzung für die Erschließung des Dorfgebietes in größerem Rahmen und für die Parzellierung von Grundstücken zur Errichtung von mehrstöckigen Gebäuden. Erst damit wurde Rixdorf auch für den Wohnungs- und Grundstücksmarkt wie für die auf das Umland übergreifende Bodenspekulation zu einem interessanten Betätigungsfeld. Der Fluchtlinienplan ergänzte die Bestimmungen der zuvor erlassenen Baupolizeiordnung des Regierungsbezirks Potsdam vom 15. 3. 1872 für das „platte Land", die weder eine wirkliche Begrenzung der Gebäudehöhe noch der Bebauung der Grundstücksflächen vorsah. Auch in Rixdorf konnten Häuser im Mietskasernenstil mit dem betreffenden Grundriß und in entsprechender Höhe gebaut werden, wobei die einzelnen Grundstücke — ähnlich dem Berliner Vorbild — mit Hof- und Hintergebäuden besetzt werden durften, sofern die äußerst geringe Hof fläche von 36 m2 ausgespart wurde.296 Wie die Planung, so knüpfte auch der Bebauungsgang an die bestehenden Straßen an. Er tendierte unmittelbar nach 1875 zunächst zur Auffüllung noch unbebauter Grundstücke in den älteren Ausbaugebieten, vornehmlich im Dreieck zwischen der Mühlenstraße, dem Richardplatz, der Berliner und der Bergstraße. Aber auch der nördliche Teil der Berliner Straße bis zum Hermannplatz wurde rege erschlossen. Doch der bauliche Anschluß an Berlin wurde lange Zeit nicht erreicht zumal die Bebauung im Vergleich zu anderen Gemeinden wie Schöneberg, wo der Bebauungsgang stärker nach Berlin hin ausgerichtet war, von der Stadt aus in verhältnismäßig geringem Umfang vordrang. Obwohl das Straßennetz, abgesehen von seiner lückenhaften Skizzierung im Gebiet der Köllnischen Wiesen, dem Raum westlich der 295

V g l . EINFÜHRUNG, S . 4 3 f .

298

R. Heiligenthal, Deutscher Städtebau . . S . 84, 88;

EINFÜHRUNG,

S. 35.

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer

Bauformen

325

Hermannstraße und dem sich südöstlich an den deutschen Dorfkern anschließenden Gemarkungsteil, fest umrissen war, griff die Bebauung zunächst nur auf wenige neue Straßen über.297 Von den gerade angelegten Straßen wurden die zwischen der Hermannstraße, der Bergstraße und der verlängerten Berliner Straße angelegten und am genauesten dem Rechteckschema folgenden Straßen, die Jäger-, Ziethen-, PrinzHandjery-, Steinmetz- und Kopfstraße mit der rechtwinklig zu ihnen verlaufenden Falk- und Lessingstraße am frühesten bebaut. Ebenfalls um 1875 waren Teile der im Süden parallel zur Ringbahn verlaufenden Juliusstraße und der Knesebeckstraße bebaut, da bereits 1872 der „Berliner Bauverein der Tischler und Berufsgenossen" hier Häuser errichtet hatte. Diese Straßenzüge, die als zweites Ausbauviertel zu bezeichnen sind, waren von den Wohnlagen der Bauern und Kossäten, die als Eigentümer des Grund und Bodens am ehesten geneigt waren, die vom Hof weit entfernten und die weniger nutzbringenden Flächen zu verkaufen, etwas abseits gelegen. Am Kottbuser Damm und der von ihm abzweigenden Schinkestraße wuchs die Zahl der bebauten Grundstücke schnell, auch die letzte, innerhalb des alten Dorfraums angelegte, parallel zur Rosenstraße verlaufende Goethestraße gehörte zu den rasch bebauten Straßen.298 Die langsamere Entwicklung und Erschließung der mittleren und südlichen Hermannstraße war trotz eines vollständigen Straßenausbaus durch die Anlage von Friedhöfen durch mehrere, in den südöstlichen Stadtteilen gelegene Berliner Kirchengemeinden bedingt, die in den Jahren 1852 bis 1888 einige größere Areale erworben hatten. 299 Bis 1890 verlief die bauliche Entwicklung Rixdorfs im Vergleich zur folgenden Zeit langsam. Neue Häuser entstanden nur an wenigen bisher unbebauten Straßen, in erster Linie wurden die bereits bebauten Straßen erheblich verdichtet. Besonders die neu erschlossenen Straßen zwischen der Hermann-, der Berg- und der Berliner Straße wurden in geschlossenem Mietskasernenstil bebaut. Die besondere Enge in diesem 297

A.a.O., S. 14 f. Situationsplan von ... Rixdorf und Britz ..., Bezirksamt Neukölln . . . Bezirksvermessungsamt; Entwicklung der Bebauung im Berliner Raum. Stand der Bebauung in der Gemeinde Rixdorf-Neukölln, bearb. von Helmut Winz und Wilhelm Schmidt, in: Historischer Handatlas von Brandenburg und Berlin, Lfg. 15/16 ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin), Berlin 1965. 289 H . W i n z / W . Sdimidt, Von Rixdorf zu Neukölln..., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 183. 298

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III· Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

Gebiet resultierte aus der dichten Straßenführung, den kleinen Grundstücken und schmalen Straßen. Die Straßenbreite war durch das Ortsstatut der Gemeinde Rixdorf vom 30. Mai 1877 geregelt, dessen Bestimmungen für den Fahrdamm 12 m und für jeden Bürgersteig 3,50 m Mindestbreite forderten. Demzufolge wurde die überwiegende Mehrheit der Rixdorfer Straßen in einer Minimalbreite von 19 m projektiert. Ausnahmen bildeten lediglich die Hermannstraße mit 34 m Breite und der von ihr abzweigende Grüne Weg, der 26 m breit angelegt wurde. 300 Die nördlidie Bergstraße und die Berliner Straße erhielten gleichfalls eine sich allmählich lückenlos schließende Mietskasernenbebauung mit Seitenflügeln und Hintergebäuden und der für Rixdorf typischen Verquickung gewerblich genutzter und privat bewohnter Gebäude und Wohnungen. In den Randbezirken der Gemeinde hatte die Bebauung um 1890 bei weitem nicht die Geschlossenheit wie in den Innenbezirken erreicht. Geschlossenheit bedeutete hier jedoch nicht Einheitlichkeit. Im Straßenbild wechselten ältere zwei- bis dreigeschossige Wohnhäuser mit kleineren, unregelmäßig auf den Grundstücken verteilten Nebengebäuden und gewerblichen Bauten sowie mit hohen Mietskasernen ab, was zu einem recht uneinheitlich gestalteten Straßenbild führte. 301 Mit größerer Geschwindigkeit vollzog sich die bauliche Erschließung der Rixdorfer Gemarkung nach 1890, was dazu führte, daß in reichlich zwei Jahrzehnten der größte Teil des Gemeindegebiets nahezu geschlossen bebaut war. Damit trat der Ort im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts auch in seiner äußeren Gestaltung aus der halb ländlichen, halb städtischen Umlandzone Berlins heraus und gliederte sich mit seiner Baustruktur in die Randzone der Stadtregion ein. Neben der Verdichtung der bisher bebauten Straßen wurden nun die an bisher nur projektierten Straßen liegenden Grundstücke bebaut, selbst die Köllnischen Wiesen und das westlich der Hermannstraße gelegene Terrain wurden zunehmend erschlossen. Wichtige Voraussetzungen für den einsetzenden Bauboom stellten die in diesen Jahren angelegten Trinkwasserversorgungseinrichtungen, die Gaszuführung mit Anschluß an die Charlottenburger Gaswerke, die Schwemmkanalisation und später die Versorgung mit elektrischem Strom dar.302 Diese ausgesprochen städ300

Sammlungen der Polizei-Verordnungen und polizeilichen Vorschriften etc. für den Amtsbezirk Rixdorf, Rixdorf o.J. (1889), S. 78—84; cit. nach a.a.O., S. 11. 801 A.a.O., S. 13. 802 Ebda.

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer Bauformen

327

tischen Einrichtungen beschleunigten den Prozeß der Eingliederung in die Stadtregion nicht unwesentlich, besonders da ihre Anlage in verstärktem Maße die geschlossene Bebauung mit mehrstöckigen Gebäuden zur Folge hatte. Zwar war seit 1890 ein neuer Bebauungsplan gültig, doch unterschied er sich nicht wesentlich vom vorhergehenden. Als neues Planungselement war lediglich die Anlage kleiner Plätze zwischen den Häusermeeren vorgesehen. Somit wurden nicht nur wie bisher die ehemaligen Ackerflächen für eine dichte Bebauung freigegeben, sondern es sollten zum ersten Male auch ästhetische Gesichtspunkte in bescheidenen Ansätzen berücksichtigt werden. Der diesen Plan ablösende Gesamtbebauungsplan von 1901, den Grenzverschiebungen erforderlich machten, hielt an diesem Prinzip der Auflockerung der Straßenfluchten durch kleine und mittelgroße Plätze und Alleen in einer Promenadenstraße, der Schillerpromenade, fest.803 Verschönerung und Auflockerung des eintönigen Straßenbildes müssen auch als Mittel kommunaler Politik angesehen werden, um das im Jahre 1899 zur Stadt erhobene und 1906 einen selbständigen Stadtkreis bildende Rixdorf für eine steuerkräftige und das hieß für die den mittleren und oberen Schichten angehörende Bevölkerung als Wohngemeinde anziehender zu gestalten.304 Wenn auch die Bauordnung von 1898 die maximal zulässige Bebauung der Grundstücke etwas einschränkte, zu einer entscheidenden Verbesserung der Bau- und Wohnverhältnisse führte sie nicht. Für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg wurde eine zunehmende Gleichförmigkeit und Eintönigkeit in der Bebauung für Rixdorf kennzeichnend, da es bei Baugesellschaften und einigen kooperierenden Einzelbauherrn üblich war, mehrere Grundstücke gleichzeitig in Grund- und Aufriß und oft noch in der Fassadengestaltung gleichartig zu bebauen.805 So ähnelte der Bauzustand Rixdorfs, entsprechend seiner Eingliederung und seiner Verankerung in der Randzone der

303 Die Entwicklung der Bebauung... Stand der Bebauung in der Gemeinde Rixdorf-Neukölln, bearb. von H. Winz und W. Sdimidt, in: Historischer Handatlas . . L f g . 15/16. 304

Audi der erfolgreiche Versuch der Umbenennung Rixdorfs in Neukölln diente dem Zweck, „dem bisher beeinträchtigten Zuzug besser situierter Kreise" abzuhelfen, dadurch daß man „die von alters her bestehende Mißachtung gegen den Ortsnamen" tilgte; Verwaltungsberid>t der Stadt Neukölln für das Geschäftsjahr 1910 und 1911, Berlin 1913, Vorwort. SM H. W i n z / W . Sdimidt, Von Rixdorf zu Neukölln..., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 190.

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III· Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

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Stadtregion mehr und mehr den meisten Vierteln der Kernstadt mit ihrer dichten Mietskasernenbebauung. Der Gang der baulichen Erschließung der Rixdorfer Gemarkung wurde durch die Bodenbesitzverhältnisse entscheidend bestimmt. In Moabit sind drei größere Grundbesitzergruppen, die alten Kolonisten, die Fabrikbesitzer und die Terraingesellschaften zu unterscheiden, die jeweils an andere, den verschiedensten Schichten angehörende Bauherrn die parzellierten Grundstücke verkauften. Gewisse Parallelen waren bei den Rixdorfer Grundbesitzverhältnissen zu beobachten, da gleichfalls hauptsächlich drei Besitzergruppen auftraten, die sich in unterschiedlicher Weise als Bauherrn betätigten. Die erste Gruppe bildeten die alteingesessenen Landwirte, Bauern, Kolonisten und Kossäten, abgesehen von einigen kleinen Büdnern, deren Grundbesitz jedoch selten größer als die Hofstelle oder der Garten war. Die Landwirte waren nach der Beendigung des Separationsverfahrens die tatsächlichen und alleinigen Eigentümer des Rixdorfer Bodens. Als Bauherren großen Stils trat keiner von ihnen auf, sondern sie verkauften zum großen Teil schon sehr früh ihr potentielles Bauland. Sie setzten damit nur die in der vorindustriellen Zeit und bis zum Abschluß der Separation geübte Praxis fort. Wie sie in jener Zeit das Gartenland und das sogenannte Beiland außerhalb der Hufenflur an Gewerbetreibende, Büdner, Gärtner oder Tagelöhner verkauft hatten, so gaben sie auch in späteren Jahren den bebauungsfähigen Grund und Boden in andere Hände, statt die Grundstücke selbst zu bebauen und die Wohnungen zu vermieten. So veräußerten die Grundbesitzer in kurzer Zeit große Areale an auftauchende Interessenten. Bereits zur Zeit der Ausarbeitung des ersten Bebauungsplans im Jahre 1875 befand sich ein nicht geringer Teil der Flur, vor allem die einstigen großflächigen Hufenstücke, in fremder Hand. 306 Die meist schmalen Parzellen des alten Dorfgrundes und der ersten Ausbauzonen, die an der Rosen-, der Berliner und der Bergstraße lagen, gehörten, soweit sie bebaut waren, einzelnen Privatpersonen, die der alten Grundbesitzerschicht entstammten. Die um 1875 in diesen Straßenzügen noch unbebauten Grundstücke, vornehmlich im nördlichen Teil der Berliner Straße, besaßen die Bauern und Kossäten Bading, Niemetz, Schinke, Staberow, Wanzlick und Schulze sowie der ehemalige Mühlenbesitzer und Schankwirt Schulze und der Gärtner Matthieu. Auf 306

Situationsplan vermessungsamt.

von ... Rixdorf

und Britz ..Bezirksamt

Neukölln . . . Bezirks-

Kâumliéhe Expansion und Eindringen städtischer

Bauformen

329

diesen Grundstücken waren sie teilweise selber Bauherrn. In der Berliner Straße 24—25 hatte der Schankwirt H . Schulze 1897 ein Mietshaus in seinem Besitz; der Kaufmann A. Niemetz aus der Bauernfamilie Niemetz besaß das bebaute Grundstück Berliner Straße 55. In der Berliner Straße 74 und 75 gehörten B. Wanzlick im Jahre 1897 ein dicht und ein weniger stark bebautes Grundstück; im gleichen Jahre hatte der Landwirt D. Ading in der Berliner Straße 78 ein bebautes Grundstück in seinem Besitz; dem Gärtner C. Bading gehörte in der Berliner Straße 95 ein im Mietskasernenstil dicht bebautes Grundstück, während auf dem Grundstück des Rentiers H . Bading in der Berliner Straße 102 noch 1897 nur ein kleines, von wenigen Mietparteien bewohntes Haus stand; außerdem hatte der Landwirt W. Jansa nur in der Berliner Straße 83 ein von vielen Mietern bewohntes Grundstück in seinem Besitz.807 Auch in diesen Wohnmietshäusern waren, wie in Rixdorf allgemein üblich, teilweise gewerbliche Einrichtungen aufgenommen worden. Diejenigen Grundstücke, die entlang der nördlichen Berliner Straße verkauft wurden, gelangten nicht immer geschlossen in die Hand eines neuen Besitzers. Das größere Stück Land des Rentiers Niemetz wurde vor dem Verkauf aufgeteilt; die hintere Fläche wurde an einen gewissen Pohlandt übereignet, die an der Straßenfront gelegene Parzelle wurde geteilt und als Berliner Straße 93 dem Gastwirt Wilhelm Behrend und als Berliner Straße 92 an die Bauunternehmer Henschel und Krause verkauft, die unmittelbar nach ihrem Kauf im Jahre 1874 das Grundstück mit einem massiven Wohnhaus einschließlich eines Seitenflügels und eines Stalles bebauten und kurz nach der Fertigstellung 1876 wieder veräußerten. 308 Die zweite Grundbesitzergruppe stellten die als Privatpersonen oder Baugesellschaften auftretenden ortsfremden Terrainspekulanten dar. Ihr Tummelplatz lag in der Hauptsache westlich der Bergstraße und in den Köllnisdien Wiesen, also in den randlichen Gemarkungsteilen. Die in diesen Gebieten allgemein wesentlich größeren Einzelparzellen übertrafen die entlang der älteren Dorfstraßen sowie der Berg- und der Berliner Straße liegenden Grundstücke ihrer Flächengröße nach in der Regel um ein Vielfaches.

307

Berliner Adreßbuch für 1897 ..., T. 5, S. 130 f. Acta der Kgl. Polizei-Direktion zu Rixdorf betr. das Grundstüde Berliner Straße 92 ... = Karl-Marx-Straße 5, in: Akten des Bauaufsichtsamts Neukölln. 308

330

III· Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde

In dem am frühesten außerhalb des alten Dorfkerns und des ersten Ausbaugebietes erschlossenen Teil Rixdorfs zwischen der Berg-, der Berliner- und der Hermannstraße hatten der Mühlenmeister Ludwig Weimar, der Fabrikant Stöhr, Julius Nöthling und Ferdinand Glienicke umfangreiche Ländereien erworben, die um 1875 noch unbebaut waren. Das südlidi anschließende Terrain zwischen der Jäger-, Ziethen-, Prinz-Handjery- und Steinmetzstraße war, wie es für die streng sdiematische Aufteilung in rechteckige und sehr kleine Baugrundstücke typisch war, ebenfalls von Spekulanten erworben, baureif gemacht und bereits 1875 an einzelne Bauherrn verkauft worden. Das südlich angrenzende Areal zwisdien Steinmetzstraße und Kopfstraße war noch zum überwiegenden Teil in der Hand des Bauunternehmers Leudit. Nur wenige Parzellen hatten Käufer gefunden, und die Bebauung wurde gerade erst in Angriff genommen.309 An sie grenzten nach Süden zu die von Kirchgemeinden zur Anlage von Friedhöfen aufgekauften Flächen. In dem westlich der Hermannstraße liegenden Gebiet, das sich bis zur Tempelhofer Grenze erstreckte, war ein großer Teil der Ackerflächen aus der Hand der Altbesitzer in die Hand eines Spekulanten, des Kaufmanns Joseph Anton Dotti, übergegangen. Das umfangreiche Gelände zwischen der verlängerten Ziethenstraße und den Friedhöfen der Berliner Kirchgemeinden wurde bis zur späteren Aufteilung durch mehrere Straßenzüge und bis zur Parzellierung und Bebauung von den Vorbesitzern noch jahrelang im Pachtverhältnis landwirtschaftlich genutzt.810 Die nördlich und südlich an diesen Komplex anschließenden Ländereien befanden sich teilweise im Besitz von Bauern und Kossäten, teilweise waren kleinere Flächen bereits zu Beginn der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts von ortsfremden Personen erworben worden. Die sich bis zur Bergsdiloßbrauerei erstreckenden Separationsstreifen gehörten den Bauern Staberow, den Gebrüdern Maresch, den Kolonisten Gebrüder Christeck und dem Gärtner Matthieu und wurden noch lange Zeit von ihnen landwirtschaftlich genutzt. Nur entlang der Wanzlickstraße, der ersten hier angelegten Straße, waren um 1875 die von den Kaufleuten Schurz und Bergsdimidt erworbenen Streifen in einzelne Bauparzellen unter"" Situationsplan von ... Rixdorf und Britz ..., Bezirksamt Neukölln . . . Bezirksvermessungsamt. H. Winz/W; Schmidt, Von Rixdorf zu Neukölln..., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 184, 186 ff.

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer

Bauformen

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gliedert und numeriert worden. Doch mit Ausnahme von zwei bebauten und zwei verkauften, noch unbebauten Grundstücken, gehörten auch diese Flächen zum freien Feld. Die großen Separationsstücke südlich des Areals der Kirchgemeinden bis zur Britzer Grenze waren im Besitz von Bauern und Kossäten. Lediglich die Grundstücksstreifen zu beiden Seiten der Knesebeckstraße hatte der „Verein der Tischler und Berufsgenossen zu Berlin" erworben und parzelliert. Die ersten Gebäude waren drei Jahre nach Beginn der Erschließung im Jahre 1872 errichtet worden. 811 Das Gebiet zwischen der südlichen Bergstraße und der Hermannstraße war schon 1875 durch eine genaue Straßenführung planerisch erschlossen, teilweise parzelliert und in Ansätzen bebaut worden. In den parallel geführten Straßen, der Delbrück-, Glasowund Juliusstraße, betätigten sich sowohl die alten Rixdorfer Bauernund Kossätenfamilien wie andere Privatpersonen als Grundstücksaufkäufer; unter ihnen hatten Jacobsohn, Witmer und ein Dr. Auerbach größere geschlossene Komplexe erworben. Beide Grundbesitzergruppen waren an der Geländeerschließung und der Bereitstellung baureifer Grundstücke beteiligt. Die ersten Käufer erwarben bebauungsfähige Grundstücke an der Juliusstraße, die als erste erschlossen worden war. Auf den südlich des alten Dorfkerns und östlidi der Bergstraße gelegenen Gemarkungsteil griff die Bebauung recht spät über, da dort im ersten Fluditlinienplan die Straßenführung nicht festgelegt worden war, und demzufolge das Interesse der Terrainaufkäufer und Bauherrn ungeweckt blieb.312 Der Bebauungs- oder Fluchtlinienplan erwies sich neben der Separation als unbestreitbare Voraussetzung für die bauliche Erschließung freier Gemarkungsflächen, und zwar nicht allein für die Grundrißgestaltung, sondern ebensosehr für die Übernahme größerer und kleinerer Flächen durch Unternehmer, die das Gelände baureif machten und an tatsächliche Bauherrn weiterverkauften. Als Schrittmacher der Umwandlung von Ländereien in Baugrundstücke spielten die alteingesessenen Grundbesitzer im Vergleich zu den ortsfremden Terrainaufkäufern und ihrer systematischen Erschließungspolitik eine untergeordnete Rolle. In Rixdorf befanden sich mit dem Einsetzen des eigentlichen Baubooms in der Umgebung Berlins große Teile des potentiellen Baulands in der Hand von Spekulanten, die größtenteils als Einzelpersonen auftraten; als Aktiengesellschaft organi811

Situationsplan vermessungsamt. »" Ebda.

von ... Rixdorf

und Britz ..Bezirksamt

Neukölln . . . Bezirks-

332

III· Entwicklung

Rixdorf s zum Gewerbedorf

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Wohngemeinde

sierte Bau- und Terraingesellschaften verlegten ihr Wirkungsfeld erst seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts nach Rixdorf. In der Regel betätigten sich diese Spekulanten in mehreren Gemeinden gleichzeitig, so daß aus ihrem Auftreten in Rixdorf die Einbeziehung des Ortes in das Baugeschehen des gesamtberliner Raumes resultierte, das durch eine Berlin und sein Umland umspannende Verflechtung und Lenkung charakterisiert war. Die Veränderung der Baustruktur war auf diese Weise in geringerem Maße als der soziale und wirtschaftliche Wandel eine lokale, sich auf den begrenzten Raum der Gemeinde Rixdorf beschränkende, durch die Korrelation zwischen der zentralen Großstadt und der Umland- und Randsiedlung der Stadtregion eingeleitete Entwicklung. Auf der großräumigen, die verschiedenen Zonen der Stadtregion umfassenden Verflechtung der baulichen Entwicklung beruhte die große Einheitlichkeit, die die einzelnen Viertel und Gemeinden mit ihren Mietskasernenbezirken geradezu als austauschbar erscheinen ließen. Diejenigen Grundbesitzer, die sich bereits zu Beginn der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts umfangreiche Ländereien in Rixdorf gesichert hatten, kauften den Boden auf, als die Bodenpreise in der Umgebung Berlins im allgemeinen noch niedrig waren. 313 Für die Bauern, die große Teile ihrer Ländereien um 1870 veräußerten, bedeutete der zeitige und billige Verkauf, daß sie weder an den Gewinnspannen zwischen Acker- und baureifem Grundstückswert beteiligt waren, nodi die späteren riesigen Spekulationsgewinne einstreichen konnten, wie es den Landbesitzern in anderen Gemeinden des Berliner Raums möglich war.314 Unter den privaten Spekulanten war der Fabrikbesitzer Joseph Anton Dotti, wohnhaft in der Neanderstraße in Berlin, der bedeutendste. Er hatte 1864 die ersten Ackerparzellen und 1872 weitere größere Flächen in Rixdorf gekauft. 315 Im Jahre 1872 tauchte der Kreissyndikus des Kreises Teltow, der Justizrat Dr. Julius Lazarus als Grundstückskäufer auf und erwarb im westlichen Gemarkungsteil große Ackerflächen.316 Terraingesellschaften und Banken beteiligten sich 313

P. Voigt, Grundrente und Wohnungsfrage . . T . 1, S. 112. H . W i n z / W . Schmidt, Von Rixdorf zu Neukölln..., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 187; J. Sdiultze, Vom Dorf zur Stadt. 30 Jahre Stadt Sdiöneberg, Berlin 1948, S. 10. 315 Situationsplan ... von Rixdorf und Britz ..., Bezirksamt Neukölln . . . Bezirksvermessungsamt. 319 Ebda. 314

Räumliche Expansion

und Eindringen

städtischer

Bauformen

333

ab 1890 am Grundstücksgeschäft in Rixdorf, als aus dem Kreise der Berliner Bankiers James Saloschin 1889 das Gebiet südlich der Bergschloßbrauerei um die Karlsgarten- und Wissmannstraße aus bäuerlicher Hand kaufte. Das Bankhaus der Gebrüder Schickler übernahm als Erbe Dottis dessen Rixdorfer Grundbesitz und gründete die „Dottische Terraingesellschaft", der die Verwaltung des Dottischen Grundbesitzes übertragen wurde.317 Außerdem war die „Nationalbank für Deutschland" Grundbesitzer im Gebiet westlich der Hermannstraße. 318 Später kam die „Deutsche Genossenschaftsbank Sörgel, Parisius & Co." hinzu. Zu den Privatspekulanten und Banken traten die Terraingesellschaften, deren Betätigungsfeld hauptsächlich im östlichen Ortsteil der Köllnischen Wiesen lag. Dazu zählte die „Union-Baugesellschaft" neben der „Dottischen Gesellschaft", die als G.m.b.H. gegründet worden war, die „Berlin-Rixdorfer Bodengesellschaft", die „Neue Berliner Baugesellschaft" und die „Discontogesellschaft".319 Diese Terraingesellschaften betätigten sich jedoch bevorzugt im Gebiet der Köllnischen Wiesen und im westlich der Hermannstraße befindlichen Terrain. In Lichtenberg wurden gleichfalls bestimmte Flächen, und zwar der verkehrsgünstig zwischen der Ringbahn und dem Berliner Stadtgebiet gelegene Teil, von der Bauspekulation bevorzugt erfaßt. In den meisten anderen Gemeinden im Umland Berlins führte die von Berlin „übergreifende Bauspekulation" in sehr unterschiedlichem Umfang „zur Aufteilung des Ackerbodens".320 Ähnlich wie in Moabit traten die Terraingesellschaften und Bodenspekulanten nur in sehr beschränktem Maße als Bauherrn und Hausbesitzer auf. Selbst im Vergleich zu Berlin und zum Durchschnitt der Vororte war ihr Anteil im Jahre 1905 gering, als 0,3 °/o aller bebauten Grundstücke Baugesellschaften, 0,8 °/o Aktiengesellschaften und 1 % Versicherungen und Gesellschaften mit beschränkter Haftung 317

P. Voigt, Grundrente und Wohnungsfrage..., T. 1, S. 143. Teltower Kreis-Blatt vom 3 . 1 2 . 1 8 9 1 . 319 Andere große im Grundstücksgeschäft tätige Bankhäuser traten in Rixdorf nicht auf, wie etwa die Deutsche Bank, die Dresdner Bank, die Darmstädter Bank und die Berliner Handelsgesellschaft, vgl. P. Voigt, Grundrente und Wohnungsfrage ..., T. 1, S. 143; R. Eberstadt, Die Spekulation im neuzeitlichen Städtebau, Jena 1907; R. Eberstadt, Städtische Bodenfragen...; Berliner Adreßbuch für 1881..T. 2, S. 89 ff.; Berliner Adreßbud) für 1886..T. 2, S. 81 ff.; Berliner Adreßbuch für 1897 ..., T. 5, S. 128 ff. 320 J. Sdiultze, Vom Dorf zur Stadt . . S . 10; E. Kaeber, Lichtenberg ...; E. Unger, Gesdiichte Lichtenbergs . . . — 818

334

III· Entwicklung

Rixdorf s zum Gewerbedorf

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Wohngemeinde

gehörten.321 In der Regel übernahmen sie nur die Kosten für die Anlage eines Straßennetzes, für die Pflasterung der Fahrdämme und Bürgersteige, für die Be- und Entwässerungsanlagen, die Beleuchtung und Gasversorgung; häufig führten sogar die Gemeinden sämtliche Bauten aus, so etwa auf dem fünf Morgen großen Areal der „Nationalbank für Deutschland". 822 Für den Fall, daß die Baugesellschaften die Bebauung von Grundstücken selbst übernahmen und die baureifen Parzellen nicht insgesamt an verschiedene Käufer abgaben, pflegten sie Häuser nicht selten nur auf den Eckgrundstücken oder auf mehreren Mittelgrundstücken zu errichten, um damit eine Richtschnur für die weitere Bebauung festzulegen. In dieser Weise wurden die Berliner/Ecke Reuterstraße und die Berliner/Ecke Mainzer Straße bebaut.323 Die Bedeutung der Spekulanten als Bauherrn stand in völligem Kontrast zu ihrer Rolle als Grundbesitzer. Sie erwarben von den Erstbesitzern in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts den größten Anteil an der gesamten Rixdorfer Gemeindefläche und entrissen so den alten Landeigentümern ihr Privileg am Grundbesitz und ihre führende Stellung. Der Prozeß der Dynamisierung aller gesellschaftlichen Bereiche griff mit der Veränderung der Bodenbesitzverhältnisse auf die Bodennutzungs- und Bauverhältnisse über und löschte auch hier überkommene Strukturen aus. Die Altbesitzer verloren ihren Grund und Boden bis auf wenige Reste. Entweder verkauften sie direkt an private Bauherrn, die ausschließlich zum Zwecke der Bebauung Grundbesitz erwarben, oder sie veräußerten die Ackerflächen an Spekulanten und Terraingesellschaften. Sie selbst blieben im Jahre 1905 nur zu 2,3 % Eigentümer der Rixdorfer Grundstücke. Ein Licht auf die Besitzverhältnisse in anderen Vororten wirft die Tatsache, daß in den Vororten durchschnittlich insgesamt nur 1,2 °/o der Grundstücke in den Händen von Landwirten verblieben waren.324 Dabei wurde jedodi der vermutlich hohe Anteil der in andere Berufe übergewechselten oder als Rentiers lebenden ehemaligen Bauern und Kossäten und ihrer Nachkommen nicht erfaßt. Einzelspekulanten wie Terraingesellschaften akkumulierten den gekauften Grundbesitz ledig-

S21

Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 32. Jg. (1913), S. 262—264. " Teltower Kreisblatt vom 3.12.1891. 82S Acta ... betr. das Grundstück Berliner Straße 12, 16117, ... — Karl-MarxStraße 20, 30; H . Winz/W. Schmidt, Von Rixdorf zu Neukölln ..., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 324. 524 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 32. Jg. (1913), S. 262—264. 3

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer

Bauformen

335

lieh, um aus der Umwandlung von Ackerland in baureifes Land einen möglichst hohen Gewinn zu ziehen, wenn dieses an bauwillige Käufer weiterverkauft wurde. Mit dieser Rolle nahmen sie in erster Linie eine Zwischenposition zwischen den ursprünglichen Landbesitzern und dem späteren tatsächlichen Bauherrn ein. Um die Jahrhundertwende müssen die Bauherrn in überragender Majorität als sekundäre und tertiäre Grundbesitzer und Bauherrn bezeichnet werden, je nachdem, ob sie ihre Grundstücke von den alten Besitzern, den Bauern, Kossäten und Kolonisten, direkt oder von Bodenspekulanten erworben hatten. Sie gehörten den verschiedensten Schichten und Berufsgruppen an. Die größte Gruppe stellten die Handwerksgesellen und -meister, die im Jahre 1905 einen Anteil von über 20 °/o der Grundstücke besaßen; in Berlin hingegen waren sie nur etwa halb so stark vertreten, und in den Vororten stellten sie durchschnittlich ebenfalls nur einen Anteil von weniger als 13 °/o.325 Auch aus der Hauseigentümerstruktur läßt sich zweifellos die Sozialstruktur Rixdorfs als einer Wohngemeinde der unteren Schichten der Arbeiter und kleinen Handwerker ablesen. Der Ort war, wie bekannt, kein Ruhe- und Wohnsitz höherer Schichten, wie eine Reihe anderer Vororte. Dementsprechend war der Anteil der Rentiers, Pensionäre, Privatiers und Witwen mit 24,7 °/o gering, während sie in Berlin zu 32 °/o und in den Vororten zu insgesamt 29 °/o vertreten waren. Angehörige höherer und freier Berufe, wie Rechtsanwälte, Ärzte oder Apotheker, waren weniger am Grundbesitz beteiligt als in anderen Gemeinden. Auch die Fabrikanten und Fabrikdirektoren innerhalb der Unternehmerschaft hatten nur 5 % der Grundstücke erworben und waren geringer als in Berlin und nahezu gleich stark wie in den Vororten insgesamt vertreten. Die Kaufleute im weiteren Sinne hatten in Rixdorf nur in geringfügig höherem Maße Grundbesitz erworben als in Berlin und den Vororten, denn sie besaßen gut 17 % der Grundstücke.828 Für den Bebauungsgang auf den Rixdorfer Grundstücken bildeten Störungen im kontinuierlichen Bauverlauf keine Ausnahmeerscheinungen. Häufige Unterbrechungen im Bau der verschiedensten Gebäude und sdinelle Verkäufe halbbebauter Grundstücke und nur zur Hälfte fertiggestellter Häuser bezeugen die finanziellen Schwierigkeiten mancher Bauherrn, von denen namentlich Handwerker und kleine „Han3M

Ebda. *» Ebda.

336

HI- Entwicklung

Rixdorfs

zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

delsmänner" oder Einzelhändler betroffen waren. Der Bauherr, der als kleiner Handwerker oder Kleinhändler tätig war und ein Grundstück erwarb, verfügte selten über das zum Bau erforderliche Kapital, das er sich dann durch die Aufnahme einer Hypothek verschaffen mußte. Um die ersten fälligen Zinsen bezahlen zu können, versuchten die durch den Bau stark verschuldeten und finanziell belasteten Wirte, die oft noch feuchten Wohnungen an „Trockenwohner" zu vermieten.827 Der Besitzer des Hauses Knesebeckstraße 149, Fritz Meyer, äußerte sich anläßlich der Aufforderung, die noch nicht trockenen Wohnungen im neuerbauten Hause von den Mietern räumen zu lassen, in einer Eingabe an den Amtsvorsteher wie folgt: Da „ich doch nicht weiß, von was ich die Steuer zahlen soll, bereits waren die Mieten vom 1. Juni für Steuer mit beschlach belegt wen nun die Leute heraus sollen von was soll ich da die Steuer zahlen". 328 Stand der Hauswirt unter dem Druck fälliger Zinszahlungen, so gab er diesen an den in solchen Fällen ausschließlich aus den ärmsten Bevölkerungskreisen stammenden Mieter weiter; diesem wurde, wie dem Kleinhändler, der in der Knesebeckstraße 149 eingezogen war, die Miete durch einen Vollziehungsbeamten „förmlich abgepreßt". 329 Wie die Besitzerstruktur die soziale Struktur, so spiegelten die Bautypen die sozialen und ökonomischen Funktionen wider. Im Wirtschaftsraum Berlin war Rixdorf eine Wohngemeinde und weniger ein Produktionsort, und das vorhandene Gewerbe und die Industrie waren handwerklich und kleinbetrieblich organisiert. In den nördlichen Vorstädten Berlins und in Moabit fanden die Großbetriebe ihren baulichen Ausdruck in adäquaten, funktionsgerechten Fabrikhallen. Analog zur verwandten Wirtschaftsstruktur der südlichen Vorstädte entstanden in Rixdorf die dort anzutreffenden Bautypen als Produktionsstätten. Unabhängig von den bis in die neunziger Jahre reichlich vorhan-

Ausführlicher wird dieser Aspekt des Bauwesens behandelt bei R. Eberstadt, Städtische Bodenfragen . . S . 13; J. Croner, Der Grundbesitzwecbsel in Berlin und seinen Vororten... — 328 Acta ... betr. das Grundstück Knesebeckstraße 149 ... = Silbersteinstraße 3. 329 Der „Vollziehungsbeamte kam mehre Male mit der Drohung er müsse mich Pfänden lassen wenn idi nidit bis zu den bestimmten Tage die Steuern für p. Mayer bezahle, das waren 42 M 44 Pf. die verdient man wahrlich nicht leicht". Und er macht seiner Empörung Luft, indem er fortfährt: „Es ist Himmel sdireiend wie mit dem armen Menschen umgegangen wird, der so schon sein Tägliches Brod in Schweiß erwerben muß . . . wir Miether dürfen darunter leiden, wer soll mir den Schaden ersetzen der Wirth sicher nicht da er nichts hat." Ebda. 327

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer Bauformen

337

denen freien Bauflächen zu verhältnismäßig günstigen Bodenpreisen ließen sich Fabriken nieder, die kaum erweiterungsfähig waren und keine großen Raumansprüche stellten. Auch darin dokumentierten sich Priorität oder Gleichrangigkeit anderer Faktoren neben Grund und Boden und seinen Preisen für die Standortbildung der Industrie. Abgesehen von den kommunalen Großbetrieben, dem Gaswerk und dem Elektrizitätswerk, hatten sich als größere Werke, deren Fertigung einen umfangreichen räumlichen Komplex und eine Reihe einander zugeordneter Werkshallen erforderte, nur die Bergschloßbrauerei und die Vereinsbrauerei etabliert, die die günstige Lage am Hang der Diluvialplatte für ihre Kellereien nutzten. 380 Die Bergschloßbrauerei bestand um 1875 aus einer acht unterschiedlich große Gebäude umfassenden Werksanlage, die sich hinter der Hermannstraße an der Hasenheide hinzog und die durch sukzessiven Aufkauf der benachbarten Ländereien bis zur Wanzlickstraße erweitert wurde. Im Jahre 1901 umfaßte der Betrieb etwa fünfzehn größere Brauhallen, Lagerhäuser und Verwaltungsgebäude, kleine Ställe und Schuppen.331 Die Vereinsbrauerei in der Jägerstraße, zwischen Hermannstraße und Bergstraße gelegen, produzierte um 1875 in einem sechs meist schmale, langgestreckte Gebäude umfassenden Komplex, der sich nur auf einen Bruchteil des gesamten Geländes erstreckte. Bis zur Jahrhundertwende kamen elf weitere, unterschiedlich große Gebäude hinzu, die den gesamten Betrieb beherbergten.332 Die Gasanstalt gehörte dem zweiten Industriezweig an, der sich in Rixdorf — zwischen dem späteren Neuköllner Schiffahrtskanal, der Ringbahn, der Kaiser-Friedrich-Straße und der Teupitzer Straße verkehrsgünstig gelegen — zu einer größeren Industrieanlage entwickelt hatte. Den Kern der Anlage bildeten vier Ofenhäuser, die auf beiden Seiten von je zwei Kohlenlagern umgeben waren und dicht an die Koksaufbereitungsanlage und an die Wassergasanstalt grenzten. Daran schlossen sich als separate Gebäude das Kesselhaus und zwei Apparatehäuser sowie ein Materialschuppen, eine Werkstatt und ein Laboratorium an. Nicht weit entfernt befanden sich das Verwaltungsgebäude 380

H . W i n z / W . Schmidt, Von Rixdorf zu Neukölln..., in: ]ahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 183. 331 Situationsplan ... von Rixdorf und Britz..., Bezirksamt Neukölln . . . Bezirksvermessungsamt; Die Entwicklung der Bebauung... Stand der Bebauung in der Gemeinde Rixdorf-Neukölln, bearb. von H . Winz u. W. Sdimidt, in: Historischer Handatlas ..Lfg. 15/16. SS2 Ebda. 22 Thlenel

338

III. Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf

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Wohngemeinde

und zwei „Reinigerhäuser". Neben mehreren kleinen Bauten, die auf dem Gelände verstreut lagen, und einem hohen Schornstein, waren nahe der Kaiser-Friedrich-Straße ein „Beamtenwohnhaus" und in der Nähe der Ringbahn ein Arbeiterwohlfahrtshaus errichtet worden. Die einzelnen Hallen waren in der Regel einstöckig, einige jedoch auch mehrstöckig. Die ganze Anlage läßt in der Zuordnung der verschiedenen Gebäude zueinander ebenfalls in begrenztem Maße den Arbeitsablauf erkennen.333 Gewerblichen Bauten vom Typ der raumbedürftigen Großunternehmen stellten in Rixdorf die Ausnahme dar. Nicht die Weberei, aber andere Handwerkszweige bildeten gleichfalls eigene Bauformen aus. Diese, abgesehen von den landwirtschaftlichen Nutzbauten, schon in vorindustrieller Zeit existierenden Gewerbebauten stellten den zweiten der älteren Bautypen dar, der sich jedoch in Rixdorf in der Früh- und Hochindustrialisierung enorm verbreitete. Daher erscheint es gerechtfertigt, ihn zu den für diese Epoche charakteristischen Bautypen zu rechnen. Die Heimweberei, bei der eine Differenzierung zwisdien Arbeitsplatz und Wohnplatz unterblieben war, entwickelte audi keine Bauformen, in denen die Trennung dieser beiden, die Industriesiedlungen charakterisierenden funktionalen Raumeinheiten ihren Ausdruck gefunden hätten. Sondern die fast ausschließliche Identität von Arbeits- und Wohnraum vor allem im Zuge der Expansion der Weberei im Ort ist als Nutzungswandel des Wohnraums anzusehen, zumal eine gleichzeitige, über die etwaige Vergrößerung der Raumhöhe hinausgehende Änderung der Bauformen nicht erfolgte.334 Die übrigen, meist in kleinen Nebengebäuden untergebrachten Werkstätten der Handwerker und kleinen Industriellen werden neben der noch zu charakterisierenden Hinterhofindustrie am sinnfälligsten von den zahlreichen Tischler- und Möbelfabrikationsstätten repräsentiert. Die Werkstätten breiteten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprechend dem Wachstum des Gewerbes aus, an dessen Spitze die Tischlerei und die sonstige holzverarbeitende Industrie standen. Innerhalb der Reihe gewerblich und industriell genutzter Bauten traten sie als dritter Typ neben die Fabrikanlagen der Großindustrie und die Heimarbeiterwohnungen. Die holzverarbeitenden Betriebe, meist Kleinbetriebe, produzierten generell in kleinen, ein- bis zweigeschossigen 5 3 3 K. Kaiser / R. Weinreidi / E. Stein (Hrsg.), Neukölln. Städte, Bd. 1, Oldenburg 1912, S. 100 f.

3S4 VGL. DRITTER TEIL, ERSTES KAPITEL, S. 2 5 4 f f .

Monographien

deutscher

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Bauformen

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Bauten, die fast nie an der Vorderfront der Grundstücke lagen, sondern einen Seitenbau oder ein Gebäude im mittleren oder hinteren Grundstücksteil darstellten; so waren zum Beispiel die in der Bergstraße 130 anzutreffenden Betriebe — zwei Tischlerwerkstätten und eine Leimküdie — in einem etwas größeren Haus untergebracht, daß 1878 dort erbaut worden war. 1889 wurden sie um ein Bürogebäude, in dem sich allerdings auch ein Pferdestall befand, und um einen Schuppen für Holzbearbeitungsmaschinen ergänzt. 335 Im Jahre 1886 nahm ein weiteres Werkstattgebäude im Erdgeschoß zwei große Maschinenräume und einen großen Lagerraum auf, während sich im ersten Stockwerk Tischlereiräume, eine Leimküche und eine Trockenkammer befanden. 336 Das in der Berliner Straße 90 gelegene einstöckige Fabrikquergebäude erstreckte sich ausnahmsweise über die ganze Grundstücksbreite.837 Auch Betriebe der Maschinenbauindustrie hatten sich in kleinen, ein- bis zweigeschossigen Seitengebäuden neben ebenso kleinen Wohnhäusern etabliert. O f t waren beide Gebäude wandseitig miteinander verbunden. 338 So war zum Beispiel im Souterrain des Gewerbehauses eine Schmiedewerkstatt eingerichtet worden, im Erdgeschoß befanden sich drei Werkstatträume, ein Kesselraum, ein Maschinenraum und das Büro. Das erste Stockwerk war für zwei Lagerräume hergerichtet worden. Außerdem war eine Wohnung eingerichtet worden, und im Dachgeschoß befanden sich einige separate Zimmer von unterschiedlicher Größe, deren Türen auf einen gemeinsamen Flur führten. 339 Charakteristisch war die ständige bauliche Ergänzung durch die Errichtung neuer kleiner Lagerschuppen, Werkstätten und Büros. Auch Wohnbauten wurden nicht selten dazwischen errichtet, so daß im Ergebnis eine innige Verflechtung von Wohn- und Arbeitsplätzen auf dem jeweiligen Grundstück die Folge war. Am Ende der siebziger Jahre befanden sich in der Berliner Straße 21/22 bei freier Straßenfront entlang der Seitengrenze des Grundstücks ein massives Wohnhaus und eine massiv gebaute Maschinenschmiede neben Fachwerkremisen. Bis 1885 kam ein Schuppen hinzu; im Jahre 1886 335 Acta ... betr. das Grundstüdt Berstraße 130 (114) ...= Karl-MarxStraße 179. 33 ' Ebda. 537 Acta ... betr. das Grundstück Berliner Straße 90 ...= Karl-Marx-Straße 35. 338 Acta ... betr. das Grundstüdt Berliner Straße 7—9 (40) ... = Karl-MarxStraße 12. 339 A.a.O., passim; H . W i n z / W . Schmidt, Von Rixdorf zu Neukölln..., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 184 ff.

22»

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ΠΙ. Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

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Wohngemeinde

wurde ein Seiten- und Quergebäude im hinteren Grundstücksteil erbaut, in dem das Parterre zu einer Schmiede- und Stellmacherwerkstatt ausgebaut und das erste Stockwerk für eine aus einem Zimmer, einer Kammer und der Küche bestehenden Wohnung eingerichtet wurde. In der Bergstraße 127/128 wurde 1887 ein Schlacht- und Stallgebäude errichtet, das Erdgeschoß füllten ein Pferdestall, ein Schlachtraum und die Räudierkammer aus, das erste Stockwerk und der Dachboden hingegen erhielten Gesellenstuben. Zwei Grundstücke davon entfernt, diente in einem Seitengebäude der Keller als Lagerplatz von Kartoffeln, Holz und Torf, das Erdgeschoß nahm einen Pferdestall und ein Büro neben einer kleinen, wie so häufig aus einem Zimmer, einer Kammer und der Küche bestehenden Wohnung auf.340 Für die enge Verzahnung von kleinen ein- bis zweigeschossigen Wohn- und Gewerbebauten und die Durchmischung von Gewerbeund Wohnräumen mit einer entsprechenden Nutzung in der Zeit zwischen 1870 und 1890 ließen sich beliebig viele Beispiele anführen. Die Frage des Funktionswandels ist selten ganz eindeutig zu beantworten, da die geplante Nutzung des betreffenden Hauses, ob Gewerbebau oder Wohngebäude, oft schwer zu erkennen ist. Doch darf mit einiger Sicherheit geschlossen werden, daß selbst die kleinen, massiven Bauten in erster Linie gewerblich genutzt werden sollten, während die einst gewerblichen Bauten nur selten und erst in zweiter Linie zu Wohnzwecken dienten. Trotz zunehmender Verdichtung der Bebauung mit drei- und vierstöckigen Häusern blieb der Typ der kleinen Werkstätten und Remisen, der Holzschuppen für Handwerkszeug und zur Lagerung von Rohmaterialien und Fertigprodukten, durchsetzt mit Ställen und kleinen Wohnungen, auf vielen Höfen bestehen. Im 19. Jahrhundert war er als eine der für Rixdorf spezifischen Bauformen über den ganzen Ort verbreitet, und nodi heute sind hin und wieder einige wenige Uberreste dieses Typs anzutreffen. Noch um 1900 hatte Rixdorf einen überdurchschnittlich hohen Anteil soldier Bauten aufzuweisen, in denen ein großer Teil der gewerblichen Tätigkeit ausgeübt wurde; denn 1,8 % aller Gebäude waren 1905 sogenannte Niederlagen, Lagerräume und Speicher, in Berlin und den Vororten dagegen nur 1,2%. Außerdem waren 23 °/o aller Gebäude Remisen, Ställe und Schuppen. Daß diese Bauten für die Vororte allgemein charakteristisch waren, beweist der dort anzutreffende durchschnittlich nahezu gleichhohe Anteil, während er für Berlin um die Hälfte 340

Acta ... betr. das Grundstück Bergstraße 129 ...

= Karl-Marx-Straße

181.

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer Bauformen

341

niedriger lag. 341 Die gleichwohl exzeptionelle Baustruktur Rixdorfs wird durch die Tatsache gekennzeichnet, daß der Ort 1900 ähnlich stark verbaut war wie Berlin und daß demnach ein niedrigerer Anteil solcher Nebenbauten zu erwarten gewesen wäre als in anderen, meist offen und locker bebauten, häufig noch ländlichen Vororten im Umland Berlins. Der Einzug des vierten Typs gewerblicher Bauten war unmittelbar mit dem Eindringen der Mietskaserne verbunden. Die sogenannte Hinterhofindustrie zog in die Hinter- und Hofgebäude der mit Mietskasernen dicht bebauten Grundstücke. Die in derartigen Gebäuden lokalisierten kleinen und mittleren Betriebe sind zwar vorwiegend in den später erschlossenen Vierteln anzutreffen, doch auch in den älteren Ortsteilen, wo eine Reihe hochspezialisierter Fabrikationsstätten ihren Standort hatte, waren sie vertreten. In der Regel entstand dieser Typ des Fabrikgebäudes auf tiefen Grundstücken, auf denen die Hofflächen sukzessive durch mehrstöckige Fabrikgebäude bebaut wurden. Die einzelnen Etagen waren in der Mehrzahl von verschiedenen kleinen Firmen als Produktionsstätten gemietet worden. Das extremste Beispiel stellte das Grundstück Bergstraße 132 dar. Auf einer sehr schmalen und tiefen Parzelle von 228 m Länge und etwa 23 m Breite entstanden zwischen März und Oktober 1892 je ein Vorderhaus, ein Seitenflügel, ein Quer- und Stallgebäude, eine Remise und je ein Fabrik- und Bürogebäude. An der Straßenfront wurde ein reines Wohngebäude mit direkt anschließendem Seitenflügel errichtet. Zusammen mit dem Quergebäude, das ebenfalls ein Wohngebäude war, umschlossen sie den ersten Hof. Alle drei Häuser waren vierstöckig. Den zweiten H o f begrenzten außer dem Wohnquergebäude das ebenfalls vierstöckige Fabrikgebäude, das in jedem Stockwerk vier große Fabrikräume enthielt. Um 1896, als die Gebrüder Futter Eigentümer dieses Grundstücks waren, befanden sich hier sogar neun Betriebe, und zwar die „Silberbelege-Anstalt" des Eigentümers, die Bürstenfabrik von Anton Wächter, die „Fabrik für mechanische Verschlüsse mit Korkdichtung" von A. W. Schrödter, die „Metallwarenfabrik M. Kießling," die „Goldleistenfabrik G. A. Bergemann", die „Fabrik für Perlmutter und Manschetten-, Hemdenknöpfe, Stock- und Schirmgriffe" von

341 Die Ergebnisse der Grundstücks- und 'Wohnungsaufnahme vom Jahre 1900 in Berlin und den Nachbargemeinden, die seit 1900 in Berlin alljährlich leerstehenden Wohnungen und entstandenen Neubauten ( = Berliner Statistik, H. 2), Berlin 1904, S. 16.

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III. Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde

Jäh & Mäder, die Fabrik für mechanisch-technische Produkte von Groß & Co., das chemische Laboratorium des Dr. J. Hörde und die „Holzbearbeitungsfabrik" von A. Butterweich.842 Die restlichen Bauten, die sich um und auf dem zweiten Hof gruppierten, waren sämtlich eingeschossige Ergänzungsbauten für die verschiedenen Kleinbetriebe. Das Stallgebäude enthielt drei Pferdeställe, eine zwei Räume umfassende Remise war Lagerplatz und das einräumige Bürogebäude diente Verwaltungsaufgaben. Bis zum Jahre 1895 kamen ein größerer, eingeschossiger Fachwerkbau hinzu, der in vier Arbeits- und einen Büroraum aufgeteilt war; ein weiteres Remisen- und Stallgebäude sowie ein Wohnhaus wurden zusätzlich gebaut. Nachdem 1896 ein Brand den Fabrikbau zerstört hatte, wurde er wieder aufgebaut, und bis 1899 wurde ein weiterer Schuppen errichtet. Umbauten wurden in den Neubauten, besonders aber im Fabrikgebäude, entsprechend den Bedürfnissen der jeweiligen Mieter, laufend vorgenommen. Darüber hinaus lagen auf den Höfen verstreut etliche Abfallplätze für Schlacken, Dung, Holzspäne und Packstroh. Besonders die Kohlenlager, die oft glühenden Dämpfe und rauchverbreitenden Abfälle belästigten die Bewohner des Grundstücks und die Nachbarschaft. 848 Die Kombination eines an der Straße liegenden Wohnhauses mit einem Seitenflügel, einem Quergebäude sowie einem größeren drei- bis vierstöckigen Fabrikgebäude mit benadibarten Lagerschuppen, Ställen oder separaten Maschinenhäusern war in Rixdorf nach 1880 und vor allem nach 1890 in zunehmendem Maße anzutreffen und entwikkelte sich zum dominierenden Typ der Industriebauten in Rixdorf. Das Grundstück des Textilfabrikanten Hermann Sander entsprach dem üblichen Aufteilungsmuster mit der Anlage des Wohnhauses an der Straßenfront in der Berliner Straße und dem jedoch auf das benachbarte Grundstück übergreifenden, als Fabrikgebäude errichteten Hofgebäude, das von Nebenbauten umgeben war. Allerdings erstreckte sich die Fabrikation auf alle beiden Etagen und den Boden; im Erdgeschoß befanden sich die Laden- und Expeditionsräume und im ersten Stockwerk die Scheerzimmer und andere Arbeitsräume.844 Die gesamte bauliche Entwicklung Rixdorfs im 19. Jahrhundert fand ihren Abschluß in der Mietskaserne, die sich über den ganzen Ort 342

Chr. J. Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben . . S . 83. Acta ... betr. das Grundstüde Bergstraße 132 ... = Karl-Marx-Straße 175. 344 Acta ... betr. das Grundstück Berliner Straße 91—92 (75—76) ... = KarlMarx-Straße 33. 343

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer

Bauformen

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verbreitete. Als die industrielle Großstadt und ihren Kernraum kennzeichnende Bauform kann ihr Eindringen in Rixdorf als Indikator für die endgültige bauliche Angleichung und Eingliederung Rixdorfs in die Randzone der Stadtregion und das Ergänzungsgebiet der Kernstadt gewertet werden. Wird „die Ausbildung der Mietskaserne zu dem allgemeinen Typus der Berliner Wohnung . . . im wesentlichen in den Zeitraum von 1860 bis 1870"846 verlegt, so Schloß sich ihre Durchsetzung zum vorherrschenden Wohnhaustyp in einigen im Umland liegenden Gemeinden wie Rixdorf, Schöneberg oder Lichtenberg mit einer zeitlichen Verzögerung von fünfzehn bis zwanzig Jahren an. Ihre rasche Verbreitung im Wohnort Rixdorf, der die 1872 erlassene „Baupolizeiordnung für das platte Land des Regierungsbezirks Potsdam" und das Inkrafttreten des ersten Bebauungsplans im Jahre 1875 freie Entfaltung sicherte,846 ist Ausdruck eines durch hohen Bevölkerungszuwachs und ein Dominieren der unteren Sdiichten verursachten Wohnraumbedarfs. Die Flut der Gesuche mit den entsprechenden Situationsplänen, Grundrissen und Aufrißzeichnungen der geplanten Gebäude an das Königliche Landratsamt des Kreises Teltow in Berlin zur Erteilung der Baukonsense durch den Amtsvorstand nach dem erforderlichen Votum des Kreisbauinspektors setzte bereits 1874/75 ein, als 232 Petitionen zur Errichtung von Wohnhäusern eingereicht wurden, von denen „fast alle vier Etagen" erhalten sollten. In Rixdorf boten die durch den Bebauungsplan festgelegten, wenn auch in einzelnen Ortsteilen in ihrer Tiefe variierenden Grundstücke die ideale Voraussetzung für die dichte Bebauung mit Hintergebäuden und schmalen Seitenflügeln. Unter Berücksichtigung der Bestimmungen der Baugesetze führte das Bestreben zur maximalen Grundstücksausnutzung, das für die Bauherrn eine größtmögliche Grundrentensteigerung bedeutete, dahin, daß Rixdorf nicht nur zu einer der am dichtesten bebauten, sondern auch am stärksten mit Mietshäusern besetzten Gemeinden im Berliner Raum wurde. Diese Entwicklung wurde dadurch begünstigt, daß die Gemeindebehörden eine Vergrößerung des Wohnraums und

345

R. Eberstadt, Handbuch des Wohnungswesens ..., S. 61. ® Die Baupolizeiordnung für das platte Land des Regierungsbezirks Potsdam, die bis 1887 gültig war, begrenzte weder die Gebäudehöhe, nodi wurde die Bauflächendichte durch die regelmäßige Verwaltungspraxis der Dispenserteilung zur Vermeidung des Bauwichs ergänzt, vgl. P. Voigt, Grundrente und Wohnungsfrage.. T. 1, S. 126. M

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III. Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

die Erhöhung der Einwohnerzahl anstrebten und in den siebziger Jahren mit einer gewissen Befriedigung konstatierten, daß „die hier übliche, dichte Bebauung der Grundstücke die Einwohnerschaft in den nächsten Jahren [auf 30 bis 40 000 Seelen] steigern wird". 347 Tatsächlich! zählte Rixdorf in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu den Gemeinden mit dem höchsten Bevölkerungswachstum. Parallel dazu verlief die Zunahme der Wohnungen und der bewohnten Grundstücke. Während sich in Berlin die Zahl der Wohnungen pro Grundstück zwischen 1900 und 1905 um neunzehn bewegte und in den Vororten bei rund elf lag, stieg sie in Rixdorf in diesem Zeitraum von 17,2 auf 19,6348 und glich damit den rein städtischen Wohnungsdichten. Dennoch setzten sich zumindest die vierstöckigen und höheren Häuser nicht in gleichem Umfang wie in den Vorstädten oder in Moabit durch. Der Baubestand aus älterer Zeit bewies seine Resistenz, und der finanziell weniger aufwendige Bau kleinerer und niedrigerer Gebäude, die namentlich in der Tischlerkolonie mehrfach anzutreffen waren, versprach darüber hinaus ausreichenden Gewinn. Sowohl die Zahl der bebauten Grundstücke wie der fertiggestellten Wohnungen nahm fast von Jahr zu Jahr zu, abgesehen von kurzfristigen Rückschlägen, so daß der Wohnungsbau mit der Bevölkerungsentwicklung Schritt halten konnte.349 Die kleineren ein- bis zweigeschossigen Gebäude, die die Bauern bereits kurz nach 1860 errichten ließen, waren ebenso wie die ersten nach der Gründung gebauten Häuser der Tischlerkolonie in der Knesebeckstraße echte Vorläufer der Mietskasernen in Rixdorf. Mit ihren Bauformen lagen sie daher zwischen den Wohnhaustypen der ländlich-dörflichen Siedlungen und denen der industriellen Großstädte, und kennzeichneten unter dem Aspekt der Baustruktur Rixdorfs eindeutige Zugehörigkeit zum Umland Berlins zwischen 1860 und 1870. Zu diesem Wohnhaustyp gehörte zum Beispiel das im Jahre 1872 in der Berliner Straße 15 gebaute dreigeschossige Vorderhaus mit seinen gleichmäßig hohen, massiven Seitenflügeln. Im Parterre war eine Schmiedewerkstatt nebst einer Gesellenstube eingerichtet worden, im 347

E. Brode, Geschichte Rixdorfs..., S. 144. Die Ergebnisse der Grundstücks- und Wohnungs-Aufnahme im Jahre 1900 ..., in: Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin für 1904, 29. Jg. (1905), S. 98; a.a.O., 33. Jg. (1913), S. 265—267; Groß-Berlin. Statistische Monatsberichte, 1. Jg. (1910), H . 3/4, S. 10—14. 349 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 26. Jg. (1902), S. 199; a.a.O., 32. Jg. (1913), S. 59; J. Schultze, Rixdorf-Neukölln . . . , S . 18. 348

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer

Bauformen

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ersten und zweiten Stockwerk befanden sich je zwei aus einem Zimmer, einer Kammer und der Küdie bestehende Wohnungen.350 Das 1879 in der Berliner Straße 1 erbaute Vorderhaus erhielt lediglich ein Stockwerk.351 Vom Ende der siebziger und dem Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts an wurden in ganz überwiegendem Maße drei- und vierstöckige Mietshäuser mit Seitenflügeln und Quergebäuden errichtet. Den Übergang zur geschlossenen Bauweise mit hohen Mietshäusern zeigten am eindeutigsten die meist nach 1870 entstandenen Gebäude in dem frühen Erschließungsgebiet zwischen der Hermannstraße und der Berliner/Bergstraße. Zwar waren sie meist drei- bis vierstöckig, doch trennte sie sehr häufig ein Bauwich, und die auf diese Weise entstehenden Baulücken waren mit Nebenbauten aller Art besetzt. Zudem fehlte infolge der relativ geringen Tiefe der einzelnen Grundstücke die Hinterhausbebauung, oder nur in einer Grundstücksreihe konnten Hinterhäuser errichtet werden, während sie in der hofwärts anschließenden Parzellenreihe wegen der Raumenge fehlten. In den Jahren nach 1880, also bevorzugt in den jüngeren Erschließungsgebieten, wurde der Bauwich zu einer verschwindenden Ausnahme; die Gebäude hingen seitlich fast ausnahmslos zusammen.352 Hin und wieder wurden die erst vor etwa einem Jahrzehnt gebauten kleineren Häuser wieder abgerissen und durch hohe Mietshäuser ersetzt, oder sie wurden einfach aufgestockt.353 Doch kam dies seltener vor als in Berlin, und die größere Resistenz der älteren Wohnbauten sowie die starke Durchdringung der verschiedenen Bauweisen kann nodi um 1900 an den höheren Anteilen der im Erdgeschoß sowie im ersten und zweiten Stockwerk gelegenen Wohnungen abgelesen werden, die in Rixdorf 59 % , in Berlin nur 53 % betrugen. Die im dritten Stockwerk befindlichen Wohnungen machten in beiden Orten rund 21 % aus, doch wurden die Differenzen auffällig bei den nahezu 15 % der im vierten Stockwerk vorhandenen Wohnungen gegenüber nur ca. 20 % in Berlin.354

350

Acta ... betr. das Grundstück Berliner Straße 15 ... = Karl-Marx-Straße 28. Acta ... betr. das Grundstück Berliner Straße 1 ... = Karl-Marx-Straße 2; vgl. audi Acta .. . betr. das Grundstück Berliner Straße 21 ... = Karl-Marx-Straße 38. 852 Entwicklung der Bebauung ... Stand der Bebauung in der Gemeinde RixdorfNeukölln, bearb. von H . Winz u. W. Sdimidt, in: Historischer Handatlas . .., in: Lfg. 15/16. 353 Zum Beispiel erhielt das 1874 erbaute Haus 1881 das dritte Stockwerk aufgesetzt, Acta ... betr. das Grundstück Berstraße 127—128 ... = Karl-Marx-Straße 183. 354 Zeitschrift des Kgl. Preußischen Statistischen Bureaus, 42. Jg. (1902), S. 184 f. 351

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III. Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

Die Aufteilung der Gebäudeflächen und die daraus resultierenden Wohnungsgrundrisse zeigen ein streng fixiertes und mit geringen Variationen immer wiederkehrendes Muster. Zu den Stereotypen der Wohnungsgrundrisse gehörte der Unterschied zwischen Vordergebäude und Seitenflügel oder Quergebäude. Allgemein waren die Wohnungen des Vordergebäudes größer, sie enthielten zumeist zwei Wohnungen in jeder Etage mit drei-, häufig sogar vier Zimmern, Küche und Bad. Im Seitenflügel umfaßten die Wohnungen meist ein bis zwei Stuben und die Küche, ein Bad war selten vorhanden. Im Quergebäude herrschten Zweizimmerwohnungen mit Küdie vor, selten hatten die Wohnungen drei Zimmer aufzuweisen, ein Bad fehlte in fast allen Wohnungen. Die sogenannten Berliner Zimmer waren in zahllosen größeren Wohnungen anzutreffen, die vom Vorderhaus in den Seitenflügel hineinreichten. War das Hofgebäude mit dem Seitenflügel verbunden, konnte audi in diesen Wohnungen eines der beiden Zimmer ein Berliner Zimmer sein, zumal wenn drei oder gar vier Mietparteien auf jeder Etage anzutreffen waren. 855 Namentlich in den ab 1890 entstehenden größeren Mietshäusern verbreiteten sidi als zweites stereotypes Merkmal unterschiedliche Wohnungsgrößen in den verschiedenen Stockwerken desselben Vorderhauses. Denn während die im ersten und zweiten Stockwerk, in der sogenannten „bei étage" gelegenen Wohnungen drei- bis vierzimmrig, in Rixdorf selten größer waren, zusätzlich zur Küdie eine Speise- und eine Mädchenkammer enthielten und auch das Bad nie fehlte, wurden in den oberen Etagen mehr Wohnungen untergebracht, zu denen jedoch nur ein oder zwei Zimmer gehörten und die so den Wohnungen im Seitenflügel und im Quergebäude glichen. Die Toiletten befanden sich noch meist auf dem Hof. Das Berliner Zimmer war audi bei diesen Grundrissen häufig anzutreffen. 856 In zahlreichen Gebäuden, namentlich in den schlechter ausgestatteten, die in Vorder- und Hinterhäusern wie Seitenflügeln eine Vielzahl kleiner, vorwiegend einzimmriger Wohnungen mit Küdie beherbergten, gruppierten sich zwei, nur in Ausnahmefällen drei oder vier solcher 355 Acta ... betr. das Grundstück Bergstraße 132 ... = Karl-Marx-Straße 175; Acta ... betr. das Grundstück Bergstraße 133 ... = Karl-Marx-Straße 177; Acta ... betr. das Grundstück Berliner Straße 14, 21, 89, 105 ... = Karl-Marx-Straße 26, 38, 37,5. SH Acta ... betr. das Grundstück Berliner Straße 13, 93, 98, 107 ... = KarlMarx-Straße 24, 27, 17, 1; Acta ... betr. das Grundstück Knesebeckstraße 116, 139 ... = Silbersteinstraße 71, 25—27.

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer

Bauformen

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winziger Wohnungen um einen gemeinsamen Flur, der seinerseits gegen das Treppenhaus abgeschlossen war. In der Regel waren zwei solcher Gemeinschaftswohnungen auf einer Etage angelegt, manchmal wurden sie von ein oder zwei separaten Zimmern ergänzt.857 Diese Anordnung der Wohnungen stellte die verbreitetste Form maximaler Raumausnutzung dar, die von der Grundrißgestaltung her unter Beibehaltung von Wohnungseinheiten erzielt worden ist. Auf die ersten Anfänge einer Geschäftsstraße und die Belebung des Einzelhandels weisen die seit den späten achtziger und neunziger Jahren häufigen Ladendurchbrüche in bereits existierenden Gebäuden und ihre zahlreicher anzutreffende Einrichtung in Neubauten hin. Als erste Geschäftsstraße kristallisierten sich die Berg- und Berliner Straße heraus; zum Einkaufszentrum der Rixdorfer Bevölkerung entwickelte sich vor allem die Bergstraße, in der sich am Ende des 19. Jahrhunderts „Geschäftshaus . . . an Geschäftshaus, Laden an Laden" reihte, „und nicht wenige" waren „darunter, die in der Ausstattung jeden Vergleich mit jedem großstädtischen Geschäfte aushalten" konnten. 358 Die Läden waren stets mit Nebenräumen beziehungsweise der Wohnung der betreffenden Ladenbesitzer verbunden; ihr Umfang, zwischen ein und zwei Stuben nebst Küche schwankend, wurde von der Größe des Hauses bestimmt oder war davon abhängig, ob ein oder gar zwei Läden die Vorderfront des Erdgeschosses einnahmen. „Wirtshäuser und Erfrischungslokale von verschiedenster Art und Einrichtung" kamen in den Geschäftsstraßen, aber auch in anderen Ortsteilen hinzu.859 Die Funktion eines kleinen Büroviertels minderen Rangs übernahmen neben der Berg- und Berliner Straße der Hermannplatz und der Kottbusser Damm, der die direkte Straßenverbindung zu Berlin herstellte. Dort hatten sich um 1900 im Sinne des Nutzungswandels ohne gleichzeitige Veränderung des Erscheinungsbildes in den ersten und zweiten Stockwerken Büros und andere Dienstleistungszweige etabliert, während audi hier die Erdgeschosse häufig mit Läden besetzt waren. Die in den oberen Etagen gelegenen Wohnungen waren im allgemeinen privaten Wohnzwecken vorbehalten. Als ein Beispiel unter anderen 357

Acta ... betr. das Grundstück Bergstraße 127/128 ... = Karl-Marx-Straße 183; Acta ... betr. das Grundstück Berliner Straße 18/19, 22, 95, 107 ... = Karl-MarxStraße 34, 40, 23, 1; Acta ... betr. das Grundstufe Knesebeckstraße 2, 20, 33, 117, 145 ... = Silbersteinstraße 4, 40, 62, 69, 13. 358 Chr. J. Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben ..., S. 83. 359 Acta ... betr. das Grundstufe Knesebeckstraße 135, 140/141 ... = Silbersteinstraße 35, 21/23.

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III. Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

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Wohngemeinde

kann das Haus Kottbusser Damm 63 angesehen werden, in dem im Erdgeschoß vier große Geschäftsräume, zwei Läden und ein Restaurant eingerichtet worden waren. Das erste Stockwerk hatte sechs große Büro- und Geschäftsräume aufgenommen. In dieser Etage waren die Wohnungen ganz auf den Seitenflügel beschränkt. In den darüber liegenden Etagen befanden sich ausschließlich größere Wohnungen, die mit einer Mädchenkammer und einem Bad ausgestattet waren.360 Derartige, dem tertiären Sektor angehörende Dienstleistungen ließen sich generell in den Gebieten Rixdorfs nieder, die in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stärker erschlossen wurden. Die entsprechenden Gebäude wurden häufig sogar von Baugesellschaften errichtet, großzügig ausgestattet und waren bereits von der Planung her, wie die Flächenaufteilung in den einzelnen Etagen und selbst die Fassadengestaltung zeigen, zur Aufnahme von Büros, Verwaltungseinrichtungen, Banken und ähnlichem bestimmt. Die Gestaltung der Fassaden der Mietshäuser läßt zum Teil auf ihr Baualter schließen. Die der frühen Erschließungsphase zwischen etwa 1870 und 1885 zugehörenden Häuser und Straßen boten mit ihren grauen, relativ glatten Fronten ein recht eintöniges Bild, das durch die Enge und Baumlosigkeit der Straßen noch betont wurde.361 In den folgenden Jahren verbreitete sich eine aufwendigere Bauart mit reicher ornamentaler Fassadengestaltung, die sich sehr von dem einfachen, an spätklassizistische Formen angelehnten Fassadenschmuck, der an die Schinkelschule erinnert, unterschied. Der Stil der Wilhelminischen Epoche war ein Gewinn, weil die Häuser mit Baikonen und Erkern ausgestattet wurden, wobei Rixdorf der Eklektizismus anderer Stadtteile jedoch erspart blieb, da meist mit geringen Mitteln für die aus den Unterschichten zu erwartenden Mieter gebaut wurde.362 Die soziale Struktur Rixdorfs mit seinem dominierenden Anteil der unteren Bevölkerungsschichten lohnabhängiger Arbeiter, kleiner Angestellter und Beamten spiegelten zahlreiche Merkmale der Wohnverhältnisse wider. Die Bewohnerdichte pro Grundstück war um 1900 mit 69 Personen ebenso hoch wie in Schöneberg, hatte aber noch nicht die hohe Dichte in Berlin erreicht, wo durchschnittlich 75 Menschen auf einem Grundstück wohnten. Dennoch hatte Rixdorf bis 1900 die Einwohnerdichte einer Großstadt erreicht und übertraf 1905 sogar die 3.0 3.1 382

Acta ... betr. das Grundstück Kottbusser Damm 63. Acta . . . , passim. Ebda.

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer

Bauformen

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Dichtezahlen Berlins. Der Grad der Verstädterung Rixdorfs läßt sich an der im Vergleich dazu geringeren Einwohnerdichte der Vororte insgesamt ablesen, in denen durchschnittlich nur 45 Personen auf einem Grundstück lebten; selbst die Industriegemeinde Lichtenberg war nur so dicht bebaut, daß durchschnittlich 44 Menschen auf einem Grundstück wohnten. 383 Die Grundstücksdichte variierte im einzelnen sehr stark. Als extremste Beispiele können einerseits die nur von den Bauernfamilien Bading und Daedrich am Richardplatz 4 und 5 bewohnten Grundstücke angeführt werden und andererseits die Berliner Straße 14, wo in 74 Haushaltungen 325 Menschen lebten.364 Was die Wohnungsgrößen betrifft, so ist eine eindeutige Akkumulation von kleinen Wohnungen festzustellen. Die als ausgesprochener Mißstand zu kennzeichnenden Wohnungen ohne heizbare Zimmer waren wie in den Vororten mit durchschnittlich nur 0,8 und 0,7 % aller Wohnungen weit seltener als in der Stadt Berlin insgesamt. Wohnungen mit einem heizbaren Raum waren am häufigsten anzutreffen, da im Jahre 1900 mit 57,6 °/o zu dieser Kategorie weit mehr als die Hälfte aller Wohnungen gehörte, in denen zudem mit 53 % über die Hälfte der Bevölkerung lebte. Die größeren Wohnungen, in denen knapp 43 % der Einwohner lebten, waren in Berlin weit verbreiteter, denn dort verfügten nur 49 % über ein heizbares Zimmer. Zusammen mit den zwei heizbare Zimmer enthaltenden Wohnungen — sie wurden vorzugsweise in den Jahren nach 1900 gebaut, während vorher nicht zuletzt durch die häufige Einrichtung von Nebenbauten zu Wohnzwecken die Kleinstwohnungen dominierten — gehörten 88 bis 90 °/o aller Rixdorfer Wohnungen der Kategorie der Kleinwohnungen an, in der ein entsprechend hoher Anteil der Bevölkerung lebte. In Berlin hingegen blieb diese Wohnungsgattung auf 77 bis 78 °/o beschränkt, zusammen mit den drei heizbare Zimmer enthaltenden Wohnungen erreichten sie gleiche Anteile wie in Rixdorf. In den Vororten insgesamt überwogen die größeren Wohnungen in ganz erheblichem Umfang. Dies läßt die in einer größeren Anzahl von Vorortgemeinden herrschenden günstigen Wohnverhältnisse und gleichzeitig die besondere Position Rixdorfs innerhalb der Siedlungen im Umland Berlins erkennen.

3es

Zeitschrift des Kgl. Preußischen Statistischen Bureaus, 42. Jg. (1902), S. 155; Groß-Berlin. Statistische Monatsberichte, 2. Jg. (1912), H . 8/9, S. 8. 384 Berliner Adreßbuch für 1881..., T. 2, S. 93; Rixdorfer Tageblatt vom 17.12. 1895.

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HI· Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

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Wohngemeinde

Die Probleme der allgemeinen Wohnungsnot und besonders der Wohnungsmißstände einer breiten Unterschicht traten in Rixdorf, ohne in ihrem ganzen Ausmaß quantitativ faßbar zu sein, bereits bei noch ländlicher Bauweise infolge der zunehmenden Bevölkerungsinvasion auf. Ihre Erscheinungsformen manifestierten sich in einigen Beispielen der Wohndichte der Weber am eindringlichsten. So kann also für das großstädtische Wohnungselend nicht allein erst der Mietskasernenbau verantwortlich gemacht werden, wie manche der Kritiker der Mietskaserne es taten. Doch muß betont werden, daß der Bau von Mietskasernen die Bevölkerungsballung quantitativ enorm steigerte und bewußtseinsverändernde Wirkungen hatte, indem er das Problem unübersehbar in das Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit rückte. Auch gab es etliche, mit dem Mietshaus eng verbundene Formen des Wohnungselends, die die spezifischen Mängel dieser Bauart deutlich maditen. Sie waren in gleicher Weise in den unterschiedlich strukturierten Einzelgemeinden innerhalb der entstehenden Stadtregion anzutreffen, in den aus kleinen lockeren Ansiedlungen erwachsenen Vorstädten wie in dem um die Jahrhundertmitte aus einer Agrarkolonie im Umland hervorgegangenen, als Industriestandort und Arbeitergemeinde in die Randzone Berlins integrierten Moabit, und ebenso in dem sich aus einem kleinen Gewerbedorf in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einer kleingewerblich-industriellen Wohngemeinde entwickelnden Rixdorf. Die größten Unzulänglichkeiten hatten die Kellerwohnungen, die von einer übergroßen Personenzahl — etwa fünf Personen pro Zimmer — bewohnt waren, und die in Nebengelassen eingerichteten Wohnungen aufzuweisen. Sie vor allem gaben Anlaß zu zahlreichen Darstellungen und Anklagen in der sozial engagierten Literatur. Wenn auch die Zahl der Kellerwohnungen infolge der gerade in diesem Punkt verschärften Bauordnungen im späten 19. Jahrhundert in Rixdorf mit fast 2 % im Jahre 1900 verhältnismäßig gering war — in Berlin waren es immerhin über 5 % —,366 so mangelte es dodi nicht an Beispielen krasser Mißstände. In der Berliner Straße 95 befanden sich zum Beispiel neben den Arbeitsräumen der im Keller gelegenen Fleischverarbeitungswerkstätte mehrere Kammern, in denen Gesellen wohnten und schliefen.866 In der Berliner Straße 107, am Hermann-

385 3M

Die Ergebnisse der Grundstücks- und Wohnungs-Aufnahme im Jahre 1900 ... Acta ... betr. das Grundstück Berliner Straße 95 ... = Karl-Marx-Straße 23.

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer Bauformen

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platz, schlossen sich in einem größeren Gebäude drei Kellerwohnungen an einen Bierkeller an.867 Die Zahl der überbelegten Wohnungen war in Rixdorf häufiger anzutreffen als in anderen Vorortgemeinden, denn 1900 lagen die Anteile der von fünf und mehr Menschen bewohnten Einzimmerwohnungen wie der von zehn und mehr Personen eingenommenen Zweizimmerwohnungen vergleichsweise hoch.368 Es wurden nicht nur unverhältnismäßig viele Wohnungen von einer zu großen Anzahl Menschen bewohnt, auch die fensterlosen Räume, Kammern, Kabusen und Korridore durften zwar durch baupolizeiliches Verbot „zu Wohn- oder Schlafräumen weder eingerichtet noch benutzt werden", doch diese Bestimmungen wurden häufig umgangen, besonders wenn in Nebengebäuden aller Art Wohnungen eingerichtet wurden. In der Bergstraße 129 befand sich in einem Stallgebäude eine Wohnung, die sich aus einer Stube, einer Kammer und einer Küche zusammensetzte, die eigentlich „nur Bodenräume" darstellten; „von 2 Seiten" fiel „ein schräges Dach ab, wodurch die Deckenfläche kaum 2 Quadratmeter groß" war. Licht drang „nur durch eine Dachluke in den Raum", die Wände waren feucht und die Treppe „kaum so breit, daß man passieren konnte". 899 Als gleichermaßen unerträglich darf die Einrichtung einer kleinen Wohnung, die aus einer Stube und der Küche bestand, neben zwei separaten Wohnräumen unmittelbar über einer Asphaltkocherei in der Berliner Straße 90 angesehen werden.870 Es war keine Seltenheit, daß über und neben Viehställen bewohnte Räume lagen.871 Dennoch war die direkte räumliche Trennung von Wohnund Arbeitsort relativ weit fortgeschritten, wie der Anteil der gewerblich und geschäftlich genutzten Wohnungen zeigte. Mit gut 4°/« im Jahre 1900 war die nicht ausschließliche Nutzung von Räumen zu Wohnzwecken weit weniger verbreitet als in den meisten anderen Vorortgemeinden. Auch dies weist auf Rixdorfs dominierende Wohnortfunktion hin.872 Unter dem Eindruck der auch in Rixdorf immer auffälliger werdenden schlechten Wohnverhältnisse sowie der zunehmenden Kritik

367

Acta ... betr. das Grundstück Berliner Straße 107 ... = Karl-Marx-Straße 1. Die Ergebnisse der Grundstücks- und Wohnungs-Auf nähme im Jahre 1900 ... 889 Acta ... betr. das Grundstüde Bergstraße 129 ... = Karl-Marx-Straße 181. 370 Acta ... betr. das Grundstück Berliner Straße 90 ... = Karl-Marx-Straße 35. 371 Acta ... betr. das Grundstüde Berliner Straße 95 ... = Karl-Marx-Straße 23. 372 Zeitschrift des Kgl. Preußischen Statistischen Bureaus, 42. Jg. (1902), S. 155; Groß-Berlin. Statistische Monatsberichte, 2. Jg. (1912), H. 8/9, S. 8. 598

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III- Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

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Wohngemeinde

an Mängeln der Mietskasernen aufgrund eines sich verschärfenden Bewußtseins der Zeit wurden in Rixdorf wie in vielen anderen Gemeinden in der Umgebung Berlins verschiedene gemeinnützige Baugesellschaften tätig, die Gebäude mit neuen Wohnhausformen als Alternative zur Mietskaserne errichten wollten. Nur in wenigen, weiter von Berlin entfernten Siedlungen, in denen der Boden noch nicht in den Sog der Bodenwertsteigerung geraten war und die Preise daher niedriger lagen, war die Möglichkeit gegeben, durch den Bau von Ein- und Zweifamilienhäusern oder Reihenhäusern Eigenheime zu errichten. Entsprechend den oft romantisierenden sozialreformerischen Vorstellungen, sollten sie von einem kleinen Garten umgeben sein, der als Nebenerwerbsquelle, Spielplatz und Ort körperlicher Bewegung in freier Luft nach getaner Arbeit eine große Rolle spielte. Diese Eigenwohnheime außerhalb oder am Rande der meist negativ beurteilten Großstadt waren für alle Schichten der Bevölkerung, also audi für die Arbeiter, die kleinen und mittleren Beamten und die Kaufleute geplant. 373 In den meisten, besonders in den westlichen Vororten mit ihren ebenfalls steigenden Bodenpreisen blieben die Villa und das eigene Haus den oberen Schichten vorbehalten, oder es drang entgegen der Planung und den Intentionen dennoch das Mietshaus ein.374 Die in den inneren Bezirken und Randsäumen der Stadtregion sich betätigenden gemeinnützigen Baugesellschaften mußten von den reformerischen Bestrebungen der Theoretiker unter dem Zwang der herrschenden Spekulation Abstriche machen und die Vorherrschaft des Mietshauses anerkennen. So gingen die Bestrebungen in Rixdorf in erster Linie dahin, die Nachteile der großstädtischen Mietskaserne durch möglichst sonnenreiche, hygienische Kleinwohnungen abzugleichen, da das Einfamilien- und Reihenhaus infolge der hohen örtlichen Bodenpreise keinen Profit erbrachte. Als Organisationsform setzten sich die gemeinnützigen und genossenschaftlichen Bauvereine durch, die als

873 D¡ e v o n Huber begründeten Wohnungsvorschläge, zuerst durch die „Berliner Gemeinnützige Baugesellschaft" mit geringem Erfolg praktiziert, fanden nodi in den Vorstellungen der Berliner Städtebauer der Jahrhundertwende, etwa Eberstadts, und in den von Sozialdemokraten nach 1910 rezipierten Vorschlägen kaum eine Abwandlung; vgl. Vossische Zeitung vom 8.11.1915; Stenographischer Bericht über die Sitzung der Verbandsversammlung [Zweckverband] am 27. 3.1916, in: Acta betr. Die Domäne Dahlem, in: Ehemaliges Preußisches Geheimes Staatsarchiv, Rep. 87, Nr. 3370; R. Eberstadt, Städtische Bodenfragen ... 374 vgl. die Vororte Dahlem, Grunewald, Friedenau, Steglitz.

Räumliche Expansion und Eindringen städtischer

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private Vereinigungen auf Anregung oder unter der Leitung von „tatkräftigen Männern der sozialpolitischen Praxis" 875 entstanden; staatliche Mitwirkung fehlte fast ausnahmslos. In Rixdorf wurde aus dem Kreise sozial engagierter Männer, die der Oberschicht angehörten, der Freiherr von Magnus tätig, der als Direktor der Deutschen Volksbank dem „Deutschen Verein Arbeiterheim" und dem „Hilfsverein der Deutschen Adelsgenossenschaft" angehörte. Aus eigener Initiative ließ er in den Jahren 1901 bis 1903 die Häuser an der Warthestraße 67—70 erbauen. Die unter seiner Leitung errichteten Gebäude waren Mietshäuser und unterschieden sich von den üblichen Bauten lediglieli durch einen aufwendigeren Fassadenschmuck und eine etwas bessere Ausstattung. 378 Zu den Baugenossenschaften im engeren Sinne gehörte in Rixdorf die Genossenschaft „Eigenes Heim". Sie erwarb um 1890 ein Bauterrain von ca. 2 Morgen Größe an der Hermannstraße/Ecke Mariendorfer Weg vom Justizrat Lazarus für 27 000 Mark. Auf diesem Areal waren zehn vierstöckige Häuser geplant und auf jeder Etage sollten sich drei bis vier separate Wohnungen befinden, die aus je zwei Zimmern mit größeren Fenstern, der Küche und dem Korridor bestehen sollten. In jedem Haus sollte daneben eine allen Mietern kostenlos zur Benutzung zugängliche Badeanstalt eingerichtet werden. Das Eckhaus war dazu bestimmt, neben einem Laden eine vierzehnklassige Gemeindeschule aufzunehmen. Die ersten, nach einem Jahr fertiggestellten sechzehn Wohnungen kosteten 165 bis 270 Mark Miete im Jahr, und der Mietspreis war so beredinet, daß das investierte Kapital sich nur mit 5 % verzinste.877 Nach 1900 betätigten sich weitere Baugenossenschaften in Rixdorf: Der „Rixdorfer Mieterverein" baute ab 1901; der „Rixdorfer Spar- und Bauverein"378 bebaute verschiedene Einzelgrundstücke im Gebiet der ehemaligen Köllnischen Wiesen gleichfalls mit hohen Mietshäusern und ähn-

375

Erich Eppich, Das deutsche Baugenossenschaftswesen, Berlin 1913, S. 16. Acta ... betr. das Grundstück Warthestraße 67—70; cit. nach H . Winz / W. Schmidt, Von Rixdorf zu Neukölln ..., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 195 ff. 377 Teltower Kreisblatt vom 18. 3. 1890; a.a.O., vom 26. 7.1890; a.a.O., vom 23.8.1890; Rixdorfer Zeitung vom 21.8.1891; A. Voigt, Die Bodenbesitzverhältnisse . . . , in: Neue Untersuchungen über die Wohnungsfrage ..., Bd. 2, S. 160 f. 378 Im Jahre 1912 wurde er in Spar- und Bauverein Neukölln umbenannt und nadi 1945 als „Gemeinnützige Wohnungsgenossenschaft Neukölln GmbH" weitergeführt; vgl. H . Winz / W. Schmidt, Von Rixdorf zu Neukölln ..., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 196. 87e

23 Thlenel

354

III. Entwicklung

Rixdorfs zum Gewerbedorf

und zur

Wohngemeinde

liehen Wohnungsgrößen, dodi weit verbesserter Ausstattung. Der 1902 gegründete „Beamten-Wohnungsverein zu Rixdorf" errichtete bis 1910 vier Hausgruppen mit insgesamt 376 Wohnungen, von denen die überwiegende Mehrheit 2—3 Wohnräume umfaßte. Der BeamtenWohnungsverein war nicht nur die erfolgreichste Baugenossenschaft in Rixdorf vor dem Ersten Weltkrieg, er realisierte auch moderne architektonische Lösungen zur Vermeidung der Hinterhofbebauung durch die Anlage von Passagen und Privatstraßen. 379 Um 1907 entstand in Rixdorf die „Ideal-Baugenossenschaft" als ebenfalls lokal begrenzt tätige Baugenossenschaft mit dem Ziel, verbesserte Kleinwohnungen zu errichten. Vom Mietshausbau konnte auch sie nicht abgehen, aber es gelang, die Art der Wohnungen weiter zu verbessern, Gemeinschaftsräume zur Pflege sozialer Kontakte zu schaffen und das Passagensystem fortzuführen. 380 Die Tätigkeit der Baugenossenschaften blieb in Rixdorf wie in allen Gemeinden der Berliner Region im Verhältnis zur privaten Bautätigkeit bedeutungslos und blieb für die Prägung der baulichen Gestalt vieler Siedlungen ohne Wirkung. Der enge Beziehungszusammenhang zwischen den ökonomischen und sozialen Strukturen und Funktionen Rixdorfs und der baulichen Gestalt der Siedlung manifestierte sich in der Fixierung bestimmter wirtschaftlicher und sozialer Erscheinungen in den entsprechenden architektonischen Formen. Rund um den Dorfanger, auf dem bis heute als Relikt der Vergangenheit die Dorfschmiede erhalten ist, wohnten trotz teilweiser Überfremdung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die alteingesessenen Bauernfamilien, und in der südlichen Berliner-, der späteren Richardstraße lebten die Nachfahren der ehemaligen Kolonisten. Hier erhielt sich die dörfliche Bauweise in Form kleiner eingeschossiger Bauern- und Kolonistenhäuschen auf den alten Hoflagen mit Ställen und Scheunen am längsten. Die Häuser der Büdner, Weber, anderer Handwerker und Tagelöhner, die das handwerklich-gewerbliche Rixdorf repräsentierten, waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Berliner-, der Berg-, Rosen-, Mühlen- und Kirchhofstraße und in der Kirchgasse errichtet worden und blieben der dörflich-ländlichen Bauweise verhaftet. Zu diesen dem Gewerbedorf des Umlands adäquaten Bauformen traten nach dem Inkrafttreten des Bebauungsplans 379

Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 32. Jg. (1913), S. 278; H. W i n z / W . Schmidt, Von Rixdorf zu Neukölln..in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 15 (1966), S. 196. 380 Ebda.

Räumliche

Expansion

und Eindringen

städtischer

Bauformen

355

„sie in drei- und vierfacher Höhe überschauende Neubauten", 381 die Mietskasernen, und verdrängten die alten Häuser mehr und mehr. Namentlich in der nördlichen Berliner Straße und in der Bergstraße entwickelte sich, wie bereits erwähnt, im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ein kleines Einkaufszentrum und „regstes gewerbliches L e b e n . . . Geschäftshaus reiht sich an Geschäftshaus, Laden an Laden", und dazwischen befanden sich „Wirthshaus und Erfrischungslokale". 382 So spiegelte das äußere Bild der ältesten Ausbaugebiete die rasche Entwicklung, den Funktions- und Strukturwandel Rixdorfs im Laufe der frühen und späteren Phase der Industrialisierung wider. Demgegenüber bewahrte der Dorfkern im sozialökonomischen wie auch im architektonischen Bereich Züge der älteren Strukturen. Die Tischlerkolonie in der Delbrückstraße wie die übrigen Erweiterungen des Ortes in den siebziger Jahren und zu Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hoben sich auch baulich als Ubergang vom Bauernhaus zur Mietskaserne durch einen Bautyp ab, der meist durch zwei Etagen und der Anlage einer größeren Zahl kleinräumiger Wohnungen gekennzeichnet war. Außerdem wurden zahlreiche Nebenbauten zu Wohnzwecken in Verbindung mit Werkstätten aller Art genutzt, die den Ubergang vom Standort des spezialisierten Weberheimgewerbes zur späteren Wohngemeinde der Arbeiter und anderer Unterschichten durch eine Intensivierung der Verbreitung der gewerblichen Tätigkeit anzeigen. Die jüngeren Erschließungsgebiete der späten achtziger und neunziger Jahre bis ins 20. Jahrhundert hinein, als Rixdorf sich zunehmend zum Wohnort einer großen Arbeitnehmerschaft mit verstreut eingelagerter Kleinindustrie und weit verbreitetem Kleingewerbe entwickelte, wurde die bauliche Gestalt durch eine geschlossene Mietshausbauweise mit vier- und fünfstöckigen Gebäuden charakterisiert. Die Vorderhäuser dienten fast ausschließlich zu Wohnzwecken, sofern nicht Geschäfte im Erdgeschoß eingerichtet wurden oder sich andere Dienstleistungszweige in bestimmten Sraßenzügen im Erdgeschoß und in den oberen Etagen niederließen. Die Wohnungen waren in den Vordergebäuden unterschiedlich groß, dennoch stellten die Kleinwohnungen die vorherrschende Wohnungsgröße dar. Doch ahnte „der B e s u c h e r . . . kaum die vielen kleinen Wohnungen, die hinter diesen zum Teil reich Chr. J . Cremer (Hrsg.), Das gewerbliche Leben . . ., S. 83; vgl. H . Louis, Die geographische Gliederung von Groß-Berlin . . S. 16. 382 Ebda. 381

23*

356

HI· Entwicklung Rixdorfs zum Gewerbedorf und zur Wohngemeinde

geschmückten Fassaden zu finden" 883 waren. Auch die Hof- und Seitengebäude dienten vorwiegend Wohnzwecken und waren mit einer Vielzahl fast ausschließlich kleiner und kleinster Wohnungen ausgestattet oder beherbergten einen oder mehrere gewerbliche und industrielle Kleinbetriebe. Wie die jeweils neu hinzutretenden wirtschaftlichen Funktionen und die entsprechenden Bevölkerungsschichten und -gruppen besonders in dem gerade baulich sich erschließenden Gemarkungsteil sich lokalisierten, so fanden dort die ihnen adäquaten Bauformen in entsprechenden Wohnungen und Fabrikationsstätten ihre größte Verbreitung. Die Bauformen Rixdorfs spiegeln entsprechend der ökonomischen und sozialen Struktur den historischen Ablauf der jeweils dominierenden Funktionen der Siedlung wider.

58S

Rixdorf in alter und neuer Zeit, Berlin-Schöneberg 1909, S. 12.

AUSBLICK

Historische Ergebnisse der Siedlungsentwicklung für die Berliner Gesamtgeschichte im Zeitalter der Industrialisierung Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag zur Industrialisierungsund Stadtgeschichte unter geographischen und sozial-ökologischen Aspekten leisten. Auf diese Weise soll die allgemeine Geschichte der Stadt, für die ausgezeichnete kulturhistorische, kommunalgeschichtliche sowie sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Arbeiten existieren, um eine Untersuchung bereichert werden, die zu einem möglichst facettenreichen Bild ihrer Geschichte beiträgt. In dieser Studie wird ferner versucht, eine vorhandene Lücke in der Berliner Stadtgeschichtsforschung zu schließen, denn in den bisher erschienenen Arbeiten wurden die hier vorgestellten Methoden nicht angewandt. Das spezielle Erkenntnisobjekt stellt die räumliche Entwicklung der Stadt Berlin in ihren Randsäumen und im Umland dar, die im Laufe des 19. Jahrhunderts den Bereich der Stadtregion bildeten. Die Interdependenzen zwischen den sozial- und wirtschaftsräumlichen Veränderungen und dem allgemeinen, nicht raumspezifischen ökonomischen und sozialen Wandel im Zeitalter der Industrialisierung wurden im Gang der Untersuchung häufig evident. Es lassen sich darüber hinaus mannigfaltige Beziehungen zu anderen Problemen der Berliner Geschichte nachweisen, von denen hier nur einige angedeutet werden sollen. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und nicht ohne Beziehung zu ihr vollzog sich die kulturelle Entfaltung, auf die die Atmosphäre der Metropole in vielfacher Weise anregend wirkte. Berlin wurde im 19. Jahrhundert sowohl zum Mittelpunkt der deutschen Wissenschaft und Kunst wie zum wirtschaftlichen und politischen Zentrum Deutschlands. Ein besonders enger Bezug, der zweifellos bisher nur ungenügend berücksichtigt wurde, bestand zwischen der siedlungshistorischen und der kommunalhistorischen Entwicklung, besonders in der Eingemeindungsfrage. In diesem Bereich traten die Diskrepanzen zwischen der

358

Ausblick auf die Berliner

Gesamtgeschichte

oft schwerfälligen Bürokratie und dem dynamischen wirtschaftlichen und sozialen Wandel wie zwischen der Motivation politischen Handelns und den tatsächlichen Erfordernissen deutlich hervor. Die Eingemeindungen der in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts allmählich bebauten Randviertel Berlins, in denen jedoch keine älteren Siedlungskomplexe lagen, kann noch als Fortsetzung der seit dem Mittelalter betriebenen Politik der Stadtbehörden angesehen werden, die unter dem Einfluß der Stadt stehenden Siedlungen durch die Erweiterung des Mauerrings in den Kommunalverband einzubeziehen. Die in der Städteordnung von 1808 sehr eng gezogene Grenze des Weichbilds ließ die Erweiterung des Stadtgebiets bald als wünschenswert erscheinen. Nach langjährigen Verhandlungen zwischen den Beteiligten, dem Magistrat der Stadt Berlin, der Staatsregierung, den Landräten der benachbarten Kreise und den Vertretern der angrenzenden Dörfer wurde der Stadtbezirk im Jahre 1841 erweitert, ohne die selbständigen Gemeinden einzubeziehen. In den kurze Zeit später erneut aufgenommenen Verhandlungen, bei denen es sich in erster Linie um die Eingemeindung des Wedding und Moabits handelte, spielten erstmals Divergenzen, die sich aus der Entwicklung der betreffenden Gemeinden ergaben, eine wichtige Rolle. Die Staatsbehörden und der Magistrat befürworteten die Einverleibung beider Siedlungen, um angesichts der raschen Expansion der Stadt und des Ausgreifens städtischer Merkmale auf bisher ländliche Siedlungen das „zu eng werdende Gewand" der Hauptstadt ihrem Wachstum anzupassen. Die entgegengesetzte Position nahmen die Stadtverordneten ein, die die Einheit des durch die Gemeindegrenzen getrennten Raumes nicht anerkannten. Sie bemerkten in den angrenzenden Vorortgemeinden lediglich die Konzentration der Untersichchten, namentlich der Arbeiterbevölkerung, die zu steigenden finanziellen Belastungen in der Armenpflege führen mußte; darüber hinaus würde die Stadt auch die Kosten für den Unterhalt, die Beleuchtung und Pflasterung der Straßen und für zusätzliche Verwaltungsaufgaben tragen müssen. Die Eigengesetzlichkeit des städtischen Wachstums, das sich durch kommunalpolitische Maßnahmen nicht eindämmen ließ, verkannten sie ebenso wie wahrscheinlich der größte Teil der Zeitgenossen. Das Stadtgebiet wurde dennoch im Jahre 1861 beträchtlich erweitert, als der Wedding, Gesundbrunnen, Moabit, Neu-Schöneberg und Teile der Vororte Tempelhof, Rixdorf und Charlottenburg eingemeindet wurden. Doch auch diese Vergrößerung des Gemeindebezirks hielt mit der Expansion der Stadt nicht Schritt und umschloß knapp das Kerngebiet und die Rand-

Ausblick auf die Berliner

Gesamtgescbichte

359

zone der Stadtregion. Der Versuch, die soziale, wirtschaftliche und räumliche Entwicklung der Stadt mit den traditionellen Methoden unter Kontrolle zu bekommen und die verwaltungsmäßige Einheit während des rapiden Wachstums zu wahren, war vergeblich. Andere Lösungen wurden angesichts der Ratlosigkeit führender Kommunalpolitiker nicht gesehen beziehungsweise sie fanden nicht genügend Gehör, um sich im Entscheidungsprozeß durchsetzen zu können. Seit der Zeit der Reichsgründung wurden jedoch die kommunalpolitischen Entscheidungen der mit erweiterten Kompetenzen ausgestatteten Gemeindebehörden in den Vororten, aber auch der Staatsverwaltung und der Berliner Stadtverwaltung in zunehmendem Maße von der Siedlungsentwicklung direkt bestimmt. Dadurch, daß das Umland städtische Strukturen und Funktionen übernahm, waren die Vorortgemeinden in vielen Fragen, so etwa hinsichtlich der Versorgungseinrichtungen, mit dem Zentrum Berlin und untereinander verbunden und auf einheitliche Regelungen angewiesen. Das Bewußtsein, daß die engen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen eine diesen Verknüpfungen Rechnung tragende kommunale Gemeinschaft wünschenswert machten, war wesentlich stärker in den Vororten als in Berlin vorhanden und entsprechend vertreten. Nach jahrzehntelangen Diskussionen stellte die Gründung des Zweckverbands 1911 nur eine vorläufige Lösung dar, bevor mit der Einheitsgemeinde Berlin im Jahre 1920 der verwaltungsmäßige Zusammenschluß der überwiegenden Mehrzahl der die Stadtregion Berlin bildenden Gemeinden erreicht wurde. Die Divergenzen unter den Kommunalvertretern und deren partikulare Interessen, die dem Gesamtinteresse zuwiderliefen, verzögerten den Zusammenschluß des sozial und wirtschaftlich einheitlichen Raumes zu einer Gemeinde. Sie verhinderten vielfach Beschlüsse und Regelungen, die alle beteiligten Gemeinden umf aß ten, sowie eine enge Kooperation in so wichtigen Fragen wie der Stadtplanung, der Gas-, Wasserund später der Elektrizitätsversorgung oder der Kanalisationsfrage. In mehreren Denkschriften wurden die Probleme des Berliner Raumes zwar eindringlich dargestellt, doch blieben sie lange Zeit unbeachtet. Die diesen Bereich betreffenden politischen Meinungen und das politische Handeln deuten auf eine höchst unterschiedliche Rezeption der wirtschaftlichen, sozialen und räumlichen Entwicklung hin. Wie andere Faktoren determinierten audi die räumlichen Verhältnisse Berlins die Vorstellungen, Ziele und Aktionen und fanden auf diese Weise indirekt Eingang in das politische Handeln. Die Beurteilung der Ent-

360

Ausblick auf die Berliner

Gesamtgeschichte

Scheidungen aller kompetenten und verantwortlichen Behörden, der zuständigen Stellen des Innenministeriums, des Magistrats und der Stadtverordneten von Berlin und der beteiligten kleineren Städte, der betroffenen Landräte und Amtsvorsteher, die die Erfordernisse des so stark differenzierten und wechselseitig abhängigen Raumes, sofern sie sie erkannten, zum Inhalt ihres Handelns machten, oder die den Sachzwang anderen Interessenkonstellationen opferten, erhält eine neue Grundlage durch eine stadtgeschichtliche Untersuchung, die die soziale, wirtschaftliche und bauliche Gestalt dieses Raumes darstellt. Aber auch für die politische Geschichte im engeren Sinn vermittelt die soziale und wirtschaftliche Entwicklung im Raum Berlin durchaus einige neue Aspekte. Berlin als Hauptstadt, das heißt als Zentrum des politischen Geschehens im preußischen Staat und im Deutschen Reich, wies eine diesen Aufgaben angepaßte räumliche Organisation auf. Es bildeten sich besondere Regierungs- und Verwaltungsviertel heraus, in denen „Politik gemacht" wurde und die ihrerseits auf die Gestaltung der städtisdien Struktur Einfluß nahmen. Umgekehrt beeindruckte der wirtschaftliche und soziale Wandel dieser Stadt, in dem sich die Problematik der modernen industriellen Gesellschaft so geballt wie in keinem anderen, enger begrenzten Raum Deutschlands manifestierte, die politisch Handelnden. Namentlich im parteipolitischen Wirken und im wachsenden politischen Bewußtsein der Arbeiterklasse wie in dem zunehmenden Konservativismus der preußischen Regierung werden sich Momente bestimmen lassen, die auf die Erfahrungen in dieser Großstadt zurückzuführen sind. Ein bekanntes Beispiel stellt die Furcht vor dem „roten Berlin" dar, nämlich dem Anwachsen der Wählerzahlen der SPD, in der sich das politische Klima der Stadt und die Gegensätze der politischen Gruppen und sozialen Schichten der modernen Industriegesellschaft widerspiegelte. Aus diesen wenigen Hinweisen wird ersichtlich, daß die innerstädtische räumliche Struktur mit der politischen Geschichte wie mit der Verfassungsordnung verknüpft ist. Die Vielfalt der Zusammenhänge zwischen diesen Bereichen sollte hier lediglich kurz angedeutet werden.

TABELLENANHANG

Tabellenanhang

363

TABELLE I

Entwicklung ausgewählter Gewerbezweige (Metallgewerbe)* Jahr

1801 1816 1831 1846 1849 1852 1855 1858 1861 1867 1871

Zahl der Betriebe abs. J Index 1119 727 947 1744 1746 1810 1825 1975 2240 3012 3391

64 42 54 100 100 104 105 113 128 173 195

Zahl der Erwerbstätigen abs. Index 4 099 1896 2 943 7 913 6 811 7 890 8 554 9194 11665 18 984 26 273

Erwerbstätige insges.

In % der Erwerbstätigen

41391 32020 25 944 78093 78 572 87 152 91476 109252 114489 127 789 182 772

9,9 5,9 11,3 10,1 8,6 9,0 9,3 8,4 10,2 14,9 14,3

52 24 37 100 86 100 108 116 147 240 332

* Zahlen nach: Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875.. ., 4. Abt., H. 3/4, S. 6 - 7 .

TABELLE I (.Fortsetzung)

Entwicklung ausgewählter Gewerbezweige (Maschinen, Werkzeuge, Instrumente, Apparate)* Jahr

1801 1816 1831 1846 1849 1852 1855 1858 1861 1867 1871

Zahl der Betriebe abs. Index 266 251 268 553 630 607 640 701 813 1029 + 1133*

48 46 48 100 114 110 116 127 147 186 205

Zahl der Erwerbstätigen Index abs. 517 470 470 4 601 2 591 3 360 4 136 8 535 9 338 14 557 20 595

11 10 10 100 56 73 90 186 203 316 448

Erwerbstätige insges.

In % der Erwerbstätigen

41391 32020 25 944 78093 78572 87 152 91476 109 252 114489 127 789 182 772

1,2 1,4 1,8 5,9 3,3 3,9 4,5 7,8 8,1 11,3 11,2

* Zahlen nach O. Wiedfeldt, Statistische Studien..., S. 255. * Zahlen nach: Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875..., 4. Abt., H. 3/4, S. 7.

364

Tabellenanhang TABELLE I (.Fortsetzung) Entwicklung

Jahr

1801 1816 1837 1846 1849 1852 1855 1858 1861 1867 1871

ausgewählter

Zahl der Betriebe abs. 1 Index 8 14 3 33 29 30 42 61 67 104? + 122? +

24 42 9 100 88 91 127 185 203 315 370

Gewerbezweige

Zahl der Erwerbstätigen abs. Index 17 19 75 2 854 704 923 1310 5456 5 362 12179? 17178?

fMaschinenbauanstalten)*

Erwerbstätige insges.

In % der Erwerbstätigen

41391 32020 25 944 78093 78 572 87152 91476 109 252 114489 127 789 182 772

0,0 0,1 0,3 3,6 0,9 1,1 1,4 4,9 4,8 9,5 9,4

0 0 3 100 24 32 45 193 194 432 609

+

Zahlen nach O. Wiedfeldt, Statistische Studien..., S. 258. * Zahlen nach: Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875.. ., 4. Abt., H. 3/4, S. 7.

TABELLE I ( F o r t s e t z u n g )

Entwicklung

Jahr

1801 1816 1831 1846 1849 1852 1855 1858 1861 1867 1871

ausgewählter

Zahl der Betriebe 1 Index abs. 3433 6522 5409 6485 2858 3051 3068 2666 2576 2319 2790

53 100 83 100 44 47 47 41 39 35 43

Gewerbezweige

Zahl der Erwerbstätigen abs. Index 20 584 8 225 6 648 17 148 19 392 17 633 18678 20 273 21 799 9 213 13 720

120 48 34 100 113 102 109 118 127 53 80

(Textilgewerbe)*

Erwerbstätige insges.

In % der Erwerbstätigen

41391 32020 25 944 78 093 78572 87152 91476 109 252 114 489 127 789 182772

49,7 25,9 25,6 21,9 24,8 20,2 20,4 18,9 19,0 7,2 7,5

* Zahlen nach: Bevölkemngs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875. .., 4. Abt., H. 3/4, S. 8 - 9 .

Tabellenanhang

365

TABELLE I ( F o r t s e t z u n g )

Entwicklung

ausgewählter

Jahr

Zahl der Betriebe abs. Index

1801 1816 1831 1846 1849 1852 1855 1858 1861 1867 1871

3120 10069 3 627 11884 14 301 16 626 15 280 21 285 8432 10 349 10622

26 85 31 100 120 140 129 179 71 87 89

Gewerbezweige

Zahl der Erwerbstätigen abs. 1 Index 6 274 13 576 7 530 20 918 22 208 24 957 23 905 32 242 21732° 39006 68 218

30 65 36 100 106 120 114 154 104 186 326

(Bekleidungsgewerbe)*

Erwerbstätige insges.

In % der Erwerbstätigen

41391 32 020 25 944 78 093 78 572 87 152 91476 109 252 114489 127 789 182 772

15,1 42,4 29,0 26,9 28,2 28,7 26,1 29,5 18,9 30,5 37,4

Wäscherei- und Reinigungsgewerbe ohne Zahlenangabe bis 1861. ° Zahlen ohne Fein- und Zeugstickerei. * Zahlen nach: Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875..., 4. Abt., H. 3/4, S. 11.

Tabellenanhang

366

T A B E L L E II

Betriebe in Berlin [I], der Oranienburger undRosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV], 1875

Gewerbegruppe insges. in % aller landwirtschaftlichen 3 Gewerbe- b bzw. Dienstleistungsbetriebe® I Gesamtbetriebe

Landwirtschaft (nur Gärtnerei und Fischerei)

5,5 3,1 6,3 3,0

368 44 67 65

97,9 97,8 95,7 94,2

8 1 3 4

2,1 2,2 4,3 5,8

376 45 70 69

0,4 0,3 0,3 0,6

100,0 a 100,0 a 100,0 a 100,0 a

IV

53 066 8 227 12798 7 053

93,3 96,0 91,6 96,5

3814 341 1168 257

6,7 4,0 8,4 3,5

56 880 8 568 13 966 7 310

63,9 67,3 67,9 67,5

100,0b 100,0 b 100,0 b 100,0 b

I II III rv

30691 4 071 6 405 3 392

96,7 98,8 98,1 98,2

1054 50 121 63

3,3 1,2 1,9 1,8

31745 4121 6 526 3 455

35,7 32,4 31,8 31,9

100,0 e 100,0 e 100,0 e 100,0 e

9

81,8

2

18,2

11

0,0

0,0b

3

75,0

1

25,0

4

0,0

0,0b

417 53 101 49

81,9 86,9 81,5 84,5

92 8 23 9

18,1 13,1 18,5 15,5

509 61 124 58

0,6 0,5 0,6 0,5

0,8 b 0,7 b 0,9 b 0,8 b

2 527 295 673 272

84,0 87,0 78,0 87,2

481 44 190 40

16,0 13,0 22,0 12,8

3 008 339 863 312

3,4 2,7 4,2 2,9

5,3b 4,0b 6,2b 4,3b

jjj

jj jjj jy I

Gewerbe

Dienstleistungen

Bergbau, Hütten- und Salinenwesen

Industrie der Steine und Erden

^

j ^

I II III IV I

Metallverarbeitung

+

89 001 + 12 734 20562 10 834

94,5 4876 96,9 392 93,7 1292 97,0 324

IV

II III IV

84 125 12 342 19 270 10 510

Bzw. 90 230 einschließlich Schiffe in einer Anzahl von 1229.

-

367

Tabellenanhang

T A B E L L E II

(Fortsetzung)

Betriebe in Berlin [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV], 1875

[II],

Gewerbegruppe insgesamt in % aller Gewerbebetriebe

Maschinen, Werkzeuge, Instrumente, Apparate

I II III IV

1340 155 339 136

75,2 72,4 68,1 78,6

442 59 159 37

24,8 27,6 31,9 21,4

1782 214 498 173

2,0 1,8 2,4 1,6

3,1 2,5 3,6 2,4

Chemie, einschl. Heiz- und Leuchtstoffe

I II III IV

290 30 69 31

73,8 25,0 69,0 88,6

103 10 31 4

26,2 25,0 31,0 11,4

393 40 100 35

0,4 0,4 0,5 0,4

0,7 0,5 0,7 0,5

Textilindustrie

I II III rv

2540 311 273 977

90,6 98,1 87,2 92,4

264 6 40 80

9,4 1,9 12,8 7,6

2 804 317 313 1057

3,1 2,6 1,5 9,8

4,9 3,7 2,2 14,5

I II III IV

32629 5 472 7 661 3 885

98,8 99,5 99,0 99,2

403 25 79 33

1,2

0,5 1,0 0,8

33032 5 497 7 740 3918

37,1 43,2 37,7 36,2

58,0 64,2 55,4 53,6

Papier- und Lederindustrie

I II III IV

2 091 173 623 187

87,2 93,0 84,6 96,9

306 13 113 6

12,8 7,0 15,4 3,1

2 397 186 736 193

2,7 1,5 3,6 1,8

4,1 2,2 5,3 2,6

Industrie der Holz- und Schnitz stoffe

I II III IV

4 235 355 1 189 730

85,7 82,2 80,5 98,0

704 77 288 15

14,3 17,8 19,5 2,0

4 939 432 1477 745

5,5 3,4 7,2 6,9

8,4 5,1 10,6 10,2

!

3 201 687 690 458

91,3 94,8 93,0 94,8

305 38 52 25

8,7 5,2 7,0 5,2

3 506 725 742 483

3,9 5,7 3,6 4,5

6,1 8,5 5,3 6,6

Industrie der Nahrungs- und Genußmittel

II III IV

368

Tabellenanhang T A B E L L E II

(Fortsetzung)

Betriebe in Berlin [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV], 1875

Gewerbegruppe

Betn ebe mit Beschäf tigten b is 5 üb er 5 insge:>amt in % abs. in % abs. abs. in % in % aller aller Gewerbe-3 bzw. BeDienstleistungstriebe betriebeb

IV

2 379 364 616 209

83,5 36,9 85,0 97,7

467 55 109 5

16,5 13,1 15,0 2,3

2 846 419 725 214

3,2 3,3 3,6 2,0

5,0a 5,0a 5,2 a 2,9a

Buch- und Kunstdruck

I II III IV

555 51 175 34

74,0 91,1 74,2 91,9

195 5 61 3

26,0 8,9 25,8 8,1

750 56 236 37

0,8 0,5 1,2 0,4

1,3a 0,7a 1,7a 0,5a

Künstlerische Betriebe für gewerbliche Zwecke

I II III IV

853 94,5 81 98,8 386 94,8 85 100,0

50 1 21 -

5,5 1,2 5,2 -

903 82 407 85

1,0 0,7 2,0 0,8

1,6a 1,0a 2,9a 1,1a

I Baugewerbe

jjj

I Handel

jjj IV I

Verkehr

jj^ IV

Hotelgewerbe

jj^ IV

21990 2 762 4 742 2 346

96,5 99,0 98,1 97,8

788 28 94 53

3,5 1,0 1,9 2,2

22778 2790 4 836 2 399

25,6 21,9 23,5 22,2

71,3b 67,7 b 74,l b 69,4 b

2 272 392 373 385

95,7 96,8 97,1 98,2

103 13 11 7

4,3 3,2 2,9 1,8

2 375 405 384 392

2,6 3,2 1,9 3,7

7,4b 9,8 b 5,9 b 11,4b

6429 917 1290 661

97,5 99,0 98,8 99,5

163 9 16 3

2,5 1,0 1,2 0,5

6 592 926 1306 664

7,4 7,3 6,4 6,2

20,8b 22,5b 20,0b 19,2b

QUELLE: Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875..., 4. Abt., H. 3/4, S. 85-91 (übrige Zweige [Dienstleistungen] in dieser Tabelle nicht erhoben).

369

Tabellenanhang

TABELLE III

Bevölkerungsentwicklung1

Jahr

Berlin abs.

1801 1822 1825 1828 1831 1834 1837 1840 1843 1846 1849 1852 1855 1858 1861 1864 1867 1871 1875 1880 1858 1890 1895 1900

Wachstums· index

173 440 100 119 206 309 219 968 127 136 236 494 248 196 143 264 590 153 283140 163 322 626 186 349110 201 397001 229 412154 237 421797 243 434 367 250 458 637 264 547 571 316 365 633 279 702437 405 825 937 476 966 858 557 1 122 330 2 647 1 315 287 3 758 1 5 7 8 794 910 1 677 304 3 967 1 8 8 8 848 4 1089

Weiterer Polizeibezirk abs. Wachstumsindex 9483 16105 19015 20 975 22116 22 321 25 236 27 420 29 006 33 016 36 628 42629 49 385 60 846 35 096 39494 44 489 57 838 1039493 125 814 s 1635363 268 520 435 0 6 2 3 639 882

100 170 201 221 233 235 266 289 306 348 386 450 521 642 370 416 469 610 1095 1327 1623 2832 5487 6748

Moabit abs.

Wachstumsindex

127 100 544? 335 426 562? 866? 708 558 811 639 986 776 1 204 948 1410 1791 1 729 2196 3 087 3 921 5 446 4 288 6 534 5 145 6456 8199 7 078 8 989 12 250 9 646 14 818 11668 19 361 15 245 29 6932 23 380 48 219 3 37 968 93 463 73 591 128 288 100 672 159 791 6 125 819

Rixdorf abs.

Wachstums index

714 1 318 1 856 1 935 2074 2081 2 329 2430 2598 2651 2 850 3421 3 650 4 091 4 468 5459 6 262 8125 15 323 18729s 22 775 7 35 702 7 59 945 6 904226

100 185 260 271 290 291 326 340 363 371 399 479 511 573 626 765 877 1 138 2146 2 623 3 190 5 000 8 396 12664

1 Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 in der Stadt Berlin, H. 1, Berlin 1878, S. 3 0 - 3 1 . 2 Bevölkerung^-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1880. . ., H. 1, Berlin 1883, S. 69. 3 Bevölkerung!-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1895..., T. 1, Berlin 1900, S. Χ, XIV. 4 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 26. Jg. ( 1 8 9 9 - 1 9 0 0 ) , T. 2, Berlin 1902, S. 199. 5 A. a. O., 8. Jg. (1880), Berlin 1882, S. 3. « A. a. O., 29. Jg. (1904), Berlin 1905, S. 16. 7 A. a. O., 1 6 . - 1 7 . Jg. (1889-1890), Berlin 1893, S. 32.

Tabellenanhang

370

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372

Tabellenanhang TABELLE V I

Gebürtigkeit der Bevölkerung im Jahre 1864 und 1875 in Berlin [I], der Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt [II], der Luisenstadt [III] und dem Stralauer Viertel [IV]*

Jahr

In Berlin geboren abs. I in %

Außerhalb geboren abs. I in %

Summe

1864 Π Ρ II2 IIP IV2

302 348 40099 4 823 7 368 4 662

49,6 32,5 36,5 30,7 39,5

306 265 83 289 8 389 16 634 7 184

50,4 67,5 63,5 69,3 60,5

608613 123 388 13 212 24 002 11846

18751 I II III IV

399 673 69 690 89 523 50 552

41,3 45,6 40,6 43,6

567 185 83 253 130516 65 343

58,7 54,4 59,4 56,4

966 858 152 943 220039 115 895

1

Die Angaben beziehen sich auf die Gesamtbevölkening. Die Angaben beziehen sich auf die Haushaltungsvorsteher. * Die Resultate der Berliner Volkszählung vom 1. December 1864..., Tab. 20, S. LXIV-LXV; Tab. XII, S. 40. - Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 4. Jg. (1878) (für 1875], S. 8. 2

Tabellenanhang

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