Standardisierung und Purismus bei Joachim Heinrich Campe
 9783110802672, 9783110163124

Table of contents :
Vorwort
1 Einführung
1.1 Geistesgeschichtliche Zuordnung; Campes Weltbild, Menschenbild und Sprachkonzeption
1.2 Campes Leben
1.3 Das terminologische und methodologische Instrumentarium dieser Arbeit
1.4 Die Kriterien der Analyse metasprachlicher Reflexion in dieser Arbeit
1.5 Die zentralen Thesen dieser Arbeit
2 Untersuchung
2.1 Die Spannung zwischen Gleichheit und Ungleichheit in Campes Weltbild, Menschenbild und Sprachkonzeption
2.2 Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption
2.3 Campes Standardisierungskonzeption
2.4 Campes puristische Konzeption
3 Zusammenfassung und Erweiterung
3.1 Universalität, Nationalität und Individualität; Naturgewachsenheit, Standesgebundenheit und Personenbezogenheit
3.2 Relativität
3.3 Relevanz
Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur

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Sibylle Orgeldinger Standardisierung und Purismus bei Joachim Heinrich Campe

W DE G

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Stefan Sonderegger und Oskar Reichmann

51

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

Sibylle Orgeldinger

Standardisierung und Purismus bei Joachim Heinrich Campe

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Orgeldinger, Sibylle: Standardisierung und Purismus bei Joachim Heinrich Campe / Sibylle Orgeldinger. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Studia linguistica Germanica ; 51) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-11-016312-8

© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Die Idee zu dieser Arbeit erhielt ich durch zwei kleinere Arbeiten über Adelungs Standardisierungskonzeption und über verschiedene puristische Konzeptionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Bei der Beschäftigimg mit Campes puristischer Konzeption wurde ich auch auf dessen elaborierte, bisher wenig beachtete Standardisierungskonzeption aufmerksam. Es bot sich an, Campes Sprachkonzeption insgesamt einmal eingehend zu untersuchen und mit der Konzeption Adelungs zu vergleichen, zumal da Campe selbst sich unmittelbar mit Adelung auseinandersetzt. Die Analyse zeigte, daß Standardisierung und Purismus in einem engen Zusammenhang stehen. Mein aufrichtiger Dank gilt Herrn Professor Dr. Oskar Reichmann, der diese Arbeit betreute, für sein Vertrauen, seine Unterstützung und die immer konstruktive Kritik. Bruchsal, im Oktober 1998

Sibylle Orgeldinger

Inhalt Vorwort

V

1

Einführung

1

1.1

Geistesgeschichtliche Zuordnung; Campes Weltbild, Menschenbild und Sprachkonzeption

1

1.2

Campes Leben

4

1.3

Das terminologische und methodologische Instrumentarium dieser Arbeit Wort - Ausdruck - Inhalt - Einzelinhalt - Begriff-Sache Relationen der Lexik Funktionen der Sprache Typen der Transferenz Die Transferenz im Zusammenhang der Sprachbereicherung

1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.4

Die Kriterien der Analyse in dieser Arbeit 1.4.1 Die Kriterien der Analyse 1.4.2 Die Kriterien der Analyse 1.4.3 Die Kriterien der Analyse

7 8 9 12 14 19

metasprachlicher Reflexion von Sprachkonzeptionen von Standardisierungskonzeptionen von puristischen Konzeptionen

23 23 24 25

1.5

Die zentralen Thesen dieser Arbeit

27

2

Untersuchung

31

2.1

Die Spannung zwischen Gleichheit und Ungleichheit in Campes Weltbild, Menschenbild und Sprachkonzeption 2.1.1 Die geographisch-ethnographische Dimension 2.1.2 Die sozial-kulturelle Dimension 2.1.3 Exkurs: Der Unterschied des Geschlechts 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption Sache - Begriff - Zeichen - Ausdruck - Inhalt Inhalt und Einzelinhalt Einheiten und Elemente auf der Sachebene, der Begriffsebene und der Zeichenebene mit Ausdrucksebene und Inhaltsebene

31 32 46 57 61 62 74 80

VIII 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7

Inhalt

Registration und Evaluation - Denotation und Konnotation Arbitrarität, Konventionalität und relative Motiviertheit Exkurs: absolute Motiviertheit Simplex, Kompositum und Derivativum

94 100 116 117

2.3 Campes Standardisierungskonzeption 120 2.3.1 Auffassung von Standardsprache als Einheitssprache 123 2.3.2 Die Analogie als das primäre Prinzip der Sprachrichtigkeit ahistorische und teleologische Sprachauffassung; synchronische Perspektive; die Sprache als Instrument und Medium; Ausrichtung auf die Darstellungsfunktion 131 2.3.3 Definition des Hochdeutschen als Ausgleichssprache - synchronische Sprachbetrachtung verbunden mit diachronischer Sprachbetrachtung; Beachtung aller Hierarchieebenen; Abzielung auf dialektale Homogenität der Standardsprache unter Berücksichtigung der dialektalen Heterogenität der Gesamtsprache 160 2.3.4 Differenzierung des Verhältnisses zwischen geschriebener Sprache und gesprochener Sprache sowie zwischen Schriftsprache und Umgangssprache - synchronische Perspektive; Anerkennung von situativer Heterogenität der Standardsprache und der situativen Heterogenität der Gesamtsprache; Beachtung der Symptomfunktion und der Kommunikationsfunktion 207 2.4 Campes puristische Konzeption 232 2.4.1 Theoretische Prämissen zur Sprachreinheit als Analogizität aller aus anderen Sprachen entlehnten Einheiten - synchronische Sprachbetrachtung vermischt mit diachronisch-etymologischer Sprachbetrachtung; Ausrichtung auf den Inhalt, aber Aufmerksamkeit auf den Ausdruck; Ausrichtung auf die Erkenntnisfunktion in kritischrealistischer Auffassung 237 2.4.2 Praktische Programme zur Sprachreinerhaltung, Sprachreinigung und Sprachbereicherung als Ausschließung, Austilgung und Ersetzung von zwischensprachlichen nicht oder nicht vollständig assimilierten lexikalischen Entlehnungen - Konzentration auf die Ebene der Lexik 314 2.4.3 Form zwischen Sprachpurismus und Fremdwortpurismus 365 2.4.4 Spuren in der Lexik des Deutschen 373 3

Zusammenfassung und Erweiterung

380

3.1

Universalität, Nationalität und Individualität; Naturgewachsenheit, Standesgebundenheit und Personenbezogenheit 380

3.2

Relativität

381

Inhalt 3.3

Relevanz

Literatur Primärliteratur Sekundärliteratur

IX 385 387 387 442

1 Einführung 1.1

Geistesgeschichtliche Zuordnung; Campes Weltbild, Menschenbild und Sprachkonzeption

Der Pädagoge, Theologe, Verleger, Kinder- und Jugendschriftsteller und Sprachgelehrte Joachim Heinrich Campe (1746-1818)1 ist geistesgeschichtlich der Aufklärung2 zuzuordnen. Er hat ihr Geschichtsbewußtsein und ihre Ge-

'

2

Der neueste Stand der Campe-Forschung ist repräsentiert in „Visionäre Lebensklugheit. Joachim Heinrich Campe in seiner Zeit (1746-1818). Katalog der Ausstellung des Braunschweigischen Landesmuseums und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 29. Juni bis 13. Oktober 1996" - [Schmitt, Hanno und andere 1996.]. Zur Pädagogik vergleiche zum Beispiel [Ahrbeck-Wothge 1970.]; [Basedow, Bernhard 1945.]; [Basedow, Bernhard 1974.]; [Basedow, Bernhard 1983.]; [Bendokat 1933.]; [Bendokat 1934.]; [Biermann 1970.]; [Blankertz 1963.]; [Blankertz 1965.]; [Braun, Kurt 1921.]; [Elzer 1969.]; [Fertig 1977.]; [Hartmann, Ernst 1904a.]; [Hartmann, Ernst 1904b.]; [Kersting 1992.]; [Klüpfel 1934.]; [Lötze 1890.]; [Niestroj 1985.]; [Rammelt 1929.]; [Reble 1961.]; [von Sallwürk 1903.]; [Schräder 1928.]; [Schumann 1905.]; [Stach 1980.]; [Stach 1984.]; [Ulbricht 1955b.]; [Ulbricht 1957.]; [Urban 1980.]; [Wothge 1955a.]; [Wothge 1955b.]. Zur Kinder- und Jugendliteratur vergleiche zum Beispiel [Arnold 1905.]; [Baumgartner, Alfred Clemens 1977.]; [Binder, Richartz 1981.]; [Bleckwenn 1988.]; [Brune-Heiderich 1989.]; [Dierks 1975-1981a.]; [Dierks 1975-1981b.]; [Ewers 1982a.]; [Ewers 1982b.]; [Ewers 1982c.]; [Ewers 1982d.]; [Grenz 1982a.]; [Grenz 1982b.]; [Grenz 1983.]; [Herrmann 1975.]; [Kersting 1989]; [Klattenhoff 1984.]; [Leube 1984.]; [Merkel, Dieter, Richter 1977.]; [Panzer 1982a.]; [Panzer 1982b.]; [Richter, Karl 1875.]; [Schultz 1992.]; [Shavit 1993.]; [Stach 1970.]; [Stach 1974.]; [Stach 1978.]; [Stach 1983.]. Zur Politik vergleiche zum Beispiel [Garber 1988.]; [Garber 1989.]; [Garnier 1983-1984.]; [Herrmann 1971.]; [Herrmann 1981a.]; [Jäger 1977.]; [Kientz 1939.]; [Koneffke 1969.]; [König, Helmut 1952.]; [König, Helmut 1954-1955.]; [König, Helmut 1961.]; [Schmidt, Artur 1969.]; [Schmitt, Hanno 1979a.]; [Schmitt, Hanno 1979b.]; [Schmitt, Hanno 1985.]; [Schmitt, Hanno 1989.]; [Schmitt, Hanno 1992a.]; [Sengfelder 1908.]; [Sengfelder 1909.]; [Stech 1909.]; [Stem 1915-1916.]; [Weber 1977.]. Zur Sprachwissenschaft vergleiche zum Beispiel [Daniels 1959.]; [Daniels 1979.]; [Henne 1969a.]; [Henne 1969-1970.]; [Henne 1975c.]; [Holz 1950.]; [Kirkness 1971.]; [Kirkness 1975.]; [Kirkness 1985.]; [Kluge 1908.]; [Koldewey 1887.]; [Plück 1952.]; [Schiewe 1988d.]; [Schiewe 1988e.]; [Schiewe 1989a.]; [Schiewe 1988b.]; [Zimmermann 1918.]. In dieser Auffassung sind sich die Campe-Rezipienten weitgehend einig: „Die Aufklärung und wir. Joachim Heinrich Campe zum 200. Geburtstag". [Bollnow 1947.] Titel. „Campes politische Erziehung. Eine Einführung in die Pädagogik der Aufklärung". [Fertig 1977.] Titel. „Sprachreinheit und Sprachreinigung in der Spätaufklärung. Die Fremdwortfrage von Ade-

2

Einführung

schichtsauffassung internalisiert; sein Weltbild steht in ihrer Tradition. Sein Menschenbild entspricht dem Philanthropinismus, einer vom Protestantismus geprägten aufklärerischen pädagogischen Reformbewegung. Aus dieser Position erwächst seine Sprachkonzeption. Campes Weltbild ist hierarchisch gegliedert. Obenan steht die Vernunft. Sie ist in Campes Auffassung eine in ihrer allgemeinen Ausprägung über der ahistorisch und universal gesehenen Menschheit und allen ihren historisch, geographisch, politisch, sozial, ökonomisch und kulturell bedingten Gruppen stehende absolute Instanz mit moralischer Komponente. Der Mensch ist ihr untergeordnet; zugleich verfugt er über sie je nach dem Stand seiner Erziehung und Bildung, und zwar über die allgemeine und zusätzlich über eine je nach Gruppenzugehörigkeit besondere, historisch geprägte Vernunft. Um sie in vollem Umfang einsetzen zu können, muß der Mensch erzogen werden. In der Perspektive der Aufklärung treiben Erziehung und Bildung den grundsätzlich unbegrenzt möglichen Fortschritt in der Geschichte voran und fördern das Glück des einzelnen und der Gemeinschaft als Sinnerfüllung des Daseins im Sinne des Eudämonismus. Campe ist es weniger um die Erziehung des einzelnen Menschen als vielmehr um die Erziehung der Menschheit zu tun. Dementsprechend erachtet er prinzipiell die allgemeine Vernunft als die primäre, eigentlich wichtige, die besondere, historisch geprägte Vernunft als die sekundäre, weniger wichtige. Campe fordert Erziehung und Bildung grundsätzlich für alle Schichten. Dies setzt ihm zufolge eine verständliche, das heißt für ihn analogisch gebaute Sprache voraus. Campe postuliert das Prinzip der Analogie als das primäre Prinzip der Sprachrichtigkeit auf der Basis von Einzelsprachen. Er vertritt kein Universalkonzept, wenngleich er die Existenz von Universalien annimmt und universale Gesetze der Sprache auf universale Gesetze der Erkenntnis zurückführt. Das Verhältnis zwischen verschiedenen Sprachsystemen ist für Campe wie das Verhältnis zwischen verschiedenen Erkenntnissystemen ein Problem der Kompatibilität: Wie die allgemeinen, primären und wichtigen Begriffe bei allen Menschen - ihre Zahl und Vollständigkeit ist abhängig von deren Verfügung über die Vernunft je nach Erziehung und Bildung -, so sind auch die allgemeinen, primären und wichtigen Inhalte in allen Sprachen - ihre Zahl und Vollständigkeit hängt von deren Ausbildung ab - gleich und damit gleichwertig; insoweit sind verschiedene Erkenntnissysteme und verschiedene Sprachsylung bis Campe, vor allem in der Bildungs- und Wissenschaftssprache". [Kirkness 1985.] Titel. „Das Revisionswerk Campes, ein Grundwerk der deutschen Aufklärungspädagogik". [KlUpfel 1934.] Titel. „Joachim Heinrich Campe. Ein Lebensbild aus dem Zeitalter der Aufklärung". [Leyser 1877.] Titel; [Leyser 1896.] Titel. „Joachim Heinrich Campe als Pädagog. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik im Zeitalter der Aufklärung". [Lötze 1890.] Titel. „Literarische Beziehungen zwischen der deutschen und der jtldisch-hebräischen Kinderliteratur in der Epoche der Aufklärung am Beispiel von J. H. Campe". [Shavit 1993.] Titel.

Geistesgeschichtliche Zuordnung

3

steme miteinander vereinbar. Sie sind es jedoch nicht, was die besonderen, das heißt historisch, geographisch, politisch, sozial, ökonomisch und kulturell verschiedenen, sekundären und weniger wichtigen, aber ebenfalls von Erziehung und Bildung beziehungsweise Ausbildung abhängigen Begriffe und Inhalte betrifft. Seine Konzeption der Vernunft als in zwei miteinander verbundene Schichten gegliedert, nämlich in eine allgemeine und eine besondere, historisch geprägte, hat bei Campe die Trennung von Vernunftbegriff und Sprachzeichen sowie ein bilaterales Zeichenmodell zur Konsequenz: Nach seiner Auffassung entsprechen den allgemeinen Begriffen die in allen Sprachen gleichen, den besonderen Begriffen die von Sprache zu Sprache verschiedenen Inhalte. Aus der Tatsache, daß sich grundsätzlich alle Zeichen als Einheiten von Sprache zu Sprache unterscheiden, folgt fllr Campe die Trennung von Begriff und Zeichen sowie die Bilateralität des Zeichens, seine Konstitution aus Ausdruck und Inhalt. Die Ausdrucksseiten sind von Sprache zu Sprache grundsätzlich alle verschieden. Sie müssen Campe zufolge in jeder Sprache der eigenen Struktur gemäß sein. Dies gilt auch für die Inhaltsseiten, die zum Teil - soweit sie allgemeinen Begriffen entsprechen - in allen Sprachen gleich sind. Die Analogizität eines Zeichens als Voraussetzung für seine relative Motiviertheit im eigenen Sprachsystem bedingt für Campe seine allgemeine Verständlichkeit als Voraussetzung für die Vermittlung des entsprechenden Begriffs in allen Schichten. Die Übernahme von besonderen Begriffen einer fremden Gruppe und die Entlehnung von besonderen Inhalten aus einer fremden Sprache hält Campe wie die Entlehnung von fremdsprachlichen Ausdrücken für nicht möglich, aber auch für nicht nötig. Indem er sie auch für nicht ratsam hält, schränkt er den Vorrang des Allgemeinen zugunsten der Geltung des Besonderen ein. Die Aneignung von allgemeinen Begriffen durch Erziehung und Bildung des Menschen aber erachtet er als für den geistigen Fortschritt notwendig, die Aneignung von allgemeinen Inhalten durch Ausbildung der Sprache als für die allgemeine Verbreitung von Wissen und Kenntnissen unerläßlich. Kompatibilität von Sprachen besteht nach Campe in der Möglichkeit, allgemeine, wichtige Inhalte zu entlehnen und an eigene Ausdrücke zu binden oder notfalls die mit entlehnten fremden Ausdrücke an die eigene Sprachstruktur zu assimilieren. Grundsätzlich hält er alle Sprachen für in diesem Sinne kompatibel. Auf dieser Konzeption basieren Campes Haltung zur Standardisierung und sein Purismus, das heißt sein Streben nach Sprachreinheit.

4

1.2

Einführung

Campes Leben

Joachim Heinrich Campe3 wurde am 29. Juni 1746 in Deensen bei Holzminden im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel geboren, als Sohn von Burchard Hilmar Campe (1695-1760), außerehelicher Nachkomme eines ortsansässigen Adligen4, und Anna Margaretha Campe geb. Gosler (1711-1801). Er war das fünfte von insgesamt acht Kindern. Der Vater betrieb eine Landwirtschaft, einen Handel mit Gam und Leinen sowie eine Gastwirtschaft. Campe ging zeitweilig zur Dorfschule in Deensen und wurde von Hauslehrern unterrichtet. Von 1760 bis 1765 besuchte er das Gymnasium in Holzminden. Eine anhaltende Augenentzündung infolge einer Blatternerkrankung5 erschwerte ihm das Lesen von Jugend an; dennoch lernte er mit geradezu exzessivem Fleiß und durchwachte ganze Nächte. 1765 begann Campe ein Studium der protestantischen Theologie an der Landesuniversität Helmstedt. In Helmstedt wurde er 1766 Mitglied der 1748 gegründeten HerzoglichTeutschen Gesellschaft. An der Universität war er Schüler von Wilhelm Abraham Teller. Dieser aufgeklärte Bibelexeget wurde von der Braunschweiger Orthodoxie verketzert. Campe als sein Schüler verlor das ihm von der Braunschweiger Landschaft bewilligte Stipendium. In dieser Situation wechselte er 1768 an die theologische Fakultät in Halle an der Saale. Dort Schloß er 1769 sein Studium ab. Durch Tellers Vermittlung erhielt Campe 1769 eine Stelle als Erzieher im Hause des Majors und Kammerherm Alexander Georg von Humboldt in Tegel bei Berlin. Er unterrichtete dessen Stiefsohn Heinrich von Holwede (17621817). Erst 1775 und 1776 war er dort Lehrer der Brüder Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und Alexander von Humboldt (1769-1859). Im Hause von Humboldt fand er Zugang zur Berliner Aufklärung. Von 1773 bis 1775 war Campe Feldprediger beim Regiment des späteren (ab 1786) preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. (1744-1797) in Potsdam. Er erhielt den Auftrag, einen Erziehungsplan für des Kronprinzen Sohn auszuarbeiten. 1773 heiratete Campe in Berlin Anna Dorothea Maria Hiller (1741-1827). Sie wurde schon von Zeitgenossen literarisch porträtiert.6 Als einziges Kind ging die Tochter Sophie Elisabeth Lucie Charlotte Campe verh. Vieweg (1774-1834) - die „Lotte" vieler Campescher Kinder- und Jugendschriften - aus der Ehe hervor. 3

4 3

6

Zur Biographie vergleiche zum Beispiel [Ammon 1925a.]; [Ammon 1925b.]; [Baur, Gustav 1875-1912.]; [Bergfeld 1965.]; [Cassau 1889.]; [Dobnig-JUlch 1992-.]; [Düsel 1918.]; [Hagen 1985.]; [Hallier 1862.]; [Hausmann 1953-.]; [Jakob 1989.]; [Koldewey 1896-1897.]; [Leyser 1877.]; [Leyser 1896.]; [Rauls 1967.]; [Rauls 1971.]; [Rauls 1972.]; [Rauls 1974.]. Vergleiche [Rauls 1971.]; [Rauls 1972.]; [Rauls 1974.]. Vergleiche die autobiographische Schrift „Geschichte meiner Augenkrankheit" - [Campe 1778e.]. Vergleiche „Frau Edukationsräthin Campen" - [Geisler 1784.].

Campes Leben

5

In seiner Potsdamer Zeit beteiligte sich Campe an einem von der KöniglichPreußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin ausgeschriebenen Wettbewerb über die Empfindungs- und Erkenntniskraft der menschlichen Seele. In seiner mit einem Preis ausgezeichneten Schrift7 argumentierte er dezidiert von der Position der Aufklärung aus und in Opposition gegen den Sturm und Drang. 1776 wurde Campe Wahlprediger an der Potsdamer Heiligengeistkirche. 1776 noch ließ Campe, da er sich weniger zum Prediger als vielmehr zum Pädagogen prädestiniert fand, sich als Fürstlich-Anhalt-Dessauischer Edukationsrat nach Dessau an das 1774 von Johannes Bernhard Basedow (1724-1790) errichtete, nur bis 1793 bestehende Philanthropin berufen. Er wurde Kurator dieser Mustererziehungsanstalt der Philanthropinisten; als Basedow zurücktrat, übernahm er die Direktion. Unter den Lehrern waren einige Anhänger des Geniekults, deren pädagogische Methoden für den Rationalisten Campe untragbar waren. Durch ihre Freizügigkeit sah er die Sittlichkeit der Heranwachsenden gefährdet. Die Konflikte eskalierten so sehr, daß Campe das Institut schon 1777 wieder verließ, wobei er eine überstürzte Flucht vortäuschte. Campe zog nach Hamburg; ab 1778 hatte er in seinem Haus eine eigene kleine Erziehungsanstalt, familienähnlich geführt mit seiner Frau und zwei Lehrern. 1783 vertraute er dieses Erziehungsunternehmen seiner angegriffenen Gesundheit wegen Ernst Christian Trapp (1745-1818) an. Campe übersiedelte nach Trittau; dort führte er ein kleineres Institut. In dieser Zeit begann Campe als Verfasser und Herausgeber von pädagogischen Werken8 sowie von Kinderund Jugendschriften9 hervorzutreten. Damit schuf er auch die Grundlage für 7

11

'

„Die Empfindungs- und Erkenntnißkraft der menschlichen Seele die erstere nach ihren Gesetzen, beyde nach ihren ursprünglichen Bestimmungen, nach ihrem gegenseitigen Einflüsse auf einander und nach ihren Beziehungen auf Charakter und Genie betrachtet von J. H. Campe Feldprediger bey dem Regiment Sr. Königl. Hoheit des Prinzen von Preußen" - [Campe 1776a.]. Vor allem „Pädagogische Unterhandlungen, Philanthropisches Journal und Philanthropisches Lesebuch" - [Campe, Johannes Bernhard Basedow, Wolke 1777.]; „Sammlung einiger Erziehungsschriften" - [Campe 1778b.]; „Ueber Empfindsamkeit und Empfindelei in pädagogischer Hinsicht" - [Campe 1779a.]; „Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher" - [Campe 1785-1792.]; Aufsätze im „Braunschweigischen Journal, philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts" [Campe, Trapp, Stuve, Heusinger 1788-1793.]. Vor allem „Sittenbtlchlein fllr Kinder aus gesitteten Ständen" - [Campe 1777a.]; „Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder" - [Campe 1779-1780.]; „Kleine Selenlehre für Kinder" - [Campe 1780a.]; „Die Entdekkung von Amerika, ein angenehmes und nützliches Lesebuch für Kinder und junge Leute" - [Campe 1781-1782.]; „Theophron, oder der erfahrne Rathgeber fllr die unerfahrne Jugend; ein Vermächtniß für seine gewesenen Pflegsöhne und für alle erwachsene junge Leute, welche Gebrauch davon machen wollen" - [Campe 1783a.]; „Väterlicher Rath für meine Tochter Ein Gegenstück zum Theophron Der erwachsenem weiblichen Jugend gewidmet" - [Campe 1789b.]; „Sittenbüchlein für

6

Einführung

seinen späteren Wohlstand. Auf Reisen durch Deutschland und in die Schweiz erfuhr er beispielhaft, welch großes Ansehen er inzwischen auch außerhalb der aufgeklärten Intelligenz erlangt hatte. 1786 erteilte Herzog Carl Wilhelm Ferdinand von BraunschweigWolfenbüttel (1735-1806) Campe, Trapp und Johann Stuve (1752-1793) den Auftrag, das Schulwesen des Herzogtums, das heißt Lehrerausbildung und Lehrpläne, umfassend zu reformieren. Campe zog als HochfürstlichBraunschweig-Lüneburgischer Schulrat ins Salzdahlumer Schloß bei Wolfenbüttel. Das von aufklärerischen Ideen getragene Reformunternehmen scheiterte am Widerstand der Landstände und der orthodoxen Geistlichkeit. 1790 wurde das Schuldirektorium aufgelöst. Campe wurde 1787 Kanonikus und 1805 Dechant des Cyriakus-Stiftes in Braunschweig. 1809 erhielt der Theologe von der Universität Helmstedt die Ehrendoktorwürde verliehen. Schon 1786 wurde Campe Besitzer der im Rahmen des Schulreformunternehmens gegründeten Wolfenbütteischen Schulbuchhandlung. Ab 1787 führte er sie zusammen mit der Buchdruckerei und der Buchhandlung des Fürstlichen Waisenhauses in Braunschweig, die er günstig erworben hatte, als Braunschweigische Schulbuchhandlung weiter. Mit großem Erfolg verlegte er auch seine eigenen Schriften. Die Rechte an früher erschienenen Werken hatte er zurückgekauft. Geschickt verband Campe pädagogische Projekte mit ökonomischen Interessen. Durch seine Aktivitäten wurde BraunschweigWolfenbüttel zum publizistischen Zentrum des späten Philanthropinismus. 1808 übergab Campe den Verlag an seinen Schwiegersohn Friedrich Vieweg (1761-1835). Am 16. Juli 1789, zwei Tage nach dem Sturm auf die Bastille, reiste Campe mit seinem ehemaligen Schüler Wilhelm von Humboldt nach Paris und wurde Augenzeuge der ersten Phase der Französischen Revolution. Seine Begeisterung über den Sieg der Vernunft wurde später durch sein Entsetzen über das grausame Ausarten der Revolution relativiert.10 - 1790 begann Campe, bereits 44 Jahre alt, sich schriftstellerisch11 mit der Sprache und ihrer Ausbildung zu beschäftigen. 1794 fand er sich durch den Sieg in einem von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin ausgeschriebenen Wettbewerb über die Reinheit der deutschen Sprache in seinen Bestre-

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11

Kinder" - [Campe 1800.]. „Campe gelingt das Meisterstück, die Revolution in ihrem Verlauf von der Menschenrechtsund Verfassungsrevolution zur Volksrevolution als ,Barbarei' zu charakterisieren, zugleich der Revolution aber eine Entfesselung der wissenschaftlichen und ökonomischen Produktivität zuzuschreiben." [Garber 1988.] Seite 441. Die Aufführung von Campes sprachwissenschaftlichen Werken und die Erläuterung von Entstehung, Anlage und Inhalt behalte ich mir für die Analyse seiner Sprachkonzeption, Standardisierungskonzeption und puristischen Konzeption vor.

Terminologisches und methodologisches Instrumentarium

7

bungen bestätigt. Diese beanspruchten fortan einen großen Teil seiner Zeit und Arbeitskraft. Campe verbrachte seinen Lebensabend auf einem 1797 erworbenen Landsitz vor Braunschweig. Er starb am 22. Oktober 1818. Die letzten Jahre hatte er in geistig und seelisch verdüstertem Zustand dahingebracht. Auf eigenen Wunsch wurde er in seinem Garten beigesetzt.

1.3

Das terminologische und methodologische Instrumentarium dieser Arbeit

Diese Arbeit ist eine Untersuchung auf der zweiten - und dritten - Metaebene. Ich untersuche die auf der ersten - und zweiten - Metaebene liegenden Überlegungen Joachim Heinrich Campes zur Objektebene - und ersten Metaebene der deutschen Sprache zu seiner Zeit, das heißt um 1800. Campes Wortwahl gebe ich per Zitat wieder; in Paraphrase und Kommentar aber verwende ich linguistische Termini, da diese im Unterschied zu Campes Wortwahl ein einheitliches und aus heutiger Sicht allgemein verfugbares und nachvollziehbares Raster für die Dokumentation seiner Sprachkonzeption bieten, und bediene ich mich linguistischer Methoden, um Aspekte der Kritik herauszuarbeiten. Zur Analyse von Campes Sprachkonzeption, insbesondere seines Zeichenmodells, aus linguistischer Perspektive ist meines Erachtens die strukturalistische Terminologie12 - in einer von mir leicht modifizierten Version - am besten geeignet, da der Strukturalismus in geistesgeschichtlicher Fortsetzung der Aufklärung und des Rationalismus steht. Er faßt die Sprache als ein in sich zusammenhängendes System von Zeichen auf und sucht ihre Struktur lückenlos zu erfassen und zu beschreiben. Um der Knappheit und Lesbarkeit meiner Darstellung willen definiere ich die einzelnen Termini meist in ontologisierender Formulierung, etwa „ist" statt „wird gedacht als". Der Gefahr der Ontologisierung, ja Hypostasierung der im Strukturalismus durch mehrfache Abstrahierung aus empirischem Material erhaltenen virtuellen Konstrukte bin ich mir durchaus bewußt; auf eine eingehende Problematisierung aber verzichte ich hier. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß Campe selbst, der seine Sprachkonzeption nie als reine Theorie dargelegt, sondern stets in die Praxis umgesetzt hat, im Rahmen seines eigenen Verfahrens einer solchen Gefahr nicht erliegt.

Ich beschränke mich auf die im thematischen Zusammenhang relevanten Termini. Meine Definitionen stützen sich im wesentlichen auf [Reichmann 1976.]. Die Problematisierung der einzelnen Phänomene und der auf diesen basierenden Argumente sowie die Anführung von Beispielen behalte ich mir illr die Analyse von Campes Sprachkonzeption vor.

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Einführung

1.3.1 Wort - Ausdruck - Inhalt - Einzelinhalt - Begriff - Sache Da Campes Sprachkonzeption und insbesondere seine puristische Konzeption sich weitgehend auf die Lexik konzentrieren, verwende und erkläre ich das strukturalistische Modell des Sprachzeichens13 auf dieser Ebene, fllr die es übrigens am konsequentesten konzipiert ist. Demnach konstituiert sich das Wort14 bilateral aus Ausdruck (Ausdrucksseite, Signifikant) und Inhalt (Inhaltsseite, Signifikat, Bedeutung). Die Verbindung von Ausdruck und Inhalt ist arbiträr, das heißt willkürlich, und zugleich konventionell: Sie ist aus der sprachvergleichenden Perspektive des Linguisten von Sprache zu Sprache verschieden; sie hat sich historisch entwickelt und ist aus der Perspektive des Sprechers für alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft sozial verbindlich. Die Prinzipien der Arbitrarität und Konventionalität des Sprachzeichens werden durch das Phänomen der Motiviertheit nicht aufgehoben, sondern lediglich eingeschränkt. Absolute Motiviertheit15 basiert auf Naturähnlichkeit, relative Meinen Definitionen liegt, falls nicht anders angegeben, die Langue zugrunde. - Bei der Analyse von Campes Sprachkonzeption differenziere ich in Paraphrase und Kommentar nur insoweit zwischen Langage, Langue und Parole sowie Kompetenz und Performanz, als Differenzierungen aus Campes Äußerungen hervorgehen. Campe differenziert sehr wenig. Dies ist allerdings weder fllr seine Argumentation noch fllr meine Dokumentation und Kritik von großem Belang, unter anderem deshalb, weil er, wie ich zeigen werde, die Individualität ohnehin übergeht. Auf Anführung und Prüfung der gängigen Definitionskriterien sowie auf Erörterung der einschlägigen Definitionsversuche des Wortes verzichte ich hier. In Abweichung von Definitionsvorschlägen anderer Forscher beziehe ich neben den Simplizia auch die Komposita und Derivative ein, und zwar unabhängig von ihrer Lexikalisierung/Idiomatisierung, da diese in vielfacher Abstufung begegnet, eine klare Abgrenzung daher kaum möglich ist. Überdies rechtfertigt, ja erfordert die Abstellung der Definition auf Campes Sprachkonzeption, sein Sprachbereicherungsprogramm und seine lexikographische Tätigkeit, wie ich zeigen werde, eine solche Erweiterung. Des weiteren definiere ich das Wort als signifikative - damit auch sprachlich kognitive, symptomatische und kommunikative - Einheit, als syntagmatisch isolierte Substitutionseinheit, und scheide die Autosemantika (die meisten Substantive, Adjektive, Adverbien und Verben) als die eigentlichen Wörter mit semantischem Eigenwert von den Synsemantika (Präpositionen, Konjunktionen sowie deiktische Einheiten), die lediglich einen von der ranghöheren Einheit her delegierten, meist nur reflexiv metasprachlichen semantischen Wert besitzen. Darüber hinaus definiere ich Wortverbindung als nichtidiomatisches Syntagma aus mehreren Einzelwörtern, Wendung als festes, idiomatisches Syntagma auf der Ebene der Phrastik. Dazu gehören in engerem Sinn die Onomatopoiie als (lautliche) Nachahmung einer (akustischen) Eigenschaft der Sache, auf die sich das Sprachzeichen bezieht (Tierlaute), allerdings in gewissem Maß abstrahierend und daher auch von Sprache zu Sprache variierend (auch bei Tierlauten), in weiterem Sinn auch die Lautsymbolik als hypothetischer überindividueller Zusammenhang zwischen Sprachlauten und SinneseindrUcken (Laute mit niedrigen Frequenzen für große, Laute mit hohen Frequenzen für kleine Gegenstände), in allgemeinem Sinn auch der Ikonismus als Übereinstimmung von Eigenschaften des Sprachzeichens mit Eigenschaften der Sache, auf die es sich bezieht (größere Komplexität von Pluralformen im Ver-

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Motiviertheit bei Komposita und Derivativa basiert auf synchronischer Zuordenbarkeit. Der Ausdruck des Wortes ist aus Graphemen - in der geschriebenen Sprache - beziehungsweise Phonemen - in der gesprochenen Sprache - zusammengesetzt, aus kleinsten inhaltsunterscheidenden (bedeutungsunterscheidenden) Einheiten, die ihrerseits durch ein geschlossenes Inventar distinktiver Merkmale zu beschreiben sind. Der Inhalt eines Wortes umfaßt ein oder mehrere Einzelinhalte (Einzelbedeutungen). Diese wiederum bestehen aus je mindestens einem Inhaltsmerkmal (Bedeutungsmerkmal). Inhalte und Einzelinhalte sind sprachliche Einheiten. Jeder Inhalt, jeder Einzelinhalt ist sprachspezifisch und enthält nur sprachspezifische Inhaltsmerkmale, wie sie etwa in einem Wörterbuch angegeben sind. Der Begriff, auf den er sich bezieht, kann hingegen als außersprachliche Einheit über ihn hinausgehen und zusätzlich zu denjenigen Begriffsmerkmalen, die den Inhaltsmerkmalen entsprechen, weitere Begriffsmerkmale enthalten, wie etwa aus einer Enzyklopädie hervorgeht. Von dem Begriff getrennt ist die Sache, auf die er sich bezieht. Sie ist ebenfalls eine außersprachliche Einheit und besitzt ihrerseits ein oder mehrere Sachmerkmale. Bei den Inhaltsmerkmalen differenziere ich zwischen denotativen Inhaltsmerkmalen als darstellungsfunktional - folglich auch erkenntnisfunktional - feststellende Bedeutungsmerkmale und konnotativen Inhaltsmerkmalen als darstellungsfunktional - folglich auch erkenntnisfunktional - wertende, affektive, sowie symptomfunktionale und kommunikationsfunktionale einschließlich stilistischer Bedeutungsmerkmale. Allerdings sind denotative und konnotative Inhaltsmerkmale oft nur schwer auseinanderzuhalten; dies gilt insbesondere für Abstrakta. Bei den Begriffsmerkmalen unterscheide ich zwischen registratorischen Begriffsmerkmalen und evaluativen Begriffsmerkmalen. Sie klar auseinanderzuhalten erweist sich ebenfalls oft als schwierig.

1.3.2 Relationen der Lexik Die Relationen innerhalb der Lexik bestimmen sich über die Dichotomien paradigmatisch - syntagmatisch und Ausdruck - Inhalt. Die paradigmatischassoziativen Relationen sind in Ausdrucksrelationen und Inhaltsrelationen zu gliedern. Aus Verfahrensgründen berücksichtige ich bei der am Strukturalismus orientierten Definition nur die darstellungsfunktionalen - folglich auch erkenntnisfunktionalen - Inhaltsmerkmale. gleich zu Singularformen).

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Ausdrucksparadigmatische Relationen beruhen auf der etymologischen Verwandtschaft der Wörter einer Wortfamilie (Wortsippe). Eine solche umfaßt sämtliche als etymologisch miteinander verwandt nachweisbare Wörter oder - in auf die metasprachliche Kompetenz des Sprechers begrenztem Sinn lediglich die aufgrund ihrer Bildung mit bestimmten Wortbildungsmitteln und nach bestimmten Wortbildungsmustern noch synchronisch zuordenbaren, daher relativ motivierten Wörter. Deren Konsoziiertheit und damit Durchsichtigkeit ermöglicht es grundsätzlich, vom Ausdruck auf den Inhalt zu schließen. Jedes Ausdrucksparadigma legt die Assoziation der ausdrucksseitigen Ähnlichkeit der Wörter mit inhaltsseitiger Ähnlichkeit, ihrer morphemischen Zusammengehörigkeit mit semantischer Zusammengehörigkeit nahe.16 Inhaltsparadigmatische Relationen sind zu gliedern in signifikatsinterne Relationen, das heißt Relationen innerhalb des Inhalts eines Wortes zwischen Einzelinhalten, und Interwortrelationen, das heißt Relationen zwischen mehreren Wörtern, die mit je einem Einzelinhalt angehörig sind. Demgemäß ist bei den Inhaltsparadigmen zu unterscheiden zwischen semasiologischen Paradigmen, die vom sprachlichen Zeichen, das heißt vom Wort, und onomasiologischen Paradigmen, die vom außersprachlichen Begriffsmerkmal ausgehend zu fassen sind. Ein semasiologisches Paradigma umfaßt den gesamten Inhalt eines Wortes mit sämtlichen Einzelinhalten. Ist nur ein Einzelinhalt vorhanden, liegt Monosemie vor. Zwischen mehreren Einzelinhalten besteht Polysemie, wenn sie mindestens ein gemeinsames Inhaltsmerkmal - Semasem - aufweisen, Homonymie, wenn sie kein Inhaltsmerkmal gemein haben, Multisemie - als Verbindung von Homonymie und Polysemie -, wenn zwischen mindestens zwei Einzelinhalten Polysemie und zwischen mindestens einem von ihnen und mindestens einem weiteren Einzelinhalt Homonymie gegeben ist.17 Bei Poly-

Auf ausdrucksparadigmatische Relationen beziehungsweise auf von Ausdrucksparadigmen her gefaßte Inhaltsparadigmen beziehen sich die folgenden Termini: Wortnische: Derivationstyp im Rahmen einer einzelnen Wortart, primär grammatisch orientiert, aber semantisch spezifiziert; durch ein Präfix oder Suffix konstituierte Inhaltsgruppe. Wortstand: Gesamtheit der in die gleiche inhaltliche Richtung weisenden Wortnischen; Gruppe relativ motivierter Bildungen mit grammatisch unterschiedlicher Ausstattung, die semantisch zusammengehören. Ich zähle die Homonymie mithin zu den signifikatsinternen inhaltsparadigmatischen Relationen. Manche andere Forscher definieren sie als Relation zwischen mehreren Wörtern gleichen Ausdrucks, aber verschiedenen Inhalts. Auch die diachronische Perspektive wirkt in die verschiedenen Definitionen der Homonymie hinein, da diese entweder durch Bedeutungswandel innerhalb des Signifikats eines Wortes, nämlich durch Wegfall des Semasems aus Polysemie, oder durch Ausdruckszusammenfall mehrerer etymologisch nicht verwandter Wörter entsteht. Unabhängig davon sind in vielen Wörterbüchern homonyme Wörter durch Setzung mehrerer Lemmata kategorisiert.

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semie trägt das Semasem von einem Einzelinhalt aus zur Erschließung weiterer Einzelinhalte im semasiologischen Paradigma bei. Ein onomasiologisches Paradigma umfaßt Wörter, die ihm mit je einem Einzelinhalt angehören. Sämtliche Einzelinhalte haben ein bestimmtes, einem bestimmten Begriffsmerkmal entsprechendes Inhaltsmerkmal - Noem - gemein. Zwischen Wörtern, das heißt Einzelinhalten, eines onomasiologischen Paradigmas besteht Synonymie, wenn die Einzelinhalte gleich sind, das heißt, wenn sie ihre sämtlichen Inhaltsmerkmale gemein haben, partielle Synonymie (Homoionymie), wenn sie nur manche ihrer Inhaltsmerkmale gemein haben. Da sie alle mindestens ein gemeinsames Inhaltsmerkmal haben - das Noem -, ist zwischen sämtlichen Wörtern/Einzelinhalten eines onomasiologischen Paradigmas zumindest partielle Synonymie gegeben. Kohyponymie liegt vor, wenn Wörter/Einzelinhalte je zusätzliche, nicht gemeinsame Inhaltsmerkmale aufweisen (Gleichordnung), Hyperonymie (Supernymie), wenn die Inhaltsmerkmale eines Wortes/Einzelinhalts eine Teilmenge der Inhaltsmerkmale eines anderen darstellen (Überordnung), Hyponymie, wenn das Verhältnis umgekehrt ist (Unterordnung). Die Einzelinhalte bestimmen sich auch nach ihrer Stellung im onomasiologischen Paradigma und in Opposition zu anderen paradigmainternen Einzelinhalten. Eine semantische Lücke existiert da, wo es einen aufgrund der vorhandenen Inhaltsmerkmale möglichen Einzelinhalt nicht gibt, und zwar als Generalisierungslücke, wenn ein das Noem als einziges Inhaltsmerkmal enthaltender Einzelinhalt fehlt, als Spezialisierungslücke18, wenn ein das Noem und bestimmte weitere Inhaltsmerkmale umfassender Einzelinhalt nicht vorhanden ist.19 Die syntagmatisch-linearen Relationen sind Relationen auf der Inhaltsebene mit Entsprechungen auf der Ausdrucksebene - wobei allerdings keine Isomorphic im Verhältnis eins zu eins besteht. In einem Syntagma oder einem Text ist jedes Wort monosemiert, das heißt, sein Inhalt ist auf einen Einzelinhalt reduziert, bedingt durch den sprachlichen und den situativen Kontext. Für den sprachlichen Kontext gilt: Jeder Einzelinhalt ist aufgrund seiner Struktur nur an bestimmte andere Einzelinhalte anzuschließen; umgekehrt läßt sich über " 19

Ich bezeichne diese bewußt nicht als Spezifizierungslücke, sondern als Spezialisierungslücke, um die Opposition zur Generalisierungslücke zu verdeutlichen. Das von Jost Trier auf der Basis des sprachphilosophischen Idealismus definierte Wortfeld unterscheidet sich vom onomasiologischen Paradigma, insofern als es planvoll geordnet ist, die von ihm umfaßten Wörter/Einzelinhalte scharf aneinandergrenzen und die Einzelinhalte sich ausschließlich wechselseitig bestimmen. Vergleiche [Trier 1931a.]; [Trier 1931b.]; [Trier 1934.]; [Trier 1968.]; [Trier 1973.]. Meines Erachtens ist das Konzept des onomasiologischen Paradigmas den faktischen semantischen Gegebenheiten eher angemessen: Es gibt sowohl Lücken als auch Überschneidungen, und die Konstituierung von Einzelinhalten erfolgt nicht nur in Opposition zu anderen Einzelinhalten. Vergleiche [Kandier 1959.].

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die semantische Kompatibilität grundsätzlich die Struktur von Einzelbedeutungen erschließen. Gemäß den ihm eigenen Möglichkeiten zu syntagmatischer und textlicher Kombination ist jeder Worteinzelinhalt am Aufbau von Satzinhalten beteiligt. Über einen Text verteilte, untereinander in paradigmatischer Relation stehende Wiederholungen von Einzelinhalten oder Inhaltsmerkmalen sichern als textliche Isotopien die Konsistenz und Kohärenz des Textes; sie konstituieren einen Inhaltsbereich, eine Isotopieebene. Je komplexer die Semantik eines Textes ist, desto mehr Isotopieebenen enthält er. Auch über textliche Isotopien lassen sich grundsätzlich Strukturen von Einzelinhalten eruieren.

1.3.3 Funktionen der Sprache Die wichtigsten der Sprache im Lauf der Geschichte der metasprachlichen Reflexion zugeschriebenen Funktionen sind die Darstellungsfunktion, die Erkenntnisfunktion, die Symptomfunktion und die Kommunikationsfunktion. Die Erkenntnisfunktion folgt unabhängig von ihrer Auffassung logisch aus der Darstellungsfunktion; ich trenne die beiden aus terminologischen und methodologischen Gründen. Aus den gleichen Gründen trenne ich die Symptomfunktion von der Kommunikationsfunktion, von der sie ein Teil ist. In der konkreten Äußerung wirken mehrere Funktionen zusammen, was nicht ausschließt, daß jeweils eine Funktion vorherrscht. Die einzelnen Funktionen werden in verschiedenen Epochen und von verschiedenen Wissenschaftsrichtungen unterschiedlich aufgefaßt und gewichtet. Die Affinität des Strukturalismus zur Aufklärung und zum Rationalismus zeigt sich in dieser Hinsicht durch eine weitgehende Konzentration auf die Darstellungsfunktion und eine Tendenz zur realistischen Auffassung der Erkenntnisfunktion. Darstellungsfunktion und Erkenntnisfunktion in realistischer Auffassung stehen auch im Zentrum von Campes Sprachkonzeption. Dies ist die geistesgeschichtliche Folie der folgenden Definitionen. Basis und Orientierungszentrum ist die objektiv, vorkognitiv und vorsprachlich existente Welt mit Sachen, Sachmerkmalen, Sachgebieten und Sachverhalten. Sie ist Ausgangspunkt aus der - mithin der onomasiologischen Perspektive partiell affinen - Perspektive des Schreibers/Sprechers und Zielpunkt aus der - mithin der semasiologischen Perspektive partiell affinen - Perspektive des Lesers/Hörers. Bau und Gliederung der Sachebene sind natur- und gesellschaftsbedingt; die Begriffsebene und die Sprachzeicheninhaltsebene haben ihr zu entsprechen. Begriffe sind grundsätzlich vorsprachlich, aber nicht völlig sprachunabhängig: Sie sind vor allem durch Denk- und Abstraktionsvermögen, durch Sacherklärungen im Rahmen von Erziehung und Bildung, daneben aber auch durch Erschließung von Inhalten zu erlangen. Unter diesen

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Voraussetzungen kann Erkenntnis grundsätzlich von allen Menschen in gleicher Weise vollzogen werden und ist insofern sicher. In diesem Zusammenhang ist Darstellung die Fassung von Sachen in Begriffen und die Fassung mit der Vermittlung, das heißt mit dem VerfÜgbarmachen, von Begriffen in Inhalten. Aus der Darstellung folgt die Erkenntnis. Der sprachphilosophische Realismus in naiver Version, für den Verständnis lediglich Erfassung ist, faßt sie auf als Abbildung der Sachen in den Begriffen und der Begriffe in den Inhalten. Somit erachtet er die Sprache als im kognitiven Prozeß unwichtig. Der kritische Realismus, für den Verständnis Erfassung und Auffassung ist, räumt für beide Schritte nicht nur die Übernahme von natur- und gesellschaftsbedingter Struktur, sondern auch die gesellschaftlich bedingte Setzung von Struktur als Selektierung, Generalisierung, Spezialisierung und Klassifizierung ein. Überdies nimmt er eine quasi dialektische Rückwirkung von den konventionalisierten Inhalten auf die Begriffe und von den Begriffen auf die Sachen an. Die grundsätzliche Abbildlichkeit der Begriffe und der Inhalte stellt er nicht in Frage. Immerhin mißt der kritische Realismus der Sprache eine gewisse Wichtigkeit im Kognitionsprozeß zu.20 Die Symptomfunktion der Sprache besteht in der Spiegelung der - der Sachebene entsprechenden - Begriffsebene auf der Inhaltsebene durch die mit dieser verbundenen Ausdrucksebene, und zwar vom Sprecher für den Hörer. Jeder Schreiber/Sprecher unterscheidet sich sprachlich als einzelner und als Angehöriger einer Gruppe von anderen und wird vom Leser/Hörer durch seine Sprache in bezug auf individuelle und soziale Eigenschaften eingeschätzt. Dabei dienen die gruppenspezifisch konventionalisierten Symptomwerte der Sprache sowohl der Identifizierung und der Solidarisierung des einzelnen mit der Gruppe als auch deren Abgrenzung von anderen Gruppen. Diese Funktion 20

Die Auseinandersetzung um Existenz und Relevanz von Apriorismen, das heißt von vornherein gegebenen Schemata, im kognitiven Prozeß hat in der Philosophie eine jahrtausendelange Geschichte. In der Sprachphilosophie vertritt der Idealismus eine der Blickrichtung des Realismus, der die Sachen zugrunde legt, entgegengesetzte Blickrichtung und legt die Inhalte zugrunde. Die Sprache im Verhältnis zur Erkenntnis ist für den Realismus aposteriorisch, das heißt im nachhinein entstanden, für den Idealismus apriorisch, das heißt von vornherein gegeben. Der Idealismus, fUr den Verständnis allein Auffassung ist, faßt Erkenntnis auf in dem Sinn, daß die Inhalte die Begriffe und die Begriffe die Sachen prägen, ihnen Struktur erst verleihen. Die Inhalte konstituieren die Begriffe, diese wiederum werden auf die Sachen der als völlig ungeordnet vorausgesetzten Welt projiziert. Somit erachtet der Idealismus die Sprache als fUr den Kognitionsprozeß wesentlich. Der einzelsprachlich orientierte Idealismus nimmt an, daß die Inhalte einer Sprache insgesamt ein einzelsprachliches Weltbild ergeben. Die inhaltliche Verschiedenheit von Sprachsystemen bedingt die Verschiedenheit von Erkenntnissystemen. Erkenntnis ist durchweg einzelsprachabhängig und wird in der Sprachgemeinschaft von Generation zu Generation weitergegeben. Der universalistisch-anthropologisch orientierte Idealismus hingegen nimmt ein in der biologisch bedingten apperzeptiven Konstitution des Menschen begründetes Inventar von semantischen Universalien an, das a priori, das heißt von vornherein gegeben, am Anfang jeder Erkenntnis steht.

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ist ein Teil der Kommunikationsfunktion der Sprache, aufgefaßt als Mitteilung von Begriffen durch Zeichen zur Verständigung. Kommunikation ist als Transport der fertigen Begriffe durch Zeichen vom Schreiber/Sprecher zum Leser/Hörer nur eine logische Konsequenz von Kognition. Die Kommunikationsfunktion ist mithin der Darstellungsfunktion und der Erkenntnisfunktion nachgeordnet. Somit betrifft die Verständlichkeit von Zeichen die Vermittlung von Begriffen bei der Darstellung sowie den Beitrag zum Verständnis, zur Erfassung von Begriffen durch die quasi dialektische Rückwirkung bei der Erkenntnis in kritisch realistischer Auffassung, nicht aber die - von der Vermittlung unterschiedene - Mitteilung von Begriffen zur Verständigung zwischen Schreiber/Sprecher und Leser/Hörer bei der Kommunikation. Der Blick ist vertikal, nicht horizontal, das heißt auf ein Objekt gerichtet, nicht auf einen Partner.

1.3.4 Typen der Transferenz Kontakt zwischen Sprachen ermöglicht Interferenz, das heißt Einflußnahme von Sprachen aufeinander.21 Dabei ist die Transferenz (Entlehnung) als Vorgang und Ergebnis der Übernahme von Einheiten aus einem Sprachsystem in ein anderes Sprachsystem zu scheiden vom Transfer als Übertragung von Eigenschaften von der Kompetenz eines Sprechers in einer Sprache auf seine Kompetenz in einer anderen Sprache.22 Im thematischen Zusammenhang dieser Arbeit ist vornehmlich die Transferenz relevant. Sie wird von sprachlichen und außersprachlichen Faktoren bestimmt; neben der Struktur der beteiligten Sprachen, vor allem dem Grad ihrer strukturalen Ähnlichkeit, wirken sich die historischen, geographischen, politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Umstände des außersprachlichen und sprachlichen Kontakts der Sprachgemeinschaften auf Vorgang und Ergebnis der Entlehnung aus. Dabei ergibt sich kaum je eine Mischung, an der die beteiligten Sprachen alle gleichen Anteil haben; vielmehr bewahrt fast immer eine Sprache, die Nehmersprache, ihre Grundstruktur, während sie in begrenztem - allerdings manchmal erheblichem - Umfang Einheiten aus einer anderen Sprache, der Gebersprache, übernimmt. Formulierungen wie diese dienen nicht etwa der Hypostasierung der Sprache von meiner Seite, sondern der Kürze der Darstellung. Diese meine Definitionen stützen sich auf [Bußmann 1990.]. Die terminologische Situation auf diesem Gebiet ist insgesamt etwas unklar: Manche Forscher beziehen die Definitionen zum Teil auf eine einzige Sprache; manche beziehen die Kriterien der Regel- und Normverletzung sowie der Störung von Lernvorgängen mit ein. So wird neben der von mir definierten intersprachlichen Interferenz auch eine intrasprachliche Interferenz im Sinne falscher Analogieschlüsse definiert.

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Die von mir ausgearbeitete Lehnguttypologie baut auf der strukturalistischen Terminologie auf; die Bestimmung einzelner Lehnguttypen stützt sich auf die nach wie vor maßgebende einschlägige Forschung von Werner Betz23. Die Termini bezeichnen je Vorgang und Ergebnis der Entlehnung. Die wichtigsten Kriterien der Definition sind meines Erachtens die betroffenen Hierarchieebenen, die Dichotomie Ausdruck - Inhalt, der Grad der Assimilation/Integration, der Status der beteiligten Systeme und - besonders in Hinsicht auf die puristische Sprachbereicherung zur Ersetzung - die Direktheit oder Indirektheit. Transferenz ist grundsätzlich auf sämtlichen Hierarchieebenen der Sprache möglich: auf den Rängen der Graphemik, der Phonemik und der Morphemik Flexion und Wortbildung -, in den Bereichen der Lexik, der Phrastik und der Syntax.24 Allerdings sind die verhältnismäßig kleinen, überschaubaren geschlossenen Inventare etwa der Grapheme, der Phoneme und der Flexionsmorpheme sowie der Pronomen, Präpositionen und Konjunktionen gegen anderssprachliche Einflüsse weniger anfällig als die großen, unüberschaubaren offenen Listen besonders der Substantive, Adjektive und Verben. Dazwischen stehen die Wortbildungsmorpheme. Entlehnungen in geschlossene Inventare setzen einen viel stärkeren Einfluß der Gebersprache voraus und sind von weit größerer Tragweite für die Struktur der Nehmersprache. Transferenzen auf niedrigen Ebenen sind oft die Folge von Entlehnungen in großer Zahl auf höheren Rängen, beispielsweise die Übernahme eines Phonems nach der Übernahme einer Vielzahl von Wörtern, die dieses Phonem enthalten. In der Lexik vollziehen sich der Sprachwandel und die ihn mit bedingende Transferenz am schnellsten und am deutlichsten. In diesem Bereich ist das Lehngut am gründlichsten erforscht. Auch Campe konzentriert seine Sprachkonzeption und insbesondere seine puristische Konzeption weitgehend auf den Wortschatz. Ich beschränke mich daher im wesentlichen auf eine Typologie der die Lexik betreffenden Entlehnungen. Die Dichotomie Ausdruck - Inhalt betrifft Transferenzen auf denjenigen Hierarchieebenen, deren Einheiten sprachliche Zeichen sind, also von der Morphemik aufwärts. Für die Lexik gilt: Die Entlehnung von Ausdruck und Inhalt - oder Einzelinhalt - eines Wortes aus einer anderen Sprache in die eigene heißt lexikalische Entlehnung25, die Übernahme des Inhalts - oder eines 23 24

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Vergleiche [Betz 1936-.]; [Betz 1944.]; [Betz 1951.]; [Betz 1965.]; [Betz 1974-1978.]. Darüber hinaus ist auch Transferenz von suprasegmentalen Merkmalen wie Akzent, Tonhöhenverlauf, Pausengliederung und sonstigen Prosodemen sowie Transferenz von stilistischen Merkmalen und von pragmatischen Merkmalen und Transferenz von einzelsprachspezifischen parasprachlichen Merkmalen möglich. Sondertypen sind die Scheinentlehnung als Bildung eines Wortes, das es in der anderen Sprache nicht gibt, aus Wortbildungsmitteln oder Wortbildungsmitteln und Wortbildungsmustern, die aus der anderen Sprache entlehnt sind, sowie die Halbentlehnung als lexikalische

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Einzelinhalts - allein semantische Entlehnung (Lehnprägung). Die Lehnprägung schließt die Bindung des übernommenen Inhalts - oder Einzelinhalts - an einen eigensprachlichen Ausdruck ein. Dabei wird entweder ein Wort aus eigensprachlichen Wortbildungsmitteln gebildet - Lehnbildung - oder auf ein in der eigenen Sprache mit anderem Inhalt bereits vorhandenes Wort zurückgegriffen - Lehnbedeutung26. Werden bei der Lehnbildung - oder bei der Neubildung - neben Wortbildungsmitteln eigensprachlicher Herkunft solche anderssprachlicher Herkunft verwendet, entsteht eine hybride Bildung. Abgesehen davon sind je nach Wortbildungsmuster verschiedene Typen der Lehnbildung zu unterscheiden: Die Lehnformung hängt in bezug auf die angewandten Wortbildungsmuster - ob eigensprachlich, ob anderssprachlich, ob eigensprachlich und anderssprachlich nebeneinander - mehr oder minder von dem anderssprachlichen Wort ab, dessen Inhalt - oder Einzelinhalt - übernommen wird, wobei sich die Lehnübersetzung genau, die von dieser oft nicht klar abzugrenzende Lehnübertragung nur ungefähr an das anderssprachliche Wort hält. Die Lehnschöpfung hängt in bezug auf die angewandten Wortbildungsmuster nicht vom anderssprachlichen Wort ab, erfolgt mithin immer ganz nach eigensprachlichen Wortbildungsmustern. Eine Lehnbildung - oder eine Neubildung - ist ein Kompositum oder Derivativum; zur Lehnbedeutung oder zur Neubedeutung - eignet sich auch ein Simplex. Der grammatischen Differenziertheit gleicht die semantische: Lehnbildungen beziehen sich eher auf spezielle, Lehnbedeutungen auch auf generelle, grundlegende Begriffe. Bei der Lehnbedeutung liegt es nahe, auf ein Wort zurückzugreifen, das mit dem betreffenden anderssprachlichen Wort bereits einen oder mehrere Einzelinhalte gemein hat - analoge Lehnbedeutung - oder zumindest ein oder mehrere Inhaltsmerkmale - substituierende Lehnbedeutung. Übernommene Einzelinhalte können nach einiger Zeit wieder verschwinden, sie können überlieferte Einzelinhalte verdrängen oder neben diesen erhalten bleiben. Überlieferte und übernommene Einzelinhalte können sich durch die Übertragung von Inhaltsmerkmalen, insbesondere von Konnotationen, beeinflussen.27 Im übrigen un-

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Entlehnung mit Ersetzung des an den Ausdruck gebundenen Inhalts - oder Einzelinhalts durch einen anderen. Besonders die Scheinentlehnung ist sehr beliebt in der Werbung und in den Massenmedien. Selten kommt es vor, daß eine eigensprachliche Wortverbindung den Inhalt oder einen Einzelinhalt einer anderssprachlichen Wortverbindung übernimmt. Eine solche Lehnbedeutung wird als Lehngruppe bezeichnet. Für die Phrastik und die Syntax gilt analog: In der Phrastik ist zwischen der phraseologischen Entlehnung (Lehnwendung [von manchen anderen Forschern als Ubergeordneter Terminus für sämtliche Lehnguttypen in der Phrastik definiert]) als ausdrucksseitige und inhaltsseitige Übernahme und der semantischen Entlehnung (Lehnprägung) als inhaltsseitige Übernahme zu unterscheiden. Als Lehnbildung ist hier per se nur Lehnformung - Lehnübersetzung und Lehnübertragung - möglich, nicht aber Lehnschöpfung. Lehnbedeutung ist sehr selten.

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terliegen Transferenzen jedes Typs von der Übernahme an dem Sprachwandel überhaupt, somit auch dem semantischen Wandel, in der Nehmersprache. Der Grad der Assimilation/Integration wird in der metasprachlichen Reflexion traditionell gemäß einer besonderen Aufmerksamkeit auf den Ausdruck vornehmlich bei der Differenzierung der lexikalischen Entlehnungen berücksichtigt. Es wird - abgestellt auf zwischensprachliche Transferenzen - unterschieden zwischen dem Zitatwort als keineswegs assimiliertes/integriertes Wort, dessen anderssprachliche Herkunft bei der nur okkasionellen Verwendung in bestimmten Kontexten offenkundig ist, sowie dem Fremdwort 28 und dem Lehnwort je nach Grad der Assimilation/Integration. Bei den semantischen Entlehnungen (Lehnprägungen) vollzieht sich die Integration ähnlich wie bei den Neuprägungen. Sie - besonders die Lehnbildung, und hier insbesondere die Lehnformung - setzen als Vorgang zwar eine gewisse Zweisprachigkeit voraus, werden - besonders die Lehnbedeutung - als Ergebnis aber in den meisten Fällen nicht als fremd, sondern allenfalls als neu empfunden. Unabhängig davon ist ihre Tragweite für die Semantik der eigenen Sprache, zumal da sie bisweilen in großer Zahl erfolgen. Für die Assimilation an die Struktur der eigenen Sprache gelten ausschließlich grammatische Kriterien, sie betreffen Graphemik, Phonemik und Morphemik - Flexion und Wortbildung. Für die Integration in das System der eigenen Sprache sind zusätzlich weitere grammatische Kriterien, Lexik, Phrastik und Syntax betreffend, sowie semantische, stilistische und pragmatische Kriterien, überdies sprachpsychologische und sprachsoziologische Kriterien wichtig; hierzu gehören auch die Verbreitung - beschränkt auf ihrerseits entlehnte Einheiten auf höheren Rängen oder unbeschränkt - und die Verwendung - okkasionell oder usuell. Das Alter der Entlehnung ist nicht proportional zum Grad ihrer Assimilation/Integration. Fremdwort und Lehnwort sind schwer voneinander abzugrenzen, weil bei einzelnen Entlehnungen je verschiedene Kriterien je unterschiedlich erfüllt sind; die Abgrenzung schwankt, weil verschiedene Richtungen der metasprachlichen Reflexion die Kriterien unterschiedlich auffassen und gewich-

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In der Syntax gibt es per se nur die semantische Entlehnung (Lehnprägung), und zwar ebenfalls Lehnbildung nur als Lehnformung, Lehnbedeutung nur sehr selten. Was die Lehnformung betrifft, findet sich Lehnübersetzung vor allem in übersetzter Literatur. Ihre Wirkung ist schwer einzuschätzen; offenbar können die meisten dieser Konstruktionen sich auf Dauer nicht durchsetzen. Hierzu gehören auch der Exotismus als Fremdwort für eine Sache, die nur in dem betreffenden fremdsprachigen Weltteil existiert, der Internationalismus als Fremdwort aus etymologisch lokalisierbarem Material, aber von internationalem Charakter, dessen Inhalt an einen gleichen oder ahnlichen Ausdruck gebunden in vielen anderen Sprachen wiederkehrt, und der faux ami als Fremdwort, dessen ausdrucksseitige Gleichheit oder Ähnlichkeit mit Wörtern in anderen Sprachen über inhaltsseitige Verschiedenheit hinwegtauscht.

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ten. Traditionell werden die Kriterien der Assimilation ausschließlich oder vorrangig beachtet. Den die Assimilation betreffenden Übergang vom Fremdwort zum Lehnwort bezeichne ich als Einlehnung oder - für zwischensprachliche Transferenzen in das Deutsche - als Eindeutschung. Werden lexikalische Entlehnungen unter Mißachtung grammatischer und semantischer Gesetze ausdrucksseitig umgestaltet und inhaltsseitig umgedeutet, um sie mit geläufigen Wörtern zu konsoziieren, liegt Volksetymologie vor. Solche Remotivierung zeigt, wie groß das Bedürfnis nach Assimilation/Integration in der Sprachgemeinschaft ist. Transferenz ist sowohl zwischen Systemen, die den Status einer Gesamtsprache haben, als auch zwischen einzelnen Subsprachen (Varietäten) einer - als heterogen aufzufassenden - Gesamtsprache möglich. Die folgenden Definitionen beziehen sich ausschließlich auf Gesamtsprachen versus dialektale Varietäten (Dialekte)29 sämtlicher Dimensionen, das heißt diachronische (historische), diatopische (geographische) und diastratische (soziale, professionelle, kulturelle) dialektale Varietäten; die Einbeziehung von situativen Varietäten (Registern, Stilen) sowie idiolektalen Varietäten (Idiolekten) erachte ich aus Verfahrensgründen als nicht sinnvoll. Innersprachliche Transferenz ist Entlehnung innerhalb einer Gesamtsprache aus einer dialektalen Varietät in eine andere, insbesondere aus einem historischen, geographischen oder sozialen, professionellen, kulturellen Dialekt in die Standardsprache30. Zwischensprachliche Transferenz ist Entlehnung aus einer Gesamtsprache in eine andere, wobei meist je die Standardsprache - mit dieser wird die Gesamtsprache in der populären metasprachlichen Reflexion auch häufig identifiziert - als Gebersprache beziehungsweise Nehmersprache fungiert. Für die innersprachliche und die zwischensprachliche Transferenz gilt die Opposition eigensprachlich - anderssprachlich, für die zwischensprachliche Transferenz gilt auch die Opposition eigensprachlich fremdsprachlich. Die Direktheit oder Indirektheit von semantischen Entlehnungen (Lehnprägungen) ist in der Forschung bisher vernachlässigt worden. Ich halte dieses Kriterium aber nicht nur bei der Untersuchung von Transferenzen, sondern auch bei der Analyse puristischer Konzeptionen für besonders wichtig. Es beruht auf der Dichotomie Ausdruck - Inhalt, auf dem Unterschied zwischen 29

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Ich definiere dialektale Varietät und Dialekt als Ubergeordnete Termini, historisch, geographisch und sozial, professionell, kulturell neutral sowie völlig wertfrei. Zu den dialektalen Varietäten (Dialekten) im weitesten Sinn zähle ich somit auch die Standardsprache sowie die Umgangssprachen als Ausgleichssprachen zwischen der Standardsprache und geographischen und/oder sozialen Dialekten. Ich definiere Standardsprache als in bezug auf sozial-kulturelle Erstreckung beziehungsweise Beschränkung sowie stilistische Geltung neutralen Terminus, dem die Termini Einheitssprache und Hochsprache untergeordnet sind.

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ausdrucke- und inhaltsseitiger und inhaltsseitiger Transferenz, das heißt zwischen lexikalischer und semantischer Entlehnung. Bei der Lehnprägung - ob Lehnbildung oder Lehnbedeutung - kann der Inhalt - oder Einzelinhalt - nicht nur, wie bisher dargelegt, direkt aus einer anderen Sprache, das heißt von einem anderssprachlichen Wort, übernommen werden, sondern auch indirekt von einer in der eigenen Sprache bereits vorhandenen lexikalischen Entlehnung.31

1.3.5 Die Transferenz im Zusammenhang der Sprachbereicherung Ich halte es fur sinnvoll, die Transferenz in den weiteren Zusammenhang der Sprachbereicherung einzuordnen. Sprachbereicherung definiere ich unabhängig von einer etwa zugrunde liegenden Sprachkonzeption als Hinzufugung von Einheiten zum eigenen Sprachsystem. Sie besteht für die Lexik in der Prägung, das heißt in der Neuprägung und der Lehnprägung, und der Transferenz, das heißt in der lexikalischen Entlehnung und der semantischen Entlehnung. Die semantische Entlehnung (Lehnprägung), die unter beide Typen fällt, behandle ich im folgenden wie bisher als Transferenz. Sprachbereicherung erfolgt zum Zweck der Ergänzung oder zum Zweck der Ersetzung vorhandener Einheiten. Für die Lexik gilt: Die Ergänzung besteht in der Neuprägung und der Transferenz; die Ersetzung, die von auszuschließenden oder auszutilgenden Wörtern ausgeht und von diesen den Inhalt - oder einen Einzelinhalt - zu beschaffen beziehungsweise zu erhalten oder dafür einen gleichen oder ähnlichen zu beschaffen sucht, besteht lediglich in der Transferenz. Bei der Neuprägung ist zwischen der Neubildung als aus vorhandenen Wortbildungsmitteln gebildetes, ausdrucke- und inhaltsseitig neues Wort und der Neubedeutung als Bindung eines oder mehrerer neuer Einzelinhalte an ein bereits vorhandenes Wort zu unterscheiden. Die Sprachbereicherung zum Zweck der Ergänzung bedient sich prinzipiell nicht nur der Neuprägung jedes Typs, sondern auch der Transferenz jedes Typs. Die Sprachbereicherung zum Zweck der Ersetzung, die als eigentlich puristisch einzustufen ist und auch als schöpferischer Purismus bezeichnet wird, beschränkt sich je nach Konzeption auf bestimmte Typen der Transferenz. Potentiell bedient sie sich bei der lexikalischen Entlehnung des Lehnworts, der innersprachlichen Transferenz und der zwischensprachlichen Transferenz aus als mit der eigenen Sprache nahe verwandt betrachteten fremden Sprachen sowie der semantischen Entlehnung. Als Quellen dienen ihr deutschsprachige Schriften diverser Epochen. Um der Einfachheit willen gebe ich im folgenden die Direktheit oder Indirektheit nur bei indirekten semantischen Entlehnungen immer gesondert an; Ohne diesbezügliche Angabe meine ich entweder je beide Typen oder den je direkten Typ.

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Der schöpferische Purismus schließt die Neuprägung nicht ein und lehnt diejenigen Typen der Transferenz ab, die er - wie potentiell die Neuprägung - auszuschließen oder auszutilgen sucht, potentiell bei der lexikalischen Entlehnung das Zitatwort und das Fremdwort, die innersprachliche Transferenz und die zwischensprachliche Transferenz im allgemeinen, aus allen als mit der eigenen Sprache nicht oder nur entfernt verwandt betrachteten fremden Sprachen im besonderen. Die Ersetzung zwischensprachlicher Transferenzen heißt für das Deutsche Verdeutschung. Diese geht allerdings insofern über die Sprachbereicherung hinaus, als sie auch das Zurückgreifen - und Hinweisen - auf vorhandene, semantisch mit den zwischensprachlichen Transferenzen übereinstimmende Wörter umfaßt. In der folgenden Übersicht haben die punktiert unterstrichenen Typen lediglich theoretische Relevanz.

Sprachbereicherung auf der Ebene der Lexik Prägung

Neuprägung Lehnprägung (semantische Entlehnung)

Transferenz

lexikalische Entlehnung

4-t

semantische Entlehnung (Lehnprägung)

Ergänzung Neuprägung

Neubildung Neubedeutung

Transferenz lexikalische Entlehnung

innersprachlich

diachronisch

Zitatwort

diatopisch

Fremdwort

diastratisch

Lehnwort

zwischensprachlich

Zitatwort Fremdwort Lehnwort

semantische Entlehnung

innersprachlich

(Lehnprägung)

diachronisch

direkt

Lehnbildung

diatopisch

indirekt

Lehnbedeutung

diastratisch zwischensprachlich

direkt

Lehnbildung

indirekt

Lehnbedeutung

21

Terminologisches und methodologisches Instrumentarium

Ersetzung - eigentlich puristisch, schöpferischer Purismus auch (von zwischensprachlicher Transferenz im Deutschen:) durch Verdeutschung Transferenz lexikalische Entlehnung

semantische Entlehnung (Lehnprägung)

innersprachlich

zwischensprachlich iruiersprachlich

diachronisch diatopisch diastratisch nahe verwandt diachronisch diatopisch diastratisch

zwischensprachlich

direkt indirekt

Lehnwort Lehnwort Lehnbildung Lehnbedeutung

direkt indirekt

Lehnbildung Lehnbedeutung

Quellen: deutschsprachige Schriften diverser Epochen

Transferenz auf der Ebene der Lexik innersprachlich - diachronisch, diatopisch, diastratisch zwischensprachlich; (semantische Entlehnung (Lehnprägung):) direkt, indirekt lexikalische Entlehnung

Zitatwort Fremdwort

Assimilation: Grammatik: Graphemik, Phonemik, Morphemik - Flexion, Wortbildung Exotismus Integration: Assimilation + Grammatik: Internationalismus Lexik, Phrastik, Syntax; faux ami Semantik; Stil; Pragmatik; Sprachpsychologie; Sprachsoziologie Lehnwort mit Verbreitung, Verwendung Einlehnung = Assimilation Eindeutschung = Assimilation zwischensprachlicher Transferenz ins Deutsche Lehnformung Lehnübersetzung Kompositum semantische Entlehnung Lehnbildung Lehnübertragung oder (Lehnprägung) Lehnschöpfung Derivativum hybride Bildung

Wortbildungsmittel eigensprachlicher und anderssprachlicher Herkunft

Lehnbedeutung

Lehngruppe

analog substituierend

jedes Wortbildungsmuster Wortverbindung

22

Einführung

Wichtig für die Dokumentation und Kritik von Sprachkonzeptionen im allgemeinen und puristischen Konzeptionen im besonderen sind explizite grammatische und semantische Differenzierungen zwischen Neuprägung und Lehnprägung einesteils und zwischen direkter und indirekter Lehnprägung andernteils. Eine Neuprägung erfolgt aus innerem Antrieb zur Versprachlichung eines meist für die Sprachgemeinschaft neuen und/oder bisher in ihrer Sprache nicht versprachlichten Begriffs in einem Wort ausdrucke- und inhaltsseitig eigensprachlicher Herkunft. Eine Lehnprägung erfolgt durch Anstoß von außen zur Versprachlichung eines meist von einer anderen Sprachgemeinschaft übernommenen und/oder bisher in der eigenen Sprache nicht - oder nur in einer lexikalischen Entlehnung - versprachlichten Begriffs in einem in manchem Fall - bei der Lehnformung - ausdrucke- und inhaltsseitig von einem anderssprachlichen Vorbild abhängigen, in jedem Fall aber inhaltsseitig zumindest zum Teil einem anderssprachlichen Vorbild verpflichteten Wort. Die indirekte semantische Entlehnung verhält sich in dieser Weise mittelbar zu einem anderssprachlichen Wort, unmittelbar zu einer lexikalischen Entlehnung in der eigenen Sprache. Die Unterschiede zwischen Neuprägung und Lehnprägung haben Konsequenzen für ihre Integration in das Sprachsystem. Vertreter der Sprachbereicherung bezeichnen oft auch Lehnprägungen als Neuprägungen. Dies gilt auch für Campe, obwohl er seine Vorschläge gerade weniger zur Ergänzung, mehr zur Ersetzung vorhandener Einheiten macht. Campes Bezeichnung vieler Lehnprägungen als Neuprägungen gibt Hinweise auf seine Auffassung von Sprachreinheit und seine Einschätzung der Durchsetzung seiner Vorschläge. Grammatische und semantische Unterschiede zwischen direkter und indirekter semantischer Entlehnung sind vor allem durch die Verschiedenheit der Vorbilder bedingt. Eine lexikalische Entlehnung unterliegt in der Nehmersprache von der Übernahme an dem Wandel im allgemeinen und der Assimilation/Integration im besonderen. Sie ist daher ausdrucke- und inhaltsseitig prinzipiell nicht identisch mit dem betreffenden Wort in der Gebersprache. Eine nach einer lexikalischen Entlehnung in der eigenen Sprache geprägte, indirekte semantische Entlehnung ist demnach potentiell anders beschaffen als eine nach dem betreffenden Wort in einer anderen Sprache geprägte, direkte semantische Entlehnung. Im Unterschied zur direkten semantischen Entlehnung, die - wie die Neuprägung und die lexikalische Entlehnung - meist eine Lücke in einem onomasiologischen Paradigma füllen soll, konkurriert die indirekte semantische Entlehnung mit ihrem Vorbild, das heißt mit der lexikalischen Entlehnung, die sie von ihrem Platz verdrängen soll. Dabei hat diese ihr einen mehr oder minder festen Halt im Paradigma voraus. Überdies wirkt sich die semantische Dek-

Kriterien der Analyse metasprachlicher Reflexion

23

kung mit oder Abweichung von der lexikalischen Entlehnung auf die Integration der indirekten semantischen Entlehnung in das Sprachsystem aus.

1.4

Die Kriterien der Analyse metasprachlicher Reflexion in dieser Arbeit

Die historische Dokumentation von Sprachkonzeptionen im allgemeinen, Standardisierungskonzeptionen und puristischen Konzeptionen im besonderen, bedarf meines Erachtens eines konsistenten Kriterienkatalogs, auf den sich auch eine Kritik der Sprachkritik gründen läßt. Der von mir erarbeitete Katalog32 soll nicht zum Schematismus führen , sondern eine Objektivation ermöglichen.

1.4.1 Die Kriterien der Analyse von Sprachkonzeptionen Sprachkonzeptionen sind stets historisch geprägt. Jede Epoche hat ihr Profil. Zum Teil korrelieren die Kriterien der Analyse miteinander. Es handelt sich dabei um Tendenzen; Typisierungen sind nicht angebracht. Ich untersuche Sprachkonzeptionen auf ahistorische oder historische sowie dysteleologische oder teleologische Sprachauffassung. Davon trenne ich das Kriterium der diachronischen oder etymologischen - auf die Entwicklung beziehungsweise die Herkunft gerichteten - oder synchronischen - auf den Zustand gerichteten - Sprachbetrachtung. Wesentlich für jede Sprachkonzeption ist auf der Basis des vertretenen Zeichenmodells die Ausrichtung auf Ausdruck oder Inhalt des Zeichens. Weiterhin beschäftige ich mich mit der Beachtung und Einbeziehung von oder Beschränkung auf bestimmte Hierarchieebenen. Wichtig sind auch die Berücksichtigung oder Anerkennung von sowie die Abzielung auf Homogenität oder Heterogenität der Sprache als Einheitlichkeit oder Uneinheitlichkeit, das heißt Zusammengesetztheit aus verschiedenen dialektalen oder situativen Varietäten. Von der Auffassung und Gewichtung der einzelnen Sprachfunktionen in der Sprachkonzeption hängt die Beachtung der oder Ausrichtung auf die Darstellungsfunktion, Erkenntnisfunktion, Symptomfunktion oder Kommunikationsfunktion der Sprache ab. Schließlich befasse ich mich mit der Einstellung zur Sprache: Handelt die Sprachkonzeption von der Sprache als Instrument oder als Hypostase, als Utensil oder als Idol, als Medium oder als Fetisch?

Ich führe die einzelnen Kriterien im folgenden kurz ein. Ihre geistesgeschichtliche Einordnung und ihre Erörterung behalte ich mir filr die Analyse von Campes Sprachkonzeption vor.

24

Einführung

1.4.2 Die Kriterien der Analyse von Standardisierungskonzeptionen Jeder Standardisierungskonzeption liegt eine bestimmte Auffassung von Standardsprache zugrunde: Standardsprache als Einheitssprache oder als Hochsprache. Von der Standardsprache als zeitgenössische überregionale institutionell getragene Verkehrssprache, ob bereits bestehend oder noch zu verwirklichen, wird je eine bestimmte sozial-kulturelle Erstreckung und damit verbunden eine bestimmte stilistische Geltung angenommen oder gefordert. An der Einheitssprache haben prinzipiell alle Sozialschichten, Bildungs- und Berufsgruppen teil, sie wird durch die staatlichen, gesellschaftlichen und kirchlichen Institutionen, Bildungseinrichtungen und Medien allgemein verbreitet und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens verwendet. Die Beherrschung der Einheitssprache ist Voraussetzung für den Zugang zu den einschlägigen Institutionen und Bereichen; umgekehrt ist sie über diese allgemein zugänglich. Die Einheitssprache hat tendenziell egalitären Charakter. Die Hochsprache ist den höheren Schichten, Gebildeten und Gelehrten vorbehalten, sie wird vornehmlich in wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen gepflegt und in wissenschaftlicher und belletristischer Literatur sowie im gehobenen gesellschaftlichen Kontakt verwendet. Die Beherrschimg der Hochsprache ist Voraussetzung für den Zugang zu den einschlägigen Kreisen; zugleich ist sie ημτ innerhalb dieser zugänglich. Die Hochsprache hat tendenziell elitären Charakter.33 Für die Standardsprache als kodifizierte Varietät ist die Sprachrichtigkeit von explizitem Belang. Für deren Gesetze lassen sich verschiedene Prinzipien postulieren und hierarchisieren: die Analogie, der Gebrauch, die fernere - auf die Abstammung bezogene - und die nähere - auf die Wortbildung bezogene Etymologie, die - vornehmlich auf den Klang bezogene - Ästhetik. Als das primäre Prinzip wird meist entweder die Analogie oder der Gebrauch postuliert. Ihre Stellung bestimmt sich über die Beziehung zwischen Regel und Norm. Ich definiere Regel als sprachintern, Norm als sprachextern. In einer Reihe vergleichbarer Fälle herrscht eine Analogie als Regel, potentiell stehen weitere als Ausnahmen daneben. Ist die Analogie das primäre Prinzip der Sprachrichtigkeit, bestimmt die Regel die Norm; diese ist eine präskriptive, explizit festgesetzte Norm. Ist der Gebrauch das primäre Prinzip, bestimmt die Norm über die Regel und die ebenfalls gültigen Ausnahmen; die Norm ist eine deskriptive, implizit eingehaltene Norm. Mit dem primären Prinzip der Sprachrichtigkeit hängt die Definition des Hochdeutschen34 zusammen. Die Analogie als das primäre Prinzip legt eine Den Realitätsbezug dieser und der folgenden Konzepte sowie Momente der Standardisierung des Deutschen behandle ich bei der Analyse von Campes Standardisierungskonzeption. Ich definiere das Hochdeutsche als in bezug auf sozial-kulturelle Erstreckung beziehungs-

Kriterien der Analyse metasprachlicher Reflexion

25

Ausgleichssprache zwischen dialektalen Varietäten der Gesamtsprache nahe, der Gebrauch als das primäre Prinzip lenkt auf eine Vorbildsprache hin, das heißt auf einen einzelnen Dialekt, der aus bestimmten Gründen allen übrigen überlegen ist. Eine Standardisierungskonzeption kennzeichnet sich auch durch ihre Anschauung vom Verhältnis zwischen geschriebener Sprache und gesprochener Sprache sowie zwischen Schriftsprache und Umgangssprache als - fast immer - gesprochene Sprache des alltäglichen Umgangs35 unter folgenden Aspekten: Differenzierung zwischen geschriebener Sprache und Schriftsprache sowie zwischen gesprochener Sprache und Umgangssprache, konzedierte Divergenzen, Priorität in diachronischer Perspektive, Primat in synchronischer Perspektive, Ausrichtung der Standardisierungskonzeption und eventuell der korrespondierenden puristischen Konzeption auf geschriebene Sprache und Schriftsprache oder gesprochene Sprache und Umgangssprache.

1.4.3 Die Kriterien der Analyse von puristischen Konzeptionen Ich definiere Purismus als Streben nach Sprachreinheit in bezug auf sämtliche einschlägige Kriterien neutral und bis auf weiteres völlig wertfrei.36 Puristische Konzeptionen untersuche ich auf in der Theorie vertretene Prämissen zur Sprachreinheit und für die Praxis vorgeschlagene Programme zur Sprachreinerhaltung, Sprachreinigung und Sprachbereicherung, auf Motive, Methoden und Resultate.

39

36

weise Beschränkung sowie stilistische Geltung neutralen Terminus, das heißt als die deutsche Standardsprache. Davon zu unterscheiden ist das Hochdeutsche als sprachgeographischer Terminus, der das Mitteldeutsche und das Oberdeutsche zusammenfaßt und vom Niederdeutschen abgrenzt. Ich definiere mithin zwei Termini: Umgangssprache als dialektale Varietät und - in diesem Zusammenhang - Umgangssprache als situative Varietät. Purismus: lat. purus ,rein'; wohl unter dem Einfluß von frz. purisme: dt. Purismus. In der Gemeinsprache ist das Wort mit negativen Wertungen behaftet; es vermittelt die Vorstellung von etwas Übertriebenem, Fanatischem. Der Purismus ist kein spezifisch deutsches Phänomen. Er tritt zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Ländern, fllr verschiedene Sprachen, in unterschiedlichen Formen auf. Im englischsprachigen Raum ist purism als Streben nach Sprachreinheit im Sinne eines Bemühens um grammatische Korrektheit definiert; es basiert auf der Auffassung von Sprachreinheit als Sprachrichtigkeit. Die Wörter purity und correctness sind in bezug auf die Sprache austauschbar. Übrigens ist Purismus auch ein kunsthistorischer Terminus: In der Denkmalpflege des 19. Jahrhunderts führte das Streben nach Stilreinheit zur Entfernung von im nachhinein hinzugefügten und daher stilistisch abweichenden Elementen an vielen Bauwerken. Vergleiche [Duden. Deutsches Universalwörterbuch 1989.] Seite 1197; [Duden. Fremdwörterbuch 1974.] Seite 604; [Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 1995.] Seite 1061; [Kirkness 1975.] Teilband 1. Seite 12-14; [Kluge 1989.] Seite 571.

26

Einführung

Der deutsche Purismus richtet sich durchweg gegen Transferenzen in die eigene Sprache, zum Teil allerdings nicht ausschließlich, sondern im Rahmen eines Bemühens um grammatische Korrektheit. Den verschiedenen puristischen Konzeptionen liegen unterschiedliche Auffassungen von Sprachreinheit zugrunde; diese reichen von der Gleichsetzung von Sprachreinheit mit Sprachrichtigkeit bis zur Auffassung von Sprachreinheit als Freiheit von ganz bestimmten Transferenzen. Welche Einflüsse im einzelnen als der Sprachreinheit abträglich erachtet werden, hängt somit teils von der Anschauung von der Sprachrichtigkeit und ihren Gesetzen - hier besteht ein Zusammenhang zwischen manchen puristischen Konzeptionen und Standardisierungskonzeptionen -, teils von der Einstellung zu dialektalen Varietäten der eigenen Gesamtsprache und zu anderen Gesamtsprachen ab. Demgemäß besteht die Sprachreinerhaltung in der Ausschließung oder bedingten Zulassung, die Sprachreinigung in der Austilgung oder bedingten Beibehaltung der abgelehnten Einheiten, großenteils Transferenzen. Bedingung für die Zulassung beziehungsweise Beibehaltung sind je nach Konzeption bestimmte Kriterien der Assimilation/Integration. Die Sprachbereicherung dient dann zur Ersetzung der auszuschließenden beziehungsweise auszutilgenden Einheiten.37 Die meisten puristischen Konzeptionen beschäftigen sich weniger mit der Sprachreinerhaltung, mehr mit der Sprachreinigung, demgemäß bei der Sprachbereicherung weniger mit der Ersetzung auszuschließender, mehr mit der Ersetzung auszutilgender Einheiten. Die Motive puristischer Konzeptionen sind sprachimmanent oder sprachtranszendent, das heißt, Sprachreinheit wird um der Sprache selbst willen oder mit einem außerhalb der Sprache liegenden Ziel erstrebt. Bei den Methoden kommt es auf das Verhältnis und die Verbindung der in der Theorie vertretenen Prämissen und der fur die Praxis vorgeschlagenen Programme sowie auf die Umsetzung der Programme an. Die potentiellen Resultate bestehen in der Wirkung auf die zeitgenössische und die nachfolgende metasprachliche Reflexion sowie in den Auswirkungen auf die Sprache selbst. Anhand von fünf miteinander korrelierenden Kriterien ordne ich puristische Konzeptionen den Formen Sprachpurismus und Fremdwortpurismus zu, wobei ich Zwischenformen nicht ausschließe. Sprachpurismus und Fremdwortpurismus unterscheiden sich erstens in den Hierarchieebenen, die sie einbeziehen, zweitens in der Sprache, die sie zu ihrem Objekt machen und zu schützen suchen, drittens in den Störungen, die sie abzuwehren suchen, viertens in ihrer Auffassung von Sprachreinheit und fünftens in ihrer Motivation. Dieses letzte Kriterium halte ich für sehr wichtig.38 37

38

Selbstverständlich sind die vorgestellten Maßnahmen Versuche, die dargestellten Ergebnisse erklärte Ziele; die Frage des Erfolgs oder Mißerfolgs lasse ich an dieser Stelle außer acht. Die Termini Sprachpurismus und Fremdwortpurismus definiert Alan Kirkness als erster, aber nicht für Formen des Purismus, sondern für Stadien seiner Geschichte, und ohne die analyti-

Zentrale Thesen

27

Der Sprachpurismus bezieht alle Hierarchieebenen ein, der Fremdwortpurismus beschränkt sich auf eine Hierarchieebene, nämlich auf die Lexik; hier liegt eine Verengerung vor. Eine Erweiterung ist in bezug auf die zu schützende Sprache gegeben; der Sprachpurismus richtet sich auf die Standardsprache, der Fremdwortpurismus auf die Gesamtsprache. Der Sprachpurismus sucht als Störungen der Sprachreinheit Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit abzuwehren, unter anderen Neuprägungen sowie innersprachliche und zwischensprachliche Transferenzen, der Fremdwortpurismus lediglich zwischensprachliche Transferenzen; hier liegt wiederum eine Verengerung vor. Das vierte Kriterium ergibt sich aus den Kriterien eins bis drei. Der Sprachpurismus faßt Sprachreinheit als Sprachrichtigkeit, Regelhaftigkeit, Normgemäßheit, der Fremdwortpurismus faßt Sprachreinheit als Fremdwortfreiheit auf. Für die Motivation gilt: Dem Sprachpurismus ist es um Standardisierung zu tun - was ist (nicht) richtig? dem Fremdwortpurismus - was ist (nicht) deutsch? - einzig und allein um Identifizierung.39

1.5

Die zentralen Thesen dieser Arbeit

Joachim Heinrich Campe lehnt jede sich selbst genügende Theorie ab; er bemüht sich stets um den Bezug zur Praxis. Gesonderte Abhandlungen über die Sprache an sich, ihre Geschichte oder ihre Funktionen gibt es von ihm nicht. Eine geschlossene Darlegung seiner Sprachkonzeption im allgemeinen findet sich in keiner seiner Schriften. Sie ist aus seiner Standardisierungskonzeption und aus seiner puristischen Konzeption im besonderen zu erschließen. Ich erörtere sie daher in deren Zusammenhang. Die Grundzüge aber behandle ich vorab.

39

sehe Trennung der fünf Kriterien vorzunehmen. Ich sehe darin die Gefahr der Verallgemeinerung. Kirkness betrachtet den Fremdwortpurismus insgesamt als Verengerung des Sprachpurismus und meint, daß dieser jenen einschließt. Ich stimme mit ihm darin nicht Uberein: Verengerung liegt nur in bezug auf das erste und das dritte Kriterium vor; in bezug auf das zweite Kriterium ist Erweiterung gegeben; auf das vierte und das fllnfte Kriterium lassen sich die Begriffe „enger" und „weiter" nicht anwenden, insbesondere die Motivation ist damit nicht zu fassen. Vergleiche [Kirkness 1975.]; [Kirkness 1984.]. Die Geschichte des eigentlichen Purismus in Deutschland beginnt im 17. Jahrhundert, zur Zeit des Übergangs zum Neuhochdeutschen und der ersten Standardisierungsbestrebungen. Im 17. und im 18. Jahrhundert prädominiert der Sprachpurismus; im 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert bis etwa 1945 herrscht der Fremdwortpurismus vor. Etwa zwischen 1789 und 1819 vollzieht sich ein Übergang von der Prädomination des Sprachpurismus zur Prädomination des Fremdwortpurismus. Auf die Historie des deutschen Purismus gehe ich bei der Analyse von Campes puristischer Konzeption genauer ein.

Einführung

Campes Weltbild, Menschenbild und Sprachkonzeption liegt eine ahistorisch und universal gesehene Menschheit zugrunde. Sie ist eingeteilt in historisch bedingte Gruppen. Darauf beruht die Gliederung von Vernunft und Sprache in zwei miteinander verbundene Schichten: das Allgemeine und Gleiche und das je Besondere und Verschiedene. Campe gibt sowohl in der geographisch-ethnographischen als auch in der sozial-kulturellen Dimension dem ersteren den Vorrang, hält aber an der Geltung des letzteren fest. Verschiedene Erkenntnissysteme und Sprachsysteme hält er in bezug auf das Allgemeine für kompatibel, in bezug auf das je Besondere aber für inkompatibel. Campes Universalismus steht in einem Spannungsverhältnis zu einem Nationalismus im weiteren Sinn; seine Forderung nach Erziehung und Bildung für alle Schichten wird durch eine gewisse Standesgebundenheit relativiert. Das geht insbesondere aus seiner puristischen Konzeption hervor. =>2.1 Aus der Gliederung von Vernunft und Sprache in eine allgemeine und gleiche und eine je besondere und verschiedene Schicht folgt für Campe die Trennung von Vernunftbegriff und Sprachzeichen sowie die Bilateralität des Sprachzeichens, seine Konstitution aus Ausdruck und Inhalt. Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption löst die Spannung zwischen Gleichheit und Ungleichheit nicht. Es stützt lediglich die Geltung des Besonderen: Campe nimmt die durchweg besondere Ausdrucksebene der Sprache als Barriere, die schon um der Verständlichkeit willen das mit dem Eigenen nicht vereinbare Fremde fernhalten soll. => 2.2 Campes Standardisierungskonzeption ist von Allgemeinheit und Besonderheit in der geographischen Dimension unter internationalem Aspekt mittelbar bestimmt, nämlich über seine auf den Schutz der Standardsprache und die Abwehr von zwischensprachlichen Tranferenzen gerichtete puristische Konzeption. Sie ist von Gleichheit und Verschiedenheit in der geographischen Dimension unter interregionalem Aspekt sowie in der sozialkulturellen Dimension weniger mittelbar über die Abwehr von innersprachlichen Transferenzen als vielmehr unmittelbar bestimmt, nämlich durch die Abgrenzung der Standardsprache von und zugleich deren Herausziehung aus anderen dialektalen Varietäten. Die Spannung zwischen Gleichheit und Ungleichheit in der sozial-kulturellen Dimension ist in bezug auf die sozial-kulturelle Erstreckung beziehungsweise Beschränkung und die damit verbundene stilistische Geltung der Standardsprache weitgehend unterdrückt: Campe postuliert, um dem Vorrang des Allgemeinen gerecht zu werden, eine Einheitssprache, konzediert allerdings, um der Geltung des Besonderen zu genügen, zusätzlich eine gesonderte Hochsprache. In bezug auf die Sprachrichtigkeit beharrt Campe beim Vorrang des Allgemeinen: Er erklärt die Analogie zu ihrem primären Prinzip. In diesem

Zentrale Thesen

29

Zusammenhang liegen seine ahistorische und zugleich teleologische Sprachauffassung, seine synchronische Perspektive, seine Einstellung zur Sprache als Instrument und Medium und seine Ausrichtung auf die Darstellungsfunktion zutage. Durch seine Definition der deutschen Standardsprache besteht Campe weiterhin auf dem Vorrang des Allgemeinen: Er definiert das Hochdeutsche als Ausgleichssprache zwischen dialektalen Varietäten der Gesamtsprache. Dabei werden seine synchronische Sprachbetrachtung, hier verbunden mit diachronischer Sprachbetrachtung, die Beachtung aller Hierarchieebenen und eine Abzielung auf dialektale Homogenität der Standardsprache unter Berücksichtigung der dialektalen Heterogenität der Gesamtsprache offenbar. In Campes Differenzierung des Verhältnisses zwischen geschriebener Sprache und gesprochener Sprache sowie zwischen Schriftsprache und Umgangssprache als fast immer gesprochene Sprache des alltäglichen Umgangs werden seine synchronische Perspektive abermals, außerdem die Anerkennung von situativer Heterogenität der Standardsprache und der situativen Heterogenität der Gesamtsprache und eine Beachtung der Symptomfunktion und der Kommunikationsfunktion deutlich. => 2.3 •

Campes puristische Konzeption ist von Allgemeinheit und Besonderheit, Gleichheit und Verschiedenheit vornehmlich in der geographischethnographischen Dimension bestimmt. Sie ist allerdings vorrangig aus der sozial-kulturellen Dimension heraus veranlaßt. Campe richtet sie auf die deutsche Standardsprache, das Hochdeutsche. Auf der Grundlage der Behauptung und Wertschätzung des Allgemeinen und Gleichen rechtfertigt und verteidigt Campe das Besondere und Verschiedene in der geographisch-ethnographischen Dimension: Seine theoretischen Prämissen postulieren Sprachreinheit als Analogizität aller aus anderen Sprachen entlehnten Einheiten, laufen jedoch auf Sprachreinheit als Fremdwortfreiheit hinaus. Sie sind korrelativ mit einer Vermischung seiner synchronischen Sprachbetrachtung mit diachronisch-etymologischer Sprachbetrachtung, seiner Ausrichtung auf den Inhalt mit Aufmerksamkeit auf den Ausdruck und seiner Ausrichtung auf die Erkenntnisfunktion in kritisch realistischer Auffassung. Das Besondere und Verschiedene in der geographisch-ethnographischen Dimension sucht Campe durch klare Grenzen zu schützen: Seine praktischen Programme insistieren auf Sprachreinerhaltung als Ausschließung, Sprachreinigung als Austilgung und Sprachbereicherung als Ersetzung von zwischensprachlichen nicht oder nicht vollständig assimilierten lexikalischen Entlehnungen, wobei er einzelne Zitatwörter noch eher toleriert als Fremdwörter. Bei der Sprachbereicherung verwischt er Ergänzung und Ersetzung, vermischt er Neuprägung und Lehnprägung und differenziert er nicht zwischen direkter und indirekter semantischer Entleh-

30

Einführung

nung. Seine Konzentration auf die Ebene der Lexik ist nicht zu verkennen. Campes puristische Konzeption ist einer Form zwischen Sprachpurismus und Fremdwortpurismus zuzuordnen. Diese pädagogisch-aufklärerische Zwischenform schließt an den Sprachpurismus an und nimmt wesentliche Züge des Fremdwortpurismus nur vordergründig vorweg. Campes puristische Konzeption hinterläßt deutliche Spuren in der Lexik des Deutschen. Allerdings führt eher zur Ergänzung, was er zur Ersetzung prägt. Die Wirkung seiner Wortprägungstätigkeit gibt Hinweise auf Entwicklung und Ausbildung sowie Möglichkeiten und Grenzen gezielter Beeinflussung der Lexik, auf potentielle Kriterien für die Integration neu eingeführter Prägungen. => 2.4

2 Untersuchung 2.1

Die Spannung zwischen Gleichheit und Ungleichheit in Campes Weltbild, Menschenbild und Sprachkonzeption

Joachim Heinrich Campe geht aus von einer ahistorisch und universal gesehenen Menschheit, die über eine allgemeine Vernunft verfugt, und teilt sie ein in historisch, geographisch, politisch, sozial, ökonomisch und kulturell bedingte Gruppen, die zusätzlich über je eine besondere, historisch geprägte Vernunft verfügen. Demnach gibt es verschiedene Erkenntnissysteme und diesen entsprechende verschiedene Sprachsysteme. Sie haben die allgemeinen Begriffe beziehungsweise Inhalte gemein; insoweit sind sie gleich. Sie haben die je besonderen Begriffe beziehungsweise Inhalte für sich; insoweit sind sie verschieden. Je nach Erziehung und Bildung verfügen alle Menschen über die allgemeine und die je besondere Vernunft, die allgemeinen und die je besonderen Begriffe. Je nach Ausbildung enthalten alle Sprachen die allgemeinen und die je besonderen Inhalte. Campe betrachtet grundsätzlich das Allgemeine und Gleiche als das Primäre und eigentlich Wichtige, das je Besondere und Verschiedene als das Sekundäre und weniger Wichtige. Er schreibt prinzipiell allen Gruppen gleichwertige, durch Aufklärung voll auszuschöpfende geistige Potentiale zu. Jedoch ringt er mit sich um den Rang von Allgemeinheit und Besonderheit, den Wert von Gleichheit und Verschiedenheit. Campe vermag die Spannung zwischen postulierter Gleichheit und konzedierter Ungleichheit nicht ganz zu lösen; letztlich bleibt ein Rest an Unentschiedenheit. Die Spannung zwischen Gleichheit und Ungleichheit geht insbesondere aus Campes puristischer Konzeption hervor. Ihre theoretischen Prämissen und praktischen Programme legt er in der „Preisschrift"40 dar. Hier äußert er sich zur geographisch-ethnographischen sowie zur sozial-kulturellen Dimension von Allgemeinheit und Besonderheit, Gleichheit und Verschiedenheit. Die Aussagen beruhen auf Campes Menschenbild und Weltbild, wie er sie in seinen pädagogischen Werken sowie in seinen Kinder- und Jugendschriften ausführt. 40

[Campe 1793c.]; [Campe 1794a.] mit Wörterverzeichnis. Auch in [Campe 1801a.] und [Campe 1813.] Seite 1-70, leicht gekürzt und überarbeitet, als „Grundsätze, Regeln und Grenzen der Verdeutschung. Eine von dem königlichen Gelehrtenverein zu Berlin gekrönte Preisschrift". Ich zitiere nach fCamDe 1813.1..

32

Untersuchung

2.1.1

Die geographisch-ethnographische Dimension

In der geographisch-ethnographischen Dimension stellt Campe in seinen theoretischen Prämissen zur Sprachreinheit das Allgemeine über das Besondere. Zunächst stellt er das Allgemeine und Gleiche fest, indem er die Existenz von Universalien konstatiert. Gewissen physischen, mentalen und psychischen Gemeinsamkeiten aller Menschen entsprechend, so Campe, haben alle Sprachen gewisse Eigenschaften gemein. Selbst eine Ursprache im engeren Sinn, das heißt eine Ursprache, die von keiner anderen Sprache abstammt, ist nur völlig einzigartig, wenn sie die erste und solange sie die einzige Sprache überhaupt ist: [...] sobald außer ihr der Ursprachen, in welchem Welttheil es auch sein mochte, mehre entstanden: so mußten auch diese, weil sie, gleich ihr, von Menschen und fiir Menschen gebildet wurden, also der menschlichen Empfindungsart, dem menschlichen Denkvermögen und den menschlichen Sprachwerkzeugen angemessen waren, nothwendig irgend etwas Gemeinschaftliches mit einander sowol, als auch mit der ältesten Ursprache haben; die Entfernung der Weltgegend, worin jede entstand, und die zufällige [Hervorhebung von mir] Verschiedenheit der Menschen, die sie erfanden und ausbildeten, mochten übrigens so groß und auffallend sein, als sie immer wollten. Die Erfahrung stimmt hiemit auf das vollkommenste überein. Nicht nur alle ältere und neuere Europäische Sprachen unter sich, sondern auch jede von diesen, mit jeder andern in andern Welttheilen jetzt noch, oder ehemahls lebenden Sprache verglichen, zeigen sowol in Ansehung der Laute einzelner Wörter, als auch in Ansehung ihrer Biegungs=, Umbildungs= und Verbindungsarten, Gleichheiten und Aehnlichkeiten, die oft bis zum Einerleisein gehen, und die [...] sich nicht nur bei allen Völkern von unbestrittener Menschenart, sondern auch sogar, nach Fulda's und Adelung's Bemerkung, bei denen finden, welchen neuerlich unserer Weltweisen Einer, mit der echten menschlichen Natur zugleich die allgemeinen Menschheitsrechte streitig zu machen die Hartherzigkeit [Hervorhebung von mir] hatte, - bei den Schwarzen am Senegal! 41

Hier tritt Campes philanthropinistische Position zutage: Der Philanthropinismus postuliert das Menschentum von Natur aus und sucht das Glück aller Menschen zu fördern. Der ihm zugrunde liegenden Menschenliebe steht die von Campe beklagte „Hartherzigkeit" eines Zeitgenossen entgegen, die schwarze Rasse aus der Menschheit auszugrenzen und ihr die Menschenrechte abzuerkennen.42 Es ist bemerkenswert, daß Campe hier die ethnographische 41 42

[Campe 1813J Seite 3f.. Im elften Teil seiner „Sammlung interessanter und durchaus zweckmäßig abgefaßter Reisebeschreibungen fUr die Jugend" - [Campe 1785-1793.]. Ich zitiere nach [Campe 1831.].. - bemerkt Campe zum Status der schwarzen Rasse, die manche seiner Zeitgenossen als Zwischenglied zwischen Mensch und Tier einstufen: „Nach den Begriffen, welche man sich von diesem Volke in Europa zu machen pflegt, steht es ungefähr zwischen dem Menschen und

Gleichheit und Ungleichheit bei Campe

33

zur rassischen Dimension erweitert. Wenn er den Vorrang des Allgemeinen betont, führt er an dieser wie an anderen Stellen vorzugsweise Beispiele aus und Vergleiche mit außereuropäischen Ländern, sogenannten Naturvölkern und primitiven Sprachen an.43 Wichtig ist auch, daß er die bei aller Gleichheit vorhandene Verschiedenheit als „zufällig" bezeichnet. Ahistorische und universale Faktoren bedingen das Allgemeine, historische, geographische, politische, soziale, ökonomische und kulturelle Faktoren das durch ihre Zufälligkeit beiläufige Besondere: „Da örtliche Ursachen und Das, was wir Zufall [Hervorhebung nicht von mir!] nennen, in die eine Sprache diese, in die andere jene [...] Ausdrücke gebracht haben,"44 ist das Besondere, sind die „oft bloß örtlichen, also unwesentlichen [Hervorhebung von mir] Eigentümlichkeiten" 45 weniger wichtig als das Allgemeine, das „wesentlich [Hervorhebung nicht von mir!] zur Sache gehört"46. Auf die von ihm angenommene Gliederung von Vernunft und Sprache in zwei miteinander verbundene Schichten, die allgemeine und die besondere, stellt Campe die Bewertung verschiedener Erkenntnissysteme und Sprachsysteme ab. Wenn sie, was die allgemeinen Begriffe beziehungsweise Inhalte betrifft, gleich vollständig, was die besonderen Begriffe und Inhalte betrifft, gleich gut sind, sind sie gleichwertig: Das eine Volk hat oft diese, das andere jene Merkmahle einer Sache, das eine die Beschaffenheiten a b c d, das andere die Beschaffenheiten b c d e in seinen Begriff gesammelt und in Einem Ausdrucke seiner Sprache zusammengefaßt. In diesem Falle sind die Begriffe beider Völker zwar nicht völlig gleich, aber doch gleichgültig. Nur da hört die Gleichgültigkeit der Begriffe, folglich auch der sie ausdruckenden Wörter auf, wo es gerade auf die Merkmahle a und e, worin beide verschieden sind, ankömmt, oder wo eins von beiden wesentlich zur Sache gehört.47

Nach Campe gibt es, so wie in jedem Weltteil sowohl allgemeine als auch besondere Sachen existieren, in jedem Erkenntnissystem sowohl allgemeine als auch besondere Begriffe, in jedem Sprachsystem sowohl allgemeine als auch besondere Inhalte. Campe vertritt mithin weder in kognitiver noch in

43

44

45 46 47

dem Orangutan in der Mitte. Ich für meinen Teil kann dieser Meinung, weder in Ansehung ihres Aeußerlichen, noch in Ansehung ihres Innern, beypflichten." [Campe 1831.] Band 26. Seite 52. Etwa aus dem „Patagonischen", [Campe 1813.] Seite 3, von den „Otahitem", [Campe 1813.] Seite 9, von den „Hottentotten" und „Esquimaur", [Campe 1813.] Seite 31. [Campe 1813.] Seite 64. Campe meint mit „Ausdrücken" hier Wörter, das heißt Zeichen mit Ausdruck und Inhalt. [Campe 1813.] Seite 27. [Campe 1813.] Seite 27. [Campe 1813.] Seite 27. Campe meint mit „Ausdruck" hier ein Wort, das heißt ein Zeichen mit Ausdruck und Inhalt, wobei es ihm auf den Inhalt ankommt. Das Wort gleichgültig hat zu Campes Zeit auch noch die Bedeutung .gleichwertig'.

34

Untersuchung

sprachlicher Hinsicht ein Universalkonzept. Allgemeine Sachen, Begriffe, Inhalte bestehen für ihn ausschließlich aus allgemeinen Sachmerkmalen, Begriffsmerkmalen, Inhaltsmerkmalen; allgemeine Sachgebiete, Begriffszusammenhänge, Inhaltsparadigmen umfassen für ihn ausschließlich allgemeine Sachen, Begriffe, Inhalte. Schon ein einziges besonderes Element macht die Besonderheit der gesamten Einheit aus. In Campes oben zitiertem Beispiel ist nur die Sache eine allgemeine - wobei die allgemeinen Sachmerkmale zum Teil zur Wahl stehen, was Erfassung und Auffassung betrifft -, die Begriffe und die Inhalte sind besondere, da sie neben allgemeinen auch je ein besonderes, das heißt ein einem besonders erfaßten Sachmerkmal entsprechendes Begriffsmerkmal beziehungsweise Inhaltsmerkmal enthalten. Sie sind somit nicht gleich. Sie sind aber gleichwertig, da sie in bezug auf die allgemeinen Begriffsmerkmale beziehungsweise Inhaltsmerkmale miteinander übereinstimmen und in bezug auf die besonderen Begriffsmerkmale beziehungsweise Inhaltsmerkmale einander gleichstehen. Historische, geographische, politische, soziale, ökonomische und kulturelle Faktoren wirken sich nach Campe auf der Sachebene und mittelbar auf der Begriffsebene oder, wie im oben zitierten Beispiel, unmittelbar auf der Begriffsebene, in jedem Fall aber über diese auch auf der Inhaltsebene aus. Campe zufolge kommt es, um am grundsätzlich unbegrenzt möglichen Fortschritt der Menschheit teilzuhaben, für eine Gruppe vor allem darauf an, ihrem Erkenntnissystem alle allgemeinen Begriffe, ihrem Sprachsystem alle allgemeinen Inhalte vollständig einzugliedern. Wie alle Menschen, ungeachtet ihres derzeitigen Zivilisationsstandes, durch Erziehung und Bildung zum vollen Einsatz ihrer Vernunft zu leiten sind, so lassen sich alle Sprachen, auch die sogenannten primitiven, durch angemessene Ausbildung entsprechend vervollkommnen: Jede menschliche Sprache [...] ist, wie der menschliche Geist, [...] einer Ausdehnung und Ausbildung ins Unendliche [Hervorhebung von mir] fähig, wodurch das sie redende Volk, sobald es will, in den Stand gesetzt werden kann, alle menschliche Empfindungen und Begriffe, mit allen ihren wesentlichen [Hervorhebung von mir] Schattenmischungen und Bestimmungen, vollständig auszudrucken. [...] Ein Volk fange nur erst an zu denken, [...] und es wird bald und ganz unfehlbar in seiner eigenen, auch noch so armen und steifen Sprache - und wäre sie die der Hottentotten oder Esquimaur - Alles, Alles finden, was es für den Ausdruck seiner Gedanken nöthig hat *). *) Diese Behauptung erhält den höchsten Grad der Wahrheit und der Anschaulichkeit durch die Bemerkung, daß die Zahl der eigentlichen Stamm= und Wurzelwörter, in allen Sprachen, selbst in den reichsten und gebildetsten, auf eine sehr kleine Anzahl eingeschränkt ist; woraus denn erhellet, daß selbst die reichsten und gebildetsten Sprachen uranfänglich aus eben dem ärmlichen und kümmerlichen Zustan-

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de hervorgegangen sind, worin sich jetzt noch die der rohesten Völkerschaften befinden.48

Campe stellt hier den Unterschied zwischen Naturvölkern und Kulturvölkern, zwischen primitiven Sprachen und Kultursprachen nicht als Artunterschied, sondern als reinen Gradunterschied dar: Alle haben ein gleich großes Potential. Dieses besteht für die Sprachen in je einem geschlossenen Inventar von „Wurzelwörtern" oder „Stammwörtern", das durch Wortbildungsmittel und Wortbildungsmuster voll auszuschöpfen ist. Die Kultursprachen sind im Vergleich zu den primitiven Sprachen lediglich in ihrer Entwicklung - allerdings erheblich - weiter fortgeschritten. Campe zögert nicht, auch für die höchstentwickelten Sprachen einen sehr niedrigen Ausgangsstand anzunehmen, und erinnert an den in frühen Denkmälern überlieferten vormals vergleichsweise dürftigen Stand des Deutschen49. Die Ausbildung der Sprache setzt die Erziehung und Bildung des Menschen voraus: Nun bin ich zwar, wie ich schon oben zu erkennen gegeben habe, der festen Ueberzeugung, daß jede Sprache, auch die ärmste und unvollkommenste, die Keime zu einer schrankenlosen Entwickelung und Ausdehnung in sich trage, also auch nur gehörig ausgebildet zu werden brauche, um für jede menschliche Empfindung und ftlr jeden Begriff, der in irgend einer andern Sprache ausgedruckt werden kann, gleichfalls ein Zeichen zu haben oder zu bekommen. Allein diese Ausbildung ist nicht das Werk Eines Tages; es gehören Jahrhunderte dazu; sie kann nicht die Arbeit Eines oder einiger Glieder eines Volks sein; um sie zu bewirken, wird nichts Geringeres erfodert, als daß das ganze Volk sich zu einer beträchtlichen Höhe der geistigen und sittlichen Ausbildung und Vervollkommnung erhebe.50

Sowohl Erziehung und Bildung zur Vernunft als auch Ausbildung der Sprache erfordern allerdings, wenn sie ganz aus eigener Kraft geschehen, viel Zeit und die Beteiligung der ganzen Gruppe. In der Perspektive der Aufklärung haben die weiter fortgeschrittenen Gruppen eine Sendung zu erfüllen: Es ist ihre Pflicht, Wissen und Kenntnisse allgemein zu verbreiten, das heißt an die anderen Gruppen weiterzugeben, um deren Aufklärung zu fördern und zu beschleunigen. Deren Recht wiederum ist es, allgemeine Begriffe aus höherentwickelten Erkenntnissystemen zu übernehmen: Diese Volksausbildung wird nun aber, wo nicht immer geradezu, doch mittelbarer Weise, auch dadurch erleichtert, befördert und beschleuniget, daß wir uns die Gedanken, Wissenschaften und Künste anderer Völker, die auf der Stufenleiter der

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49 50

[Campe 1813.] Seite 31. Auch hier führt Campe sogenannte Naturvölker und primitive Sprachen als Beispiele an. Vergleiche [Campe 1813.] Seite 31. [Campe 1813.] Seite 23.

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Ausbildung schon eine höhere Sprosse, als wir, erstiegen haben, zuzueignen suchen. 51

Da jede Gruppe die allgemeinen Begriffe auch aus eigener Kraft zu erlangen imstande ist, erfolgt, so Campe, die Hilfe von außen nur „mittelbarer Weise . Der Übernahme allgemeiner Begriffe aus höherentwickelten Erkenntnissystemen folgt die Entlehnung allgemeiner Inhalte aus höherentwickelten Sprachsystemen, zumal wenn die Begriffe innerhalb kurzer Zeit in so großer Zahl übernommen werden, daß die Ausbildung der Sprache aus eigener Kraft damit nicht Schritt hält: Denn wenn gleich jede, auch noch so armselige Sprache, in ihren Stammwörtern die Keime zu einer schrankenlosen Entwickelung und Ausdehnung trägt; und daher jedes auch noch so rohe und spracharme Volk allerdings in Stande wäre, den ganzen ungeheuren Reichthum der Begriffe eines schon längst gebildeten Volkes nach und nach in seine eigene Sprache [...] aufzunehmen: so erfolgt doch in dem hier angenommenen Falle das Aufdringen der neuen Begriffe gar zu plötzlich, gar zu gewaltsam und unvorbereitet, als daß das aufnehmende, durch die Menge und Neuheit der seine enge Vorstellungskraft gleichzeitig bestürmenden Begriffe gleichsam betäubte Volk, Zeit, Luft und Fähigkeit behielte, an eine Erweiterung und Ausbildung seiner eigenen Sprache bis zu demjenigen Grade zu denken, der sie fähig machte, die ganze neue Begriffsmasse zu umspannen. 52

Dies alles ist nach Campe insofern unbedenklich, als nur die allgemeine, bei allen Gruppen gleiche Schicht von Vernunft und Sprache betroffen ist, als die übernommenen Begriffe in jedem Erkenntnissystem, die entlehnten Inhalte in jedem Sprachsystem ohnehin angelegt sind. In bezug auf die allgemeine Schicht sind verschiedene Erkenntnissysteme und Sprachsysteme kompatibel. Allgemeine Inhalte sind in jeder Sprache analogisch, das heißt ihrer Struktur gemäß. In bezug auf die je besondere, von Gruppe zu Gruppe verschiedene Schicht von Vernunft und Sprache aber sind verschiedene Erkenntnissysteme und Sprachsysteme nach Campe nicht miteinander vereinbar. Die Übernahme beziehungsweise Entlehnung von historisch, geographisch, politisch, sozial, ökonomisch und kulturell bedingten Begriffen und Inhalten von fremden Gruppen beziehungsweise aus fremden Sprachen hält er daher für bedenklich. Fremde besondere Inhalte sind der Struktur der eigenen Sprache nicht gemäß. Fremde Ausdrücke sind in der eigenen Sprache prinzipiell strukturwidrig, da [Campe 1813.] Seite 23. Campes Metaphorik entspricht ganz seiner Auffassung vom geistigen Fortschritt als für alle gleichermaßen zu verwirklichen: Alle Völker befinden sich auf der gleichen „Stufenleiter", wenn auch auf verschiedenen „Sprossen" in unterschiedlicher Höhe. [Campe 1813.] Seite 4. Auch hier erwähnt Campe die „Stammwörter" als das Potential einer jeden Sprache.

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von Sprache zu Sprache die Ausdrucksseiten grundsätzlich aller Zeichen verschieden, verschiedene Sprachen somit auf der Ausdrucksebene durchweg inkompatibel sind. An diesem Punkt setzt Campe an, den Vorrang des Allgemeinen zugunsten der Geltung des Besonderen einzuschränken. Vornehmlich in seinen praktischen Programmen zur Sprachreinerhaltung, Sprachreinigung und Sprachbereicherung bringt Campe das Besondere neben dem Allgemeinen vor. Zunächst beschäftigt er sich mit der Sprachstruktur auf der Ausdrucksebene. Nur wenn die Ausdrücke der Struktur der eigenen Sprache gemäß, das heißt analogisch sind, sind die Zeichen im Sprachsystem synchronisch zuordenbar, das heißt relativ motiviert, und dadurch für alle Sprecher verständlich. Nur wenn sie der Analogie als dem primären Prinzip der Sprachrichtigkeit durchweg folgt, ist die Sprache leicht erlernbar. Da grundsätzlich alle Ausdrucksseiten von Sprache zu Sprache verschieden sind, sind fremde Ausdrücke aus der eigenen Sprache als deren Analogie störend auszuschließen oder zu tilgen. Notfalls sind fremde Ausdrücke an die eigene Sprachstruktur zu assimilieren: [...] denn eine Bereicherung und Ausbildung der Sprache, die durch natürliches Entwickeln von innen, oder wenigstens durch genaues Einpassen des Fremden in die Form ihrer eigenen Sprachähnlichkeit geschieht, ist der Natur und dem Wesen derselben allemahl angemessener, als diejenige, welche durch fremdartige Zusätze von außen, und mit einer auch noch so geringen Verletzung der Sprachgleichförmigkeit, erfolgt. Der Grund dieser Behauptung ist: weil im ersten Falle die Sprache mehr Einheit, Selbständigkeit oder Uebereinstimmung mit sich selbst behält, und auf einem einfachem Regelgebäude beruht; also auch leichter erlernt und richtig gebraucht werden kann, als im letzten. Jede Aufnahme nämlich, die einem fremden, von der Deutschen Gleichförmigkeit abweichenden Worte widerfährt, vermehrt die Zahl der Ausnahmen von irgend einer Regel. Je mehr Ausnahmen aber, desto verwickelter und schwankender das Regelgebäude, desto weniger vernunftmäßige Einheit und Uebereinstimmung des Ganzen, desto mühseliger die Erlernung, desto unsicherer der Gebrauch - desto unvollkommner die Sprache.53

Es fällt auf, daß Campe, der das Besondere eigentlich für historisch bedingt hält und das Verschiedene sonst als zufällig bezeichnet, sich an einer Stelle, an der er auf der Erhaltung des Besonderen besteht, auf die Größen „Natur" und „Wesen" beruft. Campe, der als Aufklärer grundsätzlich dem Allgemeinen verbunden ist, vermag sich vom Besonderen unter anderem deshalb nicht ganz zu lösen, weil er seine Vorstellung von der Naturbedingtheit des Allgemeinen gelegentlich auf das auch in der geographisch-ethnographischen Dimension eigentlich als gesellschaftsbedingt erachtete Besondere ausdehnt.

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[Campe 1813.] Seite 8f.. Campe bezeichnet die Analogie mit „Sprachähniichkeit" oder „Uebereinstimmung der Sprache mit sich selbst", die Analogizität mit „Sprachgleichförmigkeit".

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D i e s ist aber nicht der einzige Grund. Meist genügt Campe die Gesellschafitsbedingtheit des Besonderen vollauf, um dessen Bewahrung zu rechtfertigen. In Hinsicht auf die Sprachausdrucksebene nimmt er an, daß die Phonie 5 4 einer jeden Sprache den Sprachorganen der betreffenden Gruppe genau entspricht, und zwar ihren durch die lebenslange Verwendung dieser Sprache erworbenen Fertigkeiten. Dies gilt sowohl unter artikulatorischem Aspekt, das heißt für die Lautproduktion durch die Sprechwerkzeuge, als auch unter auditivem Aspekt, das heißt für die Lautrezeption über das Gehör: Je mehr eine Sprache sich aus und durch sich selbst entwickelt, d. i. bereichert und ausbildet, oder, wo dieses nicht immer geschehen kann, j e mehr sie wenigstens sich hütet, irgend etwas aus andern Sprachen aufzunehmen, was ihrer eigenen Sprachähnlichkeit widerstrebt, desto vollkommner ist sie unter sonst gleichen Umständen; [...] Sie paßt in diesem Falle am besten zu der eigentümlichen Beschaffenheit und den einmahl angenommenen Fertigkeiten der Sprachwerkzeuge desselben [des sie sprechenden Volks], Man sehe nur, wie unser gemeiner Mann, dessen Zunge keine andere Uebungen, als diejenigen gehabt hat, die ihr die Deutsche Sprache verschaffte, sich zerarbeiten muß, wenn er ausländische Wörter und Namen aussprechen soll, und welche Wortmißgeburten er an Ende zur Welt zu bringen pflegt! Die Otahiter konnten zur Zeit der ersten Cookschen Reise um die Welt, die meisten Namen der Engländer, trotz aller Anstrengung, entweder gar nicht, oder doch nur sonderbar verstümmelt und umgebildet, über die Zunge bringen. [...] Es scheint, daß selbst ihr Gehör unvermögend war, die Englischen Laute mit derjenigen Bestimmtheit aufzufassen, mit welcher ein Engländer sie hört; und ich kenne einen Deutschen, der, ungeachtet er ziemlich geübte Sprachwerkzeuge besitzt, indem er sechs fremde Sprachen gelernt hat, doch [...] sich mit den Otahitern in einerlei Falle befindet. 55 Die Gewöhntheit der Sprachorgane einer Gruppe an die Phonie ihrer Sprache hält Campe als solche für eine allgemeine. D e m g e m ä ß setzt er in dieser Hinsicht die Deutschen als europäisches Volk mit einem außereuropäischem Volk gleich, nämlich mit den Otahitern. 56 Die Ausprägung der Phonie und die

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55 56

Phonie: phonemische Struktur sowie phonetische Charakteristik einer Einzelsprache. Lautung: phonemische Struktur sowie phonetische Charakteristik eines einzelnen Zeichens. [Campe 1813.] Seite 9. Wie aus Campes oben zitierter Äußerung hervorgeht, hält er die Gewöhntheit der Sprachorgane einer Gruppe an die Phonie ihrer Sprache in der geographisch-ethnographischen Dimension auch unter Einbeziehung der sozial-kulturellen Dimension als solche ftlr eine allgemeine. Sie ist in verschiedenen Bildungsgruppen lediglich nach dem Grad unterschieden: Demjenigen, der nur die eigene Sprache erlernt hat, fallen Aussprache und Wahrnehmung fremdsprachlicher Laute schwerer als demjenigen, der die fremde Sprache oder fremde Sprachen Uberhaupt mehr oder weniger gelernt hat. Schwierigkeiten aber haben Sprecher aller Bildungsgruppen, „unser gemeiner Mann, dessen Zunge keine andere Uebungen, als diejenigen gehabt hat, die ihr die Deutsche Sprache verschaffte" ebenso wie derjenige, der „ziemlich geübte Sprachwerkzeuge besitzt, indem er sechs fremde Sprachen gelernt hat". [Campe 1813.] Seite 9.

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auf sie zurückzuführende Ausprägung der Sprachorgane aber sind je besondere. Deshalb sind die daraus erwachsenden Schwierigkeiten desto größer, je weiter die verschiedenen Sprachen genetisch voneinander entfernt sind. So ist die Aussprache des Englischen bei den Otahitern völlig entstellt, seine Wahrnehmung stark verzerrt. Was die Sprachinhaltsebene und die Begriffsebene betrifft, ist das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem, Gleichem und Verschiedenen bei Campe noch diffiziler. Auch in dieser Hinsicht besteht ein Zusammenhang zwischen einer Gruppe und ihrer Sprache. Die Besonderheit liegt auf der Sachebene oder auf der Begriffsebene begründet; in jedem Fall betrifft sie - mittelbar oder unmittelbar - die Begriffsebene und wirkt sich auf die Inhaltsebene aus. Auch hier unterstellt Campe gelegentlich eine gewisse Naturbedingtheit: Diese auffallende Uebereinstimmung zwischen der Sprache und den übrigen geistigen, sittlichen, ländlichen und bürgerlichen Eigenthümlichkeiten eines Volks - eine Uebereinstimmung, die sich durch die ganze Welt bestätiget - kann unmöglich das Werk des Zufalls sein; es muß vielmehr ein nothwendiger, von der Natur selbst beabsichtigter Zusammenhang dabei Statt finden. Was aber die Natur will und ihren Kindern zur Nothwendigkeit gemacht hat, das muß der Mensch nicht stören wollen; sonst arbeitet er seinem eigenen Besten, seiner eigenen Vervollkommnung gerade entgegen"

Es ist an dieser Stelle allerdings nicht das Besondere selbst, das Campe als naturbedingt darstellt, sondern lediglich der diesbezügliche Zusammenhang zwischen Weltteil, Erkenntnissystem und Sprachsystem als solcher, mithin etwas Allgemeines. Diese Äußerung steht daher noch nicht in Widerspruch zur sonst von ihm behaupteten Zufälligkeit des Besonderen. Allerdings fällt die hier angedeutete, nicht ganz in das Menschenbild der Aufklärung passende Determiniertheit des Menschen auf. Er hat sich dem naturbedingten Zusammenhang zu fügen, ihn nicht zu durchbrechen. In der folgenden Äußerung geht Campe noch einen Schritt weiter: Er behauptet, daß das Besondere selbst in seiner Art naturbedingt ist: Der Deutsche hört in eben dem Maße auf, ein Deutscher, also das zu sein, wozu die Natur ihn bestimmt hatte; er hört in eben dem Maße auf, in die Eigenthümlichkeiten der Denk= und Sinnesart eines Deutschen, in die natürliche, sittliche und bürgerliche Verfassung seines Landes genau zu passen, in welchem er aus seiner Landessprache ein buntscheckiges Gemisch [...] werden läßt;58

Die Eigenart der Begriffsebene bedingt nach Campe die Eigenart der Inhaltsebene; die Eigenart der Inhaltsebene wiederum stützt die Eigenart der Begriffsebene: " 58

[Campe 1813.] Seite 9. [Campe 1813.] Seite 9.

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Daß alle diese Eigentümlichkeiten eines Volks und die Sprache desselben einen unverkennbaren gegenseitigen Einfluß und Rtlckfluß auf einander durch Wirkung und Rückwirkung haben, ist eine zu bekannte und ausgemachte Bemerkung, als daß ich sie hier erst umständlich auseinander zu setzen, und mit Beispielen zu belegen brauchte.59 Campe übernimmt hier eine schon seit der Zeit des Barock immer wieder vertretene Anschauung vom Zusammenhang zwischen Denken und Sprache in augenblicklich wenig bestimmter Form. Durch Entlehnung fremder besonderer Inhalte in das eigene Sprachsystem, so Campe, beeinträchtigt eine Gruppe ihr Erkenntnissystem, und zwar stört sie nicht nur, wie schon weiter oben behauptet, dessen Stimmigkeit und Geschlossenheit, sie gefährdet auch ihre geistige Selbständigkeit, indem sie sich zum Nachahmer anderer macht: [...] bitte ich zu bedenken, daß jedes Volk seine ihm eigenthümliche, in keine andere Sprache völlig übersetzbare Ausdrücke nothwendig haben muß, weil jedes seine ihm eigenthümliche Vorstellungs= und Empfindungsarten hat; und daß ein Volk, welches alle, auch die feinsten Eigenthümlichkeiten anderer Völker annehmen und seiner Sprache einverleiben wollte, aufhören würde, ein selbständiges Volk zu sein, anfangen würde, sich zum Affen aller andern Völker zu erniedrigen.60 Campe fordert, nur allgemeine Begriffe, Begriffsmerkmale, Begriffszusammenhänge zu Ubernehmen und nur allgemeine Inhalte, Inhaltsmerkmale, Inhaltsparadigmen zu entlehnen. Im Sinne des geistigen Fortschritts sollen sie in jedem Erkenntnissystem beziehungsweise Sprachsystem vollständig vorhanden sein: Eine [...] Vollkommenheit der Sprache ist: „daß sie nicht bloß für die Begriffe und Empfindungen überhaupt und für die wesentlichen [Hervorhebung von mir] Bestandteile, so wie für die nähern Bestimmungen derselben, sondern auch für Das, was man die Farben der Gedanken und des Ausdrucks nennen kann, für die feinern Licht- und Schattenmischungen, die zartem Abstufungen und die höhern oder niedrigem Grade der Lebhaftigkeit, wo diese [...] wesentlich [Hervorhebung von mir] dazu gehören, ihre genau passenden Zeichen habe."61

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[Campe 1813.] Seite 9. [Campe 1813.] Seite 30. Campe meint mit „Ausdrücken" hier Wörter, das heißt Zeichen mit Ausdruck und Inhalt. [Campe 1813.] Seite 26f.. Campe verwendet die Anführungszeichen hier zur Hervorhebung eines eigenen Satzes. Mit dem „Ausdruck" meint er hier die Sprache mit Ausdrucksebene und Inhaltsebene, wobei es ihm auf die Inhaltsebene ankommt. Er bezieht sowohl die registratorischen als auch die evaluativen Begriffsmerkmale, sowohl die denotativen als auch die konnotativen Inhaltsmerkmale in seine Unterscheidung zwischen Allgemeinem und Besonderem ein, wobei er nicht nur Registration und Denotation, sondern auch Evaluation und Konnotation für beide Schichten ansetzt: „die Farben der Gedanken und des Ausdrucks", „die feinern

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Campe rät eindringlich, fremde besondere Begriffsmerkmale in Begriffen, Begriffe in Begriffszusammenhängen sowie fremde besondere Inhaltsmerkmale in Inhalten, Inhalte in Inhaltsparadigmen durch je eigene besondere zu ersetzen: Es wird daher auch nicht gemeint, daß alle Sprachen alle Begriffe und Empfindungen, mit allen ihren, oft bloß örtlichen, also unwesentlichen Eigenthümlichkeiten, gerade auf eine und eben dieselbe Weise ausdrucken sollen; [...] Nein! Das hieße die innere Verschiedenheit der Sprachen, das hieße die geistigen, sittlichen und ländlichen Unterschiede der Völker selbst aufheben - das ganze Menschengeschlecht über einen Leisten schlagen wollen. Aber so viel kann von jeder wohlgebildeten Sprache eines jeden Volks, das sich einer gewissen Stufe schon vollendeter Ausbildung rühmt, mit Recht gefodert werden, daß sie alle Begriffe und Empfindungsarten, die irgend ein anderes gebildetes Volk in seiner Mundart auf seine Weise auszudrucken vermag, mit allen dazu gehörigen wesentlichen Bestimmungen, Abstufungen und Farbenmischungen, wiewol auf ihre Weise, wiewol auf eine ihrem Geiste und ihren Eigenheiten angemessene Art, auszudrucken in Stande sei.62 Hier nimmt Campe die Geltung des Besonderen etwas zurück, indem er es als „unwesentlich" bezeichnet. Mithin schwankt er auch innerhalb seiner praktischen Programme zur Sprachreinerhaltung, Sprachreinigung und Sprachbereicherung in bezug auf den Rang von Allgemeinheit und Besonderheit, den Wert von Gleichheit und Verschiedenheit. In seinen einzelnen Vorschriften versucht er allemal das Allgemeine und Gleiche allseits zu verbreiten, das Besondere und Verschiedene auf den je eigenen Bereich zu beschränken: Wesentliche Bestandtheile eines Begriffs sind diejenigen, welche nothwendig mitgenommen werden müssen, wenn der Begriff nicht verstümmelt, sondern vollständig ausgedruckt werden soll.63 Auf die unwesentlichen oder zufälligen Nebenbegriffe, welche das zu ersetzende ausländische Wort ohne oder gar wider die Absicht des Redenden erwecken kann, kömmt es hiebei so wenig an, daß diese vielmehr oft, um den reinen Begriff, den das Wort ausdrucken soll, richtig zu denken, absichtlich unterdrückt oder davon abgesondert werden müssen [...].64 [...] da dergleichen eigenthümliche Ausdrücke einen Theil des Unterscheidenden einer Sprache ausmachen: so ist es gut, daß sie ihr auch eigen bleiben. Wenigstens müssen diese Eigenthümlichkeiten nicht [...] aus der einen Sprache in die andere übergetragen werden.65

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Licht- und Schattenmischungen, die zartem Abstufungen und die höhern oder niedrigem Grade der Lebhaftigkeit, wo diese [...] wesentlich dazu gehören". [Campe 1813.] Seite 27. [Campe 1813.] Seite 60. [Campe 1813.] Seite 60. [Campe 1813.] Seite 64. Mit „Ausdrücken" meint Campe hier Wörter, das heißt Zeichen mit

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Auch die Zahl und Vollständigkeit der besonderen Begriffe einer Gruppe ist, so Campe, abhängig von deren Erziehung und Bildung; dementsprechend hängt die Zahl und Vollständigkeit der besonderen Inhalte in einer Sprache von deren Ausbildung ab. Campe räumt der Entwicklung des je eigenen Besonderen und Verschiedenen sogar gewissen Belang für den allgemeinen geistigen Fortschritt im Sinne der Aufklärung ein: Jede besondere Sprache hat freilich [...] ihr Eigenthümliches, und muß es haben; weil jedes Volk seine ihm eigenthümliche Art zu empfinden, zu denken und zu handeln hat, und haben soll. Dis scheint zum Glücke der ganzen, über den Erdball verbreiteten Menschenfamilie, zur immer weiter fortschreitenden geistigen und sittlichen Ausbildung derselben in ganzen mit zu gehören.66

Wenn Campe die Geltung des Besonderen unterstreicht, vergleicht er die deutsche Sprache - und das deutsche Volk - bemerkenswerterweise weniger mit sogenannten primitiven Sprachen - und Naturvölkern - als vielmehr mit anderen Kultursprachen - und Kulturvölkern -, und zwar vorzugsweise mit denen, die jahrhundertelang ein erheblich größeres Prestige hatten. Diese sind vor allem das Lateinische und das Französische mit ihrer traditionellen Hegemonie in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, ferner das Englische. Erst im Lauf des 18. Jahrhunderts legitimierte sich das Deutsche neben ihnen als europäische Kultursprache. Dem Allgemeinen den Vorrang zu geben, verlangt eine gewisse Großmut, die gegen Gruppen, deren faktische Unterlegenheit allseits unbestritten ist, erheblich leichter fällt als gegen Gruppen, die lange ihre Überlegenheit behaupteten. An der Geltung des Besonderen festzuhalten dient nicht nur dazu, sich von diesen Gruppen abzugrenzen, sondern auch dazu, tatsächliche oder angebliche noch bestehende Defizite zu kompensieren. [...] wolle man erwägen: daß es allen andern Völkern, ζ. B. den Engländern und Franzosen, in Ansehung mancher Deutscher Ausdrücke, und der diesen anklebenden Nebenbegriffen und feineren Farbenstufen, nicht besser, als uns mit manchen der ihrigen geht; und daß gleichwol keins dieser Völker bisher auf den Einfall gekommen ist, dergleichen Deutsche Ausdrücke in seine Landessprache aufzunehmen *). Und doch wird man, glaube ich, auch bei der größten Vorliebe für unser gutes Vaterland, wol nicht behaupten wollen, daß, Volk gegen Volk gehalten, die Engländer und Franzosen in Ansehung der Gesamtausbildung, oder der Ausbildung in ganzen, gegen uns zurückgeblieben sind. *) Sie können ζ. B. den ganzen Inhalt und Nachdruck unsers Biedermanns in ihren Sprachen eben so wenig wiedergeben, als wir den von ihrem galant-homme und gentelman in der unsrigen vollkommen anzugeben vermögen. Aber haben sie deßwegen für nöthig erachtet, das Deutsche Wort Biedermann in ihre Sprachen aufzu-

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Ausdruck und Inhalt. [Campe 1813.] Seite 27.

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nehmen? Und warum sollten denn wir für nöthig erachten, ihrem galant-homme oder ihrem gentelman das Bürgerrecht bei uns zu verleihen? Wollen wir denn nie selbständig zu werden suchen? Immer und ewig die Anstauner, Nachbeter und Affen anderer Völker bleiben, indem uns selbst kein anderes Volk nachzuäffen würdiget?67 An diesem Punkt betont Campe das Moralische noch mehr als das Intellektuelle. In seinem Menschenbild ist das Moralische neben dem Intellektuellen eine Komponente nicht nur der allgemeinen, sondern auch der besonderen, historisch geprägten Vernunft - gerade in bezug auf das Besondere schreibt er wiederholt von „geistigen und sittlichen Eigentümlichkeiten" 68 . Vor allem bei der Abgrenzung der Deutschen gegen die Franzosen, die auch in Deutschland lange als intellektuelles und kulturelles Vorbild galten, behauptet er eine moralische und ethische Überlegenheit des deutschen Volks, die sich auf die deutsche Sprache ausgewirkt hat und von dieser gestützt wird. Durch die Entlehnung fremder besonderer, insbesondere französischer Zeichen, insbesondere Höflichkeitsfloskeln, mit sittlich zweifelhaftem Inhalt in die deutsche Sprache korrumpiert das deutsche Volk seine Sittlichkeit, beeinträchtigt die ihm eigene Tiefe und Aufrichtigkeit durch oberflächliche und heuchlerische Züge: Je wahrer es ist, daß mit den fremden Ausdrücken oft auch ganz fremde Vorstellungsarten und, setze ich hinzu, sittliche Volkseigenheiten, mit zu uns übergehen; desto wichtiger wird bei einem fremden Worte, welches wir in unsere Sprache aufnehmen wollen, die Frage: ob die ihm anklebende geistige und sittliche Eigenheit, unsern Deutschen Volkseigenthümlichkeiten eingeimpft, wirklichen Gewinn oder vielmehr Verlust geben würde? Letztes scheint mir nun offenbar der Fall bei der Aufnahme der Französischen Redensart, einem sein Compliment machen, zu sein. Wohl uns, wenn in unserer alten, echten, biedern Sprache sich kein Ausdruck für die Kunst findet, aus Höflichkeit allerlei Dinge zu sagen, die ungeföhr wie Freundschafts-, Mitleids=, Freudens- oder Beifallsbezeigungen klingen, ohne dergleichen wirklich andeuten zu wollen·, und dreimahl wohl uns, wenn diese leidige Kunst, mit dem eigenthümlichen Ausdrucke derselben uns immer fremd bliebe! Was könnte uns vernünftiger Weise bewegen, unsere Sprache zu verunstalten um eine so wenig preiswürdige Gemüthseigenheit mit unsern Nachbaren gemein zu haben?69

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[Campe 1813.] Seite 29. Mit „Ausdrücken" meint Campe hier Wörter, das heißt Zeichen mit Ausdruck und Inhalt. Er wählt seine Beispiele mit Bedacht: Biedermann hat an bürgerlicher Sitte orientierte, galant-homme und gentelman haben an adliger Lebensart orientierte konnotative Inhaltsmerkmale. An dieser Stelle spielt die sozial-kulturelle Dimension hinein. Zum Beispiel [Campe 1813.] Seite 9, 27. [Campe 1813.] Seite 28f.. Mit „Ausdrücken" meint Campe hier Zeichen mit Ausdruck und Inhalt.

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In diesem Zusammenhang tritt bei Campe ein Nationalismus70 im weiteren Sinn zutage, der in einem Spannungsverhältnis zu seinem Universalismus steht. Campes Universalismus ist typisch für die Aufklärung, die auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch die Universalität menschlicher Vernunft postuliert. Er geht auch aus seinen Kinder- und Jugendschriften hervor. Campe bevorzugt Reisebeschreibungen als Verbindung von Belehrung und Unterhaltung zur anschaulichen Vermittlung von Weltwissen und Menschenkenntnis. Seine „Kleine Kinderbibliothek [l]" 71 enthält Texte ethnographischethnologischen Inhalts, durch die er auf grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen in Europa und Übersee hinweist und für Frieden und Freundschaft zwischen den Völkern eintritt. In „Die Entdekkung von Amerika, ein angenehmes und nützliches Lesebuch für Kinder und junge Leute"72 hebt er das Allgemeine und Gleiche als primär und eigentlich wichtig hervor. Im zweiten Teil klagt er den skrupellosen Eroberer Kortes an: Was machst du, Unglücklicher? Was thaten dir die Unschuldigen, in deren Blute du jetzt deine Hände waschen wilst? Was thaten sie deinem Könige oder deinen Landesleuten? Ist es ein Verbrechen, nicht zu glauben, was die Leute in Europa glauben, wenn man niemahls gehört hat, daß ein Europa in der Welt sei? Oder sind etwa diese Unschuldigen um deswillen keine Menschen, weil sie keine Kristen sind? Barbar, öffne deine Augen! Schaue an ihre Gestalt; ist sie nicht menschlich? Schaue an ihre nakten, vor deinem Mordschwerdte zitternden Leiber, sind sie nicht Fleisch von deinem Fleische und Bein von deinem Beine? Sieh ihnen ins Gesicht; erkenst du keine Familienzüge darin? Wenn du sie zu Boden wirfst, wenn du ihnen auf den Nakken tritst, fühlst du kein Herzklopfen, und hörst du nicht die geheime Stimme der Menschheit, welche dir zuruft: Unmensch, es ist dein Bruder auf den du tritst!73

In seiner Robinsonade „Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder"74 handelt Campe die Geschichte der Menschheit anhand des Lebens eines einzelnen Menschen paradigmatisch ab. Er entwirft eine Handlung, die „in den ursprünglichen Zustand der Menschheit zurückführte, aus dem wir herausgegangen sind"75. Durch die Darstellung der

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Die Behandlung von Campes Auffassung der Begriffe „Volk" und „Nation" sowie die eingehende Erörterung des von ihm angenommenen Zusammenhangs zwischen Nation und Sprache behalte ich mir für die Analyse von Campes puristischer Konzeption vor. [Campe 1779-1784a.]. [Campe 1781-1782.]. Ich zitiere nach [Campe 1831.].. Auf das gerade in diesem Werk zutage kommende Problem der Beeinträchtigung der Vermittlung humaner Grundsätze durch die realistische Darstellung des Geschehens gehe ich nicht näher ein, das dies die Thematik meiner Arbeit überschreitet. [Campe 1 8 3 1 ] Band 13. Seite 29f.. [Campe 1779-1780.]. Ich zitiere nach [Campe 1848.].. [Campe 1848.] Band 1. Seite VI.

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Erziehung des „Wilden" Freitag versucht er zu zeigen, daß die Aufklärung aus jedem primitiven Menschen einen zivilisierten Menschen machen, sogar Barbarei beseitigen kann: Freitag entsagt der Anthropophagie. Er ist sogar in der Lage, die Erziehung, die er selbst erhalten hat, an andere „Wilde" weiterzugeben: Freitag hatte unterdeß seinen Vater belehrt, daß gesittete Leute kein Menschenfleisch äßen, welches diesem anfangs auch gar nicht recht einleuchten wollte. Aber Freitag fuhr fort, ihm alles Dasjenige wieder zu erzählen, was er selbst von seinem Herrn gelernt hatte, und brachte ihn dadurch in kurzer Zeit zu einem wahren Abscheu gegen diese unmenschliche Gewohnheit.76

In „Väterlicher Rath für meine Tochter"77 versucht Campe, das Allgemeine und das Besondere zu hierarchisieren: Das große, Uber den ganzen Erdball verbreitete Menschengeschlecht macht nur eine einzige Familie aus. So verschieden daher auch die einzelnen Glieder derselben an Gestalt, Kleidung, Sitten, Fertigkeiten, Aufklärung und Denkungsarten immer sein mögen: so haben sie doch alle - vom ausgebildetsten Europäer an bis zum rohesten Feuerländer hinab [Hervorhebung von mir] - gewisse Familienzüge mit einander gemein, welche Zeit, Ort, Luftbeschaffenheit, Erziehung, Sektengeist, Regierungsform und was noch sonst etwan auf die Ausbildung der Menschen mächtig einzuwirken pflegt, bei Keinem ganz verwischen konnten. Diese, allem, was Mensch heißt, gemeinschaftlichen Züge aufzufassen, muß, wenn es uns um Menschenkenntniß zu thun ist, unsere erste Sorge sein. Sind wir hiemit zu Stande gekommen, so muß es uns zweitens vorzüglich wichtig sein, das Eigenthümliche derjenigen Menschenklassen auszuspähn, zu denen wir entweder selbst gehören, oder mit denen wir wenigstens in näherem Verhältniß als mit andern stehn.78

In dieser Hierarchie steht das Allgemeine über dem Besonderen. Dieses aber ist in sich wiederum hierarchisch gegliedert: der „ausgebildetste [...] Europäer" steht ganz oben; der „roheste [...] Feuerländer" ganz unten. Campes Wahl der Reisebeschreibung als Mittel der Erziehung und Bildung impliziert auch ein Interesse an von den Entdeckern eruierten anthropologischen Besonderheiten und Verschiedenheiten. Diese werden, etwa in der „Sammlung interessanter und durchaus zweckmäßig abgefaßter Reisebeschreibungen für die Jugend"79 durchweg aus europäischer Perspektive abgehandelt. Mit einer quasi naturwissenschaftlichen Terminologie wird die Physiognomie fremder Völker beschrieben. Anhand des abendländischchristlichen Wertesystems werden ihre Bräuche als positiv oder negativ einge-

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[Campe [Campe [Campe [Campe

1848.] Band 2. Seite 172. 1789b.]. Ich zitiere nach [Campe 1796b.].. 1796b.] Seite 264f.. 1785-1793.].

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stuft. Hier geht es allerdings weniger um die Abgrenzung vom Fremden als vielmehr um die Verbreitung des Eigenen. In diesem Zusammenhang zeigt Campe ein Sendungsbewußtsein, das ebenfalls typisch für die Aufklärung ist. Die Aufklärer halten es prinzipiell für ihre vordringliche Aufgabe, den Menschen in aller Welt zur Verfügung über die allgemeine Vernunft zu verhelfen. Faktisch hängen sie allerdings an der Vorstellung, die als unterentwickelt geltenden Völker damit auch an den Errungenschaften ihrer eigenen besonderen Vernunft teilhaben zu lassen. In „Robinson der Jüngere"80 geht Campe selbstverständlich von der Überlegenheit der europäischen Zivilisation aus. Der in Europa aufgewachsene, in Übersee auf sich selbst gestellte, allein auf seine Vernunft angewiesene Robinson schafft es, in der Wildnis zu überleben und seine Lebensbedingungen von Tag zu Tag zu verbessern. Alles aber, was er sich nach und nach aufbaut, wodurch er Freitag in Staunen versetzt und was er diesem vermittelt, folgt europäischen Vorbildern und richtet sich nach europäischen Maßstäben. Dies gilt auch für Freitags soziale und religiöse Erziehung sowie für seine sprachliche Bildung Robinson lehrt seinen einzigen Gefährten die deutsche Sprache. Freitag gewann hiedurch und durch Alles, was er auf dem Schiffe gesehen hatte, eine so tiefe Ehrfurcht gegen die Europäer und gegen seinen Herrn [Robinson] insbesondere, daß es ihm viele Tage unmöglich war, sich wieder auf den vertrauten freundschaftlichen Ton gegen ihn herabzustimmen. 81

2.1.2 Die sozial-kulturelle Dimension Auch in der sozial-kulturellen Dimension konstatiert Campe in seinen theoretischen Prämissen zur Sprachreinheit den Vorrang des Allgemeinen und relativiert ihn in seinen praktischen Programmen zur Sprachreinerhaltung, Sprachreinigung und Sprachbereicherung durch die Geltung des Besonderen. In seinen theoretischen Prämissen stellt Campe Sprachreinheit82 als Voraussetzung für allgemeine Verständlichkeit dar: Eine reine, mit sich selbst übereinstimmende Sprache nämlich, und nur eine solche allein, kann für alle [Hervorhebung nicht von mir!] Stände eines Volks und für alle einzelne Glieder derselben, nach allen ihren Theilen vollkommen verständlich gemacht werden; 83

80 81 82

83

[Campe 1779-1780.]. [Campe 1848.] Band 2. Seite 124. Die Darlegung der Auffassung Campes von Sprachreinheit behalte ich mir fllr die Analyse seiner puristischen Konzeption vor. [Campe 1813.] Seite 10.

Gleichheit und Ungleichheit bei Campe

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Eine für alle verständliche Sprache wiederum ist nach Campe Voraussetzung für allgemeine Aufklärung, für Erziehung und Bildung aller. Erst wenn sie in allen Schichten verbreitet sind, hat sich ein Volk Wissen und Kenntnisse wirklich angeeignet. Nur wenn alle Menschen daran teilhaben, treibt die Aufklärung den geistigen Fortschritt voran: Ich sagte ferner: eine Kenntniß könne nicht eher einem Volke angehören und auf das Volk nicht eher wirken, als bis sie aus den Köpfen der Gelehrten in die der ungelehrten Volksklassen tibergegangen wäre. Auch das ist ja klar und unbezweifelbar gewiß; so gewiß es ist, daß wir in der Natur nur dann erst Tag, Tag für Alle haben, wann die Sonne am Himmel steht und Allen leuchtet, nicht wann Diesem oder Jenem ein nur ihm leuchtendes Kerzenlicht auf seinem Schreibpulte brennt. Da nun aber für das Wohl der menschlichen Gesellschaft Alles darauf ankömmt, nicht, daß dieser oder jener einzelne Kopf, sondern daß das Volk, die große Masse der Gesellschaft selbst, erleuchtet werde; und da auf der andern Seite diese allgemeine Erleuchtung nicht eher Statt finden kann, als bis die unter das Volk zu verbreitenden Kenntnisse in allgemeinverständliche Ausdrücke gekleidet worden sind: so folgt, daß die allgemeine Verständlichkeit der Wörter und Redensarten, als die Hauptbedingung zur Erreichung des letzten Zwecks der Sprache, auch der Sprache erstes und heiligstes Gesetz sein müsse}4

Diese Äußerung ist in ihrer Bildlichkeit nicht nur durch die für die Aufklärung typische Lichtmetaphorik im allgemeinen - Erziehung und Bildung als Erleuchtung - aufschlußreich, sondern auch durch den Vergleich zwischen verschiedenen Lichtquellen im besonderen, der Campe als Philanthropinisten kennzeichnet. Campe stellt das natürliche Licht der Sonne dem zivilisatorischen Schein einer Kerze gegenüber. Der Philanthropinismus geht davon aus, daß alle Menschen von Natur aus gleich sind. Er schreibt jedem Menschen das Recht auf volle Entfaltung seiner natürlichen Anlagen zu und leitet daraus für jeden Menschen den Anspruch auf Erziehung und Bildung zur Vernunft ab: Es soll „Tag für Alle" werden. Durch allgemeine Aufklärung suchen die Vertreter des Philanthropinismus der Ungleichheit der Menschen in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Zur gesellschaftlichen Ungleichheit gehört, daß Wissen und Kenntnisse den Gebildeten und Gelehrten vorbehalten sind. Unter diesen Umständen ist es für die Masse der Bevölkerung finstere Nacht. Das „Kerzenlicht auf seinem Schreibpulte" steht für die exklusive Klugheit des Gelehrten ohne Bezug zum Leben außerhalb der wissenschaftlichen Kreise. Der Verleger und Schriftsteller Campe widmet der Verbreitung und Umsetzung von Wissen und Kenntnissen in breiten Bevölkerungsschichten eine rege editorische und journalistische Tätigkeit. Er nutzt die dem Zeitgeschmack entsprechenden periodischen Publikationen, um ein großes Publikum zu erreichen. So gibt er das „Braunschweigische Journal, philosophischen, philologiM

[Campe 1813.] Seite I i i .

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Untersuchung

sehen und pädagogischen Inhalts"85 als „ein nach Gemeinnützigkeit strebender Schriftsteller" zu dem erklärten Zweck heraus, „freimüthige Untersuchungen über Alles anzuregen und zu fördern, was eine nahe Beziehung auf die Ausbildung und die dadurch zu bewirkende Glückseligkeit des Menschen habe"86. Campe schreibt auch für andere Periodika. Die Möglichkeiten und Grenzen kurzer, leicht lesbarer Zeitschriftenaufsätze macht er bewußt seinen Zwecken dienstbar: unmittelbare Einflußnahme auf die zeitgenössische Leserschaft, Anpassung an Auffassungsvermögen und Geschmack der Massen, Verbindung der Belehrung mit Unterhaltung, Ermutigung der Schriftsteller zur Meinungsäußerung, Anregung der Öffentlichkeit zur Meinungsbildung. Er scheut sich nicht, seinen Stoff zu popularisieren, Erkenntnisse - auch Banalitäten und Platitüden - mehrmals zu wiederholen. Auf die von Christian Garve (17421798) vorgebrachten Bedenken gegen periodische Publikationen87 erwidert Campe: [Periodika sind] ein wohlausgesonnenes und zweckmäßiges Mittel, nützliche Kenntnisse jeder Art aus den Köpfen und Schulen der Gelehrten durch alle Stände zu verbreiten. Sie sind die Münze, wo die harten Thaler und Goldstücke aus den Schatzkammern der Wissenschaften, welche nie oder selten in die Hand der Armen kamen, zu Groschen und Dreiern geprägt werden, um als solche durchs ganze Land zu rouliren und zuletzt wol gar in den Hut des Bettlers zu fallen. 8 8

In Opposition gegen die Tradition der auf die Theorie beschränkten Buchgelehrsamkeit propagieren die Philanthropinisten eine auf die Praxis ausgerichtete Bildung. Auch Campes Auffassung von allgemeiner Aufklärung impliziert Weltzugewandtheit und Lebensnähe: Und was folgt nun aus dieser Auseinandersetzung? Dieses: daß, wenn wir unsere Kenntnisse und Einsichten aus den gelehrten Arbeitszimmern und aus Büchern, die

85 86 87

88

[Campe, Trapp, Stuve, Heusinger 1788-1793.]. [Campe 1788a.] Seite 21. Brief an Campe 1787. Ich zitiere nach [Leyser 1896.] Band 2. Seite 265-268.. Garve schreibt: „Jene Sammlungen enthalten also selten die besten Producte des Geistes, selbst von den Männern, die viel Geist haben; - und die Gewohnheit oder die Verbindlichkeit, viele solche Beiträge zu liefern, schwächt endlich wirklich die Kraft, so wie sie auch die Zeit wegnimmt, eigene grössere Arbeiten zu verfertigen. - [...] ob ich gleich aus dem Success vieler solcher periodischen Schriften, welche Sammlungen von den Aufsätzen mehrerer Autoren sind, sehe, dass der Geschmack des Publicums hierin von dem meinigen abgeht, und eben deswegen ein Misstrauen in den letzteren setze: so ist es mir doch erlaubt, einem Freunde [...] aufrichtig meine Meynung über diese Punkte mitzutheilen." [Leyser 1896.] Band 2. Seite 267f.. [Campe 1788a.] Seite 32. Diese Äußerung ist in ihrer Bildlichkeit - die Währung des Wissens, große Münzen für die Gebildeten und Gelehrten, kleine Münzen fllr die Ungebildeten oder Ungelehrten - typisch für Campes Forderung nach Erziehung und Bildung für alle Schichten, aber für jede Schicht nur die ihr angemessenen, für sie angebrachten. Campe tritt quasi für eine soziale Marktwirtschaft des Geisteslebens ein.

Gleichheit und Ungleichheit bei Campe

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nur für Gelehrte geschrieben sind, in die Welt oder unter das Volk zu bringen wünschen - und welches würdigere und gemeinnützlichere Ziel kann der denkende und wohlwollende Schriftsteller sich jemahls aufstecken? - wir nicht zu sehr und nicht zu einmüthig dahin streben können, unsere Sprache [...] zu reinigen, und sie nach allen ihren Theilen in eine vollkommene Uebereinstimmung mit sich selbst zu bringen. Nur dann erst wird eine allgemeine Volksaufklärung über die wichtigsten Angelegenheiten des Menschen und des Bürgers, unter uns möglich sein und in der That bewirkt werden können, wenn wir eine Sprache haben werden, die es thulich macht, über jene großen Angelegenheiten auf eine fiirAlle verständliche Weise [...] zu reden.89

Campe faßt Erziehung auch als politische Erziehung im weitesten Sinn auf. Erziehung trägt zur Konstituierung politischer und sozialer Verhältnisse bei. Da jede neue Generation auf eine höhere Stufe gehoben werden kann, treibt Erziehung zur Vernunft im Sinne von Verstand und Anstand den Fortschritt in der Geschichte und damit auch die Befreiung von Unterdrückung voran. Mit den „wichtigsten Angelegenheiten des Menschen und des Bürgers" meint Campe Rechts-, Staats- und Verfassungsangelegenheiten. Durch eine allgemein verständliche Sprache und die dadurch ermöglichte allgemeine Aufklärung sollen alle imstande sein, die öffentliche Diskussion zu verfolgen. An diesem Punkt - „Mensch und Bürger" - setzt Campe in zweierlei Hinsicht an, seine Postulierung natürlicher Gleichheit durch die Konzedierung gesellschaftlicher Ungleichheit zu relativieren: zum einen als Vertreter des Philanthropinismus, zum anderen aus seiner Zugehörigkeit zum Bürgertum. Dem Philanthropinismus ist es mehr noch als um das Wohl des einzelnen um das Wohl der Gemeinschaft zu tun. Das Recht auf freie Entfaltung gemäß der Natur wird durch die Pflicht zur nützlichen Einfügung in die Gesellschaft eingeschränkt. Nach philanthropinistischer Auffassung hat jede Arbeit, die dem Gemeinwesen dient, das Zusammenleben erleichtert und verbessert, ihren Zweck und damit ihren Wert. Analog zu seiner Praxisorientiertheit stuft der Philanthropinismus manuelle Beschäftigung im Vergleich zu intellektuellen und künstlerischen Tätigkeiten zwar recht hoch ein. Er vertritt jedoch eine gesellschaftliche Determiniertheit, die nicht recht in das Menschenbild der Aufklärung paßt. Der philanthropinistischen Konzeption wohnt ein gewisser Widerspruch inne: Um der natürlichen Gleichheit soweit wie möglich gerecht zu werden, sucht sie der gesellschaftlichen Ungleichheit durch für alle bestimmte Erziehung und Bildung von Kindheit an entgegenzutreten. Zugleich nimmt sie die gesellschaftliche Ungleichheit als Tatsache, als gegeben hin, rechtfertigt sie gar als die in der Gemeinschaft vorhandenen Kräfte einteilend und ausschöpfend, daher sinnvoll, und sucht sie nur insofern aufzuheben, als sie jeden auf die ihm bestimmte Stellung bestmöglich vorzubereiten versucht. "

[Campe 1813.] Seite 12.

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Untersuchung

Somit erstrebt sie keine absolute, sondern lediglich relative Chancengleichheit. Philanthropinistische Erziehung soll naturgemäß, aber - bei aller Abgrenzung gegen die aristokratische Standeserziehung - auch standesgemäß sein; sie umfaßt nicht nur allseitige Bildung, das heißt Persönlichkeitsbildung und Allgemeinbildung mit den Zielen der Ausgewogenheit und Harmonie, sondern auch frühzeitig begonnene Berufsbildung mit den Zielen der Brauchbarkeit und Funktionalität. Jeder soll auf dem ihm bestimmten Platz bleiben und diesen so gut wie möglich ausfüllen.90 Auch Campe fordert grundsätzlich Erziehung und Bildung für alle Schichten, gesteht aber tatsächlich jeder Schicht nur die ihr angemessenen, für sie angebrachten zu. In seinen praktischen Programmen zur Sprachreinerhaltung, Sprachreinigung und Sprachbereicherung scheidet er auf der Begriffsebene die Begriffe, deren Aneignung er für alle Schichten notwendig und nützlich hält, von den übrigen, deren Besitz er als nur für die Gebildeten und Gelehrten passend erachtet. Auf der Zeichenebene erklärt er die Sprachreinigung und Sprachbereicherung, das heißt Ersetzung, in bezug auf die den ersteren entsprechenden Zeichen für vordringlich: In Ansehung der durch die Wörter auszudruckenden Sachen und Begriffe ist die erste allgemeine Regel, wodurch die größere und dringendere Nothwendigkeit der Sprachreinigung bestimmt wird, folgende: daß alle diejenigen Begriffe und Kenntnisse, welche allen Menschen zu wünschen sind, weil sie zu der für alle möglichen und für alle nützlichen Ausbildung gehören, einer Umkleidung aus der fremdartigen Sprachhülle, worin sie bisher unter uns Umlauf hatten, in die vaterländische, ganz vorzüglich und vor allen andern bedürfen. 91

Campe stellt einen Katalog von Fächern auf, die im Sinne allgemeiner Aufklärung zu popularisieren sind, und verlangt die Popularisierung der entsprechenden Fachsprachen: „Alle Begriffe und Kenntnisse, welche volksmäßig (populär) werden sollen, müssen vorher erst in die Volkssprache übergehen."92 Die Fächer, die Campe sich populär vorstellt, sind durchweg angewandte Wissenschaften und Künste. Viele gehören zum philanthropinistischen Kanon: Campe hebt Rechtskunde, Staatskunde, Gesellschaftskunde und Wirtschaftskunde besonders hervor; auch führt er einige Realien an, das heißt angewandte Naturwissenschaften. 90

" 92

Der gelegentlich gezogene Vergleich zwischen dem Philanthropinismus und der seit den 1960er Jahren vor allem in den Vereinigten Staaten propagierten vor-, inner- und nebenschulischen kompensatorischen Erziehung ist meines Erachtens nicht gerechtfertigt, da diese nicht wie jener nur relative, sondern absolute Chancengleichheit zu erreichen sucht, nicht Erziehung, Bildung und Aufklärung innerhalb gesellschaftlicher Grenzen betreibt, sondern durch gesellschaftliche Grenzen bedingte Erziehungs- und Bildungsnachteile zu verhindern beziehungsweise auszugleichen strebt, indem sie unterprivilegierte Gruppen besonders fördert.. [Campe 1813.] Seite 32. [Campe 1813.] Seite 32.

Gleichheit und Ungleichheit bei Campe

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Campe scheidet die populären von den akademischen Fächern, den reinen Wissenschaften und Künsten, die den Gelehrten vorbehalten bleiben sollen. Bezeichnend dafür ist seine Unterscheidung zwischen „Lehre" und „Gelehrtheit". Als populäre Fächer, die „für alle Deutsche gehören", oder entsprechende Fachsprachen nennt er die „gesammte Sitten= oder Tugendlehre [Ethik oder Moralphilosophie]", die „eigentliche Gotteslehre [Religion], abgesondert von Dem, was nicht mehr zu ihr, sondern zur Gottesgelehrtheit [Theologie] gehört", die ,Jiechtssprache, die der Gesetze, der Gerichtshöfe, der Landesverordnungen und der öffentlichen Staatsverhandlungen".93 Zu den letzten bemerkt Campe als Philanthropinist und Utilitarist94: Ich hätte dieses Fach obenanstellen sollen. Denn w a s können Sittenlehre und Gotteslehre bei einem Volke wirken, was noch keine, ihm verständliche bürgerliche Gesetze, keine, ihm begreifliche Gerechtigkeitspflege und bürgerliche Verfassung hat? 9 5

Des weiteren nennt Campe als populäre Fächer, als die „Theile der menschlichen Kenntnisse und Geistesbeschäftigungen [...] zu derjenigen Aufhellung und Bildung des menschlichen Verstandes, welche allen Menschen in allen Ständen zu wünschen wäre", oder entsprechende Fachsprachen „diejenigen Theile der Vernunftwissenschaft [Philosophie], die allgemein= oder volksverständlich gemacht werden können und sollten, ζ. B. die Erfahrungsseelenlehre [empirische Psychologie], die angewandte Denkkunst [Logik], das Naturrecht und die ganze Sittenweisheit", weniger nötig, „aber deßwegen gar nicht unnöthig an sich" die ,£ehre vom Uebersinnlichen [Metaphysik]", weiterhin die „Größenlehre [Mathematik]", die Naturlehre [Physik]", die Naturbeschreibung [Geographie]" in Abgrenzung von der Naturgeschichte [Geologie]", die „Scheidekunst [Chemie]", und zwar je „ihren, im gemeinen Leben anwendbaren und gemeinnützlichen Theilen nach", überdies „diejenigen Theile der Arzeneiwissenschaft [Medizin], welche jedem Menschen nützlich werden können, und daher Jedem zu wünschen wären, ζ. B. die Lebensordnung, die Kenntniß des menschlichen Körpers" - zu dieser gehört auch die „Zergliederungslehre [Anatomie]" -, „und die der notwendigsten und einfachsten Arzeneimittel [Pharmazie]", die „Umgangs= und Geschäftssprache" sowie die „Dichtkunst·, weil der Dichter als Dichter, nicht für Gelehrte, die mehre Sprachen verstehn, sondern fürs Volk, welches nur seine eigene Sprache gelernt hat, schreibt und schreiben soll".96 93 94

95 96

[Campe 1813.] Seite 33. Ich definiere Utilitarismus völlig wertfrei als philosophische Lehre, die Nützlichkeit zur Grundlage und zum Maßstab rechten Verhaltens und Handelns erklärt, und ihre aktuale Umsetzung in verschiedenen Bereichen. [Campe 1813.] Seite 33. [Campe 1813.] Seite 33f..

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Untersuchung

Campes Fächerauswahl ist meines Erachtens realistisch angesichts der gegebenen und dem generellen Fortschritt dienenden Spezialisierung der Wissenschaften und der diversen Berufe. Kein einzelner kann sich sämtliche in der Gemeinschaft erarbeitete Kenntnisse in aller Breite und Tiefe aneignen; er muß sich gegebenenfalls auf ein oder einige wenige Fächer konzentrieren, zunächst jedenfalls ein solides Allgemeinwissen erwerben. Eine solide Allgemeinbildung ist genau das, wozu Campe allen Schichten zu verhelfen sucht. Sein Bestreben ist nach meiner Meinung durchaus legitim, zumal da er für eine möglichst umfassende Bildung möglichst breiter Schichten eintritt. Von der elementaren Erziehung und Bildung grenzt er die Bildung zu bestimmten Berufen, die in den unteren Schichten frühzeitig zu beginnen ist, und die Gelehrsamkeit ab. Die gelehrten Kreise aber - dies halte ich für bedenklich - faßt er als geschlossen auf. Zugang zu ihnen soll auch künftig nicht jeder haben, sondern nur, wer gesellschaftlich dazu bestimmt ist. Campe, der selbst zu den Gebildeten, ja zu den Gelehrten gehört, sich auch selbst zu ihnen rechnet und letztlich aus ihrer Perspektive argumentiert, wendet sich dagegen, daß „so viele tausend junge Deutsche, die nicht die Bestimmung haben, Gelehrte zu werden,"97 das Lateinische lernen, nur damit ihnen lateinischsprachige Termini nicht unverständlich bleiben. In der von ihm herausgegebenen „Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher"98 stellt Campe eine „Preisfrage über die einer jeden besondern Menschenklasse [Hervorhebung von mir] zu wünschende Art der Ausbildung und Aufklärung"99, um für folgende „Klassen" die je gebührende Bildung festzustellen: 1) für den Stand der Landleute, 2) für die untersten Stände der Städtebewohner, Schuster, Schneider, Zimmerleute, Tischler u. s. w. 3) für den mittlem Bürgerstand, Kaufleute, Künstler u. s. w. 4) für den Geistlichen Stand a, in Städten und b, auf dem Lande, 5) für Erzieher und Schulleute, 6) für Aerzte und Wundärzte, 7) für Rechtsgelehrte, 8) für Geschäftsmänner und Staatsleute, 9) für den gemeinen Krieger und fiir den Kriegsanführer, 10) für das weibliche Geschlecht in den untersten, mittlem und höhern Ständen. 100

Nicht nur erachtet Campe für die unteren und mittleren Schichten, für die Ungebildeten oder Ungelehrten die Aneignung vieler Begriffe als weder möglich noch nötig; vielmehr fordert er auch die Abschirmung dieser Gruppen gegen manche Begriffe, die er für schädlich, ja gefährlich hält. Er traut ihnen nicht zu, Begriffe von sich aus zu beurteilen und gegebenenfalls zu verwerfen. " " 99 100

[Campe 1813.] Seite 36. [Campe 1785-1792.]. [Campe 1785-1792.] Band 8. Anhang. [Campe 1785-1792.] Band 8. Anhang. Auf die Zusammenfassung der Frauen sämtlicher Stände in einer „Klasse" werde ich in dem an dieses Kapitel anschließenden Exkurs eingehen.

Gleichheit und Ungleichheit bei Campe

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Da sie Begriffe überhaupt auch und vor allem durch Erschließung von Inhalten erlangen, sind vor allem um dieser Gruppen und ihres intellektuellen und moralischen Wohls willen fremde besondere Inhalte, die sich auf vernunftwidrige und unsittliche Begriffe beziehen, von der Entlehnung auszuschließen: Alle ausländische Wörter, die etwas nicht Denkbares, d. i. einen sich selbst widersprechenden und aufhebenden Begriff in sich fassen, verdienen nicht [...] in unsere Sprache übergetragen zu werden. [...] Hätte man diese Vorsicht [...] von jeher beobachtet: wie viele schädliche Gedankenverwirrungen, wie manchen lästigen Unsinn [...] würde man den Köpfen der Deutschen, wenigstens den der ungelehrten Deutschen [Hervorhebung von mir], dadurch erspart haben! 101 Alle schmutzige, unsittliche und pöbelhafte Ausdrücke fremder Sprachen müssen [...] gänzlich ausgeschlossen sein; 102

Fremde besondere Inhaltsmerkmale, die sich auf vernunftwidrige und unsittliche Begriffsmerkmale beziehen, sind bei der Entlehnung von Inhalten, so diese sich nicht überhaupt vermeiden läßt, durch eigene besondere Inhaltsmerkmale, die sich auf vernunftgemäße und sittliche Begriffsmerkmale beziehen, zu ersetzen: Alle diejenigen ausländischen Wörter verdienen [...] gleichfalls ausgeschlossen zu bleiben, die, ohne gerade unanständig, schmutzig oder pöbelhaft zu sein, doch das sittliche Zartgefühl abstumpfen, die Begriffe von Recht und Unrecht wankend machen oder in Verwirrung bringen können, indem sie unsittlichen und unerlaubten Dingen einen gleichgültigen, scherzhaften, oder gar gefälligen und angenehmen Anstrich geben; [...] man sollte sich bemühen, den Nachbildungen solche Nebenbegriffe anzuhängen, die statt Wohlgefallen, vielmehr Widerwillen, Ekel und Abscheu gegen die dadurch bezeichnete Sache einflößen könnten; 103

Somit ist für Campe Sprachreinheit nicht nur Voraussetzung für allgemeine Verständlichkeit; eine reine Sprache dient vielmehr auch als Sieb, als Filter gegen fremde, der Aufklärung zur Vernunft - im Sinne von Verstand und Anstand - abträgliche Einflüsse. Dies halte ich bei aller Integrität der Motive Campes für problematisch. Sein Versuch, sich der Sprache und ihrer Erkenntnisfunktion zu bedienen, um die Aneignung von Begriffen gezielt zu steuern, macht deutlich, daß die Grenzen zwischen dem Schutz vor Manipulation durch Sprache und der Manipulation durch Sprache selbst fließend sind. Als Vertreter des Bürgertums, aus dem er selbst kommt und dem er auch aus Überzeugung zugehört, vertritt Campe einen Anspruch des Besonderen in Distanz zum Adel, der auch aus seinen praktischen Programmen zur Sprach101 102

103

[Campe 1813.] Seite 17. [Campe 1813.] Seite 17. Mit „Ausdrücken" meint Campe hier Wörter, das heißt Zeichen mit Ausdruck und Inhalt, wobei es ihm auf den Inhalt ankommt. [Campe 1813.] Seite 17f..

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Untersuchung

reinerhaltung, Sprachreinigung und Sprachbereicherung zu entnehmen ist. Campes Bezeichnung „die gesitteten Stände" fur das Bürgertum hat nicht nur soziale, sondern auch moralische Bedeutung; sie weist auf eine starke moralische Komponente in seiner Auffassung der Stände hin. Tatsächlich vertritt er einen moralischen Absolutheitsanspruch des Bürgertums in Abgrenzung gegen den Adel, dem er Exzessivität, Exzentrizität und Dekadenz zuschreibt. Er schreibt von „wohlgesitteten, rechtlichen und artigen Familien in Städten und auf dem Lande [...], die oft, ich dürfte gemeiniglich sagen, mehr sittliche Veredelung zeigen, als bei den feinsten Weltleuten gefunden zu werden pflegt"104. Campe setzt überdies den intellektuellen Anspruch des Bürgertums höher an als den des Adels. Der adligen Kultur versucht er eine spezifisch bürgerliche Kultur entgegenzusetzen. Die aristokratische Erziehung und Bildung hält er fur oberflächlich. In Campes „Theophron, oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend"105, einer Sammlung von Lebensregeln für Bürgersöhne, warnt der Vater seinen Sohn: [...] hüte dich, den abgeschmakten, gezierten, auf Schrauben gestelten Modeumgang der sogenanten feinern Welt, bei welchem nur die Eitelkeit, oder noch schlimmere Leidenschaften, ihre Rechnung finden, aber kein einziges naturliches Bedürfnis unseres Herzens befriedigt wird, oder die Zusammenkünfte üppiger Schwelger, welche, aus Mangel einer vernünftigen Unterhaltung, wofür sie weder Kopf noch Herz haben, sich genöthiget sehen, ihr langweiliges Leben durch Spiel und übermäßigen Genuß erkünstelter Speisen und betäubender Getränke fortzuschleudern, für Uebungen der Geselligkeitstriebe zu halten.106

Auch im „Väterlichen Rath für meine Tochter", dem „Gegenstück zum Theophron"107, zeichnet Campe einen „Umriß des Eigenthümlichen und Unterscheidenden in der Denk= und Sinnesart der feinen und üppigen Weltleute"108: Alle, welche das Unglück hatten, durch Erziehung und Umgang zu den Künsten, Beschäftigungsarten, Zerstreuungen und Vergnügungen der feinen und üppigen Lebensart eingeweiht zu werden, sind mehr oder weniger entnervt an Leib und Seele. Wie könnte es auch anders sein, da bei jener Erziehung und bei dieser Lebensart fast alles auf ein unnatürliches Verdrehen, Spannen und Hinaufschrauben unserer geistigen Kräfte, fast alles auf einen unaufhörlichen Kitzel unserer Nerven und auf ein beständiges Reiben an unserm ganzen Wesen, um ihm Glätte und Glanz zu geben, angesehen ist? [...] Daher die körperliche und geistige Kraftlosigkeit, Schlaff-

104 103 106 107 1011

[Campe [Campe [Campe [Campe [Campe

1813.] Seite 15. 1783a.]. 1783a.] Seite 81f.. 1789b.]. 1796b.] Seite 323.

Gleichheit und Ungleichheit bei Campe

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heit, Weichlichkeit und Hinfälligkeit, welche bei dieser Menschenklasse mit jedem Jahre ausgebreiteter, größer und auffallender werden! Daher ihr Mangel an Muth und Geradheit, an Innigkeit des Gefühls und an Vollkraft (Energie) des Geistes! Daher ihr auffallendes Unvermögen zu allen Geschäften, welche Anstrengung und ausdauernde Geduld erfodern! [...] Alle diese Menschen, welche in den wirbelnden Kreisen des großen Weltstrudels herumgetrieben werden, fiihlen sich mehr oder weniger, je nachdem ihr Kopf von Natur schwächer oder stärker war, von einem geistigen Schwindel, von einem Taumel des Leichtsinns ergriffen, der sie zu einer richtigen Beurtheilung sittlicher Gegenstände, zu einem warmen Mitgefühle und zu einer herzlichen Theilnahme an Dingen, welche ihren eigenen Vortheil oder Nachtheil nicht unmittelbar betreffen, in hohem Grade unfähig macht.m Dem allem entspricht, so Campe, daß die Adligen in vielen Bereichen das Französische statt das Deutsche verwendeten und verwenden, vor allem aber dem Einfluß fremder Sprachen, insbesondere des Französischen, auf das Deutsche Vorschub leisteten und leisten: So wie die Strenge der Sitten, Zucht und Ehrbarkeit, durch Verfeinerung, Standeserhöhung und steigende Ueppigkeit gewöhnlich vermindert werden: so ließ auch unsere Sprache, so wie sie vornehmer und eine Dienerinn der Gelehrsamkeit und der Höfe ward [Hervorhebung von mir], von ihrer ehemahligen jungfräulichen Züchtigkeit und Strenge allmählig nach; wurde von Jahr zu Jahr freier und ausgelassener im Umgange mit Fremdlingen, und es fehlte an Ende wenig, daß sie nicht alle Scham verlor, und, feilen Lustdirnen gleich, sich einer schändlichen Vermischung mit jedem, ihr noch so fremden Ankömmlinge, Preis gab.110 Campe bemerkt, daß „schmutzige, unsittliche und pöbelhafte Ausdrücke fremder Sprachen" in vielen Fällen „der vornehmere Pöbel [!] in den höhern Gesellschaftskreisen auszusprechen kein Bedenken trägt"111. Seine Forderungen nach Verwendung des Deutschen in allen Bereichen, vor allem aber nach Abwehr fremdsprachlicher Einflüsse auf das Deutsche dienen somit auch der Behauptung und Durchsetzung bürgerlicher Interessen und mithin der Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft. Die von Campe propagierte Erziehung ist in der Theorie fur alle Schichten, in der Praxis aber vornehmlich fur das Bürgertum konzipiert. 112 Sie soll die

"" [Campe 1796b.] Seite 323-326. 110 [Campe 1813.] Seite 5. Diese in der diachronischen Perspektive geltende Äußerung ist auch auf die synchronische Perspektive bei Campe zu übertragen. Sie ist in ihrer Bildlichkeit - die Hurerei der Sprache - typisch für Campes auch moralische Auffassung der Stände und ihrer Sprache im Zusammenhang mit der Empfänglichkeit für fremde Einflüsse. 111 [Campe 1813.] Seite 17. Mit „Ausdrücken" meint Campe hier Wörter, das heißt Zeichen mit Ausdruck und Inhalt. 112 Darauf weisen einige seiner einschlägigen Schriften schon im Titel hin: „Sittenbüchlein für Kinder aus gesitteten Ständen". [Campe 1777a.] Titel. „Versuch eines Leitfadens beim christlichen Religionsunterrichte für die sorgfältiger gebildete

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Untersuchung

Werte des Bürgertums stärken: Mäßigkeit, Fleiß und Tugendhaftigkeit. Die Arbeit steht als Unterscheidungsmerkmal vom Adel im Vordergrund. Campe befindet sich auch in dieser Hinsicht in einem Zwiespalt zwischen dem naturbedingten Allgemeinen und dem gesellschaftsbedingten Besonderen, zwischen Freiheit, Ungezwungenheit und Ungekünsteltheit als Zielen naturgemäßer Erziehung und Eingebundenheit, Pflichtbewußtsein und Genügsamkeit als Zielen standesgemäßer, das heißt bürgerlicher Erziehung. In seinem Aufsatz „Ueber die große Schädlichkeit einer allzufrühen Ausbildung der Kinder"113, erschienen in der „Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher"114, schreibt Campe: Die Erziehung der Natur, so wie ich sie jetzt beschrieben habe, zwekt auf die Vervollkommnung und Beglückung des einzelnen Menschen ab, ohne Rüksicht auf diejenigen Lagen und Verhältnisse, worin er künftig, als Mitglied einer bürgerlichen Gesellschaft, kommen wird. Diese seine künftigen Lagen und Verhältnisse aber erfordern, wie in diesem Werke, schon gründlich erwiesen worden ist, daß zur Vergrösserung seiner Brauchbarkeit mancher nicht unerhebliche Grad seiner Vollkommenheit aufgeopfert werde. Wir müssen also irgend einmahl aufhören, ihn blos der Natur gemäß zu erziehn, um ihn fiir die Gesellschaft auszubilden; wir müssen irgend einmahl anfangen, mehr an seiner künftigen Brauchbarkeit, als an seiner individuellen Vollkommenheit zu arbeiten, mehr den Bürger und den Gesellschafter als den Menschen in ihm zu bilden.115

„Robinson der Jüngere"116 ist auch in dieser Hinsicht ein Paradigma. Der junge „Wilde" Freitag darf sich ausleben, darf spielend lernen; seine Einsichten reifen nach und nach. Allmählich aber muß er sich an bürgerliche Geschäftigkeit und Biederkeit gewöhnen. Sein Erzieher Robinson, der sich Arbeitsamkeit und Mäßigkeit117 als Maxime gewählt hat, erzählt in Europa von ihren Abenteuern; unterdessen erinnert er seine Zuhörer an die gebührenden Beschränkungen: Bei diesen Erzählungen vergaß er dann nie, den Vätern und Müttern zuzurufen: Aeltern, wenn ihr eure Kinder liebt, so gewöhnt sie ja frühzeitig zu einem frommen, mäßigen und arbeitsamen Leben! Und waren Kinder dabei, so gab er ihnen allemahl die goldene Regel mit: Liebe Kinder, seid gehorsam Euren Eltern und Vorgesetzten; lernet fleißig Alles, was ihr zu lernen nur immer Gelegenheit habt; furchtet

113 114 115 116 117

Jugend". [Campe 1791c.] Titel. [Campe 1785-1792.] Band 5. Seite 1-160. [Campe 1785-1792.]. [Campe 1785-1792.] Band 5. Seite 70f.. [Campe 1779-1780.]. [Campe 1848.] Band 2. Seite 62.

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Gleichheit und Ungleichheit bei Campe

Gott, und hütet euch - ο hütet euch - vor Müßiggang,

aus welchem

nichts als

Böses

kommt!"8

Auch Freitags Beziehung zu Robinson entwickelt sich nicht frei nach Sympathie, sondern unterliegt einem strengen Reglement. Zunächst besteht zwischen ihnen ein als Königtum bezeichnetes Herrschaftsverhältnis, das nicht adliger, sondern bürgerlicher Gesinnung entspricht, da es nicht durch Geburt oder Gottesgnadentum, sondern durch Tugend, Arbeit und Besitz legitimiert ist. Seine Umwandlung in ein Freundschaftsverhältnis erfolgt im Sinne bürgerlich-humaner Brüderlichkeit. Im übrigen verweist allein die Wahl des bereits von Daniel Defoe (1660[?]1731) in „The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe"119 bearbeiteten Stoffs auf Campes bürgerliche Position. Schon Defoe beruft sich explizit auf das Ethos des aufstrebenden Bürgerstandes: Zu Anfang seiner Geschichte preist der Vater gegenüber dem Sohn, den es hinaus in die Welt zieht, das Glück des Mittelstandes, der weniger als die niederen und die höheren Stände von den Wechselfällen des Lebens betroffen sei, in dem man Frieden und Wohlstand finde. Der Sohn, auf seiner Insel zuerst weit entfernt von diesem Zustand, arbeitet sich in bürgerlichem Eifer immer näher an ihn heran. Campe übernimmt das Motiv und baut es zum Grundkonzept seiner Geschichte aus. Im 18. Jahrhundert kam in Deutschland die Rezeption englischer Traditionen in der Literatur oft einer Opposition gegen französischklassizistische Tendenzen gleich, hatte mithin einen antiaristokratischen Akzent.

2.1.3 Exkurs: Der Unterschied des Geschlechts Campe geht in der Dimension des Geschlechts von gesonderten Anthropologien des Mannes und der Frau aus. Das Allgemeine tritt hier hinter dem Besonderen zurück; das Besondere tangiert und dominiert das Allgemeine. In „Väterlicher Rath für meine Tochter, ein Gegenstück zum Theophron, der erwachsenern weiblichen Jugend gewidmet"120, einer Sammlung von Lebensregeln für Bürgertöchter - „vornehmlich für junge Frauenzimmer des glücklichen Mittelstandes, nicht für junge Damen von Stande"m -, bei der Campe seine eigene Tochter Charlotte im Sinn hat, erklärt der Vater seiner Tochter:

"8 119 120 121

[Campe 1848.] Band 2. Seite 204. [Defoe 1719-1720.]. [Campe 1789b.]. [Campe 1796b.] Seite VIII.

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Untersuchung

Gott selbst hat gewollt, und die ganze Verfassung der menschlichen Gesellschaften auf Erden, so weit wir sie kennen, ist danach zugeschnitten, daß nicht das Weib, sondern der Mann das Haupt sein sollte. Dazu gab der Schöpfer in der Regel dem Manne die stärkere Muskelkraft, die straffern Nerven, die unbiegsamern Fasern, das gröbere Knochengebäude; dazu den größern Muth, den kühnern Unternehmungsgeist, die auszeichnende Festigkeit und Kälte, und - in der Regel meine ich - auch die unverkennbaren Anlagen zu einem größern, weiterblickenden und mehr umfassenden Verstände [Hervorhebung von mir]. Dazu ward bei allen gebildeten Völkerschaften die ganze Erziehungs- und Lebensart der beiden Geschlechter dergestalt eingerichtet, daß das Weib schwach, klein, zart, empfindlich, furchtsam, kleingeistig - der Mann hingegen stark, fest, kühn, ausdauernd, groß, hehr und kraftvoll an Leib und Seele würde. [...] Es ist also der übereinstimmende Wille der Natur und der menschlichen Gesellschaft [Hervorhebung von mir], daß der Mann des Weibes Beschützer und Oberhaupt, das Weib hingegen die sich ihm anschmiegende, sich an ihm haltende und stützende treue, dankbare und folgsame Gefahrtinn und Gehülfinn seines Lebens sein sollte - er die Eiche, sie der Efeu, der einen Theil seiner Lebenskraft aus den Lebenskräften der Eiche saugt, der mit ihr in die Lüfte wächst, mit ihr den Stürmen trotzt, mit ihr steht und mit ihr fällt - ohne sie ein niedriges Gesträuch, das von jedem Vorübergehenden zertreten wird.122

Campe setzt das Allgemeine und Gleiche - den Menschen und seine Anlage zur Vernunft - wohl voraus, betont aber von vornherein das Besondere. Mann und Frau sind nach physischer, mentaler und psychischer Konstitution verschieden. Das Besondere und Verschiedene ist in jeder Hinsicht zunächst naturbedingt, dann auch gesellschaftsbedingt oder vielmehr gesellschaftlich gestützt. Campe unterstreicht die Behauptung der Naturbedingtheit noch durch die wiederholte Behauptung der Gottgewolltheit, die als Legitimation von der Aufklärung sonst abgelehnt wird. Die gesellschaftliche Übereinkunft hinterfragt er nicht. Die Spannung zwischen Gleichheit und Ungleichheit wird aufgehoben durch die in dem Unterschied des Geschlechts implizierte Ungleichwertigkeit: Der Mann ist nicht nur körperlich, sondern auch geistig-seelisch der Stärkere; er verfügt über das größere Vernunftpotential. Das leichte Zögern, die geringe Einschränkung, mit der Campe neben der „Regel" einzelne Ausnahmen einräumt, ändert nichts an der Determiniertheit der Geschlechter und ihres Verhältnisses zueinander: Die Frau verwirklicht sich nur in Abhängigkeit vom und in der Bindung an den Mann. Hier stößt die Aufklärung an eine Grenze. Die Trennung der Geschlechter ist in Theorie und Praxis anderen Einteilungen übergeordnet. Demgemäß faßt Campe die Frauen sämtlicher Stände bei der Bestimmung der je gebührenden Bildung in einer „Klasse" zusammen: [...] „das weibliche Geschlecht in den untersten, mittlem und höhern Ständen"123. 122 123

[Campe 1796b.] Seite 22f.. [Campe 1785-1792.] Band 8. Anhang.

Gleichheit und Ungleichheit bei Campe

59

Dies schließt eine weitere - ständische - Differenzierung, vor allem die Abgrenzung der „Frauenzimmer des glücklichen Mittelstandes" gegen die „Damen von Stande"124 nicht aus. Campes Erziehungskonzept ist auf männliche Kinder und Jugendliche gerichtet. Die Erziehung der Mädchen handelt er gesondert ab, und zwar vergleichsweise knapp. Immerhin aber ist er einer der ersten Pädagogen, die Mädchenbildung überhaupt zum Thema machen. Die Bildungsdefizite der Frauen zu seiner Zeit erkennt er durchaus als Problem. Die von ihm propagierte Erziehung hat allerdings den ausschließlichen Zweck, die bürgerliche Frau auf die ihr einzig zukommenden Rollen vorzubereiten, nämlich Vorsteherin des „innern Hauswesens"125, das heißt Hausfrau, sowie - gemäß der neuen bürgerlichen Auffassung von der Ehe nicht mehr nur als Wirtschafts-, sondern auch als Gefühlsgemeinschaft - Ehefrau und Mutter. Umfang und Inhalte der ihr gebührenden Bildung sind durch die der Frau in diesen Rollen zufallenden Aufgaben bestimmt und begrenzt. Demgemäß ist das theoretische Bücherstudium zugunsten praktischer Tätigkeit im Haushalt einzuschränken; auch muß und soll die Bürgertochter keine Fremdsprachen lernen. Ordnungsliebe, Sparsamkeit, Bescheidenheit, Sanftmut und Keuschheit sind die wichtigsten Ziele der Bildung für den Hausgebrauch. Gesonderte Anthropologien des Mannes und der Frau machen sich auch in Campes Sprachkonzeption geltend. Campe macht wiederholt auf die Problematik des Sexus-Systems des grammatischen Genus im Deutschen aufmerksam. Es stimmt nur zum Teil mit dem natürlichen Geschlecht überein. In seiner „Abrede und Einladung"126, erschienen in den „Beiträgen zur weitern Ausbildung der Deutschen Sprache von einer Gesellschaft von Sprachfreunden" 127 , postuliert er die Vernunft als absolute Instanz auch für die Sprache und die der Vernunft einzig gemäße Analogie als das primäre Prinzip der Sprachrichtigkeit. Auf der Analogie wiederum hat der Gebrauch zu beruhen, insbesondere „in wichtigen Dingen *)". *) Denn in unwichtigen oder ganz gleichgültigen Dingen, wie ζ. B. wenn er [der Gebrauch] die größere Sonne zum Weibe, den kleinern Mond zum Manne macht, gönnt man ihm gern seine Sonderlingsgrillen, und achtet es nicht der Mühe werth, sich ihm deshalb zu widersetzen.128

In den hier angeführten Fällen stimmt das grammatische Genus - maskulin beziehungsweise feminin - der Wörter nicht nur mit dem natürlichen Geschlecht der Sachen - sächlich, das heißt weder männlich noch weiblich - nicht 124 125 126 127 128

[Campe [Campe [Campe [Campe [Campe

1796b.] Seite VIII. 1796b.] Seite 17. 1795-1797b.]. 1795-1797a.]. 1795-1797b.] Seite 10.

60

Untersuchung

überein; es widerspricht auch - und daraufkommt es Campe an - den einschlägigen Begriffsmerkmalen, das heißt den Assoziationen von „groß" mit „männlich" und von „klein" mit „weiblich". Diese gängigen Personifizierungsschemata billigt Campe als durchaus vernunftgemäß, ihre sprachliche Entsprechung erachtet er als ebenfalls vernunftgemäß und· daher eigentlich richtig. Daß er in diesem Punkt dennoch den entgegengesetzten Gebrauch gelten läßt, zeigt lediglich, daß er in der Praxis die faktisch existierende Norm weitgehend akzeptiert. Er bezeichnet die „Grillen" auf der Zeichenebene als „unwichtig", weil er die als vernunftgemäß erachteten Assoziationen auf der Begriffsebene für ohnehin gewährleistet hält. In seinem ebenfalls in den „Beiträgen"129 veröffentlichten Aufsatz „Was ist Hochdeutsch? In wiefern und von wem darf und muß es weiter ausgebildet werden?"130 erwähnt Campe die im Obersächsischen übliche dialektale Verwendung eines Pronomens im Neutrum für eine Person, deren Geschlecht nicht anzugeben ist. Er hält dies für zwar im Hochdeutschen unrichtig, aber grundsätzlich vernunftgemäß. [...] ferner die Gewohnheit, die Fürwörter jeder und mancher, auch einer, in Beziehung auf Personen, geschlechtlos zu gebrauchen; ζ. B. manches von Ihnen wird glauben, jedes setzt sich dann auf seinen Stuhl, eins aus der Gesellschaft geht hinaus. Ich finde diesen Gebrauch nun zwar gerade nicht tadelnswürdig; ich möchte es vielmehr für ganz vernünftig erklären, daß man da, wo von Personen beiderlei Geschlechts die Rede ist, und nun eine von ihnen ohne nähere Bestimmung angegeben werden soll, lieber geschlechtlos, als mit der, nur auf einige unter ihnen, nicht auf alle passenden Bestimmung durchs männliche Geschlecht, von ihnen redet; allein es ist doch nichts desto weniger wahr, daß dieser Gebrauch bis jetzt nur noch Obersächsisch, noch nicht Hochdeutsch ist, [...] m

Diese Äußerung impliziert eine strenge Trennung der Geschlechter: Ist das Geschlecht einer Person nicht anzugeben, so soll sie, für den Fall, daß sie nicht männlich, sondern weiblich ist, durch ein Pronomen eigentlich lieber nicht wie üblich maskulin, sondern neutral bezeichnet werden. Campe geht so weit, für die Gedanken- und Gefuhlssphäre der Frau Wörter mit femininem Stamm zu prägen, analog zu bereits vorhandenen maskulinen Formen: Schwesterlichkeit132 und schwestern zu Brüderlichkeit und brüdern. 129

130 131 132

[Campe 1795-1797a.].

[Campe 1795-1797C.]. [Campe 1795-1797c.] Stück 1. Seite 162f.. Ich gebe in dieser Arbeit Zeichen, insbesondere Wörter, auch lexikalische Entlehnungen, Eindeutschungen und Verdeutschungen, als Beispiele im Zusammenhang mit Campes - oder Johann Christoph Adelungs (1732-1806) - Sprachkonzeption, Standardisierungskonzeption und puristischer Konzeption mit ihrer zeitgenössischen - von Campe, Adelung oder anderen angeführten - Ausdrucksseite, oder, wenn sie im Deutschen noch erhalten sind, gelegentlich mit ihrer gegenwärtigen Ausdrucksseite, aber stets mit ihrer zeitgenössischen, - von Campe,

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

61

Und so könnte man nun auch, nach der Aehnlichkeit von diesem [Brüderlichkeit], für die nämliche Gesinnung unter Personen des andern Geschlechts, Schwesterlichkeit sagen; ein Wort f ü r welches die Franken selbst, in ihrer Sprache, ein gleichbedeutendes weder haben noch bilden können. Sie müssen daher, auch in diesem Fall, des innem Widerspruchs ungeachtet, gleichfalls fraternitö brauchen. 1 3 3

Die Bezeichnung des Weiblichen durch Wörter mit femininem Stamm beziehungsweise femininer Endung wird heute von der sogenannten feministischen Linguistik gefordert. Diese agiert jedoch gewissermaßen mit umgekehrtem Vorzeichen: nicht Trennung der Geschlechter mit der Implikation von vornherein festgelegter Rollen, sondern vielmehr Gleichberechtigung der Geschlechter und Emanzipation der Frau.134

2.2

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

Die von Joachim Heinrich Campe angenommene Gliederung in zwei Schichten, eine allgemeine und gleiche und eine je besondere und verschiedene, betrifft Welt, Vernunft und Sprache, das heißt Sachebene, Begriffsebene und Zeichenebene. Aus der Tatsache, daß sich grundsätzlich alle Zeichen als Einheiten von Sprache zu Sprache unterscheiden, folgt für Campe die Trennung von Begriff und Zeichen: Anders als die zum Teil allgemeinen und gleichen, zum Teil besonderen und verschiedenen Sachen und Begriffe sind die Zeichen alle besondere und verschiedene. Daraus, daß sie sich zum Teil auf allgemeine und gleiche, zum Teil auf besondere und verschiedene Begriffe und Sachen beziehen, ergibt sich für Campe die Bilateralität des Zeichens, seine Konstitution aus Ausdruck und Inhalt: Die Ausdrücke sind grundsätzlich alle besondere und verschiedene, die Inhalte zum Teil allgemeine und gleiche, zum Teil besondere und verschiedene. Campe trennt nicht nur Begriff und Zeichen, sondern auch Sache und Begriff. Er unterscheidet zwischen Inhalt und Einzelinhalt, unterscheidet und behandelt Einheiten und Elemente auf allen Ebenen, auf der Sachebene, der

134

Adelung oder anderen vorausgesetzten - Inhaltsseite an. Bedeutungswandel, falls nicht anders vermerkt, berücksichtige ich mithin nicht. Ich gehe nur in spezifischen Zusammenhängen darauf ein, ob, inwiefern und inwieweit die aus Zitat, Paraphrase und Kommentar hervorgehenden sprachhistorischen, etymologischen, grammatischen oder semantischen Annahmen Campes, Adelungs oder anderer den Tatsachen - oder dem heutigen Stand der Kenntnisse - entsprechen. Wenn ich etymologische Angaben mache, stütze ich mich auf [Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 1995.].. [Campe 1794a.] Seite 173. Wörterverzeichnis. „Fratemiti". Die gelegentliche Vereinnahmung Campes als Vorläufer gewisser Bestrebungen, die traditionelle patriarchalische Ordnung Uber Sprachkritik zu reformieren, ist daher meines Erachtens nicht gerechtfertigt.

62

Untersuchung

Begriffsebene und der Zeichenebene mit Ausdrucksebene und Inhaltsebene, unterscheidet auch zwischen registratorischen und evaluativen Begriffsmerkmalen auf der Begriffsebene und dementsprechend zwischen denotativen und konnotativen Inhaltsmerkmalen auf der Inhaltsebene. Die Verbindung von Ausdruck und Inhalt ist für Campe prinzipiell arbiträr und konventionell. Er sucht die Arbitrarität aber durch relative Motiviertheit, basierend auf synchronischer Zuordenbarkeit, von Komposita und Derivativa soweit wie möglich einzuschränken. Campe, der sich weitgehend auf die Lexik konzentriert, vertritt eine Wortauffassung, die nicht auf die Simplizia begrenzt ist, vielmehr die Komposita und Derivativa unabhängig von ihrer Lexikalisierung/Idiomatisierung mit einschließt. Er beschäftigt sich vornehmlich mit Autosemantika. Campe erörtert auch Einzelwörter versus Wortverbindungen und unterscheidet diese von Wendungen auf der Ebene der Phrastik. Ferner berücksichtigt er syntaktische Konstruktionen. Das bilaterale Zeichenmodell ist in Campes Standardisierungskonzeption und in seiner puristischen Konzeption implizit enthalten. Da es ihm weniger um theoretische Bestimmung als vielmehr um praktische Anwendung zu tun ist, verwendet er diesbezüglich weder eine konsistente Terminologie, noch gibt er explizite Definitionen. Aus seinen sprachwissenschaftlichen Werken geht jedoch insgesamt ein kohärentes Konzept hervor.

2.2.1 Sache - Begriff - Zeichen - Ausdruck - Inhalt Die Trennung von Sache, Begriff und Zeichen geht aus verschiedenen Äußerungen Campes hervor. In den „Beiträgen zur weitern Ausbildung der Deutschen Sprache"135 erklärt er unter der Frage „Was ist Hochdeutsch? In wiefern und von wem darf und muß es weiter ausgebildet werden?"136 zum Veralten von Wörtern: Die Behauptung, daß das Veralten der Wörter [Hervorhebung von mir] immer daher rühre, daß man irgend einen Mangel an ihnen bemerkt, wenigstens dunkel empfunden habe, scheint mir doch gar nicht gegründet zu sein. Oft ist die Ursache, um welcher willen Wörter [Hervorhebung von mir], wenigstens eine Zeitlang, ausser Umlauf gesetzt werden, etwas sehr zufälliges, etwas ganz ausser ihnen liegendes [Hervorhebung von mir]. Zum Beispiele mag das Wort [Hervorhebung von mir] Aufklärung dienen. Waren wir nicht ganz nahe dabei, diesen guten und bedeutungsvollen Ausdruck [Hervorhebung von mir] aus unserer Sprache [Hervorhebung von mir] zu verlieren? Trug nicht ein sehr achtungswürdiger Schriftsteller, Hr. Gedike,

1,5 136

[Campe [Campe

1795-1797a.]. 1795-1797C.].

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

63

wirklich schon darauf an, ihn lieber ganz fallen zulassen? Waren die Weltklugen oder Furchtsamern unter uns nicht wirklich schon so behutsam geworden, sich des Gebrauchs dieses Wortes [Hervorhebung von mir] zu enthalten? Und warum? Nicht weil man etwas mangelhaftes daran bemerkt hatte; sondern weil ein Dutzend herrschsüchtiger Finsterlinge und Verfinsterer, denen das Wort [Hervorhebung von mir], wie die dadurch ausgedruckte Sache [Hervorhebung von mir], ein Dorn im Auge war, ein unser Jahrhundert schändendes Geschrei dagegen erhoben. Mit den an sich guten und edlen Wörtern [Hervorhebung von mir], Freiheit und Gleichheit, ist es eben derselbe Fall. Tragen, seitdem die Begriffe [Hervorhebung von mir], die dadurch bezeichnet werden, während der neuesten Weltbegebenheiten [Hervorhebung von mir], so sehr verwirrt und mißverstanden [Hervorhebung von mir] wurden, nicht Viele unter uns Bedenken, sie, vor der Hand wenigstens, zu gebrauchen? Und ist es in manchen Gegenden Deutschlandes nicht sogar gefährlich sie zu gebrauchen, wenn man nicht die Behutsamkeit anwendet, ihnen irgend ein verspottendes oder verwünschendes Beiwort zuzugesellen? Und gesetzt nun, daß die unglücklichen Zeit=umstände [Hervorhebung von mir], welche lediglich hieran schuld sind, sich dergestalt in die Länge zögen, daß diese, an sich so unschuldigen und guten Wörter [Hervorhebung von mir], darüber ganz in Vergessenheit geriethen, würde Hr. A. [Adelung] es den Schriftstellern des künftigen Jahrhunderts verargen, wenn sie zu einer Zeit, da die Sache [Hervorhebung von mir] nicht mehr gehässig sein wird, ferner kein Bedenken trügen, nun auch die sie bezeichnenden Wörter [Hervorhebung von mir] wieder hervorzuziehen und von neuem in Umlauf zu bringen?137 Die weitere Ausbildung des Hochdeutschen geschieht Campe zufolge auch durch [...] neue Wortbildungen nach den in der Sprache einmahl festgesetzten Aehnlichkeitregeln (Analogien), indem man entweder, durch Hülfe der Vor= und Endsilben unserer Sprache, neue Ableitungen macht, oder durch Vereinigung zweier Wörter [Hervorhebung von mir] ein drittes bildet, wodurch zwei, vorher einzelne Begriffe [Hervorhebung von mir], nun, als in einen einzigen zusammengeschmolzen, auf einmahl gedacht [Hervorhebung von mir] und ausgedruckt [Hervorhebung von mir] werden138. Campe geht von der Außersprachlichkeit der Welt und der Vernunft aus: Er betrachtet Sachen und Begriffe im Verhältnis zu Wörtern als „etwas ganz ausser ihnen liegendes". Für die Sachebene verwendet er Bezeichnungen wie „Sache", „Weltbegebenheit" und „Zeit=umstand"; fur die Begriffsebene schreibt er von „Begriffen" die „gedacht", „verwirrt und mißverstanden" werden können. Begriffe werden in der „Sprache", das heißt auf der Zeichenebene, durch „Zeichen", insbesondere durch „Wörter", „ausgedruckt". Die Bezeichnung des Zeichens, das heißt des Wortes, auch mit „Ausdruck" entspringt 137 138

[Campe 1795-1797c.] Stück 2. Seite 104f.. [Campe 1795-1797c.] Stück 2. Seite 101.

64

Untersuchung

lediglich Campes terminologischer Inkonsistenz und läßt nicht etwa auf M o nolateralität seines Zeichenmodells schließen. Die Formulierung „bedeutungsvoller Ausdruck" etwa weist klar auf Bilateralität hin: Das Zeichen Aufklärung enthält einen Inhalt v o n großem Wert - der „Ausdruck" ist „voller Bedeutung" 139 . A n anderen Stellen wiederum bezeichnet Campe mit „Ausdruck" - an manchen Stellen auch mit „Hülle" - den Ausdruck allein, den er von dem „Inhalt" oder der „Bedeutung", dem Inhalt, klar trennt. Die Trennung von Ausdruck und Inhalt ist - neben der Trennung v o n Begriff und Zeichen - unter anderem Campes Vorrede zu Band 1 des „Wörterbuchs der Deutschen Sprache" 140 zu entnehmen. Campe schreibt zur Buchung von Komposita: In Ansehung der Zusammensetzungen, in welchen Wort mit Wort [Hervorhebung von mir] zusammengelöthet erscheint, um Einen Begriff [Hervorhebung von mir] [...] zu bezeichnen, [...] entstand abermahls die Frage: welche davon aufgenommen, welche hingegen ausgelassen werden könnten und sollten? [...] Es werden aufgenommen: 1. Alle diejenigen, die einen einzelnen Begriff [Hervorhebung von mir] bezeichnen, der ohne die Zusammensetzung nicht anders als durch eine Umschreibung ausgedruckt [Hervorhebung von mir] werden könnte, ζ. B. Kühlofen, ein Ofen zum allmähligen Abkühlen, Glühwurm, ein Wurm, welcher im Finstern zu glühen scheint; u. s. w. [...] 3. Alle diejenigen, in welchen das vordere oder Bestimmungswort nicht in seiner gewöhnlichen Form und Umendungs= oder Umbildungart erscheint [Hervorhebung von mir], es sei nun, daß man ihm etwas, sonst nicht zu ihm Gehöriges beigefügt, oder einen wirklichen Theil von ihm weggeschnitten hat; ζ. B. Rückhalt für Zurückhält, Sonnenblume, die Blume der Sonne, nicht der Sonnen; Fühlhorn, ein Horn zum Fühlen, nicht zum Fühl·, u. s. w. [...] Vornehmlich auch 5. Alle diejenigen, in welchen das Hauptwort in seiner eigentlichen, das Bestimmungswort in einer uneigentlichen Bedeutung [Hervorhebung von mir] und nur vergleichsweise gebraucht wird, wo folglich ein Wie hinzugedacht werden muß, welches für den Ausländer einige Schwierigkeit machen könnte, ζ. B. Rosenlippe, Rosenwange, Lilienarm, Schwanenbusen u. s. w. [...] Bekanntlich gibt es unter den Zusammensetzungen, besonders unter denen, in welchen man dem ersten oder Bestimmungsworte das s des zweiten Falls oder auch ein η angehängt hat, so viele Abweichungen oder Ausnahmen, daß man oft zweifelhaft werden möchte, welches die Regel und welches die Ausnahme sei. [...] Wenn man diese Abweichungen mit einander vergleicht, so bemerkt man bald, daß in vielen (nur freilich nicht in allen) Fällen, bald Zunge und Ohr, [...] jene Verschiedenheiten veranlaßt haben [Hervorhebung von mir]. Man fand ζ. B. Geschäftsträger leichter für die Aussprache und minder hart für das Ohr, als Geschäftträger, weil das eingeschobene s einen glätteren oder sanfteren Übergang von dem einen t zum andern gewährt. Eben so in Kö-

139

140

Campe, der hier explizit eine Eigenschaft des Worts an sich betont, meint mit „bedeutungsvoll" nicht etwa wichtig. An anderer Stelle bezeichnet Campe Zeichen mit einem - vernunftwidrigen - Inhalt von geringem Wert als „leer". Vergleiche [Campe 1813.] Seite VIII. [Campe 1807-1811.].

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

65

nigsmord\ weil der Übergang vom g zu m ohne das eingeschobene s der Zunge zu schwer fiel. In Gartensthür, Gartensfreund, Gartenswand würde das Gegentheil eingetreten sein; deswegen wurde das s dort eingeschoben, hier aber weggelassen.141

Die den Äußerungen zugrundeliegenden - teilweise mangelhaften - Grammatikkenntnisse Campes und seine dieser Stelle zu entnehmenden Ansichten von der Wortbildung im allgemeinen und der Komposition im besonderen, auch von der Lexikalisierung/Idiomatisierung, stehen hier - noch - nicht zur Diskussion. Hier geht es lediglich um Campes Annahme, daß jedes Zeichen bilateral ist, sich aus Ausdruck und Inhalt konstituiert. Mit „Form" meint er nicht den Ausdruck, sondern die Morphemik, das heißt die Flexion und die Wortbildung - „Umendungs= oder Umbildungsart" -, mithin Zeichen mit Ausdruck und Inhalt. Er stellt Differenzen fest: Manchmal, so Campe, weicht die Morphemik lediglich ausdrucksseitig, aber nicht inhaltsseitig, vom „Gewöhnlichen" ab, die Abweichung „erscheint" nur. Mit dem „Gewöhnlichen" meint er das Regelhafte beziehungsweise Normgemäße, das er allerdings vom Inhalt ausgehend bestimmt, und zwar vom Inhalt des Kompositums, so wie es zu seiner Zeit besteht. In manchen Fällen, so Campe weiter, ist die rein ausdrucksseitige Abweichung durch rein ausdrucksseitige Gegebenheiten bedingt, nämlich durch Gegebenheiten der Phonie, die eine Ausnahme zur Erleichterung der Lautproduktion und/oder Lautrezeption, für „Zunge und Ohr", nahelegen. Campe behandelt auch Phänomene, die den Inhalt, die „Bedeutung", allein betreffen: Er erwähnt die Metapher als „uneigentliche Bedeutung", das heißt Übertragung eines Inhalts auf einen anderen Begriff. Den Begriff betrachtet Campe als außersprachliche Einheit: Alle diejenigen [Zusammensetzungen werden aufgenommen], welche Begriffe [Hervorhebung von mir] bezeichnen, wofür andere Völker in ihren Sprachen [Hervorhebung von mir] einfache Wörter besitzen [Hervorhebung von mir], die wir, in der irrigen Meinung, daß sie unübersetzbar wären, ins Deutsche aufnehmen zu müssen glaubten, [Hervorhebung von mir] und von welchen es sich gleichwol nunmehr zeiget, daß wir sie, wo nicht durch einfache Deutsche Wörter, doch durch Zusammensetzungen, aus unserer durch jener Aufnahme verunstalteten Sprache füglich wieder vertreiben können; [Hervorhebung von mir] ζ. B. Zartgefühl für delicatesse; Hutschleife für cocarde', Murrlaune, Griesgram oder Milzsucht für Spleen\ bewundernswürdig und bewundernswerth für admirable·, u. s. w. 142

Nach Campes Vorstellung können ein und demselben Begriff mehrere Zeichen, das heißt Wörter, in verschiedenen Sprachen entsprechen. Nicht Begriffe als außersprachliche Einheiten, sondern Wörter als sprachliche Einheiten sind aus einer Sprache in die andere zu entlehnen oder zu übersetzen. Bei der Erset141 142

[Campe 1807-1811 ] Band 1. Seite XIV-XVI. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XV.

66

Untersuchung

zung von Entlehnungen durch Verdeutschungen bleiben die

entsprechenden

B e g r i f f e erhalten, s o „daß wir sie [die Entlehnungen], w o nicht durch e i n f a c h e D e u t s c h e Wörter, d o c h durch Z u s a m m e n s e t z u n g e n , aus unserer durch jener A u f n a h m e verunstalteten Sprache füglich w i e d e r vertreiben können". D e m g e g e n ü b e r betrachtet C a m p e d e n Inhalt stets als sprachliche Einheit. S o w ü r d i g t er e t w a d e n B e i t r a g v o n C h r i s t i a n W o l f f z u r A u s b i l d u n g d e s D e u t schen: Und w i e g e s c h w i n d griff gleichwol

diese merkwürdige, v o n

einem

einzigen

Schriftsteller angefangene, Sprachverbesserung um sich! W i e schnell ward sie durch ganz Deutschland verbreitet, weil Wolfs

Schriften durch g a n z Deutschland

g e l e s e n wurden! Man nenne mir doch irgend ein anderes Mittel, wodurch die

Be-

stimmungen,

gab

welche

dieser

Schriftsteller

unsern

noch unbestimmten

Wörtern

[Hervorhebung v o n mir], eben s o sicher der Sprache hätten einverleibt

[Hervorhe-

bung v o n mir], und eben s o schnell, und eben s o allgemein hätten verbreitet werden können! 1 4 3 W o l f f definierte v i e l e vorhandene Wörter als Termini und, s o C a m p e , verlieh ihnen damit größeren inhaltlichen Wert. Er s c h u f präzisen B e g r i f f e n ents p r e c h e n d e präzise Inhalte, die der Sprache „einverleibt" w u r d e n . - D i e Trenn u n g v o n S a c h e , B e g r i f f u n d Inhalt a l s e i n e S e i t e d e s b i l a t e r a l e n Z e i c h e n s 1 4 4 g e h t a u c h aus C a m p e s A n k ü n d i g u n g einer Vorschrift für d i e Sprachreinigung h e r v o r : „ E i n e z w e i t e , auf den Inhalt Begriffe

und Sachen

der

Wörter

oder

auf die

auszudruckenden

[ H e r v o r h e b u n g v o n m i r ] s i c h b e z i e h e n d e R e g e l , ist f o l -

g e n d e : [,..]" 1 4 5

143 144

145

[Campe 1795-1797c.] Stück 2. Seite 115f.. Helmut Henne, der Campe als „Schüler oder Epigone Adelungs" - [Henne 1972.] Seite 98. bezeichnet, behauptet, daß jener wie dieser ein monolaterales Zeichenmodell vertritt, das Zeichen als Ausdruck auffaßt und diesem Inhalt und Begriff als ein und dieselbe außersprachliche Einheit gegenüberstellt. Ich glaube dies in bezug auf Campe durch meine Ausführungen und die von mir zitierten Äußerungen Campes zu widerlegen. Die von Henne - [Henne 1972.] Seite 97f.. - zitierten Stellen aus Campes „Wörterbuch der Deutschen Sprache" - [Campe 1807-1811.]. - hingegen lassen nicht eindeutig auf Monolateralität des von Campe vertretenen Zeichenmodells schließen. Überdies eignen sich diese Wörterbuchartikel meines Erachtens nicht als Belege für Campes Sprachkonzeption. Erstens sind sie wahrscheinlich nicht von Campe selbst verfaßt. Er befaßt sich, was das Wörterbuch betrifft, fast ausschließlich mit Sammlung, Leitung und Anweisung sowie mit der Erläuterung der Anlage. Mit der Zusammenstellung und Ausarbeitung der Artikel betraut er seine Mitarbeiter. Lediglich die Vorreden sind mit Sicherheit von Campe selbst geschrieben. Zweitens sind Zeichen. Wort und Bedeutung hier nicht als Termini einer Fachsprache, nämlich der Sprache der von Campe betriebenen Sprachwissenschaft, sondern als Wörter der Gemeinsprache kodifiziert; die semantischen Explikationen sind daher nicht als Definitionen aufzufassen. Vergleiche [Henne 1972.] Seite 83-98, 112. [Campe 1813.] Seite 34.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

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Da die Bilateralität als Konstitution aus Ausdruck und Inhalt nicht wie die Zweischichtung von Allgemeinheit und Besonderheit, Gleichheit und Verschiedenheit sowohl die Sachebene und die Begriffsebene als auch die Zeichenebene, sondern ausschließlich die Zeichenebene betrifft und sich nicht mit der Zweischichtung deckt - Campe nimmt ja nicht etwa an, daß der durchweg besonderen Ausdrucksebene eine durchweg allgemeine Inhaltsebene gegenübersteht - löst das bilaterale Zeichenmodell die Spannung zwischen Gleichheit und Ungleichheit nicht. Es stützt lediglich die Geltung des Besonderen. Campe hält nicht nur, wie ich bereits gezeigt habe, verschiedene Weltteile, Erkenntnissysteme und Sprachsysteme in bezug auf das je Besondere für prinzipiell nicht kompatibel. Er nimmt überdies, wie ich im folgenden zeigen werde, die durchweg besondere Ausdrucksebene der Sprache als Barriere, die schon um der Verständlichkeit willen das Fremde vom Eigenen fernhalten soll. Die Übernahme fremder besonderer Sachen und Begriffe und die Entlehnung fremder besonderer Inhalte sind nach Campe schon deshalb nicht möglich, zumindest nicht ratsam, weil diese, sollen sie genau und vollständig in die eigene Sprache übertragen werden, nur zusammen mit fremden besonderen Ausdrücken zu entlehnen sind. Die Zeichen können nicht übersetzt, sie müssen entlehnt werden. In seiner „Preisschrift"146 erörtert Campe das Für und Wider: „Aber wird man sagen, der Schritt ist nun einmahl geschehen; wir haben uns nun einmahl schon die meisten eigenthümlichen Vorstellungsarten der Franken und Britten, und mit denselben zugleich die Wörter zugeeignet, wodurch jene Vorstellungsarten nur allein vollständig ausgedruckt werden können [Hervorhebung von mir]. Sollen wir nun auf diese Wörter künftig Verzicht thun, so müssen wir, da wir in unserer Sprache nichts ihnen vollkommen Gleiches haben, auch auf die unübertragbaren Farben der Begriffe, auf die ihnen anklebenden unübersetzbaren Nebenbegriffe, gleichfalls Verzicht thun; und dadurch würden doch offenbar sowol die Zahl und die Mannichfaltigkeit unserer Vorstellungen überhaupt vermindert werden, als auch die feinern Mischungen und Abstufungen verloren gehn."147

Campe vertritt eine dieser Ansicht entgegengesetzte Ansicht: Die Übernahme der fremden Begriffe, die angeblich den Intellekt verfeinert und den Horizont erweitert, kommt nicht der ganzen Sprachgemeinschaft zugute. Der Preis dafür, die Entlehnung fremder Wörter, ist nicht zu vertreten:

146

147

[Campe 1793c.]; [Campe 1794a.] mit Wörterverzeichnis. Auch in [Campe 1801a.] und [Campe 1813.] Seite 1-70, leicht gekürzt und überarbeitet, als „Grundsätze, Regeln und Grenzen der Verdeutschung. Eine von dem königlichen Gelehrtenverein zu Berlin gekrönte Preisschrift". [Campe 1813.] Seite 30. Campe verwendet die Anführungszeichen hier zur Kennzeichnung einer Aussage, die von der gleichen Annahme wie er ausgeht, aber davon eine von seiner Ansicht verschiedene Ansicht ableitet.

Untersuchung

68

Ich frage: wer sind die Wir 's, welche sich jene ausländischen Begriffe und Nebenbegriffe zugeeignet haben, und die nun jetzt, mit der ausländischen Hülle derselben, auch diese bereits erworbenen Begriffe und Nebenbegriffe zurückgeben sollen? Ist es die Deutsche Völkerschaft (Nation), welche in Besitz davon war, und diesen Besitz nunmehr einbüßen soll? Aber wenigstens neunzig Hundertel dieser Völkerschaft - alle nämlich, die keine ausländische Sprache lernten - haben nichts davon abbekommen, weil für diese Alles, was in ausländischen Worthüllen umhergeht, so gut als gar nicht da ist [Hervorhebung von mir] [...]! [...] Der Schade hingegen, welcher auf der andern Seite für die neunzig Hundertel unserer Völkerschaft entsteht, wenn dergleichen fremde Wörter nach wie vor als Deutsche zu Deutschen gebraucht werden sollen, ist augenscheinlich groß und unersetzlich; [...] indem dieser größte Theil unserer Völkerschaft bei dergleichen Wörtern entweder gar nichts, oder doch nur etwas Verwirrtes zu denken in Stande ist [Hervorhebung von mir].148 Die fremden besonderen Ausdrücke sind nicht analogisch; mithin sind die entlehnten Zeichen nicht relativ motiviert, nicht durchsichtig und also nicht allgemein - für alle Sprecher, auch für diejenigen, die nicht über Fremdsprachenkenntnisse verfügen - verständlich; somit sind die fremden besonderen womöglich vernunftwidrigen und unsittlichen - Inhalte nicht allgemein vom Ausdruck her zu erschließen und auch nicht allgemein vom Ausdruck her zu überprüfen. Die fremden besonderen - intellektuell und moralisch potentiell verwerflichen - Begriffe sind nicht für alle Sprecher zu erlangen und erst recht nicht für alle Sprecher zu beurteilen. Gerade die in ihren Sprachkenntnissen auf das Deutsche beschränkten unteren und mittleren Schichten, die Ungebildeten oder Ungelehrten, da es ihnen an Sacherklärungen fehlt, sind, um überhaupt Begriffe zu erlangen, aber auf die Erschließung von Inhalten und auch auf deren Überprüfung vom Ausdruck her angewiesen - wenn sie, da es ihnen, so Campe, an Denk- und Urteilsvermögen mangelt, nicht überhaupt auch und vor allem über die Sprache gegen schädliche und gefährliche Begriffe abzuschirmen sind: Um dis recht überzeugend und anschaulich zu empfinden, verläugne man doch einmahl, wenn man kann, einen Augenblick seine eigene ausländische Sprachkenntniß, und setze sich ganz in die Stelle Derer, welche in dem Falle sind, keine andere als ihre Muttersprache zu verstehen; oder, wofern uns diese Selbstverläugnung unmöglich ist: so setze man doch einmahl in Gedanken an die Stelle der uns so gewöhnlichen Griechischen und Lateinischen Wörter, Hypothese, Subject u. s. w. völlig sinnlose Laute [Hervorhebung von mir], ζ. B. Tipstaps, Hurliburli oder deßgleichen; und frage sich dann selbst: ob wir dergleichen Wortungeheuer [...] uns jemahls so geläufig würden machen können, daß wir beim Hören oder Lesen derselben die damit zu verbindenden Begriffe, eben so bestimmt und deutlich, und eben so schnell, als bei jenen, zu denken in Stande wären? Ich bin überzeugt, man wird, wo nicht die Unmöglichkeit, doch die unendlich große Schwierigkeit eines 148

[Campe 1813.] Seite 30.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

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solchen Unternehmens fühlen. Und was nun uns, die wir in Denken überhaupt, und in abgezogenem Denken insonderheit, geübt und fertig sind, eine beinahe unüberwindliche Schwierigkeit scheinen würde, das wollen wir den Ungelehrten, das wollen wir den undenkenden sinnlichen Volksköpfen zumuthen [Hervorhebung von mir]? Wie unbillig!149 Ich bin überzeugt, daß der Mangel eines recht bedeutenden, und zwar echtdeutschen Worts [Hervorhebung von mir] für das unschickliche ausländische Religion, zu den Haupthindernissen gehöre, welche die Volksaufklärung über diesen Gegenstand am meisten erschwert und aufgehalten [Hervorhebung von mir] haben, und noch lange aufhalten werden [...]. Denn da dieses fremde Wort eins von denen ist, die den Ungelehrten keine bedeutende, sondern nur sinnlose Töne hören lassen [Hervorhebung von mir], mit welchen er einen [...] Vernunftbegriff, verbinden soll, auf welchen das für ihn sinnlose Wort ihm ganz und gar keinen Bezug darbietet; so ward es seinen Führern in den Zeiten der geistlichen Volkstäuschung leicht, ihn das, was sie wollten, und so viel sie wollten, und so verwirrt sie wollten, zu diesem Worte hinzudenken zu lassen, und dem Begriffe von Religion so viel Fremdartiges Unsinniges, Abergläubisches und Seelenverderbliches - unterzuschieben [Hervorhebung von mir], als sie seinem Verstände und seinem Gewissen aufzubürden für gut und ihren Absichten gemäß fanden. Hätte man hingegen bei Annahme des Kristenthums, statt jenes Römischen Worts, das beim Raban Maurus (S. Adelung) sich findende altdeutsche E-hafti, von Ε Gesetz und haften, oder das von Notker gebrauchte E-halti, von dem nämlichen Grundworte Ε und halten (Gesetzhaltung) [...] beibehalten: so würde weder die Verfälschung der Religion durch so viele abergläubische Zusätze eben so leicht gewesen sein, noch die Zurückführung des Volksverstandes auf das wahre und einfache Wesen der Religion, so viele Schwierigkeiten finden, als es nunmehr der Fall ist. Das Wort Gesetzhaltung würde immer von selbst daran erinnert, wenigstens dem weisen Volkslehrer die Erinnerung erleichtert haben, daß es dabei nicht sowol auf blindes Glauben unverständlicher Sätze, als vielmehr auf sittliche Vorschriften oder Gesetze, und zwar nicht auf ein bloßes Wissen und Hersagen, sondern aufs Beobachten oder Halten derselben ankomme. [Hervorhebung von mir; „Gesetzhaltung", „Gesetze" und „Halten" auch von Campe hervorgehoben]150 Ein fremdes, nicht relativ motiviertes Zeichen ist für den der fremden Sprache Unkundigen wie ein Ausdruck ohne Inhalt, läßt ihn „keine bedeutende, sondern nur sinnlose Töne hören", und bleibt für ihn beziehungslos, bietet ihm „ganz und gar keinen Bezug" auf den entsprechenden „Vernunftbegriff'. Daß er weder den Inhalt zu überprüfen noch den Begriff zu beurteilen imstande ist, macht ihn anfällig für die Annahme vernunftwidriger und unsittlicher Begriffe und darüber hinaus für Begriffsverwirrung und Begriffsverfälschung. Die Verwendung eines fremden Zeichens, so Campe, erleichtert die intellektuelle 149 150

[Campe 1813.] Seite 12. [Campe 1813.] Seite 12f.. Diese Äußerung ist auch von Campes Position als protestantischer Theologe geprägt.

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Untersuchung

und moralische Korrumpierung breiter Schichten der Bevölkerung; hingegen fördert das Bestehen auf einem Zeichen eigensprachlicher Herkunft, einem „echtdeutschen" Wort, die Aufklärung zur Vernunft. Campe hat die Vorstellung, daß allgemeine Sachen, Begriffe und Inhalte, auch übernommene beziehungsweise entlehnte, sämtlich vernunftgemäß und sittlich, besondere Sachen, Begriffe und Inhalte aber, ob eigene oder fremde, teilweise vernunftwidrig und unsittlich sind. Daher bedürfen allgemeine Inhalte weniger der Überprüfung vom Ausdruck her als besondere. Überprüfbarkeit für alle Sprecher setzt die Bindung an einen analogischen Ausdruck voraus. Ein passender eigener besonderer, daher strukturgemäßer Ausdruck wiederum findet sich nur für allgemeine und eigene besondere, nicht fur fremde besondere Inhalte. Deshalb sind nur allgemeine und eigene besondere, jedoch nicht fremde besondere Inhalte allgemein überprüfbar. Campe bezeichnet die deutsche Sprache gar als einen sich vor anderen Sprachen auszeichnenden „Prüfstein" fur Begriffe und ihre Vemunftgemäßheit und Sittlichkeit: Übernommene Begriffe sind mit Gewißheit allgemein und damit intellektuell und moralisch einwandfrei, wenn die ihnen entsprechenden entlehnten Inhalte sich an Ausdrücke deutscher Herkunft binden, sich von diesen her erschließen und überprüfen lassen und dabei ihren Sinn und Wert erweisen. In der Vorrede zur ersten Ausgabe seines „Wörterbuchs zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke"151 schreibt Campe: [...] und w o es nur immer gerathen zu sein schien, d. h. wo ich in einem fremden Ausdrucke nur einen wirklichen, der Verständlichmachung fähigen und würdigen Inhalt fand [Hervorhebung von mir], da bemühete ich mich, den Deutschen Ausdruck, der an die Stelle desselben gesetzt werden könnte, zu finden und nachzuweisen. [...] Es ist wirklich wahr und gewiß, daß unsere Sprache [...] für eine Art von Prüfstein der Begriffe gelten kann [Hervorhebung von mir]. Man versuche es nur, wie ich es versucht habe, sie an die Lateinisch=Griechischen Kunstwörter der Schule zu halten; und man wird, wie ich, in nicht wenigen Fällen finden: bald, daß einer dieser Ausdrücke, seiner Leerheit wegen, gar nicht ins Deutsche übersetzt werden kann, ohne daß die Leere augenblicklich sichtbar wird; bald, daß der wirkliche Inhalt eines andern, wenn ihm die Griechisch=Lateinische Hülle abgezogen wird, nicht übersetzt oder verdeutscht zu werden verdient [Hervorhebung von mir]. 152

Vernunftgemäße und sittliche Inhalte sind nach Campe „wirklich" und durch Bindung an einen Ausdruck deutscher Herkunft von diesem her er151

152

[Campe 1801a.]. Ich zitiere nach [Campe 1813.], der zweiten Ausgabe, die auch die Vorrede zur ersten Ausgabe enthält. [Campe 1813.] Seite VIII. Campe meint mit „Ausdruck" hier ein Zeichen mit Ausdruck und Inhalt.

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schließbar und überprüfbar, „der Verständlichmachung fähig und würdig". Manche vernunftwidrigen Inhalte sind fur Campe sozusagen nicht vorhanden: Das Zeichen, der „Ausdruck", ist „leer". Andere vernunftwidrige und alle unsittlichen Inhalte „verdienen" nicht entlehnt zu werden. Den - fremden Ausdruck bezeichnet Campe hier mit „Hülle", eine Bezeichnung, die im allgemeinen den Ausdruck als rein äußerlich und gegenüber dem Inhalt weniger wichtig, im besonderen einen fremden Ausdruck als Mittel zur Verbergung der Minderwertigkeit des fremden Inhalts darstellt. Campe geht bisweilen so weit, fremde besondere Sachen, Begriffe und Inhalte von vornherein als intellektuell und moralisch suspekt einzustufen. In diesem Licht ist ein „recht bedeutendes, und zwar echtdeutsches Wort" ein Zeichen mit einem eigenen Ausdruck und einem allgemeinen oder eigenen besonderen Inhalt von großem intellektuellem und moralischem Wert. Dem sei nun aber wie ihm wolle, so müssen wenigstens wir, die wir an der weitern Ausbildung unserer Sprache arbeiten, so viel an uns ist, zu verhüten suchen, daß sie sowol an widersinnigen und leeren, als auch an unsittlichen und sittenverderbenden Wörtern keinen Zuwachs erhalte, wenigstens müssen wir die Zahl solcher Wörter und Redensarten nicht geflissentlich zu vermehren suchen.153

Ohnehin erachtet Campe verschiedene Weltteile, Erkenntnissysteme und Sprachsysteme in bezug auf das je Besondere als prinzipiell nicht kompatibel. Für Sprachsysteme gilt dies ausdrucksseitig und inhaltsseitig. Die Uebereinstimmung einer Sprache mit sich selbst, wie mit den geistigen, sittlichen und ländlichen Eigenheiten des sie redenden Volks, ist Dasjenige, über dessen Erhaltung am sorgsamsten gewacht werden muß. Jede Verletzung derselben ist gleichsam ein Stoß nach ihrer Lebensquelle; und viele Stöße dieser Art, ohne Mißbilligung und Ahndung der Zeitgenossenschaft vollführt, würden sie endlich ganz zu Grunde richten. Sie würde ihre Selbständigkeit darüber verlieren; und statt eine eigene Sprache zu sein, zu einem elenden Gemische von vielen werden.154

Campe ist es demgemäß um weitestgehende Abschirmung gegen fremde besondere Sachen und Begriffe und um weitestgehende Ausschließung beziehungsweise Austilgung fremder besonderer Inhalte ebenso wie strukturwidriger fremder besonderer Ausdrücke zu tun. Daher läßt er nicht gelten, daß alle fremden besonderen Ausdrücke, ob zusammen mit allgemeinen Inhalten, ob zusammen mit fremden besonderen Inhalten entlehnt, grundsätzlich gleichermaßen an die Struktur der eigenen Sprache assimilierbar und als vollständig assimilierte strukturgemäß sind, daß dann die Zeichen grundsätzlich gleichermaßen allgemein verständlich, die Inhalte grundsätzlich gleichermaßen für alle Sprecher erschließbar und überprüfbar sind. 153 134

[Campe 1813.] Seite 17. [Campe 1813.] Seite 65.

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Untersuchung

Campe berücksichtigt die Assimilation als Faktor durchaus. Er macht den Assimilationsgrad gar zu einem wichtigen Kriterium für die Zulassung beziehungsweise Beibehaltung von Zeichen fremdsprachlicher Herkunft: Auch solche Wörter, die wir wirklich, wenigstens zunächst, aus einer fremden Sprache entlehnt haben, welchen wir aber, ehe wir sie aufnahmen, durch Wegwerfung der fremdartigen Silben [Hervorhebung von mir], oder durch Verwandlung der dem Deutschen Ohre fremdklingenden Laute in einheimische [Hervorhebung von mir], das echte Gepräge der Deutschheit aufgedruckt haben, verdienen, wofern sie einmahl wirklich schon eingebürgert und volksmäßig geworden sind, und, wofern keine andere Ursache ihre Austilgung rathsam macht [Hervorhebung von mir], jetzt nicht mehr ausgemärzt, sondern beibehalten zu werden.15S

Dabei hat Campe die Assimilation der Ausdrucksseite, insbesondere der Lautung, der „Laute", im Sinn. Auch wenn er in diesem Zusammenhang die Morphemik, die „Form", das heißt die Flexion und die Wortbildung, die „Umendungsart" und die „Umbildungsart" oder die „Biegung" und die „Bildung", insbesondere Präfixe und Suffixe, „Silben" oder „Vorsilben" und „Endsilben", gelegentlich erwähnt, bezieht er sich damit ausschließlich auf die Ausdrucksseite der Morpheme. Auf der Inhaltsseite zieht Campe wesentliche Veränderungen in Betracht, die er nicht mehr als Assimilation auffaßt: Er rät, wie ich bereits dargelegt habe, zur Substitution, das heißt zur Ersetzung fremder durch eigene besondere Elemente auf der Sachebene, auf der Begriffsebene und auf der Inhaltsebene - wodurch, da sich dann ein passender eigener besonderer Ausdruck findet, auf der Ausdrucksebene die Assimilation sich erübrigt. Auch bei vollständiger Assimilation fremder besonderer Ausdrücke gestattet Campe ihre Entlehnung aber zusammen mit fremden besonderen Inhalten nicht, da er durch deren allgemeine Erschließbarkeit und Überprüfbarkeit die Abwehr des mit dem Eigenen prinzipiell nicht vereinbaren Fremden, selbst wenn es obendrein vernunftwidrig und unsittlich ist, nicht für gewährleistet hält. Er faßt die Assimilation in solchen Fällen vielmehr als Erosion der Barriere zur Fernhaltung des Fremden auf, die dessen Aufiiahme und Verbreitung Vorschub leistet. Falls die - vorläufige, auf die okkasionelle Verwendung in bestimmten Kontexten beschränkte - Entlehnung fremder besonderer Ausdrükke zusammen mit fremden besonderen Inhalten wirklich nicht zu vermeiden ist, so Campe, hat daher die Assimilation zu unterbleiben, zumal wenn das Fremde intellektuell und moralisch verwerflich ist: Diese sollte man vielmehr, so oft man etwa nicht umhin kann, des Unsinns, den sie einschließen, zu erwähnen, immer nur von dem Auslande für den gegenwärtigen Fall zu borgen sich begnügen; ja man sollte sogar sie in ihrer ganzen ausländischen Form und Gestalt lassen; und sie nicht etwa durch abgeänderte Endsilben Deut-

155

[Campe 1813.] Seite 20.

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sehen Wörtern ähnlich klingend zu machen suchen, um sicher zu sein, daß sie nie das Bürgerrecht bei uns erhalten könnten.156 Zum Fremden ist stets größtmögliche Distanz zu wahren: Aber wenn nun der Fall eintritt, daß diese Französische Eigenheit nothwendig ausgedruckt werden muß, wie ζ. B. wenn auf der Bühne, in einer Geschichtsdichtung u. s. w. ein wirklicher Franzose von ehemahligem Schlage, oder ein französelnder (französirender) Geck, der sich schämt, ein Deutscher zu sein, und dessen unser Vaterland und unsere vaterländische Sprache sich daher gleichfalls schämen, dargestellt werden soll; wie da? Ich antworte: dann ist es recht und wohlgethan, einen [sie] solchen entweder ganz Französische oder Französisch-deutsche Redensarten dieser Art in den Mund zu legen und ihn je vous fais mon compliment oder ich mache ihnen mein Compliment sagen zu lassen. Jeder sieht alsdann von selbst, daß das weder Deutsche Denkart, noch Deutscher Ausdruck sei, und die Sache hat •weiter keine Folgen für uns. [Hervorhebung von mir]157 Campe gestattet unter der Bedingung vollständiger Assimilation hingegen die Entlehnung fremder besonderer Ausdrücke zusammen mit allgemeinen Inhalten, wenn keine eigenen besonderen Ausdrücke vorhanden sind, an die diese sich binden lassen. Solche Zeichen fremdsprachlicher Herkunft stellt Campe den Zeichen eigensprachlicher Herkunft grundsätzlich gleich. Eine seiner Prämissen zur Sprachreinheit lautet: Ein ursprünglich fremdes Wort also, welchem man, bevor es in unsere Sprache aufgenommen wurde, diese vollkommene Uebereinstimmung oder Sprachgleichförmigkeit zu geben wußte, hat, sobald es gänzlich eingebürgert, für alle Deutsche verständlich und gebräuchlich geworden ist, [...] gleichen Werth mit jedem andern, welches die Deutsche Sprache aus und durch sich selbst erzeugte.158 Campe ist allerdings auch diesbezüglich in der Theorie erheblich großzügiger als in der Praxis. In seinen Programmen zur Sprachreinerhaltung, Sprachreinigung und Sprachbereicherung sieht er weniger die Zulassung lexikalischer Entlehnungen unter Assimilation oder ihre Beibehaltung mit nachträglicher Assimilation vor als vielmehr die Beibehaltung von bereits vollständig assimilierten Zeichen fremdsprachlicher Herkunft, und zwar vornehmlich solcher, die schon in althochdeutscher Zeit entlehnt wurden und/oder sich auf Konkretes beziehen. Er selbst versucht gar einzelne bereits vollständig assimilierte Wörter fremdsprachlicher Herkunft zu verdeutschen, freilich, da diese einen festen Halt im Sprachsystem haben, fast immer erfolglos (Büste durch Brustgebilde. Pause durch Zwischenstille)·

156 157

158

[Campe 1813.] Seite 17. [Campe 1813.] Seite 29. Mit dem „Franzosen von ehemaligem Schlage" bezieht Campe sich auf einen Vertreter der alten Gesellschaftsordnung im vorrevolutionären Frankreich. [Campe 1813.] Seite 8. Campe bezeichnet mit „Sprachgleichförmigkeit" die Analogizität.

Untersuchung

74 2.2.2

Inhalt und Einzelinhalt

Die Unterscheidung zwischen Gesamtinhalt und Einzelinhalt ist Campe schon von seiner lexikographischen Tätigkeit für das „Wörterbuch der Deutschen Sprache"159 und für sein „Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke" 160 her geläufig. 161 So wie wir nun rastlos bemühet gewesen sind, unsern Wortreichthum anzuhäufen, so haben wir uns auch nicht minder beeifert, die sehr große Menge von Bedeutungen der Wörter [...] aufzusuchen, die man in unsern, fast nur für die Umgangssprache berechneten bisherigen Wörterbüchern, entweder übersehen oder, weil sie vielleicht nicht von Obersächsischen Schriftstellern gebraucht worden waren, verschmäht hatte. Besonders war dieses der Fall mit jenen höhern uneigentlichen Bedeutungen [Hervorhebung von mir], worin die Dichter, vornehmlich die der erhabeneren Gattungen, die Wörter gebraucht haben und auf neue Weisen zu gebrauchen noch immer, zur Freude aller Sprachfreunde von Geschmack, rühmlichst fortfahren. [...] Der Raum, den wir dazu aufopfern mußten, wurde uns reichlich wieder durch das Bestreben eingebracht, die gesammten Bedeutungen der Wörter auf eine den Regeln der Vernunftkunst gemäßere Weise zu unterscheiden und zu ordnen. Die Regeln, die wir uns dabei vorschrieben, waren: 1. so viel möglich, die ursprüngliche erste Bedeutung [Hervorhebung von mir] der Wörter jedesmahl voranzuschikken, und aus dieser die uneigentlichen und bildlichen Bedeutungen [Hervorhebung von mir] in derjenigen Ordnung zu entwickeln und auf einander folgen zu lassen, in welcher die eine aus der andern, nach Wahrscheinlichkeit, entsprungen ist *). 2. Keine -wirkliche Verschiedenheiten unbemerkt zu lassen; uns aber auch zugleich zu hüten, da noch Unterschiede finden und angeben zu wollen, wo es nichts mehr zu unterscheiden giebt [Hervorhebung von mir], *) Indeß hat man meist in Fällen, wo die wahrscheinlich ursprüngliche Bedeutung veraltet ist, dieselbe nicht vorangesetzt, sondern sie nur am Ende, nachdem das Wort in seinen noch jetzt gewöhnlichen Bedeutungen abgehandelt war, als geschichtliche Nachricht beigefugt.162 Den Gesamtinhalt bezeichnet Campe mit „die gesammten Bedeutungen", den Einzelinhalt meist mit „Bedeutung", manchmal mit „Inhalt". Da er auf etymologische Untersuchungen und Angaben verzichtet163, muß er bei der 159 160 161

162 163

[Campe 1807-1811.]. [Campe 1801a.]; [Campe 1813.]. Ich zitiere nach [Campe 1813.].. Die Tatsache, daß Campe, insbesondere für [Campe 1807-1811.], die Systematik der semantischen Explikation weitestgehend von Adelung übernimmt, ist für die folgenden Ausführungen ohne Belang. Ich definiere semantische Explikation als übergeordneten Terminus. Zur semantischen Explikation zähle ich die Angabe eines Synonyms oder Antonyms, die Paraphrase und die Einfügung in einen sprachlichen Kontext oder die Zitierung eines solchen aus einem anderen Werk als Beispiel. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite Xf.. Campes Etymologiekenntnisse reichen dazu nicht aus. Zunächst läßt er die Etymologien auch

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beabsichtigten historischen Anordnung der Einzelinhalte eines Wortes, zu der Etymologie erforderlich ist, Abstriche machen: Der älteste Einzelinhalt, die „ursprüngliche erste Bedeutung" ist fllr ihn mehr spekulativ als faktisch, in seinen Worten „wahrscheinlich". Ist der älteste Einzelinhalt archaisch, stellt er ihn nicht voran, sondern trägt ihn ergänzend nach. Die „ursprüngliche erste Bedeutung" kommt bei Campe der „eigentlichen Bedeutung" gleich. Er differenziert zwischen eigentlichem Einzelinhalt und uneigentlichem, durch Einzelinhaltsübertragung164 entstandenem Einzelinhalt, den er mit „uneigentliche und bildliche Bedeutung" bezeichnet. In den Wörterbuchartikeln differenziert er innerhalb eines semasiologischen Paradigmas weiterhin nach der Zahl der Inhaltsmerkmale zwischen weiterem und weitestem Einzelinhalt mit weniger beziehungsweise den wenigsten Inhaltsmerkmalen und engerem und engstem Einzelinhalt mit mehr beziehungsweise den meisten Inhaltsmerkmalen, wobei auch er diese Adjektive verwendet: Abfressen, [...] 1) Eigentlich durch Fressen absondern, und, durch Fressen leer machen, verwüsten. Die Käfer fressen die Knospen ab. Das Wild frißt die Saaten, die Felder ab. [...] 2) Uneigentlich von leblosen Dingen, für, verzehren etc. Der Krebs hat ihm schon die Nase abgefressen. Der Gram frißt ihm das Herz ab, schadet seiner Gesundheit, seinem Leben. [...] 165 Die Ähre, [...] der oberste Theil der Halme an den Grasarten, besonders am Getreide, an welchem sich die Blüten zeigen, und in welchem nachher der Same sich in Hülsen erzeugt. Ähren bekommen, gewinnen. Das Getreide schießt schon in Ähren. Ähren lesen oder sammeln, die nach dem Aufbinden des Getreides liegengebliebenen Ähren sammeln. In engerer Bedeutung, in der Pflanzenkunde, „derjenige Blütenstand, wo auf einem fadenförmigen einfachen Hauptblumenstiele viele Blumen

164

165

aus Platzgründen beiseite. Dann plant er einen zusätzlichen Band mit von Johann Severin Vater (1771-1826) ausgearbeiteten etymologischen Angaben, um der herrschenden Nachfrage gerecht zu werden. Dieser erscheint jedoch nicht. Vergleiche [Campe 1807-1811.] Band 4. Seite IV. Die Aussparung der Etymologien stößt vielfach auf Kritik. Jacob Grimm (17851863) und sein Bruder Wilhelm Grimm (1786-1859), die die Lexik des Deutschen aus diachronisch-etymologischer Perspektive kodifizieren, lassen Campes „Wörterbuch der Deutschen Sprache" - [Campe 1807-1811.]. - schon wegen der prinzipiell synchronischen Perspektive nicht gelten und halten den Verzicht auf Etymologie für unwissenschaftlich. Campe und seine Mitarbeiter, so Jacob Grimm, „strebten in aller hast ein Wörterbuch anzuschwellen, das der gelehrsamkeit entraten konnte, da alle etymologien als unnütze spreu verworfen wurden". [Grimm, Jacob, Wilhelm Grimm 1854-1960.] Band 1. Seite XXIV. Ich definiere Einzelinhaltsübertragung, Sinnbild oder Metapher innerhalb eines semasiologischen Paradigmas als Entstehung eines zusätzlichen Einzelinhalts aus einem bereits vorhandenen durch dessen Übertragung von einem Begriff auf einen anderen, wobei die Einzelinhalte ein Inhaltsmerkmal als Semasem, die Begriffe entsprechend ein Begriffsmerkmal als Tertium comparationis gemein haben. [Campe 1807-1811 ] Band 1. Seite 19.

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Untersuchung

ohne Stiel sitzen. Wenn aber die Blumen einen Stiel haben, so muß er sehr viel kleiner als die Blumen selbst sein. [...]." Willdenow}66

Campe beruft sich auf die „Vernunftkunst" und erhebt mit seiner lexikalischen Kodifikation des Deutschen den Anspruch, bei einem Wort genug, aber nicht zu viele Einzelinhalte anzusetzen, das heißt, deutliche Unterschiede herauszuarbeiten, aber allzu feine, hypothetische oder gar sophistische Unterscheidungen zu vermeiden. Campe, vom Rationalismus geprägt, setzt die Welt als objektiv existent, ihren Bau und ihre Gliederung als natur- und gesellschaftsbedingt voraus. Das rationalistische Ideal ist die Entsprechung von Sachebene, Begriffsebene und Zeichenebene im Verhältnis eins zu eins zu eins. Damit hängt Campes von mir bereits erläuterte - das Ideal der Eins-zu-eins-Entsprechung für Sachebene und Begriffsebene modifizierende, für Begriffsebene und Zeichenebene aber akzentuierende - Vorstellung zusammen, daß gehaltmäßige Besonderheit entweder auf der Sachebene oder auf der Begriffsebene, aber nicht auf der Inhaltsebene begründet ist, folglich entweder die Sachebene unmittelbar und die Begriffsebene mittelbar oder die Sachebene nicht und die Begriffsebene unmittelbar, die Inhaltsebene aber stets nur mittelbar betrifft. Die auf der Begriffsebene begründete Besonderheit besteht in besonderer Erfassung, das heißt Selektierung, und besonderer Auffassung, das heißt unter anderem auch Generalisierung, Spezialisierung und Klassifizierung von auf der Sachebene vorhandenem Allgemeinem. Die Begriffsebene soll, auch in diesen Hinsichten, mit der Zeichenebene übereinstimmen. Die Entsprechung von Begriffsebene und Inhaltsebene soll von der Ausdrucksebene her erschließbar sein. Jedem Begriff soll ein Zeichen entsprechen. Jedem Zeichen soll möglichst genau ein Begriff entsprechen, somit jedem Ausdruck möglichst nur ein Einzelinhalt gegenüberstehen. Daraus ergeben sich bestimmte Anforderungen für die inhaltsparadigmatischen Relationen der Lexik. In den „Beiträgen zur weitern Ausbildung der Deutschen Sprache"167 fordert Campe unter der Frage „Was ist Hochdeutsch?"168 die Präzisierung von Wortinhalten. Es ist die Forderung nach Monosemierung für semasiologische Paradigmen sowie nach Spezialisierung zur Synonymenbeseitigung für onomasiologische Paradigmen: Der dritte Punkt, den ich in dem Begriffe von der Ausbildung einer Sprache unterscheide, ist die genauere Bestimmung der Bedeutungen und der Unterschiede der

164 167 148

[Campe 1807-1811.] Band 1. Seite 94. [Campe 1795-1797a.]. [Campe 1795-1797c.].

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Wörter. [...] genauere Wortbestimmungen [...] Unterscheidungen solcher Wörter, die ehemahls als gleichbedeutende gebraucht wurden [...] 169

In semasiologischen Paradigmen erachtet Campe Monosemie als ideal: Von einem Ausdruck ist auf nur einen Einzelinhalt zu schließen. Campe vermag allerdings nicht zu ignorieren, daß ein Ausdruck faktisch nicht immer mit nur einem, sondern meist mit mehreren Einzelinhalten verbunden ist. Dies akzeptiert er jedoch nur unter den Bedingungen, daß einem Ausdruck nicht zu viele Einzelinhalte gegenüberstehen und daß diese mindestens ein Inhaltsmerkmal als Semasem gemein haben, mithin Polysemie gegeben ist. Campe billigt Polysemie, weil ein polysemes semasiologisches Paradigma sich auf einen Begriffszusammenhang bezieht, also den von ihm umfaßten Einzelinhalten miteinander verwandte Begriffe entsprechen, überdies auch deshalb, weil das Semasem mit von einem Einzelinhalt aus weitere Einzelinhalte innerhalb des semasiologischen Paradigmas erschließen läßt, mithin zur Inhaltserschließung überhaupt beiträgt. Hochgradige Polysemie aber - wobei er die Grenzen des Vertretbaren nicht genau angibt - sowie Homonymie und Multisemie lehnt Campe ab, weil sie nach seiner Auffassung die Übereinstimmung der Begriffsebene mit der Zeichenebene beeinträchtigen, die Erschließung der Entsprechung von Begriffsebene und Inhaltsebene von der Ausdrucksebene her stören. Eine diesbezügliche Reglementierung ist meines Erachtens theoretisch plausibel, praktisch aber kaum realisierbar: Monosemie kommt zumindest in der Gemeinsprache kaum vor. Überdies ist jedes monoseme Wort auch tropisch zu gebrauchen. Bei Wortbildungen besteht ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen Polysemie und der Verankerung als Wort im Bewußtsein der Sprecher. Polysemie, Homonymie und Multisemie sind in der Theorie wohl, in der Praxis aber kaum klar auseinanderzuhalten, wie etwa die unterschiedliche Kategorisierung bestimmter Wörter in verschiedenen Wörterbüchern - etwa durch Setzung eines oder mehrerer Lemmata - zeigt. Bei der Feststellung eines gemeinsamen Inhaltsmerkmals kommt es wie bei der Feststellung eines gemeinsamen Begriffsmerkmals als Tertium comparationis zur Ermittlung einer Begriffsverwandtschaft letztlich auf den Grad der noch für zulässig erklärten Generalität an. Auf die Tatsache, daß hochgradige Polysemie sowie Homonymie und Multisemie im Deutschen auch bei Wörtern eigensprachlicher Herkunft recht häufig sind - wobei die Beeinträchtigung der Verständlichkeit in solchen Fällen mit von weiteren Faktoren abhängt -, geht Campe nicht näher ein. In seiner lexikographischen Tätigkeit toleriert er sie weitgehend als faktische Gegebenheit. Beispielsweise kategorisiert er durch Setzung eines Lemmas und Ansetzung einer Vielzahl von Einzelinhalten ablaufen und ablegen als hochgradig

169

[Campe 1795-1797c ] Stück 2. Seite 115f..

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Untersuchung

polysem, durch Setzung mehrerer Lemmata und Ansetzung je eines Einzelinhalts abbalgen als homonym, durch Setzung mehrerer Lemmata und Ansetzung je eines oder mehrerer Einzelinhalte abhacken und abmahlen als multisem. Campe wendet sich gegen aus fremden Sprachen zu entlehnende oder bereits entlehnte polyseme, homonyme und multiseme Wörter als der deutschen besonderen Erfassung und Auffassung von Sachen in Begriffen nicht entsprechende, der deutschen besonderen Selektierung, Generalisierung, Spezialisierung und Klassifizierung zuwiderlaufende Zeichen. Die Entlehnung solcher Wörter fuhrt seiner Ansicht nach zur Verallgemeinerung, Verwässerung oder gar Verwirrung der Erkenntnis. In der „Preisschrift"170 erklärt Campe: [...] daß es oft, nicht bloß erlaubt, sondern auch zur Beförderung der Deutlichkeit oder Klarheit unserer Vorstellungen sogar rathsam und nöthig sei, die durch ein einziges fremdes Wort bezeichneten zusammengesetzten Begriffe [Hervorhebung von mir], indem wir sie in die Deutsche Sprache und dadurch in die Deutsche Gedankenmasse übertragen wollen, absichtlich von einander zu trennen und sie nicht, als ein untheilbares, in sich selbst verschlungenes Ganzes, auf einmahl, sondern vielmehr stückweise auszudrucken. Dann findet, wie es sich von selbst versteht, die Nothwendigkeit, das fremde Wort, in Ermangelung eines eigenen, eben so weit umfassenden zu gebrauchen, nicht weiter Statt; und es ist in diesem Falle keine Unvollkommenheit, sondern eine Vollkommenheit der Sprache mehr, wenn sie einen sehr zusammengesetzten Begriff [Hervorhebung von mir], oder gar mehre von einander ganz verschiedene Begriffe [Hervorhebung von mir], die ein anderes Volk in ein einziges Wort seiner Sprache oft unschicklich genug zusammengepackt hat [Hervorhebung von mir], durch eben so viele besondere Wörter zu bezeichnen und von einander abzusondern, durch den Mangel eines eben so vieldeutigen Wortes gezwungen wird. Wer wird ζ. B. unserer Sprache einen Vorwurf daraus machen, daß sie die mannichfaltigen Bedeutungen des Französischen Worts sonner durch schallen, tönen, klingen, klingeln, läuten, schellen, schlagen, blasen u. s. w. oder diejenigen, welche das Französische chanter einschließt, durch singen, krähen, zirpen u. s. w. auseinanderzusetzen, und jede derselben besonders zu bezeichnen, durch ihren Reichthum an bestimmtem Wörtern von einfacherer Bedeutung, gezwungen wird?171 Campe bezeichnet den Begriffszusammenhang, der einem polysemen semasiologischen Paradigma entspricht, - meines Erachtens mißverständlich - als „zusammengesetzte Begriffe", bei hochgradiger Polysemie - singularisch und daher noch mehr als mißverständlich - als „sehr zusammengesetzten B e g r i f f .

170

171

[Campe 1793c.]; [Campe 1794a.] mit Wörterverzeichnis. Auch in [Campe 1801a.] und [Campe 1813.] Seite 1-70, leicht gekürzt und Uberarbeitet, als „Grundsätze, Regeln und Grenzen der Verdeutschung. Eine von dem königlichen Gelehrtenverein zu Berlin gekrönte IJreisschrift". [Campe 1813.] Seite 24f..

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Liegt keine Begriffsverwandtschaft und entsprechend nicht Polysemie, sondern Homonymie vor, schreibt er „von einander ganz verschiedene Begriffe". Mit der Unterstellung, daß diese Phänomene in fremden Sprachen besonders häufig und häufig besonders mißlich sind, klingt wiederum die Behauptung einer Überlegenheit des Deutschen an. Lexikalische Entlehnungen dieser Art, so fordert Campe, sind auszuschließen beziehungsweise auszutilgen und zu ersetzen, und zwar durch mehrere Verdeutschungen, die je nur einen Teil ihres semasiologischen Paradigmas enthalten, das heißt möglichst nur einen ihrer Einzelinhalte tragen: Einigen Beurtheilern meiner frühern Versuche der Sprachreinigung scheint diese Betrachtung entgangen zu sein, sonst würden sie eingesehen haben, daß nicht jedes vieldeutige ausländische Wort so verdeutscht werden müsse, daß die darin enthaltenen, oft ganz ungleichartigen Begriffe wiederum in ein einziges Wort zusammengepreßt [Hervorhebung von mir] werden. Sie würden also ζ. B. das von mir vorgeschlagene Wort Zartgeßihl nicht deswegen für verwerflich erklärt haben, weil es nicht auf alle Bedeutungen des vieldeutigen Französischen Worts Delicatesse, ζ. B. nicht auf diejenige paßt, da es von Gegenständen der Empfindung, nicht von der Empfindung selbst, oder auch von körperlichen Dingen, ζ. B. von Speisen, gebraucht wird. Genug, daß das neue Wort für diejenigen Fälle paßt, wo die Zartheit der Empfindungen, nicht das Zarte außer ihnen, bezeichnet werden soll. Wenn von dem letzten die Rede ist, so können wir ja Zartheit und Feinheit, und in Bezug auf körperliche Genüsse, Niedlichkeiten, Leckerbissen u. s. w. dafür sagen. 172

Überhaupt hält Campe, worauf ich bereits hingewiesen habe, es durchaus nicht für erforderlich, daß die Inhalte von lexikalischer Entlehnung und Verdeutschung sich genau decken. Er erachtet es als wichtiger, daß eine Verdeutschung ausdrucke- und inhaltsseitig der eigenen Sprachstruktur gemäß ist. Dies, so Campe, gilt auch und insbesondere für die Verdeutschung einer phraseologischen Entlehnung: Sie [die phraseologische Entlehnung] muß der Deutschen Art zu denken und sich auszudrucken nicht so fremd sein, daß sie, in unsere Sprache übergetragen, nur von Denen verstanden werden kann, die zugleich der fremden Sprache, der sie abgeborgt wird, mächtig sind.173

In - stets einem Begriffszusammenhang entsprechenden - onomasiologischen Paradigmen lehnt Campe totale Synonymie zwischen Wörtern/Einzelinhalten als Gleichheit in bezug auf sämtliche denotative und konnotative Inhaltsmerkmale grundsätzlich ab. Er billigt lediglich partielle Synonymie, darunter allerdings auch Verschiedenheit nur in bezug auf einzelne konnotative, insbesondere stilistische Inhaltsmerkmale. Das Vorhandensein von denota172 173

[Campe 1813.] Seite 24. [Campe 1813.] Seite 65.

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Untersuchung

tiv synonymen, aber konnotativ nach Stilarten differenzierten Wörtern würdigt er als Vorzug, der mit den Reichtum einer Sprache ausmacht: Wir gebrauchen nämlich [...], wenn unsere Sprache das Lob einer reichen verdienen soll, in manchen Fällen, mehre Wörter und Redensarten für einen und eben denselben Begriff. Wir gebrauchen Ausdrücke für die erhabene, dichterische, ernste Schreibart; andere für die leichte, bandlose (prosaische), scherzende, aber dabei noch immer edlere Büchersprache; und wiederum andere desselben Inhalts für die tägliche Umgangssprache im gemeinen Leben. Wenigstens kann es in keinem Falle schaden, in manchem aber, besonders für den Redner und Dichter, die Alles, was durch den täglichen Gebrauch zu gemein, oder gar unedel geworden ist, nicht zu sorgfältig vermeiden können, von großem Nutzen sein, wenn wir unserer Sprache einen solchen Reichthum in Ansehung mehrer Wörter - bei vielen hat sie ihn schon - zu erwerben suchen.174

2.2.3

Einheiten und Elemente auf der Sachebene, der Begriffsebene und der Zeichenebene mit Ausdrucksebene und Inhaltsebene

Das Fehlen einer konsistenten Terminologie sowie expliziter Definitionen zeigt sich insbesondere bei Campes Auffassung der quantitativen Beziehungen zwischen Einheiten und Elementen auf der Sachebene, der Begriffsebene und der Zeichenebene mit Ausdrucksebene und Inhaltsebene. Der Mangel an Systematik in seiner Unterscheidung zwischen Sache, Sachmerkmal und Sachgebiet, Begriff, Begriffsmerkmal und Begriffszusammenhang, Ausdruck, Buchstabe/Laut und Ausdrucksparadigma, Inhalt, Inhaltsmerkmal und Inhaltsparadigma und in seiner Behandlung von Sachverhalt, Gedanke und Zeichenverbindung zur Inhaltsverknüpfung beeinträchtigen die Kohärenz von Campes Auffassung der qualitativen Beziehungen allerdings nicht. Campe bezeichnet das Sachmerkmal mit „Merkmahl", eine Bezeichnung, die er gelegentlich auch für das Begriffsmerkmal und das Inhaltsmerkmal verwendet: Das eine Volk hat oft diese, das andere jene Merkmahle einer Sache [Hervorhebung von mir], das eine die Beschaffenheiten [Hervorhebung von mir] a b c d, das andere die Beschaffenheiten b c d e in seinen Begriff gesammelt und in Einem Ausdrucke seiner Sprache zusammengefaßt. In diesem Falle sind die Begriffe beider Völker zwar nicht völlig gleich, aber doch gleichgültig. Nur da hört die Gleichgültigkeit der Begriffe, folglich auch der sie ausdruckenden Wörter auf, wo es gerade auf die

174

[Campe 1813.] Seite 20. Hier hat Campe der Verdeutschung bandlos die zu ersetzende lexikalische Entlehnung prosaisch in Klammern beigefügt, um die Verdeutschung geläufig zu machen.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

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Merkmahle [Hervorhebung von mir] a und e, worin beide verschieden sind, ankömmt, oder w o eins von beiden wesentlich zur Sache gehört. 175

Das Sachmerkmal bezeichnet Campe auch mit „Beschaffenheit". Diese Bezeichnung im Sinne von Teilbeschaffenheit einer bestimmten Art impliziert wie die Bezeichnung „Merkmahl" im Sinne von Kennzeichen eine - sei es allgemeine oder besondere - Spezialität. Je weniger Merkmale, desto genereller, je mehr Merkmale, desto spezieller die Sache, der Begriff, der Inhalt. Auf der Inhaltsebene setzt Campe demgemäß, wie ich bereits erwähnt habe, für „weitere" Inhalte weniger, für „engere" Inhalte mehr Inhaltsmerkmale an. Das Begriffsmerkmal bezeichnet Campe mit „Bestandtheil" oder „nähere Bestimmung". Er verlangt von der Sprache, daß sie „für die Begriffe und Empfindungen überhaupt und für die [...] Bestandteile, so wie für die nähern Bestimmungen [...] ihre genau passenden Zeichen habe"176. Campe unterscheidet deutlich zwischen dem Begriff als „Begriff überhaupt" und dem Begriffsmerkmal, nicht ganz so deutlich zwischen zwei Arten von Begriffsmerkmalen: den fest zusammengefügten, den „Bestandteilen", und den eher lose hinzugefügten, den „nähern Bestimmungen". Diese Unterscheidung trifft er implizit auch auf der Inhaltsebene, mithin für die Zeichenebene insgesamt. Campe fordert nämlich eine Entsprechung von fester oder loser Begriffsfügung und Versprachlichung auf signifikativen oder kombinatorischen Hierarchieebenen: Er differenziert zwischen Begriffen, die mit sämtlichen Begriffsmerkmalen als Ganzes gedacht werden müssen, und Begriffen, die in Teilen gedacht werden können, und dementsprechend zwischen Inhalten, die mit sämtlichen Inhaltsmerkmalen in einem Wort - einem Simplex, Kompositum oder Derivativum enthalten sein müssen, und Inhalten, die auf mehrere Wörter verteilt sein können. Allerdings können letztere Begriffe auch als Ganzes gedacht werden, letztere Inhalte auch in ein und demselben Wort - einem Kompositum oder Derivativum - enthalten sein. Somit dienen Campe zufolge von den Einzelwörtern die Simplizia zur Versprachlichung fest gefügter Begriffe, die Komposita und Derivativa sowohl zur Versprachlichung fest gefügter als auch zur Versprachlichung lose gefügter Begriffe. Unter den Komposita hält Campe diejenigen, „die einen einzelnen [als Ganzes zu denkenden] Begriff bezeichnen"177 für wichtiger als diejenigen, „in welchen Wort mit Wort zusammengelöthet erscheint, um Einen Begriff sammt dessen näherer Bestimmung zu bezeichnen"178. Die Derivativa dagegen betrachtet er vornehmlich als Möglichkeit, „wodurch wir abermahls fast aus 175

176 177 178

[Campe 1813.] Seite 27. Campe meint mit .Ausdruck" hier ein Wort, das heißt ein Zeichen mit Ausdruck und Inhalt, wobei es ihm auf den Inhalt ankommt. [Campe 1813.] Seite 26f.. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIV. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIV.

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Untersuchung

jedem alten Worte ein neues bilden und den auszudruckenden Begriff auf mannichfache Weise abändern und näher bestimmen können"179. Die Wortverbindungen eignen sich nach Campe nur zur Versprachlichung lose gefügter Begriffe. Campe handelt das Problem der Versprachlichung eines Begriffs in einem oder mehreren Wörtern, das heißt in einem Einzelwort oder einer Wortverbindung, inkonsequenterweise verquickt mit dem Problem der Versprachlichung eines oder mehrerer - verwandter oder nicht verwandter - Begriffe in ein und demselben Wort, das heißt der Monosemie oder Polysemie oder Homonymie ab - wie er zu diesem Problem steht, habe ich bereits erörtert. Übertreibung der Einzelwortversprachlichung verwechselt er mit hochgradiger Polysemie und Homonymie. An dieser Stelle180 entsteht der Eindruck, daß Campe vorübergehend den Überblick über die komplexe Thematik verliert. Dennoch wird seine Einstellung zu beiden Problemen deutlich. In Hinsicht auf die Versprachlichung eines Begriffs fordert er, „daß die Sprache fur jeden Begriff [Hervorhebung von mir], den das sie redende Volk hat oder bekömmt, und der nicht theilweise, sondern auf einmahl gedacht sein will [Hervorhebung von mir]; so wie fur jede Sache [Hervorhebung von mir] und für jede Empfindungsart, die nicht stückweise, sondern ganz und auf Einmahl ausgedruckt sein wollen, einen einfachen, nicht umschreibenden Ausdruck darbieten muß [Hervorhebung von mir]." 181

Wie aus dieser Äußerung hervorgeht, differenziert Campe auch auf der Sachebene zwischen fest gefügt und lose gefügt. Fest gefügte Sachen und fest gefügte Begriffe sind in einem Einzelwort, einem „einfachen Ausdruck", zu versprachlichen, nicht in einer Wortverbindung, einem „umschreibenden Ausdruck". Gelegentlich verwendet Campe die Bezeichnung „einfach"182 auch einzelwortimmanent im Unterschied zu „zusammengesetzt"183 und „abgeleitet"184 für das Simplex im Unterschied zum Kompositum beziehungsweise zum Derivativum. „Umschreibung" bezeichnet für ihn generell eine Verbindung beliebig vieler Wörter: „[...] es mag dis durch zwanzig, oder nur durch zwei oder drei geschehen."185 Er meint jedoch speziell eine kurze Wortverbindung: „[...] da wir einen Begriff, in Ermangelung eines eigenen genau be-

179 180 181

182 183 184 185

[Campe 1813.] Seite 40. Vergleiche [Campe 1813.] Seite 23-26. [Campe 1813.] Seite 23. Campe verwendet die Anführungszeichen hier zur Hervorhebung eines eigenen Satzes. Mit „Ausdruck" meint er hier ein Wort mit Ausdruck und Inhalt. Zum Beispiel [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIVf.. Zum Beispiel [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XV; [Campe 1813.] Seite 62f.. Zum Beispiel [Campe 1813.] Seite 40. [Campe 1813.] Seite 26.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

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stimmten Worts, durch zwei oder drei Wörter auszudrucken uns gezwungen sehn."186 Zugleich wendet sich Campe gegen die von Friedrich Gedike (1754-1803) erhobene Forderung nach Versprachlichung eines jeden Begriffs in einem Einzelwort, verbunden mit der grundsätzlichen Ablehnung der Wortverbindung. 187 Campe erklärt diese Forderung für unrealistisch. In keiner Sprache, stellt er fest, ist für alle Begriffe ein Einzelwort vorhanden: Er [Gedike] erklärt sich nämlich gegen alle Umschreibungen [...] und verlangt, daß jeder Begriff sein eigenes einzelnes Wort haben müsse, wodurch er vollständig ausgedruckt werde. [...] So schön und überredend aber auch jener Schriftsteller diese seine Meinung darzulegen gewußt hat, so kann ich ihm doch [...] darin nicht beipflichten. Denn erstens gibt es keine Sprache in der Welt, die dieser strengen Foderung ein Genüge thun, also jeder Art von Umschreibung [...] entbehren könnte.188 Überdies sind lose gefügte Begriffe, so Campe, bisweilen um der Deutlichkeit willen sogar besser in einer Wortverbindung zu versprachlichen: Zweitens ist es [...] in vielen Fällen, nicht nur keinesweges nachtheilig, sondern vielmehr rathsam, einen, besonders sehr zusammengesetzten, Begriff [Hervorhebung von mir] [...] aufzulösen [...]. Hiedurch wird, wenn es mit Verstand geschieht - und dis wird ja bei jeder Sache, die gut gerathen soll, also auch hier, vorausgesetzt die Deutlichkeit nicht gehindert, sondern vielmehr augenscheinlich befördert; und wenn es zugleich mit Geschmack geschiehet, so kann auch die Schönheit der Schreibart dadurch eben so wenig beeinträchtiget werden. Was verliert ζ. B. die Deutlichkeit oder der gute Vortrag, wenn ich den [...] Begriff, den das Wort Naivität einschließt, durch zwei oder drei Deutsche Wörter - unbefangene Natürlichkeit, oder natürliche Unbefangenheit, oder unschuldige und unbefangene Natürlichkeit und Einfalt - wiedergebe? Die Deutlichkeit gewinnt vielmehr dabei, und der ganze Nachtheil, der für den Vortrag daraus entsteht, schränkt sich auf den unbedeutenden Umstand ein, daß man einige Silben mehr aussprechen muß.189 Hier bezeichnet Campe - ein Anzeichen der Problemverquickung - den lose gefügten Begriff wie sonst den Begriffszusammenhang, der einem hochgradig polysemen semasiologischen Paradigma entspricht, als „sehr zusammengesetzten Begriff'. - Meines Erachtens lassen die verschiedenen Wortverbindungen, die Campe hier vorschlägt, ein eher unscharfes Verständnis des entsprechenden Begriffs vermuten. Schließlich ist „unbefangene Natürlichkeit" etwas anderes als „natürliche Unbefangenheit".

186 187 188 189

[Campe 1813.] Seite 25. Vergleiche [Gedike 1779.]. [Campe 1813.] Seite 25. [Campe 1813.] Seite 25f.. Die Auslassungen nehme ich vor, um Campes Einstellung zum Problem Einzelwort versus Wortverbindung ungeachtet der Verquickung mit dem Problem der Monosemie oder Polysemie oder Homonymie scharf hervortreten zu lassen.

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Untersuchung

Meiner Auffassung nach sind auch Begriffsmerkmale an und für sich Begriffe. Auch Campe faßt sie als Begriffe auf. Darauf weisen beispielsweise seine Beschreibungen der Komposita und der Komposition hin: „das Ausmünzen der zusammengesetzten Wörter, d. i. solcher, in welchen zwei oder mehr Begriffe zu Einem verbunden [Hervorhebung von mir] werden"190; „die einen einzelnen [als Ganzes zu denkenden] Begriff [Hervorhebung von mir] bezeichnen"191 oder „um Einen Begriff sammt dessen näherer Bestimmung [Hervorhebung von mir] zu bezeichnen"192. In einem Kompositum ist nach Campe stets nur ein einziger - fest gefügter oder lose gefügter - Begriff versprachlicht. Dessen Begriffsmerkmale - „Bestandteile" oder „nähere Bestimmungen" aber kommen auch als selbständige Begriffe vor; sie sind als solche in den Einzelwörtern versprachlicht, aus denen das Kompositum gebildet ist. Campe findet Begriffe, vornehmlich - aber nicht ausschließlich - solche, die als Begriffsmerkmale lose hinzugefügte „nähere Bestimmungen" sind, auch in Morphemen, das heißt in Affixen, versprachlicht - ohne über den Morphembegriff der modernen Linguistik zu verfügen. Er schreibt von „Ableitungsmitteln"193, in bezug auf Präfixe und Suffixe auch etwas mißverständlich von „Vor= und Endsilben"194. Seine Beschreibung der Derivation weist auf die Versprachlichung von Begriffen in Morphemen hin: Ableitung neuer Ast= und Zweigwörter aus daseienden Stammwörtern, vermöge unserer Vor= und Endsilben [Hervorhebung von mir], wodurch wir abermahls fast aus jedem alten Worte ein neues bilden und den auszudruckenden Begriff auf mannichfache Weise abändern und näher bestimmen [Hervorhebung von mir] können Mithin erkennt Campe durchaus, daß die Versprachlichung von Begriffen auf all denjenigen Hierarchieebenen erfolgt, deren Einheiten sprachliche Zeichen sind, also von der Morphemik aufwärts. Gemäß seiner weitgehenden Konzentration auf die Lexik hebt er jedoch die Versprachlichung auf dieser Ebene und insbesondere im Einzelwort hervor. Fest gefugte, mit ihren sämtlichen Begriffsmerkmalen, das heißt ihren fest zusammengefügten „Bestandteilen" als Ganzes zu denkende Begriffe sind unbedingt in einem Einzelwort zu versprachlichen. Campe erklärt allerdings an keiner Stelle, was für ihn die feste Fügung eines Begriffs und den Status der fest zusammengefügten Begriffsmerkmale, der „Bestandteile", ausmacht. Meines Erachtens liegt es nahe, generelle, grundlegende oder elementare Begriffe oder solche Begriffe, die im Erkenntnissystem zentral sind, als fest gefügt aufzufassen und ihre

191 192 193 194 195

[Campe 1813.] Seite 62. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIV. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIV. Zum Beispiel [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite IX. Zum Beispiel [Campe 1795-1797c.] Stück 2. Seite 101; [Campe 1813.] Seite 40,60. [Campe 1813.] Seite 40.

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Versprachlichung in einem Einzelwort zu fordern. Dieses ist ein relativ selbständiger Träger relativ geschlossener, unmittelbar gegebener Inhalte und als intuitiv gegebene Einheit von Ausdruck und Inhalt unmittelbar greifbar und einprägsam. Campes Äußerungen ist allerdings zu entnehmen, daß für ihn nicht alle fest gefügten Begriffe wichtige Begriffe sind. Manche sind gar ziemlich unwichtig. So nennt er als Beispiele für fest gefügten Begriffen entsprechende Einzelwörter, die entlehnt wurden, weil keine entsprechenden Einzelwörter eigensprachlicher Herkunft vorhanden waren, - für Begriffe aus dem Bereich des Magnetismus/Mesmerismus - Crise, Desorganisation, Exaltation. manipuliren, Rapport, Somnambule und bemerkt dazu: Dis war ζ. B. vor einigen Jahren der Fall, als die uns neue, obgleich in einem Deutschen Kopf entstandene Schwärmerei des sogenannten Magnetisirens aus Frankreich zu uns herüberkam. Unvorbereitet auf diese Seltsamkeit, waren wir damahls freilich genöthiget, den ausländischen Kunstwörtern, worin sie uns überliefert wurde, eine Zeit lang freien Lauf zu gönnen. Wäre indeß, zur Ehre des gesunden Deutschen Menschenverstandes, diese Modeschwärmerei nicht beinahe eben so geschwind wieder bei uns verschwunden, als sie entstanden war: so würde es uns und unserer Sprache zum gegründeten Vorwurf gereichen, wenn wir die Wörter [...] nicht schon längst gegen Deutsche ausgewechselt hätten. Jetzt hingegen, da die magnetische Gaukelei ein Ende genommen zu haben scheint, mag es sich der Mühe, jene Wörter zu verdeutschen, kaum mehr verlohnen;196

Campes Vorstellung vom Bau der Sachen, Begriffe und Inhalte - vom Kleineren zum Größeren - ist typisch für ein von aufklärerischer Philosophie geprägtes Konzept. Von den Wortverbindungen als nichtidiomatischen Syntagmen unterscheidet Campe deutlich die Wendungen als feste, idiomatische Syntagmen auf der Ebene der Phrastik. Diese tragen nach seiner Auffassung als Zeichenverbindungen vornehmlich besondere metaphorische Inhaltsverknüpfungen zur Versprachlichung besonderer Gedanken und besonderer Sachverhalte. Campe bezeichnet die Wendung mit „Wendung"197 oder mit „Redensart"198. Die letztere Bezeichnung impliziert eine nicht nur ausdrucksseitige, sondern auch inhaltsseitige Besonderheit der Zeichenverbindung. Jede Sprache hat ihre eigenen besonderen Wendungen, die den eigenen besonderen Gedanken der Sprachgemeinschaft entsprechen. Campe lehnt im Bereich der Phrastik phraseologische, das heißt ausdrucke- und inhaltsseitige Entlehnungen grundsätzlich ab, da er verschiedene Sprachen für auf der Ausdrucksebene durchweg inkompatibel hält. Bei - sowohl direkt als auch indirekt über phraseologische Entlehnungen möglichen - semantischen, das heißt inhaltsseitigen Entlehnun196 197

[Campe 1813.] Seite 24. Zum Beispiel [Campe 1813.] Seite 64-66,68f.. Zum Beispiel [Campe 1813.] Seite 5,64-66,68.

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Untersuchung

gen mahnt er zu größter Vorsicht und zur Beachtung der Analogie. Als Lehnbildungen sind hier ja per se nur Lehnformungen - Lehnübersetzungen und Lehnübertragungen nicht aber Lehnschöpfungen möglich. Lehnbedeutungen sind sehr selten. Somit besteht in bezug auf die angewandten Bildungsmuster fast immer eine gewisse Abhängigkeit von der fremdsprachlichen Wendung. Außerdem nimmt Campe auf höheren Hierarchieebenen die Ausdrucksebene nicht mehr als Barriere, das heißt, er hält auf den Rängen von der Phrastik aufwärts die Bindung auch fremder besonderer Inhalte an eigene besondere Ausdrücke für möglich. Campe gestattet semantische Entlehnungen nur dann, wenn sich die fremden besonderen Gedanken mit eigenen decken, die fremden besonderen Inhaltsverknüpfungen also als eigene anzunehmen sind. Außerdem macht er zur Bedingung, daß in der eigenen Sprache noch keine entsprechenden Zeichenverbindungen vorhanden sind. Immerhin bezieht er bei der Feststellung eines Mangels, das heißt einer semantischen Lücke, neben den denotativen auch die konnotativen, insbesondere die stilistischen Inhaltsmerkmale mit ein. Am allervorsichtigsten müssen wir in Ansehung der wörtlichen Uebersetzungen [Hervorhebung von mir] da sein, wo wir ganze Redensarten und Wendungen, und mit ihnen solche Eigenthümlichkeiten einer fremden Sprache, die ihr bisher ausschließlich zukamen, in die unsrige übertragen [Hervorhebung von mir] wollen. [...] Wir müssen einen wirklichen Mangel oder eine Unvollkommenheit in unserer Sprache [Hervorhebung von mir] zeigen können, die durch dergleichen Uebertragungen [Hervorhebung von mir] gehoben werden sollen; [...] Die aufzunehmende Eigenthümlichkeit der fremden Sprache muß dem Geiste und den Eigenheiten der unsrigen nicht zuwider [Hervorhebung von mir] sein. [...] Sie muß der Deutschen Art zu denken und sich auszudrucken nicht so fremd [Hervorhebung von mir] sein l..].m

Schon um der Verständlichkeit willen ist nur das in der eigenen Sprache Strukturgemäße zu dulden: Indem wir Deutsch reden oder schreiben, müssen wir bei Denen, die uns hören oder lesen, keine andere Sprachkenntniß, als die der Deutschen, voraussetzen; denn wo wäre das Gesetz, welches den Deutschen, als Deutschen, zur Pflicht machte, mehr als seine [sie] Muttersprache zu verstehn? Alles also, was einem Deutschen, der seine eigene Sprache, aber auch nur sie, wohl erlernt hat, unverständlich sein würde, das darf unserer Sprache nicht aufgedrungen werden. Hieher gehört ζ. B. die unschickliche Uebertragung der Französischen Redensart: se meler de q. ch. ins Deutsche durch: sich von einer Sache mischen oder meliren. Wer, der nicht Französisch gelernt hat, kann wissen, was der Deutschfranzose, der so redet, damit sagen wolle? 200

199 200

[Campe 1813.] Seite 64f.. [Campe 1813.] Seite 65.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

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Campe berücksichtigt ferner die Konstruktionen auf der Ebene der Syntax, die er als Zeichenverbindungen mit allgemeinen oder besonderen Inhaltsverknüpfungen zur Versprachlichung allgemeiner oder besonderer Gedanken und Sachverhalte auffaßt. Die syntaktische Konstruktion bezeichnet Campe mit „Wortfügung" 201 , gelegentlich schreibt er auch von „Wortstellung"202 oder „Wörterfolge" 203 und dieser entsprechender „Begriffsfolge" 204 . Diese Bezeichnung impliziert die Versprachlichung von Gedanken. Campe handelt syntaktische Konstruktionen und Wendungen in Hinsicht auf ihre Entlehnung zusammen ab. Dennoch wird deutlich, daß er im Bereich der Syntax toleranter ist als im Bereich der Phrastik. Dies ist unter anderem auf die geringere Betroffenheit der Ausdrucksebene zurückzuführen. In der Syntax gibt es ja per se nur semantische Entlehnungen. Da allerdings auch hier bei Lehnbildungen nur Lehnformungen, nicht aber Lehnschöpfungen möglich sind und Lehnbedeutungen sehr selten sind, so daß hier ebenfalls in bezug auf die angewandten Bildungsmuster fast immer eine gewisse Abhängigkeit von der fremdsprachlichen Konstruktion besteht, rät Campe auch bei - nur direkt möglichen - semantischen Entlehnungen in der Syntax zur Vorsicht und Achtung auf Strukturgemäßheit. Toleranter aber ist er in bezug auf syntaktische Konstruktionen auch deshalb, weil sie zum Teil allgemeinen Gedanken entsprechende allgemeine Inhaltsverknüpfungen tragen. Grundsätzlich gestattet er semantische Entlehnungen nur in solchen Fällen. Auch hier macht er außerdem zur Bedingung, daß in der eigenen Sprache noch keine entsprechenden Zeichenverbindungen vorhanden sind. Bei der Feststellung eines Mangels hebt er insbesondere stilistische Inhaltsmerkmale hervor und zielt vornehmlich auf Kürze und Deutlichkeit, ferner auf Wohlklang und Gefälligkeit ab. So bemerkt er zu der aus dem Französischen entlehnten Konstruktion mit wir im Vergleich zu der im Deutschen sonst gebräuchlichen mit laßt uns: Wer vermag es ζ. B. folgenden Satz über die Zunge zu bringen: Laßt uns uns unserer Unschuld freuen; oder laßt uns uns unserer Natur überlassenl Und wie viel kürzer, natürlicher und wohlklingender würden wir nicht sagen: Freuen wir uns unserer Unschuld', überlassen wir uns unserer Natur\20S

Campe verfügt nicht über die Begriffe der modernen Linguistik, reflektiert nicht über Langue und Parole. Statt von Graphem und Graph oder Phonem und Phon schreibt er von „Schriftzeichen"206, „Buchstabe"207 beziehungsweise 201 202 203 204 205 206

Zum Beispiel [Campe 1813.] Seite 66-69. Zum Beispiel [Campe 1813.] Seite 65. Zum Beispiel [Campe 1813.] Seite 65. Zum Beispiel [Campe 1813.] Seite 65. [Campe 1813.] Seite 66. Zum Beispiel [Campe 1813.] Seite XII, 32.

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Untersuchung

„Laut"208. Diese faßt er als rein ausdrucksseitig auf, das heißt als nicht inhaltstragend - ob er sie als inhaltsunterscheidend auffaßt, geht aus seinen Äußerungen nicht klar hervor. Immerhin geht Campe davon aus, daß Schreibung und Lautung miteinander korrespondieren. Er fordert, daß sie sich möglichst dekken. Dabei zielt er auf Kürze und Einfachheit der sich nach der Lautung richtenden Schreibung ab. Ein Schriftzeichen soll möglichst wenige Buchstaben umfassen; jedes Schriftzeichen soll für einen Laut stehen. Campe zitiert Christian Samuel Theodor Bernd (1775-1854) als Ausarbeiter seines „Wörterbuchs der Deutschen Sprache"209: „[...] Indem man dabei immer den Grundsatz vor Augen hatte, diejenige Schreibung zu wählen, welche mit den wenigsten Buchstaben das Wort, wie es von den meisten gebildeten Deutschen ausgesprochen wird, darstellt, so fielen einige Buchstaben überhaupt, andere aber in vielen Wörtern weg, wo sie bisher überflüssiger Weise gebraucht wurden, und wieder in vielen andern Wörtern wurde die Schreibung auf andere Art vereinfacht."210 „[...] Der andere Fall, nämlich der Weglassung in vielen Wörtern, trifft den Buchstaben h, welcher in der Mitte der Wörter meist und am Ende derselben häufig müßig stehet. Würde die einfache Regel angenommen und befolgt, jeden Selbstlauter, auf welchen ein einfacher und einzelner Mitlauter folgt, lang oder gedehnt, und jeden, auf den ein verdoppelter oder zusammengesetzter Mitlauter folgt, kurz oder geschärft auszusprechen, so würde die Schreibung um vieles natürlicher, einfacher, leichter, der Aussprache gemäßer und richtiger sein. Bis jetzt beobachtet man diese Regel nur zum Theil und man schreibt Haken, Elend, Ofen, Boden, Bude, Hut, in der Mehrzahl Hüte, nicht Haaken oder Hahken, Ehlend oder Eelend, Oofen oder Ohfen, Huht oder Huth (welches letzte jedoch noch von Manchen geschieht), sondern man hält den einfachen Selbstlauter vor dem einfachen und einzelnen Mitlauter für hinreichend, und bezeichnet hingegen die kurz und geschärft auszusprechenden Selbstlauter durch Verdoppelung des Mitlauters, wie in Hacken, Elle, offen, störrig, Butte, Hütte. Dem gemäß und nach dem Beispiele mehrerer unserer ersten Schriftsteller hat man in diesem Wörterbuche auch beten, bieten, Blüte, Gebet, Gebiet, holen, tönen, Flut, Glut und viele andere Wörter ohne h schreiben zu dürfen geglaubt, [...]"2U Bernd kehrt die Argumentation vorübergehend um: Es geht ihm - mit Campe - darum, daß sich die Schreibung nach der Lautung richtet; hier aber plädiert er für eine Vereinheitlichung der Lautung nach der Schreibung, um diese wiederum einfacher zu machen. Dies ist auch ein Anzeichen davon, daß er - mit Campe - eigentlich der geschriebenen Sprache den Primat vor der 207 208 209 210 211

Zum Beispiel [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIXf.; [Campe 1813.] Seite XII, XIV. Zum Beispiel [Campe 1813.] Seite XII, 9,32. [Campe 1807-1811.]. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIX. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIXf..

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

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gesprochenen Sprache erteilt. - Campe selbst tritt in seinem in den „Beiträgen zur weitern Ausbildung der Deutschen Sprache"212 erschienenen Aufsatz „Was ist Hochdeutsch? In wiefern und von wem darf und muß es weiter ausgebildet werden?"213 dafür ein, die Lautung in strittigen Fällen in erster Linie anhand der Schreibung festzulegen: Allein um hierüber nicht in den Wind zu sprechen, müssen wir vor allen Dingen uns erst über die Regel vereinigen, nach welcher in streitigen Fällen entschieden werden soll, welche von zwei entgegengesetzten Aussprachen die richtige d. i. die Hochdeutsche sei. [...] Unter diesen Umständen scheint mir schlechterdings kein anderes Entscheidungsmittel, als 1. die allgemeine Schreibung, wo diese Statt findet, und 2. der größere Wohllaut, übrig zu seyn. 214

Ferner ist Bernd insofern inkonsequent in seiner Forderung nach Kürze der Schreibung, als er die Verdoppelung von Buchstaben für lange Vokale nicht, für Konsonanten nach kurzen Vokalen aber sehr wohl billigt. Typisch für Campes vom Rationalismus geprägte Position ist die Forderung nach „Natürlichkeit". Diese besteht nicht nur in der größtmöglichen Übereinstimmung von Schreibung und Lautung bei größtmöglicher Kürze und Einfachheit der Schreibung, sondern auch und vor allem in der Übereinstimmung von Begriffsebene und Zeichenebene bei Erschließbarkeit der Entsprechimg von Begriffsebene und Inhaltsebene von der Ausdrucksebene her. Jedem Zeichen soll möglichst genau ein Begriff entsprechen, somit jedem Ausdruck möglichst nur ein Einzelinhalt gegenüberstehen. Das Erfordernis der Erschließbarkeit schränkt für Campe das Erfordernis der Kürze ein. Wie ich bereits eingehend erörtert habe, lehnt Campe Homonymie ab. In einzelnen Fällen versucht er sie zu verhindern oder zu beseitigen, indem er statt eines Wortes mit mehreren Einzelinhalten mehrere ausdrucksseitig, und zwar in der Schreibung, verschiedene Wörter mit je einem der Einzelinhalte ansetzt. Zur Unterscheidung billigt er Plazierungen von Buchstaben, die er sonst als überflüssig erachtet. Mithin setzt Campe in diesem Zusammenhang Schriftzeichen zur Inhaltsunterscheidung ein. Er zitiert wiederum Bernd: „[...] In solchen Fällen aber, wo die Beibehaltung des h, wenn es auch sonst nicht nöthig wäre, dienen kann, ein Wort von einem andern gleich= oder ähnlichlautenden zu unterscheiden, behielt man es bei, wie ζ. B. in wohl (ich befinde mich wohl), um es von wol (er wird wol noch kommen), in Thon (der Töpfer formet aus Thon Gefäße), um es von Ton (seine Geige hat eine [sie] sanften Ton), in hohl (der hohle Baum), um es von hol' (hole das Buch), in Name (Taufname, Eigenname etc.) um

212

m 214

[Campe 1795-1797a.].

[Campe 1795-1797C.]. [Campe 1795-1797c.] Stück 1. Seite 156.

90

Untersuchung es von Nähme (von nehmen in Abnahme, Annahme, Aufnahme etc.) etc. zu unterscheiden. [,..]"21S

Da Campe verschiedene Weltteile, Erkenntnissysteme und Sprachsysteme in bezug auf das je Besondere für prinzipiell nicht kompatibel hält und überdies die durchweg besondere - somit durchweg nicht mit anderen vereinbare Ausdrucksebene der Sprache als Barriere nimmt, die schon um der Verständlichkeit willen das Fremde vom Eigenen fernhalten soll, mißt er der Graphie216 und der Phonie großes Gewicht bei. Ihre Besonderheit sucht er unbedingt zu bewahren. Campe setzt mit der Prüfung lexikalischer Entlehnungen auf Strukturgemäßheit an der Schreibung und der Lautung an. Er billigt nur Schriftzeichen und Laute, die auch dem Deutschen eigen, und zwar - dies ist wichtig - deutscher Herkunft sind. Mithin lehnt er die Entlehnung von rein ausdrucksseitigen Einheiten grundsätzlich ab. Ganz vorzüglich verdienen diejenigen ausländischen Wörter ausgemärzt zu werden, die undeutsche Laute, d. i. solche enthalten, die sich in der Deutschen Sprache, so weit sie echt und rein ist, gar nicht finden [Hervorhebung von mir], und die wir zum Theil auch nicht einmahl, wie ihre Aussprache es erfoderte, Deutsch zu schreiben vermögen, weil uns die dazu nöthigen Schrifizeichen fehlen [Hervorhebung von mir]. Hieher gehören, ζ. B. alle diejenigen, worin der Zischlaut des Französischen g gehört wird, der unserer Sprache durchaus fremd ist, wie in Genie, geniren, Girandole, Gelee, Generosität, Gilot (Brustlatz). Ferner solche Wörter, wie Taille, Bataille, Nuance, Bouillon, Bataillon, Fagade, Eventail, Amüsement, Ingenieur, Journal u. s. w., in welchen wir weder das unhörbare Französische End=e, noch die Nasenlaute en, ou und ent, noch den Mitlaut ς, der weder unser ss, noch unser ß, noch unser s ist, noch das Französische in, noch den Mitlaut j, der nicht unser Sch und nicht unser Deutsches J ist, noch die Laute ail und al, wie der Franzose sie hören läßt, mit Deutschen Buchstaben auszudrucken vermögen.217 Um die Ausdrucksseite eines entlehnten Zeichens vollständig an die eigene Sprachstruktur zu assimilieren, ist es nach Campe erforderlich, sämtliche Schriftzeichen und Laute fremdsprachlicher Herkunft durch solche eigensprachlicher Herkunft zu ersetzen. Er selbst versucht dies bei seiner lexikographischen Tätigkeit, soweit er es in deren Rahmen fur gestattet hält. Seinem „Gehülfen" 218 Bernd nach betrifft es unter anderen die

2,3 216

217

218

[Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XX. Ich definiere Graphie als graphemische Struktur sowie graphetische Charakteristik einer Einzelsprache, Schreibung als graphemische Struktur sowie graphetische Charakteristik eines einzelnen Zeichens. [Campe 1813.] Seite 32. Dieser Äußerung ist zu entnehmen, daß Campes Schriftzeichenbegriff nicht an den einzelnen Buchstaben gebunden ist, vielmehr über diesen hinausgeht. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIX.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

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„[...] Buchstaben c und y, welche - den Gebrauch des c in dem Zischlaute ch und dem ck, des y in den wenigen Fällen, wo es entweder in einem Eigennamen ζ. B. Beyer, Meyer etc. vorkömmt oder wo es in der angeführten Stelle aus einem Schriftsteller absichtlich beibehalten worden ist, ausgenommen - als dem Deutschen fremde und überflüssige Schriftzeichen, die durch k, z, und i hinlänglich ersetzt werden, verstoßen worden sind, ein Verfahren, welches in Schriften immer allgemeiner wird und bei welchem man in diesem Wörterbuche allenfalls nur dies auffallend finden wird, daß dasselbe auch auf die Wörter Chor, Christ etc. und alle davon abgeleitete und damit zusammengesetzte Wörter die durchgängig - die angeführten Stellen aus Schriften wieder ausgenommen - mit k, also Kor, Krist etc. geschrieben werden, ausgedehnt worden ist. [,..]" 219 Nach Campe wird dem Zeichen [...] durch Verwandelung der dem Deutschen Ohre fremdklingenden Laute in einheimische, das echte [Hervorhebung von mir] Gepräge der Deutschheit aufgedruckt [...]. Hieher gehören ζ. B. Abbt, Priester, Bischof, Papst, Fest, Tempel, Krist [!], Kanzel, Almosen, Schule, Regel, Brille, Brief (von breve, falls wir es nicht etwa lieber mit Fulda von dem alten Stammworte riten oder riben, sculpere, herleiten wollen), Abenteuer (wofern wir nicht etwa das Französische Avanture lieber für ein Kind, als für die Mutter dieses Deutschen Ausdrucks halten wollen), Prinz, Pulver, predigen, Körper, Arzt (von artista), Zirkel, Fabel, Titel, Tafel, Siegel, Klasse, Form, Meile, Kloster, Marter, martern, Märterer (nicht Märtyrer, weil es sonst noch halb Griechisch, nicht ganz Deutsch sein würde), Kirsche, Pfirsich, Pflaume, und eine Menge andere. 220 Die Assimilation eines fremden besonderen Ausdrucks an die Struktur der eigenen Sprache läßt Campe zufolge den mit ihm verbundenen Inhalt unberührt. Handelt es sich um einen allgemeinen Inhalt, so Campe, ist der A u s druck zu assimilieren, um die Erschließung und Überprüfung des Inhalts z u ermöglichen, das Zeichen verständlich zu machen. Handelt es sich aber u m einen fremden besonderen Inhalt, ist der Ausdruck nicht zu assimilieren, u m der Aufnahme und Verbreitung des Fremden nicht noch Vorschub zu leisten. Deshalb unterbleibt die Assimilation bei manchen Wörtern zu Recht: Alle diejenigen, deren Einbürgerung wir glücklicher Weise dadurch erschwerten, daß wir sie in ihrer ganzen ausländischen, von der Deutschen Sprachähnlichkeit abweichenden Form gebrauchten, ohne ihnen erst durch irgend eine Abänderung den Deutschen Schnitt zu geben, wie ζ. B. Publicum, Catalogus, Corpus oder Corps, die Jura, die Onerapublica u. s. w. 221

219 220

221

[Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIX. [Campe 1813.] Seite 20. Campes - teilweise mangelhafte - Etymologiekenntnisse stehen hier nicht zur Diskussion. [Campe 1813.] Seite 32.

92

Untersuchung

Das Problem der Verständlichkeit als solches erörtert Campe ausführlich in bezug auf die Phonie. Diese ist unter artikulatorischem, akustischem und auditivem Aspekt zu behandeln. Campe berücksichtigt den artikulatorischen und den auditiven Aspekt, das heißt die Lautproduktion und die Lautrezeption. Sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption von Lauten ist - mit den Termini der modernen Linguistik formuliert - ein distinktives Minimum an Struktur für die Verständlichkeit relevant. Eine Äußerung ist dann verständlich, wenn die distinktiven Merkmale der Phoneme hervortreten. Ein orthoepisches Minimum ist also zur Gewährleistung der Verständlichkeit einzuhalten. Es geht hier um die Verständlichkeit der Äußerung; Verständlichkeit in diesem Sinn ist Entschlüsselbarkeit und noch nicht gleich Richtigkeit. Campe hingegen ist es um die Verständlichkeit des Zeichens im System zu tun; Verständlichkeit in seinem Sinn geht über Entschlüsselbarkeit hinaus und beruht auf Richtigkeit, das heißt Analogizität. Auch bezieht Campe die Erlernbarkeit in seine Überlegungen mit ein. Nach Campe folgt nur eine von Lauten fremdsprachlicher Herkunft freie Sprache durchweg der Analogie, sind nur in einer solchen Sprache alle Zeichen analogisch und damit verständlich. Auch ist nur eine solche Sprache in ihrer Orthoepie allen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft geläufig: „Sie paßt in diesem Falle am besten zu der eigenthümlichen Beschaffenheit und den einmahl angenommenen Fertigkeiten der Sprachwerkzeuge desselben [des sie sprechenden Volks]."222 Campes Behauptung ist, was die „einmahl angenommenen Fertigkeiten" der Sprachorgane betrifft, durchaus begründet. Lediglich als Kind ist der Mensch in der Lage, seine Aussprache nicht nur auditiv, das heißt über das Gehör, sondern auch artikulatorisch, das heißt über die Motorik der Sprechwerkzeuge, zu kontrollieren. Daher wird die Phonie einer in der Kindheit erworbenen Sprache besonders leicht und gründlich internalisiert. Für breite Schichten ist dies ausschließlich bei der eigenen Sprache, der sogenannten Muttersprache, der Fall. Der Motor-Theorie der Sprachwahrnehmung223 zufolge ist sogar die Wahrnehmung nicht nur vom Gehör, sondern auch von der Motorik der Sprechwerkzeuge bestimmt: Das Unterscheidungsvermögen, das zum Erkennen distinktiver Merkmale dient, ist an den für die Verständlichkeit relevanten Stellen besonders ausgeprägt. Es wird nicht nur durch auditive Tätigkeit erworben, sondern auch und vor allem durch latente artikulatorische Tätigkeit, das heißt durch stummes Nachvollziehen der Artikulation. Das Lautklangbild ist mit dem Lautbewegungsbild untrennbar verbunden.

222 223

[Campe 1813.] Seite 9. Vergleiche zum Beispiel [Liberman 1963.]; [Liberman, Mattingly 1985.].

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

93

Die Produktion fremdsprachlicher Laute hängt von der Artikulationsbasis224 der eigenen Sprache ab. Die Rezeption fremdsprachlicher Laute unterliegt den Apperzeptionsregeln und -normen der eigenen Sprache. Die fremdsprachlichen Laute werden auf der Grundlage der Struktur der eigenen Sprache interpretiert. Campe formuliert beide Aspekte des Problems. Er versetzt sich gar in die Lage eines Menschen, [...] der keine andere, als seine Muttersprache gelernt hat; und ich kann ζ. B. in die Seele eines Niederdeutschen Landbauers fühlen, daß er das Französische Wort Condition nicht anders aussprechen, vielleicht auch nicht einmahl anders hören kann, als Conditschoon. Es ist also wirklich, in Bezug auf die allermeisten Glieder eines Volks, eine beträchtliche Unvollkommenheit der Sprache, wenn sie unter die ihr eigenthümlichen Laute solche fremdartige sich mischen läßt, die für die meisten Menschen, deren Muttersprache sie ist, unaussprechbar sind, und immer bleiben müssen.

Die völlig entstellte Aussprache und die stark verzerrte Wahrnehmung des Englischen bei den Otahitern226, die Campe als Beispiel anführt, sind allerdings Extreme, wie sie nur bei großer strukturaler Unterschiedlichkeit von Sprachen auftreten. Bei strukturaler Ähnlichkeit vor allem genetisch nahe verwandter Sprachen sind die artikulatorischen und auditiven Abweichungen meist nicht so erheblich, daß Äußerungen dadurch unverständlich werden. Ich stelle für lexikalische Entlehnungen, die in der Lautung noch nicht vollständig assimiliert sind, das heißt fremdsprachliche Laute enthalten, folgende von Campes Behauptung abweichende These auf: Die Struktur der eigenen Sprache beeinflußt Produktion und Rezeption der fremdsprachlichen Laute bei allen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft in gleicher Weise, so daß bei allen Sprechern die gleichen Abweichungen auftreten. Mithin erfolgt die Ersetzung der fremdsprachlichen Laute und damit die Assimilation der Lautung quasi automatisch. Da dann die Struktur der fremden Sprache weiter keine Rolle spielt, ist auch die Verständlichkeit - sowohl des Zeichens im System als auch der Äußerung - nicht weiter gefährdet. Schwierigkeiten - in Hinsicht auf die Erlernbarkeit noch mehr als in bezug auf die Verständlichkeit - entstehen eher dadurch, daß diejenigen Mitglieder der Sprachgemeinschaft, die über Fremdsprachenkenntnisse verfügen, die fremdsprachlichen Laute in lexikalischen Entlehnungen zu bewahren suchen. Dann fördert die Fremdheit der Lautung die Bildung von Sprachbarrieren.

224

225 226

Artikulationsbasis: Menge der artikulatorischen Eigenschaften, die für alle Sprecher einer Einzelsprache charakteristisch sind. [Campe 1813.] Seite 9. Vergleiche [Campe 1813.] Seite 9.

Untersuchung

94 2.2.4

Registration und Evaluation - Denotation und Konnotation

Campe unterscheidet auf der Begriffsebene zwischen registratorischen Begriffsmerkmalen und evaluativen Begriffsmerkmalen, auf der Inhaltsebene dementsprechend zwischen denotativen Inhaltsmerkmalen als darstellungsfunktional - folglich auch erkenntnisfunktional - feststellende Bedeutungsmerkmale und konnotativen Inhaltsmerkmalen als darstellungsfunktional folglich auch erkenntnisfunktional - wertende, affektive, sowie symptomfunktionale und kommunikationsfunktionale einschließlich stilistischer Bedeutungsmerkmale. Das evaluative Begriffsmerkmal bezeichnet Campe mit „Nebenbegriff', der einem Begriff „anklebt" oder „anhängt", oder mit „Anstrich". Diese Bezeichnungen implizieren eine gewisse Austauschbarkeit. In bezug auf Evaluation und Konnotation schreibt er von „Licht" und „Schatten", „Farbe", „Mischung" und „Abstufung" sowie „Grad der Lebhaftigkeit": Eine [...] Vollkommenheit der Sprache ist: „daß sie nicht bloß fur die Begriffe und Empfindungen überhaupt und für die wesentlichen Bestandteile, so wie für die nähern Bestimmungen derselben, sondern auch für Das, was man die Farben der Gedanken und des Ausdrucks nennen kann, für die feinern Licht- und Schattenmischungen, die zartem Abstufungen und die höhern oder niedrigem Grade der Lebhaftigkeit [...] ihre genau passenden Zeichen habe."227 Unter den symptom- und kommunikationsfunktionalen konnotativen Inhaltsmerkmalen berücksichtigt der Lexikograph Campe auch die Zugehörigkeit zu dialektalen Varietäten, nämlich historischen, geographischen sowie sozialen, professionellen und kulturellen Dialekten, mit Bezeichnungen wie „veraltet", „landschaftlich" sowie „niedrig", „pöbelhaft" oder „gesittet" und „ungebildet" oder „gebildet": Wir unterscheiden nämlich zweierlei Arten, sowol von veralteten, als auch von landschaftlichen Wörtern; nämlich 1. veraltete, aber von guten Schriftstellern entweder schon erneuerte, oder doch der Erneuerung würdige Wörter; 2. veraltete Wörter, die entweder irgend einer fehlerhaften Eigenschaft wegen, oder weil sie schon zu sehr in Vergessenheit gerathen, folglich unverständlich geworden sind, der Erneuerung nicht mehr fähig zu sein scheinen, dennoch aber, ihrer noch lebenden Kinder, Kindeskinder oder Urenkel wegen, damit von diesen nachgewiesen werden könne, woher sie stammen, in dem Wörterbuche aufbewahrt werden müssen, wozu ζ. B. das veraltete ahmen, handeln oder wirken, gehört, weil nachahmen, Nachahmer und Nachahmung noch in der Sprache leben. Eben so auch zweierlei Arten von landschaftlichen Wörtern, nämlich 1. solche, welche in die Schriftspra227

[Campe 1813.] Seite 26f.. Campe verwendet die Anführungszeichen hier zur Hervorhebung eines eigenen Satzes. Mit dem „Ausdruck" meint er hier die Sprache mit Ausdrucksebene und Inhaltsebene, wobei es ihm auf die Inhaltsebene ankommt.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

95

che entweder schon eingeführt worden sind, oder doch in dieselbe eingeführt zu werden verdienen; 2. solche, welche dieser Ehre aus irgend einer Ursache unwerth zu sein scheinen, von welchen aber dennoch diejenigen in dem Wörterbuche nicht fehlen dürfen, die irgend ein bedeutender Schriftsteller zu gebrauchen gut gefunden hat. 228 [...] was pöbelhaft ist, folglich von gesitteten Menschen, weder gesprochen, noch geschrieben wird, sollte davon ausgeschlossen sein. 229 Campe beachtet unter den symptom- und kommunikationsfunktionalen Konnotationen auch die Zugehörigkeit zu situativen Varietäten, namentlich Stilen, als „innerer Grad des Adels oder der Gemeinheit". Dazu bemerkt er, daß sowohl Inhalte mehrerer Wörter als auch Einzelinhalte ein und desselben Worts nicht nur in bezug auf denotative, sondern auch in bezug auf konnotative einschließlich stilistischer Inhaltsmerkmale potentiell verschieden sind. Er legt Wert auf die Differenzierung von Wörtern und Einzelinhalten nach Stilarten, nach „Schreibarten", w o b e i er die „untere" und „mittlere" und „höhere", sowie „ernste" und „scherzhafte" unterscheidet: [...] die innern Grade ihres Adels oder ihrer Gemeinheit, vermöge welcher sie [die Wörter] sich entweder nur für die höhere, oder mittlere, oder untere, ernste oder scherzhafte Schreibart eigenen, sollten in unserm Wörterbuche angegeben werden; weil bekanntlich viele Wörter in der einen Schreibart gut und trefflich, in der andern unschicklich und verwerflich sind. Ja selbst ein und ebendasselbe Wort kann in der einen Bedeutung gemein und niedrig, in einer andern hingegen edel und sogar erhaben sein. So ist zum Beispiel das Wort querlen in seiner eigentlichen Bedeutung, mit dem Querl umrühren, ein bloßes Küchenwort, in seiner uneigentlichen Bedeutung hingegen, für kreisend herumlaufen: Die ganze Schaar der Knecht' und Mägde querlet Nun in dem Schloss' herum. Airinger. ein dichterisches; [...]. Ausspeien ist, eigentlich genommen, ein niedriges Wort; in seiner uneigentlichen Bedeutung hingegen, worin Schiller es gebraucht hat: Da speiet das doppelt geöffnete Haus Zwei Leoparden auf einmahl aus. kann es, als ein edles Wort, in der höchsten Schreibart Statt finden. 230 Wie in dieser Äußerung angedeutet, räumt Campe der Sprache der D i c h tung sogar eine g e w i s s e Eigenständigkeit v o n Lexik und Semantik ein. Er

22

* [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite Xlf.. Campes etymologische Angaben sind auch hier nicht korrekt: mhd. amen bedeutet ,ausmessen', nhd. nachahmen bedeutet also eigentlich ,nachmessen'. 229 [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite VIII. 230 [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIII.

96

Untersuchung

billigt ihr eigene Wörter und eigene, insbesondere metaphorische, denotativ und konnotativ von anderen unterschiedene Einzelinhalte zu. Diese stuft er nicht etwa als in der Schriftsprache okkasionell, sondern als in der Dichtungssprache usuell verwendete ein (dichterische Einzelinhalte von ausspeien, krank, Nebel, querlen. Wolke)231. Campe hält ein gesondertes Wörterbuch der Poesie, ein „Wörterbuch für Dichter und ihre Leser", in dem „sowol die eigentlichen Dichterwörter überhaupt, als auch der höhere uneigentliche Gebrauch, den unsere Meistersinger von gemeinen Wörtern gemacht und sie dadurch zu dichterischen erhoben haben"232 inventarisiert sind, für ein Desiderat. Campe hält sich an die Trennung von dialektaler und situativer Variation. Er stellt zugleich der Sprachwirklichkeit entsprechende Zusammenhänge her, insbesondere bei der Erörterung innersprachlicher Transferenzen in die Standardsprache, was Entlehnungen aus diatopischen Varietäten und diastratischen Varietäten für die Schriftsprache und/oder Umgangssprache in verschiedenen Stilarten betrifft. Ich werde auf diese Zusammenhänge bei der Analyse von Campes Standardisierungskonzeption eingehen. - Um bei der semantischen Explikation Platz zu sparen, verwendet der Lexikograph Campe zur Angabe der Zugehörigkeit zu dialektalen und situativen Varietäten - übrigens auch zur Kennzeichnung von Neuprägungen - auch eigens geschaffene Symbole, „Kürzungszeichen". Diese piaziert er zur Kennzeichnung eines Wortes am Anfang, zur Kennzeichnung eines Einzelinhalts im Innern des Artikels. Dialektal und situativ neutrale Wörter kennzeichnet er nicht: „Wörter, die allgemein üblich sind, und für jede Schreibart passen, haben gar kein Zeichen."233 Campe bezieht sowohl Registration als auch Evaluation, sowohl Denotation als auch Konnotation in die von ihm angenommene Zweischichtung von Allgemeinheit und Besonderheit, Gleichheit und Verschiedenheit ein. Er achtet bei Evaluationen und Konnotationen vornehmlich auf das Besondere. Andersherum betrachtet, erachtet er in Hinsicht auf das Besondere vornehmlich Evaluationen und Konnotationen als kritisch für die Abgrenzung des Eigenen gegen das mit diesem prinzipiell nicht vereinbare Fremde. Jede besondere Sprache hat freilich auch in diesem Betracht ihr Eigenthümliches, und muß es haben; weil jedes Volk seine ihm eigenthümliche Art zu empfinden, zu denken und zu handeln hat, und haben soll. [...] Es wird daher auch nicht gemeint, daß alle Sprachen alle Begriffe und Empfindungen, mit allen ihren, oft bloß örtlichen, also unwesentlichen Eigenthümlichkeiten, gerade auf eine und ebendieselbe Weise ausdrucken sollen; [...] mit den nämlichen Farben, mit der nämlichen Schattenmischung [...]. Nein! Das hieße die innere Verschiedenheit der Sprachen, das

232 233

Vergleiche dazu auch [Henne 1972.] Seite 50-52, 63f.. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite X. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XXI.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

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hieße die geistigen, sittlichen und ländlichen Unterschiede der Völker selbst aufheben - das ganze Menschengeschlecht über Einen Leisten schlagen wollen. 234

Bei der Beurteilung von übernommenen fremden besonderen Begriffen, die er bisweilen gar von vornherein als intellektuell und moralisch suspekt einstuft, mißt Campe der Trennung von Registration und Evaluation großes Gewicht bei. Den unteren und mittleren Schichten, den Ungebildeten oder Ungelehrten aber, deren Denk- und Abstraktionsvermögen er für unterentwickelt hält, traut er nicht zu, Begriffe von sich aus zu beurteilen und gegebenenfalls zu verwerfen. Da es ihnen an Erziehung und Bildung mangelt und daher an Sacherklärungen fehlt, sind sie, so Campe, um Begriffe zu erlangen, auf die Erschließung der entsprechenden Inhalte angewiesen. Dies ist ihnen vom Ausdruck her, da sie nicht über Fremdsprachenkenntnisse verfügen, nur dann möglich, wenn dieser strukturgemäß ist. Fremde besondere, womöglich vernunftwidrige und unsittliche Inhalte aber, bei deren Erschließung und Überprüfung es insbesondere auf die Trennung von Denotation und Konnotation ankommt, sind nach Campe, wie ich bereits erläutert habe, nur zusammen mit fremden besonderen Ausdrücken zu entlehnen. Den in ihren Sprachkenntnissen auf das Deutsche beschränkten Sprechern, so Campe, bleibt in diesen Fällen nur die Erschließung des Inhalts aus dem sprachlichen und dem situativen Kontext. Dabei sind Vollständigkeit, Genauigkeit und die Trennung von Denotation und Konnotation nicht gewährleistet. Es besteht die Gefahr der Verwischung von Denotation und Konnotation und der unkritischen Annahme einer nicht von der Denotation her überprüften Konnotation mit entsprechenden Auswirkungen auf der Begriffsebene, das heißt Verwischung von Registration und Evaluation und unkritische Übernahme einer nicht von der Registration her überprüften Evaluation. Campe verwirft für das Deutsche alle fremdsprachlichen Wörter, [...] die, ohne gerade unanständig, schmutzig oder pöbelhaft zu sein, doch das sittliche Zartgefühl abstumpfen, die Begriffe von Recht und Unrecht wankend machen oder in Verwirrung bringen können, indem sie unsittlichen und unerlaubten Dingen einen gleichgültigen, scherzhaften, oder gar gefälligen und angenehmen Anstrich geben; ζ. B. Galanterie, für Unzucht genommen, fllle de joie, un aimable debauche, lanterner, septembriser u. s. w. 235

Begriffsverwirrung und Begriffsverfälschung, Manipulation und intellektuelle und moralische Korrumpierung breiter Schichten der Bevölkerung erfolgen nach Campe mithin wesentlich durch konnotative Inhaltsmerkmale und evaluative Begriffsmerkmale.

234 255

[Campe 1813.] Seite 27. [Campe 1813.] Seite 17.

98

Untersuchung

Konnotative Inhaltsmerkmale und evaluative Begriffsmerkmale können jedoch nicht nur dazu dienen, das Eigene durch Fremdes zu beeinträchtigen, sondern, wie Campe sehr wohl erkennt, auch dazu, das Eigene gegenüber Fremdem zu behaupten. Dazu müssen fremde Merkmale durch eigene ersetzt werden. Die Ersetzung von Konnotationen geschieht durch die Übertragung eigener besonderer Inhaltsmerkmale bei Lehnprägungen: bei Lehnbildungen von Inhalten einzelner eigensprachlicher Wortbildungsmittel auf übernommene Inhalte ganzer Wörter, bei Lehnbedeutungen von überlieferten Einzelinhalten eigensprachlicher Wörter auf übernommene Einzelinhalte. Campe sieht diese Möglichkeiten explizit als Verfahren in seinen praktischen Programmen zur Sprachbereicherung vor. Er selbst setzt sie bei seinen eigenen Verdeutschungen um: [...] man sollte sich bemühen, den Nachbildungen solche Nebenbegriffe anzuhängen, die statt Wohlgefallen, vielmehr Widerwillen, Ekel und Abscheu gegen die dadurch bezeichnete Sache einflößen könnten; wie dis ζ. B. bei der von mir versuchten Uebersetzung von fille de joie durch Lust= oder Buhldirne (wovon zu wünschen wäre, daß es das verführerische neue Wort Freudenmädchen bald und gänzlich verdrängen möchte), und von dem Verfasser der Sagen der Vorzeit durch Zurückführung des altdeutschen Worts Lotterbett, statt Sofa, zur Bezeichnung eines Werkzeuges der Ueppigkeit, geschehen ist.236

Campe nutzt die Verbindung von Denotation und Konnotation und die Übertragung von Konnotationen bei Wortprägungen, insbesondere Wortbildungen, unterstützt durch semantische Explikationen, darüber hinaus gezielt zur Begriffsbeeinflussung, zur Persuasion im politischen, im sozialen und im religiösen Bereich nach seinen Überzeugungen, wobei er allerdings immer wieder die intellektuelle und moralische Integrität seiner Motive beteuert. Die Wörter, die er für politische Begriffe, Staats- und Herrschaftsformen vorschlägt, vermitteln eine Lektion in Staatskunde ganz im Sinne der Aufklärung: Ich theile nämlich alle Staaten in Freistaaten und Herrnstaaten·, und die letzten wieder in einherrige, Monocratien\ (nicht Monarchien). Dis letzte bezieht sich auf die Form der Verwaltung, nicht der Verfassung des Staats, unter welcher ich mir das Verhältniß denke, worin die Familien eines Staats zu einander stehen; ob sie alle frei d. i. unabhängig von einander, oder ob die übrigen Einer oder einigen Familien unterworfen sind, d. i. solche, wo Einer Familie die übrigen unterthan sind; und in vielherrige (mehrherrige), wo einige Familien sich das Recht angemaßt haben, die übrigen von sich abhängig zu erhalten. An die Abstammung des Worts Aristocratie wird hiebei freilich nicht gedacht; aber warum soll man auch daran denken, wenn man einmahl in der Deutschen Sprache denkt? [...]

236

[Campe 1813.] Seite 18.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

99

Ein Staat ist entweder ein herrenloser d. i. ein von keinem Herrn, sondern nur durch Gesetze beherrschter, ein Freistaat In diesem werden die Gesetze entweder unmittelbar vom Volke gegeben - Ein Volksstaat (Democratie) oder von Stellvertretern - ein Gemeinstaat

(Republik)

oder ein Herrnstaat, d. i. ein von Einem oder mehren Herrn, dessen oder deren Wille für die Übrigen Gesetzeskraft hat, beherrschter. Ein solcher ist entweder ein einherriger (Monocratie) oder ein mehrherriger (Aristocratie) und wenn der Herren viele sind (Polycratie)

ein vielherriger.

Die Herrschgewalt dieser Herren ist entweder durch eine Verfassung beschränkt, - ein Herrnstaat.

beschränkter

oder nicht - ein unbeschränkter, willkürlicher, mit Einem Worte, ein Zwingherrnstaat (Despotie).237

Die Ersatzwörter für Demokratie - Volksstaat - und Republik - Gemeinstaat - implizieren allerdings eine das Besondere in der sozial-kulturellen Dimension betonende ideologische Differenzierung: In einer Demokratie macht die breite Masse Politik; es besteht die Gefahr der Entartung zur Ochlokratie. In einer Republik aber ist Politik Sache einer geläuterten Auslese der Bevölkerung. Campe setzt für das Wort Volk eine generellere Bedeutung, „eine unbestimmte Menge, eine Vielheit", sowie zwei speziellere Bedeutungen an, „Menge beisammen befindlicher lebender Geschöpfe", auch „von dem Mehrtheile eines Volkes, welcher begreiflich auch der rohere und ungebildetere ist", und „aus vielen Menschen, welche unter derselben Regirung und in einerlei Staatsverfassung leben und gewöhnlich auch ein und dieselbe Sprache reden, bestehendes Ganzes". Er stellt für beide speziellere Bedeutungen eine negative Konnotation, einen „verächtlichen Nebenbegriff' fest.238 Obwohl er selbst das Wort Volk für „Nation" häufig verwendet, bemerkt er, daß es „zweideutig ist, indem es auch die große Menge (le peuple) oder die untersten Volksklassen bezeich-

237

238 239

[Campe 1813.] Seite 126. „Aristocratie". Campe stellt das onomasiologische Paradigma in einem Schaubild dar. Aristokratie bedeutet eigentlich .Herrschaft der Besten' und hat somit als Bezeichnung filr eine Staatsform eine positive Konnotation, die ganz und gar nicht im Sinn des Aufklärers Campe ist. [Campe 1807-1811.] Band 5. Seite 433. [Campe 1813.] Seite 431.

100

Untersuchung

Einige von Campe im religiösen Bereich vorgeschlagene, konnotativ von seiner Position als protestantischer Theologe geprägte Verdeutschungen, nämlich Afterkirchenversammlung flir Konzil. Freigläubiger für Protestant und Zwangsgläubiger für Katholik, sind zu parteiisch, um sich durchzusetzen. Indem Campe die Verbindung von Denotation und Konnotation flir seine Zwecke nutzt, gesteht er sich ein, daß ihre Trennung, insbesondere bei Abstrakta, an sich schwierig ist, ob die Erschließung des Inhalts vom Ausdruck her oder aus dem sprachlichen und dem situativen Kontext erfolgt. Allerdings spielen, gerade bei Abstrakta, Assoziationen eine wichtige Rolle; sie haben unter Umständen mehr Gewicht als Denotationen. Assoziationen wiederum sind durch manipulativ konstruierte Kontexte gezielt zu etablieren, insbesondere dann, wenn ein Wort nur aus einem oder mehreren ideologisch gleichgearteten Kontexten heraus erlernt wird. Insofern sind Campes Bedenken gegen die ausschließlich aus dem Kontext erfolgende Inhaltserschließung berechtigt, wenn auch aus Gründen, die er selbst nicht genau reflektiert.

2.2.5 Arbitrarität, Konventionalität und relative Motiviertheit Für das folgende definiere ich - abgestellt auf das von Campe vertretene Konzept - eigene Zeichen als Zeichen eigensprachlicher Herkunft mit eigenem Ausdruck oder fremdsprachlicher Herkunft mit fremdem, und zwar assimiliertem Ausdruck, fremde Zeichen als Zeichen fremdsprachlicher Herkunft mit fremdem, und zwar nicht assimiliertem Ausdruck. Für Campe, um zuvor Dargelegtes zusammenzufassen, besteht die Verständlichkeit eines Zeichens in seiner Durchsichtigkeit als Erschließbarkeit und Überprüfbarkeit - des Inhalts vom Ausdruck her. Allgemeine Verständlichkeit, das heißt Verständlichkeit auch für die in ihren Sprachkenntnissen auf die zeitgenössische eigene Sprache beschränkten Sprecher, setzt nach Campe die Analogizität, das heißt Strukturgemäßheit, des Ausdrucks voraus. Campe fordert Analogizität des Inhalts um der Kompatibilität willen, Analogizität des Ausdrucks auch um der allgemeinen Verständlichkeit willen. Eigene Ausdrükke prüft er weiter nicht; fremde Ausdrücke billigt er nur, wenn sie von vornherein strukturgemäß sind oder vollständig assimiliert werden. Eine Sprache, so Campe, ist allgemein verständlich, wenn sie „keine andere fremde Wörter und Redensarten, als nur solche aufnimmt, die ihrer eigenen Sprachähnlichkeit gemäß sind, oder welchen sie, vor der Aufnahme, durch irgend eine damit vorgenommene Veränderung, das Fremdartige abgeschliffen hat, um ihnen das Gepräge ihrer eigenen Sprachähnlichkeit aufzudrucken:"240

240

[Campe 1813.] Seite 5. Campe verwendet die Anführungszeichen hier zur Hervorhebung

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

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Campe erachtet Strukturgemäßheit als Voraussetzung für unbeschränkte Verbreitung des Zeichens im System, diese wiederum als Voraussetzung für seine Produktivität. Tatsächlich können mit analogischen Wörtern und Wortbildungsmitteln immer wieder Wörter geprägt werden. So entstehen Ausdrucksparadigmen, das heißt Wortfamilien. Campe geht es um Wortfamilien im auf die metasprachliche Kompetenz des Sprechers begrenzten Sinn: Die etymologisch verwandten Wörter sind nicht nur - mit Sprachgeschichtswissen und Fremdsprachenkenntnissen - diachronisch, sondern auch noch - ohne Sprachgeschichtswissen und Fremdsprachenkenntnisse - synchronisch zuordenbar und daher relativ motiviert. Campe hält die Glieder einer solchen Wortfamilie sämtlich für völlig durchsichtig; er nimmt an, daß ihr Inhalt als Kombination der Inhalte der verwendeten Wörter und Wortbildungsmittel vom Ausdruck her durchweg vollständig und genau erschlossen werden kann. Er betrachtet Konsoziiertheit als zuverlässige Verbindung von ausdrucksseitiger und inhaltssseitiger Ähnlichkeit. Morphemische Zusammengehörigkeit setzt er weitgehend mit semantischer Zusammengehörigkeit gleich. Für Campe ergibt sich mithin die allgemeine Verständlichkeit eines Wortes aus seiner Bildung. Campe erklärt diese Zusammenhänge anhand eines Vergleichs zwischen dem Deutschen und dem Italienischen, dem Französischen, dem Spanischen sowie dem Englischen, die vom Lateinischen abstammen beziehungsweise von diesem stark beeinflußt sind241. Für diese Sprachen, so argumentiert er, sind lexikalische Entlehnungen aus dem Lateinischen oder aus einer von ihnen weit weniger problematisch als für das Deutsche. Im Unterschied zu diesem ähneln sie dem Lateinischen und einander in der Struktur sehr, so daß die entlehnten Wörter entweder von vornherein oder nach einer geringfügigen Assimilation analogisch sind. Zudem haben sie im Unterschied zum Deutschen von jeher Simplizia als Sippenerstlinge, zumindest aber irgendwelche Glieder von Wortfamilien mit dem Lateinischen und miteinander gemein, so daß viele entlehnte Wörter sogleich relativ motiviert sind: Da die genannten Sprachen, wenigstens theilsweise, aus der Lateinischen entstanden sind, so folgt:

241

eines eigenen Satzes. Er bezeichnet die Analogie mit „Sprachähnlichkeit". Das Italienische, das Französische und das Spanische als romanische Sprachen stammen vom Lateinischen ab. Das Englische, wie das Deutsche eine germanische Sprache, aber vom Lateinischen viel starker als dieses beeinflußt, ist insbesondere in der Lexik stark mit Elementen romanischer, letztlich lateinischer Herkunft durchsetzt. Wörter germanischer und romanischer Herkunft kommen in onomasiologischen Paradigmen zusammen vor. Gerade daraus resultiert eine ausgeprägte Differenziertheit, aber auch eine ausgedehnte Dissoziiertheit des englischen Wortschatzes. Auch im Englischen fehlt oft der Sippenerstling entlehnter Wortsippen. Die sogenannten hard words - .schwierige Wörter' - fördern die Bildung von Sprachbarrieren. In bezug auf das Englische lassen sich Campes Argumente somit nur bedingt nachvollziehen.

Untersuchung

102

1. daß, wenn sie Wörter aus dem Lateinischen oder aus einer andern damit verwandten Sprache entlehnten, ihre Gleichförmigkeit dadurch entweder gar nicht verletzt, oder daß diese Verletzung durch eine, ihrer Gleichförmigkeit gemäße, geringe Abänderung der Wörter leicht vermieden v/erden konnte [Hervorhebung von mir]; welches hingegen bei der unsrigen [...] nur in höchstseltenen Fällen und auch dann nur einigermaßen, nie völlig, thulich war. Wenn ζ. B. die Franzosen das Lateinische Wort Contradictio aufnehmen wollten: so brauchten sie nur ein η daran zu hängen und das Wort, wie andere Französische Wörter, die mit ion endigen, auszusprechen; und es war von dem Augenblicke an vollkommen Französisch. Wenn wir hingegen, die wir in unserer ganzen Sprache keine Wörter in ion haben, das nämliche damit thun: so entsteht ein unsere Sprache verunstaltendes Zwitterwort, welches die allermeisten Deutschen nicht einmahl über die Zunge bringen können, sondern es erst in Cunterdiktschoon verwandeln müssen. 2. Daß die genannten Sprachen bei der Aufnahme eines solchen fremden Worts gemeiniglich, entweder schon das Stammwort desselben, oder doch ein damit verwandtes anderes Wort besaßen, wodurch ihnen das Verstehen des aufzunehmenden fremden Worts gar sehr erleichtert wurde [Hervorhebung von mir]; welches in unserer Sprache abermahls, entweder nie, oder doch nur in seltenen Fällen - wenn nämlich unsere und die fremde Sprache, woraus entlehnt wird, zufälliger Weise das Stammwort des Entlehnten mit einander gemein haben - der Fall ist. Indem ζ. B. die Franzosen, um bei dem angeführten Beispiele stehen zu bleiben, das Lateinische Wort Contradictio aufnahmen, so hatten sie schon contre für contra, und dire für dicere\ und es konnte daher Keinem unter ihnen schwer fallen, mit dem neuaufgenommenen Worte Contradiction sogleich den rechten Begriff zu verbinden. Wir hingegen, die wir für contra wider, und für dicere sagen, reden oder sprechen haben, finden in den einzelnen Theilen dis Worts [Hervorhebung von mir] contradictio auch nicht Einen, fur uns bemerkbaren Bezug auf den Begriff desselben; es ist also für uns (in sofern wir nur Deutsch verstehen [Hervorhebung von mir]) ein völlig willkührlicher [Hervorhebung von mir] Schall, ohne alle Bedeutung.242 Aus diesen Gründen hält Campe das Deutsche in bezug auf lexikalische Entlehnungen für mit den genannten Sprachen nicht vergleichbar. Mithin bringt er auf der Grundlage der Abstammung und der Beeinflußtheit von Sprachen Herkunft und Analogizität von Zeichen implizit in einen Zusammenhang, den explizit herzustellen er zögert. Im Deutschen, so meint er, bleiben lexikalische Entlehnungen, zumal da fast alle aus diesen Sprachen, aus dem Lateinischen oder aus dem Griechischen kommen, zum großen Teil für die meisten Sprecher undurchsichtig. Campe wendet sich damit gegen eine diesbezügliche Stellungnahme von Garve. Dieser betrachtet lexikalische Entlehnungen als unbequem, aber unvermeidlich; er rechtfertigt sie für das Deutsche mit dem Hinweis auf die zahlreichen Entlehnungen in den genannten Sprachen und der Behauptung ihrer 242

[Campe 1813.] Seite 14.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

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Unschädlichkeit. 243 Garve erwähnt nur beiläufig den von Campe betonten Unterschied der Abstammung beziehungsweise Beeinflußtheit; er erachtet ihn als hinreichend ausgeglichen durch Verfahren der Assimilation, die Campe seinerseits als unzulänglich verwirft: Aber wie haben wir uns zu helfen gewußt? Und mit welchem Erfolge? Sind die ausländischen Wörter dadurch, daß wir ihnen eine Deutsche oder halbdeutsche Endung anhingen, oder irgend eine Verdrehung damit vornahmen - und selbst dis ist nicht einmahl immer geschehen - unserer Sprachähnlichkeit wirklich und völlig gemäß gemacht worden? Sind diese Wörter dadurch Denen unter uns, welche die ausländische Sprache, der das fremde Wort abgeborgt wurde, nicht gelernt hatten, verständlich oder nur verständlicher geworden, als sie ihnen vorher waren? Ist es uns dadurch gelungen, diese Wörter volksmäßig zu machen, sie auch bei denjenigen Klassen unter uns, welche keine fremde Sprachen verstehn - d. i. bei der großen Hauptmasse unserer Völkerschaft - wirklich in Umlauf bringen [sie]? Ich antworte auf alle diese Fragen mit großer Zuversicht: nein! und bin gewiß, die Wahrheit auf meiner Seite zu haben.244 Für Gebildete oder Gelehrte mit Sprachgeschichtswissen und Fremdsprachenkenntnissen, bemerkt Campe, ist jedes Wort diachronisch zuordenbar und daher verständlich: Es wird ihnen ja nicht zugemuthet, ihre ausländische Sprachkenntniß zurückzugeben; und so lange sie diese behalten, bleibt ihnen ja auch der ganze Inhalt derjenigen ausländischen Wörter, [...] die wir in unserer Sprache künftig nicht mehr dulden wollen.245 Ein fremdartiges, nur für wenige Deutsche verständliches Wort, sei also noch so wohlklingend und lieblich, sei für die wenigen, die es verstehn, noch so zweckmäßig und ausdrucksvoll; es verdient nicht aufgenommen oder nicht beibehalten zu werden [...].246 Für die unteren und mittleren Schichten, die Ungebildeten oder Ungelehrten ohne Sprachgeschichtswissen und Fremdsprachenkenntnisse, so Campe, ist nur ein synchronisch zuordenbares Wort verständlich. Da er ihr Denk- und Abstraktionsvermögen für unterentwickelt hält, erachtet er die durch relative Motiviertheit ermöglichte Inhaltserschließung vom Ausdruck her als für sie unerläßlich. Sie ist ihm zufolge auch durch keine noch so ausfuhrliche semantische Explikation zu ersetzen: [...] ein ausländisches Wort [...] bietet demjenigen, der die Sprache, woraus es genommen ist, nicht versteht, keine einzige Beziehung dar auf das, was dadurch aus245 244 245 246

Vergleiche [Garve 1794-1796.]. [Campe 1813.] Seite 14. [Campe 1813.] Seite 30. [Campe 1813.] Seite 11.

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Untersuchung

gedruckt werden soll. Es ist für ihn ein durchaus bedeutungsloses und ganz willkührliches [Hervorhebung von mir] Zeichen, an dessen Stelle eben so gut - fiir ihn wenigstens - jeder andere völlig sinnlose Laut, ζ. B. Abrakadabra oder deßgleichen, gesetzt werden könnte, ohne daß die Unverständlichkeit dadurch nur im mindesten vergrößert würde. Er muß es also eben so schwer finden, ein solches Wort seinem Gedächtnisse einzuprägen, als etwas Bestimmtes dabei denken zu lernen. Sollte das Letzte geschehen, so müßte er, wenigstens eine Zeit lang, so oft er es hörte, jedesmahl die ganze, ihm völlig willkührlich scheinende Erklärung des Worts in Gedanken wiederholen; eine Zumuthung, die, besonders an solche Köpfe gemacht, welche keine Fertigkeit im abgezogenen und allgemeinen Denken haben, fiir eine Federung des Unmöglichengelten kann [Hervorhebung von mir].247

Tatsächlich ist auf der Ebene der Lexik relative Motiviertheit per se nicht bei Simplizia, sondern nur bei Komposita und Derivativa möglich. Durchsichtigkeit gibt es bei Simplizia eigentlich nicht. Daher ist sie auch bei Komposita und Derivativa letztlich begrenzt. Der Inhalt von Simplizia kann vom Ausdruck her allenfalls über Komposita und Derivativa quasi rückwirkend erschlossen werden. Dieser Circulus vitiosus ist auf die prinzipielle Arbitrarität des Sprachzeichens zurückzuführen. Auch Campe erkennt und anerkennt die Prinzipien der Arbitrarität und der Konventionalität des Zeichens. In dem Aufsatz „Ueber die früheste Bildung junger Kinderseelen im ersten und zweiten Jahre der Kindheit"248, erschienen in der „Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher"249, rät er dringend davon ab, mit kleinen Kindern in einer „einfältigen Ammensprache" zu reden. Er glaubt, daß ihnen der Spracherwerb dadurch noch schwerer gemacht wird, als er ohnedies schon ist: Ist es nicht thörigt, ihnen die an sich schon beschwerliche Arbeit, willkührliche [Hervorhebung von mir] Ideenzeichen zu merken, dadurch doppelt sauer zu machen, daß man ihnen anfangs falsche Zeichen einprägt, welche nachher, wenn sie ihre eigenen Gedanken durch Hülfe dieser Zeichen gegen die Gedanken Anderer umsetzen wollen, als falsche Bankozettel, von keinem anerkannt werden [Hervorhebung von mir]?250

Die Arbitrarität bezeichnet Campe mit dem Attribut „willkührlich"; die Konventionalität veranschaulicht er durch den Vergleich des Sprachzeichens mit einer Banknote, über deren Wert die Gemeinschaft eine Übereinkunft getroffen hat.

247 248 249 230

[Campe [Campe [Campe [Campe

1813.] Seite 12. 1785-1792.] Band 2. Seite 3-296. 1785-1792.]. 1785-1792.] Band 2. Seite 3-296.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

105

Tatsächlich ist in jedem Sprachsystem nur ein Teil aller Wörter synchronisch zuordenbar. Der Anteil der relativ motivierten Wörter hängt von der Sprachstruktur ab. Konsoziiertheit ist in Sprachen mit einer großen Anzahl Komposita und/oder Derivativa - etwa im Deutschen, im Altenglischen und im Lateinischen - weiter ausgedehnt als in Sprachen mit vielen lexikalischen Entlehnungen - etwa im Neuenglischen da Wortfamilien meist nicht in ihrer Gesamtheit entlehnt werden und der Sippenerstling oft fehlt. Campe stellt denn auch für das Deutsche ausgeprägte Anlagen zur Komposition und Derivation und damit zur Konsoziation fest. Diese Anlagen, so Campe, zeichnen das Deutsche vor anderen Sprachen aus. Unter den von ihm befürworteten Typen der Sprachbereicherung erachtet Campe als besonders vorteilhaft: Die innere Fruchtbarkeit unserer Sprache zur Hervorbringung neuer Wörter aus schon daseienden alten. Diese unerschöpfliche Quelle ergießt sich in zwei, gleich unermeßliche Arme; nämlich 1) durch bloße Wortzusammensetzung, oder, wie Fulda sie nennt, durch Wort=einung. Fast jedes Deutsche Wort ist, wenn ich so sagen darf, heirathsfähig; fähig, durch Verbindung mit einem andern Worte, ein neues hervorzubringen, das, sobald es zur Welt geboren ist, von jedem Deutschen, als ein Deutsches, anerkannt werden muß und gebraucht werden kann [Hervorhebung von mir]. 2) Durch Ableitung neuer Ast= und Zweigwörter aus daseienden Stammwörtern, vermöge unserer Vor= und Endsilben, wodurch wir abermahls fast aus jedem alten Worte ein neues bilden und den auszudruckenden Begriff auf mannichfache Weise abändern und näher bestimmen können. Welche ungeheure Ausdehnungskraft! Hier dürfen wir unsere Sprache mit allem Rechte der Griechischen an die Seite stellen, und mit wohlgegründetem Stolze umherschauen und fragen: wo ist die dritte?251 Unsere Sprache ist nämlich, vor allen andern, auch zugleich so unendlich fruchtbar, so vielfach fähig, aus jedem bekannten Worte (bald durch Zusammensetzung, bald durch ihre Ableitungsmittel) ein bis jetzt noch unbekanntes Wort zu gebären, welches in dem Augenblicke, da es geboren wird, für ein Deutsches anerkannt werden muß [Hervorhebung von mir];252

Durch relative Motiviertheit möglichst vieler Wörter sucht Campe die Arbitrarität nicht aufzuheben, wohl aber soweit wie möglich einzuschränken. Daraus erklärt sich auch seine Vorliebe für Komposita, die grundsätzlich offensichtlicher relativ motiviert sind als Derivativa. Das Vorherrschen der Komposition als Wortbildungsmuster und Verfahren semantischer Differenzierung im Deutschen bezeichnet er als „schätzbaren Vorzug unserer Sprache"253. Seine eigenen Wortbildungen sind zum größten Teil Komposita. 251 252 253

[Campe 1813.] Seite 40. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite IX. [Campe 1813.] Seite 62. Für Campe bedeutet schätzbar nicht ,zu bewerten', sondern ,hoch zu bewerten'. An anderer Stelle verwirft er das Wort allerdings zugunsten von unschätzbar mit

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In Anbetracht der Grenzen relativer Motiviertheit, die er nicht nur soweit wie möglich auszuweiten, sondern auch möglichst zu umgehen sucht, zieht Campe auch die semantische Entlehnung der lexikalischen Entlehnung vor. Was die Lehnprägung betrifft, ist die Lehnbildung ja ohnehin auf die Komposition und die Derivation als die im Deutschen noch produktiven Wortbildungsmuster beschränkt, während für die Lehnbedeutung - die Campe als Einzelinhaltsübertragung auffaßt, bei der das Semasem vom überlieferten Einzelinhalt aus zur Erschließung des übernommenen Einzelinhalts beiträgt nicht nur Komposita und Derivativa, sondern auch Simplizia zu verwenden sind. Von Simplizia eigensprachlicher Herkunft aber nimmt Campe an, daß sie einen festen Halt in der Sprache und im Bewußtsein der Sprecher haben. Gegenüber Simplizia fremdsprachlicher Herkunft - für sich oder in Komposita oder Derivativa - bei lexikalischen Entlehnungen, auch wenn diese vollständig assimiliert sind, zeigt er dagegen bei aller Toleranz in der Theorie große Reserve in der Praxis. Was Campe in der Theorie beim Vergleich zwischen eigenen Zeichen eigensprachlicher Herkunft und eigenen Zeichen fremdsprachlicher Herkunft als unwichtigen Unterschied betrachtet, nimmt er in der Praxis als wichtigen Einwand gegen lexikalische Entlehnungen: Das, was ein Wort zu einem Deutschen macht, ist 1) seine Verständlichkeit für jeden Deutschen, und 2) die Uebereinstimmung seiner Bildung und seines Klanges mit der Bildung und dem Klange anderer Deutscher Wörter, welche durchgängig üblich sind, mit Einem Worte, seine Sprachgleichförmigkeit. Ein ursprünglich fremdes Wort also, welchem man, bevor es in unsere Sprache aufgenommen wurde, diese vollkommene Uebereinstimmung oder Sprachgleichförmigkeit zu geben wußte, hat, sobald es gänzlich eingebürgert, fur alle Deutsche verständlich und gebräuchlich geworden ist, bis auf einen einzigen Unterschied nach, gleichen Werth mit jedem andern, welches die Deutsche Sprache aus und durch sich selbst erzeugte. Der einzige Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß von dem einen auch das Stammwort oder die Wurzel in unserer Sprache heimisch ist, von dem andern nicht. Diesen Umstand also abgerechnet, gilt Alles, was von dem einen gesagt werden kann, auch von dem andern. [Hervorhebung von mir]254

Campe bezeichnet den Stamm - der einem Simplex gleichkommt - manchmal mit „Wurzel" oder„Stamm", manchmal aber mit „Wurzelwort" oder

254

dergleichen Bedeutung. Vergleiche [Campe 1795-1797c.] Stück 2. Seite 114f„ [Campe 1813.] Seite 8. Campe bezeichnet die Analogizität mit „Sprachgleichförmigkeit". Die Bezeichnung „heimisch" bezieht er hier nicht nur auf die eigensprachliche Herkunft, sondern auch auf den Halt in der eigenen Sprache, wobei „auch" nicht auf das Simplex im Unterschied zu den übrigen Wortbildungsmitteln, sondern insgesamt auf dessen Herkunft und Halt als zusätzliche Eigenschaft von Zeichen eigensprachlicher Herkunft im Unterschied zu Zeichen fremdsprachlicher Herkunft bezogen ist.

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„Stammwort". Die letzten beiden Bezeichnungen verwendet er in anderem Zusammenhang für das Etymon. Gemäß dem Gewicht, das Campe im Hinblick auf die Arbitrarität von Simplizia der Herkunft beimißt, schränkt er in der Praxis die Zulassung beziehungsweise Beibehaltung lexikalischer Entlehnungen auch bei vollständiger Assimilation zum großen Teil ein, indem er sie nur vorläufig billigt. Viele lexikalische Entlehnungen, so Campe, sollen nur so lange im Gebrauch bleiben, bis sie durch semantische Entlehnungen (Lehnprägungen) ersetzt werden können. Campe schreibt von einem ,jetzt noch nicht zu vermeidenden Nothgebrauch"255 und erklärt, daß [...] wir ein ausländisches Wort so lange aufnehmen und gebrauchen dürfen und müssen, bis unsere Sprache ein gleichbedeutendes aus ihren eigenen Mitteln hervorgebracht haben wird. [...] Alle, so gebrauchte ausländische Wörter, sind und bleiben immer nur Nothwörter, Zeugen unserer bisherigen Armuth; und dürfen daher nie für immer oder gar ausschließlich aufgenommen, sondern nur vor der Hand und bis auf weiter geduldet werden. Schande über den vaterländischen Deutschen, der diese Vergünstigung zum Deckmantel seiner Gemächlichkeitsliebe und seiner unrühmlichen Unbekanntschaft sowol mit den schon zu Tage geförderten Schätzen unserer Sprache, als auch mit den unerschöpflichen Fundgruben derselben, mißbrauchen wollte! 256

Tatsächlich hat relative Motiviertheit nicht nur ihre Grenzen in jeder natürlichen, das heißt nicht künstlich geschaffenen Sprache. Sie birgt auch Gefahren für jede historisch entwickelte und sozial verbindliche Sprache. Relative Motiviertheit möglichst vieler Wörter setzt eine Begrenztheit des Systems auf möglichst wenige Wortbildungsmittel voraus. Die Ausschließung und Austilgung lexikalischer Entlehnungen - wie Campe sie zumindest in der Praxis favorisiert - kommen einer solchen Begrenzung entgegen. Die Produktivität einzelner Wortbildungsmittel aber ist ihrerseits begrenzt. Durch immer wieder erforderliche Prägungen - Bildungen und Bedeutungen - mit immer denselben Wortbildungsmitteln werden diese überlastet: Neubildungen und Lehnbildungen sind immer länger, immer weniger überschaubar. Die syntagmatischlinearen Relationen auf der Inhaltsseite der Wörter sind dadurch, vor allem in ihrer Hierarchie, immer schwerer erschließbar. Durch Neubedeutungen und Lehnbedeutungen sind die Wörter immer stärker polysem, homonym oder multisem - was Campe eigentlich ablehnt. Die paradigmatisch-assoziativen Relationen auf der Inhaltsseite der Wörter sind dadurch immer weitläufiger. Relative Motiviertheit in einem die durch die Sprachstruktur vorgegebenen Grenzen überschreitenden Maß steht mithin, statt zur Ökonomie der Sprache

255 256

[Campe 1813 ] Seite 8. [Campe 1813.] Seite 23.

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beizutragen, dieser gerade entgegen. Auch die Verständlichkeit ist erheblich beeinträchtigt. Campe ist sich dieser Gefahren nur zum Teil bewußt. In bezug auf die Wortbildung warnt er vor übertriebener Anwendimg der Komposition. Gegen eine große Anzahl Komposita in der Sprache hat er nichts einzuwenden; gegen sehr lange Komposita aus vielen Wörtern, insbesondere gegen Komposita aus bereits vorhandenen Komposita, äußert er jedoch Bedenken: [...] bei den durch Zusammensetzung zu bildenden Wörtern müssen wir vor Uebertreibungen uns hüten, und diesen schätzbaren Vorzug unserer Sprache nicht dahin mißbrauchen, daß wir Zusammensetzungen auf Zusammensetzungen häufen, wodurch an Ende Wörter entstehen würden, welche kein menschliches Auge mit Einem Blick zu umfassen, keine menschliche Lunge mit einem Athem auszusprechen in Stande wäre.257

Campes Bedenken betreffen allerdings vornehmlich die Ausdrucksseite. Er befürchtet Beeinträchtigungen, zumindest Erschwerungen, der Wahrnehmung und der Aussprache. Demgemäß setzt er überlange Komposita mit solchen gleich, bei denen durch gewisse Laut- und Silbenkombinationen Störungen des Klangs und des Flusses zu befürchten sind: Vermeiden wir also dergleichen Zusammensetzungsübertreibungen, so wie überhaupt alle diejenigen, welche durch Anhäufung harter Mitlauter, oder durch ein Zusammentreffen solcher Silben, deren jede schon für sich keinen Wohllaut gibt, schwerfällig und übelklingend werden.258

Auf die Übersichtlichkeit der Ausdrucksseite sowohl um ihrer selbst als auch um der Erschließbarkeit der Inhaltsseite willen zielt Campes Vorschlag ab, bei langen oder eventuell mißverständlichen (Erb-lasser - Er-blasser) Komposita an der Kompositionsfuge ein „Trennungszeichen", das „=", einzufügen: Ohne dieses Zeichen verursachen viele dergleichen Wörter, selbst dem geübtesten Leser, wie vielmehr dem ungeübten und dem Ausländer, Anstoß, indem einige gar zu vielsilbig sind, als daß man sie mit Einem Blicke übersehen könnte, andere aber leicht falsch gelesen werden können.259

Um der Erschließbarkeit der Inhaltsseite, mithin um der Verständlichkeit des Zeichens willen fordert Campe, die Verwendung des Fugenelements, insbesondere des Fugen-s, für Komposita jeder Länge exakt zu normieren. Er schreibt dem Fugenelement nicht nur gliedernde, sondern auch syntaktische und dieser gemäße semantische Funktion zu. Ein Fugenelement zur Angabe 257

[Campe 1813.] Seite 62f. "« [Campe 1813.] Seite 63. 259 [Campe 1813.] Seite 63.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

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des Genitivs für das - das sich anschließende Grundwort näher bestimmende Bestimmungswort eines Determinativkompositums hält er nur dann für angebracht, wenn dem Genitiv die semantische Relation der Wörter gemäß ist, das heißt, wenn die semantische Relation Herkunft, Zugehörigkeit oder Besitz impliziert, aber nicht, wenn sie ein Nebeneinander von Eigenschaften (nicht Bullenkalb, sondern Bullkalb ,Kalb, das ein Bulle ist') oder einen Vergleich (nicht steinshart, sondern steinhart ,hart wie Stein') impliziert.260 Tatsächlich - das erkennt Campe nicht - sind bei Wortbildungen die syntaktischen Relationen zwischen den verwendeten Wortbildungsmitteln weitgehend gelöscht und die semantischen Relationen davon weitgehend unabhängig. Diese basieren auf der Reihenfolge der kombinierten Wortbildungsmittel sowie auf der - der semantischen Kompatibilität entsprechenden - Auswahl der kombinierten Einzelinhalte und der Auswahl der Inhaltsmerkmale. Die grammatische Form läßt der semantischen Interpretation mehr oder minder weiten Spielraum. Diese wird unter anderem durch apperzeptive Kriterien wie Größe, Beschaffenheit, Aufgabe und Zweck gesteuert. Mithin ist der Inhalt nicht immer allein vom Ausdruck her, sondern oft nur mit aus dem sprachlichen Kontext - über die semantische Kompatibilität und über textliche Isotopien - sowie dem situativen Kontext vollständig und genau erschließbar. Campe aber ist überzeugt, daß allein durch exakte grammatische Normierung der Wortbildung die Variation semantischer Interpretation auszuschließen ist. Da eine solche Normierung bisher nicht erfolgt ist, so Campe, bedürfen viele bereits vorhandene Wortbildungen einer gesonderten semantischen Explikation und daher immer der Aufführung im Wörterbuch: Alle diejenigen, die von Einem, der zwar die einfachen Wörter, woraus die Zusammensetzung besteht, aber nicht die Zusammensetzung selbst kennt, leicht mißverstanden werden könnten; ζ. B. Setz=ei, dessen Bedeutung ein Ausländer, auch wenn er die einfachen Wörter setzen und Ei recht gut kennt, so leicht nicht mit Sicherheit errathen wird, weil er nicht gleich wissen oder dem Worte ansehen kann, ob er es durch ein Ei, welches setzt, oder durch ein Ei, welches gesetzt wird, oder zum Setzen, umschreiben soll; 261

Tatsächlich muß die korrekte semantische Interpretation erlernt und eingeübt werden. Dazu bedarf es der usuellen Verwendung des Wortes. Campe achtet bei seinen eigenen Wortbildungen auf Regelhaftigkeit und Normgemäßheit, beachtet jedoch kaum, daß die lexikalischen Entlehnungen, die er zu ersetzen sucht, in der Kommunikation entlehnt und durch die Kommunikation eingeschliffen, seine Verdeutschungen hingegen sozusagen in der Retorte entstanden und zwar relativ motiviert, aber durchaus unsicher motiviert sind.

240 261

Vergleiche [Campe 1813.] Seite 63. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIV.

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Campe versucht, sie geläufig zu machen, indem er sie immer wieder, aber jeweils sehr sparsam, in seine eigenen Schriften einstreut und indem er die angesehenen Schriftsteller auffordert, sie ebenso in ihren Werken zu verwenden. Überdies schlägt er vor, für den Übergang einer Verdeutschung im Text die zu ersetzende lexikalische Entlehnung in Klammern beizufügen. Auch dies praktiziert er in seinen eigenen Schriften.262 Dennoch bleibt eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Aufführung der Verdeutschungen im Wörterbuch und ihrer Einbindung in die lebendige Rede. In bezug auf die Wortbedeutung ignoriert Campe bei aller Ablehnung von hochgradiger Polysemie, Homonymie und Multisemie die Nachteile, die der völlige Verzicht auf Monosemie durch Neubedeutungen und Lehnbedeutungen um der relativen Motiviertheit willen mit sich bringt. Monosemie kommt zwar in der Gemeinsprache kaum vor; sie ist in den meisten Bereichen, da der sprachliche und der situative Kontext Monosemierung bedingen, für die Verständlichkeit auch nicht erforderlich. Monosemie ist aber in den Fachsprachen, bei den Fachwörtern, die als Termini definiert sind und sich durch Fachbegriffen entsprechende, daher besonders komplexe Inhalte auszeichnen, zumindest wünschenswert. Wörter fremdsprachlicher Herkunft, die oft nicht mit sämtlichen Einzelinhalten entlehnt werden, sind in der eigenen Sprache eher monosem als Wörter eigensprachlicher Herkunft. Dies ist insbesondere dann gültig und wichtig, wenn sie aufgrund der Internationalisierung eines Fachs und der entsprechenden Interlingualisierung einer Fachsprache als Fachwörter, das heißt Termini, entlehnt worden sind. Im Unterschied zu lexikalischen Entlehnungen sind Wörter mit Lehnbedeutungen oder auch Neubedeutungen per se jedenfalls zunächst - in keinem Fall monosem. Campe berücksichtigt weder die Zusammenhänge zwischen Herkunft und Monosemie bei Wörtern im allgemeinen noch die Vorteile von Monosemie bei Fachwörtern im besonderen. Überhaupt erkennt und anerkennt er fachsprachenspezifische Anforderungen an die Lexik kaum. Aber leider! mangelte es bisher auch in solchen Fächern der menschlichen Künste und Wissenschaften, die der Deutsche Geist und Fleiß nicht erst seit gestern zu bearbeiten angefangen haben, nicht an Begriffen, wofür unsere Sprache - ich erröthe in unser Aller Namen, indem ich es niederschreiben muß - noch immer keine Zeichen hatte. Man wird alle die fremden Wörter, die wir bisjetzt [sie], in Ermangelung eigener Ausdrücke, zur Bezeichnung solcher Begriffe gebrauchen mußten, zu-

262

Vergleiche [Campe 1813.] Seite 16, 29f„ 33-35, 69. Wenn er Äußerungen anderer Autoren zitiert, maßt sich Campe übrigens gelegentlich an, umgekehrt den von ihm verworfenen lexikalischen Entlehnungen die von ihm befürworteten Verdeutschungen in Klammern beizufügen. Auch Korrekturen, die er für erforderlich hält, bringt er bisweilen auf diese herablassende Weise an. Vergleiche [Campe 1813.] Seite 13f., 16,26,28.

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gleich mit Vorschlägen, wie sie durch Deutsche ersetzt werden können, in nachstehendem Wörterbuche finden. 263

Tatsächlich bedürfen die Terminologien der Fachsprachen um der bei ihnen vorherrschenden Darstellungsfunktion und der aus dieser folgenden Erkenntnisfunktion willen - beide stehen, wie ich noch darlegen werde, auch im Zentrum von Campes Sprachkonzeption - größerer Exaktheit, Detailliertheit und Differenziertheit als die Lexik der Gemeinsprache. Neuprägungen in Fachsprachen und Lehnprägungen (semantische Entlehnungen) aus fremden Fachsprachen in eigene Fachsprachen bergen jedoch die Gefahr der Übertragung von Inhaltsmerkmalen, auch von Konnotationen, sowie, wenn dabei Wortbildungsmittel und - durch Halbentlehnung mit dem Versuch definitorischer Modifizierung - Wörter aus der eigenen Gemeinsprache entlehnt werden, die Gefahr der Erzeugung fachfremder Assoziationen. Campe ignoriert Nachteile und Gefahren, indem er beispielsweise Anastomasis durch Zusammenmündung. Angiohydrologie durch Saugaderlehre, Angiohydrotomie durch Saugaderzerlegung, Azimuth durch Scheitelwinkel, Interpolation durch Einschaltung zu verdeutschen versucht. Die Möglichkeiten der Übertragung von Inhaltsmerkmalen - bei Neubildungen und Lehnbildungen von Inhalten einzelner Wortbildungsmittel auf Inhalte ganzer Wörter, bei Neubedeutungen und Lehnbedeutungen von Einzelinhalten auf Einzelinhalte von Wörtern - habe ich bereits dargestellt. Ich habe ebenfalls bereits erläutert, wie Campe sie als Verfahren gezielt zur Persuasion im politischen, im sozialen und im religiösen Bereich nutzt. Ich füge hier noch hinzu, daß der vom Ausdruck her erschließbare diachronischetymologische Inhalt eines Wortes und der rein synchronische Inhalt prinzipiell nicht identisch sind, zumal da jedes Wort von der Bildung an dem Sprachwandel und somit auch dem Bedeutungswandel unterliegt. Durch Erschließung des Inhalts vom Ausdruck her kommt es jedoch in vielen Fällen zur erneuten Übertragung von Inhaltsmerkmalen, insbesondere von Konnotationen, und mithin zur Verwischung der beiden Inhaltsarten. Eine bewußt etymologisierende Wortverwendung dient oft zur Persuasion oder gar Manipulation (Arbeitnehmer jemand, der passiv eine Tätigkeit annimmt' versus jemand, der gegen Entgelt eine Tätigkeit verrichtet', Unternehmer jemand, der entschlossen und tatkräftig etwas unternimmt' versus jemand, der Arbeit anbietet'264). Indem Campe sich auf die Durchsichtigkeit von Zeichen als eine deren Verständlichkeit gewährleistende Erscheinung verläßt, verkennt er die Faktizität des sprachlichen, insbesondere des semantischen Wandels. Tatsächlich führt in der Diachronie vor allem die Lexikalisierung/Idiomatisierung von 2ÖJ 164

[Campe 1813.] Seite 24. Vergleiche [Reichmann 1976.] Seite 12.

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Wortbildungen zur Demotivierung bis hin zur Unmotiviertheit. In der Synchronic begegnet relative Motiviertheit infolgedessen in vielfacher Abstufung. Ad-hoc-Bildungen sind stets vollständig motiviert. Bei lexikalisierten/idiomatisierten Komposita und Derivativa aber ist die Durchsichtigkeit je nach Stand und Ausmaß des Wandels unvollständig, ungenau, trügerisch oder gar nicht vorhanden. Während der Ausdruck noch als Kombination erkennbar ist, läßt sich der Inhalt als solche nicht mehr zuverlässig vom Ausdruck her erschließen. Zum Beispiel bedeutet Haustür nicht irgendeine ,Tür eines Hauses', sondern die ,Tür am Eingang eines Hauses'. Das hinzugekommene Inhaltsmerkmal ,am Eingang' läßt sich nicht von den Einzelinhalten der Wörter Tür und Haus aus eruieren.265 Campe aber geht gemäß seiner ahistorischen und zugleich teleologischen Sprachauffassung, die ich noch erläutern werde, davon aus, daß Wortbildungen künftig keinem semantischen Wandel und damit auch keiner Lexikalisierung/Idiomatisierung mehr unterliegen werden. Er nimmt an, daß seine eigenen Wortbildungen somit für immer, wie von ihm beabsichtigt, relativ motiviert und völlig durchsichtig bleiben. Was bereits vorhandene Wortbildungen betrifft, stellt er - in bezug auf Komposita - allerdings nur bei manchen fest, daß sie „sich Jedem, der da weiß, was die einzelnen Wörter bedeuten, ganz von selbst erklären"266; bei diesen verzichtet er aus Verfahrensgründen auf die Aufführung im Wörterbuch. Bei vielen räumt er ein, daß sie schon demotiviert sind. Diese Wörter, so Campe, müssen ebenfalls mit einer gesonderten semantischen Explikation versehen und daher immer im Wörterbuch aufgeführt werden. Zu ihnen gehören Alle diejenigen, die [...] etwas ganz anderes bedeuten, als was die Zusammensetzung bezeichnet; ζ. B. Kleinschmid, bekanntlich sehr verschieden von kleiner Schmid; Großßrst, bekanntlich etwas ganz anderes, als großer Fürst; Leichtsinn, bekanntlich eine fehlerhafte Eigenschaft, da doch leichter Sinn etwas sehr Wünschenswürdiges ist; u. s. w. 267

Campe geht es nicht um Wortfamilien im die metasprachliche Kompetenz des Sprechers überschreitenden Sinn, deren Glieder nur diachronisch und nicht mehr synchronisch zuordenbar sind. Was die Wortfamilien betrifft, die er zu schaffen, auszubauen oder zu stärken beabsichtigt, nimmt er an, daß ihre Glieder für immer synchronisch zuordenbar bleiben. In dieser Hinsicht erwartet er künftigen Wandel weder auf der Ausdrucksseite noch auf der Inhaltsseite. Campes Argumentation setzt implizit bei der eigensprachlichen Herkunft, explizit bei der ausdrucksseitigen Analogizität an und erstreckt sich bis zur

265 166 267

Vergleiche [Reichmann 1976.] Seite 8. [Campe 1807-1811 ] Band 1. Seite XIV. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIV.

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allgemeinen Verständlichkeit des Zeichens. Seine argumentative Kette hat nicht nur, wie bereits erläutert, einige Schwachstellen, sondern auch, wie ich in der folgenden Kritik zeigen werde, zwei Lücken. Erstens ist Strukturgemäßheit des Ausdrucks tatsächlich keine unbedingte Voraussetzung für unbeschränkte Verbreitung des Zeichens im System. Auch ist vollständige Assimilation einer lexikalischen Entlehnung keine unbedingte Voraussetzung für ihre Integration. Bei einer lexikalischen Entlehnung aus einer fremden Sprache in die eigene muß ein nicht analogischer Ausdruck nicht immer assimiliert werden; die fremdsprachlichen Grapheme und Phoneme müssen nicht immer durch eigensprachliche ersetzt werden. Vielmehr können auch Grapheme und Phoneme entlehnt und im System unbeschränkt verbreitet werden. Entlehnungen von Graphemen und Phonemen setzen allerdings Transferenzen in großer Zahl auf höheren Ebenen voraus, das heißt die Entlehnung einer Vielzahl von Wortbildungsmitteln oder Wörtern, die diese Grapheme beziehungsweise Phoneme enthalten. Häufiger werden Graphe und Phone ohne Graphem- beziehungsweise Phonemstatus übernommen und im System nur beschränkt auf ihrerseits entlehnte ranghöhere Einheiten verbreitet. Werden die in ihm enthaltenen Grapheme und Phoneme mit unbeschränkter Verbreitung entlehnt, wird ein Ausdruck letztlich strukturgemäß. Werden sie nur als Graphe beziehungsweise Phone mit beschränkter Verbreitung übernommen, bleibt der Ausdruck strukturwidrig. Die Analogizität des Ausdrucks ist jedoch nicht das einzige Kriterium für die Verbreitung des Zeichens. Ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, ist der Platz des Inhalts im onomasiologischen Paradigma. Füllt er eine semantische Lücke, fördert dies die Verbreitung des Zeichens. Neben diesen, sprachlichen Faktoren sind auch andere, außersprachliche Faktoren relevant: der Stellenwert des entsprechenden Begriffs im betreffenden Erkenntnissystem und der Stellenwert der entsprechenden Sache im betreffenden Weltteil. Verbreitung und Produktivität entlehnter Wortbildungsmittel und Wörter bestimmen sich prinzipiell nach den gleichen sprachlichen und außersprachlichen Faktoren wie Vorgang und Ergebnis der Entlehnung selbst, nämlich nach der Struktur der beteiligten Sprachen, vor allem dem Grad ihrer strukturalen Ähnlichkeit - insoweit als diese auf genetischer Verwandtschaft beruht und auf Interferenz zurückgeht, ist der von Campe implizit auf der Grundlage der Abstammung und der Beeinflußtheit von Sprachen hergestellte Zusammenhang zwischen Herkunft und Analogizität von Zeichen gewissermaßen faktisch und nach den historischen, geographischen, politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Umständen des sprachlichen und außersprachlichen Kontakts der Sprachgemeinschaften. Ich erwähne hier vor allem den politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Status der Sprachgemeinschaften und die Art ihrer Beziehung zueinander, etwa Eroberung, Kolonisierung, Handel, Missionierung oder Rezeption von Wissenschaft, Kunst und Religion, sowie das davon abhängige Prestige der Sprachen, ferner

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das Vorhandensein von Zweisprachigkeit, die Anzahl und das Gewicht - in politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Hinsicht - der Zweisprachigen, ihre Kompetenz in der einen und in der anderen Sprache, die Art des Erwerbs der beiden Sprachen und die Bewertung von Zweisprachigkeit und von Interferenzen. Im Deutschen sind viele Zeichen, auch fremdsprachlicher Herkunft, mehr oder minder unabhängig von der Analogizität der Ausdrücke produktiv. Das aus dem Lateinischen entlehnte Form ist in gemeinsprachlichen Wörtern ebenso wie in fachsprachlichen Termini enthalten: Format, formen, formlos, Formular. unförmig. Uniform - Formanstieg, Formativ, Formenkreis, Formling. Das aus dem Griechischen mit Bibliothek und anderen Wörtern entlehnte, im Deutschen eigentlich nicht strukturgemäße -thek .Zusammenstellung', ,Sammlung', ,Aufbewahrungsort' wird bis heute zur Bildung weiterer Wörter verwendet: Artothek. Diathek. Infothek. Mit vielen Wortbildungsmitteln aus seit der Zeit des Humanismus, als das Lateinische die prävalente Wissenschafts- und Literatursprache war, entlehnten Wörtern lateinischer und griechischer Herkunft werden bis heute auch in anderen europäischen Sprachen immer wieder Wörter gebildet. Diese Internationalismen betreffen sämtliche Bereiche der modernen Zivilisation: Materialismus, multilateral, nuklear. Sozialist. Telegramm. Zweitens ist relative Motiviertheit eines Zeichens tatsächlich keine unbedingte Voraussetzung für seine allgemeine Verständlichkeit. Auch bei uneingeschränkter Arbitrarität kann ein Zeichen aufgrund der - vom Sprecher beim Spracherwerb und im Sprachverkehr internalisierten - Konventionalität seine Funktion erfüllen. Konventionen innerhalb der Sprachgemeinschaft sind quasi Lösungen von Koordinationsaufgaben. Die Mitglieder entscheiden sich in Situationen, in denen wechselseitiger Nutzen von koordiniertem Verhalten abhängt, für eine bestimmte von mehreren möglichen Vorgehensweisen, wobei und weil sie das Entsprechende von den übrigen erwarten. Sie würden sich einer anderen Lösung anschließen, wenn die übrigen diese vorzögen. Durch solche Übereinkunft befinden sich Wörter und ihre Bedeutungen sicher im Besitz der Sprachgemeinschaft. - Arbitrarität und Konventionalität eines einzelnen Zeichens werden auch durch Motiviertheit nicht aufgehoben, sondern lediglich eingeschränkt. Das Sprachsystem als Ganzes fußt auf Arbitrarität und Konventionalität, ist gestützt und ausgebaut durch Motiviertheit; es schwebt gleichsam zwischen diesen Polen.268 m

An Arbitrarität und Konventionalität erinnert auch Theodor W. Adorno (1903-1969) in einer Stellungnahme zur Fremdwortproblematik: „Das Fremdwort mahnt kraß daran, daß alle wirkliche Sprache etwas von der Spielmarke [Arbitrarität und Konventionalität] hat, indem es sich selber als Spielmarke einbekennt. [...] Die Probe darauf läßt sich an gewissen Neologismen machen, deutschen Ausdrücken, die, der Schimäre des Urtümlichen zuliebe, anstelle von Fremdwörtern erfunden werden. Stets klingen sie fremder und gewaltsamer als die ehrlichen

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

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Campe irrt in einem weiteren Punkt: Jenseits der Grenzen relativer Motiviertheit hängt der Halt eines Zeichens im Bewußtsein der Sprecher tatsächlich nicht von seiner Herkunft ab. Die Sprecher betrachten und gebrauchen die Sprache nicht aus diachronisch-etymologischer, sondern aus rein synchronischer Perspektive; sie ist ihnen nicht in ihrer Entwicklung, sondern ausschließlich in ihrem Zustand präsent. Ein Wort und seinen Stellenwert im Sprachsystem erfahren sie zu ihren Lebzeiten; sein Alter und seine Rolle in der Sprachgeschichte kümmern sie nicht. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß Campe, was die Inhaltserschließung über Relationen innerhalb der Lexik betrifft, den paradigmatischassoziativen Relationen weit größere und zuverlässigere Relevanz zuschreibt als den syntagmatisch-linearen. Unter jenen hebt er die Ausdrucksparadigmen hervor, ihre Relevanz schätzt er zu hoch ein. Von den Inhaltsparadigmen berücksichtigt er nur die semasiologischen Paradigmen; er erkennt, daß bei Polysemie das Semasem von einem Einzelinhalt aus zur Erschließung weiterer Einzelinhalte beiträgt. Die onomasiologischen Paradigmen, in denen Einzelinhalte sich auch nach ihrer Stellung und in Opposition zu anderen Einzelinhalten bestimmen, beachtet er in diesem Zusammenhang nicht.269 Indem Campe die syntagmatischen Relationen abwertet, wird er auch der Tatsache nicht gerecht, daß sie auch für die Inhaltserschließung über paradigmatische Relationen relevant sind: Die Eruierung von Inhalten über Relationen der Lexik setzt in jedem Fall die Rezeption zahlreicher sprachlicher Kontexte mit vielfacher Wiederholung und Abwandlung semantischer Kompatibilität und textlicher Isotopien sowie situativer Kontexte voraus. Sie erfolgt somit nicht umgehend, sondern nach und nach.270

269

270

Fremdwörter selber. Diesen gegenüber nehmen sie etwas Verlogenes an, einen Anspruch der Identität von Rede und Gegenstand [Motiviertheit], der doch durch das allgemeinbegriffliche Wesen jeglicher Rede widerlegt wird." [Adorno 1979.] Seite 202. Kurt Plück betont in Übereinstimmung mit Leo Weisgerber und der Inhaltbezogenen Grammatik die Relevanz des Wortfelds - per definitionem stärker einzelinhaltskonstituierend als das onomasiologische Paradigma vermag sich jedoch nicht zu lösen von der Vorstellung der Unentbehrlichkeit von Wortfamilie und Wortnische - letztere bezeichnet er mit „Wortstand" für die Inhaltserschließung gemäß der „Sinnerstellung des einzelnen Wortes einer Sprache": „Der Bereich des Wortfeldes ist weithin der eigentliche Ort lebendiger Sprachwirklichkeit; [...] Die große Bedeutung dieser Tatsache für die umfängliche Sinnerstellung eines Wortes mag der Grund sein, weswegen die Sprachgemeinschaft so selten sich anschickt, ein Fremdwort auszustoßen, soweit es sich einer Wortfeldgesetzlichkeit fügt. Erst der sprachlich durchfühlende Einzelne vermißt am Fremdwort die Echtheit des Gewordenen, den Beitrag etwa von Wortstand und Wortfamilie zur gänzlichen SinnerfÜUtheit des Wortes [...]." [Plück 1952.] Seite 115f.. Übrigens hat die Lempsychologie inzwischen experimentell erwiesen, daß die Inhalte einzelner in einen Text eingestreuter sowohl ausdrucksseitig als auch inhaltsseitig unbekannter Wörter leichter zu erlernen und einzuüben sind. Bei ihnen sind nicht nur Polysemie, Homonymie und Multisemie, übertragene Inhaltsmerkmale und störende Assoziationen ausge-

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Untersuchung

Meines Erachtens überschätzt Campe die Inhaltserschließung überhaupt. In bezug auf die Begriffserlangung vermag sie die Sacherklärung letztlich nicht voll zu ersetzen.

2.2.6 Exkurs: absolute Motiviertheit Absolute Motiviertheit eines Zeichens ermöglicht die Erschließung des Inhalts vom Ausdruck her unabhängig von den Relationen der Lexik. Der Anteil der absolut motivierten Wörter - wobei eine klare Abgrenzung wegen der vielfach abgestuften Abstrahierung schwierig ist - in einer Sprache wie dem Deutschen ist gering. Campe behandelt die absolute Motiviertheit eher beiläufig, da er sich der Unbeträchtlichkeit dieses Phänomens bewußt ist. Was die Inhaltserschließung betrifft, schreibt er ihm keine besondere Relevanz zu. Campe betrachtet absolute Motiviertheit als Erscheinung, in der die Besonderheit der Ausdrucksebene vereinzelt durchbrochen ist: Ein allgemeiner Ausdruck ist mit einem allgemeinen Inhalt verbunden. Das Problem der Kompatibilität stellt sich hier somit nicht. Campe stuft diejenigen absolut motivierten Zeichen, die sich in vielen Sprachen finden, als Universalien ein; indem er auf sie verweist, stellt er das Allgemeine grundsätzlich über das Besondere. In diesem Zusammenhang - „Um hier nur von der Uebereinstimmung der Laute einzelner Wörter zu reden" - stellt Campe fest, daß absolute Motiviertheit auf Naturähnlichkeit basiert. Er erwähnt die Onomatopoiie als lautliche Nachahmung einer akustischen Sacheigenschaft: „solche Wörter, die durch Naturnachahmung überhaupt, und durch Klangnachahmung (Onomatopöie) insonderheit entstanden, und die daher in vielen, sonst sehr verschiedenen Sprachen, oft, wo nicht einerlei, doch einander bewundernswürdig ähnlich sind".271 Da er absolut motivierte Wörter für ausdrucksseitig wie inhaltsseitig allgemeine Zeichen hält, erachtet Campe ihre Entlehnung aus anderen Sprachen als grundsätzlich unbedenklich. Die durch die potentielle ausdrucksseitige Variation von Sprache zu Sprache bedingten eventuellen ausdruckssseitigen Abweichungen solcher lexikalischen Entlehnungen von der Analogie der eigenen Sprache sind ihm zufolge durch eine geringfügige Assimilation zu beheben. Die Entlehnung lautnachahmender Wörter aus geographischen Dialekten in die Standardsprache befürwortet Campe als stilistische Bereicherung, insbe-

i71

schlossen; die Unbekanntheit des Ausdrucks macht vielmehr auf die Unbekanntheit des Inhalts und mithin auf diesen selbst aufmerksam. Dies spricht für Neubildungen und Lehnbildungen sowie lexikalische Entlehnungen und gegen Neubedeutungen und Lehnbedeutungen fltr neue beziehungsweise übernommene und/oder bisher nicht versprachlichte Begriffe. Vergleiche zum Beispiel [Ballstaedt, Mandl, Schnotz, Tergan 1981.] Seite 204. [Campe 1813.] Seite 3.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

117

sondere für Bereiche des Alltagslebens, „für besondere Gegenstände in der Natur und im gemeinen Leben"272. Das Niederdeutsche, so Campe, zeichnet sich durch ein hohes Maß an Onomatopoiie aus: [...] eine anderweitige Sprachvollkommenheit, welche das N. D. [das Niederdeutsche] in einem Grade besitzt, den ich, so weit meine Sprachkenntniß reicht, an keiner andern bemerken kann. Das ist der große Reichthum dieser Mundart an solchen Wörtern, die etwas sehr Ausdruckendes in ihren Lauten, durch Klangnachbildung (Onomatopöie) haben. Auch von diesen würden viele unserer Schriftsprache zu großer Zierde gereichen, und verdienen daher in dieselbe aufgenommen zu werden. [...] Gniddern und gnickern sagt man in eben dieser Mundart von derjenigen Art des schelmischen Lachens, welches sich durch ein gelindes, kurzabgestoßenes Trillern äußert. Man geräth, indem man diese Wörter hört, in Versuchung mit zu gnickern. [...] Plump! und plumpen drucken vollkommen den Schall aus, den ein ins Wasser fallender schwerer Körper, ζ. B. ein Stein, verursacht. Der Stein fiel plump! ins Wasser, er plumpte ins Wasser, er fiel ins Wasser, daß es plumpte, sagt man; und man hört den Körper fallen.273 Campe schätzt lautnachahmende Wörter als Stilmittel, durch die eine Darstellung an Anschaulichkeit gewinnt. Er nimmt nicht etwa an, daß der Inhalt absolut motivierter Zeichen vom Ausdruck her vollständig und genau erschlossen werden kann. Daher hält er eine dem Gebrauch des Niederdeutschen gemäße Verwendung der Onomatopoiie, nämlich zusätzlich zur arbiträren, konventionellen und möglichst relativ motivierten Versprachlichung von Sachen und Begriffen, für außerordentlich angemessen: Man wird dabei wol von selbst, die Bemerkung gemacht haben, daß die N. D. Mundart hierin die Eigenthümlichkeit hat, daß es ihr nicht genug ist, den Schall mit der Sache zugleich, oder nur beiläufig auszudrucken, sondern daß es in vielen Fällen ihr ganz eigentlich darum zu thun ist, letztem noch besonders anzugeben, nachdem sie die Sache selbst schon hinlänglich ausgedruckt hat [Hervorhebung von mir], ζ. B. in den angeführten, er schnitt sich in den Finger, daß es gnassete; er fiel ins Wasser, daß es plumpte·, er gab ihm einen Schlag, daß es puffte u. s. w.;274

2.2.7

Simplex, Kompositum und Derivativum

Campe sucht die Grenzen relativer Motiviertheit soweit wie möglich auszuweiten und möglichst viele relativ motivierte Zeichen in der Sprache zu piazieren. Demgemäß vertritt er, der sich weitgehend auf die Lexik konzentriert, eine Wortauffassung, die nicht auf die - per se immer völlig arbiträren - Simplizia 272 271 274

[Campe 1813.] Seite 56. [Campe 1813.] Seite 57f.. [Campe 1813.] Seite 58.

118

Untersuchung

begrenzt ist, vielmehr die - potentiell relativ motivierten - Komposita und Derivativa mit einschließt. Da er davon ausgeht, daß diese künftig keiner Lexikalisierung/Idiomatisierung und damit Demotivierung mehr unterliegen werden, und annimmt, daß seine eigenen Wortbildungen für immer relativ motiviert und völlig durchsichtig bleiben, was er ja als für ein Wort positive Eigenschaft erachtet, macht er die Lexikalisierung/Idiomatisierung auch nicht zum Kriterium für die Zuerkennung des Wortstatus.275 Auch als Lexikograph hält sich Campe nicht an die Leitlinie, eine Wortbildung nur bei Lexikalisierung/Idiomatisierung mindestens eines Einzelinhalts als Wort zu buchen. Lediglich Verfahrensgründe halten ihn davon ab, alle Komposita und Derivativa im Wörterbuch aufzuführen. In bezug auf Komposita stellt er fest: In Ansehung der Zusammensetzungen, [...] an welchen unsere Sprache so erstaunlich reich und zugleich so unerhört fruchtbar ist, daß sie ihrer, so oft es verlangt wird, zu jeder Zeit bei Tausenden neu gebären kann, entstand abermahls die Frage: welche davon aufgenommen, welche hingegen ausgelassen werden könnten und sollten? Sie alle aufzunehmen, war weder möglich noch rathsam; nicht jenes, weil keine menschliche Kraft und kein Menschenleben hinreichen würden, sie zu sammeln, indem ihre Vielheit in der That unendlich ist; nicht dieses, weil viele derselben, in welchen die einzelnen Wörter völlig unverändert geblieben sind, sich Jedem, der da weiß, was die einzelnen Wörter bedeuten, ganz von selbst erklären. Da also nothwendig eine Auswahl unter ihnen vorgenommen werden mußte; nach welchen Regeln sollte dabei verfahren werden?276

Die von Campe im folgenden festgelegten Leitlinien orientieren sich zwar, wie bereits dargelegt, zum großen Teil an der Lexikalisierung/Idiomatisierung.277 Eine von ihnen ignoriert diese jedoch völlig und entkräftet die übrigen weitgehend. Sie bestimmt, daß Komposita, die als Verdeutschungen für aus fremden Sprachen entlehnte Simplizia fungieren, durchweg aufzuführen sind: Alle diejenigen, welche Begriffe bezeichnen, wofür andere Völker in ihren Sprachen einfache Wörter besitzen, die wir, in der irrigen Meinung, daß sie unübersetzbar wären, ins Deutsche aufnehmen zu müssen glaubten, und von welchen es sich gleichwol nunmehr zeiget, daß wir sie, wo nicht durch einfache Deutsche Wörter,

275

276 277

Die Versprachlichung fest gefügter Begriffe im Unterschied zur Versprachlichung lose gefügter Begriffe in Komposita und Derivativa macht Campe ebenfalls nicht zum Kriterium für die Zuerkennung des Wortstatus. [Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XIV. Zum kleinen Teil orientieren sie sich, wie ebenfalls bereits dargelegt, an der Versprachlichung fest gefügter Begriffe im Unterschied zur Versprachlichung lose gefügter Begriffe in Komposita. Die betreffenden Leitlinien habe ich im Zusammenhang zitiert.

Das bilaterale Zeichenmodell in Campes Sprachkonzeption

119

doch durch Zusammensetzungen, aus unserer durch jener A u f n a h m e verunstalteten Sprache fuglich wieder vertreiben können; 2 7 8

Campe besteht auf der Buchung dieser Wortbildungen, um sie als Wörter in Konkurrenz mit lexikalischen Entlehnungen, die sie von ihrem Platz im onomasiologischen Paradigma verdrängen sollen, geläufig zu machen. - Was Derivativa betrifft, sind kombinatorischer Status und relative Motiviertheit einerseits und Lexikalisierung/Idiomatisierung andererseits bei ihnen tatsächlich weniger offensichtlich als bei Komposita. Campe hält es daher auch nicht für erforderlich, Leitlinien für ihre Aufführung im Wörterbuch festzulegen. Durch die Buchung vieler nicht lexikalisierter/idiomatisierter Wortbildungen wächst die Zahl der Lemmata beträchtlich.279 Campe ist überzeugt, damit die Lexik des Deutschen so vollständig wie möglich und zugleich nötig zu verzeichnen und eines der wichtigsten Ziele seiner lexikographischen Tätigkeit zu erreichen: „[...] war es unserm Bestreben nach möglich größter Vollständigkeit möglich, dieses Werk so reich auszustatten, daß es an Wortmenge alle

278 279

[Campe 1807-1811.] Band 1. Seite XV. Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm halten solche lexikographische Tätigkeit für sinnlose Wortanhäufung. Jacob Grimm kritisiert an Campes „Wörterbuch der Deutschen Sprache" [Campe 1807-1811.]. - die exzessive Aufführung von Komposita und Derivativa als „sucht der Vervielfachung und übertreibung aller ableitungs- und zusammensetzungstriebe der deutschen spräche". [Grimm, Jacob, Wilhelm Grimm 1854-1960.] Band 1. Seite XXVf.. Er beanstandet vor allem die Vielzahl von Komposita: „[...] die vortretende masse besteht aber in nichts als Zusammensetzungen, und wiederum meistens uneigentlichen, deren die art und weise unserer spräche zahllose reihen bilden läßt." [Grimm, Jacob, Wilhelm Grimm 1854-1960.] Band 1. Seite XXIV. Die exzessive Anwendung der Komposition, so Jacob Grimm, wird jedoch der Mannigfaltigkeit der im Deutschen vorhandenen Wortbildungsmittel und Wortbildungsmuster, insbesondere der Derivation, nicht gerecht. Jacob Grimm lehnt die Prägung von Verdeutschungen zur Ersetzung von lexikalischen Entlehnungen als der wesensgemäßen Entwicklung der Sprache zuwiderlaufend ab. Er ist Uberzeugt, daß die Sprache von sich aus das Fremde abweist, vorläufig aufnimmt und wieder ausstößt, endgültig aufnimmt und zu Eigenem macht oder durch bereits vorhandenes oder angelegtes Eigenes ersetzt, in manchen Fällen allerdings die Bezeichnung der entsprechenden Sachen und Begriffe aus sich heraus gar nicht anstrebt, und daß Verdeutschungen somit nicht nur sprachwidrig, sondern auch Uberflüssig sind. Überdies, findet Jacob Grimm, weichen Verdeutschungen semantisch stets von den lexikalischen Entlehnungen ab, zu deren Ersetzung sie geprägt werden, „ohne an der Schönheit und fülle unserer spräche selbst wahre freude zu empfinden, strebt dieser ärgerliche purismus das fremde, wo er seiner nur gewahren kann, feindlich zu verfolgen und zu tilgen, mit plumpem hammerschlag schmiedet er seine untauglichen waffen. das was, ihm völlig unbewust, die spräche längst schon hatte, oder was sie zum gröszten theil noch nicht einmal in sich aufzunehmen begehrt, will er ihr im umgewandten kleide gewaltsam anziehen und einverleiben, vor lauter bäumen sieht er den wald nicht, ohne sonderliche mühe lassen sich werthlose und ungeweithe Zusammensetzungen schweiszen, deren begrif dem leichten und ungezwungenen ausdruck, den sie wiedergeben sollen, kaum auf halben weg nahe kommt, und die doch immer das doppelte von buchstaben oder silben dafür aufwenden müssen." [Grimm, Jacob, Wilhelm Grimm 1854-1960 ] Band 1. Seite XXVIII.

120

Untersuchung

andere Deutsche Wörterbücher, ohne Ausnahme, vielleicht auch alle fremde, weit hinter sich zurückläßt."280 Campe behauptet, Neubildungen und Lehnbildungen - einschließlich seiner eigenen - vor der Aufnahme kritisch sowohl auf Analogizität als auch auf usuelle Verwendung zu prüfen. Auf das erstere Kriterium nimmt er weitaus mehr Bedacht als auf das letztere; dieses hält er für erfüllt, wenn das Wort bereits in vielgelesenen Schriften - zu denen er auch seine eigenen zählt - verwendet worden ist. Schließlich geht es ihm darum, manche Wörter, insbesondere Verdeutschungen, überhaupt erst geläufig zu machen. Viele der von Campe aufgenommenen Wortbildungen erweisen sich als ephemer (absonderbar, Abziehzahl und Abzugszahl). - Indem er die um 1800 neu eingeführten Wörter berücksichtigt, kennzeichnet - ebenfalls durch eigens geschaffene „Kürzungszeichen" - und bespricht (abbittlich, abdicken. Abgeschmacktheit, Abgottsdienst. Abschein. Abschiedsfeier, absiedeln, absolden. Abstandsgeld, abstreifbar. Abtausch), leistet Campe jedoch immerhin eine umfassende Dokumentation der zeitgenössischen Neuprägungen und Lehnprägungen. - Gerade durch die Vielzahl von Komposita und Derivativa dokumentiert er auch die zeitgenössische Sprache der Dichtung - einschließlich trivialer Bereiche - verhältnismäßig ausführlich (fußgeharnischt, lilienarmig, lockenlieblich. roßberühmt, schenkelrasch)·281

2.3

Campes Standardisierungskonzeption

Joachim Heinrich Campes Standardisierungskonzeption ist über seine puristische Konzeption mittelbar von Allgemeinheit und Besonderheit bestimmt, und zwar mehr in der geographischen Dimension unter internationalem Aspekt, weniger unter interregionalem Aspekt und in der sozial-kulturellen Dimension, da er auf den Schutz der Standardsprache weniger vor innersprachlichen als vielmehr vor zwischensprachlichen Transferenzen abzielt. Dies werde ich bei der Behandlung von Campes puristischer Konzeption darlegen. Campes Standardisierungskonzeption ist von Gleichheit und Verschiedenheit sowohl in der geographischen Dimension unter interregionalem Aspekt als auch in der sozial-kulturellen Dimension unmittelbar bestimmt, da er die Standardsprache von anderen dialektalen Varietäten abgrenzt und zugleich aus diesen herauszieht. - Aus seiner Standardisierungskonzeption sind wesentliche Züge von Campes Sprachkonzeption zu erschließen.

280 281

[Campe 1807-1811.] Band 1. Seite VHIf.. Die Auswahl der Quellen entspricht Campes subjektivem Interesse, nicht dem im 20. Jahrhundert aufgestellten Kanon. Aus diesem fehlen viele Autoren bei Campe; umgekehrt berücksichtigt Campe viele Autoren darüber hinaus. Auch dies gibt Anlaß zur Kritik.

Campes Standardisierungskonzeption

121

Campes Auffassung von Standardsprache unterdrückt die Spannung zwischen Gleichheit und Ungleichheit in der sozial-kulturellen Dimension weitgehend. Campe postuliert eine Einheitssprache, um dem Vorrang des Allgemeinen gerecht zu werden, konzediert allerdings zusätzlich eine gesonderte Hochsprache, um der Geltung des Besonderen zu genügen. Sozial-kulturelle Erstreckung und damit verbundene stilistische Geltung beider Varietäten sind voneinander unterschieden und übereinandergeschichtet. Was die Sprachrichtigkeit betrifft, erklärt Campe die Analogie zu ihrem primären Prinzip, beharrt mithin beim Vorrang des Allgemeinen. In seiner Begründung liegen seine ahistorische und zugleich teleologische Sprachauffassung, seine synchronische Perspektive, seine Einstellung zur Sprache als Instrument und Medium und seine Ausrichtung auf die Darstellungsfunktion klar zutage. Das Hochdeutsche definiert Campe als Ausgleichssprache zwischen dialektalen Varietäten der Gesamtsprache, besteht mithin weiterhin auf dem Vorrang des Allgemeinen. Dabei macht er seine synchronische Sprachbetrachtung, hier verbunden mit diachronischer Sprachbetrachtung, die Beachtung aller Hierarchieebenen und eine Abzielung auf dialektale Homogenität der Standardsprache unter Berücksichtigung der dialektalen Heterogenität der Gesamtsprache offenbar. In seiner Differenzierung des Verhältnisses zwischen geschriebener Sprache und gesprochener Sprache sowie zwischen Schriftsprache und Umgangssprache als fast immer gesprochene Sprache des alltäglichen Umgangs macht Campe seine synchronische Perspektive abermals, außerdem die Anerkennung von situativer Heterogenität der Standardsprache und der situativen Heterogenität der Gesamtsprache und eine Beachtung der Symptomfunktion und der Kommunikationsfunktion deutlich. Die Diskussion um die Standardsprache, das heißt um das Hochdeutsche, ist am Ende des 18. Jahrhunderts schon fast anachronistisch.282 Campe entwirft seine Position in Opposition zu der Position Adelungs283 und bezieht sich in seinen Stellungnahmen immer wieder auf dessen einschlägige Äußerungen.

282

2,3

Zu Standardisierung und Diskussion im 18. Jahrhundert vergleiche zum Beispiel [Bahner 1984a.]; [Blackall 1966.]; [Eichler, Bergmann 1968.]; [Henne 1968.]; [Henne 1969a.]; [Henne 1969-1970.]; [Henne 1970a.]; [Henne 1970b.]; [Henne 1972.]; [Henne 1975a.]; [Henne 1975b.]; [Henne 1975c.]; [Henne 1975d.]; [Henne 1984.]; [Nerius 1967.]; [Piirainen 1980.]; [Schildt 1967.]; [Semenjuk 1967.]. Zu Adelungs Sprachkonzeption, Standardisierungskonzeption und puristischer Konzeption vergleiche zum Beispiel [Bahner 1984a.]; [Bahner 1984b.]; [Dill 1992.]; [Döring 1985.]; [Dückert 1984.]; [Henne 1970a.]; [Henne 1970b.]; [Henne 1975d.]; [Henne 1984.]; [Jellinek 1913-1914.]; [Kirkness 1975.]; [Kirkness 1985.]; [Müller, Max 1903.]; [Nerius 1984.]; [Neumann 1984.]; [Pfeifer 1984.]; [Püschel 1982.]; [Scherer 1893.]; [Schmidt, Hartmut 1984.]; [Sickel 1933.]; [Strohbach 1984.].

122

Untersuchung

Tatsächlich steht Campes alles in allem recht progressive Standardisierungskonzeption in Kontrast zu Adelungs geradezu reaktionärer Konzeption - wenn auch auf beiden Seiten Abweichungen in der Praxis festzustellen sind. Jene tritt gerade durch den Vergleich mit dieser hervor. Das rechtfertigt, ja erfordert es meines Erachtens, bei der Analyse von Campes Standardisierungskonzeption Adelungs Position unter jedem Kriterium vorab zu behandeln.284 Adelung äußert sich zum Hochdeutschen in seiner „Deutschen Sprachlehre" 285 und in seinem „Umständlichen Lehrgebäude der Deutschen Sprache" sowie vor allem im „Magazin für die Deutsche Sprache"287, unter anderem mit „Was ist Hochdeutsch?"288, „Der Sprachgebrauch gilt mehr, als Analogie und Regeln"289, „Sind es Schriftsteller, welche die Sprache bilden und ausbilden?"290, „Über die Frage: Was ist Hochdeutsch? Gegen den Deutschen Merkur"291, „Fernere Geschichte der Frage: Was ist Hochdeutsch"292, und in „Ueber den Deutschen Styl"293. In seinem Wörterbuch, das heißt im „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen Mundart"294, der ersten Ausgabe, und im „Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart"295, der zweiten Ausgabe, setzt Adelung seine Position um. Campe entwickelt seine Standardisierungskonzeption in seiner „Preisschrift"296 sowie in den „Beiträgen zur weitern Ausbildung der Deutschen Sprache"297 mit „Abrede und Einladung"298 und „Was ist Hochdeutsch? In

284

285 286 287 288 289 290 291 292 293 294

295 296

297 298

Da ich in dieser Arbeit Adelungs Standardisierungskonzeption nur zum Vergleich heranziehe, verzichte ich darauf, die Entwicklung seiner Position im einzelnen nachzuzeichnen, und stelle den schon in den 1780er Jahren im wesentlichen erreichten Endstand dar. [Adelung 1781a.]. [Adelung 1782a.]. [Adelung 1782-1784.]. [Adelung 1782-1784.] Band 1. Stück 1. Seite 1-31. [Adelung 1782-1784.] Band 1. Stück 2. Seite 83-103. [Adelung 1782-1784.] Band 1. Stück 3. Seite 45-57. [Adelung 1782-1784.] Band 1. Stück 4. Seite 79-111. [Adelung. 1782-1784.] Band 2. Stück 4. Seite 138-163. [Adelung 1785.]. [Adelung 1774-1786.]. „Mundart" ist Adelungs Bezeichnung für Dialekt. Auch Campe verwendet sie, dem zeitgenössischen Sprachgebrauch folgend, gelegentlich für die geographischen Dialekte. Auf die Implikationen der Bezeichnung „die Hochdeutsche Mundart" bei Adelung werde ich noch eingehen. [Adelung 1793-1801.]. [Campe 1793c.]; [Campe 1794a.] mit Wörterverzeichnis. Auch in [Campe 1801a.] und [Campe 1813.] Seite 1-70, leicht gekürzt und überarbeitet, als „Grundsätze, Regeln und Grenzen der Verdeutschung. Eine von dem königlichen Gelehrtenverein zu Berlin gekrönte Preisschrift". Ich zitiere nach [Campe 1813.].. [Campe 1795-1797a.]. [Campe 1795-1797b.].

Campes Standardisierungskonzeption

123

wiefern und von wem darf und muß es weiter ausgebildet werden?"299. In seinem Wörterbuch, im „Wörterbuch der Deutschen Sprache"300, setzt Campe seine Position um.

2.3.1 Auffassung von Standardsprache als Einheitssprache Die bisherige Forschung hat es nicht herausgearbeitet, aus den Quellen geht es jedoch deutlich hervor: Campes Auffassung von Standardsprache unterscheidet sich wesentlich von der im 17. und 18. Jahrhundert verbreiteten Gleichsetzung von Standardsprache und Hochsprache. Sie ist der Auffassung von Adelung diametral entgegengesetzt. Adelungs Position ergibt sich aus seiner Geschichtsauffassung. Diese ist nicht in sich geschlossen; sie ist synkretistisch insofern, als er aufklärerische mit - teilweise von Johann Gottfried Herder (1744-1803) vorweggenommenen301 - romantischen Elementen vermischt. Geschichte ist für Adelung nicht dem für die Aufklärung typischen Konzept gemäß - ein geradliniger Prozeß, sondern - wie für Herder - eine organische Entwicklung. Allerdings bewertet er, von der aufklärerischen Fortschrittsidee geprägt, die einzelnen Epochen unterschiedlich. Er unterscheidet Epochen des Aufstiegs und des Niedergangs, der Vervollkommnung und des Verfalls. Wie er in seinem „Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts"302 darlegt, zentriert Adelung seine Geschichtsauffassung und seine mit dieser korrespondierende in der Theorie historische - Sprachauffassung um den Begriff „Kultur"303. Aus der Entwicklung der Kultur leitet er die Entwicklung der übrigen Bereiche einschließlich der Sprache her: Sie [die Kulturentwicklung] giebt zu einer jeden Geschichte [...] das eigentliche Pragmatische her, weil die Ursache, warum das Veränderliche eines sich selbst überlassenen Volkes gerade so und nicht anders erfolget ist, nirgends anders als aus der Cultur und ihrem Gange hergeleitet und erkläret werden kann. [...] Billig sollte daher [...] so genannte Universal-Geschichte [...] nichts anderes seyn als eine sorgfältige Geschichte der Cultur.304

299

[Campe 1 7 9 5 - 1 7 9 7 C . ] .

300

[Campe 1 8 0 7 - 1 8 1 1 . ] .

301

Vergleiche dessen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" - [Herder 17841791.]. [Adelung 1782c.]. Kulturell-historische Aspekte betont auch Isaak Iselin (1728-1782) in „Philosophische Muthmaßungen über die Geschichte der Menschheit" - [Iselin 1764.].. [Adelung 1782c.] Blatt 2af.. Adelung bezieht sich mit dem „Pragmatischen" auf kausale Zusammenhänge im Unterschied zu rein chronologischen Vorgängen.

302 303

304

124

Untersuchung

Aufklärung ist Kultivierung. Für Adelung ist die Vernunft nur ein Faktor unter mehreren. Die Kulturentwicklung ist von kognitiven, aber auch von geographischen, sozialen und ökonomischen Faktoren bestimmt. Je dichter die Besiedlung, desto größer der Wohlstand, desto höher das kulturelle Niveau. Analog dazu ist die Ausbildung der Sprache durch kommunikative Faktoren bedingt. Je intensiver der zwischenmenschliche Verkehr, desto höher das sprachliche Niveau. In den größten Städten und innerhalb dieser in den obersten Schichten finden sich die am höchsten entwickelte Kultur und analog dazu die am höchsten ausgebildete Sprache. Adelung gibt keine explizite Definition der „obern Classen". Seine Position impliziert jedoch, daß er primär den traditionell am Hof lebenden oder verkehrenden, Luxus treibenden Adel, sekundär auch das Großbürgertum als Kulturträger betrachtet. In der sich allmählich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft ist eine gewisse soziale Mobilität gegeben. Die Dynamik des von allen erstrebten gesellschaftlichen Aufstiegs führt zu einer Häufung der Bevölkerung in den höheren Schichten. Diese zeichnen sich bereits durch beträchtliche Wohlhabenheit aus. Von den zu ihnen aufstrebenden niederen Schichten suchen sie sich abzugrenzen, indem sie ihre Kultur und Sprache immer weiter verfeinern. Die Cultur wird durch Volksmenge in einem eingeschränkten Räume bewirket. Da diese weder zu allen Zeiten, noch in allen Theilen des Erdbodens gleich ist und gleich seyn kann, so sind die Grade der Cultur auch so sehr verschieden. Aber sie sind es selbst in einem und eben demselben Lande und zwar zu einer und eben derselben Zeit. Da sich die Menschen in bürgerlichen Gesellschaften aus einem natürlichen Triebe der Verbesserung immer aus den untern Classen nach den mittlem und höhern drängen, so häufen sie sich hier und beschleunigen und erhöhen daselbst ihre Cultur. Daher sind volkreiche Städte und in volkreichen Städten immer die obern Classen der cultivierteste Theil eines Landes.305

Erst auf einem gewissen Niveau bildet sich Geschmack. Es ist - auch für den Vergleich mit Campe - bemerkenswert, daß Adelung zu den „obern Classen" zwar - ferner - auch die Gelehrten zählt, aber Bildung und Gelehrsamkeit grundsätzlich wenig Gewicht beimißt: „Gelehrsamkeit ist allerdings ein Hülfsmittel des Geschmackes, allein sie macht denselben nicht allein aus j-

j