Staatssicherheit am Ende : Warum Es Den Machtigen Nicht Gelang, 1989 Eine Revolution Zu Verhindern. 9783862840311, 386284031X

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Staatssicherheit am Ende : Warum Es Den Machtigen Nicht Gelang, 1989 Eine Revolution Zu Verhindern.
 9783862840311, 386284031X

Table of contents :
Analysen und Dokumente
Warum es den Mächtigen
2-inhalt.pdf
Inhalt
Für Sonja
3-ende-1.pdf
Einleitung
A Forschungsstand
A.1 Totalitarismustheorien
Osteuropäische Dissidenten wider die totalitäre Anmaßung
A.2 Modernisierungstheorie und DDR-Forschung
A.3 Zeitgeschichtliche Arbeiten
Exkurs: Die „Überlebensordnung des MfS“
B Vergleichende Transitionsforschung – der Interpretationsansatz
Der Sturz von Diktaturen in vergleichender Sicht
Enttäuschte Hoffnungen und revolutionäres Aufbegehren
Das MfS als Institution
C Quellenkritische Vorbemerkung
1 Das Alte Regime in Erwartung der Krise
1.1 Veränderte Rahmenbedingungen
Verschärfte Abschottungstaktik
1.2 Erste Zweifel im MfS
1.2.1 Die Stimmung in den „Kampfgruppen“
1.3 Schwindende Massenloyalität
1.3.1 Die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989
1.3.2 Reaktionen auf das Blutbad in Peking
1.3.3 Die wachsende Opposition aus Sicht des MfS
1.4 Korrosion des „Eisernen Vorhangs“
1.4.1 Reise, Ausreise, Flucht
1.4.2 Aussetzung des Schießbefehls
1.4.3 Abbau der ungarischen Grenzsicherung
1.4.4 Entsolidarisierung der Herrschenden
1.5 Das MfS am Vorabend der Krise
2 Polarisierung von Gesellschaft und Parteistaat
2.1 Die Opposition
2.2 Die Sicht des Regimes
Taktische Überlegungen des Staatssicherheitsdienstes
IM „Hanns Sänger“ in der Herbstrevolution
2.3 Stimmungslagen in der Bevölkerung
3 „Aktion Jubiläum 40“ – ein letzter Versuch repressiver Stabilisierung
3.1 Zwei Dresdner „Modelle“
3.2 Staatsfeier und Repression in Ostberlin
Erste Reaktionen
Legendenbildung vor der Berliner Untersuchungskommission
3.3 Beginn einer Palastrevolte
Gorbatschows Warnung
4-ende-2.pdf
4 Wende von unten – Leipzig 9. Oktober
4.1 Die gescheiterte Gegenoffensive in Leipzig
4.2 Lernprozesse „progressiver Bürger“
5 Rückzugsmanöver und veränderte Repressionstaktik
5.1 Letzte Scharmützel zur Verteidigung des Status quo
5.2 Führungswechsel
5.3 SED-Taktik zum Umgang mit der Bürgerbewegung
5.4 Umstellungsprobleme der Sicherheitsapparate
„Wir lehnen ab und lassen zu“
„Nicht so antworten, wie es diese Kräfte eigentlich verdienen“
5.5 Konzeptionen zur „Zurückdrängung oppositioneller Sammlungsbewegungen“
Testlauf in Schwerin
Beratung im Großen Haus
Das Politbüro und die Konzeption zur „Zurückdrängung“
5.6 Beratung mit den „Freunden“
6 Die Kraftprobe am 4. November und die Sicherheitsorgane
7 Entgrenzung und Staatszerfall
7.1 Bürgerrechtsbewegung, Freizügigkeit und „demokratischer Sozialismus“
7.2 „Prämissen“ einer Grenzöffnung
Entwurf eines Reisegesetzes
Die Maueröffnung am 4. November
Splitting der Reisefrage
7.3 Teilzulassung des Neuen Forums
7.4 „Zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise...“
Dammbruch
7.5 Desorientierung im MfS
8 Defensive Liberalisierung
8.1 Kurswechsel der SED
8.2 Regierungswechsel
Exkurs: Das Projekt „Moderner Sozialismus“
8.3 Die erste Regierung Modrow
Stimmungsbild
8.4 Zum Einfluß des MfS auf die Regierungsbildung
8.5 Der Fluch der bösen Tat oder Gewaltenteilung in statu nascendi
9 Vom MfS zum AfNS
9.1 Das „Interregnum“: Von Mielke zu Schwanitz
Mielkes Fall
9.2 Eine veränderte Sicherheitsdoktrin
„Swingman“ Markus Wolf
„Wir müssen uns trennen von ...“
Exkurs: Reaktionen in der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt
Das Ende der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“
9.3 Erneuerungsversuche
Vorschläge aus den Diensteinheiten
Die Konzeption der Generalität
9.4 Personalabbau und „soziale Sicherstellung“
9.5 Beginn der Aktenvernichtung
9.6 „Ingo läßt aus Eisenach grüßen“
Beispiele aus den Regionen
Auf der Suche nach neuen Partnern
IM „Harry“ und andere ...
Exkurs: IMB „Czerni“
9.7 „Der Laden zerbröckelt“
Die Parteileitung im AfNS
„Nachdenken über uns selbst!“
Risse in der Staatssicherheit
5-ende-3.pdf
10 Konfrontation und Kapitulation in den Regionen
10.1 Die Flucht des Chefunterhändlers
10.2 Angst vor offener Konfrontation
10.3 Schritte in die Tabuzone
10.4 Die Dramaturgie der Besetzungen
10.5 Reaktionen von Mitarbeitern der Staatssicherheit
Wortmeldungen unterer Dienstgrade
Beispiel einer Palastrevolte: Gera
Meuterei im Wachregiment
11 Das Ende des AfNS
11.1 Revirement an der Spitze der Staatssicherheit
11.2 Die „Beauftragten des Vorsitzenden des Ministerrates“
„Keine Kumpanei“
Alarmsignale aus den Regionen
11.3 Der zentrale Runde Tisch als neuer Akteur
Exkurs: Die oppositionellen Gruppen und die Macht
11.4 Modrows Entscheidung zur Auflösung des AfNS
Widerworte aus der Staatssicherheit
11.5 Die Ministerratsbeschlüsse vom 14. Dezember 1989
Soziale Absicherung
11.6 Vom AfNS zum „Verfassungsschutz“
Neue Konfliktlinien
11.7 Ein neuer Gegner
Der Anschlag auf das sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow
12 Übergang zur Demokratisierung und Auflösung der Staatssicherheit
Karrieren ehemaliger IM
12.1 Erneute Polarisierung
Konflikt am Runden Tisch
Taktische Differenzen im „Verfassungsschutz“
Die Krise des Regierungsbeauftragten
12.2 Der zweite Auflösungsbeschluß des Ministerrates
„Es geht um die DDR“
Bericht an den Runden Tisch
12.3 Der Sturm auf die Stasi-Zentrale
12.4 Epilog
Fazit
Zusammenfassung und Resümee
Anhang
Literaturverzeichnis
A. Nichtgedruckte Quellen
B. Verzeichnis der zitierten Literatur
I. Berichte von Untersuchungsausschüssen
II. Literatur
Chronologische Übersicht
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister*
6-ende-4.pdf
Sach- und Ortsregister
Danksagung
Angaben zum Autor
7-anhang.pdf
Anhang
Ausgewählte Literatur*
Abkürzungsverzeichnis
Personenverzeichnis
Angaben zu den Autoren
8-anzeige.pdf
Analysen und Dokumente
Justiz im Dienste der Parteiherrschaft
Ch. Links Verlag, Zehdenicker Straße 1, 10119 Berlin

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Analysen und Dokumente Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten Band 15

Analysen und Dokumente Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Herausgegeben von der Abteilung Bildung und Forschung Redaktion: Siegfried Suckut, Ehrhart Neubert, Walter Süß, Roger Engelmann

Walter Süß

Staatssicherheit am Ende Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Meinungen, die in dieser Publikationsreihe geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassungen der Autoren wieder.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2. durchgesehene Auflage, November 1999 © Christoph Links Verlag GmbH, März 1999 Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel. (030) 44 02 32-0 Internet: www.linksverlag.de; [email protected] Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von der Erstürmung der Zentrale des Amtes für Nationale Sicherheit am 15.1.1990 Satz: Kerstin Ortscheid, Berlin ISBN 978-3-86284-031-1

Inhalt

Einleitung A Forschungsstand A.1 Totalitarismustheorien Osteuropäische Dissidenten wider die totalitäre Anmaßung A.2 Modernisierungstheorie und DDR-Forschung A.3 Zeitgeschichtliche Arbeiten Exkurs: Die „Überlebensordnung des MfS“ B Vergleichende Transitionsforschung – der Interpretationsansatz Der Sturz von Diktaturen in vergleichender Sicht Enttäuschte Hoffnungen und revolutionäres Aufbegehren Das MfS als Institution C Quellenkritische Vorbemerkung 1 1.1 1.2 1.2.1 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.5 2 2.1 2.2 2.3

11 15 16 27 31 39 43 52 53 64 67 72

Das Alte Regime in Erwartung der Krise Veränderte Rahmenbedingungen Verschärfte Abschottungstaktik Erste Zweifel im MfS Die Stimmung in den „Kampfgruppen“ Schwindende Massenloyalität Die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 Reaktionen auf das Blutbad in Peking Die wachsende Opposition aus Sicht des MfS Korrosion des „Eisernen Vorhangs“ Reise, Ausreise, Flucht Aussetzung des Schießbefehls Abbau der ungarischen Grenzsicherung Entsolidarisierung der Herrschenden Das MfS am Vorabend der Krise

76 76 100 105 115 117 117 128 129 141 142 148 154 166 177

Polarisierung von Gesellschaft und Parteistaat Die Opposition Die Sicht des Regimes Taktische Überlegungen des Staatssicherheitsdienstes IM „Hanns Sänger“ in der Herbstrevolution Stimmungslagen in der Bevölkerung

193 194 204 219 225 232

3 3.1 3.2

3.3

„Aktion Jubiläum 40“ – ein letzter Versuch repressiver Stabilisierung Zwei Dresdner „Modelle“ Staatsfeier und Repression in Ostberlin Erste Reaktionen Legendenbildung vor der Berliner Untersuchungskommission Beginn einer Palastrevolte Gorbatschows Warnung

238 245 279 285 286 296 297

4 4.1 4.2

Wende von unten – Leipzig 9. Oktober Die gescheiterte Gegenoffensive in Leipzig Lernprozesse „progressiver Bürger“

301 301 315

5 5.1 5.2 5.3 5.4

Rückzugsmanöver und veränderte Repressionstaktik Letzte Scharmützel zur Verteidigung des Status quo Führungswechsel SED-Taktik zum Umgang mit der Bürgerbewegung Umstellungsprobleme der Sicherheitsapparate „Wir lehnen ab und lassen zu“ „Nicht so antworten, wie es diese Kräfte eigentlich verdienen“ Konzeptionen zur „Zurückdrängung oppositioneller Sammlungsbewegungen“ Testlauf in Schwerin Beratung im Großen Haus Das Politbüro und die Konzeption zur „Zurückdrängung“ Beratung mit den „Freunden“

327 328 340 351 354 355

5.5

5.6 6 7 7.1 7.2

7.3 7.4 7.5

Die Kraftprobe am 4. November und die Sicherheitsorgane Entgrenzung und Staatszerfall Bürgerrechtsbewegung, Freizügigkeit und „demokratischer Sozialismus“ „Prämissen“ einer Grenzöffnung Entwurf eines Reisegesetzes Die Maueröffnung am 4. November Splitting der Reisefrage Teilzulassung des Neuen Forums „Zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise...“ Dammbruch Desorientierung im MfS

359 363 367 372 375 380 385 414 415 418 423 424 426 430 434 442 451

8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 9 9.1 9.2

9.3 9.4 9.5 9.6

9.7

10 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5

Defensive Liberalisierung Kurswechsel der SED Regierungswechsel Exkurs: Das Projekt „Moderner Sozialismus“ Die erste Regierung Modrow Stimmungsbild Zum Einfluß des MfS auf die Regierungsbildung Der Fluch der bösen Tat oder Gewaltenteilung in statu nascendi

465 467 477 478 487 494 495

Vom MfS zum AfNS Das „Interregnum“: Von Mielke zu Schwanitz Mielkes Fall Eine veränderte Sicherheitsdoktrin „Swingman“ Markus Wolf „Wir müssen uns trennen von ...“ Exkurs: Reaktionen in der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt Das Ende der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ Erneuerungsversuche Vorschläge aus den Diensteinheiten Die Konzeption der Generalität Personalabbau und „soziale Sicherstellung“ Beginn der Aktenvernichtung „Ingo läßt aus Eisenach grüßen“ Beispiele aus den Regionen Auf der Suche nach neuen Partnern IM „Harry“ und andere ... Exkurs: IMB „Czerni“ „Der Laden zerbröckelt“ Die Parteileitung im AfNS „Nachdenken über uns selbst!“ Risse in der Staatssicherheit

508 508 511 515 520 524

Konfrontation und Kapitulation in den Regionen Die Flucht des Chefunterhändlers Angst vor offener Konfrontation Schritte in die Tabuzone Die Dramaturgie der Besetzungen Reaktionen von Mitarbeitern der Staatssicherheit Wortmeldungen unterer Dienstgrade Beispiel einer Palastrevolte: Gera Meuterei im Wachregiment

504

528 529 533 534 540 544 554 560 565 567 576 579 587 588 594 596 605 607 610 613 615 621 624 628 631

11 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6 11.7

12 12.1

12.2 12.3 12.4

Das Ende des AfNS Revirement an der Spitze der Staatssicherheit Die „Beauftragten des Vorsitzenden des Ministerrates“ „Keine Kumpanei“ Alarmsignale aus den Regionen Der zentrale Runde Tisch als neuer Akteur Exkurs: Die oppositionellen Gruppen und die Macht Modrows Entscheidung zur Auflösung des AfNS Widerworte aus der Staatssicherheit Die Ministerratsbeschlüsse vom 14. Dezember 1989 Soziale Absicherung Vom AfNS zum „Verfassungsschutz“ Neue Konfliktlinien Ein neuer Gegner Der Anschlag auf das sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow Übergang zur Demokratisierung und Auflösung der Staatssicherheit Karrieren ehemaliger IM Erneute Polarisierung Konflikt am Runden Tisch Taktische Differenzen im „Verfassungsschutz“ Die Krise des Regierungsbeauftragten Der zweite Auflösungsbeschluß des Ministerrates „Es geht um die DDR“ Bericht an den Runden Tisch Der Sturm auf die Stasi-Zentrale Epilog Fazit

635 637 640 643 645 647 650 656 665 669 672 674 681 684 686 691 698 703 708 710 712 714 719 722 723 729 740

Zusammenfassung und Resümee

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Anhang Literaturverzeichnis Chronologische Übersicht Abkürzungsverzeichnis Personenregister Sach- und Ortsregister Danksagung Angaben zum Autor

753 753 783 789 794 802 814 815

Für Sonja

Einleitung

„Historischer Sinn meint Wissen nicht darum, was geschah, sondern darum, was nicht geschah.“ Isaiah Berlin

Der Zusammenbruch der SED -Diktatur w ar ein erstaunlicher V organg. Einer friedlichen Protestbew egung gelang es, einen Staats- und Parteiapparat zu entm achten, der einer m ilitanten Ideologie verpflichtet und bis an die Zähne bew affnet w ar. 1 Das Ministerium für Staatssicherheit (M fS), ein zentraler Bestandteil des Sy stems der Machtsicherung, w urde ohne G ewalt und ersatzlos aufgelöst. Beides w ar, w ie ein Blick in die postkom munistischen Nachbarstaaten der D DR lehrt, keinesw egs selbstverständlich. Eine vollständige Auflösung der alten Geheimpolizeiapparate ist in keinem dieser Staaten erfolgt. 2 D aß auch blutige A useinandersetzungen im Bereich der geschichtlichen Möglichkeiten lagen, zeigten die Entwicklung in Rum änien und der gescheiterte Augustputsch 1991 in der Sowjetunion. Allerdings darf dabei nicht übersehen w erden, daß ihr G ewaltpotential w eit unter dem Niveau früherer Revolutionen lag 3 und daß solche Auseinandersetzungen die Ausnahme, nicht die Regel bildeten. Das Schicksal des Staatssicherheitsdienstes ist im Kontext einer dramatischen Veränderung seiner politischen und gesellschaftlichen Um welt zu sehen. Auf längerfristig wirksam e Ursachen des System zusammenbruchs wird bei der Erörterung des Forschungsstandes einzugehen sein. Die aktuellen A uslöser der K rise w erden im 1. Kapitel erörtert werden. Im Vordergrund meiner Darstellung aber steht die Binnenperspektive des Machtappa1

2 3

„Daß die Staatssicherheit z. B. Anfang Dezember [1989] kapitulieren würde, hat noch 14 Tage vorher kein Mensch zu glauben gewagt. Es gab ja auch keinen Anlaß zu dieser Hoffnung, im Gegenteil, sie standen ja noch schwerbewaffnet im Hintergrund bei den Demonstrationen.“ Diese Beschreibung der allgemeinen Stimmung durch den Rostocker Pfarrer Christoph Kleemann gilt wohl für die ganze DDR. Interview in: Probst: Norden (1993), S. 114–126, hier 117. Vgl. auch die Schilder ung des Thüringer Pfarrers Peter Oberthür: Das gewaltfreie Ende der Revolution, in: Hoffmann: Deutschland (1991), S. 45–47. Vgl. Bakatin: KGB (1993); Knight: Spies (1996); Rahr: Revival (1993); Yasmann: Security Services (1994). Der englische Historiker John Dunn hat Anfang der 70er Jahre als Ergebnis einer vergleichenden Analyse von acht Revolutionen im 20. Jahrhundert konstatiert, daß „massive öffentliche Gewaltanwendung“ bei allen diesen Umstürzen zu beobachten war, und daraus den Schluß gezogen, daß Gewalt ein Definiti onsmerkmal von Revolution sei. Darauf wird noch kritisch zurückzukommen sein. Vgl. Dunn: Revolutionen (1974), S. 9.

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rates, nicht zuletzt weil darüber weniger bekannt ist. Doch Auslöser und Hintergrund der Entwicklung im MfS war die sich entfaltende demokratische Revolution. Sie zu analysieren wäre ein eigenes Them a. 4 In der vorliegenden Arbeit wird die Bürgerbewegung vorwiegend unter der Perspektive ihr er Wahrnehmung durch die Staatssicherheit und – w as ebenso wichtig ist – ihrer A usstrahlung auf deren Mitarbeiter them atisiert. Wenn man die Auflösung des MfS analy siert, ist die andere Seite jedoch mitzubedenken: die politische Reife und Klugheit, die die dem onstrierenden Bürger zeigten, als sie sich von ihrem Zorn nicht – wie von der G egenseite erwartet – zu G ewalttätigkeiten hinreißen ließen und ihrem Unm ut, statt m it Steinen und Molotowcocktails, mit Transparenten, Kerzen und Sprechchören Luft machten. Damit w urde einer Eskalation vorgebeugt und das Regim e geradezu entwaffnet. Horst Sindermann, SED-Politbüro-Mitglied und V olkskammerpräsident unter H onecker, hat in sein em letzten Interview konstatiert: „Der gewaltfreie Aufstand paßte nicht in unsere Theorie. Wir haben ihn nicht erwartet und er hat uns w ehrlos gemacht.“ 5 Doch auch das erklärt sich nicht von selbst, gibt es doch zu viele Beispiele dafür, daß friedliche Volksbewegungen mit m ilitärischer Gewalt zerschlagen wurden. Eine Fülle historischer Beispiele zeigt, daß „ kein Übergang [zur Dem okratie] durch oppositionelle Kräfte gegen ein Regime erzw ungen w erden kann, das seinen Zusammenhalt, Kapazität und Disposition zur Anwendung von Repression, aufrechterhält“. 6 Warum hat in diesem Fall Gewaltlosigkeit die Machthaber „wehrlos“ gemacht? Weshalb ist es im Herbst/Winter 1989/90 zu einer irreversiblen Veränderung von V erhaltensmustern gerade in bezug auf den Staatssicherheitsdienst gekommen? Der H inweis, d ies m ache d as W esen einer Revolution aus, würde zwar treffend klingen, hätte aber tautologischen Charakter. Diese Veränderungen waren Teil einer Revolution, für deren Bezeich nung sich m erkwürdigerweise der Begriff „ Wende“ eingebürgert hat. D abei hat letzteren Begriff niemand anders als Kurt Hager, der Chefideologe der SED, in die DDR-Diskussion eingeführt. Im März 1986 w ürdigte er unter der Überschrift „Eine Wende von historischer Bedeutung“ den XXVII. Parteitag 4

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Aus der Fülle einschlägiger Veröffentlichungen seien an dieser Stelle nur wenige Titel genannt: Jarausch: Einheit (1995); Joas u. Kohli (Hrsg.): Zusammenbruch der DDR (1993); Joppke: Dissidents (1995); Maier: Dissolution (1997); Mitter u. Wolle: Untergang (1993); Müller-Enbergs, Schulz u. Wielgohs (Hrsg. ): Illegalität (1991); Neubert: Revolution (1991); Opp, Voß u. Gern: Revolution (1993); Rein : Revolution (1990); Rüddenklau: Störenfried (1992); Thaysen: Runde Tisch (1990); Weber: Aufbau (1991). Als Regionalstudien: Bahr: Sieben Tage (1990); Dornheim: Umbruch (1995); Lüttke-Aldenhövel, Mestrup u. Remy (Hrsg.): Mühlhausen (1993); Neues Forum Le ipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie (1989); Probst: Norden (1993); Zwahr: Ende (1991). „Wir sind keine Helden gewesen“. Der frühere Volkskammer-Präsident Horst Sindermann über Macht und Ende der SED, in: Der Spiegel, 7.5.1990, S. 53–66, hier 55. O’Donnell u. Schmitter: Transitions (1993), S. 21; ebenso Brinton: Die Revolution (1959), S. 130, 133 f., 351.

der sowjetischen „ Bruderpartei“. 7 Bezogen auf die D DR kam der Begriff erst im Oktober 1989 in Gebrauch. 8 Michail Gorbatschow, der zum 40. Jahrestag der DDR nach Ostberlin geko mmen war, m ahnte in einer Ansprache vor dem SED-Politbüro, daß auch ihr nächster Parteitag „ eine Wende in der Entwicklung des Landes“ einleiten müsse. 9 Dieses Stichwort wurde eineinhalb Wochen später von Honeckers N achfolger Krenz in seiner ersten Fernsehansprache aufgenommen, in der er ankündigte: „Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wieder erlangen.“ 10 Das sollte sich als gravier ender Irrtum erweisen, der Begriff aber blieb, wenngleich er seine Bedeutung neuerlich veränderte. N un meinte er die offene Wendung der m eisten Bürger gegen die SED und schließlich die Wende weg von der DDR als Staat. Dennoch ist dieser Begriff unzulänglich, w eil er – w ie seine Ety mologie zeigt – eher eine Veränderung der politischen Orientierung, allenfalls eine „Liberalisierung“ 11, bezeichnet als einen grundsätzlichen Um bruch der politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Da es sich im Fall der DDR eben darum handelt, soll statt dessen von einer „Revolution“ gesprochen werden. 12 Das scheint sinnvoll, obwohl in der angelsächsischen Diskussion, die sich am intensivsten mit diesem Problem kreis befaßt hat, Revolution meist als eine Form kollektiver G ewaltanwendung betrachtet wird 13 und dieses Merkm al beim U mbruch in der D DR (oder auch in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei) nicht zu beobachten w ar. Das ist jedoch ein allzusehr von früheren Erfahrungen geprägtes K riterium, dem gem essen an 7

In: Einheit (1986) 4–5, S. 304 ff. 8 Abwegig ist der etymologische Bezug, de n Rainer Eckert zur Verwendung des Begriffs „Wende“ bei Adolf Hitler herstellt; Eckert: Krise (1995), S. 669. 9 Stenografische Niederschrift des Treffens der Genossen des Politbüros des Zentralkomitees der SED mit dem G eneralsekretär des ZK der KPdSU, Genossen Michail Sergejewitsch Gorbatschow, am Sonnabend, den 7. Oktober 1989 in Berlin-Niederschönhausen; BA Berlin, DY 30 J IV 971, o. Pag., 26 S., S. 7; Nachdruck in: Küchenmeister (Hrsg.): Honecker (1993), S. 252–266, hier 255. 10 Rede von Egon Krenz in: Deutschland Archiv 22 (1989) 12, S. 1307–1314, hier 1307. 11 Dieser Begriff wird im Zusammenhang mit der Erörterung des Forschungsstandes noch eingehender diskutiert werden. 12 Christa Wolf hat in ihrer Rede bei der große n Demonstration am 4. November 1989 die Sache auf den Punkt gebracht: „Mit dem Wort ‚Wende‘ habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot, der Kapitän ruft: ‚Klar zur We nde!‘, weil der Wind sich gedreht hat, und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Stimmt dieses Bild? Stimmt es noch in dieser täglich vorwärtstreibenden Lage? Ich würde von ‚revolutionärer Erneuerung‘ sprechen. Revolutionen gehen von unten aus.“ Christa Wolf: Die Sprache der Wende. Rede auf dem Alexanderplatz, in: dies.: Reden im Herbst, Berlin u. Weimar 1990, S. 119–121. 13 In einer vergleichenden Betrachtung des E ndes autoritärer Regime im 20. Jahrhundert verwenden Karl und Schmitter den Einsatz von „ Gewalt“ durch die „ Massen“ als Definitionsmerkmal von „ Revolution“, bei friedlichen Übergängen unter dem Druck von unten sprechen sie von „ Reform“. Dieser Terminol ogie folge ich nicht. Auch ihr Überblick zeigt, daß – außer in Lateinamerika – gewaltsame Massenaktionen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eher atypisch geworden sind. Karl u. Schmitter: Modes (1991). Vgl. auch Johnson: Bedingungen (1973).

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anderen A spekten geringere Bedeutung zukommt. 14 Entscheidend sind die Tiefe der U mwälzung, der historisch kurze Zeitraum , in dem sie vollzogen wird, und selbstbestim mte kollektive Aktionen. 15 Für das V erständnis der historischen Entw icklung ist die Frage nach den Gründen von Gewalt und Gewaltlosigkeit freilich von erheblicher Relevanz. Ohne sie zu stellen, ist das Denken und H andeln der A kteure im Umbruch schwerlich zu erklären. Gewaltlosigkeit der Demonstranten und der Verteidiger des Alten Regim es bedingten einander. 16 Das allein aber ist zu wenig, um „eine wichtige NichtEntscheidung“ zu erklären, „die großteils noch im mer der Erklärung harrt: Warum folgte das härteste und rigideste kom munistische Regime des Ostens 17 nicht dem chinesischen Beispiel, das es vor nur w enigen Wochen noch begrüßt hatte?“ 18 Nicht zuletzt um diese Frage zu beantworten, bedarf es des Blicks in das Innere des Repressionsapparates. Diese Frage beschäftigt m ich auch aufgrund persönlicher Erfahrungen. Im H erbst 1989 beobachtete ich als Journalist die Entw icklung in der DDR. 19 Immer wieder diskutierten wir seinerzeit in der Redaktion der „taz“ über die geradezu ausweglose Situation, in die sich das A lte Regime in Ostberlin unseres Erachtens m anövriert hatte, ohne daß eine Lösung in Sicht gewesen wäre, die der Bürgerbew egung zum D urchbruch verholfen hätte. Selten hatte ich ein so starkes G efühl der Beklem mung w ie in den ersten Oktobertagen, vor dem „ 40. Jahrestag“. Mein K ollege Matthias G eis, ein vorzüglicher Kenner der Alternativszene in Ostberlin, m einte damals in einer unserer D ebatten sinngemäß: Entw eder schlägt die alte Garde jetzt zu, oder sie müssen abtreten. Sicher ist nur eins – so wie bisher wird es nicht weitergehen. D ie A ngst, „ sie“ könnten zuschlagen, w ar dam als dominierend, selbst bei uns, die wir aus zwar geringer, aber sicherer Entfernung, vor der Mauer, die Entwicklung beobachteten und auch bei unseren Besuchen in O stberlin – sow eit gegen uns nicht ein Einreiseverbot verhängt worden war – den privilegierten Status von „Touristen“ hatten. Umso größer war die Erleichterung, als erste politische und personelle Konsequenzen die Möglichkeit eines nichtrepressiven A uswegs eröffneten. Doch was da hinter den 14 Bündig formulierte diesen Umstand Charles Maier: „Popular mobilization, not bloodshed, is the criterion.“ Maier: Dissolution (1997), S. 120. 15 Vgl. Merkel: SED-Regime (1991), S. 21 f. 16 Das wird verkannt, wenn die Gewaltlosigkeit allein einer Seite, der Bürgerbewegung, als Verdienst zugerechnet wird. Vgl. exemplarisch Rosinger: Herbst (1995), S. 26–28. 17 Dieser Wertung ist entgegenzuhalten, daß das Ceau escu-Regime in Rumänien auf der Skala brutaler Repression im Ostblock gewiß an der Spitze stand. 18 Hirschman: Abwanderung (1992), S. 353. Hirschman vermutet, daß die Erklärung für dieses Phänomen in „Selbstzweifeln“ zu finden sei, die die Machthaber angesichts des „ Massenexodus“ im Sommer 1989 wahrscheinlich befallen hätten. Obwohl mir die Richt ung dieser Hypothese zutreffend scheint, genügt sie doch nicht, weil auch erheblich höher e Flüchtlingszahlen 1960/61 keinen Zusammenbruch des Regimes ausgelöst hatten. 19 Fania Carlsson, Kuno Kruse u. Walter Süß: Aufbruch ins eigene Land. Siebzehn Millionen „ Hinterbliebene“ suchen ihre Identität (Dossier), in: Die Zeit 29.9.1989, S. 17–20; Walter Süß: Die Agonie der Avantgarde, in : die tageszeitung 6.10.1989, Sonderbeilage DDR, S. 21, Nachdruck in: taz-Journal (1989), S. 27 f.

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Kulissen geschehen w ar, w ie diese Entscheidung zustande gekom men war oder auch: warum gar keine Entscheidung getroffen worden ist – diese Frage beschäftigt mich bis heute. Nach wie vor halte ich die Gewaltlosigkeit der Bürgerrevolution für einen großen Gewinn an politischer Kultur, der alles andere als selbstverständlich war. Diese Rem iniszenz macht eine weitere Bem erkung notw endig: Ich w ar bem üht, m ich in der D arstellung m it moralischen Urteilen zurückzuhalten. Sie sind vor allem Sache des Lesers. Für die Rekonstruktion der G eschehnisse sind die Maßstäbe der A kteure von weit größerem Interesse. A llzu aufdringliche Wertungen des A utors verdunkeln die Analyse, statt die Akteure aus ihrer Zeit heraus und in ihrem begrenzten Horizont zu verstehen und die Handlungsabläufe in ihrem jeweiligen Kontext zu erhellen.

A Forschungsstand In einem Bericht zur Erforschung des Endes der D DR aus sozialw issenschaftlicher Sicht haben Hans Joas und Martin Kohli resüm iert, „daß zwar in vielen Analysen, die die Dy namik sozialer Bewegungen in den Mittelpunkt rücken, der Zusammenbruch der Repressionsfähigkeit des DDRRegimes (oder seines Repressionsw illens) hervorgehoben wird, gründlichere Analysen der inneren Widersprüche des Sicherheitsapparates aber fehlen“. 20 Fünf Jahre später hat der Historiker Rainer Eckert konstatiert, w eiterhin unbeantwortet sei, „ warum diese in Europa wohl einm alige Ballung militärischer Macht im Herbst 1989 sang- und klanglos aufgab“. 21 Unzweifelhaft liegt eine ganze Reihe historischer Darstellungen und Schilderungen des Zusam menbruchs vor, die aber gerade unter diesem A spekt keine Erklärung bieten. A uf einige dieser A rbeiten w ird zurückzukom men sein, zuvor aber soll gefragt werden, welche Antworten politik- und sozialwissenschaftliche Theorien bieten. Eine auch nur annähernde Übersicht böte genügend Stoff für ein eigenes Buch, so können nur einige besonders relevante Ansätze herausgegriffen werden: die vor 1989 dom inanten „großen Theorien“ – Totalitarismus- und Modernisierungstheorien –, die beide einen schnellen Umbruch nicht vorausgesagt haben, und einige Theorien m ittlerer Reichweite, die auf solche Situationen zugeschnitten sind, insbesondere die akteurszentrierte Transitionstheorie. Zw eitens geht es um keine umfassende Würdigung, sondern allein darum zu fragen, was die jeweilige Theorie zur Erklärung unseres Problem s beizutrage n hat: Enthält sie w enigstens die Möglichkeit eines dem okratischen U mbruchs? Welche Faktoren benennt 20 Joas u. Kohli: Zusammenbruch (1993), S. 16. Vgl. auch Pollack: Stand (1993), S. 133. 21 Rainer Eckert: Die Garanten der Macht (Rezension), in: Der Tagesspiegel 27.4.1998.

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sie, die ihn möglich oder gar w ahrscheinlich m achen? Welche Prognosen für das Verhalten der Sicherheitsorgane ergeben sich aus ihr?

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A.1 Totalitarism

ustheorien

Gemeinsam ist den Totalitarism ustheorien und -ansätzen unterschiedlicher Couleur, daß sie das N euartige an bestim mten Diktaturen des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten suchen: den ideologisch begründeten V ersuch, die gesamte Gesellschaft von einem politischen Zentrum , einer Partei, aus zu durchdringen, zu kontrollieren und zu steuern und institutionelle, soziale, intellektuelle und m oralische Barrieren niederzureißen, die diesem Vorhaben im Wege standen. 22 Diese Beschreibung traf in unterschiedlichem Maße für die Staaten im sowjetischen Herrschaftsbereich zu. 23 Weniger eindeutig scheint ihr Beitrag zur Prognose des Endes dieser Regim e. Das hängt sicherlich damit zusam men, daß diese Theorien das Herrschaftssystem in den Mittelpunkt stellen und die Gesellschaft nur als Objekt der Machtausübung betrachten, w enn nicht gar behauptet w ird, die Differenzierung zwischen Staat und Gesellschaft sei im totalitären Sy stem aufgelöst. 24 Es fehlt damit die Voraussetzung dafür, die Rückw irkung der G esellschaft auf das Machtsystem auch nur zu them atisieren. 25 Sie scheint allenfalls unter dem Aspekt auf, daß gesellschaftlicher Widerstand gegen den totalitären Anspruch zu verschärfter Repression führe. 26 Die nachträgliche Wertung des prognostischen Gehalts der Totalitarismustheorien wäre konträrer kaum denkbar, als das tatsächlich der Fall ist. Auf dem am erikanischen Soziologentag 1991 hielten Randall Collins und David Waller einen V ortrag m it dem Titel „ Zusammenbruch von Staaten und die Revolutionen im sowjetischen Block: Welche Theorien machten zutreffende Aussagen? “. Sie sprachen auch kurz über den Totalitarismusansatz. In der Buchveröffentlichung des Vortrags trägt der Abschnitt die Überschrift: „ Theorien, die völlig fehlgingen“ 27. Der Heidelberger Politik22 Zusammenfassend Kocka: Vereinigungskrise (1995), S. 104. Hinsichtlich der unterschiedlichen Ansätze sei an dieser Stelle nur verw iesen auf Jesse (Hrsg. ): Totalitarismus (1996); Schapiro: Totalitarismus (1972). Dort finden si ch Angaben zu einer Fülle weiterer Literatur. 23 Allerdings sind erhebliche Zweifel angemeldet worden, ob der klassische Totalitarismusbegriff ein Instrument für die historische Fo rschung zur sowjetischen Geschichte ist, das zu relevanten neuen Erkenntnissen führt. (Vgl. Schröder: Der „ Stalinismus“ [1996] , S. 160–163). – Zu bezweifeln ist auch, ob der Begriff die Realität des Nationalsozialismus zutreffend erfaßt: Zwar hat er bei seinen Akteuren bodenlosen intellektuellen Niedergang und völlige moralische Verrohung hervorgerufen, aber keineswegs alle sozialen und institutionellen Hindernisse gegen einen rein en „Führerstaat“ niedergerissen. Zur Problematik der Anwendung des Totalitarismusbegriffs auf den Nationalsozialismus vgl. den kritischen Überblick von Kershaw: Der NS-Staat (1994), S. 41–71. 24 Zwingend ist diese Konsequenz in dem To talitarismusbegriff von Hannah Arendt angelegt; dazu unten ausführlicher. 25 Vgl. Bessel u. Jessen: Einleitung, zu dies. (Hrsg.): Die Grenzen der Diktatur (1996), S. 8– 17; Jessen: DDR-Geschichte und Totalitarismustheorie (1995), S. 22; Ludz: Entwurf einer soziologischen Theorie (1971); Pollack: Religion und gesellschaftlicher Wandel (1993), S. 247 f.; ders.: Die konstitutionelle Widersprüchlichkeit der DDR-Gesellschaft (1997). 26 Vgl. Kielmannsegg: Krise der Totalitarismustheorie? (1974), S. 301. 27 In: Joas u. Kohli (Hrsg.): Der Zusammenbruch der DDR (1993), S. 302–325, hier 319.

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wissenschaftler Wolfgang Merkel bescheinigt den Vertretern dieses Theor ieansatzes, sie hätten eine „grandiose Fehlprognose“ geliefert. 28 Dagegen hält einer ihrer A nhänger, der D resdner Historiker Klaus-Dietmar Henke, es für das besondere Verdienst der Totalitarismustheoretiker, daß sie im mer vorausgesagt hätten, daß das von ihnen beschriebene Sy stem „den Keim des Untergangs“ in sich trage. 29 Es könnte sein, daß beide Seiten recht haben, w eil sie nämlich im doppelten Sinn über U nterschiedliches sprechen – über verschiedene Theorieansätze, die sich unter dem gleichen Begriff verbergen, und über verschiedenartige G egenstände: das Ereignis 1989/90 oder den Staatssozialismus sowjetischen Typs als strukturell nicht lebensfähige historische Formation. Wer sich zudem optim istisch auf das „ Wesen des Menschen“ 30 beruft, benennt – aus seiner Sicht – eine K onstante, m it der eine Variable wie etwa eine Revolution methodisch grundsätzlich nicht erklärbar ist. Aus der Fülle unterschiedlicher Totalitarismustheorien ragt unzweifelhaft das Werk Hannah Arendts hervor. Sie versuchte, die innere Logik von Sy stemen herauszuarbeiten, die unter Berufung auf eine säkulare Ideologie den Massenmord zur Normalität machten. Ihre düstere Diagnose lief darauf hinaus, daß es den totalitären Sy stemen gelungen sei, den Menschen in seinem Wesen zu zerstören. 31 Daß dieser Erklärungsansatz auf die späte D DR anwendbar sei, hätte sie, die das Ende des sowjetischen Totalitarismus mit dem Tod Stalins ansetzte, wohl als erste bestritten. 32 D ennoch ist es sinnvoll, ihre A rgumentation aufzugreifen, w eil dabei einige Problem e besonders deutlich werden. Der Kern des totalitären Sy stems best eht nach Arendt in der Zerstörung des Individuums als urteils- und handlungsfähiges politisches Subjekt, in der „Ermordung der m oralischen Person“ 33. D abei kom mt dem Terror als nicht kalkulierbare und dam it potentiell jeden treffende Repression entscheidende Bedeutung zu: „Das Wesen totalitärer Herrschaft in dies em Sinne ist der Terror, der [...] in Übereinstimmung m it außerm enschlichen Prozessen und i hren nat ürlichen oder g eschichtlichen Gesetzen v ollzogen wird . Als so lcher ersetzt er den 28 Merkel: Warum brach das SED-Regime zusammen? (1991), S. 30; ebenso von Beyme: Ansätze zu einer Theorie (1994), S. 141. 29 Henke: Menschliche Spontaneität (1995), S. 305. 30 Ebenda; ebenso Ballestrem: Aporien der Totalitarismus-Theorie (1992). 31 Vgl. Ursula Ludz: Nachdenken über den Totalitarismus (1988), S. 127 f. 32 Vgl. Arendts Vorwort von 1966 zu: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1975), S. 25. In diesem Zusammenhang ist zu erinnern an die Unterscheidung zwischen „ modernen Diktaturen“, die ihre Gegner unterdrüc ken, und „ totalitärer Herrschaft“, unter der Menschen verfolgt werden, „ die selbst vom Standpunkt der Partei an der Macht aus gesehen ‚unschuldig‘ waren“, bei Arendt: Die persönliche Verantwortung unter der Diktatur (1991). 33 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1975), S. 226.

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Zaun des Gesetzes, in dessen Umhegung Menschen in Freiheit sich bewegen können, durch ein eisernes Band, das di e Menschen so stabilisiert, daß jede freie, unvorhersehbare Handlung ausgeschlossen wird.“ 34

Hat sich ein solches Regim e durchgesetzt, so könne es „nicht durch eine Revolution“ gestürzt werden, sondern nur durch einen Staatsstreich oder infolge einer m ilitärischen Niederlage. 35 Es ist ein Konzept, in dem Herrschaft, ist die totalitäre Bewegung erst einmal an ihr Ziel gelangt, gleichsam erstarrt. Zum Modell des Sy stems wird das Konzentrationslager. 36 Was Angehörige von Sicherheitsorganen betrifft, die gemäß der Regel „Du sollst töten!“ – nach ihren eigenen Begriffen individuell unschuldige Menschen – erzogen worden sind, so würden sie angesichts einer Bedrohung ihrer Macht schwerlich irgendwelche Skrupel an den Tag legen. Das ist evident. Im Falle der SS und Teilen der Wehrmacht in der letzten Kriegsphase läßt sich das am historischen Beispiel studieren. 37 Daß das Verhalten der M fS-Angehörigen im Herbst 1989 oder auch der Mitarbeiter des tschechoslow akischen oder ungarischen Geheimdienstes andersartig war, kann als in groben Zügen bekannt vorausgesetzt w erden. D ie vergleichende Perspektive, die zu den Vorzügen des Totalitarism usansatzes gehört, lenkt hier den Blick auf kraß unterschiedliches Verhalten. Diese Differenz bedarf einer Erklärung. Wichtiger für die Popularisierung des Totalitarism usbegriffs als die Arendtsche Theorie w aren die A usführungen von C. J. Friedrich über das „totalitäre Sy ndrom“ m it den seither zum Allgem einwissen gehörenden sechs Faktoren totalitärer Herrschaft: Id eologie, Ein-Parteien-Herrschaft, terroristische Geheimpolizei, Monopol der Kom munikationsmittel, Waffenmonopol und zentral gelenkte Wirtschaft. 38 Auf einzelne Faktoren und ihre Relevanz für eine Phänomenologie des Herrschaftssystems in der DDR wird anschließend einzugehen sein. A n dieser Stelle sollen nur zw ei A spekte erwähnt werden: Friedrich hat im Anschluß an Arendt den „Terror“, im Unterschied zu der in den m eisten nichtdemokratischen Regimen anzutreffenden Unterdrückung politischer Gegner, dadurch definiert, daß er gegen einen „ willkürlich ausgew ählten Teil der Bevölkerung“ gerichtet ist. Unter diese Begriffsbestim mung fällt also nicht die Repression gegen Personen, die von Rechten w ie Meinungs- oder Organisationsfreiheit Gebrauch machen, deren Realisierung etw a die kom munistischen Regim e in Osteuropa einigermaßen zutreffend als tödlich für den eigenen Machterhalt betrachtet 34 35 36 37

Ebenda, S. 245. Vgl. Arendt: Die persönliche Verantwortung unter der Diktatur (1991), S. 40. Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1975), S. 210–236. Vgl. Henke: Die amerikanische Bese tzung Deutschlands (1995), S. 808–812, 844–861; Müller, Ueberschär u. Wette: Wer zurückwe icht, wird erschossen! (1985); Müller u. Ueberschär: Kriegsende 1945 (1994). 38 Friedrich: Totalitäre Diktatur (1957); zusammenfassend Friedrich: Das Wesen totalitärer Herrschaft (1966).

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haben: Sie richtet sich gegen einen realen G egner, nicht gegen einen ideologisch konstruierten „objektiven Feind“. In den sechziger Jahren hat C. J. Friedrich unter dem Eindruck der Entwicklung im Sowjetblock die Bestimmung des Terrors als ein konstitutives Elem ent des Totalitarism us zurückgenommen. 39 Das ist ein methodisches Problem. Eine solche Modifikation bei unveränderter Term inologie führt dazu, daß sich damit bis heute hinter dem gleichen Wort zw ei unterschiedliche Definitionen verbergen: eine Definition, die versucht, den neuartigen, gegen die eigenen Bürger gerichteten Staatsterrorismus des NS-Regimes und der stalinistischen Diktatur auf einen gem einsamen Begriff zu bringen, und eine zweite Definition, in der dieser Terrorismus zu einem akzidentiellen Phänom en w ird. 40 Zum indest müßte man deshalb explizit und konsequent zwischen einem „terroristischen“ und einem „ nichtterroristischen Totalitarism us“ unterscheiden. 41 Damit würde auch der Nebeneffekt vermieden, daß nämlich, um die begriffliche Unschärfe zu kom pensieren, jede Form politisch motivierter, staatlicher Repression als „Terror“ bezeichnet wird. 42 Wenn die kurzzeitige Inhaftierung politischer Gegner oder ihre geheim polizeilich gesteuerte Verfolgung mit Methoden, die man in dem okratischen Staaten als „ mobbing“ bezeichnet, und der Mord an den europäischen Juden dem gleichen Terminus subsumiert w erden, dann w ird der Begriff bis zur Inhaltsleere ausgeweitet und trägt zum Verständnis spezifischer Regime nichts mehr bei. Friedrich kam durch seine „ gesamte Analy se des Totalitarism us“ zu der „Schlußfolgerung, daß eine Revolution gegen ein totalitäres Regim e kaum Aussicht auf Erfolg hat“. 43 Daß es im sowjetischen Herrschaftsbereich anders gekommen ist, hängt mit V eränderungen in der Zeit nach Stalins Tod zusammen, die Richard Löwenthal, selbst ein Vertreter dieses Theorieansatzes, beschrieben hat: „Es blieb, was schon i n Lenins Zeiten geschaffen wurde und al le Phasen des Sowjetregimes überl ebt hat te – der Ei nparteistaat. Doch ei n Einparteistaat, der nicht m ehr der Verwi rklichung des Gl aubens an di e Ut opie durch wi ederkehrende R evolutionen von oben nachja gt, i st ni cht m ehr di e besondere Art von Diktatur, die um ihrer Einzigartigkeit willen als ‚totalitär‘ bezeichnet 39 Vgl. Friedrich: Totalitarianism: Recent Trends (1969). 40 Das wird überzeugend dargelegt von Lothar Fr itze: Unschärfen des Totalitarismusbegriffs (1995). 41 Diese Unterscheidung knüpft an den Begriff de r „terroristisch-totalitären Diktatur“ bei Vetter: Terroristische Diktaturen im zwanzigsten Jahrhundert (1996), S. 7–15. 42 So kann man die „ Zersetzungsmaßnahmen“ des M fS nur in einem metaphorischen Sinn als „stille Form des Terrors“ bezeichnen, weil ihnen ein wesentliches Merkmal fehlt: der exemplarische Einschüchterungseffekt „ auf eine Mehrzahl anderer, die vom Opfer nicht eindeutig zu unterscheiden sind“. So die Definition bei Niethammer: Die SED und „ ihre“ Menschen (1997), S. 333, der allerdings dennoch, m. E. in sich widersprüchlich, diese Methoden dem „Terror“ subsumiert. 43 Friedrich: Totalitäre Diktatur (1957), S. 264.

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werden muß: Er ist eine Parteidiktatur, die ihre furchterregende Einzigartigkeit verloren hat – dank Chruschtschow und dank der Gesetze des geschichtlichen Zeitablaufs.“ 44

Die verschiedenen V ersuche, diese abgeschw ächte Form der Einparteiendiktatur doch noch im Rahmen einer Totalitarismustheorie konzeptionell zu fassen, sollen m it zwei Ausnahm en nicht weiter erörtert werden. Die am besten durchgearbeitete und empirisch abgestützte Sy stematik haben vor wenigen Jahren Juan Linz und A lfred Stepan vorgelegt. 45 Ihr Ausgangspunkt ist, daß sich die H errschaftstechniken, etw a in den osteuropäischen Regimen, in vielerlei H insicht an die in autoritären Regim en in anderen Weltregionen angeglichen haben, es aber doch so gravierende D ifferenzen gibt, daß die Subsum tion unter den gleichen Regimetypus unbefriedigend ist. Neben den bekannten Kategorien dem okratische, totalitäre und autoritäre Regime haben sie deshalb einen zusätzlichen Regim etypus eingeführt: das „post-totalitäre Regime“. 46 Der Begriff ist von V áclav Havel entlehnt 47 und hat nicht nur deshalb eine gew isse Nähe zu der osteuropäischen Totalitarismusdiskussion vor dem Umbruch, auf die anschließend einzugehen sein wird. Die D ifferenzen zw ischen den verschiedenen Regim en w erden in vier Dimensionen analysiert: Führerschaft (leadership), die je nachdem, wie unbeschränkt sich der Wille der Führung geltend zu m achen vermag, Repression als Subdim ension einschließt; Ideol ogie; gesellschaftlicher und politischer Pluralismus; und die Mobilisierung der Bevölkerung. 48 In allen diesen Dimensionen unterscheide sich der Post-Totalitarism us von autoritären Regimen, aber auch von einem idealty pisch verstandenen Totalitarismus. Es handle sich in doppelter H insicht um ein Ü bergangsregime: Es ist hervorgegangen aus einem totalitären Regime, von dem es immer noch geprägt ist, und befindet sich im Übergang zur Demokratie. 49 Je nachdem , wieweit dieser Prozeß vonstatten gegangen ist, w erden m it Blick auf die osteuropäischen Staaten in den achtziger Jahren drei Untertypen unterschieden, die zugleich die spezifische Form des Übergangs erklären sollen: ob er ausgehandelt wurde (Ungarn und als einziges „ autoritäres Regime“ in Osteuropa: Polen), von oben kontrolliert war (Bulgarien) oder durch einen plötzlichen 44 Löwenthal: Von der totalitären Dynamik des Sowjetstaates zu seinen nachtotalitären Konflikten (1987), S. 25 f. 45 Linz u. Stepan: Problems of Democratic Tran sition (1996). Sie stützen sich auf eine ganze Reihe von Vorarbeiten, von denen nur erwähnt seien: Linz: Totalitarian and Authoritarian Regimes (1975); ders.: Typen politischer Regime (1992). 46 Sie entwickeln noch einen fünften Typus, das „ sultanistische Regime“– ihm wird Rumänien unter Ceauescu zugerechnet –, das hier außerhalb der Betrachtung bleibt. 47 Havel spricht von einem „ post-totalitären System“; Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben (1989), S. 13 u. passim. 48 Vgl. Linz u. Stepan: Problems of Democratic Transition (1996), S. 44. 49 Vgl. ebenda, S. 41–43.

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Zusammenbruch des Regim es erfolgte (Tschechoslow akei). Unterschieden wird zwischen: frühem Post-Totalitarismus, in dem die Führung bestimmten Einschränkungen unterworfen war (Bulgarien); erstarrtem Post-Totalitarismus, in dem einzelne Kritiker des Regim es m ehr oder weniger geduldet, ihre Aktivitäten zumindest nicht rigoros unterbunden wurden (Tschechos lowakei); und reifem Post-Totalitarismus, in dem es zusätzlich zu institut ionellem Pluralismus kam und die Entstehung einer „ zweiten Kultur“ möglich war (Ungarn). 50 Linz und Stepan haben in ihrer empirischen Untersuchung des U mbruchs im sow jetischen H egemonialbereich die D DR ausgespart wegen der aty pischen Form des Ü bergangs zu einem konsolidierten demokratischen Staat: durch Beitritt. 51 Welchem Untertypus sie die DDR zuordnen würden, ist nicht ganz klar. Am ehesten dürfte die Bezeichnung „ erstarrter Post-Totalitarismus“ treffen. 52 Die Begriffsbestimmung birgt ein m ethodisches Problem : Der Totalitarismus wird von Linz und Stepan als Idealtypus bezeichnet, 53 das heißt – mit Max Weber – als ein G edankenbild, das nicht m it der Wirklichkeit verwechselt werden sollte und das dem Historiker die Arbeit nicht abnim mt. 54 In dem Begriff des Post-Totalitarism us aber ist enthalten, daß der ihm vorausgegangene „Totalitarismus“ nicht nur ein Erkenntnisinstrum ent des Wissenschaftlers ist, sondern prägende Wirklichkeit gewesen sei, es sich also um einen Realty pus handeln w ürde. D iese theoretische Unterscheidung hat praktische Bedeutung: So w ar in der D DR der fünfziger Jahre unzw eifelhaft der Macht- und Steuerungsansp ruch der U lbricht-Führung em inent ausgeprägt. Er wurde mit partieller Massenm obilisierung und offener Gewalt geltend gem acht. Aber das Regim e verfügte nur über einen unqualifizierten und dam it ineffizienten Machtapparat (das galt nicht zuletzt für die Staatssicherheit 55); es gab einen nicht unbedeutenden privatwirtschaftlichen Sektor und verschiedene m ehr oder weniger resistente Sozialm ilieus. 56 Und schließlich w ar die G renze noch offen. D ie D DR w ar dam als eine brutale Einparteiendiktatur, aber in den Dim ensionen gesellschaftlicher und wirt50 Vgl. ebenda, S. 41 f. 51 Ebenda, S. XVI, Anm. 9. 52 Ebenda, S. 47. An anderer Stelle bezeichnen sie die DDR als „frühen Post-Totalitarismus“ (S. 295, Anm. 4). 53 Ebenda, S. 40. 54 Weber beschreibt das Verhältnis von Idealtypus und Realität in seiner Wissenschaftslehre: Der Idealtypus „ ist ein Gedankenbild, welche s nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ‚eigentliche‘ Wirklichkeit ist, welches noch vi el weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Be standteile ihres empirischen Gehalts gemessen, mit dem sie verglichen wird.“ Weber: Wissenschaftslehre (1973), S. 194. 55 Vgl. Gieseke: Das Ministerium für Staatssicherheit (1998 b), S. 12 f. u. 18 f. 56 Vgl. Jessen: Die Gesellschaft im Staatssozialismus (1995); Bessel u. Jessen (Hrsg.): Die Grenzen der Diktatur (1996) und die Beiträge zur Industriearbeiterschaft, zum Bildungsbürgertum, zu den Professoren und zur Kirche in: Kaelble, Kocka u. Zwahr (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR (1994).

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schaftlicher Pluralismus und in gewisser Hinsicht auch hinsichtlich der Führerschaft vom Idealtypus eines durchstrukturierten totalitären Sy stems weit entfernt. 57 Zu fragen wäre, inwieweit nicht auch die diesen Differenzen zugrunde liegenden Umstände prägend für die Folgezeit waren. 58 Die Charakterisierung der Tschechoslow akei als „erstarrter Post-Totalitarismus“ entlang der zuvor genannten vier D imensionen – Führerschaft, Ideologie, Pluralismus und Mobilisierung – soll nun verglichen werden m it der Situation in der DDR in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. 59 Eine totalitäre Führung ist idealty pisch dadurch bestim mt, daß sich um eine charismatische, fast gottähnliche Führergestalt eine Schar glühender Anhänger schart, die kein höheres Ziel kennen, als seinen Willen rücksichtslos in die Tat umzusetzen. Von diesem Bild w ar d ie Führung d er tschechoslowakischen Kom munistischen Partei unter Milos Jakes weit entfernt. Jeder wußte, daß sie ihre Positionen nicht einer Mission, sondern sowjetischen Bajonetten verdankte. Im Zuge der „ Normalisierung“ hatte sich eine Führungsmannschaft m it banalem und leicht durchschaubarem Zy nismus herausgebildet, die ängstlich an den erstarrten Machtstrukturen festhielt. Nicht gläubige Hingabe, sondern Verachtung dürfte das dom inante Gefühl in der Bevölkerung gewesen sein. Um das Bild zu vervollständigen, waren im Oktober 1988 auch noch die letzten Politiker entfernt worden, die Reform sympathien hatten erkennen lassen, alle n voran Ministerpräsident Lubom ir Strougal. 60 Da sie sich nicht weniger deutlich als die SED-Führung von der sowjetischen Perestroika distanzierten, entfiel selbst „ Moskaus“ Willen als letzter Grund für die Rechtfertigung ihrer Machtposition. 61 Was blieb, war 57 Weil er fast nur den A nspruch sieht, die komplexe Realität aber zu sehr vereinfacht, scheint mir auch die Argumentation von Eckhard Jesse, der sich auf eine frühere Arbeit von J. Linz bezieht, hinsichtlich der Frühphase unzutreffend; Jesse: War die DDR totalitär? (1994). 58 Sonja Süß hat die relativ starke Resistenz eines solchen Milieus für die Mediziner gezeigt, trotz der Heranziehung einer „sozialistischen medizinischen Intelligenz“ seit den sechziger Jahren; Sonja Süß: Politisch mißbraucht? (1998). 59 Zur Systematik und zur empirischen Beschreibung d er T schechoslowakei v gl. L inz u . Stepan: Problems of Democratic Transition (1996), S. 44 f., 316–332. 60 Vgl. Horský: Zu den jüngsten Kaderbewegungen in Prag (1989). 61 Für die Distanzierung von der Politik der KPdS U nur ein Beispiel. Alois Indra, Mitglied des Präsidiums des ZK der KPTsch und Vorsitzender der Föderativen Versammlung der SSR, veröffentlichte im März 1988 einen Artikel im Parteiorgan Rude Pravo, der vom Neuen Deutschland prompt nachgedruckt wurde. Darin heißt es: „ Wir schätzen die inspirierende Rolle der KPdSU hoch [ ...] Es handelt sich jedoch nicht um irgendein mechanisches Nachahmen oder ein automatisches Übernehmen fertiger Rezepte, sondern um ein überaus schöpferisches Herangehen an das, was sich bei unseren Freunden tut. [...] Die nationalen Besonderheiten zu respektieren heißt insbesondere, aus der eigenen Geschichte zu lernen [...] Und deshalb unterstreichen wir die Gültigkeit der ‚Lehren aus der krisenhaften Entwicklung in Partei und Gesellschaft nach dem XIII. Parteitag der KPTsch‘ [Ostberlin 1971, das ideologische Grundsatzdokument der „ Normalisierer“]. Es handelt sich um ein Dokument, dessen Bedeutung im Laufe der Zeit noch wächst.“ Alois Indra: Die Umgestaltung und die Lehren aus der krisenha ften Entwicklung, in: Neues Deutschland 8.3.1988.

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ein gew isses Beharrungsverm ögen. D ie A nhängerschaft dieser Führungscrew beschreiben Linz und Stepan w ohl zu Recht als „rein karrieristischpost-totalitär“. 62 Die Repression in der Tschechoslowakei war hart. Sie w ar nicht mehr so brutal w ie zu Zeiten von Stalin und K lement Gottwald, aber auch in den siebziger und selbst noch in den achtziger Jahren w aren mehrjährige Gefängnisstrafen, die tatsächlich verbüßt werden mußten, gegen Oppositionelle relativ häufig. 63 Für bekannte Aktivisten der Bürgerrechtsbew egung wie Petr Uhl, Václav Benda oder Jaroslav Sabata w ar ihr Renommee kein effektiver Schutz. 64 Václav H avel, der zum G edenken an den 20. Jahrestag der Selbstverbrennung von Jan Palach auf dem Wenzelsplatz einen Blum enstrauß niedergelegt hatte, w urde deshalb noch im Februar 1989 zu neun Monaten verschärfter Haft verurteilt. 65 Nun zur DDR unter der D imension Führerschaft. D ie SED -Spitze w ar von totalitärem Führertum ähnlich weit entfernt wie ihre tschechoslowakischen Genossen. Es war Honecker schon in jüngeren Jahren nicht gegeben gewesen, ein charismatischer Führer zu sein. Nun war er ein alter Mann mit hoher Greisenstim me, dessen jeweiliger Gesundheitszustand weit größeres Interesse weckte als seine langen Reden. Die exekutive Gewalt war nicht unbegrenzt einsetzbar, sondern unter lag – vor allem infolge des KSZEProzesses und wachsender wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Westen – einschneidenden Restriktionen. Das wird am deutlichsten daran, daß auch die politisch motivierte Repression gegen die am stärksten verfolgte Gruppe, die „ hartnäckigen“ Ausreisewilligen, die ihrem Anliegen öffentlich Ausdruck verliehen, in den achtziger Jahren vorhersehbar war und von vielen einkalkuliert wurde: Festnahme, Verurteilung, mehrmonatige Haft, Freikauf. Das M fS als Parteigeheim polizei war keiner rechtsstaatlichen Ordnung unterw orfen, aber es w ar in vielerlei H insicht gebunden und konnte keineswegs so agieren, wie es seinen Offizieren gerade einfiel, nicht zuletzt aus außenpolitischen Gründen. Für das Jahr 1989 werden dafür noch verschiedene Belege angeführt w erden. Unter den K adern des Sy stems gab es gewiß weitverbreiteten Karrierismus, aber ty pischer noch dürfte eine bürokratisch-fügsame Einstellung gewesen sein. Auch im Bereich der Ideologie hatten sich bedeutende Veränderungen abgespielt, obwohl ein Kernelem ent weiterhin ein ganzheitliches, harmonistisches Gesellschaftsbild war. Verlorengegangen waren das m issionarische Sendungsbewußtsein und die utopische Zielsetzung als Movens poli62 Linz u. Stepan: Problems of Democratic Transition (1996), S. 320. 63 Vgl. Amnesty International: Czechoslova kia (Briefing Paper No. 9), Nottingham 1977; Hoensch: Geschichte der Tschechoslowakei (1992), S. 189–195; Jiri Lederer: Vorwort zu Kanturkova: Verbotene Bürger (1982), S. 7–18, hier 10 f. 64 Vgl. Kanturkova: Verbotene Bürger (1982). 65 Vgl. Die Zeit 24.2.1989, S. 10, und V. Havels Schlußwort vor Gericht, in: Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben (1989), S. 6–8.

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tischen H andelns. Mit der K onstruktion des „real existierenden Sozialismus“ wurden die bestehenden Verhältnisse als der Gipfel des Fortschritts glorifiziert. 66 In der Tschechoslow akei w ar der konservative Gehalt dieses Begriffes besonders deutlich, weil er dort doppelt antiutopisch war: nicht nur Abkehr von kom munistischen Zukunftsversprechen, sondern sehr viel stärker noch gegen die reform sozialistischen H offnungen gerichtet, die dem „Prager Frühling“ seine Dynamik verliehen hatten. Die Bedeutung der Ideologie für die Steuerung des D enkens und H andelns der Individuen w urde, außerhalb der O ffizialsprache in den Machtapparaten, zunehm end geringer. Ein hermetisch geschlossenes, ideologisches Weltbild war dam it im Zeitalter grenzüberschreitender Massenm edien nicht m ehr zu erzwingen. Allerdings ist anzunehmen, daß in der DDR wegen der identitätsstiftenden Abgrenzung zur Bundesrepublik die Ideologie für die Angehörigen der Apparate noch eine bedeutendere Rolle spielte als in der Tschechoslowakei. Parallel zum V erlust des dy namischen Mom ents in der Ideologie sank auch das Mobilisierungsniveau. Noch im mer gab es fast ausschließlich die von der Partei kontrollierten Massenorganisationen. Wenigstens einer von ihnen, außer dem Gewerkschaftsbund (FDGB), anzugehören war zwar nicht formell, aber faktisch Pflicht. Doch es gab keinen Enthusiasm us mehr. Daß die zweitgrößte Massenorganisation in der DDR die Gesellschaft für DeutschSowjetische Freundschaft (DSF) mit 6,4 Millionen Mitgliedern war, brachte das deutlich zum Ausdruck: Nicht weitverbreitete Liebe zum „Vaterland der Werktätigen“ schlug sich in dieser Zahl nieder, sondern der U mstand, daß sich die lästige Pflicht zu gesellschaftlichem Engagem ent in der DSF m it dem geringsten Aufwand absolvieren ließ. D as logische Pendant zur Mobilisierung möglichst vieler Bürger in p arteistaatlich gesteuerten Massenorganisationen bildet im Idealtypus des Totalitarismus die Stigmatisierung des Privatlebens. 67 Für die Tschechoslow akei w age ich in dieser Beziehung kein Urteil, aber in der DDR waren die berühmten „Nischen“ 68 ein Dementi auf die Realisierung dieses A nspruchs, gerade weil sie eine Form des Rückzugs vor dem Parteistaat bildeten. 69 Zum Pluralismus als vierter Dim ension: Daß er auf der Ebene des politischen Systems in beiden Staaten inexistent w ar, bedarf keiner w eiteren Erläuterung. Wie aber war es auf gesellschaftlicher Ebene? Es gab in der Tschechoslowakei die „ Charta 77“ 70 (aus ihr hervorgegangen und weniger bekannt zudem den „ Ausschuß zur V erteidigung zu Unrecht Verfolgter“). 66 Vgl. Meuschel: Parteiherrschaft (1992), S. 222–232; Sochor: Beitrag zur Analyse der konservativen Elemente in der Ideologie des „Realen Sozialismus“ (1984). 67 Linz u. Stepan: Problems of Democratic Transition (1996), S. 44. 68 Der Begriff „ Nischengesellschaft“ wurde geprägt von Günter Gaus: Texte zur deutschen Frage (1981), S. 27 f. 69 Vgl. Jesse: War die DDR totalitär? (1994), S. 22. 70 Vgl. Riese (Hrsg.): Bürgerinitiative für die Menschenrechte (1977).

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Die Charta wird zu Recht als Beleg für die Existenz von A nsätzen eines gesellschaftlichen Pluralismus in der Tschechoslowakei genannt. 71 War die DDR ganz anders? Es gab gew iß erhebliche U nterschiede: In Prag handelte es sich um eine O rganisation, die zum Focus der Dissidenz wurde. Sie fand prom inente Sprecher, die durch ihre häufige Inhaftierung noch populärer w urden. In der D DR war die Bürgerrechtsbew egung in eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen zersplittert, deren politisch-theoretische und taktische Differenzen (von der Staatssicherheit geschürt) darin ihren organisatorischen Ausdruck fanden, wä hrend in der Charta solche Differenzen intern ausgetragen wurden. Es gab unm ittelbar vor 1989 keine landesweit prom inenten D issidenten: Robert H avemann w ar gestorben, Wolf Biermann im Westen. A ndere reisten aus oder w urden abgeschoben, noch ehe sie sich zu Sprechern hätten profilieren können. Aber es gab auch eine beträchtliche Gemeinsamkeit zwischen der Opposition in beiden Staaten: Im Sommer 1989 fertigte die tschechoslow akische Staatssicherheit eine Ü bersicht über die Opposition und kam zu dem Ergebnis, es gebe 60 Aktivisten, die dem „harten Kern“ zuzurechnen seien, und über 500 Mitglieder und Unterstützer. 72 Ihre Genossen vom MfS hatten schon im Frühjahr 1989 für die DDR eine ähnliche Übersicht für di e DDR zusam mengestellt. Ihr Ergebnis: Ebenfalls 60 Personen gehörten zum „harten Kern“, zudem gebe es 600 Mitglieder „ feindlich-negativer“ G ruppen. 73 Natürlich hatte die Tschechoslowakei weniger Einwohner, aber eine qualitative Differenz war das nicht. In der DDR spielte zudem eine weitere Institution eine bedeutende Rolle für aufkeim enden gesellschaftlichen Pluralism us: die evangelische Kirche als Schutzdach für dissidente A nsätze. In der Tschechoslowakei hat sie keine vergleichbare Rolle gehabt. D ie Repression gegen die K irche w ar dort auch noch in den achtziger Jahren härter. Es hat nie eine A rt „historischen Kompromiß“ wie 1978 zwischen dem Bund der Evangelischen K irchen und der SED-Führung gegeben, den die Machthaber bis zum Ende nicht offen aufzukündigen wagten. Und schließlich w äre für die D DR auch zu fragen, ob sich in den Ortsgruppen der Blockparteien, unterhalb der Willfährigkeit ihrer jeweiligen Führungen, nicht auch außerordentlich vorsichtiges, gleich wieder unterw ürfiges, aber dennoch abw eichendes D enken verbarg. Beispiele dafür werden noch genannt werden. Noch ein anderer, wesentlicher Unterschied, der von Linz und Stepan nicht erwähnt w ird, ist zu benennen: In der Tschechoslow akei rührte sich früher als in der DDR öffentlicher Widerspruch, der das Ghetto der Dissidenz sprengte. Die Verhaftung von Václav Havel löste eine breite Protestbewegung aus. Im Januar 1989 sandten etw a tausend Künstler einen Offenen Brief an Ministerpräsident Adamec : 71 Linz u. Stepan: Problems of Democratic Transition (1996), S. 321. 72 Vgl. ebenda. 73 Auf diese Übersicht wird im 1. Kapitel ausführlicher zurückzukommen sein.

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„Am 16. Januar 1989 wurden Václ av Ha vel und andere Tei lnehmer an der Gedenkveranstaltung für Jan Pal ach au f dem W enzelsplatz festgenommen. Wir, die wir Václav Havel als einen hervorragenden Bühnenschriftsteller und als einen ehrenhaften Mann kennen, sind verstört und beleidigt durch die verlogene Art, in der über dieses Ereignis in den Massenmedien berichtet wurde. Als Kulturarbeiter sind wir davon überzeugt , daß di e existierenden sozialen Probleme durch Verleumdung, Festnahmen und Gewalt weder versteckt noch gelöst werden können. W ir fordern de shalb, daß di e t schechoslowakischen Behörden einen Dialog [mit der Gesel lschaft] akzeptieren, dessen Nützlichkeit sie selbst betonen. Eine Vorbedingung für ei nen solchen Dialog ist natürlich die Freilassung von Václav Havel und all derjenigen, die gesetzwidrig festgehalten werden, und eine wahrheitsgetreue Inform ation der Öffentlichkeit.“ 74

Das waren Forderungen, die – obwohl auch vom PEN-Zentrum der DDR im März 1989 (auch m it der Stim me des Oberzensors Klaus Höpcke) gegen Havels Verurteilung protestiert wurde 75 – vom Inhalt und von der Tonlage her in der DDR erst ein gutes halbes Jahr später erhoben wurden. 76 Das deutet darauf hin, daß in der Tschechoslowakei dam als schon die Frontlinien schärfer waren und vor allem die bisher fügsamen Bürger nicht m ehr bereit waren, das Regime schweigend hinzunehmen. In der D DR bedurfte es dazu eines anderen Impulses, der A usreisebewegung. D arauf w ird einzugehen sein. Eine qualitative Differenz m acht das nicht aus, aber es erklärt vielleicht, warum das Regime in der SSR, als es endlich soweit war, schneller zusammengebrochen ist, w ährend in der D DR der Ü bergang über mehrere Monate ausgefochten und ausgehandelt wurde. Die Erklärung, die Linz und Stepan für die Form des Ü bergangs in der DDR skizzieren, scheint m ir dagegen nicht ausreichend. Sie argumentieren, die mittleren Kader im Repressionsapparat hätten den Glauben an das Regime verloren, und wegen dieses Legitim itätsverlustes seien sie nicht bereit gewesen, gegen die dem okratische Revolution gewaltsam loszuschlagen. 77 Der Sachverhalt selbst ist grundsätzlich unstrittig, wird aber anhand von authentischen Unterlagen aus der dam aligen Zeit zu überprüfen sein, 78 denn nur so ist festzustellen, ob es sich bei diesen A ussagen nicht um die Rück74 Zitiert nach Radio Free Europe Research, Czechoslovak Situation Report/3, 16.2.1989, S. 11. 75 Vgl. Kleinschmidt: Zivilcourage und Konzeptionslosigkeit (1989), S. 508 f.; Walther: Sicherungsbereich Literatur (1996), S. 807 f. 76 Als Reaktion darauf übernahm das Neue Deutschland vom 23.3.1989 einen Artikel aus der Rude Pravo mit dem Titel „ Wer ist V áclav Havel?“. Er sei, so w urde behauptet, das Kind eines Großkapitalisten und Nazi-Kollaborat eurs, der „ antikommunistisch“, „ antisozialistisch“ und „ staatsfeindlich“ wäre und die „ Ausschreitungen im Januar am Wenzelsplatz“ initiiert habe. 77 Vgl. Linz u. Stepan: Problems of Democratic Transition (1996), S. 47–49, 254, 322–325. 78 Die empirische Basis ihrer These bildet eine Befragung von 119 Mitgliedern von Einsatzleitungen durch Daniel V. Friedheim von der Yale University Anfang der neunziger Jahre.

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projektion einer inzwischen gesells chaftlich positiv honorierten Einstellung handelt. Zudem ist fraglich, ob der Entscheidungsspielraum dieser Kader so breit war, daß ihr Verhalten allein den Gang der Ereignisse erklärt. Osteuropäische Dissidenten wider die totalitäre Anmaßung In der osteuropäischen Bürgerrechtsbew egung der siebziger und achtziger Jahre hat der Totalitarism usbegriff eine eigene Geschichte. Vorher war der Terminus dort ungebräuchlich gewesen, nun fand er große V erbreitung. 79 Der realgeschichtliche Hintergrund war die Intervention in der Tschechoslowakei, die im Jahre 1968 die G renzen von Reformversuchen im sowjetischen Machtbereich gezeigt hatte. 80 Hinzu kam die offenkundige Erstarrung der Regime, die in der Formel vom „real existierenden Sozialism us“ ihren ideologischen Ausdruck gefunden hatte. Zugleich aber w aren erste Anfänge einer Emanzipation der G esellschaft vom Parteistaat zu beobachten. Agnes Heller hat das für Ungarn, wo dieser Prozeß am weitesten ging, Mitte der achtziger Jahre mit den Worten beschrieben: „ In Ungarn wurde in den letzten zwanzig Jahren die Gesellschaft allm ählich enttotalisiert. Die Herrschaft aber blieb totalitär.“ 81 Es entstanden vor allem in U ngarn und Polen eine Gegenkultur, 82 eine zweite Ö konomie und jene N etzwerke diskursiver Freundeskreise, die Gy örgy Konrad in der „ Antipolitik“ beschrieben hat. 83 Der Parteistaat und die desillusionierte Intelligenz standen sich in unterschiedlich starken Lagern gegenüber. Es w ar eine ausweglos anmutende Situation, da sowohl eine dem okratische Öffnung „ von oben“ (Tschechoslowakei 1968) wie „von unten“ (Polen 1980/81) zum Scheitern verurteilt schien, weil die Sowjetunion sie nicht dulden würde. Der katholische Intellektuelle V áclav Benda, Sprecher der Charta 77, hat die Lage im Jahr 1988 beschrieben: „Der Punkt ist, daß das totalitäre Regime einer m erkwürdigen Dialektik unterworfen ist: Au f der einen Seite ist sein Anspruch total, das heißt, es leu gnet absolut die Freiheit und versucht systematisch, jeden Bereich, wo Freiheit existiert, zu beseitigen. Auf der anderen Seite h at es sich praktisch als u nfähig erwiesen, dieses Ziel zu realisiere n – das heißt die permanente Verhinderung

79 Vgl. Rupnik: Der Totalitarismus aus der Sicht des Ostens (1984). 80 Vgl. Michnik: Polnischer Friede (1985) , S. 22–27; Mlynár: Fünfzehn Jahre nach dem „Prager Frühling“ (1983); Skála: SSR 1968 (1983); Vajda: Polen – Ungarn (1981). 81 Heller: Interview (1986), S. 114. 82 Vgl. das Schwerpunktheft „Autonome Kultur in Osteuropa“, Osteuropa-Info (Hamburg), 1985, H. 64; Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen (Hrsg.): Kultur im Umbruch (1992). 83 Konrad: Antipolitik (1985).

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der Schaffung von neuen Zentren der Freiheit. (Diejenigen, die an die heilige Vorsehung glauben, oder di e zumindest dem Reichtum des Lebens den Vorrang vor der Arm ut der Ideol ogie geben, betrachten diese Unfähigkeit als wesensbedingt und unheilbar.)“ 84

Eine Perspektive für die Auflösung dieser Blockade sah Benda nicht. D enn die „totalitäre Macht“ würde niemals auf ihr „Allerheiligstes“, die „führende Rolle der Partei“ , verzichten und die „ Zentren der Freiheit“ seien zu einer Revolution nicht fähig. Alles hinge von einer Veränderung der „ Weltsituation“ ab. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, mit dem Gebrauch des Term inus in der osteuropäischen Diskussion seien auch die Konzepte der dam aligen westlichen, politikwissenschaftlich orientierten Totalitarism ustheorie übernom men worden. Osteuropäische Dissidenten dachten aus einer anderen Perspektive: Ihr A usgangspunkt w ar nicht das Herrschaftssystem, sondern die Gesellschaft im Widerspruch zur Macht. 85 Es handelte sich – so Jacques Rupnik, ein ausgezeichneter Kenner dieser Debatte – nicht um ein „,wissenschaftliches‘ Konzept“, sondern um einen „ ,subjektiven‘ Begriff, der letztlich genau wie ‚D emokratie‘ oder ‚Freiheit‘ auf einem Werturteil beruht“ . 86 „Totalitär“ war in diesem sem antischen Kontext die pejorative Beschreibung der Anm aßungen der Gegenseite, m einte die „ institutionalisierte Lüge“ (Leszek K olakowski), als die die Ideologie der Herrschenden begriffen wurde. 87 Seine V erwendung im plizierte bereits die A bwehr der Zum utungen durch den Parteistaat. In diesem Sinne w ar der Begriff selbst ein D ementi eines „totalitären“ Charakters des Gesam tsystems im Sinne der westlichen D iskussion und drückte H offnung auf V eränderung aus. D er polnische Philosoph Kolakowski hatte das herrschende Regime in den fünfziger J ahren n och a ls „ institutionalisierten Marxismus“ angeprangert, der seiner kritischen P otenz beraubt sei. 88 Beide Male stand die Ideologie im Mittelpunkt, doch der sprachliche Wechsel vom „ Marxismus“ zur „ Lüge“ bedeutete nicht nur eine terminologische Verschiebung. Er brachte die Degeneration der Herrschenden zum Ausdruck, wie auch die Radikalisierung der Opposition. Die osteuropäischen D issidenten haben den Zerfall und die Erstarrung der offiziellen Ideologie beobachtet. Sie gingen davon aus, daß die Ideolo84 Benda, Simecka u. a.: Parallel Polis (1988), S. 219. 85 Vgl. Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben (1989), S. 59. 86 Rupnik: Der Totalitarismus aus der Sicht des Ostens (1984), S. 412. Mit der Einschränkung, daß inzwischen auch die westlichen To talitarismustheorien rezipiert werden, gilt das auch für die Zeit nach dem Umbruch; vgl. Schröder: Der „Stalinismus“ (1996). 87 Kolakowski: Totalitarianism and the virtue of lie (1983), zitiert nach Rupnik: Der Totalitarismus aus der Sicht des Ostens (1984), S. 398. 88 Kolakowski: Aktuelle und nichtaktuelle Begri ffe des Marxismus, in ders.: Der Mensch ohne Alternative (1960), S. 7–24.

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gie nurmehr Offizialsprache innerhalb des Apparates war. Außerhalb sei sie zum ideologischen Ritual gew orden, das durchschaut w erde. 89 Diese Diagnose läßt sich nicht ohne w eiteres auf die D DR übertragen: D ie H offnung auf eine V eränderung durch eine reform erische Wende in der Partei währte dort gerade in der Intelligenz länger als in den osteuropäischen Staaten. Der Antifaschismus als G ründungsmythos m it einem realen und deshalb wirksamen Hintergrund und die Abgrenzung auch der Opposition gegen den anderen deutschen Staat w aren retardierende Elem ente, 90 die selbst noch im Herbst 1989 eine Rolle spielen sollten. Andererseits gab es unter den Bürgerrechtlern Verbindungen zur Charta 77 in der Tschechoslow akei und zur polnischen Solidarno , zudem existierten indirekte V erbindungen über „Grüne“ aus der Bundesrepublik, so daß zum indest in diesem Milieu die dortigen Diskussionen rezipiert wurden. In manchen Überlegungen während der ersten Phase der Revolution m ag das als D enkmodell einer die Macht belagernden civil society eine Rolle gespielt haben. Die offizielle Ideologie sei schon seit Jahren als Ritual dechiffriert worden, w urde über andere osteuropäische Staaten gesagt. Auch ein Ritual ist nicht bedeutungslos, w eil es A npassung abverlangt, die, w enn sein Inhalt erkennbar hohl geworden ist, besonders dem ütigend ist. Was die D issidenten damals, vor der Revolution, nicht wissen konnten, war, in welchem Maße sie recht hatten: Wie sehr innerhalb des Machtgefüges die Ideologie noch das dom inante K ommunikationsmedium w ar, das es nicht erlaubte, sich über Sachverhalte zu verständigen, die für die Mächtigen von existentieller Bedeutung werden sollten. 91 D ieser G edanke läßt sich w eiterspinnen: D ie radikale Trennung zweier Diskursebene n, der form alisierten und realitätsfernen Offizialsprache und des lebendigen Alltagsgesprächs über tatsächliche Probleme, reproduzierte sich auch in jenen A ngehörigen des Apparats – und das war die Mehrheit –, die nicht so privilegiert waren, daß sie gänzlich in einer von gesellschaftlichen Widersprüchen abgeschirmten Scheinwelt leben konnten. Sie gehörten zwar ihrer Berufsrolle nach zum Apparat, waren aber auch Teil der Gesellschaft. D as Zw ie-Sprechen, das sie den Bürgern abverlangten, schlug nun auf sie selbst zurück. D as führte zu einer labilen politischen Situation, die nur noch m it Zwang und mittels der monopolistischen Verfügungsgewalt des Parteistaates über den Zugang zur m ateriellen Reproduktion aufrechtzuerhalten war. (Die hohe Anzahl oppositioneller Friedhofsgärtner in kirchlichen Diensten widerlegt diese Beobachtung 89 Vgl. Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben (1989), S. 18 f.; Mlynár: Entwicklungsmöglichkeiten der politischen Systeme im Ostblock (1984), S. 41 f.; Rupnik: Der Totalitarismus aus der Sicht des Ostens (1984), S. 407. 90 Vgl. Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft (1992). 91 Das war nicht einfach Verblendung, sondern „ die Ideologie [ist] die einzige der sowjetischen Bürokratie zugängliche Form, in der sie sich der Zusammenhänge zwischen ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungsprozessen bewußt werden kann“. Mlynár: Entwicklungsmöglichkeiten der politischen Systeme im Ostblock (1984), S. 42.

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nicht.) Wenn die Machtmittel aus welchen Gründen auch im mer versagten

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oder ihren Einschüchterungseffekt verloren, dann w ar die Macht gegenüber der Gesellschaft sprachlos, ihre Akteure hatten kaum m ehr Möglichkeit, sich selbst zu verständigen. Die Probe auf diese These kam im Herbst 1989. Wahrscheinlich hat kein osteuropäischer D issident in den achtziger Jahren die latent bereits vorhandene K rise des Sow jetsystems so genau diagnostiziert wie der frühere tschechisch e Reform kommunist Zdenek Mlynár. Er definierte die „totalitäre Macht“, ausgehend von der kybernetischen Theorie von Karl W. D eutsch, als einen „ Zustand, in dem die durch sie beherrschten Subjekte oder m indestens ihre entscheidende Mehrheit nur solche Rückkoppelungen zu ihrer U mgebung haben, w elche von der Macht überwiegend kontrolliert, das heißt in Um fang und Qualität bestim mt werden“, und d ie „Reproduktion der vorhandenen (totalitären) Machtstruktur“ zum „Hauptziel des gesam ten Prozesses des gesellschaftlichen Lebens“ geworden ist. 92 Das sei verbunden m it einem Verlust der Subsy steme an Fähigkeit zur Selbststeuerung und damit in der Wirtschaft notw endig auch mit Effizienzeinbußen. A nders als früher könnten sie nicht mehr kompensiert werden durch die V orteile zentralistischer Prioritätensetzung, sondern w ürden im G egenteil noch verstärkt durch externe Faktoren w ie die Erschöpfung der sow jetischen Rohstoffquellen und die Preisentwicklung auf dem Weltmarkt. Die notw endige K onsequenz sei, daß in absehbarer Zeit der „Mythos von der K risenimmunität dieser Sy steme“ zerstört werde, mit erheblichen Folgen für das gesellschaftliche Bewußtsein. 93 Zugleich wachse der Widerspruch zw ischen der K onsumorientierung der G esellschaft und der Mangelwirtschaft. 94 Die herrschende Macht werde sich deshalb wahrscheinlich zu einer „ technokratisch-bürokratischen Reform“, besonders des Wirtschaftsmechanismus m it erweitert en Kom petenzen für die Betriebe, durchringen. D ie G eheimpolizei, der „ Polizeiapparat“, werde ein solches Vorhaben unterstützen w egen seiner K enntnis über die tatsächliche Lage und um eine wirklich dem okratische Reform, die die totalitäre Machtstruktur selbst in Frage stellen würde, zu verm eiden. 95 Mlynár hat damit die ersten technokratischen Reform schritte unter Andropow und der ersten zwei Jahre unter G orbatschow recht genau prognostiziert. A llerdings vermutete er, daß die V eränderungen auf diesem N iveau stehenbleiben w ürden, w as eine Wiederholung der Reform versuche der sechziger Jahre bedeutet hätte. 96 In seiner Argumentation war aber mehr angelegt. Aus seinem Begriff der „totalitären Macht“ war Selbstaufgabe nicht zu deduzieren. Aber Mlynárs 92 93 94 95 96

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Hv. im Orig. Mlynár: Krisen und Krisenbewältigung (1983), S. 164 f. Ebenda, S. 169. Mlynár: Entwicklungsmöglichkeiten der politischen Systeme im Ostblock (1984), S. 34. Mlynár: Krisen und Krisenbewältigung (1983), S. 181 f. Zu den politischen Grenzen dieses Reformversuchs in der D DR vgl. R oesler: Zw ischen Plan und Markt (1990); im Ostblock generell: Brus: Funktionsprobleme der sozialistischen Wirtschaft (1971).

Erfahrungen in der Tschechoslowakei, in den Jahren vor Beginn des „Prager Frühlings“, ließen ihn verm uten, daß hinter der m onolithischen Fassade der Macht einiges in Bewegung sei: „Ohne daß irgendwelche Veränderungen institutioneller Art zu beobachten waren, begannen [in den Jahren von 1956 bis 1967] di e bestehenden Institutionen immer deutlicher auch als Ausdrucksmittel solcher sozialer Interessen zu dienen, von denen das Machtzentrum nichts sehen und hören wollte. Das galt für verschiedene Lebensbereiche von der Wirtschaft bis zur Kultur. Dieser v erdeckte Pro zeß, in d em bestimmte Institutionen allmählich begannen, soziale Int eressen auszudrücken, erfaßt e schließlich auch die herrschende Kommunistische Partei.“ 97

A.2

Modernisierungstheorie und DDR-Forschung

Die Modernisierungstheorie hat in der Forschung über kom munistische Regime seit den sechziger Jahren einen w ichtigen Platz eingenom men. Als Interpretationsrahmen hat sie die bis dahin vor allem in der Variante von C. J. Friedrich dom inierende Totalitarism ustheorie abgelöst. Das war ursprünglich, ehe sich die Fronten verhärteten, kein krasser G egensatz, sondern der V ersuch, unter dem Einfluß der amerikanischen sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, die auch auf die soviet studies ausstrahlte, 98 ein Konzept weiterzuentwickeln, das als unzureichend für das V erständnis aktueller Entw icklungprozesse in O steuropa em pfunden w urde. 99 In der bundesdeutschen DDR-Forschung wurden diese Überlegungen in den ersten Jahren eher im Sinne einer Ergänzung rezipiert denn als schroffe Alternative. 100 Ziel w ar, wie Hartmut Zimmermann schrieb, w eniger, „dem bisher üblichen Begriff des Totalitarism us“ einen anderen entgegenzusetzen, als vielmehr „ der Forschung eine neue Perspektive zu geben“ . 101 Der Au sbau des Herrschaftssy stems und der sozioökonom ischen Entwicklung sollte in einer „dynamischen Analyse der Totalität ‚Bolschewistische Gesells chaft‘“ 102 untersucht werden, um Tendenzen und Entwicklungsphasen herauszuarbei97 98 99 100

Mlynár: Entwicklungsmöglichkeiten der politischen Systeme im Ostblock (1984), S. 37 f. Vgl. den Überblick bei Glaeßner: Sozialistische Systeme (1982), S. 88–147. Vgl. Field (Hrsg.): Consequences (1976); Johnson (Hrsg.): Change (1970). Das ist schon an den Titeln der ersten einschlägigen Veröffentlichungen der beiden wichtigsten Vordenker dieser Umorientierung ablesbar: P. C. Ludz: Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär verfaßter Gesellschaften (1964); H. Zimmermann: Probleme der A nalyse bolschew istischer G esellschaftssysteme. Ein Diskussionsbeitrag zur Frage der Anwendbarkeit des Totalitarismusbegriffs (1961). Vgl. auch Ursula Ludz: Nachdenken über den Totalitarismus unter Anleitung von Hannah Arendt und Peter Christian Ludz (1988). 101 Zimmermann: Probleme der Analyse bolsche wistischer Gesellschaftssysteme (1961), S. 194. 102 Ebenda, S. 206.

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ten. N ur auf diesem m ethodischen Weg schien es m öglich, differenzierte Prognosen zum w eiteren V erlauf anzustellen. Wiew eit das tatsächlich gelungen ist, steht hier nicht zur Debatte. Die innere Stabilität der neuen Formation wurde gewiß überschätzt, die U numkehrbarkeit der stattgefundenen Veränderungen, w ie m an heute w eiß, fälschlich angenom men und der Zusammenbruch nicht vorausgesehen. Aber in der Wissenschaft können Irrtümer m anchmal fruchtbarer sein als die stete Wiederholung bekannter Wahrheiten. Die Irrtümer hingen freilich auch dam it zusam men, daß die Möglichkeiten, die in dem modernisierungstheoretischen Ansatz steckten, nicht konsequent ausgeschöpft wurden. So wie es bei den Totalitarism ustheoretikern eine Denkrichtung gibt, die unter Berufung auf die N atur des Menschen das Scheitern der kommunistischen Regime postuliert hat, findet sich eine solche G rundaussage auch in der klassischen Modernisierungstheorie. Als Bezugspunkt dient hier freilich kein anthropologisches Argument, sondern eine soziologische Kategorie. Es geht um institutionelle Entwicklungen, die, wenn sie einm al gefunden sind, eine solche Durchschlagskraft haben, daß sie sich tendenziell w eltweit entfalten: „Evolutionäre Universalien“ – w ie die Bürokratie, das Geld und der Markt – steigern die Anpassungsfähigkeit eines Systems an die Umwelt und damit seine Konkurrenzfähigkeit derart, daß Sy steme, die sich ihnen verweigern, zwangsläufig ins H intertreffen geraten. 103 Talcott Parsons, der Schöpfer des Begriffs, hat den U niversalien auch die „demokratische Assoziation“ zugerechnet als „ Vermittlung von Konsensus über die Ausübung von Macht und H errschaft durch ganz bestim mte Personen und Gruppen und ganz bestimmte, bindende Entscheidungen“. Er hat daraus geschlußfolgert, daß das kommunistische System „entweder Anpassungen in Richtung auf die Wahlrechtsdemokratie und ein pluralistisches Parteiensy stem m achen oder in weniger entwickelte und politisch weniger effektive Organisationsformen ‚regredieren‘ wird“. Eines aber sei klar: „ Langfristig wird ihre [der Kommunistischen Partei] Legitimität bestim mt untergraben, wenn die Parteiführung weiterhin nicht willens ist, dem Volk zu vertrauen, das sie erzogen hat. In unserem Zusammenhang aber heißt dem Volk vertrauen: ihm einen Teil der politischen Verantwortung anzuvertrauen.“ 104 Prognostiziert wurde kein Automatismus, sondern ein stetig w achsendes D ilemma, das allerdings schärfer war, als Parsons, ein großer Soziologe, aber kein Sowjetspezialist, angenommen hat: Die Spielräume, in denen sich die Partei anpassen konnte, ohne die Macht ganz zu verlieren, waren enger, als er unterstellt hat. Für solche elitistischen Parteien existiert die von ihm angedeutete Alternative nicht. Insofern hat er die Wahrscheinlichkeit ihres Untergangs

103 Vgl. Müller: Nachholende Modernisier ung? (1991), S. 262–267; Merkel: Struktur oder Akteur (1994), S. 305. 104 Parsons: Evolutionäre Universalien der Gesellschaft (1964), S. 70 f.

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beschrieben, im U nterschied zu dem vorgenannten Beispiel jedoch in dynamischer, prozeßhafter Form. Die funktionale D ifferenzierung der G esellschaft in Subsy steme w ie Recht, Markt, Wissenschaft usw. mit je eigenem Code und eigener Rationalität, die das Handeln der Akteure strukturieren und orientieren, als Grundzug der Moderne kollidiert in kom munistischen Sy stemen m it dem Anspruch der Partei, „ die gesamte gesellschaftliche Entwicklung in allen ihren Aspekten rational planen und steuern zu können.“ 105 Etwas banaler und auf das Machtinteresse zugeschnitten form uliert: Es geht darum, die Gesellschaft so umzuformen, daß sie dem zentralen Zugriff verfügbar wird, es gilt, „zuverlässige Kader“ zu fördern, Opponenten auszuschalten und die jew eilige „Parteilinie“ durchzusetzen. In diesem Zusam menhang w ird von „Entdifferenzierung“ gesprochen. Dieser Begriff beschreibt – ähnlich dem Epitheton „totalitär“ – die Tendenz eines Prozesses, dessen tatsächliches Ausmaß offenbleibt. Die radikalste Variante sind jene historischen Fälle, in denen die Partei den Versuch unternommen hat, sich selbst an Stelle der Subsy steme zu setzen: der „ Kriegskommunismus“ und die Frühphase der forcierten Industrialisierung in der Sowjetunion oder die chinesische K ulturrevolution. D ie Folgen w aren jedesmal desaströs und gefährdeten die Reproduktion des Sy stems selbst dort, wo sich die funktionale gesellschaftliche Differenzierung schon zuvor auf einem relativ niedrigen, gerade in der Landw irtschaft segm entären N iveau befunden hatte. Wären diese V ersuche erfolgreich gew esen, dann könnte man tatsächlich von einer „ entdifferenzierten“ G esellschaft sprechen, die dann allerdings keine „moderne“ Gesellschaft mehr wäre. Die Bezeichnung „Steinzeitkommunismus“ für das Regim e der Roten K hmer in Kambodscha trifft diesen Sachverhalt. So weit sind kommunistische Machthaber jedoch selten gegangen, aus Eigeninteresse und w eil ihr Ziel gerade eine radikalisierte Moderne war. 106 Der Kommunismus hat sich aus eigenen K räften als Herrschaftssystem nur in Ländern durchsetzen können, die an der Schwelle zur Moderne standen. 107 Er war selbst eine Modernisierungsideologie. 108 Wo er an die Macht kam, hat er sich in negativer Faszination auf die entwickelten kapitalistischen Länder bezogen und den A nspruch erhoben, deren Industrialisierungsniveau – dank Staat seigentums an den Produktionsm itteln, zentraler Planung und der Führung durch eine „wissenschaftlich“ gelei105 Meuschel: Nationalsozialismus und SED-Diktatur (1994), S. 1002. 106 Vgl. Meuschel: Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte (1993), S. 8 f. 107 Vgl. Senghaas: Sozialismus – eine Inte rpretation aus entwicklungsgeschichtlicher und entwicklungstheoretischer Perspektive (1982). 108 Sehr deutlich hat diesen Aspekt John Kautsky herausgearbeitet. Ihm ist da nicht mehr zu folgen, wo er die Spezifika des Kommunism us in einer allgemeinen Modernisierungsideologie auflöst und damit den für die Modernisierung fatalen Überschuß an Selbstreproduktion der Macht von Partei- und Staatsbür okratie ignoriert. Vgl. Kautsky: Communism and the Politics of Development (1968).

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tete Partei – überbieten zu können. Doch die A nnahme erwies sich bald als ideologische Schimäre, diese Rahm enbedingungen seien für die Entfaltung moderner Massenproduktion besonders günstig: D as Fließband etwa könne im anarchischen Kapitalism us gar nicht effizient genutzt werden, es wäre – wie in der G roßen Sowjet-Enzyklopädie aus dem Jahr 1938 behauptet 109 – der Prototyp sozialistischer Produktionsw eise. A ls diese Ideologie offenkundig gescheitert w ar, versuchte m an den Subsystemen mehr – oder meist weniger – Spielraum zu lassen, ohne das Machtm onopol der Partei zu gefährden. Dieser Versuch ist, wie m an an der aktuellen Situation in der Volksrepublik China sieht, noch keineswegs abgeschlossen. Präziser scheint mir deshalb, statt von Entdifferenzierung von einer durch die Parteiherrschaft überlagerten und blockierten D ifferenzierung zu sprechen. 110 Die Subsystem e einer m odernen Gesellschaft existierten durchaus, aber ihre Entfaltung w ar gehemmt, weil die kom munistische Partei permanent – und in wechselndem Umfang auch die Staatssicherheit – intervenierte, um den Verfolg ihrer unm ittelbar politischen Ziele zu sichern. Das Ausmaß, in dem die Partei eine „Kompetenzkompetenz“ wahrnahm, war nicht nur zeitlich, sondern auch räum lich unterschiedlich: In der Wirtschaft erstickten – außer in der Reformphase der sechziger Jahre – die über den Plan artikulierten Ziele und Prioritätensetzungen der Partei wirtschaftlich rationales H andeln. D ie Frustration der Wirtschaftskader als Folge des Konflikts zwischen bürokratisch-politischem Steuerungsanspruch und wirtschaftlicher Eigenlogik ist lange vor dem Umbruch für die D DR von Rudolf Bahro eindringlich dargestellt worden. 111 Trotz dieser Produktivitätsblockaden sollten mit immer knapperen Mitteln wachsende Bedürfnisse befriedigt und zugleich dem K onkurrenzdruck auf dem Weltmarkt standgehalten werden. Beides waren wirtschaftliche Im perative, die kein Parteitagsbeschluß aus der Welt schaffen konnte. In anderen Subsy stemen wie etwa der N aturwissenschaft oder Teilen des Zivilrechts war der Führungsanspruch der Partei in der Regel weniger störend ausgeprägt. Um gekehrt gab es auch politiknahe Teilbereiche, zum Beispiel die politische Strafjustiz als Teil des Rechts 109 Bolschaja sowjetskaja enciklopedija, Artikel „konwejeri“, tom 33, Moskau 1938, S. 890. Zu der dahinter stehenden Ideologie vgl. au sführlich Süß: Die Arbeiterklasse als Maschine (1985), S. 218–226. 110 Meuschel, die mit der ironischen Formulierung vom „Absterben der Gesellschaft“ mit der Entdifferenzierungsthese am weitesten gegangen ist, spricht andererseits von dem unvermeidlichen „Risiko der partiellen Freise tzung teilsystemischer Eigenlogiken. (Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft [1992], S. 10 u. 13; dies.: Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte [1993] , S. 95). Lepsius, der ebenfalls den Begriff der „Entdifferenzierung“ verwendet, erläutert ihn als „ verminderte Geltung von differenzierten Rationalitätskriterien bei der Willensbildung und Entscheidungsfindung“ (Lepsius: Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung [ 1994], S. 20). Beides trifft den hier beschriebenen Sachverhalt. Ebenso Kocka: Eine durchherrschte Gesellschaft (1994), S. 549–552; Detlef Pollack spricht von „ Modernisierungsverzügen, die die Wettbew erbsfähigkeit des Systems beeinträchtigten“; Po llack: U rsachen des gesellschaftlichen Umbruchs (1990), S. 15. 111 Bahro: Plädoyer (1980).

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oder die Gesellschaftswissenschaften als Teil der Wissenschaft, wo die politische Gängelung so ausgeprägt sein konnte, daß der subsystemische Code zur bloßen Maskerade für die Illustration von Ideologie und Parteibeschlüssen wurde. In die Debatte über die Folgen des Übergangs vom „extensiven“ zum „intensiven Wachstum “ bzw . über die G ründe für das Scheitern dieses Übergangs in der Sowjetunion sind m odernisierungstheoretische Argumente seit den sechziger Jahren eingebracht worden. 112 D ie G rundaussage w ar, daß wirtschaftliches Wachstum unzweifelhaft angestrebt wurde und die mit der industriellen Entwicklung verbundene gesellschaftliche Differenzierung und höhere Komplexität von Steuerungsproblem en institutionelle Anpass ung notwendig machten. Die relativ primitiven Steuerungsmechanismen einer – wie auch immer benannten – staatssozialistischen Parteidiktatur m üßten dazu in Widerspruch treten. 113 Ein Mangel dieser Analysen war, daß über die Benennung der strukturellen Defizite des Sy stems hinaus die Identifikation von A kteuren des Wandels nicht überzeugend gelang. V ersuchen eines revolutionären U mbruchs durch eine Volkserhebung w urde keine Erfolgschance eingeräum t, eingedenk des sow jetischen Interesses an der Sicherung seines osteuropäischen „Vorfelds“ und der wiederholt bewiesenen Bereitschaft der Machtapparate, gesellschaftliches Aufbegehren gewaltsam zu unterdrücken. Die Ausrufung des K riegsrechts in Polen 1981 schien diese pessimistische Sicht letztmals zu bestätigen. 114 Mangels anderer A lternativen und angesichts zw ingender Reformnotwendigkeiten wurde bei der Beantw ortung der Frage, w oher die Impulse für die anstehenden Veränderungen kommen könnten, die Fähigkeit des Sy stems zur Selbstveränderung teilw eise überschätzt. 115 Im Rückblick 112 Aus der Fülle einschlägiger Veröffentlichungen seien hier nur zwei Titel genannt: Brus: Wirtschaftsplanung (1972); Kosta u. Levcik: Wi rtschaftskrise (1985). Für entsprechende Argumentationslinien in der DDR-Forschung vgl . Glaeßner: Herrschaft (1986); Maier: Reformnotwendigkeiten (1987); Peter C. Ludz: Parteielite (1970); Pollack: Stand (1993), S. 122 f. und passim. 113 Vgl. den Überblick bei Glaeßner: Sozialistische Systeme (1982), S. 88–147 u. 241–274. 114 Diese Einschätzung war nicht nur in der DDR-Forschung dominant, sondern ebenso in der Politik. Es sei dafür nur ein B eleg zitiert. Franz-Josef Strauß schreibt in seinen Erinnerungen: „1953, 1956, 1968, 1980/81, ob in der DDR, in Ungarn, in der Tschechoslowakei oder zuletzt in Polen – niemals, wenn es zu Aufständen in einem der Ostblockstaaten kam, hat der Westen eingegriffen. Wegen der damit verbundenen Gefahr lebensgefährlicher, kriegerischer Verwicklungen konnten und können Volkserhebungen in den Staaten des Warschauer Paktes nicht unterstützt werden. Es hat deshalb keinen Sinn, die Notsituation dort so zu verschärfen, daß die Belastungen für die Menschen unerträglich werden und es zur Explosion ko mmt.“ Strauß: Erinnerungen (1989), S. 527 f. Selbstverständlich war das auch eine Rechtf ertigung seines Engagements bei dem ersten „Milliardenkredit“ an die DDR. 115 So hat Ludz in seiner 1968 erstmals publiz ierten Untersuchung über „ Die Parteielite im Wandel“ die Auffassung vertreten, eine technokratische „Fachelite“, die freilich selbst in der Regel aus Parteimitgliedern bestehe, werde über die dogmatische alte Parteielite Dominanz gewinnen. Diese Vorstellung war sehr stark an die als „wissenschaftlich-technische Revolution“ deklarierten Veränderunge n in der Spätphase der Ära Ulbricht ge-

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sollte man allerdings nicht vergessen, daß sich die kommunistischen Systeme zwar als unreformierbar erwiesen haben, der Umbruch aber zumindest in Ungarn und der UdSSR durch eine liberalere Politik von Teilen der Machtelite eingeleitet wurde. Die Modernisierungstheorie um schreibt allgem eine U rsachen und den generellen K ontext des K ollapses auch der SED -Herrschaft, bietet jedoch nur einen relativ abstrakten Interpre tationsrahmen langfristig wirksam er Faktoren. A llerdings übertreibt A dam Przew orski, w enn er m it Blick auf diesen Theorieansatz m eint: „ Erklärungen im begrifflichen Bezugsrahmen von strukturellen Bedingungen sind nachträglich befriedigend, ex ante sind sie nutzlos.“ 116 Daß diese Prognosen nicht ganz nutzlos w aren, zeigen die Arbeiten von D ieter Senghaas aus den fr ühen achtziger Jahren. Er ist Sozialwissenschaftler, der sich mit den Entw icklungsländern beschäftigt, und war nie DDR-Forscher, was den großen V orteil hatte, daß er gew ohnt war, in größeren Zusam menhängen zu denken. Senghaas kam in einer vergleichenden Analyse zu dem Ergebnis, daß der Sozialism us nur in peripheren, unterentwickelten G esellschaften D ynamik zu entfalten verm ochte. In entwickelten Ländern wie der DDR oder der Tschechoslowakei bedeute er „gesellschaftlichen Rückschritt“ . 117 In keinem der sozialistischen Länder seien „ die Schwierigkeiten des Überga ngs von extensiver zu intensiver Wirtschaft“ bewältigt, denen nur m it offener, partizipatorischer Konfliktregelung beizukommen sei. Statt dessen aber seien die „Ausweitung der inneren Sicherheitsapparate“ und eine „Militarisierung der Gesellschaft“, „Befehlswirtschaft und politische Autokratie“ zu beobachten. 118 Man m üsse davon ausgehen, „ daß die neuen Führungsgruppen der sozialistischen Gesellschaften (die neuen herrschenden Klassen) die von ihnen eingenommene politische und soziale Vormachtstellung nicht preiszugeben bereit sind und daß Reformen andererseits unausw eichlich sind“ . 119 Da der Sozialism us bisher nicht mehr als eine „ Krücke für nachholende Entw icklung im peripher-kapitalistischen Umfeld“ war, zeichne sich gerade in stärker industrialisierten Ländern ab, daß der „ ,real existierende Sozialismus‘ eine Entwicklungsstufe zu einem letztendlich nur noch m it G ewalt zu verhindernden Kapitalismus“ sei. 120

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bunden. Das Beharrungsvermögen der traditionellen Parteielite hat Ludz unterschätzt. Daß Honecker selbst die bescheidenen „konsultativen“ Elemente im Verhältnis zu den Fachbürokratien, die sein Vorgänger eingeführt hatte, vor allem im wirtschaftlichen Bereich wieder abschaffen würde, war schwer vorauszusehen. – Eine in der Prognose längerfristiger Trends ähnliche Analyse haben Anfang der siebziger Jahre zwei ungarische Dissidenten erarbeitet: Konrad u. Szelényi: Intelligenz (1978). Przeworski: Democracy (1991), S. 97; vgl. Merkel: Struktur (1994), S. 322. Senghaas: Sozialismus – eine Interpreta tion aus entwicklungsgeschichtlicher und entwicklungstheoretischer Perspektive (1982), S. 302. Ebenda, S. 298 u. 302. Ebenda, S. 299. Ebenda, S. 305.

Kurz nach dem Amtsantritt von Gorbatschow hat Senghaas seine Analyse weiterentwickelt durch eine Einschätzung des „ Weltmacht-Profils“ der Sowjetunion. 121 Die Kernthese war, daß es ihr anders als früheren H egemonialmächten nicht gelungen sei, ihre Position dadurch zu unterm auern, daß sie zu einem Zentrum technischer, organisatorischer und kultureller Innovation mit internationaler A usstrahlungskraft geworden wäre. Sie sei weniger als ein industrielles Schw ellenland, das die von ihr abhängigen Staaten in eine „Sackgasse“ geführt habe. „Der höhere Status der Sowjetunion beruht allein auf ihrem Militärpotential.“ 122 Wenn sie sich nun unter neuer Führung um bessere Westbeziehungen bem ühe, dann m üsse man da ansetzen: Die Probe auf ihre „Friedensfähigkeit“ sei der Rückzug des sowjetischen Militärs aus den Ländern Osteuropas und der Abbau ihrer politischen Vormachtstellung in der Region. In w elche Richtung sich diese Länder dann, nach ihrer „Entsowjetisierung im Innern“ , aus der „ Sackgasse“ heraus bewegen würden, ergab sich mit logisch zwingender Konsequenz aus dieser Analyse. 123 Offen m ußte bleiben, wer diesen Kurswechsel durchsetzen würde. Als es drei, vier Jahre später tatsächlich dazu kam , war das nicht vorauszusehen. Es gab keinen Automatismus, der garantierte, daß die SED und ihre „Bruderparteien“ gerade zur Jahreswende 1989/90 gestürzt wurden. Die Politbürokratie hätte auch noch einige Jahre an der Macht bleiben können, wäre sie nicht m it dem zivilen Widerstand breiter Teile der Bevölkerung konfrontiert w orden und w äre nicht eine Reihe von in ihrer Kombination und Wechselwirkung unvorhersehbaren Ereignissen zusammengekommen. 124 Um das zu verdeutlichen, sei an den „ Schneeballeffekt“ der osteuropäischen Revolutionen erinnert: „Was sich in Rumänien ereignete, war bedingt durch das, was i n der Tschechoslowakei g eschah; was sich in der Tschechoslowakei ergab, resultierte aus dem Zusammenbruch in Ostdeutschland; was di e Volksmassen dazu bewegte, die Straßen in Ostdeutschland zu füllen, folgte dem politischen Wechsel in Ungarn; was Ungarn ei nen Ausw eg zeigte, war der Erfolg der Verhandlungen in Polen.“ 125 121 Senghaas: Die Zukunft Europas (1986), S. 51–89. 122 Hv. im Orig. Ebenda, S. 62. 123 Ebenda, S. 80. Auch Senghaas konnte sich nicht vorstellen, daß eine historische Situation eintreten würde, in der es diesen Staaten m öglich würde, auf die andere Seite zu wechseln. Er dachte an eine „ Finnlandisierung“ Osteuropas: autonome Entwicklung im Innern bei ausgeprägter Rücksichtnahme auf sowjetische Sicherheitsinteressen. 124 Zur methodischen Problematik nachträglicher „ Prognosen“, die das Geschehen als „ unvermeidlich“ hinstellen, vgl. Brinton: Di e Revolution und ihre Gesetze (1959), S. 348; Joas u. Kohli: Zusammenbruch (1993), S. 9 f.; O‘Donnell u. Schmitter: Conclusions (1993), S. 3 f. u. 19; Schäfer: Sozialwissensch aften (1992), S. 84 f.; Welzel: Umbruch (1995), S. 76. 125 Przeworski: Democracy (1991), S. 3.

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Zum V erständnis dieser G eschehniskette trägt eine nachträgliche, deterministische Sichtweise wenig bei, w ohl aber sind Strukturanaly sen nützlich, wenn es gelingt, die Faktoren zu identifizieren, die den N iedergang des Herrschaftssystems bedingten. Modernisierungstheorie und Entw icklungssoziologie helfen, die U rsachen für den N iedergang der kom munistischen Regime besser zu verstehen: ihre m angelhafte Fähigkeit zur Nutzung der Effizienzpotentiale subsy stemischer Eigenlogik, Problem e gerade höherer wirtschaftlicher Entwicklungsetappen und die Schranken, auf die das staatssozialistische Modell letztlich zwangsläufig stoßen m ußte. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über die Revolution in der DDR bilden so begründete A ussagen den H intergrund für die Darstellung ereignishafter, stark situationsgebundener, kontingenter Zusammenhänge. Im Vordergrund der Analyse einer Periode, in der wie im Herbst/Winter 1989/90 das verändernde Handeln bestimmendes Element war, müssen die Akteure der Revolution und ihre Kontrahenten stehen. Eine Präm isse der bisherigen A rgumentation w ar, daß innere Faktoren beim Umbruch eine wesentliche Rolle spielten. Dabei ist nicht zu bezweifeln, daß außenpolitische Veränderungen – vor allem die sowjetische Perestroika und die Ö ffnung der ungarischen Westgrenze – von größter Bedeutung waren. Wenn Charles Maier grundsätzlich argumentiert, daß „ohne die Möglichkeit einer sowjetischen Intervention keines dieser Satellitenregime Bestand gehabt hätte“, 126 so ist das zutreffend, erübrigt aber nicht die Frage nach inneren Wandlungsfaktoren. 127 Das ist nicht unstrittig. Eine radikale Gegenposition vertritt Claus Offe. Er geht von einem gänzlich exogen induzierten Prozeß aus: D ie „ Gründe, die den Repressionsapparat der D DR im Herbst 1989 außer Funktion setzten“ , postuliert er, waren „ sämtlich außenpolitischer Natur“ , Veränderungen im DDR-Machtapparat verm ag er auch rückblickend nicht festzustellen: Diese Gründe „ hatten nichts zu tun etw a mit einer liberalen Öffnung der Politik der DDR oder einem inneren Zerfall des Repressionsapparates“ . 128 D ie von O ffe geleugneten Prozesse w aren durchaus zu beobachten. Es ist zudem schwer vorstellbar, wie eine noch so radikale V eränderung der äußeren Rahm enbedingungen – außer im Falle einer militärischen Niederlage – direkt, ohne Verm ittlung über innergesellschaftliche Akteure, wirksam werden sollte. Was geschieht, wenn trotz offenkundigen wirtschaftlichen Bankrotts innere Akteure für einen Umbruch zu schwach sind oder ganz fehlen, die die Veränderung der Umweltbedingungen aufnehmen und für eigene Bestrebungen nutzen, kann man seit Jahren an Nordkorea beobachten.

126 Maier: Dissolution (1997), S. 53. 127 Przeworski, ein Meister aphoristischer Formu lierungen, hat geschrieben: „The constraint was external, but the impetus was internal.“ Przeworski: Democracy (1991), S. 5. 128 Offe: Tunnel (1994), S. 32.

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Claus Offe aber weitet seine A rgumentation sogar noch auf die „ Demokratie-Bewegung“ in der DDR aus, die sich angeblich erst entfaltet hat, „ als der Zusammenbruch der Repressionsfähigkeit des Regimes in vollem Gange war“ und ihre Aktionen mithin „relativ gefahrlos“ gewesen seien. 129 Allein schon die brutalen Polizeieinsätze am 7. und 8. Oktober 1989 und die außerordentlich prekäre Situation am 9. Oktober, als Zehntausende um den Leipziger Ring zogen, zeigen, daß dies eine offenkundig unhaltbare Beh auptung ist. In striktem Gegensatz zu dieser Interpretation soll im folgenden – ohne die Bedeutung der äußeren Rahm enbedingungen zu leugnen – vor allem nach den inneren Wandlungsfaktoren, nach der Dynamik des Umwälzungsprozesses, nach seinen Phasen und seiner inneren Logik gefragt werden.

A.3 Zeitgeschichtliche

Arbeiten

Es ist nicht meine Absicht, an dieser Stelle die Fülle von Veröffentlichungen zu kommentieren, die bereits zur „ Wende“ erschienen sind. In bisher vorliegenden Gesamtdarstellungen des Umbruchs w ird das V erhalten der Sicherheitsorgane als gegeben vorausgesetzt. Sie sind w ertvoll für das V erständnis der politischen Entwicklungen sowohl im Innern der DDR 130 wie ihres internationalen Um felds, 131 aber zur Erhellung gerade dieses A spekts findet sich, außer der Schilderung des faktischen V erhaltens, kaum etw as Neues. Das gilt aus anderen Gründen auch für die Berichte von Zeitzeugen aus der alten N omenklatura. 132 Sehr aufschlußreich ist dagegen auch unter den hier interessierenden Gesichtspunkten die detaillierte Geschichte des Mauerfalls von H ans-Hermann Hertle, auf die an entsprechender Stelle zurückzukommen sein wird. 133 Vom gleichen Autor stam mt eine ausführlich eingeleitete, kom mentierte D okumentation zum N iedergang der SED , die 129 Ebenda, S. 33. – In noch radikalerer Form hat die gleiche These Andrzej Szczypiorski vertreten: „ Die Deutschen in der DDR – das ist die traurige Wahrheit – rührten keinen Finger, um das System zu stürzen. Sie erhi elten die Demokratie und die Vereinigung als Geschenk von den Polen, den Russen und von ihren Landsleuten aus der Bundesrepublik, glaubten aber später an ihre eigenen ries igen Verdienste ...“ Szczypiorski: Irrtum (1995). Zur Kritik daran Mechtenberg: Korrektur (1995). 130 Genannt werden hier nur einige ausgewählte Publikationen, deren Autoren direkt mit den Quellen arbeiteten: Ash: Im Namen Eur opas (1995); Jarausch: Die unverhoffte Einheit (1995); Maier: Dissolution (1997); Staritz: Geschichte der DDR (1996), S. 329–408. 131 Beschloss u. Talbot: Auf höchster Ebene (1993); Korte: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft (1998); Nakath u. Ste phan (Hrsg.): Countdown zur deutschen Einheit (1996); Deutsche Einheit 1989/90 (1998) ; Timmermann: Die Sowj etunion und der Umbruch in Osteuropa (1990); Zelikow u. Rice: Sternstunde der Diplomatie (1997). 132 Erwähnt seien hier nur die zu anderen Aspekten der DDR-Geschichte informativen Werke von Hans Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998); Markus Wolf: Spionagechef im geheimen Krieg (1997); Günter Schabowski: Der Absturz (1991); Gerhard Schürer: Gewagt und verloren (1996). 133 Hertle: Der Fall der Mauer (1996).

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unverzichtbar ist, will man einen authentischen Eindruck von der damaligen Entwicklung im Machtapparat gewinnen. 134 Verschiedene Darstellungen der Politik der SED im Herbst 1989 beschränken sich auf die Schilderung ihres Rückzugs und darauf, ihre Bemühungen zu kritisieren, sich an Restbestände der Macht zu klammern. 135 Wenn man jedoch die Revolution als Ü bergang aus einer Parteidiktatur m it totalitärem Anspruch in eine Dem okratie analysiert, genügt dieses Instrumentarium nicht. Es muß dann nämlich erstens die Frage beantw ortet werden, welche Taktiken und K onzeptionen die SED -Führung entw ickelt hat und in welchem Verhältnis sie zu ihrem ursprünglich totalen G estaltungsanspruch standen. Damit ist zw eitens die Frage verbunden, w ann diese Partei – m ehr oder weniger unfreiwillig – die Scheidelinie zwischen institutionell abgesicherter, m onopolistischer Machtanmaßung und aus neuen, dem okratischen Regeln sich ergebendem Konkurrenzverhalten überschritten hat, das sich nicht in Rückzugsmanövern allein erschöpfen kann. Das ist m it gewaltigen inneren Erschütterungen, mit Personalabbau, enormen Mitgliederverlusten und schweren Identitätsstörungen verbunden, aber prinzipiell unm öglich ist es nicht, wie ein Blick in andere postkommunistische osteuropäische Staaten lehrt. 136 Die Entwicklung der SED ist wichtig, aber im Mittelpunkt dieser Darstellung soll die Staatssicherheit stehen. 137 In den m eisten Aussagen hat immer noch die Gesamtdarstellung des M fS von Gill und Schröter Gültigkeit, in der vor allem die A uflösungsgeschichte unter der zw eiten Regierung Modrow und der Regierung de Maizière geschildert w ird. 138 Zur Regionalgeschichte der Entmachtung der Staatssicherheit sind im Rahm en des Forschungsprojektes, in dem die vorliegende A rbeit entstanden ist, bereits einige Veröffentlichungen publiziert worden. 139 Etwas ausführlicher muß ein Buch kommentiert werden, dessen Thematik sich m it der des vorliegenden teilw eise überschneidet: Michael Richters 134 Hertle u. Stephan (Hrsg.): Das Ende der SED (1997); vgl. auch Stephan (Hrsg.): „ Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ (1994); Behrend u. Meier (Hrsg. ): Der schwere Weg der Erneuerung (1991). 135 Vgl. etwa Thaysen: Rückzug (1994); Richter: Staatssicherheit (1996). 136 Vgl. Juchler: Probleme (1997); Linz u. Stepan: Problems of Democratic Transition (1996), S. 454–457; Pradetto (Hrsg. ): Die Rekonstr uktion Ostmitteleuropas (1994); Realer Postsozialismus (1994); Tökés: Postkommunismus (1990). 137 Auf Werke zur Geschichte der Staatssicherhe it allgemein gehe ich nicht ein. Verwiesen sei auf die Überblicksartikel von Engelmann: Forschungen zum Staatssicherheitsdienst der DDR (1997); Gieseke: Zur Geschichte der DDR-Staatssicherheit (1997); Sarotte: Under Cover of Boredom (1997). 138 Gill u. Schröter: Das Ministerium für Staat ssicherheit (1991). Diesem Thema, der Auflösung, ist noch eine andere Veröffentlichung gewidmet, die j edoch journalistischen Charakter hat; Worst: Das Ende eines Geheimdienstes (1991). 139 Höffer: „Der Gegner hat Kraft“ (zu Rostock) (1997); Horsch: „ Hat nicht wenigstens die Stasi die Stimmung im Lande gekannt? “ (zu Karl-Marx-Stadt) (1997); Löhn: „ Unsere Nerven lagen allmählich blank“ (zu Halle) (1996); Niemann u. Süß: „Gegen das Volk kann nichts mehr entschieden werden“ (zu Neubrandenburg) (1996); Stein: „ Sorgt dafür, daß sie die Mehrheit nicht hinter sich kriegen“ (zu Erfurt) (in Vorbereitung).

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„Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR“ . 140 In dieser zeitgeschichtlichen Arbeit, die den Bogen bis zur deutschen Vereinigung spannt, werden eine Reihe treffender Fragen formuliert, auf die der A utor jedoch nicht im mer überzeugende Antworten findet. Eine Ursache ist, daß seine empirische Untersuchung erst nach dem 9. Oktober 1989 einsetzt. Einen solchen Einschnitt kann man aus forschungsökonomischen Gründen gewiß machen, bestimmte Fragen m üßten dann allerdings offen bleiben. So fragt Richter, „warum sich das für einen Bürgerkrieg gerüstete M fS so einfach von der Macht verdrängen ließ“, w arum es „ keine N eigungen zur Errichtung einer postkommunistischen, wom öglich entideologisierten M fS-Militärdiktatur gab“. 141 Wahrscheinlich fand aber die entscheidende Weichenstellung für eine friedliche Entwicklung vor seinem Untersuchungszeitraum statt. Deshalb trägt die Behauptung, die „MfS-Militärs“ seien erst dank der neuen politischen Prioritäten, die Krenz gesetzt hat, zu der Einsicht gekommen, daß die Macht nicht m it Gewalt zu retten sei, 142 rein hypothetischen Charakter. Der entsprechende Erkenntnisprozeß setzte tatsächlich früher ein. Zu Recht wird das Problem, „ob sich die Geschichte des MfS in der friedlichen Revolution als U nterkapitel der V eränderung der SED begreifen und beschreiben läßt“, als „ Kardinalfrage“ bezeichnet. 143 Doch schon die Zustimmung der MfS-Spitze zum Sturz des alten SED -Generalsekretärs ist m it einem Verweis auf die „ persönlichen Animositäten“ 144 zwischen Mielke und Honecker nur unzulänglich erklärt. D ie Frage nach der A npassung des MfS an den neuen Kurs ist gewiß nicht mit der lapidaren Behauptung erledigt, es sei deshalb „ nicht weiter verwunderlich, daß das M fS nach der Machtübernahme durch Krenz schnell auf den politischen Kurs des neuen starken Mannes einschw enkte“ 145. Das eine folgt nicht aus dem anderen, und ein „starker Mann“ war Krenz auch im politischen Sinne nie. Die politische Linie der neuen SED-Führung unter Krenz wird anhand ungeeigneten Materials erläutert. 146 Auch sollten in einer „ ereignisgeschichtlichen Darstellung“ 147 für den Gang der Ereignisse wesentliche Geschehnisse nicht ignoriert werden. Aber der Besuch von K renz in Moskau und Warschau Anfang November bleibt ebenso unerwähnt w ie die Machtprobe bei der Massendemonstration am 4. November in Berlin. Selbst die Maueröffnung w ird weder dargestellt noch interpretiert. Und die Schilderung der inneren Debatten im MfS erfolgt überwiegend anhand von bereits veröffentlichtem Material und hat illustrativen Charakter. 148 140 Richter: Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR (1996). 141 Ebenda, S. 12 f. 142 Vgl. ebenda, S. 33. 143 Ebenda, S. 11 f. 144 Ebenda, S. 32. 145 Ebenda. 146 Dazu ausführlicher S. 330. 147 Richter: Staatssicherheit (1996), S. 15. 148 Vgl. auch Gieseke: Zur Geschichte der DDR-Staatssicherheit (1997), S. 321–323.

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Erwähnt werden soll auch noch ein erst unlängst erschienenes Buch, allerdings keine wissenschaftliche Arbeit, sondern ein Beiprodukt journalistischer Tätigkeit: Andreas Försters „Auf der Spur der Stasi-Millionen“ . 149 Im ersten K apitel beschäftigt sich der A utor unter der Überschrift „Vorbereitung auf den Tag X“ mit unserem Untersuchungszeitraum. Nur dazu einige kritische Bem erkungen. Das Strickm uster dieses Genres der fiktionalen „Geschichtsschreibung“ wiederholt sich häufig: Erstens unterstellt der Autor, die geschichtlichen Akteure seien seinerzeit so schlau gewesen wie er selbst aus K enntnis der späteren Ereignisse. Zw eitens gibt ein bescheidener Anmerkungsapparat dem Opus einen wissenschaftlichen Anstrich. Dabei sind die meisten Belegstellen wertlos. Sie erm öglichen dem Leser nicht, Tatsachenbehauptungen zu überprüfen, sondern verweisen auf Unzugängliches: auf V erhörprotokolle des Bundeskrim inalamtes (die nach der Strafprozeßordnung nicht einsehbar sind); auf „ Gespräche“, die der Autor geführt hat; oder auch auf das A rchiv des Bundesbeauftragten, ohne die A rchivsignatur zu nennen. Ergänzt w ird das noch durch den Verweis auf „streng geheime Befehle und Weisungen, die heute unauffindbar sind“. 150 Drittens werden bekannte Tatsachen wie etwa die Verhandlungen von Schalck-Golodkowski mit Franz-Josef Strauß mit gewagten Thesen vermischt. Dabei werden gerade die Aussagen, welche die eigentliche Neuigkeit darstellen würden, nicht belegt: so etwa die Behauptung, Schalck-G olodkowski habe in den achtziger Jahren in O stberlin mit Wolfgang Schäuble über eine deutsch-deutsche Konföderation verhandelt. 151 Nach der Veröffentlichung von Karl-Rudolf Kortes Untersuchung zur K anzlerschaft von H elmut K ohl kann m an diese Behauptung getrost dem Bereich der Legendenbildung zuordnen. Gewiß hat Schäuble in seiner Zeit als Staatsm inister im Bundeskanzleramt (1984 –1989) fast zwei Dutzend Geheimverhandlungen mit Schalck geführt. Beide bildeten im Auftrag ihrer jeweiligen Chefs den „ Sonderkanal“ zwischen Bonn und Ostberlin, der im mer dann aktiviert wurde, wenn offizielle Verhandlungen vorbereitet werden mußten oder stockten. D a diese Treffen absolut vertraulich waren, bieten sie eine Projektionsfläche für Spekulationen jeder Art. Was darüber jedoch inzwischen bekannt ist – auch auf Basis von Unterlagen des Kanzleram tes –, zeigt, daß es nicht um Weltpolitik ging, sondern um pragmatische Schritte in den deutsch-deutschen Beziehungen, in der Regel: Kredite gegen menschliche Erleichterungen. 152 Ähnliche Qualität hat Försters These, Honecker habe seinerzeit die desolate wirtschaftliche Lage der DDR begriffen und deshalb auf eine solche K onföderation gehofft; 149 150 151 152

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Förster: Auf der Spur der Stasi-Millionen (1998). Ebenda, S. 10. Dazu unten mehr. Ebenda, S. 24. Vgl. Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 3 (1994) Textband, S. 453 f.; Korte: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft (1998), S. 209–227 u. passim.

er sei gar im September 1987 m it der H offnung auf „ ein würdevolles Ende seines mißlungenen DDR-Experiments“ nach Bonn geflogen. 153 Bei dieser A rt „ Geschichtsschreibung“ w erden A kteure und Ereignisse nicht in ihrem historischen Kontext interpretiert. Es handelt sich um als zeitgeschichtliche Werke verkleidete Krim inalromane, bei denen Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen suggeriert w erden – ein G edankenspiel, das kurzzeitig unterhält, dessen m an aber bald m üde wird. 154 Wer freilich ein Faible für diese Art von Geschichten hat und sie für ein Abbild der Realität nimmt, wird schon bei dem Gedanken laut auflachen, K orte hätte etw a die „wirklich wichtigen“ Akten zu sehen bekommen, überhaupt bei der Vorstellung, daß ein Historiker anhand von überprüfbaren Quellen zu wissenschaftlich fundierten Schlüssen kommen könnte. Exkurs: Die „Überlebensordnung des MfS“ Die folgenden Seiten sind m it „ Exkurs“ überschrieben, weil sie eigentlich nicht zu einer D arstellung des Forschungsstandes gehören. D er Ansatz, um den es dabei geht, soll aber w egen seiner Popularität nicht unerw ähnt bleiben: die V erschwörungstheorie. Die Führung der Staatssicherheit, m it ihrer unermüdlichen Suche nach „strategischen Plänen des Im perialismus“ und Beweisen für die „ Steuerung feindlich-negativer Kräfte“ durch „ ausländische Zentren ideologischer D iversion“, gehörte zw eifellos selbst zu den heftigsten Anhängern dieses Denkmusters. 155 Doch nicht davon soll an dieser Stelle die Rede sein, sondern von dem m erkwürdigen Phänom en, daß im nachhinein auch m anche Kritiker dieser Institution m ethodisch ähnliche Topoi verwenden. Die weite Verbreitung von „ Verschwörungstheorien“, entweder als Erk lärungsansatz für politische Geschehnisse oder als Vorwurf gegen die Position politischer oder wissenschaftlicher Gegner, steht in krassem Gegensatz zur geringen theoretischen K lärung des Begriffs. 156 In der Politikwissenschaft, die ihr Terrain sein m üßte, werden solche „Theorien“ weitgehend ignoriert. 157 In den einschlägigen Fachlexika fehlt das Stichw ort. Sie sind, ebenso wie in der Soziologie, 158 allenfalls selbst Forschungsobjekt, vorzugsweise der politischen Psychologie. In der Kritik an Verschwörungstheorien stehen ihre Funktionen im Vordergrund 159 und die vom jeweiligen Ge153 Förster: Auf der Spur der Stasi-Millionen (1998), S. 20 u. 25. 154 Von vergleichbarer Qualität ist Reuth u. Bönte: Das Komplott (1993). 155 Vgl. exemplarisch Suckut (Hrsg.): Wörterbuch (1996), Stichwörter „ Politisch-ideologische Diversion, Zentren“ u. „Subversion“; Baule: Freund-Feind-Differenz (1993), S.170–184. 156 Sehr erhellend jedoch Groh: Versuchung (1992). 157 Vgl. Bieberstein: These (1992), S. 10; Pfahl-Traughber: Verschwörungsmythos (1993), S. 6. 158 Vgl. Stichwort „ Verschwörungstheorien“, in: Lexikon zur Soziologie, hrsg. von Werner Fuchs u. a., 3. Aufl., Opladen 1994, S. 717. 159 Unterschieden wird zwischen Erkenntnis- , Manipulations- und Repr essionsfunktion; vgl. Bieberstein: These (1992), S. 114–125; Pfahl-Traughber: Ve rschwörungsmythos (1993),

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genstand der Obsession weitgehend unabhängige G enesis solcher V orstellungen. Hinsichtlich der Verschwörungsthesen, um die es an dieser Stelle geht, muß diese Problematik ausgespart bleiben. Es soll nur nach dem empirischen Gehalt gefragt werden. 160 Verschwörungstheorien werden vorzugsweise auf seiten der extremen politischen Rechten gepflegt, weil dort eine stärkere Neigung zur Personalisierung politischer Prozesse besteht. Und auch Sekten arbeiten sehr gerne m it diesem Erklärungsmuster, wobei hier an die Stelle von Personen Institutionen treten. Doch auch bei m anchen Strömungen auf der anderen Seite des politischen Spektrums sind, wenn auch in geringerem Maße, solche Tendenzen zu beobachten. D ie Staatssicherheit, deren Führung sich gew iß als „links“ bezeichnet hätte, was auch immer der em pirische Gehalt dieser Zuordnung gewesen sein mag, wurde bereits erwähnt. Auch in der alten Bundesrepublik w aren bei Teilen der extrem en Linken solche A nsätze virulent. 161 Dieser Argumentationstopos läßt sich deshalb nicht eindeutig einem politischen Lager zuordnen. „Verschwörungstheorien“ sind Erklärungsmodelle, „welche die vermeintlich unter der Oberfläche verborgen liegenden wahren Ursachen als illegitim und gefährlich erachteter Veränderungsprozesse zu entlarven vorgeben“ . 162 Ihr Spezifikum besteht darin, daß sie für solche V eränderungen eine zielstrebig im Geheimen agierende Personengruppe verantwortlich machen, jedoch den empirischen Beweis für ihre Theorie schuldig bleiben. 163 Die Vertreter der Thesen, um die es in diesem Exkurs geht, sind um Bew eise für ihre Argumentation bemüht. Das ist eine w ichtige m ethodische D ifferenz, weil damit, auch w enn die Bew eisführung unzulänglich ist, die Bedeutung eines rationalen Diskurses anerkannt wird. Ich spreche im übrigen von einer „Verschwörungsthese“, w eil es sich um keine ausdifferenzierte „Theorie“ handelt und um die Differenz zu – vor allem im rechtsradikalen Diskurs an-

S. 3 f. 160 Außerhalb der Betrachtung muß bleiben, ob Verschwörungstheorien dazu geeignet wären, tatsächliche Verschwörungen zu erklären. Das entscheidende Gegenargument findet sich bei Dieter Groh: „ Menschen machen zwar ihre Geschichte selbst, aber das, was daraus als Geschichte resultiert, ist nicht ihre Geschichte im Sinne dessen, was sie beabsichtigt haben. [...] Dies ist so, weil der hist orische Prozeß komplexe Systeme generiert und diese, per definitionem, nicht zur Disposition des Handlungssubjektes stehen. [...] Wenn dem so ist, dann ist sie [die G eschichte] ebenfalls a fortiori nicht planbar in einer Weise, wie Konspirationstheorien es voraussetzen. De nn solche Theorien – das wäre ihr erstes, handlungstheoretisches Definiens – setzen voraus, daß sich die Intentionen von Handlungssubjekten, die als V erschwörer vorgestellt w erden, im V erlauf der G eschichte beinahe oder gänzlich ungestört realisiert haben oder realisieren werden – wenn nicht eine Gruppe, die über die Machenschaften der Verschwörer aufgeklärt worden ist, ihnen entgegentritt, um die Ausführung ihrer Absichten zu verhindern.“ Groh: Versuchung (1992), S. 269 f. 161 Vgl. Backes: Extremismus (1989), S. 306–309. 162 Bieberstein: These (1992), S. 9. 163 Pfahl-Traughber: Verschwörungsmythos (1993), S. 4.

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zutreffenden – Verschwörungsmythen deutlich zu machen. 164 In Umbruchsituationen sind verschw örungstheoretische Denkansätze besonders häufig anzutreffen, weil sie als „ Geschichtsbild der falschen Konk retheit“ 165 Entwicklungen scheinbar erklären, die von verw irrender Komplexität sind. 166 Auch das Ende der SED-Diktatur und ihrer Geheimpolizei ist für solches Denken offenbar ein ergiebiges Feld. 167 So wurde seinerzeit schon – worauf zurückzukom men sein wird – spekuliert, die chaotische Form der Grenzöffnung sei A usdruck einer besonders durchtriebenen Taktik der Machthaber gewesen. Im N ovember 1989 kursierte unter Wissenschaftlern der Pädagogischen Hochschule in Potsdam „ das Gerücht, Günter Mittag habe im Auftrag des G egners die K rise in der D DR herbeigeführt und halte sich jetzt in der Schweiz auf“ . 168 M fS-Angehörige versuchten sich die „Sprachlosigkeit“ ihrer Führung m it „ Feindtätigkeit“ in den „eigenen Reihen“ zu erklären. 169 Andere meinten, die U rsachen der K rise lägen in den Umtrieben einer „parteifeindlichen Gruppe um den ehemaligen Generalsekretär Honecker“. 170 Daß solche Behauptungen gerade von Personenkreisen kolportiert wurden, die dem Alten Regime nahestanden, entspricht der Beobachtung, daß die G egner einer Revolution zu ihrer Erklärung gerne auf Verschwörungsthesen zurückgreifen, während ihre Befürw orter eher auf strukturelle Ursachen und ein allgemeines Freiheitsbedürfnis verweisen. 171 Die Argumentation, die im folgenden referiert und deren Entstehungsgeschichte rekonstruiert w erden soll, w eicht von diesem Muster ab, w eil sie ursprünglich von Befürwortern der Revolution aufgestellt wurde: die Vermutung, es habe für den Fall des Zusam menbruchs der D DR und die Wiedervereinigung eine „ Überlebensordnung des M fS“ gegeben. D iese These wurde im Sommer 1990 populär. Es w aren Wochen, in denen zwischen den 164 Zum Unterschied zwischen diesen Begriffen vgl. ebenda, S. 4 f. Bieberstein spricht auch in diesem Zusammenhang von „ Verschwörungsthese“; das wird von Pfahl-Traughber zu Recht als begriffliche Unschärfe kritisiert. 165 Neumann: Angst (1978), S. 445. 166 Pfahl-Traughber: Verschwörungsmythos ( 1993), S. 133 u. 148 f. In der Sowjetunion etwa kam es Anfang der 90er Jahre zu einer gefährlichen „ Blüte“ solcher Denkmuster; vgl. Pfahl-Traughber: Legende (1991). 167 Es seien nur wenige Beispiele aus der Sekundärliteratur für solche Spekulationen genannt: Henryk M. Broder: Eine schöne Revolu tion, in: Die Zeit 10.1.1992; Förster: Auf der Spur (1998); Kunkel u. Richter: Schild (1992); Reuth u. Bönte: Komplott (1993). Erste kritische Auseinandersetzungen mit diesen Thesen finden sich bei Wolle: Operativer Vorgang (1992); Mitter u. Wolle: Untergang (1993), S. 530–535 u. 538 f.; Baule: Freund-Feind-Differenz (1993), S. 183 f.; Süß: 9. November (1995). Zu einer politischen Kritik am „ Stasi-Mythos“ vgl. die Polemik von Wolfgang Engler: Moloch (1996), S. 153–162. 168 Rapport des Bezirksamtes für Staatssicherheit Potsdam an das Amt für Nationale Sicherheit vom 22.11.1989; BStU, ASt Potsdam, AKG 1750, Bl. 106 f. 169 Protokoll der Dienstbesprechung mit den Leitern der Generalmaj or Coburger direkt unterstellten Abteilungen/AG am 8.11.1989; BStU, ZA, HA VIII 1672, Bl. 437–441. 170 Schreiben der SED-Abteilungsparteiorganisation im Institut für Technische Untersuchungen (ITU) des MfS vom 22.11.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 118 f. 171 Vgl. Brinton: Die Revolution und ihre Gesetze (1959), S. 116–129.

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Bürgerrechtlern, dem im Juni eingerichteten Sonderausschuß der V olkskammer zur Kontrolle der Auflösung des M fS, dem Staatlichen Komitee zu

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dessen Auflösung und dem Innenminister Diestel über die O ffenlegung der Akten heftig gestritten wurde. 172 Insbesondere die A ufdeckung von ehemaligen M fS-Offizieren, die unter ihrer alten Legende weiterhin im Staatsdienst tätig waren, beschäftigte die Öffentlichkeit. 173 In dieser Situation publizierte der Bürgerrechtler Hans Sc hwenke, der im K omitee zur A uflösung des MfS/AfNS mitarbeitete, am 9. Juni 1990 im „Neuen Deutschland“ einen aufsehenerregenden A rtikel, in dem erstmals von einer „Überlebensordnung des MfS“ berichtet wurde. 174 Der Beitrag w ird bis heute als Beleg für diese Behauptung zitiert. 175 Seine Thesen haben Eingang in die „Materialien der Enquete-K ommission“ gefunden. 176 U nd selbst noch durch den Abschlußbericht des Bundestagsuntersuchungsausschusses „ DDRVermögen“ aus dem Jahre 1998 geistert als ungeklärtes Problem „eine sogenannte OibE-Überlebensordnung“, für deren tatsächliche Existenz sich jedoch auch nach acht Jahren w eder durch die Arbeit des Ausschusses noch durch die Recherchen der Zentralen Erm ittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) ein Beweis habe finden lassen. 177 Bei der „ Überlebensordnung“ soll es sich um ein Dokum ent aus dem Jahre 1986 handeln, das die M fS-Bezeichnung „Ordnung 8/86“ trägt. Ausgangspunkt von Schwenkes A rgumentation w ar jedoch ein anderes M fSDokument: die damals entdeckte „Ordnung“ des M fS für den Einsatz von „Offizieren im besonderen Einsatz“, die „ OibE-Ordnung 6/86“ vom März 1986. 178 Warum wurde diese O rdnung erlassen? Schwenke vermutete, „die Honeckerführung“ sei im Frühjahr 1986 zu der Erkenntnis gekommen, „daß man sich auf das Schlim mste gefaßt machen müsse“, weil der Kurswechsel in der Sowjetunion bedeute, „daß sie sich im Kampf gegen Widersacher im eigenen Volk nicht m ehr auf sow jetische Bajonette stützen konnten“. Deshalb sei „ im engsten K reis“ – offen bleibt, w er dam it gem eint ist – „ eine Überlebensstrategie beschlossen“ w orden, um „ auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen“ zumindest eine „ Machtbeteiligung“ zu si172 Vgl. Schumann: Vernichten (1995), S. 8–17. 173 Vgl. Worst: Ende (1991), S. 90–96; Gill u. Schröter: Anatomie (1991), S. 255–263. 174 Hans Schwenke, Mielkes Befehl 6/86 und die Überlebensordnung des MfS, in: Neues Deutschland 9.6.1990, S. 6. 175 Ohne Quellenangabe bei Förster: Auf der Spur (1998), S. 26. Ein Auszug findet sich bei Worst: Ende (1991), S. 118–120. Allerdings wird er dort mit falschem Datum „2./3.6.1990“ zitiert. Die daran anschließende plastische Darstellung der Reaktion auf diese Veröffentlichung, die mit der Darstellung von Geschehnissen am „ Montag, dem 4. Juni 1990“ beginnt, hängt deshalb in der Luft, wenn nicht auch diese Datierung falsch ist. 176 In den Anlagen zu einer Expertise von E. Jeske wird der Artikel von H. Schwenke aus dem Neuen Deutschland dokumentiert, allerdings mit unzutreffender Quellenangabe und bei Tageszeitungen unüblicher Datierung: „ Berliner Zeitung, 1990“. Jeske: Studie (1995), S. 868–870. 177 Vgl. Deutscher Bundestag – Untersuc hungsausschuß DDR-Vermögen (1998), Textband, S. 181 f., 369 f. 178 „ Ordnung Nr. 6/86 über die Arbeit mit Offizieren im besonderen Einsatz des Ministeriums für Staatssicherheit – OibE-Ordnung“ vom 17.3.1986; BStU, ZA, DSt 103276; Nachdruck in: Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter, Teil 2 (1998), S. 858–874.

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chern. Ein K ernelement bei der V erwirklichung dieses V orhabens sei der Einsatz von OibE gewesen: „Mit der Ordnung 6/86 wurde ein alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdringendes konspiratives System neben vorhandenen M fS-Strukturen geschaffen.“ 179 D iese O ibE hätten einen „neuartigen Auftrag“ bekommen, der in der „ OibE-Ordnung“ nicht enthalten war, sondern „vermutlich“ Gegenstand der „ nicht auffindbaren“ Ordnung 8/86 gewesen sei: „Mündliche Inform ationen besagen, daß di e ‚Überl ebensordnung‘ des MfS u. a. vorsah, daß die OibE im Falle einer politischen Um wälzung alles verfügbare Verm ögen unt er ihre Kontrolle und zusam men m it t reu ergebenen Dienern der Part ei- und St aatsführung sowi e m it Hi lfe geei gneter bundesdeutscher und ausländischer Partner in ihren Besitz zu bringen hatte.“ 180

Die „Überlebensordnung“ ist laut Schwenke auch die Erklärung für den friedlichen Charakter der Umwälzung, denn „ durch bewaffneten Widerstand hätten die Ü berlebensstrategen ihren ganzen schönen Plan des A btauchens in die Anonymität und des A uftauchens als biedere G eschäftsleute und honorige Politiker selbst gefährdet“. Soweit die Urfassung dieser Konstruktion. Wenn nun der realgeschichtliche Gehalt dieser Thesen beleuchtet wird, so ist daran zu erinnern, daß während des Umbruchs und unmittelbar danach von ehemaligen Funktionären der D iktatur und auch von MfS-Angehörigen zweifellos Versuche unternommen wurden, sich mit einem Griff ins „Volkseigentum“ m ateriell abzusichern, und daß seinerzeit, im Juni 1990, vieles noch unbekannt war. So waren, bedenkt m an auch die politische Atmosphäre jener Wochen, Irrtüm er und Überinterpretationen dam als wohl unvermeidlich. Inzwischen besteht allerdings die Möglichkeit, die m eisten dieser Thesen empirisch zu überprüfen. Zu fragen ist, ob die Argumentation mit dem heutigen Wissensstand vereinbar ist. Die Annahme, Honecker und sein e ngster Führungszirkel (Günter Mittag und Erich Mielke) hätten im Frühjahr 1986 – ein Zeitpunkt, der wegen der Datierung der O ibE-Ordnung w ichtig ist – prognostiziert, daß die sowjetische Führung die D DR fallenlassen w ürde, ist nicht haltbar. D afür fehlten schon in der Sow jetunion die V oraussetzungen, denn von solchen Überlegungen war Gorbatschow damals noch weit entfernt. So hat er zum Beispiel im April 1986 bei einem G espräch m it H onecker erklärt, es gebe „ eine lebenswichtige Notwendigkeit für die KPdSU, für die SED , für die V ölker beider Staaten und für beide G eneralsekretäre persönlich, ihre Einheit zu unterstreichen“. Begründung: „ Die Sow jetunion und die D DR stellen den zementierenden Teil der Warschauer Ve rtragsstaaten der sozialistischen 179 Schwenke: Befehl. 180 Ebenda.

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Gemeinschaft dar.“ 181 Tatsächlich w aren die Beziehungen der U dSSR zur Bundesrepublik damals – vor allem wegen der aus sow jetischer Sicht allzu engen Anbindung der bundesdeutschen Politik an die Außenpolitik der USA 182 – auf einem derartigen Tiefstand, daß Gorbatschow sich weigerte, dort einen Staatsbesuch zu machen, und ein solches Vorhaben auch Honecker, der gerne gefahren w äre, faktisch untersagte. 183 Ein politischer Deal, bei dem die UdSSR die DDR aufgegeben hä tte, war in jener weltpolitischen Situation jenseits des Vorstellungshorizonts aller Beteiligten. 184 Erich Mielke, als Befehlsgeber der O ibE-Ordnung gewiß ein Mitglied des „ engsten Kreises“ , m achte sich zwar große Sorgen um die politische Stabilität in den Nachbarstaaten, war aber selbst noch drei Jahre später, im Sommer 1989, des G laubens, die Sow jetunion werde mit massiver Wirtschaftshilfe den drohenden Bankrott der DDR abwenden. 185 Die den angeblichen Überlebenskünstlern unterstellte Fähigkeit zur Prognose des Auseinanderbrechens des Bündniszusam menhangs überschätzt deren Realitätstüchtigkeit. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht um eine empirisch valide A ussage, sondern um einen erzählerischen Topos: Verschwörergruppen, meint man, pflegen langfristig zu planen. Wenn die UdSSR an der D DR als „zementierendem Teil“ ihres Hegemonialbereichs festhielt, dann hätte das auch bedeuten können, die herrschenden Verhältnisse notfalls m it Hilfe „sowjetischer Bajonette“ aufrechtzuerhalten. Die Bereitschaft dazu ist auf seiten der UdSSR in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zweifellos stetig gesunken. A ber 1986 hat sich G orbatschow noch bem üht, das eigene Lager zusam menzuhalten. Wie weit er dabei eventuell gegangen w äre, ist nachträglich kaum festzustellen. Doch die Frage stellt sich nicht: Es gab seinerzeit in der DDR keine offene Unruhe, die so massiv gewesen wäre, daß die eigenen Sicherheitsorgane ihrer absehbar nicht hätten H err w erden können. Wie der engste Führungszirkel die Lage im eigenen Land einschätzte, dem onstrierte er in diesen Wochen vor aller Welt auf dem XI. Parteitag der SED, der ein einziges Ritual der Selbstbeweihräucherung war. 186 Hinter verschlossenen Türen w urde nicht anders gesprochen. Mielke hat damals vor einer Parteiaktivtagung des M fS zur Auswertung des Parteitages erklärt, „ in dieser G emeinsamkeit und vollen Übereinstimmung der Auffassungen und Positionen der SED und der 181 Information über das Gespräch von Honecker mit Gorbatschow am 20. 4.1986 in Berlin; zitiert nach Küchenmeister: Vieraugengespräche (1993), S. 79. 182 Vgl. Oldenburg: „ Neues Denken“ ( 1987), S. 1154–1160; Gorbatschow: Erinnerungen (1995), S. 702; Kwizins kij: Sturm (1993), S. 396 f. u. 407–418; Ash: Namen (1995), S. 157 f. 183 Vgl. Küchenmeister: Vieraugengespräche (1993), S. 98–100. 184 Vgl. Genscher: Erinnerungen (1995), S. 498 u. 507; Kwizinskij: Sturm (1993), S. 418–425. 185 Vgl. den Bericht von Gerhard Schürer, dem Leiter der Staatlichen Plankommission, über ein Gespräch mit Mielke im Juni 1989; Schürer: Biographie (1996), S. 147. 186 Vgl. Protokoll der Verhandlungen des XI. Part eitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands im Palast der Republik in Ber lin, 17. bis 21. April 1986, Berlin (Ost) 1986; Zimmermann: Aspekte (1986), S. 286 ff.

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KPdSU in den G rundfragen des sozialistischen und kommunistischen Aufbaus sowie der Außenpolitik liegt das feste Fundam ent und die große Kraft für unsere weitere Entwicklung“. 187 Die Lage in der DDR aber sei, so Mielke, 188 gekennvon „ einer hohen politischen Stabilität in unserer Republik“ zeichnet. Mit außenpolitischen Befürchtungen der SED-Führung ist der Erlaß der OibE-Ordnung im März 1986 nicht zu begründen. Tatsächlich handelte es sich dabei auch nicht um eine echte N euerung zur Schaffung eines zusätzlichen MfS-Strangs in anderen Institutionen, wie Schwenke irrtümlicherweise annahm, sondern um eine überarbeitete V ersion älterer „ Regelungen“ 189. „Offiziere im besonderen Einsatz“ gab es seit den fünfziger Jahren. Ihre Zahl war – anders als die hier kritisierte These verm uten läßt – in den achtziger Jahren stark rückläufig. 190 Es handelte sich dabei um „Angehörige des MfS, die [...] auf dem Gebiet der Abwehr und der Aufklärung unter Legendierung ihres Dienstverhältnisses mit dem MfS auf der G rundlage eines Arbeitsrechts- oder Dienstverhältnisses in sicherheitspolitisch bedeutsam en Positionen im Staatsapparat, der V olkswirtschaft oder in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens (Einsatzobjekte) eingesetzt und wirksam werden“. 191 Ihre Haupteinsatzgebiete waren – neben D DR-Botschaften, in denen HVA-Offiziere legendiert residierten – das Nachrichtenwesen und die Volkswirtschaft. 192 Seit den sechziger Jahren hatte das MfS über OibE das Kontrollwesen des Ministerrates für den Bereich V olkswirtschaft und die Sicherheitsbeauftragten in den Kombinaten in seiner Hand. 193 Diese Sicherheitsbeauftragten, die in der Regel OibE, m anchmal aber auch inoffizielle Mitarbeiter oder „ Gesellschaftliche Mitarbeiter Sicherheit“ waren, sollten „einen wirksamen Beitrag zur Gewährleistung von Sicherheit, Ordnung und Disziplin sow ie des G eheimnisschutzes, zur vorbeugenden Verhinderung von Störungen und Schäden im Reproduktionsprozeß sow ie zur Unterstützung der staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe zur Gewährleistung einer hohen inneren Stabilität“ leisten. 194 A n dieser A ufgabenstellung in 187 Referat auf der Zentralen Parteiaktivtagung zur Auswertung des XI. Parteitages der SED im MfS (16. Mai 1986), Manuskript; BStU, ZA, DSt 103286, S. 7. 188 Ebenda, S. 125. 189 Die Regelungen, die mit dem neuen Erlaß außer Kraft gesetzt wurden, sind am Ende des Dokuments aufgelistet; vgl. „OibE-Ordnung“, S. 873 f. 190 Der Höhepunkt wurde 1983 mit 3.471 OibE erreicht; 1989 gab es noch 2. 232 solcher Offiziere, ein R ückgang um 36 Prozent. V gl. G ieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter (1995), S. 23–26 u. 100 f. 191 „OibE-Ordnung“, S. 858. 192 Vgl. HA Kader und Schulung: ohne Titel (maschinenschriftl. Übersicht zum Mitarbeiterbestand), 31.10.1989; BStU, ZA, HA KuSch (unerschlossenes Material), Plg. 15 (3). 193 Vgl. Buthmann: Kadersicherung (1997), S. 63–65; Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII (1997), S. 50–52; Seul: Ministerium (1995), S. 563–567. 194 2. Durchführungsbestimmung zur Dienstan weisung Nr. 1/82 vom 3.3.1982, VVS MfS o008-19/82, zur Arbeit mit Sicherheitsbeauftragten, vom 3. 1.1983; BStU, ZA, DSt 102836, S. 5.

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einem Kernbereich der konspirativen Struktur hat sich durch die O ibEOrdnung von 1986 nichts geändert. Von irgendeiner Vorbereitung auf einen befürchteten Untergang der DDR ist in dieser Ordnung nichts zu finden. Den „ neuartigen Auftrag“ , der dam als angeblich erteilt worden ist, vermutete Schwenke denn auch in einer anderen Ordnung, der „Ordnung 8/86“, dem „Kronzeugendokument“ 195 dieser Verschwörungsthese. Über deren Inhalt berichtete er auf Basis „ mündlicher Informationen“, die nur Ä ußerungen ehemaliger MfS-Offiziere gewesen sein können. K ennt man dieses Dokument, so drängt sich der Eindruck auf, daß der Bürgerrechtler bewußt irregeführt worden ist. Bei der „Ordnung 8/86“ handelte es sich nämlich um die „Havarieschutzordnung“ des M fS. „ Havarie“ w ar keine Metapher für einen Zusammenbruch der DDR, sondern im wörtlichen Sinne gem eint: als ein „technischer Schaden, der in der Regel plötzlich eintritt, den normalen Betriebsablauf oder -zustand erheb lich beeinträchtigt und zur Zerstörung von technischen Anlagen führt“. 196 Es bleibt noch die Möglichkeit, daß die M fS-Terminologie verw echselt wurde und statt von einer „ Ordnung“ von einem „ Befehl“ die Rede w ar. Schon in der Überschrift von Schwenkes Artikel waren beide Begriffe durcheinandergeraten. In der bereits erwä hnten Veröffentlichung von A. Förster, in der das gleiche Thema, nun im Jahre 1998, abgehandelt w urde, heißt es denn auch, ohne die Quelle für diese Behauptung zu nennen: „Die Aufgaben der Stasi-G eheimagenten im ‚Ernstfall‘ regelt die bis heute verschollene ‚Überlebensordnung‘ der Stasi, der Befehl 8/86.“ 197 Doch auch der „ Befehl 8/86“ ist zugänglich. Er stammt vom 23. März 1986. Mielke schilderte darin wortreich die Sicherungsm aßnahmen zum X I. Parteitag der SED und „ befahl“, den beteiligten M fS-Angehörigen „für die gezeigte hohe Einsatz- und Kampfbereitschaft Dank und Anerkennung auszusprechen“. 198 Wie konnte eine so w enig abgesicherte Spekulation bis heute auf breite Resonanz stoßen? Ein wesentlicher Grund ist gewiß, daß sie einen um fassenden D eutungsrahmen für verschiedene neuere Enthüllungen und Erkenntnisse zu bieten scheint: die retrospektiven – und nicht sehr überzeugenden – Erklärungen ehem aliger sowjetischer Politiker, sie hätten schon Mitte der achtziger Jahre die Wiedervereinigung für unvermeidlich gehalten; 199 Konföderationsüberlegungen von Schalck-Golodkowski; 200 die Auf195 Zu diesem Begriff vgl. Pfahl-Traughber: Verschwörungsmythos (1993), S. 140. 196 „Ordnung Nr. 8/86 zur vorbeugenden Verhinderung und Bekämpfung von Havarien im Ministerium für Staatssicherheit – Havari eschutzordnung“ vom 19.2.1986; Expl.-Nr. 1168; BStU, ZA, DSt 103270, S. 11. 197 Förster: Auf der Spur (1998), S. 26. 198 Befehl des Ministers Nr. 8/86 vom 23.4.1986; BStU, ZA, DSt 103254. 199 Vgl. Ash: Europa (1995), S. 162–166; Hough: Democratization and Revolution in the USSR (1997), S. 184, 198, 208 f. 200 Schalck-Golodkowski, OibE und Leiter der K oko, berichtet, er habe vor dem Umbruch mit Gerhard Schürer und Siegfried Wenzel über eine „ Konföderation“ mit der Bundesrepublik nachgedacht, um mit Hilfe der Bundesrepublik das „ökonomische Überleben“ der DDR zu sichern. Vgl. „Ich habe mich korrekt abgemeldet“. Ein ZEIT-Gespräch mit Ale-

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deckung des K oKo-Konzerns 201 und das Beiseiteschaffen von M fS-Vermögen durch ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter im Zuge des Auflösungsprozesses. Die These von einer „Überlebensordnung“ scheint diese und ähnlich gelagerte Fakten und Indizien, die in der Tat einer Erklärung bedürfen, in einen plausiblen Zusammenhang zu bringen. Doch diese Konstruktio n ist auf Sand gebaut. Entstanden ist diese Behauptung, nachdem mit den Volkskammerwahlen im März 1990 die Revolutionäre der ersten Stunde, die Bürgerrechtler, an den Rand gedrängt und zu politischer Bedeutungslosigkeit verurteilt waren. Manchem von ihnen, keinesw egs allen, m ochte diese V erschwörungsthese als Erklärung dienen, die weniger kränkend war, als w enn man die G ründe des Scheiterns in der eigenen Politik gesucht hätte. 202 Eine Antwort allgemeinerer Art für die A ttraktivität solcher Erklärungsansätze findet sich in Überlegungen von Georg Simmel über die Bedeutung des Geheimnisses:

xander Schalck-Golodkowski, in: Die Zeit 11.1.1991, S. 9–11. Wenzel, 1967 bis 1989 Stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, sagt angesichts der desolaten außenwirtschaftlichen Lage der DDR, bedingt vor allem durch den Zusammenbruch der Welterdölpreise, sei 1985 erstmals im klei nen Kreis, inklusive Schalck, über eine „Konföderation“ mit der Bundesrepublik diskutiert worden. Gerhard Schürer, der Vorsitzende dieser Kommission, berichtet von ähnlichen Überlegungen im Jahr 1988. Es ging dabei aber noch nicht um eine Selbstaufgabe der DDR. Der Kerngedanke war vielmehr, ein Tauschgeschäft zu machen: Übernahme eines Teils der Verschuldung der DDR (ca. 12 Mrd. DM) durch die BRD gegen begrenzte Reisefreiheit für alle D DR-Bürger. V gl. „Wir waren die Rechner, immer verpönt“. Gespräch mit Dr. Gerhard Schürer und Siegfried Wenzel, in: Pirker u. a.: Plan ( 1995), S. 67–120, hier 111–113. Die geringe praktische Bedeutung dieser Überlegungen ist daran ablesbar, daß Ende Oktober 1989 – als die geschichtliche Möglichkeit zur Realisierung einer solchen Konzeption greifbar nahe war – Schalck, Schürer und einige andere hochrangige Funktionäre ein Memorandum zur Lage in der DDR und zu den außenwirtschaftlichen Beziehungen für den neuen SEDGeneralsekretär fertigten, in dem diese Option sogar ausdrücklich verworfen wurde: „Dabei schließt die DDR j ede Idee von Wiedervereinigung mit der BRD oder der Schaffung einer Konföderation aus. “ Anlage 4 zum Arbeitsprotokoll des Politbüros vom 31.10.1989; Schürer, Beil, Schalck, Höfner u. Donda: „ Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen“ vom 30. 10.1989; BA Berlin, J IV 2/2A/3252, 22 S. , hier S. 22; Nachdruck in: Deutschland Archiv 25(1992)10, S. 1112–1120, hier 1120; vgl. Hertle: Der Fall der Mauer (1996), S. 148. 201 Vgl. Beschlußempfehlung und Bericht, in: Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 3 (1994); Bahrmann u. Fritsch: Sumpf (1990). 202 „Anziehungskraft und Verbreitung von Verschwörungstheorien verdanken sich ihrer Funktion, Gruppen oder Einzelne, die unter ‚Streß‘ geraten, vom Druck der Realität weitgehend zu entlasten. ‚When bad things happen to good people‘, dann kann in der Welt etwas nicht stimmen, und diese Unstimmigkeit können Verschwörungstheorien überzeugend deuten.“ Groh: Versuchung (1992), S. 273. – Besonders deutlich wird dieser Motivationsstrang in der durch nichts belegten These von Rüddenklau, es habe Absprachen zwischen einer Markus-„ Wolf-Fraktion“ und „westeuropäischen Konzernen“ über das Ende der DDR gegeben, die hier ni cht w eiter erörtert w erden soll. Es handelt sich dabei offenkundig um eine Variante der zur Debatte stehenden These. (Rüddenklau: Störenfried [1992], S. 365) – Einigen der Gründe für den Bedeutungsverlust der Bürgerbewegung bin ich nachgegangen in: Revolution (1990); vgl. auch Wielgohs u. Schulz: Reformbewegung (1990).

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„Aus diesem Geheimnis, das alles Tiefere und Bedeutende beschattet, wächst die typische Irrung: alles Geheimnisvolle ist etwas Wesentliches und Bedeutsames. Der nat ürliche Ideal isierungstrieb und di e natürliche Furchtsamkeit des Menschen wirken dem Unbekannt en gegenüber zu dem gl eichen Zi ele, es durch di e Phant asie zu st eigern und i hm ei ne Aufm erksamkeitsbetonung zuzuwenden, die di e offenbart e W irklichkeit m eistens ni cht gewonnen hät te.“ 203

B Vergleichende Transitionsforschung – der Interpretationsansatz In methodisch stärker kontrollierter Form sind die geschichtlich Handelnden und ihre Strategien Gegenstand der akteurszentrierten Transitionsforschung, die auf Basis von Fallstudien zum Zusammenbruch der südeuropäischen und der südamerikanischen Militärdiktaturen in den siebziger und achtziger Jahren entwickelt worden ist. 204 V on einem der wichtigsten Protagonisten dieses Ansatzes, dem Chicagoer Po litikwissenschaftler Adam Przeworski, sind dort gewonnene Ergebnisse mit dem Umbruch des Jahres 1989 in O steuropa, speziell in Polen, verglichen w orden. 205 Bei der A useinandersetzung mit diesem Ansatz geht es nicht um die Übertragung einer sozialwissenschaftlichen Theorie. Ein solches Vorhaben würde schon wegen der Unterschiedlichkeit der Regime Probleme aufwerfen. Nützlich sind die von den V ertretern dieses A nsatzes herausgearbeiteten ty pischen Problemstellungen und Prozesse als heuristisches Hilfsm ittel. 206 Ein w eiterer A spekt kommt hinzu: D ie vorliegende D arstellung handelt von einem Thema mit hoher Aktualität, bei dem sich der Autor als Zeitzeuge besonders bemühen muß, nicht aus der Beobachter- in die Teilnehmerperspektive abzugleiten. 207 Die Interpretation von Ereignissen in dem Kontext dieses D iskurses und der Vergleich mit Ergebnissen der Transitionsforschung ist dabei hilfreich, die notw endige D istanz zu gew innen. Wenn es dann noch gelingt, Besonderheiten der DDR-Entwicklung kenntlich zu machen, rechtfertigt das 203 Simmel: Soziologie (1992), S. 409; vgl. dazu Stölting: Mafia (1983), S. 12. 204 Vgl. den Überblick in Merkel: Struktur (1994). 205 Przeworski: S piel ( 1990); ders.: Democracy (1991); Glaeßner: Perestroika (1997). Bezogen auf Ungarn arbeitet etwa Máté Szábo von der Un iversität Budapest mit diesem Ansatz; Máté Szábo: Der Aufstand in Ungarn 1956. Internationale Auswirkungen und politische Bedeutung der gescheiterten Ent-Stalinisierung; Referat auf der Tagung „Rückkehr nach Europa? Die geistige-politische Dimension des ostmitte leuropäischen Umbruchprozesses seit 1989“ der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam 8.–9.11.1996. 206 Vgl. Bos: Rolle (1994), S. 105. 207 „Sobald die Sicht des analysierenden Beobachters mit der Perspektive verschmilzt, die die Teilnehmer an Selbstverständigungsdiskursen einnehmen, degeneriert Geschichtswissenschaft zu Geschichtspolitik.“ Habermas: Die postnationale Konstellation (1998), S. 51 f.

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diesen vielleicht etwas umständlich anmutenden Weg. Der Sturz von Diktaturen in vergleichender Sicht Bei Vertretern dieser Schule gibt es erhebliche D ifferenzen im m ethodischen A nsatz. 208 Während O’Donnell und Schm itter Fallstudien verallgemeinern und daraus Frage- und Interpretationsraster entw ickeln, versucht Przeworski in einem stärker deduktiven V orgehen rationale H andlungskalküle und -strategien zu entw erfen. Zur Rekonstruktion der Logik der G eschehnisse ist dies der reizvollere A nsatz, w obei es jedoch nicht im mer möglich sein w ird, solche Strategien und kurzfristiger angelegte Taktiken empirisch fundiert zu rekonstruieren – sei es w egen fehlender Q uellen oder auch deshalb, weil die Akteure gar nicht daran dachten, kollektives Handeln mit Blick auf die H andlungsfolgen zu planen. Es verspricht aber auch in diesem Fall größeren Erkenntnisgew inn, wenigstens den V ersuch zu unternehmen, den Sinn ihrer Ä ußerungen und ihres tatsächlichen Handelns zu rekonstruieren, als einfach zu unterstellen, sie seien „blind“ oder „irrational“ gewesen. D ann näm lich könnte ihr H andeln nur noch beschrieben, aber nicht mehr erklärt werden. In der Transitionsforschung wird der Übergang von autoritären Systemen zur D emokratie als dreistufiger Prozeß von Liberalisierung, D emokratisierung und demokratischer Konsolidierung beschrieben. 209 Nur die ersten beiden Phasen sind in unserem Zusammenhang von Interesse. Um diesen Prozeß genauer zu erfassen, sollen diese Phasen weiter ausdifferenziert werden: Vorstadium:

Verzicht auf offene Repression und kalter „ Stellungskrieg“ zwischen Regime und Opposition

frühes Stadium der Liberalisierung:

Dominanz der Softliner über die Hardliner und Duldung zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation

reifes Stadium der Liberalisierung: Demokratisierung:

Legalisierung oppositioneller Organisationen Transformation b estehender I nstitutionen bzw. Aufbau neuer Institutionen zur Kontrolle der Macht und Akzeptanz der Etablierung von Regeln zum Machtwechsel durch den Reform erflügel des Alten Regimes

Die Ausgangsfrage ist, warum Diktaturen überhaupt politische Öffnungen einleiten, da doch – nach einer häufig zitierten Form ulierung – „der gefähr208 Vgl. O’Donnell u. Schmitter: Conclusions (1993), S. 4 f. 209 Diese Phaseneinteilung wurde eingeführt durch O’Donnell u. Schmitter: Conclusions (1993), S. 6–11.

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lichste Mom ent für eine schlechte Regierung der ist, wo sie sich zu reformieren beginnt“. 210 Ein solches V orhaben endet nicht selten mit dem Sturz der Regierung und des Regim es, das sie repräsentiert. (D aß gleich noch der Staat zugrunde geht, wie im Falle der D DR, ist allerdings eine A usnahme.) Vier G ründe für die Einleitung solch eines riskanten Manövers durch die Machthaber hat Adam Przeworski erörtert: 211 1. Das Regime hat seinen Zweck erfüllt; dam it entfällt seine funktionale Notwendigkeit. 2. Das Regime hat einen schwerwiegenden Legitimitätsverlust erlitten. 3. Konflikte innerhalb des „ herrschenden Blocks“ können intern nicht gelöst werden und führen dazu, daß ein Teil des Alten Regimes externe Unterstützung sucht. 4. Äußerer Druck in Richtung Reform en führt dazu, daß das Regim e Kompromisse eingeht. Von deutschen Politikwissenschaftlern is t Przeworskis Analyse generell zustimmend rezipiert worden, aber gerade die Relevanz einiger dieser A spekte für die Interpretation des Um bruchs in der DDR wurde bestritten 212 – m eines Erachtens zu Unrecht. Im einzelnen wird das in der folgenden U ntersuchung zu begründen sein, da es um die Rekonstruktion historischer G eschehnisse und Ereignisabläufe geht, die in diesen politikwissenschaftlichen Arbeiten allzu pauschal abgehandelt w erden. Doch einige grundsätzliche Aspekte sollen schon an dieser Stelle erläutert werden. Die Frage, ob die kom munistischen Regim e in O steuropa gestürzt w orden sind, weil sich ihre „ funktionale N otwendigkeit“ erledigt hatte, w ird von Przew orski selbst offengelassen. 213 Wenn m an diese These im Sinne einer Selbstdarstellung als Übergangsregime versteht, so wie manche lateinamerikanische Militärdiktaturen oder die griechische Junta postulierten, erst müßten sie die „ kommunistische Subversion“ ausrotten, dann w ürden sie wieder abtreten, hat das mit dem Selbstverständnis kommunistischer Parteidiktaturen in der Tat wenig gemein. Letztere verstanden sich nicht als Institutionen des Übergangs vor der „ Rückkehr zu einem dem okratischen Regime“. 214 „Funktionale Notwendigkeit“ kann sich aber auch dadurch erledigen, daß die ihr zugrunde liegende Zielfunktion entfällt. Das Selbstverständnis dieser Systeme war über lange Zeit teleologisch und damit funk210 Tocqueville: Staat (1969), S. 153. 211 Przeworski: Problems (1986), S. 50. 212 Vgl. Merkel: SED-Regime (1991), S. 30–41; Beyme: Systemwechsel (1994), S. 52–61; kritisch hinsichtlich aller vier Faktoren äuße rn sich Klaus von Beyme u. Dieter Nohlen in: Stichwort „ Systemwechsel“ (1996), S. 772 f. Merkel läßt ebenso wie von Beyme (in: „Systemwechsel“) nur Legitimationsverlust und außenpolitischen Druck als Erklärungsfaktoren gelten, bestreitet aber, daß der Wegfall der Zielfunktion irgendeine Rolle gespielt hätte, und räumt Konflikten im herrschenden Block nur geringe Bedeutung ein. 213 Er schreibt: „ I have nothing to say about ...“; Przeworski: Problems (1986), S. 50. Zu wenig beachtet wurde von seinen Kritikern, daß Przeworski selbst die genannten Erklärungsfaktoren nur mit Einschränkung akzeptiert. 214 Von Beyme u. Nohlen: „Systemwechsel“ (1996), S. 772.

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tional auf den „Aufbau“ und die schließliche Realisierung der „ klassenlosen Gesellschaft“, des „Kommunismus“, bezogen. Ihre Ideologen bastelten filigrane Kunstwerke der Scholastik, um dort eine schrittweise Vorwärtsbewegung zu suggerieren, w o es nur noch darum ging, Stagnation zu verbergen. Der ideologische Schneckengang kam Anfang der siebziger Jahre zum Stillstand, als die Doktrin des „real existierenden Sozialismus“ verkündet wurde. Damit wurde die V erbindungsschnur zw ischen kom munistischer „ Zielkultur“ und gegenw ärtiger „ Übergangskultur“ 215 gekappt m it dem für die Rechtfertigungsbemühungen des Sy stems fatalen Ergebnis, daß es keinen Grund mehr anzugeben hatte, w arum man sich den Mühen der G egenwart unterziehen sollte. 216 Zugleich wurde dadurch die „Achillesferse“ aller Diktaturen im 20. Jahrhundert schm erzhaft spürbar: ihre vergeblichen Versuche, sich als „ demokratisch“ zu legitimieren. 217 D ie Machtanm aßung der Partei wurde damit auch offiziell auf unbegrenzte Dauer gesetzt. Der ideologische Stillstand war unter anderem ein Reflex auf das Ende sozialer Aufstiegsmobilität, die in der Anfangszeit einen beträchtlichen Integrationsfaktor gebildet hatte. 218 Sicherlich w ar das nicht der einzige Grund für das Ende dieser Sy steme, denn sie dauerten noch achtzehn Jahre. Aber ein wesentlicher Faktor schwindender Integrationsfähigkeit war es gewiß. 219 Bei der Beantw ortung der Frage nach dem Verlust „funktionaler Notwendigkeit“ kommt es zudem auf den Bezugsrahm en an: Das Sy stem in der DDR war nicht autopoetisch entstanden, sondern als A usdruck der Interessen der sowjetischen Besatzungsmacht, 220 wenngleich deren Am bitionen ursprünglich w eiter r eichten. 221 I m Z uge d er veränderten Westpolitik der Sowjetunion in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, auf die noch zurückzukommen sein w ird, erfuhr der Stellenw ert der DDR für sowjetische außenpolitische Interessen eine Entwertung. Das führte erst im Frühjahr 1990 soweit, daß auf ihre staatliche Existenz verzichtet wurde, aber das alte SEDRegime war schon im Jahr zuvor beim Bau des „ europäischen Hauses“ hinderlich geworden. Auf diesen Umstand hat der Repräsentant der sow jetischen Führungsm acht, Gorbatschow, im Herbst 1989 relativ deutlich hingewiesen. Damit wird zugleich die Relevanz des vierten Faktors, Druck von außen, deutlich. Aus diesen Gründen ist es durchaus zutreffend, im manent betrachtet, von einem Verlust an Funktionalität des Alten Regim es in der DDR zu sprechen. 215 Vgl. zu diesen Begriffen Johnson: Compari ng (1970), S. 7; Glaeßner: Sozialistische Systeme (1982), S. 114–117. 216 Das habe ich genauer erläutert in: Eigenständigkeit (1988), S. 191–195, 211. 217 Vgl. O’Donnell u. Schmitter: Transitions from Authoritarian Rule (1993), S. 15. 218 Zur lähmenden Beharrungskraft der „ FDJ-Generation“ in den Machthierarchien der späten DDR vgl. Niethammer: SED (1997), S. 313 u. 331. 219 Vgl. dazu sehr weitsichtig und unter Einbeziehung der sozialökonomischen Integrationsmechanismen: Ash: Niedergang (1988). 220 Vgl. Naimark: Russen (1997). 221 Vgl. Loth: Stalins ungeliebtes Kind (1994).

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Legitimitätsverlust als zweiter Erklär ungsfaktor setzt vorher bestehende Legitimität voraus. Die Schwierigkeit, die m it der Überprüfung dieser Annahme verbunden wäre, vermeidet Przeworski, indem er Legitim ität als „organisierten Konsens“ definiert, dessen Monopolanspruch durch die D rohung mit Gewalt erfolgreich durchgesetzt wird. 222 Das funktioniere so lange – argum entiert er unter Berufung auf Max Webers Begriff der „Fügsamkeit“ 223 –, wie für die vereinzelten Individuen keine A lternative existiert. 224 In der DDR des Jahres 1989 aber gab es sogar mehrere solche Alternativen: die inzwischen relativ ungefährliche Flucht in den anderen deutschen Staat, die freilich die Vereinzelung nicht aufhob; und für jene, die zu bleiben entschlossen waren, länger schon die „ Perestroika“ der sowjetischen Hegemonialmacht als Modell, von dem so w ie früher zu „ lernen“ wäre. Hinzu kam durch die Massendemonstrationen seit Ende September/Anfang Oktober 1989 die klassische Form des Legitimitätsverlustes. Im Zusam menhang unserer D arstellung ist die interessanteste Frage die nach K onflikten innerhalb des „ herrschenden Blocks“, schärfer formuliert: „ob sich einige Mitglieder des herrschenden Blocks um Unterstützung nach außen w enden“. 225 G ewiß kann nicht die Rede davon sein, daß Teile der SED-Elite vor dem Sturz Honeckers um Unterstützung heischend an die Opposition appelliert hätten. 226 D en U mschlagspunkt kann m an in dieser Beziehung allerdings, ohne dem G rundgedanken G ewalt anzutun, etwas früher ansetzen: an dem Punkt näm lich, wo einzelne Machthaber im Unterschied und Gegensatz zur bisherigen Politik Kom promisse mit Kräften außerhalb suchen. Der Sinn eines solchen Manövers ist natürlich, im oppositionellen Lager Ansprechpartner für die eigene Taktik zu finden, m it denen zumindest erste Regularien für den U mgang mit dem Konflikt ausgehandelt werden können. Das bedeutet die faktische und von außen bereits sichtbare Desintegration des Regimes als selbstherrlicher H andlungseinheit, ehe es zur offenen Spaltung kommt. Anlaß für „Differenzen im autoritären Block“ sind häufig „ Hinweise auf eine drohende K rise“, 227 an denen es auch in der D DR seit dem Sommer 222 Przeworski: Problems (1986), S. 53. 223 „Fügsamkeit kann vom einzelnen oder von ganzen Gruppen rein aus Opportunitätsgründen geheuchelt, aus materiellem Eigeninteresse praktisch geübt, aus individueller Schwäche und Hilflosigkeit als unvermeidlich hingenommen werden.“ Weber: Wirtschaft (1976), S. 123. 224 Przeworski: Problems (1986), S. 51 f.; Przeworski: Spiel (1990), S. 191. 225 Przeworski: Problems (1986), S. 56. 226 In dieser Beziehung scheinen mir die Einwände von Beymes: Systemwechsel (1994), S. 53, zutreffend. 227 Vgl. hierzu und zum folgenden Przeworski: Spiel (1990), S. 192; vgl. auch Bos: Eliten (1994), S. 85–87. – Der in früheren Jahrzehnten im internationalen Vergleich häufigste Auslöser für die Einleitung einer Liberalis ierung war eine militärische Niederlage; vgl. O’Donnell u. Schmitter: Conclusions (1993), S. 17 f. Im Fall der kommunistischen Regime Osteuropas könnte man zwar von einer Niederlage im „ Kalten Krieg“ sprechen, aber das hätte eher metaphorischen Charakter.

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1989 nicht fehlte. 228 Was aber auch immer der Auslöser sein m ag, es gibt kein Beispiel für einen Ü bergang zur Liberalisierung, „ dessen Beginn nicht die – direkte oder indirekte – Konsequenz bedeutender Spannungen innerh alb des autoritären Regimes selbst ist, prinzipiell entlang der fluktuierenden Spaltung zwischen Hardlinern und Softlinern“ . 229 Es geht beiden „Fraktionen“ 230 um den Erhalt der Macht, darum , die Diktatur erneut zu stabilisieren. Die Grenze zwischen beiden politischen Richtungen ist gerade in der Anfangsphase fluktuierend. Adam Michnik m achte im März 1989 als V ertreter der Solidarno am Runden Tisch in Warschau folgende Beobachtung: „Die Spal tung i n R eformer und St alinisten geht oft durch ei n und di eselbe Person. Am runden Tisch konnten wir oft beobachten, wie der gleiche Parteifunktionär zuerst eine geradezu ket zerisch fortschrittliche Stellungnahme abgab, um einen Augenbl ick spät er wi eder i n das Vokabul ar ei nes st alinistischen Politfossils zurückzufallen.“ 231

Der Unterschied besteht darin, daß die „ Hardliner“ jede Veränderung fürchten und eventuell bereit sind, auch zu härteren Repressionsm aßnahmen zu greifen. Die „ Softliner“ dagegen sehen in der Repression keinen Ausweg aus der Krise. In der Sprache der dam als Mächtigen geht es um ein „ administratives“ oder ein „ politisches“ Herangehen. Eine „ administrative“ Lösung wird durch Sicherheitskräfte und Ju stiz exekutiert, w ährend bei einem „politischen“ Herangehen der Hauptakteur auf seiten des Alten Regimes die Partei sein muß. Die G eheimpolizei kann sich zw ar bem ühen, eine solche Lösung abzusichern und verdeckt zu unterstützen, aber sie kann sie nicht vollständig simulieren. Der sowjetische G eheimdienstchef Berija, der größere Macht über die Partei errungen hatte, als das danach jem als dem Leiter einer kom munistischen G eheimpolizei gelungen ist, w ar nach Stalins Tod bem üht, sich als Softliner zu profilieren. Dieses Manöver scheiterte jedoch nach wenigen Monaten, weil sein Rollenw echsel allzu leicht durchschaubar und die Institution, die er repräsentierte, dafür ungeeignet w ar. 232 Mielke wäre für eine 228 Die Entwicklung hin zur offenen Krise wird im folgenden Kapitel dargestellt. 229 O’Donnell u. Schmitter: Conclusions (1993), S. 19. 230 „Fraktion“ meint, daß es zwei deutlich unterscheidbare politische L inien gab. Die Verwendung dieses Terminus geschieht in dem Bewußtse in, daß es sich um eine anachronistische Ausdrucksweise handelt, denn das leninistisch-stalinistische Erbe, „ Fraktionsmacherei“ sei eine Todsünde gegen die Parteidisziplin, wirkte in diesen Kommunisten – und gerade in der SED – fort. Es ging dabei nicht nur um die Vermeidung eines Tabubegriffs, sondern um eine praktisch wirksame Denk- und Handlungsblockade, die den politischen Differenzierungsprozeß gebremst hat. 231 Zitiert nach Klaus Bachmann: Polens neuer Pluralismus hat viele Gesichter, in: die tageszeitung 7.4.1989. 232 Vgl. Breslauer: Khrushchev (1982); Filtzer : Chruschtschow-Ära (1995); Michal Reiman: Der 20. Parteitag der KPdSU. Personen und Intentionen; Referat auf der Tagung „Rückkehr nach Europa? “ der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung, Pots-

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solche Maskerade gänzlich ungeeignet gew esen. Mit welchen spezifischen Methoden die von ihm geleitete Staatssicherheit die politische Entwicklung in der späten DDR zu beeinflussen suchte und auf w elche Grenzen der geheimpolizeiliche Beitrag dabei stieß, wird darzustellen sein. Softliner werden zu „ Liberalisierern“, wenn sie – aus taktischen Gründen – auf eine Politik setzen, m it der die Integrationsfähigkeit des Regimes durch politische Zugeständnisse, erweiterte Rechte für Individuen und Gruppen verbessert werden soll. Dabei m einen sie – häufig zu U nrecht –, die Situation unter K ontrolle halten zu können. Setzen sie sich durch, so verringert das Alte Regim e seine Repression, zivilgesellschaftliche Initiativen und O rganisationen werden geduldet, die Phase der Liberalisierung beginnt. Der Unterschied zwischen beiden vielleicht schon vorher existierenden, sich m öglicherweise aber auch erst in dieser Konstellation herauskristallisierenden Fraktionen der Machtelite liegt nicht auf der moralischen Ebene, besteht nicht unbedingt darin, daß die Liberalisierer die edleren Motive hätten, sondern in den Taktiken des Machterhalts. Das gilt selbstverständlich genauso auf der früheren Ebene, der Differenzierung zwischen Hardlinern und Softlinern. Das schlagendste Beispiel dafür ist die erwähnte Verwandlung des gefürchteten Geheim dienstchefs Lawrentij Berija im Jahre 1953. Mit Blick auf O steuropa im Jahre 1989 wären diese Überlegungen hinsichtlich der Ausgangsphase noch um einen Aspekt zu ergänzen, auf den T. G. Ash in einem Essay über den „Bürgerfrühling“ im Herbst hingewiesen hat: Der Übergang zur Liberalisierung kann auch dadurch bedingt sein, „daß die herrschende K lasse den G lauben an ihren eigenen Herrschaftsanspruch verloren hat“. 233 Nicht Taktik, sondern Demoralisierung der Mächtigen und daraus resultierende Handlungsunfähigkeit wäre dann die eigentliche Ursache für den V erzicht auf offene Repression. D ie Einsicht in die Ausweglosigkeit eines Versuchs, die Machtstrukturen gewaltsam zu retten, mag unterschiedlich stark ausgeprägt sein, und die D emoralisierung selbst kann verschiedene Gründe haben: Verlust des Glaubens an die Mission des eigenen Systems oder auch eine Situation, in der die A kteure keine Entscheidungsmöglichkeit mehr haben, die m it ihrem Selbstverständnis vereinbar wäre. Eine Liberalisierung können kom munistische Regime vorübergehend ertragen, obwohl sie mit ihrem Monopolanspruch auf Ideologie und Organisation und ihrem innergesellschaftlichen Feindbild kollidieren. Beispiele dafür gibt es viele: vom Rußland der Neuen Ökonom ischen Politik in den zwandam 8.–9.11.1996. In der Zeitschrift „ Osteuropa“ wurden verschiedene einschlägige Dokumente veröffentlicht: D er „ Neue K urs“ Berijas nach Stalins Tod, in: O steuropa 48 (1998)11–12, S. A367–A375. 233 Ash: Jahrhundert (1990), S. 462. Ähnlich argumentieren, wie erwähnt, Hirschman: Abwanderung (1992); Maier: Dissolution (1997), S. 57 und zuvor schon Brinton: Die Revolution (1959), S. 133.

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ziger Jahren bis hin zur schrittweisen Öffnung des politischen Raum s im Ungarn der achtziger Jahre. Obwohl die politische Elite möglicherweise gespalten ist, ist doch die Macht selbst in dieser Phase keiner gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen. Mit der Demokratisierung aber w ird eine neue Qualität erreicht, weil sie die „ Institutionalisierung von Unsicherheit“ 234 bedeutet: die Institutionalisierung permanenter Konflikte über die politische Gestaltung des G emeinwesens, deren Ergebnis prinzipiell offen ist. Kommunistische Bürokraten aber gehen davon aus, die Politik zu verkörpern, die zum Gemeinwohl führt. Ihnen ist solche U nsicherheit „ideologisch, psychologisch und politisch“ zutiefst zuwider, 235 nicht zuletzt weil dam it die „führende Rolle der Partei“ , das Kernelem ent des Regim es, in Frage gestellt wird. Eine Politik der Liberalisierung ist „ihrem Wesen nach unstabil“, 236 denn wenn die Bürger die Luft der Freiheit zu schnuppern beginnen, neigen sie dazu, den vom Regim e vorgegebenen Rahm en zu überschreiten. G esellschaftliche Selbstorganisation, sich ausweitende Dem onstrationen, Streiks und Versam mlungen sind von oben kaum m ehr zu kontrollieren. In dieser neuen Situation kom men die Liberalisierer in der Regel im herrschenden Block in Bedrängnis, weil sich nun die Befürchtungen der H ardliner bestätigen. Das Risiko einer repressiven Wende w ächst, die zur U nterdrückung der Volksbewegung und zum indest zu einer entscheidenden Schw ächung der Machtposition der Liberalisierer führen würde. 237 D ie Schicksale von Nagy 1955 238, von Dubcek 1968/69, von Kania 1981 oder von Zhao Ziyang 1989 zeigen, welche Möglichkeiten eines repressiven roll-back während einer solchen Phase in den kommunistischen Regimen steckten. Für die DDR des Jahres 1989 ist zu fragen, ob es in der Machtelite nach dem 9. Oktober Überlegungen oder gar Versuche gab, die Entwicklung umzukehren. Besonders die Politik der Staatssicherheit ist in diesem Zusammenhang von Interesse, denn das M fS hatte bereits in dieser Phase (früher als die SED) seine raison d’être verloren – wurde nun doch geduldet, was es zuvor hatte verhindern sollen. Wie hat sich seine Führung in dem neuen politischen Kräftefeld verortet? Hat sie hinter den Kulissen versucht, eine Hardliner-Position zu vertreten, oder hat sie sich den Liberalisierern angepaßt? Wie haben die einfachen „Tschekisten“ reagiert? Folgt auf die Liberalisierung nicht ein repressiver Rückschlag m it anschließender „ Normalisierung“ 239, dann stellt sich die Frage, „ob die rele234 235 236 237 238

Przeworski: Problems (1986), S. 58. Ebenda, S. 59. Przeworski: Spiel (1990), S. 192. Vgl. ebenda, S. 193. Gemeint ist der Imre Nagy der Jahre 1953–1955, der in Ungarn eine Liberalisierung einleitete, die durch die vorübergehende Rückkehr von Matyas Rákosi an die Macht beendet wurde. Der Imre Nagy des Oktobers 1956 war ein Demokratisierer – diese Rolle hat er bekanntlich 1958 mit seinem Leben bezahlt. 239 Vgl. Brus: Aussichten (1982); Kende: Norm alisierung (1982); Mlynár: Normalisierung

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vanten politischen Kräfte Institutionen akzeptieren werden, die eine offene, wenn auch begrenzte politische Auseinandersetzung erm öglichen würden“. 240 Sollte das der Fall sein, dann werd en die Liberalisierer zu Reformern, und die politische Öffnung geht über in einen Prozeß der Demokratisierung: Der Zugang zur politischen Macht wird ausgeweitet, ein politischer Wettbewerb mit kontingenten Ergebnissen entsteht, und die Ausübung politischer Macht wird institutionalisierten Kontrollen unterworfen. 241 In kom munistischen Regimen aber ist der K ern der Diktatur die in späteren Jahren in der Verfassung verankerte, geschichtsphilosophisch legitimierte „Parteisouveränität“. Wenn nun die Stellung der Partei nicht mehr als institutionell verankert, sondern nur noch als „ politisch führend“ interpretiert wird, wie das in solchen Ü bergangssituationen regelm äßig geschieht, so handelt es sich um eine system fremde Konstruktion, denn sie rekurriert bereits auf Volkssouveränität. In der Regel ist das ein Rückzugsm anöver, das noch bestehenden Machtstrukturen neue Legitim ität verleihen soll und sie damit zugleich weiter unterhöhlt. Ein wesentliches Elem ent des Übergangs zur Dem okratie war in der DDR die Entmachtung des MfS. Sie hat dazu beigetragen, die D emokratisierung unumkehrbar zu m achen und eine verdeckte D ominanz der Regierung durch die Geheimpolizei zu verhindern. Das Ergebnis, die schließliche Auflösung des M fS, ist bekannt, doch w ie es dazu gekommen ist, was sich hinter den Kulissen abspielte, welche taktischen Manöver vollzogen wurden und woran der Versuch der alten MfS-Führung gescheitert ist, ihren Apparat in „ modernisierter“ Form dem dem okratischen Institutionensystem zu implantieren, bedarf genauerer Untersuchung. Als Akteure des Wandels w urden bisher zw ei G ruppierungen benannt: die Vertreter des Alten Regim es und die Opposition. Im Fall der DDR sind das die Spitzen der SED auf der einen Seite und evangelische Kirche und Bürgerrechtsgruppen und Demonstranten auf der anderen. Ein so dichothomisches Bild entspricht der K onzentration der akteurszentrierten Transitionsforschung auf „die Individuen und Gruppen, die den Transitionsprozeß in G ang setzen und gestalten“. 242 Beide G ruppen w erden bei diesem Forschungsansatz noch einm al nach ihrer Risikobereitschaft differenziert: auf seiten des Regimes in mehr oder w eniger bedenkenlose H ardliner und eher risikoscheue Liberalisierer bzw. Reform er, auf seiten der Opposition in Radikale und G emäßigte. 243 Trotz solcher D ifferenzierungen ist dieser Deu(1982); Hirszowicz: Normalisierung (1986). 240 Przeworski: Spiel (1990), S. 195. 241 Vgl. Rüb: Institutionen (1994), S. 115. 242 Bos: Eliten (1994), S. 87. 243 P rzeworski: Problems (1986), S. 54; Przeworski: Spiel (1990), S. 196. Später, im Stadium der Demokratisierung, in dem das Kriterium Risikobereitschaft keine so elementare Bedeutung mehr hat, meint es hinsichtlich der Opposition natürlich die Schärfe des Bruchs mit dem alten Regime.

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tungsrahmen in zweierlei Hinsicht zu eng: Erstens geht es nur um die Eliten, jene des Alten Regim es und eine wachsende Gegenelite, deren Machterhalts- bzw . -erw erbsstrategien rekonstruiert w erden. 244 Es sind aber noch andere Bevölkerungsgruppen einzubeziehen, deren V erhalten für den Umbruch von entscheidender Bedeutung w urde. Zum zw eiten setzt diese Perspektive voraus, daß die Akteure sich allein am Machtgewinn bzw. -verlust orientierten. Die Bürgerrechtsbewegung in der DDR jedoch wollte zwar die alten Machtstrukturen zerbrechen, scheute aber – in ihrem Selbstverständnis ganz Teil einer civil society – vor eigener Macht zurück. Bei ihr standen andere Werte im Mittelpunkt wie Menschenrechte, Bewahrung der Um welt und soziale G erechtigkeit. Selbst ein instrumentelles Verhältnis zur Macht war vielen ihrer gesinnungsethisch geprägten Akteure fremd. Solange sie aus der Opposition heraus agierten, läßt sich ihr Verhalten dennoch unter diesem Bezug verstehen, sobald aktives m achtpolitisches Handeln m öglich und notwendig wurde, ist das problematisch. Als zusätzliche Akteure sind im Fall der DDR – selbst wenn man von externer Einflußnahme 245 abstrahiert – jene Menschen m it einzubeziehen, die zahlenmäßig wohl den größten Bevölkerungsanteil um faßten: die angepaßten, mehr oder weniger loyalen Bürger. Diese Gruppierung muß selbst wieder differenziert w erden, w eil sie sehr unterschiedliche Einstellungen umgreift, die m it Przeworskis Legitimitätsbegriff („ organisierter Konsens“ bzw. Fügsamkeit unter dem Eindruck drohenden Zwangs) nicht vollständig zu fassen sind. Sinnvoll scheint eine Unterscheidung zwischen systemtreuen Bürgern, die von der Legitim ität des Regim es, seiner Werte und Zwecke, grundsätzlich überzeugt w aren, 246 und äußerlich angepaßten, loy alen Bürgern. Hinter letzterem Verhaltenstypus, der – zugestanden – auch den Charakter einer Residualkategorie hat, kann sich ein relativ breites Spektrum unterschiedlicher Einstellungen von Menschen verbergen, die sich „ an subjektiven Interessen und an partikularen oder solchen Werten“ orientieren, „die ungeachtet einer nicht geteilten offiziellen Wert- und Zwecksetzung der Herrschaft verfolgt w erden“ können. 247 Für diese Teilgruppierung galt lange Zeit das bekannte DDR-Motto „ Privat geht vor K atastrophe“. D ie 244 Diese Kritik an Przeworskis Ansatz äußert auch, ohne sie weiter zu entwickeln, Bos: Eliten (1994), S. 105. Auf O’Donnell und Schmitter, denen es nicht um ein theoretisches Modell, sondern um die Systematisierung empirischer Beobachtungen geht, trifft diese Kritik nicht zu: Bei ihnen nimmt die Mobilisierung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen einen wichtigen Platz ein. Vgl. O’Donnell u. Schmitter: Transitions (1993), S. 48–56. 245 Zu denken wäre natürlich an die sowjetische, aber auch die ungarische und die polnische Führung und ihre jeweiligen innergesellschaftlichen Kontrahenten auf der einen Seite und Institutionen (Regierung, Parteien, Medien) der Bundesrepublik auf der anderen Seite. 246 Die „Kader mittlerer Ebene“, deren Verhalten Linz und Stepan entscheidende Bedeutung für die Form des Ü bergangs in der D DR beimessen, sind eine Teilmenge dieser politisch definierten Kategorie. Vgl. Linz u. Stepan : Problems of Democratic Transition (1996), S. 48 u. 254. 247 So die Definition von Loyalität bei Meuschel: Integration (1985), S. 18.

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Einstellung mußte keineswegs unpolitisch sein. Sie konnte – gerade in der Arbeiterschaft – einem Kalkül entspringen, das Einsicht in die Machtverhältnisse mit effektivem Schutz der eigenen Interessen auf Betriebs- oder Abteilungsebene verband – in kühler D istanz zu den Rechtfertigungsideologien des Regim es, 248 wobei „ sich Teile der Arbeiterschaft pragm atisch der inszenierten ‚Realität‘ bedienten, um soziale Positionsvorteile zu erlangen“. 249 Schließlich gab es Bürger m it kritisch-loyaler Einstellung. In ihrer Verpflichtung auf die Werte, die das Regim e zu verkörpern vorgab, ähnelten sie den sy stemtreuen Bürgern, hatten aber in deutlichem Unterschied zu den „ Hundertfünfzigprozentigen“ eine kritische Einstellung zur Realisierung dieser Werte: sei es die aktuelle politische Linie, die Methoden der Machtsicherung oder gar die H errschaftsstrukturen. Aus Sicht des Machtapparates waren sie gefährlich, weil sie das System an seinen eigenen Normen maßen, und wurden bekämpft, w enn sie eine im Einzelfall schw er kalkulierbare Grenze überschritten. Zusammenfassend ergibt sich folgendes Akteursmodell: (Altes Hardliner systemtreue Bürger kritisch-loyale Bürger Radikale

Regime) Liberalisierer/ Reformer loyale Bürger äußerlich angepaßte Bürger Gemäßigte (Opposition)

Den kritisch-loyalen Bürgern in der normativen Orientierung verwandt waren jene Menschen, die als überzeugte Sozialisten die grundlegenden Ziele des Sy stems gegen seine tatsächliche Herrschaftspraxis offen einklagten. Ein Robert H avemann, der die D DR „trotzdem“ für das „bessere Deutschland“ hielt, 250 oder ein Wolf Bierm ann, der davon träum te, die Erde werde 248 Vgl. aufgrund eigener Betriebserfahrung: Wolfram: Geschichte, 4. Folge (1994) 4–5, S. 7–9. 249 Hübner: Arbeiterklasse (1996), S. 213. 250 1981 erklärte Havemann in einem Interview anläßlich seines „Offenen Briefes“ an Breshnew: „ Ich wünsche mir die Wiedervereinigung natürlich nicht in der Form eines Deutschland, wie es, sagen wir, gegenwärtig die Bundesrepublik darstellt. Auch auf keinen Fall so, wie es die DDR gegenwärtig uns zeigt. [...] Wieso ich dieses Land trotzdem

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„lebenrot“ werden, 251 klagten die K luft zw ischen offiziellen Werten und dem ein, was die Politbürokratie daraus gemacht hatte. Soweit sie den Bruch mit dem herrschenden Sy stem – freiwillig oder erzwungen – vollzogen haben, sind sie der Opposition zuzurechnen. 252 Der grundsätzlichen Hoffnung nach – nicht aber in ihrer praktischen Einstellung – waren ihnen jene Sozialisten durchaus ähnlich, die einen offenen persönlichen Bruch m it dem Regim e zu verm eiden suchten, um sich die Möglichkeit einer Veränderung des Machtapparates von innen heraus zu erhalten. In der Erw artung, es w erde sich irgendwann eine Reformchance ergeben, harrten sie in den Strukturen aus, versuchten Spielräume auszuloten und zu erw eitern und gingen Kompromisse ein. 253 Die Vorgeschichte des „Prager Frühlings“, die Entwicklung in Ungarn und der Aufstieg der Perestroika-Fraktion in der K PdSU boten ihnen A nsatzpunkte für die A nnahme, daß diese Hoffnung nicht vergeblich sei. Es gab solche Positionen in der SED-gebundenen wissenschaftlichen Intelligenz und m ehr noch oder zumindest deutlicher artikuliert im kulturellen Milieu. 254 Ihre Vertreter werden in der folgenden Darstellung den angepaßten Bürgern zugerechnet, weil ihr gesellschaftliches Verhalten dem jener gewiß sehr viel größeren Teilpopulation entsprach, die sich anpaßte, obw ohl ihr die offiziell dekretierten Normen gleichgültig waren. Was in dem einen Fall Ausdruck von Pragm atismus oder auch Konformismus war, folgte bei Bürgern, die dem „sozialistischen System“ (nicht unbedingt dem Regime) tatsächlich loyal verbunden waren, aus dem Bestreben, sich Wirkungsm öglichkeiten nicht zu verbauen. Sicherlich handelte es sich dabei m anchmal um Selbsttäuschung über Prozesse von Resignation und faktischem Opportunismus. Der tatsächliche Gehalt dieser Position konnte sich erst erw eisen, wenn die Chance zur Veränderung eintrat. Betrachtet man das Akteursm odell ingesam t, so entsteht eine politische Krise oder gar eine revolutionäre Situation w ahrscheinlich dann, w enn op-

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als das bessere Deutschland ansehe, weil ic h glaube, es ist historisch weiter vorangeschritten, weil es die eine gefährliche Art von Privileg beseitigt hat, nämlich das Privateigentum an den Produktionsmitteln. “ Interview mit Robert Havemann und Rainer Eppelmann in: Büscher u. a.: Friedensbewegung (1982), S. 185–194, hier 192 f. Vgl. „So soll es sein – so w ird e s s ein“, i n: W olf B iermann: F ür m eine Genossen. Hetzlieder, Gedichte, Balladen, Berlin (West) 1972, S. 91 f. Klaus Wolfram macht in seiner Geschichte der Opposition eine Unterscheidung, die mir in diesem Zusammenhang sinnvoll scheint: zwischen den „ Kindern der herrschenden Klasse“, die vor allem in den siebziger Jahren aktiv waren und deren bedeutendster Liedermacher und Symbolfigur Wolf Biermann war, und den „ Kellerkindern der Revolution“, die in den achtziger Jahren „ von unten nach oben zu wachsen begannen“ und die weniger durch die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit als durch konkrete Kritik an realen Mißständen motiviert wurden. Wolfram: Geschichte, 2. Folge, in: Sklaven, 1994, H. 2, S. 3–5. Vgl. Land u. Possekel: Stimmen (1994); zusammenfassend dies. : Verweigerung (1995). Es handelt sich dabei nicht nur um eine interessante Rekonstruktion von Argumentationslogiken, sondern auch um den Versuch einer Aufarbeitung eigener Geschichte. Vgl. zu letzterem Milieu Bathrick: Powers (1995); Dresen: Heldentaten (1992).

positionelle Haltungen über den relativ engen Kreis der Oppositionellen hinaus Zuspruch finden und zugleich die Basis des Alten Regimes wegbricht: aktive und passive K onformität. Dazu ist zum einen notw endig, daß die angepaßten Bürger aus Passivität und Privatheit herausfinden, ihre Angst, sich kritisch zu engagieren, ve rlieren, sich m obilisieren (lassen) und ihrer Ablehnung des offiziellen Wertekanons explizit und kollektiv A usdruck verleihen. 255 Zum anderen müssen die Stützen des Systems, die systemtreuen – in der M fS-Terminologie „ progressiven“ – Bürger sich veranlaßt fühlen, stillzuhalten (sonst würde ein Bürgerkrieg drohen), oder gar beginnen, sich an den Liberalisierern zu orientieren. Enttäuschte Hoffnungen und revolutionäres Aufbegehren Wann und aus w elchem Anlaß kommt es in der Gesellschaft zu einem Umschlag von Einstellungen und vor allem von Handlungsweisen, von duldender Passivität zu verändernder Aktivität? Strukturelle Faktoren allein (etwa ein steigendes Bildungsniveau oder die grundsätzliche Illegitim ität eines Herrschaftssystems) bieten dafür keine Erklärung, w eil sie ein kurzfristiges Ereignis nicht zu erklären vermögen. 256 Die zuvor genannten Gründe für eine liberalisierende Wende des A lten Regim es reichen ebenfalls nicht aus: Teils gehen sie vom Regime selbst aus, teils sind sie als massenhafter ziviler Ungehorsam selbst der Umstand, der der Erklärung bedarf. Nützlich zum V erständnis dieses Prozesses ist ein Rekurs auf die ältere amerikanische Revolutionsforschung, genauer auf den in dieser D iskussion zentralen Begriff der „relativen Deprivation“. Dabei geht es um die D iskrepanz zwischen Ansprüchen und ihrer Realisierung, verbunden m it der Frage, wie die Akteure selbst die Legitim ität ihrer Ansprüche beurteilen, und um die Erwartungen an die Fähigkeit des Regim es, sie zu erfüllen. 257 Für ihre politischen Konsequenzen sind Intensität und gesellschaftliches Ausma ß der Deprivation von entscheidender Bedeutung. 258 Die Intensität wird einerseits durch objektive Faktoren wie Arm ut und Zwang, andererseits aber auch dadurch bestimmt, ob subjektiv em pfundene Hoffnungen hinsichtlich einer Verbesserung der Lage bestanden haben, die frustriert worden sind – ein Zusammenhang, auf den als erster Tocqueville hingewiesen hat. 259 James Davies, 255 Zuvor waren Flucht bzw. Ausreise „private Handlungsweisen“, die den Dissens praktisch werden ließen. Hirschmann: Abwanderung (1992), S. 351. 256 Vgl. Przeworski: Problems (1986), S. 48. 257 Vgl. den Überblick von Martin Jänicke: Die Analyse des politischen Systems aus der Krisenperspektive, in: ders. (Hrsg.): Systemkrisen (1973), S. 14–51, hier 35. 258 Vgl. Gurr: Ursachen (1973), S. 154. Die Differenzierungen, die Gurr entwickelt, sind heuristisch nützlich. Allerdings postuliert er eine positive Korrelation zwischen dem Grad der relativen Deprivation von Massen und Eliten und (entsprechend der Fixierung der amerikanischen R evolutionstheorie auf dieses Phänomen) der Gewalttätigkeit des Umbruchs – eine Hypothese, die 1989 in Osteuropa falsifiziert worden ist. 259 Vgl. Tocqueville: Staat (1969), S. 153 f.

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einer der w ichtigsten V ertreter dieser Forschungsrichtung, hat seine K ernthese relativ vorsichtig formuliert: „Es ist unwahrscheinlich, daß eine Revolution dort ausbricht, wo es nicht zuvor eine H offnung gegeben hat – eine Periode, in der die Erw artungen angestiegen sind.“ 260 Dieser Interpretationsansatz ist in Reaktion auf die Krise in Polen Anfang der achtziger Jahre auch in der Sow jetunion diskutiert w orden. 261 Jewgenij Ambarzumow, ein Protagonist der D ebatte, zog als Fazit seiner A rgumentation, die er durch die polnische Entw icklung, aber auch schon durch die Krise in der DDR 1953 bestätigt sah: „ Zunächst eine V erbesserung der Lage, die H offnungen nährt, dann eine unerw artete Verschlechterung und daraufhin ein Anwachsen der Unzufriedenheit und schließlich die Krise.“ 262 Relative D eprivation oder einfacher gesagt Frustration über enttäuschte Hoffnungen bedarf als Erklärungsansatz einer Ergänzung: Der Begriff macht verständlich, warum die Menschen einen Punkt erreicht haben, an dem sie meinen, handeln zu müssen, aber nicht, warum sie auch bereit sind, dieses Risiko einzugehen. Wenn sie nicht von purer V erzweiflung oder von strenger Gesinnungsethik auf die Straße getrieben werden, ist – mit Przeworski – anzunehmen, daß sie die Erfolgsaussichten gegen das Risiko abwägen. 263 Das gilt für beide Seiten, die gesellschaftliche Opposition wie Liberalisierer im Alten Regim e, w obei die Risiken höchst unterschiedlicher N atur sind. Für den aufbegehrenden Bürger wird das Risiko umso geringer, je mehr seiner Mitbürger sich etwa an Dem onstrationen beteiligen: Die Geborgenheit in der Menge hilft A ngst abzubauen, und die Wahrscheinlichkeit, daß gerade er für seinen zivilen Ungehorsam belangt wird, verringert sich. Insofern ist die Revolution „das ungeplante und unvorgesehene Ergebnis der spontanen Kooperation einer wachsenden Anzahl einzelner Bürger“ . 264 Entscheidend ist der „ Multiplikatoreffekt“ ungestraften zivilen Ungehorsam s, der in solchen Übergangssituationen regelm äßig zu beobachten ist. 265 Hinzu kommen „Signale“ 266, die darauf schließen lassen, daß es im Alten Regime zu Unsicherheit und Konflikten über die weitere Politik des Machterhalts kommt, womit auch die Wahrscheinlichkeit sinkt, daß die Repressionskräfte einzuschreiten wagen. Das Risikokalkül des potentiellen Softliners im Alten Regime ist anderer Art. Wagt er sich zu früh vor, so lä uft er Gefahr, politisch isoliert und aus der Machtelite ausgeschlossen zu werden. Zögert er aber zu lange, dann 260 Davies: Theorie (1979), S. 413. 261 Vgl. dazu ausführlicher meinen Beitrag: Widerspruchsdebatte (1985). 262 Ambarcumov: Analyse (1984), S. 600. Der Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in: Voprosy istorii, 1984, H. 4. Ambarzumow ist für diesen Beitrag später politisch gemaßregelt worden (mündliche Auskunft gegenüber dem Verf. am Rande einer Tagung in Berlin-West, Anfang 1989). 263 Przeworski: Problems (1986), S. 54. 264 Opp: DDR (1993), S. 197. 265 Vgl. O’Donnell u. Schmitter: Transitions (1993), S. 7. 266 Przeworski: Problems (1986), S. 55.

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könnte ein anderer die Initiative ergreifen und er befindet sich vielleicht bald auf seiten der Verlierer, zumindest aber kann er dann keinen Führungsanspruch m ehr geltend m achen. D as A bwägen des K räfteverhältnisses ist schwierig, weil sich die meisten seiner Genossen bedeckt halten. Auch er ist deshalb auf „ Signale“ angewiesen: seien sie objektiver Art, die für alle wahrnehmbar sind und deshalb den H andlungsdruck verstärken, oder auch nur G erüchte, etw a über den desolaten G esundheitszustand des obersten Machthabers oder einen bevorstehenden „ Putsch“. 267 Diese „ Signale“ müssen jedenfalls so stark sein, daß das Risiko längeren Wartens größer erscheint als das eines Frühstarts. Hat es in der D DR der späten achtziger Jahre solche steigenden und anschließend frustrierten Erw artungen gegeben? Grundsätzlich steht das wohl außer Zweifel. Sozialwissenschaftliche Erhebungen noch zu DDR-Zeiten und spätere Analysen auf Basis dieser Daten zeigen, daß besonders bei jüngeren Menschen die innere A bwendung von der D DR sich m it Beginn der offenen Abgrenzung der SED-Führung von der Perestroika und den m it ihr geweckten Hoffnungen im Jahr 1987 dram atisch verschärft hat. 268 Zugleich ist die Erw artung generell erheblich zurückgegangen, daß das Sy stem in mittelfristiger Perspektive die von den einzelnen als besonders dringlich betrachteten Problem e lösen und als prioritär empfundene Bedürfnisse befriedigen würde. So haben – nach einer U mfrage von Ende 1988 – 84 Prozent der Probanden besseren U mweltschutz und 74 Prozent bessere V ersorgung m it Konsum gütern als „ äußerst dri nglich“ bezeichnet, aber nur 24 bzw. 23 Prozent hatten die Erw artung, daß es bis zum Jahr 2000 – einem Zeitraum von im merhin mehr als zehn Jahren – in dieser Beziehung in der DDR zu einer erheblichen Verbesserung kommen würde. 269 Wie dieser Prozeß im einzelnen verlaufen ist und auf politischer und geheim polizeilicher Ebene reflektiert oder auch verdrängt wurde, wird zu zeigen sein. Was bedeuten diese Fragestellungen für eine U ntersuchung der Staatssicherheit? Die Führungsschicht des Ministerium s w ird m an sicherlich der alten Elite zurechnen m üssen, die Masse ihrer hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter den sy stemtreuen Bürgern. Die Frage nach der Verläßlichkeit dieses A pparates in der K rise w ird nur zu beantw orten sein, w enn man weiß, wie sich die M fS-Generalität selbst verortete, welchen Einfluß sie auf die eigenen Mitarbeiter hatte und w ie diese sich als systemtreue Bürger in dem neuen politischen Kräftefeld orientierten, weiterhin, welche Erwartungen und w elche Frustrationen sie selbst Ende der achtziger Jahre durchlebten. D er zw eite Fragenkom plex betrifft die Außenwahrnehmung des M fS. Daß sich das M fS für die Opposition, die „feindlich-negativen 267 Vgl. ebenda. 268 Vgl. Friedrich: Mentalitätswandlungen (1990); Friedrich u. Griese: Jugend (1991); Stephan: Perestroika (1995); siehe auch unten S. 125 u. 203. 269 G ensicke: Mentalitätswandel (1992), S. 1270; vgl. auch Gensicke: Modernisierung (1995), S. 120 f., 127–129 u. 135 f.; Pollack: Wertwandel (1993).

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Kräfte“, interessierte, ist bekannt. Welche V eränderungen aber nahm es darüber hinaus unter der breiten Masse w ahr, die es selbst nach Bürgern m it „positiver“ und solchen m it „ zumindest loy aler Einstellung zum sozialistischen Staat“ 270 unterschied? Drittens ist zu fragen, welche Em pfehlungen für die politische Führung und welche eigenen Aktivitäten entwickelt wurden, um die Situation w ieder unter K ontrolle zu bekom men. Wie hat das MfS reagiert, als im Herbst 1989 Signale sich anbahnender Veränderungen zu erkennen w aren? H at es versucht, sie zu unterdrücken, oder hat es gar selbst welche produziert? Als schließlich deutlich wurde, daß es unmöglich war, das Regime zu retten, hat die Staatssicherheit versucht, den Staat DDR als fundamentale Rahmenbedingung für die Existenz der eigenen Institution zu bewahren? Oder sollten die Mitarbeiter des alten MfS im Zuge des Umbruchs selbst daran das Interesse verloren haben? Das MfS als Institution Die DDR wurde durch Institutionen konstituiert, deren Analy se hat deshalb „vorrangige Bedeutung im Rahmen der Sozialgeschichte der D DR“. 271 Gerade im Falle der Staatssicherheit hat sich institutioneller Wandel (von dem keine Einrichtung der D DR verschont blieb) in einem relativ frühen Stadium des Umbruchs zur Deinstitutionalisierung, zur Auflösung dieser Institution, radikalisiert. U m die Zerfallsfaktoren herauszuarbeiten, soll versucht werden, eine Art Raster für einen solchen Prozeß zu entwickeln, wobei Deinstitutionalisierung in Analogie zur Institutionalisierung konzipiert wird: Der Prozeß von Externalisierung, O bjektivation und Internalisierung, abgesichert durch soziale Kontrollmechanismen und Sanktionen, 272 läuft demnach gleichsam rückwärts ab. Institutionen sind normative Handlungssysteme, die als Einrichtungen zur Lösung bestim mter Problem e gesellschaftlich anerkannt sind (wenngleich im Fall einer D iktatur von vielen U ntertanen vielleicht nur zähneknirschend). Sie strukturieren sich in Rollen, die von ihren Trägern verinnerlicht sind und zugleich in der sozialen Interaktion ständig reproduziert werden. Bei der Analyse ihrer Auflösung als um gekehrter Konstitutionsprozeß geht es sowohl um die objektivierte D imension (Zielvorgaben und gesellschaftliche Sinnzusammenhänge, Rollenerw artungen und V erhaltensmuster, Belohnungen und Sanktionen) w ie um die subjektive Seite: Rollenkonformes Verhalten ist bei gelungener Institutionalisierung zum Bedürfnis geworden. Vom jeweiligen Akteur wird solches Verhalten als Ausdruck anerkannter Ziele und m oralischen Sinns verstanden. Entsprechendes Verhalten ver270 Richtlinie des Ministers für Staatssicher heit Nr. 1/82 zur Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen vom 17.11.1982; BStU, ZA, DSt 102900, S. 11. 271 Lepsius: Institutionenordnung (1994), S. 17. 272 Vgl. Berger u. Luckmann: Konstruktion (1969).

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schafft dem rollenkonform Handelnden „Befriedigung“. Parsons nennt dafür mehrere Gründe: Es vermittelt „Selbstachtung“ und äußere Anerkennung; es ist m it Tätigkeiten verknüpft, die „ Lust“ verschaffen, und verbunden mit „Zuneigung“ zu anderen Angehörigen derselben Institution und zu ihren Symbolen; schließlich kann solches Handeln als Mittel zu einem jenseits der Institution liegenden Zweck dienen, etwa indem es dem Akteur Privilegien sichert. 273 Ein w eiterer Aspekt kommt meist hinzu: die A ngst vor Sanktionen bei Regelverstößen. 274 Legt man dieses abstrakte Raster über die Staatssicherheit und ihre Mitarbeiter, so trifft es für die Aufbauphase und die Jahrzehnte m ehr oder w eniger reibungslosen Funktionierens zweifellos zu. Und die Feststellung gilt gewiß auch für seine Geschichte: Es sei „ unmöglich, eine Institution ohne den historischen Prozeß, der sie heraufgebracht hat, zu begreifen“. 275 Da das O rganisationsmodell des M fS aus der Sow jetunion fertig im portiert wurde, hat es freilich einen deutschen Staatssicherheitsdienst in nuce, im Sinne der soziologischen Institutionentheorie, nie gegeben. Wohl aber war ihm bis zuletzt anzum erken, daß er unter der Patronage sowjetischer Geheimdienstoffiziere durch deutsche K ommunisten, die sich als Minderheit wußten, im Kontext des beginnenden Kalten Krieges aufgebaut wor276 Als den war. polizeibürokratische Institution unter den spezifischen Bedingungen einer Parteidiktatur w ar der Staatssicherheitsdienst von A nbeginn in das Korsett einer spätstalinistischen Interpretation der Weltgeschichte gepreßt, die ihm einen festen Platz im Herrschaftsgefüge zuwies: an geheimer Front die vorgeblich historisch überlegene sozia listische Staats- und G esellschaftsordnung gegen subversive Machenschaften des äußeren Feindes und dessen Handlanger im eigenen Land zu verteidigen. D er A pparat zur Umsetzung dieses A uftrags w ar hochgradig bürokratisiert – A usdruck des Mißtrauens der Politbürokratie gegen alle ihre Herrschaftsinstrum ente. Die Rollenerw artungen an die „Tschekisten“ w aren in einer V ielzahl von D ienst-, K aderund D isziplinarordnungen niedergelegt. H inzu kamen Parteistatut und strenge Richtlinien für die Parteiarbeit, und auch das tägliche geheimpolizeiliche Handwerk war rigide verregelt. 277 Die Sanktionen bei Regelverstößen konnten hart sein, da die M fS-Mitarbeiter in strafrechtlicher Hinsicht militärischer Disziplin unterworfen waren. Die Sozialisation rollenkonformen Verhaltens, „Erziehung“ war der terminus technicus, erfolgte durch ei273 274 275 276

Vgl. Parsons: Beiträge (1973), S. 144–148, 184. Vgl. ebenda, S. 149 f. Berger u. Luckmann: Konstruktion (1969), S. 58. Vgl. zur Aufbauphase Engelmann: Diener (1997); Fricke: Die DDR-Staatssicherheit (1982), S. 17–30, 37–41; Gieseke: Die Hauptamtlichen 1962 (1994), S. 940–953. 277 Vgl. dazu exemplarisch die minutiösen Vorschriften hinsichtlich der „Führung“ von inoffiziellen Mitarbeitern, in: Mü ller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizie lle Mitarbeiter (1996); ders. (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter. Teil II (1998).

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ne Reihe von Schulungs- und Qualifizierungseinrichtungen 278 und natürlich

278 Vgl. zur fachlichen Schulung: Gieseke: Mita rbeiter (1995), S. 36; Förster: Hochschule (1996), S. 27–32; zur Parteisozialisation: Schumann: Parteierziehung (1997).

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direkt bei der „Arbeit“ durch V orgesetzte, Berater, Parteifunktionäre und das soziale Umfeld. Der erste Schritt zur Internalisierung der geforderten Normen sollte getan sein, noch ehe der angehende „ Tschekist“ seinen Fahneneid leistete. Seit Beginn der fünfziger Jahre kam en nur „ politisch einwandfreie“ Genossen dafür in Betracht, in die Reihen de r Staatssicherheit aufgenom men zu werden. 279 Das heißt, in den ideologischen Sinnzusammenhang seiner künftigen Tätigkeit w ar der A dept zu diesem Zeitpunkt bereits grundsätzlich eingeweiht, und er hatte durch sein bisheriges V erhalten zu erkennen gegeben, daß er ihn als O rientierungsmuster nutzte. 280 Nach seiner Aufnahm e in die Staatssicherheit w urde dieser Sozialisa tionsprozeß vertieft. D ie zuvor genannten Mechanismen der Internalisierung von Rollenmustern über die subjektive Befriedigung bei konform em Verhalten waren auch im MfS zu beobachten: Selbstachtung und Anerkennung wurden dem „Tschekisten“ durch das Gefühl verschafft, einer Elite anzugehören, die eine sehr wichtige Funktion hatte, über ganz spezielle Inform ationen verfügte und an vorderster Front des „Klassenkampfes“ aktiv war. In der V erpflichtungserklärung, die er bei Dienstantritt zu unterzeichnen hatte, war die Rede von den „ehrenvollen Pflichten und Aufgaben eines Angehörigen des Ministerium s für Staatssicherheit“. 281 Wenn die äußere A nerkennung auf den begrenzten Kreis der aktiven Anhänger des Sy stems beschränkt war, hat das den Elitism us eher noch verstärkt. Dafür ein Beispiel aus der Spätphase: Im Sommer 1988 w urden im Rahmen einer kleinen soziologischen Erhebung O ffiziersschüler an der Hochschule des M fS gefragt, w ie die Bevölkerung gegenüber dem MfS eingestellt sei. 282 Fünf Antworten w urden angeboten, die von den Probanden jeweils einzeln zu w erten waren: von ideologisch-affirmativ („MfS ist verantwortungsvoller D ienst an V olk und Staat“ ) bis ablehnend. Den relativ stärksten Zuspruch erhielt das Statement, die Bevölkerung betrachte „ MfSArbeit“ als „ Spitzeltätigkeit gegen das eigene Volk“. Ihm stimmten mehr

279 Vgl. „Richtlinie für die Kader- und Schulungsarbeit“ vom 6. 11.1953, Dienstanweisung 43/53; BStU, ZA, DSt 100885. 280 In der Verpflichtungserklärung, die Anfang der fünfziger Jahre zu unterzeichnen war, hieß es: „Ich konnte für diese Tätigkeit nur vorgeschlagen werden, weil ich bisher das Vertrauen meiner Partei besitze. Ich verspreche, mich dieses Vertrauens weiterhin würdig zu erw eisen.“ Zitiert nach Juristische H ochschule des M fS: „ Studienmaterial zur Geschichte des MfS“, Teil III, 1980; BStU, ZA, Bibliothek, SA 553/IIIa, S. 42. 281 „Dienstlaufbahnordnung über den Dienst im Ministerium für Staatssicherheit“ vom 13.7.1972, Anlage 2: Verpflichtung als Berufssoldat; BStU, ZA, DSt 101352. 282 Es handelte sich um ein Sample von 62 Offi ziersschülern aus drei Jahrgängen der Hochschule, die für eine Diplomarbeit befragt wu rden. Uwe Hasenbein: „Zum tschekistischen Feindbild und damit verbundene Probleme bei der Herausbildung des Berufsethos bei Offiziersschülern der Hochschule des M fS“ (Diplomarbeit); BStU, ZA, JHS 21431. Die Arbeit wurde mit „sehr gut (1)“ bewertet; „ Einschätzung der Diplomarbeit“ vom 10.8.1989; BStU, ZA, JHS 742, Bl. 62 f.

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oder w eniger ausgeprägt drei V iertel der Befragten zu. 283 Aufschlußreich ist, daß diese Einschätzung die angehenden „ Tschekisten“ in ihrem „ Stolz auf die Volksverbundenheit des MfS“ 284 kaum zu erschüttern vermochte. 285 „Volksverbundenheit“ wurde offenbar nicht als wechselseitiges Verhältnis, sondern als einseitige Angelegenheit betrachtet. Das war das logische Ergebnis einer Ideologie, die im mer davon ausging, daß nur eine A vantgarde die „wahren Interessen“ der Werktätigen kennen und zutreffend interpretieren würde. Andererseits war das gew iß auch ein Ausdruck von Unkenntnis über das Ausm aß und die Tiefe der gesellschaftlichen Entfrem dung vom Regime. D arüber hinaus ist bem erkenswert, daß diese Einschätzung die MfS-Offiziersschüler in ihrem Selbstbild nicht beirrte. Ihr „tschekistisches Berufsethos“ orientierte sich – w ie der A utor der U ntersuchung schrieb – „nur wenig an der Meinung der Bevölkerung, sondern an anderen Faktoren politischen und ideologischen Bewußtseins“ . 286 D azu gehörte das Gefühl, einer im wörtlichen Sinne verschworenen Gem einschaft anzugehören, einem konspirativen Kampfbund, dessen Mitglieder laut V erpflichtungserklärung gehalten waren, „die sozialistischen Beziehungen der Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit zueinander unablässig zu festigen“. 287 Das Zusammengehörigkeitsgefühl w urde unter mauert und die „ Lust“ an dieser Art von Tätigkeit zugleich vertieft durch einen in Männerbünden häufig zu beobachtenden Fetischismus: Freude an U niformen und Waffenbesitz, an einer martialischen Symbolik, die hier in dem mit „Schild und Schwert“ geschmückten Wappen ihre Krönung fand, und breiter Traditionspflege. Und schließlich garantierten im Alltag gemeinsame Wohnsiedlungen eine gewisse Exklusivität gegenüber der Zivilbevölkerung und soziale Binnenkontakte auch in der Freizeit. Zudem w ar – trotz des „ tschekistischen Ethos“ – die Zugehörigkeit zu dieser Institution m it handfesten individuellen Vorteilen verbunden: einer weit über dem gesellschaftlichen Durchschnitt liegenden Entlohnung; 288 Zugang zu m anchen westlichen Konsum gütern, besonderen Ferienheimen – und für die Spitzen der Hierarchie, die Generäle, häufig gleich mehreren Westautos, die nicht nur bequem er zu fahren waren, sondern auch einen höheren gesellschaftlichen Status sichtbar machten. Dieses soziale G efüge hat sich im Herbst 1989 aufgelöst. Das Verhalten der M fS-Angehörigen in dieser Situation entsprach allem Anschein nach 283 Auf einer Skala von 1 (volle Zustimmung) bis 6 (völlige Ablehnung) waren sechs Antworten möglich. In dem genannten Fall wählten 47 der 62 Probanden Antworten von 1 bis 3; Hasenbein: Feindbild, Bl. 181. 284 Ebenda, Bl. 201. 285 Die Korrelation zwischen der Aussage, M fS-Arbeit sei in den Augen der Bevölkerung „Spitzeltätigkeit“, und dem Selbstbild „ ...und ich bin stolz auf die Zusammenarbeit mit dem und das Vertrauen des Volkes“, war schwach negativ (R = –0,19); vgl. ebenda. 286 Ebenda. 287 „Verpflichtung“, Anlage zur „ Dienstlaufbahnordnung über den Dienst im Ministerium für Staatssicherheit“ vom 13.7.1972. 288 Vgl. Gieseke: Mitarbeiter (1995), S. 58–62.

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nicht den Erw artungen, die ihnen zuvor eingetrichtert worden waren. Im „Fahneneid“ hatten sie geschworen, „den Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen“ und ihr „ Leben zur Erringung des Sieges einzusetzen“. 289 Diese Forderung hatte Erich Mielke zu Beginn der A useinandersetzungen, auf einer zentralen D ienstberatung zum 40. Jahrestag, m it einem Toast noch einmal ins Gedächtnis gerufen: „Lieber stehend sterben als kniend in Knechtschaft leben“ . 290 Obwohl wenig später aus „ tschekistischer“ Sicht die Machtfrage anstand, w urde zu dem metaphorisch angedeuteten Verhalten nicht einm al der V ersuch unternom men: Weder wurde ein entsprechender Befehl erteilt noch aus eigenem Antrieb von unteren Dienstgraden spontan Gewalt praktiziert. O ffenbar funktionierten die bisherigen Rollen auf allen Ebenen nicht mehr. Rollenmuster lösen sich – allgemein gesprochen – auf seiten ihrer Träger dann auf, wenn erstens den bisher geforderten H andlungen kein „objektiver Sinn“ 291 mehr unterstellt werden kann und zweitens „soziale Gegebenheiten nicht mehr unbefragt hingenommen, sondern bereits im Alltagshandeln problematisiert und relativiert w erden“. 292 Dann vermag rollenkonformes Verhalten den Akteuren auch keine Befriedigung mehr zu verschaffen. Die Enthabitualisierung der Rollen folgt – ist anzunehm en – einer inneren Logik. Wenn es sich tatsächlich um eine Umkehr ihres Konstitutionsprozesses handelt, müßten sich zuerst die Objektivationen (gesellschaftliche Sinnzusam menhänge, Rollenmuster, Sanktionsdrohungen usw.) auflösen und dann erst ihre motivationale Verankerung in den Akteuren. Es ist wahrscheinlich, daß Ernüchterung hinsichtlich der einzelnen Kom ponenten des Rollenhandelns als Bedürfnisbefriedigung ebenfalls einen inneren Zusammenhang hat: So wird sich verringerte soziale A nerkennung bis hin zu offener Distanzierung im eigenen sozialen Milieu in schwindender Selbstachtung niederschlagen. Aber der Interpretionsansatz soll nich t schematisch überstrapaziert werden, schon weil es um individuelle Lernprozesse geht, in denen instrum entelle und moralische Aspekte eng miteinander verknüpft sind. Es mag vorerst genügen, den Blick für die unterschiedlichen Facetten dieses Prozesses zu schärfen. Mit dem M fS wird nur eine Institution des Macht- und Herrschaftssy stems herausgegriffen. Der Sicherheitsapparat umfaßte weitere Institutionen: das Ministerium des Innern und die ihm untergeordnete V olkspolizei, das Ministerium für Nationale Verteidigung und schließlich die den SED-Bezirks289 „Dienstlaufbahnordnung über den Dienst im Ministerium für Staatssicherheit“ vom 13.7.1972, Anlage 1: Fahneneid; BStU, ZA, DSt 101352. 290 E. Mielke: „Toast anläßlich des Empfangs zum 40. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik (28.9.1989)“; BStU, ZA, SdM 624, Bl. 30. 291 Berger u. Luckmann: Konstruktion (1969), S. 77. 292 Waschkuhn: Institutionen (1987), S. 85 (unter Bezug auf Ephrem Else Lau: Interaktion und Institution. Zur Theorie der Institution und der Institutionalisierung aus der Perspektive einer verstehend-interaktionistischen Soziologie, Berlin 1978).

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leitungen unterstehenden „ Kampfgruppen der A rbeiterklasse“. Sie bleiben in dieser U ntersuchung w eitgehend – aber nicht vollständig – ausgeklammert, erstens weil die Entwicklung dieser Institutionen nach bisherigem, noch bescheidenem Kenntnisstand nicht wesentlich anders verlief: Auch sie setzten der „Wende“ keinen relevanten Widerstand entgegen. Insofern hatte die Auflösung der Staatssicherheit exem plarischen Charakter. Zweitens war der Staatssicherheitsdienst als „ Schild und Schw ert der Partei“ der Eckpfeiler des Repressionsapparates, dessen ureigenste Bestim mung es gewesen wäre, eine Entwicklung wie im Herbst 1989 zu verhindern.

C Quellenkritische

Vorbemerkung

Die Arbeit basiert überwiegend auf Akten des Machtapparates. Das ist, will man das Innere dieses Gefüges untersuchen, kaum zu verm eiden. Nennenswerte externe Quellen gibt es dazu nicht. Einzig die Unterlagen der Abteilung Sicherheit des Zentralkomitees hätten hier ein K orrektiv sein können, obwohl ihre V erfasser durchaus G eistesverwandte der Stasi-Offiziere waren. 293 D och die aus den achtziger Jahren zu A ngelegenheiten der Staatssicherheit erhaltenen und im Bundesarchiv (A ußenstelle Berlin) verwahrten Bestände sind dürftig. Also bleiben nur die MfS-Unterlagen. 294 Die Autoren dieser Texte hatten ein ideologisch verzerrtes Bild ihrer U mwelt, und ihre innere Offizialsprache war streng regelgebunden und form alisiert. Hinsichtlich der Politik der Stasi-Spitze sind sie dennoch aufschlußreich: Die Weisungen, die Befehle und die Reden des Ministers waren strikt zu befolgen. Wie bei den Versuchen vor 1989, aus den zugänglichen Veröffentlichungen auf tatsächliche Probleme und Geschehnisse in der D DR zu schließen, m uß auch hier im mer wieder zwischen den Zeilen gelesen werden, wobei die Standardisierung des Sprachcodes ausgesprochen hilfreich ist, wenn man die Texte nur gegen den Strich liest, darauf achtet, w as sie zu verbergen suchen. Um festzustellen, ob Befehle tatsächlich „ durchgestellt“ wurden, sind einschlägige Beratungsprotokolle aus unteren Diensteinheiten und Aufzeichnungen einzelner Mitarbeiter, sogenannte A rbeitsbücher, herangezogen w orden. V on der Spätphase, dem Winter 1989/90, existieren zu den meisten zentralen D ienstberatungen keine ausführlichen Protokolle mehr. Man ist angewiesen auf zusammenfassende Ergebnisprotokolle oder gar die Aufzeichnungen einzelner Teilnehmer. Wenn nur „Arbeitsbücher“ herangezogen w erden konnten, w urden m öglichst zw ei voneinander unabhängige 293 Siegfried Suckut hat dies für die sechzi ger Jahre gezeigt; Suckut: Generalkontrollbeauftragter der SED oder gewöhnliches Staatsorgan? (1997). 294 Zur generellen Validität dieser Hinterlassenschaft unter quellenkritischen Aspekten vgl. Engelmann: Zum Wert der MfS-Akten (1995).

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Quellen verwendet. Diese im seriösen Journalism us bewährte Methode bietet auch in der zeitgeschichtlichen Forschung eine gewisse Garantie, um nicht Mißverständnisse oder gar bewußte Verdrehungen zu reproduzieren. Manches ist seinerzeit bewußt nicht aufgeschrieben worden, doch es war nicht m öglich, einen bürokratischen Apparat mit etwa 90.000 hauptamtlichen und noch m ehr inoffiziellen Mitarbeitern, die über das gesamte Gebiet der DDR verteilt waren, allein durch mündliche Absprachen zu lenken. Wer die Gesamtinstitution – zudem unter hohem zeitlichen Druck – steuern wollte, kam um die Verschriftung von Weisungen kaum herum und mußte Spuren hinterlassen. Auch da, wo Befehle nur m ündlich erteilt wurden, findet sich gelegentlich eine Mitschrift, m anchmal auch eine Antwort oder ein Bericht zur Befehlserfüllung in schriftlicher Form. Neben der form ellen H ierarchie ist selbstverständlich von größtem Interesse, w ie und w orüber unter den Mitarbeitern tatsächlich geredet w urde. Wegen der von jedem zu beachtenden Offizialsprache ist das anhand der schriftlichen Quellen schwierig. Generell gilt, daß die Quellenlage im zweiten Halbjahr 1989 zunehmend schlechter wird: Überlieferungen rissen ab, es wurde weniger aufgeschrieben, vieles ist vernichtet worden. Unter diesem einen A spekt aber w ird die Situation für den Historiker sogar besser: Der Realitätsgehalt der Akten nim mt zu, weil die Ideologie an Bindekraft verloren hatte, ritualisierte Form eln ignoriert w urden und Ä ußerungen notiert wurden, auf die m an sich vorher als M fS-Angehöriger besser nicht schriftlich festgelegt hätte. H inzu kom men als w eitgehend neue Q uellengattung Erklärungen von Mitarbeitern, G ruppen oder einzelnen, Protestschreiben und V erbesserungsvorschläge. Ein relativ authentisches Bild bieten zudem Wortprotokolle von Parteiversam mlungen, in denen im Spätherbst 1989 ziemlich unverblümt gesprochen worden ist. Ein spezifisches Problem bildet jene Mikroebene, auf der etw a zwischen Führungsoffizier und inoffiziellem Mita rbeiter gesprochen w urde. D arüber mehr zu wissen wäre zw eifellos interessant, aber valide, quellengestützte Aussagen sind über diesen Bereich nur eingeschränkt möglich, da anders als früher kaum mehr „Treffberichte“ und „ Arbeitspläne“ existieren. Es gibt dennoch G rund zu der H offnung, daß zutreffende A ussagen m öglich sind: Erstens gibt es eine Reihe von Fällen, bei denen norm ative V orgaben der Führungsebene oder zumindest ihre allgemeine Linie und das konkrete V erhalten einzelner Akteure miteinander verglichen werden können. Wenn beides kongruent ist, dann m ag dazw ischen viel gesprochen und finassiert worden sein, aber für die Steuerung des tatsächlichen Verhaltens war es offenbar von geringerer Bedeutung als die zentralen Weisungen. Wo D ifferenzen zwischen beiden Ebenen sichtbar werden, ist zu fragen, ob es sich um Eigenmächtigkeiten oder überhaupt den V erlust zentraler Steuerungsfähigkeit handelte. Vielleicht aber handelte es sich auch um ein Verhalten, das von der Zentrale aus politischen Gründen nicht offen angewiesen worden ist, bei dem aber die gem einsame Interessenlage unmittelbar einsichtig war. 77

So konnte sich die Stasi-Spitze etwa hinsichtlich des „ Quellenschutzes“ wohl darauf verlassen, daß jene Akteure, die ihrer Institution inoffiziell verbunden waren, von sich aus entsprechend zu handeln bemüht wären. Will man jedoch nicht in beliebige Spekulationen verfallen, so kann der Verweis auf solche Interessenkongruenzen allein nicht genügen. Es bedarf auch in solchen Fällen des N achweises, daß in den Führungsetagen zumindest entsprechend argumentiert wurde, auch wenn sich das nicht in schriftlichen Befehlen niedergeschlagen hat. Zweitens waren die M fS-Offiziere so sozialisiert, daß sie Befehle nicht hinterfragt, sondern befolgt haben. Dieser eingeübte Gehorsam hat im Herbst 1989 unzweifelhaft stark gelitten, es kam zu Unbotm äßigkeit und sogar Protest. D och ist das nicht zu verw echseln mit der Fähigkeit, kreativ eigene Initiativen zu entwickeln. Die Lähmung der beiden Zentralen – MfSFührung und SED – konnte nicht durch einen schöpferischen Gesam tentwurf einzelner oder kleiner G ruppen von M fS-Offizieren kom pensiert w erden. Geredet worden ist wahrscheinlich viel, aber dadurch konnte der militärbürokratische O rganisationstypus, den die Staatssicherheit verkörperte, nicht auf einen Schlag um gewälzt werden. 295 Es gab in dieser H insicht allerdings eine Ausnahme, die darzustellen sein wird. Relativ häufig w erden M fS-Unterlagen herangezogen, um den Stimmungswandel in der Bevölkerung nachzuzeichnen. In diesen Berichten fand Anfang Oktober ein bemerkenswerter Wandel im Berichtstenor statt, dessen Gründe zu erläutern sein w erden. Zuvor w urden „feindlich-negative“ Aktivitäten nicht unbedingt übertrieben, 296 eher wurden sie in ihrer angeblichen Böswilligkeit verzerrt, zugleich aber sy stematisch als Marginalphänomen abgetan. Danach setzte sich eine etwas realistischere Sichtweise durch. Was blieb, war das ausgeprägte analy tische Unvermögen der Stasi-A utoren: Sie hatten es nicht gelernt, ihre emsig gesammelten Daten intelligent auszuwerten und zu synthetisieren. Schließlich ist an die einschränkende D efinition des Forschungsgegenstandes zu erinnern: Es geht um Wandel und Zerfall der Staatssicherheit als Institution, das heißt als norm atives und verinnerlichtes H andlungssystem. Es geht also nicht um die Machenschaften und Intrigen einzelner ihrer (ehemaligen) Mitarbeiter und deren Versuche, unter veränderten Verhältnissen und in anderen Zusam menhängen ihre Spuren zu verw ischen und sich neue Existenzgrundlagen zu schaffen. A uch das wären gewiß aufregende Themen, die jedoch krim inalistische Kleinarbeit erfordern würden. Vor allem aber gehören sie in einen anderen K ontext als den hier betrachteten des Endes der Diktatur und ihrer Parteigeheimpolizei. 295 Zum Charakter des M fS als militärbürokratischer Organisation vgl. Gieseke: „ Kämpfer an der unsichtbaren Front“. Militarisierung und Überwachungsstaat (1997). 296 So die Vermutung von Jürgen Kocka auf Basis der Erfahrung mit Polizeiberichten aus dem Kaiserreich; Kocka: Vereinigungskrise (1995), S. 126 f.

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Abschließend dürfen die Lücken nicht unerw ähnt bleiben: Aus Materialmangel sind keine Aussagen hinsichtlich der Orientierung des Inlandsnetzes der H auptverwaltung A ufklärung m öglich. Zu den A ktivitäten der Staatssicherheit in den Regionen liegen zwar inzwischen fünf Studien vor, die die Ergebnisse dieser Arbeit im wesentlichen bestätigen, aber selbstverständlich ist das noch kein vollständiger Ü berblick, und er ist zu klein, um zu unangreifbaren Verallgemeinerungen zu kom men. Ein besonders bedauerliches Manko ist, daß es den V erbindungsoffizieren vom sow jetischen K GB und ihrer Zentrale in Berlin-K arlshorst gelungen ist, kaum Spuren zu hinterlassen. Sie haben ihre Räum e gew issermaßen besenrein übergeben. Es ist allerdings anzunehm en, daß sie in dieser Zeit eine eher passive Rolle gespielt haben, daß sich ihre Bem ühungen darauf konzentriert haben, sich geräuschlos auszugliedern (und sich eine neue, von der Staatssicherheit unabhängige Grundlage für das vereinte Deutschland zu schaffen). Gründe dafür werden genannt werden, aber quellengestützte A ussagen sind dazu in absehbarer Zeit nicht m öglich. Beim gegenw ärtigen Q uellenzugang ist es letztlich auch nicht möglich, über die Aktivitäten westlicher Dienste in der Umbruchphase verläßliche Aussagen zu machen. Das bleibt einstweilen das Terrain mehr oder weniger fundierter und m eist nicht überprüfbarer journalistischer Spekulationen und Kolportagen.

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Das Alte Regime in Erwartung der Krise

1.1 Veränderte Rahmenbedingungen Die SED-Führung ahnte erst mit geraumer Verzögerung, welch letztlich unlösbare Problem e die sowjetische Refo rmpolitik für sie aufwerfen würde. Nach dem Am tsantritt von Michail Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU im März 1985 versuchten H onecker, Hager, Herrmann und Genossen in den ersten Monaten die DDR-Öffentlichkeit glauben zu machen, wovon sie zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch selbst überzeugt w aren: D ie neue sowjetische Politik betreffe nur überfällige Veränderungen vor allem in der Wirtschaftsorganisation, die in der DDR längst realisiert worden seien. 1 Damit wurden die A nfänge der Perestroika geradezu als Bestätigung für die Richtigkeit der eigenen Politik interpretiert. Von seiten Gorbatschows, der in einer prekären innenpolitischen Situation an Ruhe im sowjetischen Vorfeld interessiert war, wurde dieser Auffassung nicht w idersprochen. A ls H onecker im O ktober 1986 Klage führte, sowjetische Künstler würden ihre Kollegen in der DDR aufwiegeln, „ um den Verband der Film schaffenden der D DR gegen die Regierung der DDR zu mobilisieren“, antwortete ihm Gorbatschow: „ Eure Genossen hätten unseren sagen sollen: Macht bei Euch, was Ihr für richtig haltet; wir m achen bei uns, was wir für richtig halten.“ 2 Das entsprach Honeckers eigenen Vorstellungen. Er hat sich w enig später ähnlich geäußert. 3 Allerdings war ihm inzwischen wohl bewußt gew orden, daß es erheblicher A nstrengungen bedurfte, um diese Maxim e durchzusetzen. Besonders das Januar-Plenum des Zentralkomitees der KPdSU im Jahre 1987 machte unübersehbar, daß in der 1

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Vgl. Küchenmeister (Hrsg.), Vorwort zu: Honecker Gorbatschow (1993), S. 12–14; ders.: Wann begann das Zerwürfnis (1993). Die unterschiedlichen Phasen der Rezeption bzw. Abwehr der sowjetischen Reformpolitik durch die SED-Führung habe ich (auf dem Stand Ende des Jahres 1988) herausgearbeitet in: Perestroika oder Ausreise (1989). Vgl. auf heutigem Kenntnisstand Oldenburg: Das entgleiste Bündnis (1996). „Niederschrift über ein Gespräch des Genossen Erich Honecker, Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, mit Genossen Michail Gorbatschow, Generalsekretär des ZK der KPdSU, am 3.10. 1986“, in: Küchenmeister (Hrsg.): Honecker Gorbatschow (1993), S. 160. „Indem das Sowjetvolk die Beschlüsse dieses Parteitages [des X XVII. Parteitages der KPdSU im Februar 1986] und das Volk der D DR die des XI. P arteitages der SED v erwirklichen, erfüllen sie getreu den Idealen des Ro ten Oktober ihre Pflicht.“ Rede Honeckers vor den 1. Sekretären der SED-Kreisleitungen, in: Neues Deutschland 7./8.2.1987, S. 3–13, hier 4.

Sowjetunion eine enorm e politische Herausforderung für die politisch Mächtigen in allen Ländern des „realen Sozialismus“ heranwuchs. Vor dem Zentralkomitee hatte Gorbatschow in einer Rede, die in der Tagespresse der DDR nur auszugsweise veröffentlicht wurde, 4 die berühm te Parole ausgegeben: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen. Wenn w ir das nicht begreifen [...], so werden, Genossen, unsere Politik und die Umgestaltung ersticken.“ 5 Die neue Führung hatte schon in den beiden Jahren zuvor die engen Grenzen einer technokratischen Wirtschaftsreform verlassen und unter dem Zeichen von „ Glasnost“ eine Politik der Liberalisierung eingeleitet. Seit dem Vorjahr war eine D ebatte über die sow jetische G eschichte, besonders über die V erbrechen im Stalinismus der dreißiger und vierziger Jahre, entbrannt. 6 Die sowjetische Intelligenz war dem proklam ierten politischen Wandel anfangs mit einer gew issen Skepsis begegnet, obw ohl aus ihren Reihen noch vor Gorbatschow die ersten Reform vorschläge gekom men waren. 7 Vor allem die künstlerische Intelligenz geriet im Zuge dieser Auseinandersetzungen in Bewegung und faßte V ertrauen in die Ernsthaftigkeit des Reformprojektes. 8 Nun wurden die Reformen auf das politische System ausgeweitet. An der auch in der Sowjetunion in der V erfassung verankerten „ führenden Rolle“ der Kom munistischen Partei 9 w urde von den Reform ern zw ar noch fest4

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Vgl. Neues Deutschland 28.1.1987. Im Fern sehen der DDR, in der „ Aktuellen Kamera“, wurde dieses ZK-Plenum gänzlich totgeschwieg en. Gorbatschow schreibt in seinen Memoiren: „Nach unserem Januar-Plenum von 1987 waren die Differenzen schließlich nicht mehr zu verbergen. Honecker ordnete persönlich an, in der DDR keine Materialien über unsere Plenartagung zu veröffentlichen, worauf man dort ‚unter der Hand‘ für die Prawda mit meinem Referat Höchstpreise zahlte.“ Gorbatschow: Erinnerungen (1995), S. 930. Gorbatschow: Rede und Schlußwort (1987), S. 76. Vgl. zusammenfassend Davies: Perestroika und Geschichte (1991); Merl: Das System der Zwangsarbeit (1995). Aus der Fülle einschlägiger Veröffentlichungen können an dieser Stelle nur ganz wenige Titel genannt w erden, die zugleich belegen, daß die sow jetische „Wende“ nicht völlig überraschend kam: Cohen: The Friends and the Foes of Change (1984); Hill: Soviet Politics, Political Science and Reform (1980) ; Meissner: Die Sowj etunion im Umbruch (1988); Mommsen u. Schröder (Hrsg.): Gorbatschows Revolution von oben (1987). Die Pariser Hochschullehrerin Jutta Scherrer hat den Stimmungsumschwung in den Wintermonaten 1986/87 in einer vorzüglichen Reportage nachgezeichnet. Zwei Ereignisse waren von überragender symbolischer Bedeutung: die Aufhebung der Verbannung für den Bürgerrechtler Andrej Sacharow und die ö ffentliche Aufführung des antistalinistischen Films „Die Reue“ von Tschengis Abuladze. Vgl. Jutta Scherrer: „ Das ist unsere Revolution!“, zuerst in: Die Zeit 6.3.1987, S. 61 f.; Nachdruck in: Scherrer: Requiem für den Roten Oktober (1996), S. 11–18. In Art. 6 der sowjetischen Verfassung wurde – deutlicher noch als in der Verfassung der DDR – die „ führende Rolle“ der Kommunistischen Partei postuliert: „ Die führende und lenkende K raft der sow jetischen G esellschaft, der K ern ihres politischen Systems, der staatlichen und gesellschaftlichen Organisatione n ist die Kommunistische Partei der Sowjetunion.“ „Verfassung (Grundgesetz) der Uni on der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ vom 7. Oktober 1977, in: Brunner u. Meissn er (Hrsg.): Verfassungen der kommunistischen Staaten (1980), S. 385–415, hier 387.

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gehalten, sie sollte aber als politische Führung überhaupt erst w ieder hergestellt werden. 10 D as bedeutete zugleich – und das w ar der entscheidende Punkt –, daß die Macht der Apparate durch eine dem okratische Mobilisierung von unten zu brechen w ar. 11 V on der Liberalisierung w urden erste Schritte in Richtung einer Demokratisierung gegangen. Die Grundstruktur des Sy stems wurde nun in Frage gestellt: die ökonom ische und politische Enteignung und Entmündigung der Gesellschaft durch einen Parteistaat, der die Verfügung über den Reproduktionsprozeß an sich gezogen hatte. In der Spitze der KPdSU gab es darüber noch heftige A useinandersetzungen, aber es existierte keine politische Alternative zur Reformpolitik. 12 In der DDR aber konnte sich die Partei- und Staatsführung noch in der Illusion wiegen, ihr wäre es – in ungew ohnter Eigenständigkeit – m öglich, sich dem Reformdruck zu entziehen, obwohl sich auch in ihrem Land erheblicher Zündstoff angehäuft hatte. 13 Die strukturellen Problem e einer D iktatur von sowjetischen Gnaden in einem „halben Nationalstaat“ wurden in den achtziger Jahren aktualisiert durch eine Welle frustrierter Erw artungen: Eine stärker konsumorientierte Politik („Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ ) hatte die täglichen Versorgungsprobleme nicht gelöst; ein ambitioniertes Wohnungsbauprogramm führte zu unwohnlichen Neubausiedlungen und zur V ernachlässigung der Altbausubstanz; größere Reisem öglichkeiten seit Mitte der achtziger Jahre hatten das Bewußtsein für die verweigerte Freizügigkeit eher noch geschärft; 10 Einer der V ordenker der R eformpolitik, der K ulturhistoriker Leonid M. B atkin (H auptwerk: „Die historische Gesamtheit der italienischen Renaissance“, dt. 1979), hat in jenen Monaten geschrieben, es gelte durch die Ü bernahme „westlicher“ demokratischer Errungenschaften die Politik als eigene Sphäre w iederherzustellen, um die G esellschaft vom Staat zu emanzipieren und eine „ führende Ro lle der Partei“ überhaupt erst zu ermöglichen. Batkin: Erneuerung der Geschichte, in: Afanassjew (Hrsg.): Es gibt keine Alternative zu Perestroika (1988), S. 202–247, hier 233 f. Dieser für die politische Diskussion in der Sowj etunion außerordentlich wichtige Sammelband erschien im gleichen Jahr, 1988, auch im Moskauer Progress-Verlag („Inogo ne dano“). Ein kompetenter Überblick zur Reformpolitik aus der Perspektive j ener Jahre findet sich bei Saslawskaja: Die Gorbatschow-Strategie (1989). Die Autorin, seinerzeit Soziologin in der Außenstelle der sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Akademgorodok bei Nowosibirsk, hat bereits Anfang der achtziger Jahre Reformkonzeptionen entwickelt. Bekannt wurde sie durch „Die Studie von Nowosibirsk“, dt. in: Osteuropa 34 ( 1984) 1, S. A1–A25. 11 Gorbatschow erklärte im Schlußwort vor dem ZK-Plenum am 27. /28.1.1987: „Offenheit, Kritik und Selbstkritik, Kontrolle durch die Massen – das sind die Garantien für eine gesunde Entwicklung der sowjetischen Gesellschaf t. Wenn das Volk sie braucht, bedeutet das, daß sie alle brauchen. Das ist umso wichtiger, als die KPdSU die regierende Partei ist. Und sie ist an Offenheit, an Kritik und Se lbstkritik interessiert, da dies reale und zuverlässige Formen eines normalen Funktioni erens der KPdSU sind. Das sind ebenjene Mittel, die die Partei vor Fehlern in der Po litik bewahren können. Der Preis dieser Fehler ist uns allen bekannt.“ Gorbatschow: Rede und Schlußwort (1987), S. 76. 12 Vgl. Meissner: Gorbatschow am „ Rubikon“, Teil I (1988). Vgl. auch beispielhaft das (gekürzte) Protokoll der Sitzung des Politbüros der KPdSU vom 24. /25.3.1988, in dem über die Aufarbeitung der Geschichte gestritten wurde, in: Gorbatschow: Gipfelgespräche (1993), S. 232–254. 13 Vgl. dazu ausführlich Süß: Größere Eigenständigkeit im Dienste des Status quo (1988).

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die Möglichkeit, sich über die Westm edien zu inform ieren, kontrastierte in zunehmender Absurdität mit der seichten Propaganda aus A dlershof. 14 Vor allem aber wurde – w ie der thüringische Landesbischof Werner Leich im März 1988 bei einem Streitgespräch m it Honecker beklagte – „ das Gefühl, als U nmündiger behandelt zu w erden“, 15 im mer stärker. Angesichts dieser und einer ganzen Reihe w eiterer Probleme mußte das sowjetische Perestroika-Projekt, das wie eine A ntwort auf viele offene Fragen in der D DR wirkte, auch hier Sprengkraft entwickeln. Doch die sowjetische Häresie offen anzugreifen, wagte die SED-Führung nicht, obwohl sie in früheren Jahren, als es um kleinere Warschauer-PaktStaaten w ie die Tschechoslow akei (1968) und Polen (1980/81) gegangen war, nicht gezögert hatte, „ Abweichungen“ zu geiseln. Jetzt aber hätte sie mit einer ähnlichen Kritik an „ Revisionismus“, „Sozialdemokratismus“ und „schleichender Konterrevolution“ ihre eigene Legitim ationsgrundlage in Frage gestellt. Schließlich erinnerten sich die DDR-Bürger noch gut an die Parole „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“. 16 Die Tonlage im ideologischen Diskurs wurde jedoch auch öffentlich schärfer. Sie gipfelte in einer berühmt gewordenen Metapher, die der SED-Chefideologe Kurt Hager im April 1987 in einem Interview mit dem „Stern“ verwendete. Etwas trotzig stellte er die rhetorische Frage: „ Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren? “ 17 Gorbatschow w ies diese U ngehörigkeit am folgenden Tag anläßlich einer Rede in Prag zurück. 18 An Hagers Interview erinnerten sich gerade zuvor äußerlich angepaßte DDR-Bürger im Herbst 1989. 19 Ein Leipziger Schriftsteller hatte seinerzeit 14 Vgl. als zusammenfassende Problemskizze auf dem Erkenntnisstand des Jahresbeginns 1989: Zimmermann: Probleme und Tendenzen nach vierzig Jahren Zweistaatlichkeit (1989), S. 708–712. 15 Text der Ansprache von Bischof Leich in: Süddeutsche Zeitung 12./13.3.1988. 16 In einem Bericht der Bezirksverwaltung fü r Staatssicherheit (BVfS) Berlin zur Stimmung unter der Bevölkerung nach der Gorbatschow -Rede vom Januar 1987 wird vermerkt, daß „eine Reihe von Bürgern“ auf diese „ früher häufig gebrauchte Losung“ „verwiesen“ hätten. „Einige Angehörige des Lehrkörpers de r Sektion Theologie an der HUB [Humboldt Universität zu B erlin] bemerkten in diesem Zusammenhang, daß ‚diese Devise‘ ausgerechnet in einer Periode auf der Tagesordnung stand, als in der Sowjetunion offensichtlich einige ernste Fehler begangen wurden. Heute aber, wo diese korrigiert und überwunden werden sollen, sei davon nichts mehr zu hören. “ Kritische Bemerkungen zur SED-Politik wurden auch aus dem Schriftstellerverband, aus „Kreisen der evangelischen Kirche“ und natürlich von „ feindlich-negativen Personen“ vermeldet. BVfS Berlin: Information über Reaktionen unter Bürgern der Hauptstadt der DDR, Berlin, Nr. 9/87 vom 16.2.1987; BStU, ASt Berlin (unerschlossenes Material). 17 Interview in: „Stern“ 9.4.1987; nachgedruckt (in erweiterter Fassung) in: Neues Deutschland 10.4.1987, S. 3. 18 In einer Rede in Prag erklärte er: „ Man kann sagen, daß heute ein zuverlässiger Gradmesser für die Seriosität einer regierenden Kommuni stischen Partei nicht nur ihr Verhältnis zu den eigenen Erfahrungen, sondern auch zu den Erfahrungen der Freunde ist.“ Rede Michail Gorbatschows auf Kundgebung in Prag , in: Neues Deutschland 11./12.4.1987, S. 3 f. 19 Vgl. „Hinweise“ des MfS „über die Reaktionen der Bevölkerung auf die 9. Tagung des

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in seinem Tagebuch notiert: „ Die jungen A rbeiter in den Betrieben lesen es sich gegenseitig vor und lachen darüber – ein sehr böses Lachen.“ 20 Es war einer der symbolischen Bruchpunkte im Legitimationsverfall der SED-Herrschaft. Adam Przeworski hat über solche Bruchpunkte einschränkend geschrieben: „Bedrohlich ist für autoritäre Regim e nicht der Zusammenbruch der Legitimität, sondern die Organisation von Gegenhegemonie: kollektive Entwürfe einer anderen Zukunft. N ur wenn es kollektive Alternativen gibt, steht dem isolierten einzelnen eine politische Wahlmöglichkeit offen.“ 21 Die Phase kollektiven Handelns war 1987 noch nicht erreicht. Tatsächlich aber zeigt sich hier, daß es in der H erausbildung von A lternativen zuvor schon einen Ansatzpunkt zur Gegenhegemonie geben kann: wenn das herrschende Regime selbst als kontingent sichtb ar wird. Das ungewollt aufklärerische Verdienst Hagers war, sichtbar zu m achen, daß die „realexistierenden“ Verhältnisse nicht schicksalhaft mit dem Status der DDR als Teil des sowjetisch beherrschten Blocks ein für allem al gegeben waren. Diese Verhältnisse wurden nun selbst als – unerfreuliche – Alternative kenntlich, die ihre Existenz nicht länger „Moskau“, sondern der Intransigenz der O stberliner G erontokratie verdankte. Zudem enthielt die spezifische Tonlage von H agers Formulierung noch eine w eitere wichtige Botschaft: daß die A ufrechterhaltung dieses Status quo nicht einem geheim en Zusam menspiel m it den sowjetischen Machtpolitikern entsprang, sondern banalere, hausgem achte Gründe hatte. Das böse Lachen der Leipziger Arbeiter bewies politische Intuition. Die öffentliche Auseinandersetzung m it der Perestroika wurde nach Gorbatschows Rüffel aus Prag vorübergehend zurückgeschraubt. Zugleich wurde die DDR-Zensur nun auch auf die Führung der K PdSU ausgedehnt. A nsprachen des sowjetischen Parteichefs waren schon zuvor gekürzt worden. 22 Im Oktober 1987 faßte das SED-Politbüro einen Beschluß, m it dem diese Zensurpraxis verschärft wurde: „Reden von Genossen der KPdSU werden in Zukunft auszugsweise oder zusammengefaßt veröffentlicht.“ 23 Das bedeutete, daß solche Verlautbarungen künftig noch stärker entstellt werden sollten. Angesichts der relativ w eitverbreiteten K enntnis der russischen Sprache in ZK der SED am 18. Oktober 1989“; BStU, ZA, ZAIG 4261, Bl. 2–10, hier 10. 20 Günther Deicke: Spiegelsplitter eines Jahr zehnts [Notiz vom 10. 4.1987], in: Heym u. Heiduczek (Hrsg.): Die sanfte Revolution (1990), S. 14–27, hier 22. 21 Przeworski: Spiel mit Einsatz (1990), S. 191. 22 Die Aufzeichnungen eines Teilnehmers an der allwöchentlichen „ Anleitung“ für die Medienvertreter im ZK der SED durch den Ab teilungsleiter Agitation, Heinz Geggel, sind hinsichtlich der Entwicklung der Zensur aufschlußreich. Er notierte die erste klare Distanzierung am 22. Mai 1986. Damals habe Geggel er klärt: „Es gibt welche, die stecken sich noch hinter den XXVII. PT [Parteitag der KPdSU]! Aber wir brauchen keine Wende! Am Ziel keine Diskussion! [...] Wir machen es so! Den Sozialismus brauchen wir nicht zu erneuern. Auch mit der Informationspolitik!“ B ürger: D as sagen w ir natürlich so nicht! (1990), S. 148. 23 Politbüro der SED, Beschluß 630/87 „ Zu Fragen der marxistisch-leninistischen Theorie und Praxis“; Anlage zu Schreiben an Gen. Mielke „VVS ZK 02 – Politbüro – Beschlüsse – 10./630 42/87 vom 20.10.1987“; BStU, ZA, SdM 581, Bl. 165 f.

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der DDR und der Möglichkeit, auch dort die „ Prawda“ zu beziehen, vor allem aber angesichts der breiten Publizität, die die sowjetischen Reform er in den „Westmedien“ genossen, w ar dieser Isolationism us gegenüber dem eigenen Lager zum Scheitern verurteilt. Selbst noch indirekte Polemiken, wie ein scharfer Artikel gegen die Politik des „ Prager Frühlings“, der im April 1988 im „Neuen Deutschland“ erschien, trugen dazu bei, die Inhalte der Reformpolitik bekannt zu m achen. 24 Insgesamt war das eine hilflose Abwehrtaktik, die den Prozeß beschleunigte, den sie verhindern sollte: den Legitimationsverfall der SED -Führung auch in den eigenen Reihen, die Entfremdung besonders der systemtreuen Bürger. D ie Führung befand sich in einem unlösbaren ideologischen und machtpolitischen Dilemma: Die Mitglieder der herrschenden Partei und die A ngehörigen des Machtapparates waren darin erzogen worden, die Sowjetunion als Vorbild zu betrachten. Vor allem aber war sich die Führung durchaus dessen bewußt, daß die DDR ein Staat von sowjetischen Gnaden war. „Ohne Sowjetunion gäbe es keine DDR“, konstatierte Erich Mielke noch im Juni 1989. 25 Einen offenen Bruch mit der sowjetischen „Bruderpartei“ konnte die SED-Spitze nicht riskieren. Der damals 81jährige Erich Mielke war im ersten Teil der Geschichte, die hier erzählt werden soll, auf seiten der Staatssicherheit die bestim mende Figur. Im Jahr 1907 in Berlin in einfachen Verhältnissen geboren, hatte er sich bereits als 14jähriger einer kom munistischen Jugendorganisation angeschlossen. D ie G ymnasialbildung hatte er abgebrochen, eine Lehre als Speditionskaufmann gemacht und bis zu seiner Entlassung 1931 in diesem Beruf gearbeitet. D aneben w ar er als Lokalreporter bei der „Roten Fahne“ tätig und beim Parteiselbstschutz der KPD. Die Saalschlachten und Straßenkämpfe dieser Jahre haben ihn gepräg t. Im Jahr 1931 erm ordete er, gemeinsam m it einem Genossen, zwei Berliner Polizeibeam te als Rache für die Erschießung eines jungen Arbeiters. 26 Er floh in die Sow jetunion und absolvierte dort eine militärische Ausbildung. 1936 bis 1939 kämpfte er in den Reihen der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg. Nach der Niederlage lebte er in Belgien und Fra nkreich in der Illegalität und arbeitete in der KPD-Leitung m it. N ach seiner V erhaftung Ende 1943 w urde er für die Organisation Todt zwangsverpflicht et, da seine wahre Identität verborgen blieb. Im Juni 1945 nach Berlin zurückgekehrt, spielte er von Anfang an eine wichtige Rolle beim Aufbau eines ostdeutschen Polizeiapparates. Nach der Gründung des MfS im Jahr 1950 w urde er Staatssekretär in dem neuen 24 Vgl. Karel Horak: Wie waren die Worte, wie waren die Taten – die Wahrheit über das Aktionsprogramm 1968, in: Neues Deutschland 9./10.4.1988. Es handelte sich um eine Übersetzung aus dem Zentralorgan der tschechoslowakischen KP „Rude Pravo“. 25 E. Mielke: „Referat auf der Sitzung der Kreisleitung der SED im MfS zur Auswertung der 8. Tagung des ZK – Manuskript – (29. Juni 1989)“; BStU, ZA, DSt (Dokumentenstelle) 103604, S. 66 (MfS-Zählung). 26 Dafür wurde er 1993 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Grundinformationen zu Mielke in Gieseke: Wer war wer im M fS (1998), S. 49 f.; vgl. auch Lang: Erich Mielke (1991); Otto: Zur Biographie von Erich Mielke (1994); Schwan: Erich Mielke (1997).

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Ministerium. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehörte, Schauprozesse nach stalinistischem Muster in enger Absp rache mit der sowjetischen Geheim polizei vorzubereiten. 27 In den A useinandersetzungen zw ischen seinem Vorgesetzten Wollw eber und Walter U lbricht schlug er sich auf die Seite des SED-Chefs, den er durch Intrigen tatkräftig unterstützte. Zur Belohnung wurde er 1957 selbst Minister und leitete eine U morientierung von geheimdienstlichen auf geheim polizeiliche Prioritäten ein. 28 In den folgenden drei Jahrzehnten hat er die Staatssicherheit geprägt. Nachdem er unter Honecker 1971 auch noch ins Politbüro aufgerückt war, war seine Position im MfS und im Sy stem der D iktatur praktisch unangreifbar. Sein Selbstverständnis als Politbüromitglied und Minister hat er einm al am Ende einer D ienstbesprechung mit den Worten zusammengefaßt: „Zum Teufel noch m al, ich brauche überhaupt keine Argumentation als Minister für Staatssicherheit. W enn ich einen Befehl gebe hi er in meinem Ministerium ist der durchzuführen, und wer nicht einverstanden ist, der muß die Konsequenzen ziehen.“ 29

Das war durchaus wörtlich zu nehmen. Ein Generalmajor der Staatssicherheit, der lange Jahre m it ihm im Kollegium des MfS zusammengearbeitet hat, charakterisierte den Mielkeschen Führungsstil folgendermaßen: „Er war st ark von si ch ei ngenommen, dul dete kei nen Widerspruch, entwickelte einen regelrechten Hang zur R echthaberei und liebte das Kommandieren. Nach m einer M einung war er ei n echter Typ stalinscher Prägung, der sich nicht scheute, Stalin bis in die jüngste Zeit reinzuwaschen. Nachtragend war er auch, und wiederholt stellte ich ein gegenseitiges Ausspielen leitender Genossen fest. Manchmal entstand auch der Eindruck, als hätte er Freude daran, Menschen in ihrer Würde zu verletzten.“ 30

Dieser unangenehme Zeitgenosse mit seinem bewußt proletenhaften Habitus vermochte mit grobschlächtigem und brutalem Auftreten selbst Stasi-Generäle einzuschüchtern. 31 Seine Verbundenheit mit der Sow jetunion galt eher der terroristischen Diktatur Stalins als dem Land Gorbatschows. Daß die Zeiten sich geändert hatten, war ihm allerdings durchaus bewußt. Offen abgelehnt hätte Mielke die aktuelle sowjetische Politik niem als, 27 Vgl. Weber: Schauprozeß-Vorbereitungen in der DDR (1998). 28 Vgl. Engelmann u. Schumann: Der Ausbau des Überwachungsstaates (1995). 29 „Genosse Minister im Anschluß an sein Referat auf der Dienstkonferenz am 13. Dezember 1988“; BStU, ZA, ZAIG 8622, Bl. 1–7, hier 4. 30 Schreiben von Horst Felber (1979–1989 1. Sekretär der SED-Kreisleitung im M fS) an „Wolfgang“ [Schwanitz] vom 6.12.1989; in: BStU, ZA, M fS KS 981/90, Kaderakte Horst Felber, Bl. 166–180, hier 176. 31 Vgl. Wolf: Im eigenen Auftrag (1991), S. 83 u. 249–251, und die Berichte ehemaliger hoher MfS-Mitarbeiter, die allerdings anonym bleiben, bei Schwan: Erich Mielke (1997).

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hinter den Kulissen aber versuchte er gegenzusteuern. Gelegenheit dazu bot ihm eine „Tagung der A ufklärungsorgane sozialistischer Länder“ , die im Oktober 1988 in Berlin stattfand. Im Einleitungsreferat vor den G eheimdienstexperten vollführte der Minister für Staatssicherheit eine nicht immer geglückte Gratwanderung zwischen Reverenzen vor der sowjetischen Hegemonialmacht und Kritik an der Liberalisierung. Der verstärkten wirtschaftlichen Zusam menarbeit m it dem Westen – dem Kernelement der Gorbatschowschen Außenpolitik, in dem er keine Differenzen m it dem SED-Generalsekretär hatte – konnte Mielke sich nicht entgegenstellen. Obwohl sie ihm erkennbar Sorgen bereitete, w ar sie doch „ unbedingt notwendig“. 32 Er warnte aber vor „Illusionen über die G efährlichkeit des Klassenfeindes“, 33 denn „ die im perialistischen Kreise [...] wollen, daß wir kapitalistische Wirtschaftsmechanismen auf unsere Länder übertragen und uns ihnen ‚anpassen‘“. 34 Das war ein deutlicher Seitenhieb vor allem gegen die ungarischen Reformen. 35 Besonders gefährlich sei, „ daß von imperialistischen Kreisen verstärkte Aktivitäten unternommen werden, die sich in sozialistischen Ländern vollziehenden Entwicklungen zu m ißbrauchen“. 36 Zu nennen seien in diesem Zusam menhang auch „ die Sozialdem okratie, die Grünen und andere K räfte bis hin zur K irche“, die bestrebt seien, „Schwierigkeiten in einzelnen sozialistischen Ländern zu nutzen, um ihre antisozialistischen Pläne und Absichten durchzusetzen“. 37 „In unserer [des M fS] Aufklärungs- und Abwehrarbei t widmen wir deshalb auch den Versuchen größt e Aufm erksamkeit, i nsbesondere di e Um gestaltungsprozesse in der UdSSR , die sich unter den Begriffen ‚Perestroika‘ und ‚Glasnost‘ vollziehenden Prozesse, aber auch di e verschi edenartigsten R eformen und Veränderungen i n den anderen sozi alistischen Ländern für das Vorgehen gegen den Sozialismus auszunutzen.“ 38

„Natürlich“, fügte Mielke vorsichtig hinzu, „ wissen w ir, daß es sich dabei um eine mißbräuchliche Nutzung dieser Begriffe und um eine verleum derische Wertung der dam it verbundenen Prozesse handelt“ , die allerdings durch „bestimmte Veröffentlichungen in den Medien sozialistischer Länder“ erleichtert werde. 39 Deutlicher wurde der Minister, als es um die beginnen32 „Referat des Mitglieds des Politbüros des ZK der SED und Minister für Staatssicherheit, Armeegeneral Erich Mielke, auf der Tagung der Aufklärungsorgane der sozialistischen Länder, Berlin 17. Oktober 1988“; BStU, ZA, ZAIG 5121, Bl. 3–44, hier 27. 33 Ebenda, Bl. 8. 34 Ebenda, Bl. 27. 35 Die SED-Führung hat diese Reformen auch öffentlich kritisiert. Der Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED tadelte im Juni 1988 solche Versuche im theoretischen Organ der Partei. Vgl. Reinhold: Dynamik und Komplexität (1988). 36 Mielke am 17.10.1988, Bl. 28. 37 Ebenda, Bl. 31. 38 Ebenda, Bl. 29. 39 Ebenda, Bl. 29 f.

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gesellschaftliche Selbstorganisation vor allem in der Sowjetunion ging, die Gorbatschow immer wieder positiv hervorgehoben hatte. 40 Das Zentralorg an der KPdSU, die „Prawda“, hatte im Februar 1988 berichtet, daß inzw ischen in der U dSSR über 30.000 „nichtformelle Vereinigungen“ (d. h. Bürgerinitiativen) existierten und – trotz einiger Kritik – ihre Bedeutung für die Perestroika gewürdigt. 41 Mielke konnte dem nicht folgen. 42 Er warnte: „Wir dürfen kei nesfalls unt erschätzen, was si ch aus diesen Vereinigungen, Gruppen und Organisationen, deren Wirken heute noch als tragbar erscheint, denen m anche sogar etwas Positives abzugewinnen versuc hen, morgen und übermorgen entwickelt bzw. entwickeln kann.“ 43

Mielke meinte zu wissen, wovon er spricht, denn „ auch in der D DR gibt es verstärkte Versuche innerer feindlicher K räfte, aktiv zu w erden“, gegen die die Staatssicherheit freilich konsequent vorginge. 44 Seine Erregung steigerte sich noch, als er über die Ziele dieser Kräfte sprach, die – angeblich geleitet von einem „strategischen Plan des Imperialismus“ 45 – agierten: „Mit Forderungen beispielsweise nach voller Gewährung ‚individueller Menschenrechte‘, ‚persönlicher Freiheit‘, Meinungs-, Versammlungs-, Veranstaltungsfreiheit, Reisefreiheit, R echt auf W ehrdienstverweigerung, beabsi chtigen innere Feinde – unt erstützt von außen – eine regelrechte oppositionelle Bewegung zu schaffen und das Kräftereservoir dafür st ändig zu verbrei tern. Das reicht bis zu dem Ansinnen, daß der Staat mit feindlichen, oppositionellen Kräften einen Dialog, gewissermaßen Verhandlungen über gesellschaftliche Veränderungen im Sozialismus und über ihre Beteiligung an der politischen Machtausübung führen solle.“ 46

40 Vgl. etwa Gorbatschow: Perestroika (1987), S. 36. 41 Prawda 1.2.1988, Nachdruck in: Neues De utschland 3.2.1988. Zur Entstehung der Bürgerbewegungen in der UdSSR vgl. Alexandrowa: Informelle Gruppen und Perestroika (1988); Engert u. Gartenschläger: Der Aufbruch (1989). 42 Im Dezember 1988 hat Mielke auf einer Dienstbesprechung im M fS berichtet: „... ich will sagen, ganz ehrlich, wir haben mit unseren [sowj etischen] Freunden darüber gestritten, ob es zweckmäßig ist, solche informellen Gruppen so ohne weiteres zuzulassen mit dem Glauben, daß sich dort alles vielleicht auffängt und man kann damit die Menschen beeinflussen und in die richtige Bahn lenken. Ich will Euch ehrlich sagen, ich möchte keine solche informelle Gruppe hier haben bei uns, und wir werden auch keine dulden. Es wird hier keine Helsinki-Gruppe geben.“ „ Genosse Minister im Anschluß an sein Referat auf der Dienstkonferenz am 13. Dezember 1988“; BStU, ZA, ZAIG 8622, Bl. 1–7, hier 2. 43 Mielke, Rede vom 17.10.1988, Bl. 33. 44 Vgl. ebenda, Bl. 34. 45 „Der strategische Plan des Imperialismus ist eindeutig darauf gerichtet, die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in unseren Ländern zu schwächen, zu destabilisieren und zu zersetzen, die Einheit und Geschlossenheit der sozialistischen Staatengemeinschaft zu untergraben und letztlich den Sozialismus zu beseitigen.“ Ebenda, Bl. 23. 46 Ebenda, Bl. 35.

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Die Forderung nach einem „Dialog“ zwischen Parteistaat und G esellschaft hatten Bürgerrechtler bereits seit Beginn der achtziger Jahre aufgestellt. 47 Direkt gegenüber der SED-Führung hatte sie Bischof Leich bei der erw ähnten Auseinandersetzung mit Honecker erhoben. 48 Ein Jahr später sollte das Undenkbare zum letzten Hilferuf der abgewirtschafteten SED-Führung werden. Doch auch schon Ende 1988 w ar sich der Minister für Staatssicherheit – trotz solcher aus seiner Sicht em pörenden Entw icklungen – der enger werdenden Grenzen des eigenen H andlungsspielraums bew ußt. Bereits zu Beginn seines Referats nämlich hatte er erklärt: „Wir dürfen dem Gegner kei nerlei Munition liefern, die es i hm gestatten würde, unsere Organe als Störenfriede im Friedens- und Entspannungsprozeß zu bezeichnen.“ 49

Die Repressionsmöglichkeiten im Inneren waren dank der Gorbatschowschen Westpolitik und der dam it verbundenen außenpolitischen Rücksichtnahm en mehr denn je beschränkt. 50 Zwischen den „ sozialistischen Ländern“ waren die Chancen zur Einw irkung neuerdings ebenfalls gering. Mielke meinte: „Was in einem sozialistischen Land geschieht, bestim mt selbstverständlich die dortige Partei- und Staatsführung.“ 51 So blieb nur jener G estus, der

47 Im Januar 1982 initiierte Rainer Eppelmann einen von Robert Havemann, Rudi Pahnke, Lutz Rathenow, Hans-Jochen Tschiche und anderen Bürgerrechtlern unterzeichneten „Berliner Appell“, in dem „vorgeschlagen“ wurde, „in einer Atmosphäre der Toleranz und der Anerkennung des Rechts auf freie Meinungsäußerung die große Aussprache über die Fragen des Friedens zu führen“. Text in: Bü scher, Wensierski u. Wolschner (Hrsg.): Friedensbewegung in der DDR (1982), S. 242–245. – Der Schriftsteller Jürgen Fuchs (der 1976 nach neunmonatiger M fS-Untersuchungshaft ausgebürgert worden war) gab seit 1985 ein monatliches Mitteilungsblatt unter dem Titel „ Dialog“ heraus, das in hunderten Exemplaren in die DDR geschmuggelt wurde. Vgl. Bickardt: Die Entwicklung der DDROpposition in den 80er Jahren (1995), S. 493. – 1986 formulierten Bürgerrechtler anläßlich des SED-Parteitages eine „ Eingabe“, di e eher den Charakter einer Protesterklärung hatte. Der Schlußsatz lautete: „ Wir erwarten deshalb, daß in unserem Land ein konstruktiver Dialog beginnt.“ „ Eingabe“ von Bürgerr echtlern an die SED vom 2.4.1986, unterzeichnet von Bärbel Bohley, Katrin und Frank Eigenfeld, Ulrike und Gerd Poppe, Edelbert Richter, Hans-Jochen Tschiche u. a.; BA Berlin (Bundesarchiv, Außenstelle Berlin), DY 30/IV 2/2.039/312, Bl. 1–19. 48 „Jetzt braucht das gewachsene differenzierte Denken ein Gegenüber in Staat und Gesellschaft, das zu differenziertem Dialog bereit ist.“ In: Süddeutsche Zeitung 12./13.3.1988. 49 Mielke: Rede vom 17.10.1989, Bl. 12. 50 Selbstverständlich setzte diese Eins chränkung von Handlungsmöglichkeiten sehr viel früher mit Entspannungspolitik und Helsinki-Prozeß in den siebziger Jahren ein. Durch Gorbatschow wurde sie aber radikalisiert, i ndem er die Wurzeln des Konflikts, den Systemgegensatz, als Perzeptionsrahmen internationaler Politik verwarf und die Priorität „ allgemeinmenschlicher Werte und Interessen“ prokl amierte. Vgl. Klaus Segbers: Der neue Blick auf die Welt und auf die eigene Sicher heit, in: Gorbatschow: „ Zurück dürfen wir nicht“ (1987), S. 202–211; Schachnasarow: Wostok – Zapad (1989). 51 Mielke: Rede vom 17.10.1989, Bl. 38. Wie die Anwesenden auf Mielkes Vorhaltungen reagiert haben, wissen wir nicht. Ein Diskussionsprotokoll war nicht auffindbar.

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Gorbatschow in anderem Zusam menhang veranlaßte, von „Klageweibern für den Sozialismus“ (plakaltschiki po sotsializmu) zu sprechen. 52 Die sowjetische Perestroika bedeutete für die osteuropäischen Regim e nicht nur eine Herausforderung innenpolitischer Natur, sondern auch eine Neudefinition der internationalen Rahm enbedingungen ihrer Existenz. Vor dem Amtsantritt Gorbatschows hatte die sowjetische Hegem onialmacht den innenpolitischen Spielraum der kleineren osteuropäischen Staaten diktiert. Die Führung der K PdSU bestimmte, welche „Grundzüge“ des sowjetischen Systems „ keine nur russische, sondern internationale Bedeutung besitzen“ sollten. 53 Abweichungen von diesen „Gesetzmäßigkeiten“ 54 konnten zur Intervention führen. Ein zentrales Elem ent des imperialen Interventionsanspruchs war, daß die sow jetische Führung den von ihr abhängigen diktatorischen Regimen eine Bestandsgarantie gegen die dauerhafte D ominanz eines reformerischen Flügels im Machtapparat und gegen revolutionäre Erhebungen gab. A ls „Breshnew-Doktrin“ hatte diese Praxis 1968 – im Westen – einen Namen erhalten. 55 Welchen Spielraum die osteuropäischen Staaten mit der Proklamierung der Perestroika und eines „ neuen D enkens“ in den internationalen Beziehungen künftig erhalten w ürden, war nicht von vornherein klar. Bei seiner Antrittsrede als neuer Generalsekretä r hatte Gorbatschow postuliert, auf dem Gebiet der Außenpolitik sei „das erste Gebot für Partei und Staat [..], die brüderliche Freundschaft mit unseren engsten Kampfgefährten und Verbündeten – den Ländern der großen sozialistischen Gemeinschaft – zu hüten und allseits zu festigen“ . 56 Ein Jahr später, in einer Ansprache auf dem SED-Parteitag im April 1986, erklärte er: „Die sozialistischen Länder treten in eine Periode ein, in der die Zusammenarbeit zwischen ihnen auf ein höheres Niveau gehoben w erden muß.“ 57 Das war durchaus m ehrdeutig. Früher hätte es – wenn es m ehr gew esen w äre als eine ideologische Phrase – die Aufforderung zu engerer Zusam menarbeit und damit zu strikterer Unterordnung unter den sowjetischen Hegemonialanspruch bedeutet. 52 Revoljutsionnoi perestrojke – ideologiju obnovlenija (Dem revolutionären Umbau – eine Ideologie der Erneuerung), in: Prawda 19.2.1988. 53 So eine Formulierung des Chefideologen der KPdSU, Suslow, in einer Ansprache im November 1956, in: Prawda 7.11.1956, dt. in: Neues Deutschland 8.11.1956. 54 Offiziell festgelegt wurden sie in der „Erklärung der Beratung von Vertretern der kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistis chen Länder, die vom 14. bis 16.November 1957 in Moskau stattfand“, in: Einheit (1957) 12, S. 1473–1485. Vgl. dazu Hacker: Der Ostblock (1983), S. 592 ff. 55 Ausformuliert wurde diese Doktrin von einem anderen Autor, S. Kowaljow: Souveränität und internationale Pflichten der sozialistischen Länder, in: Prawda 26.9.1968, dt. in: Presse der Sowjetunion 1968, H. 120, S. 3–5. 56 Michail G orbatschow, R ede auf dem A ußerordentlichen Plenum des ZK der K PdSU – 11. März 1985, in: ders.: Ausgewählte Reden und Aufsätze, Bd. 2 (1987), S. 143–148, hier 145. 57 M. Gorbatschow: Grußansprache an den XI. Parteitag der SED, in: Neues Deutschland 19.4.1986.

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Bei einem Gipfeltreffen der Warschauer-Pakt-Staaten im Novem ber 1986, zu dem seinerzeit nur ein m ageres Kom muniqué veröffentlicht worden w ar, 58 von dem inzwischen aber ein Protokoll zugänglich ist, 59 wu rde Gorbatschow deutlicher. Zwei Aspekte in der Rede waren von besonderer Bedeutung: die Einschätzung der internationalen K onkurrenzfähigkeit des Sozialismus und die Beschreibung des künftigen V erhältnisses zw ischen den kommunistischen Parteien. Zu ersterem Aspekt erklärte Gorbatschow: „Nach unserer Ei nschätzung stehen die Länder unserer Gemeinschaft in der jetzigen Periode der historischen Entwicklung vor einer unerbittlichen Alternative. Entweder der Sozialismus beschleunigt seinen Schritt stark, stößt auf die Spitzenpositionen in W issenschaft, Technik und Wirtschaft vor und demonstriert überzeugend di e Überl egenheit unserer Lebenswei se, dann festigen sich seine Positionen in der W elt, eröffnen si ch neue Perspekt iven für den revolutionären Weltprozeß. Oder er bl eibt in Schwierigkeiten und Problemen stecken und verliert an Dynamik, dann wird man beginnen, uns in die Ecke zu drängen, wird versuchen, uns zurückzuwerfen [...]“ 60

Diese Einschätzung, aus der sich unm ittelbarer Veränderungsbedarf ergab, wurde von den Anwesenden keineswegs generell geteilt. In den Reaktionen auf diese Äußerungen war bereits der Frontverlauf in den Auseinandersetzungen des Jahres 1989 ablesbar. Der rum änische Diktator Nicolae Ceauescu etwa hielt dagegen: „Ausgehend von den Errungenschaft en unserer Länder können wir, ohne befürchten zu müssen, daß wir uns irren, und sogar mit berechtigtem Stolz feststellen, daß der Sozialismus triumphiert hat. [...] Er hat in der Praxis auf allen Gebieten seine Überlegenheit bewiesen.“ 61

Ceauescu m einte gar, diesem System eine „ herrliche Perspektive“ 62 bescheinigen zu können. H onecker äußerte sich nur für den eigenen V erantwortungsbereich m it ähnlicher Tendenz: In der D DR habe sich der „seit langem“ eingeschlagene Kurs „ im Leben bewährt“ . 63 Unterstützt wurde 58 Neues Deutschland 12.11.1986. 59 „Treffen der führenden Repräsentanten der Bruderparteien sozialistischer Länder des RGW am 10. und 11. November 1986 in Moskau (autorisierte Redetexte)“; BA Berlin, DY 30/J/IV/2/201/1714. Auszüge einer Mitschrift durch die DDR-Delegation, die allerdings in indirekter R ede gehalten ist, haben K üchenmeister u. Stephan veröffentlicht: Gorbatschows Entfernung von der Breshnew-Doktrin (1994); Fundort: BA Berlin, DY 30, IV 2/1/658 bzw. BStU, ZA, SdM 579, Bl. 278–429. 60 Treffen, S. 2. Der Text dieser Rede feh lt im einschlägigen 4. Band der russischen und der deutschen Ausgabe von Gorbatschows „ Reden und Artikeln“; vgl. Gorbatschow: Izbrannye retschi i stati (1987); ders.: Reden und Aufsätze (1988). 61 Ebenda, S. 96. 62 Ebenda. 63 Ebenda, S. 78.

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Gorbatschow von Wojcech Jaruzelski 64, Janos K ádár und Todor Schiw kow 65. Kádár brachte seine Einschätzung der „ Erfahrungen von vier Jahrzehnten“ mit einer knappen Bemerkung auf den Punkt: „ Unsere Länder haben eigentlich nicht gelernt, zu wirtschaften.“ 66 Schiwkow schrieb einige Wochen später in einer D arstellung der Ergebnisse des G ipfeltreffens, die sozialistischen Länder stünden vor der A lternative: Entw eder w ürden sie, wie schon Gorbatschow gefordert hatte, „ Spitzenpositionen in der wissenschaftlich-technischen Revolution“ einnehmen (was dam als schon höchst unwahrscheinlich war), oder sie seien dazu verurteilt, „ stagnierend zu bleiben und mit einer wachsenden Anzahl akuter Probleme konfrontiert zu sein, die wahrscheinlich Krisensitua tionen hervorbringen werden“ . 67 Letztere Konsequenz hatte Gorbatschow noch nicht in dieser Deutlichkeit ausgesprochen. Der zweite Aspekt, den der sow jetische G eneralsekretär besonders hervorhob, betraf das Selbstverständnis der U dSSR als H egemonialmacht und ihr Verhältnis zu den anderen osteuropäischen Parteien. Um seine Position zu bekräftigen, betonte er, daß darüber das Politbüro der KPdSU ausführlich diskutiert habe: „Erstens geht es darum , daß das ganze System der politischen Beziehungen zwischen den Ländern des Sozi alismus strikt auf der Grundlage der Gleichberechtigung und der gegenseitigen Vera ntwortung zu gestalten ist. Mir scheint, das i st nunmehr bereits unser gemeinsamer Standpunkt. Wir bekräftigen ihn. Di e Sel bständigkeit jeder Partei, i hr R echt zur souveränen Ent scheidung der Ent wicklungsprobleme i hres Landes, ihre Verantwortung gegenüber dem eigenen Volk sind für uns unabdingbare Prinzipien. Niemand in der Gemeinschaft kann eine besondere Stellung beanspruchen.“ 68

Das war – in Verbindung m it der D iagnose schw indender internationaler Wettbewerbsfähigkeit – eine A ufforderung zu eigenen Reform versuchen und eine deutliche Absage an den sowjetischen Hegem onialanspruch. Von Kádár wurde das ebenso w ie von den V ertretern besonders erstarrter Regime, Ceau escu und Honecker, ausdrücklich begrüßt. D er eine sah darin wohl die lange erhoffte Erlaubnis, seine Reformpolitik auszuweiten, die anderen betrachteten sie als Freibrief für eine Fortsetzung ihres konservativen 64 65 66 67

Ebenda, S. 125. Ebenda, S. 40–54. Ebenda, S. 60. „Memorandum of Comrade Todor Zhivkov to the BCP Central Committee Politburo on certain considerations in connection with the January C PSU C entral C ommittee Plenum on the work on future conducting the BCP’s stra tegic course“, Radio Sofia Inlandsdienst 18.2.1987; Übersetzung und Typoscript in: BBC Summary of World Broadcast, EE/8499/B, 23.2.1987, S. 1–9, hier 3. 68 Ebenda, S. 12 f.

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Kurses. 69 Es dürfte ihnen nicht bew ußt gew esen sein – m öglicherweise selbst Gorbatschow nicht 70 –, daß die K ehrseite dieser neuen Freiheit in der (zu diesem Zeitpunkt muß man es noch so vorsichtig ausdrücken) Verflüchtigung der sowjetischen Bestandsgarantie für ihre D iktaturen bestand. 71 Zur Unklarheit hat neben der Neuartigkeit des Gedankens sicherlich auch beigetragen, daß Gorbatschows A usführungen zu diesem Problem Form ulierungen enthielten, die in den semantischen Kontext des alten sow jetischen Hegemonialanspruchs gehörten. Er forderte, Sorge für „die gem einsamen Interessen“ zu tragen, und postulierte „ die organische Verbindung der Initiative jedes einzelnen m it der abgestimmten Linie aller in den internationalen Angelegenheiten“. 72 Der öffentliche Abschied von der Breshnew-Doktrin zögerte sich noch etwas hin. Im Rückblick liest m an selbstverständlich bestim mte Texte anders, weiß Andeutungen genauer zu interpretieren. D ies nachzuzeichnen ist hier nicht der Platz. 73 Ein wichtiger Schritt war gewiß, daß Gorbatschow im Februar 1988 vor dem ZK der KPdSU als neues „Prinzip“ sowjetischer Politik „die Anerkennung der Freiheit der sozialen und politischen Wahl durch jedes Volk und durch jedes Land“ verkündete. 74 Anläßlich eines Besuchs des KPdSU-Generalsekretärs in Jugoslawien im folgenden Monat w urde in der gemeinsamen A bschlußdeklaration das „ unverzichtbare Recht“ jedes sozialistischen Landes proklam iert, „ eine selbständige Wahl der Wege der gesellschaftlichen Entwicklung zu treffen“ . 75 Die praktische Probe auf das „neue Denken“ kam erst im Herbst 1989, doch bereits zu Beginn dieses Jahres kam es beim Abschluß der K SZE-Folgekonferenz in Wien zu einer bemerkenswerten Konstellation. Um das Abschlußdokum ent dieser Konferenz war lange gestritten worden. 76 Die Warschauer-Pakt-Staaten waren vor allem an Fortschritten in der 69 T. G. Ash, dem dieses Protokoll nicht bekannt war, kommt auf Basis von Interviews mit E. Honecker und E. Krenz hinsichtlich der Be deutung dieses Gipfeltreffens zu dem gleichen Ergebnis; Ash: Im Namen Europas (1995) , S. 184 u. 679 f. W. Daschitschew nennt diese Konferenz ebenfalls als den Beginn de r Abkehr von der Breshnew-Doktrin, datiert sie aber irrtümlich ein Jahr zu spät, auf den November 1987; Daschitschew: Die sowj etische Deutschlandpolitik (1995), S. 61. 70 Dafür spricht, daß sich Gorbatschow in sein er Schilderung dieses Gipfeltreffens ganz auf die wirtschaftlichen Reformaspekte beschr änkt; vgl. Gorbatschow: Erinnerungen (1995), S. 843–845. 71 Vgl. Küchenmeister: Honecker Gorbatschow (1993), S. 15 f. 72 Treffen, S. 13 f. Im konkreten Kont ext war das ein Seitenhieb gegen Ceau escu, der kurz zuvor ohne Abstimmung im Warschauer Pakt eine fünfprozentige Kürzung des rumänischen Militärhaushalts verkündet hatte – eine Maßnahme, die er selbst auf der Konferenz als belanglos bezeichnete. 73 Vgl. dazu Timmermann: Die Sowj etunion und der Umbruch in Osteuropa (1990); Wettig: Die UdSSR und der politische Wandel (1990). 74 M. Gorbatschow: Referat auf dem ZK der KPdSU am 18.2.1988, in: Sowjetunion heute, Beilage, 1988, Nr. 3, S. VII–XXII, hier XX. 75 Deklaration, in: Neues Deutschland 21.3.1988. 76 Vgl. dazu und zum folgenden Crome u. Franzke: Die SED-Führung und die Wiener KSZE-Konferenz (1993).

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Abrüstung interessiert. Die sowjetische Führung wollte bei der Neuordnung der internationalen Beziehungen vorankom men und strebte nach politischmoralischer Anerkennung ihrer Reformpolitik durch die Veranstaltung einer internationalen Menschenrechtskonferenz in Moskau. Der westlichen Seite ging es hingegen vor allem um verbindlichere Verpflichtungen der KSZEUnterzeichnerstaaten in Fragen der Menschenrechte: Freizügigkeit und Reisefreiheit, Religions- und Inform ationsfreiheit. 77 Die Frontlinien in diesem Streit verliefen, wie damals schon ein kundiger journalistischer Beobachter konstatierte, anders als früher: „Zum ersten Mal in der N achkriegsgeschichte besteht eine politische Konstellation, in der die Sowjetunion und der Westen zusam men gew issen Prinzipien in ganz Europa zum Durchbruch verhelfen w ollen.“ 78 Die Sow jetunion näm lich, die einen erfolgreichen Abschluß dieser Konferenz als wesentlichen Schritt bei der Realisierung ihrer neuen Westpolitik betrachtete, war nicht länger bereit, auf die innenpolitischen Probleme ihrer – ehem aligen – Juniorpartner Rücksicht zu nehmen. Dagegen standen die Machthaber der D DR, der Tschechoslowakei und Rumäniens, und etw as vorsichtiger auch Bulgariens, die Konzessionen im Bereich der Menschenrechte vergeblich zu verhindern suchten. D en hinhaltendsten Widerstand leistete die D DR, deren D elegation bei einem Treffen der Informationsgruppe des Warschauer Paktes in Bukarest, im November 1988, von seiten des sow jetischen Vertreters fast drohend vorgehalten w urde: „Die UdSSR könne sich nicht vorstellen, daß die DDR den Fortgang des KSZE-Prozesses blockieren wolle.“ 79 Um die D DR-Führung auf die Vertragsunterzeichnung einzuschwören, kam der Leiter der sowjetischen KSZE- Delegation, Juri Kaschlew, am 5. Januar 1989 nach O stberlin. 80 Honecker teilte ihm mit, er habe „ grundsätzliche Bedenken“ . Vor allem die Zulassung von „Helsinki-Beobachtungsgruppen“ würde „ eine Legalisierung konterrevolutionärer Aktivitäten bedeuten“. Solche „ Helsinki-Gruppen“ hatten in der osteuropäischen Bürgerrechtsbewegung eine lange Tradition. 81 V or ihrer Anerkennung hatte 77 Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Abschließendes Dokument des Wiener KSZE-Folgetreffens, in: Deutsc hland Archiv 22 (1989) 4, S. 462–485. Vgl. dazu Kristof: Das Wiener KSZE-Folgetreffen (1989). 78 Viktor Meier: In Osteuropa bildet sich eine „Ablehnungsfront“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.1.1989. 79 BA Berlin, J IV 2/2. 035/157, zitiert nach Crome u. Franzke: Die SED-Führung und die Wiener KSZE-Konferenz (1993), S. 911. 80 Vgl. Kaiser: Zwischen angestrebter Eigenständigkeit und traditioneller Unterordnung (1991), S. 493 f. Der Autor, J. Kaiser, war im DDR-Außenministerium zuständig für KSZEFragen. 81 Eine der bekanntesten Gruppen war die im Mai 1976 in Moskau vom Ehepaar Sacharow, von Juri Orlow und Alexander Ginsburg gegründete „Öffentliche Gruppe zur Verwirklichung der Kontrolle der Erfüllung der Helsinki-Abkommen in der Sowjetunion“. Die tschechoslowakische „Charta 77“ wurde eben falls unter Berufung auf die Schlußakte von Helsinki und zur Beförderung der dort eingegangenen Verpflichtungen gegründet. Vgl. Appell des Moskauer Bürgerrechtlers Juri Or low an die Unterzeichnerstaaten der KSZE

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Außenminister Oskar Fischer bereits ein Jahr zuvor, im Januar 1988, bei einem Gespräch mit Schewardnadse gewarnt. 82 Honecker argumentierte nun, die DDR würde in ein unlösbares Dilemma geraten: „[...] eine Unterbindung derartiger staat sfeindlicher Aktivitäten wäre nur mit Repressivmaßnahmen zu erreichen und selbst die Anwendung der gel tenden Rechtsnormen bei der strafrechtlichen Verfolgung dieser Kräfte würde wiederum zu m assiven DDR -feindlichen Kampagnen seitens der NATO, der BRD führen.“ 83

Deshalb sei er zw ar „für einen schnellen A bschluß des Treffens. D ies aber nicht um jeden Preis.“ 84 Sein Gesprächspartner versicherte, er werde sich noch um eine V eränderung in diesem und einem weiteren Punkt (Mindestumtausch) bemühen, zweifle allerdings an einem Erfolg. Dann aber machte er Honecker deutlich, daß seine Hinhaltetaktik höchst ungünstige Folgen haben könnte. In den U SA stand die Bildung einer neuen Regierung unter George Bush an. Bush und m ehr noch sein Sicherheitsberater Brent Scow craft waren gegenüber den Veränderungen in der Sowjetunion skeptischer als der späte Reagan. Auch hatte Bush dem sowjetischen Außenminister zu verstehen gegeben, sein Spielraum, Verträge mit dem einstigen Gegner im Kalten Krieg abzuschließen, sei aus innenpolitischen Gründen geringer als der seines Vorgängers. 85 Angesichts dieser Perspektiven argum entierte Kaschlew, es gelte „ nicht zuzulassen, daß die im perialistischen Vertreter den Abschluß des Treffens hinauszögern und es zu einer weiteren Verschlechterung des Textes kom me“. 86 Diesem Argum ent beugte sich Honecker. Auch wenn keine V eränderung m ehr m öglich sei, „ werde der Abschluß der K onferenz nicht am V eto der D DR scheitern“ . 87 Allerdings bat er „Genossen Gorbatschow zu übermitteln“, daß die DDR die m onierten Punkte „nicht erfüllen werde“. 88 Der Einfluß der sowjetischen Führung reichte noch, um letztlich auch diesem „Bündnispartner“ am 15. Januar 1989 eine U nterschrift abzuringen. Da sie das D okument nicht verhindern konnten, signalisierten die Staaten der „Ablehnungsfront“ (V. Meier) ihren U ntertanen m it Repressionsm aßvom 27. Mai 1976, in: Archiv der Gegenwar t vom 10. November 1980, S. 24023 f.; amnesty international: Politische Gefangene in der UdSSR (1980), S. 44; Riese (Hrsg.): Bürgerinitiative für die Menschenrechte (1977), S. 29 f. u. 43–49. 82 Vgl. Crome u. Franzke: Die SED-F ührung und die Wiener KSZE-Konferenz (1993), S. 908. 83 Aktennotiz über ein Gespräch von Honecker mit Juri Kaschlew, dem Leiter der sowj etischen Delegation auf dem Wiener KSZE-Folg etreffen, am 5.1.1989; BA Berlin, J IV 2/2A/3186, 10 S., hier S. 2. 84 Ebenda, S. 4. 85 Vgl. Beschloss u. Talbot: Auf höchster Ebene (1993), S. 14–27. 86 Aktennotiz über ein Gespräch von Honecker mit Juri Kaschlew am 5.1.1989, S. 7. 87 Ebenda, S. 9. 88 Ebenda.

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nahmen im zeitlichen Um feld der Abschlußtagung, daß sie aus den KSZEVereinbarungen keine innenpolitischen Konsequenzen zu ziehen gedachten. Es gibt keinen Beleg dafür, daß es sich um eine konzertierte Aktion handelte, aber der zeitliche Zusam menhang ist auffällig: In Plovdiv wurden am 11. Januar bei einer H ausdurchsuchung sieben Mitglieder der „Unabhängigen V ereinigung zur V erteidigung der Menschenrechte in Bulgarien“ verhaftet; entgegen sonstigen Usancen wurde darüber im staatlichen Rundfunk berichtet. 89 In Prag wurden am 15., 16. und 17. Januar mehrere Demonstrationen brutal auseinandergeknüppelt, Protagonisten der Bürgerrechtsbewegung wie Václav Havel verhaftet. 90 In Leipzig w urden am 12. Januar Wohnungen von Bürgerrechtlern durchsucht und elf Personen „ zugeführt“. 91 Rumäniens Diktator Ceauescu verzichtete auf solche symbolisch-repressiven Aktionen und erklärte statt dessen gleich öffentlich bei der Vertragsunterzeichnung, er w erde bestimmte Teile dieses D okuments nicht realisieren. 92 All diese Maßnahmen waren letztlich hilflose Versuche, die innenpolitische Durchschlagskraft des KSZE-Dokumentes zu neutralisieren. Als die Konferenz abgeschlossen wurde, war die SED -Führung mit ihrer Konzeption einer Ausklam merung aller Menschenrechtsfragen völlig gescheitert. 93 In das Abschlußdokument hatten Normen Eingang gefunden wie die, „daß es jedermann freisteht, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen und in sein Land zurückzukehren“ , und „daß es Journalisten, darunter auch denjenigen, die Medien anderer Teilnehm erstaaten vertreten, bei der Ausübung dieser Tätigkeit freisteht, Zugang zu öffentlichen und privaten Inform ationsquellen zu suchen und m it diesen Kontakt zu pflegen“. 94 Als ob das als politische Herausforderung nicht genügt hätte, wurde die SED-Spitze noch zusätzlich durch Ä ußerungen des sow jetischen Außenministers Schewardnadse verärgert, der die Konferenz mit den Worten kommentierte: „Das W iener Treffen hat den Eisernen Vo rhang ersch üttert, h at sein e ro stigen Stäbe geschwächt, hat ihm neue Breschen geschlagen und seine Korrosion beschleunigt. Es hat bewirkt, daß die Flüsse des Kalten Krieges unter dem Druck warmer Ströme eintrocknen. Europa kann es nur begrüßen.“ 95 89 Vgl. Ashley: Repression of Independent Human Rights Association (1989), S. 9–14. 90 Vgl. Pehe: A Stormy Week in Czechoslowakia (1989), S. 3–8. 91 Vgl. M fS, ZAIG: Information über A ktivitäten feindlich-negativer K räfte in Leipzig, Information Nr. 25/89 vom 16. 1.1989, dokumentiert in: Mitter u. Wolle (Hrsg. ): „Ich liebe euch doch alle!“ (1990), S. 11–14; Süddeutsche Zeitung 16.1.1989. – Die Verhafteten wurden am 19.1.1989 wieder freigelassen; vgl. Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 527 f. 92 Vgl. Meier: Osteuropa. 93 Vgl. Crome u. Franzke: Die SED-F ührung und die Wiener KSZE-Konferenz (1993), S. 906 u. 914; Kaiser: Eigenständigkeit (1991), S. 493 f. 94 KSZE: Abschließendes Dokument, S. 478 u. 481. 95 Zitiert nach: Der Tagesspiegel 20.1.1989.

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Schewardnadse hatte zudem – nachdem der amerikanische und der britische Außenminister die Mauer als H indernis für den europäischen Einigungsprozeß bezeichnet hatten – erklärt, die Mauer sei unter bestimmten Bedingungen gebaut worden, und es sei zu prüfen, ob diese Bedingungen noch existierten. Freilich falle diese Frage in die souveräne Entscheidung der DDR. 96 D ie A ntwort aus O stberlin kam prom pt. Erich H onecker 97 gab in einer Rede, die er zufällig in diesen Tagen hielt, eine jener Parolen aus, mit denen er Reform forderungen abzuschm ettern pflegte und die auch wegen ihres arroganten Tonfalls die K luft zw ischen Politbürokratie und Bevölkerung vertieften: „Soviel sei aber jetzt schon gesagt: die Mauer wird [...] solange bleiben, wie die Bedingungen ni cht geändert werden, di e zu i hrer Erri chtung geführt haben. Sie wird in 50 und auch i n 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind. Das ist schon erforderlich, um unsere Republik vor Räubern zu schützen, ganz zu schweigen vor denen, die gern bereit sind, Stabilität und Frieden in Europa zu stören.“ 98

Das MfS war weniger durch Angst vor „ Räubern“ als durch das Ergebnis der KSZE-Konferenz alarmiert. Am 23. Janua r schickte Mielke ein Schreiben an die Leiter aller Diensteinheiten, in dem er zu „höchster Wachsamkeit“ aufrief: „Es ist davon auszugehen, daß, durch den Gegner inspiriert, mobilisiert und unterstützt, auch feindlich-negative Kräfte im Innern der DDR unter Berufung auf das Abschließende Dokument [der KSZE] mit vielfältigen feindlich-n egativen Aktivitäten in Erscheinung treten [...] . Besondere Bedeutung ist allen Versuchen des Gegners sowie feindlich-negativer Kräft e i m Innern der DDR beizumessen, Teile der B evölkerung der DDR unt er B erufung auf ent sprechende Passagen des Abschl ießenden Dokum entes zu beunruhi gen und zu verunsichern [...].“ 99 96 Vgl. Melanie Newton: The USSR this Week , in: Radio Liberty: Report on the USSR, 1 (1989) Nr. 4, S. 25–36, hier 32 f. 97 Erich Honecker (1912–1994); geb. in Neunkirchen (Saarland); Dachdeckerlehre; 1929 Mitglied der KPD; ab 1930 hauptamtlicher Funktionär im Kommunistischen Jugendverband; 1930/31 Internationale Leninschule in Moskau; 1933–1935 in Deutschland im Widerstand; 1935 verhaftet und 1937 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt; 1937–1945 Zuchthaus Brandenburg; nach der Befreiung hauptamtlicher KPD–Funktionär; 1946–1955 Vorsitzender der FDJ; 1950–1958 Kandidat, 1958–1989 Mitglied des Politbüros der SED; 1958–1971 ZK-Sekretär für Sicherheit; 1971–1989 1. Sekretär bzw. Generalsekretär des ZK der SED; 1960–1971 Sekretär und 1971–1989 Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates; 3.12.1989 Ausschluß aus der SED; 1991 vorübergehend nach Moskau geflüchtet; nach Rückkehr in die BRD Untersuchungshaft; 1993 aus Gesundheitsgründen Verfahrenseinstellung und Haftentlassung; Übersiedlung nach Santiago de Chile; dort verstorben. Vgl. Wer war wer? (1995), S. 321 f. 98 Honecker: Rede vor dem Thomas-Müntzer-Komitee in Berlin, in: Neues Deutschland 20.1.1989. 99 Schreiben des Ministers a n d ie L eiter d er D iensteinheiten v om 23.1.1989; BStU, ZA,

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Am folgenden Tag, dem 24. Januar, tagte das SED -Politbüro zur A uswertung der K SZE-Konferenz. 100 Um die Erkenntnisse, zu denen m an dort gelangt war, den Spitzen des M fS w eiterzugeben, berief Mielke für den 1. Februar das K ollegium ein. 101 In seinem Referat zitierte er seitenlang aus dem Politbüro-Beschluß, ohne auch nur eine Silbe darüber zu verlieren, woher er seine Weisheiten hatte. Spätestens seitdem er Vollm itglied des Politbüros war, sah er innerhalb des Mini steriums die Führung des Staatssicherheitsdienstes durch die Partei als in seiner eigenen Person verkörpert und gerierte sich vor seinen Untergebenen als „Welt-Spezialist“ 102. Die Grundthese der SED-Spitze, die Mielke ohne Q uellenangabe, aber getreulich w eitergab, w ar, daß das A bschlußdokument einen K ompromiß auf K osten der sozialistischen Länder darstelle. Schuld daran sei „das immer weniger einheitliche Auftreten der Staaten des Warschauer Vertrages“: Die Sowjetunion, Ungarn, Polen und Bulgarien hätten sich „ für weitere Zugeständnisse in Menschenrechts- und hum anitären Fragen“ ausgesprochen, nur die DDR und Rumänien hätten dies als „ Einmischung in die inneren A ngelegenheiten“ abgelehnt. Um nicht isoliert zu sein, habe die DDR-Delegation „ letztlich keine Einwände gegen den Entw urf des Abschlußdokumentes“ erhoben. 103 Dabei seien die „ Festlegungen im ‚hum anitären Bereich‘ ein sofort gegen die sozialistischen Staaten nutzbares Einm ischungsinstrumentarium“. 104 Bemerkenswert an dieser Einschätzung w ar, daß die Spaltung des ehemaligen Ostblocks und insbesondere die tiefgreifenden politischen Differenzen zwischen der DDR und der U dSSR nun vor der Spitze des M fS benannt wurden. Für die G eneräle war das sicherlich kein G eheimnis mehr, aber zuvor tabuisierte Tatsachen, die offen ausgesprochen w erden, verändern ihre Qualität. Sie werden dem jeweiligen Diskurs zugänglich. Die D DR hatte als U nterzeichnerstaat im eigenen Land neue Erwartungen gew eckt und w ar zugleich eine ganze Reihe von Verpflichtungen eingegangen, deren Realisierung – wie sich noch im Laufe des gleichen Jahres zeigen sollte – die Diktatur nicht überstanden hätte. Der SED-Führung war das bewußt. Deshalb hatte sie so verbissen gegen jede „ Einmischung“ in Menschenrechtsfragen gefochten. Eine Scheinlösung für dieses Problem hatte das Politbüro bereits am 10. Januar gefunden, als eine Verabschiedung HA IX 687, Bl. 134–136. 100 Eine ausführliche Darstellung des Politbüro-Be schlusses findet sich bei Crome u. Franzke: Die SED-Führung und die Wiener KSZE-Konferenz (1993), S. 912 f. 101 Vgl. Protokoll über die Sitzung des Kollegi ums am 1. Februar 1989, 2.2.1989; BStU, ZA, SdM 1567, Bl. 192–194. 102 Zu diesem Terminus vgl. Berger u. Luck mann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1969), S. 125 f. 103 Ausführungen des Gen. Ministers auf der Beratung des Kollegiums (erste Wertung des Abschließenden Dokuments des KSZE-Folgetreffens von Wien) am 1.2.1989; BStU, ZA, ZAIG 5342, Bl. 1–66, hier 9 f. 104 Ebenda, Bl. 11. Diese Interpretation, die wörtlich aus dem Politbüro-Beschluß übernommen wurde, stammt inhaltlich aus einem Papier des D DR-Außenministeriums; vgl. Kaiser: Eigenständigkeit (1991), S. 493.

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des

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Dokuments nicht m ehr abw endbar w ar. D ie Lösung knüpfte an die Erfahrungen an, die mit dem Abschließenden Dokument der K onferenz von H elsinki 1975 gem acht w orden w aren. Bereits in diesem D okument war von den Unterzeichnerstaaten versichert worden, sie w ürden die grundlegenden Menschenrechte achten. 105 Allerdings handelte es sich um eine völkerrechtlich unverbindliche Willenserklärung, 106 der bekanntlich kaum Taten folgten. Das Politbüro meinte nun, es würde erneut genügen, sich auf die in dem Abschließenden D okument enthaltene „ Achtung der nationalen Gesetze, Verordnungen, Praxis und Politik durch alle Teilnehmerstaaten“ zu berufen. 107 Mielke verteidigte diese Interpretation dam it, daß anders „politische Stabilität und staatliche Sicherheit“ nicht „ zu gewährleisten“ seien. 108 Schon der nächste Satz in dem KSZE-Dokument widerspricht allerdings einer solchen Auffassung: „In Ausübung di eser R echte werden si e [di e Unt erzeichnerstaaten] gewährleisten, daß ihre Gesetze und Verordnungen, ihre Praxis und Politik m it ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen übere instimmen und m it den Bestimmungen der Erklärung über di e Pri nzipien und m it anderen KSZEVerpflichtungen in Einklang gebracht werden.“ 109

Die Unterzeichner hatten sich im Abschlußdokument dazu verpflichtet, „das Recht von Personen, die Durchführung der KSZE-Bestim mungen zu beobachten und zu fördern und sich m it anderen zu diesem Zweck zusammenzuschließen, [zu] achten“ . 110 D as SED -Politbüro hatte dennoch schon am 10. Januar auf Vorschlag Honeckers beschlossen, „ innerstaatlich“ gelte: „keine Legalisierung der ‚H elsinki-Gruppen‘“. 111 Mielke um schrieb die Zwickmühle, in der das MfS steckte, m it Argumenten, die schon H onecker gegenüber dem sowjetischen Delegationsleiter gebraucht hatte: „Die Legalisierung von Akt ivitäten sogenannt er Hel sinkiÜberwachungsgruppen w ürde u nter d en konkreten Lagebedi ngungen der DDR erhebliche innen- und außenpolitische W irkungen nach sich ziehen. Unter diesem Deckmantel würden si ch staatsfeindliche Gruppen und Kräft e 105 „Schlußakte“ vom 1.8.1975 dokumentiert in: Volle u. Wagner (Hrsg.): KSZE (1976), S. 237–284. 106 Vgl. Wagner: Eine Station auf einem langen Weg (1975), S. 479–482. 107 Zitiert nach Crome u. Franzke: Die SED-Führung und die Wiener KSZE-Konferenz (1993), S. 912. 108 Vgl. Mielke: Ausführungen vom 1.2.1989, Bl. 25 f. – Diesen Interpretationsansatz hatte nicht Mielke erfunden. Er war auf Basis des erwähnten Politbüro-Beschlusses bereits am 20.1.1989 von DDR-Außenminister Oskar Fischer vorgetragen worden; vgl. Neues Deutschland 21./22.1.1989. 109 KSZE: Abschließendes Dokument, S. 464. 110 KSZE: Abschließendes Dokument, S. 468. 111 Erich Honecker: Vorlage für das Politbüro vom 6. 1.1989, verabschiedet auf der Sitzung am 10.1.1989; BA Berlin, J IV 2/2A 3186, 3 S.

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in der DDR legal organisieren können und offen durch den Gegner und seine Einrichtungen unterstützt unt er angebl icher W ahrung der M enschenrechte sowie pseudopazifistischer Losungen mit öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR auftreten. [...] Eine Unterbindung derartiger s taatsfeindlicher A ktivitäten w äre n ur mit R epressivmaßnahmen zu errei chen. Ei n sol ches Vorgehen der Schutzund Sicherheitsorgane und die Anwendung der geltenden Rechtsvorschriften zur strafrechtlichen Verfolgung derartiger Kräfte würde wiederum zu m assiven feindlichen Verleumdungen führen.“ 112

Als nicht sonderlich originelle Lösung des Problem s w urde dekretiert, daß „entsprechend einer zentralen Entscheidung“ schon präventiv „jegliches Tätigwerden dieser G ruppen verhindert w ird“. 113 D as w ar die Ankündigung eines unverhüllten Verstoßes gegen das Abschlußdokum ent, das nicht nur die Tätigkeit, sondern auch die Bildung solcher G ruppen unter seinen Schutz gestellt hatte. Ein solcher Verstoß konnte gerade in der veränderten internationalen Konstellation problematisch w erden. Es w ar deshalb nicht verwunderlich, daß die Machthaber, auch wenn sie nach dem KSZE-D okument absolut zulässige Kritik 114 als „feindliche Verleumdungen“ denunzierten, sie dennoch fürchteten. Denn anders etwa als Rumänien mußte die Partei- und Staatsführung der DDR wegen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit besonders von der Bundesrepublik auf ihr außenpolitisches Ansehen achten. Sie – und damit auch das MfS – mußte verhindern, „daß politischer Schaden entsteht“. 115 Wegen der deshalb gebotenen V orsicht wies Mielke die Linie IX (zuständig für strafrechtliche Erm ittlungsverfahren) an, sich bei Verhaftungen zurückzuhalten: D eren Mitarbeiter hatten „ Überlegungen anzustellen“ hinsichtlich der „ Klärung politisch sensibler Sachverhalte bei erforderlicher Verm eidung der Festnahm e von Verdächtigen“. Auch sollten sie „strenge Maßstäbe an die Prüfung der Unumgänglichkeit der Untersuchungshaft“ legen. 116 Die Steigerung der Zurückhaltung hatte freilich enge Grenzen: „Nach wie vor werden wir öffe ntlichkeitswirksame Aktionen feindlicher, oppositioneller Kräfte, m it denen die DDR international diskrim iniert werden kann, wirksam unterbinden, möglichst natürlich vorbeugend.“ 117 Das Scheitern dieses Vorhabens wird darzustellen sein. An dieser Stelle ist festzuhalten, daß das SED -Regime dank der Entw icklung in der Sowjetunion bereits zu Beginn des Jahres 1989 in einer doppelt prekären Situation steckte: Innenpolitisch war das Regim e m it der Ausstrahlungskraft der sowjetischen Perestroika konfrontiert. Außenpolitisch war kein Verlaß mehr 112 Mielke: Ausführungen vom 1.2.1989, Bl. 32. 113 Ebenda. 114 Vgl. Kristof: Das Wiener KSZE-Folgetreffen (1989), S. 394. 115 Mielke: Ausführungen vom 1.2.1989, Bl. 48. 116 Ebenda, Bl. 50. 117 Ebenda, Bl. 51.

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auf den „ Blockzusammenhalt“ und das heißt darauf, daß die anderen Warschauer-Pakt-Staaten entlang des System gegensatzes – oder wie das Mielke nannte: „der beiden Klassenlinien in der internationalen Politik“ 118 – agierten. Beide Elemente verbanden sich zu einer gerade unter der eigenen Anhängerschaft schwindenden Legitim ation und eingeschränkten innenund außenpolitischen Handlungsspielräum en bei der Aufrechterhaltung der Diktatur. Wie seitens der M fS-Führung die internationale Lage im Frühjahr 1989 eingeschätzt wurde, machte ein Gespräch deutlich, das im April 1989 in der Ostberliner Normannenstraße stattfand. Mielke hatte Besuch aus Moskau: vom Leiter der für Spionage zuständigen 1. Hauptverwaltung des KGB, Generalmajor Leonid Schebarschin. Mielke redete zu Beginn des Treffens über eine Stunde lang auf seinen G ast ein. Vor allem beklagte er die A uflösung des „sozialistischen Lagers“: „Bekanntlich wurden [bei dem KSZE-Folgetreffen] in Wien große Zugeständnisse an den W esten gemacht, besonders i n Fragen der M enschenrechte und sogenannten hum anitären Problem e [...], menschliche Kontakte [...] , Information, Kultur und Bildung. Das resultiert e nicht zuletzt auch aus dem nicht einheitlichen Auftreten der sozialistischen Staaten.“ 119

Das war schon fast unverhüllte Kritik an der Führungsm acht, die sich freilich völlig im Rahmen dessen bewegte, was Honecker zur gleichen Zeit vertrat. Zu verzeichnen sei eine „ weitere Differenzierung zwischen den sozialistischen Ländern, besonders zwischen der UdSSR und der DDR, aber auch zwischen anderen Ländern. Einzelne sozialistische Staaten (DDR, SSR) werden als KSZE-feindlich, reformfeindlich, als menschenrechtsverletzende Regime diffamiert und angeklagt.“ 120 Mielke schimpfte besonders über die Liberalisierung in Ungarn und Polen, m einte aber gew iß auch die Sow jetunion, als er sagte, „ in einigen sozialistischen Ländern“ sind „bereits starke feindliche, oppositionelle Kräfte vorhanden, die Kampf [...] gegen Grundlagen des Sozialismus führen, deren Ziel Beseitigung der sozialistischen Staats- und G esellschaftsordnung, Restaurierung des K apitalismus ist“. 121 Dann folgte eine Erm ahnung für den sow jetischen Genossen: „Wir sind besorgt über ungenügende Ent schlossenheit zur Abwehr der Ang riffe der Feinde. Unseres Erachtens ist es notwendig, daß in den sozialistischen 118 Ebenda, Bl. 4. 119 Süß (Hrsg.): Erich Mielke (M fS) und Leonid Schebarschin (KGB) über den drohenden Untergang des Sozialistischen Lagers. Protokoll eines Streitgesprächs am 7. April 1989 (1993), S. 1027. 120 Ebenda. 121 Ebenda, S. 1025.

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Staaten wieder ganz klare Positionen zum Entstehen und Wirken antisozialistischer Gruppierungen, besonders zur Notwendigkeit ihrer konsequenten Bekämpfung, bezogen werden.“ 122

Sein G esprächspartner vom K GB w arf zw ischendurch ein: „Ich sitze hier wie ein Beschuldigter“ , 123 sonst aber antwortete er nicht auf Mielkes Polemik, weil er Weisung hatte, sich auf keinen Streit einzulassen. 124 So beteuerte er nur beschwichtigend, die „ führende Rolle“ der K PdSU werde in der Sowjetunion beibehalten werden. Auch Mielkes Mahnung, etw as mehr geheimpolizeiliches Selbstbewußtsein zu entwickeln, lockte ihn nicht aus der Reserve. Mielke hatte gesagt: „Es ist nicht ganz richtig, daß wir die Politik der Partei nur durchführen. U nsere Informationen müssen sich auch niederschlagen in der Politik der Partei. [...] Ich bitte, nicht zu bescheiden zu sein.“ 125 Die Forderung nach „ Entschlossenheit zur A bwehr der A ngriffe“ war eine unverhüllte Kritik an den politischen Vorgaben für den KGB. Sie waren Mielke bekannt, denn schon im Dezember 1987 hatte eine M fS-Delegation unter Leitung von G eneralmajor Fister, dem Chef der Untersuchungsabteilung, bei einem „ Erfahrungsaustausch“ in Moskau von ihren sow jetischen Genossen, darunter dem Leiter der U ntersuchungsabteilung des KGB der UdSSR, G eneralmajor Leonid Iw anowitsch Barkow , erfahren: „Gegen Organisatoren und Rädelsführer derartig er [„ antisowjetischer“] A ktionen und gegen Personen, welche die eingegangene V erpflichtung zur strikten Einhaltung der sowjetischen G esetze nicht befolgen, w erden zur Zeit keine strafrechtlichen oder ordnungsrechtlichen Sanktionen angewandt.“ Die sowjetischen Tschekisten hatten diesen Zustand „ als nicht zufriedenstellend“ bezeichnet, hätten sich aber der Linie der KPdSU zu beugen. 126 Im Februar 1989 war dann ein Stellvertreter Mielkes, wahrscheinlich Rudi Mittig, zu G esprächen in der Sow jetunion gew esen und hatte dort vom sowjetischen Innenm inister Bakatin, einem Reform politiker, erfahren: „Es werden keinerlei repressive Maßnahm en angewandt (die Paragraphen ‚Hetze‘ und dergleichen lt. Strafgesetzbuch finden im Sinne der Rede des Gen. Gorbatschow vor der UNO keine Verwendung).“ Bei seinem anschließenden G espräch m it G eneralleutnant Bogdanow , dem Leiter der Hauptverwaltung für innere Sicherheit der Stadt Moskau, hatte der stellvertretende Minister allerdings erfahren, daß die neue Liberalität ihre Grenzen hatte. In 122 Ebenda, S. 1026. 123 Ebenda, S. 1030. 124 Mündliche Information von Leonid Schebarschin gegenüber dem französischen Journalisten Maurice Najman in Moskau, 1994. 125 Ebenda, S. 1033. 126 HA IX: „Bericht über die Ergebnisse des Erfahrungsaustausches mit der Leitung der Untersuchungsabteilung des Komitees für Staatssicherheit der UdSSR“ vom 30.11.–4.12.1987 in Moskau; BStU, ZA, Abt. X 212, Bl. 36–44.

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Moskau existierten etw a 200 „ informelle Organisationen“, gegen die offen-

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bar nicht vorgegangen w urde. A ber eine „ Demokratische U nion“, die sich explizit als „Alternative zur KPdSU“ verstand, werde m it repressiven Mitteln bekämpft: „[Sie] werden im mer wieder“, hatte Mittig nach seiner Rückkehr berichtet, „durch die Miliz für 14 Tage inhaftiert wegen Rowdy tums und der Durchführung unangemeldeter Versammlungen.“ 127 Das entsprach eher den V orstellungen Mielkes. Ihnen nachzugeben hätte einen Kurswechsel in der Sow jetunion bedeutet, der ein Trium ph der Hardliner gegenüber den Reform ern gewesen wäre und die Perestroika politisch ruiniert hätte. O hne einen solchen K urswechsel aber stand die DDR-Führung mit ihrem Bemühen, das Alte Regime wieder zu stabilisieren, ziem lich allein. Nur in Rumänien und – m it gew issen Einschränkungen – in der Tschechoslowakei 128 und in Bulgarien 129 w urde ähnlich starrsinnig am Alten Regim e festgehalten. Mielke hätte einen härteren innenpolitischen Kurs befürw ortet, doch er hatte si ch der SED -Führung unterzuordnen. D ie aber schreckte aus außenpolitischen Gründen davor zurück. Und Mielke fand für dieses Vorhaben auch keine Unterstützung bei den „Freunden“, den sowjetischen „Tschekisten“. Wenige Monate später, im Juni 1989, erklärte er vor der SED-Kreisleitung in einem Referat, in dem er „die Entwicklungen in Ungarn, in Polen und zum Teil auch in der U dSSR“ in düsteren Farben schilderte: „Die gegenwärtige Lage erfordert es, davon auszugehen, daß wi r es auch i n den [befreundeten] Sicherheitsorganen mit Partnern zu tun haben können, für die der proletarische Internationalis mus [...] und der Kam pf gegen den gemeinsamen Feind schon nicht m ehr [...] die Basis für die Zusam menarbeit bilden.“ 130

Die internationale Isolation, auch im eigenen Lager und selbst im eigenen Gewerbe, w ar als entscheidende Rahm enbedingung mit einzukalkulieren, als im Herbst 1989 die offene Krise ausbrach und die M fS-Generalität sich fragte, wie sie darauf reagieren sollte.

127 Berichte über die Gespräche am 27. u. 28.2.1989; BStU, ZA, HA VII 1359, Bl. 217–221, hier 217 u. 221. – Dieser Trend wird bestätig t durch die Jahresberichte des KGB an Generalsekretär Gorbatschow; vgl. Garthoff: The KGB Reports to Gorbachev (1996), S. 235 f. 128 Anfang Februar war der Sekretär des ZK der KPTsch, Jan Fojtik, bei Honecker gewesen und hatte erklärt, man werde weiterhin „administrativ gegen den Gegner“ vorgehen, doch komme man nicht um die Erkenntnis herum, daß aus wirtschaftlichen Gründen „Reformen unerläßlich“ sind. Sitzung des SED-Politbüros am 14. 2.1989, Anlage: Bericht zu dem Besuch von Jan Fojtik, KPTsch, 1.–3.2.1989 in Berlin; BA Berlin, DY 30 IV 2/ 2039/70, Bl. 32–35. 129 Vgl. Linz u. Stepan: Problems of Democratic Transition (1996), S. 335 f. 130 E. Mielke: Referat auf der Sitzung der Kreisleitung der SED im M fS zur Auswertung der 8. Tagung des ZK – Manuskript – (29. Juni 1989); BStU, ZA, DSt 103604, S. 74 u. 87.

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Verschärfte Abschottungstaktik Die Abwehr aller reform erischen H erausforderungen durch die SED Führung mit dem stereotypen Argument, dies seien sow jetische Angelegenheiten, frustrierte gerade den Teil der loy alen Bürger, die noch nicht in Zynismus abgeglitten waren. Das hinderte die SED jedoch nicht daran, gegen Ende des Jahres 1988 ihre Abgrenzungspo litik neuerlich zu verschärfen. Im November, einen Monat nach Mielkes erwähntem Auftritt vor seinen Kollegen aus den sozialistischen Ländern, wurden in der DDR mehrere sowjetische Filme verboten, die zuvor noch auf einem Filmfestival gezeigt worden waren. 131 Vor allem aber wurde die beliebte Zeitschrift „ Sputnik“, ein Journal mit Übersetzungen sowjetischer A rtikel, „ von der Postzustellungsliste gestrichen“ , das heißt verboten. 132 Auslöser war ein Themenheft zum „Hitler-Stalin-Pakt“. 133 Damit w ar ein besonders em pfindlicher Punkt der SED-Ideologie angesprochen, gewisse rmaßen ihr zweites legitim ationspolitisches Standbein: der Antifaschism us. 134 Es war in der DDR immer verschwiegen worden, daß dieser Antif aschismus in der Periode zwischen dem Hitler-Stalin-Pakt (1939) und dem Überfall auf die Sowjetunion (1941) auch von der K PD-Führung im Moskauer Exil einer opportunistischen Appeasement-Politik gegenüber dem NS-Regim e geopfert worden war. 135 Diese Zusam menhänge m ögen den älteren Mitgliedern der Parteiführung noch bewußt gewesen sein, auch deshalb ihre gereizte Reaktion; bei der Rezeption der Zensurm aßnahme durch die D DR-Bevölkerung spielten sie wohl keine Rolle, w eil sie fast unbekannt w aren. A ktuell war ein anderer Gesichtspunkt von erheblich größerer Bedeutung: D ie Zensur, die über die ganzen vier Jahrzehnte existiert hatte, hatte sich an einem sym bolischen Punkt kenntlich gem acht, der für die Machthaber höchst prekär war: ihrem Verhältnis zum sowjetischen „Bruder“. Über die Reaktion der Bevölkerung berichtet die Zentrale Auswertungsund Informationsgruppe (ZAIG) des MfS Ende November 1988: „Vorliegenden umfangreichen Hinweisen aus al len Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge löste die Mitteilung des Ministerium s für Post- und Fernmeldewesen über die Streichung der Zeitschrift ‚Sputnik‘ von der Postzeitungsvertriebsliste der DDR bereits unm ittelbar nach der Veröffentlichung in breiten, weit über den Abonnenten- bzw. Leserkreis der Zeit131 Es handelte sich um folgende Filme: „ Die Kommissarin“ (A. Askoldow), „Das Thema“ (G. Panfilow), „ Morgen begann der Krieg“ (J. Kara), „ Der kalte Sommer des Jahres 53“ (A. Proshkin) und „ Spiele für Schulkinder“ (L . Lajus/A. Ikho). Vgl. Der Tagesspiegel 22.11.1988. 132 „Mitteilung der Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen“, in: Neues Deutschland 19./20.11.1988. 133 „Stalin und der Krieg“, in: Sputnik, 22 (1988) H. 10, S. 8–10 (Editorial) u. 127–149. 134 Vgl. Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft (1992), Kap. I. 135 E inschlägige Dokumente sind nachzulesen bei Weber: Der deutsche Kommunismus (1963).

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schrift hinausgehenden Schichten der Bevölkerung massive, sehr kritisch gehaltene M einungsäußerungen aus. [...] Hauptargum ent der sich m it Unverständnis und Abl ehnung äußernden Persone n i st, damit werde die Bevölkerung der DDR politisch entm ündigt. [...] W iederholt wird in diesem Zusammenhang geäußert, daß die Partei- und St aatsführung der DDR damit erstmals ei ne Ent scheidung get roffenen habe, di e i n offener Konfrontation zur Politik der UdSSR stehe.“ 136

Besonders beunruhigt zeigte sich das M fS darüber, „ daß es kaum Meinungs- bzw. Argumentationsunterschiede bei den sich äußernden Personen zwischen Mitgliedern der SED und Parteilosen gibt“ . 137 Die politische Entmündigung war gewiß nicht neu, sie gehörte zum Wesen der ideologischen Diktatur. Doch nun benannten selbst Mitglieder der „führenden Partei“ offen diesen Sachverhalt – bis zum 31. Dezem ber 1988 trafen 800 Protestschreiben beim ZK der SED ein. 138 Gerade Parteimitglieder machten deutlich, daß sie sich tief entfremdet fühlten, und sprachen von einer „ offenen Konfrontation“ m it den sowjetischen Verbündeten. 139 D as m ußte von den Mächtigen als Alarmzeichen verstanden werden, weil dam it die politische Basis des Regimes ins Wanken geriet. 140 Die Parteiführung reagierte wenige Tage später anläßlich der DezemberTagung des Zentralkomitees. Honecker postulierte gleich zu Beginn, es sei eine „Illusion, [...] zwischen die KPdSU und die SED einen Keil treiben zu können“ – um sich anschließend um so intensiver dieser Aufgabe zu widmen. 141 136 ZAIG: Hinweise zu einigen bedeutsame n Aspekten der Reaktion der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Mitteilung über die Streichung der Zeitschrift ‚Sputnik‘ von der Postzeitungsvertriebsliste der DDR, 30. 11.1989; BStU, ZA, ZAIG 4244, Bl. 1–7, hier 2 f. 137 Ebenda, Bl. 2. 138 Vgl. Werner Müller: „Aufgaben und Schwerpunkte der Arbeit der Parteikontrollkommissionen der SED bei der Durchführung von Parteiverfahren. Referat für die Arbeitsberatung in Üdersee 31.01. bis 03.02.1989“; BStU, ZA, KL 1065, Bl. 496–552, hier 520. 139 In der Tat war die sowj etische Seite verstimmt. Bei einem Arbeitstreffen von Kurt Hager mit dem sowj etischen Chefideologen am 28. 12.1988 in Moskau erklärte ZK-Sekretär Wadim Medwedew: „ Was die Zeitschrift ‚Sputnik‘ angeht, so bedauere er, daß hier administrative Methoden angewandt worden seien. [...] Das ‚Verbot‘ des ‚Sputniks‘ sei nicht angemessen und effizient gewesen. Wir sollten selbst prüfen, ob der Schritt gegenüber dem ‚Sputnik‘ mehr Nutzen oder Schaden gebracht habe.“ Bericht über den Aufenthalt der Delegation des ZK der SED unter Leitung des Genossen Kurt Hager in Moskau vom 27. bis 28.12.1988; BA Berlin, J IV 2/2A/3185, 34 S., hier S. 31. 140 Im „ Spiegel“ wurde schon seinerzeit in der Tendenz zutreffend berichtet: „Landauf, landab artikulieren die ostdeutschen Kommunisten in Parteiversammlungen geharnischten Protest gegen ihre Führung. [...] Die Anordnung, den [...] ‚Sputnik‘ künftig in der DDR nicht mehr zu vertreiben, [ ...] l ieß den Unm ut über kochen. Das Ver bot bewi rkte genau das, w as die Parteispitze verhindern w ollte: N un ist eine offene Kontroverse um Glasnost und Perestroika da, und sie scheint nur schwer steuerbar. Tausende Genossen schickten handfeste Proteste gegen die Zensur an ihre Oberen – ein Novum für die straff geführte SED.“ In: Der Spiegel 28.11.1988, S. 27 f.; ähnlich M. Menge in: Die Zeit 2.12.1988. 141 Erich Honecker: Bericht des Politbüros, in: Protokoll der 7. Tagung des Zentralkomitees

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Die sowjetische Stalinismus-Diskussion bezeichnete er als „ Gequake wildgewordener Spießer, die die Geschichte der KPdSU und der Sowjetunion im bürgerlichen Sinne umschreiben möchten“. 142 Mit solchen Ausfällen sollte jede Diskussion erstickt w erden. Die SED-Führung schwenkte nun um auf eine relativ aggressive A bgrenzung vom sow jetischen Reform prozeß, dem jede Bedeutung für die DDR abgesprochen wurde, denn schließlich gebe es „kein für alle sozialistischen Länder geltendes Modell“ . Im Geiste von Hagers Tapeten-Metapher und unter Rückgriff auf eine andere Formulierung desselben Theoretikers 143 setzte Honecker hinzu: „Kopieren haben wir noch nie als Ersatz für das notwendige eigene theoretische Denken und praktische Handeln betrachtet und tun es auch w eiterhin nicht.“ 144 Es fehlte in dieser Rede auch nicht an Drohungen. Honecker erinnerte an eine kurz zurückliegende „Manifestation der Kampfgruppen“, die er als „ Ausdruck der Entschlossenheit der Werktätigen“ interpretierte, „ dafür zu sorgen, daß die DDR niemals ein Tummelplatz für Leute wird, die uns in die alte Zeit und das alte U nglück zurückzerren w ollen“. 145 A ls krönenden A bschluß proklamierte er einen Sozialismus „in den Farben der DDR“. 146 In der folgenden „ Diskussion“ überboten sich die Redner in der Schilderung wirtschaftlicher Erfolge und – individuell leicht abgestuft – der Unterstützung der proklam ierten Linie verstärkter A bgrenzung Richtung O sten. Günther Jahn, der 1. Sekretär der SED -Bezirksleitung Potsdam , verstärkte die Drohung mit den K ampfgruppen durch eine besonders markante Metapher: „ Die quadratische Form ation der Kampfgruppenhundertschaft steht der Arbeiterklasse besser zu G esicht als der runde G esprächstisch m it der Konterrevolution.“ 147 Um die Inszenierung vollständig zu m achen, bedurfte es auch eines Prügelknaben, der stellvertretend für alle Reformsympathisanten abgestraft wurde. Diese Rolle war dem Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann zugefallen, der in einem Interview mit der bundesdeutschen Zeitschrift „ Theater heute“ vorsichtig Kritik an der Zensur geübt hatte. 148 Auf ihn schlugen all jene Redner ein, die die Rezeption von Reform argumenten über die Westmedien unterbinden wollten. 149 der Sozialistischen Einheitspartei Deutschl ands, 1./2. Dezember 1988, hrsg. vom Büro des Politbüros, Vermerk: „ Parteiinternes Mate rial“, Teil I; BStU, ZA, SdM 2296, S. 1–60, hier 9 (MfS-Originalpaginierung). 142 Ebenda. 143 Rede Kurt Hagers, in: Neues Deutschland 10.6.1988. 144 Honecker: Bericht des Politbüros auf der 7. Tagung des ZK, S. 10. 145 Ebenda, S. 53. 146 Ebenda, S. 58. 147 Protokoll der 7. Tagung des ZK der SED, 1./2.12.1988, Teil III; BStU, ZA, SdM 2296, S. 104. 148 Vgl. Spittmann: Weichenstellungen für die neunziger Jahre (1988), S. 1253. 149 An diesem Ritual beteiligten sich die Provinzfürsten Böhme, Lorenz, Schabowski, Chemnitzer und Ziegenhahn. Hoffmann hat sein Amt trotz dieses Scherbengerichts behalten. Das läßt sich wohl nur mit Honeckers Abneigung gegen j egliche personelle Ver-

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Die SED-Führung hatte mit diesem Plenum signalisiert, daß sie keinerlei Zugeständnisse an Perestroika-A nhänger in den eigenen Reihen zu machen gedachte und w ahrscheinlich die letzte Chance für eine „ Wende von oben“ vertan, die ihr noch Reste von politischer Initiative gelassen hätte. Von der Bevölkerung der DDR wurde das damals nicht ganz so dram atisch gesehen, denn sie schenkte in der Regel den viele Seiten langen Propagandareden wenig Aufmerksamkeit. 150 Das war auch im Dezember 1988 nicht sehr viel anders – m it einer A usnahme. Eine H onecker-These m achte Furore: seine kühne Behauptung, „im Grunde genommen“ sei der Lebensstandard in der DDR höher als in der Bundesrepublik. 151 Für das M fS berichtete die ZA IG, w ie diese Behauptung aufgenom men worden war. Sie berichtete überaus vorsichtig, schließlich ging es um eine Äußerung des zunehmend gereizten Generalsekretärs: „Sehr kritische bis zweifelhafte Auffa ssungen werden vertreten zu den im Bericht getroffenen Aussagen über eine gewachsene Effektivität und Qualität der Produktion sowie über den Lebensst andard der DDR-Bürger. [...] Aus dieser Si cht fi ndet auch di e Ei nschätzung des Lebensst andards der DDR Bürger, insbesondere aber der angestellte Vergleich mit dem Lebensstandard der Bürger in der BRD, nur bedingt Zustimmung.“ 152

Im G egensatz zu dieser beschw ichtigenden A ndeutung w ar die Empörung über diese m erkwürdige Behauptung 153 in Wirklichkeit so groß, daß sich die SED-Führung in den folgenden Monaten im mer wieder genötigt sah, sie zu wiederholen und durch Scheinargum ente abzustützen. 154 Den DDRBürgern war ein Beweis m ehr dafür geliefert worden, daß die politische Spitze neben dem Realitätssinn jegliches Gefühl für die Stimmung im Lande verloren hatte. Gemessen an der Parteilogik war der eigentliche Höhepunkt der Ansprache des G eneralsekretärs die Bekanntgabe des Term ins für den nächsten

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änderungen in seinem Umfeld erklären. – G.-R. Stephan interpretiert diesen Umstand als Ausdruck der Befürchtung, in internationale n Künstlerkreisen unliebsames Aufsehen zu erregen. Das halte ich wegen der geringen Popularität Hoffmanns für wenig überzeugend. Vgl. Stephan: Die letzten Tagungen des Zentralkomitees (1993), S. 304. Das Protokoll wurde leicht gekürzt abgedruckt in: Neues Deutschland 2.12.1988, S. 3–10 u. 3./4.12.1988, S. 3–14. Honecker: Bericht des Politbüros auf der 7. Tagung des ZK, S. 11. ZAIG: Erste Hinweise zur Reaktion der Be völkerung auf die 7. Tagung des ZK der SED, 13.12.1988; BStU, ZA, ZAIG 4245, Bl. 2–8, hier 5. – Die Rezeption auf regionaler Ebene, in Jena, wird mit ähnlichem Tenor geschildert in: Hutzler-Spichtinger u. Schönberger: „Unüberhörbare Wortmeldungen der Bürger...“ (1994), S. 204. Subjektiv war Honecker wahrscheinlich ta tsächlich dieser Meinung, bedingt durch Unkenntnis der realen Versorgungslage außerhalb von Wandlitz und weil sich Lebensstandard für ihn auf Essen, Arbeit und Wohnen auf bescheidenem, aber ausreichendem Niveau beschränkte. Vgl. seine einschlägigen Äußerungen in Andert u. Herzberg: Der Sturz (1990), S. 294. Vgl. Neues Deutschland 22.12.1988, 28./29.1.1989, 9.2. u. 3.3.1989.

Parteitag. Eineinhalb Jahre im voraus w aren Tagesordnung und Rednerliste (Honecker, Stoph u. a.) festgelegt worden. 155 Deutlicher hätte man die starre Verteidigung des Status quo kaum m achen können. D och auch das kam beim Publikum anders an als beabsichtigt. D ie ZA IG berichtete über die Erwartungen, die m it der A nkündigung des Parteitages im Mai 1990 verbunden wurden: „In di esem Zusam menhang wurde di e Fest legung der Durchführung des XII. Parteitages der SED m it Intere sse zur Kenntnis genom men. [...] Eng damit verbunden werden aber auch i n nahezu al len Bevölkerungskreisen Erwartungshaltungen hinsich tlich Kaderveränderunge n in der Partei- und Staatsführung. In ei ner R eihe von spekul ativen M einungsäußerungen, u. a. von Arbeitern und Angestellten aus Großbetrieben, Mitarbeitern staatlicher Organe sowie Studenten an Hochschul en und Uni versitäten, werden darüber hinaus ei ne Korrekt ur der ökonom ischen St rategie der SED bi s zum Jahr 2000 sowie die Ausarbeitung einer neuen ‚ideologischen Linie‘ aufgrund der komplizierten außenpolitischen Lage und der Entwicklung in den sozialistischen Ländern erwartet.“ 156

Das war das gerade Gegenteil von dem , was gemeint gewesen war. Honecker hatte jede Diskussion über anstehende V eränderungen abw ürgen w ollen. Tatsächlich hatte er dafür ein Datum gesetzt: Spätestens zum nächsten Parteitag wurde auf eine „ neue ideologische Linie“ und „Kaderveränderungen“ gehofft. Er hatte sich selbst für den Mai 1990 an der Spitze der Rednerliste plaziert und damit zu verstehen gegeben, daß er w eitere fünf Jahre an der Macht bleiben wollte. Das bestätigte nur, was in den folgenden Monaten gerade bei Parteim itgliedern zu einer immer stärkeren Erwartung wurde, die die Mobilisierungsfähigkeit des Alten Regimes schmälerte, zugleich aber auch Passivität verursachte: das Rechnen mit einer „biologischen Lösung“. 157 Um die reaktionäre Einigelungstaktik abzurunden, hatte das ZK -Plenum einen „ Umtausch der Parteidokum ente“ beschlossen. 158 Bei einer solchen Gelegenheit wurden m it allen Parteim itgliedern Gespräche über ihr politisches Engagement geführt und neue Parteiausweise ausgegeben. Im Vorfeld eines Parteitages – genau gesprochen jedes zweiten – w ar das nichts U ngewöhnliches. Zudem sollte die Prozedur erst im Herbst 1989 vollzogen werden. Im aktuellen politischen Kontext hatte dieses Vorhaben dennoch eine 155 Honecker: Bericht des Politbüros auf der 7. Tagung des ZK, S. 10 u. Beschluß „Einberufung des XII. Parteitages der S ozialistischen E inheitspartei D eutschlands“; e benda, T eil III, S. 157. 156 ZAIG: Erste Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung auf die 7. Tagung des ZK der SED, 13.12.1988, Bl. 7. 157 Vgl. Stephan: „Wir brauchen Perestroika und Glasnost für die DDR“ (1995), S. 729. 158 Protokoll der 7. Tagung des ZK der SED, 1./2.12.1988, Teil III, S. 158.

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bedrohliche Bedeutung: die innerparteilich-repressive Absicherung der herrschenden Linie. Noch im Dezem ber 1988 gab das Sekretariat des ZK der SED eine einschlägige „Information“ heraus, in der zu lesen war: „Wer feindliche Ideologien oder Auffa ssungen vertritt, gehört nicht in die Partei. Die Mitg liedschaft in der Partei setzt die Bereitschaft voraus, die auf dem X I. Parteitag beschlossene Strategie und Taktik unserer Partei unter allen Bedingungen mit durchsetzen zu helfen. Wer der gegnerischen Hetze und Demagogie erliegt, von dem trennen wir uns. Er hat das Recht verwirkt, den Ehrennamen Kommunist zu tragen. Das gleiche gilt auch für Meckerer und ewige Nörgler.“ 159

Damit waren die Stichworte vorgegebe n, m it denen innerparteiliche Kritik in den folgenden Monaten abgefertigt wurde. Im Januar 1989 w urde diese Vorgabe noch durch einen Politbüro-Beschluß ergänzt, in dem der SED Politik eine „ großartige Bilanz“ bescheinigt und gefordert wurde, „durch das parteiliche Reagieren von Genossen jenen Auffassungen und Briefeschreibern entgegenzuwirken, die m it ihren ‚V orschlägen‘ eine K orrektur unserer bewährten Politik fordern“. 160

1.2 Erste Zweifel im MfS Im MfS wurde das 7. ZK -Plenum auf einer D ienstbesprechung am 13. und auf einer Sitzung der SED-Kreisleitung am 15. Dezem ber 1988 „ ausgewertet“. Bei der D ienstbesprechung, in der keinerlei Diskussion vorgesehen war, 161 hielt Mielke das Hauptreferat. 162 Es w ar auf der H and liegend, daß er sich durch den von diesem Plenum „ gewiesenen K urs“ bestätigt fühlte, denn damit sei „all jenen Kräften – auch einigen bei uns – eine grundsätzliche Antwort gegeben worden, die meinen, uns von unserem bewährten Weg

159 „Information 245 zum einheitlichen und geschlossenen Handeln der Mitglieder und Kandidaten der SED“, zitiert von Werner Müller, Referat in Üdersee 31.01.–3.02.1989, Bl. 508. 160 H. Dohlus, J. Herrmann, E. Krenz u. G. Mittag: Vorlage an das Politbüro. „Betr.: Beschluß zur weiteren Erhöhung des Niveaus der politisch-ideologischen Arbeit der Partei“, 5.1.1989; BA Berlin, J IV 2/2A/3186, S. 2 u. 13. Der Beschluß wurde in der PolitbüroSitzung am 10.1.1989 verabschiedet. 161 V gl. „Wesentlicher Ablauf der Dienstbesprechung des Genossen Ministers am 13.12.1988“; BStU, ZA, ZAIG 8623, Bl. 15. 162 Schwerpunkt von Mielkes Rede waren die Probleme, die auf das MfS im Zusammenhang mit der neuen Reiseverordnung zukommen würden und welche Möglichkeiten bestünden, sie bei formaler Beachtung restriktiv auszulegen; Mielke: Ausführungen auf der zentralen Dienstbesprechung mit den Leitern der operativen Diensteinheiten des M fS Berlin und den Leitern der Bezirksverwaltungen (Manuskript), 13.12.1988; BStU, ZA, DSt 103534, Bl. 1–145.

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abbringen zu können“. 163 Interessant an dieser Bem erkung ist vor allem die Andeutung, daß ein kritisches Potentia l auch im MfS heranwuchs. Als Orientierung für das bevorstehende Jahr 1989 verkündete der Minister für Staatssicherheit, es w erde kom pliziert w erden und „ von den Angehörigen aller Diensteinheiten höchste Kampf- und Einsatzbereitschaft“ verlangen. 164 Gemeint war damit, daß die D DR „einem ständig zunehmenden Druck von drei Seiten ausgesetzt“ sei: „ seitens des G egners“ und „ innerer feindlicher, oppositioneller Kräfte“ . Beides war nich t neu, wohl aber die dritte Seite. Mielke sprach von „massiven Versuchen äußerer und innerer Feinde, insbesondere die Umgestaltungsprozesse in der U dSSR, ‚Perestroika‘ und ‚G lasnost‘, aber auch Reformen und V eränderungen in anderen sozialistischen Ländern, einschließlich bestim mter Entw icklungsprobleme und Schw ierigkeiten bei uns für die Verwirklichung ihrer Ziele auszunutzen“. 165 Dam it wurden – eine dritte Front – diejenigen, die sich für eine „Perestroika“ in der DDR einsetzten, auf eine Stufe m it dem „imperialistischen Gegner“ gestellt und dam it dieses Projekt selbst in gefährliche Nähe zum „ Klassenfeind“ gerückt. Noch deutlicher wurde Mielkes Stellvertreter, Generaloberst Rudi Mittig 166, der – im merhin m it der Autorität eines ZK-Mitglieds – vor der SED-Kreisleitung im MfS das 7. Plenum erläuterte. Er spitzte Mielkes Argumentation zu und behauptete, es sei „eine weitere zunehmende Konzentration“ der „imperialistischen Führungskreise“ und „Geheimdienste“ zu verzeichnen auf die „Initiierung von Forderungen nach gesellschaftlicher Um gestaltung, nach ‚innenpolitischer Öffnung‘ im Sinne der Etablierung pluralistischer Strukturen. Durch di e mißbräuchliche Verwendung des Vokabul ars ‚Glasnost‘ und ‚Perestroika‘ erhofft m an sich generell ei ne größere i deologische W irksamkeit der Freiheits- und Menschenrechts demagogie [...] sowie die Initiierung neuer Konfliktpotentiale.“ 167

Besonderes Augenmerk richtete Mittig auf die evangelischen Kirchen in der DDR, die „der Gegner [...] in die Rolle einer legalen Opposition gegenüber 163 164 165 166

Ebenda, S. 26 f. Ebenda, S. 28. Ebenda, S. 28 f. Generaloberst Rudi Mittig (1925–1994), von Beruf Ingenieur, war seit 1952 beim MfS. Von 1956 bis 1964 leitete er die BVfS Potsdam, dann die HA XVIII (Wirtschaft). In dieser Zeit studierte er außerdem an der Juristischen Hochschule des MfS. Von 1975 bis 1989 war er als Stellvertretender Minister für Staatssicherheit u. a. zuständig für die Linien XVIII, XIX (Verkehr) und XX (Staat sapparat, Kirche und Opposition). 1976 bis 1986 war Mittig Kandidat und 1986 bis 1989 Mitglied des ZK der SED. 167 R. Mittig: Referat auf der Sitzung der SED-Kreisleitung am 15. 12.1988 zu Aufgaben der Kreisparteiorganisation in Auswertung der 7. Tagung des ZK der SED; BStU, ZA, Neiber 89, Bl. 103, S. 18 f. (MfS-Paginierung).

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dem Staat zu bringen“ versuche. 168 Sie seien dafür em pfänglich, denn „in wachsendem Maße leiten die evangelischen K irchen aus der von ihnen selbst entwickelten Form el eine[r] ‚K irche im Sozialism us‘ ein politisches Mitspracherecht in der Gesellschaft ab“. 169 Wenige Wochen später versuchte die SED, die Kirche auch öffentlich zu disziplinieren, indem sie Konsistorialpräsident Stolpe im „Neuen Deutschland“ angriff und drohend raunte, sich als Kirche „ mit staatlichen Fragen zu beschäftigen, ist selbstverständlich kein Dienst an der freien Religionsausübung“. 170 Bemerkenswert an Mittigs Ausführungen war noch ein anderer Aspekt. Er konstatierte Aufweichungserscheinungen im eigenen Ministerium: „Wir dürfen kei ne Il lusion haben, daß die verst ärkten Angri ffe an den Genossen unserer Part eiorganisation s purlos vorübergehen. B esondere Aufmerksamkeit muß man deshal b den Genossen wi dmen, auch wenn es nur wenige si nd, di e di e Fronten des Klassenkampfes aus den verschi edensten Gründen nicht so deutlich sehen. Auch diejenigen, die im mer nur Fragen stellen, ohne si ch selbst um eine Antwort zu bem ühen, die an den verschiedensten Dingen unserer Entwicklung etwas zu kritisieren haben, denen es am Willen zur offensiven Auseinanderset zung mit mehr oder weniger versteckten Angriffen auf die Politik der Partei fehlt.“ 171

Zur Erhöhung der ideologischen Standhaftigkeit w urden deshalb in diesen Wochen Agitatoren – von MfS-Angehörigen als „ Wanderprediger“ bez eichnet – durch die Parteiorganisationen in den Diensteinheiten geschickt. 172 Die Festigung der Disziplin war Anfang Februar 1989 Thema einer Beratung der Zentralen Parteikontrollkom mission (ZPKK) mit den Vorsitzenden der Bezirks- und der zentralen Kontrollkommissionen in den bewaffneten Organen. Der Stellvertretende V orsitzende der ZPK K, ZK-Mitglied Werner Müller, hielt eine geharnischte Rede gegen „ Meckerer und ew ige N örgler“. 173 Er machte deutlich, daß das ZK-Plenum im Dezember als Kursfixie168 Ebenda, S. 54. Mielke hatte die Kirchen nur in seinem Schlußwort erwähnt, in dem er großspurig behauptete: „ Ein bißchen haben wir sie schon diszipliniert. Forck und Falk [gemeint: Propst Heino Falcke] und wie sie alle heißen, Krusche und Stolpe.“ „ Genosse Minister im Anschluß an sein Referat auf der Dienstkonferenz [gemeint: Dienstbesprechung] am 13. Dezember 1988“; BStU, ZA, ZAIG 8622, Bl. 1–7, hier 7. 169 Mittig am 15.12.1988, S. 55. 170 „Herr Stolpe und der Idealfall“, in: Neues Deutschland 11.1.1989. Auslöser dafür war ein Interview von Manfred Stolpe mit der „ Welt“ (10. 1.1989), in dem er die neuen Reiseregelungen (dazu siehe unten) zwar als Fortschritt gewürdigt, jedoch zugleich als immer noch zu restriktiv kritisiert hatte. Nachdem diese Regelung etwas erweitert worden war, hat Stolpe seine Kritik weitgehend zurückgenommen; vgl. Frankfurter Rundschau 26.4.1989. 171 Mittig am 15.12.1988, S. 67. 172 Mündliche Information eines ehemaligen Mitarbeiters der ZAIG. 173 Werner Müller: Aufgaben und Schwerpunkte der Arbeit der Parteikontrollkommissionen der SED bei der Durchführung von Parteiverfahren. Referat für die Arbeitsberatung in Üdersee 31.01. bis 03.02.1989; BStU, ZA, KL 1065, B. 496–544, hier 508.

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rung zu begreifen sei: „Ja, Genossen, und auch diejenigen, die nach dem 7. Plenum und den prinzipiellen Darlegungen des Genossen Erich Honecker noch die Meinung vertreten, ‚wir müssen unsere Politik ändern‘, ‚wir müssen dem feindlichen Druck nachgeben‘, ‚man muß der Part eiführung Ratschläge geben und durch Vorschläge die bewährte Politik der Partei k orrigieren‘, g ehören n icht m ehr in unsere Partei.“ 174

Es ginge, führte er w eiter aus, „ um solche K räfte, die glauben, die ganze SED oder einzelne G rundorganisationen reform ieren zu können“ . 175 Die Stoßrichtung gegen Anhänger der sowjetischen Reform politik wurde von Müller in aller Deutlichkeit herausgestellt. Zu den Verteidigern des „Sputnik“ erklärte er, es sei „ nicht tragbar, daß Leute, die solche Haltungen beziehen und sich auf ‚Perestroika‘ berufen, noch Mitglied der SED bleiben“. 176 Im D enken der Staatssicherheit w ar vom „subversiven“ Handeln zur „Inspirierung“ solcher Aktivitäten kein weiter Weg. Eine direkte Frontstellung gegen die sow jetische Reform w ar in der Feindbilderweiterung Mielkes zumindest angelegt gewesen. Ausgesprochen wurde sie von Müller in einer zweiten Rede. Am 15. Februar 1989 versuchte er auf einer Beratung des Sekretariats der SED -Kreisleitung im MfS mit den 1. Sekretären der Parteiorganisationen und Sekretären der G rundorganisationen, den Stasi-Parteifunktionären in der zunehm end verwirrenden Lage eine Orientierung zu geben. 177 Er verkündete, es werde „versucht, die osteuropäischen sozialistischen oder kom munistischen Parteien durch O pportunismus aufzuw eichen und zu zersetzen“ . 178 Müller nannte explizit nur Ungarn und Polen und sparte die UdSSR aus (obw ohl gewiß jeder Zuhörer wußte, welches Land eigentlich gem eint war). Zudem kam er nicht umhin zu konstatieren – und m achte dam it das Dilemma für seinesgleichen deutlich –, „ohne die Sowjetunion kann die DDR nicht existieren“. 179 Das sollte aber nicht als Rechtfertigung dafür gelten, sich auf die Politik der dort herrschenden Partei zu berufen: „Und du al s M itglied der SED hast di ch nach denjeni gen zu ri chten, B eschlüssen meine ich, wo du Mitglied bi st. Und ni cht nach den[en] i n der KPdSU oder in Ungarn oder in der SSR oder in Polen oder weiß der Teufel 174 Ebenda. 175 Ebenda, Bl. 510. 176 Ebenda, Bl. 526. 177 Vgl. Bericht der Kreisparteikontrollko mmission (KPKK) im M fS; BStU, ZA, KL SED 1066, Bl. 53. 178 „15.2.1989, Mitglied des ZK und Stellv. Vorsitzender der ZPKK, Genosse Müller, W. (unkorrigierte Tonbandabschrift)“; BStU, ZA, KL 1066, Bl. 70–100, hier 78. 179 Ebenda, Bl. 82.

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wo. Wenn sie das wollen, können sie ja Mitglied der KPdSU werden. Ob di e sie nehmen, weiß ich nicht, bei uns haben sie nichts zu suchen.“ 180 Müller äußerte sich in diesem Zusammenhang auch über die Funktion des geplanten „Dokumentenumtausches“: „Das best e für di e Part ei wäre, wenn wi r den Dokumentenumtausch so in Angriff nehmen könnten, daß alle di ejenigen, di e schwanken und wackel n schon vornweg rausgeschm issen werden. Ich bitte die Parteisekretäre, das genau zu durchdenken. Ni cht dann, wenn die Dokumente getauscht werden. Nicht dann, wenn wir den Genossen an seiner Haltung und Handlung messen müssen, sondern m öglichst vorneweg alles aus dem W eg räum en, was der Durchführung der B eschlüsse der Part ei und der Durchset zung der B efehle, konkret des Ministeriums für Staatssicherheit, im Wege steht.“ 181

Von erzieherischen Aussprachen, um Parteim itglieder – „ Leute, die erklären, daß ihnen die ganze Richtung nicht paßt“ – zu belehren, hielt der Stellvertretende ZPKK-Vorsitzende wenig. Erzogen w erden müßten die jeweiligen Grundorganisationen: „Aber wenn wir glauben, daß wir den überzeugen, daß er seine Meinung ändert, sagt jeder, na die Scheißer, die haben nicht mal den Mut, einen aus der Partei rauszuschmeißen.“ 182 In diesen Reden ging es nicht etw a um den Einsatz der Staatssicherheit zur Disziplinierung von G egnern der herrschenden „ Linie“, die überall zu finden waren, sondern um den inneren Zustand des Staatssicherheitsdienstes selbst. Tatsächlich hatte vor allem das Verbot des „ Sputniks“ auch im MfS Protest ausgelöst. So hatte ein Mitarbeiter des Zentralen Medizinischen Dienstes an den „Genossen Generalsekretär“ geschrieben, bisher habe er die „Propaganda-Politik“ m itgetragen, er „ stimme aber den neueren Methoden nicht mehr zu, w o Zeitschriften aus Freundesland am Erscheinen gehindert werden“. Er fragte: „Wovor haben wir eigentlich Angst? Wäre es nicht besser, uns ‚unangenehme‘ Standpunkte, ob nun von eigenen Bürgern und Genossen oder von bürgerlichen Ideologen vorgetragen, zu veröffentlichen und in sachlicher Diskussion zu entkräften? [...] Ich fühle mich persönlich in gewissem Maße für ‚unmündig‘ erklärt.“ 183

Ein anderer, sich besonders pfiffig w ähnender Mitarbeiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) erklärte in einem Brief an das ZK , daß „ die Sputnik-Leser [...] überwiegend politisch de nkende Menschen [sind], die sich 180 181 182 183

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Ebenda, Bl. 80. Ebenda, Bl. 87. Ebenda, Bl. 77. Schreiben von Horst K. an den Generalsekretär der SED vom 9.11.1988; BStU, ZA, KL 1066, Bl. 244.

selbst eine Meinung bilden können und das Postm inisterium als G ralshüter der m arxistisch-leninistischen G eschichtsauffassung entbehren können“. 184 Solche Proteste waren zweifellos ein Verstoß gegen die bedingungslose Unterordnung der „ tschekistischen Kämpfer“ unter die SED-F ührung, doch hat sich nur eine Handvoll MfS-Mitarbeiter stärker exponiert: Nur gegen insgesamt fünf Mitarbeiter wurde wegen solcher Protestschreiben ermittelt. 185 Woher rührte angesichts einer so geringen Zahl die A ufregung an der MfS-Spitze und vor allem bei der SED -Kontrollkommission? Der entscheidende Aspekt war, daß diese Kritiker offenbar in ihren Diensteinheiten auf Verständnis, wenn nicht gar Sympathie trafen. Selbst Müller von der Zentralen Parteikontrollkommission mußte zu seinem großen Ärger konstatieren, „daß ein Nörgler heute eigentlich als ein ganz normaler Mensch betrachtet w ird“, die SED sei zu einer „ Befragungspartei“ geworden, „alle möglichen Parteimitglieder kommen und sagen, w arum gibt es keinen ‚Sputnik‘“? 186 In dem Parteiverfahren gegen den HVA-Mitarbeiter wurde von einem seiner Genossen unwidersprochen zur Entlastung vorgebracht, „daß über die Problematik ‚Sputnik‘ in allen Parteigruppen und Parteikollektiven, auch außerhalb der G O [G rundorganisation], D iskussionen geführt wurden“. 187 Der Mitarbeiter des Zentralen Medizinischen Dienstes hatte seinen Abteilungsparteisekretär zuvor über den Brief an Honecker informiert. „Ein Mitglied der GO-Leitung hat ihn geschrieben. Weitere Parteifunktionäre hatten allgemeine Kenntnis dazu. Von keinem wurden“, klagte die Parteikontrollkommission (PKK), „Initiativen zur parteimäßigen Reaktion unternommen.“ Im Gegenteil: „ Die Notwendigkeit der Ablösung“ des Briefschreibers als Funktionär für Agitation und Propaganda „wurde in Abrede gestellt“. 188 „Im Auftrag“ der Zentralen Parteikontrollkommission – also nicht auf Eigeninitiative der SED-Parteiorganisation im M fS – erhielten die Brief-

184 Schreiben von Rainer K. an das ZK der SED vom 22.11.1988; BStU, ZA, KL 1066, Bl. 241. 185 Eine Zusammenfassung vom Januar 1989 nennt dr ei einschlägige Verfahren gegen fünf Beschuldigte. Nicht erwähnt – vermutlich w eil selbst für M fS-Verhältnisse zu läppisch – wird dort ein weiteres Verfahren gegen 45 Offi ziersschüler an der Juristischen Hochschule des MfS, die sich bei einem Lehrgang im Rahmen der „ Singebewegung“ an satirischen Texten über das „ Sputnik“-Verbot erfreut und damit „ mangelnde Wachsamkeit“ bewiesen hatten. Vgl. Parteikontrollkommission im MfS PKK: Ergebnisse der Bearbeitung von Schreiben, die von Angehörigen des M fS im Zusammenhang mit der Nichtauslieferung der Zeitschrift „ Sputnik“ 10/89 an das ZK der SED gerichtet wurden, 19.1.1989; BStU, ZA, KL 1066, Bl. 217–222; M fS PKK: Bericht zum unparteilichen Verhalten von Parteimitgliedern im Rahmen ihrer Tätigkeit in der Singebewegung und im dritten Offiziersschülerlehrgang der Hochschule des MfS, 8.12.1989; BStU, ZA, KL 493, o. Pag. 186 „15.2.1989, Mitglied des ZK und Stellv. Vorsitzender der ZPKK, Genosse Müller, W.“, Bl. 74 f. 187 H V A/AG S, „Protokoll der außerplanmäßigen GO-Versammlung am 13.1.1989 zum Fehlverhalten des Genossen Rainer K.“, 17.1.1989; BStU, ZA, KL 1066, Bl. 234–238, hier 236. 188 PKK: „Ergebnisse der Bearbeitung“ vom 19.1.1989, ebenda, Bl. 219.

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schreiber in Sachen „ Sputnik“ Parteiverfahren. 189 Bei diesen Verfahren wurden sie heftig kritisiert und übten Selbstkritik. Dann wurde von ihren Genossen festgestellt, „ das erzieherische Ziel“ sei erreicht, eine „ Mißbilligung“ oder eine „ Rüge“ w urden ausgesprochen. 190 K einer von ihnen w urde aus der Partei ausgeschlossen, obwohl Mülle r bei seinen beiden Auftritten namens der ZPK K eben diese Maßnahm e für Perestroika-A nhänger gefordert hatte. Daß die begeisterten „ Sputnik“-Leser relativ glim pflich davonkamen, obwohl sich der konzentrierte Zorn der Parteiführung auf sie richtete, ist gewiß auch damit zu erklären, daß sie alle bereit waren, sich dem Ritual von Kritik und Selbstkritik zu unterwerfen. Zudem hatte sich schon ihre Kritik in Grenzen gehalten: Sie hatten eine bestimmte Maßnahme, wenngleich mit hohem Sy mbolwert, kritisiert, nicht die Parteiführung selbst. Wenn man andererseits an frühere „ Parteisäuberungen“ denkt, so genügten oft geringfügige Indizien, um einen bestim mten Genossen einer inkrim inierten Richtung zuzurechnen und zu disziplinieren. Jetzt aber fehlte die Stimmung für diese Art von Hexenjagden. Von den Sitzungen, auf denen Kritik und Selbstkritik zu üben war, sind einige Protokolle bzw. Berichte überliefert. Bei ihrer Lektüre fällt auf, daß echte Scharfm acherei und lustvolle Denunziation fehlten, wie sie einst für diese Kam pagnen charakteristisch gewesen waren. Die Kritiker wurden nicht als „Feinde entlarvt“, wie das im Parteijargon hieß, sondern m it ihnen w urden „Aussprachen geführt, in denen sie Einsicht zeigten, falsch gehandelt zu haben“ . 191 D amit w ar der – dennoch demütigenden – Form Genüge getan. 192 Der Grund für dieses relativ gem äßigte Vorgehen wird in einem Bericht der PKK im MfS vom Februar 1989 angedeutet. Dort wurde hinsichtlich jener Mitarbeiter, die gegen das Sputnik- Verbot schriftlich protestiert hatten, erklärt: „Eine Vielzahl anderer hat in gleicher Weise diskutiert, sie haben sich nur nicht w ie diese festgelegt.“ 193 Nachträglich hat selbst der 1. Sekretär der SED -Kreisleitung im M fS, H orst Felber, behauptet: „ Die Sputnikentscheidung habe ich für eine kollektive Entscheidung gehalten und sie nur aus falsch verstandener Parteidisziplin akzeptiert.“ 194 Wenn das 189 Vgl. ebenda, Bl. 217. 190 Zitat aus der Stellungnahme des Sekret ärs der HV A/GO AG S, Hähnel, vom 4.1.1989 zum Verfahren gegen Rainer K.; BStU, ZA, KL 1066, Bl. 223. 191 „ Protokoll der Sitzung der SED-Kreisleitung am 13.12.1988“; BStU, ZA, KL 493, o. Pag. 192 Müller hielt seine scharfmacherischen Rede n, nachdem die erwähnten Parteiverfahren bereits gelaufen waren. Die betreffenden Beschlüsse wurden jedoch nachträglich nicht revidiert, das ergibt sich aus der Aufh ebung der Parteistrafen im November 1989; vgl. „Schlußfolgerungen und Aufgaben der PKK nach dem 10. Plenum des ZK der SED (Beschluß der PKK vom 14.11.1989)“; BStU, ZA, KL 156, Bl. 156–158. 193 Referat: „Die Aufgaben der PKK zur Verwirklichung der Beschlüsse der 7. Tagung des ZK der SED“, o. D. [nach dem 15.2.1989]; BStU, ZA, KL 1066, Bl. 1–59, hier 20. 194 Schreiben von Horst Felber an Wolfgang Schwanitz vom 6.12.1989; BStU, ZA, Kaderakte Horst Felber, KS 981/90, Bl. 166–180, hi er 172. Auf dieses Schreiben wird noch ausführlicher einzugehen sein.

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zutrifft, würde es erklären, warum er sich zumindest nicht als Scharfm acher betätigt hat, eine Haltung, die seinen Mitarbeitern in Sekretariat und K ontrollkommission wohl nicht verborgen geblieben ist. Die SED-Kontrollkommission im M fS zeichnete sich keinesw egs durch generelle Nachsicht aus. Andere Kritik er wurden zur gleichen Zeit aus der SED ausgeschlossen und aus dem MfS entlassen, so zum Beispiel ein Oberleutnant der ZA IG, der der Parteiführung „ Schönfärberei, U nterdrückung der Kritik und Personenkult“ vorgeworfen hatte. 195 Ein Mitarbeiter der Hauptabteilung III ( Funkaufklärung) hatte „ Pluralismus und m ehr D emokratie in der Partei und im Staat“ gefordert und „das Vorgehen gegen Feinde, die für ihn ‚Andersdenkende‘ seien, [...] als nicht zeitgemäß“ bezeichnet. Auch er wurde ausgeschlossen. 196 Diese Parteim itglieder hatten die Grenze zur Majestätsbeleidigung überschritten, sie verweigerten zudem das Ritual der Selbstkritik, und sie hatten sich nicht durch die Beschwörung der Verbundenheit mit der Sow jetunion abgesichert. D arin lag der Unterschied zu den vorgenannten Fällen. D as zeigt, daß der Spielraum zw ar etw as w eiter geworden, aber noch immer sehr eng war. Aufschluß über nachlassende V erinnerlichung von Rollenzw ängen gibt eine Übersicht der PKK im M fS zu den Parteiverfahren im Zeitraum zwischen dem ZK-Plenum im Dezember 1988 und Ende Mai 1989: Insgesam t waren 214 Parteiverfahren durchgeführt w orden, etw a 30 Prozent m ehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. 41 Verfahren wurden mit einem Parteiausschluß abgeschlossen. D as w ar eine Steigerung auf fast das D reifache. 197 Hinzu kam, daß 35 Kandidaten, davon 25 aus dem Wachregiment, es ablehnten, nach A blauf der K andidatenzeit in die SED einzutreten. Sie begründeten ihre V erweigerung m it „ Zweifeln an der Richtigkeit und Durchführbarkeit der Politik der Partei“ . 198 Gewiß wurde nur eine Minderheit der Parteiverfahren wegen „ Angriffen auf die Politik der Partei“ eingeleitet. 199 In dem Bericht w erden diese V erfahren wegen der mit ihnen verbundenen „möglichen Gefahren“ jedoch an erster Stelle genannt. Gemessen an der Gesam tzahl von 91.000 Hauptam tlichen waren das geringe Zahlen. 195 Parteiorganisation im M fS – Parteikont rollkommission: Beschluß vom 6. 12.1988 zu Oberleutnant Thomas E.; BStU, ZA, KL 510, Bl. 781. 196 Parteiorganisation im M fS – Parteikontrollkommission: Beschluß vom 23. 1.1989 zu Unteroffizier Peter S.; BStU, ZA, KL 510, Bl. 680. 197 SED-Kreisleitung im M fS: Information über Parteiverfahren, Parteiaustritte und Streichungen von Mitgliedern und Kandidaten im 1. Halbjahr 1989 (Erfassungszeitraum 1.12.1988 bis 31.5.1989), 20.6.1989; BStU, ZA , SED-KL 510, Bl. 404–406. Die Zahlen für den Vorjahreszeitraum wurden jeweils ermittelt, indem die Gesamtzahl für 1988 (327 Verfahren, davon 41 Parteiausschlüsse) halbiert wurde. 198 Ebenda, Bl. 406. 199 In dem referierten Bericht erfolgt keine quantitative Aufschlüsselung nach Gründen. In einem Jahresbericht der PKK vom November 1989 werden für das Gesamtjahr 378 Parteiverfahren aufgelistet, wobei in 49 Fällen als Grund genannt wird, daß diese M fSAngehörigen „ unter Einfluß der feindliche n Ideologie gerieten und grundsätzlich die Klassenpositionen verließen“. AfNS PKK: Bericht über die Arbeit der Parteikontrollkommission im Jahre 1989, 30.11.1989; BStU, ZA, SED-KL 510, Bl. 125–135.

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Im Zusam menhang m it der Behandlung der „ Sputnik-Verteidiger“ in den Parteiorganisationen zeigen sie aber, daß der verinnerlichte Gehorsam zu schwinden begann. Die Sorgen, die sich die Parteileitung im M fS wegen nachlassender Bereitschaft zu schw eigender U nterwerfung und w achsender „ ideologischer Aufweichung“ m achte, w aren durch das Scheitern des V ersuchs bedingt, Perestroika-Anhänger auszugrenzen und zu isolieren. Ein anderer A spekt kam hinzu. D ie innere O rdnung des M fS w urde durch eine V ielzahl von Regeln abgestützt, die auf die Isolierung seiner hauptam tlichen Mitarbeiter vom gesellschaftlichen Umfeld zielten: die strenge Konspiration, die m ilitärische Disziplinarordnung und das „ tschekistische“ Elitebewußtsein; das Verbot des Um gangs m it Personen, die der Illoy alität gegen das System verdächtig waren oder die auch nur „ Westkontakte“ hatten; die strikte V erregelung des K ontakts m it inoffiziellen Mitarbeitern, die zugleich als eine Art Filter zwischen den hauptam tlichen Mitarbeitern und „ feindlichnegativen Elementen“ dienten; die G hetto-ähnliche U nterbringung vieler Mitarbeiter in eigenen Wohnsiedlungen und anderes mehr. Die K onflikte und D iskussionen im M fS über das „Sputnik“-Verbot machten deutlich, daß die Abschirm ung des Staatssicherheitsdienstes gegen gesellschaftliche Einflüsse Risse bekom men hatte. Generaloberst Mittig umschrieb in seiner Ansprache im Dezem ber 1988 diesen Prozeß mit der wolkigen Formulierung, daß „alles, was die Werktätigen und die Partei insgesamt bewegt, auch um die G enossen unseres Ministerium s keinen Bogen [macht], denn sie leben mitten unter ihnen“. 200 Deutlicher wurde die Parteikontrollkom mission im M fS, die im Februar 1989 versuchte, „ die wesentlichen Gründe für Parteiverfahren“ , das heißt für Normabweichungen, zu identifizieren. Sie kam zu dem Ergebnis, daß mehrere Faktoren in dieser Richtung wirksam wären: Erstens würden „manche“, durch die Reformprozesse „in einigen sozialistischen Ländern“ ermutigt, „ die Zeit für gekom men [sehen], solche lange gehegten Zweifel und Widersprüche nunmehr unter Berufung auf diese Entw icklung offen auszusprechen“. 201 Die Perestroika hatte also auch im MfS eine – zu diesem Zeitpunkt noch sehr begrenzte – kataly satorische Wirkung. Zw eitens gebe es „Einflüsse, die durch inoffizielle und andere K ontakte auf unsere G enossen wirken“. 202 Abzulesen sei das etw a an den Entlassungsgesuchen aus dem MfS. In den Bezirksverwaltungen und K reisdienststellen hatten 19 Prozent der MfS-Angehörigen als „IM-führende Mitarbeiter“ unmittelbar mit inoffi200 R. Mittig: Referat auf der Sitzung der SED-Kreisleitung am 15. 12.1988 zu Aufgaben der Kreisparteiorganisation in Auswertung de r 7. Tagung des ZK der SED; BStU, ZA, Neiber 89, Bl. 66 (MfS-Paginierung). 201 „Referat ‚Die Aufgaben der PKK zur Verwirklichung der Beschlüsse der 7. Tagung des ZK der SED‘“, (o. D.; nach dem 15.2.1989); BStU, ZA, KL 1066, Bl. 1–59, hier 4. 202 Ebenda, Bl. 15.

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ziellen Mitarbeitern zu tun. 203 Bei den A ntragstellern auf Entlassung aus dem MfS aber stellten solche Führungsoffiziere die Mehrheit. 204 Der wachsende gesellschaftliche Unm ut und die Einsicht in die Unhaltbarkeit der herrschenden Verhältnisse wurde offenkundig über m anche IM in das M fS hineinvermittelt. 205 Verhängnisvoll für die ideologische Standhaftigkeit war – so die PKK – drittens, wenn Mitarbeiter sich „ mit Feindmaterialien zu befassen haben“. 206 Das ginge so weit, daß „ immer wieder Genossen [...] teilweise zu den Mitteln und Methoden der Arbeit eine ablehnende Haltung beziehen und dabei Argumente anführen, wie wir sie von den sogenannten Menschenrechtlern kennen“ . 207 A ls vierten A ufweichungsfaktor m achte man „Einflüsse aus dem Verwandten- und Umgangskreis von Mitarbeitern“ aus, „ die sich auch im Zusammenhang mit Reisen und Kontakten aus diesem Kreis in das nichtsozialistische Ausland verstärken“. 208 U nd fünftens galten „ Genossen, die zivile Ausbildungseinrichtungen [...] besuchen“, 209 das waren knapp Tausend, 210 als besonders gefährdet. Diese Übersicht zeigt, daß die Staatssicherheit vom sozialen Umfeld keineswegs völlig abgeschottet war. Es existierten Kanäle, über die gesellschaftliche Unruhe in das M fS hineinwirkte. Solche Einflüsse leisteten einen Beitrag zur A uflösung von K adavergehorsam und ideologischer Verblendung. Es w ar dies offenbar der A spekt, der der Stasi-Führung am deutlichsten bewußt war, es war jedoch keinesw egs der einzige Faktor innerer Auflösung. A usgespart w urden alle M fS-internen K onflikte. D eshalb w ar diese A nalyse als prognostisches Instrum ent für die künftige Entw icklung im Staatssicherheitsdienst unzureichend. Im Herbst 1989 sollte sich zeigen, daß es politisch-soziale Gruppen von Mitarbeitern gab, deren Verhalten 203 Errechnet nach ZAIG/Bereich 2: Übersicht über Entwicklungstendenzen bei EV, IM, OV und OPK im Jahre 1988 und damit verbundene politisch-operative Probleme, 24.2.1989; BStU, ZA, ZAIG 13910, Bl. 90–106, auf Basis einer Mitarbeiterzahl von 43.168 in BV und KD. 204 Vgl. SED-Kreisleitung: Referat zur Auswer tung der Beratung des Sekretariats zur Analyse der Parteiverfahren in der Beratung mit den 1. Sekretären der PO und Sekretären der GO am 15.2.1989; BStU, ZA, KL 1065, Bl. 460–495, hier 478. 205 Ulbricht hatte diese „ Gefahr“ schon 1957 konstatiert: „ Sehr viele GI [Geheime Informatoren, die Vorläufer der IM] , die zu sehr nach der Stimmung ausgefragt werden, besonders in den Kreisgebieten, müssen ja nach jahrelanger Tätigkeit für die Staatssicherheit zersetzt sein, weil sie vor lauter schlechter Stimmung schon selbst nicht mehr klar sehen können.“ Ulbrichts Äußerungen wurden referiert von Minister Wollweber bei der Sitzung des Kollegiums des M fS am 7.2.1957, in: Engelmann u. Schumann: Der Ausbau des Überwachungsstaates (1995), S. 359. – Dem ents pricht, daß es vor allem in der Wirtschaft nicht wenige IM gab, die ihr Tun damit motivierten und rechtfertigten, daß sie an der Beseitigung von Mißständen mitwirken wollten. Vgl. Müller-Enbergs: Warum wird einer IM? (1995), S. 102–129, hier 112–114. 206 „Referat ‚Die Aufgaben der PKK‘“, Bl. 15. 207 Ebenda, Bl. 18. 208 Ebenda, Bl. 15. 209 Ebenda, Bl. 16. 210 Im Oktober 1989 waren 991 M fS-Mitarbeiter zum Studium an zivile Bildungseinrichtungen abgestellt; vgl. BStU, ZA, HA KuSch (unerschlossenes Material), Plg. 15 (3), handschriftliche Notiz vom 31.10.1989.

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stark voneinander differierte, und daß die verschiedenen D iensteinheiten keineswegs gleichförmig agierten. Die unterschiedliche Intensität sozialer Kontakte zur Umwelt sind ein wesentlicher Faktor für die Erklärung dieser Differenzen, aber keineswegs der einzige.

1.2.1 Die Stimmung in den „Kampfgruppen“

In der Staatssicherheit sind im ersten H albjahr 1989 Zerfallserscheinungen erst in Ansätzen dokumentiert. Erheblich weiter vorangeschritten war dieser Prozeß in Form ationen, denen eine vergleichbare innenpolitische Funktion zugedacht war, die jedoch aus ehrenam tlichen Mitgliedern bestand: den „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ , eine Parteim iliz, deren Aufbau nach dem 17. Juni 1953 forciert w orden w ar. Für ihre Ausbildung und Bewaffnung war das Ministerium des Innern zuständig; unterstellt waren sie den 1. Sekretären der SED -Bezirks- und -K reisleitungen. 211 Da ihre Mitglieder im H auptberuf zivilen Beschäftigungen nachgingen, standen sie gewissermaßen an der Grenzlinie zwischen bewaffneter Macht und Gesellschaft. Zu Beginn des Jahres 1989 hatten die Kampfgruppen eine neue Ausbildungsordnung erhalten, mit der die „ Kämpfer“ für den Einsatz bei Straßenschlachten qualifiziert werden sollten. Zu diesem geheimen Projekt hatte im Mai 1989 die Untergrundzeitschrift „Grenzfall“, die von der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ herausgegeben w urde, eine „Spiegel“-Meldung nachgedruckt: „Geprobt wird, wie m an Demonstranten abdrängt und Rädelsführer festnim mt.“ 212 Wenig später erschien in der Zeitschrift der Kam pfgruppen, dem „ Kämpfer“, ein A rtikel von G eneralleutnant Schm alfuß, einem stellvertretenden Innenminister, der diese D arstellung indirekt bestätigte. Er sprach über „wachsende Anforderungen an den Schutz der Arbeiter-und-Bauern-Macht und dam it auch an die Standhaftigkeit und Geschlossenheit der Kam pfgruppen der Arbeiterklasse. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die weitere Qualifizierung des Sy stems der politischen und Einsatzausbildung, die Befähigung der K ommandeure zur Erfüllung der neuen A ufgaben.“ 213 Worin diese „ neuen Aufgaben“ bestanden, verschwieg Schmalfuß. Tatsächlich hatten entsprechende Übungen bereits begonnen. In Leipzig etwa sollte im April 1989 von der Kam pfgruppen-Hundertschaft des Chemieanlagenbaus in Leipzig-Grimma geübt werden, was zu tun wäre, wenn – wie es in einem Stasi-Bericht heißt – „ kirchliche K reise die Bevölkerung 211 Vgl. Holzweißig: Vom Betriebsschutz zur Territorialarmee (1983); Wagner: Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse (1998). 212 Unter Berufung auf den „ Grenzfall“ berichtete wiederum die FAZ über diese Vorbereitungen, ohne die ursprüngliche Quelle zu erwähnen. „ Blick nach Osten“, in: Grenzfall 1989, H. 1–5, S. 5 (Diese Ausgabe des „ Grenzfalls“ wurde von der IFM Bettenhausen/ Bezirk Suhl produziert); „Blick nach Osten“, in: Der Spiegel 1.5.1989, S. 16; „Die DDR will ihre Betriebskampfgruppen bei inneren Unruhen einsetzen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.7.1989. 213 Karl-Heinz Schmalfuß: Ein ehrenvoller Parteiauftrag, in: Der Kämpfer, 33 (1989) 7, S. 1.

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aufwiegeln und es schon zu Zerstörungen gekom men sei“ . D ie K ommandeure erklärten bei der Einweisung, daß für einen solchen Fall „ Schlagstöcke und Schutzschilde“ bereitliegen würden. Das löste heftige Diskussionen aus: „Junge Käm pfer äußert en si ch verbre itet dahi ngehend, daß si e unt er ei ner solchen Maßgabe nicht für die Mitarbeit in der KG [Kampfgruppe] geworben wurden. Al s ‚Knüppel garde‘ sei en di e Kampfgruppen ni cht gegründet worden und sie möchten auch nicht ‚auf andere einschlagen‘.“ 214

Einige Monate später meldete die H auptabteilung VII des M fS, die für die Überwachung des Innenm inisteriums und der ihm nachgeordneten O rgane zuständig war, es sei im Rahmen der neuen „Ausbildungsmaßnahmen zum Thema ‚Sperren und Räumen von Straßen und Plätzen‘ in zahlreichen Bezirken zu Austritten aus den Kam pfgruppen und negativen Diskussionen von K ampfgruppenangehörigen zu diesen Ausbildungsinhalten“ gekommen. 215 Erklärt worden sei, „daß man nicht m it dem Knüppel gegen die eigenen Kollegen bzw. Ausreisewillige vorgehen werde“ . Solche Einsätze würden „ nicht im Einklang m it den A ufgaben der Kampfgruppen“ stehen, die „nicht als ‚K nüppelgarde‘ der Partei“ zu verstehen seien. 216 Die Empörung über dieses V orhaben w ar offenbar so groß, daß „ die zentral herausgegebene Ausbildungsanleitung zum Them a ‚Sperren und Räum en von Straßen und Plätzen‘ auf Entscheidung des Ministers des Innern und Chefs der DVP [Deutschen Volkspolizei] kurzfristig im Mai 1989 zurückgezogen“ wurde. N ur die A usbildung der K ommandeure, auf die sich Schmalfuß in seinem Artikel bezogen hatte, wurde in der Zentralschule der K ampfgruppen in Schmerwitz fortgeführt. 217 Das bedeutete dennoch faktisch, daß selbst auf die Vorbereitung der mit 209.000 Angehörigen zahlenm äßig stärksten bewaffneten Form ation des Regimes für hilfspolizeiliche Aktivitäten verzichtet werden m ußte. Der Vorgang zeigt, daß schon Monate vor dem Herbst 1989 auch viele einfache Stützen des Sy stems spürten, welche Eskalationsgefahr die herrschende Politik barg, und daß die Bereitschaft rapide zurückging, dafür den Kopf hinzuhalten. Die Begründungen, die von der Staatssicherheit zitiert wurden, belegen, daß auch Anhänger des Sy stems nicht gewillt waren, dem Alten Regim e in einer bürgerkriegsähnlichen Situation beizustehen. D er 214 Schreiben des Stellvertreters Aufklärung der BVfS Leipzig an die AKG der BVfS vom 7.4.1989; dokumentiert in: Besier u. Wolf (H rsg.): „ Pfarrer, Christen und Katholiken“ (1991), S. 608. 215 HA VII/7: „Einschätzung der Kampfkraft und Einsatzbereitschaft der Kampfgruppen der Arbeiterklasse, die im Vorfeld und in Durchführung der Aktion ‚Jubiläum 40‘ zum Einsatz kamen“, vom 23.10.1989; BStU, ZA, HA VII 68 (Wagen 10–13), Bl. 248–260, hier 248. Für den Hinweis auf dieses Dokument danke ich Tobias Wunschik. 216 Ebenda, Bl. 249. 217 Ebenda, Bl. 250.

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Spielraum für eine repressive Lösung der Krise wurde dam it weiter eingeengt.

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1.3 Schwindende Massenloyalität Der Rückgang der Massenloy alität und dam it der Verfall der Integrationsfähigkeit des Sy stems kulm inierte in der ersten Maiw oche 1989 in zwei Ereignissen: dem Beginn des A bbaus der G renzbefestigungen an der ungarisch-österreichischen G renze am D ienstag, dem 2. Mai, und den K ommunalwahlen am darauffolgenden Sonntag, dem 7. Mai. Einen Monat später kam noch der V ersuch der Partei- und Staatsführung hinzu, die N iederschlagung der D emokratiebewegung in China propagandistisch zur Einschüchterung im eigenen Lande zu nutzen, ein Versuch, mit dem die Machthaber sich der Verachtung vieler Bürger aussetzten.

1.3.1 Die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 Die negative Resonanz, die die Manipulation der „Wahlergebnisse“ der Kommunalwahlen auslöste, war bemerkenswert, weil bei solchen Wahlen in der DDR wohl im mer gefälscht worden ist, 218 ohne daß das – nach gegenwärtigem Kenntnisstand – früher zu öffentlichen Unmutsäußerungen geführt hätte. Inzwischen hatte ein politisch-atm osphärischer Um schwung begonnen. Ein „Mentalitätswandel“ hatte sich vollzogen in Richtung eines stärker empfundenen und in Ansätzen auch öffentlich artikulierten Überdrusses gegen das Sy stem politisch diktierter Frem dbestimmung. 219 D aß das überkommene Akklamationsritual – „eine kollektive Demutsgeste gegenüber der unwandelbaren Staatsautorität“ 220 – von einer relevanten Minderheit nicht mehr ohne w eiteres hingenom men w urde, w ar gew iß auch durch äußere Einflüsse bedingt: In Polen w ar im Vormonat am Runden Tisch die A bhaltung relativ freier Parlam entswahlen im Juni vereinbart w orden. In U ngarn wurden durch die Einführung eines echten Mehrparteiensy stems dafür die Voraussetzungen geschaffen. U nd im gleichen Frühjahr bestand, w ie von DDR-Bürgern aufmerksam registriert wurde, in der Sow jetunion erstm als die Möglichkeit, bei den Wahlen zum K ongreß der V olksdeputierten zw ischen mehreren Kandidaten (wenngleich nur einer Partei) zu entscheiden. 221 218 Für die Frühphase der DDR vgl. Laufer: Da s Ministerium für Staatssicherheit und die Wahlfälschung (1991). 219 Die These von einem „ Mentalitätswandel“ in der DDR-Bevölkerung hin zu ausgeprägterem Bedürfnis nach Selbstbestimmung und -verwirklichung hat der Leiter des Leipziger Instituts für Jugendforschung, Walter Friedrich, in einer interessanten Expertise für Egon Krenz vom 21. November 1988 formuliert: Ei nige Reflexionen über geistig-kulturelle Prozesse in der DDR, in: Stephan (Hrsg.): Vorwärts (1994), S. 39–53. Krenz hat dieses Papier zwar zur Kenntnis genommen, es aber weder an das Politbüro noch an den Zentralrat der FDJ weitergeleitet; vgl. dazu Ste phan: „Wir brauchen Perestroika und Glasnost für die DDR“ (1995), S. 728 f. 220 Mitter u. Wolle: Untergang auf Raten (1993), S. 499. 221 Das MfS berichtete, daß für die DDR ungünstige Vergleiche zwischen den verschiedenen Wahlsystemen „ häufig“ gezogen würden; ZAIG: Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung der Kommunalwahlen

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Das M fS, dessen Mitarbeiter später behaupteten, sie hätten die SED vor der herannahenden Krise gewarnt, hatte hinsichtlich der Kom munalwahlen tatsächlich partiell weitsichtig argum entiert. Schon im Dezember 1988 hatte die Hauptabteilung XX eine Konzeption zur Vorbereitung der Wahlen erarbeitet, in der sich folgende Warnung findet: „Bei der Vorbereitung und Durchführung der W ahlen si nd di e wahl rechtlichen B estimmungen, wi e si e i n den W ahldirektiven der Wahlkommission der DDR erläutert werden, strikt einzuhalten, um negativ-feindlichen Kräften keine Möglichkeiten zu Angriffen gegen die Wahlen zu bieten.“ 222

Mielke hat diese Formulierung unverändert übernommen. 223 Das sollte freilich nicht bedeuten, daß sich das M fS des V ersuchs enthalten hätte, die „Wahlen“ in seinem bzw. im SED-Sinne zu beeinflussen. Die „Tschekisten“ wurden vielmehr angewiesen, „ durch ein enges politisch-operatives Zusammenwirken m it den w ahlleitenden O rganen, den zu bildenden K aderkommissionen bei den Kreisleitungen der Partei und der D eutschen Volkspolizei zu sichern, daß keine negativen oder politisch unzuverlässigen Personen als K andidaten vorgeschlagen w erden“. 224 Der „ Einsatz gesellschaftlicher Kräfte“ , besonders linientreuer SED-Mitglieder, sollte „gewährleisten, daß die erstm als praktizierte Öffentlichkeit der Veranstaltungen nicht durch feindlich-negative Personen m ißbraucht w erden kann“ . 225 Damit war die öffentliche Vorstellung der Wahlkandidaten gem eint – ein kümmerliches Zugeständnis der SED-Führung an den Reform geist aus dem Osten. Im „Befehl N r. 6/89“, den Mielke am 6. März erließ, wurden diese und weitere Maßnahmen, deren Realisierung vor allem den Bezirksverwaltungen für Staatssicherheit (BV fS) aufgetragen w urde, als operative A ktion „Symbol 89“ weiter konkretisiert. 226

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am 7. Mai 1989, 26.4.1989; BStU, ZA, ZAIG 5352, Bl. 57–64, hier 60. Zum sowjetischen Wahlsystem vgl. Iivonen: Wahlresultate in der Sowjetunion (1989); Meissner: Gorbatschows Umbau des Sowjetsystems, Teil II (1989), S. 702–719. HA XX: Einleitung politisch-operativer Sicherungsmaßnahmen in Vorbereitung und Durchführung der Wahlen zu den Kreistagen , Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretunge n am 7. Mai 1989, 5.12.1988; BStU, ZA, ZAIG 8623, Bl. 3–8, hier 3. Mielke: Ausführungen auf der zentralen Dienstbesprechung mit den Leitern operativer Diensteinheiten des MfS Berlin und den Leitern der Bezirksverwaltungen (Manuskript), 13.12.1988; BStU, ZA, DSt 103534, S. 31. HA XX: Einleitung, 5.12.1989, Bl. 3. Ebenda, Bl. 4. Befehl Nr. 6/89 des Ministers vom 6.3.1989: „Politisch-operative Sicherung der Vorbereitung und Durchführung der Wahlen zu den Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemei ndevertretungen sowie von Veranstaltungen anläßlich des 1. und 8. Mai 1989“; BStU, ZA, DSt 103568. Eine Fälschung der Wahlergebnisse oder die Unterstützung eines solchen Vorhabens gehörte, das sei angemerkt, nicht zu den übertragenen Aufgaben.

Tatsächlich w urde von Bürgerrechtlern versucht, die Kandidatenvorstellungen im Februar und März 1989 zu nutzen, um öffentlich auf Mißstände – etwa Umweltprobleme – hinzuweisen oder gar eigene Kandidaten vorzuschlagen. 227 Die V ersammlungsleitungen w aren bem üht, das zu unterbinden. Rednerlisten w urden m anipuliert, einschlägiger Protest von Teilnehmern mißachtet, Bürgerrechtler w urden von „ progressiven K räften“ beschim pft und manchmal sogar die Polizei gerufen. 228 All das wurde nicht mehr überall schweigend hingenommen. D ie Sy node der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen forderte in eine r Erklärung die Bürger auf, entw eder die Wahlkabine zu benutzen und dort „ wahrhaftig und verantwortlich“ zu stimmen oder der Wahl fernzubleiben. 229 Für andere w aren die geschilderten Machenschaften der letzte A nlaß, unzweideutig zum Wahlboykott aufzurufen. In einer öffentlichen Protesterklärung kündigten 48 Pfarrer und Mitglieder von kirchlichen Friedens- und U mweltgruppen an, daß sie „ an den Kommunalwahlen nicht teilnehmen“ würden. Ihre Begründung: „Die Versuche vi eler einzelner und Gruppen, si ch aktiv in die Vorbereitung der W ähler ei nzubringen, zei gten entmutigende Ergebni sse: Versuche von Gruppen, eigene Kandidaten aufzustellen oder zu unt erstützen, wurden bl ockiert, Bem ühungen, Anliegen auf öffe ntlichen Veranstaltungen einzubringen, behindert. Zahlreichen Bürgern wurde der Zutritt zu angeblich öffentlichen Veranst altungen zur W ahl verwehrt . Wir wissen von vielen vergleichbaren Erfahrungen auch außerh alb von Wahlen: Bürger dieses Landes, die ihre kritischen Anfragen an politische Entscheidungen in der DDR offen stellen, werden verdächtigt, au sgegrenzt oder bedroht. [...] Die Ergebnisse der W ahlen in der DDR dienen dazu, di e tatsächlichen Verhältnisse zu verschleiern und ein Einverständnis innerhalb der B evölkerung mit der Pol itik der DDR -Regierung vorzutäuschen, das i mmer weniger gegeben ist. Die Offenlegung tatsächlicher Meinungs- und Mehrheitsverhältnisse bedeutet eine notwendige Voraussetzung für den breiten innergesellschaftlichen Dialog, den wir anstreben.“ 230

Aus seiner Sicht berichtete Mielke auf einer Dienstbesprechung Ende April über den Verlauf der Wahlkampagne: 227 Vgl. den gemeinsamen Aufruf dreier kirchlicher Gruppen und einer Ökologiegruppe vom 1.1.1989 in: Die Tageszeitung 31. 1.1989; Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986–1989 (1992), S. 288–292. 228 Vgl. Tagesspiegel 15.4.1989; Lapp: DDR-Kommunalwahlen 1989 (1989), S. 616 (Lapp beruft sich auf Berichte von Bürgerrechtle rn); Barbara Donovan: Local Government Elections in the GDR, in: Radio Free Eu rope Research, RAD Background Report/77 (German Democratic Republic), 10 May 1989; Rüddenklau: Störenfried (1992), S. 290. 229 Erklärung vom 9.4.1989, in: Rein: Die protestantische Revolution 1987–1990 (1990), S. 135. 230 „Die Wahl ist nicht frei. Boykotterklärung der DDR-Pfarrer“, in: Frankfurter Rundschau 20.4.1989.

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„Gemeinsam mit den Part nern des Zusam menwirkens wurden di e Absichten und einzelne Versuche feindlich-negativer Kräfte, insbesondere aus sogen annten Fri edens-, Ökol ogie- und Menschenrechtsgruppen, vorbeugend verhindert bzw. konsequent unterbunden, eigene Kandidaten als sogenannte unabhängige Abgeordnete i n Vorschl ag zu bringen oder i n wahl leitende Organe zu gelangen. Durch zielgerichtete politisch-operative Maßnahmen, insbesondere auch durch den unt er Führung der Partei erfolgten Einsatz gesellschaftlicher Kräfte, sind Bestrebungen vor a llem von reakt ionären kirchlichen und Kräften politischer Untergrundtätigkeit so wie von Antragstellern auf ständige Ausreise im wesentlichen unterbunden worden, die Rechenschaftslegungen der Abgeordneten und andere öffentliche Veranstaltungen zu nutzen, um gegen das W ahlprogramm aufzutreten, politisch-provokatorische Fragen zu stellen und feindlich-negative Auffassungen öffentlichkeitswirksam zu verbreiten.“ 231

Ganz w ie in früheren Jahren verlief die „ Wahlkampagne“ dennoch nicht. Unabhängige Beobachter bemerkten „Anzeichen für ein gewachsenes Selbstbewußtsein“ weit über die oppositionellen Gruppen hinaus. 232 3.585 Bewerber w urden nach den „ Wahlveranstaltungen“ w ieder von den Kandidatenlisten gestrichen. 233 Das w ar gem essen an der G esamtzahl von über 270.000 Kandidaten eine Winzigkeit, genau 1,3 Prozent, verglichen etw a mit den „Wahlen“ 1984 jedoch ein Zuwachs auf das Vierfache, 234 der zeigte, daß sich auch angepaßte Bürger inzwischen nicht m ehr alles bieten ließen. Entschiedenere Kritiker des Regim es wollten auch den Wahlgang selbst unter die Lupe nehm en. Erste Erfahrungen dam it waren bei den Volkskammerwahlen 1986 im O stberliner Stadtteil Friedrichshain gesam melt worden. 235 K irchliche und andere Basisgruppen – z. B. der „Weißenseer Friedenskreis“ in Berlin und die „ Interessengemeinschaft Leben“ in Leipzig – ergriffen die Initiative, um die Stim menauszählung zu überwachen und Wahlmanipulation nachzuw eisen. Selbstverständlich blieb das der Staatssicherheit nicht verborgen. Mielke erklär te in seiner bereits zitierten Rede Ende April, daß Bürgerrechtler die Absicht hätten, „ die öffentliche Auszählung der abgegebenen Stim men zu beobachten, um so angebliche Wahlmanipulationen nachzuweisen“, und forderte „ zur vorbeugenden Verhinderung 231 Ausführungen des Gen. Ministers auf der zentralen Dienstbesprechung 28.4.1989; BStU, ZA, ZAIG 8677, Bl. 1–178, hier 74. 232 So der Korrespondent des Evangelischen Pressedienstes in der DDR, Hans-Jürgen Röder: Signale der Entschüchterung, in: Kirche im Sozialismus 15 (1989) 3, S. 83 f. 233 Neues Deutschland 4.4.1989. 234 Bei den Kommunalwahlen 1984 waren 802 der insgesamt 260.000 Kandidaten erfolgreich abgelehnt worden; vgl. Rede von Horst Dohlus auf der Beratung mit den 2. Sekretären der SED-Bezirksleitungen am 9.2.1989; BA Berlin, DY 30/IV 2/2041/52, Bl. 1–63, hier 39. 235 Vgl. Röder: Signale (1989), S. 83; Rüddenklau: Störenfried (1992), S. 288.

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dieser Provokationen“ auf. 236 Das mißlang. Die Wahlkontrolleure w urden zw ar selbst überw acht, doch zu unterbinden vermochte das M fS ihre Aktivitäten nicht. Allein in Berlin beobachtete es in 131 Wahllokalen solche unabhängigen Wahlkontrolleure, 237 insgesamt waren es Hunderte, die die Courage aufbrachten, sich daran zu beteiligen. In der Berliner Elisabeth-Kirch-Gemeinde fand auf einer „ Wahlparty“ der „Kirche von Unten“ sogar eine öffentliche Auswertung der Kontrollergebnisse statt. 238 D ie Ergebnisse w aren eindeutig. In Berlin-Weißensee etwa waren 66 von 67 Wahllokalen überw acht w orden. O ffiziell w urden dort 43.042 abgegebene Stimmen vermeldet, die Wahlbeobachter hatten bei der Wahlauszählung nur 27.680 registriert. Am tlich wurden 1.011 Nein-S timmen eingeräumt; als die Beobachter die Einzelergebnisse zusam menzählten, kamen sie auf 2.224 G egenstimmen. 239 In anderen Bezirken war der Trend ähnlich. Warum konnte die Staatssicherheit diese Blam age nicht verhindern? Der entscheidende Grund dürfte Mielkes Vorgabe gewesen sein, daß „politischoperative Maßnahm en zur unm ittelbaren Sicherung der Kommunalwahlen [...] so durchgeführt und realisiert we rden [müssen], daß sie für Außenstehende nicht erkennbar sind“ . 240 Festnahmen oder auch nur H ausverbote für die Wahlbeobachter während der öffentlichen Auszählung in den Wahllokalen hätten gegen diese V orgabe verstoßen, w äre eine eindeutige Gesetzesverletzung gewesen 241 und hätte das Wahlritual vollends als Farce entlarvt. Die gemeinsame Auswertung ihrer Beobachtungen durch die Bürgerrechtler war in Berlin wegen der Präsenz westlicher Pressekorrespondenten kaum unauffällig zu unterbinden. 242 In Leipzig, wo sich zu dieser Zeit keine westlichen Journalisten eingefunden hatten (die A nreise eines ARD-Korrespondenten w ar verhindert w orden 243), griff das M fS schärfer durch. Vor der Nikolaikirche wurden am 7. Mai insgesamt 72 Personen vorübergehend festgenommen. 244 Die vorausschauende Warnung des M fS vor einer Verletzung der „wahl236 „Ausführungen“ 28.4.1989, Bl. 76 f. 237 Vgl. ZAIG: Information Nr. 229/89 vom 8. 5.1989 „über beachtenswerte Ergebnisse der Durchführung der Kommunalwahlen am 7. Ma i 1989“; BStU, ZA, ZAIG 3763, Bl. 14–24, hier 15. 238 Vgl. ebenda; Rüddenklau: Störenfried (1992), S. 291. 239 Röder: Signale der Entschüchterung (1989), S. 84. 240 „Ausführungen“ 28.4.1989, Bl. 71. 241 § 37 des Wahlgesetzes der DDR legte fest: „Die Auszählung der Stimmen erfolgt im Wahllokal. Sie ist öffentlich und wird vom Wahlvor stand durchgeführt.“ Gesetz über die Wahlen zu den Volksvertretungen der DDR – Wahlgesetz – vom 24.6.1976 in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Wahlgesetzes vom 28.6.1979, GBl. DDR 1979, I, Nr. 17, S. 139. 242 Vgl. etwa Karl-Heinz Baum: Fliegende Urnen und der Schwund der Gegenstimmen, in: Frankfurter Rundschau 9.5.1989. 243 Vgl. ZAIG: Information 229/89, Bl. 18. 244 Vgl. ebenda, Bl. 16 f. Einige interessant e Dokumente zur Wahlmanipulation in Leipzig, die aber keine unmittelbare Tatbeteiligung des M fS belegen, finden sich in: Bürgerkomitee Leipzig (Hrsg.): STASI intern (1991), S. 296–307.

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rechtlichen Bestimmungen“ war nicht beachtet worden; die Prognose, daß dadurch „feindlich-negative Kräfte“ die Chance erhalten würden, ihre Kritik an den „ Wahlen“ in der D DR zu unterm auern, hatte sich als zutreffend erwiesen. Erstm als in der G eschichte der D DR konnte für einzelne Wahlbezirke in Ostberlin, D resden und Leipzig die Fälschung von Ergebnissen nachgewiesen werden. 245 Den Protesten der Basisgruppen schloß sich die Leitung der evangelischen K irche an 246 und verlieh ihnen dadurch zusätzliches Gewicht und größere Öffentlichkeit. Ursprünglich war eine direkte Fälschung des Wahlergebnisses, über die im Wahlsystem selbst enthaltenen w eitgehenden Restriktionen hinaus, anscheinend nicht beabsichtigt gewesen. Als Vorsitzender der zentralen Wahlkommission hatte Egon K renz am 15. April 1989 in einem Schreiben an Honecker vorgeschlagen, Forderungen aus den Bezirken nicht zu entsprechen, wie bis dahin üblich „ eine Zielangabe für das Wahlergebnis“ zu geben, und meinte, es sei besser, statt dessen darauf zu orientieren, für das „ bestmögliche Wahlergebnis zu kämpfen, das real ist“ . Honecker hat diesen Vors chlag bestätigt. 247 In einem Schreiben an die Leiter der örtlichen Wahlkommissionen betonte Krenz noch einm al, „ daß die wahlrechtlichen Bestimmungen über [...] die Ergebniserm ittlung strikt einzuhalten sind“ . 248 Letztlich aber wollte man in der SED-Zentrale das m it solcher Gesetzestreue verbundene Risiko dann doch nicht eingehen. D ie SED-Bezirksleitungen erhielten deshalb Anfang Mai aus dem „Großen H aus“, w ie das ZK -Gebäude am Werderschen Markt genannt w urde, die telefonische A nweisung, daß das Ergebnis nicht schlechter ausfallen dürfe als bei Wahlen im Jahr 1986. 249 245 Die Ergebnisse wurden in der Samisdat-Br oschüre „ Wahlfall 89. Eine Dokumentation“ veröffentlicht. Auszugsweiser Nachdruck unter dem Titel „Wahlfälschungen“ in: Deutschland Archiv 22 (1989) 9, S. 967–970. 246 „Erklärung des evangelischen Kirchenbundes zu den Kommunalwahlen vom 3. Juni 1989“, in: Rein: Revolution (1990), S. 141 f. Diese „ Erklärung“ war allerdings überaus vorsichtig und beschwichtigend formuliert, von „ Unstimmigkeiten“ war die Rede, vor „übertriebenen Aktionen und Demonstrationen“ wurde gewarnt. Dagegen protestierte der Erfurter Propst Heino Falcke. Er bezeichne te in einer Stellungnahme „ Aktionen und Demonstrationen“ als „ein unentbehrliches Mittel, um Lernprozesse der G esellschaft voranzubringen“; in: ebenda, S. 142–144. 247 Vgl. Strafsache gegen Honecker u. a. (1990), zitiert bei Przybylski: Tatort Politbüro (2) (1992), S. 105. 248 Schreiben von Egon Krenz an die Leiter der Wahlkommissionen, Anlage zu einem Schreiben des Büros des Politbüros, Schwertn er, an die 1. Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen der SED vom 27.4.1989; BA Berlin, DY 30/IV 2/2.039/230, Bl. 112 f. – Ein weiteres Indiz ist eine Rede von Horst D ohlus, der als Sekretär des ZK der SED zuständig für die Anleitung der regionalen Partei organe war, vor den 2. Sekretären der SED-Bezirksleitungen zu Beginn der Wahlkam pagne am 9.2.1989. Er betonte, daß die Formalia zu beachten seien. Hinweise auf eine beabsichtigte Fälschung der Wahlergebnisse finden sich dort nicht. Rede in: BStU, ZA, SED-KL 1072, Bl. 106–124. 249 Wer diese Anweisung gab und woher er die faktische Kompetenz dafür hatte (eine rechtliche konnte es nicht geben), ist bisher noch unklar. Das Faktum selbst ist durch mehrere Zeugenaussagen in dem Prozeß gegen den ehemaligen Dresdner SED-Bezirkschef Hans Modrow belegt. Modrow war danach im übrigen der einzige SED-Bezirkschef, der sich fast bis zum letzten Moment gegen eine solche Zumutung wehrte. Vgl. Lapp: Wahlen

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Diese Anweisung wurde von den SED-Bezirksleitungen an die örtlichen Wahlvorstände – streng vertraulich – w eitergegeben. Umgesetzt wurde das Vorhaben bei der Zusam menfassung der Ergebnisse aus den einzelnen Wahllokalen in den Wahlkreis- und Wahlbezirksbüros. 250 Das offizielle Endergebnis, das am 10. Mai bekanntgegeben w urde, 251 unterschied sich nicht von den internen Berechnungen, die auf dem Schreibtisch des Leiters der Zentralen Wahlkom mission, K renz, landeten. 252 Der einzige Unterschied war, daß die 98,85 Ja-Stim men nur auf die gültigen Stimmen bezogen wurden. Intern wurden – politisch gewiß interessant – Nichtwähler, ungültige Stim men und Gegenstim men zusammengezählt und zur Summe der Wahlberechtigten in Relation gesetzt, wohl um festzustellen, aus welchen Bezirken die m eisten „ negativen“ Verhaltensweisen gem eldet worden waren. An der Spitze lag Ostberlin mit 4,2 Prozent, auf dem 2. Platz Dresden m it 3,9 und auf dem 3. Platz Leipzig m it 3,6 Prozent. Der DDRDurchschnitt war 2,5 Prozent. 253 Da in diesen Zahlen allerdings die Ergebnisse von Wahlfälschungen, echter Gleichgültigkeit einzelner Wahlberechtigter und Zeichen wirklichen Protestes untrennbar m iteinander verm ischt sind, ist ihre Aussagekraft gering. 254 In einer Auswertung der K ommunalwahlen durch den A pparat des SED Zentralkomitees für ZK-Sekretär Krenz w urde das Them a Wahlfälschung nur angedeutet. 255 D ie zuvor erw ähnte telefonische A nweisung aus dem Großen Haus wurde in dieser Analyse nicht erwähnt. 256 Der Grund ist unklar. Möglicherweise agierten unterschiedliche Teile des A pparates, etw a die A bteilung Staat und Recht und die Horst Dohlus unterstehende Abtei-

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und Wahlfälschungen (1996), S. 97; Urteil de s Landgerichts Dresden vom 27.5.1993, 3 (c) KLs 51 Js 4048/91, Nachdruck (Auszug) in: Neue Justiz 47 (1993), S. 493–496. Lapp: Wahlen, S. 95 f. – Die These von Günter Schabowski, in Ostberlin habe der Stellvertretende Oberbürgermeister als Leiter der Wahlkommission „nach bewährtem Muster“ ohne sein Wissen entsprechend agiert, mag mangels Beweisen nicht eindeutig zu widerlegen sein, sehr überzeugend klingt sie nicht. Schabowski: Das Politbüro (1990), S. 55. Neues Deutschland 10.5.1989. BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/230, Bl. 167–188 (Büro Krenz). Computerauszug „Negative“; ebenda, Bl. 167. In ZAIG-Materialien aus jenen Tagen werden ebenfalls Einzelzahlen für Nicht-Wähler genannt, die, auch wenn kein direkter Vergleich möglich ist, in ihrer Tendenz in offenkundigem Gegensatz zum „amtlichen Wahlergebnis“ standen. In diesem Papier fehlen allerdings, wie schon ein MfS-Leser handschriftlich kritisch vermerkt hat, „ Entwicklung Gesamtzahlen N ein-Stimmen D DR (G esamt u. Verhältnis zu letzten Wahlen)“. V gl. „Hinweise über ausgewählte bedeutsame Probleme im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989“; BStU, ZA, ZAIG 5352, Bl. 76–93. „Zu den Kommunalwahlen 1989“; BA Ber lin, DY 30/IV 2/2.039/230, Bl. 238–255. Das Papier enthält keine Angaben zu Autor oder Datum. Das vorliegende Exemplar fand sich im Bestand des Büros von Krenz, von dem wahrscheinlich auch die zahlreichen Unterstreichungen vorgenommen worden sind. Vg l. zu diesem Text Lapp: Wahlen (1996), S. 94 f. Sie spielte 1993 in dem Prozeß wegen Wahlfälschung gegen H. Modrow eine wesentliche Rolle; vgl. Urteil des Landgerichts Dresden vom 27.5.1993, 3 (c) KLs 51 Js 4048/91, Nachdruck (Auszug) in: Neue Justiz, 47 (1993), S. 493–496.

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lung für die örtlichen Parteiorgane, nebeneinander. 257 Es hätte nach der Darstellung in der ZK-Analyse, die aber vielleicht auch die V erantwortung für diesen Gesetzesverstoß stillschweigend nach unten schieben wollte, einer solchen A nweisung gar nicht bedurft: U rsprünglich sei in den Bezirken wie bisher „ davon ausgegangen w orden, gleiche oder bessere Werte als bei den vorangegangen K ommunalwahlen anzusteuern“. 258 D ann, „ gut eine Woche vor dem Wahltag“, sei die „ Orientierung zu den Wahlzielen“ eingetroffen, die erstmals „ keine für alle einheitlichen Richtwerte“ enthielt und statt dessen die Bezirksleitungen aufforderte, „real das Bestmögliche“ zu erreichen. 259 Das ist – wie hätte es auf Basis bisheriger Erfahrungen anders sein sollen – in den SED-Bezirksleitungen nicht etwa als Aufforderung verstanden w orden, um Stim men zu käm pfen, sondern über das A usmaß der Manipulation selbst zu entscheiden. Das habe „ offensichtlich zu gewissen Verunsicherungen geführt, weil jeder selbst entscheiden mußte, was real das Bestmögliche ist [...], so daß ungewiß war, ‚ob m an aus dem Rahm en fällt‘.“ 260 Deshalb seien am Wahlabend „vorliegende Ergebnisse in den Bezirken zurückgehalten“ worden, „um über die laufenden A ngaben des Fernsehens erst V ergleichsmaßstäbe aus anderen Bezirken zu bekom men.“ 261 Das kann nur bedeuten, daß man abwartete, wie stark man fälschen mußte. Die Wahlfälschung hatte schon vor dem 7. Mai begonnen: in den Sonderwahllokalen, in denen vorab gew ählt w erden konnte. Sie w aren von knapp 29 Prozent aller Wähler genutzt w orden. D ie Stim menauszählung fand – wo das nicht durch m assive Proteste verhindert worden war wie zum Teil in Berlin und D resden – in diesen Wahllokalen auf zentrale Weisung hin unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. 262 Es waren dort besonders viele Gegenstim men abgegeben worden, „ nach örtlichen Einzelaussagen zwischen 8 und 15 %“. 263 Auf wundersame Art und Weise änderte sich das bei der Weitermeldung der Ergebnisse: „Die von den B ezirken intern gemeldeten Sonderwahllokalergebnisse waren bei Gegenstimmen für die DDR hochgerechnet um 20 Punkt e günst iger al s

257 In dem Bestand des Büros Dohlus im zentralen Parteiarchiv (BA Berlin, DY 30/2041) waren keine einschlägigen Unterlagen auffindbar. 258 „Zu den Kommunalwahlen 1989“, Bl. 244. 259 Die Aussage ist inhaltlich deckungsgleich mit dem zuvor zitierten Schreiben von Krenz an Honecker vom 15.4.1989. 260 „Zu den Kommunalwahlen 1989“, Bl. 244. 261 Ebenda, Bl. 246. 262 Ebenda, Bl. 242 f. 263 Ebenda, Bl. 245. – Für die These in dem erwähnten Urteil des Landgerichts Dresden wie in der Revisionsentscheidung des Bundesgeric htshofs (der keine eigene Beweiserhebung mehr durchführte), daß solche Zahlen für Dresden oder gar – wie der BGH argumentiert – die gesamte DDR repräsentativ waren, ist mir kein Beleg bekannt. Vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 3.11.1994, 3 StR 62/94 (LG Dresden), in Neue Justiz 49 (1995), S. 96–99.

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das endgültige Ergebnis (0,95 : 1,15). 264 Insgesamt jedoch kann davon ausgegangen werden, daß von al len B ezirken Sonderwahl lokalergebnisse gemeldet worden sind, die bereits in di e jeweilige Zielstellung für das spätere endgültige Ergebnis eingeordnet waren. Leiter von Bezirkswahlbüros betonten, daß ohne di e hohe Zahl von W ählern in Sonderwahllokalen und die interne Auszählung das erzielte endgültige Ergebnis des Bezirkes kaum zu erreichen gewesen wäre.“ 265

Insgesamt waren es die gleichen Praktiken w ie bei Meldungen über Planerfüllung in der Wirtschaft: Man m eldete jene geschönten „ Ergebnisse“, die oben erwartet wurden. 266 Das Einverständnis der Zentralm acht konnte auch in diesem Fall erwartet werden: „ Das gegenwärtige Wahlsystem hat sich über viele Jahre bei der Wahrung und Stärkung der politischen Macht bewährt und ist auch unter gegenw ärtigen Bedingungen für 1990 w iederholbar.“ 267 Allerdings wäre im folgenden Jahr „ bei gleicher Vorgabe wie 1989 – real bestmögliche Ergebnisse zu erzielen – parteiintern klar durchzustellen, daß einige Punkte weniger bei Wahlbeteiligung und Für-Stim men politisch leichter verkraftbar als nachträgliche Ungereimtheiten sind“. 268 Diese „Ungereimtheiten“ waren deutliche Indizien für Verstöße gegen § 211 des Strafgesetzbuches der D DR, in dem Wahlfälschung und die Anstiftung dazu unter Strafandrohung gestellt waren. Doch dieser Aspekt wurde in der ZK -Analyse keiner Erörterung für w ert befunden, hat sich in dem Text aber gleichwohl niedergeschlagen. Obwohl es sich um ein streng internes Papier handelte, ist die A nalyse sprachlich von einer eigentümlichen Schizophrenie gezeichnet: Daß gefälscht worden ist, klingt im mer wieder durch, wird aber nicht offen ausgesprochen. Das für solche Regime typische „Zwiedenken“ 269 schlägt auch im inneren D iskurs durch und verhindert sowohl eine unzensierte Wahrnehm ung gesellschaftlichen Protestpotentials 270 264 In den Sonderwahllokalen waren angeblich 0,95 %, in der DDR insgesamt 1,15 % Gegenstimmen abgegeben worden. 265 Ebenda, Bl. 242. Im Original ist diese Passage handschriftlich unterstrichen und der zweite Satz am Rand mit zwei Ausrufezeichen versehen. 266 Vgl. Przybylski: Tatort (2), S. 105. 267 „Zu den Kommunalwahlen 1989“, Bl. 248. Für die „ Wahlen 1994/95“ wurde immerhin gefordert, eine „Einstellungsbereitschaft“ zu entwickeln, „weitgehend [sic!] real zustande gekommen aber damit auch deutlich niedrigere Ergebnisse w ie bisher bei der Wahlbeteiligung und den Für-Stimmen als politisch vertretbar zu bewerten. Wahrscheinlich nur damit können Ansatzpunkte – aus welcher Motivation auch immer – für Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit und dem echten demokratis chen Gehalt unserer Wahlen paralysiert werden.“ Ebenda, Bl. 255. 268 Ebenda, Bl. 248. 269 Vgl. Scanlan: Doublethink in the USSR ( 1985), S. 67–72; Kon: Psichologija sotsialnoj inertsii (1988). 270 Das Papier „ Zu den Kommunalwahlen 1989“ enthält eine Übersicht zu einer „ erhebliche[n] Differenz zwischen den Bezirksergebnissen“ bei Gegenstimmen usw. Krenz fügte handschriftlich hinzu: „ die durch die pol[itis che] Lage nicht erklärbar ist“. „ Zu den Kommunalwahlen 1989“, Bl. 245.

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wie eine selbstreflexive Analyse der Mechanismen von Machtausübung und Affirmation. Wegen der Kommunalwahlen gab es später, im V orfeld des U mbruchs, noch einmal eine Kontroverse in der SED -Spitze, über die kurz berichtet werden soll. Bei der Politbüro-Sitzung am 10. Oktober, auf der – w ie zu zeigen sein wird – der K onflikt zw ischen K renz und H onecker offen ausbrach, hat Krenz im Rahmen von Überlegungen zu einem politischen Wandel vorgeschlagen: „Wahlgesetz vollst[ändig] einhalten. 80–90 % ist genug.“ 271 Das war natürlich auch eine Spitze gegen H onecker. Der gab den Vorwurf postwendend zurück: „ Sagen, was man meint! Wahl[en] gefälscht oder nicht. Sind gefälscht. Im PB [w urde] aber nichts gesagt. K ontrolle hat das ergeben.“ 272 Im Schlußw ort zu dieser bem erkenswerten Sitzung gab Honecker noch einen drauf, um Krenz zu düpieren, und forderte „ schärfste Maßnahmen gegen Wahlfälschung“. 273 Wieweit seinerzeit Mitarbeiter des MfS, denen die „Gewährleistung ständiger Verbindungen zu den Leitern der Bezirks-, K reis- und Stadtbezirkswahlbüros“ aufgetragen war, 274 an Wahlfälschungen beteiligt waren, ist unklar. Auch in internen Materialien w ird – obw ohl die M fS-Wahlbeobachter aufgrund ihrer Funktion davon zum indest gewußt haben müssen – im Sinne des genannten „ Zwiedenkens“ schon die bloße Feststellung von Unregelmäßigkeiten als bösartige V erleumdung abgetan. A m 19. Mai gab Mielke Weisung, wie weiter zu verfahren sei. In diesem Zusammenhang zitierte er aus einem Standardschreiben, mit dem die Sekretäre der Wahlkommissionen auf „ sachlich gehaltene Eingaben“ gegen Wahlfälschungen zu antworten hatten: „,Die W ahlkommission hat anhand der von den W ahlvorständen entsprechend § 39 Absat z 1 des W ahlgesetzes exakt gefertigten Niederschriften die ordnungsgemäße Durchführung der W ahlen geprüft, das W ahlergebnis festgestellt und veröffentlicht. Dem ist nichts hinzuzufügen.‘“ 275

Welch schlechtes Gewissen sich hinter diesem rüden Ton verbarg, zeigt 271 Zitiert nach den Aufzeichnungen von Gerhard Schürer zu der Politbüro-Sitzung am 10. – 11.10.1989; BA Berlin, DE-1-56321, Bl. 70–105, hier 78; vgl. Hertle: Chronik des Mauerfalls (1996), S. 84. 272 Ebenda, Bl. 78. 273 Ebenda, Bl. 104. – Ähnlich hat Honecker in dem Interview mit Andert u. Herzberg: Sturz (1990), S. 83, argumentiert. 274 Befehl Nr. 6/89 vom 6.3.1989, S. 7. 275 Aus dem Text geht nicht hervor, daß eine MfS-Stelle dieses Antwortschreiben verfaßt hätte. Mielke zitiert anscheinend eine andernorts, im ZK der SED oder durch K renz als Leiter des zentralen Wahlbüros, getroffene Regelung. Schreiben des Ministers vom 19.5.1989 zu „Maßnahmen zur Zurückweisung und Unterbindung von Aktivitäten feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte zur Diskreditierung der Ergebnisse der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989“; BStU, ASt Berlin (unerschlossenes Material), Karton A 1199, ohne Pag.

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Mielkes Zusatz: „Auf jeden Fall ist zu verm eiden, daß zur Sache selbst oder zu den angeblichen Fakten argum entiert w ird.“ 276 Besonders hartnäckige Kritiker sollten „ operativ“ bearbeitet werden. Darüber hinausgehende Repressionsmaßnahmen sollten nur in Ausnahm efällen eingeleitet werden: „Die Einleitung strafprozessualer Maßnahmen ist dabei auf einen engen, offen feindlich handelnden Personenkreis zu beschränken, der in schwerwiegender Weise die strafrechtlichen Bestim mungen verletzt hat.“ 277 Ein solches Erm ittlungsverfahren durfte nur „ nach Zustimmung des Leiters der Hauptabteilung IX“, Generalmajor Fister, eingeleitet w erden. 278 Auch diese relativ hohe Hürde zeigt, daß Mielke bewußt war, daß das Alte Regime sich in der Defensive befand, und daß er bem üht war, nicht noch zusätzliches Ö l ins Feuer zu gießen. Doch der Protest gegen den Wahlbetrug vom 7. Mai sollte das Regime bis zu seinem Ende begleiten: A n jedem 7. Tag eines Monats, bis einschließlich dem 7. Oktober, versammelten sich Demonstranten in Ostberlin, Leipzig und anderen Orten, um daran zu erinnern. 279 Die Überwachung der Kommunalwahlen und der Protest gegen den Wahlbetrug hatte eine doppelte Bedeutung: Erstens wurde dam it ein politisch-symbolisches Datum, eben „der 7.“, gestiftet, das half, die Protestbewegung zu organisieren. Zw eitens zeigten etliche couragierte Bürger, daß es nun m öglich war, den Staat und die Partei herauszufordern, ohne untragbare persönliche Risiken einzugehen. Gerade in der A nfangsphase von U mbruchsituationen haben A ktionen katalysatorische Wirkung, in denen „exemplarische Individuen die V erhaltensgrenzen zu testen beginnen, die das herrschende Regim e ursprünglich auferlegt hat“. 280 Sie zeigen, w as an abw eichendem Verhalten möglich ist, und sind dadurch erm utigend. Und sie bringen Them en auf die politische Agenda zurück, die in der offiziellen Sprache tabuisiert sind und im gesell276 Ebenda. – Welch peinliche Figur untere Funk tionäre machten, die sich auf Diskussionen einließen, ist in zw ei Gedächtnisprotokollen nachzulesen, in: Deutschland Archiv 22 (1989) 9, S. 968–970. 277 Schreiben des Ministers vom 19.5.1989. 278 Ebenda. – Die ZAIG hatte drei Tage zuvor noch „ vorgeschlagen“, wegen der Verbreitung von Protesterklärungen gegen die Wahlfälschung „Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt“ nach § 220 Abs. 2 StGB („ öffentliche Herabwürdigung“) einzuleiten. Dem ist Mielke offenbar nicht gefolgt. „ Hinweise“ der ZAIG vom 16.5.1989 „ über Aktivitäten feindlicher, oppositioneller u. a. negativer Kräfte zur Diskreditierung der Ergebnisse der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989“; BStU, ZA, ZAIG 5366, Bl. 2–5. 279 Zu der Ostberliner Demonstration am 7. Juni 1989 vgl. den Augenzeugenbericht aus den „Umweltblättern“ in Rüddenklau: Störenfri ed (1992), S. 333–335, und ZAIG: Information 285/89 über die Unterbindung einer von feindlichen, oppositionellen Kräften geplanten Provokation, 8.6.1989; BStU, ZA, ZAIG 3763, Bl. 32–36; zu den Demonstrationen am 7.7., 7.8. und 7.9.1989 vgl. ZA IG: Information 336/89 über die Unterbindung einer geplanten Provokation, 8.7.1989; ebenda, Bl. 37–40; ZAIG: Information 367/89 über erste Hinweise zu Aktivitäten feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte im Zusammenhang mit den Volkswahlen, 8. 8.1989; ebenda, Bl. 41–45; ZAIG: Information 412/89 über die Unterbindung einer geplante n Provokation, 8.9.1989; ebenda, Bl. 46–48; Süddeutsche Zeitung 9./10.9.1989. 280 O’Donnell u. Schmitter: Conclusions (1979), S. 49.

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schaftlichen Diskurs aus Resignation keiner Erörterung mehr wert schienen.

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1.3.2 Reaktionen auf das Blutbad in Peking Das Massaker an demonstrierenden Studenten auf d em P latz d es H immlischen Friedens in Peking am 4. Juni 1989 nahm die SED -Führung zum Anlaß, um den Schulterschluß mit der zweiten sozialistischen Großmacht zu praktizieren. Die Demokratiebewegung wurde vom Neuen Deutschland als „konterrevolutionärer A ufstand einer extremistischen Minderheit“ 281 denunziert, während die offiziellen chinesischen V erlautbarungen zur Rechtfertigung des Blutbads unter Ü berschriften wie „Konterrevolutionäre Unruhen entschlossen unterbinden“ auf der Titelseite nachgedruckt w urden. 282 Die Volkskammer entblödete sich nicht, in einer eigenen Erklärung die Repression zu rechtfertigen. 283 Und Margot Honecker nutzte kurz danach ausgerechnet den Pädagogischen K ongreß der D DR, um ihrem Wunsch nach einer Jugend Ausdruck zu verleihen, die bereit w äre, die herrschenden V erhältnisse – sie sprach von „ Sozialismus“ – „ mit der Waffe in der Hand“ zu verteidigen. 284 Mit den international isolierten chinesischen Machthabern hat sich das SED-Regime deshalb so deutlich identifiziert, weil sich deren Politik in einem entscheidenden Punkt von der sow jetischen unterschied. In beiden Ländern waren Modernisierungsvorhaben gestartet w orden, aber anders als Gorbatschow (dessen Besuch in Peki ng der Auslöser für die Mobilisierung der Studenten gewesen war, was den Geschehnissen eine besondere Symbolik gab) war die chinesische Führung unter D eng Xiaoping bei Wirtschaftsreformen stehengeblieben. Im Frühjahr 1989 hatte es jedoch Signale aus der kulturellen und aus der Machtelite gegeben, die als Zeichen für die Herausbildung einer Liberalisiererfraktion um den Generalsekretär der KP Chinas, Zhao Ziyang, und als Beginn einer Liberalisierungsphase verstanden w erden konnten. Mit dem Massaker w ar dieses Projekt brutal gestoppt w orden. 285 D ie U nterstützung der SED -Führung galt der Entscheidung, keine Liberalisierung zuzulassen. Die Em pörung, die die G eschehnisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens weltweit auslösten, griff auch auf die DDR über. Um eine Solidarisierung m it der chinesischen D emokratiebewegung zu verhindern, wies Mielke die Leiter der Diensteinheiten an, daß „jegliche provokatorischdemonstrativen H andlungen gegen die V R China, insbesondere ihre Botschaft in der DDR“, und die Verbreitung von „Hetzschriften gegen die Po281 Neues Deutschland 5.6.1989. 282 Neues Deutschland 6.6.1989. 283 „Erklärung der Volkskammer der DDR zu den aktuellen Ereignissen in blik China“, in: Neues Deutschland 9.6.1989. 284 In: Neues Deutschland 14.6.1989, S. 3–9, hier 4. 285 Vgl. Bögeholz: „ Gebt uns Demokratie oder gebt uns den Tod“ (1989); and Consequences of China’s Democracy Movement 1989 (1990).

der VolksrepuMartin: Origins

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litik der

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VR China“ zu unterbinden seien. 286 Auf der Straße waren Staatssicherheit und Polizei mit diesem Bemühen zeitweilig erfolgreich: Wiederholt wurden in diesen Tagen kleinere Protestdem onstrationen aufgelöst und die Teilnehmer vorübergehend festgenom men. A uf die K irchen jedoch, in denen Gedenkgottesdienste stattfanden, hatten die Sicherheitsorgane kaum Zugriff. Dieses Terrain war aus politischen Gründen eine Tabuzone für offenen Zugriff der Staatssicherheit. So konnten sich in der Ostberliner Samariterkirche von Pfarrer Eppelm ann am 28. Juni über tausend Menschen versammeln, um der Opfer der Repression zu gedenken. 287 Die propagandistische Unterstützung der chinesischen Politik war von der SED -Führung auch als D rohgebärde gedacht, jedenfalls w urde sie so verstanden, wie sich noch einm al im Oktober zeigen sollte. Zugleich aber hat sie zur m oralischen D emontage des A lten Regim es erheblich beigetragen. Die alte Führung verkörperte le bensgeschichtlich antifaschistischen Widerstand; viele ihrer Mitglieder ware n in der NS-Zeit im Zuchthaus oder im KZ gewesen. Das verschaffte ihnen einen m oralischen Bonus w eit über den K reis der sy stemtreuen Bürger hinaus. Mit der offenen Unterstützung der Verantwortlichen für das Pekinger Blutbad verspielten sie Restbestände eigener Legitimation.

1.3.3 Die wachsende Opposition aus Sicht des MfS Vor allem die Proteste gegen die Fälschung der Kommunalwahlen hatten sichtbar gemacht, daß die oppositionelle Bewegung in der DDR inzwischen ein Niveau von Risikobereitschaft und organisatorischem Zusammenhalt erreicht hatte, das es m öglich machte, die Manöver der Staatsmacht ernsthaft zu durchkreuzen. 288 Mit den Wahlen war das angestrebte Ziel, zur „ Stärkung der politischen Macht“ beizutragen, 289 verfehlt w orden, statt dessen hatten sie die Integrationsfähigkeit des Regim es w eiter untergraben. D abei war an diesen Aktivitäten nur eine Minderheit der engagierten Bürgerrechtler beteiligt gewesen. Um sich einen Überblick über das Ausm aß politischer Opposition in der DDR zu verschaffen, hatte die M fS-Führung bereits Ende des Jahres 1988 ihre Bezirksverwaltungen angewiesen, über die „politische Untergrundtätigkeit“ im jeweiligen Verantwortungsbereich zu berichten. 290 Im Mai 1989 lagen die Ergebnisse vor. Sie w urden zu einem K onvolut m it dem Titel 286 Schreiben des Ministers an die Leiter der Diensteinheiten vom 10.6.1989, M fS VVS o008-45/89; BStU, ASt Berlin (unerschlossenes Material), Karton A 1199, Bl. 41 f. 287 Vgl. Monika Zimmermann: Wie weit ist China von der DDR entfernt? , in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.6.1989; Tagesspiegel 30.6.1989; Rein: Revolution (1990), S. 181. 288 Vgl. Bickardt: DDR-Opposition (1995), S. 478–494. 289 „Zu den Kommunalwahlen 1989“; BA Berlin, DY 30/IV 2/2.039/230, Bl. 248. 290 Schreiben des Ministers an die Leiter der Diensteinheiten zur Erarbeitung einer umfassenden aktuellen Übersicht, 9.11.1988, VVS o008–72/88; BStU, ZA, DSt.

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„Auskünfte zu Personenzusam menschlüssen“ zusam mengefaßt. 291 Dieses Papier wurde an die verschiedenen D iensteinheiten des MfS, vor allem aber an die Bezirksverwaltungen, geschickt, verbunden m it der A nweisung, auf dieser Basis die 1. Sekretäre der SED -Bezirksleitungen zu inform ieren. 292 Mit den SED-Parteileitungen auf Bezirks- und Kreisebene sollte der Einsatz von „gesellschaftlichen Kräften“ etwa bei öffentlichen Veranstaltungen oder zur Beeinflussung bestim mter Personen abgesprochen, der „Differenzierungsprozeß“ unter kirchlichen A mtsträgern gefördert und gem einsam „begünstigende Umstände“ für oppositionelles Handeln (eine Um schreibung für besonders skandalöse Mißstände) beseitigt werden. Es ging darum , die Bürgerrechtsbewegung effektiver zurückzudrängen, zugleich aber w ar es ein Versuch, ein Stück Verantwortung für die Gewährleistung innerer Stabilität an die SED zurückzugeben. Bei den oppositionellen „Personenzusammenschlüssen“ würde es sich – das war die Quintessenz dieser Ü bersicht – um G ruppierungen von Personen handeln, „die sich die Aufweichung, Zersetzung und politische Destabilisierung bis hin zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR zum Ziel setzen“ . 293 Sie seien „ fast ausschließlich in Strukturen der evangelischen K irchen in der D DR“ aktiv, w ürden jedoch durch Westkorrespondenten und D iplomaten „ inspiriert“, die selbst wieder im Dienste „ausländischer Diversionszentralen“ agierten. 294 Obwohl es natürlich solche Hilfe etwa bei dem illegalen Transpor t von Büchern und Zeitschriften gab, hatte dieses Feindbild mit der Realität wenig zu tun, weil es die Widersprüche in der DDR nach außen projizierte. Der Wirklichkeit näher kom men die em pirischen D aten, die in diesem Überblick zu finden sind. 295 Es w urde berichtet, daß etw a 160 Bürgerrechtsgruppen existierten, von denen 150 im kirchlichen Rahmen agierten. Von ihrer Them atik her seien es 35 Friedenskreise, 39 Ökologiegruppen, 23 gemischte Friedens- und U mweltgruppen, sieben Frauengruppen, drei Ärztekreise, zehn Menschenrechts gruppen, drei 2./3.-Welt-Gruppen 296 und außerdem einige Regionalgruppen von Wehrdienstverw eigerern. A us Sicht 291 Information Nr. 150/89 vom 23.05.1989 „ über beachtenswerte Aspekte des aktuellen Wirksamwerdens innerer feindlicher oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen“; BStU, ZA, DSt 103600. Ausführlich referiert wird diese Übersicht bei Eckert: Die revolutionäre Krise (1995), S. 688–694. – Neben diesem summarischen Ü berblick w urde eine detaillierte Ü bersicht erstellt, in der für alle B ezirke Bürgerrechtsgruppen und ihre „ Organisatoren“ bzw. „ Inspiratoren“ und die „ aktiven Mitglieder“ aufgelistet wurden: Auskünfte zu Personenzusammenschlüssen, (o. D.); BStU, ZA, DSt 103600, 307 S. 292 Schreiben M ielkes a n d ie L eiter d er D iensteinheiten vom 23.5.1989; BStU, ZA, DSt 103600. 293 Information Nr. 150/89, S. 2. 294 Ebenda. 295 Zu bedenken ist, daß hier der Stand vom Frühjahr 1989 berichtet wurde. In den folgenden Monaten hatten diese Gruppen enormen Zulauf. 296 Als „2./3.-Welt-Gruppen“ bezeichneten sich in der DDR die „Dritte-Welt-Gruppen“.

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des MfS besonders wichtig waren die G ruppierungen „mit spezifisch koordinierenden Funktionen und Aufgabenstellungen“ wie der „Arbeitskreis Solidarische Kirche“, der besonders in Thüringen aktiv w ar, mit zwölf Regionalgruppen, die „ Kirche von U nten“ in vier Regionalgruppen (die den Anstoß zur Kontrolle der Kom munalwahlen gegeben hatte) und die „ Initiative Frieden und Menschenrechte“ . 297 Das „ Gesamtpotential“ dieser Gruppen wurde auf etwa 2.500 Personen geschätzt, w obei dazu alle, die regelmäßig an einschlägigen Veranstaltungen oder Aktionen teilnahmen, gezählt wurden. 298 Etw a 600 Personen w urden den „ Führungsgremien“ zugerechnet, 60 bildeten den „harten Kern“. 299 Der Übersicht angefügt waren Vorschläge zum weiteren Vorgehen gegen die Gruppen. Bei einer D ienstberatung der Linie X X im Juni 1989 wurden sie von Mielkes Stellvertreter, Generaloberst Rudi Mittig, erläutert. Insgesamt handelte es sich um vier Maßnahm estränge, gerichtet auf die „ Partner des operativen Zusam menwirkens“, die K irchen, den Einsatz inoffizieller Mitarbeiter und strafrechtliche Maßnahm en. Da es sich dabei um eine zusammenfassende D arstellung der Repressionstaktik gegenüber der wachsenden Opposition im Sommer 1989 handelt, sollen diese vier Maßnahm ebündel etwas ausführlicher referiert werden. Gefordert wurde eine enge K ooperation der D ienststellen des M fS m it der SED und den „ Partnern des operativen Zusam menwirkens“. 300 Zu diesen „Partnern“ gehörten der Staatsapparat, die Betriebsleitungen, die Gewerkschaften, die Blockparteien – hingew iesen w urde vor allem auf die CD U wegen ihrer Verbindungen zur Kirche – und natürlich die Medien. Sie sollten teils direkt, teils verdeckt m it Inform ationen versehen und dazu gebracht werden, m äßigend auf Bürgerrechtler einzuwirken oder auch, sich an Einschüchterungs-, Isolierungs- und Zersetzungsm aßnahmen zu

297 Information Nr. 150/89, S. 3. 298 Von ehemaligen Bürgerrechtlern ist rüc kblickend postuliert worden, daß die tatsächlichen Zahlen sehr viel höher lagen. Auch wenn die genaueren Zahlen bisher nicht ermittelt werden konnten, ist dieser Einwand wahrscheinlich zutreffend, weil das M fS eine Reihe von Gruppierungen, die für die Vorbereitung von Bürgerrechtsaktivisten bzw. aktivistinnen auf die Ereignisse des Herbstes 1989 eine wichtige Rolle spielten, nicht der Opposition zugerechnet hat. Für die Stadt E rfurt zum Beispiel wurden im Mai 1989 vom MfS in den „Auskünfte(n) zu Personenzusammenschlüssen“ genannt: die „ Offene Arbeit“ der Evangelischen Kirche, die „ Offene Arbeit der Stadt Erfurt“ (OASE) und der „Christliche Arbeitskreis ‚Albert Schweitzer – Aktion für den Frieden‘“. Unerwähnt blieben dagegen die Arbeitsgruppe „ Stadt- und Wohnumwelt“, der „Homosexuelle Arbeitskreis“, die Arbeitsgruppe „Gewaltfrei leben“, die Gruppe „ Gesellschaftliche Verantwortung“ und vier Frauengruppen. Vgl. Dornheim: Politischer Umbruch in Erfurt (1995), S. 26–29. 299 Information Nr. 150/89, S. 4. 300 Referat von Generaloberst Mittig auf der Dienstbesprechung mit den Stellvertretern Operativ und den Leitern Abt. XX der BV am 20.6.1989: „ Zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung der politischen Untergrundtätigkeit, Lage/Aufgaben in Durchsetzung Kirchenpolitik“; BStU, ZA, ZAIG 4883, Bl. 1–40, hier 26.

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beteiligen. 301 Weiter war damit die Störung oppositioneller Veranstaltungen gemeint. Was man sich darunter vorzustellen hat, erhellt ein Beispiel, das der Leiter der Stasi-Bezirksverw altung K arl-Marx-Stadt, G eneralleutnant Gehlert, der als besonders ungehobelt bekannt w ar, auf einer Dienstbesprechung zum besten gab. Er berichtete über eine Lesung „ des berüchtigten ehemaligen Rechtsanwalts Henrich aus seinem Buch ‚Vormundschaftlicher Staat‘“, die am gleichen Abend in Zwickau geplant war: „Es ist ab gestimmt m it d er Partei. Do rt ist eine ganze Reihe Rechtsanwälte unseres Rechtsanwaltskollegiums aus dem R aum Zwi ckau hi ndelegiert und gesellschaftliche Kräfte, d ie dort gewissermaßen diese Banditen, wie man so schön sagt, in die Furche ducken werden. [...] Wir hatten Erscheinungen, daß i n Zwickau – dort gibt es ei nen sogenannten Lutherkeller, der faßt immerhin ca. 300 Menschen – ein Liedermacher aufgetreten ist aus Berlin. Durch Trampeln und Pfeifen der gesellschaftlichen Kräfte mußte er sein Programm, was er für 2 Stunden geplant hatte, nach 10 M inuten abbrechen, weil niemand mehr zugehört hatte. Und so in etwa stellen wir uns auch vor die heute stattfindende Buchlesung. Es werden dort ca. 1.000 Personen erwartet.“ 302

Neben solchen Pöbeleien ging es um ideologische Einflußnahme auf einzelne Personen, aber auch um Schikanen an der A rbeitsstelle oder im Studium oder die Schaffung von Problem en bei alltäglichen Behördenangelegenheiten, wie zum Beispiel der Wohnungssuche oder bei der Erteilung einer G ewerbegenehmigung. 303 Zweitens sollte auf die evangelischen Kirchen, vor allem auf die Kirchenleitungen, D ruck ausgeübt w erden. D ie Staatssicherheit hoffte, sie würden diesen D ruck an die Basisgruppen w eitergeben. Mit dem bisherigen „ Erfolg“ bei der Disziplinierung der Kirchen war Generaloberst Mittig nicht zufrieden. Er erklärte, „trotz vielfältiger Einflußnahme der Partei sowie umfassender politisch-operativer Maßnahmen des M fS [setzte sich] die Politisierung des Konziliaren Prozesses in der DDR fort“ . 304 Letztere Bemerkung bezog sich auf die 3. Ökumenische V ersammlung in Dresden im April 1989, die Mittig mit den Worten kommentierte: „Dieser Bodengewinn 301 Tatsächlich rief der stellvertretende CDU- Vorsitzende Wolfgang Heyl nach einer Präsidiumssitzung seiner Partei Anfang September die Kirchengemeinden der DDR dazu auf, sich gegen den „ Mißbrauch“ durch Gruppen zu wehren, „die sich abgehoben von der Gemeindebasis politischen Problemen zuwenden“. Zitiert nach J. P. Winters: CDU in der DDR: Mißbrauch der Kirchen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 7.9.1989. 302 Zitat aus „ Dienstbesprechung des Genossen Ministers am 31. August 1989“; BStU, ZA, ZAIG 8679, Bl. 2–80, hier 34 f. 303 Vgl. dazu beispielhaft die Schilderung von Michael Beleites: Untergrund (1991). 304 Referat von Mittig vom 20. 6.1989, Bl. 17. Es handelt sich dabei um eine Formulierung, die aus der „Politisch-operativen Ersteinschätzung und Wertung“ der HA XX der 3. Vollversammlung übernommen wurde; dokumentiert in dem Anhang zu Ziemer: Der konziliare Prozeß (1995), S. 1625–1629.

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reaktionärer kirchlicher Kräfte führte zu einer neuen Qualität im Vorgehen gegenüber dem Staat.“ 305 Tatsächlich w ar diese V ersammlung ein w ichtiger Meilenstein auf dem Weg der Kirchen in der D DR und m ehr als das: Sie hatte „ die Funktion einer geistigen V orbereitung der Wende“. 306 D as vom Stadtökum enekreis Dresden im Jahr 1986 initiierte Vorhaben hatte einen Diskussionsprozeß zur Lage im Land ausgelöst, dessen Teilnehmerkreis weit über die oppositionellen Zirkel hinausging, wobei sich die Bürgerrechtler – etw a die „Kirche von Unten“ – selbstverständlich in diesen Prozeß engagiert eingebracht h atten. 307 Im Vorfeld waren aus den Gemeinden mehr als 10.000 Vorschläge und Anregungen eingetroffen. 308 Unter den 150 Delegierten aus 19 Kirchen und konfessionellen Gemeinschaften, die im April 1989 in D resden zusammenkamen, waren etliche, die im revolutionären Herbst eine wichtige Rolle spielen sollten. Beispielhaft genannt seien Hans-Jürgen Fischbeck, Heiko Lietz, Markus Meckel, Friedrich Schorlem mer und Sebastian Pflugbeil. 309 Sie diskutierten über Positionen, die einige Monate später in den Appellen der verschiedenen Bürgerrechtsorganisationen und den G ründungsaufrufen der neuen Parteien wiederkehrten. 310 In den Thesenpapieren, die schließlich von der Versammlung verabschiedet wurden, kritisierten die Delegierten der verschiedenen Religionsgem einschaften „ geheime Ü berwachung und noch immer ungenügenden D atenschutz“ 311, „ Bürokratismus, Zentralism us, unzureichende Kontrolle der Macht, U ndurchschaubarkeit vieler Entscheidungen und Institutionen“ 312. Sie stellten politische Forderungen auf, darunter – eine Woche vor den K ommunalwahlen besonders brisant – nach geheim en Wahlen zwischen m ehreren Kandidaten. 313 Das Staatssekretariat für Kirchenfragen hatte eine solche Politisierung noch im letzten Mom ent zu verhindern versucht. Staatssekretär Löffler persönlich war nach Dresden geeilt, um „ staatsfeindliche Ä ußerungen“ zu beklagen und auf den sächsischen Landesbischof Hempel einzuwirken. Als der Bischof darüber vor der V ersammlung berichtete, beschränkte sich ihr Präsident, der Dresdner Super305 Referat von Mittig vom 20. 6.1989, Bl. 17. Auch diese Einschätzung übernahm Mittig inhaltlich aus der „Ersteinschätzung“ der HA XX, in der von einer „neuen Qualität kirchlicher Vorgehensweise“ und einer „neuen Etappe“ die Rede war. 306 Ziemer: Der konziliare Prozeß (1995), S. 1443. 307 Vgl. ebenda, S. 1438; Rüddenklau: Störenfried (1992), S. 277. 308 Vgl. Gestaltgewordene Hoffnung. Die Arbeit der Ökumenischen Versammlung ist beendet, in: Kirche im Sozialismus 15 (1989) 3, S. 85 f.; Garstecki: Ökumenische Versammlung in der DDR (1989). 309 Ziemer: Der konziliare Prozeß (1995), S. 1444. 310 Vgl. ebenda, u. siehe S. 198 ff. 311 Zitiert aus dem wichtigsten Dokument, das von der Versammlung verabschiedet wurde: „Mehr Gerechtigkeit in der DDR – unsere Aufgabe, unsere Erwartungen“, in: Rein (Hrsg.): Die Opposition (1989), S. 205–213, hier 209. 312 Zitiert nach epd: Zahlreiche Reformvorschläge. Ergebnisse der Ökumenischen Versammlung, in: Kirche im Sozialismus 15 (1989) 3, S. 86 f.; vgl. auch „Umgestaltung des Sozialismus“ gefordert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 2.5.1989. 313 „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“, S. 133.

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intendent Christof Ziemer, auf einen kurzen Kom mentar: „ In christlicher Gelassenheit nehmen wir diese Information zur K enntnis.“ Dann ging m an zur Tagesordnung über. 314 Das M fS hatte m it einem enorm en A ufwand versucht, die 3. Ökumenische Versammlung zu kontrollieren. Eine „ operative Einsatzgruppe“ unter Oberst Wiegand, dem Leiter der H auptabteilung XX/4, zuständig für die Bearbeitung der Kirchen, war mit 27 hauptam tlichen Mitarbeitern vor Ort präsent. Sie wurde durch 33 inoffizielle Mitarbeiter unterstützt. A cht PKW, vier Telefonanschlüsse und ein abhörsi cherer „ WTsch-Anschluß“, Funker, Schreibkräfte und ein K urier standen der G ruppe zur Verfügung. Täglich mußte nach Berlin an G eneralleutnant Kienberg, den Leiter der H auptabteilung XX, schriftlich berichtet werden. 315 Als „Zielstellung“ war in der „Einsatzkonzeption“ vorgegeben worden: „Zielstellung der Steuerung der zum Einsatz kommenden IM ist es vor allem, keine wei teren B elastungen des Verhä ltnisses von Staat und Ki rche i n der DDR zuzul assen und fei ndlich-negativen Akt ivitäten i m Vorfel d der Kom munalwahlen sowie unter M ißbrauch des Abschl ußdokumentes des W iener Treffens entgegenzutreten und zu beschränken sowie eine Unterstützung der friedens- und abrüstungspolitischen Aktiv itäten der sozialistischen Staaten durch politisch-realistische Stellungnahmen zu erwirken. In diesem Zusam menhang kommt es insbesondere darauf an, [...] keine Formierung einer öffentlichkeitswirksamen Plattform sogenannter Basisgruppen zuzulassen. [...] Die zu erwartenden Angriffe gegen die sozialistische Außen- und Innenpolitik sind durch den Einsatz geeigneter operativer Kräfte zurückzudrängen.“ 316

Das Ergebnis all dieser Bemühungen war kläglich, soweit sie über Informationsbeschaffung hinausgingen und auf aktive Einflußnahm e zielten. Die Verabschiedung keines der Thesenpapiere wurde verhindert, auch nicht des bereits zitierten, wichtigsten Papier s: „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“ . Dessen Ablehnung zu erreichen, w aren besondere A nstrengungen unternommen w orden. 317 D er einzige konkrete Erfolg, der in dem Abschlußbericht der Hauptabteilung XX/4 genannt wird, war, daß „ beabsichtigte Aushänge für die bevorstehenden Kom munalwahlen beseitigt“ wurden. 318 Das hätte auch der Hausmeister erledigen können. Obwohl oder gerade w eil sich die K irchen immer weniger einschüchtern ließen, gab Generaloberst Mittig in seiner Rede vor den Verantwortlichen 314 Karl-Heinz Baum: Staatlicher Druck und christliche Gelassenheit, in: Frankfurter Rundschau 2.5.1989. 315 Vgl. die „Einsatzkonzeption“ der HA XX/4 vom 13.4.1989, dokumentiert in Ziemer: Der konziliare Prozeß (1995), S. 1616–1625. 316 „Einsatzkonzeption“, S. 1619 f. 317 Vgl. Ziemer: Der konziliare Prozeß (1995), S. 1501 f. 318 „Politisch-operative Ersteinschätzung und Wertung“, S. 1629.

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der Linie X X die Weisung, auch w eiterhin zu versuchen, durch offizielle Kanäle und durch inoffizielle Mitarbeiter, vor allem durch „ die Besetzung kirchlicher Schlüsselpositionen mit IM“, Einfluß zu nehmen. 319 Der dritte Maßnahm enstrang betraf den verstärkten Einsatz ebensolcher inoffizieller Mitarbeiter. Auch in dieser Beziehung gab es Problem e. D ie Bürgerrechtler waren näm lich, wie Mittig feststellte, zunehm end damit erfolgreich, „Quellen unseres O rgans zu enttarnen“. 320 Erleichtert wurde das dadurch, daß die IM – wie Mittig bekräftigte – gehalten waren, sich m öglichst nicht „ an feindlich-negativen Handlungen zu beteiligen“ . 321 Das war eine schon ältere Regelung. In der M fS-Richtlinie zur Bearbeitung Operativer Vorgänge vom Januar 1976 wird bei der Erläuterung der „Grundfragen“ des Einsatzes von IM festgelegt: „Die IM dürfen ni cht provozi eren bzw. ni cht zu St raftaten anregen. Di e scheinbare B eteiligung an St raftaten verdächtiger Personen darf nur sowei t erfolgen, wi e es zur R ealisierung der Ziele der Bearbeitung unumgänglich ist. Sie bedarf einer gründlichen Prüfung und der Bestätigung des Leiters der Diensteinheit.“ 322

Diese Vorschrift war in Kraft geblie ben. Ein Mitarbeiter der H auptabteilung XX/2, zu dessen Tätigkeit die „ operative Bearbeitung“ der Ostberliner „Initiative Frieden und Menschenrechte“ gehörte, einer der wichtigsten Bürgerrechtsgruppen, hat seine Erfahrungen und H andlungsmaximen im Jahre 1988 in einer Diplomarbeit an der H ochschule des M fS festgehalten. 323 Er erörterte die Frage, w ie sich inoffizielle Mitarbeiter „bei der Durchführung subversiver A ktivitäten feindlich-nega tiver Personenzusam menschlüsse in 319 Eine besonders wichtige Rolle war in diesem Zusammenhang dem Rostocker Rechtsanwalt und evangelischen Synodalen, Wolfgang Schnur, zugedacht; vgl. die „ Einsatz- und Entwicklungskonzeption“ der BVfS Rostock, Abt. XX/4 vom 5.8.1987 für den IMB „Torsten“, die in den folgenden zwei Jahren jeweils bestätigt worden ist. Der Einsatz von Schnur wurde von der Rostocker Bezirksverwaltung und von Oberst Wiegand, dem Leiter der HA XX/4, gemeinsam geplant. BS tU, ASt Rostock, AIM 3275/90, Bd. I/I, Bl. 230–237. 320 Referat von Mittig vom 20.6.1989, Bl. 31. 321 Ebenda. – Außer dem anschließend erläuterten Beispiel der IMB „Karin Lenz“ wäre auch auf analoge Anweisungen für IMB „Dr. Schirmer“ zu verweisen (Treffbericht vom 7.10.1989; AIM 3275/90, Bd. II/I4, Bl. 212). In Neubrandenburg wurden zwei in einen Friedenkreis eingeschleuste IM mit dem „ Hineintragen religiöser Themen“ beauftragt und angehalten, „ auf die Durchführung den religiösen Rahmen nicht überschreitender Veranstaltungen“ Einfluß zu nehmen. Zitiert nach Saß u. Suchodeletz (Hrsg.): „feindlichnegativ“ (1990), S. 53. 322 Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbe itung Operativer Vorgänge (OV) vom 1.1.1976; BStU, DSt; Nachdruck in Gill u. Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit (1991), S. 346–402, hier 384. 323 Thomas Rieger: „Erfahrungen bei der Beeinflussung feindlich-negativer Personenzusammenschlüsse sowie von Einzelpersonen, die im Sinne politischer Untergrundtätigkeit wirksam werden, mittels geeigneter, qualifizierter IM“ vom 1. 4.1988; BStU, ZA, JHS 21168.

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der Form öffentlichkeitswirksam er Akti onen“ zu verhalten hätten. In der Vorbereitungsphase m üsse der IM versuchen, die Aktion „zu verhindern“. Bei der Durchführung solle der IM „beruhigend auf die feindlich-negativen Kräfte einwirken, so daß zum Beispiel beim Einschreiten der Sicherheitsorgane keine K onfrontationen entstehen, die zu H andgreiflichkeiten ausarten könnten“. In der Phase der N achbereitung schließlich soll er „ beruhigend, abschwächend auf die Organisierung von Reaktionen auf staatliche Maßnahmen einwirken“. Generell brauche der inoffizielle Mitarbeiter „Verhaltenslinien, die letztendlich zu einer vorbeugenden V erhinderung feindlich-negativer Aktivitäten führen“. „Ein auf alle drei Phasen zutreffender, besonders zu beachtender Aspekt ist, daß keinesfalls der IM als Initiator der Aktivitäten auftreten darf.“ 324 Zurückhaltung w ar gerade in einer Situation wachsender Risikobereitschaft auf seiten der Opposition auffällig. Trotzdem sollte künftig, erklärte der G eneraloberst, „bei der unerläßlichen Einbeziehung von IM in Straftaten“ die Linie IX, die Untersuchungsabteilung, die für strafrechtliche Fragen zuständig war, konsultiert werden. Selbstverständlich m ußte ein so bürokratisches V erfahren die A ktionsmöglichkeiten der IM in den Bürgerrechtsgruppen beträchtlich erschweren. Das sei an einem Beispiel verdeutlicht. Die inoffizielle Mitarbeiterin zur Bearbeitung des Feindes, die höchste IM-K ategorie, die IMB „Karin Lenz“, war auf den Kreis um Bärbel Bohley und Katja Havemann und die eben erwähnte „ Initiative Frieden und Menschenrechte“ angesetzt. Sie schrieb im Frühjahr 1989 für ihren Führungsoffizier ein Papier, in dem sie sich bitter beklagte: „Unsere Anweisungen haben meist den gleichen Inhalt dahingehend – Nichts richtig ‚Böses‘ tun, auch ni cht veranlassen, eben vor allem Dabeisein. – Verschleppen, Infragest ellen von Aktionen, di e von den Anderen vorgeschlagen werden [...] – Zerreden [...] von Papieren [...] – Zu bestim mten, von der IFM festgele gten Aktionen [...] nicht bzw. nur spärlich vereinzelt zu erscheinen.“ 325

Die Schlußfolgerung von IMB „ Karin Lenz“ w ar, daß dadurch die Gefahr der Enttarnung enorm wachsen würde – sie selbst flog wenig später tatsächlich auf 326 – und ihre Einflußm öglichkeiten sehr gering gehalten würden. Solche Beschränkungen haben die IM freilich nicht daran gehindert, etwa 324 Ebenda, S. 25 f. u. 41. 325 Abdruck in: Kukutz u. Havemann: Geschützte Quelle. Gespräche mit Monika H. alias Karin Lenz (1990), S. 18. 326 Ebenda, S. 6 u. 169.

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im Rahmen von Zersetzungsm aßnahmen die Arbeit zu behindern, Gerüchte zu streuen, zur Spaltung von G ruppen beizutragen, und natürlich auch nicht daran, Informationen weiterzugeben. 327 Das Beispiel der vergeblichen Bemühungen der IMB „ Karin Lenz“, ihre Tätigkeit zu effektivieren, gibt im Zusam menhang m it der Ä ußerung von Mittig zu der Genehmigungspflicht von „Straftaten“ durch IM einen wichtigen Einblick in die A rbeitsmethoden des M fS. Zumindest in den achtziger Jahren sollte nicht mit agents provocateurs gearbeitet werden. So heißt es in einem Arbeitspapier der Hauptabteilung XX zur geheim polizeilichen Bearbeitung der wichtigsten Oppositionsgruppen in Ostberlin: „Insbesondere ist zu gewährleisten, daß die IM nicht zu Organisatoren bedeutsamer ö ffentlichkeitswirksamer A ktivitäten w erden o der innerhalb negativfeindlicher Zusam menschlüsse eine stabilisierende inhaltliche W irkung ausüben.“ 328

Der unmittelbare Grund für solche Zurückhaltung ist klar: Das M fS sollte Aktionen, zu deren Bekäm pfung es eingesetzt wurde, nicht selbst initiieren und dadurch den Widerstand stärken, statt ihn zu schwächen. 329 Die tiefere Ursache dürfte in der Struktur des politischen Sy stems liegen: Das MfS hätte andernfalls seine Kompetenzen als untergeordneter Teil der Parteidiktatur überschritten, waren doch agents provocateurs „die altbewährte und einzig wirksame Methode“ , m it der Geheimpolizeien „ihre Unabhängigkeit von anderen Regierungsinstanzen zu wahren“ wußten. 330 In Verbindung dam it, daß die Konspiration auch gegenüber der Partei galt, 331 hätte das MfS mit so konditionierten Mitarbeitern, ob hauptam tlicher oder inoffizieller Art, seine eigene Politik m achen, die innenpolitische Lage je nach eigenem Bedarf verschärfen können. Solche H andlungsspielräume aber hätten seiner instrumentellen Funktion als „Schild und Schwert“ der SED widersprochen. Der letzte von Mittig skizzierte Maßnahm estrang betraf die direkte Repression. Was er diesem Zusammenhang vorzuschlagen hatte, klang wenig 327 Vgl. die Schilderung von „ Karin Lenz“; ebe nda, S. 163. – Beispiele für solche Zersetzungsmaßnahmen finden sich in vielen Akten von Betroffenen, die in Operativen Vorgängen (OV) bearbeitet worden sind. Ein instruktives Beispiel, der Operativplan zum OV „Krake“, im Juli 1989 erarbeitet von der Ab teilung XX/4 des BVfS Leipzig, ist dokumentiert in: Bürgerkomitee Leipzig (Hrsg.): STASI intern (1991), S. 209–211. 328 HA XX: „ Vorschlag zur weiteren Qualifizierung der einheitlichen, abgestimmten offensiven politisch-operativen Bearbeitung von zentral bedeutsamen Inspiratoren und Organisatoren politischer Untergrundtätigkeit“, o. D.; BStU, ZA, HA XX 773, Bl. 1–8, hier 5. 329 Die zaristische Ochrana hatte sich dieser Methode bekanntlich in einem Ausmaß bedient, das zeigt, zu welchen Absurditäten sie führen kann. Schließlich fiel sogar der Innenminister, Watscheslaw von Plehwe, einem Geheimagenten, Jewno Asew, zum Opfer. Vgl. Gordiewsky u. Andrew: KGB (1990), S. 48–52; Piekalkiewicz: Weltgeschichte der Spionage (1993), S. 246 f. 330 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1975), S. 191. 331 Vgl. Süß: „Schild und Schwert“ (1995), S. 93 f.

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wirkungsvoll. Er klagte über das Verhalten der Bürgerrechtler: „Die Aktualität und Dringlichkeit dieser genannten Aufgaben [...] zeigt sich in der dem onstrativen Ignorierung von Belehrungen und erteilten Auflagen, in einem provozi erenden Auft reten und der organi sierten und ri goroseren Anwendung von Methoden des gewaltfreien Widerstandes gegen polizeiliche Maßnahmen, wie Sitzblockaden, Bildung von Menschenketten u.a.m.“ 332

Neben dem Einsatz der „ Volkspolizei“ bei D emonstrationen em pfahl der stellvertretende Minister für Staatssicherheit die V erhängung von Geldstrafen wegen Ordnungswidrigkeit. 333 Der bisherige Effekt dieser Methode war freilich eher gering, obwohl Ordnungsstrafen gelegentlich eine für DDRVerhältnisse beträchtliche Höhe von mehreren Tausend Mark erreichten. „Zur Zeit setzen sie [die Bürgerrechtler] darauf, durch hartnäckige Mißachtung von Auflagen und provokat orische W iederholung Ordnungsst rafmaßnahmen zu i gnorieren und deren W irkungslosigkeit zu demonstrieren; mehr noch, sie versuchen, ei ne Eskalation von Ordnungsstrafen und ihrer Verweigerung anzuheizen. Wir m üssen al so sehr di fferenziert unt er anderem auch durch härtere Sanktionen (zum Beispiel Strafbefehl mit empfindlichen Geldstrafen) reagi eren, aber di es ni cht bl indlings tun, sondern ihre Realisierbarkeit und Wirkungen genau vorausberechnen.“ 334

Weitergehende, strafrechtliche Maßnahm en sollten offenbar nur in besonderen A usnahmefällen ergriffen w erden. Entscheidungen darüber wurden streng zentralisiert: „Unabgestimmtes Vorgehen einzelner Diensteinheiten ohne Konsultation mit der Hauptabteilung X X, bei Fragen der R echtsanwendung mit der Hauptabteilung I X darf es nicht m ehr geben; die Gefahr politischer und operativer Fehlentscheidungen mit Wirkungen über das Territorium des Bezirkes hinaus ist zu groß.“ 335

Im Anschluß an das Referat zogen sich die MfS-Offiziere in Arbeitsgruppen 332 Mittig am 20.6.1989, Bl. 14. 333 In der „ Information“ vom Mai 1989 war vorgeschlagen worden, daß gegen Personen, „die in erheblichem Maße Strafrechts- und ordnungsrechtliche Normen verletzen, differenziert konsequent geeignete Sanktionen Anwendung finden“. Information 150/89, S. 17. – Nach dem Umbruch klagte ein Mitarbeiter der HA XX: „Die Einengung der Entscheidungsbefugnis des Ministeriums für Staat ssicherheit auf unserem Gebiet ging sogar so weit, daß selbst vorgesehene Ordnungsstrafen gegen politische Gegner der Parteiführung zur Bestätigung unterbreitet werden mußten .“ Dafür liegt mir bisher kein Beleg aus den Akten vor. „Hans“ (50), HA XX, in: Wilkening: Staat im Staate (1990), S. 59. 334 Mittig am 20.6.1989, Bl. 28. 335 Ebenda, Bl. 22.

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zurück. Mittig gab ihnen folgenden Auftrag m it auf den Weg: „Wir brauchen Antworten, wie wir die disziplinierende Wirkung [...] verstärken können, damit die Maßnahmen ernst genommen werden (Ordnungsstrafen z. B. werden durchgesetzt).“ 336 Es hatten sich, das wird daran deutlich, erhebliche Veränderungen im Vorgehen gegen den inneren Widerstand vollzogen. Besonders in den fünfziger Jahren w aren langjährige Zuchthausstrafen für im Grunde genommen harmlose Formen von Opposition nicht die Ausnahm e, sondern die Regel. 337 D ie Repression w urde in den folgenden Jahren weniger brutal, 338 aber noch 1978 wurde Rudolf Bahro 339 zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Selbst im Jahr 1984 w urde der Phy siker Rolf Schälike, der als Marxist die herrschenden Verhältnisse kritisiert hatte, vom Bezirksgericht Dresden wegen „Hetze gegen die staatliche Ordnung der DDR“ zu sieben Jahren Haft verurteilt. 340 Gegen Rolf Henrich, später ein Mitbegründer des „Neuen Forums“, wurde im Frühjahr 1989 nach der Veröffentlichung seines Buches „Der vorm undschaftliche Staat“ 341 bei Row ohlt in H amburg schon kein Strafverfahren mehr eingeleitet. Auf Vorschlag von K renz und m it Einverständnis von H onecker beschränkte sich die Staatsm acht darauf, ihm Berufsverbot als Rechtsanwalt zu erteilen. 342 336 Ebenda, Bl. 27. 337 Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht (1995). 338 Karl Wilhelm Fricke konstatierte zu Beginn der achtziger Jahre, daß sich „ die ‚probaten Mittel‘ des Polizei- und Justizterrors als immer weniger tauglich erwiesen haben“. Fricke: Die DDR-Staatssicherheit (1982), S. 12. – Ludwig Rehlinger, der als Staatssekretär im Bundesministerium für innerd eutsche Beziehungen auf seiten der Bundesrepublik für die Verhandlungen über den Freikauf von Gefangenen zuständig war, schreibt, „daß der Kreis der politischen Häftlinge in der DDR 1983 sich fast nur noch aus Deutschen zusammensetzte, die wegen versuchter Republikflucht und damit im Zusammenhang stehenden Delikten verurteilt worden waren. Das Bild des politischen Häftlings hatte sich also – verglichen mit der Zeit um 1963 – grundlegend gewandelt. “ Rehlinger: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963–1989 (1993), S. 105. Vgl. auch Mitter u. Wolle: Untergang (1993), S. 384. 339 Bahro war im August 1977 wegen der Veröffentlichung seines Buches „ Die Alternative“ verhaftet worden, wurde im Juni 1978 vom Stadtgericht Berlin verurteilt und im Oktober 1979 nach fünfzehn Monaten Haft in Bautzen amnestiert. Vgl. Weber: Geschichte der DDR (1985), S. 446 f. 340 Schälike, der einen Ausreiseantrag gestellt hatte, wurde im Februar 1985 nach vierzig Tagen Hungerstreik, in den er aus Protest gegen das Urteil getreten war, in die Bundesrepublik entlassen; vgl. Die DDR entledigt sich eines Unbeugsamen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.2.1985; Wenn aus Lesen und Diskutieren staatsfeindliche Hetze wird, in: ebenda, 8.12.1984. 341 Rolf Henrich: Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus, Reinbek 1989. 342 Schreiben von Egon Krenz an Erich Hon ecker vom 28.3.1989; Erledigungsvermerk: „EH“; BA Berlin, DY 30/IV 2/2. 039/71, Bl. 47. Krenz hatte außerdem mitgeteilt, daß er Generaloberst Mittig um eine „ rechtliche Einschätzung“ gebeten habe. Am 3. 4.1989 lag eine solche Einschätzung vor, die zu dem Ergebnis kam, Henrich habe die Straftatbestände „staatsfeindliche Hetze“ (§ 106 Abs. 1.2) bzw. „öffentliche Herabwürdigung“ (§ 220 Abs. 2) erfüllt; (o. A.:) „ Rechtliche Einschätzung zu der von Rolf Henrich verfaßten Schrift ‚Der vormundschaftliche Staat – vom Versagen des real existierenden Sozialismus‘“, 3.4.1989; gez. „ EH 10.4.1989“; BA Berlin, DY 30/IV 2/2.039/312, Bl. 114–123.

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Vor diesem geschichtlichen Hintergrund wird deutlich, daß der Maßnahmenkatalog, den Generaloberst Mittig im Sommer 1989 vorgelegt hat, vor allem eines dokum entiert: Dem M fS waren gegenüber Oppositionellen – anders als gegenüber den Ausreisewilligen 343 – aus politischen Gründen die Hände gebunden. Allerdings wurde – im Vorfeld der Auseinandersetzungen um den 40. Jahrestag, auf die gesondert einzugehen sein w ird – im Frühherbst noch einmal versucht, einen Kurs schärferer Repression zu fahren. So wurden in Leipzig im Anschluß an das Friedensgebet am 11. September insgesamt 89 Teilnehmer verhaftet. Es wurden Geldstrafen zwischen 1.000 und 5.000 Mark verhängt, und 19 Teilnehmer w urden zu m ehrmonatigen H aftstrafen verurteilt und bis Mitte Oktober in Haft gehalten. 344 Die Forderung nach ihrer Freilassung w urde zu einem wichtigen Thema bei späteren Montagsdemonstrationen. 345 Eine Entscheidung zu solchen Repressionsm aßnahmen konnte nicht auf regionaler Ebene getroffen werden, das hatte Mittig bei der Dienstkonferenz im Juni ausdrücklich erklärt. Ein Mitarbeiter der A uswertungs- und Kontrollgruppe der Hauptabteilung XX in Berlin notierte am 13. September bei einer Besprechung mit seinem Referatsleiter in sein A rbeitsbuch: „Leipzig: künftig strafr[echtliche] Maßn[ahm en]“. 346 D as ist ein Beleg dafür, daß es sich um einen regional beschränkten V ersuch handelte, in Leipzig, wo die Staatssicherheit w ohl m it Recht das größte Protestpotential vermutete, 347 durch eine Taktik selektiver Repression das A ufbegehren zu ersticken. Die-

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– Der vom Vorstand des Rechtsanwaltskolle giums Frankfurt (Oder) am 27.3.1989 verfügte Ausschluß Henrichs, faktisch ein Berufsverbot, wurde am 17.11.1989 aufgehoben; vgl. Berliner Zeitung 30.11.1989. Die strafrechtliche Verfolgung von besonders aktiven Ausreisewilligen, die gegen Bestimmungen des Strafgesetzbuches wie § 213 („ ungesetzlicher Grenzübertritt“) oder § 219 („ ungesetzliche Verbindungsaufnahme“), aber auch § 106 („staatsfeindliche Hetze“) verstoßen hatten, wurde bis 1989 fortgesetzt. Ihre Inhaftierung war in der Regel weniger spektakulär, und ihr „ Freikauf“ nach bis zu über einem Jahr Haft erfolgte gemäß einem eingespielten Verfahren. Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 385–416 u. 537; vgl. den Bericht über die Geschehnisse, den Landesbisc hof Hempel wenige Tage später vor der Eisenacher Synode gab, in Rein: Revolution (1989), S. 215–217 und (mit ungenauen Zahlenangaben) Chronik, in: Deutschland Archiv 22 (1989) 10, S. 1194; Bericht einer fünf Wochen lang inhaftierten Theologie-St udentin in: N eues Forum Leipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie (1989), S. 296–301. Im Leipziger „Demontagebuch“, in dem die Texte der Sprechchöre und der Transparente seit dem 25.9.1989 wiedergegeben sind, wird erstmals am 16.10.1989 der Ruf „ Freiheit für die Inhaftierten!“ verzeichnet; Leipziger Demontagebuch (1990), S. 60. Bei Fürbittegottesdiensten wurde diese Forderung schon sehr viel früher erhoben, ebenso auf Transparenten in den Fenstern der Nikolaikirche. BStU, ZA, HA XX AKG 803, Bl. 5. Generalleutnant Hummitzsch, Chef der BVfS Leipzig, hatte bei einer Dienstbesprechung mit Mielke am 31. 8.1989 erklärt, „die Frage der Macht“ stehe in seinem Bezirk nicht an, aber die Lage sei „ tatsächlich so, daß aus einer zufällig entstandenen Situation hier und da auch ein Funke genügt, um etwas in Bewegung zu bringen“. Protokoll der Dienstbesprechung mit den Leitern der BVfS am 31. 8.1989; BStU, ZA, ZAIG 4884, S. 36 (MfSPaginierung). Zu Leipzig siehe ausführlicher Kap. 4.1.

ser Versuch schlug völlig fehl. Die Zahl der Dem Montag zu Montag.

onstranten wuchs von

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Die subtileren Methoden, mit denen in den letzten Jahren die entstehende Opposition bekäm pft wurde, zeigten im mer weniger Wirkung. Die Menschen verloren ihre Angst. Um fangreiche Zersetzungspläne scheiterten schon daran, daß die Staatssicherheit oft diejenigen, die jetzt begannen, auf die Straße zu gehen, nicht kannte. H ärtere Maßnahm en w ie vorübergehende Festnahmen w urden zw ar noch ergriffen, um D emonstrationen zu verhindern. 348 Dort aber, w o Bew ußtwerdung und Mut-Schöpfen vor allem vor sich gingen, in den G ruppen, den G esprächskreisen und den K irchen, w ar das M fS zwar präsent, durfte aber nicht zuschlagen. So konnte es die Entwicklung nur registrieren, ohne sie zu verhindern. Zudem hat das M fS gewissermaßen den Wald vor lauter Bäum en nicht gesehen: Es kannte die Gruppen und den aktiven Kern der Opposition relativ genau und wußte auch, daß dieser Kreis nicht sehr groß w ar. Aber daß die Bürgerrechtler im Begriff standen, zu den Sprechern der G esellschaft gegen die D iktatur zu werden, die für einen zw ar kurzen, aber entscheidenden Zeitraum von den Bürgern auch angenommen wurden, hat es erst begriffen, als es zu spät war.

1.4 Korrosion des „Eisernen Vorhangs“ Zu Beginn des Jahres 1989 hatte H onecker die sich abzeichnende Isolation seines Regimes noch positiv beschrieben: Im Vergleich mit anderen sozialistischen Staaten sei „ die DDR eine ruhige Insel“ . 349 In einer PolitbüroSitzung Ende August aber meinte ein Redner: „Die DDR ist der Turm in der Schlacht.“ 350 Der Wechsel in den Metaphern zeigt, daß die SED -Führung sich als ein letztes H äuflein aufrechter G enossen betrachtete und die U rsachen für ihre wachsenden Probleme in gewohnter Manier nach außen, allein auf Veränderungen der U mwelt, projizierte. Während jedoch in den Jahrzehnten zuvor „ der Westen“ als die Q uelle allen Übels wahrgenommen worden war, machte sich nun das G efühl breit, an zwei Fronten kämpfen zu müssen. D as w ar nicht nur subjektive Perzeption einiger Politbürokraten, sondern entsprach einem grundlegenden Wandel der internationalen Rahmenbedingungen des Regim es. Eine Entw icklung, die aus Sicht des Alten 348 In Ostberlin wurden am 7.9.1989 etwa 80 Personen bei einer Protestaktion auf dem Alexanderplatz festgenommen. Sie wurden alle nach einigen Stunden wieder freigelassen; vgl. 80 Festgenommene in Ostberlin frei, in: Süddeutsche Zeitung 9.9.1989. 349 Aktennotiz über ein Gespräch von Honecker mit Juri Kaschlew, dem Leiter der sowj etischen Delegation auf dem Wiener KSZE-Folgetreffen, am 5.1.1989; BA Berlin, J IV 2/2A 3186, 10 S., hier S. 8. 350 Gerhard Müller, 1. Sekretär SED-BL Erfurt, zitiert nach Aufzeichnungen Hergers von der Sitzung des SED-Politbüros am 29. 8.1989, in: Stephan (Hrsg.): Vorwärts, S. 96–107, hier 104. Eine treffenderes Bild hat zur gleichen Zeit ein DDR-Forscher gewählt: Die SED-Führung „ steuert das Schiff DDR in einer immer stürmischer werdenden See, mißachtet dabei alte und neue Untiefen und hat zugleich das Studium der Seekarten durch lautes Tuten des Nebelhorns ersetzt.“ Kuppe: Defensive (1989), S. 837.

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Regimes als Einkreisung wirkte, war aus Sicht der meisten Bürger eine Öffnung. Die Möglichkeit, die D DR zu verlassen, w ar der Bereich, an dem das Ausmaß dieser Veränderungen zuerst und am deutlichsten offenbar wurde.

1.4.1 Reise, Ausreise, Flucht Als am 2. Mai 1989 in U ngarn begonnen w urde, an der G renze zu Ö sterreich die Sicherungsanlagen abzubauen, begann die finale K rise des SEDRegimes, das nun den Zugriff auf seine U ntertanen verlor. Flucht wurde eine A lternative auch für w eniger risikobereite, unzufriedene Bürger. D ie folgende Fluchtwelle hatte eine lange Vorgeschichte, die bis in die A nfänge der DDR zurückreicht, und ein kürzeres Vorspiel, das im Dezem ber 1988 begann. Auch nach dem Mauerbau w ar es jedes Jahr Tausenden geglückt, in den Westen zu kommen, zum größeren Teil auf legalem Weg in Form einer genehmigten „ Übersiedlung“ zum Zweck einer Fam ilienzusammenführung oder durch „ Freikauf“, zum geringeren Teil durch häufig lebensgefährliche Flucht. D ie Zahl der Ü bersiedlungsgenehmigungen w ar in diesen Jahren trotz der Entspannungspolitik und der KS ZE-Konferenz in Helsinki (1975) relativ konstant bei acht- bis zw ölftausend geblieben. 351 Das änderte sich 1984. Die DDR-Führung war wegen wachsender wirtschaftlicher Schwierigkeiten auf bundesdeutsche U nterstützung und goodwill angewiesen. Im Vorjahr w ar mit dem – durch Alexander Schalck-Golodkowski 352 und den bayerischen Ministerpräsidenten Strauß arrangierten – „Milliardenkredit“ eine V erbindung zw ischen der Situation an der G renze (A bbau der Selbstschußanlagen) und finanziellen Zugeständnissen hergestellt worden. 353 Ende des Jahres drängte die bundesdeutsche Seite in Verhandlungen mit der DDR darauf, die zehntausenden „Altfälle“ von Antragstellern auf Übersiedlung zu lösen, die unter desolaten Lebensum ständen zum Teil seit Jahren auf eine entsprechende G enehmigung w arteten. 354 D ie D DR-Führung 355 351 Vgl. die Übersicht bei Wendt: Die deutsch-deutschen Wanderungen (1991), S. 390. 352 Schalck war Staatssekretär im Ministerium für Außenwirtschaft und Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung und zugleich OibE (Offizier im besonderen Einsatz) des MfS. Vgl. Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 3 (1994), Textband, S. 437–475; Korte: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft (1998), S. 74–76. 353 Vgl. Korte: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft (1998), S. 161–185; Strauß: Die Erinnerungen (1989) , S. 524–528; Nitz: Länderspiel (1995), S. 26 f.; Seiffert u. Treutwein: Die Schalck-Papiere (1991) , S. 319–323 u. 380; Potthoff: Die „ Koalition der Vernunft“ (1995), S. 19–21, 145–157. 354 Vgl. Rehlinger: Freikauf (1993), S. 118–120. 355 Gegenüber Wolfgang Mischnik betonte Honecker , er selbst habe die Entscheidung dazu getroffen. Vgl. Protokoll des Gesprächs zwischen Honecker und Mischnik am 5.3.1984 in Ostberlin, angefertigt von dem persönlichen Referenten Mischniks, in: Potthoff: Koalition (1995), S. 242–247, hier 246. In dem DDR -Protokoll dieses Gesprächs (ebenda, S. 247–254) fehlt dieser Hinweis.

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ging darauf ein – w ohl auch w egen eines seinerzeit in A ussicht stehenden Besuchs von Honecker in der Bundesrepublik – und ließ 1984 knapp 35.000 Antragsteller ausreisen, fast fünfmal m ehr als im Jahr zuvor. 356 Wenn sie damit die Hoffnung verbunden haben sollte, zugleich die Unzufriedenen loszuwerden, 357 hatte sie sich geirrt. Die Zahl der Ausreiseanträge nahm sogar noch erheblich zu, 358 während die Zahl der G enehmigungen in den folgenden drei Jahren w ieder sank. 359 1988 kam es zu einem neuerlichen Schub an A usreiseanträgen und -genehm igungen: 30.761 Anträgen wurde stattgegeben. 360 Hinzu kamen 7.293 Menschen, die die D DR „ungesetzlich“ verließen. Über 90 Prozent kehrten von einer offiziell genehmigten Reise (m eist in „ dringenden Fam ilienangelegenheiten“) nicht zurück; etwa 9 Prozent flüchteten über die DDR-Grenze oder andere „sozialistische Staaten“. 361 Das Risiko auf diesem Weg w ar hoch: N ur jeder achte Fluchtversuch w ar 1988 erfolgreich. 362 O bwohl 1988 insgesam t über 38.000 Menschen die DDR verließen, wurde der Ausreisedruck nicht geringer. Die Zahl der A ntragsteller, deren A usreise – noch – nicht genehm igt worden war, stieg 1988 gegenüber dem V orjahr um 8 Prozent auf 113.521 Personen. 363 Das war ein nicht zu unterschätzendes Unruhepotential. Keine Entlastung hinsichtlich des Ausreisedrucks hat in jenen Jahren die Ausweitung der Reisem öglichkeiten in den Westen gebracht. Tatsächlich waren die Zuwachszahlen eindrucksvoll: Noch 1984 hatten insgesamt nur 61.000 DDR-Bürger unterhalb des Rentenalters in das Bundesgebiet (ohne Westberlin) fahren können. 1988 hatte sich diese Zahl auf 1,46 Millionen erhöht. 364 In erster Linie war das durch eine extensivere A uslegung des Begriffs „Dringende Familienangelegenheiten“ und durch das Akzeptieren im mer weitläufigerer Verwandtschaftsgrade als Antragsgrund m öglich geworden. Die erwünschte pazifizierende Wirkung ist wahrscheinlich aus zwei Gründen ausgeblieben. Erstens änderte eine höhere Quantität nichts an dem grund356 Die Zahl der Genehmigungen stieg von 7.729 (1983) auf 34.982 (1984); vgl. Wendt: Wanderungen (1991), S. 390. 357 Vgl. Ronge: Loyality (1990), S. 33. 358 Vgl. Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe (1995), S. 40 u. 46. 359 1985 wurden 18.752, 1986 19.982 und 1987 11.459 Genehmigungen erteilt und realisiert. 360 [ZAIG:] Information über die Lage und Entwicklungstendenzen der Übersiedlung von Bürgern der DDR nach der BRD und Westberlin, damit im Zusammenhang stehende Straftaten sowie des ungesetzlichen Verlassens der DDR in der Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1988, Februar 1989; BStU, ZA, ZAIG 5352, Bl. 13–31, hier 13. Die in diesem Dokument genannten Zahlen sind höher als die bei Wendt (Wanderung [1991] , S. 390) referierten, u. a. weil darin die Übersiedlungen nach „anderen nichtsozialistischen Staaten“ enthalten sind. 361 Ebenda, Bl. 24–26. 362 Das MfS registrierte 1988 645 Personen, die die Grenze erfolgreich überwunden hatten, und 4.224 Menschen, die dabei festgenommen worden sind. Vgl. ebenda, Bl. 25 f. u. 28. 363 Ebenda, Bl. 14. 364 Bender: Die „ Neue Ostpolitik“ und ihre Folgen (1995), S. 360. – Nach DDR-Angaben wurden 1988 insgesamt fast sieben Millionen R eisen von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik und nach West-Berlin unternommen; vgl. Neues Deutschland 4.1.1989.

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sätzlichen Problem, daß der Staat sich anm aßte, Genehmigungen für Reise und Ausreise zu verlangen und darüber hinter den K ulissen und nach für den Betroffenen nicht nachvollziehbaren Vorgaben zu entscheiden. Das einzige erkennbare Kriterium für eine positive Entscheidung wirkte zufällig und damit willkürlich: das Fortbestehen von Verwandtschaftsbeziehungen in den Westen. Zweitens kamen fast alle Westreisenden zurück und konnten nun aus eigener Anschauung über die in der offiziellen Propaganda verteufelte Bundesrepublik berichten und Vergleiche mit den Verhältnissen in der DDR anstellen. Die Reaktionen schilderte, w ahrscheinlich auf Basis von Informationen des M fS, die A bteilung Sicherheitsfragen beim ZK : „ Nicht w enige Bürger der DDR, die von Reisen in das nichtsozialistische Ausland zurückkehren, sind von den Lebensverhältnissen im Kapitalismus geblendet.“365 Um die krasseste Willkür bei der Erteilung von Reisegenehmigungen etwas einzudämmen und dem Verfahren eine Form zu geben, vor allem aber im Vorgriff auf das A bschlußdokument der KSZE-Folgekonferenz in Wien, wurde im Dezember 1988 eine neue Verordnung über Reisen ins Ausland veröffentlicht, die am 1.1.1989 in Kraft trat. 366 Erstmals wu rde d en DDRBürgern in dieser V erordnung ein „ Beschwerderecht“ gegen abschlägige Entscheidungen und bei erfolgloser Beschwerde – mit Wirkung ab 1.7.1989 – die Möglichkeit eingeräum t, den Bescheid einer „gerichtlichen Nachprüfung“ zu unterziehen (§§ 18, 19). D as waren bescheidene Anfänge eines Verwaltungsrechts 367, die allerdings kaum auf positive Resonanz stießen, denn jene Bürger, die dem Parteistaat kritisch gegenüberstanden, gingen davon aus, „es sei kaum zu erwarten, daß eine unparteiische Prüfung der Entscheidung durch gerichtliche Instanzen erfolge“ . 368 A ngesichts der Erfahrungen, die m an als D DR-Bürger m it der „ sozialistischen Gesetzlichkeit“ machen mußte, war diese Vermutung naheliegend. In den ersten beiden Monaten nach Inkrafttreten der neuen Regelung ging die Zahl der Reisen „in dringenden Familienangelegenheiten“ drastisch, um fast 20 Prozent, zurück. Der entscheidende G rund war, daß im Januar 1989 (nur für diesen Monat liegen Zahlen vor) die Volkspolizei in 67.323 Fällen 365 Abteilung Sicherheitsfragen beim ZK der SED: „ Informationen und Schlußfolgerungen zur Durchführung des Beschlusses des Politbüros vom 9. 11.1988 ‚Regelungen zu Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland‘“ vom 3.3.1989; BA Berlin, DY 30 IV C 2/12/52, Bl. 363–379, hier 364. – Aus den genannten Gr ünden halte ich die These von T. G. Ash, die schrittweise, kontrollierte Gewährung von Westreisen in den achtziger Jahren habe die Unzufriedenheit eher abgeschwächt als ve rstärkt, für unzutreffend. A sh: Im N amen Europas (1995), S. 289. 366 Verordnung über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland vom 30.11.1988; GBl. DDR 1988, I, Nr. 25, S. 271–274; Nachdruck bei Lochen u. Meyer-Seitz: Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger (1992), S. 591–594. 367 Vgl. Kittke u. Rieger: Zur (Wieder-)Einführ ung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit in der DDR (1989), S. 174–179. 368 Zitat aus einem Meinungsbild der ZAIG vom 27.1.1989: „ Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung auf die Verordnung über Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland vom 30. November 1988“; BStU, ZA, ZAIG 4246, Bl. 1–11, hier 3.

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bzw. zu fast 41 Prozent eine A nnahme der A nträge verw eigerte. D as w ar eine Steigerung auf m ehr als das D oppelte. 369 Ü ber 2.000 w eitere A ntragsteller wurden abschlägig beschieden. 370 Im gesamten ersten Quartal 1989 wurden etwa ein Drittel aller Anträge (158.924 von 555.978) gar nicht entgegengenommen und 6.062 Anträge abgelehnt. Dagegen legten 1.416 Bürger Beschw erde ein. 30 Prozent dieser Eingaben (430) m ußten – noch vor Inkr afttreten der „ gerichtlichen Nachprüfbarkeit“ von Verwaltungsentscheidungen – stattgegeben werden. 371 Die entscheidende Ursache war, daß die Staatssicherheit über keine offizialisierbaren G ründe für eine A blehnung verfügte. Sie konnte sich gegenüber der Volkspolizei, die die A blehnung nach außen hin zu verantworten hatte, zwar auf nicht näher erläuterte G ründe der „ nationalen Sicherheit“ berufen, ihre Mitarbeiter waren jedoch gehalten, sich dieses Mittels nur in Ausnahmefällen zu bedienen. 372 D ie Form alisierung der Entscheidungsprozesse war so weit zumindest schon vorangeschritten. Oppositionelle waren mit dieser Verordnung nicht zu gewinnen. Zugleich aber w urde die große G ruppe der m ehr oder w eniger angepaßten Bürger durch die Einschränkung der G enehmigungspraxis verärgert. Mielke, der seine Generalität im Dezem ber 1988 auf die neue Verordnung vorbereitet hatte, hatte bei dieser Gelegenheit zu ihren Zielen erklärt: „Andererseits aber werden i n der Praxi s eingetretene Ausuferungen – durch ungerechtfertigte Erweiterungen und nicht im mer einheitliche Anwendung der internen Festlegungen, insbesondere durch die Anerkennung aller möglichen erwei terten Verwandt schaftsverhältnisse und wei tergehenden Anl ässe, die in Wirklichkeit gar kei ne besonderen humanitären Gründe si nd – wi eder eingegrenzt. [...] Obwohl der größte Te il unserer Bürger den Erlaß der Verordnung begrüßen wi rd, müssen wi r i n R echnung stellen, daß ni cht wenige über den Erlaß der Verordnung enttäuscht sein bzw. in anderer Form eine ablehnende oder negative Position zu ihr beziehen werden.“ 373 369 Im Dezember 1988 waren 28.807 bzw. 25,3 % der Anträge nicht entgegengenommen worden. Alle Zahlen nach dem ursprünglichen Entwurf der Vorlage der Abteilung Sicherheit zu „ Informationen und Schlußfolgerungen...“ vom 28.2.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/307, Bl. 51–67, hier 53. – Insgesamt wurden im I. Quartal 1989 159.000 Anträge „nicht entgegengenommen“; vgl. Ausführungen Mielkes auf der zentralen Dienstbesprechung am 28.4.1989; BStU, ZA, ZAIG 8677, Bl. 1–215, hier 120 f. 370 Entwurf vom 28.2.1989; Bl. 53. Diese Zahl hatte im Dezember 1988 bei über 11.000 gelegen. 371 Schreiben von Innenminister Dickel an Egon Krenz vom 11. 7.1989 mit Anlage; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/307, Bl. 122–125. 372 Nach § 13 der Verordnung über Reisen vom 30.11.1988 konnten Reisegenehmigungen unter Ausschluß der Möglichkeit gerichtlicher Nachprüfung „ zum Schutz der nationalen Sicherheit oder der Landesverteidigung“ verweigert werden. Wie Mielke in der Rede vom 28.4.1989 betonte, war es, wenn „ nicht genügend offiziell beweiskräftiges Material vorl iegt“, nicht statthaft, „ automatisch eine Able hnung unter Bezugnahme auf § 13 Abs. 1“ vorzunehmen. Ausführungen Mielkes auf der zen tralen Dienstbesprechung am 28.4.1989, Bl. 130 f. 373 Ausführungen auf der zentralen Dienstbesprechung mit den Leitern der operativen

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Das erwies sich als richtig. Protest ri ef vor allem hervor, daß die Fam ilienfeiern angeheirateter V erwandter als A ntragsgrund entfielen und dam it gemeinsame Westreisen von Ehepaaren unm öglich gem acht werden sollten. Die Zentrale Auswertungs- und Inform ationsgruppe (ZAIG) des M fS schilderte im Januar 1989 die Reaktionen: „In wachsendem Maße treten vor al lem solche Personen m it Meinungsäußerungen zur R eiseverordnung in Erscheinung, die bereits ‚in dringenden Familienangelegenheiten‘ ausgereist waren, bei denen aber nach den gültigen Regelungen keine Voraussetzungen mehr zur Genehmigung von Privatreisen nach dem nichtsozialistischen Ausland bestehen. In zunehmend unsachlicher, z[um] T[eil] aggressiver Form , oft ver bunden m it gegenüber Angehöri gen der Deutschen Volkspolizei heftig vorgetragenen Vorwürfen der Engst irnigkeit und Herzlosigkeit, bri ngen di ese Pers onen i hre Ent täuschung und abl ehnende Haltung zu der erlassenen Rechtsvorschrift zum Ausdruck. Vielfach wird das auch mit der Forderung nach ent sprechenden Änderungen der Verordnung verbunden.“ 374

Die Volkspolizei, die unmittelbar m it den Bürgern zu tun hatte, deren Reiseanträge abgelehnt w urden, geriet unter Druck. Innenminister Dickel fertigte dazu einen Bericht für Egon K renz, in dem aus fast allen Bezirksverwaltungen der V olkspolizei über wachsende Unzufriedenheit berichtet wurde. Ein im mer w iederkehrendes A rgument w ar, daß durch das Abschlußdokument der Wiener K SZE-Konferenz doch „ Reiseerleichterungen“ angekündigt worden seien. N un aber seien die ohnehin schon bescheidenen Möglichkeiten weiter eingeengt w orden. 375 Krenz schickte diese „ Information“ an Wolfgang H erger, den Leiter der A bteilung Sicherheitsfragen, versehen mit dem Vermerk: „Streng vertraulich! Erbitte Rückgabe nach m einer Rückkehr aus dem Urlaub zusammen mit der besprochenen Information für Gen. Honecker“. 376 Die geforderte „Information“ war Ende des Monats fertig. D ie Abteilung Sicherheitsfragen machte darin den V orschlag, auch Festivitäten von „ Tanten, O nkeln, N ichten und N effen“ des Ehepartners, sogenannte schwägerschaftliche Beziehungen, als Antragsgrund gelten zu lassen. Außerdem sei grundsätzlich „zu sichern, daß die gleiche Zahl von Reisen in nichtsozialistische Staaten wie im Jahre 1988 erreicht w ird“. 377 Der von Mielke erhoff-

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Diensteinheiten des MfS Berlin und den Leitern der Bezirksverwaltungen (Manuskript), 13.12.1988; BStU, ZA, DSt 103534, S. 61 u. 64. ZAIG: Hinweise, 27.1.1989, Bl. 7. Schreiben von Dickel an Krenz vom 10. 2.1989, mit Anlage „ Information über Privatreisen nach § 7 Abs. 1 und 7 der Verordnung vom 30.11.1989“; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/307, Bl. 42–50. Ebenda, Bl. 42. Abteilung Sicherheitsfragen beim ZK der SED: „ Informationen und Schlußfolgerungen zur Durchführung des Beschlusses des Politbüros vom 9. 11.1988 ‚Regelungen zu Reisen

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te Effekt, daß „ Ausuferungen“ der G enehmigungspraxis eingedäm mt würden, hatte sich als Bum erang erwiesen. Das Regime zeigte sich lernfähig. Krenz übernahm in einer Mitteilung an Honecker vom 3. März, der er den zitierten Bericht beifügte, die Forderung der Abteilung Sicherheitsfragen, und der G eneralsekretär zeichnete noch am gleichen Tag m it „Einverstanden EH“ ab. 378 Die neue D urchführungsbestimmung wurde im Innenministerium ausgearbeitet und über K renz an H onecker weitergeleitet. In seinem Begleitschreiben wies Krenz darauf hin, daß sich dadurch die Zahl der Reisen „ um ca. 20.000 bis 30.000 pro Monat“, und zwar besonders die von Ehegatten, erhöhen w ürde. 379 H onecker gab auch dazu seine Zustim mung. In der Durchführungsbestimmung, die am 1. A pril 1989 in K raft trat, w urden den „Ehegatten der Antragsberechtigten“ gleiche Rechte wie ihren Ehepartnern eingeräum t. 380 Sie konnten wieder gem einsam zu Familienfesten fahren. Mielke aber, der nicht zuletzt das hatte vermeiden wollen, wies seine Mitarbeiter an, „zu sichern, daß bei der G enehmigung von Reisen von Ehepaaren strenge Maßstäbe angelegt werden“. 381 Es wurde damit zwischen der Abteilung Sicherheit im ZK und der M fS-Spitze eine politische Differenz sichtbar, wobei sich Herger, der Leiter dieser Abteilung, letztlich gegen Mielke durchsetzte – freilich nur, weil sich Krenz und dann auch Honecker seiner Position angeschlossen hatten. 382 Ein zweiter Aspekt der Reiseregelung, der nicht w eniger gravierend war, betraf die systemtreue Klientel in besonderem Maße: Auch weiterhin durfte nur reisen, wer V erwandte im Westen hatte bzw . w er solche V erwandtschaftsbeziehungen bisher nicht, etw a aus Karrieregründen, verschwiegen hatte. Die ZAIG berichtete: „Darüber hinaus wird aber auch von Personen aus den verschi edensten Bevölkerungskreisen, darunter vielen progressiven Kräften, die Meinung vertreten, mit dieser Regelung sei di e ‚Spal tung‘ der DDR -Bevölkerung i n zwei

378 379 380 381 382

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von Bürgern der DDR nach dem Ausland‘“ vom 3.3.1989; BA Berlin, DY 30 IV C 2/12/52, Bl. 363–379, hier 373. Der ursprüngliche, nur unwesentlich abweichende Entwurf ist am 28.2.1989 datiert. Hausmitteilung von Egon Krenz an E. Honecker vom 3. 3.1989; BA Berlin, DY 30 IV C 2/12/52, Bl. 362. Krenz hatte außerdem ange fragt, ob die „ Information“ allen PolitbüroMitgliedern zugeleitet werden sollte. Das wurde von Honecker ignoriert, also abgelehnt. Hausmitteilung von Egon Krenz an E. Honecker vom 13.3.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/307, Bl. 88–90. GBl. DDR I, Nr. 8 vom 28.3.1989, S. 119; Nachdruck in: Deutschland Archiv 22 (1989) 3, S. 354. Schreiben des Ministers für Staatssicher heit an die Leiter der Diensteinheiten vom 14.3.1989, VVS MfS-Nr. 25/89; BStU, ZA, AGM 125, Bl. 371–373. Tatsächlich wuchs die Zahl der genehmigten Privatreisen vom I. auf das II. Quartal 1989 insgesamt von 390.922 auf 438.111 bzw. um 12 %. In 23 % der Fälle (statt 41 % im I. Quartal) verweigerte die Volkspolizei die Annahme. Die Zahl der Genehmigungen für gemeinsame Reisen von Ehepartnern verdreifachte sich fast (von 18.038 auf 53.086); vgl. Anlage zu dem Schreiben von Innenministe r Dickel an Egon Krenz vom 11.7.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/307, Bl. 122–125.

‚Klassen‘ – mit bzw. ohne B eziehungen/Kontakte i n das ni chtsozialistische

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Ausland – wei ter vertieft worden. W ieder einmal seien Bürger, die über entsprechende Beziehungen i n das ni chtsozialistische Ausl and verfügen, pri vilegiert worden.“ 383

Die ZK-Abteilung Sicherheit übernahm in ihrer Einschätzung die Formulierung, es gebe „ Meinungsäußerungen dahingehend, daß dam it die Bevölkerung in zwei Klassen geteilt wird“. Sie fügte hinzu, als besonders ärgerlich werde empfunden, daß „der Teil ohne eine derartige Reisem öglichkeit für den anderen Teil die erforderlichen Valuta-Reisem ittel m it erwirtschaften muß“. Außerdem berichtete sie, „ daß viele Bürger in starkem Maße eine weitere Ausdehnung der Reisem öglichkeiten nach nichtsozialistischen Staaten erwarten“. 384 Wie dieser Erwartung nachzukommen sei, dafür hatte sie allerdings damals noch keinen Vorschlag parat. Mit der Reiseverordnung hatte die Partei- und Staatsführung niem anden zufriedengestellt, weder die Opposition noch die angepaßten Bürger, zugleich aber das Them a Reisefreiheit tr otz faktischer Erleichterungen in den Jahren zuvor neuerlich aktualisiert. Darüber hinaus hatte das Regime Erwartungen, die aufgrund praktischer Erfahrungen und wegen der Beschlüsse der KSZE-Konferenz gestiegen waren, frustriert. Dieser Mechanismus sollte im Jahr 1989 noch mehrfach greifen.

1.4.2 Aussetzung des Schießbefehls Wer keine Reise- oder A usreisegenehmigung erhielt und den direkten Weg über die Grenze suchte, lief Gefahr, erschossen zu werden. Als rechtliche Grundlage solcher Handlungen (die inzwischen in vielen Prozessen als Totschlag geahndet worden sind) betrachteten die an der G renze eingesetzten Angehörigen der „bewaffneten Organe“ in den achtziger Jahren das G renzgesetz der DDR, § 27 Absatz 2: „Die Anwendung der Schußwaffe ist gerechtfertigt, um die unm ittelbar bevorstehende Ausführung oder di e Fort setzung ei ner St raftat zu verhi ndern, die sich den Um ständen n ach als ein Verb rechen d arstellt. Sie ist au ch g erechtfertigt zur Ergreifung von Personen, di e ei nes Verbrechens dri ngend verdächtig sind.“ 385 383 ZAIG: Hinweise, 27.1.1989, Bl. 4. – Zu negativen Reaktionen auf die Reiseverordnung siehe auch Gisela Helwig: Nachbesserung, in : Deutschland Archiv 22 (1989) 4, S. 353–356; Barbara Donovan: New East German Travel Regulations, in: RFE/RL RAD Background Report/61 (German Democratic Republic), 6 April 1989. 384 Informationen der Abteilung Sicherheitsfragen vom 3.3.1989, Bl. 364 u. 366. 385 Gesetz über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik (Grenzgesetz) vom 25.3.1982; GBl. DDR I Nr. 11 vom 29.3.1982. Im offiziellen „ Handbuch für den Grenzdienst“ der NVA fand der ratsuchende Grenztruppenangehörige unter der Überschrift „Anwendung der Schußwaffe“ nur einen Satz: „ Die Anwendung der Schußwaffe hat in Übereinstimmung mit dem Grenzgesetz § 27 zu erfolgen. “ „Handbuch für den

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Noch im März 1989 war in der Politischen Verwaltung der Grenztruppen ein sogenanntes Grundsatzm aterial erar beitet worden m it dem Titel „Der Klassenauftrag und die Befugnisse der G renztruppen der D DR zum Schutz der Staatsgrenze“. Darin w urde „die A nwendung von Schußw affen als äußerste Maßnahm e“ unter anderem in folgenden Fällen als „gerechtfertigt“ bezeichnet: Der „ Straftäter [...] strebt den ungesetzlichen Grenzübertritt gemeinsam mit anderen an“ oder er „versucht, sich der Überprüfung und Festnahme durch Widerstand oder durch Flucht zu entziehen“. 386 Wachgehalten wurden solche norm ativen Regelungen durch die tägliche „Vergatterung“ der Grenzposten, sie hätten G renzverletzer „festzunehmen oder zu vernichten“. 387 Die Toten an der G renze w aren ein furchtbares Dementi der Rede vom „gemeinsamen europäischen H aus“ (G orbatschow). D em ohnehin im Schwinden begriffenen internationalen A nsehen der D DR w ar das G renzregime vor allem nach der K SZE-Konferenz in Wien m ehr als abträglich. Dennoch wurde noch am 5. Februar 1989 der zwanzigjährige Chris Gueffroy an der Sektorengrenze in Berlin-Treptow bei einem Fluchtversuch erschossen. Das hatte großes Aufsehen erregt. Darüber ist in der Spitze des Machtapparates gew iß diskutiert w orden, nicht in den zuständigen G remien, 388 wohl aber zw ischen H onecker und Krenz, und im Anschluß daran mit Streletz. Über das Ergebnis unterrichtete am 3. April 1989 Generaloberst Streletz als am tierender Minister für N ationale V erteidigung die Spitze der Grenztruppen: deren Chef, Generaloberst Baumgarten, den Chef der Politischen Verwaltung (und dam it den Verantwortlichen für das zuvor zitierte „Material“), Generalleutnant Lorenz, und den Stabschef, G eneralmajor Teichm ann. Streletz berichtete, er habe am Grenzdienst“, hrsg. vom Ministerium für Nationale Verteidigung, 6. Aufl. Berlin (Ost) 1987, S. 102. Für MfS-Angehörige ist in diesem Zusammenhang außerdem auf die „Schußwaffengebrauchsordnung“ zu verweisen; „ Ordnung über den Gebrauch von Schußwaffen für die Angehörigen des Ministeriums für St aatssicherheit – Schußwaffengebrauchsordnung –“ vom 5.2.1976; BStU, ASt Berlin, A 1189. 386 Politische Verwaltung der Grenztruppen der DDR: „ Der Klassenauftrag und die Befugnisse der Grenztruppen der DDR zum Schutz de r Staatsgrenze. Grundsatzmaterial für die politische Arbeit, die Aus- und Weiterbildung in den Grenztrupppen der DDR“, 1989; BStU, ZA, Neiber 26, Bl. 1–22, hier 11 f. Als „ Redaktionsschluß“ wurde der 31.3.1989 genannt. Die Umorientierung, von der im folgenden die Rede sein wird, erfolgte auf zentraler Ebene in Auseinandersetzung mit diesem „ Material“; vgl. HA VI: „Information zur Einweisung der Leiter der Organe des Zusammenwirkens durch die Kommandanten der Grenztruppen der DDR an den Grenzübergangsstellen zur BRD und im Bereich der BV Potsdam“ vom 15.4.1989; BStU, ZA, HA VI 1308, Bl. 62 f.; Fernschreiben des BVfS Karl-Marx-Stadt, Abt. VI an die HA VI des MfS vom 13.4.1989; ebenda, Bl. 43. 387 Zitiert nach Peter Joachim Lapp: Die Grenztruppen der DDR (1961–1989), in: Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR (1998), S. 225–252, hier 238 f.; vgl. dazu ausführlich Hirtschulz u. Lapp: Das Grenzregime der DDR (1996). 388 In den Unterlagen zu den Sitzungen des SED-Politbüros im Bundesarchiv findet sich kein einschlägiger Hinweis; der Nationale Verteidigungsrat tagte im gesamten ersten Halbjahr 1989 nur ein einziges Mal, am 16.6.1989.

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Vortag mit Krenz wegen der „ Lage an der Staatsgrenze“ telefoniert. 389 Der habe ihm erklärt, der SED -Generalsekretär sei unzufrieden und verstünde nicht, wie es „zu solchen schwerwiegenden Vorkommnissen“ an der Grenze kommen könne. G renztruppen seien schließlich genug eingesetzt. „Zur Anwendung der Schußwaffe an der Staatsgrenze“ habe er auszurichten: „Wenn der M inister für Nat ionale Vert eidigung [Keßl er] sagt , daß kein Schießbefehl exi stiert, 390 dann darf m an auch an der St aatsgrenze nicht schießen oder der Verteidigungsminister verliert an Glaubwürdigkeit. Es darf nicht auf fliehende Menschen geschossen werden, wenn es kei nen Schießbefehl gibt. Es muß durchgesetzt werden, daß nur dann geschossen wird, wenn Leib und Leben der Grenzsol daten gefährdet sind. [...] Es gilt zu beachten: Lieber einen Menschen abhauen lassen, als in der jetzigen politischen Situation die Schußwaffe anzuwenden. Der Gene ralsekretär hat gefordert, mit der Führung des Kommandos über diese Probleme zu sprechen.“

Streletz fügte noch hinzu, m an m üsse auch die „ möglichen Reaktionen sowjetischer Genossen“ bedenken, die fragen w ürden: „Müßt ihr in der gegenwärtigen Situation an eurer Grenze schießen? “ Noch am gleichen Tag, dem 3. April 1989, gab Generaloberst Baumgarten, der Chef der G renztruppen, an die Kommandeure der ihm unterstellten Verbände die m ündliche Weisung, „ die Schußw affe im G renzdienst (Staatsgrenze zur BRD und zu Berlin [West]) zur V erhinderung von Grenzdurchbrüchen nicht anzuwenden. Nur bei Bedrohung des eigenen Lebens darf die Schußw affen eingesetzt werden.“ 391 Auffällig ist, daß an diesem Entscheidungsprozeß Heinz Keßler, der Verteidigungsminister, 392 nicht beteiligt war. Ob es darüber nachträglich zum Konflikt kam , ist unbekannt, weil sich alle Beteiligten in Schweigen hüllten. 393 Da sie die Existenz eines Schießbefehls überhaupt leugnen, können sie sich auch nicht darauf berufen, an seiner Aussetzung 394 beteiligt gewesen zu sein. 389 „Niederschrift über die Rücksprache beim Mini ster für Nationale Verteidigung, i. V. [in Vertretung] Generaloberst Streletz, am 03. 04.1989“, gez. Stabschef Teichmann, Grenztruppen der DDR; BStU, ZA, HA 5753, Bl. 2–5. 390 Das hatte Keßler in einem Interview mit der „Zeit“ behauptet. 391 Hv. im Orig. HA I beim Kommando Grenztruppe n: „Niederschrift“ vom 12.4.1989, gez. Oberst Nieter, stellvertr. Leiter der HA I; BStU, ZA, HA VI 1308, Bl. 27; auszugsweise dokumentiert bei Hirtschulz u. Lapp: Das Grenzregime der DDR (1996), S. 191. 392 Die Bezeichnung von Streletz als „amtierender Minister“ bzw. „in Vertretung“ läßt darauf schließen, daß Verteidigungsminister Keßler damals abwesend war. 393 Die Unterlagen der Abteilung Sicherheitsfragen im ZK-Apparat, in denen man zu dieser Angelegenheit gewiß interessante Informationen hätte finden können, sind nur sehr unvollständig erhalten. 394 Hertle u. Stephan [(Hrsg.): Das Ende de r SED (1997)] sprechen in einer kurzen Fußnote mit Verweis auf die Akte HA VI 1308 nicht ganz zutreffend von einer „ Aufhebung“ des Schießbefehls (S. 42, Anm. 54).

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Obwohl „diese Befehlsgebung“ angeblich „ am 4.4.1989 bis zum Grenzposten bekanntgem acht w orden“ war, 395 kam es am Morgen des 8. April zu einem neuen Grenzzwischenfall m it Schußwaffengebrauch. Auf der Chausseestraße in Berlin-Mitte hatten zwei Männer versucht, an wartenden Autos vorbei durch den G renzübergang zu rennen. A uf Zuruf reagierten sie nicht; erst als ein Posten einen Warnschuß in die Luft abgab, blieben sie stehen und ließen sich festnehmen. 396 Dieser Versuch war keine D onquichotterie, sondern w ohlkalkuliert: Auf einer Besucherplattform jenseits der Grenze, im Westteil der Stadt, warteten gemäß einer Vereinbarung vier Personen. Sie fotografierten das ganze Geschehen. Die Bilder fanden ihren Weg in die Presse. Eines löste in der Spitze der Sicherheitsorgane besondere Em pörung aus. Es zeigte den Posten, der geschossen hatte, „ mit der Waffe im Anschlag, ohne Mütze und der Zigarette im Mund“. 397 Man meinte, dieses Foto führe zu „ politisch negativen Auswirkungen, die der Gegner zur Diskreditierung der Politik der Partei nutzen kann“. 398 Um zu klären, w ie es zu dem V orfall kom men konnte, bemühten sich zwei hochrangige SED-Kader aus der A bteilung für Sicherheitsfragen im ZK in die Grenzübergangsstelle an der Chausseestraße: Generalm ajor Fritz Bengelsdorf, Leiter des Sektors Staatssicherheit, und Oberst Eberhard Hammer, Leiter des Sektors NVA. Über den weiteren Verlauf wird in einem Aktenvermerk berichtet: „Durch den Genossen Oberst Hammer wurde danach recht aggressiv die Frage an den Genossen Oberstleutnant Heß [den Leiter der dortigen Paßkontrolleinheit] gestellt, ob er denn nicht gew ußt hat, daß bei den Grenztruppen der DDR ab 4.4.1989, 22.00 Uhr, der Befehl gegeben wurde, di e Schußwaffe nicht mehr zur Anwendung zu bringen, außer bei der Bedrohung des eigenen Lebens. Genosse Oberstleutnant Heß hatte von dem Befehl der Grenztruppen keine Kenntnis.“ 399

Wo der Befehl verblieben war, konnte nicht geklärt w erden. Die „oben“, in diesem Fall der am tierende K ommandant der G renztruppen, behaupteten, sie hätten ihn w eitergegeben; die „ unten“ meinten, sie hätten ihn nie erhalten. 395 HA I beim Kommando Grenztruppen: „Niederschrift“ vom 12.4.1989, Bl. 27. 396 Vgl. Operatives Leitzentrum der HA VI: „Operative Information 171/89 über einen verhinderten Grenzdurchbruch an der Grenzübe rgangsstelle Chausseestraße“ vom 9.4.1989; BStU, ZA, HA VI 1308, Bl. 1–4. 397 HA VI: „ Verhinderter Grenzdurchbruch auf der Grenzübergangsstelle Chausseestraße“ vom 9.4.1989; BStU, ZA, HA VI 1308, Bl. 5–10, hier 9. 398 HA VI: „ Ergänzung zum Aktenvermerk“ vom 14.4.1989, gez. Oberstleutnant Heine; BStU, ZA, HA VI 1308, Bl. 51. 399 HA VI: „Aktenvermerk über eine Beratung an der GÜSt Chausseestraße“ am 11.4.1989; BStU, ZA, HA VI 1308, Bl. 49 f.

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Zur „ Auswertung“ des V orkommnisses an der Chausseestraße und um die Befehlslage für künftige Fälle zu klären, wurden am übernächsten Tag die A bteilungsleiter für Paßkontrolle aus den Bezirksverwaltungen für Staatssicherheit zu genauerer Instruktion nach O stberlin, in die Hauptabteilung VI zitiert: „Eingangs wurde betont, daß ausgeh end von der gegenwärtigen politischen Situation und den Ergebnissen der KSZE-Konferenz es darauf ankommt, daß wir durch kluges tschekistisches Hande ln die Friedenspolitik der Partei und Regierung zu unterstützen haben. Alles, was und wi e es getan wird, muß die Politik der Partei unterstützen, und an der Staatsgrenze ist Ruhe und Ordnung zu gewährleisten. Es wurde angewi esen, daß unverzügl ich alle Mitarbeiter in den Paßkontrolleinheiten einzuweisen sind, daß die Schußwaffe nur – bei bewaffneten Angriffen gegen die Grenzübergangsstellen, – zum unmittelbaren Schutz von Leben und Gesundheit der auf den Grenzübergangsstellen eingesetzten Kräfte, soweit diese Angriffe nicht m it ande ren Mitteln abgewehrt werden können, anzuwenden i st. In al len ande ren Fällen i st di e Schußwaffe nicht anzuwenden, auch keine Warnschüsse abzugeben.“ 400

Die Kommandanten der Grenzübergangsstellen und die Leiter der Abteilungen VI in den BVfS hatten nach O stberlin Meldung zu m achen, wie sie in ihren Diensteinheiten den Befehl weitergegeben haben. Dabei stellte sich heraus – was ein bezeichnendes Licht auf die Effizienz der Befehlsübermittlung in den „bewaffneten Organen“ w irft –, daß der ursprüngliche Befehl vom 4. A pril teils m ißverstanden w orden, teils gar nicht angekommen war. 401 Schließlich w urden auch noch die Leiter der anderen bewaffneten Organe an der Grenze entsprechend instruiert. 402 400 Hv. im Orig. ; HA VI: „ Vermerk über eine Beratung mit den Stellvertretern Paßkontrolle der Abteilung VI der BV mit Staatsgrenze zur BRD und Westberlin“ vom 13.4.1989; BStU, ZA, HA VI 1308, Bl. 46–48. 401 Vgl. Schreiben der HA VI, PKE Bornholmer Stra ße an den 1. Stellvertreter des Leiters der HA VI, Generalmajor Vogel, vom 12.4.1989; BStU, ZA, HA VI 1308, Bl. 30 f.; Fernschreiben der BVfS Karl-Marx-Stadt an die HA VI vom 13.4. 1989; ebenda, Bl. 43; „Stand Beratung/Abstimmung Kommandanten“ vom 13.4.1989; ebenda, Bl. 35; „ Anruf des Gen. OSL Scholz/BV Magdeburg“ vom 13.4.1989; ebenda, Bl. 40; Fernschreiben der BVfS Suhl, Abt. VI an den Stellvertretenden Leiter der HA VI, Generalmajor Vogel, vom 13.4.1989; ebenda, Bl. 41; Fernschreiben der BVfS Gera, Abt. VI an den Leiter der HA VI, Generalmajor Fiedler, vom 14.4.1989; ebenda, Bl. 59. 402 Vgl. HA VI: „ Information zur Einweisung der Leiter der Organe des Zusammenwirkens durch die Kommandanten der Grenztruppen der DDR an den Grenzübergangsstellen in Berlin“ vom 14.4.1989; BStU, ZA, HA VI 1308, Bl. 45; HA VI: „ Information zur Einweisung der Leiter der Organe des Zusammenwirkens durch die Kommandanten der Grenztruppen der DDR an den Grenzübergangsstellen zur BRD und im Bereich der BV Potsdam“ vom 15.4.1989; ebenda, Bl. 62 f.

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Die Führungskader des MfS wurden auf einer Dienstbesprechung am 28. A pril 1989 in die neue Befehlslage eingew iesen. Einleitend erw ähnte Mielke „zahlreiche spektakuläre Aktionen“, die vor allem in den V ormonaten in den „ Medien des Gegners“ zu einer „Hetzkampagne“ genutzt worden wären, wodurch „ der DDR erheblicher politischer Schaden entstanden“ sei. Für künftiges V erhalten sei „ ein prinzipieller H inweis zur A nwendung von Schußwaffen zum Zw ecke der V erhinderung von ungesetzlichen Grenzübertritten“ notwendig: „Entsprechend einer Weisung des M inisters für Nat ionale Verteidigung sind Schußwaffen nur anzuwenden, wenn da s Leben von Grenzsicherungskräften oder anderen Personen, wie z. B. Geiseln, durch Grenzverletzer oder bewaffnete Überfäl le von außen bedroht ist, und di e Gefahr auf kei ne andere Art und Weise beseitigt werden kann. Die Schußwaffe ist auch anzuwenden zur Verhinderung von Fahnenfluchten. Dies e Weisung gilt natürlich auch für Angehörige des MfS, die ungesetzliche Grenzübertritte zu verhindern haben. Mit allem Nachdruck fordere ich von den Lei tern der zuständigen Diensteinheiten, für die strikte Durchsetzung dieser Weisung zu sorgen.“ 403

Daß Mielke die N euregelung überhaupt nicht paßte, geht aus seinen – nicht im Redemanuskript enthaltenen – ebenso vulgären w ie menschenverachtenden Zwischenbemerkungen hervor. Selbst die Aussetzung des Schießbefehls verband er m it rüden Bem erkungen darüber, daß zu viel danebengeschossen würde. 404 Das änderte aber nichts an der Verbindlichkeit der neuen Befehlslage. 405 Tatsächlich wurde danach niemand mehr an der Grenze erschossen. Dabei muß man, wenn man die Rechtfertigung derjenigen, die sich durch Schüsse an der G renze schuldig gem acht haben, durch das Grenzgesetz der DDR in Betracht zieht, von einer A ussetzung des Schießbefehls sprechen. Sonst hätte die V olkskammer zu einer Veränderung dieses Gesetzes aktiviert werden müssen. Das Gesetz schrieb den Schußwaffengebrauch freilich nicht zw ingend vor, so konnte m an darauf per Weisung verzichten – und eventuell Konflikte in der obersten Führung verm eiden, vor allem aber verhindern, daß etwas an die Öffentlichkeit drang. 406 Damit nämlich hätte man 403 Auszug aus dem Referat Mielkes auf der zentralen Dienstbesprechung am 28.4.1989; BStU, ZA, DSt 103582, S. 125 f. 404 Vgl. Referat Mielkes auf der zentralen Dienstbesprechung am 28.4.1989 (Tonbandabschrift); BStU, ZA, ZAIG TB 3. 405 Die Gegenüberstellung von Redemanuskript und Mielkes mündlichen Bemerkungen bei Koop, der den aktuellen Hintergrund anscheine nd nicht kennt, ist insofern irreführend, als der Eindruck erweckt wird, das eine werd e durch das andere aufgehoben (vgl. Koop: „Den Gegner vernichten“ [1996] , S. 569–571). Außerdem fehlt Mielkes Schlußbemerkung zu diesem Aspekt, mit der er sich offe nbar selbst die Neuregelung erklärte: „ Wo noch etw as mehr revolutionäre Zeiten w aren, da w ar es nicht so schlimm. A ber jetzt, nachdem alles so neue Zeiten sind, muß man den neuen Zeiten Rechnung tragen.“ 406 Streletz hatte schon bei der Besprechung am 3.4.1989 gewarnt: „ Auf keinen Fall darf eine Kampagne gestartet werden, daß wir nicht schießen.“ „Niederschrift über die Rück-

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ein Signal gegeben, daß es künftig kein tödliches Risiko mehr war, die DDR-Grenze unerlaubt zu überqueren. O bwohl also eine G esetzesänderung unterblieb, war der Schießbefehl mit der neuen Befehlslage vom April 1989 doch faktisch und endgültig gefallen. Der Schießbefehl war auch früher schon anläßlich bestim mter offizieller Festivitäten wie der Weltjugendspiele 1973 oder des X . Parteitages der SED 1981 zeitweilig ausgesetzt worden. 407 Die qualitative Differenz bestand nun darin, daß erstens der A nlaß kein Ereignis w ar, sondern – unter Bezug auf die K SZE-Konferenz – eine dauerhafte Veränderung der internationalen Rahmenbedingungen, und zweitens deshalb auch keinerlei zeitliche Befristung m ehr vorgenom men wurde. Die volle Bedeutung dieser Umorientierung sollte im Novem ber sichtbar werden, im Zusam menhang mit der Maueröffnung. D ie ganze G eschichte zeigt, w ie sehr der repressive Handlungsspielraum des Alten Regimes bereits zuvor, in Reaktion auf die veränderte internationale Konstellation, eingeschränkt war.

1.4.3 Abbau der ungarischen Grenzsicherung Obwohl das Gefühl, eingesperrt zu sein, durch das Regime selbst zu Jahresbeginn noch einmal besonders ins Bewußtsein gerufen w orden war, erregte der w enig später beginnende A bbau der ungarischen Grenzsicherung anfangs auf allen Seiten nur m äßige A ufmerksamkeit. 408 Hinsichtlich des Regimes war das nicht ganz so verw underlich, wie es im nachhinein wirkt. Eine hochrangige Delegation des ungarischen Innenministeriums hatte nämlich kurz zuvor Ostberlin besucht und darüber inform iert. Es handelte sich dabei um ein Routinetreffen, das jedes Jahr zwischen der Hauptabteilung VI (Reiseverkehr) des MfS und ihrem Kooperationspartner, der 10. Abteilung im ungarischen Innenministerium, stattfand. Das Treffen war diesmal auf Wunsch der ungarischen Seite vorgezogen worden, weil der Leiter der 10. Abteilung, Oberst Varga, kurz vor der Pensionierung stand und noch einm al Ostberlin hatte besuchen w ollen. Vielleicht hoffte er, dort ideologischen Zuspruch zu erhalten, da er „ über die Entwicklung der politischen Ereignisse in der UVR [Ungarischen Volksrepublik] sehr verbittert“ war. 409 A uf Basis eines G espräches, das noch in Budapest stattgefunden hatte, w ar in einer M fS-Information berichtet worden, Varga sprache beim Minister für Nationale Vertei digung i. V., Generaloberst Streletz, am 03.04.1989“; BStU, ZA, HA I 5753, Bl. 4. 407 Vgl. BStU, ZA, AGM 494, Bl. 77 u. 84; BStU, ASt Halle, AGMS 962/86, Bd. 1, Bl. 81; BStU, ZA, HA I 5797, Bl. 544. 408 Aus ungarischer Sicht waren die Grenzbefestigungen funktionslos geworden, weil zu diesem Zeitpunkt bereits alle ungarischen Bürger das Recht hatten, in den Westen zu reisen; vgl. Harry Schleicher: Löcher im Eisernen Vorhang, in: Frankfurter Rundschau 18.4.1989. 409 Schreiben von Oberstleutnant Weller, Leiter der M fS-Operativgruppe in Budapest, an den Stellvertreter Operativ der HA VI , Oberst Herfurth, vom 20.3.1989; BStU, ZA, Abt. 61, Bl. 29–31.

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gehe „in den Invalidenstand, w eil er nicht bereit ist, die V erantwortung für die Entwicklung in der UVR w eiter m it zu tragen“ . Zur gener ellen Stimmung in der ungarischen Staatssicherheit hieß es in diesem Bericht: „Mit großer Verbitterung sprach er [Var ga] darüber, daß bewährte Tschekisten in den R entenstand versetzt und dam it ihr Einfluß auf die Arbeit der Staatssicherheit eliminiert wird. Er machte die Bemerkung, daß im gesamten Apparat diese Schritte der ungarischen Führung zu tiefer Besorgnis und Unzufriedenheit führen und keine Unters tützung finden. [...] Zusam mengefaßt schätzte Genosse Varga ei n, daß di e i n Ungarn ei ngeleitete Entwicklung letztlich dazu führen wird, daß die Gr undlagen des sozialistischen Staates Schritt für Schritt beseitigt werden. Die Gen ossen der Sicherheitsorgane sehen derzei t kei ne M öglichkeit, ei ne Umkehr dieses Prozesses zu erreichen.“ 410

Von anderen ungarischen G esprächsteilnehmern wurde diese Einschätzung bestätigt. Aus Sicht der DDR-Staatssicherheit aber war Oberst Varga ein verläßlicher alter Kampfgenosse. Und wenn sie auch über die politische Entwicklung in Ungarn gewiß beunruhigt waren, so mögen sie ihm doch gerade deshalb geglaubt haben, als er bei seinem Besuch in Ostberlin das neue Grenzregime erläuterte: „Der von der R egierung der UVR [Ungari schen Vol ksrepublik] fest gelegte Abbau der Grenzsicherungsanlagen an der Grenze zu Öst erreich sol l durch verstärkte Ti efenkontrollen und di e Erhöhung des Ausbildungsniveaus der Grenztruppen ausgeglichen werden.“ 411

Allem Anschein nach beruhigte sich auch die SED -Führung mit dieser Interpretation, 412 obw ohl sie inzw ischen ebenfalls davon ausging, daß das kommunistische Regime in Ungarn vor dem Zusammenbruch stand. 413 410 Zentrale Koordinierungsgruppe: „ Information“ vom 10.3.1989; BStU, ZA, Abt. X 61, Bl. 23–25. 411 Varga erklärte zur Rechtfertigung dieser Maßnahme außerdem: „Die Verhinderung ungesetzlicher Grenzübertritte durch Bürger der DDR und der Sozialistischen Republik Rumänien bilden den Schwerpunkt der Sicher ungsarbeit der ungarischen Grenztruppen. Er erwähnte aber auch, daß den Organen der UVR bekannt ist, daß ein Teil der festgenommenen Bürger der DDR früher oder später die Möglichkeit zur Übersiedlung in die BRD erhält.“ HA VI, Leiter Generalmajor Fiedler: Bericht über die Beratung mit leitenden Mitarbeitern der II. Verwaltung des MdI de r Ungarischen Volksrepublik vom 18.04. bis 20.04.1989 in Berlin, 22.4.1989; BStU, ZA, Abt. X 214, Bl. 99–106, hier 101 f. 412 Vgl. die Äußerung von Verteidigungsminister Keßler in der Politbürositzung am 4.5.1989, zitiert in Günter Schabowski: Der Absturz, Berlin 1991, S. 221. – Wie stark die Bedeutung dieses Schrittes unterschätzt wurde, ist auch daraus zu ersehen, daß bei einem Treffen von Honecker mit Gorbatschow am 28. 6.1989 in Moskau der Abbau der ungarischen Grenzanlagen nicht angesprochen wurde. Vgl. das Protokoll dieses Gesprächs bei Küchenmeister (Hrsg.): Vieraugengespräche (1993), S. 208–239. 413 In einem Schreiben an die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen zur Lage in Ungarn hat

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In der Bevölkerung wurden die Veränderungen an der ungarischen Westgrenze zwar wahrgenom men, aber nich t prim är hinsichtlich neuer Fluchtmöglichkeiten, sondern unter einem anderen A spekt interpretiert: Ungarn war nach der Tschechoslow akei das w ichtigste U rlaubsland. 1988 hatten 800.898 DDR-Bürger dort Urlaub gem acht, w eitere 539.350 hatten es auf dem Weg nach Bulgarien oder Rumänien passiert. 414 Über Befürchtungen, die in diesem Zusammenhang standen, berichtete die ZAIG erstmals am 17. Mai: „Insbesondere seit der zielgerichteten Veröffentlichung von Inform ationen über den Abbau von Si cherungsanlagen an der Staatsgrenze zwischen der UVR [Ungarische Volksrepublik] und Österreich durch westliche Massenmedien verstärken sich unter allen Bevölkerungskreisen in erheblichem Maße Gerüchte und Spekulationen über zu erwartende drastische Einschränkungen im Reiseverkehr zwischen der DDR und der UVR . Die DDR wolle – so wird argum entiert – m it derart igen M aßnahmen ei nen M ißbrauch di eser Möglichkeiten für das ungeset zliche Verl assen der DDR durch i hre B ürger vorbeugend verhindern.“ 415

Weitere Beschränkungen ihrer ohnehin bescheidenen Reisem öglichkeiten aber, warnte die ZAIG, seien die Bürger nicht mehr bereit hinzunehmen: „In beachtlichem Um fang werden von den sich in diesem Sinne äußernden Personen, darunter auch progressive Kräfte, z[um] T[eil] spontan und emotional geprägt ablehnende Haltungen zu et waigen diesbezüglichen staatlichen Maßnahmen zum Ausdruck gebracht.“ 416

Tatsächlich wurde von solchen Maßnahm en vorerst Abstand genommen. In den ersten Wochen kann von einer Fluchtw elle auch noch nicht die Rede sein. V on den über 350.000 D DR-Bürgern, die im 1. H albjahr 1989 nach Ungarn kamen, versuchten bis zum 12. Juli lediglich 618 Personen, das Land Richtung Westen zu verlassen. Zwei Drittel wurden von den ungarischen Sicherheitskräften festgenom men und an die DDR ausgeliefert. 417 Honecker am 26. 4.1989 berichtet, „daß die ungarische Parteiführung offensichtlich nicht über den Willen verfügt, die politische Macht zu verteidigen“. Anlage 1 zum Protokoll der Sitzung des ZK-Sekretariats vom 26.4.1989; BA Berlin, J IV 2/3/4389. Die Einschätzung war zutreffend; vgl. Linz u. Stepan: Problems of Democratic Transition (1996), S. 305 f. 414 [ZAIG:] Übersicht zur Entwicklung des Reiseverkehrs nach der UVR und zum ungesetzlichen Verlassen der DDR unter Mißbrauch des Territoriums der UVR (Anlage), 14.7.1989; BStU, ZA, ZAIG 5352, Bl. 131. 415 ZAIG: Hinweise auf Reaktionen der Bevöl kerung zur Lageentwicklung in der Ungarischen Volksrepublik (UVR), 17.5.1989; BStU, ZA, ZAIG 5352, Bl. 72–75, hier 74. 416 Ebenda. 417 [ZAIG:] Hinweise zum verstärkten Mißbrau ch des Territoriums der Ungarischen Volksrepublik durch Bürger der DDR zum Verlassen der DDR sowie zum Reiseverkehr nach der UVR, 14.7.1989; BStU, ZA, ZAIG 5352, Bl. 124–131; Barbara Donovan: East Germans Seek To Go West Via Hungary, in: RFE/RL RAD Background Report/139 (Ger-

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Das galt auch noch nach dem 2. Mai, änderte sich aber mit dem Beitritt Ungarns zur Genfer Flüchtlingskonvention, die am 12. Juni 1989 in K raft trat. 418 Schon zuvor allerdings hatte die K ooperationsbereitschaft der ungarischen Staatssicherheit erheblich nachgelassen. 419 Am 12. Juni reiste eine M fS-Delegation nach Ungarn, an ihrer Spitze Generalmajor Niebling, Leiter der für die Fluchtproblem atik zuständigen Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG). Sie konferierten mit Oberst Ferenc Palagi, dem Chef der ungarischen Staatssicherheit und stellvertretenden Innenminister, und w eiteren hohen Polizeioffizieren. 420 Es ging bei den Verhandlungen im wesentlichen um zwei Punkte: wie Ungarn künftig m it DDR-Flüchtlingen verfahren werde und um die „Grenzsicherung“ Richtung Österreich. Oberst Palagi sagte zu, daß DDR-Bürger auch künftig nicht als Flüchtlinge anerkannt würden und daß ihnen eine Ausreise in den Westen nicht gestattet werde. Wer gegen die ungarischen G renzgesetze verstoße, werde zwar nicht bestraft, ab er ausgewiesen. Soweit war das MfS einverstanden, weniger aber dam it, daß ausgew iesene Bürger nicht m ehr direkt an die Justizorgane der DDR überstellt und auch nicht unter Bewachung an die Grenze gebracht werden sollten. 421 Das bedeutete, daß die Betroffenen auf eigene Initiative zurück in die DDR fahren sollten, in dem Wissen – auch das w urde vereinbart –, daß die ungarische Polizei ihren gescheiterten Fluchtversuch an die DDR-Staatssicherheit gem eldet hatte. Hinsichtlich des „ Abbaus der Grenzsicherungsanlagen“ wurde von ungarischer Seite erklärt, daß „ in der Tiefe der Grenzsicherung alle Anstrengungen unternommen [w ürden], um G renzverletzungen zu verhindern“ . A llerdings werde sich „ die Anzahl gelungener ungesetzlicher Grenzübertritte [...] zwangsläufig erhöhen“. 422 Tatsächlich meldeten die ungarischen Behörden in den folgenden Wochen Ausweisungen „nur in Einzelfällen“ an die D DR. 423 Aber das konnte man Democratic Republic), 4 August 1989, S. 2. 418 Der Beitritt zur Flüchtlingskonvention ist am 12.3.1989 erklärt worden. 419 Der Leiter der Operativgruppe des M fS in Budapest hatte im März 1989 nach Berlin berichtet: „Die Zuschriften der Abteilung X des M fS [die für internationale Verbindungen zuständig war] zur Realisierung operativer Maßnahmen werden [...] mit wachsendem Ärgernis aufgenommen, da sie angeblich die Möglichkeiten des MdI [Ministerium des Innern der Ungarischen Volksrepublik] übersteigen und in keinem Verhältnis zu ihren Anliegen gegenüber dem MfS stehen.“ Schreiben von Oberstleutnant Weller an den Stellvertreter Operativ der HA VI, Oberst Herfurth, vom 20.3.1989; BStU, ZA, Abt. 61, Bl. 29–31. 420 „Bericht über eine Dienstreise in die UVR vom 12.–14. Juni 1989“; BStU, ZA, HA IX, Bündel 856, o. Pag., 6 S. Für den Hinwei s auf dieses Dokument danke ich Clemens Vollnhals. 421 Zu dem zuvor praktizierten Verfahren bei der „ Rückführung“ von gescheiterten „Republikflüchtigen“ vgl. Tantzscher: Die verlängerte Mauer (1997), S. 9 f., 26 u. 52. 422 „Bericht über eine Dienstreise in die UVR vom 12.–14. Juni 1989“, S. 4. 423 Schreiben von Oberst Kopf, stellvertret ender Leiter der HA IX, an die ZAIG vom 6.7.1989, mit Anlage; BStU, ZA, HA IX, Bündel 1544, o. Pag. Vgl. auch ZAIG: Hinweise, 14.7.1989, Bl. 126 f.

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keiner von den Betroffenen w issen und zudem blieb ein nicht unbeträchtliches Risiko. So hatten diese verzw eifelten Menschen kaum eine andere Wahl, als in der bundesdeutschen Botsch aft in Budapest (oder in Prag) Zuflucht zu suchen. A nfang A ugust hatten 130 Personen diesen Weg gefunden. 424 Eine Woche später, am 13. August, mußte die Botschaft bereits wegen Überfüllung geschlossen werden. Nun harrten die Neuanköm mlinge vor der Botschaft aus. All das in einer Stadt, in der es eine ganze Reihe von westlichen Pressevertretern gab, die – anders als in Ostberlin – fast ungehindert arbeiten konnten. 425 Diese Kombination erzeugte eine enorme Signalwirkung. In den bundesdeutschen Vertretungen in Prag und in Ostberlin entwickelte sich eine ähnliche Situation. 426 A uch dort m ußten im V erlauf des Augusts die Botschaften w egen Ü berfüllung m it Zufluchtsuchenden ihre Tore schließen. Viele Menschen suchten w eiter den direkten Weg über die ungarische Grenze; auf durchschnittlich 100 Personen pro Tag war der Flüchtlingsstrom nun angewachsen. Weitere dreieinhalb Tausend w arteten in eilends in Budapest eingerichteten Flüchtlingslagern. 427 Auch ein Appell des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen in Bonn, m it dem am 22. Juli die D DR-Bürger aufgefordert wurden, in ihrer Heim at zu bleiben, „damit die Wiedervereinigung der D eutschen nicht in der Bundesrepublik“ stattfinde, 428 blieb fruchtlos. A ngesichts der Bilder im Fernsehen kam nun noch verstärkend ein G efühl des „ Jetzt oder nie!“ hinzu: So konnte es kaum weitergehen, deshalb m üßte m an die einm alige Chance nutzen, den Absprung zu wagen. Einen Eindruck von der D ynamik der Entw icklung vermittelt das folgende Schaubild, in dem nur die Übersiedler „ohne Genehmigung“ erfaßt sind 429: 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0 Januar Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

Sept.

424 Tagesspiegel 4.8.1989. 425 Vgl. „Die Chronik der Fluchtbewegung“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.9.1989. 426 Vgl. die einschlägigen Berichte, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit 1989/90 (1998). 427 Vgl. „ Die Chronik der Fluchtbewegung“. Di e Zahl bezieht sich auf den Stand am 2.9.1989. 428 Zitiert nach „Die Chronik der Fluchtbewegung“. 429 Quelle: Bundesausgleichsamt; Zahlen übernommen aus Wendt: Wanderungen (1991),

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Angesichts dieser Entw icklung wirken die A ktivitäten, die das MfS entwickelte, nicht sehr bedeutend. Es wurde – wie jedes Jahr in den Sommermonaten 430 – mit Hilfe der MfS-Operativgruppe Budapest versucht, die DDRUrlauber in Ungarn zu überw achen. D iese O perativgruppe w ar jedoch m it ihren vier Mitarbeitern auf Problem e in solchen Dim ensionen nicht vorbereitet. Weitere drei Mitarbeiter waren in anderen ungarischen Orten stationiert. 431 Daneben gab es wahrscheinlich noch Aktivitäten der Operativgruppe Ungarn der H auptabteilung V I (G renzüberschreitender V erkehr), die über insgesamt sieben Mitarbeiter verfügte, 432 und Beobachtungsgruppen der Hauptabteilung V III (Observation), über die bisher nichts Näheres bekannt ist. 433 Auf höherer Ebene kam es auf Initiative des M fS im August in Budapest erneut zu mehreren Treffen zwischen Vertretern der Staatssicherheit und der Außenministerien beider Staaten. Von seiten der DDR wurde bei einem ersten Treffen betont, daß im Tourismusverkehr „keine Abstriche zu erw arten seien“. 434 Im Gegenzug beruhigte bei dem folgenden Treffen am 10. August der zwischenzeitlich zum Generalmajor beförderte ungarische Staatssicherheitschef Palagi seinen Gesprächspar tner, vermutlich den Leiter der Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG), Generalmajor Niebling: „Es werd e d abei b leiben, d aß DDR-Bü rger k ein politisches Asyl erhalten werden und nicht als Flüchtlinge im Sinne der [UNO-]Konvention anerkannt werden sollen [...] Die Ausreise von DDR-Bürgern m it [Reise-] Dokument ohne Visum bzw. mit widerrechtlich ausgestellten BRD-Reisepässen werde auch künftig nicht gestattet.“ 435

Um diese Position zu bekräftigen, überreichte er ein am gleichen Tag veröfS. 393. 430 S chon in den sechziger Jahren wurden vom MfS in der Urlaubssaison sog. Beobachtungsbrigaden nach Ungarn geschickt, um K ontakte zwischen DDR-Urlaubern und Westd eutschen zu überwachen. Vgl. Tantzscher: „Maßnahme Donau und Einsatz Genesung“ (1994), S. 11. 431 Vgl. Telegramm des Leiters der Abt. X, Generalmajor W. Damm, an das MdI der UVR Budapest vom 7.6.1989; BStU, ZA, Abt. X 1, Bl. 26. 432 Vgl. Organisationsstruktur 1989 (1995), S. 246. Unterlagen dieser Operativgruppe sind in den Beständen des Zentralarchivs bisher nicht auffindbar. Die Unterlagen der HA VI sind erst zu knapp 20 % erschlossen; vgl. Dritte r Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten (1997), S. 117. 433 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind nur etwa ei n Fünftel der Aktenbestände dieser beiden Abteilungen archivarisch erschlossen. Vielle icht finden sich dazu noch Unterlagen. Zur Entsendung solcher Beobachtungsgruppen in anderen Jahren vgl. Tantzscher: Die verlängerte Mauer (1998), S. 53. 434 So referierte der stellvertretende ungarische Innenminister Palagi die DDR-Position bei den Verhandlungen am Vortag laut einem MfS-Papier; „Information über das vereinbarte Arbeitsgespräch mit dem Stellvertreter des Ministers des Innern der UVR, Genossen Generalmajor Palagi“, 10.8.1989; Begleitschreiben von Generalmajor Niebling; BStU, ZA, Abt. X 61, Bl. 9–18, hier 10. 435 Ebenda, Bl. 12.

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fentlichtes Kommuniqué des ungarischen Innenm inisteriums, das m it den Worten endete, „ daß die UVR [Ungarische Volksrepublik] kein Ausfuhrkanal für osteuropäische Flüchtlinge sein m öchte“ 436. Allerdings stritten sich das Innen- und das Außenministerium Ungarns zu dieser Zeit öffentlich über das w eitere Vorgehen in der Flüchtlingsfrage. 437 Im MfS verließ man sich anscheinend darauf, daß sich die härtere Position des Innenm inisteriums durchsetzen w erde. D ie ungarische Staatssicherheit hatte jedoch betont, daß sie dem „gegnerischen Druck“ nur standhalten könne, wenn Flüchtlinge, die in die DDR zurückgekehrt waren, dort keiner strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt w ürden. Deshalb wurde von der H auptabteilung IX, der M fS-Untersuchungsabteilung, „in A bstimmung mit dem G eneralstaatsanwalt der D DR“ vorgeschlagen, alle einschlägigen Strafverfahren einzustellen und keine neuen zu eröffnen. 438 Weitergehende Maßnahm en, die bereits vorbereitet worden waren, 439 wurden auch jetzt noch nicht ergriffen. Am 31. August erklärte Mielke vor den Chefs der MfS-Bezirksverwaltungen zur Begründung: „Wir hatten nun vor, daß wi r die Reisen nach Ungarn doch et was stärker unter Kontrolle nehmen. Wir haben Abstand genommen davon, Euch schon befehlsmäßig Weisung zu erteilen und jeder hat si ch daran zu hal ten auch i n anderen Fragen. Wenn durchgesickert wäre, wir machen da wieder schärfere Kontrollen, dann könnt e das di e Gespräche, di e im Gang sind, zum Platzen bringen. Jetzt nachdem Klarheit darüber herrscht , ist die Sache abzuwart en, wie entwickelt sich das nun und dann werden wi r die Maßnahmen beschließen, die dann noch notwendig sind.“ 440

Die Gespräche, auf die Mielke – reichlich optim istisch – anspielte, wurden zum einen mit dem Ständigen Vertreter der Bundesrepublik geführt und be-

436 „Kommuniqué des MdI der UVR“ vom 10.10.1989; ebenda, Bl. 14–16. 437 Beide Ministerien gaben widersprüchliche Presseerklärungen darüber heraus, ob die DDR-Flüchtlinge als Asylsuchende zu behandeln wären oder ob sie wie bisher als „Straftäter“ an die D DR auszuliefern seien. V gl. Interview mit O berst K aroly Nagy vom Innenministerium, in: Süddeutsche Zeitung 5. /6.8.1989; „Pressekonferenz in Budapest. Ungarn wird auch künftig die Unverletzlichkeit seiner Grenzen sichern“, in: Neues Deutschland 11.8.1989. 438 Das betraf unmittelbar 101 Personen, die nach dem 12. 6.1989 von den „ungarischen Organen“ an die DDR ausgeliefert worden, und 30 Personen, die ausgewiesen worden waren. Ob dieser Vorschlag realisiert worden ist, war nicht zu ermitteln. Schreiben von Niebling an Mielke vom 14.8.1989, mit Anlage; BStU, ZA, Abt. X 61, Bl. 4–8. Zur Herkunft der zitierten Anlage vgl. „ Stellungnahme“ vom 14. 8.1989; BStU, ZA, HA IX, Bündel 856. 439 Es waren – in Zusammenarbeit mit der Volkspolizei und der Zollverwaltung – vor allem schärfere Grenzkontrollen geplant gewesen; vgl. den Entwurf eines Schreibens von Generaloberst Mittig an die Leiter der Dien steinheiten vom August 1989; BStU, ZA, HA IX 2467, Bl. 53–60. 440 Dienstbesprechung am 31.8.1989; BStU, ZA, ZAIG 8679, Bl. 2–80, hier 58.

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trafen das Schicksal der Flüchtlinge in den bundesdeutschen Botschaften. 441 Zum anderen fanden am gleichen Tag in Ostberlin weitere Verhandlungen statt, die eine Wende bringen sollten. Ungarns Außenminister Gyula Horn war, in Begleitung von Generalm ajor Palagi, zu einem Blitzbesuch eingetroffen. 442 In einem ersten Gespräch mit seinem Kollegen Oskar Fischer, an dem auch Gerhard Niebling von der ZKG teilnahm, machte Horn deutlich, daß Ungarn nicht länger gewillt sei, die Situation hinzunehmen, daß etwa 10.000 DDR-Bürger in U ngarn auf eine A usreisemöglichkeit w arteten. 443 Zudem verwahrte er sich dagegen, „ daß es eine Reihe von Zwischenfällen zwischen D DR-Bürgern und Mitarbeitern der Sicherheitsorgane der DDR geben w ürde“. A ls das von Fischer zurückgew iesen w urde, sprach er von einer „Auseinandersetzung zwischen DDR-Bürgern“. Horn erklärte, es gebe drei „ Lösungsvarianten“, von denen die einschneidendste w ar, daß die Grenze nach Österreich am 4. September für ausreisewillige DDR-Bürger geöffnet w ürde. D aß Fischer diese V ariante zurückwies, ist nicht überraschend. Aber er akzeptierte noch nicht einm al eine andere Alternative, die Horn vorgeschlagen hatte: „Die Regierung der DDR erklärt, daß die Ausreiseanträge von Rückkehrern aus der U VR wohlwollend bearbeitet werden.“ Bei dem anschließenden Gespräch m it Günter Mittag betonte Horn besonders diese Variante, die in der K onsequenz bedeutet hätte, daß die G renze weiterhin geschlossen geblieben w äre. Man hätte erneut versucht, die Flüchtlinge zu einer freiwilligen Rückkehr in die DDR zu bewegen, in der Hoffnung, daß sie dem Versprechen Glauben schenken w ürden, ihr A usreiseantrag würde nun umgehend positiv entschieden. 444 Das wäre ein w eitgehendes Zugeständnis der ungarischen D iplomatie 441 Am 30. und 31.8.1989 trafen sich deshal b der Leiter der Abt. BRD im DDR-Außenministerium, Hans Schindler, und der Leiter der Ständigen Vertretung, Franz Bertele, zu vertraulichen Gesprächen. Vgl. „Aktivitäten der DDR gegenüber der BRD im Zusammenhang mit dem widerrechtlichen Aufenthalt von DDR-Bürgern in diplomatischen Vertretungen der BRD“, Anlage zum Arbeitsprotokoll der Politbüro-Sitzung am 5. 9.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3238, o. Pag., 5 S. 442 Die Einladung zu diesem Besuch hatte der DDR-Botschafter in Budapest, Gerd Vehres, am 29.8.1989 bei einem Treffen mit Horn ausgesprochen, bei dem er von dem ungarischen Außenminister über ausgewählte Aspekte von dessen Besuch in Bonn am 25.8.1989 informiert worden war; vgl. Schreiben von Oska r Fischer an Honecker vom 29.8.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2035/77, Bl. 264–267. Zum Bonn-Besuch von Horn und Nemeth vgl. Hertle: Chronik (1996), S. 68. – Zu dem Blitzbesuch von Horn und Nemeth, bei dem die Gewährung wirtschaftlicher Hilfe eine bedeutende Rolle spielte, am 25.8.1989 in Bonn, vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit 1989/90 (1998), S. 377–382. 443 Vermerk über das Gespräch zwischen Gyula Horn und Oskar Fischer am 31.8.1989, Anlage zum Arbeitsprotokoll der Politbüro-Sitz ung am 5.9.1989, 5 S.; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3238, o. Pag. – Die Identifikation von G. Horns Begleiter bei Maier (Dissolution [1997], S. 126) ist irrig. 444 Vgl. Vermerk über das Gespräch zwischen Günter Mittag und Gyula Horn am 31.8.1989; Anlage zum Arbeitsprotokoll der Politbüro-S itzung am 5.9.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3238, o. Pag., 5 S.; vgl. Horn: Freiheit, die ich meine (1991), S. 323–326. Einige der wichtigsten Dokumente zu diesen Verhandlungen sind nachgedruckt in Stephan (Hrsg.): Vorwärts (1994).

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gewesen, aber Mittag war zu keinen Kompromissen bereit. Als er dann auch noch erklärte, „daß man selbstverständlich w eiter darüber nachdenken w erde, w ie es m it den betreffenden DDR-Bürgern in der UVR weitergehen soll“, hatte Horn offenbar genug. Er kündigte an, daß die G renze zu Ö sterreich geöffnet werde. Man werde allerdings nicht am 4., sondern erst am 11. September mit der „ vorgetragenen Praxis beginnen“ , um der DDR-Führung die Chance zu geben, sich doch noch „ konstruktive Lösungen“ einfallen zu lassen. 445 Die DDR-Führung aber war weiterhin ratlos. Sie versuchte, das A ußenministerkomitee des Warschauer Paktes einzuberufen, um die Ungarn zur Raison zu rufen, doch dieses Vorhaben scheiterte an einem sowjetischen Einspruch. 446 Nun erst wurde Mielke aktiv. Sein langes Zögern ist wohl mit dem Dilemma zu erklären, in dem sich die Staatssicherheit befand: Einerseits war sie bem üht, Fluchtversuche zu verhindern, andererseits sollten gerade die angepaßten D DR-Bürger durch restriktive Maßnahm en nicht neuerlich frustriert w erden. D eshalb w urde die gew ohnte, auch zuvor nicht sehr erfolgreiche Taktik 447 fortgesetzt, die bei Problem en in solchen G rößenordnungen scheitern mußte. A m 1. September forderte Mielke die Leiter der Diensteinheiten auf, „alle erforderlichen Maßnahm en zur V erstärkung der vorbeugenden Arbeit, insbesondere zur vorbeugenden Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR über die UVR sowie von weiteren Erpressungsversuchen in diplom atischen V ertretungen der BRD einzuleiten“. 448 Die Betonung in diesem Schreiben lag auf der „ Rückgewinnung“ von potentiellen Flüchtlingen, die in den Botschaften oder in Lagern in Ungarn auf eine Ausreisem öglichkeit warteten. Dazu sollten „geeignete Familienangehörige/Verwandte bzw. Personen aus dem U mgangskreis dieser D DRBürger“ angesprochen w erden und – „ nach A bstimmung m it der ZKG“ – dazu veranlaßt werden, sich persönlich für eine Rückkehr einzusetzen. Weitergehende Maßnahmen w urden erst ergriffen, als die ungarische Grenze bereits endgültig offen war und selbst das SED-Politbüro die Probleme nicht länger verdrängen konnte. In dessen Sitzung am 12. September forderte Günter Mittag in Vertretung von Honecker: „Die erste Frage für m ich ist, das Loch zuzumachen, um keine neuen Sachen anlaufen zu lassen. [...] Wir sollten intern regeln, die Ausreisen nicht mehr so global durchzuführen wi e bi sher. W ieso m üssen di e wackl igen Kandi daten fahren? Diese interne Regelung darf al lerdings ni cht unsere Part ei und di e Masse der B evölkerung betreffen. Wir würden si e verärgern. M fS und MdI 445 Vermerk über das Gespräch zwischen Mittag und Horn am 31.8.1989. 446 Vgl. die Ausführungen Fischers in der Politbüro-Sitzung am 5. 9.1989; Mitschrift Hergers; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/77. 447 Vgl. Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe (1995), S. 38–40, 46–48. 448 Schreiben des Ministers an die Leiter der Diensteinheiten vom 1.9.1989; BStU, ZA, DSt 103614.

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[Ministerium des Innern] sollen diese Maßnahmen durchführen.“ 449

449 Mitschrift von Wolfgang Herger zur Sitzung des SED-Politbüros am 12. 9.1989, in: Stephan (Hrsg.): Vorwärts (1994), S. 146–154, hier 147.

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Auch an dieser Forderung ist noch das Bestreben zu erkennen, sich w enigstens die eigene Basis nicht weiter zu entfrem den. Mielke erließ bereits am folgenden Tag einen „ Maßnahmeplan“ 450. In dem Begleitschreiben zu diesem Plan findet sich eine w eitere Erklärung dafür, warum das MfS nicht schon früher Alarm geschlagen hatte. D ie ZAIG hatte, w ie erwähnt, bereits im Mai über Befürchtungen gerade auch von „ progressiven DDR-Bürgern“ berichtet, die Lockerung des ungarischen G renzregimes könne zum A nlaß für weitere Einschränkungen der kärglichen Reisem öglichkeiten genommen werden. Mielke, der hinter allem und jedem die Umtriebe des „Gegners“ witterte, projizierte auch jetzt noch diese Befürchtung nach außen: „Um die entstandene Lage zu eskal ieren und di e Beziehungen zwischen der DDR und der UVR [Ungarischen Volksrepublik] zu belasten, erfolgt die gezielte Verbrei tung von Gerücht en, won ach die DDR in absehbarer Zei t den Reiseverkehr in die UVR drastisch re duzieren würde. Dieses Vorgehen des Gegners erfolgt mit dem Ziel, die DDR zu restriktiven Maßnahmen zu veranlassen, fein dlich-negative Kräfte zu ö ffentlichkeitswirksamen, d emonstrativen Handlungen zu i nspirieren und den Druck im Innern der DDR – i nsbesondere zur Erzwingung von ständigen Ausreisen – zu verstärken.“ 451

Um nicht in diese verm eintliche Falle zu tappen, befleißigte sich das M fS einer gewissen Zurückhaltung. Selbst jetzt w ar die Staatssicherheit bem üht, möglichst unauffällig aktiv zu werden, schließlich hatte die SED-Führung gefordert, alles „intern“ zu regeln und „ die Masse der Bevölkerung“ nicht zu „verärgern“. Maßnahmen mußten im V orfeld ergriffen w erden, denn es sei, schrieb Mielke, „ davon auszugehen, daß operative Maßnahm en in der UVR gegen verdächtige Personen zur Verhinderung von Straftaten gemäß §§ 105 und 213 StG B“ – diese Bestimmungen betrafen Fluchthilfe und Flucht – „nicht mehr möglich sind“. 452 Im wesentlichen enthielt der „ Maßnahmeplan“ zwei Regelungen: Erstens sollten alle Reiseanträge nach Ungarn, Bulgarien oder Rum änien in der zentralen Personendatenbank abgeglichen werden. Zweitens war die „Filtrierungstätigkeit“ an den Grenzübergangsstellen und auf den internationalen Flughäfen der D DR „ zum Erkennen von V erdachtsmomenten auf ungesetzliches Verlassen der DDR zu verstärken, ohne die reibungslose A bwicklung des grenzüberschreitenden Verkehrs zu beeinträchtigen“ . 453 In seinem Begleitschreiben hatte der Staatssicherheitsm inister noch eine Reihe w eiterer Auf450 „Maßnahmeplan“ des Ministers für Staatssicherheit vom 13. 9.1989 „ zum rechtzeitigen Erkennen und zur vorbeugenden Verhinderung des Mißbrauchs von Reisen nach der bzw. durch die Ungarische Volksrepublik“; MfS-Nr. 62/89; BStU, ZA, DSt 103614. 451 Schreiben des Ministers an die Leiter der Diensteinheiten vom 13.9.1989, MfS-Nr. 61/89; BStU, ZA, AGM 125, Bl. 39–43, hier 39. 452 Ebenda, Bl. 40. 453 „Maßnahmeplan“ vom 13.9.1989.

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gaben verteilt, die als „vorbeugend“ bezeichnet wurden und die darauf zielten, potentielle U ngarnflüchtlinge gar nicht erst aus dem Land zu lassen: „Bei begründetem V erdacht des ungesetzlichen V erlassens der D DR sind befristet Reisesperren bzw. der A usschluß vom paß- und visafreien Reiseverkehr zu veranlassen.“ 454 Um solche Verdachtsm omente zu erarbeiten, seien „alle derartigen Hinweise, Operativen Vorgänge und OPK [Operativen Personenkontrollen] neu zu bew erten“. Zudem w urden die K reisdienststellen angewiesen, alle Personen, die bereits ein V isum für Ungarn, eine „Reiseanlage PM 105“, erhalten hatten, neuerlich „ zu überprüfen, ob ihnen gegenüber Versagungsgründe zur Anwendung zu bringen sind“. Dabei ging es um zehn-, wenn nicht gar hunderttausende Vorgänge, die sorgfältig zu bearbeiten w aren, denn vor einer „undifferenzierten Anwendung der Versagungsgründe“ wurde ausdrücklich gewarnt. 455 Bis dahin waren nur die Karteien daraufhin überprüft w orden, ob gegen den A ntragsteller eine Ausreisesperre verfügt w orden w ar. „ Weitergehende Prüfungshandlungen“ hatten wegen der hohen A nzahl von Reisen und Personalm angels als nicht durchführbar gegolten. 456 Das praktische Resultat des Maßnahmeplans war minimal: Die Zahl der Flüchtlinge stieg dennoch, von 8.143 im August auf 21.352 im September 1989. 457 MfS-intern aber hatten diese Maßnahmen durchaus Folgen. Erstens war die Grenze zwar nicht generell geschlossen worden, wohl aber für die Angehörigen der Sicherheitsapparate, denen Reisen nach Ungarn mit sofortiger Wirkung untersagt w urden. 458 Zweitens bedeutete die A rbeit im Vorfeld von Fluchtversuchen für die Mitarbeiter der Staatssicherheit vor O rt, vor allem in den Kreisdienststellen, eine enorme Arbeitsbelastung. Und drittens kam als zusätzliche Belastung hinzu, daß diese Mitarbeiter auch noch versuchen sollten, die Ausreiseantragsteller durch persönliche Gespräche von ihrem Vorhaben abzubringen. Das wirkte zusätzlich demoralisierend, w eil es verbunden w ar m it einer intensiven Beschäftigung und Auseinandersetzung mit DDR-Bürgern, die dem M fS-Feindbild nicht entsprachen, die keine Oppositionellen waren, sondern die dieses Sy stem einfach „satt hatten“. Nur in etwa zwei Prozent der Fälle gelang es durch vereinte Anstrengungen von Staatssicherheit, Partei und anderen „Partnern des 454 Schreiben des Ministers vom 13.9.1989. 455 Ebenda. 456 Vgl. „Hinweise zum Reiseverkehr von Bürgern der DDR nach der UVR“; BStU, ZA, HA IX, Bündel 856, o. Pag. Das Schreiben wurde wahrscheinlich Anfang August 1989 gefertigt, denn das letzte darin genannte aktuelle Datum ist der 31.7.1989. Es stammt – nach Inhalt und Fundort zu schließen – von der ZKG. 457 Vgl. Wendt: Wanderungen (1991), S. 393. 458 Für das M fS vgl. Mielke: Schreiben vom 13. 9.1989; für die Volkspolizei MdI Minister und Chef der DVP, Dickel: Festlegungen für den Reiseverkehr von Angehörigen der DVP, vom 13. 9.1989; BStU, ZA, DSt 202007; für Angehörige des Militärs und der Grenztruppen, MfNV Minister H. Keßler: Schreiben an den Chef 2000 [M fS HA I, zuständig für Militärabwehr] vom 14. 9.1989, Anlage: Regelungen für Privatreisen in das Ausland; BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 191–193.

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Zusammenwirkens“, Personen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, zu einer „Abstandsnahme“ von ihrem Vorhaben zu überreden. 459 Erwiesen sich diese Einflußmöglichkeiten somit als äußert begrenzt, so w ar in umgekehrter Richtung ein um so deutlicherer Effekt spürbar: Die sich ständig verschlechternde allgemeine Stimmung w urde verstärkt in das M fS selbst hineingetragen. Das wurde aus den Kreisdienststellen der Staatssicherheit berichtet, 460 galt aber auch für die Mitarbeiter des Ministeriums in Berlin. Die Leitung einer SED -Grundorganisation in der Hauptabteilung III (Funkaufklärung) etwa berichtete Ende September: „Viele Gen[ossinne]n und Gen[ossen], so kam zum Ausdruck, scheuen si ch vor sol chen Di skussionen [über di e Ausrei sewelle] mit den Bürgern, weil heute allgemeine Argumente wie z. B. der Sozialismus siegt oder der Imperialismus ist sterbender Kapitalismus eben nicht mehr ausreichen.“ 461

Die Folgen der ideologischen Ernüchterung und der Demoralisierung, die in dieser Schilderung durchscheinen, sollten sich in den nächsten Monaten bemerkbar machen. Ein Zwischenresümee: Der Verlust an Menschen durch die Ausreisewelle des Som mers 1989 bedeutete per se schon eine Schw ächung der SEDDiktatur. An fast jedem Arbeitsplatz war spürbar, daß Kollegen wegblieben. Die damit verbundene zusätzliche Arbeitsbelastung führte selbst w ieder zu steigender Frustration und verstärkten A bwanderungswünschen. U nter besonderem Bezug auf den V erlust an beru flich qualifizierter A rbeitskraft hat darauf das M fS immer wieder hingewiesen. Ebenso wichtig war die Altersstruktur der Flüchtlinge: Viele waren zwischen 20 und 35 Jahren alt, junge Familien mit Nachwuchs, während die Großelterngeneration zurückblieb, von Kindern und Enkeln verlassen. 462 Ihre Frustration und ihre A ngst wurden durch die offizielle Propaganda noch verstärkt und verw andelten sich in Wut. Da sie oft selbst noch im erwe rbstätigen Alter waren – in der DDR heiratete m an sehr jung –, blieben sie dam it nicht allein, sondern konnten sich im Kollegenkreis Luft machen. Neben ihrer realen, unmittelbar spürbaren Bedeutung hatte die Fluchtwelle noch einen zutiefst politisch-sy mbolischen Gehalt, der in die gleiche 459 Zwischen dem 1.1. und dem 10.9.1989 wurden 150. 331 Ausreiseanträge gestellt. In 2.659 Fällen kam es zu „ Abstandsnahmen“, 23.951 Anträge wurden abgelehnt, 64.978 Personen konnten ausreisen. Die restlichen, knapp 60. 000 Fälle waren anscheinend noch nicht entschieden. „Statistische Übersicht“ in: Wochenübersicht der ZAIG Nr. 37/89 vom 11.9.1989; BStU, ZA, ZAIG 8190, Bl. 24. 460 Vgl. beispielhaft Eberhard Stein: Agonie und Auflösung des MfS. Streiflichter aus einem Thüringer Bezirk (Erfurt 1995), S. 10. 461 Leitung der GO 12: „Berichterstattung für den Monat September. Verlauf und Ergebnisse persönlicher Gespräche“ vom 28.9.1989; BStU, ZA, HA 7589, Bl. 110–117, hier 111 f. 462 Vgl. Winkler (Hrsg.): Sozialreport DDR ( 1990), S. 38 f.; ferner Lüdtke: Die DDR als Geschichte (1998), S. 8 u. 16.

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Richtung wie die erfolgreiche Ü berwachung der K ommunalwahlen durch die Bürgerrechtler wirkte. Albert Hirs chmann hat diesen Effekt treffend beschrieben: „ Gerade w eil das ostdeutsche Regim e die U nterdrückung von Abwanderung zum Prüfstein seiner A utorität gem acht hatte, bedeutete die plötzliche Unfähigkeit, seine Verfügung zu vollstrecken, einen riesigen Gesichtsverlust, der weitere Arten von Gesetzesüberschreitungen herausforderte.“ 463 Damit war ein Umschlagpunkt erreicht. D ie Abwanderung von Protestpotential führte nicht zur Schwächung, sondern zur Stärkung des inneren Widerstandes: D er V organg dem onstrierte, w elche Handlungsspielräume inzwischen existierten, und er steigerte die Empörung über den Starrsinn der Mächtigen.

1.4.4 Entsolidarisierung der Herrschenden Die Öffnung der ungarischen G renze w äre ohne tiefgreifende Ä nderungen im „ sozialistischen Lager“ nicht m öglich gew esen. Der revolutionäre Umbruch vom Herbst 1989 hat schon im Frühjahr begonnen. D amals hatten in Polen, dem östlichen Nachbarn der DDR, Verhandlungen am Runden Tisch zu einer Legalisierung der Opposition geführt und die Demokratisierung des Systems eingeleitet. G eduldet von der Sow jetunion wurde dann im August 1989 erstmals ein N ichtkommunist, Tadeusz Mazow iecki, zum Ministerpräsidenten gewählt. 464 In Ungarn war es nach dem endgültigen Sturz von Janos Kádár im Juni 1989 zu einem einschneidenden Kurswechsel gekommen, 465 der außenpolitische Konsequenzen hatte: Ein für die DDR wichtiger Partner w ar nicht m ehr länger bereit, sein eigenes Interesse an stärkerer Westorientierung der „Blocksolidarität“ unterzuordnen. 466 Das „sozialistische Lager“ begann sich, w ie schon die KSZE-Abschlußkonferenz in Wien gezeigt hatte, aufzul ösen. Es korrodierten die „ rostigen Stäbe des Eisernen Vorhangs“ 467. Das betraf in diesem Stadium die Durchlässigkeit der Grenzen in Ost-West-Richtung, noch nicht den form alen Bündniszusammenhang. Doch die Abstim mung zwischen den Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten wurde immer schwieriger, da die sowjetische 463 Hirschman: Abwanderung (1992), S. 344. 464 Vgl. Ash: Im Namen Europas (1995), S. 504. 465 Für die ungarische Politik entscheidend ware n einige Tage im Juni 1989: Am 13. Juni wurden Verhandlungen mit dem Runden Tisch begonnen, an dem sich zuvor bereits die Oppositionsgruppen auf gemeinsame Forderungen verständigt hatten. Am 16. Juni fand die feierliche Beerdigung von Imre Nagy statt, dem 1958 erschossenen ehemaligen Ministerpräsidenten, und damit die offizielle Rehabilitierung der gescheiterten ungarischen Revolution von 1956; eine Woche später übernahm der radikale Reformflügel in der kommunistischen Partei die Macht; vgl. Ash: Ein Jahrhundert wird abgewählt (1990), S. 371–384; Szábo: Kriterien des Gedenkens (1991). Vgl. auch Tökés: Vom Postkommunismus zur Demokratie (1990); Izik-H edri: Ungarn im Wandel (1990), S. 453–464; Markus: Politische Konfliktlinien und Legitimation in Ostmitteleuropa (1993). 466 Vgl. Ash: Im Namen Europas (1995), S. 542 f. 467 Eduard Schewardnadse, zitiert nach: Der Tagesspiegel 20.1.1989.

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Führung davon abging, angeblich „ gemeinsame Interessen“ verbindlich zu definieren. Nun dom inierten unverm ittelt die jeweiligen Regimeinteressen. Sie waren wegen Differenzen im Niveau der politischen Entwicklung (von starrer Verteidigung des Status quo bis zu beginnender D emokratisierung) und wegen Unterschieden in der V erflechtung m it dem Weltm arkt und in der politischen Westorientierung nicht mehr auf einen Nenner zu bringen. 468 Aus Sicht der D DR-Führung w ar selbstverständlich das V erhältnis zur Sowjetunion das dom inierende außenpolitische Problem . Der erste Staatsbesuch von Michail Gorbatschow in der Bundesrepublik vom 12. bis zum 15. Juni 1989 war deshalb eine prekäre A ngelegenheit. Die sowjetische Seite hatte sich im Vorfeld dieses Besuchs bem üht, die DDR-Führung zu beruhigen. Außenminister Schewardnadse suchte einige Tage zuvor Honecker auf, informierte über die geplanten Gesprächsinhalte und auch über eine „Gemeinsame Erklärung“ von sowjetischer Führung und Bundesregierung, in der die Ergebnisse des Treffens festgehalten werden sollten. 469 Gorbatschow selbst wich in jenen Tagen in seinen öffentlichen Äußerungen einer Stellungnahme zur deutschen Frage aus. 470 In der „ Gemeinsamen Erklärung“ fanden sich freilich einige Form ulierungen, die als diplomatische Andeutung einer A nnäherung beider Seiten auch in dieser heiklen Frage interpretiert werden können. Die Unterzeichner erklärten: „Bauelemente des Europas des Fri edens und der Zusam menarbeit müssen sein: di e unei ngeschränkte Acht ung de r Integrität und der Si cherheit jedes Staates. Jeder hat das Recht, das eige ne politische und soziale System frei zu wählen. Die uneingeschränkte Achtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts, insbesondere Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker.“ 471

Honecker hat gegen diese Form ulierungen keine Einw ände erhoben, w ohl weil er sie als Bekräftigung des Rechts auch der DDR auf Eigenstaatlichkeit interpretierte. Darüber gab es zu dieser Zeit keinen Dissens mit der sowjetischen Führung. Aus bundesdeutscher Sicht wurde diese Passage anders gelesen: als Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung und darin ent472 halten auch als Recht auf eine friedliche Wiedervereinigung. Entscheidend war jedoch ein anderer A spekt: die Rede von der freien Wahl des „ politischen und sozialen Sy stems“. Damit wurde stillschweigend eine 468 Vgl. Richard G. Hill: Revolutions Waiting To H appen? An analysis of the revolutions of 1989, paper für die Konferenz „ A New Europe“ der British Sociological Association 6.–9.4.1992 in Canterbury. 469 Vgl. Niederschrift über das Gespräch zwischen Honecker und Schewardnadse am 9.6.1989 in Berlin, in: Stephan (Hrsg.): Vorwärts (1994), S. 75–88. 470 Vgl. Hatschikjan u. Pfeiler: Deutsch-sowjetische Beziehungen (1989), S. 888. 471 „ Gemeinsame Erklärung“ in Kaiser: Deutschlands Vereinigung (1991), S. 143–148, hier 145. 472 Vgl. Küsters: Entscheidung für die deutsche Einheit (1998), S. 38. Zur Ambivalenz der Formulierung vgl. Ash: Im Namen Europas (1995), S. 173.

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alte ideologische Präm isse sowjetischer Blockpolitik relativiert, die These von der „ Unumkehrbarkeit“ sozialistischer U mwälzungen. Zudem verpflichtete sich die UdSSR, solche Entwicklungen zu tolerieren. Das sollte in den folgenden Wochen noch deutlicher ausgesprochen werden. Gorbatschows Besuch wurde für den so wjetischen Reform er fast zu einem Triumphzug durch die Bundesrepublik. 473 In früheren Zeiten hätte die SED-Führung einen solchen Em pfang für einen K PdSU-Generalsekretär gewiß mit Befriedigung beobachtet und jede Sy mpathiebekundung akribisch registriert. Nun aber fiel die Berichterstattung in den Medien der DDR derart mager aus, daß – w ie die ZAIG berichtete – „insbesondere auch von progressiven Kräften“ darüber „ in sehr kritischer Form Verwunderung und Unverständnis“ geäußert wurde. „ Es sei offensichtlich versucht worden, die politische Bedeutung dieses Staatsbesuches abzuschwächen.“ 474 Jene „progressiven Kräfte“ , deren Äußerungen im Mittelpunkt des ZAIG-Berichts standen, m achten sich auch G edanken über die w eitere Entw icklung des Verhältnisses der beiden deutschen Staaten zur Sowjetunion: „Die Ud SSR h abe sich in d er BRD v om wissen schaftlich-technischen Höchststand überzeugen können, über de n die DDR nicht verfüge. Letztendlich werde das, so di e Befürchtungen, zu ei ner ‚Abkopplung‘ der DDR führen. [...] In diesem Zusammenhang spielt auch immer wieder die Auffassung eine Rolle, die DDR müsse diese ‚Öffnung nach dem Westen‘ stärker nachvollziehen, um sich nicht zu isolie ren. In beachtlichem Umfang werden darüber hinausgehende Befürchtungen zum Ausdruck gebracht, daß sei tens der UdSSR im Interesse der ökonom ischen Unterstützung aus dem NSA [nichtsozialistischen Au sland] d ie Bereitsch aft v orhanden sei, auch politische Zugeständnisse, die nicht den Int eressen der DDR entsprechen, zu machen. In diesem Zusammenhang wird insbesondere verwi esen auf di e Grenzsi cherungsanlagen an der Grenze zur BRD bzw. zu Westberlin.“ 475

Die Rücksichtnahme der UdSSR auf die Interessen der D DR-Führung nahm in der Tat ab. Das war schon daran abzulesen, daß die Öffnung der ungarischen Grenze von sowjetischer Seite stillschweigend akzeptiert worden war. 476 473 Vgl. Oldenburg: Sowj etische Deutschl and-Politik (1989), S. 11–13, und Gorbatschow: Erinnerungen (1995), S. 706–708. 474 ZAIG: Bedeutsame Aspekte der Reaktion der Bevölkerung auf den Besuch des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Gen. Gorbat schow, in Bonn, 26.6.1989; BStU, ZA, ZAIG 5352, Bl. 135–139, hier 135. 475 Ebenda, Bl. 138 f. 476 G. Horn berichtet, Ungarn hätte die Sowjet s, die natürlich längst Bescheid wußten, „erst am letzten Tag“ informiert. Dadurch „ kamen sie umhin, Stellung nehmen zu müssen“. Horn: Freiheit (1991), S. 326. – Der neue unga rische Ministerpräsident Németh hatte Gorbatschow bereits am 3.3.1989 bei seinem Antrittsbesuch in Moskau, allerdings ohne einen Zeitpunkt zu nennen, über die Pläne seiner Regierung zur Öffnung der Grenze informiert und war auf keinen Widerspruch gestoßen; vgl. Hertle: Der 9. November 1989 in Berlin (1995), S. 803 f.

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In dem Konflikt zwischen Ungarn, der DDR und der Bundesrepublik unterstützte die UdSSR die D DR nur halbherzig. In einem Schreiben von A ußenminister Schewardnadse an seinen A mtskollegen O skar Fischer w urde zwar die Bundesrepublik w egen ihrer „ Anti-DDR-Kampagne“ im Zusam menhang mit der Flüchtlingswelle heftig kritisiert, Ungarn jedoch m it keinem einzigen Wort erwähnt. 477 Von grundsätzlicher Bedeutung waren programmatische Äußerungen, mit denen Gorbatschow in diesen Wochen seine Konzeption von Blockpolitik als Element der Westöffnung definierte. Er bekräftigte dam it jene Positionen, die von sowjetischer Seite bereits auf der Wiener K SZE-Folgekonferenz Anfang des Jahres vertreten w orden waren. Dabei ging es zu diesem Zeitpunkt noch nicht um eine Auflösung des wirtschaftlichen und politischmilitärischen Bündnissystems, des RGW bzw. des Warschauer Pakts, sondern um ihre „ Umformung zu einer freiwilligen Gem einschaft sozialistischer Staaten im engen V erbund m it der Sow jetunion“. 478 A nfang Juli sprach der sow jetische Staatschef vor der parlam entarischen Versammlung des Europarats in Straßburg über seine „ Konzeption des gesam teuropäischen Hauses“. 479 Er forderte die A nerkennung des Status quo, das heißt der „Zugehörigkeit der Staaten Europas zu unterschiedlichen sozialen Systemen“, und „die Respektierung des souveränen Rechts eines jeden V olkes, die G esellschaftsordnung nach seinem Ermessen zu wählen“. In glattem Gegensatz zu der alten These von der „ Unumkehrbarkeit“ des Übergangs zum Sozialismus erklärte er dann: „ Die soziale und politische Ordnung in diesem oder jenem Land hat sich in der V ergangenheit verändert und kann sich auch in Zukunft ändern. Dies ist aber ausschließlich A ngelegenheit der V ölker selbst und deren Wahl.“ Das war eine deutliche Unterstützung für die Reformprozesse in U ngarn und Polen und zugleich eine Absage an die – im Westen als „ Breshnew-Doktrin“ bezeichnete – frühere sowjetische Hegemonialpolitik: „Jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten und alle Versuche, die Souveränität der Staaten einzuschränken, seien das Freunde und V erbündete oder nicht, ist unzulässig.“ Für die reformfeindlichen Regime Osteuropas, vor allem Rumäniens, der Tschechoslowakei und der DDR, noch bedeutsam er w ar die verschlüsselte A nkündigung, daß sie zur A ufrechterhaltung ihrer H errschaft auf keine – w ie es zuvor geheißen hatte – 477 Schreiben von Eduard Schewardnadse an Oskar Fischer vom 1.9.1989, Anlage zum Arbeitsprotokoll des Politbüros vom 5.9.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3238; Nachdruck in Stephan (Hrsg.): Vorwärts, S. 113 f. 478 Wagenlehner: Gorbatschow und die Auflösung der „ sozialistischen Gemeinschaft“ (1991), S. 449. Daß diese Einschätzung zutre ffend ist, geht schon daraus hervor, daß Gorbatschow selbst im Dezember 1989 noch des Glaubens war, diese Bündnissysteme könnten künftig eine Rolle spielen; vgl. das Protokoll seiner Verhandlungen mit dem amerikanischen Präsidenten G. Bush am 2./3.12.1989 auf Malta, in Gorbatschow: Gipfelgespräche (1993), S. 93–130, hier 123. 479 Rede in Beilage zu Sowj etunion heute, 1989, Nr. 8, S. XI–XVI, hier XII; vgl. Wettig: UdSSR (1990), S. 13 f.

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„brüderliche H ilfe“ m ehr hoffen konnten. D enn, so Gorbatschow, seine „Doktrin der Zurückhaltung“ schließe „ die Möglichkeit der A nwendung oder Androhung von Gewalt, vor allem von militärischer – Bündnis gegen Bündnis oder innerhalb eines Bündnisses – wo auch immer [aus]“. 480 Das taktische Dilemma der Hardliner außerhalb der Sowjetunion war, daß sie sich gegen diese Positionsveränderung kaum wehren konnten. Deutlich wurde das am folgenden Tag auf dem Gipfeltreffen der Warschauer-PaktStaaten, dem letzten vor dem revolutionären Herbst. Es fand ausgerechnet in Bukarest statt. Eine A hnung von Entw icklungen, die für sie bedrohlich waren, ist den Referaten einiger Generalsekretäre anzum erken, 481 aber von einer realistischen Diagnose der Lage waren die meisten Teilnehmer weit entfernt: Die politischen Veränderungen, zu denen sie sich bei der Wiener KSZE-Konferenz Anfang des Jahres verpflichtet hatten und die ihnen – w egen der Vertiefung der Krise und wachsenden Drucks von unten – nun unmittelbar bevorstanden, konnten ihre Regim e nicht unbeschadet überstehen. Darüber aber wurde fast nur in A ndeutungen gesprochen, die die Fronten der Auseinandersetzung allerdings durchaus erkennen lassen. Gorbatschow etw a begrüßte im Einleitungsreferat die verbesserten O stWest-Beziehungen. A usdrücklich verw ahrte er sich in diesem Zusam menhang dagegen, „die ‚deutsche Karte‘ als G egengewicht zu den anderen europäischen Ländern zu spielen“ . 482 Sonst aber sprach er vor allem über Schwierigkeiten und N otwendigkeit der Perestroika. A uf die tatsächlichen Probleme seiner Genossen Generalsekretäre ging er nicht ein. A llerdings vermerkt der zusammenfassende Bericht der D DR-Delegation, daß in den Diskussionen bei diesem Treffen „die Sowjetunion davon aus[ging], daß die ‚internationalen Standards‘ im hum anitären Bereich ungeachtet aller Schwierigkeiten in den sozialistischen Ländern durchgesetzt w erden m üssen“. 483 Dagegen forderte Honecker in seinem Vortrag, die Teilnehmerstaaten müßten „verhindern, daß das Menschenrechts-Instrumentarium zur Unterminierung des Sozialism us m ißbraucht w ird“. 484 Aber auch Honecker wurde nicht konkreter. Den einseitigen ungarischen Beschluß zum Abbau der G renzsicherungsanlagen erw ähnte er m it keinem Wort, obwohl das in diesem Kreis ein für seine These naheliegendes Beispiel gew esen wäre. Er 480 Ebenda, S. XI f. 481 Die Ansprachen der Generalsekretäre der ko mmunistischen Parteien auf dem Gipfeltreffen des Warschauer Vertrags am 7.–8.7.1989 finden sich als Anlage zum Arbeitsprotokoll des SED-Politbüros vom 11.7.1989; BA Berlin, DY 30/J IV 2/2A/3229. 482 Ansprache von M. Gorbatschow; Anlage zum Arbeitsprotokoll des SED-Politbüros vom 11.7.1989, S. 21. 483 Von den Diskussionen liegt kein Protokoll vor. Zitat aus: Bericht zur Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages am 7. und 8.7.1989 in Bukarest, ausgearbeitet von Pete r Steglich, Abteilungsleiter im Bereich Grundsatzfragen und Planung des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, Anlage 1 zum Protokoll des Politbüros vom 11.7.1989; BA Berlin, DY 30/J IV 2/2/2336, S. 9. 484 Ansprache Honeckers, Anlage zum Arbeitsprotokoll des SED-Politbüros vom 11. 7.1989, S. 17.

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warnte nur in allgem einen Worten vor einer „ Abkehr vom internationalistischen Gehalt unserer Politik, von unserer gegenseitigen Solidarität“. 485 Das war überhaupt der G rundtenor seines Beitrags: K lagen über den G ang der Entwicklung und verhaltene A ppelle an die Sow jetunion, ihre frühere Führungsposition wieder wahrzunehm en. Das Ganze verpackt in der Beschwörung von „Bündnissolidarität“ und der Aufforderung, „in Zukunft intensiver als bisher gem einsam bestim mte Aspe kte der Entwicklung [...] zu erörtern“. 486 Zugleich aber – das w ar die Zw ickmühle, in der er sich befand – bekräftigte er das Recht „jeder Bruderpartei“, daß sie „ihre Politik und ihren Kurs“ selbst bestimme. 487 Sonst nämlich hätte er die strikte Weigerung, die Perestroika zu übernehm en, argum entativ nicht durchhalten können. Auch die Kritik an den Entwicklungen in Polen und Ungarn, deren Führungen dieses neugew onnene Recht bereits ausgiebig nutzten, konnte deshalb nur verklausuliert vorgebracht werden. Seine Bündnisgenossen Milos Jakes und Todor Schiwkow hatten die gleichen Problem e. Schiwkow immerhin machte deutlich, was er von dem in Ungarn im Frühjahr proklamierten Parteienpluralismus hielt: „ Wir dürfen nicht zu lassen, daß eine [Kom munistische] Partei [...] zu einer politischen Kraft unter vielen herabgewürdigt wird.“ 488 Für die Reform er m achte es der diplomatische Gesprächsduktus relativ einfach, einem offenen Konflikt auszuweichen. Wojcech Jaruzelski, dessen Partei im Vormonat eine fürchterliche Wahlniederlage erlitten hatte, 489 versuchte in einem kurzen Redebeitrag die anderen Teilnehmer glauben zu machen, es gehe in Polen nur darum , durch „ Einbeziehung der Opposition in das gemeinsame Vorgehen, [...] die Volkswirtschaft vor den Folgen politischer K onflikte [zu] bew ahren“. 490 An der in „ Jalta und Potsdam “ vereinbarten Ordnung werde nicht gerüttelt: „ Unser Land ist und bleibt Mitglied der sozialistischen G emeinschaft, ein stabiles G lied der O rganisation des Warschauer Vertrages.“ 491 Da war selbst Schiwkow realistischer, als er sich 485 486 487 488

Ebenda, S. 21. Ebenda, S. 22 u. 24. Ebenda, S. 21. Ansprache von Todor Schiwkow, Anlage zum Arbeitsprotokoll des SED-Politbüros vom 11.7.1989, S. 11. 489 Bei den Wahlen zum Sejm im Juni 1989 hatte Solidarno einen erdrutschartigen Sieg errungen, der nur dadurch zeitweilig relativie rt wurde, daß die regierende Koalition aus PVAP, der Bauernpartei und einigen kleinere n Blockparteien sich bei den Verhandlungen am Runden Tisch ein festes Kontingent von 65 % der Sejm-Mandate gesichert hatte. Bei den gleichzeitigen Wahlen zum Senat, wo es eine solche Einschränkung der Wahlfreiheit nicht gab, hatten Solidarno -Kandidaten 99 der 100 Sitze errungen. Das war freilich auch eine Folge des Mehrheitsw ahlrechts. Solidarno hatte beim 1. Wahlgang 64 % der Stimmen erhalten, die Regierungskoalition 17 % und unabhängige Kandidaten 9 %. 10 % der Wähler stimmten ungültig. Vgl. Radio Free Europe Research, Poland/10, 16 June 1989, Situation Report, u. ebenda, Poland/11, 6 July 1989, Situation Report, S. 17–20; Holzer: Polens Weg aus dem Ko mmunismus (1990), S. 17–28; Ziemer: Auf dem Weg zum Systemwandel in Polen (1989), S. 967 f. 490 Ansprache von Woj cech Jaruzelski, Anlage zum Arbeitsprotokoll des SED-Politbüros vom 11.7.1989, S. 7. 491 Ebenda, S. 4 u. 7.

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„beunruhigt“ zeigte, „daß in einem unserer Länder im Streben nach Erneuerung der Punkt überschritten werden kann, der Sozialism us von Nichtsozialismus trennt“. 492 Am deutlichsten wurden bei diesem Treffen aus gegensätzlichen Gründen Reszö N yers und Nicolae Ceauescu. N yers w ar w enige Tage zuvor zum Parteivorsitzenden der U ngarischen Sozialistischen A rbeiterpartei gew ählt worden und deshalb neu in dieser Runde. 493 O bwohl er als sein Ziel noch den „demokratischen Sozialismus“ bezeichnete, 494 verkörperte er bereits die Generation der Nach-Perestroika-Politiker. Zugleich ein Reformpolitiker der ersten Stunde, sprach er aus bitterer Erfahrung, als er zum Ausgangspunkt seiner A rgumentation die „ Lehre“ m achte: „ Die Wirtschaftsreform en können ohne eine Reform der politischen Struktur und ohne die Entfaltung der Demokratie nicht erfolgreich sein.“ 495 Aber auch Nyers postulierte noch „die Identität unserer [der sozialistischen Länder] grundlegenden Interessen“, begründete allerdings gerade damit die Möglichkeit, „von der früheren monolithen Auslegung der Einheit abzugehen, neue Form en der Beziehungen der sozialistischen Länder auszuarbeiten“. 496 Und dann proklamierte er – ohne daß dem widersprochen worden wäre 497 – das Ende der Breshnew Doktrin: „In unseren zwischenstaatlichen Beziehunge n gibt es keinen Platz für Belehrungen und B eschuldigungen. W ir sind überzeugt, daß di e Epoche der Ei nmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen durch militärische und jegliche andere Mittel, d ie Epoche der sogenannten Breshnew-Doktrin, endgültig der Vergangenheit angehört.“ 498

Ceauescu sprach als Gastgeber zuletzt. Nachdem er als einziger Teilnehmer das Blutbad in Peking, über das G orbatschow m it „ tiefem Bedauern“ gesprochen hatte, 499 ausdrücklich verteidigt hatte, erklärte er: „Es wäre unbegrei flich, würde di e Armee in einem Land dasitzen und ruhig zuschauen, wie die Konterrevolutionäre morden und die Volksmacht stürzen 492 Ansprache von Todor Schiwkow, S. 10. 493 Reszö Nyers (geb. 1923) gehörte bereits 1948 dem ZK der USAP an. Er wurde 1962 ZKSekretär und 1966 Mitglied des Politbüros und war in diesen Funktionen Vordenker und Motor der ungarischen Wirtschaftsreform. Deshalb wurde er 1974 auf sowjetischen Druck hin abgesetzt und 1975 aus dem Politbüro ausgeschlossen. Seine Rückkehr ins Politbüro im Mai 1988 war ein deutliches Zeichen für die Wende in der ungarischen Politik. 494 Ansprache von Reszö Nyers, Anlage zum Arbeitsprotokoll des SED-Politbüros vom 11.7.1989, S. 2. 495 Ebenda, S. 3. 496 Ebenda, S. 4. 497 Der Bericht der DDR-Delegation, der an giftigen Bemerkungen über Ungarn nicht sparte, erwähnt in diesem Punkt keinerlei Widerspruch. 498 Ansprache von Reszö Nyers, S. 4. 499 Ansprache von Gorbatschow, S. 32.

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wollen. [...] Wir werden jene Parteien und Staaten unterstützen, die alle M ittel einsetzen, um die Revolution, den Sozi alismus und di e unabhängi ge sozialistische Entwicklung des Landes zu schützen. Einen anderen W eg gibt es nicht. Man darf si ch auf kei nerlei Menschenrecht berufen, um den Sozialismus zu verni chten, um vor kont errevolutionären Akt ionen zurückzuwei chen.“ 500

Die etwas überstrapazierte Hegel-Sentenz, daß alle Geschichte zweim al geschieht, das zweite Mal als Farce, gilt auch für die rum änische Erneuerung der Breshnew -Doktrin zu einer A rt „ Ceauescu-Doktrin“. Doch es waren nicht nur Phrasen, die Ceau escu drosch. Er nämlich war der einzige Teilnehmer an diesem Treffen, der einige Monate später die G eheimpolizei gewaltsam gegen die demokratische Revolution vorgehen ließ. Honecker m ußte das Treffen wegen einer akuten Erkrankung vorzeitig verlassen. Aber auch wenn er geblieben w äre, hätte das w ohl nichts an der Abschlußerklärung geändert, in der, entsprechend der ungarischen Position, verkündet wurde: „Stabilität setzt den Verzicht auf Konfrontationsdoktrinen, auf Gewalt sowie die Unzulässigkeit einer direkten und indirekten Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten voraus. Kein Land darf den Verlauf der Ereignisse innerhalb eines anderen Landes diktieren, keiner darf si ch die Rolle eines Richters oder Schiedsrichters anmaßen.“ 501

Die Konservativen, zu denen neben H onecker und Ceau escu auch Jakes und Schiwkow gehörten, hatten einer solchen Position nichts entgegenzusetzen. Es w äre offenkundig sinnlos gew esen, auch nur zu versuchen, die sowjetische Führung zu einer politischen oder gar militärischen Intervention gegen Veränderungen zu veranlassen, um die sie im eigenen Land kämpfte. Außerdem hätten sie dann zugeben m üssen, daß ihre Regim e ohne sow jetische „Hilfe“ nicht zu halten waren. Die Bedeutung dieses G ipfeltreffens lag nicht zuletzt in Unterlassungen. Aus Sicht des orthodoxen K ommunismus war in den Wochen zuvor Ungeheuerliches geschehen: In Polen hatte die kom munistische Partei eine N iederlage erlitten und mußte die Macht mit Politikern teilen, die sie acht Jahre zuvor noch in Internierungslager hatte sperren lassen; in Ungarn war eine sozialdemokratisch orientierte Führung etabliert worden. Mit dem Auftritt von Reszö Nyers in Bukarest hatte die H äresie sogar im höchsten Machtorgan des Warschauer Paktes ein Fo rum erhalten. Doch der sowjetische 500 A nsprache Ceauescus, Anlage zum Arbeitsprotokoll des SED-Politbüros vom 11.7.1989, S. 18. 501 „Erklärung der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages“, in: Neues Deutschland 10.7.1989.

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Staats- und Parteichef schwieg dazu zumindest in seinem offiziellen Redebeitrag und machte so den Spielraum für Reformen sichtbar. Indem Gorbatschow die anderen Reform er nicht direkt auf der offiziellen Ebene unterstützte, signalisierte er, daß sie eine politische Wende in ihren Ländern selbst durchzusetzen hatten. Diese Zurückhaltung dürfte darüber hinaus drei Gründe gehabt haben: Zum einen entsprach sie der neuen sow jetischen Linie der N ichteinmischung. Zw eitens übernahm die ehem alige Führungsmacht durch dieses V erhalten auch nicht die V erantwortung für einen Kurswechsel. Und drittens – das dürfte der entscheidende Punkt gewesen sein – wurde dadurch eine offene Spaltung des „ sowjetischen Lagers“ vermieden. Es war Gorbatschow sicherlich bewußt, daß eine der Ursachen – freilich nicht die w ichtigste – für den Sturz des Reform ers N ikita Chruschtschow gewesen war, daß er die sino-sow jetische Spaltung nicht zu vermeiden vermocht hatte. 502 Die Gefahr eines Bruchs, der faktisch bereits existierte, aber noch nicht offen zutage getreten w ar, stand nun wieder im Raum. Anfang Januar 1989, kurz vor der Wiener K SZE-Folgekonferenz, war Horst Sindermann, Mitglied des SED-Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrates, zugleich stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates der DDR, in Zentralamerika gewesen. In seinem Bericht für das Politbüro zitierte er eine eigene Äußerung gegenüber Daniel Ortega, dem sandinistischen Präsidenten Nicaraguas: „Die Versuche einiger sowjetischer Genossen, Ratschläge für die Ü bernahme der Perestroika in anderen Ländern zu geben, können nicht geduldet w erden, w eil dies zur Spaltung innerhalb der internationalen A rbeiterbewegung führen würde.“ 503 D iese Warnung, die gewiß auch den sowjetischen Genossen zu Ohren gekommen ist, war durchaus ernst zu nehm en. Eine solche Spaltung aber hätte die Position der Reformer im Machtapparat der KPdSU zumindest kurzfristig geschwächt. Daran konnten sie kein Interesse haben. Die Differenzen innerhalb des eigenen Lagers waren dennoch so deutlich, daß die Hardliner in der SED-Führung und ebenso die MfS-Generalität spätestens seit dem Gipfeltreffen in Bukarest wissen mußten, daß sie bei dem Versuch einer repressiven Lösung der Krise auf keinerlei Rückendeckung durch den Warschauer Pakt und insbesondere keine H ilfe der in der D DR stationierten Westgruppe der sow jetischen Streitkräfte rechnen konnten. 504

502 Vgl. Ruffmann: Sowjetrußland (1967), S. 252; Tatu: Macht und Ohnmacht im Kreml (1968), S. 322–327, 369–372 u. 390 f. 503 „Vermerk über ein Gespräch des Genossen Horst Sindermann mit dem Präsidenten der Republik Nikaragua, Genossen Daniel Ortega, am 4.1.1989 in Havanna“, Anlage zur Arbeitsakte zur Sitzung des Politbüros am 10. 1.1989, S. 8; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3186. 504 Vgl. dazu auch Hertle, Pirker u. Weinert (Hrsg.): „Der Honecker muß weg!“ Protokoll eines Gespräches mit Günter Schabowski am 24. April 1990, S. 21 f.

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Das bedeutete nicht, daß die SED -Führung schon davon ausgegangen wäre, daß die U dSSR sie gänzlich fallenlassen würde. Noch im Juni 1989, als die vorhandenen Differenzen auch im außenpolitischen Bereich nicht mehr zu leugnen w aren, hatte Gorbatschow gegenüber Honecker erklärt: „Wir verändern uns, [...] aber unsere Haltung zur Deutschen Dem okratischen Republik und zu ihrer Führung unter G enossen Erich Honecker bleibt unverändert.“ 505 Diese Position w urde im September durch einen hochrangigen Besucher aus Moskau noch einmal bekräftigt. 506 Für die Glaubwürdigkeit solcher Vers icherungen sprachen auch Informationen, die die SED -Führung aus der Bundesrepublik erhielt. In Bonn wartete man zu diesem Zeitpunkt noch vorsichtig ab, um keine kontraproduktiven Reaktionen auszulösen. 507 In einer MfS-Information für die Parteiführung, die wahrscheinlich von der Hauptverwaltung Aufklärung beschafft worden war, wurde berichtet, „ zuständige BRD-Regierungskreise“ seien in Auswertung von G orbatschows Besuch in der Bundesrepublik zu dem Schluß gekommen: „Das nat ionale Int eresse der UdSSR gebe ihr Reformaufgaben und westeuropäische Ziele vor, die die DDR in gewisser Weise in den Hintergrund verwiesen. [...] Dennoch werde die bes timmte Rückstufung der DDR im sowjetischen Interessengefüge und im Beziehungsdreieck BRD – UdSSR – DDR nicht zur Folge haben, daß di e DDR i m Zuge ei nes Ausgl eichs oder ei nes Angebots förmlich p reisgegeben wird . Dies wü rde zu ein er Destab ilisierung der Situation führen, welche die sowjetische Reformführung zu Recht fürchten müsse.“ 508

Wenn auch noch nicht mit dem – aus Sicht der SED -Führung – Schlim msten gerechnet wurde, so war ihr doch bewußt, daß es nun eng werden würde. Hermann Axen, im Zentralkomitee zuständig für die internationalen Beziehungen, konstatierte resigniert: „Zum ersten Mal in der G eschichte gibt es 505 Niederschrift des Arbeitstreffens von Honecker mit Gorbatschow am 28. 6.1989 in Moskau, Nachdruck in Stephan: Vorwärts, S. 208–239, hier 209. 506 In einem Bericht zu dem Besuch von Jegor Ligatschow, Mitglied des Politbüros der KPdSU, in der DDR im September 1989, wird der sowj etische Gast mit den Worten zitiert: „ Die chauvinistischen Kreise der BRD würden davon träumen, die DDR zu verschlingen. Er betonte: ‚Wir haben einen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen der UdSSR und der DDR. Alle, die die Souveränität und Unabhängigkeit der DDR antasten wollen, müssen wissen, daß die Sowjetunion als treuer Freund und Verbündeter der DDR entschlossen ist, diesen Freundschaftsvertrag mit der DDR strikt einzuhalten. ‘“ „ Niederschrift über das Gespräch von Günter Mittag mit Jegor Ligatschow am 14. September 1989 in Berlin“, Anlage 2 zum Arbeitsprotokoll der Politbüro-Sitzung am 19.9.1989, 17 S., hier S. 3; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3241. 507 Vgl. Korte: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft (1998), S. 440–445. 508 MfS: „Information über ‚deutschlandspezifische‘ und europapolitische Aspekte in der Politik der UdSSR aus BRD-Sicht“ vom 14.8.1989; BStU, ZA, HVA 644, Bl. 121–123. Bestimmt war diese Information für Axen, Krenz und Fischer. Weitere Adressaten sind aus dem Original herausgeschnitten.

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aber auch große Schwankungen in der KPdSU, auch darauf setzt der Gegner im Kampf gegen die D DR.“ 509 In ungewohnter Offenheit sprach Mitte August Otto Reinhold, der Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, über das Dilemma, in dem sich die SED-Führung befand. Es w ar ein V ersuch, den A nhängern des Regim es und den loy alen Bürgern eine im mer schwerer nachvollziehbare Politik verständlich zu machen. In einem Rundfunkvortrag verteidigte Reinhold das starre Festhalten am Status quo m it dem „ prinzipiellen U nterschied zwischen der DDR und anderen sozialistischen Staaten“. Diese Staaten hätten bereits „ vor ihrer sozialistischen Um gestaltung“ bestanden und deshalb sei ihre Staatlichkeit „nicht in erster Linie von der gesellschaftlichen Ordnung abhängig“. „Anders die DDR. [...] W elche Existenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben? Natürlich keine. Nur wenn wir diese Tatsache immer vor Augen haben, wi rd klar erkennbar, wie wichtig für uns eine Gesellschaftsstrategie ist, die kompromißlos auf die Festigung der sozi alistischen Ordnung geri chtet ist. Für ei n leichtfertiges Spiel m it d em So zialismus, m it d er so zialistischen Staatsm acht ist da kein Platz.“ 510

Ganz nebenbei wurde von Reinhold bei dieser G elegenheit die seit dem VIII. Parteitag der SED propagierte These von der DDR als einer „ sozialistischen N ation“ fallengelassen. Seine Begründung für die Reformunfähigkeit der SED war insofern zutreffend, als die Existenz der D DR nicht auf der erprobten Zustim mung der Staatsbürger oder einem kollektiven Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit basierte, das einen U nterschied zum anderen deutschen Staat begründet hätte, sondern – neben sowjetischen Garantien – auf Institutionen, die ihr eine spezifische Identität verliehen. 511 Trotz zutreffender Diagnose aber war die Schlußfolgerung fatal. N un wurde auch aus dem – generell unergiebigen – brain trust des Regimes signalisiert, daß keine Bereitschaft zu wie auch im mer gearteten Reformen bestehen würde. Reinhold mochte gedacht haben, er propagiere nur eine Politik konservativer Bestandsbewahrung, tatsächlich aber war das nicht m ehr m öglich. Es war eine historische Situation herangereift, die ähnlich ein Jahrhundert zuvor Fürst Falconeri beschrieben hatte: „ Wenn w ir w ollen, daß alles bleibt, wie es ist, dann ist nötig, daß alles sich verändert.“ 512 Wegen des Wandels in den äußeren Rahm enbedingungen des Regim es und wachsenden zivilen 509 Mitschrift Hergers von der Sitzung des SED-Politbüros am 29. 8.1989, in: Stephan (Hrsg.): Vorwärts (1994), S. 96–107, hier 100. 510 Otto Reinhold: Der Kampf der beiden Systeme und die Gesellschaftskonzeption der SED, Radio DDR II, 19.9.1989, Typoskript in: RIAS Monitor-Dienst 20.8.1989, S. 1–4. 511 Vgl. Lepsius: Institutionenordnung (1994), S. 17. 512 Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Leopard (1994), S. 35.

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Ungehorsams im Innern w ar die Entscheidung nicht mehr länger aufzuschieben: harte Repression oder politische Öffnung. Beide Optionen wurden in diesen Wochen vorbereitet.

1.5 Das MfS am Vorabend der Krise Der Staatssicherheitsdienst war mit einem gewaltigen Waffenarsenal 513 ausgestattet und durch umfangreiche Schulungsmaßnahmen und logistische Planspiele 514 zum K ampf gegen „ konterrevolutionäre Umsturzversuche“ gerüstet. Wie aber war er konzeptionell und m ental auf die Auseinandersetzung en im Herbst 1989 vorbereitet? Um die Frage hinsichtlich des konzeptionellen Aspekts zu beantw orten, muß man die Lage gem äß der Logik dieses Apparates betrachten. Zweifellos war es die Hauptaufgabe des M fS, einen Sturz der SED-Diktatur zu verhindern. 515 Das hätte – im manent betrachtet – e ine adäquate Einschätzung der Situation und daraus abgeleitete Maßnahm en erfordert. Verantwortlich war dafür inne rhalb des Ministerium s selbstverständlich zuallererst dessen Führung und vor allem ihr autokratischer Chef. In seiner letzten großen Rede zur allgem einen Lage vor dem Sturz Honeckers hat Mielke sich an einer Orientierung hinsichtlich der kommenden Konflikte versucht. Er hielt diese Rede vor der SED -Kreisleitung im MfS anläßlich der A uswertung einer ZK -Tagung Ende Juni. Im internationalen Teil seines Referats konstatierte er durchaus zutreffend V erfallserscheinungen im sozialistischen Lager. In Polen habe Solidarno  „Zu gang zur Macht erhalten“; in der ungarischen Partei hätten „revisionistische, auf den Sozialdem okratismus eingesc hworene rechte K räfte“ die Führung übernommen. 516 „ Im G runde genom men“, m einte Mielke dazu, „erinnert 513 Vgl. die Übersicht zur Bewaffnung in dem Be richt „Die Staatssicherheit in Liquidation“, die von der Regierung Modrow am 15.1.1990 dem zentralen Runden Tisch vorgelegt wurde, Nachdruck in Fricke: MfS intern (1991), S. 188–195, hier 190. 514 Vgl. Auerbach: Vorbereitung auf den Tag X (1995), S. 102–115. 515 Das vom Nationalen Verteidigungsrat der DDR 1969 erlassene „ Statut“ des MfS legte in § 1 fest: „Die Tätigkeit des M fS konzentriert sich auf die Aufklärung und Abwehr zur Entlarvung und Verhinderung feindlicher Pläne und Absichten der aggressiven imperialistischen Kräfte und ihrer Helfer und dient der Festigung und Stärkung des sozialistischen Staates als der politischen O rganisation der Werktätigen, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch -leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen“. „ Statut des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik“ vom 30.07.1969; BStU, ZA, SdM 1574, Bl. 7–16. 516 „Referat auf der Sitzung der Kreisleitung der SED im M fS zur Auswertung der 8. Tagung des ZK – Manuskript – (29. Juni 1989)“; BStU, ZA, DSt 103604, S. 82 u. 85. In dem Bericht des Politbüros, den Joachim Herrmann erstattet hatte, war die Entwicklung in beiden Ländern ebenfalls kritisiert worden ; in der veröffentlichten Fassung dieses Berichts hatte man die Kritik an Polen j edoch weggelassen. (Protokoll der 8. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheits partei Deutschlands; BStU, ZA, SdM 2296, Bl. 1103–1224, hier 1112; Neues Deutschland 23.6.1989.) Die Scheu der SED-Führung, sich auf einen öffentlichen Konflikt mit Polen einzulassen, war durchgängig. Einen w e-

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die Lage an die Situation 1956.“ 517 Auch an der Politik Gorbatschows übte er indirekt, aber doch eindeutig Kritik: „Wir müssen uns i mmer darüber i m kl aren sei n, daß di e Im perialisten m it den Begriffen Erneuerung, Perestroika und Glasnost die Zielstellung der Beseitigung des Sozialismus verbinden, daß man es mit Perestroika leichter habe, uns zu vernichten.“ 518

Diese Entwicklungen hätten „ auch die feindlichen, oppositionellen Kräfte und Gruppierungen bei uns erm untert, m it dieser Zielstellung [„ die Macht der Arbeiterklasse auszuhöhlen und zu destabilisieren“] immer offener und provokatorischer in Erscheinung zu treten“. 519 Trotz dieser drastischen Schilderung war der Minister jedoch w eit davon entfernt, den vollen Ernst der Lage zu begreifen. Das hatte mehrere Gründe. Erstens hat er die beginnende Fluchtwelle über Ungarn als den entscheidenden innenpolitischen Destabilisierungs faktor erstaunlicherweise damals noch übersehen, er hat ihn nicht einm al erwähnt. Zweitens ging Mielke von der illusionären Annahm e aus, „ daß wir m it unserer Gesellschaftskonzeption gut gerüstet sind, den gegenwärtigen wie auch den neuen Erfordernissen, den absehbaren inneren und äußeren Bedingungen in den neunziger Jahren zu entsprechen“. 520 Da war kein Raum , innere K risenursachen auch nur zu denken. Deshalb konnte, drittens, innerer Widerspruch nur als von außen induziert begriffen w erden. D abei komme „ im K onzept des G egners“ dem „Sozialdemokratismus“ eine „ besondere Rolle“ zu. 521 G ebe es doch sogar

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sentlichen Grund dafür hat Günter Mittag in einer Politbüro-Sitzung genannt: „Der gesamte Erdöltransport geht durch Polen, ohne ihn könnten wir nicht eine Woche leben.“ Mitschrift Wolfgang Hergers von der Politbüro-Sitzung am 29.8.1989; BA Berlin, DY 30 IV 2/2039/76, Nachdruck in Stephan: Vorwärts (1994), S. 96–107, hier 106. Referat auf der Sitzung der Kreisleitung am 29.6.1989, S. 86. Ebenda, S. 32. Hermann Axen hatte ähnlich schon im Januar 1989 gegenüber Alexander Jakowlew in Moskau geklagt: „ Der Gegner gebraucht für seine Angriffe gegen die DDR die für die UdSSR gültigen Losungen der Perestro ika als vergiftete Pfeile.“ „Bericht über Konsultationen mit dem Zentralkomitee der KPdSU am 26. und 27. Januar 1989 in Moskau“, Anlage 5 zum Protokoll der PolitbüroSitzung am 7.2.1989, 22 S., hier S. 19; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2314. Mielke: Referat am 29.6.1989, S. 91. Ebenda, S. 58. Ebenda, S. 33. – In einer von der ZAIG Anfang September 1989 erarbeiteten „ Information“ für die Mitglieder des Politbüros wurde diese These untermauert. Danach „verfolgen Führungskräfte der SPD gegenüber der DDR das strategische Ziel, langfristige innenpolitische ‚Wandlungsprozesse‘ analog entsprechender Vorgänge in einigen anderen sozialistischen St aaten i n Gang zu s etzen [ ...] Di esen Akt ivitäten l iegt di e er klärte Absicht zugrunde, insbesondere die evangelischen Kirchen in der DDR als politisches Potential für innenpolitische Veränderungen in der DDR im Sinne sozialdemokratischer Gesellschaftskonzeptionen nutzbar zu m achen.“ M fS-Information Nr. 386/89 vom 4.9.1989 „über sicherheitspolitisch zu beachtende aktuelle Aspekte des Zusammenwirkens von Führungskräften der SPD mit Vertretern der evangelischen Kirchen und personeller Zusammenschlüsse in der DDR“; BStU, ZA, ZAIG 3756, Bl. 81–94, hier 82 u. 84.

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„Pläne, die darauf hinauslaufen, in der SED Fuß zu fassen und in ihr allmählich einen sozialdemokratischen Wandlungsprozeß zu erreichen“. 522 Das war im übrigen keine spezifische Marotte von Mielke, der noch in den Kategorien des Kampfes gegen den „Sozialdemokratismus“ in den fünfziger Jahren befangen war, sondern eine These, die auch von seinen jüngeren Spezialisten für den „politischen Untergrund“ vertreten wurde. Der Leiter der für den „politischen Untergrund“ zuständigen Hauptabteilung XX/9, Oberst Reuter, schrieb wenig später in einer „Lageeinschätzung“: „In der Erkennt nis der bisherigen weitestgehenden W irkungslosigkeit der Untergrundaktivitäten ori entieren si ch di e Inspi ratoren und Organisatoren politischer Untergrundtätigkeit stärker als bisher auf die Suche nach geeigneten Verbindungen und Ei nflußpositionen im Staatsapparat, in der Partei, der NVA sowi e den Schut z- und Si cherheitsorganen. Si e verfolgen langfristig das Ziel, über derartige Verbindungen und Positionen Einfluß auf staatliche und gesellschaftliche Prozesse zu beko mmen, die innere Stabilität der DDR zu untergraben und dam it Voraussetz ungen für gesellschaftliche Veränderungen zu schaffen.“ 523

Die Oppositionellen in der DDR – so Mielke – würden außerdem bei dem Versuch, „die sozialistische Staats- und G esellschaftsordnung in der D DR aufzuweichen, zu zersetzen und zu destabilisieren, auf das engste m it dem Gegner zusam men[arbeiten] und sich in seine strategischen Pläne ein[ordnen]“. D er Minister m einte, diese „ Pläne“ zu kennen: Die NATO-Staaten „setzen auf eine allm ähliche dauerhafte Erosion des Sozialism us, auf einen langsamen, sich stetig vollziehenden Wandel der inneren politischen Strukturen und weniger auf schlagartige, konterrevolutionäre Um sturzversuche.“ 524 Das war zutreffend 525 – die A nnahme allerdings, die innere Opposition würde sich in diese „Pläne“ einordnen, war grundfalsch. Dieser Irrtum machte Mielke für den nahenden Ausbruch der offenen Krise blind. Die Mittel, m it denen Mielke die dräuenden Gefahren glaubte abwehren 522 Ebenda, S. 34. – Die Fixierung von Mielke auf den „ Sozialdemokratismus“ zeigte sich auch bei einer Diskussion im Politbüro Ende August. Ministerpräsident Stoph hatte erklärt: „Der Gegner hat einen Großangriff gestartet, begonnen mit Bush“, darauf ein Zwischenruf von Mielke: „ Einschließlich SPD “. Mitschrift Hergers von der PolitbüroSitzung am 29.8.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/6, Bl. 51 f., Nachdruck in Step han: Vorwärts (1994), S. 96–107, hier 103. 523 HA XX/9: „ Lageeinschätzung für die Ja hresplanung 1990“ vom 30.8.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 177, Bl. 36–46, hier 37. 524 Mielke: Referat am 29.6.1989, S. 21. 525 Hans-Dietrich Genscher hat diese Politik in einer Anhörung vor der Enquete-Kommission in der Formel zusammengefaßt: „ Durch eine Politik der Verständigung wurden die Rahmenbedingungen für die evolutionären Entwicklungen im sowjetischen Machtbereich geschaffen.“ Protokoll der 53. Sitzung zu „Phasen der Deutschlandpolitik“, in: Deutscher Bundestag – Materialien der Enquete-Kommissi on (1995), Bd. V, S. 961; vgl. Ash: Im Namen Europas (1995), S. 261–274; Potthoff: Die „ Koalition der Vernunft“ (1995), S. 38 f.

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zu können, entsprachen seiner Diagnose. Das Wichtigste sei, an „unumstößlichen Grundsätzen“ wie der „ führenden Rolle der Partei“ festzuhalten und nicht, wie in U ngarn oder in Polen, „ Zugeständnisse“ in der „ Machtfrage“ zu machen. 526 D as w ar eine Mahnung an die Partei. Seinen Generälen befahl der Minister darauf zu achten, daß „ feindliche, oppositionelle Kräfte“ versuchen würden, „die staatlichen Organe öffentlich heraus[zu]fordern, sie zu restriktiven Maßnahm en, zum Einsatz der staatlichen Machtm ittel [zu] provozieren“. 527 Zugleich würde mit solchen Aktionen versucht, die Machtstrukturen pluralistisch aufzuweichen. Es handelte sich dabei anscheinend um G eschehnisse, die ärgerlich w aren, deren G efährlichkeit aber begrenzt war, weil sie – noch nicht – m it der „ Machtfrage“ verbunden waren. In der Formulierung war enthalten, daß man nicht in diese Falle laufen sollte – was keineswegs Untätigkeit zu bedeuten hatte. Unter Berufung auf Honecker betonte Mielke, daß Demonstrationen schon im Vorfeld zu verhindern seien, und fügte mit leicht resignativem U nterton hinzu: „ Natürlich können w ir solche Kräfte nicht aus der Welt schaffen – aber ihren A ktionen muß rechtzeitig begegnet werden.“ 528 Wenn die vorbeugende Verhinderung solcher „Aktionen“ m ißlingen und auch die A ktivitäten der „ Partner“ des M fS nichts fruchten sollten, waren alle verfügbaren Kräfte, auch „Mitarbeiter, die nicht den operativen Diensten angehören“ , zu „Sicherungseinsätzen“ zu mobilisieren. 529 Die Folge war, und davon wird noch zu sprechen sein: Solche Mitarbeiter kamen ungewohnt eng mit der gesellschaftlichen Realität in Kontakt. Zwei Monate nach Mielkes großer Rede kamen die Bezirkschefs des MfS Ende August in Berlin-Lichtenberg zu einer D ienstberatung zusammen. Sie waren näher am tatsächlichen Geschehen als der Minister und sollten über die Situation in ihren Bezirken berichten. In Abweichung von dem üblichen Ritual ließ Mielke zuerst sie sprechen, unterbrach die Redner freilich häufig mit Zw ischenfragen und redete anschließend ebensolange wie alle seine Vorredner zusammen. Ausgewählte Bezirkschefs hatten über ihre V orbereitung auf den 50. Jahrestag des Beginns des Zw eiten Weltkriegs zu berichten, über die Weiterleitung der im Mai verschickten Informationen zu den oppositionellen Gruppen an die lokalen SED-Spitzen und schließlich über die allgemeine Lage, über die „ Stimmung“ vor Ort. Nur letzterer Aspekt ist hier von Interesse. Dem Protokoll ist abzulesen, daß die Redner, H ände an der H osennaht, sprachen: „Genosse G eneraloberst!“, „ Genosse Minister, w enn Sie gestatten[...]“, „ Aber ich m öchte bitte Ihnen nicht widersprechen [...]“ 530 Dieser 526 Mielke: Referat am 29.6.1989, S. 58 u. 61. 527 Ebenda, S. 95. 528 Ebenda, S. 98. 529 Ebenda, S. 103 f. 530 „ Dienstbesprechung des Genossen Ministers am 31. August 1989“; BStU, ZA, ZAIG 8679, Bl. 2–80, hier 18, 27 u. 40. Auszugsweiser Nachdruck in Mitter u. Wolle: Befehle, S. 113–

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Atmosphäre w ar es w ohl auch geschuldet, daß die Behauptung stereotyp wiederholt wurde, die Lage sei „ stabil“ oder sogar „ sehr stabil“, man habe „alles im Griff“. Gewiß, daß die „ Stimmung in der Bevölkerung“ nicht gut sei, berichteten die m eisten. D iskutiert w erde über die Fluchtw elle, über Versorgungsprobleme, Mängel bei den Dienstleistungen, die „Unkontinuität des Produktionsablaufs“ (so der Berliner BV fS-Chef Hähnel). Gemeldet wurde, daß m an die Partei selbstverständlich laufend inform iere; verschiedentlich seien wegen der Fluchtwelle sogar „Arbeitsgruppen“ bei den 1. Sekretären der SED -Bezirksleitungen eingerichtet worden. Die „feindlichen Kräfte“ würden laufend unter Beobachtung gehalten. N ur Hummitzsch aus Leipzig wurde deutlicher. Er konstatierte unumwunden: „Die Stimmung ist mies.“ Das gelte auch für die Partei. 531 Dafür wurde er in der Pause vom Minister gerügt, obwohl da „was dran“ sei. 532 In dem Punkt, der Mielke am stärksten interessierte, drückte sich der Leipziger BVfS-Chef sehr vorsichtig aus: „Was die Frage der Macht betrifft, Ge nosse M inister, wi r haben di e Sache fest in der Hand, sie ist stabil. [...] aber es ist außerordentlich hohe W achsamkeit erforderlich [...] Es ist tatsäch lich so, daß aus einer zufällig entstandenen Situation hier und da auch ei n Funke genügt , um etwas in Bewegung zu bringen.“ 533

Diese Ä ußerung w ar eine A usnahme. Ty pisch w ar etw a die Einschätzung von Oberst Dangrieß, dem Chef der Bezirksverw altung in G era: „ Genosse Minister, ich würde sagen, natürlich ist die Gesam tlage stabil.“ Allerdings seien w egen der „ Ungarnprobleme“ „ viele auch progressive Kräfte nachdenklich“. Mielke versuchte ihn zu provozieren: „ Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht? “ Dangrieß beschwichtigte: „ Der ist m orgen nicht, Genosse Minister, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.“ 534 Diese Fehleinschätzungen w aren auch auf den im MfS herrschenden Führungsstil zurückzuführen. „ Um ihrer selbst willen haben die Chefs der Staatssicherheit die heraufziehende ‚Staatsunsicherheit‘ nicht angekündigt.“ 535 Keiner der „Kämpfer“ hätte w ohl riskiert, vor dem „Genossen Minister“ zuzugeben, daß ihm die Lage in seinem V erantwortungsbereich zu entgleiten drohte. A ber wahrscheinlich war das den meisten auch gar nicht 138. 531 Ebenda, Bl. 28. 532 Hummitzsch berichtet außerdem, Mielke habe ihm vorgehalten, „ daß nicht die Stimmung, sondern meine Meinung dazu ‚mies‘ gewesen sei“. Interview in: Riecker, Schwarz u. Schneider: Stasi-intim. Gespräche mit ehemaligen MfS-Angehörigen (1990), S. 205– 221, hier 214. 533 „Dienstbesprechung des Genossen Ministers am 31. August 1989“, Bl. 29. 534 Ebenda, Bl. 25. 535 Daniela Dahn: Begegnungen mit der gebrochenen Macht, in: Unabhängige Untersuchungskommission, Berlin 1991, S. 290–293, hier 292.

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bewußt. D ie Situation w urde so w ahrgenommen, w ie sie über Jahrzehnte gewohnt waren, nach oben zu berichten: als Addition m ehr oder weniger unerfreulicher Phänom ene, die m an jeweils unter Kontrolle zu halten versuchte und m öglichst „ vorbeugend“ an „Öffentlichkeitswirksamkeit“ hinderte. Mit der Fluchtwelle, die dam als freilich noch nicht jenes exponentielle Ausmaß angenommen hatte wie in den folgenden Wochen, w ar ein neues Problem dazugekommen, aber es w urde genauso isoliert betrachtet und behandelt wie die anderen Probleme. Man gewinnt bei der Lektüre fast den Eindruck, daß der 82jährige Mielke damals weniger vergreist war als seine Generäle. Vielleicht rührt dieser Eindruck aber auch nur daher, daß er der einzige w ar, der ungehemmt schwadronieren konnte. Er faßte das Ergebnis mit den Worten zusam men, „daß einigermaßen – nach dem Überblick – die Sache im G riff ist“ . 536 Ab er offenbar traute er dem Frieden nicht, denn er forderte „mehr Ohr an der Masse“. Trotz ihrer vielen Lauscher bekam die Staatssicherheit anscheinend nicht m ehr alles m it: „ Die Ohren sind entweder taub geworden oder sind nicht lang genug.“ 537 Doch das Problem war w ohl w eniger die Länge der Ohren als die V erarbeitung dazw ischen. Während die Inform ationen aus dem „ imperialistischen Ausland“ bis zum Exzeß verallgem einert, synthetisiert und zu gewagten Schlußfolgerungen weitergesponnen wurden, sind Informationen aus der DDR zwar akribisch gesam melt, aber fast als Rohmaterial weitergereicht worden. Deshalb war es gar nicht so erstaunlich, daß der Umschlag im gesellschaftlichen Bewußtsein und die einsetzende Verkettung zwischen den verschiedenen K risenelementen dem Überwachungsapparat lange Zeit verborgen geblieben sind. Mielke ahnte Zusam menhänge, denn er räumte hinsichtlich der Fluchtwelle ein: „Es ist doch keine isolierte Masse, die da weggeht, die ist doch mittendrin in der Bevölkerung, geht aus der Bevölkerung raus weg.“ 538

Die Ursachen aber hat er eingestandenermaßen nicht begriffen: „Der Sozialismus ist so gut, da verlangen sie immer mehr und m ehr. So i st die Sache. Ich denke i mmer daran, al s wi r erl ebten [si c!], ich konnte auch keine B ananen essen, ni cht wei l es ke ine gab, sondern wei l wi r kei n Gel d hatten, sie zu kaufen. Ich meine, das sol l man nicht so schl echthin nehmen;

536 „Dienstbesprechung des Genossen Ministers am 31. August 1989“, Bl. 45. 537 Ebenda, Bl. 73. 538 Diese Passage wird in der Reinschrift des Protokolls (ebenda, Bl. 12) falsch wiedergegeben: aus „ keine“ wurde „ eine“. Sie wird hi er zitiert nach der Rohfassung: Tonbandabschrift der Dienstbesprechung am 31. 8.1989; BStU, ZA, ZAIG 4884, Bl. 68–172, hier 80.

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das soll man ideologisch nehmen, die Einwirkung auf die Menschen.“ 539

Diese Äußerung, die in den folgenden Wochen im MfS nach Berichten von ehemaligen „Tschekisten“ geradezu sprichwörtlich werden sollte, ist nicht nur kurios. Sie zeigt, daß Mielke – ebenso w ie Honecker 540 „ein Fossil d er kommunistischen Weltbewegung“ 541 – die in den achtziger Jahren gerad e in der jüngeren G eneration w achsenden Erw artungen und neuen Bedürfnisse, etwa nach höherwertigen Konsumgütern, und die politische Bedeutung ihrer zunehmenden Frustration schlichtweg nicht verstand. D as w ar neben der Unfähigkeit, die gesellschaftlichen Konflikte im Zusam menhang zu sehen, eine zweite Ursache für die eigenartige Blindheit der M fS-Generalität und der Hardliner in der SED -Führung angesichts der eskalierenden K rise. A llerdings wäre in diesem System eine solche Analyse Sache der Partei gewesen – auch nach Meinung Mielkes, der sich erstaunlich kritisch über die SED äußerte. In Paraphrase einer ständig wiederholten Parole fragte er: „Was heißt es denn, die Partei ist überall? Wenn sie nicht mal merkt, daß neben uns einer sitzt, der abhaut und abhauen will. Solche Fragen sind nicht mit administrativen Mitteln und Befehlen zu reglementieren und zu lösen.“ 542

Darin war Einsicht in die G renzen eigener H andlungsmöglichkeiten ebenso enthalten wie die Forderung, die Partei sollte m obilisiert werden, um die Stimmung zu wenden – ein Wunsch, für dessen Realisierbarkeit es keinerlei Anzeichen gab. Damals existierten im Ostblock zwei Modelle des Übergangs zur Liberalisierung: das sowjetische bzw. ungarische und das polnische Modell. Ersteres w ar die Einleitung einer Liberalisierung „ von oben“ , durch einen ursprünglich reformkommunistischen Flügel (wie schon in der Tschechoslowakei 1968), letzteres – das polnische Modell – ein politischer Kurswechsel, der durch D ruck von unten ausgelöst w urde. Mielke ging offenbar von der Annahme aus, die unmittelbare „Gefahr“ sei die ungarische Variante, „denn überall ist die ideologische D iversion spürbar“ 543. Er fügte hinzu: „Noch eine kleine Bem erkung, auch wieder parteilich. Auch gute Genossen unterliegen moralischen Veränderungen, merkt Euch das, auch gute G enossen, im Zusammenhang mit den ganzen Problemen, die ich aufwarf.“ 544 Aus der ungarischen Variante konnten V erhältnisse w ie in Polen hervorgehen, und dann war es zu spät: 539 540 541 542 543 544

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„Dienstbesprechung des Genossen Ministers am 31. August 1989“, Bl. 17. Vgl. Andert u. Herzberg: Sturz (1990), S. 424. Zwahr: Umbruch durch Ausbruch und Aufbruch (1994), S. 447. „Dienstbesprechung des Genossen Ministers am 31. August 1989“, Bl. 75. Ebenda, Bl. 77. Ebenda, Bl. 78.

„Man muß also alle operativen Kräf te und Mittel ausschöpfen, um alles in Erfahrung zu bringen, was die Initiato ren und die Hinterm änner planen. Das wichtigste: Ausschöpfung aller besti mmenden rechtlichen Möglichkeiten in der Verordnung über di e Gründung und Tä tigkeit von Vereinigungen und in der Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen. Das m uß man nutzen. W enn näm lich die Sache sich er st so weit en twickelt wie in Polen usw., dann ist es natürlich sehr schwer, etwas zu machen.“ 545

Im letzten Satz schwingt gewiß auch die Erfahrung m it dem Scheitern des Kriegsrechts in Polen nach 1981 m it. Der Verweis auf die „ Ausschöpfung“ von Vereins- und Versammlungsrecht aber w ar keine O rientierung, mit der die „Tschekisten“ für die Probleme im Herbst tatsächlich gew appnet gewesen wären. Mielkes improvisierte Rede war auch keine psy chologische Mobilmachung für irgendeine Entscheidungsschlacht gegen den „ inneren Feind“. Tatsächlich w ar es eine Mischung aus V erdrängung, starrsinnigem Festhalten an den überkommenen Verhältnissen und Hilflosigkeit, die in der rhetorischen Frage gipfelte: „ [...] was soll denn aus uns werden, vom Westen der Feind und dann haben w ir noch unser Hinterland, mit den formellen und informellen Gruppen.“ 546 Er hatte darauf auch keine Antwort. In w elcher V erfassung befanden sich dam als die einfachen Mitarbeiter der Staatssicherheit? Wären sie bei einem entsprechenden Befehl bereit gewesen, gegen den inneren „Feind“ loszuschlagen? Die Förderung der individuellen Disposition, gesellschaftlichen Widerspruch auch m it Gewalt zu unterdrücken, w ar Teil der „ tschekistischen“ Sozialisation; „Haß“ auf den Feind galt als „ ein wesentlicher, bestim mender Bestandteil der tschekistischen Gefühle“. 547 Dabei bestand zum inneren „Feind“ eine doppelte soziale D istanz: Er w urde als Instrum ent einer äußeren Macht wahrgenommen, des „Imperialismus“, dem ein „ reaktionäres, aggressives, m enschenfeindliches Wesen 548“ bescheinigt wurde. Zu dieser ideologischen Prädisposition kam ein sozialpsy chologisches Mom ent: D ie w enigsten M fS-Angehörigen hatten direkten Kontakt mit den „ feindlich-negativen Kräften“. Im Privatleben waren solche Kontakte verpönt, und auch im „beruflichen Bereich“ kam es kaum zu K ontakten, wenngleich man bemüht war, ein möglichst exaktes Bild der jeweiligen Stimmungslage in der Bevölkerung zu erhalten. Doch selbst die m eisten operativen Mitarbeiter gew annen ihr Bild von den Menschen, die sie überwachten und traktierten nicht durch unmittelbare Beobachtung, sondern aus den Berichten von inoffiziellen Mitarbeitern. Soziale Distanz zw ischen Täter und potentiellem O pfer aber erhöht die Gewaltbereitschaft. 549 H inzu kam die kollektive D isposition: die Erziehung zu „be545 546 547 548 549

Ebenda, Bl. 65. Ebenda, Bl. 77. Suckut (Hrsg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit (1996), S. 168. Stichwort „Imperialismus“, in: Kleines politisches Wörterbuch (1985), S. 387. Vgl., a uf B asis d es M ilgram-Experiments, Bauman: Dialektik der Ordnung (1994),

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dingungslosem Gehorsam“, das Selbstverständnis als Teil eines „bewaffneten Organs“, die militärische Schulung und Symbolik, der männerbündische Charakter des A pparates und ähnliches m ehr. G äbe es angesichts dieser Konstellation einen vernünftigen Grund da ran zu zweifeln, daß diese „Tschekisten“ – wie ihre sowjetischen Vorbilder – in einer entsprechenden Situatio n und bei einschlägigen Befehlen auch zu blutiger Repression gegen den „Feind“ hätten eingesetzt w erden können? Einen V orgeschmack dafür lieferten einige von ihnen, wie noch zu zeigen sein wird, am 7. und 8. Oktober. Die Verbindung von sozialer Distanz zu den potentiellen O pfern und ein abstraktes, aber emotional und moralisch aufgeladenes Feindbild ist für die Situation der M fS-Angehörigen im Spätsommer 1989 allerdings nicht mehr ganz zutreffend. D as Feindbild w ar stellenw eise verblaßt und hatte Risse bekommen. Selbst der „Kapitalismus“ wurde im Zuge der Entspannungspolitik und vor allem dem Bestreben Gorbatschows, ein „gemeinsames europäisches Haus“ zu errichten, nicht m ehr so vehem ent verteufelt w ie bisher, 550 obwohl sich die MfS-Oberen nach K räften um die A ufrechterhaltung des alten Feindbildes bemühten, das freilich „ konkret“ sein sollte. Viel wichtiger aber w ar ein anderer Punkt: D er A bstand zwischen den MfSAngehörigen, die glaubten, einer Elite anzugehören, und der überwältigenden Mehrheit der D DR-Bürger w ar im V orfeld der Krise geringer geworden. Schon zu Beginn des Jahres w aren von der Parteikontrollkom mission im MfS vielerlei negative Einflüsse aus dem gesellschaftlichen Umfeld konstatiert worden. Nun kamen neue Herausforderungen dazu: Bei den „ Sicherungseinsätzen“ gegen D emonstrationen wurden auch „nicht-operative Mitarbeiter“ herangezogen, die sonst Schreibtischarbeit zu verrichten hatten. Sie standen plötzlich ganz norm alen, engagierten Menschen gegenüber, die wegen offenkundiger Mißstände auf die Straße gingen. D as begann im Sommer, wurde freilich erst im Oktober zu einer Massenerscheinung und dann zu einem für die D emoralisierung der Staatssicherheit sehr bedeutsamen Phänomen. Das vorrangige Problem des M fS im Spätsom mer w ar, die Fluchtw elle einzudämmen. Deshalb wurden seine Mitarbeiter vor allem in den K reisdienststellen von Antragsteller (auf Ausreise) zu Antragsteller geschickt, um Überzeugungsarbeit zu leisten. Doch die Feststellung des Leiters der BV fS Karl-Marx-Stadt bei der erwähnten D ienstbesprechung Ende A ugust kann weitgehend verallgemeinert werden: daß „ nicht ein einziger, der bisher abgelehnt wurde“ – das heißt dessen A usreiseantrag abschlägig beschieden worden war und der nun „ zurückgewonnen“ werden sollte – „ die Ablehnung akzeptiert hat“. 551 Solch vergebliches Bemühen wirkte demotivierend. S. 169–172. 550 Eine kleine politische Sensation war schon der Titel eines Buches, das 1988 in der DDR erschien: Dieter Klein: Chancen für einen friedensfähigen Kapitalismus, Berlin (Ost) 1988. 551 Generalleutnant Gehlert in: „ Dienstbesprechung des Genossen Ministers am 31. August 1989“, Bl. 43.

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Zugleich hatte sich die soziale D istanz zur Bevölkerung, die nie perfekt ge-

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wesen war, verringert; „ der Feind“ begann ein G esicht m it individuellen Zügen zu bekommen. Welche A uswirkungen hatte diese Entw icklung im M fS? Wie w ar vor der „ Wende“ die Stim mung? D iese Frage ist schw er zu beantw orten, w eil aus naheliegenden Gründen die Quellenlage in diesem Punkt fragmentarisch ist: Das M fS war ein „ militärisches Organ“, in dem Kritik von unten nach oben nicht vorgesehen w ar und sanktioniert w urde. Deshalb war man vorsichtig, brachte Kritik vor allem nicht zu Papier – die „ Sputnik-Affäre“ ist ein Beleg für diese These. Kritische Bem erkungen waren außer im engsten Kollegenkreis am ehesten noch auf den Parteiversam mlungen in den Diensteinheiten möglich. Auch das war nicht ungefährlich, denn selbst eine „Eingabe“ an das Zentralkom itee konnte Anlaß zu einem Parteiverfahren sein, aber es konnte zum indest nicht als Verstoß gegen die militärische Disziplin oder gar als „ Meuterei“ 552 interpretiert werden. Von solchen Parteiversammlungen existieren zusam menfassende Berichte. D iese Berichte wurden von den hauptam tlichen Parteifunktionären im MfS in der Offizialsprache geschrieben, in der Sollen und Sein, Norm und Realität, in eins gesetzt wurden. 553 Zu dieser ideologischen D eformation kam verstärkend bürokratisches Eigeninteresse: Die Auto ren hatten zu dem onstrieren, daß die „parteierzieherische Arbeit“ nicht vernachlässigt worden war. Deshalb sind ihre Berichte nicht wörtlich zu nehm en. Soweit Abweichungen von der gewünschten Wirklichkeit erwähnt wurden, sind sie als stark untertriebene und beschönigte Indizien für innerinstitutionelle Auseinandersetzungen zu interpretieren. Traditionell wurden in diesen Berichten überwiegend individuelle Normverletzungen wie Alkoholmißbrauch, fehlende Wachsam keit, „ Verstöße gegen die m ilitärisch-tschekistische Disziplin“ oder „unmoralische Lebensweise“ verzeichnet. Andeutungen von politischen Diskussionen, die sich in diesen Berichten durchaus finde n, wurden versteckt hinter Formulierungen wie: Es habe zu bestimmten Problemen – etwa der unkritischen Berichterstattung in den Massenm edien über die Planerfüllung – „ Fragen“, manchmal sogar „Bedenken“ gegeben. Sie auszuräumen war Sache der Parteileitungen. 554 Das wurde immer schwieriger. Am 7. September 1989 tagte das Parteiaktiv im M fS, um zu hören, w ie die „ politische Arbeit“ im Ministerium vonstatten ging. Dafür fertigte das

552 MfS-Angehörige wurden durch die §§ 257 und 259 des StGB der DDR mit Gefängnis bis zu fünf bzw. acht Jahren bedroht, wenn si e – wie es im offiziellen Kommentar heißt – wagten, „gegen die grundlegenden Anforderungen an die militärische Disziplin und Ordnung vorzugehen“. Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik. Kommentar zum Strafgesetzbuch, Berlin (Ost) 1984, S. 542. 553 Dazu grundlegend Marcuse: Die Gesellschaf tslehre des sowjetischen Marxismus (1964), S. 92–99. 554 Vgl. beispielhaft „ Information über I nhalt und Ergebnisse der politisch-ideologischen Arbeit und des innerparteilichen Lebens in den PO/GO (Juli 1987)“ der SED-Kreisleitung im MfS vom 30.7.1987; BStU, ZA, SED-KL 571, Bl. 21–29.

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Sekretariat der Kreisleitung Ende August eine Vorlage 555, und ihr 1. Sekretär, Generalmajor Horst Felber, hatte auf Basis der Berichte aus den Parteiorganisationen ein langes Referat vorbereitet. In dem folgenden Zitat aus Felbers Rede wird hinter norm ativen Aussagen ein Stück gesellschaftlicher Realität sichtbar: „Die Qualität der politischen Führungstä tigkeit muß in erster Linie daran gemessen werden, wie [...] die erforderlichen W irkungen in den Kollektiven erzielt werden. Das Letztere wird auch deshal b i mmer notwendiger, weil auch in u nseren Reih en immer d eutlicher wird , d aß eben nicht nur das Parteikollektiv auf unsere Genossi nnen und Genossen ei nwirkt. Si e werden in ihrer tschekistischen Arbeit, bei der Lösung der Aufgaben i m Verant wortungsbereich m it den unterschiedlichste n Inhalten und in vielfältiger Form mit der Ideologie des Feindes, mit ideologischen Unklarheiten und Fragestellungen, m it M ängeln, M ißständen und Fehl ern konfront iert. Im Freizeitbereich wirkt auch das auf sie ein, wa s unsere W erktätigen bewegt . Und machen wir uns ni chts vor, es set zen si ch ni cht weni ge Genossi nnen und Genossen den Wirkungen der westlichen Massenmedien gewollt aus.“ 556

Letztere Formulierung war eine Umschreibung für den abendlichen Konsum westlicher Fernsehprogram me. Trotz solcher sprachlichen Verrenkungen wird jedoch deutlich: Die Genossen waren vielfältigen „ Einwirkungen“ ausgesetzt, und sie w aren dagegen offenbar nicht resistent, sonst hätte dieser Umstand nicht erwähnt werden müssen. Konkreter wurde Felber in seinem Referat nicht. Eine Ausnahme war, daß er m onierte, es würden „ nach wie vor noch m anche Genossen für eine Ü bernahme dieser oder jener Seite der Umgestaltung in anderen sozialistischen Ländern bei uns ein[treten]“ . 557 Solche Auffassungen sollten durch „ sehr feinfühlige, aber im Inhalt eindeutige ideologische A rbeit“ zurückgedrängt w erden. Es w ar dem 1. Sekretär bei dieser Forderung erkennbar unw ohl, denn er betonte zugleich: „ Wir weichen keinen Millim eter von unserer Position ab, daß die DDR ohne die engste Bindung an die UdSSR undenkbar ist.“ 558 Der Zwiespalt zwischen der Bindung an die Sow jetunion und der Subordination unter die Abgrenzungspolitik der SED-Führung, der in solchen Formulierungen anklingt, hat sicherlich viele M fS-Kader beschäftigt. H orst Felber selbst, der seit 1970 als hauptam tlicher Parteifunktionär im Sekretariat der Kreisleitung tätig war, hat nach seiner Entlassung am 6. Dezember 555 Bericht des Sekretariats der SED-Kreisleitung im MfS zur Sitzung am 7.9.1989; gez. von Rammelt, Leiter der Abt. Parteiorgane; da tiert am 31.8.1989; BStU, ZA, Neiber 89, Bl. 737–752. 556 Referat von Horst Felber auf der Aktivtagung der Parteiorganisation im MfS am 7.9.1989; BStU, ZA, Neiber 89, Bl. 677–736, hier 728. 557 Ebenda, Bl. 693. 558 Ebenda, Bl. 694.

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in einer ziemlich wehleidigen „Selbstdarstellung“ als seinen „ Hauptfehler“ bezeichnet, „daß wir in der ideologischen Arbeit falschen Orientierungen gefolgt sind und auch, als erste Keime für andere Gedanken und Erkenntnisse reiften, trotzdem äußerst zaghaft in unseren A ndeutungen blieben. Das galt auch für einige nach unserer Meinung durchaus übernehmbare Erfahrungen des U mgestaltungsprozesses in der Sow jetunion.“ 559 Er hielt sich in diesem S chreiben zugute, daß die „ tendenziösen Bem erkungen Erich Honeckers in Bezug auf die Sowjetunion [...] in die Parteiorganisation des MfS nie Eingang gefunden“ hätten. D as w ar nicht etwa eine Unbotmäßigkeit, sondern sei Ergebnis einer Besprechung zw ischen ihm als dem höchsten Parteifunktionär im MfS, dem ZK-Sekretär für Sicherheit, Egon K renz, und dem Leiter der A bteilung Sicherheit, Wolfgang H erger, die bereits im Sommer 1988 stattgefunden habe. 560 Mielke war anscheinend nicht zugezogen worden – ein erstes Indiz für A nfänge eines D ifferenzierungsprozesses im Sicherheitsapparat. Felber behauptete in seiner „Selbstdarstellung“ weiter, anders als Mielke habe er „eine Einteilung der Kommunisten und Tschekisten in solche, denen man vertrauen kann und solche, denen man mißtraut [...] nie zugelassen“. 561 Das las sich vor Tische anders. In sein er Rede vor dem Parteiaktiv forderte er die Parteileitungen auf, sie sollten im Zusammenhang mit dem anstehenden U mtausch der Parteidokum ente „ eine echt klärende D iskussion“ mit „den Genossen“ führen. Dabei hätten sie darauf zu achten, „ob eine gewisse Hilflosigkeit und Zw eifel mitschwingen bzw. ob in den Haltungen der Genossinnen und Genossen nicht schon Tendenzen mit anklingen, unsere Politik verächtlich zu machen, ob so diskutiert wird, als würde m an gar nicht zum einheitlichen Kam pfbund gehören.“ 562 Wie verbreitet solche „ Haltungen“ w aren, dazu äußerte sich Felber nicht. D ie V erlogenheit der Phrasen von „Kämpfertum“, „ideologischer Stählung und klassenmäßiger Erziehung der Tschekisten“ 563 wird deutlich, wenn m an sie m it der nachträglichen Rechtfertigung Felbers dafür vergleicht, w arum er so lange den Mund gehalten und mitgespielt hat: „Es ging m ir um meine eigene Existenz und die Existenz m einer Söhne, die auch im Organ arbeiten und bereits Familien haben.“ 564 Nachvollziehbare Beweggründe, die aber zeigen, w ie hohl es

559 Schreiben von Horst Felber an Wolfgang Schwanitz vom 6.12.1989; BStU, ZA, Kaderakte Horst Felber, KS 981/90, Bl. 166–180, hier 173. 560 Ebenda, Bl. 172. 561 Ebenda, Bl. 174. 562 Referat von Horst Felber am 7.9.1989, Bl. 729. – In einer Sitzung der SED-Kreisleitung, die wenig später stattfand, wurde unter Verw eis auf die „verstärkten Feindangriffe“ noch einmal betont: „ Noch konsequenter sind erst e Anzeichen eines nicht parteimäßigen und tschekistischen Verhaltens zu bewerten.“ Protokoll der Sitzung der SED-Kreisleitung am 19.9.1989; BStU, ZA, SED-KL 512, Bl. 398–407, hier 400. 563 Ebenda, Bl. 724 u. 730. 564 Schreiben von Horst Felber an Wolfgang Schwanitz vom 6.12.1989, Bl. 179.

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hinter der m artialischen Fassade aussah, w ie banal die Motive waren, die diese Institution noch zusammenhielten. Etwas plastischer in der Schilderung der Diskussionen, die in diesen Wochen im MfS stattfanden, war die schriftliche Vorlage der SED-Kreisleitung und vor allem der zusam menfassende Bericht über die D iskussion in den Diensteinheiten. In der Vorlage wurde ebenfalls gefordert, „ auf die Probleme zu achten, die aus dem Umfeld auf die G enossen einwirken, um negativen Einflüssen rechtzeitig und wirksam zu begegnen“ . 565 Zur Wahrnehmung der Reformprozesse in Ungarn, Polen und der UdSSR heißt es: „Alles, was sich dort vollzieht, findet bei den Genossen nach wi e vor di e größte Aufm erksamkeit und wird intens iv und oftm als leidenschaftlich diskutiert. [...] Die Parteileitungen nehm en darauf Einfluß, daß aktuelle Vorgänge i n der Sowjet union, der VR Polen und i n Ungarn sowi e gegneri sche Verzerrungen nicht zu Zwei feln an der Perspekt ive des Sozi alismus führen. Dennoch werden von einigen Genossen nach wi e vor B edenken bezügl ich der Chancen des Sozialismus in der Systemauseinandersetzung geäußert.“ 566

Das war sehr verhalten formuliert. Auch die Zusammenfassung der Monatsberichte aus den Parteiorganisationen begann in schönfärberischer O ffizialsprache. Angeblich dominierten allgemeines Verlangen nach einer „Fortführung unseres bewährten Kurses“ und „ festes Vertrauen in die Politik der Partei- und Staatsführung“ . 567 Doch dann folgt die Schilderung der M fSinternen Diskussion über die „illegale Ausreise von DDR-Bürgern“: „Bedenklich st immt vi ele Genossi nnen und Genossen der Fakt , daß es zu einem großen Teil junge M enschen si nd, di e unsere R epublik verl assen. Das Verständnis der Genossen dafür, wo die Gründe liegen, daß die politischideologische Diversion des Gegners gerade auf diesem Gebiet starke Wirkungen zeigt, ist insgesamt recht unterschiedlich ausgeprägt. Es rei cht von Fragen nach den Ursachen und B eweggründen für das Verlassen der R epublik und was die Partei- und St aatsführung dagegen zu tun gedenke (PO/ GO III [Funkaufkl ärung 568], OTS [Operativ-technischer Sektor], AGM [Arbeitsgruppe des Minis565 Bericht des Sekretariats am 7.9.1989, Bl. 747. 566 Bericht des Sekretariats der SED-Kreisl eitung zur Sitzung am 7.9.1989, Bl. 741. – Zum Vergleich: Umfragen des Leipziger Jugendinstituts Ende 1988 und im 1. Halbjahr 1989 ergaben, daß der These: „Der Sozialismus wird sich in der ganzen Welt durchsetzen“ nur 10 Prozent der Lehrlinge, 6 Prozent der Jungarbeiter und 15 Prozent der Studenten zustimmten, während sie mit „nicht“ bzw. „kaum“ von 58, 64 bzw. 46 Prozent kommentiert wurde. Der Rest war unentschlossen (Antwort: „mit Einschränkung“). Friedrich: Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR (1990), S. 29. 567 SED-Kreisleitung, Abteilung Parteiorga ne: „Information über Stimmungen und Meinungen zu aktuell-politischen Ereignissen aus den PO/GO auf der Grundlage der Monatsberichte August 1989 und zur gegenwärtigen politischen Lage“, 13. 9.1989; BStU, ZA, SED-KL 512, Bl. 317–324, hier 317 u. 320. 568 In Klammern jeweils ein Stichwort zum hauptsächlichen Aufgabenbereich der jeweiligen

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ters], PS [Personenschut z], XI [Chi ffrierwesen], XII [Archi v und Auskunft ], XVII [Besucherbüros], BdL [Büro der Lei tung]) bis zu solchen Feststellungen, daß ‚die angestrebte b reite g esamtgesellschaftliche Fro nt zu r Zu rückdrängung solcher Erschei nungen kaum wi rksam wi rd‘ (GO XVIII [W irtschaft]), ‚i n der DDR vi elleicht doc h etwas m ehr Um gestaltung not wendig sei‘ (GO ZOS [Zentraler Operativst ab]), daß m an si ch Gedanken machen müsse, ‚welche Fehler in der Vergangenhei t von der Part ei- und St aatsführung gemacht wurden‘ (GO XVIII) und ‚die Ursachen für diese Entwicklung vor allem im gesellschaftlichen System der DDR zu su chen sin d‘ (PO RD [Rückwärtige Dienste]).“ 569

Das bedeutete: Die herrschende Politik wurde von vielen M fS-Angehörigen nicht mehr vorbehaltlos akzeptiert. Sie artikulierten inzwischen in Parteiversammlungen „Fragen“ und sogar „Feststellungen“, die noch zu Jahresbeginn ein Parteiverfahren provoziert hätten. A ls w eitere Problem e, die A nlaß zu kritischen Diskussionen gaben, aber nicht ganz so brisant waren, werden genannt: die schlechte V ersorgungslage; die Spaltung der Bevölkerung in Besitzer von Westgeld, die „ im Intershop einkaufen“ können, und solche ohne D evisen (die unter einfachen MfS-Mitarbeitern, denen jeder Kontakt mit Westverw andtschaft strikt verboten w ar, besonders zahlreich w aren); der fehlende Realitätsbezug der DDR-Medien. Diese Kritikpunkte stim men mit dem überein, w as etw a zur gleichen Zeit über die Stim mungslage der DDR-Bevölkerung, besonders der Ausreisewilligen, berichtet wird. 570 Es gibt natürlich auch wesentliche Unterschiede: Die fehlende Reisefreiheit wird von den M fS-Mitarbeitern nicht kritisiert, „ der Vertragsbruch der ungarischen Regierung“ werde moniert und die Entwicklung dort und in Polen als „verhängnisvoll“ bezeichnet. Anscheinend koexistierten zu diesem Zeitpunkt überkommene Feindbilder, offizielle Propagandaklischees und kritische Sichtweisen im MfS generell und w ahrscheinlich auch in den K öpfen seiner Mitarbeiter. Aus dieser Ü bersicht geht nicht hervor, w elches Problem den Anstoß für eine offenere D iskussion gegeben hat. D ie prononciertesten Äußerungen werden aus den Debatten über die Ursachen der Fluchtwelle zitiert; das könnte bedeuten, daß sich die D iskussion daran entzündet hat. Diese Vermutung verdichtet sich bei Lektüre der „ Monatsberichte“ einer einzelnen Diensteinheit über einen etw as längeren Zeitraum . Es handelt sich um Berichte einer SED -Grundorganisation (G O) in einer U nterabteilung der Hauptabteilung III, zuständig für Funkaufklärung, einer Diensteinheit mit etwa 160 Mitarbeitern. Der Bericht vom Juli ist völlig konformistisch: Alles geschieht „zeitverzugslos“, „konsequent“ oder „ stabsmäßig“. D ie einzige Diensteinheit. 569 Ebenda, Bl. 320 f. 570 Dazu siehe Kap. 2.3, S. 233 ff.

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Kritik, die erwähnt wird, betrifft das unzureichende Obstangebot in der Kantine und Angehörige des Wachregim ents, die vor dem D ienstsitz der Hauptabteilung III in Berlin-Köpenick Wache zu schieben hatten. Sie, wahrscheinlich junge Wehrpflichtige, würden es an „ militärischer Disziplin“ und an „Achtung und Höflichkeit“ gegenüber den Offizieren fehlen lassen. 571 Im folgenden Bericht vom August wird dann plötzlich vermeldet, es würden „Möglichkeiten“ verlangt, „ Standpunkte zu aktuell-politischen Problemen auf der G rundlage der Beschlüsse uns erer Partei ergebnisorientiert zu diskutieren“. Erstm als w ird eine „ Diskussion zum Problem der ständigen Ausreise“ erwähnt, bei der „ unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Vorgehensweise zur Lösung“ deutlich geworden seien. Besonders debattiert wurde darüber, daß die meisten Flüchtlinge aus der Altersgruppe der 18- bis 30jährigen stammen, „die die Früchte der guten und richtigen Sozialpolitik geerntet haben und die Zukunft unserer Republik mitgestalten müßten“. Die GO-Leitung hatte zwar „ einen festen und klaren“ , anscheinend jedoch inhaltslosen „ Standpunkt“ bezogen, denn „ dabei konnten die entstandenen Fragen nicht im mer beantw ortet w erden“. Sie konstatierte nun, daß „sich verstärkt die Frage nach den U rsachen auf[drängt]“. Von da aus war es nur ein Schritt, um auf grundsätzliche Fragen zu stoßen: „ Bei der Behandlung dieser Problematik wird besonders deutlich, wie wichtig es ist, sich m it den Problemen unserer Gesellschaft viel stärker zu beschäftigen.“ 572 Wieder einen Monat später, im September, wurde als Ergebnis einer Mitgliederversammlung notiert: „Immer mehr fragen uns die G enossen, wo die Ursachen für diese Entw [icklung] in bezug auf das m assenhafte ungesetzliche Verlassen der DDR“ liegen. Die offizielle Parteipropaganda wurde nicht mehr akzeptiert: „Eine große Zahl von Genossen i st davon überzeugt, daß hi er nicht nur die PID [politisch-ideologische Diversion] gewirkt hat, sondern daß auch gesellschaftliche Problem e u[nd] W sp. [W idersprüche] in unserer Entw[icklung] einen ni cht zu unterschätzenden Anteil an di esen Tat sachen haben. St ändig mit diesen Problemen durch den Gegner konfront iert, entsteht bei vielen Genossen objektiv der Ei ndruck, daß unser e Partei ein Informationsmanko gegenüber i hren M itgliedern, aber gerade auch gegenüber al len ehrlichen und positiven Menschen in der DDR hat. Es gibt natürlich auch z[um] T[eil] stark emotionale und überzogene Reaktionen einzelner Genossen.“ 573

571 Monatsbericht Juli 1989 der GO 7 in der PO III vom 14.7.1989; BStU, ZA, HA III 2115, Bl. 114–117. 572 Monatsbericht August 1989 der GO 7 in der PO III vom 23.8.1989; BStU, ZA, HA III 2115, Bl. 86–89. 573 Handschriftliche Notizen nicht identifizierbarer Herkunft, überschrieben mit „ Vorbereitung Leitungssitzung der GO [7] am 20.9.1989“, Zwischenüberschrift „ MV [Mitgliederversammlungen] September 1989“; BStU, ZA, HSA 2115, Bl. 75 f. – Um dieses Beispiel

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Die „tschekistische Moral“ hatte in diesen Monaten gelitten, das Vertrauen in die Linie der Partei w ar rapide im Schwinden begriffen. Es gab keine Stimmung, die danach gedrängt hätte, hinter H onecker, Mielke oder gar Joachim Herrmann (dem Verantwortlichen für die ideologische Aufrüstung) in eine Entscheidungsschlacht gegen den inneren Feind zu ziehen. A llerdings gab es zu diesem Zeitpunkt auch noch keine A nzeichen für eine A uflösung der Disziplin oder gar für eine V erweigerung von Befehlen. Viele Mitarbeiter waren frustriert, aber die Institu tion funktionierte weiterhin und war für die ihr übertragenen Aufgaben durchaus noch einsetzbar. Ende September fand eine Dienstberatung der Linie X X/4 statt. Sie w ar zuständig für die Bearbeitung der K irchen und die Bekäm pfung ihres „politischen Mißbrauchs“, war also gewissermaßen im Zentrum des Geschehens. Der Leiter der Hauptabteilung XX/4, Oberst Wiegand 574, leitete das Treffen mit den Referatsleitern aus den Bezirksverw altungen und gab zu Beginn eine allgemeine Einschätzung. Einer der Teilnehm er, der Referatsleiter XX/4 aus Neubrandenburg, notierte: „Voranstellend wurde eingeschätzt, daß sich oppositionelle Bestrebungen so entwickelt haben, daß sie nicht mehr ohne weiteres liquidiert werden können. Operative Maßnahmen des MfS mit repressivem Charakter sind aufgrund der Lageentwicklung nicht m öglich. Dem zufolge ist die politische Einflußnahme/ Führung entscheidend.“ 575

Wiegand war seiner Zeit um ein geringes voraus.

abzurunden: Nach der Inthronisation von Krenz, Mitte Oktober, war es mit dem Kritikvermögen auch schon wieder vorbei. Der folgende Bericht bediente sich des gleichen Jargons wie der eingangs zitierte: „ offensiv und kämpferisch“ etc. pp. Monatsbericht Oktober 1989 der GO 7 in der PO III vom 24.10.1989; BStU, ZA, HA III 2115, Bl. 34–39. 574 Jochen Wiegand (geb. 1932 in Meißen); Traktorist; 1952 Eintritt in das MfS; 1966–1989 Mitarbeiter, seit 1979 Abteilungsleiter der HA XX/4 (Überwachung der Kirchen); 1970– 1975 Fernstudium an der JHS; 1985 Oberst. Vgl. Wer war wer? (1995), S. 791. 575 BVfS Neubrandenburg, Abt. XX: Beratung der Hauptabteilung XX/4 mit den Leitern der Referate XX/4 aller Bezirksverwaltungen am 21.9.1989; BStU, ASt Neubrandenburg, Abt. XX 663, o. Pag., 4 S. Für den Hinwei s auf dieses Dokument danke ich Andreas Niemann von der Außenstelle Neubrandenburg de s BStU. Im Zentralarchiv ist ein entsprechendes Protokoll, bisher zumindest, nicht nachweisbar.

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Polarisierung von Gesellschaft und Parteistaat

In den Septem berwochen vollzog sich auf allen Seiten – der O pposition, dem Regim e und auch bei den äußerlich oder tatsächlich angepaßten Bürgern – ein Prozeß der Radikalisierung und der D ifferenzierung ihrer jew eiligen Position. I m f olgenden s oll n ach d em Einstellungswandel und dem Verhalten von sechs A kteursgruppen am Beginn des „Herbstes“ gefragt werden: je zwei nach Radikalität ihrer Position unterschiedene Gruppierungen auf den Ebenen Altes Regim e und Opposition; die Masse der Bevölkerung differenziert nach äußerlich loy alen und innerlich sy stemtreuen Bürgern. Ausgangspunkt der D arstellung ist die A nnahme, daß w eder das Regime noch die Opposition allein auf sich selbst gestützt das Schicksal der Diktatur entscheiden konnten. Das Regim e war zumindest auf die – ob durch Angst, Gleichgültigkeit oder Identifikation m otivierte – A npassungsbereitschaft der Masse der Bürger angewiesen. Die Opposition aber, wenn sie gesamtstaatlich etwas verändern wollte, war gezwungen, über die eigenen Zirkel und Kreise hinaus U nterstützung zu gew innen. Das setzte zuallererst die Einschätzung seitens der oppositionellen Akteure voraus, der Mom ent sei nun gekom men, die bisher beachteten Grenzen zu überschreiten, die eigenen S chutzzonen zu v erlassen und an eine wie auch immer geartete „Öffentlichkeit“ z u a ppellieren. Den Erfolg dieses Vorhabens vorausgesetzt, mußte das Regime versuchen, dagegen die eigene Anhängerschaft, die systemtreuen Bürger, zu mobilisieren und die nur äußerlich angepaßten Bürger zu neutralisieren. Gestritten wurde zu diesem Zeitpunkt um die Alternative: entweder Reform im Rahmen eines durch die „ Perestroika“ eröffneten H orizonts neuer Möglichkeiten oder A ufrechterhaltung des Status quo. Von einer Abkehr vom „ Sozialismus“ (w as im mer m an darunter verstehen mochte) oder gar einer A bschaffung des Staates D DR sprachen dam als allenfalls die hartnäckigen Verteidiger des Status quo als einer drohenden Gefahr, niemand jedoch, der sich auf seiten der Opposition in die Auseinandersetzung einbrachte. 1 D ort w urde höchstens – w ie beim N euen Forum – die Frage „Sozialismus“ ausgeklammert. Über die Weitsicht einer Margaret Thatcher,

1

Charakteristisch war in dieser Beziehung etwa der „ Aufruf zur Einmischung in eigener Sache“, die Geburtsurkunde der Bürgerrechtsorganisation „ Demokratie Jetzt“, in: Rein: Opposition (1989), S. 59–61.

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die zur gleichen Zeit in Moskau m it Gorbatschow darüber räsonierte, wie die „Wiederauferstehung eines mächtigen Deutschlands“ verhindert werden könnte, 2 verfügte wohl keiner der unmittelbar Beteiligten.

2.1 Die Opposition Die wichtigste oppositionelle Institution in der DDR war, obwohl sie sich selbst keineswegs so verstand, die evangelische K irche. D er K onflikt zw ischen der sich ideologisch legitim ierenden Diktatur und der Kirche war nicht aufzuheben. A llerdings waren im Laufe der Jahre dafür einigermaßen geregelte Formen gefunden w orden: D ie SED hatte sich mit der langfristigen Existenz der Kirche und die Kirche hatte sich mit der Existenz der DDR abgefunden, was nicht m it einem A kzeptieren der D iktatur gleichzusetzen ist. 3 In den achtziger Jahren war die evangelische Kirche als einzige vom Parteistaat unabhängige Institution, die sich zur Gesellschaft hin öffnete, halb ungewollt zu einer „ Schutzmantel-Madonna“ 4 für die Basisgruppen geworden. Sie bot Raum für die sich entfaltenden A nsätze zivilen Ungehorsams und ein D ach, unter dem sy stemtranszendierendes D enken erprobt werden konnte, freilich ohne daß sich die „Kirche im Sozialismus“ als Institution mit solchen Inhalten identifiziert hätte. Gegen Ende des Jahrzehnts ist sie über diese Rolle noch hinausgew achsen. Das Schlüsselereignis war ein G espräch zw ischen Bischof Leich und Honecker im März 1988, nach den Repressalien im G efolge der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration zw ei Monate zuvor. 5 D er Bischof führte Klage, daß die Kirche gezwungen sei, „Fragen, die aus dem gesellschaftspolitischen Bereich kommen“, aufzugreifen, weil „die eigentlichen Adressaten [...] keine Bereitschaft zum Dialog signalisiert“ hätten. 6 Die Bedeutung dieser Positionsbestim mung wurde noch dadurch verstärkt, daß die Ansprache von Bischof Leich, sehr zum Ärger der SED -Führung, von kirchlicher Seite an bundesdeutsche Medien gegeben w orden war, die darüber w iederum – ein Mechanismus, der gerade in den letzten Jahren im mer funktionierte – für die DDR-Bevölkerung vernehmbar berichteten. Die Kirche war zum 2 3 4 5 6

Vgl. den Bericht über die Stippvisite in Moskau am 22.9.1989, in: Thatcher: Downing Street No. 10 (1993), S. 1096. Vgl. Pollack: Kirche (1994); Henkys: Kirc hen (1994); Mechtenberg: Staat-Kirche-Verhältnis (1989). „Ein Weg zwischen Opportunismus und O pposition“. Interview mit Bischof Werner Krusche zur Situation der evangelischen Kirche in der DDR, in: Süddeutsche Zeitung 5./6.3.1988, S.10. Vgl. Reinhard Henkys: Appell ohne Massenba sis, in: Kirche im Sozialismus 14 (1988), S. 169 f. „Der Vorsitzende des Evangelischen Kirchenbundes der DDR, der thüringische Landesbischof Werner Leich, wird von Honcker empfangen“ (Text der Ansprache von Leich), in: Süddeutsche Zeitung 12./13.3.1988, S. 9.

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Anwalt der Gesellschaft geworden, der – w enn auch vielfach vorsichtig – aussprach, w as andere m angels G ehör bei den Mächtigen nicht vorzubringen vermochten. Die kirchlichen Sy noden und die Ö kumenischen Versammlungen waren in den späten achtziger Jahren zu dem öffentlichen Raum geworden, in dem die anstehenden Veränderungen gedanklich vorbereitet und debattiert wurden. 7 Deshalb konnte m an der Sy node des Bundes der evangelischen K irchen Mitte September 1989 mit einiger Spannung entgegensehen. Obwohl Staat und Partei das zu verhindern versucht hatten, 8 war bereits am Sonntag zuvor im ganzen Land in den evangelischen Gottesdiensten ein Brief der Kirchenleitung an H onecker verlesen w orden. In ihm wurde Beunruhigung und Betroffenheit darüber geäußert, daß viele D DR-Bürger ihr Land verließen, und als U rsache diagnostiziert, „ daß von den Bürgern erwartete und längst überfällige Veränderungen in der Gesellschaft verweigert werden“. 9 Noch vor der Synode, am 12. Septem ber, hätte ein G espräch zw ischen der Leitung des Bundes der Evangelischen K irchen, dem Staatssekretär für Kirchenfragen und hochrangigen Funktionären des A ußenministeriums stattfinden sollen. U rsprünglich als Meinungsaustausch über die K SZEFolgekonferenz geplant, war diese them atische Beschränkung angesichts der aktuellen politischen Entwicklung, insbesondere der Fluchtwelle, obsolet gew orden. D ie K irchenvertreter hatten deshalb darauf gedrungen, daß auch über die angespannte Lage in der D DR gesprochen w erden m üsse. Von staatlicher Seite – und im Hintergrund von der SED – wurde dieser Termin abgesagt. Die Begründung war, daß die Positionsbestim mung der kirchlichen Seite in einer solchen Besprechung w ahrscheinlich wieder nach außen dringen w erde. 10 Das w ar ein im plizites Eingeständnis eines inzw ischen offenkundigen Sachverhalts: daß die evangelische Kirche in dieser Situation der Anwalt einer bedrängten G esellschaft war, die man nicht zu Wort kom7 Es sei dafür nur noch ein Beispiel genannt: Auf dem evangelischen Kirchentag in Halle wurden im Juni 1988 von Friedrich Schorlemmer im Namen einer Wittenberger Vorbereitungsgruppe zwanzig Thesen zur Umgestaltung der DDR-Gesellschaft vorgestellt, die in der Forderung nach e iner u mfassenden „ Demokratisierung“ gipfelten. „ Thesen zur gesellschaftlichen Erneuerung. Umkehr führt weiter“, in: Kirche im Sozialismus 14 (1988), S. 132–134. Gerhard Rein hat zu diesen Diskussionen eine vorzügliche Dokumentation publiziert; Rein: Revolution (1990). 8 Schreiben von ZK-Sekretär Jarowinsky an die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros vom 6.9.1989; BA Berlin, IV B2/14/21, Bl . 42–44; vgl. auch Besi er: SED-Staat (1995), S. 419. Das Buch Besiers enthält eine Fülle interessanten Materials. Seine Interpretation der Rolle der Kirche allerdings scheint mir allzusehr auf die Kirchendiplomatie fixiert und zu wenig eingebettet in eine Analyse kirchlichen Handelns zwischen dominantem Weltanschauungsstaat, Kirche und Gesellschaft. 9 Brief des evangelischen Kirchenbundes vom 2.9.1989, in: Deutschland Archiv 22 (1989) 10, S. 1174 f. 10 Vgl. Staatssekretär für K irchenfragen, K urt Löffler, an W. Jarowinsky: „Information über ein Gespräch mit Bischof Dr. H. Gienke am 1. 9.1989“; BA Berlin, IV B2/14/44, Bl. 69–70. Vgl. Besier: SED-Staat (1995), S. 412 u. 415–418.

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men lassen wollte. Entsprechend intensiv w ar die V orbereitung auf die Sy node, die vom 15. bis zum 19. September in Eisenach tagte. Eine ganze Reihe von Parteiund Staatsorganen wurde eingespannt, „ damit sich die bekannten politisch negativen Positionen vergangener Sy noden und anderer kirchlicher Tagungen nicht durchsetzen können“ 11. Es handelte sich um die Arbeitsgruppe Kirchenfragen des ZK , das Staatssekretariat für K irchenfragen, die SEDBezirksleitung Erfurt und die K reisleitung Eisenach und selbstverständlich auch das MfS. 12 Der Staatssekretär für Kirche nfragen, Kurt Löffler, hatte sogar – trotz seines Mißerfolgs bei der Ökumenischen Versammlung im April – einen Empfang für die Synodalen ausrichten wollen. Doch die Kirchenleitung lehnte ab. 13 Ungeachtet der Bem ühungen von Partei, Staat und M fS wurde auf der Synode vor allem über die Fluchtwelle diskutiert, über ihre Gründe und darüber, welche Veränderungen notwendig seien, um die Menschen im Lande zu halten. 14 Am Ende w urde ein Beschluß gefaßt, in dem als Ziel „ eine sozial gerechte, demokratische, nach innen und außen friedensfähige und ökologisch verträgliche Gesellschaft“ bezeichnet wurde. Mit einer für dieses Gremium und für die K irche überhaupt ungew öhnlichen Direktheit wurden politische Reformen gefordert: „Wir brauchen: ein allgemeines Problembewußtsein dafür, daß R eformen in unserem Land dringend not wendig sind; die offene und öffentliche Auseinandersetzung mit unseren gesellschaf tlichen Problem en; [...] verantwortliche p luralistische Med ienpolitik; d emokratische Parteienvielfalt; Reisefreiheit für alle Bürger; wirtschaftliche Reformen; [...] Möglichkeit friedlicher Reformen; ei n W ahlverfahren, das di e Auswahl zwischen Programmen und Personen ermöglicht.“ 15

Daß „ ein offener gesam tgesellschaftlicher Dialog“ und „ eine Öffnung der bisherigen politischen Strukturen“ 16 bis zu „ demokratischer Parteienvielfalt“ m it den bestehenden Machtverhältnissen unvereinbar w aren, ist den 11 „Information und Maßnahmeplan in Vorbereitung der 5. Tagung der 5. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR in der Zeit vom 15. bis 19. September 1989 in Eisenach“, o. D.; BA Berlin, IV B2/14/95, Bl . 1–4, hier 2. Diese vor ab formulierte Zielsetzung galt gewiß auch für die Maßnahmen am Rande der Synode selbst. 12 Vgl. Schreiben von W. Jarowinsky an G. Mittag vom 18.9.1989: „Einschätzung zum bisherigen Verlauf der Synode in Eisenach“; BA Berlin, IV B2/14/95, Bl. 5–8, hier 7. 13 Die Absage dieser – im „ Maßnahmeplan“ vorgesehenen – Veranstaltung wurde von dem Präses der Synode bei einem Gespräch mit Löffler am 1. 9.1989 ausgesprochen. Information von Löffler an Jarowinsky vom 4. 9.1989 über ein Gespräch mit dem Präses der Synode, Rainer Gäbler, und Oberkirchenrat Martin Ziegler; BA Berlin, IV B2/14/44, Bl. 62–64. 14 Vgl. Röder: Hoffen auf verbesserlichen Sozialismus (1989). 15 Beschluß der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR vom 15. bis 19. September 1989 in Eisenach, in: Rein: Opposition (1989), S. 214–217, hier 216. 16 Ebenda, S. 217.

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Kirchenleuten bewußt gewesen. Sie haben sich dam it bis an die G renzen von Systemopposition herangetastet. Doch vorzuzeichnen, wie m an zu solchen sy stemtranszendierenden V eränderungen kom men könne, war nicht ihre Aufgabe – sie waren keine Politiker. Ihr Beschluß endete deshalb m it einer Argumentation theologischen Charakters: „ Uns ist nicht verheißen, daß uns das K reuz erspart bleibt, aber daß unser H err m it uns das K reuz trägt und einen Weg in die Zukunft eröffnet.“ 17 In dieser Aussage waren Hoffnung und Sorge enthalten. Sorge, ob es gelingen w erde, einen friedlichen Weg aus der K rise zu finden, und H offnung, die religiös begründet war, die zugleich aber auch Ausdruck des weitverbreiteten Gefühls war, daß es so wie bisher nicht weitergehen werde, weil m an die herrschenden Verhältnisse nicht mehr länger hinzunehmen fähig war. Mit der Eisenacher Synode hatte die Institution Kirche als Forum des gesellschaftlichen Aufbruchs den Zen it ihres spezifischen Beitrags überschritten. Freilich waren Kirchen die Ausgangspunkte der großen Demonstrationen im Oktober, vor allem in Leipzig, aber auch in Dresden und in Rostock, aber die demokratischen Revolutionäre traten nun aus den Kirchen heraus, auf den Kirchenvorplatz, dann auf die Straße. Theologen spielten in den kom menden Monaten noch bedeutende Rollen: A ls K irchenvertreter moderierten sie an Runden Tischen und verm ittelten zwischen den Fronten, als Bürgerrechtler und als Politiker engagierten sie sich für den dem okratischen Umbruch. Die Kirche als Institution aber verlor danach an politischer Bedeutung. Als die evangelische Kirchenleitung während des Umbruchs in Sorge vor gewaltsamer Eskalation appellierte, von weiteren Dem onstrationen vorerst abzusehen, wurde ihre „Bitte“ schlichtweg ignoriert. Die Kirche hatte im mer eine Gratwanderung vollführt: zwischen den Zwängen des Sy stems und ihrer Selbstbehauptung; zw ischen seelsorgerischem Auftrag, dem Druck aus Gem einden, die politischem Agieren Grenzen setzten, und dem nichtreligiösen Veränderungswillen der Basisgruppen. Dieses Dilemma begann sich aufzulösen. Der Erfurter Pfarrer Edelbert Richter konstatierte in diesen Tagen, „ die Zeit ist irgendw ie vorbei, daß die K irche in bezug auf die Innenpolitik in der DDR eine Schlüsselrolle spielt. Die Kirche muß zurücktreten, sie ist auch irgendwie überfordert m it dem, was jetzt kommt.“ Die Gruppen müßten nicht mehr länger unter dem Dach der Kirche agieren, denn nun, erklärte Richter, ein Mitbegründer der Bürgerrechtsorganisation „Demokratischer Aufbruch“, sei „die Zeit gekommen, daß politisch gehandelt wird“. 18 Den ersten Aufruf an die Bürge rrechtsgruppen, aus dem Schutzraum der Kirche herauszutreten und sich zusam menzuschließen, um für die Be17 Ebenda. 18 Edelbert Richter: Interview mit dem Deutschlandfunk (Köln) am 15. 9.1989. Der Nachdruck ist Teil einer Dokumentation, die Peter Wensierski unter dem Titel „ ,Das Haus brennt...‘ Auszüge aus Interviews mit Oppositionellen in der DDR“ zusammengestellt hat für: Deutschland Archiv 22 (1989) 10, S. 1179–1184, hier 1181.

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völkerung eine „identifizierbare Alternative“ zu bieten, hatte am 13. August Hans-Jürgen Fischbeck 19 öffentlich vorgetragen. Fischbeck sprach bei einer Veranstaltung mit etwa 400 Teilnehm ern in der Bekenntnis-Kirche in Berlin-Treptow für die innerkirchliche Initiative „Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung“ 20. Sein Auftreten war getragen von dem Motiv, angesichts der Fluchtwelle müsse endlich etwas getan werden. 21 Das Programm, das er vorzuschlagen hatte, ließ sich in zw ei Begriffe fassen: „ Zusammenschluß“ der oppositionellen Gruppen und „ Dialog“ m it den Mächtigen. Letzteres stieß in der Versam mlung keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. „Mit Verbrechern werden wir keinen Dialog führen“ , wurde entgegengehalten – ein A rgument, das zurückgew iesen w urde m it Hinweis auf die polnischen Erfahrungen, wo der Runde Tisch den Durchbruch gebracht hatte. 22 In den folgenden Wochen kam es nicht zu einem Zusam menschluß der bestehenden Gruppen, sondern zu einer A rt Gründungsfieber. 23 Alle neuen Organisationsansätze aber w aren m it dem A nspruch verbunden, die bisherige Zirkelexistenz zu überwinden und Veränderungen auf gesam tpolitischer Ebene in Gang zu setzen. Am 4. September wurde von linken Bürgerrechtsaktivisten bei einem Treffen die „Böhlener Plattform“ verabschiedet, in der dazu aufgerufen wurde, eine – von der SED selbstverständlich unabhängige – „ Vereinigte Linke“ zu bilden. 24 Am 10. September konstituierte sich das „Neue Forum“; am 12. September veröffentlichten die „ Sozialdemokratische Partei“ (SDP) 25 und „ Demokratie Jetzt“ ihre G ründungsaufrufe, am 14. September gab Edelbert Richter in Bonn die Gründung des „Demokratischen Aufbruchs“ bekannt. 26 19 Hans-Jürgen Fischbeck (geb. 1938); aufgewachsen in Stendal (Altmark); 1956–1961 Studium der Physik an der HU Berlin; 1962–1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Elektronenphysik der Akademie der Wissenschaften; 1969 Habilitation auf dem Gebiet der theoretischen Physik; seit 1968 Mitglied des Gemeindekirchenrats der Berliner Bartholomäusgemeinde und seit 1977 auch der Synode der Evangelischen Kirchen Berlin-Brandenburg; Fischbeck brachte 1987 den Antrag auf „ Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ in die Synode ein; 1987 erste Kontakte zur „ Initiative Frieden und Menschenrechte“; 1988 Delegierter bei der 1. Ökumenischen Versammlung in Dresd en; 1989 Mitinitiator der Beobachtung der Stimmenauszählung nach den Kommunalwahlen; im September 1989 Mitautor des Gründungsaufrufs der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt; Mai 1990 Mitglied der Fraktion Bündnis 90 der Berliner Stadtverordnetenversammlung. Vgl. Wer war wer? (1995), S. 183. 20 Vgl. zu dieser im September 1987 gegründeten Initiative Rein: Revolution (1990), S. 24–27. 21 Die tageszeitung 15.8.1989. 22 Ebenda. 23 Edelbert Richter spricht von einem „ Wettrennen zwischen den neuen Gruppierungen“; ders.: „ Die neue Partei konnte nur eine so zialdemokratische sein“ – der Demokratische Aufbruch bis zu seiner Spaltung (Interview), in: Dornheim u. Schnitz ler (Hrsg.): Thüringen 1989/90 (1995), S. 42–49, hier 43. 24 Vgl. Wielgohs: Die Vereinigte Linke (1991), S. 283–306, hier 286. 25 Die SDP-Gründer Markus Meckel und Martin Gutzeit hatten allerdings einen ersten Gründungsaufruf bereits im Juli verfaßt und am 26.8.1989 in einem Menschenrechtsseminar in der Studienabteilung des Bundes der Evangelischen Kirchen zur Diskussion gestellt. Vgl. Meckel u. Gutzeit: Opposition in der DDR (1994), S. 350 f. 26 Die Gründungsaufrufe und Plattformen sind n achgedruckt in Rein: Opposition (1989),

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Auch im kulturellen Bereich kam einiges in Bew egung. D ie SED Bezirksleitung Berlin vermerkte in diesen Tagen „in beachtlichen Teilen des Kunst- und Kulturbereichs der Hauptstadt eine wesentliche Zuspitzung der ideologischen Situation“. Es sei „eine rapide Steigerung des Einflusses jener Kräfte zu verzeichnen, die die gespannte A tmosphäre benutzen, um offen für das Zustandekommen einer Opposition zu agieren“ . Die „kämpferischen Bemühungen von Genossen“, sich dem entgegenzustellen, „ blieben die Bemühungen von Minderheiten, fast ohne Resonanz“: Sie „scheitern an der massiven Forderung einer zunehmend großen Anzahl von Parteilosen und Genossen (di e M otive si nd dabei si cher sehr unterschiedlich), die Partei sollte ehrlicher mit unseren eigenen Problemen in der DDR umgehen. Das Vol k – und zunächst ei nmal die Mitgliedschaft in der Partei selbst – sollte in der Debatte um die Lösung ungenügend oder nicht bewältigter gesellschaftlicher Probleme einbezogen werden.“ 27

Der Berliner Schriftstellerverband verabschiedete am 14. Septem ber mit überwältigender Mehrheit eine Resolution, die sieben Schriftstellerinnen, darunter D aniela D ahn, H elga K önigsdorf und Christa Wolf eingebracht hatten. Die „offiziellen Verlautbarungen“ zur Fluchtw elle wurden darin als „unerträglich“ bezeichnet und konstatiert: „Der Exodus ist nur ei n Zei chen für angest aute grundsät zliche Probl eme i n allen Bereichen der Gesel lschaft. Es fehl t inzwischen nicht an Analysen und Ideen, sondern an Möglichkeiten, sich öffentlich über sie zu verständigen und sie wirksam zu machen. Aus Sorge um die weitere Entwicklung zum Sozialismus fordern wir, daß dieser demokratische Dialog auf allen Ebenen sofort beginnt.“ 28

Aussicht auf noch breitere Resonanz hatte ein A ufruf von etwa 50 RockMusikern und Liedermachern – darunter Toni K rahl, Frank Schöbel, Tam ara Danz, Gerhard Schöne und Kurt Demmler –, die am 18. Septem ber im „Maxim-Gorki-Theater“ in Berlin zusam mengekommen waren. Die Initiative zu diesem Treffen war – so das M fS – zwischen Krahl, der nicht nur Mitglied der G ruppe „ City“, sondern auch V orsitzender der „Sektion Rockmusik im Komitee für Unterhaltungskunst der D DR“ war, und Bärbel Bohley abgestim mt w orden. 29 In einer scharfen Resolution geißelten die S. 13–121. 27 Ellen Brombacher, Sekretärin für Kultur in der SED-Bezirksleitung Berlin: „Information“ vom 19.9.1989, 4 S.; Landesarchiv Berlin, BPA, SED-BL 6312, Bd. 2, o. Pag. 28 „Erklärung des Berliner Schriftstellerverba ndes“, in: Oktober 1989 (1989), S. 30. Die Erklärung wurde mit 173 Ja-Stimmen gegen 5 Nein-Stimmen bei 7 Enthaltungen verabschiedet. 29 Information Nr. 416/89 vom 19. 9.1989 „ über Bestrebungen feindlicher, oppositioneller Kräfte zur Schaffung DDR-weiter Sammlungsbewegungen/Vereinigungen“; BStU, ZA,

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Künstler „die unerträgliche Ignoranz der Partei- und Staatsführung“ und erklärten: „Wir begrüßen ausdrücklich, daß Bürger sich in basisdemokratisch orientierten Gruppen fi nden, um die Lösung der anst ehenden Probleme in die eigene Hand zu nehmen. Dieses Land brau cht die m illionenfache Aktivierung von Individualität, die alten Str ukturen sind offenbar kaum in der Lage dazu. [...] Wir wol len i n di esem Land l eben und es m acht uns krank, t atenlos m itansehen zu m üssen, wi e Versuche ei ner Demokratisierung, Versuche der gesellschaftlichen Analyse krim inalisiert bzw. ignoriert werden. W ir fordern jetzt und hier sofort den öffentlichen Dialog mit allen Kräften. W ir fordern eine Öffnung der M edien für di ese Probl eme. W ir fordern Änderung der unaushaltbaren Zustände.“ 30

Diese Resolution wurde bei Konzerten verlesen und in den ersten Wochen – nach Zählung des M fS – „ etwa 30.000 Teilnehmern öffentlicher Veranstaltungen zur Kenntnis gebracht“ , wobei „mehrheitlich Zustimmung durch das Publikum erreicht wurde“ 31. Die Rock-Künstler hatten sich in ihrer Resolution auch auf den A ufruf des N euen Forum s bezogen, da sich „in diesem Text vieles [findet], was wir selber denken und noch m ehr, was der Diskussion und des Austausches wert ist“. In der Tat sollte dieser Aufruf zum Kristallisationspunkt der Opposition werden. Die Linie XX der Staatssicherheit w ar über die geplante Gründungsversammlung des Neuen Forums bereits Wochen zuvor inform iert gewesen, 32 kannte die Initiatoren, den Ort (das Grundstück der Havemanns in Grünheide bei Berlin) und den Termin. 33 D ie etw a dreißig G ründungsmitglieder, die meisten prom inente Bürgerrechtler, kam en am 9. und 10. September zusammen. Schon bei der A nkunft w urden sie von einem Observationstrupp der Hauptabteilung VIII mit Videokameras gefilmt. 34 Im Inneren des H auses wurde die Beobachtung fortgesetzt. Es gab unter ihnen einen inoffiziellen Mitarbeiter, Reinhardt P. alias IMB „Paule“, der schon am nächsten Tag seinem Führungsoffizier von der K reisdienststelle Berlin-Lichtenberg über ZAIG 3756, Bl. 97–123, hier 102. 30 „Erste Resolution der Rock-Künstler“ vom 18.9.1989, in: Schüddekopf (Hrsg.): „Wir sind das Volk“ (1990), S. 39 f. 31 [ZAIG:] „ Hinweise auf im Zusammenhang mit der aktuellen Lage in der DDR stehende Aktivitäten in den Bereichen Kunst/Kultu r und Massenmedien der DDR“ vom 9.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 5376, Bl. 2–9, hier 4. 32 Der IMB „Paule“ hatte seinem Führungsoffizier bereits im Juli von dem Vorhaben berichtet; V gl. „ Operativinformation“ der KD Lichtenberg an die Abt. XX/9 der BVfS Berlin vom 12.7.1989; BStU, ASt Berlin, AIM 4593/91, T. II, Bd. 2, Bl. 306 f. 33 Vgl. HA XX: „Information über die beabsi chtige Bildung einer Vereinigung ‚Demokratisches Forum‘“ vom 21.8.1989; BStU, ZA, HA XX, ZMA 2107, Bl. 101 f. 34 Vgl. HA XX, AKG: „ Über Aktivitäten von Kräften des politischen Untergrunds zur Bildung einer einheitlichen oppositionellen Organisation“ vom 12. 9.1990; BStU, ZA, HA XX, ZMA 2107, Bl. 104–106.

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die D iskussion berichtete. 35 Wenig später hatte die Staatssicherheit auch eine detaillierte Liste der Erstunterzeichner erstellt. 36 IM „ Paule“ blieb von da an dem Führungszirkel des N euen Forum s auf den Fersen, er w ar der einzige IM in diesem Kreis, ohne jedoch selbst größeren Einfluß zu haben. Seine Aufgabe war, über den jeweiligen Diskussionsstand, über die Teilnehmer an den Treffen, über Stim mungen und innere K räfteverhältnisse zu berichten. 37 Es fehlte also nicht an Inform ationen, aber m ehr brachte die Staatssicherheit auch nicht zuwege. Sie observierte von da an etwa Bärbel Bohley 38 mit erheblichem Aufwand, registrierte insbesondere ihre Kontakte zu bundesdeutschen Journalisten minutiös, aber den Gründungsprozeß aktiv zu unterbinden, war sie nicht willens oder nicht in der Lage. Am 13. Septem ber ist der A ufruf des Neuen Forums erstmals in einer bundesdeutschen Tageszeitung erschienen. 39 Er begann mit den Sätzen: „ In unserem Lande ist die K ommunikation zw ischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört.“ 40 Dem sollte abgeholfen werden durch einen „demokratischen Dialog über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur. Über diese Fragen m üssen wir in aller Öffentlichkeit, gemeinsam und im ganzen Land, nachdenken und m iteinander sprechen.“ Der Aufruf endete mit den Worten: „Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an einer U mgestaltung unserer G esellschaft m itwirken w ollen, auf, Mitglieder des NEUEN FORUM zu werden. Die Zeit ist reif.“ Das war eine absolut zutreffende D iagnose. Die Resonanz in den folgenden Wochen war überwältigend. Die in diesem Text enthaltene Taktik war perfekt auf die aktuelle Situation zugeschnitten. Jedermann wußte, daß etwa ein Dialog über die in „der Wirtschaft“ anstehenden A ufgaben eine A ufforderung war, den offiziellen Lügen entgegenzutreten. Doch es wurden keine programmatischen Forderungen aufgestellt, sondern die Kom munikation selbst, die Wiederherstellung von Öffentlichkeit, wa r die Botschaft. Darauf aber kön35 BVfS Berlin, KD Lichtenberg: „ Operativ-Information zum Zusammentreffen von Kräften des Politischen Untergrundes“ vom 11. 9.1989; BStU, ASt Berlin, AIM 4593/91, T. II, Bd. 2, Bl. 327–330. 36 HA XX: „Vorliegende politisch-operative H inweise zu den Erstunterzeichnern der Erklärung ‚Aufbruch 89 – Neues Forum‘“ vom 12.9.1989; BStU, ZA, HA XX, ZMA 2107, Bl. 123–129. 37 Vgl. etwa „Treffbericht“ vom 5.10.1989; ebenda, Bl. 343 f. 38 Bärbel Bohley (geb. 1945 in Berlin); nach Lehre als Industriekauffrau ab 1969 Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee; seit 1974 freischaffende Malerin; 1982 Initiatorin der „Frauen für den Frieden“; 1983 Ausschluß aus dem Bezirksvorstand des Verbandes Bildender Künstler Berlin und sechs Wochen Untersuchungshaft unter dem Vorwand des „Verdachts auf landesverräterische Nachri chtenübermittlung“; Freilassung nach intern ationalen Protesten; Auftrags- und Ausstell ungsverbot; 1985/86 Mitbegründerin der „Initiative Frieden und Menschenrechte“; Januar 1988 Verhaftung im Zusammenhang mit den Repressionsmaßnahmen nach der Luxembur g-Liebknecht-Demonstration; Abschiebung nach England; im August 1988 Rückkehr nach Ostberlin; erneut in der Bürgerrechtsbewegung aktiv; Mitbegründerin des Neuen Forums. Vgl. Wer war wer? (1995), S. 79 f. 39 „Im Wortlaut: ‚Neues Forum‘ in der DDR“, in: Frankfurter Rundschau 13.9.1989. 40 Nachdruck in: Rein: Opposition (1989), S. 13 f.

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nen sich selbst loy ale Bürger angesi chts der Sprachlosigkeit der Partei- und Staatsführung verständigen. Rolf Henrich, der ursprüngliche Initiator dieses Aufrufs, hat dam it die Absicht verbunden, den „Normalbürger in mittlerem Alter und m it anerkanntem Beruf“ 41 anzusprechen. Er bot selbst ein instruktives Beispiel für die Möglichkeit von Lernprozessen: 1959 w ar er als 15jähriger gemeinsam mit seiner Mutter aus Hannover in die D DR übergesiedelt und hatte nach dem Abitur in den Jahren 1964 bis 1969 in Jena und O stberlin Rechtsw issenschaften studiert. 42 Im ersten Studienjahr w ar er in die SED eingetreten und 1966 als inoffizieller Mitarbeiter, als GI „Streit“, von der Bezirksverwaltung Gera des M fS mit der Perspektive angew orben worden, später in der Bundesrepublik zum Einsatz zu kom men. 43 Als er im Zusammenhang mit dem Einmarsch in der Tschechoslowakei „ politisch-ideologische Unk larheiten“ erkennen ließ, wurde ihm 1969 eine Fortsetzung seines Forschungsstudiums untersagt. 44 Für einen Einsatz im Operationsgebiet kam er nun nicht mehr in Frage. Ihm wurden „ fehlende tschekistische Charaktereigenschaften“ bescheinigt, 45 und das MfS beendete die Zusammenarbeit. 46 Immerhin konnte er sein Studium m it einem A bschluß als D iplomjurist beenden und seinen Wehrdienst als Militärschöffe am Militärgericht Neubrandenburg absolvieren. Danach wurde er als Rechtsanwalt in Frankfurt (Oder) zugelassen und brachte es in seinem Kollegium sogar zum Posten eines ehrenamtlichen SED-Parteisekretärs. Allem Anschein nach war er weiterhin ein überzeugter G enosse. Dennoch widersetzte er sich Mitte der 70er Jahre erfolgreich einem neuerlichen Anwerbungsversuch des MfS: Seine Mandanten zu verraten, w ar er nicht bereit. 47 Mitte der achtziger Jahre begannen offenbar Henrichs politische Zweifel zu wachsen, er beschäftigte sich m it philosophischen und religiösen Fragen und entdeckte für sich die Anthroposophie. Nun wurde er als Parteisekretär abgewählt. Zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis gehörten inzwischen, obwohl er SED-Mitglied blieb, immer mehr Bürgerrechtler, wie die Ärztin Erika D rees aus Stendal und der Pfarrer Wolfram Tschiche aus Magdeburg, über den er in K ontakt zu dem A rbeitskreis Solidarische Kirche kam, 48 Bärbel Bohley und Katja Havemann aus Berlin. 49 41 Zitiert nach Reich: 1989 Tagebuch der Wende, hier Folge 1 vom 9. 9.1995. In diesem Artikel wird die Entstehungsgeschichte des Neuen Forums aus der Perspektive eines Beteiligten ausführlich geschildert. 42 Vgl. Wer war wer? (1995), S. 291 f. 43 Vgl. BStU, ASt Gera, AIM 814/69. 44 Schreiben der HA II/2 an die BVfS Gera , Abt. II vom 8.5.1969; BStU, ASt Gera, AIM 814/69, T. I/1, Bl. 125; Henrich: Der vormundschaftliche Staat (1989), S. 314. 45 Ebenda, Bl. 125. 46 Ebenda, Bl. 116 f. 47 Vgl. „Abschlußbericht“ vom 10.8.1975; BStU, ASt Frankfurt, Vorlauf-AIM 272/76, T. I, Bd. 1, Bl. 39. 48 Zu E. Drees und zum AKSK vgl. Neubert: Geschichte der Opposition (1997), S. 546 f., 620–622 u. 626. 49 Vgl. Reich: Tagebuch, Folge 1 (1994).

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Es konnte nicht ausbleiben, daß das M fS erneut auf ihn aufmerksam wurde, aber nun nicht m ehr auf einen potentiellen Mitarbeiter, sondern auf einen „Gegner“. Anfang 1988 eröffnete die Stasi-Bezirksverw altung Frankfurt gegen Henrich eine „Operative Personenkontrolle“ wegen des Verdachts des „Zusammenschlusses zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele“ und der „ungesetzlichen Verbindungsaufnahme“ (§§ 218 f. StGB DDR). Der Verdacht war zu erhärten, und deshalb w urde im Januar 1989 ein „ Operativer Vorgang“ eingeleitet – hatte es sich doch bis zum MfS durchgesprochen, daß er an einer Analyse der „ Herrschaftsstrukturen“ in der DDR schrieb. 50 Doch obwohl dieses Manuskript im bürgerrechtlichen Freundeskreis weitergegeben wurde und trotz einer „konspirativen Wohnungsdurchsuchung“ bei Henrich, gelang es der Staatssicherheit nicht, in seinen Besitz zu kom men. 51 Erst als es im Westen bereits veröffentlicht war, erhielt die Stasi ein Exem plar: beschlagnahmt vom Zoll der D DR. 52 H enrich w urde am 27. März 1989 aus der SED ausgeschlossen, und die Zulassung als Rechtsanwalt wurde ihm entzogen. K ein Mitglied der beiden G remien, die darüber entschieden haben, kann auch nur eine Zeile seines Buches gelesen haben. Die Sanktionen wurden nicht mit dem Versuch begründet, Karl Marx mit Rudolf Steiner zu verbinden, sondern allein mit der ungenehmigten Veröffentlichung im Westen. Das Berufsverbot als Rechtsanw alt w ar gewiß eine harte Repressionsmaßnahme, strafrechtlich aber blieb Henrich unbehelligt. Die Staatsm acht wollte in ihrer zunehmend prekären außenpolitischen Situation keinen zweiten Fall Bahro riskieren. In den folgenden Monaten ging er mit seinem Buch, in dessen Zentrum das Problem der individuellen Mündigkeit steht, auf Lesereise durch Kirchengemeinden und Studentenklubs und konnte sich ein Bild von der Stimmung im Lande machen. Er hatte – steht im Nachwort zu lesen – den „ Vormundschaftlichen Staat“ auch geschrieben, um „die allgemeinmenschliche Front in der Partei zu stärken“ , um seinen dam aligen Parteigenossen die Augen zu öffnen, die „ die Vormundschaft der Politbürokratie“ verinnerlicht hatten. 53 Henrich hatte m it der SED noch nicht gebrochen, sondern hoffte – w ie auch viele Bürgerrechtler – zum indest die Parteibasis für einen reformerischen Aufbruch gewinnen zu können. 54 50 Abt. XX/1 der BVfS Frankfurt: „ Eröffnungsbericht zum Operativ-Vorgang ‚Psyche‘“ vom 5.1.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 5558, Bl. 1–9. 51 Vgl. Fernschreiben der Abt. XX der BVfS Frankfurt an die HA XX des M fS Berlin vom 23.3.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 5558, Bl. 11. 52 Einzelblatt o. D. in einer Akte zum OV „Psyche“; BStU, ZA, HA XX, AKG 5558, Bl. 22. 53 „Warum ich dieses Buch geschrieben hab e“, in: Henrich: Der vormundschaftliche Staat (1989), S. 309–317, hier 316 f. 54 Nicht nachvollziehbar ist Neuberts Rede vom „ antidemokratischen Gehalt“ dieses Buches (Geschichte der Opposition [1997] , S. 774). Henrich schreibt: „ Wir benötigen die Demokratie für unsere soziale und politische Selbst verteidigung, für die Durchsetzung einer Gesellschaftsordnung, in der man uns nicht weiter ‚einmauern‘, entmündigen und mit Hilfe des Geheimdienstes schurigeln kann.“ Er lehnt allerdings eine Ausweitung des Demokratieprinzips über das „ politisch-rechtliche Staatsleben“ hinaus auf andere gesellschaftliche Subsysteme – er nennt als Beispiel das „ freie Geistesleben“ – ab. Darüber kann man sic her-

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Zum Appell an den „ Normalbürger“ gehörte auch der strikte Legalism us der Initiative Neues Forum . Es sollte – auf Vorschlag von Rolf Henrich – ein Antrag auf die Gründung eines politischen Vereins gestellt werden. 55 Dagegen war auch von angepaßten, eher ängstlichen Bürgern schwerlich etwas zu sagen. Bärbel Bohley , eine der Erstunterzeichnerinnen, erklärte, daß „wir uns offenhalten wollen auch für jetzige SED-Mitglieder, so daß sie, ohne aus der SED austreten zu m üssen, bei uns ihre Ideen m it einbringen können“. Denn angesichts der Krise kom me es darauf an, daß „ alle, die noch Ideen haben für dieses Land, die auch vorbringen können“ . 56 Zwei Wochen später wandte sich das N eue Forum sogar mit einem Aufruf an die Mitglieder der SED, endlich auch in ihren Reihen eine D iskussion zu eröffnen über die Zukunft des Landes als Teil „der gesamtgesellschaftlichen Diskussion, die das Land braucht“ . 57 Das war m ehr als ein pragm atischer Versuch, möglichst viele Kräfte zu m obilisieren. Es war die bündnispolitische Ergänzung der programmatischen Offenheit dieser Initiative: Sie zielte auf die Überwindung der bisherigen Ausgrenzung und Isolation der Opposition und auf die Mobilisierung und Integration selbst noch sy stemtreuer Bürger, um in einer gemeinsamen Anstrengung die verkrusteten Strukturen aufzubrechen.

2.2 Die Sicht des Regimes Daß diese Initiativen der Diktatur gefährlich werden konnten, haben die Machthaber schnell begriffen. Am 19. Septem ber, dem letzten Tag der Eisenacher Synode und zugleich dem Tag, an dem die Bürgerrechtlerinnen Bärbel Bohley und Jutta Seidel einen schriftlichen Antrag zur Zulassung des lich diskutieren, aber unstrittig müßte sein, daß sich eine solche Position noch im R ahmen demokratietheoretischer Überlegungen befindet. Henrich: Der vormundschaftliche Staat (1989), S. 298 f. 55 Vgl. Reich: Tagebuch, Folge 1 (1994). 56 Interview mit dem Rundfunksender SFB II (Berlin-West) am 15.9.1989, Typoskript in: Deutschland Archiv 22 (1989) 10, S. 1182. – Ed elbert Richter zufolge war das eine der entscheidenden Differenzen, die ein Zusammengehen des N euen Forums mit dem Demokratischen Aufbruch unmöglich machte. Der DA lehnte die Aufnahme von SED-Mitgliedern, die noch nicht mit ihrer Partei gebroche n hatten, strikt ab. Richter: Interview, in: Dornheim u. Schnitzler (Hrsg.): Thüringen 1989/90 (1995), S. 47. 57 In dem Text heißt es außerdem: „ Wir w enden uns ausdrücklich an die zwei Millionen Mitglieder der SED: Ihr bildet die größte und wichtigste politische Körperschaft in unserem Lande. Zu Euch gehört ein enormes Potential von Fachwissen und Leitungserfahrung, das für die Erneuerung unserer Gesellschaft dringend gebraucht wird. Ihr beansprucht die führende Rolle – übt sie aus! Führt die Dis kussion in Euren Reihen, führt die Gesamtpartei auf einen konstruktiven Kurs!“ „Erklärung des ‚Neuen Forums‘ zum 40. Jahrestag der DDR – Aufruf an alle Mitglieder der SED“ vom 7.10.1989; Anhang 1 zu „ Lagebericht“ der HA XX vom 24.10.1989 zur Aktion „ Störenfried“; BStU, ZA, HA XX/4 1685, Bl. 146 f., Nachdruck in: Schüddekopf (Hrsg.): „Wir sind das Volk“ (1990), S. 69 f. Zur Vorgeschichte des Aufrufs siehe den lesenswert en Artikel eines der drei Autoren dieses Textes; Wolfram: Zur Geschichte des guten Willens, 7. Folge (1995).

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Neuen Forum s beim Innenm inisterium einreichten, traf sich das Politbüro zu seiner Dienstagssitzung. Die Genossen tagten ohne den erkrankten Honecker. Sein Statthalter Günter Mittag, dem eine erste Einschätzung der Arbeitsgruppe K irchenfragen des ZK bereits vorlag, 58 gab den A uftrag, „Verlauf und Ergebnisse der Sy node der evangelischen K irche in Eisenach gründlich zu analysieren“. Das war eine Aufgabe der Jarowinsky unterstellten Arbeitsgruppe Kirchenfragen im ZK. Die Quintessenz der zu erarbeitenden „ Schlußfolgerungen“ gab Mittag vor – in deutlich schärferem Ton als die erwähnte Vorlage. Er sprach von den „oppositionellen und konterrevolutionären Forderungen der Sy node“, um deren öffentliche Zurückweisung sich Egon Krenz bem ühen sollte. 59 Krenz stellte in diesen Tagen schon etwas andere taktische Ü berlegungen an, auf die noch zurückzukommen sein wird, die er aber vorerst für sich behielt. Bei der besagten Sitzung gab er keinen Widerspruch zu Protokoll. D abei machte die Sprache, deren sich Mittag bediente, düstere Absichten kenntlich. Erstm als fiel, bezogen auf die Situation in der D DR, das Wort „ konterrevolutionär“. Dieser Begriff war in den Monaten zuvor nur in bezug auf das sozialistische Ausland verwendet worden, gerichtet gegen bestimmte Ä ußerungen in der sow jetischen Stalinismusdebatte und gegen die Entwicklungen in U ngarn und Polen. D och selbst in der MfS-Information über oppositionelle Gruppen in der DDR vom Mai 1989, die mit Verbalinjurien gespickt w ar, hatte m an diesen Term inus vermieden. 60 In einem Kreis, der gewohnt war, bei ideologischen Verlautbarungen mit scholastischer G enauigkeit auf jedes K omma zu achten, w ar die Formulierung von Mittag kein Lapsus, sondern ein politisches Signal, das zweierlei bedeutete: Mit diesen „ Kräften“ war der geforderte Dialog unmöglich, weil – das gehörte zur G rundschulung jedes Parteimitgliedes – man als klassenbew ußter G enosse m it der „Konterrevolution“ nicht diskutiert, sondern sie bekämpft. Damit sollte die Partei gegen Aufweichungserscheinungen immunisiert werden. Zum anderen w ar damit angedeutet, daß es an der Zeit sei, zu verschärfter Repression überzugehen. Am gleichen Tag legte das M fS eine Übersicht zu den neugegründeten Bürgerrechtsorganisationen und zur w achsenden Unruhe unter den „Unterhaltungskünstlern“ vor. 61 In diesem Papier w urde der eskalierende Terminus „konterrevolutionär“ nicht verwendet, statt dessen w ar – gew iß denunziatorisch, aber m it anderer politischer Konnotation – von „ feindlichen, opposi58 „Einschätzung zum bisherigen Verlauf der Synode in Eisenach“ vom 18.9.1989, handschriftl. Vermerk: „[Für] Gen. Mittag – W. Jarowinsky“, „Mitgl. u. Kandidaten des PB – M.“; BA Berlin, DY 30 IV B 2/14/95, Bl. 5–8. 59 Protokoll der Sitzung des Politbüros am 19. 9.1989, Tagesordnungspunkt 2 „Zu aktuellen Fragen“; BA Berlin, DY 30/J IV 2/2/2346, S. 3. 60 Vgl. Information Nr. 150/89 vom 23.05.1989 „ über beachtenswerte Aspekte des aktuellen Wirksamwerdens innerer feindlicher oppositione ller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen“; BStU, ZA, DSt 103600. 61 Information Nr. 416/89 vom 19.9.1989.

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tionellen Kräften“ die Rede. D a auch in den beiden folgenden Wochen in der MfS-Berichterstattung für das Politbüro die neue Sprachregelung nicht übernommen wurde, 62 ist das als Zeichen für eine gewisse politische Differenz zu den H ardlinern zu verstehen. D ie Maßnahm en, die vorgeschlagen wurden, bewegten sich in dem Rahmen, der im Frühsommer abgesteckt worden war und der sich bisher als wenig effektiv erwiesen hatte: „ ständige aktuelle Informierung“ der SED ; Kooperation mit den „ Partnern des operativen Zusammenwirkens“ zur Einschüchterung, aber auch zur Integration, „Organisierung von gesellschaftlichen Betätigungsm öglichkeiten“. Ein neuer, im Juni noch nicht aktueller Punkt kam hinzu: Die Anm eldung von „Vereinigungen“ sollte – weil dafür „ kein gesellschaftliches Bedürfnis“ bestehe 63 – verweig ert werden. Zuwiderhandeln in diesem Punkt war, ebenso wie die Durchführung nichtgenehmigter Veranstaltungen, m it O rdnungsstrafen zu sanktionieren. „Bei Vorliegen individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit“ wurde zudem vorgeschlagen, „Strafverfahren durchzuführen“. 64 Gemessen daran, daß die Organisierung der Opposition in der Woche zuvor in der Tat eine neue Qualität erreicht hatte, war dieser Maßnahmenkatalog erstaunlich traditionell. Die ZK-Sekretäre trafen sich am 20. September, also am Tag nach der Politbüro-Sitzung, zu ihrer allwöchentlichen Sitzung. Wiederum war Günter Mittag der Berichterstatter zu aktuellen Fragen, wobei die Sy node in Eisenach sowie die „ Versuche der Gründung oppositioneller Parteien und Gruppierungen“ ganz an der Spitze der A genda standen. 65 Aufträge wurden vergeben. H orst D ohlus 66 hatte für die 1. Sekretäre der SED -Bezirksleitungen 62 Vgl. Information Nr. 431/89 vom 29.9.1989 „ über beabsichtigte Vorgehensweise von Führungskräften der CDU der BRD bzw. Westberlins zur Unterstützung feindlicher, oppositioneller Kräfte in der DDR“; BStU, ZA, ZAIG 3756, Bl. 124–126; Information Nr. 451/89 vom 9.10.1989 „über die weitere Formierung DDR-weiter oppositioneller Sammlungsbewegungen“; BStU, ZA, ZAIG 3756, Bl. 127–142. 63 Durch ein Schreiben vom 22. 9.1989 teilte Miel ke den Leitern der Diensteinheiten mit, es sei Personen, die einen Antrag auf Zulassung einer Organisation „im Sinne der Vereinigung ‚Neues Forum‘ stellen“, „ mündlich“ zu antworten: „Ihrem Antrag auf Bestätigung der Anmeldung kann nicht entsprochen werden, da für die beabsichtigte Gründung der Vereinigung ‚Neues Forum‘ keine gesellschaftliche Notwendigkeit besteht. “ BStU, ZA, DSt 103600. – Das entsprach der mündlichen Auskunft, die Bärbel Bohley und Jutta Seid el am 25.9.1989 durch Mitarbeiter des MdI erha lten hatten; vgl. Schreiben von Rechtsanwalt Gregor Gysi in Vertretung von Bohley und Seidel an das MdI vom 3.10.1989; Anlage zum Arbeitsprotokoll des Politbüros vom 31.10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3252. – Von der Bezirksverwaltung der Deutschen Volk spolizei in Leipzig wurde dieser Text am 22. 9.1989 an die Volkspolizeikreisämter verteilt; Fernschreiben der BDVP Leipzig vom 22.9.1989, in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold (1994), S. 566 f. 64 Information Nr. 416/89 vom 19.9.1989, Bl. 107–111. 65 Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED am 20.9.1989; BA Berlin, DY 30/ J IV 2/3/4443, S. 2. 66 Horst Dohlus (geb. 1925) war als ZK-Sekretä r zuständig für die Anleitung der regionalen Parteiorgane. Dohlus ist gelernter Friseur, ei n Beruf, den er nicht ausgeübt hat. Nach einigen Jahren Tätigkeit als Bergarbeiter in der SDAG Wismut (1946–1949) wechselte er als hauptberuflicher Funktionär in den Parteia pparat, zuerst bei der Wismut, dann in der SED-Bezirksleitung Cottbus. Ab 1960 arbeitete er im Berliner ZK-Apparat. Seit 1950 war

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eine einschlägige Information auszuarbeiten. Die Genossen Jarowinsky und Löffler 67 wurden angewiesen, „Vorschläge zur Auseinandersetzung mit dem konterrevolutionären Programm der Synode und zur prinzipiellen Zurückweisung der Einmischungsversuche der Kirche in die A ngelegenheiten des Staates auszuarbeiten“. Und schließlich erhielten Herrmann, Jarowinsky und Krenz die A nweisung, in den Medien dafür zu sorgen, daß „die Auseinandersetzung mit der konterrevolutionären K onzeption der Synode sowie mit den Versuchen zur Gründung oppositioneller Parteien und Gruppierungen“ geführt wurde. 68 Jarowinsky fertigte noch am gleichen Tag einen Bericht „ Zum V erlauf und zu den Ergebnissen der Sy node des Evangelischen K irchenbundes der DDR in Eisenach“ 69, der sich an der von Mittag vorgegebenen Sprachregelung orientierte. Die „Ergebnisse dieser Synode“, heißt es darin, „stellen ein politisches Aktionsprogram m für grundlegende Um wälzungen der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR dar, einer ‚Reform ierung‘, die offen und verdeckt m it der Machtfrage verbunden w ird.“ 70 Das Resüm ee dieser Einschätzung lautete: „Eine kl eine Gruppe von 58 Sy nodalen maßt si ch das R echt ei nes selbsternannten Anklägers, Anwalts und zugl eich R ichters gegen unsere sozi alistische Gesellschaft, ihren Staat und die Pa rteien an. [...] Di e Synode stellt eine weitere Esk alation p olitisch n egativer Ak tivitäten, ein engeres Zusammenspiel mit Kreisen der BRD – vor allem der SPD –, ei n offeneres und direkteres Zusam menwirken m it sogenannt en oppositionellen Gruppen und eine stärkere Formierung sowie das einheitliche Auftreten mit einer abgestimmten Plattform dar. Erstmalig in dieser Form wird auf einer evangelischen Synode unverhüllt und demonstrativ ein gegen de n Sozialismus, gegen die bestehende Ordnung in der DDR gerichtetes politisches Aktionsprogramm verkündet, das

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er Kandidat, seit 1963 Mitglied des ZK. 1973 wurde er ZK-Sekretär für Parteiorgane, 1976 Kandidat und 1980 Mitglied des Politbüros. Vgl. Wer war wer? (1995), S. 139. Werner Jarowinsky (1927–1990) war als Sekretär des ZK verantwortlich nicht nur für Handel und Versorgung, sondern auch für Kirchenfragen. Jarowinsky, ein KPD- bzw. SED-Mitglied der ersten Stunde, studierte Wirtschafts- und Rechtswissenschaften und promovierte 1956 zum Dr. rer. oec. Im folgende n Jahr wechselte er in den Staatsapparat, 1957/58 als Leiter der Hauptverwaltung und 1959–1963 als Staatssekretär im Ministerium für Handel u. Versorgung. 1963 wurde er Mitglied des ZK, Kandidat des Politbüros und Sekretär des ZK. 1984 stieg er auf zum Vollmitglied des Politbürs. Vom November bis zum 10.1.1990 war er Fraktionsvorsitzende r der SED bzw. SED-PDS in der Volkskammer. Vgl. Wer war wer? (1995), S. 339. – Kurt Löffler (geb. 1932) war Staatssekretär für Kirchenfragen. Seit 1959 war er hauptamtlicher SED-Funktionär in Weimar; danach Leiter der Abteilung Kultur beim Rat des Bezirkes Erfurt; seit 1973 Staatssekretär im Ministerium für Kultur und 1988/89 – als Nachfolger von Klaus Gysi – für Kirchenfragen. Ebenda, S. 464. Alle Zitate nach Protokoll der Sitzung des ZK-Sekretariats am 20.9.1989, S. 2. BA Berlin, DY 30 IV B2/14/95, Bl. 28–35. Ebenda, Bl. 28.

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faktisch kont errevolutionäre Zielsetzungen enthält. Es schl ießt anst elle des bisherigen Weges des Dialogs und der sachl ichen Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat offene Konfrontation nicht mehr aus.“ 71

Der Erfurter Bezirkschef des M fS, Generalmajor Schwarz, hatte im Vorfeld der Synode bei einer Dienstbesprechung m it Mielke gefordert, „ rechtzeitig Einfluß zu nehm en und auch die Situation und die Lage auch auf diesem Gebiet voll zu beherrschen“ . Dafür hatte er von seinem Minister einen Rüffel erhalten: „Du kennst den neuesten Stand nicht, w ie das gem acht wird“, und w ar belehrt w orden, daß sich Staatssekretär Löffler darum kümmern werde. 72 Doch der Versuch, die Synodalen auf Linie zu bringen, w ar gescheitert. In dem sich anbahnenden offenen K onflikt w ar die Position der Kirche tatsächlich auf seiten der aufbegehrenden Bevölkerung und trotz mancher Beschwichtigungsversuche führender Kirchenleute selbst der Opposition. Generaloberst Mittig m ußte in diesen Tagen bei einer Dienstkonferenz der Linie X X das Scheitern der Einflußnahm e der Staatssicherheit konstatieren: „Es zei gt si ch, daß kein Bischof oder anderer kirchlicher W ürdenträger gegen diese Bestrebungen [„ oppositioneller Gruppen“] ge richtete Äußerungen tätigt. Im Gegenteil, die Kirche unterstützt durch Bereitstellung von Räumen und d urch konkreten R echtsbeistand di e Gruppi erungen und i hre B estrebungen.“ 73

Erste öffentliche Reaktionen auf die Sy node seitens des Regim es erfolgten am nächsten Tag. D as „ Neue D eutschland“ brachte unter dem unsinnigen Titel „Großdeutsche Ladenhüter auf der Kirchenversammlung“ einen Kommentar zu Eisenach aus der Feder seines stellvertretenden Chefredakteurs: Die Beschlüsse der Sy node seien „ in letzter K onsequenz ein Katalog von Maßnahmen, um die D DR kapitalistisch und für die ‚Wiedervereinigung‘ sturmreif zu machen“. 74 Das war die alte, ziemlich abgedroschene Methode, die Ursachen für alle Schwierigkeiten nach außen, auf den „Gegner“ zu projizieren und, w enn selbst das nicht m ehr m öglich w ar, m it der törichten Angst vor dem „Beifall von der falschen Seite“ Kritik abzubügeln. Freilich 71 Zitiert nach der Version, die am 22. 9.1989 von Jarowinsky an Günter Mittag geschickt wurde; BA Berlin, DY 30 IV B2/14/95, Bl. 36–43, hier 40 u. 43. 72 Tonbandabschrift der Dienstbesprechung am 31.8.1989, Bl. 91. 73 BVfS Potsdam, Stellvertreter Operativ: „Protokoll aus der persönlichen Mitschrift anläßlich der Dienstkonferenz beim Generaloberst Mittig zu Zielen und Aufgaben zur konsequenten Unterbindung der Formierung feindlich-oppositioneller Kräfte in Sammlungsbewegungen/Vereinigungen“ vom 26.9.1989; BStU, ASt Potsdam, AKG 617, Bl. 149–163, hier 152. 74 W[erner] M[icke] : Großdeutsche Ladenhüter auf der Kirchenversammlung, in: Neues Deutschland 21. 9.1989. Vgl. auch Hans-Dieter Schütt: Troj anisches Steckenpferd. Ein Kommentar zur Bundessynode, in: Junge Welt 21.9.1989.

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war das keine Idee der Redakteure des „ Neuen Deutschlands“, sondern entsprach der internen Einschätzung, daß die Beschlüsse der Synode „von langer Hand systematisch vorbereitet“ und „ abgestimmt und koordiniert m it Kreisen der BRD “ 75 gew esen seien. D iese verschw örungstheoretische A nnahme, die trotz massiven Einsatzes des MfS auch intern nicht weiter belegt werden konnte, war nicht nur propagandistisch einfältig, sie m achte auch ihre Urheber blind für die eigentlichen Ursachen der eskalierenden Krise. Wie dieser Sachverhalt von der anderen Seite gesehen w urde, der unterstellt wurde, das dem okratische Aufbegehren zu steuern, geht aus Einschätzungen der Ständigen V ertretung in O stberlin für das Bundeskanzleram t in Bonn hervor. Über eine Veranstaltung des Neuen Forums am 19. September in der Ostberliner Gethsemanekirche wurde berichtet: „Die Veranst altung zei gte, daß di e Arbeit neuer und al ter Gruppen i n der DDR weit entfernt ist von effektiver O ppositionsarbeit. Die in unserer Presse veröffentlichten Berichte über die ‚O pposition‘ in der DDR sind übertrieben und aufgebauscht. Bärbel Bohley konnte keine Orientierung geben, i hr amateurhaftes Auftreten zeigte deutlich die Schwierigkeiten bei inhaltlicher und organisatorischer Umsetzung ihrer Ziele. Der Tei lnehmerkreis bestand, soweit erkennbar, ausschließlich aus Intellekt uellen, unter denen keine politischen Talente sichtbar wurden, die eine solche Versammlung zu einheitlicher W illensbekundung führen könnten. Die meisten Besucher der Veranstaltung verließen die Kirche ebenso vereinzelt und hilflos, wie sie gekommen waren. Selbst einfachste Organisationsform en waren nicht bedacht worden. [...] Die Arbeit des Staatssicherheitsdienstes wird auch weiterhin dafür sorgen, daß die Aufbruchstimmung nicht zu einem tatsächlichen Aufbruch wird.“ 76

Genauso abschätzig w ar ein w eiterer Bericht zur „Krise in der DDR“, der zwei Tage später nach Bonn geschickt wurde: „Das Regime wird weder durch die Kritik der Kirchen noch durch die oppositionellen Gruppierungen (‚Neues Forum‘ oder ‚Dem okratie Jetzt‘ oder andere) g efährdet. Die Kirch e v ersteht ih re Ro lle n icht p rimär p olitisch, so ndern eher di akonisch, d. h. hel fend für M enschen, di e m it dem Zustand von Staat und Gesellschaft nicht fertig werden. [...] In der gegenwärtigen Krise kann sich die DDR nur selbst helfen. Einwirkungsmöglichkeiten auch durch uns sind minimal. Eine Unterstützung oppositioneller Kräfte ist an gesichts d er Mach tverhältnisse illu sorisch. Andererseits

75 „Zum Verlauf...“, 22.9.1989, Bl. 36. 76 Fernschreiben von Staatssekretär Bertele an den Chef des Bundeskanzleramtes vom 20.9.1989; dokumentiert in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit 1989/90 (1998), S. 409 f.

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liegt es in unserem Interesse, daß diese zarten Ansätze nicht zerstört werden. Je weniger sie im gegenwärtigen Augenblick von uns benut zt werden, dest o mehr ist ihnen gedient.“ 77

Trotz Sympathie mit den grundsätzlichen Zielen der Oppositionsbewegung war man auf seiten der bundesdeutschen Politik noch weit davon entfernt, sie überhaupt ernst zu nehm en und ihr irgendwelche Erfolgschancen einzuräumen. Schon deshalb war die Vorstellung nachgerade „illusorisch“, diese – wie man meinte – „amateurhaften“ Intellektuellen ohne politisches Talent seien in irgendwelche strategische Kalküle einzuplanen, wie das von Staatssicherheit und SED unterstellt wurde. 78 Parallelität in der Einschätzung bestand allenfalls darin, daß von einer „ langfristigen zersetzenden Wirkung einer systemkritischen Diskussion“ 79 ausgegangen wurde. Von seiten der Machthaber in der DDR wurde die entstehende Oppositionsbewegung dagegen überschätzt. Die Nachrichtenagentur ADN, die Joachim Herrmann unterstand, meldete am 21. September eine Verfügung in Sachen Neues Forum . Sie stam mte vorgeblich aus dem Innenm inisterium, orientierte sich an der Sprachregelung des Politbüros, und ihre Autoren meinten, es sei auf heim tückische „staatsfeindliche“ Umtriebe aufmerksam zu machen: „Der Minister des Innern der DDR teilt mit, daß ein von zwei Personen unterzeichneter Antrag zur B ildung ei ner Verei nigung ‚Neues Forum ‘ ei ngegangen ist, geprüft und abgelehnt wurde. Ziele und Anliegen der beantragten Vereinigung wi dersprechen der Verfass ung der Deut schen Dem okratischen Republik und stellen eine staatsfeindliche Plattform dar. Di e Unterschriftensammlung zur Unt erstützung der Gründung der Verei nigung war ni cht genehmigt und folglich illegal. Sie ist ein Versuch, Bürger der Deutschen Demokratischen Republik über die wahren Absichten der Verfasser zu täuschen.“ 80

77 Autor dieser Einschätzung war Minister ialrat von Studnitz; Fernschreiben von Staatssekretär Bertele an den Chef des Bunde skanzleramtes vom 22.9.1989; dokumentiert in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit 1989/90 (1998), S. 413–416. 78 Immerhin ist solchen Fehleinschätzungen zugute zu halten, daß sie im Fluß der Ereignisse entstanden sind. Wenn aber noch vier Jahre danach behauptet wird, in der DDR habe eine „Revolution ohne Intellektuelle“ stattgefunden, sie hätten die „ Rolle von Zaungästen“ gespielt, ist das schlicht unzutreffend und nur deshalb erwähnenswert, weil die einschlägige „These“ in der renommierten B eilage zum „Parlament“ erschienen ist. G emeint: H elmut L. Müller: Die unvollendete Revolution in Os teuropa: Charakter und Ziele des Umbruchs von 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10/93, S. 14–21, hier 19. 79 Fernschreiben von Staatssekretär Bertele an den Chef des Bundeskanzleramtes vom 22.9.1989, S. 415. 80 ADN 21.9.1989, Nachdruck in: Neues Deutsc hland 22.9.1989. „ Bestätigt“ und als „endgültig“ bezeichnet wurde diese Verlautbarung auf der Politbüro-Sitzung am 26.9.1989; Protokoll Nr. 38/89, 7 S., hier S. 6; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2347.

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Das Ziel dieser V erlautbarung war eindeutig. D a auf die Bildung einer solchen G ruppierung hohe G efängnisstrafen standen, 81 sollten die Initiatoren des N euen Forum s durch den Begriff „ staatsfeindliche Plattform “ eingeschüchtert werden. Tatsächlich bekam en es m anche Initiatoren m it der Angst zu tun, überlegten, ob sie untertauchen sollten, andere hinterlegten für den Fall ihrer Verhaftung Vollmachten bei Rechtsanw älten. 82 Rolf Henrich allerdings, der eigentliche Initiator dies es Aufrufs, reagierte souverän. In einem Telefoninterview mit dem West-Berliner SFB äußerte er sich „ überrascht“ über „ die Grobschlächtigkeit der Reaktion“ und m einte, die Staatsmacht versuche, „ Ängste zu schüren, die im Grunde genommen von vielen gerade überwunden werden“. Seine Selbstsicherheit rührte auch daher, daß er überzeugt war, „daß diese 2,3 Millionen Parteim itglieder – das ist doch der ganz normale Durchschnitt der Bevölkerung, die denken nicht anders als wir auch“ 83. Nach einigen Tagen, als außer „Disziplinierungsversuchen“ an den jeweiligen Arbeitsstellen 84 nichts w eiter passiert w ar, beruhigte sich die Stim mung w ieder. Ebenso w urde der andere Zw eck dieser V erlautbarung verfehlt. Mit der Behauptung, daß die „ Bürger“ über „die wahren Absichten der Verfasser“ getäuscht würden, sollte ein Keil zwischen die Bürgerrechtsaktivisten und jene Bürger, die sich bisher loy al verhalten hatten, der herrschenden Politik aber zunehm end kritisch gegenüberstanden, getrieben werden.

81 § 107 StGB der DDR in der Fassung vom 28.6.1979 bedrohte schon die bloße Mitgliedschaft mit einer Gefängnisstrafe von zwei bis acht Jahren; den Organisatoren drohten Strafen zwischen drei und zwölf Jahren, seine Förderung oder Unterstützung (zum Beispiel durch Unterschriften) konnte mit ein bis fünf Jahren Freiheitsentzug geahndet werden. 82 Vgl. Reich: 1989. Tagebuch, Folge 2 vom 16.9.1995, und das Interview mit Jens Reich in: Herzberg u. Meier: Karrieremuster (1992), S. 406–444, hier 429 f. 83 Telefoninterview mit Rolf Henrich zur Ablehnung der Registrierung des „ Neuen Forums“, SFB II, 22.9.1989, 12. 20 Uhr, Typoskript der ZAIG; BStU, ZA, HA II/13 1796, Bl. 200–203. 84 Auf Veranlassung der HA XX des M fS wurden Unterzeichner zu ihren Vorgesetzten zitiert und verwarnt; vgl. BStU, HA XX, ZMA 10049/ Personen, Bl. 228 f. u. 235. Dazu ein Beispiel aus Karl-Marx-Stadt von Anfang Okt ober 1989, das für Dutzende anderer steht. Ein Arzt am Bezirkskrankenhaus hatte Unters chriften für das Neue Forum gesammelt. Zu seiner Einschüchterung entwickelte die BVfS folgenden Vorschlag: „ Aufgrund der Tatsache, daß XY das genannte Pamphlet vervielfältigte und verbreitete, wird vorgeschlagen, ihn durch das Untersuchungsorgan gemäß § 95 StPO [Prüfung von Anzeigen und Mitteilungen durch die Staatsanwaltschaft] zu befrage n, zu belehren und zu verwarnen. Im Ergebnis der Prüfungshandlung gemäß § 95 StPO so llten der Chefarzt der Z-Klinik und die Parteiorganisation vom Sachverhalt informiert werden. Unter Führung der Parteiorganisation sollten mit geeigneten gesellschaftlichen K räften offensive politisch-ideologische Auseinandersetzungsprozesse zur Verhinderung weiterer Aktivitäten des XY veranlaßt werden. Durch eine differenzierte, aber prinzipielle politische Arbeit in der Auseinandersetzung mit XY sollte seine Wirksamkeit zurückgedrängt und erreicht werden, daß in seinem Arbeitskollektiv gegen ihn Stellung genommen wird.“ Schreiben des Stellvertreters Operativ der BVfS Karl-Marx-Stadt, Oberst Herrmann, an den Leiter der HA XX, Generalleutnant Kienberg, vom 4.10.1989; BStU, ZA, HA XX, ZMA 2107-7, Bl. 84–90, hier 85.

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Hinter den Kulissen des Parteiapparates w urde nicht w eniger hart argumentiert. Am 22. September wurde ein Fernschreiben an die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen verschickt. D ieser Text ist, obw ohl er den N amen Honeckers trägt und von ihm wahrscheinlich abgesegnet worden ist, entweder von Horst Dohlus oder von Günter Mittag entworfen worden. 85 Von den ZK-Sekretären unter Vorsitz von Mittag wurde das Fernschreiben in Abwesenheit des SED-Generalsekretärs gebilligt und kurz danach verschickt. 86 Ausgangsthese w ar, daß es Bestrebungen gebe, „ entsprechend der bundesdeutschen Propaganda konterrevolutionäre G ruppen zu organisieren“ . Solche „feindlichen Aktionen“ müßten „ im K eime erstickt w erden“, es dürfe „keine Massenbasis dafür zugelassen“ w erden und es sei dafür zu sorgen, „daß die O rganisatoren der konterrevolutionären Tätigkeit isoliert werden“ 87. Daß es überhaupt sow eit gekommen war, sei eine Folge davon, daß „in einigen Kreisen nicht rechtzeitig die politisch-organisatorischen Maßnahmen dafür getroffen wurden“. Nachdem die Verantwortung auf die untere Ebene abgeschoben w orden w ar, wurde das Entscheidungsprivileg der Machtzentrale unterstrichen: „Alle Fragen werden vom Politbüro gründlich verfolgt und zum geeigneten Zeitpunkt zur Entscheidung gestellt, um Euch in Eurer Arbeit zu unterstützen.“ 88 Das war alles andere als eine klare Orientierung für die SED -Bezirksleitungen in der Frage, w ie sie weiter vorzugehen hatten. Einerseits sollte di e wachsende Protestbewegung vor Ort „erstickt“ werden, ein Vorhaben, dem sie sich auch zuvor schon in Kooperation mit der Staatssicherheit und der V olkspolizei gew idmet hatten. A ndererseits sollten die regionalen Parteiführungen auf „ Entscheidungen“ des Politbüros warten, ohne daß auch nur angedeutet w orden wäre, welche neuen Ideen entwickelt worden waren, um einem solchen Bemühen zum Erfolg zu verhelfen. Immerhin war deutlich, daß eher eine repressive Lösung der Krise angestrebt wurde. 85 Dohlus, der für die Verbindung zu den regiona len Parteigliederungen zuständig war, ist, wie erwähnt, am 20.9. beauftra gt worden, eine Information für die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen auszuarbeiten. Er war bei der Sitzung der ZK-Sekretäre am 22.9. jedoch nicht anwesend. Vorgestellt wurde das Schreiben von Mittag. 86 Die Sitzung dauerte nur 40 Minuten. Eine St unde nach ihrem Ende, um 13.50 Uhr, wurde das Telegramm verschickt. Vgl. Tagesordnungspunkt 1 Bestätigung des Briefs von Erich Honecker an die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen, in: Protokoll der Sitzung des ZKSekretariats am 22.9.1989; BA Berlin, DY 30/J IV 2/3/4445. 87 Der Begriff „isolieren“ ist in diesem Zusammenhang offenkundig politisch gemeint, nicht im Sinne einer Realisierung der Vorbeugeplanung im Rahmen einer Mobilmachung, das heißt der unverzüglichen Verschleppung dieser Personen in „ Isolierungslager“. Der von Honecker umschriebene Personenkreis wäre im übrigen nach der Vorbeugeplanung im Ernstfall nicht zu „ isolieren“ (Kennziffer 4.1.3.), sondern „ festzunehmen“ (Kennziffer 4.1.1.) gewesen; vgl. Durchführungsbestimmung Nr. 1 über die spezifisch-operative Mobilmachungsarbeit im Ministerium für Staatssich erheit und in den nachgeordneten Diensteinheiten zur Direktive Nr. 1/67 des Ministers für Staatssicherheit, GKdos 4/67; BStU, ZA, DSt 400032, Bl. 5. 88 Fernschreiben Honeckers an die 1. Sekret äre der BL der SED vom 22.9.1989, GVS 2/89; BStU, ZA, SdM 664, Bl. 61.

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Wo blieben angesichts dieser auch aus Sicht des Regimes verfahrenen Situation etwas weiterblickende Politiker in der SED-Führung? Gab es sie überhaupt? Für den außenstehenden Beobachter w aren keine U nterschiede wahrnehmbar. Andererseits spricht die Entw icklung nach dem 8. Oktober und auch der Vergleich mit Umbruchsituationen in anderen D iktaturen dafür, daß in dieser Lage erste D ifferenzierungsprozesse eingesetzt haben. Günter Schabow ski 89, Mitglied des Politbüros und bald darauf einer der wichtigsten Taktiker der „Wende“, hat nachträglich behauptet, bei ihm habe Anfang September 1989 ein U mdenken begonnen. 90 Dafür fand sich in den Akten bisher kein Beleg. 91 Anders ist die A ktenlage in bezug auf Egon Krenz 92. In den Beständen seines Büros finden sich „ Notizen“, datiert vom 17. September 1989. 93 Krenz, den die Ereignisse wenig später kurzzeitig an die Spitze des Liberalisierungsprozesses tragen sollten, war da mals in seinem politischen Auftreten von H onecker nicht zu unterscheiden, doch in seinen „Notizen“ formulierte er Einschätzungen, die von der Position seines Generalsekretärs deutlich abwichen. Es war ihm zumindest bewußt, daß die DDR sich in einer gefährlichen Lage befand: 89 Günter Schabowski (geb. 1929 in Anklam); Journalist; 1953–1967 stellvertretender Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung „ Tribüne“; 1967/68 Besuch der Parteihochschule in Moskau; 1968–1978 stellvertretender Chefredakteur, 1978–1985 Chefredakteur des „Neuen Deutschlands“; 1981–1984 Kandidat, 1984–1989 Mitglied des Politbüros; 1985–1989 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Ber lin. Vgl. Wer war wer? (1995), S. 626; Schabowski: Der Absturz (1991). 90 „Erst in diesen Tagen [in der ersten Sept emberhälfte 1989], unter dem Eindruck der nicht enden wollenden bestürzenden Tatsachen, nahmen meine inneren Zweifel ein Ausmaß an, daß ich an eine beschleunigte Änderung von Politik und Personen der SED-Führung zu denken begann.“ Schabowski: Absturz (1991), S. 224. 91 Obwohl von den Politbüro-Sitzungen des Herbstes 1989 keine Wortprotokolle angefertigt wurden, existieren doch Aufzeichnungen von drei Sitzungen Ende August und Anfang September 1989, die Wolfgang Herger, der Leiter der Abteilung Sicherheit im ZK, für seinen Chef Egon Krenz in dessen Abwesenheit gefertigt hat. Aus diesen Aufzeichnungen geht nicht hervor, daß Schabowski sich damals besonders kritisch geäußert hätte. Vgl. BA Berlin, DY 30/J IV 2/2/2039/76 u. /2039/77, Nachdruck in Stephan: Vorwärts (1994), S. 96–107 (vom 29.8.), 118–126 u. 146–154 (vom 5. bzw. 12.9.1989). – Die Unterlagen des Büros Schabowski im Bundesarchiv (BA Berlin, DY 30 IV 2/2040) sind offenkundig gründlich „gefilzt“ worden und deshalb äußerst dürftig – das erschwert heute eine adäquate Einschätzung der damaligen Rolle Schabowskis. 92 Egon Krenz, geb. 1937; Sohn eines Schneiders; 1953–1957 Ausbildung als Lehrer; 1955 SED-Mitglied; 1957–1959 Wehrdienst; 1959–1983 hauptamtlicher FDJ-Sekretär, zuletzt als 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ; 1973–1989 Mitglied des ZK, 1976 Kandidat und 1983–1989 Mitglied des Politbüros und Sekretär für Sicherheitsfragen. 93 [Egon Krenz:] „Notizen“ 17.9.1989; BA Ber lin, IV 2/2.039/77, Bl. 36–55. Handschriftliche Korrekturen in der maschinenschriftliche n Vorlage wurden in den folgenden Zitaten übernommen. Die Autorenschaft von Krenz ergibt sich aus dem Fundort und einem Handschriftenvergleich mit „ persönlichen Aufzeichnungen von Egon Krenz“ (BA Berlin, DY 30 IV 2/2039/77, Bl. 63–98). Da der maschinenschriftliche Teil in Ich-Form gehalten ist, ist auszuschließen, daß es sich um eine Zuarbeit handelt. Möglicherweise handelt es sich um Notizen für ein Referat vor FDJ-Funktionären, darauf weisen einige Formulierungen hin. Krenz selbst war nicht bereit, vor Abschluß seines Gerichtsverfahrens Fragen zu beantworten.

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„Die politische Situation ist angespannt, wie ich dies bisher nicht erlebt habe. Mit wem und wo man auch diskutiert, in der Regel wird die Frage aufgeworfen, daß sich in Vorbereitung des XII. Parteitages [der für den Mai 1990 geplant i st] et was ändern m üsse. In welcher R ichtung di ese Änderungen sei n sollen, bleibt oft unklar.“ 94

Zu den U rsachen für diese „ Situation“ ist K renz kaum vorgestoßen. Neben der Nennung ideologischer V ersatzstücke wie „Attacken des G egners“ und ungenügende Abgrenzung zur SPD 95 beschreibt er die Problem e nur. Trotzdem ergibt diese Beschreibung ein Bild, dessen Brisanz K renz selbst in seiner D imension allem A nschein nach gar nicht begriffen hat. A ltbekannte Defizite des Systems wie seine Unfähigkeit, „das normale Funktionieren des Alltags“ zu garantieren, die früher als „Details“ gegolten hätten, würden von den Bürgern plötzlich „zum Systemvergleich herangezogen“. 96 Dabei diene als „Maßstab [...] das bei Besuchsrei sen in der BRD und Berlin (West) erlebte und durch die BRD-Medien propagierte Lebensniveau“. 97 Alle Probleme würden plötzlich im Zusammenhang gesehen: „Stärker als früher wird heute jede ökonom ische Frage zu einer politischen, jede außenpolitische Frage hat sofort innenpolitische Wirkungen und um gekehrt.“ 98 Diese Verzahnung der Problemlagen bedeutete auch deshalb eine neue Qualität, weil damit – was Krenz nicht erkannte – eine Verflechtung von gegen den Status quo gerichteten Interessen einsetzte, deren Artikulation sich nicht mehr wechselseitig blockierte. Es war ein Übergang zu „ positiver Rückkopplung“ zwischen zuvor getrennten und sich gegenseitig schwächenden Formen des Protestes – der entscheidende Mechanismus der beginnenden Revolution. 99 Ganz blieb dieser Vorgang auch Krenz nicht verborgen, denn er notierte: „Vor zwei/drei Jahren gab es noch eine verbreitete gesellschaftliche Ablehnung der Antragsteller. Heute wächst unter Teilen der Bevölkerung das Verständnis für sie. Es gibt keine Atm osphäre der Ablehnung.“ 100 V erbunden m it dieser Stim mungslage sei für „manche das Gefühl, nichts bew irken zu können“ 101, seien „ Zukunftsängste“ und ein „Vertrauensverlust“ in die SED-Führung 102, deren Machtanm aßung zunehmend bewußt wurde:

94 95 96 97 98 99 100 101 102

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Notizen, Bl. 36. Ebenda, Bl. 36 u. 42. Ebenda, Bl. 38. Ebenda, Bl. 41. Ebenda, Bl. 38 f. Vgl. Jens Reich: 1989. Tagebuch der Wende, Teil I, in: Die Zeit 9.9.1994, S. 6. Notizen, Bl. 46. Ebenda, Bl. 48. Ebenda, Bl. 38.

„Es i st sehr bedauerl ich, daß es dem Gegner gel ungen i st, bi s i n den Krei s der Parteimitglieder die Frage nach der ‚M ündigkeit des Bürgers‘ zu stellen. Nach wie vor i st die ‚Sputnik-Angelegenheit‘ in dieser Beziehung nicht vergessen.“ 103

Folgen seien „Resignation“, „Passivität“, „Aggression“ und das Stellen von „Ausreiseanträgen“. 104 Trotz in Details durchaus zutreffender Beschreibung von Symptomen einer tiefen politischen – und ökonomischen 105 – Krise, die er w ohl nicht zuletzt der regelm äßigen Lektüre von „MfS-Informationen“ verdankte, 106 war die G esamtinterpretation von K renz jedoch schönfärberisch, und die K onsequenzen, die er daraus zog, w aren entsprechend zaghaft. Weder „ der Sozialism us“ noch „ die führende Rolle der Partei“ seien von den Bürgern bisher „ in Frage gestellt“ worden, und es gebe „keinen Grund, an der Richtigkeit unserer im Parteiprogramm formulierten Strategie zu zweifeln“ . 107 Was also war zu tun? Die Alternative, die seinerzeit tatsächlich anstand – Repression oder Liberalisierung –, w urde von K renz nicht offen form uliert. D ie Möglichkeit verschärfter Repression w urde gar nicht in Erwägung gezogen; die Vorschläge, die er entwickelte, zielten deutlich auf eine integrative Politik: „Aktuell ist die Frage, wie wir mit ‚Andersdenkenden‘ umgehen. Grundsätzliche Übereinstimmung wurde über di ese Frage bei der B ehandlung ei ner entsprechenden Vorlage des Zentralrates [d er FDJ] erzielt, in der Praxis jedoch wird noch ni cht alles getan, mit allen zu reden, die unserer Politik gegenüber Vorbehal te haben. W ichtig sc heint mir das di fferenzierte Herangehen an diese Gruppen zu sein. Es wäre ei nfach fal sch, auch zugespi tzte Fragen – selbst wenn sie vom Gegner herei ngetragen werden – nur dem Gegner zu unterstellen. Die Zeit, daß nur bestimmte ‚Spinner‘ sie aufwerfen, ist vorbei. Manche Fragen gehen bis in die Leitungen der Partei.“ 108

Die Vorschläge, die Krenz anschließend erläuterte, 109 scheinen mehr für die eigene Basis als für die Opposition bestimmt gewesen zu sein: Es sollte „politische Diskussion auch über kom plizierte Fragen“ geben wie etwa Veränderungen des Parteiprogramms und die tatsächliche Wirtschaftslage (w obei 103 Ebenda, Bl. 43. Zum Sputnik-Verbot siehe Kap. 1.2. 104 Notizen, Bl. 38. 105 Krenz erwähnte, daß 1987 geplant gewesen war, die Nettoverschuldung gegenüber dem westlichen Ausland von damals 32 Mrd. Valuta-Mark zu halbieren; tatsächlich sei die Verschuldung aber bis 1989 auf 40 Mrd. VM a ngestiegen. Im Fünfjahresplan waren im Westhandel Exportüberschüsse von 23,1 Mrd. VM geplant gewesen, um die Schulden zu tilgen; erreicht wurden 3,8 Mrd. VM. Ebenda, Bl. 51. 106 Die MfS-Informationen zur Stimmungslage, die in diesen Tagen vorgelegt wurden, werden im folgenden Abschnitt dargestellt. 107 Notizen, Bl. 39. 108 Ebenda, Bl. 47. 109 Ebenda, Bl. 48–55.

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die Verschuldung allerdings wohlweislich ausgeklam mert werden sollte); das „ Leistungsprinzip“ sollte gestärkt werden. Die „ Autorität der Volksvertretungen“ sollte durch die „ Diskussion von Varianten“, „bessere Information“ und öffentliche Debatte über Gesetzesvorhaben gehoben werden. Das war – ohne daß die entsprechenden Begriffe erwähnt worden wären – der Versuch, die Politik der er sten Gorbatschow-Jahre zu imitieren: Glasnost als begrenzte, von der Partei kontrollierte „ Öffentlichkeit“; Überwindung der herrschenden Stagnation durch – wie es bei Gorbatschow hieß – „Beschleunigung“. Es folgten zw ei Vorschläge, in denen spezifische DDR-Erfahrungen Niederschlag fanden. Unter Hinweis auf die Kritik an den Kommunalwahlen, die absurderweise selbst in diesem internen Papier zurückgewiesen wurde, erklärte Krenz, daß bei künftigen Wahlen „noch konsequenter darauf zu achten“ sei, „daß in allen Bezirken die wahlrechtlichen Bestim mungen exakt eingehalten werden“. Schließlich äußerte er sich auch noch zu „ Reisefragen“, die „ein ständiges Diskussionsthema“ seien, das selbst für die eigene Klientel auch durch die neue „Reiseverordnung“ nicht gelöst worden war: „Sie steht bei jenen in Kritik, die ni cht reisen können und auch nicht einsehen wol len, daß das Kri terium für R eisen i ns ni chtsozialistische Ausl and Verwandtschaftsbeziehungen si nd. Denkbar wäre, di e R eiseverordnung zu erneuern, davon auszugehen, daß al le Bürger der DDR rei sen können, dies öffentlich zu m achen und gleichzeitig mitzuteilen, daß diese Reiseverordnung in Kraft tritt, wenn die Regierung der Bundesrepublik Deutschland die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik anerkennt.“ 110

Das wäre eine sehr weitreichende Perspektive gewesen. Daß aber die Lösung der Schicksalsfrage der D DR an das – in diesem Punkt ausgesprochen unwahrscheinliche – Entgegenkommen des sonst so verteufelten anderen deutschen Staates gebunden werden sollte, 111 zeigt deutlicher als alles andere die politischen Fähigkeiten des künftigen SED-Generalsekretärs. Es war ein Vorgeschmack auf die Qua lität des Entscheidungsprozesses vor dem 9. November, auf den noch zurückzukommen sein wird. Die Bedeutung der „ Notizen“ liegt vor allem darin, daß sie zeigen, daß Krenz schon zu jener Zeit ein – mit Mängeln behafteter – Softliner war, der eine repressive Lösung der Krise nicht in Betracht zog. So w ie er die Lage beschrieb, wäre ein solcher V ersuch ausgesprochen kontraproduktiv gew e110 Ebenda, Bl. 54. 111 Nach seiner Wahl zum Staatsratsvorsitzenden hat Egon Krenz in einem ersten Telefongespräch mit Bundeskanzler Kohl einen vorsich tigen Vorstoß in dieser Richtung unternommen und ist auf eisige Ablehnung gestoßen; Gespräch zwischen Egon Krenz und Bundeskanzler Kohl am 26.10.1989; BA Berlin, DY 30 IV 2/2039/324, Nachdruck in Stephan (Hrsg.): Vorwärts (1994), S. 180–186, hier 184; vgl. dazu Hertle: Chronik des Mauerfalls (1996), S. 92–103.

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sen. Ihm ging es um Stabilisierung und Verbreiterung der sozialen Basis des Regimes durch eine begrenzte Ö ffnung. D och obw ohl sich die Lage fast täglich verschärfte und in eine ganz andere Richtung trieb, hat K renz den Weg vom Raisonnieren zum Handeln damals nicht gefunden. D arin war er seinen G enossen im Zentrum der Macht gleich. Sie alle haben so lange geschwiegen, bis es zu spät war. Bei Krenz kam erschwerend hinzu, daß für eine Wende, die sich nach den Regeln des Sy stems vollzog, er selbst die Initiative ergreifen mußte. Er galt lange Zeit als „Kronprinz“ des siechen Generalsekretärs. 112 Seine Machtposition war jedoch schwächer, als diese Titulierung und seine Doppelfunktion als Vollm itglied des Politbüros und Sekretär des Zentralkom itees verm uten lä ßt. Obwohl als ZK-Sekretär für d en Sicherheitsapparat zuständig, durfte er an der Besprechung einschlägig er Fragen zwischen Honecker und Mielke, die jeden Dienstag nach der Sitzung des Politbüros stattfand, nicht teilnehmen. 113 Die Vertretung des Generalsek retärs während seiner Erkrankung wurde nicht dem vermeintlichen „Kronprinzen“, sondern Günter Mittag übertragen. 114 Krenz wurde in diesen Wochen von H onecker in den U rlaub geschickt 115, und nach seiner Rückkehr hatte er Ende September 1989 einen Staatsbesuch in China zu absolvieren 116 – das zu einer Zeit, als die V orbereitungen auf den 40. Jahrestag auf Hochtouren liefen, für die er als ZK -Sekretär für Sicherheit gewiß Mitverantwortung zu tragen hatte. Die Position, von der aus Krenz den Generalsekretär herausgefordert hätte, war also nicht sonderlich stark, das m ag ein Grund für sein Zögern gew esen sein. Ein w eiterer G rund ergibt sich aus einer Schilderung von Markus Wolf über ein Gespräch, das er Anfang August 1989 m it K renz und Wolfgang H erger, dem Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen beim ZK , geführt hat. Wolf berichtet, er habe eindringlich Gründe für die N otwendigkeit einer „ Erneuerung“ vorgetragen. K renz habe ihm in allen Punkten recht gegeben, jedoch entgegengehalten, daß er m it „offenen Ä ußerungen“ seinen Sturz riskieren w ürde: „ Auch Gorbatschow sei nur deshalb G eneralsekretär geworden, weil er unter drei seiner V orgänger Parteidisziplin gew ahrt habe.“ 117 D as w ar w ahrscheinlich nicht ganz 112 Vgl. J. P. Winters: Krenz bleibt unter den Mitgliedern des Politbüros Favorit für die Nachfolge Honeckers, in: Frankfurter A llgemeine Zeitung 16. 9.1989; Spittmann: Übergangsgesellschaft (1989), S. 1202. Honecker hat das nachträglich bestätigt in Andert u. Herzberg: Sturz (1990), S. 55. 113 Vgl. Krenz: Mauern (1990), S. 123; Schabowski: Politbüro (1990), S. 75; ders.: Absturz (1991), S. 115; Aussagen von Wolfgang Schwanitz und Rudi Mittig vor dem Berliner Untersuchungsausschuß am 31.1.1990, in: Ohnmach t (1991), S. 223. Alle diese Zeitzeugen sind daran interessiert, nachträglich Verantwortung auf Honecker und Mielke abzuschieben, aber auch Honecker selbst hat dies e Version indirekt bestätigt in Andert u. Herzberg: Sturz (1990), S. 367. 114 Protokoll der Sitzung des Politbüros der SED am 15. 8.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2341. 115 Vgl. Schabowski: Politbüro (1990), S. 63; Krenz: Mauern (1990), S. 142. 116 Krenz war deshalb vom 22.9.–2.10.1989 abwesend. 117 Wolf: In eigenem Auftrag (1991), S. 158.

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falsch – und schließlich ist auch G orbatschow zu spät an die Macht gekommen, um das System durch eine Reform politik retten zu können. Allerdings kam bei Krenz – wie sich in den folgenden Wochen zeigen sollte – auch noch ein hohes Maß an politischer Unfähigkeit hinzu. Er war kein von seinem Projekt überzeugter Liberalisierer, kein weitsichtiger Reformer, sondern Statthalter eines abgewirtschafteten Regimes, das er – ein Softliner, nicht mehr – m it K onzessionen so lange zu retten versuchte, bis es nichts mehr zu retten gab. Krenz ist schließlich in Bewegung gekom men, weil der gesellschaftliche Druck immer mehr zunahm. In seinen „ Notizen“ hatte er vor allem w achsenden Mißmut unter sy stemtreuen Parteim itgliedern hervorgehoben. D as war zutreffend beobachtet. So wurden zu dieser Zeit selbst im unmittelbaren Umfeld von Willi Stoph, im Sekretariat des Ministerrates, von „mehr und mehr Genossen Zweifel an der Realität der Politik“ angem eldet. 118 Der ehemalige IM, der dies aus eigener Initiative einem MfS-Offizier berichtete, war selbst von solchen Zw eifeln offenbar nicht frei. Er schilderte die Planverhandlungen zwischen Stoph und verschiedenen Ministern, die im August 1989 stattfanden. O bwohl sie m eistenteils ihre Planverpflichtungen für das laufende Jahr nicht erfüllen würden, „hätten alle Minister optimistische Haltungen zu den Zielstellungen“ für 1990 eingenom men, die auf den verfehlten 1989er Planziffern basierten – „ und so w ird von vornherein w ieder unreal geplant“ . D as w ußte m an im Sekretariat des Ministerrates, und so haben sich beide Seiten wissentlich belogen: die Minister, die m it falschen Zahlen operierten, und ihre Gesprächspartner, „die verantwortlichen Genossen im Ministerrat, die m it der Planvorbereitung befaßt sind“ . Sie klagten nachträglich, „daß keine klaren Konzeptionen zur Plangestaltung und seiner materiellen Untersetzung und Absicherung vorliegen“ . D er ehem alige IM versuchte eine A ntwort auf die naheliegende Frage zu finden, warum seine Kollegen dieses verlogene Spiel mitmachten: „Einige Genossen im Sekretariat des Ministerrates“ – genannt werden unter anderem der Lei ter des Sekret ariats des Vorsi tzenden des M inisterrates, Böthling, und di e 1. Sekretärin der SED-Betriebsparteiorganisation, Wedler – „vertreten in Diskussionen, die sehr vertraulich im kleinsten Kreis z. T. unter vi er Augen geführt werden, di e M einung, daß di e DDR zur Lösung der vielen anstehenden Probleme (Ökonom ie/Versorgung, soz[i alistische] Demokratie) etwas tun muß und sie nicht nur negieren darf.“ 119

Sie wußten nur nicht, was zu tun sei: „Wege, wie sie in der VR Polen und in 118 HA XX/1: „ Information“ vom 30.8.1989 über ein Gespräch mit dem AIM „ Rosenthal“, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sekretariat des Ministerrates, am 22. 8.; B StU, ZA , HA XX/AKG 84, Bl. 54–56. 119 HA XX/1: „Information“ vom 30.8.1989, Bl. 55.

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Ungarn beschritten werden, sind für die DDR indiskutabel, aber Veränderungen müssen sich auch bei uns vollziehen.“ Das war ein unlösbares ideologisches Dilem ma: Der Pfad der reinen Lehre sollte nicht verlassen, zugleich sollten neue „ Wege“ gefunden werden. Dahinter standen wahrscheinlich politische Überlegungen, wie sie zur gleichen Zeit Otto Reinhold öffentlich anstellte: daß die DDR als halber Nationalstaat institutionelle Umwälzungen w ie in den Reform ländern nicht überstehen würde. Hinzu kam ein w eiterer A spekt, der diesen Funktionären, die in der Wirtschaftslenkung tätig w aren, überaus bew ußt war: steigende A uslandsschulden und Subventionen in einer H öhe, die m an sich „ nicht mehr leisten“ könne. D ie DDR lebte bereits über ihre V erhältnisse. D ie Konsequenz war: „Die genannten Genossen schätzen ein, daß Lösungen erforderlich sind, die nicht ohne Einschränkungen für die Bevölkerung realisierbar sind.“ In der stark angespannten innenpolitischen Situation eine so unpopuläre Einsicht zu vertreten, hätte erhebliche Risikobereitschaft vorausgesetzt. Statt dessen wurde die eigene Ratlosigkeit nach oben projiziert: „ Partei und Regierung m üßten dazu Konzeptionen finden.“ 120 Während die system treuen Genossen noch im mer abwarteten, gerieten viele bis dato politisch unauffällige Bürger langsam in Bewegung. Die Resonanz, die der Aufruf des N euen Forum s ebenso w ie die Resolution der „Unterhaltungskünstler“ gefunden hatten, war in dieser Beziehung ein erstes deutliches Indiz. Taktische Überlegungen des Staatssicherheitsdienstes Mielke sprach etwa zur gleichen Zeit in einem Schreiben an seine Untergebenen von einer „ neuen Qualität“ des Vorgehens „feindlicher, oppositioneller Kräfte“ und forderte die „ konsequente Unterbindung“ ihrer weiteren „Formierung“. Genaueres werde sein Stellvertreter, Generaloberst Mittig, erläutern. 121 Die Dienstkonferenz von Mittig mit den Stellvertretern Operativ und den Leitern der Abteilung XX der Bezirksverwaltungen, an der auch Generalleutnant Kienberg, der Chef der HA XX, teilnahm, fand am 26. September statt. 122 Der einzige Redner war Generaloberst Mittig, der die Taktik 120 Ebenda, Bl. 55. 121 Schreiben des Ministers an die Leiter der Diensteinheiten vom 21.9.1989, Anlage: „Information Nr. 416/89 über Bestrebungen feindlicher, oppositioneller Kräfte zur Schaffung DDR-weiter Sammlungsbewegungen/Vereinigungen“; BStU, ZA, DSt 103600. 122 Unterlagen zu dieser Konferenz sind in de n Beständen des Zentralarchivs nicht nachweisbar. In der Außenstelle Potsdam des BS tU wurden jedoch zwei Mitschriften bzw. Gedächtnisprotokolle aufgefunden. Inhaltlich sind beide Texte weitgehend identisch, auch wenn die Aufmerksamkeit zum Teil auf unterschiedliche Aspekte gerichtet war. Oberst Dieter Weißbach, Stellvertreter Operativ der B VfS Potsdam auf der Linie Mittig (sie umfaßte unter anderem die Überwachung der Wirtschaft, des Staatsapparates, der Kultur, der Kirchen und der Opposition): „ Protokoll aus der persönlichen Mitschrift anläßlich der Dienstkonferenz beim Generaloberst Mittig zu Zielen und Aufgaben zur konsequenten Unterbindung der Formierung feindlich-oppositioneller Kräfte in Sammlungsbewe-

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des MfS gegenüber der Opposition erläuterte. Aufschlußreich ist ein Vergleich seines Referats m it den Ausführungen, die er ein V ierteljahr zuvor bei einer ganz ähnlichen D ienstkonferenz gem acht hatte. Inzwischen hatte sich vor allem auf seiten der Opposition zweifellos einiges geändert. Damals, im Juni 1989, war gerade eine detaillierte „Übersicht“ zur Opposition vorgestellt worden, die den Eindruck erweckte, die Staatssicherheit habe zumindest alles im Blick. 123 Jetzt mußte Mittig einräumen, daß die dort „genannten Zahlen und Größenordnungen der Personenzusam menschlüsse [...] heute nicht mehr aktuell“ sind, m an m üsse „ mit neuen D imensionen rechnen“. 124 Auch die Qualität habe sich verändert. „ Wir müssen“, mahnte der Generaloberst, „davon ausgehen, daß wir bereits Profis vor uns haben, die unsere Taktik durchschaut haben.“ 125 Von einer Realisierung der illusionären Aufgabenstellung des SEDGeneralsekretärs, „feindliche Aktionen“ gar nicht erst zustande kom men zu lassen, 126 wußte sich das M fS weit entfernt. Mittig betonte statt dessen eine andere Aufgabe: „Stärker in den Mittelpunkt der operativen Anstrengungen“ sei zu stellen „ die Verhinderung der konzentrierten Bestrebungen der oppositionellen Kräfte, in die Arbeiterklasse, in die m ittlere Funktionärsebene und in die Blockparteien einzudringen und diese für die Opposition zu gewinnen“. 127 Das M fS hatte begriffen, daß der Kam pf nun um die politische Hegemonie geführt w urde, darum , die große Mehrheit der bisher an den Auseinandersetzungen nicht beteiligten Bürger für sich zu gewinnen. Dabei war die Gegenseite in der Lage, „in kurzen Zeitabständen ein großes Potential an Menschen zu beeinflussen und zu sam meln. Das haben diese oppositionellen Kräfte bewiesen.“ 128 Um dem entgegenzuwirken, wurden im wesentlichen die gleichen Methoden wie ein Vierteljahr zuvor propagiert. Und dennoch gab es Unterschiede, in denen sich die Verstärkung des Bürgerprotestes reflektierte. Auf die „Partner des operativen Zusammenwirkens“ sollte auch weiterhin zurückgegriffen werden, doch wurde das schwieriger, weil vor allem in den Blockparteien CDU und LD PD zunehmend Aktivitäten zu verzeichnen wa-

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gungen/Vereinigungen“ (künftig: Protokoll Weißbach 26.9.1989); BStU, ASt Potsdam, AKG 617, Bl. 149–163; „Gedächtnisprotokoll über die Beratung des Genossen Generaloberst Mittig am 26. 09.1989 mit den Stellvertretern Operativ und Leitern der Abteilung XX“ (künftig: Gedächtnisprotokoll 26.9.1989); ebenda, Bl. 178–193. Mittig hatte damals erklärt: „ Wir kennen im wesentlichen die Gruppen und Zusammenschlüsse im Verantwortungsbereich. “ Referat des Gen. Generaloberst Mittig auf der Dienstbesprechung mit Stellvertretern Operativ und Leitern Abt. XX der BV am 20.6.1989; BStU, ZA, ZAIG 4883, Bl. 1–40, hier 21. Gedächtnisprotokoll 26.9.1989, Bl. 181. Dieses und die folgenden Zitate basieren auf Mitschriften, geben also den Sinngehalt, aber nicht unbedingt die wörtliche Formulierung wieder. Protokoll Weißbach 26.9.1989, Bl. 150. Schreiben Honeckers vom 22.9.1989 an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen. Protokoll Weißbach 26.9.1989, Bl. 157. Ebenda, Bl. 151.

ren, „das Parteienbündnis in Frage zu stellen“: „Die Mitarbeiter der Bezirksund Kreisvorstände sind in der Regel stabil. A ber an der Parteibasis gibt es viele Unzufriedene und Veränderungen Fordernde.“ 129 Ein wichtiges Beispiel, das eine Initialfunktion hatte, war der „Brief aus Weimar“, der am Rande der Eisenacher Sy node von vier CD U-Mitgliedern bekanntgegeben worden war. Sie verliehen in der CDU-Basis weit verbreiteter Unzufriedenheit 130 Ausdruck, indem sie unter anderem forderten: größere Eigenständigkeit ihrer Partei im „Demokratischen Block“, mehr innerparteiliche Demokratie; eine „juristische Neuregelung“ des Wahlverfahrens; eine Erweiterung der „ Reisemöglichkeiten“, damit „jeder Bürger prinzipiell ein Recht auf A uslandsreisen hat, das nur in begründeten Fällen eingeschränkt werden darf“ , und eine öffentliche Debatte über gesellschaftliche Probleme. 131 Im Politbüro ist über diesen Brief, der vor allem in der CD U erhebliche Wellen geschlagen hat, diskutiert worden. Man hatte Joachim Herrmann beauftragt, „den befreundeten Parteien bei der Auseinandersetzung mit oppositionellen K räften die entsprechende H ilfe zu geben“ . 132 Was unter „ Hilfe“ zu verstehen sei, geht aus N otizen hervor, die sich Egon K renz bei dieser Sitzung m achte. Er hielt folgende Äußerung von Günter Mittag fest: „Schwankende Elemente sind in der CDU (Blockpartei). Mithelfen, daß diese Leute ausgeschlossen werden.“ 133 Generaloberst Mittig hielt davon nichts. Er kommentierte auf seiner Dienstkonferenz: „ Diese A bsender [des Briefes aus Weim ar] w aren bisher progressiv in Erscheinung getreten.“ 134 Das w ar eine leichte Ü bertreibung im Sinne des Regim es. 135 Sie diente wohl vor allem dazu, Mittigs Schlußfolgerung, die im Gegensatz zur Position der SED-Führung stand, abzustüt129 Gedächtnisprotokoll 26.9.1989, Bl. 188. 130 Vgl. den erhellenden Bericht des IMS „Benno Roth“ vom 30.8.1989 „zur politisch-ideologischen Situation im Hauptvorstand der CDU“; BStU, ZA, HA XX, AKG 84, Bl. 57–64. Zu „Benno Roth“ siehe S. 716 ff. 131 Unterzeichner waren die Synodale Martina Huhn, Oberkirchenrat Martin Kirchner, Pastorin Christiane Lieberknecht und Kirchenrat Gottfried Müller; „ Brief aus Weimar“ vom 10.9.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 295, Bl. 4–10; Nachdruck in: Deutschland Archiv 22 (1989) 10, S. 1185–1188; vgl. J.-P. Winters: CDU-Mitglieder in der DDR fordern zu Reformvorschlägen auf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.9.1989; Schmidt: Blockpartei (1997), S. 49–55. 132 Protokoll der Sitzung des Politbüros am 19.9.1989; BA Berlin, DY 30/J IV 2/2/2346, S. 3. 133 In der einschlägigen Akte im Bundesarchiv sind diese Notizen mit einem Deckblatt versehen, auf dem steht: „ Persönliche Aufzeichnungen v. Egon Krenz – handschriftlich – (o. D., vermutlich Ende Sept. 1989)“. Aus der Abfolge der Ausführungen von „G. M.“, i. e. Günter Mittag, geht hervor, daß es sich bei den ersten Blättern um die Politbürositzung am 19.9.1989 handelte; BA Berlin, J IV 2/2039/77, Bl. 63–98, hier 66. 134 Gedächtnisprotokoll 26.9.1989, Bl. 185. 135 Die HA XX hatte den „ Brief aus Weimar“ am 20.9.1989 an Mittig mit dem „Vermerk“ weitergeleitet: „ Die genannten kirchlichen M itarbeiter sind bisher nicht als feindliche Personen angefallen. Sie sind Mitglieder der CDU.“ BStU, ZA, HA XX, AKG 295, Bl. 27.

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zen: „ Man m uß sich aktiv m it ihnen auseinandersetzen. Es gab auch Vorstellungen, sie aus der CD U rauszuschmeißen. Wo sollen sie hin. Sie werden doch nur zum NF [Neuen Forum] gedrängt.“ 136 Diese Bedenken waren aus zwei Gründen einleuchtend. Zum einen wäre – was das Politbüro nicht wissen konnte – dadurch ein vielversprechender K ader der Staatssicherheit seiner Wirkungsm öglichkeiten beraubt worden: Einer der Initiatoren des „Briefes“, Oberkirchenrat Martin Kirchner, der spätere CDU-Generalsekretär, war dem MfS als IME „ Hesselbarth“ verbunden. 137 Zum zweiten fürchtete die Spitze der Staatssicherheit, verstärkte Repression w ürde bisher loy ale Bürger dazu bringen, endgültig auf die Seite der Opposition zu wechseln. Die gleichen Bedenken hatte Mittig dagegen, bei öffentlichen Veranstaltungen einzuschreiten, auf denen die „ Resolution der U nterhaltungskünstler“ verlesen wurde. Früher hätte m an eine solche V eranstaltung abgebrochen und gegen die beteiligten Künstler zum indest ein Auftrittsverbot verhängt. Nun meinte der Stellvertreter Mielkes, „daß man durch ein Verbot oder den Abbruch einer Veranstaltung nur Sy mpathie für die feindlichen Kräfte erzeugt und die Besucher solcher K ulturveranstaltungen zusätzlich verärgert. Hinzu kommt, daß sie sow ieso den Inhalt durch die Westmedien kennen.“ 138 Auch wenn Mittig zugleich forderte, „ sofort die Partei zu informieren“ 139, klang das ziemlich resignativ. Auch das Verhältnis zur Kirche, auf deren besänftigende Funktion im Juni noch großer Wert gelegt w orden war, hatte sich weiter verschlechtert. Die Eisenacher Sy node sei eine N iederlage für das Regime gewesen: „Die Polarisierung der kirchenleitenden Kräfte verlief zu unseren U ngunsten. Unser Unvermögen ist dabei auch eine Ursache. Wir müssen die Gesprächsbereitschaft m it loy alen Kräften wieder herstellen.“ 140 D as w ar eine kaum verhüllte Kritik an der Parteiführung, die Anfang September mit der Absage des geplanten Gesprächs m it der K irchenleitung gerade die SED -nahen Kräfte in der K irche brüskiert hatte. Insgesam t zeigt sich, daß die MfSSpitze im Unterschied zur SED-Führung bereits Ende Septem ber zu begreifen begann, daß allein mit ihren repressiven Mitteln der Kampf um die loyalen Bürger nicht zu gewinnen war. Repressive Mittel sollten aber weiterhin und sogar in verschärfter Form gegen die Opposition eingesetzt werden. Im Sommer hatte Mittig noch auf das Ordnungsstrafrecht als Mittel gesetzt. Das hatte sich als wirkungslos erwiesen. Er erklärte nun unter Hinweis vor allem auf Leipzig, 141 wo bereits erste Festnahmen vorgenommen worden waren: „Wir kommen nicht umhin, 136 Gedächtnisprotokoll 26.9.1989, Bl. 185. 137 Vgl. Schmidt: Blockpartei (1997), S. 52; BStU, ZA, Teilablage M fS 10509/73 zu IM „Küster“; BStU, ZA, Kartei F 22 zu IME „Hesselbarth“, Reg.-Nr. IX/9/70. 138 Gedächtnisprotokoll 26.9.1989, Bl. 186. 139 Protokoll Weißbach 26.9.1989, Bl. 155. 140 Ebenda, Bl. 159. 141 Vgl. ebenda, Bl. 179.

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auch Haftstrafen anzuwenden.“ 142 Damit sollte m an allerdings vorsichtig sein: „Repressivmaßnahmen sollten wir uns sehr wohl überlegen, um keine Märtyrer zu schaffen.“ 143 A ndere Maßnahm en w ie die Zersetzung der Gruppen seien wirksamer. Unter der Überschrift „Opponenten isolieren!“ 144 heißt es: „Die größt e W irksamkeit wi rd errei cht, wenn Exponent en i soliert werden und die Gruppen keinen Zulauf m ehr erhalten. [...] Die Isolierung der Exponenten und dam it die gleichzeitige Ei ndämmung des Zulaufs erscheint wirksamer als eine Inhaftierung dieser [Wortführer].“ 145

Die Methoden, mit denen dieses Ziel erreicht werden sollte, sind bereits geschildert worden: Die Bürgerrechtsgruppen w aren auszuspionieren. Es gälte, „buchhalterisch jede geringste Kleinigkeit der Aktivitäten fest[zu]stellen“. 146 Protagonisten der Opposition sollten m it Hilfe ihrer Vorgesetzten m it A ufgaben überhäuft und so an ihre Arbeitsplätze gebunden werden; 147 Gerüchte sollten gestreut, „ Grabenkämpfe“ in den Gruppen forciert und ihre „ Politisierung“ gestoppt werden und ähnliches m ehr. 148 Das Ziel habe als erreicht zu gelten, w enn „aus Gruppen Grüppchen“ ohne politische Einflußm öglichkeiten wurden. 149 Für diese Vorhaben war der Einsatz von inoffiziellen Mitarbeitern unerläßlich. A uch hier w ar inzwischen ein Problem aufgetaucht, das bei der vorangegangenen Dienstkonferenz noch nicht erw ähnt worden ist: „ Es können IM aussteigen wollen. Sie können zögern, weil ihre ideologischen Positionen die gleichen oder ähnlich wie die der Anführer [der Oppositionsgruppen] sind.“ 150 D as ist ein Indiz dafür, daß der V erlust der H egemonie über die systemkonformen Bürger sich selbst schon im Verhältnis zwischen Führungsoffizieren und inoffiziellen Mitarbeitern reproduzierte – in w elchem U mfang bleibt allerdings unklar. Ein Beispiel ist der IMB „ Paule“, der auf die Führung des Neuen Forums angesetzt war. Nach dessen G ründungsversammlung berichtete er seinem Führungsoffizier, der Einfluß der SED „unter der Bevölkerung geht im mer mehr verloren“. „Paule“ nannte Beispiele. „ Aus diesen Gründen stellt er sich auf die ideologischen Positionen der Vertreter des ‚Neu en Forum s‘.“ Das hinderte ihn aber nicht daran, „ seine Bereitschaft zur w eiteren Zusammenarbeit mit dem MfS“ zu erklären, die er in den folgenden Wochen praktisch 142 143 144 145 146 147 148 149 150

Protokoll Weißbach 26.9.1989, Bl. 150. Gedächtnisprotokoll 26.9.1989, Bl. 190. Protokoll Weißbach 26.9.1989, Bl. 156. Ebenda, Bl. 158. Gedächtnisprotokoll 26.9.1989, Bl. 184. Vgl. Protokoll Weißbach 26.9.1989, Bl. 157. Ebenda, Bl. 157 f. Vgl. Gedächtnisprotokoll 26.9.1989, Bl. 192. Protokoll Weißbach 26.9.1989, Bl. 156.

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unter Beweis stellte. Seine Überlegung war anscheinend, daß das Neue Forum für die notw endigen V eränderungen D ruck m achen w ürde. Zugleich hoffte er, deshalb wollte er weiter inoffiziell zusam menarbeiten, „daß durch das MfS noch so viel Einfluß genommen werden kann, um den Sozialismus in der D DR zu erhalten“ . Sein Führungsoffizier konstatierte „ eine gew isse Uneinsichtigkeit“. 151 Zurück zu der Dienstberatung der Linie XX. Nachdem Mittig seine Ausführungen beendet hatte, meldete sich Generalleutnant Kienberg 152 zu Wort, um für die H A X X noch einige Ergänzungen zum IM-Einsatz zu machen. Er erklärte, es m üsse „ auf dem Gebiet der Bekäm pfung der politischen Opposition“ 153 mit drei verschiedenen Typen von IM gearbeitet werden: Erstens „IM für Breitenarbeit“ 154: Da es „ ein großes Potential Unzufriedener, auch ehrlich D enkender“ gebe, w äre „eine breite Ü berwachung in allen gesellschaftlichen Bereichen [zu] organisieren m it dem Ziel, rechtzeitig Gefahren zu erkennen und abzuw ehren“. 155 Die Form ulierung macht deutlich, daß die Staatssicherheit w egen des exponentiellen Wachstum s der Bewegung mit der Stange im oppositionellen Nebel fischte. 156 Zweitens eine „ IMKategorie, die Zersetzungsarbeit leistet“ 157: Sie sollten die Gruppen „verunsichern“ und damit von innen blockieren. O berst Wiegand, Leiter der HA XX/4, von dem wahrscheinlich die Vorlage für diese Einteilung stammte, sprach von IM, „ die Zweifel anmelden, nörgeln, debattieren, theologisieren, Mißtrauen anm elden“. 158 Und drittens als „ Hauptkategorie“ besonders hochkarätige „ IM, die tief in die K onspiration der Feinde eindringen, um 151 KD Lichtenberg, O berstleutnant E iserbeck: „ Einschätzung zum IMB ‚Paule‘“ vom 14.9.1989; BStU, ASt Berlin, AIM 4593/91, T. I, Bd. 2, Bl. 64 f. Die letzte in dieser Akte enthaltene Information ist mit 5. 12.1989 datie rt. Es hätte Reinhardt P. natürlich klar sein müssen, daß er das Neue Forum durch seine konspirativen Machenschaften schwächte. Bei der Lektüre seiner anschließenden Berichte gewinnt man den Eindruck, daß er für sich den Widerspruch entschärfte, indem er als neues Feindbild den „Intelligenzdünkel“ ausgemacht hatte. 152 Paul Kienberg (geb. 1926 in Mühlberg/Elbe); 1941–44 Schlosserlehre, Verweigerung der Facharbeiterprüfung wegen jüdischer Herkunft des Vaters; 1944 Arbeitslager; 1950 Einstellung beim MfS Berlin; 1956 Abteilungsleiter; 1959 stellvertretender Leiter der HA V (der Vorläufer-Diensteinheit der HA XX), 1964 Leiter der HA XX; 1963–65 u. 1966–68 Fernstudium an der JHS; 1989 zum Generalleut nant ernannt. Vgl. Gieseke: Wer war wer im MfS (1998), S. 36 f. 153 Protokoll Weißbach 26.9.1989, Bl. 162. 154 Ebenda, Bl. 163. 155 Gedächtnisprotokoll 26.9.1989, Bl. 193. 156 In der zuvor referierten „ Lageeinschätzung“ war festgestellt worden, daß „ bei öffentlichen Aktionen wie z. B. den Wahlaktionen am 7. Juni und 7. Juli 1989 zunehmend Personen in Erscheinung treten, die bisher noch nicht im Blickfeld des M fS standen, jedoch zu provokativen Aktionen bereit sind“. HA XX/9: „ Lageeinschätzung für die Jahresplanung 1990“, Bl. 40. 157 Gedächtnisprotokoll 26.9.1989, Bl. 197. 158 BVfS Neubrandenburg, Abt. XX: Mitschri ft der Beratung der Hauptabteilung XX/4 mit den Leitern der Referate XX/4 aller Bezirksverwaltungen am 21.9.1989; BStU, ASt Neubrandenburg, Abt. XX 663, o. Pag., 4 S.

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rechtzeitig feindliche Pläne und Absichten herauszuarbeiten“ . 159 Das hatte allerdings Grenzen, denn das Verbot, inoffizielle Mitarbeiter als agents provocateurs einzusetzen, fand sich auch hier wieder. Kienberg postulierte: „Diese IM dürfen keine Führungsrolle übernehmen.“ 160 Das war eine Absage an die Position seines U ntergebenen Wiegand, der die sonderbare Forderung aufgestellt hatte, die IM sollten „Führungspositionen besetzen, ohne zu Aktivisten zu werden“ 161 – ein V orhaben, das in einer bürokratisierten Großorganisation wie der SED, aber schw erlich in ad-hoc-gebildeten, w eitgehend inform ellen Bewegungen realisierbar war. Die Vorgabe Mittigs, „Spitzeninformationen [zu] erarbeiten, selbst aber nicht führend tätig“ zu sein, 162 schränkte die Einflußmöglichkeiten der IM erheblich ein. Sie wurde dennoch in den Bezirksverw altungen so w eiter gegeben. 163 Die IM sollten auf keinen Fall, auch nicht um ihre Tarnung zu perfektionieren, zur Mobilisierung und zur Radikalisierung der Oppositionsbewegung beitragen. Die konzeptionelle Ausstattung der Staatssicherheit unm ittelbar vor den entscheidenden Oktobertagen war insgesamt gesehen relativ dürftig. Mittig war klar, daß die Staatssicherheit allein der Lage nicht H err werden konnte und daß die Diktatur am Abgrund stand: „Der Einsatz der gesellschaftlichen Kräfte ist heute zur Lebensfrage, zur Ex istenzfrage geworden. D[as] h[eißt], wenn jeder einzelne K ommunist jetzt nicht käm pft, w erden w ir die Macht verspielen.“ 164 Ob er selbst an diese Mobilis ierungskraft noch geglaubt hat, scheint zweifelhaft. Mittig schickte seine Untergebenen „abschließend“ mit der Devise in die bevorstehenden A useinandersetzungen, „ keine Panik zuzulassen“ 165. IM „Hanns Sänger“ in der Herbstrevolution Die Problem e der Staatssicherheit m it ihren inoffiziellen Mitarbeitern, die bei dieser Dienstkonferenz anklangen, verdienen an einem Beispiel aus der 159 Gedächtnisprotokoll 26.9.1989, Bl. 197. 160 Ebenda. 161 Mitschrift der Beratung der HA XX/4 mit den Leitern der Referate XX/4 aller Bezirksverwaltungen am 21.9.1989. 162 Protokoll Weißbach 26.9.1989, Bl. 162. 163 In der BVfS Erfurt zum Beispiel gab der Leiter der Bezirksverwaltung bereits am folgenden Tag die Anweisung, es sei mit IM zu arbeiten, „ die in die Führungsgremien der feindlich-negativen Kräfte eingeschleust werden können, ohne selbst zu Inspiratoren/Organisatoren feindlich-negativer Aktivitäten zu werden“. Ein praktisches Beispiel ist der Fall des IMB „Andre Wagner“, der es zum B eispiel schaffte, bei politisch hochinteressanten Gesprächen zwischen zwei Bürgerrechtlern der „dritte Mann“ im A uto zu sein, der aber keinen nennenswerten Einfluß auf die E rfurter Bürgerrechtsbewegung hatte. BStU, ASt Erfurt, Ordner Allgemeines, BV Erfurt , Rückflußinformation 27.9.1989, zitiert nach Dornheim: Politischer Umbruch (1995), S. 61. Dornheim vermutet, daß dieses Vorgehen mit der HA XX in Berlin abgestimmt war (S. 224). Dem war in der Tat so. – Zu IMB „Andre Wagner“ vgl. auch Stein: Agonie (1995), S. 13–15. 164 Gedächtnisprotokoll 26.9.1989, Bl. 193. 165 Ebenda, Bl. 198.

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Hauptabteilung XX/9 noch etw as genauer beleuchtet zu w erden. Diese Abteilung war unter Leitung von O berst Reuter für die Bekäm pfung des „politischen Untergrunds“ zuständig. Zu ihren inoffiziellen Mitarbeitern gehörten etwa die zuvor geschilderte, inzw ischen aufgeflogene IMB „ Karin Lenz“ 166 und der berühm t-berüchtigte IMB „ Maximilian“ alias Ibrahim Böhme, der, ein V erstoß gegen die internen Maßgaben zum IM-Einsatz, durchs Land fuhr, um für die G ründung einer DDR-SPD zu werben – und für die Staatssicherheit Informationen über dieses Vorhaben zu sammeln. Die Abteilung XX/9 klagte Ende A ugust 1989 in einer „ Lageeinschätzung“: Es „ treten verstärkt ideologische Problem e und Schwankungen bei im Untergrund eingesetzten IM auf, die teilw eise beispielsweise bis zu Dekonspirationen bzw. der A blehnung einer w eiteren Zusam menarbeit m it dem M fS führen. A us den gleichen G ründen und Problem en ergeben sich zunehmend Schwierigkeiten bei der G ewinnung neuer IM für einen Einsatz im U ntergrund.“ 167 Auch die bisherigen Ergebnisse bei der Bekäm pfung von Bürgerrechtsgruppen wurden skeptisch eingeschätzt: „Die politisch-operative Arbeit zur Zers etzung bzw. offensiven Beeinflussung von fei ndlich-negativen Persone nzusammenschlüssen m uß t rotz zunehmender Versuche und erhöht er Anstrengungen weitgehend noch al s unzureichend eingeschätzt werden. Es fe hlt an geei gneten Personen (IM und offizielle Kräft e), di e für di ese Aufgabe gezi elt ei ngesetzt werden könnt en. [...] Es zeigt sich, daß die harten Kräfte des politischen Untergrundes eine verfestigte feindliche Haltung haben und nicht erziehbar sind. Die im politischen Unt ergrund angesi edelten IM si nd ni cht bzw. kaum zur Zerset zung und positiven Beeinflussung der Personenzusammenschlüsse und Gruppierungen geeignet. Es müssen neue Partner für die Zersetzung bzw. Beeinflussung gesucht und ei ngesetzt werden, di e m it den Untergrundkräften öffentlich und offensi v, sowohl i nnerhalb al s auch außerhal b der Kirche diskutieren und den feindlichen Argumenten entgegentreten können.“ 168

Die Konzeption war, daß die IM „ positiven“ Einfluß im Sinne des Regimes ausüben sollten; „Zersetzung“ vor allem von Gruppen durch politische „Rückgewinnung“ möglichst ihrer führenden Mitglieder wurde das genannt. Wenn das die Leitlinie war – dafür spricht nicht nur dieses Dokument, sondern auch Generaloberst Mittigs zuvor zitierte Ausführungen –, dann m uß eines der Sorgenkinder der Hauptabteilung XX/9 „im politischen Untergrund“ der IM „Hanns Sänger“ gewesen sein. Er war Liederm acher und -sänger, gut 30 Jahre alt, der zu der eher bescheidenen Kategorie der IMS 169 zählte, die zur 166 Siehe S. 136 ff. Kap. 1.3.3; Kukutz u. Havemann: Geschützte Quelle (1990). 167 HA XX/9: „ Lageeinschätzung für die Ja hresplanung 1990“ vom 30.8.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 177, Bl. 36–46, hier 43. 168 Ebenda, Bl. 43 f. 169 IMS = Inoffizieller Mitarbeiter für Sicherheit.

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Sicherung bestim mter gesellschaftlicher Bereiche eingesetzt wurden. Angesiedelt war er jedoch auf einem heiklen Terrain: dem „Bereich von Kunst und Kultur, sow ie Pseudointellektuellen“ 170. Von den Aktivitäten des IM ist wenig dokumentiert, denn die IM-Akte wurde offenbar in der Torschlußpanik des Berliner MfS vernichtet, sie ist jedenfalls nicht m ehr auffindbar. Einiges ist dennoch erhalten geblieben, und diese Bruchstücke sind hochinteressant. Darüber soll auch deshalb berichtet w erden, w eil es den Bewußtseinswandel eines systemtreuen Bürgers in den achtziger Jahren beispielhaft erhellt. Dieter Rode (Name geändert) w urde im Jahr 1980 angew orben. Bereits vier Jahre zuvor w ar er im Rahm en eines „ Sicherungsvorgangs“ in das 171 Jetzt Blickfeld der HA XX geraten und seither überwacht worden. recherchierte das MfS seinen bisherigen Werdegang genauer: Er hatte ein glänzendes Abitur gemacht, danach ein naturwissenschaftliches Fach studiert und m it Erfolg abgeschlossen. 172 In der FDJ war er aktiv, der SED jedoch ist er niem als beigetreten. N ach dem Studienabschluß w ar er als Hochschulkader in die Produktion gegangen. Personen aus seinem sozialen Umfeld bescheinigten ihm , ein freundlicher und hilfsbereiter Mensch zu sein. Sein bisheriger Beruf entsprach allerdings nicht seinen Erw artungen. Er wollte Musik studieren, ein Liederm acher werden und öffentlich auftreten. Damit begannen die Probleme. Das Zweitstudium klappte noch, aber seine Ideen von künstlerischer Gestaltung und die kulturpolitische Wirklichkeit der DDR in den späten siebziger Jahren gingen nicht zusam men. Erhalten ist ein langer Schriftwechsel aus den Jahren 1978/79 über einen geplanten Auftritt in einem FDJKulturklub: D ieter Rode, der noch ganz am Beginn seiner künstlerischen Laufbahn stand, wollte im provisieren und die gesungenen Lieder von der Reaktion des Publikum s abhängig m achen. Die FDJ-Leitung verlangte eine genaue, schriftlich fixierte Programmabfolge, die die vollständigen Liedtexte enthalten m üsse. D er K onflikt w ar nicht lösbar, w urde auf eine höhere Ebene verlagert: in die K ulturabteilung der Berliner SED -Bezirksleitung. Man entschied sich dort, wenig überraschend, für die Position der FD JFunktionäre. Dieter Rode w ar nicht bereit nachzugeben. 173 Aus dem lange geplanten Auftritt wurde nichts. Der Apparat war stärker. 170 „Kurzauskunft“ der HA XX/9 zum IMS „ Hanns Sänger“ vom 20.11.1981; BStU, ZA, HA XX/9 1254, Bl. 19. Operativgeldabrechnungen des Führungsoffiziers Klug, HA XX/9, für den IM „ Hanns Sänger“ von 1987 belegen das Fortdauern der Verbindung. Es ging dabei im übrigen um geringfügige Beträge. 171 Der Sicherungsvorgang wurde am 27.12.1989 gelö scht; vgl. BStU, ZA, Zentralkartei, F 22, SiVo XV 3824/76. 172 Hierzu und zum folgenden „ Ermittlungsbericht“ der HA XX/OG vom 14. 12.1979 und „Information“ der HA XX/OG vom 14. 1.1980, mit Anlagen; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 3 f. u. 5–17. 173 Vgl. seine „Eingabe“ und die anschließenden Briefe und Notizen der FDJ- und der SEDBezirksleitung Berlin; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 20–27, 32–44.

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Ein Jahr später ließ sich D ieter Rode von der Staatssicherheit anw erben. Da die Akte nicht erhalten ist, kann m an hinsichtlich seiner Motive und Beweggründe nur Vermutungen anstellen. Geht man vom Ergebnis aus, das in anderen A kten festgehalten ist, so hatte er nun erheblich größere Freiräume für seine Auftritte. Selbst ein Engagem ent vor Angehörigen des MfSWachregiments wurde von Wolfgang Reuter, dem Leiter der H A XX/9, befürwortet. 174 Dieter Rode w urde „NSW-Reisekader“; er durfte in den Westen fahren und dort auftreten. V on diesen Reisen hat er dann berichtet – soweit aus der dünnen Q uellenbasis erkennbar, nicht feindselig gegenüber seinen Beobachtungsobjekten: Die politischen Bewertungen ehemaliger DDR-Künstler, die nun im Westen lebten (etwa über einen Auftritt von Gerulf Pannach und Christian K unert), w aren w ohlwollend-abwiegelnd. D ie Berichte zu anderen beschränkten sich auf Tratsch, der allerdings für das MfS durchaus von Interesse w ar. 175 Natürlich weiß m an nicht, was in den vernichteten Akten stand. D iese Einschränkung ist nicht auszuräum en. Insgesamt gesehen könnte m an denken, es handelte sich um ein sim ples G eschäft: Erfolg im ersehnten künstlerischen Beruf gegen Lieferung wenig gehaltvoller Inform ationen – vielleicht allzu anspruchsvoll form uliert: einen faustischen Pakt mit dem Teufel. Aber die Aktenresiduen enthalten noch eine andere Geschichte. Ab Mitte der achtziger Jahre – nachdem Gorbatschow in der Sow jetunion die Perestroika proklamiert hatte – wurde Dieter Rode in seinen Auftritten im mer radikaler. Schon 1981 hatte er gegenüber einem anderen IM, von dessen Doppelidentität er selbstverständlich nichts wußte, Sympathie für „die Texte von Biermann“ erkennen lassen. Er aber w äre nicht so „ dumm“, auf K onfrontation zu gehen, sondern wolle warten, bis er „festen Boden unter den Füßen“ habe, ehe er sich „ profiliere“. 176 A ufgrund privater Ä ußerungen w urde er bereits 1984 von einem V opo als „ verhärteter G rüner“ denunziert, 177 die ersten Beschwerden über seine öffentlichen Auftritte folgten 1986/87. Die HA II bemängelte in einer „ Information“, daß er „ keine eindeutige Position zur D DR erkennen“ lasse. 178 Das sollte sich bald zum Mißvergnügen der Anhänger des Regimes ändern. Die Veranstaltung, die sie m it Dieter Rode erlebt habe, berichtete im November 1987 em pört eine IM der HV A, eine „parteiverbundene G enossin“, sei „ eine einzige Anklage gegen unsere Gesellschaft“ gewesen. 179 Von einem anderen Auftritt in einem Pankower 174 Schreiben von Reuter, HA XX/9, an di e HA I, Abteilung Wachregiment/M fS, vom 13.8.1985; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 64. 175 HA XX/9: „ Bericht zu dem Treff mit dem IMS ‚Hanns Sänger‘“ vom 8.10.1987; BStU, ZA, MfS AIM 23327/91, Bl. 1 f. 176 „Kurzbericht“ der HV A/Abt. XI auf Basis eines IM-Berichts vom 13.10.1981; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 31. 177 „Auskunftsbericht“ vom 29.5.1984; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 62. 178 HA II: „Information“ vom 12.5.1986; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 65. 179 „Einschätzung“ des SWT/Abt. XV der BVfS Berlin vom 17.11.1987; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 72–74.

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Kulturklub wurde berichtet, das Program m sei „ zynisch, böswillig“ gewesen, m it einem „ feindlichen Grundtenor zur DDR“ . Zufällig war unter das Publikum auch Heinrich Toeplitz gerate n, stellvertretender Vorsitzender der CDU. Er verließ die V eranstaltung unter Protest, w eigerte sich, m it dem Künstler zu diskutieren und beschwerte sich beim Klubleiter. 180 Kritisch wurde es, als Dieter Rode ab Ende 1988 regelm äßig in einer zentralen Spielstätte in der Mitte Ostb erlins auftrat, denn für deren Überwachung w ar die A bteilung X X/2 der Berliner Bezirksverwaltung für Staatssicherheit zuständig. Als er Anfang Dezem ber 1988 unter dem Titel „Das Schlechte noch besser machen!“ vor zweihundert Zuhörern das V erbot des „Sputniks“ und fünf sowjetischer Film e ebenso kritisierte wie die Relegierung von vier Schülern von der Erw eiterten Oberschule „Carl von O ssietzky“ 181, fertigte die Abteilung XX/2 am folgenden Tag einen „ Bericht“. Das Programm von Dieter Rode habe „provozierende Angriffe gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung in der D DR“ enthalten und auf „eindeutigen und zweifelsfreien politisch-feindlichen Positionen“ basiert. 182 Um ihrem Anliegen mehr Nachdruck zu verleihen, diesem Treiben ein Ende zu setzen, schickte die Bezirksverwaltung zwei Wochen später auch noch an den 1. Sekretär der SED -Bezirksleitung, G ünter Schabow ski, eine Information: Dieter Rode, dessen spezifische V erbindung zum M fS unerw ähnt blieb, habe zur Freude des Publikum s „provokative Angriffe gegen den realen Sozialismus“ lanciert und „ die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen in der DDR unter Bezugnahm e auf ‚G lasnost und Perestroika in der UdSSR‘“ begründet. 183 Das waren massive Vorwürfe, die in anderen Fällen zum indest zu einem Auftrittsverbot geführt hätten. Ob die Partei reagiert hat, ist der Akte nicht zu entnehmen; wahrscheinlich hat sie den FD J-Apparat informiert. Die Abteilung XX der Bezirksverwaltung wandte sich erneut an ihre übergeordnete Hauptabteilung im Ministerium, diesmal anscheinend verbunden m it einer Beschwerde. Erhalten geblieben ist eine N otiz des Leiters der Hauptabteilung XX/2, O berst K uschel, f ür d en stellvertretenden Leiter der Hauptabteilung XX, Oberst Paroch – auf so hoher Ebene w ar der Vorgang inzwischen gelandet. Er, K uschel, habe m it der Bezirksverw altung in der Sache Rücksprache gehalten: Dieter Rode sei „ in den vergangenen Jahren politisch zwielichtig in Erscheinung getreten“ . D urch die FD J seien m it ihm „Verwarnungsgespräche“ geführt w orden. In letzter Zeit aber habe es „keine 180 „Operativ-Information“ der Kreisdienststelle f ür S taatssicherheit P ankow vom 3.11.1987; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 81 f. 181 Zu der Relegation der vier Schüler von de r EOS Carl von Ossietzky vgl. Grammes u. Zühlke: Schulkonflikt. 182 Abt. XX/2: „ Bericht zum Verlauf der Veranstaltung [...] am 9.12.1988“; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 104–107. 183 Information der BVfS Berlin vom 21.12.1988; Verteiler: Schabowski, HA XX, Abt. XX und AKG der BVfS Berlin; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 110 f.

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weiteren Vorkommnisse“ gegeben. Im übrigen sei die H auptabteilung XX/9 zuständig, da Dieter Rode „von dieser Diensteinheit erfaßt“ wäre. 184 Die Verwarnung hat wenig gefruchtet. Am 5. Mai 1989 fand eine weitere Veranstaltung zu dem Them a „ Kommunikation in der DDR“ statt. Dieter Rode erläuterte anfangs, wie die „Machtfrage“ in der D DR gelöst sei. Laut MfS-Bericht so, „ daß jeder in seinem Bereich und seiner Tätigkeit bzw. Funktion den anderen seine Macht spüren läßt, um damit einen kleinen A nteil der Machtausübung zu dem onstrieren“. 185 In der anschließenden D iskussion w urde vor allem über die bevorstehenden Kommunalwahlen gesprochen. Das sei „nur Kulisse“, weil alles von der Partei gesteuert sei, ein leeres „Bestätigungsverfahren“. Einige riefen zum Wahlboykott auf. D ieter Rode als Moderator verteidigte die „Wahlen“ nicht etwa, sondern bezeichnete sie als überholte „ Form der U nterdrückung“. Sein spezielles Anliegen sei, meinte der Stasi-Beobachter, daß „ das Publikum nur offen darlegt, w as es denkt“ . A m Ende des Berichts des BVfS-Offiziers wird Ratlosigkeit spürbar: Von einem Verbot der Veranstaltungsreihe von Dieter Rode sei abzuraten, „da dies mit hoher Wahrscheinlichkeit scharfe Kritik in der Öffentlichkeit geben würde“. Aber die Hauptabteilung XX/9 sollte doch „zur Prüfung ihrer operativen Einflußmöglichkeiten“ auf D ieter Rode bew ogen werden. 186 Falls sie das versucht haben sollte, war auch das wirkungslos. Im Juli 1989 folgte eine Anzeige der Volkspolizei Potsdam gegen Dieter Rode, weil er sich in einer Veranstaltung der „ öffentlichen Herabwürdigung“ , eines Verstoßes gegen § 220 StGB der DDR, schuldig gemacht habe. 187 Auch das blieb ohne erkennbaren Disziplinierungseffekt, im Gegenteil, als es im Spätsommer zu einer Radikalisierung der Protestbew egung auch unter den Künstlern kam, gehörte Dieter Rode zu den ersten, die zur breiten Popularisierung des A ufrufs des N euen Forums und der Protestresolution der Rockkünstler beitrugen. 188 Warum duldete die H auptabteilung X X/9 sein Protestverhalten, oder steckte sie sogar dahinter? Welche Motive hatte IMS „ Hanns Sänger“? Zur 184 Schreiben von Oberst Kuschel an Oberst Paroch vom 14.3.1989; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 116. 185 „Information“ der Abt. XX/2 der BVfS Berlin zur „ Veranstaltung am 5.5.1989“; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 120–125, hier 121. 186 Ebenda, Bl. 125. 187 Fernschreiben der BDVP Potsdam an das Md I, die BVfS Potsdam und das Präsidium der Volkspolizei Berlin vom 16.7.1989; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 140 f. 188 Im FDJ-Studentenclub der Hu mboldt-Universität verlas Di eter Rode am 19.9.1989 zu Beginn seines Auftritts die Resolution der Rockmusiker. Deshalb wurde er vor die FD JKreisleitung der Universität zu einer „ Aussprache“ zitiert. Die Genossen versuchten ihn zu überzeugen, daß er manche durchaus kritikwürdige „ Erscheinungen“ fälschlich mit dem „Wesen“ verwechsle. Dieter Rode aber zeigte sich uneinsichtig und beharrte darauf, daß die Strukturen verfehlt seien. Vgl. „ Persönliche Information“ des 1. Sekretärs der FDJ-Kreisleitung der Humboldt-Universität fü r den 1. Sekretär der FDJ-Bezirksleitung Berlin vom 3.10.1989; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 189–193.

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ersten Frage: Eher unwahrscheinlich is t, daß es sich bei seinen Auftritten um perfide Manöver im Sinne der Parole Mao Tse-tungs handelte: „ Laßt hundert Blumen blühen“ – um die Köpfe besser abschneiden zu können. Die Veranstaltungen in Berlin-Mitte waren unter geheimpolizeilichen Aspekten miserabel vorbereitet: Die einzelnen D iskussionsredner konnten nicht identifiziert, sondern nur vage beschrieben w erden. Selbst in den Besitz einer Tonbandaufnahme, mit der bei der SED -Bezirksleitung Stimmung gemacht werden sollte, kam die Stasi nur durch den Tonbandmitschnitt eines Besuchers, der vom Sicherheitsinspektor der V eranstaltungsstätte wegen fehlender Genehmigung beschlagnahmt worden war. 189 Auch hätte es w enig Sinn gemacht, „Verwarnungsgespräche“ mit Dieter Rode zu veranlassen, wie Oberst K uschel an die Leitung seiner H auptabteilung berichtete, wenn der im A uftrag gehandelt hätte. Es könnte sich um einen Beitrag zur Legende gehandelt haben, aber davon und von einem operativen Manöver ist in diesem Schreiben nicht die Rede. 190 Ein solches Vorgehen hätte auch nicht den Vorschriften entsprochen. Es hätte nicht nur gegen die erwähnten Festlegungen auf der D ienstkonferenz verstoßen, die IM einzusetzen, um die Politisierung der Protestbewegung zu brem sen, sondern auch gegen die eigenen Vorgaben der Hauptabteilung XX/9. In deren „Jahresplanung“ wurde zwar als eine A ufgabe genannt, „ die Untergrundentwicklung unter künstlerisch-literarisch tätigen Personenkreisen [...] weiterhin aufm erksam zu verfolgen“, jedoch mit folgender Zielstellung verbunden: „Die Maßnahmen zur positiven Beeinflussung dieser Personenkreise und zur V erhinderung ihres Zusammengehens mit Kräften des politischen Untergrunds sind zielgerichtet und konsequent w eiterzuverfolgen.“ 191 Die Aktivitäten des IMS „ Hanns Sänger“ gingen in die entgegengesetzte Richtung. So kann man nur die Schlußfolgerung ziehen, daß ihn die H auptabteilung X X/9 an einer langen Leine ließ, vielleicht weil seine Inform ationen so w ertvoll waren, daß m an sein „ öffentlichkeitswirksames Auftreten“ in Kauf nahm , oder weil sie befürchtete, Dieter Rode sei sonst nicht zu weiterer Zusammenarbeit bereit. Wenn aber sein Protestverhalten nicht vorgespielt w ar, was anzunehmen ist, stellt sich die Frage, warum er überhaupt mitgemacht hat. Schließlich hat er in seinen Auftritten sogar die Staatssicherheit attackiert. 192 Es ist nicht ungew öhnlich, daß Menschen, die einzelne Aspekte der DDRWirklichkeit und insbesondere die bürokratis ch verharschten Strukturen kritisierten, glaubten, sie könnten als inoffizielle Mitarbeiter durch ihre Berichtstätigkeit etwas zum Besseren w enden. 193 Daß die Staatssicherheit das ausge189 Vgl. Information der BVfS Berlin vom 21.12.1988, Bl. 111. 190 Schreiben von Oberst Kuschel an Oberst Paroch vom 14.3.1989. 191 HA XX/9: „Lageeinschätzung für die Jahresplanung 1990“ vom 30.8.1989, Bl. 45 (Hv. – W.S.). 192 „Operative Information“ der Abt. XX/2 der BVfS Berlin über eine Veranstaltung am 29.9.1989; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 183–186, hier 185. 193 Vgl. Müller-Enbergs: Warum wird einer IM? (1995), S. 112 f.

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nutzt und mit dieser Motivation gespielt hat, steht außer Zweifel. „Politische Überzeugung“ war seit Ende der fünfziger Jahre das beliebteste Rekrutierungsmotiv. 194 Allerdings war damit die Überzeugung von der grundsätzlichen Richtigkeit der SED-Politik und der Notwendigkeit des MfS gemeint – nicht deren Kritik. Solche partiell kritisch eingestellten IM sind von der Staatssicherheit funktionalisiert worden. Bei „ Hanns Sänger“ aber scheint es sich um einen der seltenen Fälle zu handeln, in dem es zu einem echten V erhältnis wechselseitiger Instrumentalisierung kam. Dieter Rode hatte den Wunsch, seinen künstlerischen und letztlich auch politischen Spielraum zu erweitern. Er hat ihn unzweifelhaft dazu genutzt, sein Publikum zum Widerspruch zu ermutigen, und damit zur Schwächung der Diktatur beigetragen. Wäre er allein der Berliner Bezirksverw altung für Staatssi cherheit oder etw a auch der V olkspolizei Potsdam ausgeliefert gew esen, so hätten deren Mitarbeiter ihn aus dem V erkehr gezogen. Selbst die Kultursekretärin der SED-Bezirksleitung Berlin, Ellen Brombacher, die zehn Jahre zuvor dazu beigetragen hatte, daß er nicht auftreten durfte, konnte oder wollte ihm keine Steine in den Weg legen, als er Ende 1988 zu ihr zitiert wurde. 195 Die inoffizielle Bindung an die H auptabteilung X X/9 verschaffte Dieter Rode eine gewisse Unangreifbarkeit für seine Aktivitäten, nicht zuletzt gegenüber anderen Diensteinheiten der Staatssicherheit. Das galt freilich nur, solange seine Hintermänner ihn nicht fallenließen. Da er gleichzeitig als berichtender IM zur Stabilisierung der he rrschenden Verhältnisse beigetragen hat, war seine Wirkung ambivalent: Er hat der Stasi und ihren Auftraggebern sowohl geschadet wie genutzt. Was per saldo dabei politisch herausk am, wäre nur bei Kenntnis der vernichteten Akten zu beurteilen. In Betracht zu ziehen wäre bei einer solchen Bilanz auch, daß sich sein kritisches Engagement in den folgenden Wochen noch steigerte. Im Oktober hatte er wesentlichen Anteil daran, daß Bärbel Bohley zu einer Podium sdiskussion in das H aus der Jungen Talente eingeladen w urde. 196 Damit erhielt die prom inente Bürgerrechtlerin, die von der Staatssicherheit m it ausdauerndem Haß verfolgt wurde, zum ersten Mal die Chance, im Fernsehen der D DR aufzutreten und für die Bürgerrechtsbewegung zu w erben. D as zum indest w ar gew iß nicht mehr im Sinne der „Tschekisten“ von der Hauptabteilung XX/9.

194 Vgl. „ Richtlinie 1/58 für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik“ vom 1.10. 1958, in: Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter (1996), S. 195–239, hier 212. 195 Vgl. „Operative Information“ der Abt. XX/2 der BVfS Berlin vom 18.1.1989; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 112 f. 196 Vgl. HA XX/7: „ Information über eine Ve ranstaltung der Sektion Rockmusik beim Komitee für Unterhaltungskunst am 24.10.1989 im Haus der Jungen Talente“; BStU, ZA, HA XX, AP 55419/92, Bl. 194 f.

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2.3 Stimmungslagen in der Bevölkerung Die V eränderungen in der Stim mungslage der Bevölkerung hat die Staatssicherheit im Spätsom mer m it großer A ufmerksamkeit registriert, doch im SED-Politbüro war dieses Problem lange Zeit verdrängt w orden. Zwar hatten einzelne seiner Mitglieder, vor allem Willi Stoph, aber auch Keßler und sehr vorsichtig Mielke, gefordert, über die U rsachen der Fluchtwelle zu diskutieren, aber im September bestimmte noch H oneckers Statthalter G ünter Mittag die Diskussion. Er schm etterte solche Forderungen ab. Mielke hatte in der Politbüro-Sitzung am 5. September hinsichtlich der „Leute, die wegwollen“, gefragt: „ Wo sind also einige der Wurzeln bei uns? “ Und er hatte angekündigt: „ Ich w erde die U rsachen in einigen Tagen auf den Tisch legen.“ 197 Das schien Mittag nicht recht zu sein, denn schon in der Debatte zuvor war die Versorgungssituation, für die er politisch verantwortlich war, als ein wesentlicher Grund angedeutet worden. So beschwichtigte er: „Wir müssen eine A nalyse m achen – nicht heute und morgen. Jetzt müssen wir den Angriff abwehren.“ Die Notwendigkeit einer solchen Analy se stellte er grundsätzlich in Zweifel, da er der Meinung war: „ Wir sollten uns nicht abbringen lassen von unserem Kurs.“ 198 Vier Tage später legte die ZA IG dennoch eine erste A nalyse zu „ motivbildenden Faktoren“ für das V erlangen, die D DR zu verlassen, vor. Eingeleitet wurde diese Ausarbeitung m it Phrasen über den „Einfluß der ideologischen Diversion“ , doch dann kam eine interessante Einschätzung. Verwiesen wurde auf gesellschaftliche Lernprozesse: Viele Ausreisewillige m einen, „daß die Entwicklung keine spürbaren Verbesserungen für di e B ürger bri ngt, sonde rn es auf den verschiedensten Gebieten in der DDR schon einmal besser gewesen sei. Derartige Auffassungen zeigen sich besonders auch bei solche n Personen, die bisher gesellschaftlich aktiv waren [also bisher loyalen Bürgern], aus vorgenannten Gründen jedoch ‚müde‘ geworden seien, resigniert und schließlich kapituliert hätten.“ 199

Frustriert worden seien auch die Erwartungen hinsichtlich größerer Reisemöglichkeiten nach der K SZE-Folgekonferenz. Statt dessen gebe es „ die ‚Befürchtung‘, daß es zukünftig zu Schw ierigkeiten bei der G enehmigung von Reisen nach der BRD/Westberlin kom men könnte“ . Weiter würden genannt: der „Bürokratismus“ in der Wirtschaft, die realitätsferne Medien197 Zitiert nach Hergers Mitschrift der Sitzung des SED-Politbüros am 5. 9.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/77, Bl. 8. 198 Zitiert nach ebenda, Bl. 9. 199 ZAIG: „ Hinweise“ vom 9. 9.1989 „ auf wesentliche motivbildende Faktoren im Zusammenhang mit Anträgen auf ständige Ausreise nach dem nichtsozialistischen Ausland und dem ungesetzlichen Verlassen der DDR“; BStU, ZA, ZAIG 4256, Bl. 27–37, hier 28.

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politik und „aktuelle Entwicklungstendenzen in anderen sozialistischen Staaten“, die „zu Zweifeln an der Perspektive und Sieghaftigkeit des Sozialismus überhaupt führen“. Die Ausreisewilligen, resümierte die ZAIG, würden „mehrheitlich“ der DDR „nicht aus einer grundsätzlich feindlichen Einstellung heraus“ 200 den Rücken kehren, sondern aus Frustration. G egen Motive wie „Ermüdungserscheinungen, Skepsis und Resignation“ hatte die Staatssicherheit keine Mittel. Zugleich bedeutete das, daß die Entscheidung zum A usreiseantrag oder zur Flucht nur die radikalste K onsequenz aus Einstellungsveränderungen war, die sehr viel w eiter verbreitet w aren. Zu dieser Erkenntnis kam ein weiterer Stimmungsbericht, diesmal zur „ Reaktion der Bevölkerung im Zusammenhang mit der ständigen Ausreise“, der wenige Tage später vorgelegt wurde. Die ZAIG hatte inzwischen offenkundig den Auftrag erhalten, weniger vorsichtig über den gesellschaftlichen Stim mungswandel zu inform ieren. 201 Eine gesellschaftliche Debatte über die Fluchtbewegung sei im Gang: „In den sehr um fangreich und häufi g sehr heftig geführten Diskussionen zu den Ursachen und begünst igenden Bedingungen für di ese gesamte Entwicklung wird m ehrheitlich zum Ausdruck ge bracht, die eigentlichen Ursachen lägen in der seit langem angestauten Unzufriedenheit breitester Teile der Bevölkerung mit einer Vielzahl ungelöster Probl eme i m Arbei ts-, W ohn- und Freizeitbereich, in d en u nterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen. Zwar sei auf zent raler Ebene ei ne Vielzahl Beschlüsse zu deren B eseitigung gefaßt worden, diese hätten jedoch keine spürbaren Veränderungen gebracht. Das habe in beachtlichem Um fang zu Auffassungen/Haltungen geführt, es ändere sich auf lange Sicht nichts für den B ürger, die Partei- und St aatsführung kenne nicht die Probleme, die die Bevölkerung bewegen.“ 202

Genannt wurden als konkrete Beispiele die V ersorgungslage, Desorganisation und fehlendes Leistungsprinzip in der Wirtschaft, die eingeschränkten 200 Ebenda, Bl. 37. – Die Interviews, die St efan und Inge Heym Ende September 1989 mit DDR-Flüchtlingen im A ufnahmelager Gießen machten, sind plastische Illustrationen des allgemeinen Überdrusses als eines der Haup tmotive für die Abkehr von der DDR. Stefan u. Inge Heym: Flüchtlingsgespräche, in: Heym u. Heiduczek: Die sanfte Revolution (1990), S. 52–78. 201 Daß die Berichte vom September 1989 einen wesentlichen Fortschritt in der Berichterstattung darstellen, wird deutlich, wenn man sie etwa mit „Informationen“ der Abteilung Sicherheitsfragen vom März 1989 vergleicht, in denen die „ hauptsächlichen Motivgruppen“ noch sehr oberflächlich und denunziatorisch abgehandelt worden waren, fast ohne auf innere Probleme der DDR Bezug zu ne hmen. Vgl. Abteilung Sicherheitsfragen beim ZK der SED: „ Informationen und Schlußfolgerungen zur Durchführung des Beschlusses des Politbüros vom 9.11.1988 ‚Regelungen zu Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland‘“ vom 3.3.1989; BA Berlin, DY 30 IV C 2/12/52, Bl. 363–379, hier 370. 202 „Hinweise“ der ZAIG vom 13.9.1989 „ auf die Reaktion der Bevölkerung im Zusammenhang mit der ständigen Ausreise von Bürgern aus der DDR bzw. dem ungesetzlichen Verlassen der DDR“; BStU, ZA, Neiber 224, Bl. 107–114, hier 107 u. 109.

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Reisemöglichkeiten, „der Stand der Entw icklung der sozialistischen D emokratie“ (wobei über direkte Kritik am Machtm onopol der SED noch nicht berichtet wird) und nicht zuletzt die Medienpolitik. Dieser Bericht zeigt, daß die loyalen Kräften die geringe Leistungsfähigkeit der aktuellen Parteiund Staatsführung kritisierten, nicht – wie die Übersiedler – das Regime. Ihre Kritik ging grundsätzlich aber in die gleiche Richtung. Die systemtreuen Bürger hatten in den Diskussionen m it ihren Kollegen einen schweren Stand, selbst bei der Ausreisefrage waren sie auf dem Rückzug: „Progressive Kräft e verurt eilen zwar den Ent schluß von DDR-Bürgern, in die BRD ausreisen zu wollen, treten aber in ihren Arbeitskollektiven häufig nur zurückhaltend dagegen auf. Ihre Argum ente – so wi rd häufi g zum Ausdruck gebracht – würden immer weniger W irkung erzi elen und di e St immungshaltung zu d ieser P roblematik i n i hren K ollektiven k aum n achhaltig b eeinflussen.“ 203

Die zuvor genannten D efizite w aren D auerprobleme des Systems; warum sie nun aktuell gew orden w aren, w arum die „Unzufriedenheit“ nicht mehr länger nur „ angestaut“ w urde, sondern nach offenem Ausdruck verlangte, wurde in dem ZAIG-Bericht nur an einem Punkt angedeutet: „Die bestehenden R eisemöglichkeiten für DDR -Bürger werden i n brei ten Teilen der Bevölkerung als unbefri edigend bewert et, wobei i n erst er Li nie Vergleiche angestellt werden zu Reisemöglichkeiten für BRD-Bürger. [...] Es wird aber auch verwi esen auf großzügi gere Regelungen, die in anderen sozi alistischen Staaten im Ergebnis des KS ZE-Prozesses ei ngeführt worden sei en.“ 204

Die Veränderungen im Zuge der osteuropäischen Reform politik waren nun zu einem Maßstab geworden, an dem die DDR-Verhältnisse gemessen, auch im sowjetischen Machtbereich als nicht m ehr als gottgegeben erkannt und deshalb als Ausdruck empörender Machtanmaßung der „ Partei- und Staatsführung“ verstanden werden konnten. Das schwächte die Position der überzeugten Anhänger des Regim es ungemein. Deshalb, so ein weiterer ZAIGBericht zur m oralischen Verfassung der politischen Basis des Regimes, äußerten „ sich zahlreiche, vor allem langjährige Parteim itglieder sehr besorgt über die gegenw ärtige allgemeine Stimmungslage unter großen Teilen der Werktätigen, besonders in den Betrieben, teilw eise verbunden mit ernsten Befürchtungen hinsichtlich der weiteren Erhaltung der politischen Stabilität in der DDR“. 205 203 „Hinweise“ der ZAIG vom 13.9.1989, Bl. 114. 204 Ebenda, Bl. 112. 205 „Hinweise“ der ZAIG vom 11.9.1989 „auf beachtenswerte Reaktionen von Mitgliedern

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Verstärkt wurde die Frustration der Parteim itglieder dadurch, daß sie in ihrer Organisation keinen Rückhalt fanden. Die Disziplinierungskam pagne gegen „Meckerer und ewige Nörgler“, die Ende 1988 eingeleitet worden war, rächte sich. Sie hatte die ohnehin küm merliche und auf die Grundorganisationen der Partei beschränkte innerparteiliche Diskussion wieder einmal stillgelegt. 206 Jetzt aber – das w ar aufgrund der K rise neu – befanden sich die Funktionäre aus dem Parteiapparat in der w enig beneidenswerten Lage, Rede und A ntwort auf Fragen stehen zu m üssen, die sie zuvor abgewürgt hatten, ohne daß sie „ von oben“ eine vertretbare und auch nur halbw egs überzeugende „Linie“ erhalten hätten: „Mitglieder und Funkt ionäre der SED, besonders aus APO [Abt eilungsparteiorganisationen] und GO [Grundorgani sationen] i n B ereichen der Volkswirtschaft sowie an Uni versitäten und Hochschul en, üben zum Tei l scharfe Kritik an der Arbeit übergeordneter Parteileitungen sowie am Inhalt und Verlauf von M itgliederversammlungen. [...] W er auf Parteiversam mlungen die vorhandenen Probleme anspreche und kl are Antworten verlange, werde sehr schnell als Nörgler abgestempelt. Hauptamtliche Parteifunktionäre wirkten in ihrer Argumentation ‚hilflos‘; sie würden t eilweise unbequemen Fragen ausweichen. [...] Es gebe erhebliche Informationsdefizite in der Partei. Dies sei der Grund dafür, daß vi ele Parteimitglieder resignierten, da sie sich mit ihren Problemen allein gelassen fühlten.“ 207

Die Schärfe dieses Problems ist im Rückblick schwer zu verstehen, w eil inzwischen das gesam te Ideologiegebäude dieser Partei befrem dlich wirkt, weshalb die Spezifika gedanklicher V erwirrung von Parteim itgliedern im Spätsommer 1989 kaum nachvollziehbar sind. G rundsätzlich hatte die mit der Diktatur verbundene Zerstörung von Politik als Diskursgem einschaft auch und gerade die Mitglieder der herrschenden Partei beschädigt: Sie w aren im politischen Debattieren nicht sozialisiert. Das hat die Hauptabteilung XX bereits zw ei Jahre zuvor konstatiert. In einem K onzeptionspapier hatte sie kritisiert, daß durch Partei und Medien „eine Reihe von Problemen, Mängeln und Schw ierigkeiten der sozialistischen G esellschaft faktisch tabuisiert werden“. Die Folge sei, daß gerade „ progressive K räfte“ „ in der Auseinandersetzung m it A ndersdenkenden nicht geübt und nicht ausreichend mit überzeugenden und differenzierten A rgumenten ausgestattet“ seien und deshalb „nicht selten hilflos reagieren“. 208 und Funktionären der SED zu einigen aktuellen Aspekten der Lage in der DDR und zum innerparteilichen Leben“; BStU, ZA, ZAIG 4256, Bl. 6–11, hier 6. 206 Zu den periodischen Disziplinierungskampagnen in der SED vgl. Klein, Otto u. Grieder: Visionen (1996). 207 „Hinweise“ der ZAIG vom 11.9.1989, Bl. 9. 208 HA XX: „Vorschläge zur weiteren politischen, ideologischen und operativen Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit“ vom 20. 8.1987, 19 S. , hier S. 4 f.; BStU, ZA, HA

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Dennoch waren viele SED -Mitglieder gew ohnt, „ Überzeugungsarbeit“ leisten zu müssen, was bei dieser Partei generell ein hartes Brot gew esen sein dürfte. 209 Dabei konnten sie sich aber im merhin auf den Glauben stützen, dank einer „Formelsammlung“ „die ganze Geschichte in der Tasche“ 210 zu haben – die Zukunft eingeschlossen. N un waren sie ganz orientierungslos, w eil der Marxism us-Leninismus keine A ntwort auf die Frage bereithielt, warum Zehntausende junger Menschen – geborene D DR-Bürger – bei der ersten sich bietenden G elegenheit dem „ Sozialismus“ zu entfliehen suchten. Die Parteiführung jedoch hat in den entscheidenden Wochen, als die Fluchtwelle zu einem immer drängenderen Problem für die gesamte Gesellschaft wurde, geschwiegen. Gewiß waren das „ Neue Deutschland“ und die „Junge Welt“ jeden Tag voll von A gitationsfloskeln subalterner Funktionäre, druckten befrem dliche H orrorgeschichten über mit MentholZigaretten betäubte, in den Westen „ entführte“ D DR-Bürger 211 und ähnliche Albernheiten. Diese Art von A gitation w ar kontraproduktiv. D azu die ZAIG: „Zunehmend offener äußern Mitgliede r und Funktionäre der SED Unwillen und Enttäuschung über die Informationspolitik. Ihre zu dieser Them atik geäußerten Standpunkte unterscheiden sich dabei jedoch von M einungsäußerungen zahlreicher Parteiloser, die d ie g egenwärtig b etriebene In formationspolitik grundsätzlich i n Frage st ellen, si e der Lächerlichkeit preiszugeben versuchen.“ 212

Von der Spitze dieses Systems, die den „wissenschaftlichen Sozialismus“ zu verwalten hatte, kam nichts: Honecker war krank, sein Statthalter Mittag hielt sich bedeckt; Krenz war die meiste Zeit im Urlaub oder schickte Grüße aus China. Erst am 1. Oktober m ischte sich der Generalsekretär m it einer seiner typischen Fehlleistungen in die Auseinandersetzung. In einem ADNKommentar zur Ausreise von 7.000 Botschaftsflüchtlingen mit Sonderzügen aus Prag und Warschau Richtung Westen, dem ein Politbüro-Beschluß zugrunde lag, 213 fügte Honecker einen kleinen, aber verhängnisvollen Satz

209 210 211 212 213

XX (unerschlossenes Material). Für die Überlassung dieses Dokuments danke ich meinem Kollegen Bernd Eisenfeld. Dies ist nicht nur eine polemische Form ulierung. Wolfgang Engler hat mit guten Gründen geschrieben: „Selten hat es eine Herrschergruppe so mustergültig verstanden, ihre Sympathisanten zu verprellen.“ Engler: „Kommode Diktatur“ (1996), S. 446. Gramsci hat diese Formulierung in Kritik an Bucharins „Theorie des historischen Materialismus“ gebraucht; sie trifft den „ML“ generell und erklärt in nicht geringem Maße seine zeitweilige Attraktivität. Gramsci: Philosophie der Praxis (1967), S. 212. Vgl. „ Ich h abe e rlebt, w ie B RD-Bürger ‚gemacht‘ werden“, in: Neues Deutschland 21.9.1989, S. 1. „Hinweise“ der ZAIG vom 11.9.1989, Bl. 10. Das Politbüro hatte am 29.9.1989 Joachim Herrman beauftragt, für ADN einen Kommentar zur A usreise der B otschaftsflüchtlinge zu schreiben; Arbeitsprotokoll des Politbüros vom 29.9.1989; BA Berlin, DY 30/J IV 2/2A/3243.

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ein: „Man sollte ihnen keine Träne nachweinen.“ 214 Das war ein drastischer Ausdruck von Verbitterung und Altersstarrsinn. Für diejenigen aber, die dieses System retten wollten, war es ein Zeichen, daß die Genossen im „Großen Haus“ jegliche Sensibilität für die politische Atm osphäre verloren hatten und auf das Ausbluten der DDR nur noch m it ratlosem Zynismus reagierten. Für die SED -Genossen, die in den Betrieben argum entativ bereits mit dem Rücken an der Wand standen, w ar das ein G enickschlag. Ihre Bereitschaft, offen für das Sy stem einzutreten, hat die zy nische H ilflosigkeit ihrer Führung weiter geschwächt.

214 „Sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt“, in: Neues Deutschland S. 2. Vgl. Stephan (Hrsg.): Vorwärts (1994), S. 155.

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2.10.1989,

3

„Aktion Jubiläum 40“ – ein letzter Versuch repressiver Stabilisierung

Die Vorbereitung des 40. Jahrestages der DDR beschäftigte die Machthaber schon seit geraumer Zeit in ungewöhnlich hohem Maße. Bereits im Frühjahr 1988 war im Sekretariat des ZK der SED darüber gesprochen w orden; am Ende jenes Jahres stellte das Ministerium des Innern erste Überlegungen an, wie die Feierlichkeiten abzusichern seien. 1 Je tiefer anschließend die D DR in die K rise rutschte, um so m ehr gew ann das Datum an Bedeutung. Auf dem 8. ZK-Plenum im Juni 1989 verkündete namens des Politbüros Joachim Herrmann: „Nun richtet sich der Blick schon unm ittelbar auf das historische Ereignis, das unsere Partei wie alle in der Nationalen Front vereinten gesellschaftlichen Kräfte bewegt: 40 Jahre Deutsche Demokratische Republik.“ 2 Im unmittelbaren Vorfeld dieses „ historischen Ereignisses“, im September, war dann die Sorge der Machthaber groß, die „oppositionellen Kräfte“ könnten ihnen, gemeinsam mit den „Westmedien“, die Show verderben. In einer Inform ation des SED-Politbüros für die M fS-Spitze w urde gewarnt, „ jüngste Veröffentlichungen in BRD- und West-Medien“ würden zeigen, „daß der Klassengegner im Zusam menhang m it dem 40. Jahrestag am 7. Oktober in der DDR Aktionen zu organisieren versucht, die auf Schädigung des internationalen Ansehens und auf innenpolitische Destabilisierung der DDR abzielen“. 3 Obwohl es für diese Befürchtungen reale G ründe gab, verbarg sich dahinter m ehr: Angesichts der nicht m ehr zu leugnenden, wenngleich immer noch nicht so benannten Krise sollte der 40. Jahrestag als eine Art kontrafaktisches Symbol gefeiert werden, als – wie Mielke bei dieser Gelegenheit sagte – Zeichen für „ die stabile staatliche Existenz der DDR, ihre erfolgreiche Entwicklung und ihr internationales A nsehen“. 4 Dahinter stand das Bemühen, angesichts der angespannten innenpolitischen Si1

2 3

4

Vgl. Schreiben des Büros des Leiters (BdL) des MfS: „ Auszug aus dem Befehl Nr. 129/88 des Ministers des Innern über die Gewähr leistung einer hohen Ordnung und Sicherheit bei bedeutsamen Anlässen und Veranstaltungen anläßlich des 40. Jahrestages der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1989 vom 28. Dezember 1988“; BStU, ZA, BdL 166, Bl. 50–52. Protokoll der 8. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 22.–23.6.1989; BStU, ZA, SdM 2296, Bl. 1103–1224, hier 1161. Institut für Internationale Politik und Wirt schaft der DDR: „ Information zu operativen gegnerischen Einmischungsaktivitäten anläßlic h des 40. Jahrestages der DDR“, September 1989; mit Begleitnotiz vom 5. 10.1989: An „ Gen. Generalleutnant Irmler [Leiter der ZAIG]. Informationen vom Politbüro des ZK der SED – bitte dazu Gen. Carlsohn [Mielkes Büroleiter] ansprechen –“; BStU, ZA, ZAIG7388, Bl. 93–97, hier 95. „Rede auf der zentralen Dienstversammlung anläßlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR (28.9.1989)“; BStU, ZA, SdM 624, Bl. 1–22, hier 9.

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tuation die eigene Basis neuerlich zu m otivieren und vielleicht auch zu mobilisieren und den Staatsgästen aus dem „befreundeten sozialistischen Ausland“ vorzuführen, daß Prinzipientreue à la D DR ein besserer Garant für den Erfolg sei als zweifelhafte Reformen. Im Gedächtnis geblieben ist der letzte Jahrestag der DDR vor allem wegen brutaler Polizeieinsätze. Was hatte diese Repressionswelle zu bedeuten? War es, w ie manchmal vermutet, 5 der planmäßige Versuch, die beginnende Revolution im Keim zu ersticken? Um diese Frage zu beantw orten, sind die damalige Befehlslage 6 und die Schritte zu ihrer Um setzung zu rekonstruieren. Den Grundsatzbefehl für die „ Aktion ‚Jubiläum 40‘“ 7 hat Mielke bereits am 1. September 1989 erteilt, also vor der endgültigen Öffnung der ungarischen Grenze und der G ründungsphase der verschiedenen Bürgerrechtsorganisationen, das heißt vor Beginn der offenen politischen Krise. Die Leitung der „politisch-operativen Gesamtmaßnahmen“ hatte Mielke mit diesem Befehl an sich gezogen; den Einsatz – erklärte er – „ führe und leite ich persönlich“ . D as konnte sich zum damaligen Zeitpunkt allerdings nur auf die Staatssicherheit beziehen, nicht auf die Volkspolizei, die Armee oder die Kam pfgruppen. Die „ Leitung aller Sicherungsm aßnahmen“ und die Koordinierung der beteiligten M fS-Diensteinheiten – allein in Berlin insgesamt 16, dazu noch die M fS-Bezirksverwaltungen, allen voran die BVfS Berlin – war Aufgabe seines Stellvertreters Mittig. Die ZAIG unter Generalleutnant Werner Irmler wurde beauftragt, in Zusammenarbeit mit dem Zentralen Operativstab (ZOS) einen „ Plan der Maßnahm en zur G ewährleistung der Sicherheit w ährend des 40. Jahrestages der G ründung der D eutschen Demokratischen Republik“ auszuarbeiten. Dafür wurden mehrere Aufgaben vorgegeben. So waren „ Pläne, A bsichten und Maßnahm en“ aufzuklären, „die sich gegen die V orbereitung und D urchführung der V eranstaltungen anläßlich des 40. Jahrestages der DDR richten“ . „ Öffentlichkeitswirksame Störungen und A ktivitäten“ durch „ feindlich-negative und oppositionelle 5

6 7

So heißt es in einem Beitrag zum Abschlußbericht des Berliner Ausschusses zur Untersuchung der Polizeiübergriffe am 7. und 8. Okt ober: „Wem könnte eine Demonstration am 7.10. im Zentrum der Stadt nutzen? Eine Provokation angeblich oppositioneller Personen und Kreise zu gewalttätigen Ausschreitungen, die sich vor zahlreichen Festgästen abspielen würden, eröffnete viele Möglichkeiten; unt er anderem auch die Gelegenheit, ihnen die Labilität an der N ahtstelle zw eier Systeme drastisch vorzuführen, ein A nstoß zu sehr weitgehenden ‚Lösungen‘.“ Heinz Nabrowsky: Die Unsichtbaren, in: Unabhängige Untersuchungskommission Berlin (1991), S. 285–289, hi er 287. Die Vermutung, die hier nur angedeutet wird, scheint mir aus verschiedenen Gründen, die noch zu erörtern sein werden, unzutreffend. Die meisten Teilnehmer an der Demonstration im Zentrum waren gewiß nicht nur „angeblich oppositionell“, sondern tatsächlich empörte Bürger. Przybylski hat im 2. Band seines „Tatort Politbüro“ einige wichtige Befehle – aus den Akten der DDR-Generalstaatsanwaltschaft – zutreffend referiert, allerdings entscheidende Fragen nicht gestellt. Peter Przybylski: Tatort Politbüro (2) (1992), S. 116–121. Befehl des Ministers für Staatssicherheit Nr. 14/89 vom 1.9.1989 „zur politisch-operativen Sicherung der Vorbereitung und Durchführung von Veranstaltungen aus Anlaß des 40. Jahrestages der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik“, VVS 59/89; BStU, ZA, DSt 103618.

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Kräfte“ sollten „vorbeugend“ verhindert werden. Offenkund ig rechnete Mielke damit, daß das m ißlingen würde, denn er forderte zugleich, sich auf eine erhebliche Zahl von Festnahm en vorzubereiten durch „ die Entfaltung von Zuführungspunkten im Zusam menwirken m it den Einsatzkräften der D VP [Deutschen V olkspolizei] bei Pr ovokationen durch größere Personengruppen“. Als Zeitraum der Aktion wurde 6. Oktober, 7:00 U hr, bis 8. Oktober, 8:00 Uhr, festgelegt. Diese zeitliche Term inierung zeigt ebenso wie die Konzentration auf O stberlin und dort auf die Veranstaltungen zum 40. Jahrestag und die Sicherung der „ Protokollstrecke“, daß die „ Aktion ‚Jubiläum 40‘“ zumindest ursprünglich zum Ziel hatte, die äußere Fassade bei den Jubelfeierlichkeiten zu wahren. In den folgenden Wochen, w ährend die ZAIG den Maßnahmeplan ausarbeitete, spitzte sich die innenpolitische Lage erheblich zu. Am 19. September wurde im Politbüro erstm als das gefährliche Wort „konterrevolutionär“ zur Kennzeichnung der Bürgerbewegung verwendet. Dann wurde der Honeck erBrief mit der Forderung, „feindliche Aktionen im Keim zu ersticken“, an die SED-Bezirksleitungen verschickt. 8 Einige Tage später erließ Honecker in seiner Eigenschaft als V orsitzender des Nationalen Verteidigungsrates, dem alle bewaffneten Organe unterstellt waren, den Befehl 8/89 „ über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und O rdnung in der H auptstadt der DDR, Berlin, anläßlich des 40. Jahrestages der DDR“ 9. Es w urde darin polemisiert gegen „bestimmte Kreise in der BRD und Berlin (West) sowie von ihnen ausgehaltene und beeinflußte feindliche G ruppen“. D och das w egen seiner Weiterungen verhängnisvolle Wort „ konterrevolutionär“ kam in dem von G eneralleutnant Streletz, dem Sekretär des NVR, entworfenen Dokument nicht vor 10 – ebensowenig in den folgenden internen D okumenten der Staatssicherheit zur Vorbereitung auf den 7. und 8. Oktober. D en Berliner Einsatzleitungen wurde die K ontrolle der eingeleiteten Maßnahm en übertragen und ihr Bezirksvorsitzender, G ünter Schabowski, verpflichtet, Honecker regelmäßig über die Lage zu inform ieren. Außerdem sollte er als Chef der O stberliner SED Einheiten der K ampfgruppen zu den Sicherungsm aßnahmen abstellen und „ zielgerichtete politisch-ideologische Arbeit“ veranlassen, was bedeutete, daß sich an kritischen Punkten Parteiagitatoren unter die Menge zu mischen und die SED-Linie „offensiv“ zu vertreten hatten. 11 Die A dressaten dieses Befehls, hier die O stberliner Bezirks- und K reiseinsatzleitungen, hatten eine Schlüsselrolle in der Mobilmachungsplanung der DDR, die zu diesem Zeitpunkt für einen polizeilich-militärischen Frontalangriff auf die Oppositionsbewegung durchaus noch geeignet gewesen wären. Mit diesem Befehl w urde aber nicht – das ist von entscheidender 8 Zu Honeckers Brief vom 22.9.1989 siehe S. 212 ff. 9 Befehl Nr. 8/89 des Vorsitzenden des NVR vom 26.9.1989; BStU, ZA, DSt 103625. 10 Zur Autorenschaft von Streletz vgl. seine Aussage am 6.12.1989, in: Unabhängige Untersuchungskommission Berlin (1991), S. 119. 11 Befehl Nr. 8/89 des Vorsitzenden des NVR vom 26.9.1989.

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Bedeutung – das m ilitärbürokratische Regelwerk für die „ Mobilmachung“ in Gang gesetzt. 12 Die für diesen Fall vorbereiteten, versiegelten Umschläge in den Bezirksverw altungen und K reisdienststellen des M fS, denen w eitere Anweisungen zu entnehm en gew esen w ären, 13 blieben ungeöffnet in den Panzerschränken. Für die Planung der Repressionsmaßnahmen von größerer Bedeutung war der A nfang Septem ber in A uftrag gegebene Maßnahm eplan des M fS, der nun von ZAIG und Zentralem Operativstab Mielke vorgelegt und von Honecker bestätigt wurde. 14 „Die Koordinierung und O rganisation des Zusammenwirkens“ aller „Schutz- und Sicherheitsorgane“ w urde dam it auf den Minister für Staatssicherheit übertragen. 15 A ls Zielvorgabe stand w eiterhin im Vordergrund, „ keinerlei Provokationen [...], Störungen und den erfolgreichen Verlauf der V eranstaltungen anläßlich des 40. Jahrestages der 12 Kompetenzverteilung und Kommandostruktur waren detailliert geregelt: Die Mobilmachung hatte nach dem Verteidigungsgesetz von 1978 der Nationale Verteidigungsrat zu beschließen. Die Erhöhung der Einsatzbereitschaft bzw. der Gefechtsbereitschaft wurde – laut der „ Direktive Verteidigungsbereitschaft“ von 1980 – durch Befehl des SED-G eneralsekretärs und Vorsitzenden des Nationalen Ve rteidigungsrates „ ausgelöst“, im Falle der NVA auch dur ch den Ober kommandierenden der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages. Vgl. § 4 des Gesetzes über die Landesverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik – Verteidigungsgesetz – vom 13.10.1978; DDR GBl. I 1978 Nr. 35, S. 377–380; „Direktive des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates über die Verteidigungsbereitschaft der Deutschen Demokratischen Republik – Direktive Vert eidigungsbereitschaft –“ vom 2.7.1980; Bundesarchiv, Militärarchiv VA-01/39522, Bl. 108–140, hier 113. – Die regionalen Untergliederungen der Sicherheitsapparate – M fS, NVA und Volkspolizei – waren von da an zusätzlich den 1. Sekretären der SED-Bezirks- bzw. -Kreisleitungen unterstellt; vgl. Referat des Ministers für Staatssicherheit auf der Dienstbesprechung zur Mobilmachungsarbeit im MfS am 26.2.1988 (Manuskript); BStU, ZA, DSt 102212, Bl. 24a. 13 „Die Auslösung zur Realisierung der Maßnahmen zu den Kennziffern 4.1.1. und 4.1.3. [die die Festnahme und Verbringung „ feindlich-negativer“ Personen in Untersuchungshaftanstalten bzw. Isolierungslager regelten] erfolgt durch zentral festgelegte Kennwörter/ Kenngruppen und Kontrollkennwörter/Kontro llkenngruppen. Die entsprechenden Umschläge (GVS [Geheime Verschlußsache] verschlossen) werden den Bezirksverwaltungen rechtzeitig übergeben. [...] Die Auslösung selbst erfolgt auf der Grundlage der Ordnung – Einsatzbereitschaft – Ziffer 6.3. bzw. 6.4. “ „ Instruktiv-methodische Hinweise“ der Arbeitsgruppe des Ministers vom 31.1.1984 „für die Komplettierung der Dokumentation der spezifisch-operativen Vorbeugungsmaßnahmen“; BStU, ZA, DSt 400024, S. 5 (MfS-P ag.). Zu den „ Kennziffern“ vgl. „ Durchführungsbestimmung Nr. 1 über die spezifisch-operative Mobilmachungsarbeit im Ministerium für Staatssicherheit und in den nachgeordneten Diensteinheiten zur Direktive Nr. 1/67 des Mi nisters für Staatssicherheit“, GKdos 4/67; BStU, ZA, DSt 400032. In der „ Ordnung Einsatzbereitschaft“ wurde im einzelnen geregelt, wie die „ Kennwörter“ zwischen „ Alarmauslösendem“ und „ Entgegennehmendem“ auszutauschen waren, ehe die betreffenden Umschläge geöffnet werden durften. Vgl. „Ordnung über die Einsatzbereitschaft der Organe des Ministeriums für Staatssicherheit – Ordnung Einsatzbereitschaft – vom 09. Oktober 1980“, GVS M fS 005–115/80; BStU, DSt, S. 13 (MfS-Pag.). 14 Ministerium für Staatssicherheit: „ Plan der Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit während des 40. Jahrestages der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik – 6 . bis 8. Oktober 1989 –“, gez. Mielke; Vermerk: „Bestätigt: E. Honecker [...] am 27.9.1989“, VVS Nr. 66/89; BStU, ZA, ZAIG 7314, Bl. 1–31. 15 Ebenda, Bl. 26.

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Gründung der D DR beeinträchtigende V orkommnisse zuzulassen.“ 16 Gedacht war dabei an Bürgerrechtler und Ausreisewillige. Aber auch die Kulturschaffenden galten seit ihrer Resolution vom 18. September als besonderes Gefahrenpotential: „Alle Versuche von K ünstlern, Moderatoren und anderen Kulturschaffenden, stattfindende Veranstaltungen zur Propagierung von Aufrufen [...] im Sinne von ‚Neues Forum ‘ zu m ißbrauchen, sind konsequent und w irksam zu unterbinden.“ 17 Besonderes A ugenmerk galt auch einer „verstärkten G renzsicherung“ 18, für die – neben M fS und MdI – vor allem die NVA zuständig war. 19 Diese Weisungen waren kaum erlassen, als sich die Lage noch einmal zuspitzte. Nun waren es nicht die Bürgerrechtler oder die K ünstler, die den Sicherheitsorganen und der SED -Führung aktuell die größten Sorgen bereiteten, sondern diejenigen Bürger, die der DDR endgültig den Rücken kehren wollten und auf diesem Weg bereits bundesdeutsche Botschaften in Prag und Warschau erreicht hatten. In Prag verhandelte H oneckers V ertrauter, Rechtsanwalt V ogel, m it den Staatssekretären Prießnitz und Sudhoff aus Bonn, um bundesdeutsche Unterstützung bei dem Versuch zu erhalten, die Flüchtlinge gegen das Versprechen von Straffreiheit zur Rückkehr in die DDR zu bew egen. 20 Das war ein vergebliches Unterfangen, nur 200 Flüchtlinge waren dazu bereit. Es war absehbar, wie die internationale Resonanz auf Feierlichkeiten ausfallen würde, die gleichzeitig von Tausenden Flüchtlingen, die auf Botschaftsgelände cam pierten, praktisch dem entiert würden. Zähneknirschend willigte Honecker ein, die Fluchtwilligen in den Westen reisen zu lassen. Zu seiner Erbitterung trug bei, daß der bundesdeutsche Außenm inister Genscher die frohe N achricht vom Balkon der Botschaft in Prag verkündete. 21 (In dieser Situation prägte H onecker seine Form ulierung, m an solle den Flüchtlingen „ keine Träne nachw einen“.) D a sich noch Zehntausende von DDR-Bürgern außerhalb des Zugriffs der Sicherheitsorgane im „sozialistischen Ausland“ befanden, war absehbar, daß die Entscheidung, jene siebentausend ziehen zu lassen, auch kurzfristig keine Lösung bringen würde. Weitere Entscheidungen waren notwendig, und wenn es in der SED-F ührung irgend jem anden gab, der eine A lternative zu dem starren Honecker16 17 18 19

Ebenda, Bl. 3. Ebenda, Bl. 12. Ebenda, Bl. 20. Der Minister für Nationale Verteidigung, Ke ßler, hat am 27.9.1989 in einem Befehl die einschlägigen Aufgaben festgelegt und eine Reihe militärischer Einheiten als „ Reservekräfte“ in „ erhöhte Gefechtsbereitschaft“ versetzt: zwei Einsatzkommandos (insgesamt 500 Mann) des NVA-Wachregiments, ein Motorisiertes Schützenbataillon (350 Mann) in Stahnsdorf, eine Fallschirmjägerkompanie de s Luftsturmregiments 40 in Lehnin, 400 Mann Einsatzeinheiten der Grenztruppen, eine Staffel mit 6 Hubschraubern und einem Tauchertrupp; Befehl Nr. 105/89 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 27.9.1989; BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 253–260. 20 Chronik Flucht aus der DDR, in: Deutschland Archiv 22 (1989) 10, S. 1199. 21 Ebenda, S. 1200. Vgl. Hans-Dietrich Genscher: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 13 u. 20–24.

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Kurs anstrebte, dann mußte er jetzt aktiv werden, denn die Politik der Hardliner hatte ihre eigene eskalierende Logik. K renz war zu dieser Zeit noch in China. Sein A dlatus und V ordenker Wolfgang H erger 22, der Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen im ZK , w urde aktiv. Er, der keinen direkten Zugang zu Honecker hatte, bereitete für Krenz ein Papier vor, das drei Entscheidungsalternativen zur Lösung des Ausreiseproblems enthielt: 1. eine neuerliche A ufforderung an die Bundesreg ierung, die D DR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen, falls dem entsprochen würde, erleichterte Reisebedingungen; 2. die sofortige Schließung der Grenzen, verbunden m it der gleichzeitigen Ankündigung, daß noch vor Weihnachten 1989 erleichterte Reisem öglichkeiten geschaffen würden, oder 3. eine „ sofortige öffentliche Mitteilung, [...] daß die DDR das Recht gewährt, daß jeder DDR-Bürger sein Land verlassen und auch w ieder in sein Land einreisen kann“. 23 Hergers weitsichtiger Kommentar war: „Die 3. V ariante ist die beste, weil sie auf eine strategische, also dauerhafte Lösung zielt. Sie w ürde allerdings den Verlust von weiteren Zehn- oder sogar Hunderttausenden Bürgern bedeuten.“ 24 Egon K renz, der ähnliche G edanken ja schon in seinen „Notizen“ von Mitte Septem ber festgehalten hatte, leitete dieses Papier unm ittelbar nach seiner Rückkehr an Honecker weiter. Er hatte allerdings nicht so viel Courage wie sein Untergebener und machte deshalb einen anderen Vorschlag: „Eine Ideallösung gibt es nicht. Ich würde die zweite Variante empfehlen, verbunden mit der öffentlichen Mitteilung de r Regierung der DDR, [...] die geltenden Reisebestimmungen für di e Ausreise in die SSR und i n die VR Polen sowie in die Ungarische Vol ksrepublik vorübergehend außer Kraft zu setzen. Seitens der DDR werden entsprechende Reiseverordnungen vorbereitet, die erweiterte Reisem öglichkeiten schaffen. Gleichzeitig wird mitgeteilt, daß alle Anträge auf ständige Ausrei se auf der Grundl age der Geset ze der DDR geprüft und entschieden werden.“ 25

Krenz beendete sein Anschreiben mit einem untertänigen „Ich bitte um Entscheidung“. D iese Entscheidung erfolgte noch am gleichen Tag. Honecker wählte allein den repressiven Teil der von K renz empfohlenen Variante, ohne wenigstens das Versprechen abzugeben – das ein Signal gewesen wäre –, 22 Wolfgang Herger (geb. 1935 in Rudolstadt/Thür ingen); Studium der Philosophie in Jena (1953–1958); 1957 Eintritt in die SED; Assisten t an der Friedrich-Schiller-Universität; Promotion in Philosophie; 1963–1976 hauptamtlicher FDJ-Funktionär, zuerst in Jena, ab 1964 im Zentralrat der FDJ; 1976–1985 Leiter der Abt. Jugend im ZK der SED; 1985– 1989 Leiter der Abt. Sicherheitsfragen im ZK. Vgl. Wer war wer? (1995), S. 294 f. 23 „Vorschläge zur generellen Lösung des Problems der illegalen Ausreisen“, Anlage zur Hausmitteilung von E. Krenz an E. Honecker vom 3. 10.1989; BStU, ZA, Rechtsstelle 101, Bl. 2 f. 24 Ebenda, B l. 3. Zur A utorenschaft H ergers vgl. das Interview Hertles mit Wolfgang Herger, in: Hertle: Der Fall der Mauer (1996), S. 336–352, hier 350 f. 25 Hausmitteilung von E. Krenz an E. Honecker vom 3. 10.1989. Handschriftliche Unterstreichung im Original, wahrscheinlich von Honecker.

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„erweiterte Reisem öglichkeiten“ zu schaffen. Es w ar die bornierteste aller denkbaren Möglichkeiten. A m 3. O ktober wurde die G renze zur Tschechoslowakei geschlossen. 26 Der Auslöser dafür w ar nicht die V orlage von Krenz, sondern wahrscheinlich ein A nruf des tschechoslow akischen Botschafters, František Langer, der am Morgen m it Blick auf etw a 5.000 neue Botschaftsflüchtlinge gemeldet hatte: „ Die Lage in Prag verschlechtert sich stündlich“; die Führung der K PTsch „ erwartet sehr dringlich den Standpunkt der DDR hinsichtlich des weiteren Vorgehens“. 27 Der Grund war, daß die KPTsch-Führung eine Solidarisie rung zwischen der w achsenden Opposition im eigenen Land und den DDR-Flüchtlingen befürchtete. 28 Von den bisher treuesten V erbündeten im S tich gelassen, m ußte die D DR-Führung auch diese Botschaftsflüchtlinge ziehen lassen. Um das Gesicht zu wahren, sollten sie diesmal bei einer Fahrt über DDR-Gebiet form ell ausgebürgert werden – ein letzter ohnm ächtiger V ersuch, den Anspruch des Staates auf „seine“ Bürger zu demonstrieren. Die Sperrung der Grenzen zum Osten hin wurde als „ zeitweilig“ deklariert und sie war auch schwerlich als Dauerlösung gedacht, sondern sollte verhindern, daß vor dem 40. Jahrestag noch einmal die gleiche Situation wie in den Wochen zuvor eintrat. Solche Einschränkungen spielten inzw ischen aber keine Rolle mehr, weil sie kaum mehr wahrgenommen und noch weniger geglaubt w urden. H erger – ebenso im übrigen die Rechtsstelle des MfS 29 – hatte in seinem Entwurf für eine neue Reiseregelung warnend auf mögliche Konsequenzen hingewiesen: Eine Schließung der Grenzen – selbst bei gleichzeitiger Ankündigung erweitert er Reisemöglichkeiten „ noch vor Weihnachten/Neujahr“ – könnte „ die Lage im Innern bis zur Nichtmehr-

26 ADN meldet am 3.10.: „ Nach der Konsultation mit der SSR wurde die Vereinbarung getroffen, zeitweilig den paß- und visafreien Verkehr zwischen der DDR und der SSR für Bürger der DDR mit sofortiger Wirkung auszusetzen. “ In: Neues Deutschland 4.10.1989. Am 4. 10. beschloß das Politbüro, die Grenzsperrung „ab sofort auf den Transitverkehr von Bürgern der DDR nach Bulgarien und Rumänien“ zu erweitern; BA Berlin, J IV 2/2A/3245. 27 „Notiz über einen Anruf des SSR-Botschafters F. Langer über WTsch am 3.10. um 10.45 Uhr“, handschriftlich abgezeichnet: „ EH 11.30“; BA Berlin, DY 30 IV 2/2035/54, Bl. 245 f. 28 Am 4.10.1989 ließ der tschechoslowakische Ministerpräsident Adamec über Mittelsmänner Honecker mitteilen, daß er um eine „ schnelle Abreise“ der DDR-Bürger aus Prag bitte, da es „ Anzeichen“ gebe, „ daß sich oppositionelle Gruppen der CSSR mit DDRBürgern vereinigen“. Er bot ausdrücklich an, daß die Ausreisenden „direkt in die BRD“ transportiert werden könnten. Schreiben von Günther Kleiber an Erich Honecker vom 4.10.1989, Nachdruck in Przybylski: Tatort Politbüro (2) (1992), S. 366. 29 Sie hatte in einem Kommentar vom 4.10. die 2. Variante „ als kaum durchführbar“ bezeichnet, weil sie „zu einer Verschärfung der innenpolitischen Situation in der DDR führen“ würde, und statt dessen die rein propagandistische Variante 1 (Aufforderung an die Bundesregierung zur Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft) empfohlen. „ Hinweise zu den unterbreiteten Varianten“ vom 4.10. 1989; BStU, ZA, Rechtsstelle 101, Bl. 4–6. Der Autor ist auf diesem Dokument nicht genannt; die Herkunft wurde aus der Provenienz geschlossen.

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beherrschbarkeit anheizen“. 30 Die einfachen Stützen des System s, die „progressiven Bürger“ , über deren Stim mungslage die ZA IG schw erlich ohne politische Hintergedanken berichtete, befürchteten Ähnliches: Sie sehen di e „ernst hafte Gefahr de r bedrohl ichen Zuspi tzung der Lage im Innern der DDR und an der St aatsgrenze bis hin zu Unruhen und Tumulten der W erktätigen i m Ergebni s di eser unpopul ären M aßnahmen. Di ese Entscheidung könnte, so schät zen sie ein, der noch fehlende Funke i n einer ohnehin angespannten innenpolitischen Situation sein.“ 31

Selten bewahrheiten sich politische Prognosen so schnell wie in diesem Fall. Am 4. und 5. Oktober kam es am Dresdner Hauptbahnhof, wo es schon am Vortag heftige Auseinandersetzungen gegeben hatte, zur Explosion. A n der Grenze zur Tschechoslowakei bei Bad Schandau zurückgewiesene Ausreisewillige versuchten, den Bahnhof zu stürm en. Die Volkspolizei schlug mit großer Härte zu und attackierte und verhaftete unterschiedslos Dem onstranten und Schaulustige. Die Auseinandersetzungen in Dresden sollten die gewalttätigsten Tage werden, die diese sonst friedliche Revolution erlebt hat.

3.1 Zwei Dresdner „Modelle“ Die Geschehnisse in Dresden sind aus m ehreren Gründen von übergreifendem Interesse: D ie Erfahrungen, die dort gem acht wurden, waren für beide Seiten – das Regim e und die aufbegehrende Bürgerschaft – w eit über die sächsische Metropole hinaus, besonders für Leipzig und für O stberlin, von prägender Bedeutung. In Dresden war die Repression sehr heftig, doch dem politisch mächtigsten Mann in diesem Bezirk, Hans Modrow 32, ging als einzigem SED-Bezirkschef der Ruf eines „ Glasnost-Sympathisanten“ und poten30 „Vorschläge zur generellen Lösung des Problems der illegalen Ausreisen“, Bl. 3. 31 „Hinweise auf weitere Reaktionen der Bevölkerung im Zusammenhang mit der zeitweiligen Aussetzung des paß- und visafreien Verkehrs zwischen der DDR und der SSR für Bürger der DDR“, 6.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 4257, Bl. 2–5, hier 3. 32 Hans Modrow (geb. 1928 in Jasenitz/Kreis Ueckermünde); Vater Arbeiter; Lehre als Maschinenschlosser (1942–1945); 1945 im „ Volkssturm“, dann bis 1949 Gefangenschaft in der UdSSR, dort B esuch einer „ Antifa-Schule“; nach der R ückkehr kurzzeitig in seinem Beruf tätig; 1949 Eintritt in die SED; 1949–1961 FDJ-Funktionär; Besuch der KomsomolHochschule in Moskau (1952/53) und Fernst udium an der SED-Parteihochschule (1954– 1957) mit Abschluß als Dipl. -Gesellschaftswissenschaftler; 1959–1961 externes Studium an der Hochschule für Ökonomie, Abschluß als Dipl.-Wirtschaftler; 1961–1967 1. Sekretär der SED-KL Berlin-Köpenick, 1966 Promotion (Dr. rer. oec.) an der HU Berlin; 1967– 1971 Sekretär für Agitation und Propaganda in der SED-BL Berlin; 1971–1973 Leiter der Abt. A gitation d es Z K d er S ED u nter W erner L amberz, d er als eher aufgeschlossen galt; 1973–1989 1. Sekretär der SED-BL Dresden; 13.11.1989–12.4.1990 Ministerpräsident. Vgl. Wer war wer? (1995), S. 511; Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998).

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tiellen Reformers voraus. Letztere Auffassung wurde nicht nur von westlichen Journalisten vertreten, 33 sondern auch von der sicherlich besser inform ierten sowjetischen Seite. 34 Diese Einschätzungen bewegten sich selbstv erständlich im Rahm en des herrschenden Sy stems: Modrow w urde zuget raut, die Notwendigkeit bestim mter Veränderungen einzusehen. Freilich hätte ihn niemand, der das Sy stem etw as kannte, für einen D emokraten gehalten, denn ein solcher Politikerty pus war in der Führungsetage dieses Regim es nicht sinnvoll zu verorten. Er wurde aber doch als Funktionär angesehen, der gewillt war, undogmatischer und flexibler als die m eisten seiner Genossen auf die Herausforderungen zu reagieren, vor denen das Regime stand. Menschen, die den SED-Bezirkschef vor dem Umbruch unmittelbar erlebt haben, schildern ihn zw ar nicht als frühen Reform er, aber doch auch nicht als Hardliner. So etwa der Dresdner Superintendent Christof Ziemer 35, der in den kritischen Tagen auf seiten der Dem onstranten eine ebenso eindeutige wie couragierte H altung bezogen hat. Er berichtete 1991 in einem Interview, Modrow sei „nicht ein Reformer im Sinne eines eigenen Konzeptes gewesen“, das in seinem Bezirk realisiert worden wäre. 36 Wohl aber sei Modrow ein Funktionär gewesen, „der sich in bestimmten Bereichen“, etwa in der Kultur, 37 „dafür eingesetzt hat, daß Leute, die aus dem allgemeinen Spektrum herausgefallen sind, nicht gleich gekippt worden sind“. Er war ein „Ansprechpartner“ und ein Mensch, der „ die Fähigkeit“ hatte, „zuzuhören und nicht einfach eine 08/15-Parteipolitik zu m achen“, „ nicht bloß eine blinde Durchsetzungsgewalt zu sein“. 38 33 Vgl. Jürgen Engert: Wie Hans Modrow in s Visier geriet. Hoffnungsvolle Blicke nach Dresden: Die Reformwilligen in der DDR halten Ausschau nach dem Mann, der Honecker folgen könnte, in: Rheinischer Merkur/Christ und Welt 29.7.1988; K.-H. Baum: SED rüffelt Dresdener Bezirk. Unzufrieden mit dem Glasnost-Sympathisanten Modrow, in: Frankfurter Rundschau 24.6.1989; P.-J. Winters: Demontage eines Kandidaten. Der „ Hoffnungsträger“ Modrow von SED-Politbüro indirekt gerügt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.6.1989; „Parteiliches Handeln“, in: Der Spiegel 3. 7.1989, S. 64; E.-O. Maetzke: Der Mann aus Dresden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 9.11.1989. 34 Dem bis zum Frühjahr 1987 zweiten Mann an de r sowjetischen Botschaft, Walentin A. Koptelzew, wurde seinerzeit das Diktum nachgesagt, er wüßte schon, wo bei Bedarf „ ein Gorbatschow“ für die DDR zu finden sei: in Dr esden. Vgl. G. Spoerl: Außenseiter im Inneren der Macht, in: Die Zeit 6.10.1989. 35 Christof Ziemer (geb. 1941 in Gollnow/Pommern); Vater Pastor; 1960–1965 Studium der Theologie in Ostberlin und Halle; 1965–1974 Fortsetzung des Studiums, Tätigkeit als Pfarrer in Pirna und als Studieninspektor; 1974–1980 Leiter der theologischen Studienabteilung beim Bund der evangelischen Kirchen in Berlin; 1980–1992 Pfarrer an der Dresdner Kreuzkirche und Superintendent. Vgl. Wer war wer? (1995), S. 824 f. 36 Dies und die folgenden Zitate aus einem Interview des Verf. mit Christoph Ziemer am 16.1.1991 in Dresden. 37 Ein Beispiel ist, daß in Dresden im April 1989 Christoph Heins „ Ritter der Tafelrunde“, eine bittere Komödie über das Scheitern einer Utopie und zugleich ein visionäres Stück über den endgültigen Zerfall des DDR-Regimes, aufgeführt werden konnte. Christoph Hein: Die Ritter der Tafelrunde. Eine Komödie, in: Sinn und Form 41 (1989) 4, S. 786–829; vgl. Menge: Ende des Schweigens (1990), S. 73–76. 38 Auch das Landgericht Dresden ging in seinem Urteil gegen Modrow nach umfangreicher Beweiserhebung davon aus, daß der Angeklagte schon im Mai 1989 eine Art Symbolfigur

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Eben solche „ blinde Durchsetzungsgewalt“ aber w ar in den ersten Oktobertagen in Dresden am Werk. Modrow w urde w enig später Regierungschef. Das Verhältnis zwischen dieser Rolle und jener, die er zuvor gespielt hat, ist politisch heftig um stritten. In der folgenden Darstellung geht es jedoch nicht prim är um eine politische oder moralische Wertung seines Tuns und Unterlassens. Erst einmal sind die Fakten zu klären und die Taktiken zu erhellen, die die A kteure eingeschlagen haben. Darüber hinaus kann „Dresden“ als Fallstudie zum Mechanism us von Entscheidungsprozessen in der Krise dienen. Die Fragen lauten: Wie kam es zu den Gewaltm aßnahmen in jenen Oktobertagen? Wer hat den Einsatz politisch, wer hat ihn operativ geleitet? Welche Intention lag den Repressionsmaßnahmen zugrunde? Die noch im Herbst 1989 in D resden eingerichtete K ommission zur U ntersuchung dieser Maßnahmen kam – freilich m it dem massiven Vorbehalt, daß sie sich vorwiegend auf eher zweifelhafte Aussagen damals Verantwortlicher stützen m ußte – zu dem Resümee, es habe „ keine Einzelleitung“ der verschiedenen Repressionsapparate im Bezirk gegeben, „sondern jeder tat in seinem Verantwortungsbereich das, was sein Minister befahl“. 39 Der Sonderausschuß des sächsischen Landtages sprach dagegen vier Jahre später von einer „Einzelleitung der Einsätze durch Hans Modrow“, der nach der Einberufung der Bezirkseinsatzleitung (BEL) als deren V orsitzender „ über die Einsatzpläne von Polizei und Staatssicherheit zu entscheiden hatte“. 40 Für die Beweisführung im Abschlußbericht des Landtags spielte ein Zitat aus einem angeblichen „NVA-Pap ier“ ein e en tscheidende Ro lle: „In allen Führungsorganen (MB- III, 7 . PD, K do-Leiter [ Militärbezirk III, L eipzig, 7. Panzerdivision, Kommando-Leiter]) wird die konkrete, zielklare Führung der Einsätze durch die Bezirkseinsatzleitungen hervorgehoben.“ 41 Dieses Zitat soll belegen, daß Modrow in jenen Tagen die operative „ Führung“ innehatte. 42 Dafür ist es jedoch w enig geeignet. D er A utor dieses D okuments

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für die Perestroika-Anhänger in der DDR war: „ Der Konflikt der Parteiführung um die Wahlfälschungen [denen sich Modrow ursprüng lich widersetzt hatte] hätte somit [bei einer deshalb veranlaßten Absetzung des 1. Sekretärs] aus der Sicht vieler Beteiligter zu einer schweren politischen Niederlage für diejenigen Kräfte in der SED geführt, die für eine Kursänderung im Sinne der ‚Perestroika‘ eintraten und dabei ihre Hoffnungen insbesondere auf H. Modrow setzten.“ Urteil des Landgerichts Dresden vom 27.5.1993, 3 (c) KLs 51 Js 4048/91, Nachdruck (Auszug) in: Neue Justiz 47 (1993), S. 493–496, hier 493. „Abschlußbericht der Unabhängigen Unte rsuchungskommission (UUK) an die Stadtverordnetenversammlung von Dresden zu den Handlungen der Schutz- und Sicherheitsorgane im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 03. bis 10. Oktober 1989 in Dresden“ (künftig: Unabhängige Untersuchungskommissi on Dresden), dokumentiert in Bahr: Sieben Tage im Oktober (1990), S. 153–176, hier 173. Sächsischer Landtag, 1. Wahlperiode: „ Schlußbericht des Sonderausschusses zur Untersuchung von Amts- und Machtmißbrauch infolge der SED-Herrschaft zum 1. Untersuchungsgegenstand“, Drucksache 1/4773 (künftig: S ächsischer Landtag, DS 1/4773, Schlußbericht), S. 36. Sektor NVA: „ Information über den Einsatz von Kräften des MB-III zur Herstellung von öffentlicher Sicherheit, Ruhe und Ordnung“ vom 13. 10.1989; Nachdruck in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 450 f. Abschlußbericht, in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, S. 36.

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war nicht, wie an genommen, „die NVA“, also eine gewissermaßen externe Instanz. 43 Als Herkunftsbezeichnung steht über dem Text: „Sektor NVA“. Einen „Sektor NVA“ gab es in d er NVA eb ensowenig wie ein en „Sek tor Staatssicherheit“ in der Staatssicherheit. „ Sektor“ ist die Bezeichnung einer Untergliederung des Parteiapparates. Die Herkunftsdienststelle war der „Sektor NVA“ in der Abteilung Sicherheit des ZK-Apparates (in den Abteilungen Sicherheit der Bezirksleitungen gab es keine solche O rganisationseinheit, die offiziell als „ Sektor“ bezeic hnet worden wäre). Das taucht dieses Dokument in etwas anderes Licht: Erstens lobte die Partei sich selbst, denn sie w ar für die Einsatzleitungen zuständig. Zw eitens galt das sogar noch eine Stufe darunter: Der Bericht wurde von Mitarbeitern des Sektors NVA innerhalb der ZK -Abteilung geschrieben, und der Leiter der A bteilung Sicherheit in der Bezirksleitung der SED D resden kam gew issermaßen aus dem gleichen Stall, der NVA-Oberst Dr. Edm und Geppert. 44 Er war in Personalunion der Sekretär der Dresdner Bezirkseinsatzleitung. Und drittens wurde die ZK-Abteilung Sicherheit von Wolfgang H erger geleitet. Im Lichte seiner Rolle im Berliner Machtkampf scheint es plausibel, daß er kein Interesse daran haben konnte, Modrows innerparteiliche Position durch einen kritischen Bericht zu schwächen. Aus all dem folgt, daß an der Objektivität dieser Darstellung starke Zweifel angebracht sind. Es liegt ein echter NVA-Bericht über diesen Einsatz vor. 45 Im Vordergrund stehen darin „ Fragen der Führung und des Zusammenwirkens DVP[Deutsche Volkspolizei]-NVA“, wobei „das territo riale Führungsprinzip“ durch „den Einsatz der NVA-Führungsgruppe überlager t“ worden sei. Das heißt, daß das Ministerium für Nationale Verteidigung und seine Vertreter vor Ort sich in den Entscheidungsprozeß eingem ischt haben, 46 o bwohl d ie NVA-Ein heiten im Einsatz der V olkspolizei untergeordnet w aren. 47 Die „ Teilnahme an Besprechungen der Bezirkseinsatzleitung“ w ird in diesem Bericht nur 43 Der gleiche Irrtum findet sich in dem An lagenverzeichnis zu dem Minderheitsvotum von Arnold; ebenda, S. 5. 44 Vgl. das Interview mit Geppert in: Kaulfuß u. Schulz: Dresdener Lebensläufe (1993), S. 56–68. 45 „Erkenntnisse, Erfahrungen, Schlußfolger ungen des Einsatzes in Dresden (05.10.– 10.10.1989)“, o. D.; handschriftl. Vermerk: „ Einschätzung der PHV-Gruppe [Politische Hauptverwaltung der NVA] unter Leitung von Ge neralmajor Kokott, die im Einsatzstab gearbeitet hat“. In: Sächsischer Landtag, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 425–433. 46 In der Nacht vom 4. zum 5. Oktober war Generalmajor Raimund Kokott, der Chef der „Verwaltung operative Arbeit“ in der Politischen Hauptverwaltung der NVA, nach Dresden geschickt worden, um unter der Leitung von Generalmajor Gehmert, dem Chef der Militärakademie in Dresden, den Einsatz von NVA-Einheiten als Hilfspolizisten zu organisieren. Vgl. das Interview mit Kokott in Kaulfuß u. Schulz: Dresdener Lebensläufe (1993), S. 89–97. 47 „Diese Kräfte [NVA-Einheiten, Offizierssc hüler und Kampfgruppen] werden bei Eintreffen durch den Chef der BDVP und von dort [am Hauptbahnhof] einzusetzenden Verbindungsoffizieren geführt.“ Aktenvermerk des Le iters der AKG in der BVfS Dresden, OSL Eberlein, über eine Beratung beim 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung am 4.10.1989 um 23:15 Uhr; Nachdruck in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 130.

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nebenbei an einer Stelle erwähnt, 48 sonst kommt die lokale SED nur mit negativer Konnotation vor. Die eingesetzten Soldaten hätten sich gefragt: „Wo bleiben die K ampfgruppen und die FD J?“ 49 – für sie war die SED zuständig. Zudem habe man die Erfahrung gemacht, „daß sich in der dargestellten Situation relativ viele progressive K räfte, auch Mitglieder der SED , passiv verhielten und den feindlichen Elementen ungenügend offensiv entgegentraten“. 50 Das war, immanent gesehen, alles andere als ein Lob für die D resdner SED-Führung, die für „ Wachsamkeit“, „Klassenbewußtsein“ und ähnliche Parteitugenden im Bezirk verantwortlich war. 51 Das bedeutet nun allerdings nicht, daß die SED -Bezirksleitung in jenen Tagen gar keinen Einfluß gehabt hätte, w eil – wie Modrow selbst und auch die PDS in ihrem Minderheitenvotum zu dem Landtagsbericht postulierten – „sich die Befehlszentralen für die Sicherheitskräfte im H erbst 1989 ausschließlich in Berlin befanden“ und die Bezirkseinsatzleitungen nur „vielfältige Koordinierungsfunktionen innehatten“. 52 Wie noch zu zeigen sein wird, hat Bezirkssekretär Modrow in diesen Tagen einzelne politische Entscheidungen hinsichtlich des Repressionseinsat zes getroffen. Er selbst hat kurz nach den Ereignissen sogar eine A rt G esamtverantwortung übernom men: „Keiner kann daran Zw eifel haben“, erklärte er auf einem ZK-Plenum, „ich habe die Verantwortung als Vorsitzender der Bezirkseinsatzleitung in Dresden getragen, zu jeder Zeit, in jeder Phase, und habe auch in diesen K ämpfen versucht, gem einsam m it den Genossen der Nationalen Volksarmee, den Streitkräften und unseren Sicher heitsorganen für unsere A rbeiter-undBauern-Macht mit all dem, was erforderlich ist, einzustehen.“ 53 Das waren 48 „ Erkenntnisse, Erfahrungen, Schlußfolgerungen“, S. 431. 49 Ebenda, S. 429. – Die Kampfgruppen wurden aus den direkten Auseinandersetzungen herausgehalten und sicherten „ Parteigebäude, Versorgungsschwerpunkte, [den] Sender Dresden, Bezirksleitung u. a. wichtige strate gische Objekte“; Redebeitrag von Nyffenegger bei der Dienstbesprechung des Ministers des Innern mit den Chefs der BDVP am 21.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 8637, Bl. 57–65, hier 64. 50 Ebenda, S. 430. 51 In einem Fernschreiben an Honecker hatte sich Modrow verpflichtet, „ die Provokationen des Gegners durch eine zielgerichtete politis ch-ideologische Arbeit noch entschiedener zu entlarven, die politische Lage noch grundsätzlicher einzuschätzen und entsprechende Schlußfolgerungen für die politische Arbeit festzulegen“. Fernschreiben des 1. Sekretärs der SED-BL Dresden an Honecker vom 4.10.1989; in: Sächsischer Landtag, Drucksache 1/4773, Minderheitenvotum Arnold, Anlage, S. 95–98, hier 96. 52 Minderheitenvotum der Linken Liste/PDS, in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage 2.2, Pkt. 4.2 (o. Pag.). – Modrow schreibt: „In diesen Tagen gehörte es zu meiner Verantwortung, die komplizierte politische Lage einzuschätzen und täglich mit den jeweils Verantwortlichen zu beraten. Das waren die für politische A rbeit Verantwortlichen in der Partei, der Vorsitzende des Rates des Bezirk es und die Vertreter der Volkspolizei sowie der Leiter der Staatssicherheit im Bezirk. [...] Da die Befehle für die Einsätze bei den Demonstrationen von den Berliner Stäben kamen, war es mein Bemühen, immer wieder auf die Notwendigkeit hinzuweisen, Zurückhaltung zu üben, um Konflikte zu vermeiden.“ Modrow: Aufbruch und Ende (1991), S. 16. 53 Nach der Abschrift des Tonbandmitschnitts des 9. ZK-Plenums (18.10.1989), in: Hertle u. Stephan (Hrsg.): Das Ende der SED (1997) , S. 103–134, hier 125. – Dennoch versteift sich Modrow auch in seinem jüngsten Buch darauf, in den fraglichen Tagen hätten sich

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markige Worte, die aber dennoch der Interpretation bedürfen. Erstens hat Modrow postuliert, daß er „ die Verantwortung“ getragen habe, nicht etwa, daß er die Einsatzbefehle erteilt hat. Zweitens ist zu fragen, wessen „Zweifel“ Modrow ausräum en wollte, nachdem er einige Tage zuvor bei einer Schilderung der Situation in D resden nichts dergleichen hatte verlauten l assen 54 – und warum er das wollte. Eine Antwort ergibt sich aus der Analy se der entscheidenden Phase im Machtpoker in den Führungsetagen des Regimes, auf die an späterer Stelle zurückzukom men sein wird. 55 Do ch was diese Äußerung auch im mer taktisch bedeutet haben m ochte, ihr Wahrheitsgehalt läßt sich nur durch eine Rekonstruktion der Ereignisse klären. Unstrittig ist, daß die Bezirkseinsatzleitung (BEL) Dresden in der fraglichen Zeit täglich zusammengetroffen ist. Zu klären ist, welche Rolle sie, und speziell ihr Vorsitzender, gespielt hat. D er Abschlußbericht des Sächsischen Sonderausschusses geht davon aus, es sei im Bezirk Dresden „erhöhte Führungsbereitschaft“ angeordnet worden, womit die Einzelleitung an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung übergegangen wäre. 56 Diese These wird allerdings nicht belegt. 57 Nach dem „ Statut der Einsatzleitungen“ hätte Modrow als 1. SED-Bezirkssekretär tatsächlich das Recht gehabt, bei „plötzlicher ernsthafter Gefährdung der staatlichen Sicherheit im Bezirk“ die „Führungsbereitschaft“ zu erhöhen und damit die Leitung zu übernehmen. 58

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zwar die Vertreter der genannten Institutionen zu „politisch-operativen Beratungen“, nicht aber die Dresdner „ Bezirkseinsatzleitung“ getroffen. Das ist wohl nur damit zu erklären, daß er annimmt, anderes zu konzedieren würde bedeuten, er hätte sich damals für eine gewaltsame, militärische Lösung entschieden und die Regie der Repressionsorgane habe bei ihm und nicht in Ostberlin gelegen. Beides ist, wie noch zu zeigen sein wird, unzutreffend. Vgl. Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998), S. 267 f. Vgl. „ Redemanuskript von Hans Modrow fü r die Beratung der 1. Bezirkssekretäre der SED mit Erich Honecker am 12. Oktober 1989 in Berlin“; Nachdruck in: Stephan (Hrsg.): Vorwärts (1994), S. 157–161. Siehe Kap. 8.1, S. 467 ff. Nach dem Statut der Einsatzleitungen folg te aus der „ kurzfristigen Erhöhung der Führungsbereitschaft der Einsatzleitungen“ die „ Übernahme der Führung durch die Vorsitzenden der Einsatzleitungen nach dem Prinzip der Einzelleitung bei Wahrung der Eigenverantwortung der Mitglieder der Einsatzleitungen.“ Nationaler Verteidigungsrat der DDR: „Statut der Einsatzleitungen der Deutschen Demokr atischen Republik, Berlin 1981“, Nachdruck in: Wenzel: Kriegsbereit (1995), S. 271–287. Es ist dort etwas vage davon die Rede, es sei – von wem und zu welchem Zeitpunkt bleibt unklar – „ erhöhte Führungsbereitschaft innerhal b der Sicherheitskräfte angeordnet“ worden. Abschlußbericht, in: Sächsischer Landt ag, DS 1/4773, S. 36. Im Minderheitsvotum von M. Arnold findet sich die gleiche Behauptung unter Verweis auf eine nicht in der Anlage enthaltene und nicht verifizierbare „ Aktennotiz“ aus dem Ministerium für Nationale Verteidigung vom 5.10.1989, 6.00 Uhr. Ebenda , S. 162. – Tatsächlich war für die NVA durch den Minister für Nationale Vert eidigung am 4.10.1989 eine „ Erhöhung der G efechtsbereitschaft“ festgelegt worden. (Vgl. Schreiben von Streletz, Chef des Hauptstabes, an Generalmajor Rümmler, Leiter der Arbeitsgruppe des Ministers für Staatssicherheit, vom 11.10.1989; BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 248 f.) Doch das belegt nicht den gemeinten Sachverhalt. Es kommt nicht darauf an, ob im Verteidigungsministerium eine höhere Stufe der Einsatzbereitschaft verfügt wurde, sondern darauf, ob der Vorsitzende der Bezirkseinsatzleitung Dresden die Entscheidungsgewalt an sich gezogen hat. Vgl. § 38 des „Statuts der Einsatzleitungen“.

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Er hätte darüber allerdings sofort Meldung an den V orsitzenden des Nationalen V erteidigungsrates zu erstatten gehabt. 59 Für die regionalen Sicherheitsapparate – Volkspolizei, Staatssicherheit und Wehrbezirkskommando – wäre der Befehlsstrang dann vom BEL-Vorsitzenden über ihre jeweiligen Chefs, die Mitglieder der Einsatzleitung waren, gelaufen. 60 Die Unterlagen der Dresdner Bezirkseinsatzleitung wurden großteils vernichtet, 61 aber es gibt andere wertvolle Quellen: „ Lagefilme“ des Bezirkschefs der Staatssicherheit 62 und des Einsatzstabes der Volkspolizei 63 aus jener Zeit, in denen A nrufe und Meldungen festgehalten w urden. Eine minutiöse Liste der Telefongespräche, die G eneralmajor Böhm, der Leiter der BVfS, in jenen Tagen geführt hat, ch arakterisiert auch die jeweilige Kom munikationsform: ob „ informiert“, „ angewiesen“ oder etw as „ veranlaßt“ wurde. 64 Es ist wohl auszuschließen, daß eine gravierende V eränderung der Kommandogewalt im Bezirk in diesen D okumenten oder auch in den Tagesmeldungen der Sicherheitsapparate nach Berlin 65 nicht ihren Niederschlag gefunden hätte, da dam als kein G rund bestand, die tatsächlichen Weisungsstrukturen zu kaschieren. A uch in den nachträglichen, zusammenfassenden Berichten über die Einsätze an jenen Tagen wird keine Umdefini59 In der einschlägigen „Direktive Verteidigungsbereitschaft“ wurde festgelegt: „ Die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen der SED und Vorsitzenden der Bezirkseinsatzleitungen haben das Recht, [...] bei plötzlicher ernsthafte r Gefährdung der staatlichen Sicherheit im Bezirk [...] die volle Gefechts-/Einsatzbereitschaf t auszulösen. Bei Auslösung ist dem Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vo rsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates unverzüglich Meldung zu erstatten. Außerdem haben die Mitglieder der Bezirkseins atzleitungen ihrem unmittelbaren Vorgesetzten zu me lden.“ („ Direktive des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates über die Verteidigungsbereitschaft der Deutschen Demokratischen Republik – Direktive Verteidigungsbereitschaft –“ vom 2. 7.1980; Bundesarchiv, Militärarchiv VA-01/39522, Bl. 108–140, hier 116). Dafür, daß derartige Mel dungen erfolgt wären, gibt es keinen Beleg. 60 Vgl. § 38 des „Statuts der Einsatzleitungen“. 61 Im Januar 1990 wurden sie im Wehrbezirks kommando Dresden zerstört; vgl. Unabhängige Untersuchungskommission Dresden, S. 173. 62 Nachdruck der Lagefilme des C hefs der B VfS D resden, in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 66 f. (z um 3.10.1989), 70–81 (4. 10.), 109–124 (5.10.), 148–156 (6.10.), 190–195 (7.10.) u. 202–224 (8.10.1989). Aus nicht erläuterten Gründen setzen diese Lagefilme jeweils erst am Spätnachmittag ein. Wahrscheinlich kam B öhm erst so spät zum Dienst. 63 Nachdruck des – vollständigen – Lagefilms der BDVP Dresden 3. –9.10.1989, in: ebenda, S. 286–416. 64 Liste der Telefongespräche des Leiters der BVfS, Böhm, vom 3.–8.10.1989; ebenda, S. 65, 82–86, 106–108, 145–147, 196–201. Es handelt si ch dabei um ein Exzerpt aus dem zuvor genannten Lagefilm, in dem alle Telefongespräche von Böhm mit Vertretern anderer Institutionen aufgelistet sind. D er A bgeordnete A rnold hat all dieses Quellenmaterial in seinem Minderheitenvotum zwar dankens werterweise dokumentiert, aber in seiner Analyse nicht ausgewertet. 65 Lageberichte der BDVP Dresden vom 5., 6., 8. u. 9.10.1989; ebenda, S. 137–144, 176 f., 225–227 u. 264–266; Tagesberichte der BVfS Dresden vom 5.–9.10.1989, in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage 2 zu Anlage 2.2; „ Informationen zur aktuellen Lage“ der Abt. Staat und Recht in der SED-Bezirksle itung Dresden vom 7., 9. u. 10.10.1989; BA Berlin, IV B 2/14/71, Bl. 6–13.

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tion der Befehlslage, aus der sich ja veränderte Verantwortlichkeiten ergeben hätten, erw ähnt. 66 Das Quellenm aterial erlaubt aber durchaus, sich ein Bild von den dam aligen Ereignissen zu m achen und zum indest einige der wichtigsten Entscheidungsstränge zu rekonstruieren. Am besten eignen sich dafür jene Konstellationen, bei denen es im politischen und in den Sicherheitsapparaten zu K onflikten über das w eitere V orgehen kam . Daran läßt sich zeigen, wer jeweils in bestimmten Fragen zu entscheiden hatte. Die Auseinandersetzungen vor dem D resdner H auptbahnhof begannen am 3. Oktober. 67 An diesem Tag waren in Bad Schandau, am Übergang zur Tschechoslowakei, noch vor der offiziellen Schließung der G renze etw a 1.400 Personen zurückgewiesen worden, 68 die von der Staatssicherheit verdächtigt wurden, sie wollten die DDR endgültig verlassen. 69 Viele von ihnen w aren nach D resden gefahren, um dort am H auptbahnhof die weitere Entwicklung abzuw arten, denn über D resden w aren einige Tage zuvor, in der Nacht vom 31. September zum 1. Oktober, bereits einm al sechs Züge mit Tausenden von DDR-Flüchtlingen aus Prag in die Bundesrepublik gefahren. 70 Innerlich hatten sie die DDR bereits verlassen, deshalb wollten sie nicht in ihre Ursprungsorte zurück. Andere kamen hinzu, so daß schließlich am Spätabend etwa 2.000 Menschen auf den Bahnsteigen in Richtung Tschechoslowakei und in der Vorhalle versam melt w aren. Etw a um 17.00 U hr hatte die Meldung über die Schließung der G renze die Stimmung angeheizt. Dennoch blieben die Menschen friedlich, beschränkten sich auf Sprechchöre – „Wir wollen raus“ – und darauf, auszuharren. Etliche versuchten, einen Leerzug in Richtung tschechischer Grenze zu besteigen, dabei kam es zu einem schw eren U nfall. K urz danach räum te die Polizei den H auptbahnhof, 66 Vgl. Bericht der BVfS Dresden vom 9.10.1989, in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 250–254; Bericht der BDVP Dr esden vom 15.10.1989; ebenda, S. 478–493; Bericht der NVA; ebenda, S. 425–433. 67 Diese Darstellung stützt sich auf Bahr: Si eben Tage im Oktober (1990), S. 13–24; BDVP Dresden: „Zusammengefaßte Darstellung der Lageentwicklung sowie der Handlungen der Einsatzkräfte der Deutschen Volkspolizei zur Beseitigung der Störungen im Bereich der Stadt Dresden in der Zeit vom 03.10. bi s 09.10.1989“ vom 15.10. 1989, Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 478–493. 68 Diese Zahl wurde von der Dresdner Staatssich erheit genannt. Bahr spricht ohne Quellenangabe von 2.063 an der Grenze Zurückgewiesenen. Vgl. Fernschreiben des Chefs der BVfS Dresden, Generalmajor Böhm, an da s MfS Berlin vom 4.10.1989; BStU, ZA, Neiber 613, Bl. 10–12; Bahr: Sieben Tage im Oktober (1990), S. 24. 69 Der Befehl zu verstärkter „ Filtrierungstätigkeit“ an den Grenzübergangsstellen „ zum Erkennen von Verdachtsmomenten auf ungesetzliches Verlassen der DDR“ war von Mielke bereits am 13.9.1989, nach der Öffnung der ungarischen Grenze, erteilt worden. („ Maßnahmeplan zum rechtzeitigen Erkennen und zur vorbeugenden Verhinderung des Mißbrauchs von Reisen nach der bzw. durch die Ungarische Volksrepublik“ vom 13.9.1989; BStU, ZA, DSt 103614.) In dem „ Maßnahmeplan“ des M fS zur Vorbereitung auf den 40. Jahrestag war diese Aufgabe noch einmal hervorgehoben worden („ Plan der Maßnahmen“ vom 27.9.1989, Bl. 22). Durch die Fluchtwelle in die bundesdeutschen Botschaften wurde das Vorhaben, potentielle Flüchtlinge „herauszufiltern“, aktualisiert. 70 Vgl. Flucht aus der DDR. Eine Chronik de r Monate August und September, in: Deutschland Archiv 22 (1989) 10, S. 1195–1200, hier 1200.

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nun w arfen einzelne m it Flaschen und Steinen; 33 Personen w urden festgenommen. 71 Sie wurden in den „Zentralen Zuführungspunkt“ der Volkspolizei verbracht, der bereits am Mittag unter dem Kennwort „ Filter I I“ zur Inhaftierung und V ernehmung von an der G renze festgenommenen Flüchtlingen durch die Kriminalpolizei eingerichtet worden war. 72 Am nächsten Tag kamen weitere Menschen zu den Wartenden hinzu. Der Bahnhof war von Volkspolizisten abgeriegelt, die Stimmung gespannt. 73 Im fernen Ostberlin wurde währenddessen im SED-Politbüro die Entscheidung getroffen, die Züge mit den 8.270 Ausreisewilligen aus Prag 74 erneut über das Gebiet der DDR zu leiten. Die Fahrtroute sollte über Dresden, KarlMarx-Stadt, Zwickau und Plauen gehen. Mit einem chiffrierten Telegram m wurden die SED -Chefs von D resden und K arl-Marx-Stadt, Modrow und Lorenz, informiert, daß „in der Nacht vom 4. bis 5.10.1989 eine Durchfahrt mehrerer Züge“ zu erwarten sei. H onecker, der dieses Telegram m verfaßt hatte, fügte geradezu provokant hinzu: „ Details könnt Ihr über die Reichsbahn erfahren.“ Die „erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen“ würden „zentral eingeleitet und mit Euch besprochen“. 75 Um 13.15 U hr w urde die D resdner Bezirksverw altung der Volkspolizei tatsächlich von der Reichsbahn inform iert, daß ab 20.00 U hr insgesam t fünfzehn Züge mit Ausreisewilligen in einem Abstand von einer Stunde von Prag kommend den Bezirk durchfahren würden. 76 Willi Ny ffenegger 77, der Chef der BDVP, erteilte daraufhin – nach „Abstimmung“ mit der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit – den Befehl zur „ Verhinderung von Störungen im Betriebsablauf und unbefugter Zugbesteigungen“ 78. Im H auptbahnhof befanden sich inzwischen wied er mehrere hundert Ausreisewillige. Um 16.00 Uhr w urde erstm als durch die Polizei geräumt. Nun sammelten sich Ausreisewillige, Dem onstranten und Schaulustige vor dem Bahnhof. Die Menge schw oll bis zum A bend auf etw a 8.000 Personen an, im mer 71 Vgl. Fernschreiben von Böhm an das MfS Berlin vom 4.10.1989. 72 Vgl. Lagefilm der BDVP Dresden 3. –9.10.1989, S. 294; „Einschätzung“ der Abt. VII der BVfS Dresden vom 12.10.1989 „ zum Zentra len Zuführungspunkt 8. VP-Bereitschaft (ZZP) Variante Filter II“, Nachdruck in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 442 f. Am 5.10.1989 war angewiesen worden, daß die Kriminalpolizei die Vernehmungen vorzunehmen hatte (vgl. chiffriertes Fernschreiben des Leiters der HA Kriminalpolizei im MdI, Generalleutnant Nedwig, an die Bezirksverwaltungen der Volkspolizei vom 5.10.1989; BStU, ZA, HA IX 2467, Bl. 50). Tatsächlich beteiligten sich dann aber auch Mitarbeiter der Abteilung IX der BVfS Dresden an den Verhören; vgl. Fernschreiben von Böhm an das MfS Berlin vom 5.10.1989; BStU, ZA, Neiber 613, Bl. 35–37. 73 Vgl. Bahr: Sieben Tage (1990), S. 25–54. 74 Information Nr. 600/89 der HA XIX vom 5.10.1989; BStU, ZA, Neiber 613, Bl. 5 f. 75 Fernschreiben von Honecker an Modrow und Lorenz vom 4.10.89; BStU, ZA, SdM 664, Bl. 59; Nachdruck in: Stephan: Vorwärts (1994), S. 156. 76 Vgl. Lagefilm der BDVP Dresden 3.–9.10.1989, S. 317. 77 Willi Nyffenegger (geb. 1924 in Klein-Schwar zsee/Pommern); Elektrotechniker; Kriegsdienst; nach 1945 Angehöriger der Volkspolizei, zuerst in Neubrandenburg und Rostock; seit 1963 Chef der BDVP Dresden. Vgl. Buch: Namen und Daten (1987), S. 233. 78 Befehl vom 4.10.1989, 14.00 Uhr, Lagefilm der BDVP Dresden 3.–9.10.1989, S. 318.

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mehr kam en hinzu. Im Bahnhof selbst befanden sich w ieder etw a 2.500 Menschen. 79 Über westliche Rundfunksender hatte m an inzwischen erfahren, daß die Züge aus Prag über D resden fahren w ürden. A uf diese Züge aufzuspringen schien vielen für unabsehbare Zeit die letzte Chance, der DDR endlich den Rücken zu kehren. 80 D ie V olkspolizei versuchte kurz nach 19.00 U hr erneut den H auptbahnhof zu räum en. 81 Nun kam es zu G ewaltanwendung auch von seiten etlicher Ausreisewilliger. 82 Der „Intershop“ im Bahnhofsgebäude w urde gestürm t, Türen eingeschlagen, ein Funkstreifenwagen wurde umgestürzt und geriet in Brand. 83 Vor dem Hauptbahnhof hatte sich inzw ischen eine unüberschaubare Menschenm enge versammelt. In den Berichten der Leiter von Staatssicherheit und V olkspolizei wurde sie zu einem einheitlich handelnden, gewalttätigen Kollektivsubjekt hochstilisiert. So berichtete Nyffenegger nach Berlin: „Nach der Räumung des B ahnhofes versucht e di e M enschenmenge, di e i nzwischen auf ca. 20.000 Personen an der Nord- und Südsei te des B ahnhofes angewachsen war, wieder in den Bahnhof zu gelangen. Dabei wurden teilweise Türen demoliert und Fenst er eingeschlagen. Die Einsatzkräfte waren zu di esem Zeitpunkt nur in der Lage, die Eingänge von innen abzuriegeln.“ 84

Tatsächlich waren es, nach einem späteren Bericht der NVA-Führungsgruppe in D resden, doch nur einige hundert Personen, die A nstalten machten, gewaltsam in den Bahnhof einzudringen. 85 Die Polizei, der es zuvor nicht gelungen war, das Bahnhofsinnere vollständig zu räumen, führte zusätzliche Kräfte heran. Schließlich standen der Menge 1.757 Sicherheitskräfte gegenüber. Im einzelnen waren beteiligt: Volkspolizei und Volkspolizeibereitschaft, Transportpolizei, O ffiziershochschüler d es I nnenministeriums und Feuerwehrleute. 86 Darüber hinaus w ar die Staatssicherheit am H auptbahnhof durch 60 Mitarbeiter der A bteilung XIX, zuständig für die Ü berwachung des V erkehrswesens, präsent; zudem w aren 80 verdeckte Beobachter im Einsatz und weitere 100 Mitarbeiter „an neuralgischen Punkten“ im Stadt-

79 Vgl. BDVP Dresden: „Zusammengefaßte Darstellung“ vom 15.10.1989, S. 483. 80 Vgl. das Interview mit Ausreisewilligen am 4. 10.1989, in: Bahr: Sieben Tage im Oktober (1990), S. 34–36, und die Erinnerungen des katholischen Bischofs Reinelt; ebenda, S. 36 f. 81 Vgl. Tagesbericht des Chefs der BDVP Dresden an das MdI Berlin vom 5.10.1989, S. 138. 82 Die erste Meldung im Lagefilm der – in diesem Punkt äußerst empfindlichen – Volkspolizei über Gewalt im bzw. am Hauptbahnhof seitens ihrer Kontrahenten erfolgte am 4.10. um 20.10 Uhr (Lagefilm der BDVP Dresden 3.–9.10.1989, S. 324). 83 Vgl. Bahr: Sieben Tage (1990), S. 38 u. 46 f. (Foto-Dokumentation). 84 Fernschreiben des Chefs der BVDP Dresden an den Minister des Innern vom 5.10.1989, S. 139; im Tenor ähnlich das Fernschreiben des Leiters der BVfS Dresden an das MfS in Berlin vom 5.10.1989, S. 126. 85 Vgl. den Bericht der NVA: „ Erkenntnisse, Erfahrungen, Schlußfolgerungen des Einsatzes“, S. 425. 86 Vgl. Fernschreiben des Chefs der BDVP Dresden an das MdI vom 5.10.1989, S. 143 f.

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gebiet. 87 In Bad Schandau w ar um 21.10 U hr der erste Zug aus Prag eingetroffen, 88 bereit zur Weiterfahrt nach D resden, w ar aber vorerst blockiert. In dieser aus Sicht der Volkspolizei prekären Situation glaubte N yffenegger, der V P-Chef, der Einsatz von Wasserw erfern w ürde seinen Leuten Entlastung bringen. Er selbst durfte darüber nicht entscheiden, dazu war das System zu zentralisiert. D ie Erlaubnis m ußte in Berlin eingeholt werden. Doch auch der Stabschef des Innenm inisteriums, G eneraloberst Wagner, konnte eine solche Entscheidung nicht eigenständig treffen, sondern mußte Rücksprache mit Minister Dickel halten, ehe er die gewünschte Genehmigung erteilen konnte. 89 Eine Stunde später, um 22.06 Uhr, kamen die Wasserwerfer zum Einsatz – dabei wurde nur „geringe Wirkung erzielt“ 90. Der V P-Bezirkschef stand zu diesem Zeitpunkt nicht nur durch verhinderte Flüchtlinge und Spontandem onstranten, sondern auch von seiten seiner Genossen unter Druck. Der Leiter der BVfS, Generalmajor Böhm 91, forderte ihn w iederholt per Telefon auf, schärfer vorzugehen. Um 20.15 Uhr zum Beispiel notierte Böhm : „Chef BDVP nochmals gebeten, alles zu tun, um das Bahnhofsinnere und den Platz vor A nkunft des Zuges aus Prag zu räumen.“ Ähnlich um 23.02 Uhr: „Chef BDVP – Vorschlag des Gen. Minister [Mielke] zur Freikäm pfung eines Eingangs zum H bf. [H auptbahnhof] übermittelt. Einsatz Wasserwerfer, Reizkörper usw. sollte erfolgen.“ 92 Zwischendurch telefonierte Böhm mit Mielke und dessen Stellvertretern Mittig und Neiber in Berlin, um sie zu veranlassen, auf das Innenm inisterium einzuwirken, damit es zusätzliche Polizeieinheiten bereitstellte. 93 Der Stab schef des Innenministeriums, Wagner, machte ebenfalls nachdrücklich seinen Einfluß geltend. Ein hochrangiger inoffizieller Mitarbeiter in der V PBezirksleitung berichtete anschließend: 87 Vgl. F ernschreiben d es L eiters d er BVfS Dresden an das MfS in Berlin vom 5.10.1989, S. 128. 88 Vgl. „Operative Information“ Nr. 608/89 de r HA VI vom 5.10.1989; BStU, ZA, Neiber 613, Bl. 8. 89 Aktenvermerk des Chefs der BDVP Dresden, Nyffenegger, vom 4.10.1989, in: ebenda, S. 105. – Mielke hatte bereits um 20.30 Uhr dem BVfS-Leiter Böhm die „ Weisung“ erteilt, „ Spezialkräfte/Wasserwerfer/Schlagstöcke bei N otwendigkeit ein[zu] setzen“. B öhm hatte anschließend, um 20. 45 Uhr, Modrow „ mit Orientierung Gen. Minister Mielke vertraut gemacht“. Der hatte anscheinend keinen Widerspruch geäußert. Aber dennoch reichte beides – Mielke-Weisung und Modrow-Zustimmung – in Dresden für einen Einsatzbefehl offenbar nicht aus. Der Minister de s Innern mußte entscheiden. Zitate aus „Telefonaten/Leiter BV (04.10.–05.10.89)“, S. 82. 90 Meldung vom 4.10.1989, 22.06 Uhr, Lagefilm der BDVP Dresden 3.–9.10.1989, S. 329. 91 Horst Böhm (1937–1990); 1954 Eintritt in die SE D; 1955 nach dem Abitur Eintritt in das MfS; Lehrgang an der Juristischen Hochschule des MfS; 1961–1966 stellvertretender Leiter der Kreisdienststellen Stollberg bzw. Hohenstein; 1966–1981 Leitungsfunktionen in der BVfS Karl-Marx-Stadt; 1981 zuerst Offizi er für Sonderaufgaben, dann – bis Dezember 1989 – Leiter der BVfS Dresden. Vgl. Wer war wer? (1995), S. 81. 92 „Telefonate/Leiter BV (04.10.–05.10.89)“, S. 83 f. 93 Ebenda, S. 82.

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„In der Nacht vom 04.10. zum 05.10.1989 (Ereignisse am Hauptbahnhof) war zu verzei chnen, daß der C hef des Stabes des MdI, Generaloberst Wagner, alle drei Minuten beim Chef der BDVP anrief und ihn ständig kritisierte, warum er nicht in der Lage ist, die Ordnung und Sicherheit auf dem Dresdner Hauptbahnhof wi ederherzustellen. Di es führt e zu gewi ssen Unsi cherheiten.“ 94

Der IM-Bericht enthält eine Schilderung der Stimmung unter den Führungskadern der Volkspolizei in jener Nacht. Es ging um die Frage, w er das sichere D ienstgebäude verlassen und sich in Befehlsfunktion der direkten Konfrontation mit den Demonstranten stellen mußte: „In der Nacht vom 04. zum 05.10.1989 wurde für di e BDVP [Bezirksbehörde der Deut schen Volkspolizei] als Dienststelle Einsatzalarm ausgelöst. Der Leiter der Abt eilung Kader der B DVP er hielt den Auft rag, aus den ei ntreffenden Kräft en sofort Züge 95 zu form ieren (3 Züge) und diese unm ittelbar am Hauptbahnhof zum Einsatz zu bri ngen. Nachdem 2 Züge rel ativ schnell formiert wurden, wurde der 3. Zug al s eine Art ‚Letzte Kehrung‘ formiert. In diesem Zusammenhang wu rde d er Stellv ertreter d es Po lit-Stellvertreters d er BDVP, OSL [Oberstleutnant] Thräne, durch den IM angesprochen, m it i n den Einsatz zu gehen. Daraufhi n erklärte dieser, daß er den Auft rag hätte, in der BDVP politisch zu führen. Der IM an twortete darauf: ‚Ingo, es gibt in der BDVP zur Zeit nicht einen Genossen, der hier politisch geführt werden muß. Und nun ent scheide sel bst.‘ Trot z di eser B emerkung wurde OSL T. nicht mehr gesehen. [...] Der Major Passek von der Polit-Abteilung der BDVP war zutiefst beleidigt, als man ihn diesbezüglich ansprach und erklärte, daß er von Oberst Schwiebus den Auftrag habe, die Parteiinformation aufrecht zu erhalten. [...] Als der Genosse Schindler von der Polit-Abteilung hörte, daß ein Funkstreifenwagen brannte, wurde er l eichenblaß und wurde für 30 Minuten nicht mehr in der Führungsgruppe gesehen. Inoffi ziell wurd e auch herausgearbei tet, daß si ch einige Offiziere in Zim mern herum drückten, anstatt zu käm pfen. [...] OSL Pohl, Leiter der Abt eilung Betriebsschutz, überließ einem IM das Kom mando, obwohl er als Zugführer befohlen war. Gegenüber ihm begründete er dies damit, er müsse i m Führungspunkt der B DVP sei n, um i n der Lage zu l eben. 96 Der IM schätzt ein, daß bei OSL Pohl , al s auch bei m M ajor Herol d 94 „Information“ der BVfS Dresden, Abt. VII, „über Verhaltensweisen von Führungskadern der BDVP Dresden“ vom 13.10.1989, Nachdr uck in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 452–454, hier 452. – Was die Frequenz der Anrufe betrifft, so handelt es sich ausweislich des BDVP-Lagefilms um eine leichte Übertreibung: Wagner rief zeitweilig alle 10 Minuten an. 95 Es handelte sich dabei wahrscheinlich um Untergliederungen von Volkspolizeibereitschaften, sog. Zügen, mit in früheren Jahren jeweils 24 Mann. 96 Gemeint: den aktuellen Überblick zu behalten.

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(Abt. Finanzen) offensichtlich Angst eine wesentliche Rolle spielte. Hervorgehoben wurde di e Ei nsatzbereitschaft des Genossen Hpt m. [Hauptmann] Hottas (Abteilung PM [Paß- und M eldewesen]), der t rotz Verl etzungen am Fuß und an der Hand, di e von Pfl astersteinwürfen herrührt en, sei nen Pl atz nicht verließ und bis zuletzt standhaft gekämpft hat.“ 97

Ein bißchen H eldenepos als K ontrast durfte am Schluß natürlich nicht fehlen, und der berichtende inoffizielle Mitarbeiter war offenbar auf jene Kader besonders schlecht zu sprechen, die für politische Indoktrination zuständig waren. O bwohl der Bericht w ahrscheinlich tendenziös w ar, bietet diese Sammlung von A usreden doch ein aufschlußreiches Bild von der w enig kämpferischen Stimmung unter höheren Polizeioffizieren. Böhm war bei einem seiner Telefongespräche mit dem MfS in Berlin von Generalleutnant Neiber vorgeschlagen worden, „eventuell“ zur Unterstützung der Volkspolizei „ Kampfgruppen und 7. PD [Panzerdivision] ein[zu]s etzen“. Der Stasi-Chef hatte sich deshalb m it N yffenegger in V erbindung gesetzt und, nachdem dessen Einverständnis vorlag und auch Mielke zugestim mt hatte, Modrow „ informiert“. 98 Der wiederum rief deshalb bei Keßler an, dem Minister für N ationale V erteidigung. 99 Keßler hat auf diesen Anruf wahrscheinlich nur gewartet, denn die Entscheidung, NVA-Einheiten zur Unterstützung von Polizeieinsätzen zu bilden, scheint in O stberlin schon vorher getroffen worden zu sein. 100 Die in Dresden noch in der gleichen N acht bereitgestellten, dann aber doch nicht eingesetzten 429 NVA-Angehörigen 101 wurden der Volkspolizei unterstellt. Über ihre Bewaffnung – anfangs mit Maschinenpistolen – entschied wiederum der Verteidigungsminister. 102 97 „Information“ der BVfS Dresden, Nachdr uck in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 453. 98 Anruf von Neiber um 20. 40 Uhr, Gespräch mit Nyffenegger um 22.05 Uhr, mit Mielke um 22.10 Uhr, mit Modrow um 22.15 Uhr; unmittelbar danach telefonierte Böhm wieder mit Mielke, um ihn über Modrows Zustimmung zu informieren; „ Telefonate/Leiter BV (04.10.–05.10.89)“, S. 82–84. 99 Vgl. Aktenvermerk der AKG der BVfS Dresden vom 5.10.1989 über die Beratung beim 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden am 4.10.1989, 23.15 Uhr; ebenda, S. 130. 100 G eneralmajor Kokott, der NVA-Beauftragte in Dresden, berichtet, er sei in der Nacht vom 4. zum 5.10.1989 bei dem Flug von Berlin nach Dresden durch den Chef der Dresdner Militärakademie Gehmert informiert worden, ihn habe der Verteidigungsminister bereits bei dem Training für die Militärparade zum 40. Jahrestag beauftragt, „im Raum Dresden stationierte Kräfte der NVA zu formieren, um die Volkspolizei bei der Herstellung von Ord nung und Sicherheit zu unterstützen“. Interview mit Kokott in Kaulfuß u. Schulz: Dresdener Lebensläufe (1993), S. 93 f. – Vgl. dazu auch die Äußerungen des Chefs des NVA-Hauptstabs, Generaloberst Streletz, in: Hertle: Der Fall der Mauer aus der Sicht der NVA (1995), S. 23 f. 101 Sie wurden in dieser Nacht in Reserve gehalten. Vgl. Tagesbericht des Chefs der BDVP Dresden an das MdI Berlin vom 5.10.1989, S. 144. 102 Böhm notierte am folgenden Abend: „HA I/GM [Generalmajor] Dietze teilte mit, daß der Einsatz der NVA-Kräfte mit MPi eine Weisung des Verteidigungsministers ist.“ „Telefonate/Leiter BV (05.10.–06.10.89) “, Nachdruck in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 107. – Zu den ersten Ei nsätzen und zur Art der Bewaffnung vgl. auch Streletz: Aktennotiz für den Minister fü r Nationale Verteidigung vom 8.10.1989; BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 262–266. – Unzutreffend ist die Behauptung von Generalmajor Ko-

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Es gab keine einheitliche Führung in dieser Nacht: Die unmittelbare Kommandogewalt lag bei dem BDVP-Chef, der jedoch vielfältigem Druck ausgesetzt war, wobei echte Weisungsbefugnis ihm gegenüber anscheinend nur das Innenm inisterium hatte. A us dem vorliegenden Material geht nicht hervor, daß bis zum späten A bend des 4. Oktober SED-Bezirkschef Modrow eine aktive Rolle gespielt hätte. Er w urde zw ar m ehrfach sow ohl von Böhm wie von Nyffenegger angerufen, um über die Lage „ informiert“ zu werden, und einm al auch, um seine Zustim mung einzuholen, 103 es ist aber nur eine einzige eigenständige Festlegung von ihm nachweisbar: Weit nach Mitternacht stand der erste Zug voll m it DDR-Flüchtlingen, deren Unruhe wuchs, immer noch in Bad Schandau. Böhm hatte mehrfach mit Berlin telefoniert, um eine Rückführung des Zuges in die Tschechoslowakei zu erreichen, obwohl das von Modrow abgelehnt wurde. 104 Schließlich war von seiten der tschechoslow akischen Behörden erklärt w orden, sie seien nicht bereit, den Zug zurückzunehm en. 105 Daraufhin hatte V erkehrsminister Otto Arndt in A bsprache m it Modrow um 1.14 U hr entschieden, daß der erste Zug, der m ittlerweile seit vier Stunden wartete, von Bad Schandau aus in Richtung Dresden losfahren sollte. 106 Böhm kritisierte das in einem Gespräch mit Generalmajor Braun, dem Leiter der H auptabteilung XIX (Verkehr): „ Entscheidung über A bfahrt w urde durch G en. Modrow nicht aufgrund realer Lageeinschätzung getroffen.“ 107 Tatsächlich passierte der Zug eine halbe Stunde später den D resdner H auptbahnhof „ ohne V orkommnisse“ 108. Die Auseinandersetzungen, die sich in die Innenstadt verlagert hatten, flauten in diesen Stunden ab. Insgesamt sind am 4. Oktober 224 Personen festgenom men worden, von denen nur zehn Prozent aus dem Bezirk Dresden stammten, 109 w as noch

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kott, die NVA-Angehörigen hätten i n den er sten bei den Tagen nur „di e per sönlichen Waffen am Mann“ getragen. Kokott, a.a.O. S. 93. Dabei ging es darum, die NVA um Unterstützung zu bitten. Außerdem stimmte Modrow in diesem Gespräch, das um 22.15 Uhr stattfand, dem Vorschlag zu, „500 Genossen der KG [Kampfgruppen] [zu] alarmieren“. „ Telefonate/Leiter BV (04.10. –05.10.89)“, S. 84. Letzteres Vorhaben scheint nicht realisiert w orden zu sein, denn in dem Tagesbericht der Volkspolizei, der die Kampfgruppen als Or dnungskräfte unterstellt gewesen wären, werden sie nicht erwähnt. (Tagesbericht des Chefs der BDVP Dresden an das MdI Berlin vom 5.10.1989, S. 143 f.) Um 00. 36 Uhr notierte Böhm über ein Gespräch mit Nyffenegger: „Züge müssen in SSR zurückgeführt [werden] entgegen der Meinung des Gen. Modrow. [...] Er [Nyffenegger] sollte nochmals mit G en. Modrow darüber reden, daß Züge nicht über Dresden fahren können.“; „Telefonate/Leiter BV (04.10.–05.10.89)“, S. 85. Um 00.50 Uhr teilte der L eiter der H A XIX, Braun, dem D resdner Stasi-Chef mit: „SSR nimmt Züge nicht zurück; Umleitung nicht möglich, deshalb über Dresden, wenn Hbf. [Hauptbahnhof] wieder befahrbar ist. “ Unmitte lbar danach informierte Böhm darüber Modrow. Ebenda. Gespräch des Verf. mit Hans Modrow am 7. 11.1996. Vgl. auch Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998), S. 269. Das Gespräch fand um 1.21 Uhr statt; „Telefonate/Leiter BV (04.10.–05.10.89)“, S. 86. Vgl. Lagefilm der BDVP Dresden 3.–9.10.1989, S. 334. Tagesbericht des Chefs der BDVP Dresden an das MdI Berlin vom 5.10.1989, S. 139.

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einmal belegt, daß zurückgewiesene Ausreisewillige an diesen Auseinandersetzungen auf seiten der D emonstranten entscheidenden A nteil hatten. Sie w urden in den „ Zentralen Zuführungspunkt“ verbracht und dort zum Teil schlimm m ißhandelt. D arauf w ird noch einzugehen sein. 45 Volkspolizisten wurden als verletzt gem eldet, „ davon einer m ittelschwer“; wie viele Demonstranten verletzt worden waren, wurde in den einschlägigen Übersichten der Sicherheitskräfte verschwiegen 110 – nach A ugenzeugenberichten müssen es viele gewesen sein. 111 Weit nach Mitternacht, um 2.30 Uhr, trat die Bezirkseinsatzleitung Dresden zu einer kurzfristig einberufenen Sitzung zusammen. 112 Es war die wohl wichtigste Sitzung dieses G remiums in jenen Tagen. Einleitend wurde, wahrscheinlich von Modrow , unter Berufung auf den V erkehrsminister berichtet, daß außer den drei Zügen, die D resden bereits passiert hatten, keine weiteren Züge m ehr auf dieser Route fahren w ürden, 113 zuvor w ar die Durchfahrt von 15 Zügen geplant gew esen. 114 Es gelte nun, „ Ordnung und Sicherheit“ bis zum 40. Jahrestag, der am folgenden Tag begann, weiterzuführen. D er Sekretär der Bezirkseinsatzleitung, Oberst Geppert, wurde beauftragt, um 6.30 Uhr Egon K renz telefonisch über die Ergebnisse dieser Sitzung zu inform ieren. 115 Dieser Bericht, der etw as konziser ist als die fragmentarischen Notizen, aus denen bisher zitiert wurde, ist erhalten geblieben. Geppert notierte in dem „Konzept“ für seine Meldung 116, es seien 110 Vgl. Information Nr. 441/89 des M fS „über die Realisierung von Maßnahmen zur Ausweisung von Personen, die sich widerrechtlich in der Botschaft der BRD in Prag aufhielten am 4./5. Oktober 1989“; BStU, ZA, Neiber 613, Bl. 22–27; BVfS Dresden: „ Bedeutsame politisch-operative V orkommnisse im Zusammenhang mit der operativen Lage – Stand 03.10.1989–08.10.1989“, Anlage zum Schreiben von Böhm an Modrow vom 14.10.1989, in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 468–477, hier 472. 111 Vgl. Bahr: Sieben Tage (1990), S. 38 u 42 f.; vgl. auch Unabhängige Untersuchungskommission Dresden, S. 164 f. – In dem nach träglichen Bericht der für den „ Zentralen Zuführungspunkt“ zuständigen 8. Volkspolizeibereitschaft, der eindeutig apologetischen Charakter trägt, heißt es: „Viele Bürger kamen schon mit Verletzungen an. “ Bericht des Kommandeurs der V olkspolizei-Bereitschaft Dresden, Oberstleutnant Schmidt, vom 13.10.1989 über „ Ablauf im Zentralen Zuführungspunkt (ZZP)“; Nachdruck in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 448 f. 112 Die Aufforderung dazu hatte BVfS-Leiter Böhm von Modrow um 2.07 Uhr erhalten; „Telefonate/Leiter BV (04.10.–05.10.89)“, S. 86. 113 Notizen, wahrscheinlich Böhms, von der BEL-Sitzung am 5.10.1989, in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 87–94, hier 89. Im Anlagenverzeichnis ist dieses Dokument fälschlich mit „ 4.10.“ datiert. Ursache dieses Irrtums ist eine Notiz auf dem ersten B latt: „ BEL 2. 30 – B EL 4. 10.“. D ie Ereignisse, die darin anschließend notiert werden, fanden aber erst am Abend des 4.10. statt. Zudem ist mehrfach belegt, daß am 5.10. von 2.30–3.30 Uhr eine BEL-Sitzung stattfand. 114 15 Züge waren bereitgestellt worden, von denen j edoch nur acht benötigt wurden, weil sich alle A usreisewilligen in ihnen zusammengedrängt hatten. Die fünf Züge, die nicht mehr über Dresden geleitet wurden, fuhren über die Strecke Vojtanov – Bad Brambach – Plauen – Gutenfürst; vgl. Information 600/89 der HA XIX vom 5.10.1989; „ Übersicht zur Realisierung des Sonderzugverkehrs Prag–DDR–BRD“ vom 5.10.1989; BStU, ZA, Neiber 613, Bl. 7. 115 Notizen, wahrscheinlich Böhms, von der BEL-Sitzung am 5.10.1989, S. 90. 116 „Konzept für die Meldung der Lage an Gen. E. Krenz am 5. 10.1989“, abgezeichnet mit

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(anzunehmen ist: vom Vorsitzenden der Bezirkseinsatzleitung) „Hauptaufgaben“ gestellt worden:

folgende

„– Gewährleistung der st ändigen Führ ungsbereitschaft der Sekret ariate und Führung der politisch-ideologischen Arbeit – Konzentration auf die Gewährleis tung der staatlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung in allen Territori en des Bezirkes, insbesondere in der Bezirksstadt und im Grenzgebiet – schnelle Beseitigung von Zerstörungen und Schäden im Gebiet des Dresdner Hauptbahnhofes, der Berufs- und Fernverkehr werden gewährleistet.“ 117

„Ständige Führungsbereitschaft“ w ar ein Term inus aus der Mobilmachungsplanung. Damit wurde der norm ative Zustand ständiger Aufm erksamkeit beschrieben, in dem sich die Einsatzleitungen in Friedenszeiten immer befinden sollten. 118 Im konkreten K ontext w urde dam it gegenüber dem ZK -Sekretär für Sicherheit betont, daß die Mitglieder der Einsatzleitungen ihre Pflichten ernst nahm en. Zugleich belegt diese Formulierung, daß m an in D resden zu keiner „erhöhten“ Stufe der Führungsbereitschaft übergegangen war, durch die der 1. Sekretär der SED -Bezirksleitung überhaupt erst die „Einzelleitung“ übernommen hätte. 119 Die Voraussetzung dafür – laut Statut eine „ plötzliche ernsthafte Gefährdung der staatlichen Sicherheit im Bezirk“ – hätte aus Sicht der unm ittelbar Beteiligten zweifellos existiert. Erklärungsbedürftig ist, warum weder Modrow noch Honecker, der als V orsitzender des N ationalen V erteidigungsrates dazu den Befehl hätte geben können, diesen Schritt eingeleitet haben. Hinsichtlich Modrows sei die A ntwort noch etw as aufgeschoben, bei Honecker scheint sie klar. Es konnte aus seiner Sicht keinen Sinn m achen, einen Mann m it zusätzlicher dem Kürzel von Modrow, in: Sächsische r Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 278–280. – Arnold hat dieses Dokument fä lschlich auf den 9.10.1989 datiert (die handschriftliche „ 5“ auf dem Dokument kann leicht als „ 9“ gelesen werden). Daß dies unzutreffend ist, ergibt sich unter anderem aus der Terminierung der BEL-Sitzung auf die „heutigen Morgenstunden“. Da das Papier den handschriftlichen Vermerk „ 06.30 Uhr“ trägt, muß die BEL-Sitzung vorher stattg efunden haben: Die Sitzung am 9.10 begann aber erst um 10.00 Uhr, während jene am 5.10. bereits um 2.30 Uhr stattgefunden hatte. Des weiteren nimmt die Meldung nur auf die Ereignisse vom 4./5.10.1989 Bezug. 117 Ebenda S. 279 f. 118 Vgl. „Direktive Verteidigungsbereitschaft“ vom 2.7.1980, Bl. 111. – § 11 des Statuts der Einsatzleitungen bestimmte: „ Die Einsatzle itungen der Deutschen Demokratischen Republik gewährleisten in Vorbereitung auf de n Verteidigungszustand eine ständige Führungsbereitschaft.“ Ebenso „ Anhang 3 Kriterien der ständigen Führungsbereitschaft der Einsatzleitungen“; Nationaler Verteidigungsra t der DDR: „ Statut der Einsatzleitungen der Deutschen Demokratischen Republik“ von 1981. Vgl. auch Wenzel: Kriegsbereit (1995), S. 129. 119 Ein weiteres Indiz: Stasi-Chef Böhm hat seine Telefonnotizen j eweils mit der Uhrzeit, der Institution und der Person, mit der er gespro chen hatte, überschrieben. Seinen relativ häufigen Gesprächspartner Oberst Geppert, den Leiter der Abt. Sicherheitsfragen in der Bezirksleitung, hat er in diesen Tagen durchgängig mit „ SED-BL“ eingeführt, nicht in dessen Funktion als Sekretär der Bezirkseinsatzleitung.

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Macht auszustatten, den er für politisch unzuverlässig hielt und bereits zu stürzen versucht hatte, 120 der sich jedoch dank einer starken Position im eigenen Bezirk, vor allem aber sowjetischer Rückendeckung, 121 zu halten vermocht hatte. Die zweite „ Hauptaufgabe“, die von der Sitzung der Bezirkseinsatzleitung am Morgen des 5. Oktober an Krenz gemeldet wurde, betraf die „ Gewährleistung“ von „Sicherheit“ und „Ordnung“. Das besagte vor allem, daß auch künftig D emonstrationen durch die Si cherheitskräfte unterbunden werden sollten. In diesem Punkt war die politische Entscheidung bereits m it Honeckers Fernschreiben an die Bezirk ssekretäre getroffen worden: „ Feindliche Aktionen“ sollten „ im Keime erstickt werden“ . 122 Auf Dresdner Ebene gab es zum damaligen Zeitpunkt keine erkennbare Abweichung von dieser Linie. Nyffenegger (BDVP), Böhm (BVfS), Gehm ert (NVA) und Modrow (SED) waren ihren jeweiligen Vorgesetzt en in Berlin gegenüber dafür verantwortlich und waren sich wahrscheinlich auch darin einig, daß die Oppos ition daran gehindert werden sollte, dem wachsenden Unm ut offenen Ausdruck zu verleihen. Allerdings ist zu verm uten, daß über die Erfolgsaussichten einer Politik, die sich nur repressiver Mittel bediente, je nach Diagnose der Lage, unterschiedliche Auffassungen bestanden, daß es auch in D resden Hardliner und potentielle Softliner gab. Es finden sich dafür auch Hinweise, doch spielte das noch keine spürbare Rolle. Die Auseinandersetzungen wurden trotz m assiver Polizeipräsenz in den nächsten Tagen als D emonstrationen fortgesetzt, w enngleich nicht m ehr in derselben Größenordnung wie am 4. Oktober. Jew eils m ehrere tausend Menschen gingen auf die Straße, um ihrem Protest A usdruck zu verleihen. Am 5. und 6. Oktober kam es noch zu gewalttätigen Ausschreitungen auch 120 Im Februar 1989 war eine über hundertköpfige „ Arbeitsgruppe“ des ZK unter Leitung von Günter Mittag nach Dresden geschickt worden, um Punkte gegen die dortige Bezirksleitung zu sammeln. In ihrem Bericht für das Politbüro wurde konstatiert: „ Nicht wenige Diskussionen im Bezirk münden in Frag en, ob wir in der DDR nicht auch wie in anderen sozialistischen Ländern unseren politischen Kurs überdenken müssen.“ Und schlimmer noch: „ Der ideologischen D iversion wird nicht ausreichend kämpferisch entgegengetreten.“ „Bericht der Arbeitsgruppe übe r die Ergebnisse ihres Einsatzes in Dresden“, Vorlage für die Sitzung des Politbüros am 28. 2.1989; BA Berlin, DY 30/IV 2/2.039/70, Bl. 53–58, hier 56 f.; vgl. auch die Notizen eines Teilnehmers an dieser Sitzung; Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dres den AR 13121, Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Drucksache 1/4773, Anlage 2.2., Anha ng I/1. – Die einzige Sanktion, die letztlich ergriffen wurde, war, daß Modrow al s Vorsitzender der „ Freundschaftsgesellschaft DDR–Japan“ abgesetzt wurde. Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK am 26.4.1989; SAPMO-BA, ZPA, DY 30 IV J 2/3/4389. – Eine weitere Konsequenz war die bereits erwähnte Attacke gegen die SED-B ezirksleitung Dresden auf dem ZK-Plenum im Juni 1989. 121 „Einmal versuchte man den ‚rebellischen‘ Erst en Sekretär der SED-Bezirksleitung, Hans Modrow, seines Postens zu entheben, da er sich – um K urt Hager zu zitieren – mit ‚Perestroika-Phantastereien‘ beschäftigte; doc h ließ man die Sache nach Einwänden aus Moskau bald auf sich beruhen.“ Gorbatschow: Erinnerungen (1995), S. 929. 122 Zum Fernschreiben Honeckers an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen vom 22.9.1989 siehe S. 212 f.

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seitens einiger Demonstranten, wenngleich nicht m ehr in dem Ausmaß wie am Vortag. Am 7. Oktober war dann – nach Beobachtung aller Beteiligten 123 – der Übergang zu ausschließlich friedlichen D emonstrationen gelungen. Das war, ist zu vermuten, vor allem das V erdienst der D emonstranten selbst, die allzu große H itzköpfe zurückhielten. An der Repression und an der Zahl der Festnahm en änderte dies nichts: A m 5. Oktober wurden 155, am 6. sogar 361 und am 7. Oktober 129 Personen festgenommen. 124 Zu Beginn des 40. Jahrestages sollte öffentlicher Protest m it allen polizeilichen Mitteln unterbunden werden. Insgesamt wurden in diesen Tagen über 1.300 Personen festgenom men – meist bei den Auseinandersetzungen auf der Straße, einzelne von der Staatssicherheit identifizierte „ Rädelsführer“ auch in ihren Wohnungen. 125 Die Repression endete nicht m it der „ Zuführung“, sondern wurde danach fortgesetzt. Zuerst im „ Zentralen Zuführungspunkt“ in Dresden und ab dem 6. Oktober auch in der „Strafvollzugseinrichtung Bautzen I“ wurden Gefangene nicht nur festgehalten, sondern auch mißhandelt. 126 Es wurde in Dresden kein Befehl gefunden, sie zu verprügeln, wohl ab er ließen die Verantwortlichen erkennen, daß sie solches V erhalten ihrer Untergebenen unter sehr weit gefaßten Voraussetzungen für rechtens hielten. In einem Bericht der Bezirksverw altung der V olkspolizei über die „ Verfahrensweise“ bei Festnahmen, der verfaßt wurde, als zwei Wochen später die öffentliche Kritik lauter wurde, heißt es: „Bis zum 06.10.1989 handelte es sich bei diesen Personen um renitent auftretende R echtsverletzer und R owdies, di e unsere Angehöri gen m it St einen, 123 Ein Indikator ist, daß am 6. Oktober letztma ls gemeldet wurde, daß – insgesamt drei – Volkspolizisten durch Steinw ürfe verletzt w orden seien. Vgl. Lagefilm der B DVP Dresden 3.–9.10.1989, S. 364; vgl. auch „ Information“ des MdI vom 7.10.1989 zu „Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in der Stadt Dresden am 06. 10.1989“; BStU, ZA, ZAIG 7388, Bl. 85–87. – Die Dresdner Untersuchungskommission schrieb: „An diesem und am nächsten Tag [d.h. am 7. und 8.10.] ist das Bild im Stadtzentrum von Dresden vorwiegend durch friedliche Dem onstrationen bestimmt. Rowdyhafte Erscheinungen gibt es nur noch in geringem Umfang. Die Sicherheitskräfte unterscheiden jedoch nicht zwischen den friedlichen Demonstran ten und den aggressiven Störern.“ Unabhängige Untersuchungskommission Dresden, S. 158. 124 Vgl. Bericht der BDVP Dresden vom 15. 10.1989, S. 487 u. 489; BVfS Dresden: „ Bedeutsame politisch-operative Vorkommnisse“, Anlage zum Schreiben von Böhm an Modrow vom 14.10.1989, S. 473 f. u. 476. 125 Bericht der Dresdner Untersuchungskommission, in: Bahr: Sieben Tage im Oktober (1990), S. 161; Meldung der BVfS an die Vo lkspolizei vom 7.10.1989, 10.55 Uhr, über die Veranlassung einer Festnahme; Lagef ilm der BDVP Dresden 3.–9.10.1989, S. 373; Tagesbericht der BVfS Dresden vom 9.10. 1989 über vier Festnahmen am Morgen des 8.10.1989; BStU, Neiber 616, Bl. 66. 126 Die Unabhängige Untersuchungskommission Dr esden registrierte 181 Fälle von Gewaltanwendung bei Festnahmen, weitere 199 Fälle im Zentralen Zuführungspunkt und 136 bzw. 6 Fälle von Gewaltanwendung in den Stravollzugsanstalten Bautzen bzw. Görlitz. Der Arzt im Zentralen Zuführungspunkt berich tete vor der Kommission, er habe zwischen 55 und 60 Patienten zu betreuen gehabt, von denen 22 offene Wunden hatten. Unabhängige Untersuchungskommission Dresden, S. 159 u. 162.

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Stahlkugeln u. a. Gegenständen beworfen hatten (insbesondere am Hauptbahnhof Dresden) und di e auch bei den Zuführungen provokat orisch auft raten und aktiven sowie passiven Widerstand leisteten. [...] Zur Verhinderung von Fluchtversuchen sowie zur Sicherung von Beweismitteln wurden die Zugeführten mit Händen im Nacken, si tzend auf der Ladefläche d es MTW [Militärtran sportwagens] transportiert. Bei Nichtbefolgen ausgesprochener W eisungen wurde i n der Regel mit einfacher körperlicher Gewalt, aber auch zum Teil mit Hilfe des Schlagstockes die Ordnung durchgesetzt. [...] Einen Schwerpunkt der Arbeit [in den „Zuführungspunkten“] bildete die Übernahme der Zugeführten von den jeweilig en Transportkommandos bis zur Registrierung in der AG [Arbeitsgruppe] Erfassung. [...] Die Zugeführten wurden mit dem Gesi cht zur W and, Hände i n den Nacken bzw. an der W and gegrätschten Beinen au fgestellt, so d aß ein möglicher An griff au f u nsere Genossen bzw. ein Fluchtversuch recht zeitig erkannt und verhindert werden konnte. Die Notwendigkeit dieser Maßnahme ergab si ch aus dem aggressi ven Verhalten und den renitenten Haltungen eines Teils der zugeführten Personen [...]“ 127

Verschwiegen wurde in diesem Bericht, der unter dem Eindruck erster öffentlicher Kritik form uliert worden war, was unm ittelbar nach dem Einsatz in internen Papieren noch offen zugegeben w orden war: 128 daß die Festgenommenen „6 bis 7 Stunden“ und „vereinzelt auch länger“ in dieser Haltung zu verharren hatten und daß sich das in einer „ ungeheizten Garage“ abspielte, so daß es zu „Unterkühlungen“ 129 kam . D ie Leitung der V olkspolizei Dresden berichtete weiter, es sei „ passiver Widerstand“ geleistet worden wie „Hinlegen oder Setzen auf den Fußboden“, so „daß in einigen Fällen die Bewachungskräfte zur Durchsetzung der gestellten Forderungen einfache körperliche Gewalt bzw. Hilfsm ittel anwenden m ußten“. Doch „ in keinem Fall“ seien „Personen grundlos geschlagen“ worden. 130 Offenbar galt diese Wertung selbst noch für das folgende Beispiel: „Andere vorläufig Festgenommene grinsten die Einsatzkräfte zynisch an und befolgten die Anordnungen nur widerwillig und betont langsam . Zur Durchsetzung einer hohen Si cherheit und Ordnung wurde durch di e Einsatzkräfte 127 „Information“ d er B DVP D resden v om 2 1.10.1989 „zur Verfahrensweise bzw. zum Umgang mit zugeführten und vorläufig festgenommenen Personen“; Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 497–506, hier 497 f. u. 500. 128 Bericht des Kommandeurs d er V olkspolizei-Bereitschaft D resden, O berstleutnant Schmidt, vom 13.10.1989 über „ Ablauf im Ze ntralen Zuführungspunkt (ZZP)“; Nachdruck in: ebenda, S. 448 f. 129 „Einschätzung“ der Abt. VII der BVfS Dresden vom 12.10.1989 „ zum Zentralen Zuführungspunkt 8. VP-Bereitschaft (ZZP)“; Nachdruck in: ebenda, S. 442 f. 130 „Information“ der BDVP Dresden vom 21.10.1989, S. 501.

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gegen di e genannt en Personen der Schlagstock auf das Gesäß und i m Ausnahmefall auf den Oberschenkel angewandt.“ 131

Zusammenfassend stellte die BVDP-Leitung Dresden tatsächlich zynisch fest: „Die Wahrung der sozialistischen G esetzlichkeit im U mgang m it den Zugeführten wurde [...] gewährleistet. Die Kontrollen ergaben, daß keine Überschreitungen der Befugnisse durch die Einsatzkräfte zu verzeichnen waren und die Zugeführten korrekt behandelt w urden.“ 132 Erschreckend an dieser Darstellung ist die Skrupellosigkeit, mit der über den Polizeiterror berichtet wurde, wobei schlechtes Gewissen allenfalls am Weglassen allzu unangenehmer Aspekte erkennbar wird. Als Rechtfertigung diente, daß in den ersten beiden Tagen auch eine Minderheit wütender Bürger gewalttätig geworden w ar. D eren V erhalten w urde als Begründung herangezogen, um auch an den folgenden Tagen alle Festgenommenen, unzweifelhaft friedliche Demonstranten, w ie eine Bande gefährlicher Schw erverbrecher zu behandeln. Die unmittelbare Verantwortung für die Übergriffe im Zentralen Zuführungspunkt und in Bautzen lag bei der Führung der Bezirksverwaltung der Volkspolizei. Aber das Feindbild, das solchem Verhalten zugrunde lag, hatte nicht sie erdacht, wenngleich sie es kritiklos übernommen hat. Wer aber hat hinter den K ulissen die Repressionsw elle angeheizt? Wer hat eher gebremst? Auf diese Fragen ist eine eindeutige Antwort nicht möglich, weil wichtige Archivalien fehlen, 133 es gibt aber doch eine Reihe aufschlußreicher Indizien. So meldete Oberstleutnant Behnisch, der stellvertretende Stabschef der Volkspolizei, am Nachm ittag des 5. Oktober eine „Festlegung“ des „1. Sekr. SED /BL, G en. Modrow : Einsatz K asernierter Einheiten als letztes Mittel, vorher durch andere Maßnahm en Auflösung“ 134. Die Spalte „Veranlaßte Maßnahmen“ im „Lagefilm“ der BD VP neben dieser Meldung blieb leer. Für besonders verbindlich scheint Behnisch die „Festlegung“ des 1. Sekretärs nicht gehalten zu haben. Nur eine halbe Stunde später wies er „ Sitzbereitschaft“ für drei Kom panien der Kasernierten Einheiten an. 135 Der „Lagefilm“ zeigt weiter, daß solche Einheiten dann ge131 Ebenda, S. 504; ebenso in: BDVP Dresden: „Sachstandsbericht [...] zur Verfahrensweise [...] in der StVE Bautzen I“ vom 1.11.1989; BA Berlin, DO 1 32/53236, o. Pag. 132 Ebenda, S. 502. – Die Abt. VII der Dresdne r Staatssicherheit hatte am 12.10. noch festgestellt, „daß es tatsächlich vereinzelt zu unkontrollierten Übergriffen von Bewachungskräften auf Zugeführte kam“. „ Einschätzung“ der Abt. VII der BVfS Berlin vom 12.10.1989, S. 443. 133 Schlecht dokumentiert ist vor allem, was auf der Parteischiene, zwischen dem ZKApparat in Berlin und der SED-Bezirksleitung, gelaufen ist. Sowohl die Bestände der Büros Krenz und Dohlus wie auch der ZK-Abt eilung für Sicherheitsfragen im Bundesarchiv wurden nach einschlägigen Unterlagen ergebnislos durchgesehen. SAPMO-BA, DY 30/IV 2/2.041 (Dohlus), DY 30/IV 2/2.039 (Krenz), DY 30/IV C 2/12 (der äußerst fragmentarische Bestand der Abt. Sicherheit für die 80er Jahre). 134 Meldung vom 5.10.1989, 15.20 Uhr; Lagefilm der BDVP Dresden 3. –9.10.1989, S. 342. – Das Motiv für Modrows Intervention ist unklar. Möglicherweise galten ihm diese Einheiten als unzuverlässig, weil sich unter ihnen auch Wehrpflichtige befanden. 135 Vgl. ebenda, S. 343.

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gen „200–300 Personen“ eingesetzt wurden, die sich vor dem Rathaus „aufgehalten“ hatten, ohne daß zuvor der geringste Versuch unternommen worden wäre, die A nsammlung „durch andere Maßnahm en“ aufzulösen. 136 Am nächsten Tag w urde der erfolgreiche Einsatz der „ Kasernierten Einheiten mit Sonderausrüstung“ nach Berlin gemeldet und hervorgehoben: „ Im Verlauf des Einsatzes w ar mit der Bezirksverwaltung MfS und den verantwortlichen Gen ossen d er NVA d urchgängig ein enges Zusammenwirken gewährleistet.“ 137 Die SED-Bezirksleitung wurde nicht erwähnt. Ein weiterer Hinweis auf latente Differen zen findet sich in stichwortartig en „Schlußfolgerungen“ der Bezirkseinsatzleitung vom 6. Oktober. Dort wurde neben der Betonung der „ politisch-ideologischen Arbeit“ und der „Motivierung der jungen Angehörigen der Kasernierten Einheiten des MdI“ gefordert: „Das Erkennen, Isolieren und H erauslösen der tatsächlichen Störer ist wirksamer zu gestalten. [...] Durch das exakte Trennen von Störern und Schaulustigen ist die Rechtssicherheit zu erhöhen.“ 138 Das kann m an als verhaltene Kritik Modrows 139 an den wahllosen Knüppeleinsätzen von Vopo und Kasernierten Einheiten lesen. Irgendwelche praktischen Konsequenzen hatte sie nicht. 140 Die Forderung nach höherer „ Rechtssicherheit“ ist im Zusammenhang mit dem Grundkonflikt jener Wochen zu sehen: dem Kampf zwischen Opposition und Regime um die bisher angepaßten Bürger. D ie Partei versuchte durch Propaganda und mit Hilfe ihrer Mitglieder, diese Bürger auf ihre Seite zu ziehen, während die Sicherheitskräf te die „Schaulustigen“ regelrecht auf die Seite der Opposition prügelten. Das war gem essen an dem Ziel einer Wiedergewinnung politischer Stabilität kontraproduktiv. Modrow, als einem intelligenten Vertreter des Regim es, ging es in diesen Tagen darum, den Verlust der politischen Hegem onie an die Opposition zu verhindern. Gegen die Opposition selbst, die „tatsächlichen Störer“, repressiv vorzugehen, hatte er w ohl auch dann w enig Bedenken, als und sow eit diese „ Störer“ un136 Ebenda, S. 346. 137 Lagebericht der BDVP Dresden an das MdI Berlin vom 6.10.1989, in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 176 f. 138 „Schlußfolgerungen“ der Sitzung der Bezirkseinsatzleitung am 6.10.1989, in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 157 f. 139 Modrow hat am gleichen Tag in einem Fe rnschreiben an die regionalen Parteileitungen im Bezirk gefordert: „ Bei notwendigem ope rativen Einschreiten gegen Provokationen, feindliche und negative Elemente ist konsequent und taktisch klug vorzugehen. Es ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen solchen Elementen und der Masse der Bürger.“ Telegramm des 1. Sekretärs der Bezirksleitung an die 1. Sekretäre der Kreisleitungen, der Stadt- und Stadtbezirksleitungen vom 6.10.89, in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 171 f. 140 Das illustriert etwa folgender Vorfall, über den die Dresdner Untersuchungskommission berichtete: „07.10.1989 gegen 0. 30 Uhr: An der Haltestelle am Hauptbahnhof kommt es zu einer normalen Ansammlung von Bürgern, di e auf die Linie 72 warten. Polizisten sehen diese Ansammlung als eine nicht gene hmigte Demonstration an und zwingen die Wartenden, sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden zu legen.“ Unabhängige Untersuchungskommission Dresden, S. 157 f.

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zweifelhaft keine Steinewerfer waren, 141 er hielt es nur für wenig effektiv. In der grundsätzlichen Position, den Bürgern das Demonstrationsrecht zu bestreiten, gab es zw ischen den Machthabern solange keine erkennbaren Unterschiede, wie als gemeinsamer Nenner die Verhinderung „gewalttätiger Ausschreitungen“ bestand. D ifferenzen beschränkten sich auf die „Konsequenz“ und damit die Härte des Vorgehens. Der Konflikt zwischen Staatssicherheit und V olkspolizei, der sich in dieser taktischen Frage bereits am 4. Oktober abgezeichnet hatte, setzte sich am Abend des 5. Oktober fort. Stasi-Chef Böhm hatte von Mielkes Ste llvertreter Mittig die „ Weisung“ erhalten: „Es sind keine A nsammlungen zuzulassen; nichts w achsen lassen; Rädelsführer zuführen.“ 142 Diese „Weisung“ gab Böhm w enige Minuten später an den Stabschef der BDVP, Ob erst Grellert, weiter. 143 Grellert machte daraus sofort einen Befehl für die ihm unterstellten Volkspolizisten: „Nicht nur Auflösung vornehmen, sondern Zuführung der Rädelsführer und Initiatoren, damit jede weitere Störung der O/S [Ordnung/Sicherheit] unterbunden w ird.“ 144 Trotzdem w ar Böhm m it der V olkspolizei w eiter unzufrieden. Er hielt Grellert vor: „ Lage durch VP wird nicht beherrscht.“ 145 Dann rief er Oberst Geppert in der SED-Bezirksleitung an, um ihn zu bitten, „Einfluß“ auf die V olkspolizei zu nehm en, da „ schnelleres H andeln notwendig“ 146 sei. Es folgte ein Anruf bei Generalleutnant Neiber, einem Stellvertreter Mielkes, in Berlin. Böhm machte ihm den „ Vorschlag“, „mit dem MdI abzustimmen, daß durch das MdI auf die BD VP Dresden Einfluß genommen wird, damit sie unsere Linie des Handelns unterstützt.“ 147 So ging es den ganzen A bend weiter. Unterstützung erhielt Böhm dabei vom Stabschef des MdI, Wagner, der sich ebenfalls „ungehalten“ darüber zeigte, daß überhaupt eine „ größere A nsammlung zugelassen w urde“, und daran die „Forderung“ knüpfte, „ Störung unverzüglich und konsequent zu beseitigen“. 148 Am nächsten Tag spitzte sich der Konflikt zu. Stasi-Chef Böhm versuchte nun, auf dem U mweg über Berlin die D resdner Polizeiführung wegen Unfähigkeit zu entm achten. Generaloberst Mittig m öge doch, schlug Böhm vor, das Innenm inisterium veranlassen, daß „ 2 G en[ossen] des MdI nach D resden beordert w erden und die BD VP bei der Führung unterstüt141 In reichlich verklausulierter Form hat das nachträglich auch Modrow eingeräumt: „In diesen Tagen [5.–7.10.1989] hatte ich noch kein klares Verständnis dieser Ereignisse. [...] Das Vorgehen von Sicherheitskräften gegen die abendlichen Demonstrationen sollte nach meinem damaligen Verständnis ein Untergraben der politischen Stabilität des Landes verhindern.“ Modrow: Aufbruch und Ende (1991), S. 14. 142 Weisung Mittigs vom 5.10.1989, 19.35 Uhr, in: Telefonate/Leiter BV (05. 10.–06.10.89), S. 106. 143 Anruf vom 5. 10.1989, 19. 39 Uhr, in: Lagefilm des Chefs der BVfS Dresden 5.10.89, S. 110. 144 Weisung Grellerts vom 5.10.1989, 19.39 Uhr, in: Lagefilm der BDVP, S. 347. 145 Anruf vom 5.10.1989, 20.04 Uhr; Telefonate/Leiter BV (05.10.–06.10.89), S. 106. 146 Anruf vom 5.10.1989, 20.15 Uhr; ebenda, S. 107. 147 Anruf vom 5.10.1989, 20.40 Uhr; ebenda. 148 Anruf Wagners vom 5.10.1989, 20.30 Uhr; in: Lagefilm der BDVP, S. 349.

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zen“. 149 Ein Ergebnis war, daß der Stabschef des MdI bei dem D resdner BDVP-Chef anrief und ihn „wegen der Führung des Einsatzes“ kritisierte. Zudem, berichtete

149 Gespräch mit Mittig am 6.10.1989, 20. 27 Uhr; Lagefilm des Chefs der BVfS Dresden 6.10.89, S. 150.

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Nyffenegger anschließend, wurde ihm „angeraten, sein Verhältnis zum BVChef des MfS zu klären“. 150 In diesem K onflikt, bei dem der Stasi-Chef in D resden – und daneben auch der Stabschef des MdI in Berlin – die treibende Kraft war, trat die SED-Bezirksleitung kaum in Erscheinung. Das ist auch an der Zahl der Telefongespräche ablesbar, die Böhm in diesen Tagen führte. N och am 4. Oktober hatte er mit Modrow achtmal, mit Nyffenegger neunmal (und mit seiner Berliner Zentrale 21mal) telefoniert. Vom 5. bis 7. Oktober aber telefonierte der Stasi-Chef kein einzig es Mal m it dem 1. Sekretär der SED Bezirksleitung persönlich (allerdings traf er ihn täglich bei den Besprechungen in der Bezirkseinsatzleitung und sprach fünfm al mit subalternen Funktionären der SED-Bezirksleitung), aber 18m al mit der Bezirksdirektion der Volkspolizei und 34mal mit seiner Berliner Zentrale. 151 Bis zum 7. Oktober hatte die Weisung gegolten, jede Protestversammlung durch Polizeieinsatz aufzulösen. Eine Modifizierung dieser Taktik, die zu immer neuen Zusammenstößen, Prügeleien und Festnahm en führte, deutete sich bereits am Abend dieses Tages an. Es kam zu einer Situation, die bei Staatssicherheit und V olkspolizei zu kraß unterschiedlichen Wahrnehmungen und Reaktionen führte. A uslöser w ar ein D emonstrationszug von einigen tausend Menschen, der sich auf einer Route durch die Innenstadt bewegte, die zur Bezirksverw altung für Staatssicherheit hätte führen können. Die Volkspolizei war aus Stasi-Sich t wieder einmal „nicht in der Lage, Demo zu unterbinden“ 152. A ls die D emonstration die Elbe überquerte und auf die nördliche Uferseite gelangte, w o die Bezirksverw altung lag, geriet Böhm in helle A ufregung. Er befahl, den Zugangsw eg, die Bautzener Straße, mit einem LKW abzusperren, inform ierte Mielke, löste Alarm aus, rief alle Mitarbeiter zusammen und ließ Schlagstöcke ausgeben. 153 Unterdessen m eldeten die Volkspolizisten vor Ort an ihre Zentrale, daß die D emonstranten m it der Besatzung eines Funkstreifenw agens V erbindung aufgenommen und gesagt hätten: „Wir sind eine friedliche Demonstration“ und „sichern uns selber“ . N ach dem Erreichen des D emonstrationsziels, des Fuikplatzes (nicht etwa der Stasi-Bezirksverwaltung), werde man 150 Gespräch Böhms mit Nyffenegger am 6. 10.1989, 21. 15 Uhr; Telefonate/Leiter BV (06.10.–07.10.89), S. 146. – Tats ächlich leitete am nächsten Tag ein Vertreter des MdI, Generalmajor Verner, gemeinsam mit Oberst Krumbiegel von der BDVP den Einsatz am Hauptbahnhof (vgl. Lagefilm des Chefs der BVfS Dresden 07.–08.10.89, S. 195). Es kam aber zu keinen größeren Auseinandersetzungen, weil die etwa 3.000 Personen, die sich vor dem Bahnhof versammelt hatten, diesen Platz bald verließen und durch die Innenstadt demonstrierten. Dort wurden sie nach etwa einer Stunde von der Polizei attackiert und viele festgenommen. Vgl. Bahr: Sieben Tage (1990), S. 91 u. 108 f. 151 Berechnet nach „Telefonate/Leiter BV“ vom 4. –8.10.1989, für den 7. 10. nach „Lagefilm des Chefs der BVfS Dresden“. 152 M eldung vom 7. 10.1989, 21.00 Uhr; Lagefilm des Chefs der BVfS Dresden 07.–08.10.89, S. 193. 153 Vgl. Meldungen von 21.12 und 21.30 Uhr; ebenda.

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auseinandergehen. 154 Daraufhin gab N yffenegger, der Chef der BD VP, den Befehl: „Keine Konfrontation“, doch solle m an die D emonstration unter Beobachtung halten und „ bei Gewalttätigkeiten eingreifen“ . 155 Tatsächlich löste sich die D emonstration w enig später von selbst auf. D as w ar die eigentliche Geburtsstunde der damals noch nicht so genannten, später aber vielbeschworenen „ Sicherheitspartnerschaft“ zwischen Dem onstranten und Volkspolizei. D ie D emonstranten, die m ehr als genug hatten von der Art „Sicherheit“, die die V olkspolizei produzierte, verlangten nur eines: D ie Vopo sollte sich heraushalten, dann würden sie schon selbst für Gewaltfreiheit – und natürlich auch V erkehrssicherheit – sorgen. Der Beitrag der Volkspolizei zu dieser „Partnerschaft“ bestand ursprünglich einfach darin, sich darauf einzulassen und untätig zu bleiben. Möglicherweise hat die Erfahrung jenes A bends für die Entscheidungsfindung eine Rolle gespielt, nachdem am nächsten Tag, dem 8. Oktober, in allen SED-Bezirksleitungen, auch in D resden, ein Telegram m H oneckers eingetroffen war, das konträr zu solchen Lernprozessen stand. U nter V erweis auf die Vortage wurde befohlen, „ weitere Krawalle“ „von vornherein zu unterbinden“. 156 In Dresden aber war für den Nachm ittag eine Demonstration am Theaterplatz angekündigt worden. Die Frage war: Sollte m an künftig nur noch einschreiten, w enn es zu A usschreitungen kam, oder w eiterhin auch gegen friedliche D emonstranten vorgehen? Als der BDVP-Chef mittags die Volkspolizei instruierte, war allenfalls vom Einfluß Honeckers, nicht aber von einer neuen Linie etw as zu bemerken. Er befahl „Auflösung“ der Demonstration und „in A bhängigkeit des A uftretens“ der D emonstranten „ Zuführungen“. 157 D urch Stasi-Bezirkschef Böhm w urde er darin bekräftigt. 158 Zur U nterstützung der Polizeim aßnahmen war von der SED die Entsendung von „ 500 A gitatoren“ angekündigt worden. 159 Tatsächlich kamen nur 100 „ Parteikräfte“ 160 – ein Zeugnis der Mobilisierungsunfähigkeit der Partei. Auch die Schar der D emonstranten war zu diesem Zeitpunkt mit etw a 150 Personen relativ klein. 161 D as hing sicherlich dam it zusam men, daß die Initiatoren, das „ Autonome Forum“, nicht – wie die Staatssicherheit später bei der V ernehmung von Festgenom menen zu ihrer Überraschung feststellte – m it dem „Neuen Forum“ identisch waren, sondern ein e 154 Meldung der Führungsgruppe des Volkspolizeikreisamtes vom 7.10.1989, 21.25 Uhr, in: Lagefilm der BDVP, S. 388. 155 Ebenda. 156 Fernschreiben von Erich Honecker an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen der SED vom 8.10.1989, 11.00 Uhr; BStU, ZA, ZAIG 7388, Bl. 71. 157 Vgl. Lagefilm der BDVP, S. 396. 158 Böhm notierte um 14.00 Uhr: „ Gen. Nyffenegger nochmals gebeten, Leninplatz, Prager Str. und Vorplatz Hbf. [...] vorbeugend sichern und Provokationen von vornherein unterbinden“; Telefonate/Leiter BV (08.10.–09.10.89), S. 196. 159 Vgl. Lagefilm der BDVP, S. 396. 160 Vgl. Meldung von Böhm an Neiber vom 8. 10.1989, 15.40 Uhr; Telefonate/Leiter BV (08.10.–09.10.89), S. 196. 161 Ebenda.

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Gruppe von „ Punkern“. 162 A ber obw ohl die Breitenw irksamkeit dieser Gruppierung gering war, wurde ihr anschließender Zug durch die Stadt doch zu einem Kristallisationskern: Die Menge wuchs auf 400 Personen an. Nach etwa zwei Stunden wurden sie, obwohl sie völlig friedlich geblieben waren und nur Sprechchöre gerufen hatten w ie „ Wir bleiben hier!“ und „ Gorbi, Gorbi, hilf uns!“ , durch die V olkspolizei „ blockiert“ und 150 Teilnehm er „zugeführt“. 163 In den gleichen Stunden hatten sich auch andernorts zwei weitere Demonstrationszüge aus m ehreren tausend Personen gebildet, die auf verschlungenen Pfaden durch die Innenstadt zogen, im mer von der Volkspolizei und Observations- und Festnahmetrupps der Staatssicherheit in Zivil begleitet, doch ohne daß es gelungen w äre, sie zu blockieren und „aufzulösen“. Das hing dam it zusammen, daß im Laufe des Nachm ittags – der genaue Zeitpunkt ist nicht feststellbar – Modrow der V olkspolizei eine neue „Orientierung“ gegeben hatte. Böhm inform ierte anschließend Mielke: „1. Sekr[etär] BL [Bezirksleitung der SED ] hat gegenüber der D VP H inweise gegeben, keine offenen K onfrontationen m it den D emonstranten durch DVP zuzulassen.“ 164 Die Charakterisierung dieser Ä ußerung als „Hinweis“ ist ein Beleg mehr, daß Modrow keine direkte Befehlsgewalt hatte. Inhaltlich konnte sie nur bedeuten, daß die Sicherheitskräfte nicht länger die Initiative zu Prügeleinsätzen ergreifen sollten. Wie die beiden M fSKader diese Entscheidung w erteten, ist an dieser Stelle nicht vermerkt. Böhm allerdings telefonierte kurz danach m it dem Leiter der Abteilung Sicherheit in der SED-Bezirksleitung und erklärte, „daß wir diese Dinge zulassen, ist unverantwortlich“ 165. Anschließend rief er N yffenegger an, w ies ihn „auf den Ernst der Lage“ hin und notierte: „Auflösung eindringlich gefordert“ 166. Damit hatte er sich über Modrow s „Hinweis“ hinweggesetzt. Es folgte ein weiteres Gespräch mit Mielke. Seinem Minister gegenüber erklärte er: „ Linie von heute Nachmittag führte in Endkonsequenz zum Anwach162 „In den Vernehmungen durch die Abteilung IX [die Untersuchungsabteilung der BVfS] konnte herausgearbeitet werden, daß die Mitglieder der Gruppe ‚Autonomes Forum‘ nicht mit denen des ‚Neuen Forums‘ identisch sind. Die Gruppe ‚Autonomes Forum‘ besteht ausschließlich aus sogenannten Punkern, die autonom und spontan handeln.“ Tagesbericht der BVfS Dresden vom 8.10. 1989; Nachdruck in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 238–243, hier 240. – Der Abteilung Parteiorgane im ZK der SED blieb diese Erkenntnis verborgen. Sie meldete am nächsten Tag, es sei „ in Dresden eine Demonstration zum ‚Neuen Forum‘, an der über 400 Personen teilnahmen, durch den konzentrierten Einsatz von Agitatore n aufgelöst“ worden. Abt. Parteiorgane des ZK: „ Information der Bezirksleitungen der SED über die Lage und eingeleiteten Maßnahmen“ vom 9.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 7834, Bl. 62–72, hier 66. 163 Bericht der BVfS Dresden vom 14. 10.1989 über „ Bedeutsame politisch-operative Vorkommnisse“, S. 476; vgl. den Bericht eines Augenzeugen, Pfarrer Andreas Horn, in: Bahr: Sieben Tage (1990), S. 122 f. 164 Gespräch Böhms mit Mielke um 17. 10 Uhr; Telefonate/Leiter BV (08. 10.–09.10.89), S. 197. 165 Gespräch Böhms mit Geppert um 18.07 Uhr; ebenda, S. 198. 166 Gespräch Böhms mit Nyffenegger um 18.12 Uhr; ebenda.

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sen des D emo-Zuges.“ 167 Mielke entgegnete, nun m üsse man entscheiden: „[...] macht man eine Krawallgeschichte oder sollten sie sich auslaufen“. 168 Die Wahl zwischen solchen Alternativen galt als politische Ents cheidung, und dafür war die SED-Bezirksleitung zuständig. Von dort erhielt Böhm nach mehreren w eiteren T elefonaten d urch d en 2 . Sekretär e ine Auskunft, über die er um gehend den stellvertretenden Minister Neiber informi erte: „Polit[ische] Entscheidung getroffen, an einer günstigen Stelle soll der Marschblock aufgehalten und blockiert werden – ohne offene Konfrontation.“ 169 Die D emonstrationen w aren inzw ischen weitergegangen. Mitgeführt worden war ein Transparent, auf dem die optimistische Losung stand: „Vernunft wird siegen!“ 170 Schließlich waren etwa neunhundert Menschen in der Prager Straße angelangt, einer Fußgängerzone zum H auptbahnhof, in der fast alle Dresdner Demonstrationen früher oder später m ündeten. Einige ließen sich zu einem Sitzstreik nieder. Es schien den D emonstranten nur eine Frage von Minuten, bis die V olkspolizei wieder mit „Zuführungen“ beginnen würde. In dieser Situation ergri ffen zwei katholische Kapläne die Initiative und verlangten, mit dem Einsatzleiter der V olkspolizei zu sprechen. Er ließ sich darauf ein – w ahrscheinlich auch ein Sy mptom von Erschöpfung bei den Sicherheitskräften. 171 Kaplan Frank Richter forderte eine Unterredung mit dem Oberbürgermeister. Er w olle ihm das A ngebot unterbreiten, daß die Dem onstration sich freiwillig auflösen würde, wenn das Stadtoberhaupt am folgenden Tag bereit wäre, mit einer Bürgerdelegation zusammenzutreffen. 172 Das teilte er m ittels eines Megaphons den Dem onstranten mit. Sie waren mit dem Vorschlag einverstanden und bestimmten aus ihrer Mitte durch Zuruf jene Delegation, die in die G eschichte der Herbstrevolution als „Gruppe der 20“ einging. Böhm, der die Entw icklung in seiner Bezirksverwaltung verfolgte, aber nicht sofort begriff, notierte: „ Rede über Megaphon durch eine gesell[schaftliche] Kraft oder Kirche? “ 173 A ls i hm g emeldet wurde, daß der Sprecher ein K aplan sei, war er anscheinend fassungslos. Er ließ sich mit Generalleutnant Nyffenegger verbinden und herrschte ihn an: „Wer hat entschieden, daß Kirchenfritze mit Megaphon der V P [Volkspolizei] reden durfte?“ 174 167 Gespräch Böhms mit Mielke um 18.42 Uhr; ebenda. 168 Zitiert im Gespräch Böhms mit Stammnitz, dem 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung, um 18.51 Uhr; ebenda, S. 199. 169 Gespräch Böhms mit Neiber um 19. 44 Uhr; das Gespräch mit Stammnitz von der SEDBezirksleitung hatte um 19.18 Uhr stattgefunden; ebenda, S. 199. 170 Vgl. Fernschreiben des Leiters der BVfS Dresden, Böhm, an Mielke vom 9.10.1989; BStU, ZA, Neiber 616, Bl. 67–70. 171 Vgl. das Interview mit dem Polizeioffizier Detlef K., in: Bahr: Sieben Tage (1990), S. 129 f. u. 134 f. 172 Vgl. Bericht von Kaplan Richter in: ebenda, S. 124–129. 173 Notiz vom 8.10.1989, 20.47 Uhr; Lagefilm des Chefs der BVfS, S. 217. 174 Gespräch mit Nyffenegger am 8. 10.1989, 21.05 Uhr; ebenda, S. 218. Die technische Hilfestellung hatte ein Mitglied der VP-Bereitschaft in Eigeninitiative geleistet; vgl. ebenda.

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Die V erbindung m it Berghofer 175 kam tatsächlich zustande. Berghofer wiederum telefonierte m it dem SED -Bezirkschef Modrow . N ach kurzem Gespräch gab Modrow seine Zustim mung zu einem Gespräch am nächsten Tag. 176 Im V orzimmer Berghofers w arteten unterdessen Landesbischof Hempel und Superintendent Ziem er. Sie wollten den Oberbürgerm eister bewegen, seinen Einfluß geltend zu m achen, um der Repression Einhalt zu gebieten. Nun wurden sie in einem Einsatzwagen der Volkspolizei mit Blaulicht vom Rathaus zur Prager Straße gefahren, um zu den Demonstranten zu sprechen. 177 Christof Ziem er erklärte: „ Der Oberbürgermeister, Herr Berghofer, hat es m ir im Ergebnis eines G espräches erm öglicht, zu Ihnen zu sprechen. Das ist ein Neubeginn. [...] Ich habe die Zusicherung erhalten, daß, wenn Sie friedlich nach H ause gehen, die V olkspolizei dazu den Weg freigibt.“ 178 D as w urde freundlich, aber m it Zurückhaltung aufgenom men. Erst als Ziem er berichtete, daß die V erhandlungsergebnisse am folgenden Abend in vier großen D resdner Kirchen bekanntgegeben w ürden, brandete Beifall auf. Dann gingen die D emonstranten, von den Sicherheitskräften unbehelligt, nach Hause. 179 Böhm rief sofort seine Berliner Zentrale an und inform ierte den stellvertretenden Minister N eiber: „ Beide Pfaffen (H empel + Ziem er) haben zur Ansammlung gesprochen, die sich danach auflöste; G en. Modrow habe diese Entscheidung politisch so getroffen und trage die Verantwortung.“ 180 Das war eine deutliche Distanzierung von einer Entscheidung, die in der Tat zu einem „Neubeginn“ (Christof Ziem er) führte und die vor dem Hintergrund zu sehen ist, daß ausgerechnet an diesem Tag aus Berlin der Befehl zu verschärft repressivem Vorgehen gekommen war. Schließlich w urde hier zum ersten Mal, einen Tag vor dem 9. Oktober in Leipzig, von den Machthabern Dialog statt Repression als Weg zur Lösung der K rise ins Auge gefaßt. Auch wenn der Rahmen dieses „Dialogs“, wie sich bald zeigen sollte, sehr eng konzipiert war, handelte es sich doch um mehr als ein aus der Situation heraus entstandenes taktisches Manöver. Noch in der gleichen Nacht verständigte m an sich in der Bezirkseinsatzleitung über das Vorgehen am nächsten Tag. Der Raum um die vier Kirchen sei weiträumig zu sichern. Sollte sich zeigen, daß der Platz in den Kirchen

175 Wolfgang Berghofer (geb. 1943 in Bautzen); Maschinenbauer; 1964 SED-Eintritt; 1967– 1971 Studium der Geschichte; 1972–1985 Funktionär im FDJ-Zentralrat; 1986 bis Mai 1990 Oberbürgermeister von Dresden; vgl. Wer war wer? (1995), S. 61. 176 Vgl. Lagefilm der BDVP, S. 400; Fernschreiben von Böhm an Mielke vom 9.10.1989, Bl. 70. 177 Gespräch Böhms mit Neiber am 8. 10.1989, 21. 39 Uhr; Telefonate/Leiter BV (08.10.– 09.10.89), S. 200. 178 Zitiert nach Bahr: Sieben Tage (1990), S. 136. 179 Vgl. ebenda und Funkspruch der VP von 22.06 Uhr, Lagefilm der BDVP, S. 400. 180 Gespräch Böhms mit Neiber am 8. 10.1989, 22. 10 Uhr; Telefonate/Leiter BV (08.10.– 09.10.89), S. 200.

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für die Fülle der Teilnehm er nicht au sreicht, so sollte ein „öffentlicher Kundgebungsplatz“ dennoch nicht bereitgestellt werden, „ weil dam it nicht genehmigte[n] Kundgebungen in der Öffentlichkeit Vorschub geleistet“ würde. Die Machthaber hielten die Stadt noch für ihren Besitz. Im merhin aber wollten sie diesen usurpierten An spruch nicht mehr repressiv durchsetzen. Als „Grundsatz des Handelns“ wurde festgelegt: „Generell gilt die Weisung – jegl iche Handlungen, Dialog oder Zusam menkünfte von Bürgern gewaltfrei zu belassen, d en Ein satz v olkspolizeilicher oder anderer bewaffneter Kräfte nur im dringendsten Notfall auf Weisung Chef [der BDVP] und Leiter VPKA [Volkspolizeikreisamt] vorzunehmen.“ 181

Der Versuch, öffentliche Protestbekundungen m it polizeistaatlicher Gewalt zu unterdrücken, war offenkundig gescheitert. D aß darauf nun verzichtet werden sollte, hing auch m it einem Stim mungswandel unter den Sicherheitskräften zusammen. In den ersten beiden Tagen hatten A usschreitungen, obwohl nur von einer relativ kleinen Minderheit getragen, noch als Legitimation für repressive Maßnahm en gedient. A ls die D emonstrationen nach dem 6. Oktober unzw eifelhaft friedlichen Charakter angenommen hatten, wurden auch unter den systemtreuen Bürgern die Bedenken gegen die herrschende Politik wieder stärker. Es fanden Lernprozesse statt, für die ein Bericht zur Lage in der NVA, deren „Hundertschaften“ als eine Art Hilfspolizei herangezogen worden waren, exemplarisch ist: „Während der ersten zwei Einsatztage (04. und 05. Oktober) gab es bi s zum letzten Soldaten ein klares Feindbild und uneingeschränkte Handlungsbereitschaft, trotz der Tatsache, daß unsere Hundertschaften keine moralische Unterstützung von der anwesenden Bevölkerung spürten, sondern eher i m Gegenteil (Buh-Rufe, Pfiffe, Zurufe Kommunistenschweine, Nosketruppen). Selbst einzelne Part eimitglieder [i n] der B evölkerung äußerten sich feindlich zum Einsatz der Armee, obwohl dieser stets erst dann erfolgte, wenn die VP-Kräfte überfordert waren. Angehörige der Dem onstrationszüge bem ühten si ch verst ärkt um Kont akte, besonders zu eingesetzten Soldaten und Unteroffizieren, um bei ihnen moralische Zweifel hervorzurufen. Nicht sel ten wurden junge M enschen, M ädchen, Frauen, Kinder vorgeschickt. Besonders bei Soldaten und Unteroffizieren nahmen deshalb Fragen, gewisse Zweifel und Verunsicherungen zu.“ 182

181 Hv. im Orig. „Vorschläge an den 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED, Genossen Hans Modrow“, Vermerk: „ bestätigt BEL 8.10.89“, in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 233–237, hier 236. 182 Bericht des Dresdner Einsatzstabes der NVA vom Oktober 1989, in: Sächsischer Landtag, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 425–433, hier 429.

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Daß der Protest nach dem 6. Oktober nicht m ehr bedrohlich wirkte und gewiß auch sein massenhafter Charakter, der zur Auseinandersetzung zwang, waren d ie Bedingungen für den Differenzierungsprozeß unter den Stützen des Systems. In das G espräch m it den „ 20“ gi ng O berbürgermeister Berghofer am Morgen des 9. Oktober m it einer „ Konzeption“, die w ahrscheinlich nicht von ihm selbst, sondern von der SED -Bezirksleitung entw orfen w orden war. 183 Dieses Papier zeigt, daß die Machthaber zu diesem Zeitpunkt nur zu minimalen Konzessionen bereit waren. D as m uß allerdings nicht heißen, daß die Dresdner SED-Potentaten damals nicht schon etw as weiter gedacht hätten – Berghofer und Modrow sollten wenige Wochen später zu Repräsentanten der Reform er werden. Sie agierten in den engen Handlungsspielräumen, die sie zu haben glaubten. Erkennbar an dieser K onzeption und auch an den A usführungen Berghofers zu Beginn des Treffens 184 w ar nur ein Ziel, bei dem auch „ in Berlin“ mit Zustimmung zu rechnen war: Nachdem es nicht gelungen w ar, die D emonstranten von der Straße zu prügeln, sollten sie nun verm ittels ihrer Sprecher und der Kirche dazu gebracht werden, von sich aus die Straße nicht mehr als Forum zu nutzen. 185 Auf der anderen Seite trugen die Mitglieder der „ Gruppe der 20“ nacheinander verschiedene Forderungen vor: objektive Berichterstattung in den Medien, Freilassung der Inhaftierten, Reise- und Demonstrationsfreiheit, freie Wahlen. 186 Zu einem D emonstrationsverzicht w aren sie nicht bereit. Berghofer ging zum Schluß des Treffens, außer einem Lippenbekenntnis zu einem „konstruktiven und sachlichen D ialog“, auf keine dieser Forderungen ein und bekräftigte: „ Jede D emonstration wird entsprechend den gesetzlichen Möglichkeiten mit polizeilichen Mitteln aufgelöst.“ 187 Ohne konkrete Festlegungen vertagte man sich schließlich um eine Woche. Von staatlicher Seite war großer Wert darauf gelegt worden, daß die Bürgervertreter nicht als Repräsentanten des N euen Forums auftraten, denn das hätte dessen A nerkennung bedeutet. 188 Dieses Anliegen war insofern leicht zu erfüllen, als die „ 20“ tatsächlich ein Querschnitt durch die Dresdner Be183 „Konzept für Gespräch Oberbürgermeister am 9.10.“; BStU, ZA, Neiber 616, Bl. 154–156. 184 „Ausführungen des Oberbürgermeisters“; BStU, ZA, Neiber 616, Bl. 150–152. 185 Modrow behauptet: „ Wolfgang Berghofer und ich [...] wollten den Dialog und suchten einen Konsens mit den Bürgerbewegungen für eine demokratische Umwälzung im Zeichen der Perestroika.“ Modrow: Ende und Aufbruch (1991), S. 17. Das ist bezogen auf den 8./9. Oktober eine starke Übertreibung, eine Rückprojektion späterer Einsichten. 186 Vgl. Aktennotiz von Berghofer zu dem Gespräch am 9.10.1989; BStU, ZA, Neiber 616, Bl. 145–149; Zusammenfassung der Forderungen in dem Bericht von Herbert Wagner, einem später kooptierten Mitglied der „Gruppe der 20“, in: Bahr: Sieben Tage (1990), S. 142. 187 Berghofers eigene Zusammenfassung seiner Äußerungen in Aktennotiz vom 9.10.1989, Bl. 148. 188 In einem Interview hat Berghofer bekräftigt, „daß ich nicht bereit bin, irgendwelche Forderungen des Neuen Forums entgegenzunehmen“; er habe mit „jungen Leuten unterschiedlicher sozialer Schichten und Weltanschauungen“ gesprochen. Interview in: Junge Welt 12.10.1989.

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völkerung, nicht aber V ertreter einer bestimmten Gruppierung waren. Die Staatssicherheit hatte sich sofort ans Werk gem acht, um herauszubekom men, mit wem die Staatsmacht da überhaupt verhandelt hatte. Sie w ar zu dem Ergebnis gekommen, „ daß die Mitglieder der ‚V ertretergruppe‘ spontan aus der Situation heraus gewählt wurden, ohne vorherige gegenseitige Abstimmung“, und wichtiger noch: „Die Mehrzahl der Personen kannte sich vorher nicht und hatte auch keine Verbindung zu Gruppen des politischen Untergrundes bzw. zu Personen, die das ‚N eue Forum‘ organisieren.“ Deshalb machte die Staatssicherheit den Vorschlag, „daß Genosse Berghofer gegenwärtig einer Veränderung der ‚Vertretergruppe‘ nicht zustimmt, sondern immer nur mit dem bisherigen Personenkreis gesprochen w ird“. 189 Daß sie damit die Entstehung einer repräsentativen V olksvertretung eher noch beförderte, dürfte ihr nicht bewußt gewesen sein. Die eminente politische Bedeutung dieses Treffens bestand nicht in Vereinbarungen, die bei der G elegenheit festgelegt w orden wären (außer der, sich erneut zusammenzusetzen), sondern in dem symbolischen Akt des Treffens selbst: Erstmals hatten Repräsentanten des Regim es konzediert, daß sie Rede und A ntwort zu stehen hatten. Indem sie sich einer „ Gruppe“ von Bürgern, die „eine ganz echte, natürlich zustande gekommene Bürgervertretung“ 190 war, gegenübersetzten, hatten sie die Fiktion fallengelassen, die Demonstranten seien eine „ Zusammenrottung“ „negativer Kräfte“, Gewalttäter oder ähnlicher „ Elemente“, jedenfalls individuell zu sanktionierender „Straftäter“. Sie hatten die Bildung einer Bürgerrepräsentanz – im G egensatz zur Parteirepräsentanz – faktisch akzeptiert. Und schließlich hatten sie die Bürgerbewegung damit als dialogfähigen K ontrahenten anerkannt, wenngleich Berghofer nachträglich be hauptete, er führe „ Gespräche mit einzelnen Bürgern der Stadt“ 191. Es w ar das Wiedererw achen von V olkssouveränität. Das wurde von der Bürgerschaft begriffen, und deshalb w urde dieses Treffen trotz seiner m ageren inhaltlichen Ergebnisse als Durchbruch ihrer Emanzipationsbestrebungen gefeiert. 192 Während in Dresdens größten Kirchen vor m ehr als 20.000 Menschen über dieses Gespräch berichtet wurde, 193 sich die „20“ damit als Sprecher profilier189 Information Nr. 299/89 der BVfS Dresden vom 12.10.1989 „ über die Ergebnisse erster Überprüfungen der Personen, die am 09. 10.1989 Teilnehmer des Gespräches mit dem Oberbürgermeister der Stadt Dresden, Genossen Wolfgang Berghofer, waren“; BStU, ZA, Neiber 616, Bl. 157–178, hier 178. 190 Bericht von Pfarrer Andreas Horn, einem Mitglied der Gruppe, in: Bahr: Sieben Tage (1990), S. 139–142, hier 139. 191 So Berghofer bei dem nächsten Treffen mit den „ 20“ am 16.10.1989. Vgl. Fernschreiben des Leiters der BVfS Dresden an das M fS Berlin vom 17.10.1989; BStU, ZA, Neiber 616, Bl. 116–120, hier 117. 192 Vgl. Information des MfS Nr. 452/89 vom 11.10.1989 „über eine Demonstration und Zusammenkünfte oppositioneller Kräfte in Leipzig, Dresden und Magdeburg“; BStU, ZA, Neiber 616, Bl. 77–83, hier 79. 193 Ein Teilnehmer hat in seinem Tagebuch notiert: „Montag, 9.10. [...] Abends Kreuzkirche: Sehr gemischte Gestalten, gewissermaßen tatsächlich das Volk. [...] Hinaus gehe ich völ-

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ten und die Dresdner Bürgerbewegung zu Masse und zu Entschiedenheit nun auch gemeinsame Stimme gewann, bahnte sich zur gleichen Zeit in Leipzig die Entscheidung für die ganze DDR an. Dorthin waren noch am Nachmittag zwei Angehörige der G ruppe gefahren, um in der Nikolaikirche zu berichten, daß man sich in Dresden auf einen Dialog geeinigt hatte. 194 Zusammenfassend ist festzustellen: Die besondere Härte der anfänglichen Dresdner A useinandersetzungen w ar das Ergebnis des Zusammenwirkens mehrerer Faktoren: die verzw eifelte Wut vieler Menschen, die an der schon sicher geglaubten Flucht gehindert w urden und deren Aktivismus zum Funken für die Artikulation des allgemein wachsenden Zorns über eine Führung wurde, die ihre U nfähigkeit hinter verlogenen „ Feierlichkeiten“ camouflierte; auf der anderen Seite ein Regime, das entschlossen war, den Schein auch durch Einsatz massiver Gewalt zu wahren. Die Leitung lag letztlich in Berlin: Aus den politischen Vorgaben der SED-Führung ergab sich zwingend, daß gegen den Protest repressiv vorzugehen w ar. In dieser Beziehung w ar auf regionaler Ebene nichts G rundsätzliches m ehr zu entscheiden. Wohl aber gehörte zur Umsetzung dieser Politik, daß der Vorsitzende der Bezirkseinsatzleitung in Ü bereinstimmung mit Berlin „Festlegungen“ traf w ie die, „keine Demonstration zuzulassen“, 195 oder daß er „ Vorschlägen zum taktischen V orgehen“ 196 zustimmte. Die Leitung des operativen Einsatzes aber lag, wie die zuvor zitierten Beispiele zeigen, teils in Berlin – und dort vor allem beim Stabschef des MdI – teils bei der Bezirksverw altung der V olkspolizei. Deren Chef, Generalleutnant Nyffenegger, berichtete: „Die Führung der Kräfte und Mittel im Bezirk erfolgte durch den Chef der BDVP.“ 197 Mit

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lig erschöpft, viele Peinlichkeiten, oftmals drohendes Chaos in dem Riesenhaus. Aber ich habe erlebt, was [es] eigentlich gar nicht gi bt, was eigentlich gar nicht geht: Eine V olksversammlung von Tausenden! [...] Überhaupt ist die Enttäuschung groß, weil naturgemäß fast nur das Gespräch selbst erreicht wurde [ ...] Freilich der Apparat braucht Zeit, die gewiß auch dort vorhandenen Veränderer müssen zu Wort kommen und die Pseudoveränderer sich einschleichen können.“ Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine (1990), S. 25 f. Vgl. Andreas Horn in Bahr: Sieben Tage (1990), S. 140. Die Vermischung der Entscheidungskompetenzen wird an der folgenden Formulierung aus einem Lagebericht des MdI deutlich: „ Auf der Grundlage der Aufgabenstellung des Ministers des Innern und Chefs der DVP sowie der Festlegungen des Vorsitzenden der BEL wurde die politisch-ideologische A rbeit verstärkt. Die gestellte Aufgabe bestand darin, keine Demonstration zuzulassen. Diese Aufgabe wurde erfüllt.“ Lagebericht des MdI/ODH vom 9.10.89, in: Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 264–266. Im Lagefilm der BDVP vom 8.10.1989 heißt es etwa: „ 15.00 Uhr Chef der BDVP: [...] In BEL wurden Vorschläge zum taktischen Verhalten beraten und zugestimmt. “; Lagefilm der BDVP vom 3.10.–9.10.89, S. 397. Fernschreiben des Chefs der BDVP Dresde n, Nyffenegger, vom 5.10.1989 an das MdI, Nachdruck in: Sächsischer Landtag, DS 1/ 4773, Anlage Arnold, S. 137–144, hier 144. – Ebenso heißt es in einem Bericht des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit Dresden vom 29.11.1989: „Die Führung des Einsatzes oblag der Deutschen Volkspolizei.“ „ Übersicht über die Lageentwicklung in der Stadt Dresden“; ebenda, S. 538–551, hier 541. – Ein Organigramm zur „Gliederung der Einsatzkräfte der NVA im Bezirk Dresden“, erstellt in der Militärakademie „Friedrich Engels“ am 11.10.1989, bestätigt das. Dort wird der Chef der Militärakademie, Generalleutnant Gehmert, ins Zentrum der Weisungsstruktur gestellt. Die einzige Verbindung zu einer extern en Institution, die – mit einer gestrichelten

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seinem Vorgesetzten, Innenminister Dickel, war er sich in diesem Punkt einig. Dickel erklärte wenig später zum Verhältnis zwischen Volkspolizei und Bezirkseinsatzleitungen, daß selbst „ beim Tätigw erden der Einsatzleitung“ der Chef der Bezirksbehörde der V olkspolizei „uneingeschränkt für die Organisation erforderlicher gesetzlicher Maßnahm en zur G ewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in seinem Verantwortungsbereich zuständig [ist]. Da hat keiner hineinzureden. [...] Meinungen sollen schon ausgetauscht werden, aber die Frage ist, was für Entscheidungen werden getroffen!“ 198 Dem Chef der Dresdner Volkspolizei „hineinzureden“, versuchte auf regionaler Ebene vor allem der Leiter der dortigen Staatssicherheit, Generalmajor Böhm. Daß er sich dabei vornehmlich seiner Beziehungen zur MfS-Spitze in Berlin und w eniger zur SED -Bezirksleitung bediente, zeigt, wie er, ein geübter Hauptakteur in diesem Machtgeflecht, die Verteilung der Entscheidungskompetenzen einschätzte. Die Frage ist noch offen, w arum Modrow nicht versucht hat, über die Deklarierung „erhöhter Führungsbereitschaft“ der Bezirkseinsatzleitung alle Befehlsgewalt an sich zu ziehen. Selbst w enn das gelungen w äre und die Machtzentralen in O stberlin dies w ider Erwarten nicht konterkariert hätten, hätte es aus seiner Perspektive wenig Sinn gemacht: Er hätte die volle V erantwortung für den Versuch einer polizeilich-m ilitärischen Krisenbewältigung übernehmen m üssen, den er für politisch unangem essen hielt. Die potentiellen Reformer in der SED hätte er damit geschwächt. Auch so schon ging er aus diesen A useinandersetzungen beschädigt hervor, obwohl er eine wichtige Entscheidung tatsächlich selbst getroffen hat: friedliche „Ansammlungen“ nicht mehr länger mit den Sicherheitskräften zu attackieren und vor allem einen „ Dialog“ m it Bürgervertretern zuzulassen, auch wenn dieses Vorhaben anfangs konzeptionell äußerst beschränkt war. Rekapituliert m an die taktische Konstellation jener Tage in Dresden, so könnte m an denken, das Nächstliegende wäre gewesen, wenn sich ein Liberalisierer auf seiten des Alten Regimes wie Modrow mit den auf Veränderung drängenden Kräften der Opposition gegen die Hardliner im Alten Regime zusammengetan hätte – m oralisch sicherlich die sauberste Lösung. Modrow selbst behauptet in seinen Erinnerungen, eben diesen Weg habe er seinerzeit – noch vor dem Sturz H oneckers – gesucht: „ einen Konsens mit den Bürgerbewegungen für eine demokratische Umwälzung im Zeichen der Perestroika“ zu gew innen. 199 Doch das ist subjektive Erinnerung nach turbulenter Zeit; durch die Quellen wird diese These nicht belegt. In einem Interview des Autors m it Hans Modrow 200 räum te dieser ein, in seinem Linie für Koordinierung – verzeichnet ist, geht zum Chef der BDVP. Die SED-BL oder auch die BEL werden gar nicht verzeichnet. Ebenda, S. 424. 198 Rede des Ministers des Innern bei der Dienstbesprechung mit den Chefs der BDVP am 21.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 8637, Bl. 3–40, hier 25. 199 Modrow: Ende und Aufbruch (1991), S. 17. 200 Das relativ offene Gespräch fand am 7.11.1996 in Dr. Modrows Wohnung in Berlin statt.

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Denken „bestimmten Einengungen“ unterworfen gewesen zu sein, die er nur „Schritt für Schritt“ korrigiert habe. Zweierlei wurde sichtbar: eine kognitive Schranke und ein taktisches Dilemma. Das Dilemma bestand darin, daß zum dam aligen Zeitpunkt noch die Hardliner das Regim ent innehatten und ihre K ontrahenten in der Führung sich bedeckt hielten. Ein Bezirkssekretär, der kein Mitglied des Politbüros und bereits mehrfach angeeckt war, hatte keine starke Position. Wenn er in Verdacht geriet, die Seite gewechselt zu haben, war sein politisches Schicksal besiegelt. D azu Modrow : „ Wenn ich in der SED eine Veränderung durchsetzen will, dann kann ich m ich nicht selbst außerhalb der Dinge oder außerhalb der Partei stellen, sonst w erde ich von den Genossen den ‚feindlichen Kräften‘ zugerechnet, denen ich angeblich Vorschub geben will.“ 201 Der „Vorwurf des Verrats“ 202 wird in solchen Ü bergangssituationen seitens der H ardliner häufig erhoben. Die SED -Dogmatiker aber hatten ein doppelt verstärktes manichäisches Weltbild, das nur „ Freund“ und „ Feind“ kannte: Zu den einfachen Schablonen ihrer m arxistisch-leninistischen Ideologie kam noch die spezifisch deutsch-deutsche K onstellation. Mielkes Stellvertreter Generaloberst Mittig gab etwa zur gleichen Zeit die Orientierung: „Signal für uns m uß es auf alle Fälle sein, wenn in Westmedien Meinungen von leitenden K adern lobend erwähnt werden.“ 203 Was bedeutete das? Wegen der sich daraus ergebenden A ngst vor dem Beifall von der falschen Seite m ußte zum dam aligen Zeitpunkt jedes praktische Nachgeben gegenüber der Bürgerbewegung in einer fatalen Dialektik mit einer verstärkten verbalen D istanzierung von ihr verbunden sein. D araus ergab sich ein zusätzliches Dilemma: Die politische Hegemonie der Partei sollte eigentlich durch eine neue Politik wiederhergestellt werden und wurde durch die Außenwirkung dieses innerparteilichen Machtspiels weiter zerstört. Ein Beispiel dafür w ar eine V eranstaltung, die w egen der Repression an den V ortagen am 10. Oktober 1989 im Dresdner Staatsschauspiel von Künstlern einberufen w orden war. Zwar kam Modrow, um sich den Fragen zu stellen – das war damals noch keineswegs selbstverständlich –, aber seine Antworten gerieten derart apologetisch und schablonenhaft, daß der Regisseur Wolfgang Engel ein paar Tage später bei einem Treffen von Theaterleuten in Berlin erklärte, Modrow ha be mit diesem Auftritt „seine eigene Legende zerstört, unsere Betracht ung dieses Mannes w ar unrealistisch“ . 204 201 Modrow: Ende und Aufbruch (1991), S. 17. 202 O’ Donnell u. Schmitter: Transitions from Authoritarian Rule (1993), S. 25. 203 BVfS Potsdam, Stellvertreter Operativ: „ Protokoll aus der persönlichen Mitschrift anläßlich der Dienstkonferenz beim Generaloberst Mittig zu Zielen und Aufgaben zur konsequenten Unterbindung der Formierung feindlich-oppositioneller Kräfte in Sammlungsbewegungen/Vereinigungen“ vom 26.9.1989; BStU, ASt Potsdam, AKG 617, Bl. 149–163, hier 155. 204 Zitiert nach Abteilung Kultur der SED-Bezirk sleitung Berlin: „ Ablaufnotizen zur Veranstaltung am 15.10.1989 im Deutschen Theater“, 10 S.; Landesarchiv Berlin, Bezirksparteiarchiv (künftig: BPA), SED-BL 6312, Bd. 1, o. Pag.

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Modrow selbst erklärt, er sei m it sich danach ebenfalls sehr unzufrieden gewesen. Er sei jedoch davon ausgegangen, daß über diese V eranstaltung nach Berlin berichtet w ürde, und habe verm eiden wollen, daß dort gesagt werden kann: „Der Modrow geht ins Theater und organisiert gewissermaßen den Widerstand gegen die Parteiführung.“ 205 Das wäre zumindest „kontraproduktiv“ gewesen, denn die Situation war so, „daß ich keine Chance habe, in der SED von innen heraus Veränderungen zu erreichen, w enn ich selbst den Druck von außen organisiere“. Die zuvor erwähnte kognitive Schranke bestand darin, daß Modrow in diesem Denken, das für ihn gefährlich wurde, selbst gefangen w ar. Er hatte am Vortag vor den Kreissekretären seines Bezirks erklärt, es sei „ dem Gegner [...] gelungen, die berechtigten Forderungen der Bevölkerung der DDR zur Beseitigung von Mängeln und Mißständen für seine Ziele zu mißbrauchen“. Im Vordergrund stehe nun: „ Wir können die Situation nur meistern, wenn w ir sofort m it einer ehrlichen A useinandersetzung m it unseren eigenen Problemen beginnen.“ Nur dann werde es gelingen, „dem Gegner jeglichen Wind aus den Segeln zu nehmen“. 206 Zugleich aber m üsse „ der tatsächliche Feind entlarvt und in H aft genommen“ werden. 207 Diese Vorgabe hatte allerdings keine praktischen K onsequenzen mehr. Es gab keine neuen Inhaftierungen, und fast alle Festgenom menen w urden am 12./13. Oktober freigelassen. 208 Doch die V orstellung, hinter und zwischen den demonstrierenden Bür205 Gespräch des Verf. mit H. Modrow am 7. 11.1996. – Auch hinter dieser Befürchtung steckte eine Erfahrung: Im Frühjahr 1987 hatten Mitglieder des Dresdner Staatsschauspiels wegen Hagers Tapeten-Metapher einen Protestbrief nach Ostberlin geschickt. Damit geriet der dortige SED-Chef in den Verdacht mangelnder Wachsamkeit. Von Honecker erhielt Krenz den Auftrag, das berichtete er später Gorbatschow, nach Dresden zu fahren und die Absetzung von Modrow zu betreiben. Modrow kam jedoch mit einer Rüge davon. Vgl. „ Niederschrift des Gesprächs von Egon Krenz, Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, mit Michail Gorbatschow, Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR, am 1. November 1989 in Moskau“; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/329, Bl. 128–162, hier 138 f. 206 Es handelt sich dabei um einen Bericht aus zweiter Hand von dem Leiter der Politabteilung der Militärakademie „ Friedrich Engels“ in Dresden, Generalmaj or Bilan, an StasiChef Böhm. Modrow hat in dem erwähnten Ge spräch jedoch bestätigt, daß „vom Wesen der Sache her“ sein „damaliges Denken“ „nicht falsch wiedergegeben“ sei; Fernschreiben des Leiters der BVfS Dresden, Böhm, an das M fS Berlin vom 10.10.1989; BStU, ZA, Neiber 616, Bl. 139–143. 207 Auch eine solche Drohung entspricht durchaus einem bekannten Schema: „ Typically, at the beginning of the transition, the soft-liners within the regime have a strong hand in relation to the opposition [...] . Their ace in the hol e is the threat that if the opposition refuses to play according to the rules they propos e initially [...] they will simply cancel the game and return to the authoritarian status quo ante.“ O’ Donnell u. Schmitter: Transitions (1994), S. 24. 208 Vgl. Unabhängige Untersuchungskommission Dresden, S. 168. Ausgenommen waren drei junge Männer, denen die Beteiligung an Sachbeschädigungen nachgewiesen werden konnte. Sie wurden am 3.11.1989 zu Haftstrafen zwischen 2 Jahren und 2 Monaten und 4 Jahren verurteilt. Vgl. Der Tagesspiegel 4.11.1989.

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gern gebe es noch einen „ tatsächlichen Feind“ – gewaltbereite Demonstranten und Agenten westlicher Geheim dienste –, ist Modrow selbst heute nicht fremd, um wieviel stärker muß er ihr damals verhaftet gewesen sein. Es ging also nicht nur darum , sich gegenüber den ideologischen Tugendwächtern in Ostberlin abzusichern, sondern um ein Weltbild, in dem die Gegner der Parteiherrschaft keinen legitim en Platz hatten. Es war noch ein erheblicher Lernprozeß notwendig, ehe Modrow nicht nur forderte, „bei [einem] friedlichen Verlauf [von D emonstrationen] eine K onfrontation zu verm eiden“ 209, sondern sich zu weitergehenden Positionen durchgerungen hatte, die es erlaubten, die Schranken des Liberalisierungsprojektes zu überschreiten.

3.2 Staatsfeier und Repression in Ostberlin In O stberlin w ar m an dam als noch nicht einm al sow eit. Am 3. Oktober sprach Mielke auf einer Sitzung des M fS-Kollegiums über die politische Lage. Von Feststimmung kurz vor Beginn der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag war unter den Bürgern nach seiner Einschätzung w enig zu spüren. Statt dessen konstatierte er eine „ zunehmende weitere Verschärfung der latenten und w eiter w achsenden U nzufriedenheit, V erunsicherung in der Bevölkerung“. Selbst in der Partei gebe es „ verbreitet [die] Forderung, von [der] Führung informiert zu werden“. 210 Mit der Schließung der G renze wurde die Situation noch schwerer kalkulierbar. Vorsichtshalber wurde deshalb am 4. Oktober der zeitliche Rahm en der „Aktion ‚Jubiläum 40‘“ gestreckt. Sie begann nun bereits am folgenden Tag um 7.00 Uhr und sollte bis zum 9. Oktober „auf Abruf“ dauern. 211 Besonders beunruhigt w ar die M fS-Spitze durch die heftige Reaktion der zurückgewiesenen Ausreisewilligen in Dr esden. In einer Dienstbesprechung der Hauptabteilung X XII (Terrorabwehr) berichtete deren Leiter, Oberst Franz, Minister Mielke habe neue „Festlegungen“ getroffen: „Es steht [die] Aufgabe, alle Versuche feindlicher Kräfte, sich zu formieren, im Keim zu ersticken; sofort allen Anfängen energisch entgegentreten; Ereigniss e in Dresden haben gezeigt, daß zu spät und zu zögernd ei ngegriffen wurde; 209 Bericht zu der Beratung der Bezirkseinsatzleitung Dresden am 9.10.1989; BDVP Dresden: „ Zusammengefaßte Darstellung der Lageentwicklung sowie der Handlungen der Einsatzkräfte der Deutschen Volkspolizei zur Beseitigung der Störungen im Bereich der Stadt Dresden in der Zeit vom 03.10. bi s 09.10.1989“ vom 15.10.1989, in: Sächsischer Landtag, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 478–493, hier 493. 210 „Hinweise“ für die Kollegiumssitzung am 3.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 8680, Bl. 1–21, hier 15. 211 Schreiben des Leiters der Arbeitsgruppe des Ministers, Generalmaj or Rümmler, vom 4.10.1989 zur „Veränderung der Einsatzzeit zur Aktion ‚Jubiläum 40‘“; BStU, ZA, AGM 1450, Bl. 7.

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[...] besondere Aufmerksamkeit muß der Sicherung der Großveranstaltungen gelten (müssen seit Dresden in anderen Dimensionen denken, aus Schneeball darf keine Lawine werden).“ 212

„Dresden“ sollte zu einer verhängnis vollen „ Lehre“ für Berlin werden. Mielke schickte am 5. Oktober – „Jubiläum 40“ hatte bereits begonnen – ein Fernschreiben an die Leiter aller D iensteinheiten mit der Anweisung, „Personen, die im Zusammenhang mit den Maßnahm en zum Reiseverkehr nach der SSR zurückgewiesen werden“, weiter „unter Kontrolle zu halten“ und dafür zu sorgen, daß sie „ tatsächlich in ihre Heim atorte zurückkehren“ . 213 Offenbar erwartete er, sie würden sta tt dessen nach Berlin fahren, w o dann ähnliches wie in Dresden geschehen könnte, 214 deshalb sei „ die Anreise aller Personen, von denen Gefahren ausgehen könnten, [...] nach der Hauptstadt der DDR, Berlin, w ährend des A ktionszeitraumes unter N utzung aller Möglichkeiten und m it allen Mitteln konsequent zu verhindern“ 215. Alle „Maßnahmen zur Sicherung der Veranstaltungen“ sollten noch einmal überprüft, weitere Reservekräfte bereitgestellt werden. Generell gelte: „ Feindlich-negative Aktivitäten sind mit allen Mitteln entschlossen zu unterbinden. [...] Keine Überraschung zulassen!“ 216 D as erw ies sich schon am nächsten Tag als Wunschdenken. Das Program m für die ausländischen Staatsgäste, die zum 40. Jahrestag gekommen waren, begann am 6. Oktober mit einem Festbankett. Die Toasts, die dort ausgebracht wurden, enthielten in der Tat keine Ü berraschungen. Zur Krönung des Abends aber hatte man sich einen Fackelzug der FD J ausgedacht. Noch einm al sollte eine heile DDR-Welt inszeniert werden m it einer Jugend, die scheinbar nichts mehr liebt als den Sozialismus und die Partei. Etwa 70.000 FDJ-Mitglieder aus der ganzen DDR defilierten an der versammelten Ostblock-Prominenz vorbei. Alle Teilnehm er waren durch das 212 P rotokoll der Beratung beim Leiter der HA XXII am 5.10.1989, 2 S.; BStU, HA XXII 884, o. Pag. 213 Fernschreiben Mielkes an die Leiter der Diensteinheiten vom 5.10.1989, VVS Nr. 69/89; BStU, ZA, HA IX 1003, Bl. 66. 214 In einer „Information“ des Chefs der Leipziger BVfS, Hummitzsch, vom 6.10.1989 wurde dieser Befehl unter ausdrücklichem Bezug auf die verhinderten Flüchtlinge weitergegeben und von den nachgeordneten Diensteinheiten gefordert, „ zu gewährleisten, daß diese Personen tatsächlich in ihre Heimatorte zurückkehren und an weiteren feindlichnegativen Aktivitäten gehindert werden“. Nac hdruck in Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 450 f. 215 Fernschreiben Mielkes an die Leiter der Diensteinheiten vom 5.10.1989. – Die „ Anreise“ oppositioneller Personen zu verhindern, war bereits mit dem Befehl 14/89 vom 1. 9.1989 angewiesen worden. Daß darauf nun noch ei nmal in einem besonderen Fernschreiben hingewiesen wurde, ist mit der durch die Sperrung der Grenze veränderten Lage zu erklären. – Von der Volkspolizei wurde bis zu m 7.10.1989 für 593 Personen ein „Verbot [verhängt], in die Hauptstadt der DDR, Berlin, zu reisen“; „ Information“ des MdI vom 7.10.1989 zum „ Stand der Durchsetzung der Maßnahmen zur Gewährleistung einer hohen öffentlichen Ordnung und Sicherheit“; BStU, ZA, ZAIG 7388, Bl. 79–83, hier 80. 216 Fernschreiben Mielkes an die Leiter der Diensteinheiten vom 5.10.1989.

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MfS überprüft worden, und etliche von ihnen waren entsprechend instruierte inoffizielle Mitarbeiter. 217 Um die Lage jederzeit unter K ontrolle zu halten, waren die Bezirksverw altungen der Staatssicherheit zudem angewiesen worden, daß Offiziere der Abteilungen XX sich im FDJ-Blauhemd unter die Bezirksdelegationen zu m ischen hatten. 218 Am nächsten Tag m eldete der Zentrale O perativstab des M fS V ollzug: D er Fackelzug sei „störungsfrei“ verlaufen. 219 Unm ittelbare Teilnehm er sahen das etwas anders. Michail Gorbatschow, gewiß der prominenteste Politiker auf der Ehrentribüne, hat in seinen „Erinnerungen“ geschildert, welchen Eindruck das G eschehen auf die ausländischen Gäste machte: „Man erzählte mir, daß die Teilnehmer an diesem Fackelzug sorgfältig ausgewählt worden waren [...] . Umso aufschlußreicher waren die Losungen und Sprechchöre in ihren Reih en: ‚Perestroika!‘, ‚Gorbatschow! Hilf!‘ Aufgeregt trat Mieczyslaw Rakowski – er und Jaru zelski standen ebenfalls auf der Ehrentribüne – an m ich heran: ‚M ichail Sergejewitsch, verst ehen Si e, was für Losungen si e da schrei en?‘ Dann dol metschte er: ‚Si e fordern: ›Gorbat schow, rette uns!‹ Das ist doch das Aktiv der Partei! Das ist das Ende!‘“ 220

Auch andere ausländische Besucher zweifelten an dem, was ihnen als erfolgreiches Modell D DR vorgeführt w urde. In einem Bericht der für ihre Betreuung zuständigen ZK-Abteilung wird vermerkt, „eine Reihe von Delegationen“ (es handelte sich um Gäste aus Dritte-Welt-Ländern) habe konstatiert, „ daß es auf bestim mte Fragen noch keine überzeugenden Antworten gebe, zum Beispiel, warum trotz hohen Lebensstandards und sozialer Sicherheit DDR-Bürger ihr Land verlassen“ . Andere hätten „ die Frage aufgeworfen, ob es in der DDR nicht zu Versäum nissen bei der rechtzeitigen Lösung herangereifter Probleme gekommen sei“. Es sei verschiedentlich die „Erwartung“ geäußert worden, „ daß sich die SED noch entschiedener und offener den als kompliziert anerkannten Herausforderungen stellt“. Wojcech Jaruzelski habe davon gesprochen, daß m an in Polen „ schmerzliche Erfahrungen“ habe sammeln müssen und daß er zu der Erkenntnis gekommen sei: „Allein die Anwendung administrativer Maßnahmen“ – eine U mschreibung für Repression – „habe doch nichts bew irkt. H ier habe m an den Mom ent 217 V gl. Protokoll der Beratung des Leiters der HA XXII am 4.10.1989; BStU, HA XXII 884, o. Pag. 218 Vgl. Befehl Nr. 14/89 des Ministers für Staatssicherheit vom 1.9.1989, S. 7. 219 „1. Tagesbericht“ des ZOS zur „Wirksamkeit der Sicherungsmaßnahmen“ vom 7.10.1989; BStU, ZA, SED-KL 512, Bl. 328. 220 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 934. – Krenz hat gegenüber Gorbatschow berichtet, „ihm sei sogar vorgeworfen worden, diese Stimmung, insbesondere der Jugendlichen, organisiert zu haben“. Niederschrift des Gesprächs von Krenz mit Gorbatschow am 1.11.1989 in Moskau; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/329, Bl. 128–162, hier 161. Ebenso vermutet Heinz Keßler, daß Honecker dies für eine In trige gehalten hat, die Krenz gegen ihn eingefädelt habe. Unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt beleuchtet diese Vermutung die Atmosphäre im Politbüro. Keßler: Zur Sache und zur Person (1996), S. 267 f.

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verpaßt, rechtzeitig eine den Gegebenheiten entsprechende Konzeption zu entwickeln.“ 221 Daran fehlte es, das war dam it gewiß gemeint, auch in Ostberlin. Der eigentlich kritische Tag für die Feierlichkeiten war der 7. Oktober: Die Stadt w ar voll m it ausländischen G ästen und Journalisten 222; auf dem Alexanderplatz fand ein V olksfest m it schw er überschaubaren Menschenmengen statt. Dazu war der 7. jener Tag des Monats, an dem seit Juni traditionsgemäß durch eine Demonstration auf dem „Alex“ an die Fälschung der Kommunalwahlergebnisse erinnert wurde. Die Gegenseite: Um „Störungen“ zu verhindern, w aren knapp 2.000 V olkspolizisten und 700 M fS-Angehörige aufgeboten, 223 dazu der FDJ-Ordnungsdienst mit 1.500 Jünglingen und 2.000 „gesellschaftliche Kräfte“ (d. h. besonders zuverlässige Genossinnen und Genossen). 224 D as K ommando hatte – anders als in D resden – nicht die V olkspolizei, sondern der Minister für Staatssicherheit. 225 V on ihm erhielt der Präsident der Volkspolizei, Generalleutnant Friedhelm Rausch, seine Befehle und leitete sie an seine Untergebenen weiter. 226 Für die operative Leitung der „ Aktion ‚Jubiläum 40‘“ in Berlin waren drei „Sicherungsbereiche m it gem einsamen Führungspunkten des MfS und des MdI“ festgelegt worden. 227 D er A lexanderplatz lag im „ Sicherungsbereich II“, der von einem zentralen Führungspunkt aus gesteuert w urde, der Miel221 Abt. Internationale Beziehungen: „ 4. Information für das Politbüro des ZK der SED über die Teilnahme ausländischer Delegationen am 40. Jahrestag der DDR“, vom 8.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 7834, Bl. 73–80, hier 77 f. 222 Gegen einige westliche Journalisten war allerdings eine Einreisesperre verhängt worden; insgesamt 4.175 Personen wurden an den Grenzübergangsstellen nach Ostberlin zurückgewiesen; vgl. „2. Tagesbericht“ des ZOS zu den Sicherungsmaßnahmen vom 8.10.1989; BStU, ZA, SED-KL 512, Bl. 333–335. 223 Vgl. „Und diese verdammte Ohnmacht“. Report der Unabhängigen Untersuchungskommission zu den Ereignissen vom 7./8.Oktober 1989 in Berlin (künftig: Untersuchungskommission Berlin), Berlin 1991, S. 19 u. 131 f. 224 Protokoll der Beratung beim Leiter der HA XXII am 4.10.1989, 13.00 Uhr; BStU, ZA, HA XXII 884, o. Pag. 225 In dem von Honecker bestätigten Maßnahmeplan des M fS war festgelegt worden: „Der Minister für Staatssicherheit, der Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei und der Minister für Nationale Verteidi gung führen ihre Kräfte und Mittel zur Realisierung der im Plan der Maßnahmen gestellten Aufgaben in eigener Zuständigkeit. Die Koordinierung und Organisation des Zusammenwirkens der Kräfte und Mittel der Schutz- und Sicherheitsorgane obliegt dem Minister für Staatssicherheit.“ „ Plan der Maßnahmen“ vom 27.9.1989, Bl. 25 f. 226 Aussage von Rausch vor der Untersuchungskommission am 6. 12.1989, in: Unabhängige Untersuchungskommission Berlin (1991), S. 127. 227 „Plan der Maßnahmen“ vom 27.9.1989; Bl. 9. Karte der Sicherungsbereiche als Anhang; ebenda, Bl. 31. – Zusätzlich standen die Kampfgruppen mit vier Hundertschaften zur Grenzsicherung – ein Aspekt, auf den noch zurückzukommen sein wird – in Bereitschaft, wurden aber nicht eingesetzt. Vgl. die Aussage von Polizeipräsident Rausch in: Unabhängige Untersuchungskommission Berlin (1991), S. 140. – Zumindest eine Kampfgruppenhundertschaft, die am Grenzübergang Bornholmer Straße disloziert war, ist am Abend des 8.10. vorübergehend am Prenzlauer Berg zur Straßensperrung eingesetzt worden; vgl. „Bericht von Frank Geisler, Mitglied der Kampfgruppe“, in: Oktober 1989 (1989), S. 65– 68.

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kes Stellvertreter, Generalleutnant Schwanitz, unterstellt war. 228 Ihm war als Verbindungsoffizier zur Volkspolizei de ren Stabschef, Oberst Dietze, beigeordnet. 229 Schwanitz berichtete später, er habe am 7. Oktober ab 18.00 U hr „fast pausenlos“ in telefonischer Verbindung mit seinem Minister gestanden und dessen Weisungen entgegengenom men, zugleich aber versucht sie zu „modifizieren“. 230 Darauf wird noch zurückzukommen sein. Unterhalb der Ebene des stetig telefonierenden Mielke w ar die Organisation dieses Einsatzes disparat oder wie Polizeipräsident Rausch sagte: „ Jeder für sich“. 231 Die Einsatzleiter der Volkspolizei erhielten ihre Weisungen von Rausch; die K ompanien des M fS-Wachregiments von den Einsatzleitern der Volkspolizei; 232 alle anderen Diensteinheiten des MfS überwiegend von Schwanitz, 233 teils aber auch von Generaloberst Mittig, dem die „zentrale Einsatzreserve“, das „ FDJ-Bataillon“, unterstellt war. 234 Das Durcheinander wurde noch dadurch verstärkt, daß nur die V olkspolizei in Uniform agierte, während der Einsatz der M fS-Einheiten – m it Ausnahme des Wachregiments – „ grundsätzlich gedeckt“ , das heißt in Zivil, erfolgte. 235 Zudem waren die Befehlsstrukturen der MfS-Einheiten selbst für die Volkspolizei nicht durchschaubar. Oberst Griebel, Stellvertretender Polizeipräsident und Einsatzleiter Volkspolizei in der Schönhauser Allee, hat das anschaulich geschildert: „Ich erhalte m eine Befehle ausschließlich vom Präsidenten, [...] die zentrale Führungsgruppe ist für mich kein Befehlsorgan. [...] Ich weiß, daß in meinem Einsatzraum Kräfte in Zivil handelten, zu diesen Kräften hatte ich keine Verbindung, zu Einzelkräften ja, ich habe mehrfach die Frage nach dem Einsatzleiter gestellt, es ist m ir nicht gelunge n, einen Einsatzleiter draußen vor Ort zu bekommen. [...] So daß ich von vor nherein bei anderen handelnden Kräften davon ausgehen mußte, daß es si ch um Kräft e des M inisteriums für 228 In einer Stellungnahme für den neuernannt en Generalstaatsanwalt der DDR, Haarland, berichtete Schwanitz im Dezember 1989, er sei am 7.10. durch eine „ mündliche Weisung“ Mielkes in dieser Funktion eingesetzt worden; Anlage zum Schreiben von Generalstaatsanwalt Haarland an Schwanitz vom 18.12.1989; BStU, BF, IuD. Vgl. auch „ Information des Stabschefs der PdVP, Oberst Dietze“, o. D.; BStU, ZA, Mittig 95, Bl. 25; Unabhängige Untersuchungskommission Berlin (1991), S. 15 f. u. 206. 229 Unabhängige Untersuchungskommission Berlin (1991), S. 16 u. 62. 230 Aussage Schwanitz’ vom 31.1.1990; ebenda, S. 219. 231 Ebenda, S. 127 f. 232 So der Einsatzleiter in der Schönhauser Allee, Oberst Griebel; ebenda, S. 93 u. 96. 233 Laut Schwanitz waren alle eingesetzten MfS-Diensteinheiten mit Ausnahme der „ zentralen Einsatzreserve“ dem Chef der BVfS Berlin, Generalmajor Siegfried Hähnel, unterstellt, der sie wiederum den Leitern der drei Sicherungsbereiche „ ebenfalls unterstellt“ hatte; ebenda, S. 207. Hähnel hat sich vor der Untersuchungskommission zu diesem Punkt nicht geäußert. 234 Aussage Mittigs; ebenda, S. 208. 235 „Plan der Maßnahmen“ vom 27.9.1989, Bl. 27. BVfS-Chef Hähnel vor der Untersuchungskommission: „Meine Kräfte waren alles zivile Kräfte, die Regimentskräfte [des Wachregiments, die der Polizei unterstellt waren] waren uniformiert.“ Ebenda, S. 131.

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Staatssicherheit handelt [...]“ 236 Faktisch kam es vor allem bei Festnahmen dennoch zur Zusam menarbeit der verschiedenen Sicherheitskräfte, w obei die Hierarchie klar war: „ Es ist üblich, daß dann [vor O rt] der G enosse des Ministeriums für Staatssicherheit das Sagen hat.“ 237 N atürlich verm ischen sich in solchen Aussagen Flucht vor der Verantwortung und tatsächliches Kompetenzwirrwarr. Doch zuvor zum Ablauf dieser zw ei Tage: 238 Am 7. Oktober kam es bereits am Vorm ittag zu ersten Festnahm en beim Volksfest auf dem „Alex“. Kritisch wurde die Situation ab 16.00 Uhr, als sich im mer mehr Demonstranten, insgesamt etwa 3.000, versam melten, die schließlich etwa um 17.00 Uhr zu dem nur wenige hundert Meter entfernten Palast der Republik zogen, wo die „ Festveranstaltung“ stattfand und „ Gorbi“ zu erwarten war, nach dem vielfach gerufen w urde. Am Spreeufer, das diese Seite Ostberlins vom „Palast“ trennte, wurden die D emonstranten von starken Polizeikräften aufgehalten. Etwa um 18.30 U hr machte man kehrt und bew egte sich als Demonstrationszug wieder über den „Alex“ in Richtung Prenzlauer Berg. D ort versammelten sich schließlich etw a 5.000 Menschen rund um die G ethsemanekirche, die ab 22.00 Uhr von den Sicherheitskräften bedrängt, verprügelt, festgenommen wurden. Insgesam t kam es an diesem Tag zu 547 „Zuführungen“. 239 D ie Festgenom menen w urden auf Lastw agen verladen und zum Teil nach Um wegen über kleinere VP-Inspektionen in den Zentralen Zuführungspunkt Rummelsburg verbracht. Als Rummelsburg vollkommen überfüllt war, wurden sie in andere provisorische Zuführungspunkte gefahren, die mit einer Ausnahme 240 alle dem Ministerium des Innern unterstanden. In den meisten Zuführungspunkten wurden die Festgenom menen drangsaliert, viele geschlagen und alle gedem ütigt. 241 Am nächsten Tag, am Sonntag, dem 8. Oktober, konzentrierten sich die abendlichen A useinandersetzungen ganz auf die Straßen rings um die G ethsemanekirche am Prenzlauer Berg. D ie 236 Ebenda, S. 93 f. 237 Ebenda, S. 99 (Aussage Griebel). Ähnlich der Nachfolger von Rausch als Präsident der Volkspolizei, Generalmajor Bachmann, bei seiner Aussage im März 1990: „Ein Weisungsrecht eines Angehörigen des ehemaligen Mi nisteriums für Staatssicherheit gegenüber der Volkspolizei kenne ich nicht, aber es gab eine Art Gewohnheitsrecht.“ Ebenda, S. 227. 238 Diese Zusammenfassung stützt sich auf de n „Bericht der Arbeitsgruppe Rekonstruktion“ der Berliner Untersuchungskommission; ebenda, S. 15–25. 239 Ebenda, S. 19. In einem Schreiben des Präs identen der Volkspolizei, Rausch, an den Leiter der BVfS Berlin, Hähnel, vom 10.10. 1989 wird von 525 Zuführungen am 7.10. gesprochen; BStU, ASt Berlin, A 1199, Bl. 35–39, hier 38. 240 In der M fS-Zentrale in Berlin-Lichte nberg war ein provisorischer „ Zuführungspunkt“ eingerichtet worden, in den insgesamt 91 Personen verbracht w urden; Berliner Untersuchungskommission, S. 133 (Aussage von Hähnel am 6.12.1989). 241 Die schlimmsten Berichte beziehen sich auf den Zentralen Zuführungspunkt Rummelsburg, auf die VP-Kaserne Blankenburg und das Volkspolizeirevier in der Immanuelkirchstraße am Prenzlauer Berg. Gedächtnisprotoko lle von am 7. und 8. Oktober in Berlin geschlagenen und festgenommenen Demonstranten sind nachgedruckt in: Schnauze! Gedächtnisprotokolle 7. und 8. Oktober 1989 (1990), S. 19–132; einzelne Berichte auch in: Schüddekopf (Hrsg.): „ Wir sind das Volk“ (1990), S. 71–118; Oktober 1989 (1989), S. 47–64.

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Besucher einer Fürbitt-Andacht, zwisch en zwei- bis dreitausend Menschen, wurden von etw a zw eitausend Sicherheitskräften erw artet. D araus entwickelte sich eine spontane D emonstration, die ab 22.00 U hr brutal auseinandergeknüppelt wurde. Wieder wurden auch viele Unbeteiligte, über 500 Personen, festgenommen und in den „Zuführungspunkten“ mißhandelt. Erste Reaktionen Es war ein Einsatz der „Sicherheitskräfte“ von empörender Brutalität. Diese Geschehnisse w aren für die D DR-Verhältnisse der achtziger Jahre zumindest in Ostberlin ungewöhnlich (dort wurde die offene Gewalt an der Mauer praktiziert). Sie haben die Menschen aufgerüttelt. Stellvertretend für viele sei eine Betroffene zitiert, eine 40jährige Frau, die gem einsam m it ihrem 12jährigen Sohn festgenommen und stundenlang festgehalten w orden w ar. Beide wurden Zeugen übler Prügels zenen im Zuführungspunkt Rum melsburg. Die Frau schrieb noch am gleichen Tag einen Brief an die G ethsemanekirchgemeinde, der in den Worten gipfelte: „ Für mich gibt es nur noch den Wunsch, diesen Staat so schnell w ie möglich zu verlassen. Ich m öchte nicht eines Tages zusehen müssen, w ie einer m einer Söhne auf der Straße zusammengeprügelt wird.“ 242 Der Verband Bildender Künstler des Bezirks Berlin verfaßte eine Protestresolution, die am 9. Oktober in der Gethsemanekirche verlesen wurde: „Augenzeugenberichte von Kol legen und eigene Erl ebnisse haben bei uns Schrecken und Empörung ausgelöst über di e Wahllosigkeit und unverhohl ene Brutalität, m it der Polizei und Si cherheitskräfte während und nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR gegen unt erschiedlichste Tei le der Bevölkerung vorgegangen sind. Dieses unerwartete Vorgehen hat in unserer St adt unverkennbar zu einem Klima von Angst , Pani k und wei terem Vertrauensverlust geführt.“ 243

Mit dieser Resolution w urde nicht nur ein Sachverhalt, der in den DDRMedien auf skandalöse Weisung verfälscht w orden w ar, 244 öffentlich gemacht, sie ist auch ein Zeugnis für den Bew ußtseinswandel, den die Übergriffe der Sicherheitskräfte gerade bei Menschen auslösten, die sich diesem Staat durchaus zugehörig fühlten: D ie Form ulierung „unerwartetes Vorgehen“ zeigt an, daß man so etwas denn doch nicht für möglich gehalten hatte. Heinrich Fink, Theologe an der H umboldt-Universität und später seines Amtes als ihr Rektor wegen Stasi-Vorwürfen enthoben, 245 war am 7. Oktober 242 Brief vom 8.10.1989, Nachdruck in: Oktober 1989 (1989), S. 47 f. 243 In: Schüddekopf (Hrsg.): „Wir sind das Volk“ (1990), S. 121. 244 Vgl. „ Wie Zwischenfälle in der Hauptstadt inszeniert wurden“, in: Neues Deutschland 10.10.1989. 245 Vgl. Küpper: Die Humboldt-Universität (1993), S. 49–63; Pasternack: Ein abgeschlosse-

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vor der Gethsemanekirche verprügelt w orden. 246 Als Mitglied der Untersuchungskommission erklärte er: „ [...] ich kann sehr viele Jugendliche jetzt anders verstehen, die ich vorher im mer wieder versucht habe, vom Gegenteil zu überzeugen. Es gibt eine Traumatisierung, eine gesellschaftliche, eine politische Traumatisierung.“ 247 Legendenbildung vor der Berliner Untersuchungskommission Empört über die A usschreitung der Sicherheitskräfte hatten O stberliner Bürger, so die Berliner Initiativgr uppe des Dem okratischen Aufbruchs, 248 schon bald nach den Ereignissen die Einsetzung einer U nabhängigen Untersuchungskommission gefordert. U nterstützt von der evangelischen K irche und von den Bürgerrechtsorganisationen kam sie Ende O ktober tatsächlich zustande. 249 Parallel dazu hatte die Ostberliner Stadtverordnetenversam mlung zum gleichen Them a eine U ntersuchungskommission eingerichtet, obwohl Mielke noch versucht haben soll, den O berbürgermeister Krack dazu zu bringen, dieses V orhaben zu unterbinden. Die Stadtverordnetenkommission machte der U nabhängigen U ntersuchungskommission den V orschlag zusammenzuarbeiten. Anfänglich wurde dieses A ngebot aus naheliegenden Gründen mit großer Skepsis aufgenom men, aber schließlich aus einem einleuchtenden G rund akzeptiert: N ur m it U nterstützung durch die Autorität der Stadtverordnetenversammlung als einer staatlichen Institution war es möglich, die Befehlshaber dazu zu zw ingen, vor einer K ommission zu erscheinen. Bei dem V ersuch der K ommission zu begreifen, was geschehen war, standen zw ei A rgumentationsmuster im V ordergrund. Keiner der Befehlshaber konnte sich erinnern, ein gew altsames V orgehen angew iesen zu haben. Dazu Schwanitz: „Es gab keine O rientierung auf G ewalt, es gab auch keine Befehle, Weisungen zur Gewalt, und es w urde immer wieder auf G esetzlichkeit hingewiesen.“ 250 D a aber unleugbar geprügelt worden war, mußte eine Erklärung her. D er stellvertretende Minister für Staatssicherheit und Verantwortliche für den „ Sicherungsbereich I I“ interpretierte „ dieses brutale Vorgehen einiger Sicherungskr äfte“ als Ausdruck „angestauter Aggressionen“ und letztlich als Folge der jeweiligen „ Persönlichkeitsstruktur“. 251 Neben dieser individualpsychologischen „Erklärung“ war ein durchgängiges Argument vor der U ntersuchungskommission, daß angeblich ein ner Fall? (1997), dort weitere Literaturangaben. 246 Vgl. Ingmar Pettelkau: Die Arbeit der Untersuchungsorgane und der Gerichte, in: Berliner Untersuchungskommission, S. 217–274, hier 273. 247 In: ebenda, S. 232. 248 Vgl. das Schreiben von Ehrhart Neubert, Rudi Pahnke, Christiane Ziller, Rainer Eppelmann u. a. an Oberbürgermeister Krack vom 15.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 5377, Bl. 11 f. 249 Vgl. hierzu und zum folgenden: Berliner Untersuchungskommission, S. 9 f. 250 Ebenda, S. 213. 251 Ebenda.

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„Mauerdurchbruch“ angekündigt gewesen war, der bei allen Beteiligten zu erhöhter Nervosität geführt habe. 252 Die These von einem am 7. Oktober bevorstehenden G renzdurchbruch war zum ersten Mal am 3. Oktober von Mielke bei der Sitzung des MfSKollegiums vertreten worden: Das „Verhalten insbesondere der Ant ragsteller auf st ändige Ausrei se auf jüngste Vorgänge und Ent scheidungen 253 schließt wachsende Gefahren ein, durch Angriffe auf Staatsgrenze – evtl. auch in größeren Gruppen, si ehe bisher unbestätigten Hinweis aus Leipzig – ihr ‚Problem‘ zu lösen“. 254

Aus dem „bisher unbestätigten H inweis aus Leipzig“ waren in einer Leiterbesprechung der Hauptabteilung XXII zwei Tage später bereits „ Hinweise“ geworden, „daß eine größere Gruppe von DDR-Bürgern versuchen will, die Staatsgrenze nach WB [West-Berlin] gewaltsam zu durchbrechen“. 255 Den Berliner Kampfgruppen w urde bei ihrer A larmierung am 6. O ktober dann schon als feststehende Tatsache erzählt, es sei ein „ Grenzdurchbruch“ geplant. 256 In einer m inutiösen dokum entarischen Ü bersicht der Hauptabteilung VIII (Observation) zu jenen Tagen, in der noch der absurdeste anonyme A nruf in irgendw elchen Provinznestern verzeichnet wurde, 257 findet sich dafür jedoch kein Beleg. Zu dem Zug der D emonstranten vom „Alex“ zum „Palast der Republik“ aber heißt es: „7. Oktober B erlin, 16.00 Uhr, Al exanderplatz. Zirka 1.000 Personen versuchten, ausgehend vom Alexanderplatz in Richtung Brandenburger Tor zu marschieren, um einen gewaltsamen Grenzdurchbruch zu provozieren.“ 258

Tatsächlich liegt das Brandenburger Tor, jenseits der Spree, in gleicher Richtung wie der „Palast“. Aus der gleichen H immelsrichtung wurde so eine Intention der Demonstranten konstruiert, obwohl es dafür sonst nicht den geringsten Hinweis gab. 259 Zum Teil handelte es sich bei der These vom geplanten „Grenzdurch252 Vgl. ebenda, S. 72 (BVfS-Chef Hähnel), 90 (VP-Oberst Griebel), 188 (Innenminister Dickel), 200 (Ex-Minister Mielke), 206 (Generaloberst Mittig). 253 Gemeint ist damit wohl die Schließung der Grenze zur SSR am gleichen Tag. 254 „Hinweise“ für die Kollegiumssitzung am 3.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 8680, Bl. 20. 255 Protokoll der Besprechung des Leiters der HA XXII am 5.10.1989; BStU, ZA, HA XXII 884, o. Pag. 256 „Bericht von Frank Geisler, Mitglied der Kampfgruppe“, in: Oktober 1989, S. 65. 257 „3. Oktober 1989 16.10 Uhr Flohe. Anonymer Anruf im Sekretariat Abteilung Inneres des Rates des Kreises: ‚Sie werden bald gehängt.‘“ „ Dokumentation 30. September bis 8. Oktober“ der HA VIII; BStU, ZA, HA VIII 1616, Bl. 65–193, hier 72. 258 Ebenda, Bl. 92. 259 Vgl. den Augenzeugenbericht von Matthias Geis u. Petra Bornhöft: „Jubelfeier im ‚volkspolizeilichen Handlungsraum‘“, in: die tageszeitung 9.10.1989, Nachdruck in: tazJournal (1989), S. 34 f.

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bruch“ um eine Lüge im Dienste psychologischer Aufrüstung. Aber die Sache hatte noch einen tieferen Sinn, den ein Korrespondent der FAZ erfaßt (und damit vorhandene Ängste vielleicht noch verstärkt) hat, als er am 6. Oktober in einem Artikel rhetorisch fragte: „In Dresden haben Zigtausende ‚nur‘ den Bahnhof bestürmt. Was w äre, wenn sich eine ähnlich große Menge auf das Brandenburger Tor zubew egte?“ 260 Das war eine beunruhigende Frage. Es ist anzunehmen, daß sie die Machthaber umgetrieben hat und ein wesentliches Motiv für den Versuch war, Demonstrationen im Keim zu ersticken. 261 Der Ostberliner Polizeipräsident Rausch hat w enige Tage nach den A usschreitungen seiner „Ordnungskräfte“ im internen Kreis erklärt: „Wir kannten genau, was in Dresden passiert war, wir haben Leipzig verfolgt“. 262 Von unmittelbar Betroffenen und ebenso in der Untersuchungskom mission ist immer w ieder die V ermutung geäußert w orden, Mitarbeiter der Staatssicherheit hätten als Agents provocateurs zur gewaltsam en Eskalation wesentlich beigetragen. Häufig werden in diesem Zusammenhang die „AntiTerror-Einheiten des MfS“ genannt, die durch besondere Brutalität aufgefallen seien. D ie Kommission mutmaßte, sie seien Mielke m öglicherweise direkt unterstellt gewesen. 263 Es wird sich dabei um Angehörige der Hauptabteilung X XII, im M fS für Terrorabwehr zuständig, gehandelt haben. 264 Unstrittig ist, daß sie am 7. und 8. Oktober in Berlin eingesetzt waren. 265 Die H auptabteilung hatte einen eigenen „ Bereich K ampfkräfte“, der über 260 Frankfurter Allgemeine Zeitung 6.10.1989, zitiert nach Auszug in „ Dokumentation 30. September bis 8. Oktober“ der HA VIII, Bl. 89. 261 Innenminister Dickel zum Beispiel hat auch intern diese These vertreten. Auf einer Dienstbesprechung eineinhalb Wochen später sagte er: „ Wer hätte denn die Verantwortung übernommen, wenn [am 7.10. in Berlin] die aufgeputschte Menge, die schon an den Brücken war, die wir gesperrt hatten, vor dem Palast gewesen wäre oder das Brandenburger Tor gestürmt hätte.“ Schlußwort d es M inisters d es I nnern b ei d er D ienstbesprechung mit den Chefs der BDVP am 21.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 8637, Bl. 41–55, hier 45. 262 Redebeitrag bei der Dienstbesprechung des Ministers des Innern mit den Chefs der BDVP am 21.10.1989; ebenda, Bl. 73. 263 Berliner Untersuchungskommission, S. 18. 264 Ebenfalls im Einsatz war die HA VIII (Observation), in der im Juli 1989 zur Verhinderung „ von feindlich-negativen, besonders öffentlichkeitswirksamen Handlungen in der Hauptstadt der DDR, Berlin“ eine „ Soforteinsatzgruppe operative Beobachtung“ gebildet worden war, zu deren Einsatzgrundsätzen gehörte: „Wenn es während des Einsatzes unumgänglich ist, werden die eingesetzten Kr äfte bei Sicherung der Konspiration bemüht sein, öffentlichkeitswirksamen Provokationen wirksam zu begegnen und im Ausnahmefall auch Zuführungen bzw. Festnahmen durch führen. [...] Die Sofo rtbeobachtungskräfte sind in der Lage, selbständig oder im koordi nierten Einsatz mit Kräften der auftraggebenden oder spezifischen Kräften anderer Diensteinheiten, z. B. Kampfkräften der HA XXII, zu handeln.“ Schreiben des Ministers an die Leiter der Diensteinheiten vom 5.7.1989, VVS Nr. 50/89; BStU, ZA, HA IX 1003, Bl. 95–97. Der Einsatz der HA VIII war in dem Befehl Nr. 14/89 vom 1.9.1989 (S. 7) angewiesen worden. 265 Vgl. „ Maßnahmeplan“ des Leiters der HA XXII „zur politischen-operativen Sicherung der Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltungen zum 40. Jahrestag“ vom 25.9.1989; BStU, ZA, HA XXII 17771, Bl. 2–13. Nicht auffindbar war bisher der eigene Maßnahmeplan für den „ Bereich Kampfkräfte“, der mit diesem Maßnahmeplan angefordert wurde. – Vor der Untersuchungskommission hat Schwanitz ausgesagt, daß von der HA XXII „80 Kräfte im Einsatz waren“. In: Berliner Untersuchungskommission, S. 210.

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acht Einsatzkommandos mit je 27 M fS-Offizieren verfügte. 266 Der für d iesen Bereich zuständige stellvertretende Leiter der Hauptabteilung, Oberstleutnant Bützow, gab am 4. Oktober als H andlungsdevise für den Einsatz bei den bevorstehenden „Volksfesten“ aus: „Absicherung bildet besonderen Schwerpunkt, da gute Aktionsmöglichkeiten für pol[itischen] Untergrund; auf Sa mmlungsabsichten unverzüglich reagieren, es darf nicht zu öffentlichkeits wirksamen Dem onstrativhandlungen k ommen; [...] Staatsautorität m uß energi sch durchgesetzt werden, aber keine übertriebenen und unüberl egten R eaktionen; VP-Geset z vol l ausschöpfen und Zusammenrottungen auf keinen Fall zulassen.“ 267

Die Warnung vor „übertriebenen Reaktionen“ war mehr als berechtigt, wurden doch im Nahkampf geschulte Paramilitärs auf friedliche Demonstranten losgelassen. Genauere Einsatzrichtlinien sind nicht überliefert, aber es ist sehr w ahrscheinlich, daß die „ Tschekisten“ von der Hauptabteilung XXII als Skinheads verkleidet losgezogen sind, m it dem Schlagstock in der Lederjacke. 268 Wer gab ihnen vor Ort den Befehl zuzuschlagen? Der Einsatzleiter der Volkspolizei bestritt, daß er es gewesen sei. Unterstellt waren sie in BerlinMitte dem Führungspunkt II unter Leitung von Generalleutnant Schwanitz. Doch Schwanitz wollte die Untersuchungskom mission glauben machen, er habe – wenn er nicht gerade mit Mielke telefonierte – eigentlich nur die Rolle eines Beobachters gespielt: „ Wir hatten ja als ehem aliges Ministerium für Staatssicherheit nur sehr eingeschränkte Funkverbindung zu einigen Beobachtungskräften. Zu den Einsatzkräften hatten w ir keine V erbindung [...]“ 269 Ein Teil der Einsatzkräfte vor Ort wurde durch Oberstleutnant Gerald Rabis kommandiert, Leiter von vier Einsatzkommandos der Hauptabtei266 Vgl. Wunschik: Die Hauptabteilung XXII (1995), S. 24 f. 267 Protokoll der Beratung des Leiters de r HA XXII am 4.10.1989; BStU, HA XXII 884, o. Pag. 268 Über „ Skinheads“, die die Volkspoliziste n provozierten und wenn es ernst wurde die Klappausweise des MfS aus der Tasche zogen, haben verschiedene Augenzeugen berichtet. Daß es sich dabei um hauptamtliche Mitarbeiter der HA XXII handelte, ist auch deshalb wahrscheinlich, weil sie auch auf den verdeckten Einsatz gegen Fußballrowdies und Rechtsextremisten spezialisiert w aren. D azu gehörte natürlich ein entsprechendes „ outfit“. – Zum Ausbildungsprogramm dieser Einheit gehörte die „ Auflösung von rowdyhaften Zusammenrottungen“, wobei geübt wurde: „Eindringen, Abdrängen, Aufspalten, Zurückdrängen von Einzelpersonen/Gruppen; Vordringen zu Rädelsführern und deren Isolierung; Ergreifung/Zuführung mit Mitteln des unmittelbaren Zwanges; Transport und Eskortierung zum Sammelpunkt“; „ Ausbildungsprogramm zur militärisch-spezifischen Grundausbildung neueingestellter/zuversetzter Angehöriger der AGM/S“ vom Juli 1987 (die AGM/S wurde Anfang 1989 in die HA XXII eingegliedert); BStU, ZA, Neiber 320, Bl. 33–117, hier 76. Der Einsatz dieser „spezifischen Kräfte“ bei Fußballspielen wird etwa belegt durch die „Jahresanalyse 1986“ des Leiters der AGM/S, Generalmajor Stöcker, vom 15.12.1986, in der eine ganze Reihe solcher Sicherungseinsätze bei Spielen des BFC Dynamo aufgelistet wird; BStU, ZA, Neiber 280, Bl. 57–111, hier 104. 269 Aussage am 30.1.1990, in: Berliner Untersuchungskommission, S. 218.

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lung XXII. Rabis hat einige Wochen später, als sich die Staatssicherheit bereits im Zerfall befand, auf einer Parteiversammlung seiner Abteilung Klage geführt: „Unverständlich ist für mich als Genosse, M itarbeiter und Lei ter im Amt für Nationale Si cherheit, daß der Unt ersuchungsausschuß des M agistrats zur Aufklärung der Vorgänge am 07. und 08. Okt ober so massiv in seiner Arbeit behindert wird. 270 Wie meine ich das? [...] Warum wird die noch immer anonyme zentrale Koordinierungsgruppe 271, die ohne exakte Kenntnisse der Lage operative Einsatzbefehle erließ, nicht benannt. Nach meinem Erkenntnisstand und der erhal tenen Einsatzbefehle war der Leiter dieser Koordinierungsgruppe bzw. der Leiter des Einsatzes in Berlin im Auftrag des ehemaligen Ministers für Staatssicherheit Generalleutnant Schwanitz. [...] Ja, ich habe ei nen Befehl des Genossen Schwanitz am 08.10 über Funk m it folgendem sinnlichen Inhalt ‚An al le ›Merkure‹ (das si nd wir). Handeln Sie konsequent und entschlossen und lösen si e di e Ansam mlung auf‘ ni cht an meine eingesetzten Kräfte weitergegeben, da eindeutig war, daß di e Führung nicht in der Lage lebte.“ 272

Dieser Beitrag enthält m ehrere interessante Inform ationen: Die wichtigste ist, daß Schwanitz entgegen seiner eigenen Aussage Funkverbindung zu den MfS-Einsatzleitern vor O rt hatte. D ie A ufforderung zur Gewaltanwendung muß nicht direkt erfolgt sein, sondern w ar bereits in dem Befehl enthalten, „konsequent und entschlossen“ zu handeln. Wenn sich das auf die „ Auflösung“ einer Versammlung von mehreren tausend Menschen bezieht, die gar keine Möglichkeit hatten, sich zu entfernen, w ar gewaltsame Eskalation vorprogrammiert. Wie Innenminister Dickel sagte: „[...] der Schlagstock gehört zur Ausrüstung [...] Und der kann angewandt werden, entsprechend der operativen Lage der Einschätzung des jeweiligen Einsatzleiters.“ 273 Sicherlich hat Schwanitz dabei weitergegeben, was Mielke ihm immer wieder eingetrichtert hat, nämlich „jegliche Demonstrationen im Zusammenwirken mit den Einsatzkräften der Volkspolizei offensiv aufzulösen“ . 274 Ähnliches hat Dickel für seinen Verantwortungsbereich angewiesen. 275 270 Gemeint ist damit die Berliner Untersuchungskommission. 271 Damit ist der zentrale Führungspunkt des Sicherungsbereichs II im „ Haus des Lehrers“ gemeint, den der Chef der BVfS Berlin, Hähnel, wohl um Schwanitz zu decken, in seiner Aussage am 15.11.1989 mit keinem Wort erwähnt hatte; vgl. Berliner Untersuchungskommission, Bl. 71–76. 272 Diskussionsbeitrag von G. Rabis auf de r Parteiversammlung in der HA XXII am 30.11.1989; BStU, ZA, HA XXII 1733/23, Bl. 17–20; Einfügung zu „ Merkure“ nach Tonbandabschrift seines Beitrags; ebenda, Bl. 13. 273 Aussage am 24.1.1990, in: Berliner Untersuchungskommission, S. 186. 274 Schreiben von Schwanitz an Generalstaatsanwalt Haarland vom Dezember 1989, S. 5. Schwanitz bezog sich an dieser Stelle au f eine mündliche Weisung Mielkes vom Vormittag des 8.10.1989. 275 Er befahl den Chefs der Bezirksdirektione n der VP, „durch konsequentes und rechtzeiti-

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Die Mißhandlung festgenom mener Dem onstranten und unbeteiligter Bürger in verschiedenen „Zuführungspunkten“ und der U mstand, daß viele Personen über die gesetzlich erlaubten 24 Stunden hinaus festgehalten w urden, sind eindeutig belegt. Den Befehl, sie länger, nämlich bis zum Ende der Jubiläumsfeierlichkeiten, festzuhalten, hat Minister Mielke erteilt. 276 Dieser Befehl w ar allerdings nicht absolut zw ingend. Es gab einzelne couragierte Staatsanwälte, die sich dem erfolgreich widersetzten. 277 Die Mißhandlungen und Demütigungen geschahen im Verantwortungsbereich des Ministeriums des Innern, aber m it K enntnis der dort eingesetzten M fS-Offiziere. 278 Ein zentraler Befehl dazu w ar in Berlin nicht auffindbar und ist auch von keinem der einschlägig angeklagten V olkspolizisten zu seiner Entlastung vorgebracht worden. 279 Was tatsächlich abgelaufen ist, wird bei einem Blick nach Sachsen besser verständlich. Auch in Dresden waren, wie bereits dargestellt, festgenommene Demonstranten in den Tagen zuvor m ißhandelt worden. Als die öffentliche Kritik an diesem Polizeieinsatz lauter wurde und selbst die Staatsanwaltschaft die Einleitung von Erm ittlungsverfahren gegen Volkspolizisten ankündigte, 280 berichtete die Staatssicherheit über D iskussionen in den anderen Sicherheitsorganen: In der Bezirksverw altung der Volkspolizei gab man sich „äußerst erbost“; die A ngehörigen der 8. Volkspolizeibereitschaft klagten, man mache sie nun zu „ Prügelknaben“; die Leitung der Strafvollzugseinrichtung I in Bautzen w ar „ empört“. D ie O ffiziersschüler der Ausbildungsstätte für Strafvollzug in Radebeul aber, die sich im „Zentralen Zuges Einschreiten ein geschlossenes Auftreten der feindlich-negativen Kräfte zu verhindern bzw. konsequent zu beseitigen. “ Fernschreiben des Ministers des Innern, Armeegeneral Dickel, an die Chefs der Bezirksv erwaltungen der Volkspolizei vom 8.10.1989; BStU, ZA, Neiber 224, Bl. 96. 276 Bereits in dem „ Plan der Maßnahmen“ vom 27. 9.1989 war ohne zeitliche Befristung angewiesen worden, daß „ Personen, die wegen feindlich-negativer Handlungen im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltungen anläßlich des 40. Jahrestages durch das M fS bzw. andere Schutz- und Sicherheitsorgane zugeführt bzw. festgenommen wurden, nur nach Abstimmung mit dem zentralen Untersuchungsorgan des M fS“ zu entlassen sind. Ebenda, Bl. 17. Schwanitz berichtete, am 8. Oktober habe Mielke dem Leiter der Hauptabteilung IX (Unt ersuchung), Generalmajor Rolf Fister, die Weisung erteilt, „daß zugeführte Personen nicht vor Beendigung der Volksfeste zu entlassen sind“. Fister habe dagegen unter Verweis auf die Gesetzeslage vergeblich protestiert. Vgl. Schreiben von Schwanitz an Generalstaatsanwalt Haarland, S. 16. 277 Vgl. Berliner Untersuchungskommission, S. 235–238. 278 Der Verbindungsoffizier des M fS im Zent ralen Zuführungspunkt Rummelsburg (ZZFP) hatte zwar registriert, daß die Räumlichkeiten völlig überfüllt waren und Festgenommene deshalb vier bis sechs Stunden auf Lastwagen bzw. im Freien warten mußten, sonst aber war ihm angeblich nichts aufgefallen. Er beendete seinen Bericht mit den Worten: „Übergriffe bzw. Gesetzesverletzungen von Angehörigen der DVP gegenüber Zugeführten im ZZFP Rummelsburg sind dem Unterzeichner nicht bekannt geworden.“ Bericht der HA IX vom 25.10.1989 „ über die Situation am 7./8.10.1989 im Zentralen Zuführungspunkt Rummelsburg des PdVP Berlin in Rummelsburg“; BStU, HA IX, Bdl. 354, o. Pag., 5 S. 279 Vgl. die Prozeßberichte, in: Berliner Untersuchungskommission, S. 265–270. 280 I nterview mit dem Bezirksstaatsanwalt Lindner, in: Sächsische Zeitung vom 20./21.10.1989.

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führungspunkt“ durch besondere Brutalität hervorgetan hatten, 281 reagierten anders: „Viele Genossen fragen sich jetzt, warum die Einweisung der Kräfte so erfolgte, wenn jetzt Fragen dazu gestellt werden.“ 282 Diese Ignoranz war eine direkte Folge der Einstellung ihrer Vorgesetzten. Die internen V orgänge in D resden sind quellenm äßig besser belegt als jene in Berlin. H ier gab es nicht einm al den Anschein einer Rechtfertigung für brutales Vorgehen der Sicherheitskräfte durch Ausschreitungen von einzelnen Demonstranten. Die Sicherheitskräfte haben sich auf der Straße und in den „ Zuführungspunkten“ dennoch ganz ähnlich verhalten wie ihre Dresdner Genossen. Wahrscheinlich war ihr Verhalten das Ergebnis m ehrerer Faktoren. Bei der Motivierung der Sicherheitskräfte dienten in Berlin als funktionaler Ersatz für tatsächliche A usschreitungen Gerüchte: Neben dem bereits erwähnten von einem drohenden gewaltsamen Mauerdurchbruch gab es ein Gerücht undefinierbaren Ursprungs, am „Alex“ wollten Demonstranten Polizisten lynchen. 283 So wurde ein Feindbild geschaffen, das die soziale Distanz zu den D elinquenten drastisch erhöhte und H emmungen bei der Anwendung von Gewalt verringerte. Innenminister Dickel bezeichnete am 8. Oktober die D emonstrationen in einem Tagesbefehl generell als „Zusammenrottungen“ von „feindlich negativen K räften“, „Rowdys“, „Asozialen“ und „ Vorbestraften“. 284 Ein Dresdner Volkspolizist hat diesen Mechanismus unfreiwillig kenntlich gemacht. Er behauptete in einem Bericht zuerst, niemand sei geschlagen w orden, der den Anordnungen seiner Kollegen im „Zuführungspunkt“ Folge geleistet habe. Dann fügte er hinzu: „ Härter angefaßt w urden allerdings solche Personen, die m it dem V ermerk auf der Zuführungskarte ankam en wie: Gewaltanwendung gegen Sicherheitsorgane; Aussprechen von Morddrohungen; Steine-Werfer; V erbrennen von Fahnen; Rädelsführer, Aufwiegler.“ 285 Hier gab es offenbar keine Hemmschwelle zur Anwendung von Gewalt mehr. Ein weiterer Faktor in D resden wie in Berlin w ar Überforderung als Ergebnis m iserabler organisatorischer V orbereitungen in einer Situation, die 281 Vgl. „ Einschätzung“ der Abt. VII der BV fS Dresden vom 12.10.1989, S. 442; Bericht des Kommandeurs der VP-Bereitschaft Dresden vom 13.10.1989, S. 448. 282 Bericht der Abt. VII der BVfS Dresden vom 25.10.1989 „über die Aufgabenerfüllung der VP-Angehörigen“ und „ über erste Reakti onen im Zusammenhang mit Presseveröffentlichungen“, Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4337, Anlage Arnold, S. 512–517. 283 Vgl. Christoph Hein in: Berliner Untersuchungskommission, S. 100. – In Dresden rechtfertigte sich ein V olkspolizist, der mehrfach gegen Festgenommene tätlich gew orden war, damit, daß „auf den uns mit übergebenen Zuführungskarten Angaben über begangene Straftaten wie Äußerungen ‚Wir wollen ei ne grüne Leiche sehen‘“ gestanden haben. Bericht der BVfS Dresden vom 25.10.1989 „über die Aufgabenerfüllung der VPAngehörigen im Zentralen Zuführungspunkt“, S. 515. 284 Fernschreiben des Ministers des Innern vom 8.10.1989; BStU, ZA, Neiber 224, Bl. 96. 285 Bericht des Kommandeurs der Volkspolizei-Bereitschaft Dresden, Oberstleutnant Schmidt, vom 13.10.1989 über „Ablauf im Zentralen Zuführungspunkt (ZZP)“, Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 448 f.

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bisherige Erfahrungen sprengte. 286 Es entstand das Em pfinden, in einem durch die außerordentlichen Bedingungen einer angeblichen „ konterrevolutionären“ Bedrohung 287 fast regellos gew ordenen Raum zu agieren, deren Beschwörung zugleich die zuvor gew iß schmerzlich empfundene O rientierungslosigkeit auflöste. Hinzu kam das primitive Gefühl, mit offenkundiger Zustimmung der eigenen O brigkeit – der anw esenden M fS-Offiziere, Kriminalbeamten, Staatsanwälte und Reviervorsteher – an Wehrlosen sein Mütchen kühlen zu können. 288 Und schließlich spielte wohl auch die Frustration über das zwar noch nicht begriffene, aber doch geahnte Ende der alten Ordnung eine Rolle. Aus der Sicht des Regim es war der 7. Oktober nicht w ie erwünscht verlaufen. Bei dem Em pfang im „ Palast der Republik“ war es zu „ einer zeitweiligen negativen Personenkonzentration an den Grenzen des Handlungsraums“ gekom men, 289 zu deutsch: D emonstranten w aren in Sichtw eite der Staatsgäste geraten. Dann war die Abfahrt der Gäste verzögert worden, weil die „Protokollstrecke“ blockiert w ar. 290 Auch in anderen Städten w aren die „Volksfeste“ zum 40. Jahrestag von Demonstrationen begleitet gewesen, die von der Polizei auseinandergejagt wurden. 291 Mielke soll bei einer Beratung am nächsten Morgen getobt haben. Von der Versammlung am 8. Oktober existiert leider kein Protokoll, nur Berichte von Zeitzeugen; 292 schriftlich überliefert ist aber ein Befehl, den der Minister am gleichen Tag an die regionalen Stützpunkte der Staatssicherheit ge286 „Also Zuführungen in einem Umfang von 500 bis 700 in wenigen Stunden hier [in Ostberlin] hat es noch nicht gegeben. Das hat vi ele Konsequenzen, aber wir waren organisatorisch einfach nicht in der Lage, kurzfristig dieses Problem zu beherrschen. Und ich sage auch ehrlich, das mußte uns nicht so passieren.“ Redebeitrag des Ostberliner Polizeipräsidenten Rausch bei der Dienstbesprechung des Ministers des Innern mit den Chefs der BDVP am 21.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 8637, Bl. 57–65, hier 75. 287 In den schriftlichen Befehlen der Sicherheitskräfte ist zwar, anders als auf der Parteischiene, das Wörtchen „ konterrevolutionär“ vermieden worden, in den mündlichen Anweisungen aber ist es nach verschiedenen Berichten von Zeitzeugen verwendet worden. Vgl. Hendrik Karpinski: Den M enschen i n di e Augen s ehen ..., i n: Ber liner Unt ersuchungskommission, S. 252–257. 288 Vgl. dazu ausführlicher Hans-Dieter Sch midt: Zur psychologischen Tiefenstruktur der Ereignisse, in: ebenda, S. 279–284. 289 2. Tagesbericht des ZOS vom 8.10.1989; BStU, ZA, SED-KL 512, Bl. 333–335. 290 So die Aussage von Dickel am 24.1.1990, in: Berliner Untersuchungskommission, S. 177. 291 In Leipzig (4.000 Teilnehmer), Plauen (3. 000), Karl-Marx-Stadt (1 .500), Arnstadt (300), Potsdam (200), Ilmenau (200) und Magdeburg (150) wurde demonstriert; kleinere Aktionen bzw. Demonstrationen mit weniger als 100 Teilnehmern fanden statt in Halle, Dippoldiswalde, Markneukirchen, Prenzlau und Ro stock; vgl. 2. Tagesbericht des ZOS vom 8.10.1989. – Sehr viel höhere Zahlen – für Leipzig 10.000 und für Dresden 30.000 Teilnehmer – werden genannt in einer Übersicht in: Neues Forum Leipzig: Jetzt oder nie – Demokratie (1989), S. 306. 292 Teilgenommen haben u. a. Minister Mielke , seine Stellvertreter Mittig und Schwanitz und weitere hohe MfS-Offiziere, Innenminister Dickel und dessen Stabschef Wagner, der Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen Herger, die Politbüromitglieder Krenz und Schabowski; vgl. die Aussage von Schwanitz in: Unabhängige Untersuchungskommission Berlin (1991), S. 217; Aussage von Krenz in: ebenda, S. 149; Schabowski: Politbüro (1990), S. 78–80.

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schickt hat. 293 In dieser „ Weisung“ fordert der Minister von allen Diensteinheiten „ volle Dienstbereitschaft“. 294 D ie hatte im Rahm en der „ Aktion ‚Jubiläum 40‘“ freilich schon vorher für die meisten Diensteinheiten bestanden. 295 Waffenträger hätten ihre Dienstwaffe „entsprechend den gegebenen Erfordernissen ständig bei sich zu führen“. Es gelte, „ Reservekräfte bereitzuhalten, deren kurzfristiger Einsatz auch zu offensiven Maßnahm en zur Unterbindung und A uflösung von Zusam menrottungen zu gew ährleisten ist“. 296 Mehr noch: „Unter dem Gesi chtspunkt der Verschärfung der Lageentwicklung sind die bereits angewiesenen Maßnahmen zur Einschätzung und Neubewertung von OV [Operat iven Vorgängen] , OPK [Operativen Personenkont rollen] und operativen Ausgangsm aterialien unverz üglich weiterzuführen. [...] Es sind geeignete Maßnahmen festzulegen, um erforderlichenfalls kurzfristig die Zuführung bzw. Festnahme solcher Personen zu realisieren.“

Das war die V orbereitung auf eine größere V erhaftungswelle, wie es sie in den siebziger und achtziger Jahren nie gegeben hatte. D en A uslöser dafür bildete ein Telegramm Honeckers an die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen, über das Mielke zuvor die Chefs der MfS-Bezirksverwaltungen informiert hatte. 297 Honecker hatte erklärt, es sei am Vortag „ in Berlin, Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Halle, Erfurt und Potsdam zu Demonstrationen“ gekommen, „ die gegen die verfassungsm äßigen G rundlagen unseres sozialistischen Staates gerichtet waren“ . 298 Da m it „ weiteren Krawallen“ zu rechnen sei, sollten sofort die Bezirkseinsatzleitungen zusammengerufen werden, in denen neben den regionalen Spitzen der SED die Leiter von V olkspolizei und Wehrbezirkskom mandos vertreten waren, um „Maßnahmen“ festzulegen, wie sie „ von vornherein zu unterbinden“ seien. 299 293 Laut Schwanitz hat er bei dieser Berat ung inhaltlich die gleichen Weisungen erteilt, die sich in dem Telegramm an die Diensteinhe iten finden; vgl. Schreiben von Schwanitz an den Generalstaatsanwalt vom Dezember 1989, S. 5. 294 „Volle Dienstbereitschaft“ bedeutete, daß alle M fS-Angehörigen, f alls s ie n icht b ereits a n ihrem Einsatzort waren, sich nur so weit vom Dienstort entfernen durften, daß sie binnen 90 Minuten ihren Dienst aufnehmen konnten. Anweisung Nr. 1/89 des Ministers, Auszug in: Schreiben der SED-Kreisleitung im MfS vom 29.3.1989; BStU, ZA, SED-KL 594, Bl. 1333. 295 Vgl. Befehl des Ministers Nr. 14/89 vom 1.9.1989, S. 3. 296 Telegramm des Ministers an die Leiter der Diensteinheiten vom 8.10.1989, VVS Nr. 71/89; BStU, ZA, DSt 103625; Nachdruck in Auerbach: Tag X (1995), S. 135–138. 297 Telegramm des Ministers an die Leiter der BVfS vom 8. 10.1989 mit Anlage, VVS Nr. 70/89, 2 S.; BStU, ZA, DSt 103625. Die zeitliche Folge ergibt sich zum einen aus der früheren Verschlußsachennummer (VVS 70/89 bzw. 71/89), zum anderen daraus, daß dieses Fernschreiben mit den Worten endet: „Weitere Weisungen erfolgen.“ 298 Fernschreiben von Erich Honecker an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen der SED vom 8.10.1989, 11.00 Uhr; BStU, ZA, ZAIG 7388, Bl. 71. 299 Honecker hatte diese Anweisung nur mit seinem Namen unterzeichnet, nicht mit seiner Funktion als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates. Schon deshalb kann ausgeschlossen werden, daß – wie gelegentlich vermutet w urde – damit die Maschinerie der Mobilmachungs- und Vorbeugemaßnahmen in Gang gesetzt werden sollte.

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Mit einer „ offensiven politisch-ideologischen Arbeit in allen Bereichen“ und A rtikeln „ über stattgefundene K rawalle in allen Bezirkszeitungen“ wollte der SED-Chef Stimmung gegen die Bürgerbewegung machen und die eigene Anhängerschaft mobilisieren. Die von Mielke angew iesene V orbereitung auf die Erstellung von V erhaftungslisten ging – bei gleicher politischer Zwecksetzung – weit über den Honecker-Befehl hinaus: Honecker wo llte die Demonstranten von der Straße haben, Mielke vorbereitet sein, um sie schon im V orfeld festnehmen zu lassen. D ie logistischen V oraussetzungen dafür waren mit „Vorbeugeplanung“ und -vorbereitung vorhanden, m ußten allerdings aufgrund der enormen A usweitung des Personenkreises, bei dem „ feindlich-negative Handlungen und Aktivitäten zu erwarten bzw. nicht auszuschließen“ waren, 300 aktualisiert werden. Es handelte sich aber nicht um den Beginn einer Realisierung des „ Vorbeugekomplexes“, in dessen Rahm en als politisch unzuverlässig betrachtete Personen in Isolierungslager verbracht werden sollten. 301 Mielke hatte in seiner „Anweisung“ die entsprechenden Termini („ V-Komplex“ usw .) nicht verw endet und die andernfalls übliche Bezugnahme auf die einschlägigen „Direktiven“ und „ Durchführungsbestimmungen“ unterlassen. D ennoch wurde in verschiedenen Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit seine Weisung in diesem K ontext interpretiert und w eiterbearbeitet. 302 Dort bereitete man sich vor, falls ein Befehl zur Realisierung der „ Vorbeugemaßnahmen“ erteilt werden sollte. Es ging darum, w ie es in einem einschlägigen D okument aus der BV fS N eubrandenburg heißt, 300 Telegramm des Ministers an die Leiter der BVfS vom 8.10.1989. 301 Der Vorbeugekomplex war in drei Stadien gegliedert: Planung, Vorbereitung und Realisierung. Die „ Planung“ wurde schon seit Mitte der sechziger Jahre betrieben. Die „Vorbereitung“ umfaßte ganze Bündel von Maßnahmen, zu denen auch die Erarbeitung von Verhaftungslisten mittels eines ausgefeilten Kennziffernsystems gehörte. Die Ausarbeitung solcher schwarzen Listen hatte „ nach dem jeweils neuesten Stand [...] ständig zu erfolgen“. „Durchführungsbestimmung Nr. 1 von 1967 über die spezifisch-operative Mobilmachungsarbeit im Ministerium für Staatssicherheit und in den nachgeordneten Diensteinheiten zur Direktive Nr. 1/67 des Mi nisters für Staatssicherheit“; GKdos 4/67; BStU, ZA, DSt 400032, Bl. 14. Daran erinnerte Mielke mit seinem Befehl, wobei es in der konkreten Situation natürlich nicht nur um militärbürokratische Pflichterfüllung ging, sondern darum, der Veränderung der politischen Situation geheimpolizeilich Rechnung zu tragen, und um eine Maßnahme, die darauf zielte, für alle Eventualitäten bereit zu sein. Zu einer „Realisierung“, dem 3. Stadium, wären gesonderte Beschlüsse sowohl des Nationalen Verteidigungsrates wie des Ministers für Staatssicherheit notwendig gewesen, denn der V orbeugekomplex sollte nach den „ geltenden Direktiven erst in Spannungsperioden und im Verteidigungszustand in Kraft treten“; Auerbach: Tag X (1995), S. 120. 302 Nachweisbar ist das für Gera, Frankfurt (O der), Leipzig, Magdeburg und Rostock. Vgl. Schreiben des Leiters der BVfS Gera, Dangrieß, an die Leiter der Diensteinheiten vom 10.10.1989, Nachdruck in Auerbach: Tag X ( 1995), S. 138 f.; Schreiben des Leiters der BVfS Magdeburg, Müller, an die Leiter de r Diensteinheiten vom 8.10.1989, in: Pechmann u. Vogel (Hrsg.): Abgesang der Stasi (1991), S. 250–253; Schreiben des Leiters der BVfS Rostock, Mittag, an alle Kreisdie nststellen vom 9. 10.1989, Nachdruck in Ammer u. Memmler (Hrsg.): Staatssicherheit in Rostock (1991), S. 192 f.

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Listen von jenen Personen zu haben, „ die bei einer m öglichen Lagezuspitzung zuzuführen/festzunehm en sind“ . 303 D ie „ Lagezuspitzung“ ließ nicht lange auf sich warten, aber es kam trotzdem anders.

3.3 Beginn einer Palastrevolte Honecker hat nach seinem Sturz Klage geführt, es sei für ihn „eine schwere Enttäuschung“ gewesen, daß sich das „ Kollektiv“ Politbüro hinter seinem Rücken über seine Absetzung geeinigt habe. 304 Die Vorstellung, er hätte ein Recht, über einen „ Putsch“ 305 gegen seine Person vorab informiert zu werden, ist nicht nur m erkwürdig. Tatsächlich ist seine Entm achtung auf eine Art und Weise vorbereitet w orden, die einer Erfüllung dieses Wunsches nahekam. In den Mittagsstunden des 8. Oktober war Krenz nach der Sitzung mit den Spitzen des Sicherheitsapparates nach Wandlitz zurückgekehrt. Er hatte sich dann noch einm al auf den Weg gem acht – m an darf annehmen schweren Herzens. Persönlich wollte er seinem Chef den Text einer zaghaft formulierten, aber dennoch brisanten „ Erklärung“ überbringen, 306 die von Wolfgang Herger und zweien seiner Mitarbeiter entworfen worden war. 307 Dabei fürchtete Krenz offenbar, von Ehefrau Margot Honecker – es war schließlich Sonntag – nicht vorgelassen zu werden. Deshalb hatte er ein Begleitschreiben form uliert, das nur aus zwei Sätzen bestand: „Betreff: Vorschlag für eine Erklär ung des Politbüros des Zentralkom itees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Ich empfehle für die geplante Sitzung am Dienstag, meinen Vorschlag in Betracht zu ziehen. E. Krenz“ 308

303 Maßnahmeplan des Leiters der Abt. XVIII der BVfS Neubrandenburg vom 10.10.1989 „zur Umsetzung der VVS 71/89 des Ministers“; BStU, ASt Neubrandenburg, Abt. XVIII, SbA, Bd. I, S. 439 f., zitiert nach Niemann u. Süß: „ Gegen das Volk kann nichts mehr entschieden werden“ (1996), S. 25. 304 In: Andert u. Herzberg: Sturz (1990), S. 32. 305 Ebenda, S. 275. 306 Vgl. die Aussage von Krenz, in: Berliner Untersuchungskommission, S. 149. 307 Werner Hübner, NVA-General und Leiter des Sektors Militärpolitik in der Sicherheitsabteilung des ZK, berichtet, daß der Entwurf be reits am 5.10. fertig gewesen sei, doch Krenz gezögert habe und von Herger mehrfach aufgefordert worden sei, doch nun endlich aktiv zu werden; in: Gysi u. Falkner: Sturm aufs Große Haus (1990), S. 35 f. 308 Das Schreiben ist nicht auf dem Formular für „ Hausmitteilungen“ im ZK-Gebäude geschrieben, sondern trägt formlosen Charakter. Es enthält keine Anrede. Beides stützt Krenz’ Aussage, er habe das Schreiben persönlich in Wandlitz überbracht. B A B erlin, DY 30 IV, Büro Krenz, 2/2039/316, Bl. 1.

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Hinter diesem Vorgehen verbarg sich die H offnung, er könne den starrsinnigen Greis zum Umdenken bew egen. D aß er sich überhaupt zu einem so verwegenen Schritt aufgerafft hatte, dem Generalsekretär eine „ Empfehlung“ zu erteilen, einen „ Vorschlag in Betracht zu ziehen“ , war auf Druck von mehreren Seiten zurückzuführen. Die Demonstrationen der Vortage und die Reaktionen von Honecker und Mielke darauf machten unabweisbar, daß – w enn jetzt keine K urskorrektur vorgenom men w urde – die Entwicklung einer gewaltsamen Eskalation entgegentrieb. U nd dann hatte auch noch ein ausgesprochen peinliches Treffen mit Gorbatschow stattgefunden. Gorbatschows Warnung Das Treffen war Teil des Besuchsprogr amms für den Generalsekretär der KPdSU zum 40. Jahrestag gew esen. G orbatschow hatte zuerst stundenlang „unter vier A ugen“ 309 mit Honecker gesprochen, hatte sich sehr zurückhaltend geäußert 310 und nach eigenem Bekunden ein G efühl gehabt, „als ob er Erbsen an die Wand geworfen hätte“ 311. Dann traf er sich mit dem gesamten Politbüro. Auch hier deutete er D ifferenzen nur an. D as spießbürgerliche Weltbild der SED-Führung kritisierte er und m achte dam it zugleich deutlich, daß er den Wertew andel in der D DR besser begriffen hatte als seine Gesprächspartner: „Aber es erweist sich eben, daß vi el W urst und vi el B rot noch ni cht al les sind. Die Leute verlangen dann ei ne neue Atmosphäre, mehr Sauerstoff, einen neuen Atem, insbesondere für die sozialistische Ordnung.“ 312

Die Anspielung auf seinen berühmten Slogan „ Wir brauchen die D emokratie wie die Luft zum Atm en“ war überdeutlich, gerade weil das damalige ZK-Plenum der KPdSU in der D DR totgeschwiegen worden war. Honecker parierte mit Engels: „daß der Mensch erst etwas zum Essen, zum Anziehen, zum Wohnen braucht“. 313 Daß es daran seiner Meinung nach in der Sowjetunion m angelte, hatte er zuvor in dem Vier-Augen-Gespräch deutlich ge309 Es scheinen tatsächlich vier Personen gewesen zu sein: Honecker, Mittag, Gorbatschow und Falin; vgl. Falin: Politische Erinnerungen (1993), S. 486. 310 Vgl. Niederschrift über das Gespräch von E. Honecker mit M. Gorbatschow am 7.10.1989, mit handschriftlichen Korrekturen von Honecker; BA Berlin, DY 30 IV 2/2035/60, Bl. 243–255. 311 Niederschrift des Gesprächs von Krenz mit Gorbatschow am 1. 11.1989, Bl. 168. Gorbatschow bezog sich mit dieser Metapher auf das Treffen mit dem Politbüro, sie gilt aber gewiß auch – liest man deren Protokoll – für die vorherige Unterredung. 312 „Stenographische Niederschrift des Treffens der Genossen des Politbüros des ZK der SED mit dem Generalsekretär der KPdSU und Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR, Genossen Michail Sergejewitsch Gorb atschow, am Sonnabend, dem 7. Oktober 1989 in Berlin-Niederschönhausen“, 26 S.; BA Berlin, DY 30 J IV / 971, S. 8. 313 Ebenda, S. 15.

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macht. 314 Den historischen Materialism us interpretierte er auf dem Niveau eines K inderverses: „Vorwärts im mer, rückwärts nim mer!“ 315 Es sei dies „zwar eine V ereinfachung, aber es w ird vom Volk gut verstanden“. 316 Das zumindest war zutreffend – allerdings nicht im Sinne des penetranten Honeckerschen Paternalismus. Gorbatschow deutete vorsichtig die Notwendigkeit eines Kurswechsels an, er sprach davon, daß der nächste Parteitag der SED „eine Wende in der Entwicklung des Landes“ einleiten m üsse. 317 Und er m ahnte: „Mutige Zeiten erwarten Sie, m utige Beschlüsse sind erforderlich.“ 318 „ Wenn w ir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.“ 319 Selbst so diplom atisch verpackte A ndeutungen mußten noch dem letzten H ardliner klar m achen, daß mit sowjetischer Hilfe oder auch nur Wohlw ollen bei einer repressiven Verteidigung des Status quo auf keinen Fall gerechnet w erden konnte. Das war eine wichtige Information für die Entscheidungen der nächsten Tage. In den „ angespannten G esichtern der hohen SED -Funktionäre“ m einte Gorbatschow zu lesen, daß „ jeder für sich damit befaßt schien, eine Entscheidung zu treffen“ . 320 Aber keiner brachte den Mut auf, dem V ater der Perestroika beizupflichten und die Chance zu nutzen, um die Notwendigkeit einer Kurskorrektur in der DDR offen auszusprechen. 321 Immerhin hatte das frustrierende Gefühl, man habe versäum t zu sagen, w as zu sagen eine einmalige Gelegenheit gew esen w äre, anschließend den Effekt, daß sich das allgemeine Unbehagen zu kristallisieren begann. 322 Günter Schabowski berichtet: „Beim Verlassen des Saales haben Krenz und ich Blicke gewechselt. Wir w aren uns einig: Es geht nicht m ehr w eiter so. Einen konkreten Plan hatten wir noch immer nicht. Wir w ußten nur, H onecker muß weg.“ 323 Für 314 „Es sei unverständlich“, hatte Honecker gesagt, „ daß trotz großer Produktion Salz, Seife, Streichhölzer [von Honecker handschriftlich in das Protokoll eingefügt] , Mehl und ander es aus den Läden verschwunden sind.“ Niederschrift über das Gespräch von E. Honecker mit M. Gorbatschow am 7.10.1989, Bl. 252. 315 Stenographische Niederschrift des Treffens von Gorbatschow mit dem SED-Politbüro am 7.10.1989, S. 14. Mit dieser Sp ruchweisheit hatte er bereits bei der Festveranstaltung im Palast der Republik geglänzt und war dafür mit „ stürmischem Beifall“ belohnt worden. Honeckers Festrede in: Neues Deutschland 9.10.1989. 316 Ebenda. 317 Ebenda, S. 7. 318 Ebenda, S. 8. 319 Ebenda, S. 9. Aus diesem Satz wurde wenig später eine sprichwörtlich gewordene Sentenz, sie ist wahrscheinlich in der Politbüro-Sitzung am 10.–11.10.1989 geprägt worden. Gerhard Schürer hat in seinen Aufzeichnungen bei dieser Sitzung (oder auch – es handelt sich um einen undatierten Zettel – bei je ner am 17.10.1989) die Formulierung eines ungenannten Redners festgehalten: „ Wer zu spät kommt – den bestraft das Leben, sagte M. S. Gorbatschow.“ BA Berlin, DE 1-56321, Bl. 149. 320 Gorbatschow: Erinnerungen (1995), S. 935. 321 Vgl. die nichtssagenden Äußerungen von Hager u. a. in: Stenographische Niederschrift des Treffens von Gorbatschow mit dem SED-Politbüro am 7.10.1989, S. 22–26. 322 Vgl. Krenz in: Niederschrift des Gesprächs von Krenz mit Gorbatschow am 1.11.1989, Bl. 168; Schabowski: Politbüro (1990), S. 75 f. 323 Schabowski: Politbüro (1990), S. 75.

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ihn selbst, einen unsentim entalen Machtpolitiker, m ochte das zutreffen, Krenz schwankte noch immer. Die „Erklärung des Politbüros“, die Krenz am folgenden Tag bei Honecker vorbeibrachte, w urde trotz seiner inneren Widersprüchlichkeit zum entscheidenden Dokument der „Wende“ in der SED. Seinerzeit war von Oppositionellen vermutet worden, die Erklärung, die schließlich am 12. O ktober veröffentlicht wurde, sei das Zeugnis eines Kom promisses zwischen zwei Flügeln im Politbüro, den sturen Dogmatikern und Verfechtern einer politischen Öffnung. 324 Tatsächlich hatten Krenz und H erger den K ompromiß in ihrem Entwurf bereits w eitgehend vorweggenommen, 325 da sie gehofft hatten, Honeckers Zustimmung zu gewinnen. 326 Der Text enthielt die üblichen Phrasen über „ großangelegte Provokation“ (des „ Imperialismus“), „ haßerfüllte Kampagne“, „ Wir werden es auch künftig nicht zulassen, daß [...]“ . Daneben aber fanden sich neue Töne, vor allem ein Satz des Bedauerns über die Fluchtwelle, 327 der in all seiner Banalität von Honecker nur als Kritik an seiner eigenen hanebüchenen Ä ußerung zum gleichen Thema verstanden werden konnte, für die Bürger aber doch ein Zeichen w ar, daß nicht m ehr Zynismus allein die offizielle A useinandersetzung m it einer ihrer aktuell drängendsten Sorgen bestim men sollte. Durch die Benennung einzelner Problembereiche wurde signalisiert, in w elchen Bereichen nun auch an der Machtspitze Veränderungsbedarf gesehen w urde oder w orüber zum indest gesprochen werden sollte: „ wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“ und „ ansprechende Warenangebote“, „ leistungsgerechte Bezahlung“ , „ Medien“, „Reisemöglichkeiten“ und „ Umwelt“. U nd dann w ar da die A nkündigung zu lesen: „ Wir stellen uns der D iskussion.“ D er von Kirche und Bürgerrechtlern besetzte Begriff „ Dialog“ w urde noch verm ieden. D as Dokument war nicht als Signal für die entschiedene Opposition gem eint, die in dem Text attackiert wurde, 328 als vielm ehr für die eigenen, sy stemtreuen Anhänger. 324 Vgl. „Erste Hinweise auf Reaktionen de r Bevölkerung zur Erklärung des Politbüros des ZK der SED“ vom 13.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 4259, Bl. 1–6, hier 5. 325 Vgl. „Erklärung des Politbüros des ZK der SED [Entwurf vom 8. 10.1989]“; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/316, Bl. 2–6; „Erklärung des Politbüros des ZK der SED“, in: Neues Deutschland 12.10.1989. 326 Vgl. „Niederschrift des Gesprächs von Egon Krenz, Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, mit Michail Gorbatschow, Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR, am 1. November 1989 in Moskau“; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/329, Bl. 128–162, hier 134. 327 „[...] bewegt es uns, wenn sich Menschen, die hier arbeiteten und lebten von der Deutschen Demokratischen Republik getrennt haben. Die Ursachen für diesen Schritt mögen vielfältig sein. Wir müssen und werden sie auch bei uns selbst suchen, j eder an seinem Platz, wir alle gemeinsam. [...] Wenn an unserem Gemeinschaftswerk nunmehr Zehntausende ehemalige DDR-Bürger nicht mehr beteilig t sind, läßt uns das nicht gleichgültig.“ Entwurf vom 8.10.1989, Bl. 3. 328 V erglichen mit dem bisherigen Gerede von „ konterrevolutionären“ Bestrebungen etc. pp. war die Sprache allerdings sehr viel maßvoller: „Doch wir sagen auch offen, daß wir gegen Vorschläge und Demonstrationen sind, hinter denen die Absicht steckt, Menschen irrezufüh-

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Sie w aren gew ohnt, in offiziellen V erlautbarungen auch A ndeutungen und ideologische Feinheiten wahrzunehmen, und würden diese Formulierung als Zeichen lesen, daß sich ein K urswechsel anbahnte. D eshalb sträubte sich Honecker und drohte Krenz m it einem schnellen Ende seiner politischen Karriere. 329 Dam it aber zwang er ihn – m an m uß sagen eigentlich – zum Handeln. Es hätte nun selbst diesem ewigen Rückversicherer klar sein m üssen, daß er den point of no return überschritten hatte und eine Entscheidung unvermeidlich war. Trotzdem wurde noch zwei ganze Tage im Politbüro über diese „Erklärung“ gestritten – sonst dauerten solche Sitzungen zwei bis maximal drei Stunden –, um Honeckers Zustimmung zu gewinnen. Der Text wurde dabei nicht wesentlich verändert, sondern nur um einige angestaubte Propagandafloskeln angereichert, etwa: „Mein Arbeitsplatz ist mein Kampfplatz für den Frieden“. Schließlich stimmte auch Honecker zu, der weiterhin keinerlei Reformbedarf sah. Die Vorstellung, das Politbüro könnte in „Fraktionen“ gespalten und er selbst in der Minderheit sein, w ar offenbar unerträglicher als diese U nterwerfungsgeste. Tatsächlich hatte er nicht zuletzt m it seinem Verhalten einer wachsenden Zahl von Politbüro-Mitgliedern klargemacht, daß ein K urswechsel mit ihm an der Spitze nicht durchführbar w ar. 330 Ein w eiterer entscheidender Faktor dafür, daß Honecker schließlich resigniert hat, dürfte der V erlauf der Montagsdem onstration in Leipzig gewesen sein.

ren und das verfassungsmäßige Fundament unseres Staates zu verändern.“ Ebenda, Bl. 6. 329 Vgl. Krenz: Wenn Mauern fallen (1990), S. 32 f. Honecker selbst stellte diesen Konflikt etwas anders dar, machte aber auch deutlich, daß er „ die Erklärung sehr unbefriedigend“ fand. In anderem Zusammenhang brüstete er sich: „Ich hätte den Krenz zwingen können, zum Rücktritt.“ In: Andert u. Herzberg: Sturz (1990), S. 25 u. 99. 330 Das berichtete Krenz bei seinem Besuch in Moskau am 1.11.1989 Gorbatschow; vgl. „Niederschrift des Gesprächs von Egon Krenz, Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, mit Michail Gorbatschow, Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR, am 1. November 1989 in Moskau“; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/329, Bl. 128–162, hier 134.

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Wende von unten – Leipzig 9. Oktober

In Leipzig versam melten sich – im Anschluß an eine ältere Tradition 1 – ab Anfang September von Montag zu Montag mehr Demonstranten nach einem Friedensgebet in der N ikolaikirche, um der drohenden Staatsm acht erst „Wir w ollen raus!“ und seit Ende Septem ber ein trotziges „ Wir bleiben hier!“ entgegenzuhalten. 2 Die Versuche von V olkspolizei und Staatssicherheit, dieser Entw icklung durch selektive Repression beizukom men, bewirkten nichts. 3 A m 22. September traf dann H oneckers Schreiben ein mit der Rüge, mancherorts seien Maßnahmen gegen „feindliche Aktionen“ vernachlässigt worden.

4.1 Die gescheiterte Gegenoffensive in Leipzig Die SED-Bezirksleitung Leipzig fühlte sich durch Honeckers Kritik offenbar angesprochen und entwarf einen Plan von „ Maßnahmen zur Mobilisierung [...] zur offensiven Bekäm pfung und Zurückdrängung antisozialisti4 . Bemerkenswert an diesem scher Aktivitäten in der Stadt Leipzig“ Vorhaben war vor allem, daß ihm die A nnahme zugrunde lag, es sei m öglich, „in kürzester Frist“ in der nun schon seit Monaten frustrierten Parteibasis „tiefes Vertrauen, Treue, Standhaftigkeit und hohe Einsatzbereitschaft 1

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Vgl. Klaus Kaden: Von den Friedensgebete n ging alles aus, in: Heym u. Heiduczek (Hrsg.): Die sanfte Revolution (1990), S. 101–105; Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994); Uwe Schwabe: „ Für ein offenes Land mit freien Menschen“. Geschichte einer Losung, in: Lindner (Hrsg.): Zum Herbst ’89 (1994), S. 9 f. Zum Herbst 1989 in Leipzig gibt es bereits mehrere Darstellungen: Neues Forum Leipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie – Demokratie (1989); Leipziger DeMonTagebuch (1990); Kuhn: Der Tag der Entscheidung (1992); Zwahr: Ende einer Selbstzerstörung (1995). Eine Dokumentation findet sich in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 552–721. Eine weitere Da rstellung von einem Mitarbeiter der Außenstelle des BStU in Leipzig ist in Arbeit. Die folgende Darstellung konzentriert sich deshalb auf den Zusammenhang zwischen den Leipziger und den Berliner „Ereignissen“. Vgl. die Übersicht der Teilnehmerzahlen an Friedensgebeten und Montagsdemonstrationen in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 487. „Maßnahmen zur Mobilisierung der Mitglie der und Kandidaten der Bezirksparteiorganisation, aller in der N ationalen Front vereinten gesellschaftlichen K räfte sowie der Staatsund Sicherheitsorgane zur offensiven Bekämpfung und Zurückdrängung antisozialistischer Aktivitäten in der Stadt Leipzig“ (künf tig: Plan der SED-Bezirksleitung Leipzig) vom 27.9.1989; Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 572–578.

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auszuprägen“ und sie zu „ hoher Aktivität“ zu m obilisieren. 5 V on dieser Prämisse ausgehend, wurde eine politische Offensive gegen die Bürgerbewegung mit H ilfe der A nhänger des Sy stems geplant. Es ist nicht notwendig, alle „Partner“ aufzuzählen, die m an für dieses V orhaben einzuspannen beabsichtigte: vom Stadtoberhaupt bis hin zu den Bezirksvorsitzenden der Blockparteien. Oberbürgermeister Bernd Seidel etwa wurde beauftragt, m it den beiden Leipziger Superintendenten zu sprechen und „sie aufzufordern, ihre Position zu ändern“. 6 Der Formulierung war schon die Erwartung abzulesen, daß dies Friedrich Magirius und Johannes Richter w ahrscheinlich nicht sonderlich beeindrucken w ürde. 7 Selbstverständlich w urde auch den „Schutz- und Sicherheitsorganen“ eine wesentliche Rolle zugewiesen. Sie wurden verpflichtet, „ die K onzentration feindlich-negativer Kräfte an bekannten Handlungsorten“, damit war gewiß der V orplatz der Nikolaikirche gemeint, „ nicht zuzulassen und jegliche A nzeichen dieser A rt im K eim zu ersticken“. 8 Honeckers Anweisung, die „ Organisatoren“ der Protestbew egung zu „isolieren“, w urde von der Leipziger SED -Leitung konkretisiert als die Vorgabe, daß „ bekannte negative Kräfte in einer offensiven massenpolitischen Arbeit bloßgestellt, entlarvt und so diszipliniert werden, daß sie an weiteren H andlungen gegen den sozialistischen A rbeiter-und-Bauern-Staat nicht mehr teilnehmen“. In den „Arbeitskollektiven und städtischen Wohngebieten“ sollten die Parteim itglieder eine „ offensive, lebensnahe Aussprache“ initiieren, um „ eine Verurteilung der Absichten konterrevolutionärer Elemente zu erreichen“ . 9 Man ahnt, w elche Reaktionen sich diejenigen SED-Genossen, die das tatsächlich versucht haben, einhandelten. Diese Formulierungen erinnern gewiß nicht zufällig an die DDR der fünfziger Jahre und m ehr noch an die Stalin-Zeit, w obei es sich dam als jedoch um agitatorische Begleiterscheinungen von Verhaftungen und Schauprozessen gehandelt hätte. 10 Die Zeiten aber waren nicht mehr so. Die Drohung m it terroristischer G ewalt, die solche Agitationskampagnen erst wirksam gemacht hatte, griff nicht mehr. Tatsächlich wurde hier zum letzten 5 Ebenda, S. 573. 6 Ebenda, S. 576. 7 Das Gespräch fand tatsächlich am 5.10.1989 beim Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Rolf Opitz, statt, wobei auf kirchlicher Seite Landesbischof H empel der Wortführer w ar. Von staatlicher Seite wurde darauf gedrungen, „daß am nächsten Montag in Nikolai nur eine religiöse Veranstaltung stattfindet. Keine politische Versammlung.“ (Opitz) Eine solche Zusage wurde nicht gegeben, denn, so Oberkirchenrat Auerbach: „ Wir müssen heute biblische Botschaft und unsere Situation in Beziehung setzen.“ Gesprächsprotokoll von Johannes Richter in: Kaufmann, Mundus u. Nowa k (Hrsg.): Sorget nicht, was ihr reden werdet (1993), S. 281–286. Der nicht in diesem Grundkonflikt, aber sonst in der Nuancierung deutlich unterschiedliche Vermerk der staatlichen Seite zu diesem Gespräch ist nachgedruckt in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 447–450. 8 Plan der SED-Bezirksleitung Leipzig vom 27.9.1989, S. 578. 9 Ebenda, S. 574. 10 Vgl. Klier, Stölting u. Süß: Konvergenz der Skandale? (1989), S. 284–289.

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Mal der Versuch unternom men, den gesellschaftlichen Widerstand m it den politischen Ritualen des Stalinism us zu brechen, wobei es sich aber nur noch um eine Fassade ohne Substanz handelte. O b den regionalen SED Funktionären klar war, daß sie eine Farce organisierten, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, daß dieser V ersuch unternommen wurde: Es zeigt, wie die Hardliner in der Partei an die G renzen ihrer H andlungsmöglichkeiten gelangten, Grenzen, die politischer, nicht militärischer Art waren. Bei der Demonstration am 2. Oktober, an der nach Schätzung von V olkspolizei und Staatssicherheit 8.000, nach der von Beteiligten etwa 25.000 Menschen teilgenommen hatten, kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei und zu zwanzig Verhaftungen. Über den A blauf dieses Tages berichteten die Leiter der verschiedenen Machtapparate nach Berlin. Generalm ajor Gerhard Straßenburg, Chef der Bezirksverwaltung der Volkspolizei, schickte ein Fernschreiben an Innenminister D ickel. N ach seiner Schilderung hatte die „ massenpolitische Arbeit“ der SED einen kontraproduktiven Effekt: „Die meiner Meinung nach zu späte politische Aktivität bzw. Konterpropaganda zur A ufklärung in Betrieben und Einrichtungen der Stadtleitung der SED erhöhte ungewollt die Anzahl der Interessenten und Schaulustigen.“ 11 Aus den Reihen der Volkspolizei war schon im September berichtet worden, daß „die Angst vor der D urchführung der Montagseinsätze“ wächst. 12 Würde man Straßenburg Glauben schenken, so muß die Lage am 2. Oktober geradezu furchterregend gewesen sein. Er berichtete, die Polizei sei ständig angegriffen worden: „[...] z. B. bewegte sich ein Genosse au s der Sperrkette in Richtung eines Provokateurs mit dem Auftrag der Zuführung. Sofort stürzten sich ca. 10 Frauen und Männer auf den Genossen, warfen di e Mütze weg, zerrt en an den Haaren, Schulterstücken und Uniformteilen und schlugen auf ihn ein“.

Überhaupt: „Sehr auffallend und provokativ frech sind dabei Bürgerinnen.“ 13 Tatsächlich hatten in der ersten Phase der Leipziger Bürgerrevolution, als es noch w irklich gefährlich w ar, auf die Straße zu gehen, couragierte Frauen eine besonders große Rolle gespielt. Später, als mit Demonstrationen kein Risiko mehr verbunden w ar, w urden sie von lautstarken Männern in den Hintergrund gedrängt. 14 Am 2. Oktober aber zeigte ihr Engagem ent noch 11 Schreiben des Chefs der BDVP Leipzig, Ge neralmajor Straßenburg, an den Minister des Innern vom 3.10.1989; Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 587–591. 12 Auszug aus dem Bericht der SED-Grundorganisation in der 21. VP-Bereitschaft Dresden vom September 1989; Nachdruck in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 431 f. 13 Schreiben des Chefs der BDVP Leipzig an den Minister des Innern vom 3.10.1989. 14 Diese Aussage basiert auf den Berichten von Teilnehmerinnen gegenüber dem Verf. und der Fotodokumentation in: Leipziger DeMonT agebuch (1990). – Das Leipziger Jugendinstitut hat ab Anfang Dezember 1989 eine empirische Untersuchung der Demonstrationen

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sichtbare Wirkung: „ Die [Sicherheits-]K räfte w aren von der hohen Menschenkonzentration, den row dyhaften A usschreitungen und dem aktiven Widerstand sichtlich beeindruckt sowie äußerst erschrocken über das aggressive H andeln der w eiblichen D emonstranten.“ D er V P-Chef brachte seine „Reserve“ zum Einsatz, doch auch ihr gelang es nicht, die Demonstration aufzulösen. Erst als sie m it „ Sonderausrüstung“ aufgerüstet worden war, das heißt mit Gummiknüppeln, Schilden, H unden und Wasserw erfern, verließ die Menge „fluchtartig Straßen und Plätze“. Diese Schilderung w ar, außer im letzten Punkt, grotesk überzeichnet. 15 Nachträglich wurde festgestellt, daß zwei Einsatzkräfte „ leicht“ und acht andere „geringfügig verletzt“ worden waren 16 – wobei anzunehmen ist, daß jeder Kratzer gemeldet worden ist. Wieviele Demonstranten verletzt worden sind, wurde nicht berichtet – es w erden erheblich mehr gewesen sein. 17 Der Sinn dieser Meldung kann – soweit es sich nicht um blanke Hysterie handelte – nur gewesen sein, daß Straßenburg für den folgenden Montag die Erlaubnis haben wollte, „ Sonderausrüstung“ sofort einzusetzen. Er erhielt sie. Außerdem machte er zusätzlichen Personalbedarf geltend, er nannte vor allem die Kampfgruppen, um sein Vorhaben für den 9. Oktober zu realisieren: „Ich strebe an, eine Konzentration dieser Kräfte“ , gem eint waren die Demonstranten, „vor der Nikolaikirche gar nicht erst zuzulassen.“ 18 Der 2. Sekretär der SED -Bezirksleitung Leipzig, Hackenberg 19 , berichtete ebenfalls in einem Telegramm nach Berlin. Er war dam als faktisch der Chef der Leipziger SED, weil der 1. Sekretär schon seit Monaten krank war. In seinem Bericht übernahm er wörtlic h eine Formulierung aus der Vorlage der Leipziger Staatssicherheit: „Auf Grund der Aggressivität der Teilnehmer und der hohen Personenzahl konnten die vorbereiteten V arianten zur Räumung des K irchenvorplatzes [an der N ikolaikirche] und zur Kanalisierung der Bew egungsrichtung nicht angewandt werden.“ 20 Die Sicherheitskräfte seien zeitweise zurückgewichen. Um am 9. Oktober ähnliches zu vermeiden, m achte H ackenberg V orschläge: V erbot der Montags-

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gemacht und festgestellt, daß der Frauenanteil bis zum März 1990 von einem Drittel auf ein Viertel der Demonstranten zurückgega ngen ist; Förster u. R oski: DDR zwischen Wende und Wahl (1990), S. 161. Nüchterner war die Schilderung der Leipzi ger Staatssicherheit; vgl. Fernschreiben des Chefs der B VfS Leipzig, G eneralleutnant H ummitzsch, an die stellvertretenden Minister Mittig und Neiber vom 2.10.1989; BStU, ZA, Neiber 617, Bl. 88–92. „Analyse“ der Abteilung Operativ der BDVP Leipzig vom 12.10.1989 „ zum ‚Friedensgebet‘/Montagsgebet in der Nikolaikirche“; Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 683–696, hier 693. Vgl. die Betroffenenberichte in Neues Forum Leipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie, S. 65–69. Schreiben des Chefs der BDVP Leipzig an den Minister des Innern vom 3.10.1989. Helmut Hackenberg (geb. 1926); Ingenieur-Ökonom u. Dipl.-Gesellschaftswissenschaftler; Anfang der 50er Jahre bis 1971 SED-Funktionär in Magdeburg; 1971–1989 2. Sekretär der SED-BL Leipzig. Vgl. Buch: Namen und Daten (1987), S. 101. Fernschreiben des amtierenden 1. Sekretärs der Bezirksleitung der SED Leipzig, Hackenberg, an Honecker vom 3.10.1989; BA Be rlin, DY 30 J IV 2/2. 039/317, Bl. 1–8; vgl. Fernschreiben des Chefs der BVfS Leipzig, Generalleutnant Hummitzsch, vom 2.10.1989.

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Gottesdienste als Ausgangspunkt der Dem onstrationen, Mobilisierung der systemtreuen Bürger und Erhöhung der Gewaltbereitschaft. Angeblich wollten die Anhänger des Systems nicht mehr länger stillhalten: „Es gibt bei der überwiegenden Mehrheit der B evölkerung keine Unterstützung di eser Provokat ionen, aber Sorge über di ese Ent wicklung, bei den Kommunisten die Bereitschaft und das Verlangen, entschlossener zu handeln und gegen die feindlichen Elemente vorzugehen.“ „Zahlreiche [...] persönliche Beke nntnisse von Käm pfern, Unterführern und Kommandeuren [der Kam pfgruppen] [...], die Heim at m it der W affe gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen, waren Ausdruck dafür.“ 21

Dieses Telegramm landete in Berlin auf dem Schreibtisch von Egon K renz, der daraus eine „Hausmitteilung“ für Honecker und die Mitglieder des Politbüros machte. Für die Einschätzung der – schwankenden – Position von Krenz ist sein Um gang mit diesem Schreiben aufschlußreich: Die Schilderung des Ablaufs der Ereignisse am 2. Oktober seitens des Leipziger Genossen übernahm er fast wörtlich, alle scharfmacherischen Schlußfolgerungen ließ er unter den Tisch fallen, fügte jedoch das H ackenberg-Telegramm als Anlage bei. 22 In den folgenden Tagen bemühte sich die Leipziger SED erneut, ihre Anhängerschaft gegen die drohende Bürgerrevolution zu mobilisieren. Ein vielzitierter Höhepunkt wurde am 6. Oktober m it der Veröffentlichung des „Briefes“ eines K ampfgruppenkommandeurs in der „ Leipziger V olkszeitung“ erreicht. „Die Angehörigen der Kam pfgruppenhundertschaft ‚Hans Gei ffert‘ verurteilen, was gewissenlose Elemente seit einiger Zeit in der Stadt Leipzig anstellen. [...] W ir sind bereit und W illens, das von uns m it unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schüt zen, um di ese kont errevolutionären Akt ionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein m uß mit der W affe in der Hand!“ 23

Die offene Androhung von Waffengewalt w ar neu. Scheinbar unter dem Eindruck der vorangegangenen Tage form uliert, war diese Tirade tatsächlich schon zwei Wochen zuvor, in dem „Maßnahmeplan“ der SED-Leitung, konzipiert worden. Sie war also nich t Ausdruck wachsender Militanz der 21 Fernschreiben Hackenbergs an Honecker vom 3.10.1989. 22 Egon Krenz: Hausmitteilung an Erich Honecker vom 3. 10.1989; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2.039/317, Bl. 1–8. 23 Nachdruck in: Neues Forum Leipzig: Jetzt oder nie (1989), S. 63. – Bereits am Vortag hatte die „ Leipziger Volkszeitung“ ei ne Erklärung der „ Kampfgruppenhundertschaft ‚Gerhard Amm‘“ veröffentlicht, die „ nicht tatenlos zusehen“ w ollte, „wie Feinde unserer DDR nicht genehmigte Demonstrationen durchführen“.

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Stützen des Regim es – tatsächlich w uchs auch in den Kampfgruppen die Empörung über dessen Verbohrtheit –, sondern politische Taktik regionaler SED-Funktionäre. 24 Offenkundig sollte sie dazu dienen, die Gegenseite agitatorisch einzuschüchtern, war aber nicht wörtlich gem eint. Selbst in Hackenbergs Telegramm nach Berlin w urde – ganz im Sinne seines Mitkäm pfers Straßenburg – nur die „Anwendung polizeilicher Hilfsmittel“ und „ der Einsatz von Spezialkräften der DVP [Deutschen Volkspolizei]“ vorgeschlagen, 25 nicht aber der Gebrauch von Schußwaffen. Der Einschüchterungseffekt war tatsächlich gering. Schon am Tag nach dieser Veröffentlichung gingen wieder etwa 4.000 Menschen auf der Straße und wurden neuerlich von Polizei und Staatssicherheit bedrängt; 210 Personen wurden festgenom men. 26 In seinem alarmistischen Brief vom 8. Oktober an alle SED -Bezirksleitungen hatte H onecker explizit auch auf dieses Ereignis hingewiesen. Seine Vorgabe, „weitere Krawalle“ „von vornherein zu unterbinden“, und m ehr noch Mielkes Befehl, „offensive Maßnahmen“ zur „Auflösung von Zusammenrottungen“ zu ergreifen, m ußten die ohnehin angespannte Situation weiter verschärfen. Es war am 9. Oktober allen Akteuren bewußt, daß sich die Situation auf eine möglicherweise fatale Entscheidung zubew egte, deren Im plikationen kaum überschaubar waren, denn „Leipzig“ war anders als der Rest der Republik: D ort hatten bisher schon die größten Demonstrationen stattgefunden, w ar die SED -Bezirksleitung besonders borniert und w aren die A useinandersetzungen seit Wochen so hart gewesen wie andernorts nur am 7. und 8. Oktober. Verschiedene Initiativen zu r Deeskalation wurden ergriffen, die alle von der Präm isse ausgingen, daß eine Ä nderung der herrschenden Politik nicht mehr länger aufzuschieben war. Walter Friedrich, der Leiter des Leipziger Instituts für Jugendforschung 24 In dem Plan war angewiesen worden: „ Aus den Kollektiven der Kampfgruppen sind Stellungnahmen und persönliche Standpunkte zu organi sieren, in denen sich Kämpfer, Unterführer und Kommandeure öffentlich dazu bekennen, in diesen Tagen verstärkte Angriffe des Gegners gegen die DDR im Sinne des Gelöbnisses der Kampfgruppen der Arbeiterklasse abzuwehren, eine hohe Bereitschaft zu entwickeln, die Heimat mit der Waffe gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen. “ Plan der SED-Bezirksleitung Leipzig vom 27.9.19879, S. 575. 25 Fernschreiben von Hackenberg an Honecker vom 3.10.1989, ebenso das Fernschreiben von Hackenberg an Krenz vom 5.10.1989; Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 603–609. – Dem entspricht auch der „Entschluß des Chefs der BDVP Leipzig zum Ordnungseinsatz am 9. Oktober 1989“; Nachdruck in: ebenda, S. 663–671. In einer Übersicht der BDVP Leipzig zu „ Aufgaben und Befehlsgebung“ zwischen dem 2. und dem 9.10.1989 wird festgehalten, daß dieser „Entschluß“ am 6.10.1989 von Straßenburg im Md I vorgetragen und durch Dickel bestätigt wurde; Nachdruck der Übersicht in: ebenda, S. 672–680, hier 676. 26 Vgl. Fernschreiben des Leiters der B VfS Leipzig, G eneralleutnant H ummitzsch, an den stellvertretenden Minister, Generaloberst Mittig, vom 7. 10.1989; BStU, ZA, Neiber 617, Bl. 93–95. – Eindringlich ist der Bericht eine s an diesem Tag Festgenommenen: Michael Szameit: Lied von der Angst, in: Heym u. Heiduczek (Hsrg.): Die sanfte Revolution (1990), S. 107–120.

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und deshalb seit vielen Jahren schon im K ontakt m it Egon Krenz, nutzte seine Beziehungen und fuhr am frühen Morgen nach Berlin, um den ZKSekretär für Jugend (und für Sicherheit) zu beschwören, seinen Einfluß geltend zu machen: „ Es darf in Leipzig nicht geschossen w erden!“ 27 Krenz behauptet, er habe Mielke (Staatssicherheit), D ickel (Polizei) und K eßler (Armee) noch in diesen Stunden entsprechende A nweisungen gegeben. 28 Ein Beweis dafür ist nicht bekannt. 29 Allerdings ist die relativ zurückhaltende Position, die Mielke w enige Stunden später zu den Deeskalationsbemühungen in Dresden bezogen hat, ein Indi z dafür, daß er zwischenzeitlich tatsächlich zu einer Kurskorrektur veranlaßt worden war. In Leipzig selbst verteilten Mitglieder des Neuen Forums einen Aufruf, in dem dringend vor einer „ Konfrontation mit BePo [Bereitschaftspolizei] und Kampfgruppen“ gew arnt und gefordert w urde, sich nicht provozieren zu lassen. 30 Ein weiterer, sinngemäß ähnlicher Appell wurde von der A rbeitsgruppe Menschenrechte, einer lokalen Bürgerrechtsorganisation, verteilt. 31 Bischof Hempel traf sich noch einm al mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Rats des Bezirkes für Innere Angelegenheiten, Hartmut Reitmann, um anzukündigen, daß er selbst abends in der Nikolaikirche sprechen werde, um zu „Besonnenheit und absolute[r] Gewaltlosigkeit“ aufzufordern und an die Anwesenden zu appellieren, „ nach der Andacht ruhig nach Hause zu gehen“. Reitmann erklärte sich im Gegenzug bereit, am nächsten Tag – explizit nach Dresdner Vorbild – zw anzig Mitglieder von kirchlichen Basisgruppen zum Gespräch zu empfangen. 32 Die wichtigste Initiative wurde an diesem Tag von Kurt Masur, dem Gewandhauskapellmeister, ergriffen, der dem Mitglied der SED-Bezirksleitung Leipzig K urt Mey er den V orschlag m achte, sich mit einem gemeinsamen „Appell zur Besonnenheit“ an „alle Leipziger“, Demonstranten und Sicherheitskräfte zu w enden. 33 Aus dieser Initiative ging der berühm te „ Aufruf der Sechs“ hervor: drei angesehenen Leipziger Bürgern und drei SED-Funktionären. Die Leipziger SED -Bezirksleitung war damit fast, aber nicht ganz gespalten: Hackenberg, ihr am tierender 1. Sekretär, hat diesen „ Aufruf“ nicht unterstützt. Er hat aber auch keinen V ersuch unternommen, die ande27 Vgl. das Interview mit Walter Friedrich in: Kuhn: Der Tag der Entscheidung (1992), S. 87; Das Zitat stammt aus dem schriftlichen Memorandum, das er bei dieser Gelegenheit überreichte, dokumentiert in: ebenda, S. 91–111, hier 101. 28 Krenz: Mauern (1990), S. 135 f. 29 Keßler, der aber auch kein guter Zeuge wä re, übergeht in seiner Autobiographie diesen Tag mit einer kurzen Bemerkung; Keßler: Zur Sache und zur Person (1996), S. 269. 30 Aufruf in: Kuhn: Der Tag der Entscheidung (1992), S. 82 f. 31 Ebenda, S. 83 f. 32 Zitiert nach dem staatlichen Gesprächsprotoko ll in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 453–455. Tatsächlich fand das Gespräch zwischen Basisgruppen und Rat des Bezirks am 13.10. statt. 33 Vgl. das Interview mit Kurt Meyer in: Neues Forum Leipzig (Hrsg. ): Jetzt oder nie (1989), S. 282–287.

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ren Mitglieder der Bezirksleitung von ihrer Initiative, über die er von Anfang an informiert war, abzuhalten. 34 Die Nikolaikirche war zur gleichen Zeit, am frühen Nachm ittag, bereits überfüllt: von Gläubigen, von Bürgerrechtlern und von „gesellschaftlichen Kräften“, deren Funktion sein sollte, den „ negativen Kräften“ den Platz wegzunehmen. 35 Die „ gesellschaftlichen Kräfte“ verhielten sich die ganze Zeit über erstaunlich ruhig. Christian Führer, Pfarrer an der Nikolaikirche, sagte danach, gewiß hätten etliche nicht m itgebetet: „Aber sonst, die Konzentration – w ir w ürden m it unserem kirchlichen Fachausdruck sagen: die Andacht – war ganz hervorragend und konzentriert.“ 36 Der Grund war wohl nicht nur das ungewohnte Ambiente, sondern bei manchen auch das Gefühl, für ein schäbiges politisches Manöver mißbraucht zu werden, in eine „ unangenehme und peinliche Situation“ geraten zu sein. 37 Eine D ozentin von der Karl-Marx-Universität, die zu den Parteigenossen gehört hatte, berichtete später, mit welchen Empfindungen sie dorthin gegangen war: „Im Rathaus fand 13.00 Uhr die zweite Anleitung durch ei nen Sekretär der SED-Kreisleitung statt. Wir sollten in kleinen Gruppen zur Nikolaikirche gehen. [...] Ein Student sagte, er halte das Ganze für ein Husarenstück. Ihm wurde m aßregelnd das W ort ent zogen. Ei ne Genossi n beschwert e si ch daraufhin über diese Art und W eise und den Um gangston. Es gab ei n Hin und Her, bis Professor Bernd Okun aufstand und erklärte, warum er eigentlich hier sei und auch i n der Kirche etwas sagen wolle. Die ungeheuerliche Arroganz der Part eiführung und Ignoranz de n Geschehni ssen i n di esem Lande gegenüber, sie sei schlimm. Er sprach zum erstenmal öffentlich aus, was viele von uns dacht en. Es sei vielleicht schon zu spät , das ei nzige, was wir machen könnt en, sei , Zei t zu gewi nnen, um miteinander zu reden, daß ni chts Schlim-

34 Vgl. Interview mit Kurt Meyer in: ebenda, S. 285; Mitteilung der SED-Bezirksleitung Leipzig an das ZK der SED vom 10.10.1989, in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 458. – Die Interpretation von Zwahr, Hackenberg habe den Entschluß, einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit zu verfassen, „nicht mitgetragen“, betont nur die eine Seite der Rolle von Hackenberg. Vgl. Zwahr: Ende einer Selbstzerstörung (1991), S. 84. 35 Hackenberg hatte am 5.10.1989 nach Berlin be richtet, am 9.10. würden „ 5.000 Partei-, FDJ- und Gewerkschaftsmitglieder auf dem Vorp latz der Nikolaikirche“ plaziert. Geplant sei, „daß mit Öffnung der Nikolaikirche zum ‚Gebet‘ sofort 2. 000 Parteiaktivisten im Innenraum Platz nehmen und der Zugang negativer Kräfte weitgehend eingeschränkt wird“. Fernschreiben von Hackenberg an Krenz vom 5.10.1989, S. 606. Tatsächlich sollen nur 600 Parteikader gekommen sein; vgl. Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 458, Anm. 715. 36 Zitiert nach Lutz Löscher u. Jürgen Vogel: Leipziger Herbst. Eine subjektive Dokumentation, Sender Leipzig 30.12.1989, Nachdruck in: Heym u. Heiduczek: Die sanfte Revolution (1990), S. 127–145, hier 138. 37 So der Ökonom Michael Werner von der Leipziger Universität, der zu jenen „gesellschaftlichen Kräften“ gehörte; zitiert nach ebenda, S. 139.

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mes passiere. Plötzlich brüllte eine r von der Tür, wie lange wir denn noch diskutierten wollten, die Kirche fülle sich schon. Gegen 14.00 Uhr betraten wir die Kirche. Dann haben wir diese Stunden dort gesessen.“ 38

Um 17.00 Uhr begann in fünf überfüllten Leipziger Kirchen der Abend mit einem Friedensgebet. Die Geistlichen sprachen in unterschiedlichen Nuancen, aber alle mit gebändigtem Zorn über die Halsstarrigkeit der Mächtigen, die Bedrängnis der Gläubigen und die Notwendigkeit von Veränderungen. 39 Die anschließende D emonstration erw ähnte keiner explizit. N ur Pfarrer Hans-Jürgen Sievers, der in der Reform ierten Kirche predigte, forderte zur Teilnahme auf, aber auch er sehr verhalten: „Wenn unser Gottesdienst beendet ist, werden einige schnell nach Hause gehen. Ich möchte all denen danken, daß sie ihre Angst überwunden haben und gekommen sind. [...] Allen anderen, die noch in der Stadt bleiben, möchte ich danken, wenn si e durch i hr Bleiben ihrer Sehnsucht nach Veränderung Ausdruck geben, der Sehnsucht danach, wie ei n M ensch behandel t zu werden. Ich möchte noch einmal um strikte Gewaltlosigkeit bitten.“ 40

Bischof Hempel eilte von Kirche zu Kirche, um die Menschen zu ermutigen und um sie „ um einen kühlen K opf, um Besonnenheit und unbedingte Gewaltlosigkeit“ 41 zu bitten. Dann erteilte er Ratschläge, wie man unter Umgehung der Sicherheitskräfte am besten nach Hause kommen würde. 42 Das war nicht Ausdruck besonderer Ängstlichkeit oder fauler Kom promisse mit den Gewalthabern, vielm ehr befanden sich gerade die engagierten Geistlichen in einem schier unlösbaren D ilemma: D arum wissend, daß gesellschaftlicher Druck notwendig war, um die überfälligen Veränderungen zu erzwingen, fürchteten sie zugleich gerade für diesen Abend das Schlimmste. 38 Interview mit Helga Wagner in: Neues Forum Leipzig (Hrsg. ): Jetzt oder nie (1989), S. 88 f. Vgl. auch die „ Einschätzung“ des Leipziger SED-Funktionärs Buschmann über den Gottesdienst, der am 10.10.1989 berichtete, SED-Genossen von der Universität wie Professor Okun und Professor Kurt Strake vom Leipziger Jugendinstitut hätten die drei Stunden Wartezeit für Diskussionen mit anderen Besuchern genutzt und würden dies als Beginn eines „ sinnvollen Dialogs“ betrachten; Nachdruck in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 458–460. 39 Die Predigten sind abgedruckt in: Dona nobis pacem (1996), S. 37–55. 40 Text in: ebenda, S. 43–45. – Auch am folgenden Montag, dem 16.10. war die Reformierte Kirche die einzige der fünf Leipziger Kirchen, in der „ faktisch zur Teilnahme an der Demonstration aufgerufen“ wurde. Fernschreiben des 2. Sekretärs der SED-BL Leipzig, Hackenberg, an Honecker vom 17.10.1989; Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 710–714, hier 714. 41 Text der Ansprache von Bischof Hempel am 9. Oktober in St. Thomas, in: Dona nobis pacem (1996), S. 47 f. 42 Löffler, der Staatssekretär für K irchenfragen, berichtete am nächsten Tag in einem Vermerk, Bischof Hempel habe in allen fünf Gottesdiensten so argumentiert; vgl. Vermerk von Löffler vom 10.10.1989; BA Berlin, DY 30 IV B 2/14/71, Bl. 14; Nachdruck in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 461 f.

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Sie glaubten, die V erantwortung nicht übernehm en zu können, die Menschen, die ihnen vertrauten, in ein A benteuer zu schicken. 43 Das hielt jedoch kaum einen der Teilnehmer davon ab, sich anschließend in eigener Sache und Verantwortung der Demonstration anzuschließen. 44 Die Besucher der Friedensgebete hatten noch w ährend der G ottesdienste zusätzliche Ermutigung erfahren: Der „Aufruf der Sechs“ , der eine Wende signalisierte, war bekanntgegeben worden, und zumindest in der Nikolaikirche war auch über den Beginn einer V erständigung in D resden berichtet worden. Als sie die Kirche nach dem Friedensgebet verließen, einte für ihre Bürgerrechte Engagierte und Zaungäste dennoch die Angst davor, von den dicht gestaffelten Sicherheitskräften attackiert zu werden. Tatsächlich war eine wichtige Entscheidung aber bereits gefallen. Um 18.00 Uhr wurde über die allerorts installierten Lautsprecher des Stadtrundfunks jener „Aufruf“ verlesen: „Die Leipziger Bürger Professor Kurt Masur, Pfarrer Dr. Zim mermann, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Dr. Kurt M eyer, Jochen Pom mert und Dr. R oland W ötzel wenden sich mit folgendem Aufruf an alle Leipziger: Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heut e zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. W ir al le brauchen frei en M einungsaustausch über di e Weiterführung des Sozi alismus i n unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, daß di eser Dialog nicht nur i m Bezirk Leipzig, sondern auch m it unserer Regierung geführt wird. W ir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird. Es sprach Kurt Masur.“ 45 43 Ebenfalls am 9. Oktober veröffentlichten in Berlin 18 A mtsträger der evangelischen Kirche, unter ihnen Bischof Forck, Generalsuperintendent Günter Krusche, Konsistorialpräsident Stolpe, Probst Furian und Stadtjugendpfarrer Hü lsemann, unter dem Eindruck der Repression an den Tagen zuvor einen Appell mit „ vier dringenden Bitten“. Die Bürger wurden gebeten, „ab sofort angstfrei Meinungsfreih eit auszuüben“, die Staatsführung, „umgehend deutliche und glaubhafte Schritte einzuleiten [...] für eine demokratische, rechtsstaatliche sozialistische Perspektive“; die Ordnungs- und Sicherheitskräfte werden zu „größtmöglicher Zurückhaltung“ aufgefordert, und die „ beunruhigten Menschen“ schließlich wurden gebeten, „jetzt von allen nicht genehmigten Demonstrationen auf den Straßen abzusehen“; „Vier dringende Bitten“ 9.10.1989; BA Berlin, DY 30 IV B 2/14/44, Bl. 79. 44 Bericht einer Teilnehmerin in St. Thomas, di e sich wie die meisten an diesen Ratschlag nicht gehalten hat, gegenüber dem Autor. – Vom 16.10.1989, nach einer analogen, wenngleich nicht mehr ganz so brisanten Situati on, berichtete die SED-Bezirksleitung, nur in einer der fünf Leipziger Kirchen sei zur Dem onstration aufgerufen, in einer sogar abgeraten worden. Das habe jedoch nur geringen Einfluß gehabt: „ Fast alle Teilnehmer suchten nach Abschluß des Gottesdienstes den Weg zum Stadtzentrum.“ Fernschreiben des 2. Sekretärs der SED-BL Leipzig an Honecker vom 17.10.1989, S. 714. 45 Fernschreiben des Leiters der B VfS Leipzig, H ummitzsch, an das MfS B erlin vom 9.10.1989, Anlage 1; BStU, ZA, Neiber 617, Bl. 105; Nachdruck in: Neues Forum Leipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie (1989), S. 82 f.

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An diesem A ufruf w aren m ehrere A spekte bem erkenswert: der Brückenschlag zwischen anerkannten Repräsentanten der Bürgerschaft und V ertretern der Macht; die Forderung nach einem „ freien Meinungsaustausch“ nicht nur innerhalb der Stadt, in der aktuell angespannten Situation, sondern auch „mit unserer Regierung“ (im fernen Berlin); und schließlich das implizite V ersprechen, daß „ Besonnenheit“ einen „ Dialog“ m öglich m achen würde. Die Ausstrahlung dieses Textes ließ zudem Schlüsse hinsichtlich der Situation in der SED -Bezirksleitung zu: Würde m an dort zu diesem Zeitpunkt noch auf eine gew altsame Zerschlagung der D emonstration gesetzt haben, dann wäre es unsinnig gewesen, die V erbreitung eines aus der Sicht von Hardlinern zweifellos defaitistischen „Aufrufs“ zuzulassen. Hackenberg hatte aber sogar Anweisung gegeben, Pfarrer Zim mermann durch den Polizeikordon in die N ikolaikirche zu lassen, um dort den Text bekanntzugeben. 46 Ob ihm dabei bekannt w ar, daß der Bote als IM „ Karl Erb“ der Staatssicherheit verpflichtet war, 47 ist ungew iß. Es hat auf jeden Fall keine erkennbare Bedeutung gehabt. 48 Mit der Bekanntgabe des „ Aufrufs der Sechs“ war die Entscheidung, wie dieser Abend ausgehen würde, noch nicht endgültig gefallen. Es galt für die Sicherheitskräfte noch im mer der Befe hl, den D emonstrationszug vor dem Hauptbahnhof abzudrängen und aufzulösen. Das war der kritische Punkt. 49 Um 18.35 U hr war das Friedensgebet in der N ikolaikirche beendet, in den anderen Kirchen etwas früher. 50 Die Demonstration von etw a 70.000 Menschen begann ihren Weg um den „Ring“ in Richtung H auptbahnhof. In diesem Mom ent gab H ackenberg den Sicherheitskräften den Befehl, sich zurückzuziehen und zur „ Eigensicherung“ überzugehen. 51 Was war geschehen? Straßenburg, der VP-Chef, hat im nachhinein behauptet, er sei es gewesen, der der V ernunft zum Sieg verholfen hat. 52 D och dagegen spricht die

46 Vgl. Interview mit K. Meyer in: Neues Forum Leipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie (1989), S. 285. 47 Vgl. Zwahr: Ende einer Selbstzerstörung ( 1991), S. 93; Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 566. 48 Teil I und der letzte Band von Teil II der IM-Akte, der einen entsprechenden Hinweis hätte enthalten können, wurden vernichtet; BStU, ASt Leipzig, AIM 8073/92. Schon aus zeitlichen Gründen war aber eine Absprache des IM mit seinem Führungsoffizier an diesem Nachmittag kaum möglich. Was hätte er ihm auch sagen sollen? Eine Weisung des amtierenden SED-Chefs war durch keinen MfS-Offizier aufzuheben. 49 Vgl. Wötzel in: Kuhn: Der Tag der Entscheidung (1992), S. 130. 50 Vgl. Lagefilm der BDVP Leipzig vom 9. 10.1989, Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 625–639, hier 633 f. 51 „09.10.89 18.35 Uhr: Vorsitzender der BEL [Hackenberg] und Chef [der BDVP, Straßenburg]: Nach Bestätigung wird befohlen, keine aktiven Handlungen gegenüber den Demonstranten zu unternehmen. Befehl Chef [der BDVP]: An alle Einsatzkräfte ist der Befehl zu erteilen, daß der Übergang zur Eigensicherung einzuleiten ist! Einsatz Kräfte nur bei Angriffen auf Sicherungskräfte, Objekte und Einrichtungen.“; Übersicht der BDVP Leipzig zu „Aufgaben und Befehlsgebung“ 2.–9.10.1989; ebenda, S. 679. 52 Vgl. Interview mit Straßenburg in: Kuhn: Der Tag der Entscheidung (1992), S. 133.

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Befehlslage: Hackenberg war der Chef. 53 Zudem soll Straßenburg noch Wochen später, berichtete em pört ein MfS-Mitarbeiter, geprotzt haben: „Er hätte am 9. O ktober, wenn er als letzter zu entscheiden gehabt hätte, seine Truppen zum Einsatz gebracht. – Ä ußerung von A nfang N ovember!“ 54 Vielleicht aber hat Straßenburg bei dieser G elegenheit nur den Mund erneut etwas voll genommen. Der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Hackenberg, um den sich in diesen Stunden alles drehte, war, wie sich im Umfeld des 2. Oktober gezeigt hatte, ein Hardliner. Inzwischen waren ihm aber offenbar Zweifel gekom men. Mit der Entscheidung, den „ Aufruf der Sechs“ nicht zu blockieren, hatte er eine V orentscheidung getroffen, die jedoch noch hätte revidiert werden können. Der Befehl, zur „ Eigensicherung“ überzugehen, w ar, ex post betrachtet, entscheidend. Doch Hackenberg wollte die Verantwortung offenbar nicht allein tragen und versuchte, die Entscheidung auf Berlin abzuwälzen. Er telefonierte m it Krenz, 55 der versprach zurückzurufen, doch dieser A nruf kam nicht. 56 Um 19.00 U hr erreichte der D emonstrationszug den Hauptbahnhof, 57 Hackenberg seufzte: „ Nu brauchen se auch nicht anzurufen, nu sind se ’rum!“ 58 Endlich, gegen 19.30 U hr, rief K renz dann doch noch an. 59 Die Zeugen dieses Gesprächs berichten nicht, was Krenz gesagt hat. Aufschluß darüber gibt ein V ermerk des Staatssekretärs für K irchenfragen, Kurt Löffler. Er telefonierte an diesem Abend m it dem Vorsitzenden des Rates des Bezirks Leipzig, Rolf Opitz, und notierte:

53 „Mit Beschluß der Bezirksleitung der SED werden die Maßnahmen durch die Bezirkseinsatzleitung bzw. die Kreiseinsatzle itungen geführt.“ „ Entschluß des Chefs der BDVP Leipzig“ vom 6.10.1989; Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, S. 669. In der Übersicht der BDVP Leipzig zur Befehlslage vom 2.–9.10.1989 wird die Bezirkseinsatzleitung erstmals am Vormittag des 9. 10.1989 als Entscheidungsinstanz genannt. Ebenda, S. 679. – Hackenberg titulierte sich selbst erst nach dem 13.10.1989 als „ Vorsitzender der Bezirkseinsatz leitung im Amt“, so z. B. in einem Fernschreiben am 15.10. Ebenda, S. 701. Am 13.10.1989 hatte Honecker den „ Befehl 9/89“ des Vorsitzenden des NVR erteilt, in dem de r Leipziger Bezirkseinsatzleitung Anweisungen für die nächste Montagsdemonstration gegeben wurden. Militärisches Zwischenarchiv Potsdam, AZN 30922, Bl. 1–3, Nachdruck in: Auerbach: Tag X (1995), S. 139–141. 54 AKG der HA VII: „ Information über die aktuelle Entwicklung der politisch-operativen Lage im Verantwortungsbereich der HA und Linie VII“ vom 17.11.1989; BStU, HA VII 1359, Bl. 65–67, hier 65. 55 Vgl. Interview mit Wötzel in: Kuhn: Der Tag der Entscheidung (1992), S. 134; Krenz: Mauern (1990), S. 138. 56 Krenz schreibt zur Erklärung: „ Zwischen diesem Gespräch und meinem Rückruf verging eine gewisse Zeit, weil ich mich noch einmal in Telefongesprächen mit den zuständigen Ministern darüber verständigte, daß die bewa ffneten Kräfte auf keinen Fall zum Einsatz kamen. Darüber wurde Einvernehmen erzielt.“ Krenz: Mauern (1990), S. 138. 57 Meldung von 19.00 Uhr; Lagefilm der BDVP Leipzig vom 9.10.1989, S. 636. 58 Zitiert von Wötzel in: Kuhn: Der Tag der Entscheidung (1992), S. 134. 59 Vgl. Interview mit Wötzel in: Kuhn: Der Tag der Entscheidung (1992), S. 134; Kurt Masur in: Neues Forum Leipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie (1989), S. 275.

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„Im Anschl uß an di e Fri edensgebete ha t si ch ei ne Dem onstration formiert, die bis auf ca. 50.000 Teilnehmer angewachsen war und durch die Innenstadt von Leipzig marschiert. In Übereinstimmung mit Genossen Egon Krenz greifen die Ordnungskräft e ni cht ei n, sol ange kei ne gewal tsamen Akt ionen aus der Demonstration heraus stattfinden.“ 60

Die Formulierung „in Übereinstimmung“ dürfte den Sachverhalt zutreffend wiedergeben: Krenz hatte keine eigene Entscheidung getroffen, aber er hatte der Leipziger SED-Führung den Spielraum zugebilligt, selbst zu entscheiden, und er hat nachträglich ihren Beschluß, keine Konfrontation zu provozieren, gebilligt. Neben der Parteischiene hatten die Sicherheitsapparate – Polizei und Staatssicherheit – ihren eigenen, direkten Draht nach Berlin. Der Leiter der Leipziger Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, Generalleutnant Hummitzsch, erklärte nachträglich, er habe am 9. Oktober mehrfach mit Mielke und mit Mittig gesprochen und sei zu „ außerordentlicher Zurückhaltung“ aufgefordert worden. 61 Am Abend dieses Tages telegraphierte er nach Berlin: „Die vorberei teten M aßnahmen zur Verhinderung und Auflösung einer Demonstration kamen aufgrund der Gesamtlage und entsprechend zentraler Entscheidung nicht zur Anwendung.“ 62

Straßenburg, der Chef der Volkspolizei, berichtete, er habe „ die Gunst gehabt“, sich „ständig mit dem Minister Dickel zu konsultieren“ . Doch habe ihm Dickel letztlich die Entscheidung überlassen. 63 Der Innenminister hat die Leipziger D emonstration in seinem Büro am Fernsehapparat verfolgt. 64 Einige Tage später m achte er in einer Dienstbesprechung deutlich, was ihn damals bewegte:

60 Vermerk des Staatssekretärs für K irchenfragen, K urt L öffler, über eine telefonische Mitteilung des Vorsitzenden des Rates des Bezirks Leipzig, Rolf Opitz, am 9.10.1989, 20.30 Uhr; SAPMO-BA, ZPA, DY 30 IV 2/14/71, Bl. 14; Nachdruck in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 461 f. 61 Das könnte zutreffen, weil es mit Mielkes erwähntem Positionswandel am 8.10. übereinstimmen würde. Freilich fällt es schwer, Hummitzsch in diesem Punkt Glauben zu schenken, da er in dem Interview an anderer Stelle nachweislich gelogen hat. Interview von Hummitzsch mit dem Sender Leipzig am 1.12.1989. 62 BVfS Leipzig, Generalleutnant Hummitzsch, an MfS B erlin: „Information über eine nicht genehmigte Demonstration im Stadtzentrum von Leipzig am 9.10.1989“; BStU, ZA, Neiber 617, Bl. 100–106, hier 101. 63 Interview mit Straßenburg in: Kuhn: Der Tag der Entscheidung (1992), S. 79. 64 Zum operativen Fernsehen im MdI und die Bildübertragungen aus Leipzig am 9. bzw. 16.10.1989 vgl. die Aussage von Generaloberst Wagner, Stabschef im MdI, vor der Berliner Untersuchungskommission, S. 195. Straßenburg hat behauptet, am 9.10. sei noch nicht nach Berlin übertragen worden, S. 79.

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„Was sollen wir m achen? Ich stelle m al diese rhetorische Frage. Sollen wir dazwischen gehen bei 20.000, 30.000, 40.000 B ürgern? Wissen Sie, was das bedeutet? Da können wi r gl eich SPW [Schützenpanzerwagen] oder Panzer einsetzen. Aber jeder wi rd verstehen, daß das in der gegenwärtigen Situation und bei der weiteren Entwicklung unmöglich ist.“ 65

In seinem Schlußwort bekräftigte er: „Natürlich ist das in dem Augenblick ein Zurückweichen, aber ich sage Euch noch einmal, bei Größenordnungen von 20, 30, 80 oder gar 100.000 i st gar nichts anderes möglich. Am Montag ist das gl eiche wi eder i n Lei pzig, das geht jetzt schon wochenlang, und wi r schl agen uns hi er di e Nächt e um di e Ohren.“ 66

Die Situation in Leipzig unterschied sich in einem grundsätzlichen A spekt von den vorangegangenen Tagen. Die Sicherheitskräfte standen einer Menge von etwa 70.000 entschlossenen Bürgern aus allen Teilen der D DRGesellschaft gegenüber. 67 Gegen sie gewaltsam vorzugehen hätte den offenen Bruch m it einem großen Teil der Bevölkerung und den Beginn einer Eskalation bedeutet, die niem and mehr unter Kontrolle gehabt hätte. 68 Deshalb ist die SED -Führung zurückgew ichen. Mit dem 9. Oktober war die Entscheidung gefallen. Das Alte Regime hatte seine erste große N iederlage hinnehmen müssen und hatte von nun an nicht m ehr die K raft, mit offener Gewalt um die Macht zu kämpfen. Eine wesentliche Ursache dieser Schwäche war die Stim mung unter den bisher treuen A nhängern des Systems, die freilich durch das Regime selbst produziert worden war.

65 Rede des Ministers des Innern vor den Chefs der BDVP am 21.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 8637, Bl. 1–81, hier 22. 66 Ebenda, Bl. 49. 67 Vgl. Neues Forum Leipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie (1989); Sonja Süß: Vom Ich zum Wir (1996), S. 287–300; Zwahr: Ende einer Selbstzerstörung (1991), S. 89–102. 68 Man fragt sich, was geschehen wäre, wenn weniger Bürger den Mut gehabt hätten, zu demonstrieren. Wie weit ging die Eskalationsbe reitschaft des Regimes? Ein Indiz sind die Geschehnisse am 9. Oktober in Halle, wo an jenem Abend nicht 70.000 wie in Leipzig, sondern nur 400 Bürger demonstrierten (viele Hallenser waren nach Leipzig gefahren). Das Vorgehen der Sicherheitskräfte folgte de m Muster der Tage zuvor: Polizeiaufmarsch, Knüppeleinsatz, Festnahme von 40 Personen, das heißt etwa zehn Prozent der Demonstranten, die nach langem und demütigendem Warten, einschüchternden Verhören und der Abforderung einer „Erklärung“, daß sie sich künftig an solchen Aktionen nicht mehr beteiligen würden, mit wenigen Ausnahmen am nächsten Tag freigelassen wurden. Vgl. den Einsatzbefehl des Leiters der BVfS Halle, Generalmajor Schmidt, vom 8.10.1989 und den „Tagesbericht“ der Bezirksverwaltung vom Abend des folgenden Tages, dokumentiert in: „Keine Überraschung zulassen!“ (1991), S. 14–19; Löhn: „ Unsere Nerven lagen allmählich blank“ (1996), S. 11–13.

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4.2 Lernprozesse „progressiver Bürger“ Die Ausgangsthese war, daß sich in den Septemberwochen eine Mobilisierung und Radikalisierung aller A kteure vollzog. Dieser Prozeß gipfelte am 9. Oktober. D ie U rsache für die N iederlage des Regim es in Leipzig – und letztlich auch in Dresden 69 – war gewiß nicht das Fehlen m ilitärischer oder polizeilicher Machtm ittel. Sie hatte politische Gründe. Die Wochen davor waren bestim mt von einem Kam pf zwischen den oppositionellen Kräften und dem Alten Regim e um die politische Hegem onie. Es ging darum , welche Seite die äußerlich loy alen Bürger, die bisher „ schweigende“ und nun murrende, zum Teil sich schon engagierende „Mehrheit“, gewinnen würde. Das Regime hatte mit den Feierlichkeiten noch einm al versucht, alle Register zu ziehen, um seine Anhänger zu m obilisieren, die bisher systemkonformen Bürger enger an sich zu binden und seine Gegner einzuschüchtern. Die Mittel, derer es sich dabei bedient hatte, reichten von den Feierlichkeiten selbst, die ein positives Integrationsangebot sein sollten, über die Propagierung einer „politischen Offensive“ gegen die Bürgerrechtsbewegung bis hin zum Einsatz von Gewalt. Das Ergebnis war ein politisches Desaster. Unmittelbar ablesbar war das an der großen Zahl von Demonstranten – in Leipzig etwa ist sie binnen einer Woche von 8.000 auf 70.000 gestiegen. 70 Diese Menschen können nicht alle aus der relativ kleinen Bürgerrechtsbewegung gekom men sein. Die Zahlen zeigen, daß es der Opposition gelungen w ar, bisher angepaßte Bürger auf ihre Seite zu ziehen. Wegen der „Resonanz“ der Opposition „ bei untersc hiedlichsten Bevölkerungskreisen“ verfehlte die Einschüchterungspolitik des Regim es ihre Wirkung. Die „Initiatoren“ des Neuen Forum s, berichtete Generaloberst Mittig sichtlich empört auf einer Dienstberatung, „ betrachten sich nicht als verfassungsfeindlich und m achen unverfroren weiter“. 71 Die Bürgerrechtler würden ihre Aktivitäten fortsetzen, w eil sie davon ausgingen, daß das Regim e „keine strafrechtlichen Maßnahmen“ gegen sie riskieren werde, da dies ihrer Meinung nach eine ‚breite Protestwelle‘ in der D DR und im Ausland zur Folge hätte“. 72 Mehr noch, am 4. Oktober trafen sich V ertreter der überregionalen 69 „Dresden“ ist im öffentlichen Bewußtsein inzwischen weit hinter „ Leipzig“ zurückgetreten. K urz nach der R evolution w ar das noch anders. Wolfgang U llmann etw a, einer der Vordenker der Bürgerrechtsbewegung, hat 1990 beides in einem Atemzug genannt. Vgl. Ullmann: Demokratie (1990), S. 160. 70 Vgl. die Übersicht in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde (1994), S. 487. 71 „Gedächtnisprotokoll über die Beratung des Genossen Generaloberst Mittig am 26. 09.1989 mit den Stellvertretern Operativ und Leitern der Abteilung XX“; BStU, ASt Potsdam, AKG 617, Bl. 178–193, hier 182. 72 „Information“ vom 2.10.1989 „ über weitere beachtenswerte Reaktionen von Antragstellern auf die Ablehnung der Anmeldung der Vereinigung ‚Neues Forum‘ und über die Fortsetzung von Aktivitäten zur Formierung dieser oppositionellen Sammlungsbewegung“; BStU, ZA, ZAIG 5733, Bl. 7–12, hier 7.

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Bürgerrechtsorganisationen „Demokratie Jetzt“, „Demokratischer Aufbruch“, „Gruppe Demokratischer SozialistInne n“, „Initiative Frieden und Menschenrechte“, „ Initiativgruppe Sozialdem okratische Partei der DDR“, „Neues Forum“ und des „ Friedenskreises Pankow “. Es w ar das erste Treffen der „Kontaktgruppe“ der Opposition, aus der später die Initiative zur Einricht ung eines zentralen Runden Tisches hervorgehen sollte. 73 Sie verabschiedeten eine Erklärung, in der geheim e und freie Wahlen „unter UNO-Kontrolle“ gefordert wurden, die „ unterschiedliche politische Entscheidungen ermöglichen“. Zugleich erklärten sie, ein Wahlbündnis anzustreben. 74 In einem Moment, in dem das Regim e versuchte, die Zügel noch einm al anzuziehen, war das eine offene H erausforderung, die jedoch für keinen der Unterzeichner unmittelbare Konsequenzen hatte. Wirklich breite Resonanz hatte von den U nterzeichnerorganisationen damals nur das Neue Forum. Besonders die „Kunst- und Kulturschaffenden“ machten sich um die Verbreitung seines Aufrufs – und der „Resolution“ der Rockmusiker – verdient. V erschiedene Bezirksvorstände des Verbandes Bildender K ünstler – so in D resden und Rostock – verabschiedeten Erklärungen, daß sie die Tätigkeit des N euen Forum s unterstützten. 75 Selbst in Teilbereichen des Rundfunks der DDR – so von der Gewerkschafts- und der Parteigruppe bei „Jugendradio DT 64“ und vom Sinfonieorchester – w urde „Zustimmung zum ‚basisdemokratischen Wirksamwerden von DDR-Bürgern‘ geäußert“ und eine „ offene D iskussion“ gefordert. 76 Eine Übersicht des MfS zu einschlägigen „Aktivitäten in den Bereichen Kunst/Kultur und Massenmedien“ zählte 28 staatliche Institutionen bzw. Veranstaltungen auf, in denen in den Vortagen Erklärungen oder Resolutionen in diesem Sinne verabschiedet worden waren. 77 Genannt wurden zum Beispiel in Ostberlin das Deutsche Theater, das Berliner Ensemble und das Kabarett „Die Distel“ und eine Zusammenkunft der Angehörigen aller Berliner Sprechbühnen am 7. Oktober in der Volksbühne. Bem erkenswert w ar die Interpretation der politischen Grundeinstellung dieser Kritik er durch das MfS, die sowohl einen Lernprozeß auf seiten der Staatssicherheit anzeigte, als auch deutlich machte, daß es sich um V ertreter der loy alen Bürgerschaft handelte: „Die Autoren, U nterzeichner und Befürw orter derartiger Schriftstücke bekennen 73 Vgl. Gutzeit: Der Weg in die Opposition (1993), S. 102–105. 74 „Gemeinsame Erklärung“ vom 4. 10.1989 mit Li ste der Unterzeichner in: Oktober 1989 (1989), S. 43 f. 75 Vgl. „Information“ vom 2.10.1989, Bl. 10. 76 Ebenda, Bl. 11. 77 „Hinweise auf im Zusammenhang mit der aktuellen Lage in der D DR stehende A ktivitäten in den Bereichen Kunst/Kultur und Massenmedien der DDR“, 9.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 5376, Bl. 2–9. – Von 26 Theatern in Ankl am, Berlin, Dresden, Erfurt, Frankfurt (Oder), Freiberg, Karl-Marx-Stadt, Leipzig, Magdeburg, Potsdam, Schwerin und Zittau sind „ Erklärungen“ und „ Resolutionen“ aus der Zeit vom 26.9.–9.10.1989 dokumentiert in: Zentrum für Theaterdokumentation und -infor mation: Wir treten aus unseren Rollen heraus (1990), S. 16–57.

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sich mehrheitlich zur DDR.“ Doch gingen sie davon aus, daß „ das Vertrauensverhältnis Partei/Regierung – Volk gestört sei und sich viele Problem e angestaut hätten, die dringend einer sofortigen Lösung bedürften“. 78 Ein weiteres Beispiel: Auf einer Beratung des Kulturbundes der DDR zu Fragen des Umweltschutzes in Potsdam am 7./8.Oktober erklärte der Abteilungsleiter für Kultur und Umwelt in dessen Bundessekretariat, Dr. Kaspar, daß „die Demokratie in der D DR“ „nicht funktionsfähig“ sei. Von 100 der 120 Teilnehmer wurde eine Resolution verabschiedet, die politische Veränderungen forderte. 79 Die Abteilung Parteiorgane des ZK der SED, die in der Tendenz ähnliche Stimmungsberichte w ie die Staatssicherheit fertigte, die meist jedoch noch unkritischer waren, m eldete, daß vielen Bürgern in dieser Lage nicht zum Feiern zumute sei: „Mehrere Bezirksleitungen berichten, daß auf den zum 40. Jahrestag der DDR durchgeführten Veranstaltungen einzelne Werktätige die Entgegennahme von Auszeichnungen ablehnten, den Saal verließen oder sich weigerten, an Feierstunden bzw. Festumzügen teilzunehmen.“ 80 Besondere Verbitterung hatte, so die Staatssicherheit, die Schließung der Grenze zur Tschechoslowakei kurz vor dem 40. Jahrestag ausgelöst: „Breiteste Kreise der Bevölkerung vertreten den Standpunkt, es wäre im Interesse der Beruhigung der Lage im Innern der D DR besser gew esen, anstelle solcher restriktiver Maßnahmen Entscheidungen zu treffen, die die volle Freizügigkeit im Reiseverkehr für alle D DR-Bürger gew ährleisten.“ „Typisch“ seien Kom mentare wie: „ Jetzt drehe die Regierung völlig durch“ , „politischer Bankrott der DDR“, „nun sei die DDR endgültig auf dem Weg zum ‚sozialistischen Gefängnis‘“. 81 Die Radikalisierung im Bewußtsein der bisher loy alen Bürger hat ein Kirchenmann sehr viel klarer noch als die Informationssammler von der ZAIG auf den Begriff gebracht. Bischof Christoph D emke aus Magdeburg erklärte in einer Sitzung der Kirchenleitung: „Unsere gegenwärt ige Si tuation t rägt ausgesprochen psychopathische Züge, weil si e Hoffnung ni cht real isieren konnt e: Enttäuschte Erwartungen in bezug [auf] Gorbatschow, erschöpfte Kräfte der Gedul d, wei l si ch ni chts bewegt, Ängst igung durch Unberechenba rkeit und Ungewi ßheit der Zukunft, Gefühl 78 „Hinweise auf im Zusammenhang mit der aktuellen Lage in der D DR stehende A ktivitäten in den Bereichen Kunst/Kultur und Massenmedien der DDR“, 9.10.1989, Bl. 3. 79 SED, Abt. Parteiorgane des ZK: „ Information der Bezirksleitungen der SED über die Lage und die eingeleiteten Maßnahmen. Stand vom 9. Oktober 1989 – 4.00 Uhr“; BStU, ZA, ZAIG 7834, Bl. 62–72, hier 69. 80 Ebenda. 81 „Hinweise auf weitere Reaktionen der Bevölkerung im Zusammenhang mit der zeitweiligen Aussetzung des paß- und visafreien Verkehrs zwischen der DDR und der SSR für Bürger der DDR“, 6.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 4257, Bl. 2–5.

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der Weglosigkeit [...]. Daneben ist an vielen Stellen eine Aufbruchstimmung zu beobachten. Die Initiativen zu Neuem nehmen zu. Die ‚postmurale‘ Generation redet offen und ohne Angst über die vorfindliche Situation.“ 82

Der „ ,postmuralen‘ G eneration“, also jenen Menschen, die nach dem Bau der Mauer geboren w aren, hatten die Parteigenossen nichts m ehr zu sagen, sie konnten ihnen nicht einm al mehr Angst einjagen. Die geringe Überzeugungskraft der sy stemtreuen Bürger w ar Folge von deren eigener mentaler Verfassung. Das MfS konstatierte „ eine erhebliche Zunahm e von Erscheinungen der Verunsicherung, der Ratlosigkeit und der Resignation unter Parteimitgliedern, Mitarbeitern des Staatsapparates und w eiteren aktiv gesellschaftlich tätigen Personen“ . 83 Von einer m obilisierenden Wirkung der propagierten „politischen Offensive“ war nichts zu spüren, sie hatten davon noch nicht einmal etwas bem erkt: „ Die große Mehrzahl der K ommunisten bekundet ihre Treue zur Partei und ihre Bereitschaft zu käm pfen – w artet aber auf Signale von ‚oben‘ , auf A ntworten auf die bekannten drängenden Fragen.“ 84 Gewaltanwendung war dafür kein Ersatz. A us D resden berichtete StasiChef Böhm, „daß die anfänglich breiteste Zustimmung für das konsequente Handeln der Sicherheitsorgane“ , die er meinte, bei „ progressiven K räften“ beobachtet zu haben, „ umzuschlagen beginnt in eine zunehm ende A blehnung, da die Maßnahm en zu keinem sichtbaren Erfolg führen“. 85 Die Vergeblichkeit des Bem ühens der Sicherheitskräfte, die D emonstrationen zu verhindern, mußte auf militante Anhänger des Systems ernüchternd wirken. Auf die m eisten systemtreuen Bürger hat es w ahrscheinlich eher abstoßend gewirkt. Allein im Bezirk Dresden traten in den Tagen vom 4. bis zum 8. Oktober 446 SED-Mitglieder aus der Partei aus. 86 Auch in den Sicherheitskräften wuchs die Verunsicherung. Bei den „Kampfgruppen d er A rbeiterklasse“, i n d enen die Sanktionen für unbotmäßiges Verhalten weit geringer waren als in den professionellen „ bewaffneten Organen“, erschien eine „wachsende Zahl von K ämpfern“ nicht zum Einsatz. 87 Insgesam t – berichtete das MfS in einem zusammenfassenden Be82 Bischof Demke war stellvertretender Vors itzender der Kirchenleitung. Protokoll der 127. Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR am 6./7.10.1989 in Berlin, zitiert nach Besier: SED-Staat (1995), S. 440. 83 „Hinweise über R eaktionen progressiver K räfte auf die gegenwärtige innenpolitische Lage in der DDR“, 8.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 4258, Bl. 1–6, hier 2. 84 SED, Abt. Parteiorgane des ZK: „ Information der Bezirksleitungen der SED über die Lage und die eingeleiteten Maßnahmen . Stand vom 11. Oktober 1989 – 4.00 Uhr“; BStU, ZA, ZAIG 7834, Bl. 50–54, hier 52. 85 Bericht der BVfS Dresden vom 9.10.1989, in : Sächsischer Landtag, DS 1/4773, Anlage Arnold, S. 250–254, hier 252. 86 SED, Abt. Parteiorgane des ZK: „Information über die aktuelle politische L age in der D DR. Stand vom 12. Oktober 1989 – 4.00 Uhr“; BStU, ZA, ZAIG 7834, Bl. 44–49, hier 47. 87 SED, Abt. Parteiorgane des ZK: „ Information der Bezirksleitungen der SED über die Lage und die eingeleiteten Maßnahmen. Stand vom 11. Oktober 1989 – 4.00 Uhr“; BStU,

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richt – waren für die „ Aktion ‚Jubiläum 40‘“ 8.162 K ampfgruppenangehörige alarmiert worden, von denen 4.631 zu „ Sicherungseinsätzen“ befohlen wurden. Nicht alle hatten direkt m it den D emonstrationen zu tun, denn nur in den Bezirken K arl-Marx-Stadt, Magdeburg, Leipzig und Berlin waren „2.272 Angehörige der Kam pfgruppen unmittelbar gegen antisozialistische Ausschreitungen und zur A uflösung von Zusam menrottungen zum Einsatz gebracht“ worden. 88 Sie sollten nun das praktizieren, was viele von ihnen zu üben im Frühjahr 1989 abgelehnt hatten. Es kam zu Befehlsverweigerungen und Austritten – zum größten Teil in jenen vier Bezirken, wo die „Kämpfer“ direkt mit den Demonstranten konfrontiert waren. Insgesamt 346 Kampfgruppenangehörige verweigerten die Einsatzbefehle, davon 326 in diesen Bezirken. 317 der 336 „ Kämpfer“, die ihren Austritt aus den Kampfgruppen erklärten, kam en ebenfalls von dort. 89 149 K ampfgruppenangehörige gaben zugleich ihr SED -Parteibuch zurück. 90 D as bedeutete, daß von den „Kämpfern“, die direkt zum Einsatz kamen, fast 30 Prozent den Befehl verweigerten oder sofort austraten. Im ersten Fall w äre noch zu bedenken, daß nicht alle diese Fälle gem eldet w urden, w ahrscheinlich eine höhere Dunkelziffer hinzuzurechnen w äre. A ls H auptmotive w urden in der StasiDarstellung genannt: „Angst, gegen Freunde, Bekannte und Kollegen ‚Zwangsmaßnahmen‘ durchführen zu m üssen, di e i m nachhi nein zu ‚R epressalien‘ gegen si e bzw. ihre Familienangehörigen führen können; Identifizierung m it dem Gedankengut oppositioneller B ewegungen durch nicht gefestigte po litisch-ideologische Grundpositionen.“ 91

Nicht nur einfache Kam pfgruppenangehörige, sondern verschiedentlich auch ihre Kom mandeure widersetzten sich den Einsatzbefehlen. Im Bezirk Erfurt etwa, wo die Kampfgruppen alarmiert worden waren, aber nicht zum Einsatz kamen, bezeichnete ein stellvertretender Kommandeur „die DDR als ‚Bonzenstaat‘ und lehnt seine w eitere Funktion in den Kampfgruppen ab“. Ein anderer Kom mandeur „ bekennt sich zum ‚Neuen Forum ‘ und will zur Durchsetzung deren Zielstellung die ihm unterstellte Einheit einsetzen“. 92 Das war allerd ings d ie Au snahme. Do ch aus „ allen Bezirken“ wurde über „Diskussionen in den K ampfgruppen-Einheiten“ berichtet, in denen argumentiert würde: ZA, ZAIG 7834, Bl. 50–54, hier 53. 88 HA VII/7: „Einschätzung der Kampfkraft und Einsatzbereitschaft der Kampfgruppen der Arbeiterklasse, die im Vorfeld und in Durchführung der Aktion ‚Jubiläum 40‘ zum Einsatz kamen“ vom 23.10.1989; BStU, ZA, HA VII 68 (Wagen 10–13), Bl. 248–260, hier 248. 89 Eigene Berechnung nach ebenda, Bl. 249 u. 256. 90 Ebenda, Bl. 249. 91 Ebenda, Bl. 250 f. 92 Ebenda, Bl. 258.

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„ Mit dem Einsatz von Machtm itteln we rden die Problem e nicht gelöst, sondern verschärft. Der Dialog muß m it den M enschen geführt werden. Es si nd ni cht al les Staatsfeinde. Es wird nicht gegen Frauen und Kinder sowie gegen Kollegen vorgegangen. Wir können unseren Kollegen nicht mehr in die Augen sehen. Wir wollen uns nicht verprügeln lassen und veracht en die Gewaltanwendung. Die Partei- und Staatsführung sei unfähig, anstehende Probleme zu lösen. Die Medienpolitik wird als ‚Volksverdummung‘ eingeschätzt.“ 93

Die Schwelle, die viele dieser bisher treuen Anhänger des Regimes nicht zu überschreiten bereit w aren, w ar der direkte Einsatz gegen D emonstranten. Das bisher propagierte Feindbild w ar in dieser Situation offenkundig nicht mehr durchzuhalten. Der „äußere Feind“, gegen den man vielleicht noch bereit gew esen w äre, anzutreten, w ar abstrakt. D er „ innere Feind“ aber ganz konkret: Freunde, Bekannte, K ollegen. Bei der V orstellung, sich ihnen gegenüber als gewaltbereiter V erteidiger des A lten Regim es zu gerieren, machte sich Schamgefühl bemerkbar. Treffend hat diesen Bew ußtseinswandel einige Wochen später ein O ffizier der H auptabteilung I X (U ntersuchung) beschrieben: „ Aus K ämpfern gegen die K onterrevolution wurden prügelnde Polizisten. Das ist das politische Problem.“ 94 H inzu kam , daß man die Empörung über die Unfähigkeit der Führung vielfach teilte und das Gefühl hatte, als Schachfigur in einem sinnlosen Spiel benutzt zu werden, das mit der N iederlage des Regim es enden w ürde. Und schließlich w ar die Botschaft des Neuen Forum s auch hier angekom men: Der erste Schritt zur Überwindung der Krise sei, welche weitergehenden politischen Ziele m an auch immer anstrebte, die Wiederherstellung öffentlicher, nicht ideologisch zur Unkenntlichkeit verzerrter Kommunikation. Die Volksarmee war in diesen Tagen m it etlichen „ Hundertschaften“ gegen die Bürgerbewegung eingesetzt worden. In D resden und Plauen hatten 45 Armeeangehörige die Teilnahm e an solchen Einsätzen „ wegen politi93 Ebenda, Bl. 251. – Ein typische s Beispiel, das einige Tage später gemeldet wurde: „ Bei den konkreten Einweisungen der Kampfgruppe nangehörigen des VEB Nachrichtenelektronik Arnstadt waren von 120 Kämpfern 30 für den Einsatz bereit, 5 Kämpfer lehnten den Einsatz ab, die übrigen gaben Entschuldigunge n an, wie verreist, Geburtstag, Handwerker im Haus.“ „ Information“ des Leiters der BVfS Erfurt, Generalmajor Schwarz, vom 16.10.1989 „über bedeutsame Erscheinungen im Zusammenhang mit Aktivitäten oppositioneller Kräfte sowie zu Reaktionen der Bevöl kerung des Bezirkes Erfurt auf die Erklärung des Politbüros des Zentralkomitees der SED“; BStU, ZA, ZAIG 14326, Bl. 67–86, hier 85 f. Sinngemäß ähnlich eine Meldung der BVfS Schwerin vom 5.10.1989; BStU, ASt Schwerin, AKG 46b, Bl. 122–127. Zu Neubrandenburg vgl. Niemann u. Süß: „Gegen das Volk kann nichts mehr entschieden werden“ (1996), S. 25. 94 Notizen von der Parteiaktivtagung im MfS am 11.11.1989, in: Arbeitsbuch von Oberstleutnant Axel Schulz; BStU, ZA, SdM 2332, Bl. 61–69, hier 64.

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scher und m oralischer Bedenken bzw . aus Angst abgelehnt“. 95 Gerad e in Dresden aber war das w ohl nur die Spitze des Eisbergs. In einem Bericht der für die Überwachung der NVA zust ändigen HA I des MfS wurde zur Stimmungslage allgemein vermeldet: „In den Reaktionen von Soldaten gibt es erst e Anzeichen für Zwei fel an der Angemessenheit des Ei nsatzes von Arm eekräften. Sie empfinden diesen gegenüber dem ‚M ob‘ gerecht fertigt, se hen sich nun jedoch zunehm end m it ‚friedlichen‘ Demonstranten konfrontiert, mit denen man ihrer Meinung nach reden sollte.“ 96

„Miteinander reden“ – eine tatsächlich revolutionäre Parole im Geiste des Neuen Forums. Berichte inoffizieller Mitarbe iter aus den Kom mandoetagen der NVA machten deutlich, daß sich auch Offiziere, die den Einsatz in Dresden miterlebt hatten, kritisch äußerten. Der stellvertretende Chef der dortigen Militärakademie wurde mit den Worten zitiert: „Wir müssen mit den Menschen ins Gespräch kommen, die uns w ohlgesonnen sind.“ 97 Der Stabschef im Militärbezirk III h abe gefordert, daß man „jetzt mit allen Menschen reden und ihnen klarmachen muß, wie wir die Probleme lösen wollen, damit wir nicht noch mehr Menschen verlieren“. 98 „Einige Berufskader“ würden sich sogar „für einen D ialog auch m it V ertretern des ‚Neuen Forums‘ aus[sprechen]“. 99 Mit der eigenen Führung dagegen schien ein solches V orhaben fast sinnlos: „Den Partei- und Staatsorganen aller Ebenen w ird Verunsicherung und K onzeptionslosigkeit, Inaktivität und m angelndes Vertrauen in die eigene Bevölkerung vorgew orfen.“ 100 Selbst die Führungsgruppe der Politischen Hauptverwaltung der NVA kam in ihrem Bericht zu Dresden zu dem Schluß, daß man zwar „kriminelle Ausschreitungen“ „zerschlagen“ und ungenehmigte, friedliche Demonstrationen „auflösen“ müsse, aber eine „Zuspitzung der Lage“ wäre damit allein nicht zu verhindern: „ Dafür sind politische Kompromisse unumgänglich. Der Einsatz der bew affneten Kräfte gegen Massen auf der Straße und der Kampf auf der Straße lösen die Probleme nicht.“ 101 D iese Ä ußerungen zeugen von Lernprozessen. D ie bisher dom i95 HA I: „Einschätzung der Entwicklung in der politisch-operativen Lage in der NVA und den Grenztruppen der DDR im 2. Halbjahr 1989“, 13.10.1989; BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 135–142, hier 140. 96 HA I/AKG, „Information über das Stimmungs- und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der GT[Gre nztruppen]/DDR“, 10.10.1989; BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 118–122, hier 119. 97 Äußerung von Generalmajor Lehmann; ebenda. 98 Zitat von Generalmajor Schlothauer; ebenda, Bl. 121. 99 Ebenda. 100 Ebenda, Bl. 122. 101 „PHV-Gruppe [Politische Hauptverwaltung der NVA] , die im Einsatzstab gearbeitet hat“: „ Erkenntnisse, Erfahrungen, Schlußfolge rungen des Einsatzes in Dresden (05.10.– 10.10.1989)“, S. 432.

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nanten ideologischen Klischees wurden beiseite gelegt, und es machten sich Ansätze von gesundem Menschenverstand bemerkbar. Die „Hinweise“ und „Informationen“ des MfS, aus denen bisher zur Charakterisierung der Stimmungslage vorwiegend zitiert wurde, gaben bis dahin kein objektives Bild der Lage, sondern waren geprägt gewesen von politischen Vorgaben und Absichten, wobei in der Regel das Maß der Zustim mung zur Linie der Partei überzeichnet, Kritik dagegen marginalisiert wurde. 102 In der konkreten Situation hatten sich die zuständigen MfS-Offiziere offenbar A nfang O ktober zu der Erkenntnis durchgerungen, daß nun Klartext geredet werden müsse. Daß dies im Einvernehmen mit den für die Sicherheitskräfte zuständigen SED-Funktionären H erger und K renz geschah, ist sehr w ahrscheinlich. Schon in den Berichten vom September war über zunehmende Frustration auch „ progressiver Kräfte“ berichtet worden. Aber erst nach der Schließung der Grenze kam es zu einer deutlichen Verschärfung der Sprache, w urde von „ direkten A ngriffen“ auf „ die Partei- und Staatsführung“ berichtet. 103 Zwei Tage später, am 8. Oktober, wurde konstatiert, daß „ viele Werktätige, einschließlich zahlreicher Mitglieder und Funktionäre der Partei“ , die A blösung der Führung forderten. Verkleidet wurde dies in einen V erweis auf deren „ altersmäßige Zusam mensetzung“, die sie unfähig m ache, „dringend erforderliche Veränderungen durchzusetzen“. 104 Zu dieser in den MfS-Inform ationen nun erstm als festgehaltenen Erkenntnis dürften auch „ progressive“ Teile der Bevölkerung schon erheblich früher gekommen sein. Wahrscheinlich ist die Forderung nach einem Führungswechsel aber noch immer nicht weitergemeldet worden, denn das Papier w ar dem Verteiler zufolge nur für die MfS-Spitze bestimmt. 105 D ennoch zeigt das, daß der Machtkampf in ein entscheidendes Stadium getreten w ar und daß sich die Spitze der Staatssicherheit auf die Seite der veränderungswilligen Kräfte zu schlagen begann. D er entscheidende G rund dafür wurde in diesem Papier relativ offen benannt. Die SED würde nach Ansicht von „progressiven Kräften“ unter ihrer gegenw ärtigen Führung ein „passives und defensives Verhalten“ an den Tag legen, das „der gegnerischen Seite Tür und Tor für deren ideologische Offensive“ öffne. Die „ progressiven K räfte“ dagegen „ scheuten [...] sich im mer mehr, überhaupt noch Auseinandersetzungen in den Betrieben zu führen“. 106 Damit habe man der Opposition das Feld überlassen: 102 Vgl. Süß: Die Stimmungslage der Bevölkerung (1996), S. 239 f. 103 „Hinweise auf weitere Reaktionen der Bevölkerung im Zusammenhang mit der zeitweiligen Aussetzung des paß- und visafreien Verkehrs zwischen der DDR und der SSR für Bürger der DDR“, 6.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 4257, Bl. 2–5, hier 3. 104 „Hinweise über Reaktionen progressiver Kräfte auf die gegenwärtige innenpolitische Lage in der DDR“, 8.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 5351, Bl. 55–61, hier 56. 105 Laut dem Verteilerplan waren Adressaten der Reinschrift Minister Mielke, seine Stellvertreter Mittig, Neiber, Großmann und Schwanitz, der Leiter des Sekretariats des Ministers, Carlsohn, und der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung im MfS, Felber; ebenda, Bl. 62. 106 Ebenda, Bl. 57.

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„Es sei dadurch eine Lage entstanden, daß selbst zahlreiche Bürger mit einer positiven Grundeinstellung, darunter insbesondere Angehörige aus den Bereichen Hoch- und Fachschul wesen, Kunst und Kultur sowie Studenten, sich mit Zielen und Inhalten der oppos itionellen Sam mlungsbewegung ‚Neues Forum‘ identifizieren, indem sie die in dem Gründungsaufruf dieser Gruppierung enthaltenen politischen Grundinhalte und Forderungen akzeptieren und weiter verbreiten.“ 107

Damit wurde der Verlust der politischen Hegemonie an das Neue Forum beschrieben: D ie bisher angepaßten Bürger w aren aus Sicht des Regimes übergelaufen – tatsächlich hatten sie Mut zum Engagement gefaßt –, und die systemtreuen Bürger resignierten. Mit der bloßen Beschreibung dieses Sachverhalts gaben sich die Analy tiker des MfS freilich nicht zufrieden. Sie erklärten auch relativ offen, was aus ihrer Sicht zu tun sei. Vorangestellt wurde dem eine geradezu ultim ative Forderung, die nicht als MfS-Position, sondern als Beschreibung der Erw artungshaltung eines repräsentativen Querschnitts loyaler oder gar systemtreuer Bürger deklariert wurde: „Mitglieder und Funkt ionäre der SED, der befreundet en Part eien und gesel lschaftlicher Organisationen sowie Arbeitskollektive aus allen gesellschaftlichen Bereichen fordern – zum Teil mit großem Nachdruck und sehr emotional geprägt –, daß die Partei- und Staatsführung unverzüglich eine umfassende kritische und reale Analyse der innenpolitis chen Lage vornim mt, eine öffentliche Di skussion über Lösungswege zur Überwi ndung der vorhandenen Probleme und über st rategische Entwicklungslinien in Gang setzt sowie eine politische Offensive gegen feindliche, oppositionelle Kräfte einleitet.“ 108

Im A nschluß an diese Feststellung w urden „als vordringlich angesehene Veränderungen“ aufgezählt, wobei es sich, wie gesagt, nicht um Forderungen der Opposition handelte. Es ging um Positionen von „progressiven Bürgern“, der Basis des Regim es also, denen G ehör gegenüber der Parteiführung zu verschaffen, die MfS-Spitze offenkundig die Zeit für gekom men hielt. Zu ihnen gehörte auch der Leiter der Bezirksverw altung für Staatssicherheit in Rostock, der zwei Tage zuvor aus Sorge um die Stabilität im Land seinem Minister ein Fernschreiben mit politischen Vorschlägen geschickt hatte, in dem einige K ernaussagen dieses Papiers bereits enthalten waren. 109 Das blieb in den „ Hinweisen“ unerw ähnt – w ahrscheinlich w eil 107 Ebenda. 108 Ebenda, Bl. 59. 109 Auch Generalleutnant Mittag, der Leiter der BVfS Rostock, versteckt sich in seinem Schreiben hinter anderen: „ der Bevölkerung des Bezirks“. Daß es sich jedoch nicht um eine der üblichen Informationen zur Stimmungslage handelt, geht schon daraus hervor, daß sein Adressat Mielke persönlich ist, der zudem, was völlig ungewöhnlich war, in seiner „Eigenschaft als Mitglied des Politbüros“ der SED angesprochen wurde. Schreiben

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dieser U mstand sonst Zw eifel hätte w ecken können, ob Mielke noch die Subordination der Staatssicherheit unter die Partei garantierte. Der Forderungskatalog um faßte verschiedene Politikbereiche: in der Wirtschaft unter anderem den „Abbau des administrativen Aufwandes“ und „Veränderungen in der Subventionspolitik“ ; in der Politik die „Weiterentwicklung der sozialistischen D emokratie“, indem „die Arbeit zentraler Partei- und Staatsorgane für das V olk“ „ durchsichtiger“ gem acht werde und zudem „neue Formen und Methoden“ entwickelt würden, um die „Werktätigen in die V orbereitung von Entscheidungen“ direkt einzubeziehen; in der „Informationspolitik“ eine „ Beendigung um fassender ‚Hofberichterstattungen‘ und einseitig orientierter Erfolgsm eldungen“ und „ offenes und ehrliches Aufdecken aller Problem e und Schw ierigkeiten, um die gesam te Gesellschaft zu mobilisieren“. In der Partei wurden u. a. eine „offene Atmosphäre“ und eine „volle Gewährleistung der innerparteilichen Dem okratie“ gefordert. 110 Man kann nicht davon ausgehen, daß die ZA IG-Mitarbeiter sich alle diese Einzelforderungen zu eigen gem acht hätten, falsch aber w äre es, sie nur als neutrale Berichterstatter zu sehen. Sie hatten dem Forderungskatalog eine im Sinne des Regimes eindeutig positive Konnotation gegeben, indem sie ihn den „ progressiven Kräften“ zuordneten, und zwar nicht als einzelne Stimmen, sondern, so wie die Vertreter dieser Positionen beschrieben wurden, als Meinungsäußerung der politischen Basis des Sy stems. Für die genannten Problembereiche gab es jeweils Verantwortliche in der SEDFührung, die sich angegriffen fühlen mußten. Es handelte sich um G ünter Mittag (Wirtschaft), Joachim Herrmann (Informationspolitik), Horst Dohlus (innerparteiliches Leben) und Erich H onecker (Gesamtverantwortung). Mit Ausnahme von D ohlus w urden die G enannten eineinhalb Wochen später gestürzt. Welche Forderungen „ progressiver K räfte“ weitergemeldet wurden, haben die A utoren genau überlegt. D as zeigt ein V ergleich der zwei Versionen, die von diesem Papier existieren. D ie ursprüngliche Fassung war an Mielke und an den Chef der ZA IG, G eneralleutnant Werner Irm ler 111 , gegangen. 112 Noch am gleichen Tag, dem 8. Oktober, wurde mit Zustimmung des Leiters der BVfS Rostock an Minister Mielke vom 6.10.1989; BStU, ASt Rostock, Büro des Leiters, Rep. 3, Nr. 3, zitiert nach Höffer: „Der Gegner hat Kraft“ (1997), S. 12. 110 „Hinweise über Reaktionen progressiver Kräfte auf die gegenwärtige innenpolitische Lage in der DDR“, 8.10.1989, Bl. 60 f. 111 Werner Irmler (geb. 1930 in Kühnau/Schlesien); 1946–1952 in der Forstwirtschaft tätig; 1948 SED-Eintritt; 1952 Einstellung beim MfS; 1957 Leiter der Zentralen Informationsgruppe; 1959–1965 stellvertretender Leiter und 1965–1989 Leiter der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG); 1970 Promotion an der JHS über „ Die Weiterentwicklung und Qualifizierung der prognostischen Tätigkeit als Bestandteil des Systems der Führungs- und Leitungstätigkeit im Minister ium für Staatssicherheit“. Vgl. Wer war Wer? (1995), S. 330; Fundort der Kollektivdissertation: BStU, ZA, ZAIG 7694, Band 1– 3. 112 BStU, ZA, ZAIG 4258, Bl. 1–6. Diese Versi on trägt den Verweis „ vorletzte Fassung“.

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von Irmler und Mielke eine endgültige Version zusammengestellt. Eine Passage wurde von ihnen gestrichen, nämlich, daß das Verhalten der Parteiführung am 40. Jahrestag „ Ausdruck de s Mißtrauens der politischen Führung der DDR gegenüber dem Volk“ 113 gewesen sei. D as erinnerte vielleicht zu stark daran, daß das MfS das institutionalisierte Mißtrauen schlechthin war. Sonst aber haben sie nicht gekürzt, sondern das Papier mit zusätzlichen Vorschlägen angereichert. Geradezu frappierend ist – denkt m an an die Zustimmung Mielkes – die neue Forderung nach „ einer flexibleren und marktorientierten Planwirtschaft“, 114 die entw eder der späten Einsicht geschuldet war, daß dem desolaten Zustand der DDR-Wirtschaft anders nicht mehr beizukommen w ar, oder die als zusätzliche Provokation gegen den ZKSekretär für Wirtschaft, Günter Mitta g, gedacht war. Außerdem wurde ein ganz neuer Punkt hinzugefügt, der „Reiseverkehr“: „ Schaffung von R eisemöglichkeiten i n das nichtsozialistische Ausland, unabhängig von Verwandtschaftsverhältnissen und besonderen Anlässen, Aufhebung der zeitweiligen Aussetzung des paß- und visafreien Verkehrs zwischen der DDR und der SSR für DDR-Bürger.“ 115

Das war ein Versuch im Sinne von H ergers V orschlag einige Tage zuvor, den politischen Druck durch die kontrollierte Öffnung der Grenze zu verringern. Zugleich aber w ar es im Sinne der Zuordnung von Problemfeldern zu Verantwortlichkeiten ein Frontalangriff gegen Honecker. Er ordnete sich ein in das G esamtergebnis der A useinandersetzungen dieser Wochen: Es gab keine relevante Kraft m ehr, die die Hardliner im Politbüro – neben Honeck er vor allem Mittag, Herrmann und Keßler – noch stützte, weil sie keine realisierbare Konzeption zur Stabilisierung des wankenden Regim es oder auch nur der eigenen Basis sy stemtreuer Bürger hatten. Anscheinend hatte inzwischen auch Mielke begriffen, daß ein Versuch, die Krise repressiv zu lösen, unter der alten Führung zum Scheitern verurteilt wäre, und er bereitete einen Wechsel vor auf seiten der w ahrscheinlichen G ewinner in dem sich abzeichnenden Machtwechsel. Nur unter dieser V oraussetzung schien die in dem ZA IG-Papier, durchaus in Ü bereinstimmung m it der Honecker-Führung, geforderte „ politische Offensive gegen feindliche, oppositionelle Kräfte“ irgendwelche Erfolgsaussichten zu haben. Es ging dabei nicht nur um rational kalkulierte Strategien. D ie Hardliner hatten es geschafft, alle politischen Erwartungen zu enttäuschen, die in dieser G esellschaft existierten: die Erw artungen der sy stemtreuen Bürger, es werde gelingen, die „ konterrevolutionäre“ Herausforderung politisch zuEin Nachdruck findet sich in Mitter u. Wolle: Befehle (1990), S. 204–206. 113 BStU, ZA, ZAIG, 4258, Bl. 3. 114 „ Hinweise über Reaktionen progressiver Kräfte auf die gegenwärtige innenpolitische Lage in der DDR“, 8.10.1989 (Endfassung), Bl. 59. 115 Ebenda, Bl. 60.

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rückzuweisen; vor allem aber die H offnungen in der G esellschaft, die Erweiterung des inneren H andlungsspielraums der DDR durch die Umorientierung der sowjetischen Blockpolitik und das Vorbild der Perestroika werde für eine politische Öffnung genutzt. Der m it soviel Aufwand vorbereitete 40. Jahrestag aktualisierte diese Situation noch einm al und spitzte sie zu: Viele hatten gehofft, anläßlich dieses Ereignisses w ürde das Regim e w enigstens bestimmte Veränderungen – etwa hinsichtlich der Ausweitung von Reisemöglichkeiten – ankündigen. Statt dessen kam en die Schließung der Grenze zur Tschechoslowakei und Festansprachen der politischen Führung, die an Borniertheit nicht mehr zu überbieten w aren. Ein Lernprozeß durch enttäuschte Hoffnungen wird in der Revolutionsforschung als relative D eprivation beschrieben. Er hat seine destabilisierende Kraft auch im Fall der DDR bewiesen. Selbst die intelligentere Taktik politischer Konzessionen, die von regionalen Parteifunktionären eingeschlagen w orden war, um die Lage zu beruhigen, produzierte anderswo in der D DR neue Frustration, w eil der D urchbruch in Dresden und vor allem in Leipzig von den zentralen Medien in der DDR sch lichtweg v erschwiegen wurde. Das war sicherlich ein Ausdruck der Mißbilligung. Der friedliche Ausgang der Montagsdem onstration in Leipzig wurde in einer internen Partei-Information ebenso traditionell wie verlogen „ dem Eindruck hoher gesellschaftlicher Aktivität progressiver Bürger“ und „der starken Präsenz der D eutschen Volkspolizei“ zugeschrieben, ohne etw a den „ Aufruf der Sechs“ auch nur zu erwähnen. 116 Erst am 11. Oktober – das Politbüro hatte die „ Wende“ bereits eingeleitet, wenngleich noch nicht vollzogen – kippte die interne Berichterstattung. N un hieß es, selbst hauptamtliche Parteifunktionäre seien äußerst befrem det „darüber, daß in Westmedien und in der Presse von Blockparteien über Maßnahm en des Dresdener Oberbürgermeisters und Leipziger Parteifunktionäre berichtet wird, während unsere Medien darüber schw eigen und die Partei dazu keine Orientierung gibt, w as Verwirrung und Unsicherheit auslöst“. 117 Eine neue „Orientierung“ konnte nur von einer anderen Führung kommen.

116 SED, Abt. Parteiorgane des ZK: „ Information der Bezirksleitungen der SED über die Lage und die eingeleiteten Maßnahmen. Stand vom 10. Oktober 1989 – 4.00 Uhr“, 10.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 7834, Bl. 55–61. 117 SED, Abt. Parteiorgane des ZK: „ Information der Bezirksleitungen der SED über die Lage und die eingeleiteten Maßnahmen. Stand vom 11. Oktober 1989 – 4.00 Uhr“, 11.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 7834, Bl. 50–54.

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Rückzugsmanöver und veränderte Repressionstaktik

Zwischen den beiden Taktiken, die in den Wochen zuvor exerziert w orden waren, die aber nicht dauerhaft nebeneinander praktiziert werden konnten, mußte eine Entscheidung fallen. D as Konzept der Hardliner war, durch Prügeleinsätze auf der Straße, durch m ehrtägige V erhaftungen und selektive Verurteilungen, begleitet von lautstarker Propaganda, die entstehende Bürgerbewegung einzuschüchtern. Bis dahin w ar das gründlich mißlungen und eher das Gegenteil erreicht: wachsende Empörung und Solidarisierung zw ischen der Opposition und einem erheblichen Teil jener Bürger, die bisher angepaßt oder systemloyal gewesen waren. Darüber hinaus steckte in dieser Politik ein enorm es Risiko: Sie konnte zu einer Eskalation führen, die in Auseinandersetzungen wie am 16. und 17. Juni 1953 m ündete – diesm al freilich mit ungewissem Ausgang, da m it „ brüderlicher Hilfe“ durch die sowjetischen Truppen nicht zu rechnen w ar. Eine Taktik, die m an den Softlinern zurechnen könnte, w ar nur in D resden am 8. und 9. Oktober und bei der letzten Montagsdem onstration in Leipzig erprobt w orden. Es war der Versuch, die Bürgerbew egung m it V erzicht auf offene K onfrontation und mit einem „Dialogangebot“ in gem äßigte und radikale Teile zu spalten. Es bedeutete, eine vorübergehende Verschnaufpause für das Regim e durch Integration der gesprächswilligen Akteure auf seiten der Bürgerschaft zu gewinnen. Sie w ürden dann vielleicht – w ie das die K irche in den Jahren zuvor immer wieder gemacht hatte – besänftigend auf radikalere O pponenten einwirken. A uch das barg für die Machthaber Risiken in sich: Es war keineswegs ausgemacht, daß diese Taktik nicht die Stigm atisierung aller Teile der Opposition beenden und zu ihrer Stärkung führen würde, weil sie nun für bisher angepaßte Bürger zum politischen Orientierungspunkt wurde. Und es konnten durch die norm ative Kraft des Faktischen neue Regeln öffentlichen Verhaltens konstituiert werden. Ein weiteres Risiko war, daß diese Taktik bisher nur von regionalen Parteifunktionären, den SED-Chefs in Dresden und Leipzig, auf eigene V erantwortung hin erprobt w orden w ar. Sie konnten, da in Ostberlin noch das alte Politbüro residierte, jederzeit gemaßregelt werden, was in diesem Falle zumindest ihre Entmachtung bedeutet hätte. Es war deshalb ein sehr glatter Boden, auf dem sich diese Funktionäre und ihre Kombattanten im Großen Haus bewegten.

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5.1 Letzte Scharmützel zur Verteidigung des Status quo Das SED-Politbüro hat in seiner Sitzung am 11. Oktober zwar eine „Erklärung“ verabschiedet, doch damit war ein K urswechsel noch nicht gesichert. Das zeigt schon der V erlauf dieser Sitzung, den G erhard Schürer in handschriftlichen Notizen festgehalten hat. 1 Honecker gab sich m ilitant und erklärte: „Konterrev[olution] muß bekämpft werden. Gewaltmonopol hat auch bei uns der Staat. Wenn [es] notwendig [ist,] muß von der Macht G ebrauch gemacht werden.“ 2 Eine Gegenposition vertraten Krenz, Hager, Eberlein und einige andere: Es sei eine aktivere Führung und eine politische Lösung der Probleme notwendig. Diese Position w ar noch keinesw egs dominierend – geht man vom dem Eindruck aus, den diese Notizen vermitteln. Vor allem aber gab es eine A rt N agelprobe, di e zugleich die Frage beantwortet, ob Krenz allzu vorsichtig war, als er versuchte, Honecker als G allionsfigur für eine Wende zu gewinnen, um so möglichen Widerstand zu brechen. Alfred N eumann, der dem Politbüro seit 1954 angehörte und der eine Woche später sagen sollte, die „ Lage“ sei so „ beschissen, wie sie noch nie in [der] SED war“, 3 forderte als erster eine Personalentscheidung und zwar: „Mittag absetzen“. 4 In einem Alter von fast 80 Jahren w ar er frei von taktischen Rücksichten. Doch der Effekt wa r gleich Null. Es m eldeten sich nur Hardliner wie Mückenberger und Mielke zu diesem Vorschlag zu Wort, die „Ali“ N eumann aufforderten, seinen A ntrag zurückzuziehen, während sich die Honecker-Gegner, die natürlich auch Gegner von Günter Mittag waren, bedeckt hielten und schw iegen. Schließlich w urde über Neumanns Vorschlag nicht einmal abgestimmt. 5 Von entsprechender Qualität war die „ Erklärung des Politbüros“ . Die Weichenstellungen in D resden und Leipzig, die wirklich etwas bedeuteten, wurden mit keinem Wort erwähnt. Der Kompromißcharakter, den schon der Entwurf dieses Papiers gehabt hatte, w urde noch verstärkt, indem der Text um einige scharfe Formulierungen gegen die Opposition ergänzt wurde, ein-

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Aufzeichnungen von Gerhard Schürer zu der Politbüro-Sitzung am 10. –11.10.1989; BA Berlin, DE-1-56321, Bl. 70–105; Nachdruck in: Hertle: Der Fall der Mauer (1996), S. 409–426. – Die Autorschaft von Schürer ergibt sich aus einem Handschriftenvergleich dieser nur mit „Persl. Aufz[eichnungen] PB 10./11.10.1989“ überschriebenen Notizen mit anderen Notizen in der gleichen Akte und vor allem der gleichen Handschrift, die überschrieben sind: „Pers. Aufz. 8.7.88 Gen. Schürer“; BA Berlin, DE-1-56321, Bl. 295. Ebenda, Bl. 98. „Persönliche Aufzeichnungen“ von Gerhard Schürer zu der Politbüro-Sitzung am 17.10.1989; e benda, B l. 197–212, hier 199; Nachdruck in: Hertle: Der Fall der Mauer (1996), S. 430–437. Aufzeichnungen von Gerhard Schürer zu der Politbüro-Sitzung am 10. –11.10.1989, Bl. 80. Vgl. auch Schabowski: Politbüro (1990), S. 89. Im Protokoll dieser Sitzung findet sich kein entsprechender Beschluß; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2351.

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schließlich einer Warnung vor „ konterrevolutionären Attacken“. 6 D aß – ebenfalls in Abweichung von der ursprünglichen V orlage – das Schlüsselwort „ Dialog“ eingefügt w urde, 7 w äre in diesem Zusammenhang wertlos, wäre die offizielle Sprache nicht dera rt standardisiert und ausdrucksarm gewesen, daß allein schon die Verwendung eines ungewöhnlichen Begriffes ein Signal bedeutete. N ur wenn man den gesamten Text vor diesem Hintergrund betrachtet, wird überhaupt deutlich, warum so lange über die „ Erklärung“ gestritten worden ist und weshalb ihre Veröffentlichung eine Niederlage der Dogmatiker bedeutete. A ls w eitere K onzession m ußten sie der Wiederaufnahme des Anfang Septem ber zerschnittenen Gesprächsfadens mit der Kirche zustimmen: Honecker sollte sich – auf Vorschlag von Krenz 8 – mit Bischof Leich zu einer internen Zusam menkunft treffen. 9 A ußerdem wurde der Auftrag erteilt, „ eine Vorlage für die Schaffung eines neuen Reisepasses für alle Bürger der DDR au szuarbeiten und dem Politbüro zur Bestätigung vorzulegen“ . 10 Was das konkret bedeuten sollte, war unklar: ob damit das lange verdrängte Problem endlich im Zentrum der Macht auf die Tagesordnung gesetzt werden sollte oder ob es im Gegenteil sogar ein letzter Versuch war, Auslandsreisen zeitweilig ganz zu unterbinden. Falls letztere Variante, die nicht sehr wahrscheinlich ist, zutreffen sollte, wäre es den Honecker-Gegnern gelungen, das zu verhindern. 11 Das Kräfteverhältnis zwischen „Falken“ und „Tauben“ verschob sich nun von Tag zu Tag, w eil die „ Erklärung“ von m anchen Parteikadern und von kritischeren Anhängern des Regim es als Chance verstanden wurde, ihrer Unzufriedenheit mit der alten Führung systemimmanenten Ausdruck zu verleihen. „ Progressive K räfte“, m eldete das MfS, hätten die „Erklärung“ mehrheitlich „mit großer Erleichterung“ aufgenommen, weil „damit endlich 6 „Erklärung des Politbüros“, in: Neues Deutschland 12.10.1989. 7 „Die Probleme der weiteren Entwicklung des Sozialismus“ seien „ im sachlichen Dialog und im vertrauensvollen politischen Miteinander“ zu lösen. Ebenda. 8 Vgl. Aufzeichnungen von Gerhard Schürer zu der Politbüro-Sitzung am 10. –11.10.1989, Bl. 78. 9 Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros am 10. –11.10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2351, o. Pag., 4 S. 10 Ebenda, S. 4. Dafür verantwortlich waren Krenz, Mielke, Dickel und Außenminister Fischer. Diese Zusammensetzung ging auf einen Vorschlag von Honecker zurück; vgl. Aufzeichnungen von Schürer zu der Politbüro-Sitzung am 10.–11.10.1989, Bl. 104. 11 Auf die Gründe, die gegen diese Version sprechen, wird im Zusammenhang mit der Darstellung der Maueröffnung zurückzukommen sein. Oberst Lauter, der Leiter der Hauptabteilung Paß- und Meldewesen im MdI, hat 1994 auf einer Tagung berichtet: „ Es gab den Versuch, Reisen für D DR-Bürger überhaupt zeitw eilig zu verhindern, indem ein völlig neuer Paß in roter Farbe einzuführen war. Wir erhielten einen Auftrag des Politbüros, der für uns, wenn man mit solchen Dingen fachlich beschäftigt ist, völlig schizophren, völlig abstrus war, selbst noch mit Musterpässen in der Hand und innerhalb von drei Tagen eine solche Vorlage zu machen. Also meiner Erkenntnis nach hat Wolfgang Herger es verstanden, mit Hilfe seines damaligen vorge setzten Sekretärs [Egon Krenz], die Annahme und Behandlung einer solchen Vorlage zu verhindern. Es hätte zur innenpolitischen Katastrophe geführt. “ Gerhard Lauter: Reise freiheit politisch überreif (nichtautorisierte Tonbandabschrift), in: Fall der Mauer (1995), S. 43–45, hier 44.

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auf einen in Gang gekommenen Prozeß reagiert worden [sei], der nicht mehr aufzuhalten gewesen sei und dem nur durch eine offene Auseinandersetzung mit allen in letzter Zeit angehäuften Problemen und ihrer raschen Überwindung begegnet w erden könne“. 12 Allerdings würden „von Arbeitern, Angehörigen der Intelligenz und Mitarbeitern zentraler staatlicher Organe [...] auch Zweifel und Skepsis“ geäußert. 13 Aus Kreisen der Opposition – v om M fS u mschrieben al s „reak tionäre kirchliche Amtsträger sowie Anhänger und Sy mpathisanten des ‚Neuen Forums‘“ – wurde vermeldet, daß die „Erklärung“ in dem Sinne positiv aufgenommen worden sei, daß m an sie als „ Reaktion der SED auf die Forderungen der ‚Opposition‘ und auf die jüngsten Dem onstrationen“ interpretiere. Sie werde „ als Kompromiß der unterschiedlichen Strömungen im Politbüro angesehen“. D amit seien „ gewisse Weichen in Richtung D ialog und weg von Konfrontation gestellt“ . 14 Wichtig waren aus dieser Sicht die neuen, nicht die traditionell-agitatorischen Elem ente. In einer Stellungnahm e „ begrüßte“ das Neue Forum „die Verlautbarungen des Politbüros“ und forderte zugleich, die Voraussetzungen „für einen echten Dialog“ zu schaffen: „Freilassung aller bei D emonstrationen Inhaftierten“; „Zulassung des N euen Forums und aller anderen Basisgruppen, Parteien und Bürgerinitiativen“ ; „Zugang zu den Massenm edien“; Presse-, V ersammlungs- und Demonstrationsfreiheit. 15 Als Voraussetzung des D ialogs wurde die „ Anerkennung der Eigenstaatlichkeit der DDR“ akzeptiert, und daß sich dieser Dialog „ auf dem Boden der V erfassung“ vollziehen solle. 16 Der letztgenannte Punkt w ar angesichts A rtikel 1 („führende Rolle“ der SED) ein schwerwiegendes Zugeständnis, das w ohl nur m it der Einschätzung zu erklären ist, daß die Situation noch nicht für reif gehalten w urde, offen die Beseitigung des Kernelements der Diktatur zu fordern. Trotz solcher Konzessionen wurden die Angriffe gegen die Opposition mit einer „ZK-Information“ noch verschärft, die in den folgenden Tagen erarbeitet wurde, um den Parteim itgliedern die schon lange geforderte A rgumentationshilfe gegen die Opposition an die Hand zu geben. 17 Es wurden 12 „Erste Hinweise auf Reaktionen der Bevölkerung zur Erklärung des Politbüros des ZK der SED“, 13.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 4259, Bl. 1–6, hier 2. 13 Ebenda, Bl. 3. 14 Ebenda, Bl. 5 f. 15 „Stellungnahme des ‚Neuen Forums‘“ vom 12.10.1989, Anhang 2 zu „Lagebericht“ der HA XX vom 24.10.1989 zur Aktion „Störenfried“; BStU, ZA, HA XX/4 1685, Bl. 148 f. 16 Ebenda. 17 „Zum ‚Neuen Forum‘ und zu anderen illegalen oppositionellen Gruppierungen in der DDR“, Informationen 1989/7 Nr. 267, o. D.; BStU, ZA, ZAIG 7388, Bl. 28–31; dokumentiert in: Rein: Opposition (1989), S, 235–239, der – ohne Beleg – als Versanddatum den 18.10.1989 nennt. Falls dieses Datum zutri fft, handelt es sich um den Tag, an dem Honecker gestürzt und Krenz als sein Nachfo lger gekürt wurde. Der Text nahm jedoch nur auf die Politbürositzung am 11.10. Bezug, nicht aber auf das 9. ZK-Plenum oder auf den Führungswechsel; er ist also vorher entstanden. Es handelt sich um ein Zeugnis der Abwehrgefechte der harten Dogmatiker im ZK-Apparat gegen die „ Wende“. Deutlich belegt dies der Schlußsatz des Dokuments, Honeckers Lieblingsphrase: „Es bleibt dabei: Der

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zwar einzelne Formulierungen aus der „ Erklärung“ übernommen, dann aber folgte eine Breitseite im Stil der Agitation vor dem 40. Jahrestag. In der „ Erklärung“ war vermieden worden, die Bürgerrechtsgruppen und die im Entstehen begriffenen politischen Parteien auch nur zu erwähnen. Nun wurden ihnen plakativ „antisozialistische und konterrevolutionäre Programmatik“ und „verfassungsfeindliches Handeln“ unterstellt und drohend hinzugefügt: „Wer ihnen seine Sy mpathie bekundet, m uß wissen, worauf er sich einl äßt.“ 18 Das war eine Warnung auch an m anche Parteim itglieder. Sie sollten, statt m it kritischen Bürgern zu debattieren, die „loyalen, ehrlichen Bürger“ davor bewahren, sich durch die Bürgerrechtsbew egung „ mißbrauchen“ zu lassen. 19 Doch als Hilfe in ihrer A rgumentationsnot w ar dieser Text genauso w enig geeignet wie der „Schwarze Kanal“ des Karl-Eduard von Schnitzler. Honecker hatte noch nicht aufgegeben. Bei einem Treffen m it den 1. Sekretären der Bezirksleitungen am 12. Oktober verteidigte er den Status quo, so als ob inzw ischen nichts geschehen w äre. Nur wenige Funktionäre wagten, m ehr oder weniger deutlich Kritik zu üben, unter ihnen Hans Modrow. 20 Der Dresdner SED-Chef konstatierte, daß „ sich die Kräfte noch stärker [form ieren], die nach dem Motto der ‚Gewaltlosigkeit‘ Antworten auf Fragen verlangen und am Ende Ä nderungen erzw ingen w ollen und wachsenden Einfluß erlangen“ . 21 „ Notwendig“ sei „ die offene D iskussion grundlegender Fragen“, um „den Erwartungen der Parteiorganisationen und breitester Kreise der Bevölkerung zu entsprechen“ und „die Initiative in die Hand zu bekom men. [...] Im Mom ent besitzen wir diese Initiative noch nicht. Das ist das Grundproblem .“ Dann kritisierte er direkt das Politbüro:

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Arbeitsplatz ist unser Kampfplatz für Sozialis mus und Frieden.“ Es ist allerdings keineswegs sofort aus dem Verkehr gezogen worden (Mielke etwa hat sich drei Tage später zustimmend darauf bezogen), weil Krenz, wie zu zeigen sein w ird, noch keine eigene Position entwickelt hatte. So lange blieb es in Kraft. – Auf dieses Dokument stützt sich Richter: Staatssicherheit (1995) in seiner Darstellung der politischen Linie von Krenz. Die Parteiinformation ist jedoch nicht, wie Richter schreibt, „bereits kurz nach seiner [Krenz’] Machtübernahme“ erstellt worden (S. 40 f.), sondern an dem Tag, an dem Krenz vom Zentralkomitee überhaupt erst zum Generalsek retär gewählt worden ist. Für diese Art von Informationen war zuvor nicht Krenz, sondern Horst Dohlus, ein typischer Parteibürokrat, zuständig. Auf der Politbüro-Sitzung, die am 18.10. stattgefunden hat, wurde sie ausweislich des Protokolls nicht beschlossen. Eine zweite Quelle, die Richter für seine Interpretation heranzieht, eine Vorlage für das Polit büro vom 23.10.1989, hatte eine wechselvolle Geschichte, an der unter anderem bemerkenswert ist, daß diese Vorlage, die in drei fortgeschriebenen Varianten existiert, von denen Ri chter nur eine erwähnt, trotz Überarbeitung nicht bestätigt w orden ist. D arauf w ird an entsprechender Stelle zurückzukommen sein (Kap. 5.5, S. 364 ff.). „Zum ‚Neuen Forum‘...“, Bl. 30. Ebenda, Bl. 31. Diese Aussage ist nicht sonderlich gut gesichert, weil von der Beratung kein Protokoll bekannt ist und man deshalb auf die Berichte von Teilnehmern angewiesen ist; vgl. Krenz: Wenn Mauern fallen (1990), S. 206; Schabowski: Politbüro (1990), S. 94 f.; ders. : Absturz (1991), S. 256 f.; Modrow: Aufbruch (1991), S. 18 f. Redemanuskript von Hans Modrow für die Beratung der 1. Bezirkssekretäre der SED mit Erich Honecker am 12. Oktober 1989 in Berlin ; Nachdruck in: Stephan (Hrsg.): Vorwärts immer (1994), S. 157–161.

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„Die Lage erfordert dringend eine wirksam ere politische Führung.“ 22 An deutungsweise benannte er auch politische Inhalte: „Es geht nicht um ein bißchen mehr sozialistische Demokratie, es geht um eine neue Qualität ihrer Entwicklung im Leninschen Sinne, um die weitere Ausgestaltung des sozialistischen Rechtsstaats bis hin zum Wirken der Volkskammer als oberste sozialistische Volksvertretung.“ 23 Die Bedeutung des „Leninschen Sinns“ war unklar: War es Pseudo-Leninism us 24 , oder sollte darin mehr eingeschlossen sein? Es handelte sich um die Andeutung eines politischen Reformprojekts, die sinngemäß so auch G orbatschow im Jahre 1986 formuliert haben könnte. 25 Das Ziel w ar Machtsicherung durch Integration: Liberalisierung, aber keine Demokratisierung. Günter Jahn (Potsdam ) und Johannes Ch emnitzer (Neubrandenburg) äußerten sich bezüglich der Führung ihrer Partei ähnlich kritisch wie Modrow. Jahn meinte, daß man „von vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen Partei und V olk“ derzeit nicht sprechen könne. Seine Devise sei zwar „,Den Feinden die Faust‘ – aber w ir können nicht Zehntausende zu Feinden erklären“. 26 Er und Chemnitzer waren weder vorher noch nachher als „ Tauben“ aufgefallen, 27 doch offenbar reichte es selbst ihnen. Alle drei Bezirkssekretäre, die bis dahin gesprochen hatten, w aren keine Mitglieder des Politbüros und deshalb bei den entscheidenden Auseinandersetzungen gar nicht dabei gew esen. Som it stand H oneckers Interpretation der „Erklärung“ noch immer unw idersprochen im Raum . Einer der Teilnehmer hat später erklärt, er habe sich bei dieser Sitzung „geschämt“. 28 Als 22 Ebenda, S. 158. 23 Ebenda, S. 161. 24 Diesen Begriff hat der Moskauer Soziologe Leonid Ionin zur Charakterisierung der Taktiken der reformw illigen politischen Intelligen z in der Sow jetunion zu Zeiten B reshnews geprägt. Die Aufforderung, zu den Texten der Gründerväter – sei es Lenin, Marx oder die Bibel – zurückzugehen, ist bekanntlich eine uralte Methode, um ein Reformprojekt im Rahmen der jeweils herrschenden Ideologie zu legitimieren. Leonid Ionin: Die Generation der ‚Schestidesjatniki‘ und ihr stiller Gang durch die Institutionen; Referat auf der Tagung „Rückkehr nach Europa? D ie geistig-politische D imension des ostmitteleuropäischen Umbruchprozesses seit 1989“ der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam 8.–9.11.1996. 25 Auf diesen Aspekt wird noch ausführlicher einzugehen sein. Zu denken ist etwa an Gorbatschows Rede im Februar 1986: „Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXVII. Parteitag der Kommunistischen Pa rtei des Sowjetunion“, in: Presse der Sowjetunion 1986, H. 3, S. 5–40. 26 Information des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Potsdam, Günther Jahn, über die Beratung des Politbüros mit den 1. Sekretären der Bezirksleitungen am 12. 10.1989; BStU, ASt Potsdam, AKG 617, Bl. 68 f. 27 Zu Jahns Äußerungen auf dem 7. ZK-Plenum im Juni 1989 siehe S. 102; Chemnitzer hatte am Vortag auf einer Sitzung des Sekretaria ts der Neubrandenburger SED-Bezirksleitung Honecker wegen Sprachlosigkeit kritisiert („ Läßt andere sprechen!“) und ihn dafür verantwortlich gemacht, daß die SED in die „ ideologische Defensive abgerutscht“ sei. Zitiert nach Niemann u. Süß: Neubrandenburg (1996), S. 26 f. 28 Die Äußerung von Hans-Joachim Böhme, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, bei der folgenden Politbüro-Sitzung am 17.10.1989 ha t G. Schürer in seinen Notizen festgehalten; BA Berlin, DE-1-56321, Bl. 197–212, hier 201.

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eine Pause eingelegt wurde, ging Modrow zu Schabowski und fragte, ob im Politbüro zwei Tage lang nur so diskutiert w orden sei, w ie von H onecker dargestellt. Als der verneinte, forderte ihn der Dresdner Bezirkssekretär auf, dann doch endlich die D inge zurechtzurücken. 29 Schabow ski ergriff nun tatsächlich das Wort und erklärte – so seine eigene D arstellung –, man könne der Feststellung nur zustim men, „daß das Politbüro seiner Führungsaufgabe nicht gerecht geworden sei“. Er fuhr demgemäß fort: „Aber wenn vermutet wird, daß die Politbürositzung, die nun endlich stattgefunden hat, statt sich mit brennenden Problemen zu befassen, m it der NATO beschäftigt hat, so muß ich hier feststellen, daß das Gegenteil der Fall gewesen ist. Die Politbürositzung ist vom Ernst der Lage in der DDR ausgegangen und hat si ch sehr gründl ich darüber ve rständigt, wo überal l der Karren i m Dreck steckt.“ 30

Honecker nahm diese Desavouierung schweigend hin. 31 Der eher dürftige Gehalt dieser Beiträge zeigt, daß die D ifferenzierung in der Führungsetage des A lten Regim es zu diesem Zeitpunkt noch keinen programmatischen, in die Zukunft gerich teten Charakter hatte, sondern sich auf einem sehr viel bescheideneren Niveau bewegte. Vielleicht war dies sogar die Voraussetzung für das Zustandekom men des Zw eckbündnisses der Softliner. Sie hatten begrenzten Einblick in die gesellschaftliche Stimmungslage und waren deshalb zu der Einsicht gekommen, eine Veränderung an der Spitze sei notw endig, um aus der Defensive herauszukommen. Gewalt schien ihnen – w elche Einstellung sie dazu grundsätzlich auch im mer haben mochten – in dieser Situation kein geeignetes Mittel. Ihre Gem einsamkeit beschränkte sich auf diesen kleinsten gem einsamen Nenner. Aber auch das war nicht selbstverständlich, sondern eine Position, die erst noch durchgesetzt werden m ußte, während die Gegenseite nicht völlig untätig blieb. Nach den Bezirkssekretären seiner Partei agitierte Honecker die Spitze des „Demokratischen Blocks“, das heißt die V orsitzenden der Blockparteien, die er am 13. Oktober zu einem „Gespräch“ eingeladen hatte. 32 Als Begleiter hatte er sich seine engsten Getreuen ausgewählt: Joachim Herrmann und – für ein solches Treffen ungewöhnlich – Günter Mittag. 33 Damit sollte 29 Die Darstellung dieser Episode basiert auf einem Gespräch des Verf. mit Hans Modrow am 7.11.1996. Schabowski erwähnt diese Vorgeschichte seines anschließenden Redebeitrags nicht, sondern behauptet, er sei „plötzlich“ von Honecker aufgefordert worden, sich zu äußern; vgl. Schabowski: Politbüro (1990), S. 95. 30 Ebenda. 31 Vgl. ebenda. 32 Anwesend waren Gerald Götting (CDU), Günther Maleuda (DBD), Heinrich Homann (NDPD), Manfred Gerlach (LDPD) und Lothar Kolditz (Präsident des Nationalrats der Nationalen Front). 33 Ursprünglich sollte auch noch K renz teilnehmen, der an diesem Tag jedoch nach Leipzig

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über die Politbüro-Erklärung von denjenigen „informiert“ werden, die sie zu verhindern versucht hatten. In einem Kommuniqué, das bereits schriftlich zu Sitzungsbeginn vorlag, hieß es, die „Erklärung“ habe „ volle Zustim mung“ gefunden. 34 Doch ganz so harmonisch ist die Sitzung nicht verlaufen. Einer der Teilnehmer, der LD PD-Vorsitzende Manfred G erlach, hat eine instruktive Schilderung des Treffens verfaßt. 35 Danach hat Honecker zu Beginn ziemlich unkonzentriert die Verdienste seiner Politik herausgestellt und dann betont, daß die Politbüro-Erklärung nur ein „erster Schritt“ sei, dem bald „Thesen“ des ZK folgen würden. Die „Hauptfrage“ sei in der gegenwärtigen Situation „die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht“. Anschließend hätten ihm Gerald Götting (CDU) und G ünter Maleuda (Bauernpartei) beigepflichtet. Dann hätte Honecker ihn, Manfred G erlach, aufgefordert, seine Meinung zu sagen. Gerlach hatte schon in den Monaten zuvor Sy mpathien für eine Liberalisierungspolitik erkennen lassen, 36 w ar allerdings zunehm end frustriert und hatte noch im September m it dem G edanken gespielt, als LD PD-Vorsitzender zurückzutreten, w eil er sich durch die SED-Führung mißachtet fühlte. 37 Diese resignativen A nwandlungen schien er inzw ischen überw unden zu haben, denn am Tag des Treffens w ar in seinem Parteiorgan, dem „Morgen“, eine Rede abgedruckt w orden, in der sich eine Herausforderung des Führungsanspruchs der SED fand: „ Die Geschichte beweist, daß keine Partei im Sozialismus a priori schon kraft ihrer Existenz und ihres Wirkens die politische Wahrheit für sich hat.“ 38 In der damals noch durchgehend benutzten Sklavensprache grenzte diese banale Feststellung an Majestätsbeleidigung, weil sie das U nfehlbarkeitsdogma der SED -Führung leugnete. D aß dieser Artikel überhaupt veröffentlicht worden war, zeigte den Machtverfall des SED-Apparates. Honecker w ar durch diesen A rtikel und zudem durch das MfS vorgewarnt. Von der Staatssicherheit hatte er eine „Information“ erhalten, zu welchen Punkten sich der LDPD-Vorsitzende kritisch äußern werde. 39 Gerlach selbst schreibt, er habe eingangs „ die Führungs- und Sprachlosigkeit der SED“ moniert und dann, kurz zusammengefaßt, folgende Punkte erwähnt:

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fahren mußte; vgl. Schabowski: Politbüro (1990), S. 98 f.; Krenz: Wenn Mauern fallen (1990), S. 206. Neues Deutschland 14.10.1989. Gerlach: Mitverantwortlich (1991), S. 287–290. Vgl. Suckut: LDP(D) (1995), S. 1509–1519. So der Berliner LDPD–Bezirksvorsitze nde Weichenhain am 21.9.1989 gegenüber einem MfS-Mitarbeiter; BVfS Berlin, A bt. X X/1: „ Lage in der LD PD, B ez.-Verband B erlin“; BStU, ASt Berlin, E 1 (unerschlossenes Material). Rede vor dem Politischen Ausschuß des Zentralvorstandes der LDPD, in: Der Morgen 13.10.1989, zitiert nach Zimmerling: Chronik 1, S. 111 f. Diese MfS-Information ist auch deshalb interessant, weil sie indirekt die Darstellung Gerlachs bestätigt; Information Nr. 456/89 vom 13.10.1989 „ über beabsichtigte Vorschläge der LDPD anläßlich der Beratung des Demokr atischen Blocks“; BStU, ZA, ZAIG 3750, Bl. 8–10; Nachdruck in: Suckut: LDP(D) (1995), S. 1544 f.

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„Bei der Forderung nach offenem und öffentlichen Dialog nannte ich als Partner nicht nur das ‚Neue Forum‘ sondern auch ‚Demokratie Jetzt‘ und den ‚Demokratischen Aufbruch‘. Neue geset zliche Bestimmungen forderte ich zur Entlassung aus der St aatsbürgerschaft al s garant iertes R echt und zur Wiederaufnahme zurückkehrender frühe rer DDR-Bürger. Zu garantieren sei die Reisemöglichkeit für alle DDR-Bürger einmal jährlich ins westliche Ausland [...] . Nötig sei die Änderung des St rafgesetzbuches, d. h. Wegfall der ‚Kautschuk‘-Delikte, die zur Rechtswillkür führen.“ 40

Gerlach nennt noch mehr Aspekte, aber der zitierte Ausschnitt genügt, um zu zeigen, daß er einen relativ umfassenden Reformkatalog vorgetragen hat, der weit über die zuvor skizzierte Position einiger Softliner in der SEDFührung hinausging. Allerdings wurde auch hier nur die Änderung einzelner Politikbereiche gefordert, nicht etwa eine Dem okratisierung der politischen Grundstrukturen. Besonders deutlich war das in dem zuvor erwähnten Beitrag Gerlachs im LDPD-Blatt „ Der Morgen“ gewesen. Dort hieß es zu den Grenzen des angestrebten Dialogs: „Einzubeziehen sind nat ürlich auch B ürgerbewegungen, di e, ohne i n ei ner Partei organi siert oder bi sher i n der Nat ionalen Front akt iv zu sein, auf demokratische Weise in Übereinstimmung mit der Verfassung am Dialog teilnehmen wollen. Wir unterscheiden zwischen Bürgern, die die Regierungspolitik öffentlich k ritisieren o der ab lehnen o der wen igstens modifiziert wissen wollen, und Feinden des Arbei ter-und-Bauern-Staates. Die einen sind in öffentliche Diskussionen einzubeziehen, die anderen in die Schranken zu verweisen – mit den gebotenen Mitteln!“ 41

Damit verletzte Gerlach zwar das Tabu eines „ Dialogs“ mit der Bürgerbewegung und deutete Diskussionen an, die über die bisherigen Möglichkeiten politischer Artikulation in der Diktatur weit hinausgingen, blieb aber dabei, „administrative Mittel“ gegen radikale Gegner des Regim es einzusetzen. Der Verweis auf die V erfassung war gleichbedeutend m it der weiteren Anerkennung des Machtmonopols der SED. Diese Schranke wurde zum damaligen Zeitpunkt in der DDR – anders als etw a in U ngarn und Polen – auch von entschiedeneren Reformern auf seiten des A lten Regimes noch respektiert. Insofern waren sie lediglich Liberalisierer. V on der Einsicht in die Notwendigkeit einer D emokratisierung w aren sie noch w eit entfernt – zumindest in ihren öffentlichen Äußerungen. Zudem war auch in dieser Positionsbestimmung das Bestreben erkennbar, die Opposition auseinanderzudividieren, allerdings verlief bei dem LDPD-Vorsitzenden die Linie zwischen 40 Diese Punkte werden in anderer Formulierung auch in der MfS-Information genannt; Gerlach: Mitverantwortlich (1991), S. 288 f. 41 Der Morgen 13.10.1989, Nachdruck in Zimmerling: Chronik 1, S. 112.

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denen, die zum „ Dialog“ zugelassen, und jenen, die „ mit den gebotenen Mitteln“ daran gehindert werden sollten, anders als bei den Liberalisierern in der SED. Gerlach berichtet weiter über das Treffen des „ Demokratischen Blocks“, Honecker habe im Anschluß an seine Rede erklärt, über all das werde auch im Politbüro debattiert. Auf einzelne Punkte sei er kaum eingegangen und habe nur konstatiert, m an müsse diese Vorschläge „durchdenken und besprechen“. Später habe er K renz gegenüber erklärt, das Treffen mit den Blockparteien sei sehr erfreulich verlaufen, denn Gerlach habe die erwartete Grundsatzerklärung nicht abgegeben. 42 D as w ar um so erstaunlicher, als in den Wochen zuvor im Nachbarstaat Polen die „ Blockparteien“ sich um ihres politischen Überlebens willen von der kommunistischen Partei, der PVAP, losgesagt hatten und zur Opposition übergewechselt waren 43 – insofern war klar, in welche Richtung die Entwicklung ging. Es läßt sich daraus auf die geistige V erfassung schließen, in der H onecker sich inzwischen befand: Er war offenkundig nicht mehr in der Lage, die Brisanz der Situation zu begreifen. Auch die A useinandersetzung um die nächste Montagsdemonstration in Leipzig belegt diesen Eindruck. D ort waren in jenen Tagen Staats- und Parteifunktionäre in Gesprächen mit Geistlichen und erstm als auch m it Vertretern kirchlicher G ruppen bem üht, „ eine m ögliche D emo am kommenden Montag schon im V orfeld abzubiegen“ . 44 D as w ar kein ernstzunehm endes Unterfangen. Die Kirchenvertreter ließen sich nicht darauf ein, schon w eil ihre Einflußmöglichkeiten damit überschätzt wurden. Es diente wohl vor allem dem Zweck, nach Ostberlin melden zu können, daß man sich alle Mühe gegeben habe. 45 Am Freitag, dem 13. Oktober, flog eine hochrangige Delegation unter Leitung von Egon Krenz von Ostberlin nach Leipzig, um mit der Bezirkseinsatzleitung die V orbereitungen zu besprechen. 46 Nach ihrer Rückkehr 42 Gerlach: Mitverantwortlich (1991), S. 290; ebenso Krenz: Wenn Mauern fallen (1990), S. 38. 43 Vgl. Ziemer: Auf dem Weg zum Systemwandel in Polen (1989) S. 971 f. 44 Protokollnotiz von Superintendent Richter über ein Gespräch zwischen Oberbürgermeister Seidel und mehreren Geistlichen am 12. 10.1989, in: Kaufmann u. a. (Hrsg. ): „ Sorget nicht ...“ (1993), S. 286 f.; vgl. auch Kurzprotokoll zu dem Gespräch zwischen dem Rat des Bezirkes und den Vertretern kirchlicher Gruppen am 13.10.1989, ebenda, S. 290–293. 45 Charakteristisch ist eine Meldung des 2. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Leipzig, Hackenberg, an Honecker: „ Durch das Sekretariat der Bezirksleitung werden alle Möglichkeiten genutzt, um den Dialog auf einer breiten Grundlage fortzusetzen und eine Demonstration am 16.10.1989 zu unterbinden. Diesem Anliegen diente ein Gespräch des Sekretärs der Bezirksleitung, Genossen Wötzel [der als einer der Unterzeichner des „Aufrufs der Sechs“ eine gew isse A utorität hatte] , mit den beiden Leipziger Superintendenten Magirius und Richter. Beide brachten zum Ausdruck, daß am Montag viele Menschen zu erwarten seien und man grundsätzlich davon ausgehen müsse, daß eine Demonstration stattfindet.“ Meldung Hackenbergs an Hon ecker vom 15.10.1989, Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 701–703. 46 Weitere Mitglieder dieser D elegation waren Wolfgang Herger, Generaloberst Mittig vom MfS, Generaloberst Fritz Streletz (der Se kretär des Nationalen Verteidigungsrates) und Generaloberst K arl-Heinz Wagner (Stabschef des Ministeriums des Innern); vgl. Krenz: Wenn Mauern fallen (1990), S. 138.

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entwarf Streletz, der Chef des Hauptstabes, in Absprache m it Krenz einen Befehl, den Honecker als V orsitzender des N ationalen V erteidigungsrates zu unterzeichnen hatte. Dieser Befehl war an die Bezirks- und Kreiseinsatzleitungen in Leipzig gerichtet und verpflichtete sie, „ Führungsbereitschaft“ herzustellen und „alle Maßnahmen vorzusehen, um geplante D emonstrationen im Entstehen zu verhindern“ . D as entsprach der alten Linie. Zugleich fand sich in diesem Befehl aber auch ein ganz neues Element: „Der aktive Einsatz polizeilicher Kräf te und Mittel erfolgt nur bei Gewaltanwendung der Dem onstranten gegenüber den ei ngesetzten Si cherheitskräften bzw. bei Gewal tanwendung gegenüber Objekt en auf B efehl des Vorsitzenden der B ezirkseinsatzleitung Lei pzig. Der Ei nsatz der Schußwaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten.“ 47

Diese Passage hat Honecker, so berichtet Krenz, erst nach längerem Zureden durch Streletz akzeptiert, nachdem ihm der Stabschef der NVA d eutlich gemacht habe, daß es undenkbar sei, gegen solche Massen „militärisch“ vorzugehen. 48 Die in sich w idersprüchliche Befehlsgebung w urde am nächsten Morgen fortgesetzt, als Stre letz der Spitze der Leipziger Volkspolizei über das Gespräch m it Honecker berichtete. 49 D urch den SED Generalsekretär sei „ festgelegt“ w orden, „ daß die Zusam menführung“ der Teilnehmer an den Montagsgebeten „ zu einem einheitlichen Demonstrationszug verhindert wird“. 50 Mehr noch: „ Unter allen Um ständen sollte verhindert w erden, daß es zu Massendemonstrationen im Zentrum Leipzigs kommt.“ Doch zugleich wurde der Miße rfolg dieses Vorhabens unterstellt, denn es sollten „so weit wie möglich der friedliche Ausgang der Demonstration gewährleistet“ und „keine Maßnahmen eingeleitet w erden, die zu einer Zuspitzung der Situation führen könnten“. 51 Damit wurde die Quadratur des Kreises verlangt. Honecker spielte an diesem Tag noch m it dem G edanken, vor der D emonstration als D rohgebärde „ein Panzerregiment durch Leipzig fahren zu lassen“, 52 ein Vorhaben, das ihm nur m ühsam auszureden war. Diese Vor47 Befehl Nr. 9/89 des Nationalen Verteidigungsrates vom 13. 10.1989; Militärisches Zwischenarchiv Potsdam, AZN 30922, Bl. 1–3; Nachdruck in: Auerbach: Tag X (1995), S. 139–141. 48 Interview mit E. Krenz in: Kuhn: Entscheidung (1992), S. 150 f. 49 BDVP Leipzig: „ Aktennotiz zur Einwei sung am 14.10.1989, 08.00 Uhr, bei Chef des Hauptstabes des NVR, Genossen Generalobers t Streletz“; N achdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 698–700. 50 Ebenda, S. 698. Dieser Punkt wird auch von Krenz erwähnt, was dafür spricht, daß seine Darstellung zutreffend ist; vgl. Krenz: Wenn Mauern fallen (1990), S. 140. 51 Ebenda, S. 699. 52 Äußerung von Egon Krenz am 7. 10.1994 im ZDF, zitiert nach Berliner Morgenpost 8.10.1994; ebenso Streletz in der Fernsehsendung „ Beton und Devisen“ von Lev Hohmann u. Hans-Hermann Hertle, in: 3sat, 10.11.1996; vgl. Schabowski: Der Absturz (1991), S. 259; Hertle: Chronik des Mauerfalls (1996), S. 85.

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stellung faßt die Ratlosigkeit der „ Falken“ in einem Punkt zusam men: Einerseits Panzer einzusetzen, sie aber andererseits nur zur Einschüchterung zu verwenden – das hatte die gleiche Qualität wie in den Monaten zuvor die leere Drohung mit einer „ chinesischen Lösung“, nur daß es in diesem Fall blutig hätte ausgehen können, w eil niem and voraussagen konnte, wie die Leipziger darauf reagieren würden. 53 Für seinen V erantwortungsbereich löste Mielke die schizophrene Befehlsgebung des V orsitzenden des N ationalen Verteidigungsrates auf. In einem Fernschreiben an die Leiter aller Diensteinheiten des MfS zur Lage in Leipzig konstatierte er am 16. Oktober, es sei „ nicht auszuschließen, daß es auch heute abend wieder zu einer Dem onstration ähnlichen Ausmaßes kommt“. In diesem Fall sei „ zu beachten, daß ein direkter Einsatz polizeilicher Kräfte und Mittel nur dann erfolgt, wenn Personen oder Objekte angegriffen bzw . andere schw ere G ewalthandlungen inszeniert werden“. 54 Tatsächlich verzichtete das Regim e am 16. Oktober in Leipzig auf D rohgebärden und den V ersuch, den Bürgerprotest gew altsam zu verhindern, obwohl erhebliche Polizeikräfte im Hintergrund bereitstanden. D ie D emonstration, an der noch m ehr Menschen teilnahm en als eine Woche zuvor, verlief ohne größere Vorkommnisse. 55 In Berlin-Mitte saß währenddessen eine illustre Runde zusam men. Innenminister Dickel berichtete wenig später: „ Mittels operativem Fernsehen habe ich jede Nuance der Demonstration [in Leipzig] dort am Fernseher verfolgt, w obei noch andere anw esend w aren.“ 56 Es handelte sich dabei um Egon Krenz, Erich Mielke, Fritz Streletz und Erich Honecker. Aus Leipzig kam eine reine Bildübertragung ohne Ton, 57 aber dennoch m uß es ein gewaltiger Eindruck gewesen sein. Der SED-Generalsekretär sah zum ersten Mal „das Volk“, das er in seinen Reden im mer beschw or, in einer LiveÜbertragung in selbstbestim mter A ktion. H onecker w ar „ sehr nervös“ , berichtet K renz, und m ußte von D ickel und Streletz immer wieder beruhigt 53 In einem Gespräch mit dem Verf. im Oktobe r 1990 hat Günter Schabowski eine ähnliche Geschichte erzählt. Er berichtete, Honeck er habe ihm gegenüber bei einem zufälligen Treffen im Flur des ZK-Gebäudes am 14. oder 15.10.1989 eine solche Überlegung angestellt. Schabowski sagte, er hätte sinnge mäß geantwortet: Und was machen wir, wenn einer einen Molotow-Cocktail wirft? Dann werden wir alle in wenigen Wochen an den Laternen hängen. Darauf Honecker: „ Dann eben nicht!“ Abrupt habe er sich abgewandt und sei gegangen. 54 Telegramm des Ministers an die Leiter der Diensteinheiten vom 16.10.1989, VVS MfS o008-76/89; BStU, ZA, DSt 103625. 55 Vgl. Neues Forum Leipzig (Hrsg.): Je tzt oder nie (1989), S. 115–123; Tagesmeldung des 2. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Leipzig an Honecker vom 17.10.1989, Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 710–714; Tagesmeldung der BVfS Leipzig an das MfS Berlin vom 16.10.1989; BStU, ZA, Neiber 617, Bl. 107–109. 56 Schlußwort des Ministers des Innern bei der Dienstbesprechung mit den Chefs der BDVP am 21.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 8637, Bl. 1–81, hier 52. 57 So die Aussage des Stabschefs des MdI, Wagner, am 17.1.1990, in: Unabhängige Untersuchungskommission Berlin (1991), S. 195.

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werden. Nach dem friedlichen Ende der D emonstration ging er nach H ause und hinterließ bei den anderen den Eindr uck, er sei „innerlich völlig durcheinander“. 58 Am gleichen Tag schickte Mielke einen Bericht zur Stim mung der Bevölkerung in das Große Haus. Diese „ Hinweise“ gingen in der Regel an ausgewählte Mitglieder des Politbüros, vom Generalsekretär abwärts. Diesmal erhielt nur Egon Krenz ein Exem plar. Mielke stellte eine persönliche Notiz voran: „Wie ernst die Lage ist, wird hiermit natürlich noch deutlicher, besonders, da es jetzt schon um die Fragen der Arbeiter geht.“ 59 Das Trau ma des Regimes, der 17. Juni, klang in dieser Form ulierung an. D ie nähere Begründung folgte in der A nlage des Schreibens. Seit der letzten Meldung zur Stimmungslage, drei Tage zuvor, hätten „äußerst kritische Auffassungen an Umfang und Intensität zugenommen“, verbunden mit „direkte[n] Angriffe[n] auf die Partei- und Staatsführung“ . N icht nur K ulturschaffende und Angehörige der Intelligenz würden sich so äußern, sondern auch immer mehr „Arbeiter und andere Werktätige in K ombinaten und Betrieben“ . 60 Der SED -Führung w erde „ die V erbindung zum Volk abgesprochen“, ihre „Reformfähigkeit“ und „ihr Wille dazu werden vielfach angezweifelt“ und eine „Kaderverjüngung in der Parteiführung“ verlangt. 61 „Wenn sich nicht kurzfristig etwas ändere“, berichteten SED -Mitglieder aus den Betrieben, „müsse mit entsprechenden Reaktionen auch seitens der A rbeiter gerechnet werden.“ Die Kritik wurde jetzt auch inhaltlich eindeutig: „Zahlreiche Mitarbeiter zentraler staatlicher und wirt schaftsleitender Organe, Mitglieder und Funktionäre der SED erklären, nicht mehr zu akzeptieren, daß es im realen Sozialismus in der DDR Massenfluchten, Mangelerscheinungen, ökonomische Stagnation, offene Unzufri edenheit unter der B evölkerung sowie lebensfremde Medienpolitik gebe.“ 62

Gerade „ klassenbewußte A rbeiter“ w ürden erklären, „ wenn diese Mängel nicht überw unden w ürden, könne es zu spontanen Streikaktionen kommen“. 63 Das bedeutete, daß nach A nsicht der Staatssicherheit die Basis des Regimes w ankte: A uch seine gläubigen Anhänger begannen zu zweifeln, und der politische Attentismus der Arbeiterschaft schwand. In einer persönlichen Mitteilung von Mielke an Krenz konnte das nur als Aufforderung zum Handeln verstanden werden.

58 Interview mit Krenz, in: Kuhn: Entscheidung (1992), S. 154. 59 Notiz von Mielke für Krenz vom 16.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 4259, Bl. 10. 60 „Weitere Hinweise auf Reaktionen der Be völkerung zur Erklärung des Politbüros des ZK der SED“ vom 16.10.1989; ebenda, Bl. 11–14, hier 12. 61 Ebenda, Bl. 13. 62 Ebenda. 63 Ebenda, Bl. 14.

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5.2 Führungswechsel Krenz, Herger und Schabow ski haben in diesen Tagen V erbündete gesammelt, um Honecker endgültig zu entm achten. 64 Zu ihren Bem ühungen existieren aus naheliegenden Gründen keine schriftlichen Dokum ente – m it einer bemerkenswerten A usnahme. G erhard Schürer hat einige Tage vor der entscheidenden Politbüro-Sitzung unter der Überschrift „Plan u[nd] Ablauf“ ein Szenario für den Honecker-Sturz festgehalten. 65 Der Leiter der staatlichen Plankommission und Kandidat des Politbüros m uß zu diesem Zeitpunkt bereits in die V orgespräche von K renz und G enossen eingeweiht gewesen sein – allerdings nicht vollständig, das zeigen einige Details. 66 Das Szenario ging davon aus, daß Honecker in der nächsten Politbüro-Sitzung gestürzt werden sollte, weil er in den vorangegangenen Tagen durch sein Verhalten gegen die „ Einheit“ des Politbüros verstoßen habe und deshalb „offensichtlich nicht mehr in der Lage [ist,] die Führung auszuüben. [Es besteht die] G efahr der Spaltung.“ 67 Ebenso interessant w ie diese Begründung, ist das Kalkül hinsichtlich der Stim menverhältnisse, das in diesem Papier festgehalten ist. Schürer selbst war eher Beobachter, weil er als einer der ewigen Kandidaten im Politbüro, dem er seit 1973 angehörte, kein Stimmrecht besaß. D er in seinen N otizen festgehaltenen Einschätzung nach war m it einem relativ knappen Stim menverhältnis zu rechnen, würde über die sofortige Beurlaubung von H onecker abgestim mt w erden. V on den 21 Vollmitgliedern des Politbüros seien 11 „ sicher“ für Honeckers Sturz (Böhme; Eberlein; Hager; Jarow insky; K leiber; K renz; K rolikowski; Lo64 Am ausführlichsten werden diese Tage beschrieben von Schabowski: Politbüro (1990), S. 99–104; ders.: Absturz (1991), S. 259–267. – Ein ehemaliger KGB-Offizier an der sowjetischen Botschaft in Ostberlin berichtet, daß Willi Stoph im Bündnis mit Werner Krolikowski – und (ab 1985) Erich Mielke – seit langem vergeblich bemüht gewesen sei, sowjetische Unterstützung für einen Sturz Hon eckers zu gewinnen. Auch er bestreitet allerdings nicht, daß in der konkreten Situation die Initiative von Krenz ausging; Kusmin: Die Verschwörung gegen Honecker (1995), S. 286–290. 65 „Plan u. Ablauf“; BA Berlin, DE-1-56321, Bl. 188–196. – In seinen Memoiren berichtet Gerhard Schürer, er habe bereits im Februar 1989 mit Krenz über eine Absetzung von Honecker gesprochen und dabei erfahren, daß er und Stoph seit 1985/86 darauf hinarbeiten würden. Mit anderen Politbüromitgliedern sei darüber schon gesprochen worden, auch Mielke werde sich nicht querstellen. Letztlich habe man gew artet, w eil „ Moskau kräftig bremste“ und Honecker todkrank war. Schürer: Gewagt und verloren (1996), S. 158. 66 Zwei Beispiele: In den Notizen wird davon ausgegangen, daß Stoph sich eventuell dem Vorhaben entgegenstellen würde. Mit ihm ab er hat sich Krenz am Samstag, dem 14.10., als erster verständigt (vgl. Krenz: Wenn Ma uern fallen [1990] , S. 143), wobei er sich allerdings – was zeigt, daß Schürer nicht ganz falsch lag – von Stoph das Zugeständnis abringen ließ, daß Honecker vorerst Staatsrats vorsitzender bleiben würde; Schabowski: Politbüro (1990), S. 100 f. In seinem Ablösungs antrag am 17.10. hat Stoph tatsächlich die staatlichen Funktionen Honeckers nicht erwähnt. – Noch deutlicher ist die folgende Bemerkung: „5. Schürer [oder] Tisch inform[ieren am] Montag [den sowjetischen Botschafter] Kotschemassow von uns[erem] Plan!“ Das aber ließ sich Schabowski nicht nehmen; er hat selbst mit ihm telefoniert. Ebenda, S. 101. 67 „Plan u. Ablauf“, Bl. 188.

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renz; Neumann; Schabowski; Tisch), 3 ebenso eindeutig dagegen (Herrmann; Honecker; Mittag). Schwer kalkulierbar werde die Lage durch 5 „Schwankende“ (Axen; D ohlus; Mückenberger; Sinderm ann; Stoph). Wie sich die Chefs der Sicherheitsapparate verhalten w ürden, blieb offen. Dazu notierte Schürer: „Kessler u[nd] Mielke muß Egon [Krenz] klären.“ 68 Als am 17. Oktober das Politbüro zu seiner D ienstagssitzung zusammentrat, stellte Willi Stoph in Abweichung von der Tagesordnung den Antrag, „Genossen Erich H onecker von der Funktion des Generalsekretärs und als Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei D eutschlands aus G esundheitsgründen zu entbinden“ . 69 Honecker war nach seiner eigenen Aussage „sehr überrascht“. 70 Dieses Empfinden steigerte sich noch, als all jene Genossen ihn nun kritisierten, die in den Jahren zuvor, wie Schabow ski berichtet hat, in „ einer A rt K lassenzimmeratmosphäre“ 71 jede Beschlußvorlage ohne Widerspruch abgesegnet hatten. D ie Runde w urde von K urt H ager eröffnet, der noch relativ m oderat von der Notwendigkeit einer „flexibl[en] Führung“ sprach. 72 Sehr viel schärfer wurde Hans-Joachim Böhme: „Honecker hat sein Lebensw erk zerstört.“ Zudem warf er ihm vor, daß er die Erklärung des Politbüros „ nicht m itgetragen“ habe. 73 Das war in diesem Milieu der Vorwurf der Fraktionsbildung. Besonders „erstaunt“ war Honecker – und nicht nur er –, als sogar seine engsten Vertrauten, Herrmann und Mittag, sich dem Scherbengericht anschlossen: 74 Günter Mittag mit der Begründung, es gehe um die „Macht“; Joachim Herrmann verbunden mit der Bitte, man möge doch diese Angelegenheit auf eine „Art und Weise“ regeln, „die diesem Leben gerecht wird“. 75 Auch Erich Mielke erklärte, Stophs „ Vorschlag [ist] richtig“ , denn die „Lage [ist] sehr ernst“. Zwar sei in den „Betriebe[n] noch Ruhe“, aber – wie die Mitteilung zeigt, die er am Vortag an Krenz geschickt hatte, und die er in diesem Kreis natürlich nicht erwähnte – das konnte sich schnell ändern. 76 68 Schabowski berichtet ebenfalls, daß sie mit „zehn, elf Leuten“ fest rechneten. Schabowski: Politbüro (1990), S. 102. 69 Protokoll der Sitzung des Politbüros am 17.10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2352, o. Pag. – In der Einladung zu dieser Sitzung vom 13.10.1989 war Punkt 1 der Tagesordnung noch der Bericht Honeckers zu seinem Treffen mit dem „ Demokratischen Block“, Arbeitsprotokoll der Sitzung des Politbüros am 17. 10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3247, o. Pag. 70 Honecker in: Andert u. Herzberg: Sturz (1990), S. 30. 71 Schabowski: Politbüro (1990), S. 21. 72 Zitiert nach den „ Persönlichen Aufzeichnungen“ von Gerhard Schürer, BA Berlin, DE-1563221, Bl. 197–212, hier 197. – Ausschließlich anhand der Schürer-Notizen hat Hertle diese Politbüro-Sitzung zum Teil mit anderer Akzentsetzung dargestellt; Hertle: Chronik des Mauerfalls (1996), S. 86. 73 „Persönliche Aufzeichnungen“ von Gerhard Schürer; Bl. 201. 74 Vgl. Honecker in: Andert u. Herzberg: Sturz (1990), S. 31; Schabowski: Politbüro (1990), S. 105; Mittag: Um jeden Preis (1991), S. 24; Hager: Erinnerungen (1996), S. 435. 75 „Persönliche Aufzeichnungen“ von Gerhard Schürer, Bl. 200 u. 202. 76 Ebenda, Bl. 203. – Es handelte sich bei Mielkes Positionsbestimmung nicht um „ persönliche Animositäten“ zwischen ihm und dem Gene ralsekretär, wie Richter: Staatssicherheit (1996), S. 32, annimmt.

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Wohl auch unter dem Eindruck von H oneckers Ä ußerungen w enige Tage zuvor, fügte er hinzu: „ Wir haben vieles mitgemacht. Wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen. Erich [es ist] Schluß: Ich akzeptiere das.“ 77 Das war eine Bemerkung von großer Bedeutung: Wenn selbst Honeckers geheim polizeiliches Alter ego eine offen repressive Antwort auf die Krise als Handlungsoption ausschloß, dann blieb auch den überzeugten Vertretern des Alten Regimes nur noch der Weg politischer Veränderungen. Nachdem andere so deutliche Worte gefunden hatten, konnte Krenz sich erlauben, Mitleid zu zeigen: „ Mir tu t das weh! [Die] Erklärung [des Politbüros] ist [ein] Kompromiß. Erich hat das alles nicht verstanden.“ 78 Schabowski war weniger taktvoll. Er erinnerte noch einmal daran, daß diese Erklärung „gegen [den] Widerstand [des ] Gen[eral]sekr[etärs]“ zustandegekommen war, und forderte dessen „ Abberufung“ auch aus allen staatlichen Funktionen, als Vorsitzender des N ationalen V erteidigungsrates und des Staatsrates. Deutlicher als Krenz gab er die neue Linie vor: Man m üsse die „polit[ische] Krise mit polit[ischen] Mitteln lösen“. 79 In einem langen Schlußw ort verteidigte H onecker noch einmal seine Sicht. 80 D aß gerade Stoph den A bwahlantrag eingebracht hatte, habe ihn „tief getroffen“ . Seine Kritiker würden sich einer Illusion hingeben, wenn sie glaubten, sein Sturz werde die Problem e lösen: „ Nichts wird beruhigt.“ Sie hätten ja gar „ keine Linie“ ; zum N euen Forum hätten sie „keine Stellungnahme“. Angesichts des Umstands, daß er als letzter H ardliner dastand, nahm er sich den Staatssicherheitsm inister vor: „ Mielke wollte immer Pfarrer verhaften lassen“. 81 Das hatte – sollte das wohl bedeuten – er verhindert. Trotzdem halte er, H onecker, daran fest: „ Wer offen gegen [die] Arb[eiterund-]B[auern]-Macht ist, gegen den m uß man auftreten.“ Zum Abschluß erklärte er, er gehe „ nicht als geschlagener Mann, sondern als G enosse bei voller Gesundheit“. Honeckers Kritik an seinen Gegnern war in manchen Aspekten durchaus zutreffend, aber den entscheidenden Punkt hatte Mielke in seinem Beitrag angedeutet. Der SED-Generalsekretär, dem der „ Blick für die Wirklichkeit verloren“ 82 gegangen war, hatte die D ogmatiker in eine Sackgasse geführt. Zugleich w ar das ein H inweis auf die Schw elle, die zu überschreiten die alten G enossen – aus w elchen G ründen auch im mer – nicht bereit waren. Am Ende der Debatte wurde die A bsetzung des G eneralsekretärs einstim 77 „ Persönliche Aufzeichnungen“ von Gerhard Schürer, Bl. 204. 78 Ebenda, Bl. 205. 79 Ebenda, Bl. 207 f. 80 Ebenda, Bl. 208–212. 81 Ebenda, Bl. 209. – Schabowski schreibt zu Mielke, er „erging sich in Entrüstungstiraden“ und drohte „ auszupacken“ (Politbüro [1990] , S. 105 f.). In Schürers Notizen findet sich darauf kein Hinweis, und der Tenor von Miel kes Positionsbestimmung, den er festgehalten hat, würde dem eher widersprechen. Es ist aber gut möglich, daß es sich dabei um einen späteren, spontanen Zwischenruf als Reaktion auf diese Äußerung handelte. 82 Hager: Erinnerungen (1996), S. 436.

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mig beschlossen. 83 Ebenso wurde die A bberufung von Joachim H errmann und Günter Mittag in die Wege geleitet. 84 Entscheiden konnte darüber allerdings nur das Zentralkomitee, das eilig für den nächsten Tag zusam mengerufen w urde. 85 Das Plenum eröffnete Willi Stoph, der ankündigte, daß der Generalsekretär über eine „Personalentscheidung“ sprechen w olle. In einer „ Erklärung“ bat H onecker w egen seines „Gesundheitszustandes“ um die Entbindung von allen – auch den staatlichen – Funktionen. 86 Den Entwurf zu diesem Text hatte Schabowski geschrieben, H onecker hat ihn noch um einen Satz ergänzt: Als seinen Nachfolger schlug er Egon Krenz vor. 87 Nachdem das Plenum darüber positiv entschieden hatte, sprach der neue Generalsekretär. Die Rede von Krenz ist ein aufschlußreiches Dokument. Es war die wichtigste Rede in seiner kurzen Am tszeit: Er stellte sich als „der Neue“ vor, der deutlich machen mußte, wie die SED unter seiner Führung einen Weg aus der Krise suchen würde. Das wäre schon schwierig genug gewesen. Er sollte die Mitglieder des Zentralkom itees, gew iß treue Parteigenossen, darunter nicht wenige „ Betonköpfe“, in nichtöffentlicher Sitzung von der Notwendigkeit eines Kurswechsels überzeugen. Zudem aber hatte das Politbüro beschlossen, daß die Rede am A bend im Fernsehen dem breiteren Publikum vorgetragen werden sollte. 88 Dadurch wurde diese Ansprache zur ersten tatsächlich politischen Rede in der Funktionärskarriere des Egon Krenz. Als Chef der herrschenden Partei hätte er nun unterschiedliche Interessen und Positionen zusammenbinden müssen – bisher war dekretiert worden, daß deren „Einheit“ im „Sozialismus“ a priori gegeben sei. Die Gesellschaft war aufgewühlt, deshalb war eine G ratwanderung unvermeidlich: Was für treue Parteigenossen beruhigend oder gar ermutigend sein mochte, konnte auf kritisch gewordene Bürger abstoßend w irken. Es wurde vom langjährigen Politbüromitglied K renz zudem eine Antwort darauf erwartet,

83 Vgl. Krenz: Wenn Mauern fallen (1990), S. 145; Schabowski: Absturz (1991), S. 270; Keßler: Zur Sache (1996), S. 274; Schürer: Gewagt und verloren (1996), S. 247. 84 In den „Hinweisen“ vom 16.10. war gemeldet worden, daß beide für den desolaten Zustand ihres Verantwortungsbereiches „im wesentlichen persönlich verantwortlich gemacht“ würden; „ Weitere Hinweise auf Reaktionen der Bevölkerung zur Erklärung des Politbüros des ZK der SED“ vom 16.10.1989, Bl. 14. 85 Protokoll der Sitzung des Politbüros am 17. 10.1989, Tagesordnungspunkt 2. – Mit der Vorbereitung wurde eine Arbeitsgruppe unt er Leitung von Egon Krenz beauftragt. Mitglieder waren Willi Stoph, Günter Schabowski, Gerhard Schürer, Werner Krolikowski, Harry Tisch und Horst Dohlus. Vgl. Arbeitsprotokoll der Sitzung des Politbüros am 17.10.1989. 86 Wortprotokoll der 9. ZK-Ta gung vom 18.10.1989, in: Hertle u. Stephan (Hrsg.): Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentra lkomitees (1997), S. 103–133, hier 103. Das parteioffizielle Protokoll dieser ZK-Tagung: BStU, ZA, SdM 398. 87 Vgl. Schabowski: Politbüro (1990), S. 107 f.; Honecker, in: Andert u. Herzberg: Sturz (1990), S. 33 f. 88 Protokoll der Sitzung des Politbüros am 18.10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2353, o. Pag.

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wie es so weit hatte kommen können, und zugleich sollte er den eigenen und den Führungsanspruch der Partei verteidigen. Was die Ursachen der Krise anging, wurde deren „reale Einschätzung“ 89 in der Rede zw ar gefordert, aber nicht eingelöst. Statt dessen wurden nur Stichworte genannt: Wirtschaft, Reis egesetz usw. Die Medienpolitik kritisierte er tatsächlich, aber sonst traf er keine Aussagen, was und aus welchen Gründen falsch gelaufen war und wie es verändert werden sollte. Die Frage nach der Legitim ation des Führungsanspruchs wurde in traditioneller Manier mit Berufung auf ein „ Gesetz der G eschichte“, dem die SED folgen würde, und der Beschw örung der „ Unabwendbarkeit des Sieges des Sozialismus“ beantwortet. 90 Die Partei habe „immer an der Spitze gestanden“ und „so wird es auch diesm al sein“. 91 Für m anchen Genossen mag das beruhigend geklungen haben, für die Mehrheit der Fernsehzuschauer wurde die alte Machtanmaßung deutlich, die in der aktuellen Situation zudem lächerliche Züge annahm. Außer auf die Erm utigung der eigenen A nhängerschaft zielte die Rede von Krenz vor allem auf die ehem als angepaßten Bürger, die zurückgew onnen werden sollten. Er hatte allerdings wenig mehr zu bieten als eine Offerte an die verschiedenen sozialen G roßgruppen der DDR-Gesellschaft, in einen „ernstgemeinten innenpolitischen Dialog“ einzutreten: von den Genossenschaftsbäuerinnen bis zu den „ Schutz- und Sicherheitsorganen“ . Die Grenzen des Dialogs wurden institutionell und inhaltlich eng gesteckt. Nicht zu diskutieren sei über die Fortexistenz des „ Sozialismus in der DDR“ und über deren staatliche Souveränität. 92 Die Anerkennung der „führenden Rolle“ der SED w urde im plizit zur Teilnahm evoraussetzung gem acht, indem auf die V erfassung Bezug genom men wurde. Zudem wurde behauptet, daß „genügend demokratische Foren“ existierten, um „unterschiedliche Interessen“ zu artikulieren. 93 Das war unausgesprochen eine A bsage an das Neue Forum und alle anderen Bürgerrechtsorganisationen, die in den Wochen zuvor entstanden waren und die die Forderung nach einem „Dialog“ überhaupt erst auf die Tagesordnung gebracht hatten. Die m it der Opposition sy mpathisierenden, ehem als angepaßten Bürger und auch die gemäßigte Opposition selbst sollten durch erweiterte Partizipationsangebote und eine realitätsnähere Medienpolitik (der russische Begriff wäre „Glasnost“ gewesen) zurückgew onnen w erden. Zugleich aber w urde die „Sicherung von Ruhe und O rdnung“ als vorrangiges Ziel deklariert und davor gew arnt, daß „ die breite Entfaltung der sozialistischen Demokratie [...] als Freibrief für verantwortungsloses Handeln mißverstanden“ würde. 94 89 Wortprotokoll der 9. ZK-Tagung vom 18.10.1989, S. 106–119, hier 107. 90 Ebenda. 91 Ebenda. 92 Ebenda, S. 112. 93 Ebenda. 94 Ebenda.

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Das unausgesprochene Ziel dieses differenzierten Angebots konnte nur sein, die Bürgerbewegung, die inzwischen von entschiedenen Oppositionellen über die Kirche bis zu vorher angepaßten und kritisch-loy alen Bürgern reichte, wieder auseinanderzudividieren. Für die radikale Opposition, die die Wurzel des Herrschaftssy stems, die Machtanmaßung der SED, in Frage stellte, war diese Rede deshalb eher eine Drohung als ein Angebot. Es gab in dieser Beziehung aber eine bedeutsame Ausnahme. Der entscheidende Satz lautete: „ Wir lassen uns von der festen Überzeugung leiten, daß alle Probleme in unserer Gesellschaft politisch lösbar sind.“ 95 Der prim äre Adressat dieser Aussage war der Macht- und Sicherheitsapparat, aber seine Konseque nzen würden für alle spürbar sein: Eine Lösung der K onflikte w ürde nicht länger auf offen repressivem Weg gesucht. Ohne offene G ewalt aber w ar – das scheint zum indest im nachhinein klar – die beginnende Revolution nicht mehr aufzuhalten. Krenz hatte seine Rede damit begonnen, daß er „ eine Wende“ ankündigte. Den Sinn dieses Begriffs hatte er ganz offen benannt; vor seinen ursprünglichen Zuhörern, den ZK-Mitgliedern, konnte er das auch. Es gelte, die SED wieder in „ die politische und ideologische Offensive“ zu bringen. 96 Er beendete seine Ansprache mit der Ankündigung, von der „Macht“ nicht abzulassen: „Wir halten sie fest und w erden sie von den K räften der Vergangenheit nicht antasten lassen [...].“ 97 Die Frage, ob die Antrittsrede des neuen SED-Generalsekretärs bereits als Dokument einer Liberalisierungspolitik betrachtet werden kann, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Die erklärte Absicht, an der Macht festzuhalten, würde nicht dagegen sprechen, da gerade das der Zw eck einer solchen Politik in Anpassung an veränderte Bedingungen ist. 98 Daß diese Absicht vor der Öffentlichkeit ausgesprochen wurde, ist neben der politischen Unerfahrenheit von Krenz wohl dem Umstand zuzuschreiben, daß es ihm wichtiger w ar, die eigenen G enossen an sich zu binden, als Überzeugungsarbeit unter den Kritikern des Regim es zu leisten. 99 Für den Ü bergang zu einer Liberalisierungsphase entscheidend ist, ob sich die Repression verringert und zivilgesellschaftliche Initiativen zum indest geduldet werden. Ersteres hatte Krenz tatsächlich angekündigt, letzteres hatte er zw ar negiert, faktisch lief die Politik der folgenden Wochen aber dennoch darauf hinaus. Es gab dabei jedoch Einschränkungen, die noch darzustellen sein werden. Nachdem Krenz gesprochen hatte, versuchte Stoph als V ersammlungslei95 Ebenda. 96 Ebenda, S. 107. 97 Ebenda, S. 119. 98 Vgl. Przeworski: Spiel mit Einsatz (1990), S. 192. 99 Krenz selbst erklärte am nächsten Tag gegenüber Bischof Leich entschuldigend, „ seine Rede im Fernsehen sei fälschlich als Rede an die Bürger der DDR deklariert worden, es sei aber eine R ede an die Parteimitglieder gewesen“; N iederschrift über das G espräch zwischen Egon Krenz und Landesbischof Dr. Werner Leich am 19.10.1989 in Hubertusstock; BA Berlin, DY 30 IV B 2/14/44, Bl. 104–113, hier 106.

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ter sofort über die Rede abstimmen zu lassen. D as löste denn doch Protest einiger ZK -Mitglieder aus: Man m üsse erst darüber diskutieren. 100 Etwas gehaltvollere Beiträge kamen nur von zwei Rednern. Modrow forderte, „daß wir in keiner Frage Zw eifel aufkom men lassen an unserer Dialogbereitschaft“. 101 Durch Zwischenrufe von der Tribüne, wo das Politbüro saß, unterbrochen, kritisierte er den Wahrheitsanspruch der Parteipropaganda: „Wer will denn mit uns in den Dialog, wenn wir die Wahrheiten gleich wieder verkünden.“ 102 D as w ar ein G edanke, an den sich seine Genossen erst noch gewöhnen mußten. Keßler rief dazw ischen: „Trotzdem haben w ir die Wahrheit!“ 103 Im Anschluß an das Wortgefecht erklärte Modrow dann, wie bereits erwähnt, daß er als V orsitzender der Bezirkseinsatzleitung D resden die „ Verantwortung“ getragen habe. 104 In ihrem Kontext betrachtet, hatte diese Bemerkung eine doppelte Funktion: Zum einen sollte die Notwendigkeit einer Öffnungspolitik durch das Argum ent belegt werden, daß unter seiner Beteiligung bereits versucht w orden war, die Lage m it Repression zu stabilisieren, sich ein solches Vorgehen aber als untauglich erwiesen hatte. Zum anderen ging es auch um Modrow selbst. Wie alle Softliner m ußte er sich mit dem Verdacht auseinandersetzen, allzu konzessionsbereit zu sein. Seine Zuhörer hatten bis dahin keine solchen N eigungen erkennen lassen: Erst drei Politbüromitglieder waren abgesetzt w orden, der Rest – fast neunzig Prozent – w ar die alte Riege; im Zentralkomitee hatte sich überhaupt noch nichts geändert. Dem Versuch, mögliche „Zweifel“ aus diesem Kreis abzuwehren, diente die Schärfe der Formulierung Modrows. Vom entgegengesetzten politischen Flügel aus argum entierte Verteidigungsminister Heinz Keßler 105 , ein wirklicher Hardliner, den die HoneckerGegner vor der entscheidenden Politbüro-Sitzung ausm anövriert hatten. 106 Wenigstens jetzt wollte er loswerden, daß es vor allem „die NATO-Strategie“ war, die sich in O steuropa bem erkbar m achte. 107 Er stellte die rhetorische 100 Wortprotokoll der 9. ZK-Tagung vom 18.10.1989, S. 119. 101 Ebenda, S. 123–126, hier 124. 102 Ebenda, S. 123. – Er bezog sich mit dieser Bemerkung auf den Aufmacher des Neuen Deutschlands am gleichen Tag: „Mit der Wahrheit leben und Lösungswege für angestaute Fragen suchen“. 103 Ebenda, S. 124. 104 Dazu siehe S. 249 f. 105 Heinz Keßler (geb. 1920 in Lauban in Schlesien); Maschinenschlosser; 1940 Soldat bei der Wehrmacht, 1941 Überläufer zur Roten Armee; Mitbegründer des Nationalkomitees Freies Deutschland; 1945 Rückkehr nach Deutschland; ab 1946 Mitglied des Parteivors tandes bzw. des Zentralkomitees der SED; 1950–1989 Mitglied der Volkskammer; 1950–1955 führende Funktion beim Aufbau der Kasernierten Volkspolizei; 1957–1985 stellvertretender Minister und 1985–1989 Minister für Nati onale Verteidigung; 1986–1989 Mitglied des Politbüros der SED; 1993 zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wegen „ unmittelbarer Täterschaft“ hinsichtlich der Todesschüsse an der G renze. V gl. Wer w ar wer? (1995), S. 365 f. Zu Keßler vgl. auch Hertle: Chronik des Mauerfalls (1996), S. 194 f. 106 Keßler war bei der Politbürositzung am 17. 10. nicht dabeigewesen, weil er eine überraschende Auslandsreise nach Nicaragua unternommen hatte, zu der ihm Krenz, Stoph und Mielke geraten hatten; Keßler: Zur Sache und zur Person (1996), S. 273 f. 107 Wortprotokoll der 9. ZK-Tagung vom 18.10.1989, S. 129.

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Frage: „Was geht in Ungarn vor sich? Was geht in Polen vor sich?“ Das löste „ Unruhe im Saal“ aus. Man hatte ihn richtig verstanden, denn er fügte hinzu: „Und es gibt ja gew isse Leute bei uns in der D eutschen Demokratischen Republik, die eine solche oder ähnlich geartete Entw icklung bei uns gern nachvollziehen m öchten.“ 108 Das war ein kaum verhüllter Angriff gegen die Einleitung einer Liberalisierungspolitik. Doch die Kontroverse wurde nicht ausgefochten. Die Stimmung im Saal war nicht danach. Charakteristisch war das Auftreten von K ulturminister H offmann, der den Schluß der kaum begonnenen Debatte forderte: „Ich bin ernsthaft dafür, daß wi r in dieser Stunde, in dieser Minute die Diskussion beenden. Wir haben keine M inute Zei t m ehr. Egon m uß vor di e Fernsehkameras. [...] Uns steht das W asser bis hier her. W ir stehen vor neuen, gewaltigen Demonstrationen, die der Feind organisiert. Jetzt m üssen die Kommunisten auf die Straße. [...] Wir brauchen sofortige Reaktionen. W enn wir uns jetzt, wenn auch verspätet, nicht zu Wort melden, sind wir in der Gefahr, daß wir das Wort nicht mehr bekommen.“ 109

Es wurde eingeworfen, man solle sich doch vorher darüber verständigen, „was er vor der Fernsehkam era sagt“, es müsse etwas „Verheißungsvolles“ sein, weil sonst „ die Beunruhigung kein Ende findet“ . 110 Krenz meinte die Lösung zu kennen, schließlich hatte das Politbüro darüber bereits beschlossen: Er werde „das Gleiche heute abend im Fernsehen sagen“. 111 Das wurde mit Beifall quittiert. Und so kam es, daß Egon Krenz vor die Fernsehkameras eilte und mit einer klassischen Fehlleistung die Zuschauer als „ liebe Genossen“ anredete. Er kehrte dam it zu dem ursprünglichen Adressatenkreis seiner Rede zurück. Sehr viel weiter war ihr Wirkungskreis auch nicht gezogen. Die Staatssicherheit berichtete anschließend, daß insbesondere Mitglieder der SED erneut „ mit großer Erleichterung“ reagiert hätten, w eil die Parteiführung nun „ offensichtlich den Ernst der Lage in der DDR erkannt“ habe, auch wenn der Rücktritt Honeckers „ zu spät erfolgt“ sei. Die Begeisterung hielt sich jedoch in Grenzen: Nachfolger Krenz stoße auf breite „Ablehnung“. Auch würden „nicht wenige Bürger unterschiedlichster K lassen und Schichten [...] die erklärte Bereits chaft der Parteiführung, grundlegende Veränderungen in der D DR herbeizuführen, m it großer Skepsis und Mißtrauen betrachten“. Man spreche von einem „taktischen Schachzug“ zur Beruhigung der Bevölkerung, doch „ man dürfe über den D ialog nicht nur 108 Ebenda, S. 130. 109 Ebenda, S. 126. 110 D iskussionsbeitrag von Manfred Banaschak, Chefredakteur des theoretischen Parteiorgans „Einheit“; ebenda, S. 127. 111 Ebenda.

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reden, sondern müsse ihn jetzt auf allen Ebenen führen“. 112 Die Stimmung unter bisher kritisch-loyalen DDR-Bürgern illustriert deutlicher noch als dieser MfS-Bericht eine Erklärung, die zur gleichen Zeit von etwa 150 U nterhaltungskünstlern verabschiedet w urde, die sich zu einer Vollversammlung der „Sektion Lied und Kleinkunst“ des Komitees für Unterhaltungskunst zusammengefunden hatten. Mit einiger Verspätung schlossen sie sich dem Protestaufruf der „Sektion Rockmusik“ vom September an, ergänzten ihn aber um eine aktuelle Passage: „Wir sind in Sorge, daß eine wirkliche politische Wende nicht möglich wird mit Politikern und Funktionären, die m aßgeblich für die jetzige Situation verantwortlich sin d. W ir v erlangen, d aß d ie p olitisch Veran twortlichen fü r die Ausschreitungen [im Zusammenhang mit dem 40. Jahrestag] ermittelt, öffentlich benannt und zur Verantwortung gezogen werden. Wir fordern in diesem Zusammenhang von den Abgeordnet en der Volkskammer, daß si e dem Minister für Staatssicherheit [Mielke] , dem [Berliner] Polizeipräsidenten [Rausch] und dem M inister des Innern [Dickel] di e Vert rauensfrage st ellen und prüfen, ob Egon Krenz, der zu di eser Zeit im ZK für Sicherheitsfragen verantwortlich war sowie bei den vergangenen Wahlen als Vo rsitzender der Zentralen W ahlkommission fungi erte, al s St aatsratsvorsitzender gewähl t werden kann.“ 113

Dieser Text war nicht nur wegen des direkten Angriffs auf tragende Figuren des Regim es, insbesondere auf Egon Krenz, politisch brisant. Er enthielt zudem eine Forderung, die zum damaligen Zeitpunkt geradezu abwegig wirken m ußte: Die Abgeordneten der Volkskam mer sollten sich kritisch zur SED-Führung stellen, der sie doch alle ihre Posten verdankten. Es wurde ihnen abverlangt, sich so zu verhalten, als ob sie ein echtes Mandat hätten und es eine „ führende Rolle“ der SED – genauer: ihres Politbüros – nicht gäbe. Ganz ähnlich postulierte das N eue Forum wenig später, es sei A ufgabe der Volkskammer, „aus der unw ürdigen Rolle einer Zustim mungsmaschine herauszutreten“. 114 Tatsächlich wurde die Transformation von Statisten zu politischen Akteuren in den folgenden Wochen zu einem wesentlichen Mechanismus für den inneren Zerfall des Machtapparates. Die Stim mung in den Betrieben w ar unverändert schlecht. D ie Staatssicherheit gab keine Entw arnung und vertiefte ihre pessimistische Diagnose sogar noch mit einem historischen Vergleich: 112 „Hinweise über die Reaktionen der Bevölkerung auf die 9. Tagung des ZK der SED am 18. Oktober 1989“; BStU, ZA, ZAIG 4261, Bl. 2–10. 113 Zitiert nach ADN-Information zur außero rdentlichen Vollversammlung der Sektion Lied und Kleinkunst im Komitee für Unterhaltungskunst am 19. 10.1989 in Berlin; BStU, ZA, HA II/13 1796, Bl. 98 f. 114 „Aufruf des Neuen Forums zur Volkskammersitzung am 24. Oktober 1989“; BStU, ZA, HA II/13 1796, Bl. 74.

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„Vor allem ältere Arb eiter, darunter Mitglieder der SED, vertreten die Auffassung, das Verhäl tnis vi eler Funktionäre zu den W erktätigen sei sei t l angem gestört. Noch in den 70er Jahren sei das regelmäßige Gespräch mit Partei- und Gewerkschaft sfunktionären gängige Praxi s gewesen. Sei t geraumer Zeit habe m an vor allem die Parteifunktionäre und staatlichen Leiter nur noch auf Versammlungen erl ebt, wo si e Grundsat zreferate hi elten, aber i n der Regel ni cht di e di e W erktätigen berührenden Fragen behandel ten. Dadurch hätten sie nur über die Köpfe hinweggeredet.“ 115

Im Rahmen dieser Erfahrungen wurde die Krenz-Rede rezipiert und ihr Muster wiedererkannt. Man habe „konkretere Aussagen zu möglichen Lösungswegen und absehbaren V eränderungen verm ißt“. 116 Um in die „ politische Offensive“ zu kom men, w ar von seiten der SED m ehr erforderlich als ein „neuer Mann“, der so neu nicht war. Im Staatssicherheitsdienst trat das „ Parteiaktiv“ noch am 18. Oktober zusammen. Der 1. Sekretär der Kreisleitung, Horst Felber, informierte in einer kurzen Rede über den Führungsw echsel. D as Protokoll dieser Sitzung beschränkt sich auf einen Satz: „ Die Teilnehm er der Aktivtagung begrüßten mit Beifall die Wahl des Genossen Egon Krenz zum Generalsekretär des ZK der SED .“ 117 Felber und Mielke schickten im N amen „aller Kommunisten im MfS“ ein G lückwunschschreiben m it „ tschekistischen Kampfesgrüßen“ an den G enossen K renz. 118 Wie w eit sie die tatsächliche Stim mungslage zum Ausdruck brachten, ist schwer zu sagen, weil durch diese offizielle Wertung vorgegeben w ar, w ie ein disziplinierter G enosse auf den Führungswechsel zu reagieren hat. Zudem sind zu den D iskussionen in diesen Tagen nur einzelne Hinweise überliefert. 119 In der A bteilung M (zuständig für Postkontrolle) hatte am 11. Oktober, also noch vor dem eigentlichen Führ ungswechsel, eine „Lageauswertung“ stattgefunden. Ein Mitarbeiter notierte Äußerungen des Sekretärs der SED Grundorganisation, die zeigen, daß nun das Feindbild ins Wanken geriet. Er habe gesagt, die Teilnehmer an der Montagsdem onstration in Leipzig seien „überwiegend Menschen, die bereit sind, Problem e zu lösen“ . Sie w ürden die „Frage“ aufwerfen: „Ist [der] Staat für sie da – oder kann [der] Staat ma115 „Hinweise über die Reaktionen der Bevölkerung auf die 9. Tagung des ZK der SED am 18. Oktober 1989“, Bl. 4. 116 Ebenda, Bl. 5. 117 „Protokoll der Aktivtagung der Parteiorga nisation im MfS am 18.10.1989; BStU, ZA, SED-KL, Bl. 2; vgl. auch BStU, ZA, SED-KL 82, Bl. 996. 118 Schreiben von Horst Felber und Erich Mi elke an Egon Krenz vom 18.10.1989; BStU, ZA, SdM 627, Bl. 7. 119 Eine an sich wichtige Quelle, der monatlic he Bericht der SED-Kreisleitung im MfS zu den Diskussionen in den Grundorganisationen, ist nicht verwendbar, weil der Bericht für den Oktober 1989 erst am 9.11.1989 vorgelegt wu rde, als die revolutionäre Krise sich noch einmal deutlich verschärft hatte und auch die Stimmung im MfS nicht mehr die gleiche war wie drei Wochen zuvor. Auf diesen Bericht wird an entsprechender Stelle zurückzukommen sein.

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chen, was er will? “ 120 Eine andere Mitarbeiterin notierte die Feststellung, daß „in [den] Kirchen teilw[eise] mehr gesell[schaftliches] Leben [stattfindet] als im örtl[ichen] Sekr[etariat der SED]“. 121 Auch in der jüngeren MfS-Generati on m ehrten sich kritische Äußerungen. Die FDJ-Kreisleitung berichtete am 20. Oktober über die politische Atmosphäre in den Grundorganisationen. „Alle Kollektive“ seien der Meinung, daß H onecker – obw ohl m anche darüber „Wehmut“ empfänden (sie hatten nie einen anderen G eneralsekretär erlebt) – „ zu spät“ zurückgetreten war. 122 Die „ Erklärung des Politbüros“ stoße auf „Zustimmung“, allerdings würde verschiedentlich kritisch geäußert, sie sei „ zu allgem ein“. Was die neue Linie anging, so w urde zum Beispiel aus der H V A, der Hauptabteilung I X (U ntersuchung) und der Hauptabteilung XXII (Terrorabwehr) berichtet: „Die Führung des D ialogs ohne G ewalt w ird begrüßt, dabei w ird empfunden, daß die bisher fehlende politische Lösung der Problem e auf dem Rücken unserer Mitarbeiter und der anderen Schutz- und Sicherheitsorgane erfolgte.“ 123 Mitarbeiter der Linien I X und X XII waren in besonderem Maße an der Repression in den Tagen zuvor beteiligt gewesen. Es begannen Zweifel am Sinn der eigenen Tätigkeit, weil „FDJ-ler aus operativen Diensteinheiten sich aufgrund des N ichtreagierens der Parteiführung auf ihre Informationen über die Lage in der D DR um die Resultate ihrer Arbeit betrogen“ fänden. 124 Und schließlich diskutiere m an – w as bald eine große Rolle spielen sollte – „über ‚Privilegien‘ im Staat und im MfS“. 125 Ein weiterer Stimmungsbericht, der ebenfalls jüngere MfS-Kader betraf, ist aus dem Wachregim ent überliefert. Dort leisteten viele Wehrpflichtige eine dreijährige Dienstzeit ab, deshalb war die Abschirmung von der Gesellschaft geringer als in anderen D iensteinheiten des MfS. Es würden dort Fragen gestellt wie: „Warum erst jetzt diese Offenheit?“, „Mußte es erst so weit kommen (Dresden, Leipzig, Berlin)? “ 126 Wegen des Auftritts von Krenz seien viele „freiwillig zum Fernsehen gegangen, aber nicht alle haben die Rede bis zum Ende gesehen“ , doch der „ Satz von der ‚Wende‘ wurde erwartet und auch als notw endig erachtet“. Mit den „Wirkungen der Westmedien“, die offenbar mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt wurden, erklärte sich der Autor, daß nun Argum ente kämen wie: „ Unsere Parteiführung ist überaltert, es müssen junge Kader ran! Was steht in der Künstlerresolution? 120 Notizen zur Lage 11.10.1989; BStU, ZA, Abt. M 103, Arbeitsbuch eines unbekannten Mitarbeiters, Bl. 264. 121 Notizen zur „ Lageauswertung 11.10.89“; BS tU, ZA, Abt. M 94, Arbeitsbuch Genn. Gürth, Bl. 24. 122 Sekretariat der FDJ-Kreisleitung im MfS: „ Lageinformation und Problemstellungen“ vom 20.10.1989; SED-KL 512, Bl. 142–146, hier 145. 123 Ebenda, Bl. 144. 124 Ebenda, Bl. 142. 125 Ebenda, Bl. 144. 126 „ Lageeinschätzung“, handschriftl. Zusatz: „ zur Sitzung des Sekretariats der PA-WR [Politabteilung des Wachregiments] am 20.10.89“; BStU, ZA, SED-KL 512, Bl. 968–971.

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Was ist das ‚Neue Forum ‘?“ Und: „ Warum [führt die SED] keine öffentliche Auseinandersetzung zum ‚N euen Forum ‘?“ V iele seien über die e inschlägige „ZK-Information“ z um N euen F orum „ nicht b efriedigt“. D a schon zuvor berichtet w orden w ar, daß A ngehörige des Wachregim ents „Verbundenheit“ mit dem N euen Forum „ bekunden“, 127 hatten diese Fragen durchaus drängenden Charakter. Geradezu an die Fundam ente des m ilitärbürokratischen A pparates rührte eine andere Feststellung: „Es gibt kein Verständnis darüber, daß man zum Einsatz raus muß und weiß nicht wozu.“ Diese Schilderung betraf nur einen Teil der MfS-A ngehörigen: jüngere Kader, die stärkere V erbindung zu ihrem sozialen Umfeld hatten, war also nicht repräsentativ. Trotzdem waren die Them en, die hier angesprochen wurden, bald Gesprächsstoff in vielen D iensteinheiten, m achte sich doch nun der Eindruck breit, daß „ man endlich sagen [kann], was man denkt“ 128 . Das war ein für die A ufrechterhaltung der K ommandostruktur gefährliches Gefühl.

5.3 SED-Taktik zum Umgang mit der Bürgerbewegung Mit der Abwahl von drei Politbürom itgliedern und der Bekanntgabe einer neuen Linie w aren selbstverständlich nicht alle „ Falken“ aus der Parteiführung verschwunden, weil die anderen, der Parteidisziplin folgend, sich in „Tauben“ verwandelt hätten. V ielmehr w aren die K oordinaten verschoben worden, eine andere Phase hatte begonnen, und jeder einzelne mußte neu Position beziehen. Wer in der vorangegangenen Phase zu der Einsicht gekommen war, aus taktischen G ründen auf gew altsame Repression verzichten zu müssen, konnte jetzt zum verdeckten Hardliner werden. Die differencia specifica zwischen beiden Flügeln – die als zwei Konzeptionen zu bezeichnen fast zuviel gesagt wäre – bestand nun darin, daß die einen die Aktivierung und Organisierung der Zivilgesellschaft m it allen noch verfügbaren Mitteln, außer offener Gewalt, zu blockieren suchten, um sich zumindest die Option offenzuhalten, in einem politisch günstigeren Zeitpunkt wieder Maßnahmen repressiver Stabilisierung zu ergreifen. Manche Softliner dagegen w andelten sich nun langsam zu Liberalisierern, die die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft zu dulden gewillt waren. Hinsichtlich des Umgangs mit der Oppositionsbewegung waren die programmatischen Verlautbarungen der neuen SED -Führung vage und zw eideutig. K renz und G enossen w aren vorrangig bem üht, ihre eigene Anhän127 Notizen zu Ausführungen von Generalmajor Kratsch, Leiter der HA II, auf der Lagebesprechung am 13.10.89; BStU, ZA, Abt. M 103, Arbeitsbuch eines unbekannten Mitarbeiters, Bl. 267. 128 Meinungsäußerung des „ FDJ-Forums ZAIG“; Sekretariat der FDJ-Kreisleitung im MfS: „Lageinformation und Problemstellungen“ vom 20.10.1989, Bl. 145.

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gerschaft zu stabilisieren, weil sie glaubten, dam it auch dieses Problem in den Griff zu bekom men. Etwas deutliche r mußte Krenz werden, als er sich am 19. Oktober mit Bischof Leich und anderen V ertretern der Leitung der evangelischen Kirchen in Hubertusstock zu jenem G espräch traf, das zu vereinbaren eine Woche zuvor H onecker abgerungen w orden war. Aus der Rededisposition 129 für Krenz und aus seinen Ausführungen bei dem Treffen selbst 130 wird deutlich, wie m an sich ursprünglich das weitere taktische Vorgehen gegen die Bürgerbewegung vorgestellt hatte. Bei einem Vergleich beider Dokumente w erden allerdings erhebliche U nterschiede sichtbar, die nicht eindeutig zu erklären sind: ob sie verursacht w aren durch Differenzen zwischen Krenz und einem noch der alten Politik verhafteten GhostwriterTeam in der „ Arbeitsgruppe für K irchenfragen“ im ZK-Apparat unter Jarowinsky oder ob es sich um Rückzieher von K renz selbst, noch w ährend des Treffens, handelte. Trotz mancher schmeichelhaften Worte w ar die neue SED -Führung offenkundig nur an einem Punkt w irklich interessiert: den Einflußm öglichkeiten der Kirche auf den rebellierenden Teil der Bevölkerung. In dem Entwurf für die Eröffnungsrede w urde eine eindeutige Linie vorgegeben: Die Kirchenführung sollte aufgefordert we rden, der Opposition die logistische Basis zu entziehen. Aufgrund öffentlicher Verlautbarungen kirchlicher Amtsträger in den kritischen Tagen 131 und einschlägiger MfS-Inform ationen 132 wußte der ZK-Apparat um Differenzen in der Kirchenführung, die vertieft und ausgenutzt werden sollten. Seine Mitarbeiter hatten allerdings anscheinend nicht begriffen, daß die deeskalierenden Aktivitäten der Kirchenleute aus Angst vor gewaltsamen Auseinandersetzungen entfaltet w orden waren und nicht etwa, weil sie auf die Schalmeienklänge parteistaatlicher Dialogangebote hereingefallen wären. In dem Entwurf für K renz w urde beklagt, daß „ in einer zunehm enden Anzahl von evangelischen Kirchen gegen die bestehende O rdnung gerichte129 Die Rededisposition befindet sich im Bestand der Arbeitsgruppe für Kirchenfragen des ZK der SED; sie ist mit „ 18. Oktober 1989“ datiert; SAPMO-BA, DY 30/J IV B 2/14/44, Bl. 114–125. Eine frühere Version, datiert vom „17. Oktober“ und dem Vermerk: „wurde überarbeitet, Gespräch Leich/Krenz“, untersc heidet sich nur marginal von diesem Text; ebenda, Bl. 80–91. 130 Niederschrift über das Gespräch von Egon Krenz mit dem Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR, Landesbischof Dr. Werner Leich, am 19.10.1989 in Hubertusstock; BA Berlin, DY 30 J B IV 2/14/44, Bl. 104–113. 131 Zu denken ist etwa an die „ Vier dringenden Bitten“, die 18 kirchliche Amtsträger am 9.10.1989 formuliert hatten; siehe oben S. 310. 132 Die zuständige Diensteinheit der Staatssich erheit hatte festgestellt: „ Kirchenleitende Kräfte waren teilweise bemüht, Demonstrati onen zu verhindern, indem sie zur Ruhe und Besonnenheit aufriefen und vor Aktionen ‚auf der Straße‘ mahnten.“ Sie hatte allerdings auch vermerkt, daß „ im größten Umfang durch die K irche kirchliche Räumlichkeiten für Veranstaltungen oppositioneller Sammlungsbewegungen zur Verfügung gestellt“ werden. MfS, HA XX/4: „Hinweise zur gegenwärtigen Lage in den evangelischen Kirchen der DDR“, o. D.; BStU, ZA, HA XX/4 2464, Bl. 49–56, hier 50. Seinem Inhalt nach wurde der Text zwischen dem 16. und dem 18.10.1989 geschrieben.

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te, rein politische Veranstaltungen durc hgeführt [werden] m it Aufrufen zu Demonstrationen und Sam mlungsbewegungen“ und dam it „gefährliche Eskalationen [...] begünstigt und gefördert“ würden. 133 Deshalb „appelliere“ der Redner an Bischof Leich, seinen „ Einfluß geltend zu m achen, daß solche, das Gesprächsklima belastende Veranstaltungen wie sogenannte Bittgottesdienste, Mahnwachen, Fürbittandachten beendet werden“. 134 Die Kirch e sollte aufgefordert werden, „spontanen Reaktionen verschiedener Art entgegenzuwirken und vielleicht sogar Einhalt zu gebieten“. 135 Ein „ unmißverständliches Wort der K onferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR“ sei jetzt „ geboten“. 136 Die Kehrseite dieses „ Appells“ waren Drohungen: Das „Gewaltmonopol“ des Staates „ muß dort eingesetzt werden, wo öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet sind“; wer „die Machtfrage in Staat und Gesellschaft stellt, der darf sich nicht wundern, wenn der Staat von seinem verfassungsmäßigen Recht und den erforderlichen Mitteln Gebrauch macht“. 137 Soweit die K onzeption für die Ausführungen des neuen Generalsekretärs, die darauf hinauslief, daß sich die evangelische Kirche aus den weiteren politischen Auseinandersetzungen völlig heraushalten sollte, was zu einer erheblichen Schwächung der Opposition geführt hätte. Krenz muß begriffen haben, daß er m it solchen Maximalforderungen wenig Effekt erzielen w ürde. Auf Drohungen verzichtete er in seinem tatsächlichen Redebeitrag ganz, und die Forderung nach einer Entpolitisierung der Kirche schrumpfte zu der Frage zusammen, „ob man sich nicht darauf einigen könne, die K irche solle Kirche sein“ 138 . Im Gegensatz zu seiner Vorlage konzedierte er aber: „ In Kirchen könne durchaus diskutiert werden.“ 139 Ihm sei vor allem w ichtig, „ den A bschluß der D emonstrationen zu erreichen“. 140 Das war das Dresdner „Modell“ vom 9. Oktober: Bürgerversammlungen in den K irchen zu dulden, um die Demonstranten von der Straße zu bringen. Werner Jarowinsky, der als zuständige r ZK-Sekretär ebenfalls an diesem Gespräch teilnahm , startete noch den Versuch, die Differenzen zwischen gemäßigter und radikaler Opposition in der Kirche zu forcieren. Unter Verweis auf die „innerdisziplinarische Ordnung der Kirchen“ protestierte er dagegen, „ daß sich Pfarrer als Gründungsm itglieder von Parteien betätigten“. 141 D arauf konterte Bischof Leich m it dem kühlen H inweis, daß das 133 Rededisposition für Krenz vom 18.10.1989, Bl. 120. 134 Ebenda, Bl. 121. 135 Ebenda, Bl. 115. 136 Ebenda, Bl. 122. 137 Ebenda. 138 Niederschrift über das Gespräch am 19.10.1989, Bl. 107. 139 Ebenda, Bl. 109. 140 Ebenda. 141 Niederschrift über das Gespräch am 19.10.1989, Bl. 117. – In der Vorlage für Krenz war ebenfalls eine entsprechende Formulierung enthalten gewesen, die er jedoch nicht in sei nen Redebeitrag übernommen hat; Rededisposition für Krenz vom 18.10.1989, Bl. 121.

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Dienstrecht „ politische Tätigkeit“ nicht verbiete. 142 Zu anderen A spekten äußerten sich die K irchenvertreter zw ar überaus diplom atisch, 143 m achten aber in dem politisch entscheidenden Punkt keine Zugeständnisse. 144 Sie ließen sich nicht die Au fgabe zuschieben, die Opposition zu disziplinieren. Bischof Leich erklärte: „Nötig sei en schnel le Ent scheidungen und Zei chen, daß die beabsichtigten Veränderungen tatsächlich verwirklicht würden. Dazu gehöre das offene und öffentliche Gespräch auch mit den Gruppierungen, die sich in letzter Zeit gebildet hätten. Dafür sollten Räum e zur Verfügung gestellt und neue Plattformen gesucht werden, weil sich die traditionellen Gesprächsformen 145 für viele als nicht akzeptabel herausgestellt hä tten. Je offener und wahrhaftiger der Dialog sei , dest o eher würde der Dra ng zu Dem onstrationen auf der St raße abnehmen.“ 146

Der V ersuch w ar gescheitert, die evangelische K irche dafür einzuspannen, jenen wachsenden Teil der Bevölkerung, den das Regim e nicht mehr erreichte, zu pazifizieren und die radikalere Opposition auszugrenzen. So mußte man sich dam it begnügen, in der Öffentlichkeit als Erfolg des Treffens zu verkaufen, daß Ü bereinstimmung darin bestanden habe, die D DR „zu bewahren“ 147 – eine Position, die seinerzeit in Kirche und Opposition noch unstrittig war.

5.4 Um stellungsprobleme der Sicherheitsapparate In dieser Phase eines Ü bergangs im Übergang mußte der Sicherheitsapparat sich selbst taktisch neu verorten und versuchen, Methoden zu entw ickeln, die der „ Wende“ angem essen w aren. D en Lehren, die aus dem 9. Plenum 142 Niederschrift über das Gespräch am 19.10.1989, Bl. 117. 143 Vgl. Besier: Der SED-Staat und die Kirche (1995), S. 448 f. 144 Neben Bischof Leich nahmen auf kirchlicher Seite noch Konsistorialpräsident Stolpe, Bischof Demke und Oberkirchenrat Martin Ziegler teil, auf der anderen Seite waren die Teilnehmer neben Krenz und Jarowinsky die Staatssekretäre Frank-Joachim Herrmann und Kurt Löffler; vgl. Neues Deutschland 20./21.10.1989. 145 In dem SED-Protokoll ist an dieser Stelle von „Gesprächsforen“ die Rede, was eine deutliche Anspielung auf die These in der Fernsehansprache von Krenz wäre, es existierten „genügend Foren“. Niederschrift über das Gespräch am 19.10.1989, Bl. 104 f. 146 Zitiert nach „Schnellinformation“ des Sekretariats des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR vom 19.10.1989; dokumentiert in: Besier u. Wolf (Hrsg.): „ Pfarrer, Christen und Katholiken“ (1991), S. 618–621. 147 Im Kommentar des Neuen Deutschland wurde das als „ Schlüsselsatz“ bezeichnet. Der Kommentator war dabei wohl seiner eigenen Agitation erlegen, hatte er doch noch vier Wochen zuvor, anläßlich der Eisenacher S ynode, die Evangelische Kirche beschuldigt, sie wolle die DDR für die Wiedervereini gung „sturmreif“ machen; Werner Micke: Botschaft aus Hubertusstock, in: Neues Deutschland 22.10.1989.

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des ZK der SED zu ziehen waren, wu

rden am 21. Oktober D ienstbespre-

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chungen im Innenministerium und im MfS gewidmet, bei denen sich zeigen mußte, ob die Spitzen beider Sicherheitsapparate eine nichtrepressive Lösung der Krise akzeptieren würden. „Wir lehnen ab und lassen zu“ Im Ministerium des Innern sprach A rmeegeneral Dickel vor den Chefs der Bezirksverwaltungen der Volkspolizei. Ihre Einheiten hatten sich in den Tagen der Repression besonders unrühm lich hervorgetan. N un versuchte ihr Minister ihnen beizubringen, daß die neue Linie auch für sie galt. Friedrich Dickel, der sich anscheinend unter Rechtfertigungsdruck fühlte, m achte in seinem emotional gefärbten Schlußwort kein Hehl daraus, w ie schwer ihm selbst der K urswechsel gefallen w ar. D er 75jährige Altkommunist, der im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft, dann in der sow jetischen Emigration als Agent gearbeitet und am 17. Juni in Ostberlin eine hohe Position bei der Kasernierten Volkspolizei innegehabt hatte, 148 schilderte in starken Worten seine Empfindungen: „Ich kann jet zt nicht nach persönl icher Meinung gehen. Ich würde am liebsten hingehen und diese Halunken zusammenschlagen, daß ihnen keine Jacke mehr paßt. Ich war 1953 vera ntwortlich hier in Berlin . Mir braucht keiner zu sagen, was di e weiße Brut veranlaßt. Ich bi n als Jungkommunist nach Spanien und habe gegen di e Hal unken, ge gen di eses faschi stische Kroppzeug gekämpft. [...] Mir braucht keiner zu sagen, wie m an mit dem Klas senfeind umgeht. Ich hoffe bl oß, daß Ihr das ge nau wißt. Umzugehen, schießen, liebe Genossen, und daß die Panzer dann vor der B ezirksleitung und vor dem ZK stehen, das wäre noch die einfachste Sache. Aber solch eine kom plizierte Situation nach 40 Jahren DDR ? Deswegen habe i ch hi er so nachdrückl ich auf d ie p olitische Situ ation au fmerksam g emacht. Das h at d och n ichts m it Zurückhaltung i m Si nne von Kapitulation zu t un, sondern m it kl ugem und überlegtem Einschätzen der Lage.“ 149

In diesem Ausbruch wurde ein wese ntlicher Grund für den Gewaltverzicht der Sicherheitskräfte nach dem 9. Oktober deutlich. Mit Blick auf Polen hat Przeworski festgestellt, „ um zu schießen, m uß m an an etwas glauben“. 150 Dickel w ar sicherlich ein gläubigerer K ommunist als die Zy niker in der Führung der Polnischen Vereinigten A rbeiterpartei, aber „ nach 40 Jahren DDR“ hätte er damit zugleich seine eigenen Illusionen zerschossen. 148 Zur Biographie von Friedrich Dickel (1913–1993) vgl. „Wer war wer?“ (1995), S. 134 f. 149 Schlußwort des Ministers des Innern bei der Dienstbesprechung mit den Chefs der BDVP am 21.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 8637, Bl. 41–55, hier 50. 150 Adam Przeworsk i: Democracy and the Market. Political and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin America, New York 1991, S. 6.

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Ein weiteres Dilemma kam hinzu: D er Befehlshaber über viele „bewaffnete Kräfte“ fühlte sich angesichts der „Lage“ schwach. Die SED, seine Partei, sei in den entscheidenden Tagen „führerlos“ 151 gew esen. A uch in den eigenen Reihen gebe es „ einzelne Erscheinungen der A ufweichung, daß man kalte Füße kriegt“ . 152 Das, meinte Dickel, würde bald noch erheblich zunehmen, weil bei den K asernierten Einheiten der V olkspolizei, die in den Auseinandersetzungen Anfang Oktober eine besonders aktive Rolle gespielt hatten, „die Versetzung in die Reserve und die Neueinberufung unm ittelbar bevor[stehen]“. 153 Dam it würde die zeitweilige Isolation dieser Einheiten von der Gesellschaft durchbrochen werden: „Die, die kom men, werden uns den ganzen Wust von Unklarheiten, von politischen Unklarheiten, m it hineinbringen, hin einschwemmen.“ 154 A uf die K ampfgruppen sei ebenfalls kein Verlaß mehr: „Und was zeigt sich in den einzelnen Hundertschaften? Was sagen sie? ‚Wir werden nicht die Befehle erfüllen zum Einsatz, weil wir nicht gegen unsere eigene Bevölkerung eingesetzt werden wollen.‘ Das ist die Wahrheit. Und da nutzt die ganze Agitation nichts.“ 155

Und schließlich hatte K renz als neuer G eneralsekretär dem Innenm inister gewissermaßen die Hände gebunden, indem er ihm für die D ienstbesprechung den Auftrag mit auf den Weg gegeben hatte, seine U ntergebenen aufzufordern, „besonnen zu sein, keine übereilten Handlungen [zuzulassen], die die Situation noch verschärfen könnten, zuspitzen könnten“. 156 Auf der anderen Seite erschien die Opposition in den Augen von Dickel als machtvolle Geheimorganisation. Er behauptete, daß sie nach einem „einheitlichen strategischen und taktischen Konzept“ 157 handeln w ürde. Sie verfüge über ein „gut funktionierendes Aufklärungssystem“ und ein „ausgebautes Inform ationssystem“. 158 Zudem sei sie offenbar im Begriff, sich zu bewaffnen, denn „ Angriffe auf unsere Waffenlager, die w ir vorher überhaupt nicht hatten, treten jetzt in Erscheinung“.159 Selbst noch die aus Sorge um einen friedlichen Ablauf m ancherorts aufgestellten Ordner wurden in dieses Bild integriert: „Ein eigener O rdnungsdienst wird genutzt, mit dessen Hilfe Taktik und O rganisation verw irklicht w erden, einschließlich der U nterbindung von Konfrontationen mit den Sicherheitskräften.“ Auch dahinter 151 Schlußwort des Ministers des Innern am 21.10.1989, Bl. 45. 152 Ebenda, Bl. 52. 153 Rede des Ministers des Innern vor de n Chefs der BDVP am 21.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 8637, Bl. 3–40, hier 21. 154 Ebenda. 155 Ebenda, Bl. 48. 156 Ebenda, Bl. 39. 157 Ebenda, Bl. 13. 158 Ebenda, Bl. 16. 159 Ebenda, Bl. 7.

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seien finstere Absichten zu verm uten: „ Mit der friedlichen D emonstration soll und kann die Wachsam keit eingeschläfert werden.“ 160 Die Frage, wer diese Aktivitäten steuerte, beantwortete Dickel nicht, wohl aber meinte er, ihre logistische B asis zu kennen: „ Hinter all diesen Aktivitäten steckt Methode, Führung und Organisation, die überwiegend über bestehende Strukturen der evangelischen K irche und unter A usnutzung ihrer Räumlichkeiten als A usgangspunkte verw irklicht w erden.“ 161 In diesem Zusam menhang interpretierte er das Treffen zw ischen dem neuen G eneralsekretär und der Kirchenführung, war aber m it dem Ergebnis anscheinend nicht zufrieden, denn es sei „ noch nicht abzusehen, ob und welche Wirkung das Gespräch des Generalsekretärs mit dem Landesbischof Leich im konkreten Geschehen haben wird“. 162 Hätte Dickel dieses Szenario zu Beginn einer größeren Repressionswelle an die Wand gem alt, dann könnte m an es unter psychologische Kriegsführung subsumieren. Seine Rede lief aber auf eine ganz andere Schlußfolgerung hinaus: „ Handlungen der D eutschen Volkspolizei gegen Demonstranten und K undgebungen erfolgen nur dann, selbst w enn sie ungesetzlich sind, wenn Gewalttaten begangen werden oder durch Teilnehmer Schutzund Sic herheitsorgane beziehungsweise O bjekte angegriffen werden.“ 163 Das bedeutet, daß D ickel wahrscheinlich wirklich an seine Verschwörungstheorie glaubte, die unschwer als Projektion der eigenen, auch in der Volkspolizei zum Teil konspirativen Machtstrukturen auf den „ Gegner“ zu erkennen ist. Aus dieser Fehleinschätzung ergab si ch für die Opposition ein taktischer Vorteil, der den Bürgerrechtsaktivisten natürlich nicht bekannt w ar und der andernfalls nur ein ungläubiges Lachen provoziert hätte: daß sie die Eskalationsdominanz hätten. Zu Leipzig erklärte der Innenminister: „Aber an Punkten wie in Berlin, Potsdam, Magdeburg, Halle saßen die Leute am Telefon m it einer klaren W eisung, zu sehen, was in Leipzig erfolgt. [...] Falls diese Eskalation zur Gewalt in Leipzig stattfindet, sollte sofort angerufen werden, um dann m it Akt ionen in anderen B ezirken zu begi nnen. Das war das Konzept dieser Leute.“ 164

Daraus zog er die Lehre: „Wir dürfen auch nicht hereinfallen auf Provokationen, die zur Zuspitzung der Lage führen können. Ich sage das eindringlich.“ 165 Die Bezirkschefs stürzte der Innenm inister m it seinen A usführungen in 160 161 162 163 164 165

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Ebenda, Bl. 17. Ebenda, Bl. 15. Ebenda, Bl. 19. Ebenda, Bl. 22. Ebenda, Bl. 16. Ebenda, Bl. 22.

eine gew isse V erwirrung, die vor allem m it den praktischen Schlußfolgerungen zusam menhing. D avon zeugt etw a der folgende Wortwechsel zwischen Dickel und Generelleutnant Griebsch, dem Leiter der Volkspolizei im Bezirk Potsdam: Griebsch: „Genosse M inister, da kom mt gleich eine neue Frage auf uns zu. Die kommen heute zu den Di enststellen [der Vol kspolizei] und m elden Demonstrationen an. Und da brauchen wi r eine Entscheidung, wie wir uns verhalten sollen.“ Minister: „Da gibt es klare Festlegungen. Das i st vorgegeben, daß di ese Demonstrationen erst ei nmal ungeset zlich si nd und wir sie nicht genehmigen zur Zeit. Aber ob gewollt oder nicht, wir nehmen das hin, das ist die Lage.“ Griebsch: „Wir lehnen ab und lassen zu.“ Minister: „Ja, ja, wir lassen zu, genauso.“ 166

In seinem Schlußwort kam Dickel auf dieses Problem noch einmal zurück und machte deutlich, daß die neue Parteiführung die eigentliche Ursache für seine Unsicherheit war. Im Politbüro stünde eine Entscheidung zum U mgang mit den „oppositionellen Gruppen“ an. Er habe dazu „ gemeinsam mit den Genossen der Staatssicherheit“ einen Vorschlag erarbeitet, doch darüber sei noch nicht entschieden: „Wie wollen wir denn weiter m achen? [...] Bloß ich bin doch auch nicht verantwortlich für die politischen Ents cheidungen, ob und inwieweit oppositionelle Gruppen zug elassen werden, Ant räge auf R egistrierung von Parteien gestellt werden können. W ir haben di e Befehle durchzusetzen beziehungsweise die Gesetze. Und einen anderen Weg gibt es nicht.“ 167

Das ist nicht so zu verstehen, als ob Dickel zum Liberalisierer mutiert wäre. Er sah nur – auch w eil er das organisatorische und das Gewaltpotential der Gegenseite m aßlos überschätzte – keine Alternative zu einem m it Gewaltverzicht verbundenen Kurswechsel. Welche Befürcht ungen er mit weitergehenden Schritten verband, machte er deutlich, als er auf Manfred Gerlach zu sprechen kam . Das LDPD-Blatt „ Der Morgen“ hatte am gleichen Tag, an dem die D ienstbesprechung der V olkspolizei stattfand, ein Interview und eine Erklärung veröffentlicht, in der die SED aufgefordert wurde, das Neue Forum offiziell a nzuerkennen, und den Mitgliedern dieser Bürgerrechtsorganisation angeboten wurde, bei den nächsten Wahlen auf Listen der LDPD zu kand idieren. 168 Dickel hatte das gelesen und kommentierte: „Ich will ihnen sogar zubilligen, daß sie es gut m einen, aber es gibt ja auch Leu166 Dienstbesprechung mit den Chefs der BDVP am 21.10.1989, Bl. 69. 167 Ebenda, Bl. 46. 168 Der Morgen 21./22.10.1989.

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te, die haben es gut gem eint und haben zu früheren Zeiten, in der Vergangenheit und in der Gegenwart im Grunde dafür gesorgt, daß der Sozialismus zugrunde ging.“ 169 Es ist schw er zu sagen, m it w elchen Gefühlen die Bezirkschefs der Volkspolizei diese Besprechung verlassen haben. Sie wußten nun, daß sie „Zurückhaltung“ 170 zu üben hatten und daß die kom menden Wochen w eitere Weichenstellungen bringen w ürden, die ihr langjähriger Minister aus einer, wie er selbst m einte, ohnmächtigen „Verteidigungsposition“ und mit schwindendem V ertrauen in die Partei beobachtete. 171 Gesichert schien allein, daß es „nur der Anfang“ 172 einer Entwicklung mit ungewissem Ausgang war. „Nicht so antworten, wie es diese Kräfte eigentlich verdienen“ In der Staatssicherheit w aren die Leiter der zentralen Diensteinheiten und der Bezirksverw altungen ebenfalls für den 21. Oktober zu einer Besprechung befohlen, die der „Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED und den sich daraus ergebenden ersten Schlußfolgerungen für die Tätigkeit des MfS“ gewidmet war. 173 Auch Mielke 174 ging in seiner Rede davon aus, daß die Parteiführung in den vorangegangenen Monaten versagt habe, obwohl sie vom MfS regelmäßig informiert worden war. 175 Nun aber sei die Chance eröffnet, „eine Wende in der A rbeit der gesamten Partei einzuleiten, um vor allem die politische und ideologische Offensive wiederzuerlangen“. 176 Keinen Zweifel ließ er daran, daß die Staatssicherheit diesen Kurswechel mitzuvollziehen hatte: „Alle Maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit, jeder Diensteinheit, haben sich in die Generallinie, in di e Beschlüsse und politischen Entscheidungen des Zentralkom itees und seines Politbüros einzuordnen, m üssen auf 169 Schlußwort des Ministers des Innern am 21.10.1989, Bl. 44. 170 Ebenda, Bl. 52. 171 „Denken Sie, daß ich auf Verteidigungsposition gehe, aber fragen Sie doch mal selbst, wieviele schon auf Verteidigungsposition gehe n. Warum verteidigen sie denn unsere Sache nicht? Ist das nur unsere Sache oder die Sache der Chefs und ihrer Stellvertreter? Ist das keine politische und Sache der Partei, für die wir treu gestanden haben? “ Ebenda, Bl. 44. 172 Ebenda, Bl. 52. 173 Schreiben Mielkes an die Leiter der Di ensteinheiten vom 19.11.1989; BStU, ZA, SdM 1573, Bl. 11. 174 Selbstverständlich hat Mielke das 73 Schr eibmaschinenseiten umfassende Referat nicht selbst geschrieben. Zuständig für die Erarbeitung solcher Grundsatztexte war die ZAIG/6 unter Leitung von Oberst Karl Fischer. 175 „Referat zur Aus wertung der 9. Tagung des ZK der SED und den sich daraus ergebenden ersten Schlußfol gerungen für die Tätigkeit des MfS (21.10.1989)“; BStU, ZA, ZAIG 4885, Bl. 3–76, hier 11. 176 Ebenda, Bl. 9.

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ihre strikte Durchsetzung gerichtet sein.“ 177 Das gelte auch für die Vorgabe, „daß alle Probleme in unserer Gesellschaft politisch lösbar sind“ und „ daß gewaltsam e Mittel nur dann angewendet werden, wenn eine unmittelbare Gefährdung von Personen, Objekten und Sachen vorliegt und anders nicht abzuwenden ist“. 178 Auch bei Mielke klingt – wenngleich nicht so deutlich wie bei seinem Genossen D ickel – durch, daß ihm der K urswechsel nicht leicht fiel. A m Ende seines Vortrags gab er die Devise aus, sich für die O ption einer neuerlichen repressiven Wende unter anderen politischen Bedingungen zumindest bereitzuhalten: „Das [der Aufschwung der Bürgerrechtsbewegung] hinterläßt doch bestimmte W irkungen, zumal wi r aus den bekannten Gründen zurückhal tend darauf reagieren, nicht so antworten, wie es d iese Kräfte eig entlich verdienen. Deshalb ist es so wich tig, d aß alles u nternommen wird , alle m it so lchen Han dlungen auftretenden Personen zu erkennen, sie sorgfältig zu erfassen und das zugriffsbereit zu halten.“ 179

Vorerst aber w ar ein repressives Rollback keine realistische Handlungsalternative. D as 9. ZK-Plenum h abe, „ auch w enn das nicht so klar ausgesprochen wurde“, dazu geführt, daß man sich der „ realen Lage“ stellt, „ daß die DDR sich in einer Welt entw ickelt, wie sie heute ist, und nicht, w ie wir sie uns wünschen“. 180 Mielkes Lageschilderung war düster, aber noch nicht hoffnungslos. Es gebe „Erscheinungen der Verunsicherung, der Ratlosigkeit bis hin zur Resignation“, die „selbst bei progressiven K räften – bis w eit in die Reihen der Partei – erheblich zugenom men“ hätten. D er Bürgerrechtsbewegung sei es deshalb gelungen, „ ihre bisherige gesellschaftliche Isolierung zu durchbrechen und einen w achsenden Einfluß in der Bevölkerung zu erzielen“. 181 Das gelte besonders für „ Teile der wissenschaftlich-technischen, medizinischen und pädagogischen Intelligenz, Kunst- und Kulturschaffende, Studenten und andere Jugendliche sow ie Mitglieder befreundeter Parteien und Personen im kirchlichen Bereich“ . 182 Aber zu „ größeren Einbrüchen in der A rbeiterklasse, in den Betrieben“ sei es noch nicht gekommen, obwohl dort – w ie er einige Tage zuvor schon Egon Krenz hatte wissen lassen – „große Unzufriedenheit über anstehende, nicht gelöste Probleme herrscht“. 183 Es versteht sich von selbst, daß Mielke m einte, das MfS sei gehalten, „ unbedingt alle A nstrengungen zu unternehm en, um zu ver177 178 179 180 181 182 183

Ebenda, Bl. 28. Ebenda, Bl. 27 u. 21. Ebenda, Bl. 75. Ebenda, Bl. 64. Ebenda, Bl. 13. Ebenda, Bl. 15. Ebenda, Bl. 29.

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hindern, daß feindliche, oppositionelle Kräfte Einfluß auf die Arbeiterklasse gewinnen und eine Solidarisierung m it ihren Forderungen erreichen“ . 184 Diese Aufgabe konnte die Staatssicherheit allein nicht lösen, das w ar auch dem Minister bewußt. Er forderte entsprechend der inneren Differenzierung der Opposition eine Arbeitsteilung zw ischen dem MfS und der SED . D ie Partei und die „Massenorganisationen“ sollten versuchen, „ Personen, die sich aus Unzufriedenheit über die innere Entwicklung“ der Opposition angeschlossen haben, „zurückzugewinnen“. Mittel dazu seien die Eröffnung eines „ politischen Dialogs“ und die Einbeziehung der „ sogenannten Mitläufer“ in „die Lösung betrieblicher und gesellschaftlicher Problem e“, um „sie so schrittweise von den feindlichen, oppositionellen Gruppierungen und Kräften zu trennen“. 185 Die Staatssicherheit dagegen sollte sich auf den harten Kern d er Opposition konzentrieren: die „ Organisatoren und Inspiratoren feindlicher, oppositioneller Gruppierungen“, besonders des Neuen Forums; auf „Kräfte“, die „mit offen konterrevolutionären Forderungen auftreten“; „Personen, die mit gegnerischen Kräften von außen [...] zusammenwirken“; und „ Rädelsführer“ bei D emonstrationen, „ die die Massen aufputschen, die mit provokatorischen, auf Konfrontation und Gewaltanwendung zielenden Losungen – darunter gegen uns – auftreten“. 186 Wie aber sollte m it dem radikaleren Teil der Opposition umgegangen werden? „Mit den bisher praktizierten Maßnahm en und Mitteln“ war die Lage, das hätte sich gezeigt, „ nicht in den Griff zu bekommen“. 187 Man könne, sagte Mielke, die Frage „ heute noch nicht beantw orten, wie wir mit diesen Veränderungen – die noch zunehm en können – zukünftig ‚fertig‘ werden wollen“. 188 Es gebe V orüberlegungen, doch ehe sie in die Tat um gesetzt w erden können, bedürfe es „ zentraler Entscheidungen“ 189 . Vom MfS werde in Zusammenarbeit mit den anderen Sicherheitsapparaten dazu eine Vorlage erarbeitet, doch eine derart bedeutsame Weichenstellung fiel in die Kompetenz des Politbüros. A ber noch ehe es entschieden habe, m üsse die Staatssicherheit aus eigener Initiative aktiv werden: „Es sind neue Überl egungen anzustellen, wie wir mit den vorhandenen operativen Kräften in die in jüngster Zeit entstandenen Gruppierungen eindringen und diese gründlich aufklären können, dort so Fuß zu fassen, daß wi r die Kontrolle über sie b ehalten. Hierb ei so llten wir u nter an derem d ie Tatsach e nutzen, daß sich diese Gruppierungen – sie verstehen sich ja al s Sammelbecken – wei tgehend geöffnet haben und i hre Arbeitsweise zur Zei t praktisch 184 185 186 187 188 189

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Ebenda, Bl. 30. Ebenda, Bl. 36. Ebenda, Bl. 34 f. Ebenda, Bl. 43. Ebenda, Bl. 34. Ebenda, Bl. 43.

keinen konspirativen Charakter t rägt. Das m uß genut zt werden, verst ärkt auch solche IM einzubauen, die Einfluß auf die Richtung des Vorgehens solcher Gruppierungen ausüben können.“ 190

Das w ar eine neue A kzentsetzung. Bei der Dienstbesprechung der Linie XX, Ende September 1989, hatte Mielkes Stellvertreter Mittig noch explizit untersagt, daß IM Führungspositionen in „ Sammlungsbewegungen“ übernehmen. Obwohl sich Mielke dazu nicht genauer äußerte, konnte seine Vorgabe so verstanden w erden, daß zur Beeinflussung der „Richtung“ dieser Gruppierungen das V erbot aufgehoben w ürde. 191 Die Frage ist, zu welchem Zweck das geschah: entw eder mit der A bsicht, diese O rganisationen heimlich in Tarnorganisationen des MfS zu transform ieren oder um sie in ihrer Tätigkeit zu manipulieren und vor allem zu blockieren. Einer der Teilnehmer der Besprechung, der Leiter der H auptabteilung XVIII (Wirtschaft), Generalleutnant Kleine, hat „in Auswertung der Dienstkonferenz des G enossen Ministers“ diese D irektive für seine Untergebenen interpretiert: „Nutzung der gegenwärtigen ‚offenen‘ Situation in den oppositionellen G ruppierungen zum Eindringen von Agenturen 192 in diese G ruppen mit der Zielstellung der vorbeugenden V erhinderung/Information von 193 Aktivitäten m it staatsfeindlichem Charakter.“ 194 Es gelte, „ vorgesehene Aktivitäten der oppositionellen und feindlich negativen Kräfte unter Kontrolle zu bekommen bzw. eine Eskalation der Ereignisse zu verhindern und Konfrontationen zu vermeiden“. 195 Diese Ko nkretisierung der Aufgabenstellung schloß an die bis dahin geltende Linie an: Ausgewählte IM sollten als Einflußagenten verhindern, daß die Bürgerrechtsorganisationen – sow eit das nicht bereits geschehen war – zu einer Fundam entalopposition gegen das System übergingen. Andernfalls sollten sie versuchen, entsprechende Aktionen zu behindern. Das war – notabene – alles andere als der Versuch, einen als unvermeidlich erkannten demokratischen Umbruch konspirativ zu manipulieren und zu steuern. D er Horizont war enger, und die A bsicht bestand darin, es zu einem solchen U mbruch gar nicht erst kom men zu lassen und den erreichten Stand politischer Öffnung m öglichst einzufrieren. E s war den Vordenkern der MfS-Führung durcha us bewußt, daß es sich hier vor allem um politische Aufgaben handelte, die Sache der Partei, nicht der Staatssi190 Ebenda, Bl. 38. 191 Zur Auswertung dieser Dienstbesprechung fand u. a. in der HA IX (Untersuchung) eine Beratung bei dem Leiter der Hauptabteilung, Ge neralmajor Fister, statt. Ein Teilnehmer notierte, es sei den IM der Auftrag zu erteilen, „einzudringen in neue Strukturen“. „Ihnen“ – gemeint waren offenbar die echten Bürgerrechtler – „ nicht Führ[un] g überlassen/Handlungen einzuengen“; Notizen des Majors Haase vom 23.10.1989; BStU, ZA, HA IX 2915, Arbeitsbuch Haase, Bl. 87. 192 Gemeint: IM. 193 Gemeint: über. 194 Protokoll zur Lageberatung des Leiters der Hauptabteilung XVIII vom 24.10.1989, gez. Kleine; BStU, ZA, HA XVIII 4601, Bl. 27–29, hier 28. 195 Ebenda, Bl. 27.

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cherheit waren.

5.5 Konzeptionen zur „Zurückdrängung oppositioneller Sammlungsbewegungen“ Während Parteiführung un d Sicherheitsapparate in einer Vielzahl von Besprechungen nach Möglichkeiten suchten, die Lage w ieder in den G riff zu bekommen, entfaltete sich auf den Straßen die Bürgerbew egung. A uch wenn Staatssicherheit und Volkspolizei im H intergrund präsent blieben, faßten nun, nach dem 9. O ktober, im mer m ehr Menschen den Mut, ihrem Protest offenen A usdruck zu verleihen. D ie Zahl der D emonstranten, vom MfS sorgfältig registriert, nahm stetig zu. Zwischen dem 16. und dem 22. Oktober waren es 140.000 Teilnehm er auf 24 D emonstrationen; in der folgenden Woche, zw ischen dem 23. und dem 29. Oktober, war ihre Zahl bereits auf über eine halbe Million auf 145 Demonstrationen angewachsen. 196 A n diesem Trend hatten der Wechsel an der SED -Spitze und auch die ersten Maßnahmen der neuen Führung offenkundig nichts geändert. Zugeständnisse, die einige Wochen zuvor noch Aufsehen erregt hätten, wie die Wiederzulassung des sowjetischen „Sputniks“ 197 , reichten ebensowenig, um die Menschen von den Straßen zu bringen, wie die verklausulierte Zeitungsmeldung, der Minister des Innern sei „ beauftragt [worden], einen G esetzentwurf über Reisen von Bürgern der DDR ins Ausland umgehend vorzubereiten und dem Ministerrat vorzulegen“. 198 Während in den D DR-Medien verkündet w urde, daß das „Dialogangebot“ für alle gelte – tatsächlich aber nicht für die Oppositionsgruppen 199 –, wurde im MfS und in der A bteilung für Sicherheitsfragen des ZK an einer Konzeption für das Politbüro gearbeitet, w ie künftig m it der Bürgerrechtsbewegung umzugehen sei. Ein erster Entw urf „ zur Zurückdrängung der Wirksamkeit oppositioneller Sam mlungsbewegungen“, unterzeichnet von Mielke, Dickel und Herger, wurde am 22. Oktober fertiggestellt. 200 D ieser 196 Vgl. ZAIG: Information Nr. 471/89 vom 23.10.89; BStU, ZA, ZAIG 3756. 197 Vgl. Neues Deutschland 21./22.10.1989. 198 Neues Deutschland 20.10.1989. – Am fol genden Tag kommentierte das Zentralorgan der SED dieses Vorhaben ganz im Sinne der oben geschilderten Absicht von Krenz, die Reisefrage an die Anerkennung der DDR-Staatsbür gerschaft durch die Bundesregierung zu binden, und entwertete damit das Versprechen, daß „ Reisemöglichkeiten für jeden“ eröffnet werden sollten; Hajo Herbell: Reisemöglichkeiten – was wir wollen und wer sich querlegt, in: Neues Deutschland 21./22.10.1989. 199 Vgl. zusammenfassend K. -H. Baum: Krenz plant die „ Wende“ ohne Opposition, in: Frankfurter Rundschau 21.10.1989. 200 Dieses Dokument trägt kein Datum. Die Datie rung ergibt sich daraus, daß zwei der Unterzeichner am Vortag davon gesprochen hatten, es sei kurz vor dem Abschluß, und am 23.10. bereits eine veränderte Version erarbe itet wurde. Erich Mielke, Wolfgang Herger u. Friedrich Dickel: „ Vorlage für das Polit büro des ZK der SED, Betreff: Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Formierung und zur Zurückdrängung der Wirksamkeit oppositioneller Sammlungsbewegungen“ (künftig: „ Sammlungsbewegungen“ 1/Version 22.10.1989); BStU, ZA, SdM 1194, Bl. 1–19.

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Entwurf ging in die ZK -Abteilung für Staats- und Rechtsfragen und w urde dort in einigen wesentlichen Punkten verändert, ehe er am 24. Oktober dem Politbüro vorgelegt w urde. 201 D as Politbüro bestätigte ihn jedoch nicht, sondern verschob die Entscheidung auf seine nächste Sitzung. 202 Für diese Sitzung wurde die V orlage neuerlich überarbeitet und dann am 31. Oktober zur Diskussion gestellt. 203 In keinem der drei Entwürfe w ar eine Legalisierung der Bürgerrechtsgruppen vorgesehen. Neben dieser G emeinsamkeit w iesen sie aber einige Unterschiede auf, in denen sich die fast tägliche Verschärfung der politischen Krise widerspiegelte und aus denen auf taktische Ü berlegungen und Differenzen im Sicherheitsapparat und in der Parteiführung zu schließen ist. Das begann schon mit der Bezeichnung des Gegenstandes, der auf die Autoren negative Faszination ausübte: War ursprünglich von „ oppositionellen Sammlungsbewegungen“ die Rede, so wurde daraus in der zw eiten Fassung ein „antisozialistisch“. 204 Die Frontstellung wurde verschärft. Aktuell ging es in diesen A usarbeitungen der Sicherheitsapparate um zwei Ziele des Regim es: den for tschreitenden Organisationsprozeß der O pposition zu bremsen und die Demonstranten, die den stärksten unmittelbaren Druck ausübten, von den Straßen zu bringen. A usgangspunkt war die – außer in der letzten K onsequenz grundsätzlich w ohl zutreffende – Annahme, daß das tatsächliche „Ziel der Initiatoren dieser Bewegungen“ darin bestehe, „unter dem Deckmantel der ‚D emokratisierung‘ und ‚Reform ierung‘ bestehende gesellschaftliche Verhältnisse und Strukturen in der DDR pluralistisch zu verändern, die führende Rolle der SED zu untergraben und 201 Erich Mielke, Wolfgang Herger, Friedrich Dick el u. Klaus Sorgenicht: „ Vorlage für das Politbüro des ZK der SED, Betreff: Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Formierung und zur Zurückdrängung antisozialistischer Sammlungsbewegungen“ vom 23.10.1989 (künftig: „ Sammlungsbewegungen“ 2/Version 23. 10.1989); Arbeitsakte der Sitzung des Politbüros am 24.10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3250. Diese Vorlage ist auszugsweise nachgedruckt in: Stephan (Hrsg.): Vorwärts immer (1994), S. 174–178. 202 Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 24.10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2354, Bl. 1–11, hier 4. Die Überschrift („ Vorschläge des Politbüros“) und der editorische Kommentar bei Stephan, das Dokument sei „ im Politbüro zur Kenntnis genommen worden“ (was die einfachste Form der Billigung war), ist deshalb unzutreffend; vgl. Stephan (Hrsg.): Vorwärts immer (1994), S. 174. 203 Erich Mielke, Wolfgang Herger, Friedrich Dick el u. Klaus Sorgenicht: „ Vorlage für das Politbüro des ZK der SED, Betreff: Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Formierung und zur Zurückdrängung antisozialistischer Sammlungsbewegungen“ vom 30.10.1989; Arbeitsprotokoll der Sitzung des Politbüros am 31. 10.1989 (künftig: „Sammlungsbewegungen“ 3/Version 30.10.1989); BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3252. 204 D er Ursprung dieser Veränderung läßt sich lokalisieren. An der Erarbeitung der 1. Version waren nur das MfS und die Abteilung Sicherheitsfragen beteiligt, Dickel gab anschließend seine Zustimmung. Da Mielke noch am 21. 10. in seiner Rede auf der MfS-Dienstkonferenz den T erminus „ antisozialistische Sammlungsbewegungen“ verwendet hat, kann der neutralere Te rminus „oppositionell“ nur von Herger eingeführt worden sein. Es scheint, daß er unter dem Einfluß von Klaus Sorgenic ht, dem Leiter der ZK-Abteilung für Staatsund Rechtsfragen, wieder verworfen wurde. In der undati erten 1. Version aus dem MfSBestand ist durchgängig das Wort „ oppositionell“ gestrichen und am Rand – in Mielkes Schrift – „antisozialistisch“ vermerkt.

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schließlich die verfassungsm äßigen G rundlagen, die sozialistische Staatsund Gesellschaftsordnung insgesam t zu beseitigen“ . 205 D er Zulauf zu diesen Bewegungen und ihre Radikalisierung sollten gebrem st werden, indem mit ihren Initiatoren durch Vertreter der Volksvertretungen „der sach- und personenbezogene Dialog“ geführt w ürde, um einen „ Differenzierungsprozeß unter diesen“ zu befördern. 206 Zugleich sollte dieser „ Dialog“ so geführt werden, „daß damit keine offizielle Anerkennung des ‚Neuen Forums‘ und anderer oppositioneller Sam mlungsbewegungen verbunden ist“. 207 Zeigten sich deren Anhänger nicht einsichtig, so sollten „differenziert ordnungsrechtliche Mittel“ angewendet werden, über die „ die Öffentlichkeit zu informieren“ war. 208 So die erste Version. Nach der Einbeziehung der A bteilung Staats- und Rechtsfragen w urde dieses Vorhaben vorsichtshalber weiter form alisiert. Nun hätten solche Maßnahm en „ aufgrund ihrer politischen Massenwirksamkeit“ einen langw ierigen G enehmigungsprozeß zu durchlaufen. Sie sollten „ vom Minister für Staatssicherheit, vom Minister des Innern und vom Generalstaatsanwalt der DDR dem Politbüro des ZK der SED zur Beratung“ vorgelegt werden. 209 Noch größere aktuelle Bedeutung hatte die Frage, w ie m it dem Protest auf der Straße um zugehen war. Die Opposition würde Dem onstrationen als Beweis für ihren wachsenden politischen Einfluß werten und versuchen, „davon ausgehend, den Eindruck zu erw ecken, Interessenvertreter des Volkes zu sein und die Berechtigung abzuleiten, als legitim ierte Vertreter der Bürger zu handeln“ . 210 D amit w ar der Machtanspruch der SED in der Tat sichtbar herausgefordert. D er ursprüngliche Entw urf „zur Zurückdrängung oppositioneller Sammlungsbewegungen“ war noch von der Annahm e ausgegangen, es sei m öglich, darauf vorrangig politisch zu antworten. Die Partei sollte zur „ Unterbindung nicht genehm igter Dem onstrationen“ eine „breite gesellschaftliche Protest- und Ablehnungsbewegung“ 211 m obilisieren. Ein V ersuch dazu w urde am 23. Oktober in Schw erin unternommen, darauf wird zurückzukommen sein. In der überarbeiteten, zw eiten Fassung wurde schon etwas vorsichtiger gefordert: Solche Dem onstrationen sollten „entsprechend den jeweiligen Bedingungen m it politischen Mitteln zurückgedrängt“ und Oppositionsgruppen als Anm elder nicht akzeptiert werden. 212 Was aber war zu tun, wenn das nicht beachtet wurde und sich auch „ordnungsrechtliche Mittel“, also Geldstrafen, als unwirksam erwiesen? Die beiden ersten Entwürfe gingen unter V erwendung der Form el Mielkes vom 205 206 207 208 209 210 211 212

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„Sammlungsbewegungen“ 1/Version 22.10.1989, Bl. 5. Ebenda, Bl. 13. Ebenda, Bl. 4. Ebenda, Bl. 17. „Sammlungsbewegungen“ 2/Version 23.10.1989, Anlage 2 „Maßnahmen“, S. 6 f. „Sammlungsbewegungen“ 1/Version 22.10.1989, Bl. 10. Ebenda, Bl. 14. „Sammlungsbewegungen“ 2/Version 23.10.1989, Anlage 2 „Maßnahmen“, S. 4.

21. Oktober davon aus, „ daß gewaltsam e Mittel nur dann angewandt wer-

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den, wenn eine unm ittelbare Gefährdung von Personen, Objekten und Sachen vorliegt und anders nicht abzuwenden ist“. 213 Der dritte Entwurf vom 30. Oktober brachte in dieser Beziehung eine gravierende Veränderung und Verschärfung. Um sie zu verstehen, muß man die Entwicklung der Kontrahenten im politischen Kam pf betrachten. Auf seiten der Bürgerbewegung war es in der Woche zuvor noch einmal zu einer Expansion der Demonstrationen und dam it zu einem Machtzuw achs gekommen. Ein wesent liches Motiv für viele Dem onstranten war, daß sich Krenz – ganz in den Fußstapfen seines V orgängers – am 24. Oktober auch noch zum Vorsitzenden des N ationalen Verteidigungsrates und zum Staatsratsvorsitzenden hatte w ählen lassen, w obei es – erstm als in der Geschichte der DDR – 26 G egenstimmen und ebenso viele Enthaltungen gegeben hatte. 214 Die Machtanm aßung wurde im mer unverhüllter sichtbar, ebenso aber auch die Möglichkeit einer politischen Alternative – schwach aufscheinend in der Präsentation von Manfred Gerlach als Gegenkandidat. 215 Das galt, obw ohl die A nsprache von K renz als neuer Staatsratsvorsitzender verbindlicher war als seine Fernsehansprache als SED-Generalsekretär eine knappe Woche zuvor. War bisher stur behauptet w orden, alle „notwendigen Foren“ für eine gesellschaftliche Debatte würden bereits existieren, so wurde jetzt postuliert, es käm e darauf an, „ genau abzuw ägen, w o neue Schritte und Reform en notwendig sind [...] und wo es gilt, vorhandene Strukturen lebendiger auszufüllen und effektiver zu nutzen“ . Die Rede w ar diesmal auch frei von versteckten Drohungen gegen die Opposition, enthielt sogar Bedauern darüber, „ daß es bei einigen D emonstrationen zu H ärten kam“, und das Versprechen: „Wer ungerecht oder unw ürdig behandelt worden ist, kann jeden Rechtsschutz und alle Rechtsmittel in Anspruch nehmen.“ 216 Auch die Warnung vor weiteren Aktionen auf der Straße hatte Krenz diesm al wie in Watte verpackt: „ Die Dem onstrationen m ögen ihre Funktion gehabt haben, aber unsere Gesellschaft, und da schließe ich alle ihre Mitglieder ein, braucht heute w eniger denn je die K onfrontation ihrer Bürger.“ Das waren neue Töne sowohl hinsichtlich der Wertung der De213 Ebenda, Bl. 16; ebenda, Anlage 2 „Maßnahmen“, S. 5. 214 Vgl. 10. Tagung am 24.10.1989, in: Volkska mmer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 223. – Über die „ Reaktion der Bevölkerung“ berichtete das MfS, daß zwar „unter progressiven Kräften Zustimmung“ geäußert worden sei, daß jedoch „in vielen Diskussionen unterschiedlichster Bevölkerungskreise [...] die Konzentration aller Spitzenfunktionen der Partei und des Staates auf eine Person abgelehnt“ werde; „ Weitere Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung zur 10. Tagung der Volkskammer“ vom 30.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 4262, Bl. 2–14, hier 2. 215 Vgl. ebenda, Bl. 3. 216 10. Tagung am 24.10.1989, in: Volkskammer, Pr otokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 223–227, hier 226; Nachdruck in: Neues Deutschland 25.10.1989. – In der ersten Sitzung des Staatsrates unter Krenz hat Wolfgang Herger am gleichen Tag öff entlich eingeräumt, daß bei den Einsätzen der Sicherheitskräfte „ auch U nbeteiligte zu Schaden gekommen“ wären und „ Zugeführte“ Opfer von „ nicht rechtmäßigen Handlungen durch Angehörige der Schutz- und Sicherheitsorgane“ geworden waren; zitiert nach Zimmerling: Chronik 2, S. 19.

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monstrationen wie der A dressaten dieser Rede. D abei hat sicherlich eine Rolle gespielt, daß am V ortag in Leipzig die Montagsdem onstration m it über 300.000 Teilnehmern zur bis dahin größten Manifestation von Bürgerprotest in der G eschichte der D DR geworden war 217 – und daß eine V eranstaltung der SED -Bezirksleitung in Schw erin ganz anders verlaufen war als geplant. Testlauf in Schwerin Die Krisenbewältigungstaktik von Krenz und G enossen zielte ursprünglich darauf, in einer „ politischen Offensive“, das heißt durch Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft, den Einfluß der Bürgerbew egung zurückzudrängen. Eine wichtige Rolle sollte in diesem Zusammenhang der 23. Oktober in Schwerin spielen. 218 Mielke berichtete auf der D ienstkonferenz des MfS, zwei Tage zuvor: „Was derartige Demonstrationen betrifft, so müssen wir auch abwarten, was Schwerin an Erfahrung bri ngt. Zent ral abgest immt wi rd am Montag in Schwerin ei ne Großkundgebung durchgeführt , auf der der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, ein Arbei ter, ei n Vert reter der B lockparteien und ei n Angehöriger der Intelligenz sprechen. Diese Kundgebung wird über die Schweriner Vol kszeitung angekündi gt und an dem Ort st attfinden, an dem Kräfte des ‚Neuen Forum ‘ ei ne Dem onstration durchführen wol len. W ir werden also sorgfältig auszuwerten haben, wie das verlief, was damit erreicht wurde. Das müssen wir dann im weiteren Vorgehen mit berücksichtigen.“ 219

Das bedeutete, daß der Bürgerbewegung die Straße exem plarisch streitig gemacht werden sollte. In Schwerin hatten Aktivisten des Neuen Forums am 17. Oktober für den 23. Oktober zu ihrer ersten Demonstration aufgerufen. 220 Auf einem Flugblatt w urden unter der Ü berschrift „Mit Demokratie zum Sozialismus!“ die Legalisierung der Bürgerrechtsorganisationen, „ Un217 Vgl. Bahrmann u. Links: Wir sind das Volk (1990), S. 42. 218 Hertle interpretiert die Schweriner Demonstration am 23.10. als Versuch für ein „ Gegensignal des Nordens zur Leipziger Montagsd emonstration“ (H ertle: D er Fall der Mauer [1996], S. 135 f.). Das trifft die Sache nicht: Ein taktisches Kalkül, das regionale Differenzen – der „ Norden“ gegen den Süden – genutzt hä tte, existierte nicht. In Zwickau, im tiefsten Süden der DDR, wurde zwei Tage später von der SED ein ganz ähnlicher Versuch unternommen; vgl. Horsch: „Hat nicht wenigstens die Stasi die Stimmung im Lande gekannt?“ (19 97), S. 23. Der Bezugspunkt wa r nicht die Leipziger Montagsdemonstration, sondern die nur praktisch zu beantwor tende Frage, ob die SED dur ch ihren Kurswechsel die Fähigkeit zurückgewonnen hatte, die Hegemonie auf der Straße auszuüben. 219 „Referat zur Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED und den sich daraus ergebenden ersten Schlußfolgerungen für die Tätigkeit des MfS (21.10.1989)“, Bl. 19. 220 Vgl. Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) der BVfS Schwerin: „ Aufgabenstellung zur Verhinderung einer nichtgenehmigten politischen Veranstaltung negativer oppositioneller Kräfte am 23.10.1989 in Schwerin “ vom 20.10.1989; BStU, ASt Schwerin, AKG 24 b, Bl. 26–33, hier 26.

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eingeschränkte Reisefreiheit für jeden!“ und „ Offene Medien-, Meinungsund Versammlungsfreiheit“ gefordert. 221 Um die Verunsicherung der systemtreuen Bürger weiter zu befördern, wo llten sich Bürgerrechtler zu Büroschluß vor dem Gebäude der SED-Bezirksleitung treffen und m it den Mitarbeitern diskutieren. Anschließend wollte m an zum Alten Garten im Zentrum der Stadt ziehen und dort eine Kundgebung abhalten. Erwartet wurden 6.000 bis 10.000 Teilnehmer. 222 Die Schweriner Staatssicherheit plante ursprünglich, potentielle Teilnehmer an der D emonstration abzuschr ecken durch „ Vorbeugungsgespräche“ mit den Organisatoren und „ Einflußnahme auf staatliche Leiter“ . Zudem war die „ Verhinderung der Anreise von oppositionellen Kräften“ beabsichtigt. „Spezifische politisch-operative Maßnahmen“, die nicht näher erläutert wurden, sollten „zur Verunsicherung und Desinformation negativer und oppositioneller Kräfte“ beitragen. 223 Schon am nächsten Tag w ar diese Planung veraltet, da die SED beschlossen hatte, unter der Parole „ Dialog und Tat – gem einsam für Erneuerung in unserem Land!“ am gleichen Ort zur gleichen Zeit eine Gegenkundgebung abzuhalten. 224 Nun erging ein Befehl des Leiters der Bezirksverw altung Schwerin, Generalmajor K orth, eine „ Aktion ‚O ffensive‘“ zu starten, die von ihm „persönlich“ geleitet werden würde. 225 In der Präam bel zu diesem Befehl war die Welt wieder klar strukturiert: Eine rseits gebe es die SED -Veranstaltung. Ihr Ziel sei, „ alle Mitglieder der SED und alle Werktätigen zu m obilisieren für den Kampf um die w eitere A usgestaltung der sozialistischen G esellschaftsordnung [...] und den umfassenden Schutz unserer Errungenschaften und unserer Bürger vor jeglichen feind lichen Angriffen“. Andererseits würden „oppositionelle Kräfte“ „ eine ‚Dem onstration‘ von m ehreren tausend Beteiligten“ planen, „um die Öffentlichkeit mit den provokatorischen Forderungen des ‚Neuen Forum s‘ zur Destabilisierung unserer Arbeiter-undBauern-Macht zu konfrontieren“. 226 Aufgabe der Staatssicherheit sei es, die SED-Veranstaltung abzusichern, m it H ilfe „ aller IM“ „ gegnerische Pläne“ aufzuklären und „ Provokationen, Gewalthandlungen, Schmierereien, Verbreitung von Flugblättern u. a.“ zu verhindern. Durch eine „Kontrolle aller OV- und OPK-Personen“, das heißt von Personen, die vom MfS in Ope221 Anlage zu ebenda, Bl. 31; dokumentiert auch in: Aufbruch ’89 – über den Beginn der Wende in Schwerin. Dokumentation (1995), S. 173. 222 KD S chwerin: „ Information ü ber V orkommnisse i m Z usammenhang mit A ktivitäten der Vereinigung ‚Neues Forum‘“ vom 20.10.1989; BStU, ASt Schwerin, AKG 06 c, Bl. 178– 184, hier 179. 223 AKG der BVfS Schwerin: „Aufgabenstellung“ vom 20.10.1989, Bl. 28 f. 224 Wer – außer der Schweriner SED-Bezirksleit ung – in O stberlin an diesem Vorhaben beteiligt war, war nicht festzustellen. Mielkes Äußerung, es sei „ zentral abgestimmt“, läßt aber schließen, daß es zumindest Absprachen mit dem Großen Haus gegeben hat. 225 Leiter der BVfS Schwerin: „Befehl Nr. 1/89 zur Sicherung der politischen Großveranstaltung der Bezirksleitung der SED am 23.10. 1989 in Schwerin – Alter Garten“ vom 21.10.1989; BStU, ASt Schwerin, DOSA 40 1228, 5 S. 226 Ebenda, S. 1.

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rativen Vorgängen oder Personenkontrollen bearbeitet werden, sollte garantiert w erden, „ daß sie nicht an der G roßkundgebung teilnehmen“. 227 Viel Erfolg war diesem Vorhaben nicht beschieden, sollte es doch nicht einmal gelingen, den bekanntesten Bürgerrechtler im Bezirk Schw erin, H eiko Lietz 228 , an der Teilnahme und daran zu hindern, daß er eine Rede hielt. 229 Zu den Reaktionen auf die Mobilisierung zur SED-Kundgebung fanden sich nur einzelne H inweise. A us dem Bau- und Montagekombinat, Betriebsteil Schwerin, wurde am 23. Oktober gem eldet: „ Jeder Betriebsangeh[örige] hat an der K undgebung teilzunehm en. Teilweise wurde das Mitbringen der Ehepartner angewiesen, was auf Ablehnung stieß. Das Flugblatt der SED-BL [Bezirksleitung] wurde infolge der A nonymität zurückgew iesen, z[um ] T[eil] als eine Veröffe ntlichung des ‚NF‘ [des Neuen Forum s] angesehen und vernichtet.“ 230 Dieses Mißverständnis rührte daher, daß der Handzettel, mit dem für diese Kundgebung m obilisiert wurde, keinen Unterzeichner hatte und offen ließ, wer eigentlich dazu aufrief. 231 Au s d em Plastmaschinenwerk Schwerin wurde berichtet: „Von 16 A GL [Abteilungsgewerkschaftsleitungen] lehnten 8 ab, ihre Werktätigen zu informieren. [Die] Kundgebung Alter Garten [sei] nicht zeitgemäß.“ 232 Aus den Kampfgruppen sollten „ Kämpfer“ in Zivil teilnehm en. Schon Wochen zuvor war gemeldet worden, daß in ihren Reihen die Unzufriedenheit wuchs. 233 Als sie nun „ eingewiesen“ werden sollten, wurden „ durch Kämpfer folgende Argum ente vorgetragen: Warum wird KG [Kam pfgruppe] als Spitzel/Büttel der VP [Volkspolizei] eingesetzt. Was ist das NF [Neue Forum] eigentlich, vielleicht identifizieren wir uns m it NF. [...] 6 Kämpfer lehnten den Einsatz ab.“ 234 Das sind nur einzelne Indizien für die Stimmung 227 Ebenda, S. 3. 228 Lietz wurde vom MfS dem „ harten Kern“ der Bürgerrechtsbewegung zugerechnet und war eine von DDR-weit insgesamt elf Persone n, die in diesem Zusammenhang namentlich genannt wurden; vgl. MfS-Information Nr. 150/89 vom 23.05.1989 „ über beachtenswerte Aspekte des aktuellen Wirksamw erdens innerer feindlicher oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen“; BStU, ZA, DSt 103600, S. 4. – Heiko Lietz, geboren 1943 in Schwerin, studierte Theologie und war 1970–1980 Gemeindepfarrer in Güstrow, dann kündigte er seine Tätigkeit wegen Konflikten mit der Amtskirche. N ach längerer A rbeitslosigkeit hi elt er sich mit H ilfstätigkeiten w ie Essenträger bei der Volkssolidarität über Wasser. Seit 1979 war er in der unabhängigen Friedensbewegung und seit September 1989 im Neuen Forum aktiv und einer seiner beiden Vertreter am Zentralen Runden Tisch; vgl. Wer war wer? (1995), S. 455. 229 Vgl. Lagefilm der BV fS Schwerin vom 23.10.1989; BStU, ASt Schwerin, AKG 50, Bl. 2–22, hier 10 u. 13. 230 Ebenda, Bl. 22. 231 Faksimile des Aufrufs der SED Schwerin , in: Aufbruch ’89 – über den Beginn der Wende in Schwerin. Dokumentation (1995), S. 173. 232 Lagefilm der BVfS Schwerin vom 23.10.1989, Bl. 22. 233 Am 11.10.1989 berichtete die Staatssicherheit: „Es zeigt sich, daß ein geringer Teil der Kämpfer nicht mehr feste Klassenpositionen besitzt, sich davon distanziert, gegebenenfalls gegen Rowdys vorzugehen, und bereits politisch-ideologisch kapituliert hat. “ BVfS Schwerin: Inform ation über weitere Reaktione n der Bevölkerung des Bezirkes Schwerin vom 11.10.1989; BStU, ASt Schwerin, AKG 46 b, Bl. 143–148, hier 148. 234 Meldung von 15.35 Uhr; Lagefilm der BVfS Schwerin vom 23.10.1989, Bl. 17 f.

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unter bisher äußerlich loy alen Bürgern, wie weit sie repräsentativ sind, ist nicht zu beantw orten. A uf jeden Fall folgten Tausende der Parteidisziplin und erschienen zum vorgegeben Zeitpunkt auf dem Kundgebungsplatz. Gegen 17.00 Uhr begann die „ Großkundgebung“. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich etwa 15.000 bis 20.000 Personen auf dem Alten Garten versammelt, die aus beiden politischen Lagern kam en. Als die „ Repräsentanten“ die Tribüne betraten – vermerkt der Lagefilm der Staatssicherheit – gab es ein „Pfeifkonzert durch die N F-Personen [Neues Forum] und Beifall durch progressive Kräfte (Beifall überw iegt)“. 235 Offiziell handelte es sich um eine V eranstaltung des „ Demokratischen Blocks“ , auf der – wie Mielke berichtet hatte – Vertreter unterschiedlicher sozialer Schichten und der Blockparteien sprechen sollten, um dieses angebliche Bündnis „progressiver Kräfte“ zu bestätigen. Es schien sich dafür aber niem and gefunden zu haben, denn tatsächlich sprach nur O berbürgermeister Helmut Oder (SED) ein kurzes Grußwort und dann der 1. Sekretär der SED -Bezirksleitung H einz Ziegner. Er wiederholte einige Schlagworte aus der letzten Rede von Krenz und verkündete dann: „ [...] der dem okratische Block hat zur heutigen Kundgebung aufgerufen, um ein A ngebot zu machen für diese Diskussionen, die w ir dort führen w ollen, wo sie hingehören“ . 236 Das war wo rtwörtlich gem eint. Zur V erblüffung der A nwesenden w ar der „Dialog“, zu dem für die Veranstaltung aufgerufen w orden war, damit bereits beendet. 237 Inzwischen war etwa eine halbe Stunde vergangen. D ie „Repräsentanten“ verließen die Tribüne, es gab noch etwas Blasmusik, und dann w urde das Feld der Opposition überlassen. Die Menge war inzwischen auf etwa 40.000 angeschwollen. Nun wurden Losungen laut w ie „Trennung Staat und Partei“ , „Weg m it dem Wasserkopf“ , „Weniger Stasi – m ehr Produktionsarbeit“ , „Neues Forum – freie Wahlen – Reisefreiheit“. 238 Am nächsten Tag versuchte die „ Schweriner Volkszeitung“, das Organ der SED-Bezirksleitung, unter der Schlagzeile „40.000 Schweriner auf dem Alten Garten“ alle Teilnehm er nachträglich für die SED-Kundgebung zu vereinnahmen. 239 Die Staatssicherheit wußte es besser und meldete nach Berlin: „Die Anhänger des NF [Neuen Forum s] haben m it ihren Sprechchören und Transparenten große Tei le der Anwese nden beeindruckt. Das Ende der Veranstaltung kam für alle ziemlich überraschend, so daß sich danach ein Durcheinander ergab.“ 240 235 Meldung von 16.50 Uhr; ebenda, Bl. 13. 236 Text der Rede von Ziegner in: Aufbruch ’89 – über den Beginn der Wende in Schwerin. Dokumentation (1995), S. 180–182. 237 Meldung von 17.24 Uhr; Lagefilm der BVfS Schwerin vom 23.10.1989, Bl. 12. 238 Ebenda. 239 Faksimile in: Aufbruch ’89 – über den Beginn der Wende in Schwerin. Dokumentation (1995), S. 209 f. 240 Schreiben der AKG der BVfS Schwerin an das MfS Berlin: „ Information zur Stimmung und Reaktion der Bevölkerung des Bezirkes Schwerin auf die 9. Tagung des ZK der

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Die Zentrale Auswertungs- und Kontrollgruppe (ZAIG) des Ministeriums in Berlin allerdings verfälschte die Nachrichten aus Schwerin bis zur Unkenntlichkeit und meldete, was sich das A lte Regime gewünscht hätte. In ihrem „Wochenbericht“ behauptete sie, bei den „Führungskräften des ‚Neuen Forums‘“ sei nur „Konzeptionslosigkeit“ sichtb ar gew orden, sie hätten sich „faktisch kompromittiert“. Ganz anders dagegen die eigene Seite: „Durch d en systematisch v orbereiteten Ein satz ein er Vielzah l gesellschaftlicher Kräfte (klassenbewußte Arbeiter, mutige Agitatoren und Propagandisten der Partei) wurde das politische Ziel der Veranstaltung erreicht, der W ille und di e M acht der Arbei terklasse bei m wei teren Aufbau des Sozialismus wurden überzeugend zum Ausdruck gebracht.“ 241

Ganz anders klang ein Bericht zur Stim mungslage der K reisdienststelle für Staatssicherheit Schwerin: „Die oppositionellen Kräfte versuchen be i aller Unterschiedlichkeit ihrer Positionen, herauszustellen, daß ‚ihre Demonstration‘ der eigentliche Erfolg des 23.10. gewesen sei. Deshalb soll nach ihrer Absicht jeden folgenden Montag eine Wiederholung erfolgen. 242 Das massive Auftreten der Hauptkräfte, Anhänger und Sy mpathisanten des NF [Neuen Forum ] hat bei einer Reihe von Kundgebungsteilnehmern auch noch i m n achhinein t eilweise beängstigende Wirkungen hinterlassen.“ 243

Es war das genaue G egenteil des angestrebten Ziels: D ie SED hatte eine Kraftprobe auf der Straße gesucht – und verloren. 244 Selbst Ziegner m ußte

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SED“; BStU, ASt Schwerin, AKG 46 b, Bl. 196–205, hier 202. Das Schreiben ist irrtümlich mit „22.10.1989“ datiert. Eine dera rtig krasse Uminterpretation des tatsächlichen Geschehens ist meines Wissens in den ZA IG-Berichten selten, obwohl sie fast immer tendenziös sind. Zwei Motive sind denkbar: Entweder war der ZAIG-Bearbeiter ei n doktrinärer Betonschädel, der nur wahrnahm, was in sein Weltbild paßte. Oder es handelte sich umgekehrt um „ Informationspolitik“ zur Stärkung j ener Kräfte im Regime, die auf eine „ politische“ (statt auf eine repressive) Lösung setzten, natürlich im Sinne der SED. „ Hinweis über die Wirksamkeit des konzentrierten Einsatzes gesellschaftlicher Kräfte im Rahmen der Großkundgebung auf dem Alten Garten in Schwerin am 23.10.1989“ vom 24.10.1989, Anlage zum „ Wochenbericht“ 43/89 der ZAIG; BStU, ZA, ZAIG 4955, Bl. 127 f. Tatsächlich kamen am 30.10.1989 – diesmal ohne offizielle SED-Beteiligung – wiederum 40.000 Teiln ehmer zur Montagsdemonstration; vgl. Aufbruch ’89 – über den Beginn der Wende in Schwerin. Dokumentation (1995), S. 231; die gleiche Teilnehmerzahl wird in einem Fernschreiben der BVfS Schwerin an das MfS Berlin vom 30.10.1989 genannt; BStU, ZA, HA XX/4 1475, Bl. 50 f. KD Schwerin: „Information über die Stimmung und Reaktion der Bevölkerung“ vom 27.10.1989; BStU, ASt Schwerin, AKG 96 c, Bl. 185–191, hier 185. In Zwickau wurde am 25.10. das gleiche Ma növer noch einmal versucht. Es ging für die SED ebenfalls schief und endete damit, daß sie vor etwa 3.000 echten Demonstranten das Feld räumen mußte. Vgl. Horsch: „Hat nicht wenigstens die Stasi die Stimmung im Lande gekannt?“ (1997), S. 23.

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bei einer Sitzung der SED -Bezirksleitung einräum en: „ Das w ar ein Fehler am Montag [...]“. Er meinte jedoch, man habe es „nicht wie in Dresden oder in Leipzig“ machen wollen und überhaupt solle man – das sei auch die Auffassung der „Führung in Berlin“ – die „Gespräche“ nicht auf der Straße führen, „sondern in Räumen, größer, kleiner“. 245 Beratung im Großen Haus Die A nsprache von K renz vom 24. Oktober w ar, insgesam t gesehen, nicht sehr gehaltvoll gew esen, aber sie w ar ein Signal: Die Parteiführung begann zu begreifen, daß eine Stabilisierung der Situation unm öglich war, ohne auf die Opposition zuzugehen. 246 Diesem Zweck dienten „Gespräche mit Organisatoren des ‚N euen Forum s‘“, die di e 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen nun führen sollten, jedoch ohne diese Organisation dam it förm lich anzuerkennen. 247 Für eine Bestandsaufnahme wurden sie am 27. Oktober nach Berlin geholt und erstatteten Bericht über die Lage in ihren Bezirken. Hackenberg berichtete: „ Es gibt keine G arantie, daß die Montagsdem onstrationen in Leipzig aufhören.“ 248 Aus Schwerin meldete Ziegner, daß das „Stimmungsbild“ „sehr ernst“ sei und schlim mer noch: „ In den Betrieben fängt die Partei an zu wackeln.“ 249 D er Rostocker Bezirkssekretär Ernst Timm hatte die Erfahrung gem acht, daß öffentliche Diskussionsveranstaltungen auch keine Lösung des Problem s brächten: „ Den Weg der Foren können wir nicht w eitergehen. D ie Fragen und Problem e w erden im mer größer, und nur zehn Prozent davon können w ir lösen.“ 250 Ä hnliche Erkenntnisse brachte Chem nitzer aus Neubrandenburg m it: „ Das Kräfteverhältnis entwickelt sich gegen uns. Die durchgeführten Foren entwickeln sich zu Gerichtsverhandlungen. Die Genossen kommen sich dort wie Angeklagte vor.“ D as N eue Forum w ürde „ langfristig auf die Wahlen hinarbeiten, um dann die SED aus dem Sattel zu heben“. Es drohe eine Entwicklung „wie in Polen“. 251 245 Schlußwort von Heinz Ziegner bei der Sitz ung der SED-Bezirksleitung Schwerin am 30.10.1989; Faksimile (Auszug) in: Aufbruch ’89 – über den Beginn der Wende in Schwerin. Dokumentation (1995), S. 183 u. 187. 246 Vgl. die Ansprache vo n Krenz nach seiner Wahl zum Staatsratsvorsitzenden auf der 10. Volkskammertagung am 24.10.1989, in: Vo lkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 223–227. 247 Beschluß des Politbüros der SED in der Sitzung am 24.10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2354, Bl. 4. 248 Information über die Beratung des Sekretariats des ZK mit den 1. Sekretären der B ezirksleitungen der SED a m 27.10.1989; Anlage 1 zum P rotokoll der Sitzung d es Politbüros am 31.10.1989, 19 S., hier S. 2; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2356. 249 Ebenda, S. 3 f. 250 Ebenda, S. 14. Zur Entwicklung in Rostoc k vgl. Ammer u. Memmler (Hrsg.): Staatssicherheit in Rostock (1991); Höffer: „ Der Gegner hat Kraft“ (1997); Probst: „Der Norden wacht auf“ (1993). 251 Ebenda, S. 7. Zur Entwicklung in Neubrandenburg vgl. Niemann u. Süß: „Gegen das Volk kann nichts mehr entschieden werden“ (1996).

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Nur zwei Redner gingen in ihren Beiträgen über solche Befürchtungen und Klagen hinaus. Modrow berichtete aus D resden, die Bezirksleitung habe „ 600 Foren“ durchgeführt. In D iskussionen hätten die V ertreter des Neuen Forums „zum Ausdruck [gebracht], wir sind nicht zu weit auseinander. Wir sind ebenfalls für den Sozialism us“. Wenn die SED ihrer „ führenden Rolle“ künftig wieder gerecht w erden w ürde, dann „ werden w ir uns zurückziehen“. Ob das korrekt wiedergegeben war, m uß dahingestellt bleiben. 252 Es hatte jedenfalls die Funktion, den eigentlichen Punkt in Modrows Argumentation vorzubereiten. Man m üsse einsehen: „Das ‚Neue Forum‘ ist keine A ngelegenheit der K irche. Sie haben 10.000 U nterschriften gesammelt. [...] So, wie gegenwärtig die Lage ist, können wir die Weiterentwicklung des ‚Neuen Forums‘ nicht aufhalten. Wir machen sie durch unsere Methoden nur noch populärer.“ 253 Modrow gab m it dieser Einschätzung die Stimmung vieler Parteimitglieder wieder, über die am gleichen Tag von der Abteilung Parteiorgane im ZK gemeldet worden war: „Unzufriedenheit und Verwi rrung werden bei Genossen si chtbar, wi e si e oppositionellen Gruppierungen entgegentreten sollen. Es wird die Forderung erhoben, daß es an der Zeit wäre, von der Parteiführung eine einheitliche Strategie übermittelt zu b ekommen, d a ein erseits d ie ZK-In formation v om antisozialistischen C harakter und das Geschäft des Fei ndes bet reibenden Gruppierungen spricht, andererseits aber ihnen Raum in Fernsehdiskussionen gegeben wird.“ 254

Günther Jahn aus Potsdam zog aus dieser Problematik die Schlußfolgerung: „Das ‚Neue Forum‘ sollten wir als Dialogpartner anerkennen und in der Nationalen Front eingliedern, aber keine Strukturen zulassen.“ 255 Wie dieses Vorhaben realisiert werden könnte, verriet er allerdings nicht. D ie Idee selbst w ar nicht neu. In D resden zum Beispiel hatte der Stasi-Chef Böhm 252 Ganz ausgeschlossen ist das nicht, wenn man etwa bedenkt, daß in der „ Erklärung des Neuen Forum zum 40. Jahrestag der DDR“ vom 6.10.1989 gefordert worden war: „ Ihr beansprucht die führende Rolle – übt sie aus!“ In: Schüddekopf (Hrsg.): „ Wir sind das Volk!“ (1990), S. 69 f. 253 Information über die Beratung des Sekretariats des ZK mit den 1. Sekretären der Bezirksleitungen der SED am 27.10.1989, S. 5. 254 Die Fernsehdiskussion, auf die angespielt wird, war die Direktübertragung einer Veranstaltung am 24.10.1989 im Ostberliner „Haus der jungen Talente“ durch „ Elf 99“. Teilnehmer waren u. a. Bä rbel Bohley und Jens Reich vom Neuen Forum, Stefan Heym und Christoph Hein, auf der anderen Seite der ste llvertretende Kulturminister Hartmut König, Markus Wolf und Gisela Steineckert. Abt. Parteiorgane des ZK: „ Information über die aktuelle Lage in der DDR (Stand vom 27.10.1989)“; BStU, ZA, ZAIG 7834, Bl. 10–15, hier 11; vgl. auch den einschlägigen Lagebericht der HA XX; BStU, ZA, HA XX/4 1685, Bl. 167 f. 255 Information über die Beratung des Sekretariats des ZK mit den 1. Sekretären der Bezirksleitungen der SED am 27.10.1989, S. 10. Zur Entwicklung in Potsdam vgl. Meinel u. Wernicke (Hrsg.): „Mit tschekistischem Gruß“ (1990).

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schon zw ei Wochen zuvor angeregt, die „ Gruppe der 20 “ in irgendeiner Form in die N ationale Front „ einzubeziehen“. 256 Das entsprach dem damaligen Niveau einer Liberalisierungspolitik, der die Vorstellung zugrunde lag, es sei m öglich, den gesellsch aftlichen Unm ut durch partielle Öffnung der herrschenden Strukturen abzufangen und zu integrieren. Für das MfS nahm der 1. Sekretär der SED -Kreisleitung, G eneralmajor Felber, an der Beratung teil. Er brachte einen ganz anderen Ton in die D ebatte: „Sie [die Angehörigen des MfS] halten sich strikt an die gegebene Linie und verstehen, daß es nötig ist, die Lösung der Aufgaben mit politischen Mitteln zu garantieren. Sie sind aber bereit, wenn der Befehl gegeben wird, auch anders zu handeln.“ 257 Im Protokoll der Beratung, das dem Politbüro vorgelegt wurde, blieb Felbers Angebot unerwähnt. 258 In seiner Loyalitätserklärung war die Bereitschaft angedeutet, doch noch zu versuchen, die Krise repressiv zu lösen. Egon Krenz, der Generalsekretär, vermochte den verunsicherten Bezirkssekretären auch keine klare Perspektive zu geben. 259 Einerseits soll er erklärt haben: „ Große D ialoge bringen ni chts (z[um ] B[eispiel] Dresden)“ , andererseits, unter Anspielung auf Schw erin: „ Wenn w ir unsere G enossen auf die Straße schicken, m üssen sie auch als Sieger hervorgehen.“ Da das nicht sehr w ahrscheinlich w ar, berichtete später Bezirkssekretär Jahn aus Potsdam, „ gehen unsere A gitatoren nicht m ehr auf die Straße und in die Kirche“. Die Anwendung von Gewalt sei keine Lösung: „ Gewaltsame Zusammenstöße können w ir nicht gebrauchen. A nwendung der Schußw affe nur, wenn nicht anders m öglich.“ Aber auch für eine integrative Lösung sei die Zeit noch nicht reif. Das Politbüro – so habe Krenz angekündigt – werde in seiner nächsten Sitzung über die Zulassung des Neuen Forums sprechen, aber „ wahrscheinlich“ werde es auch dann bei einer „ ,de facto‘-Anerkennung“ bleiben. D as w ar die A usgangslage, als für diese Sitzung ein neuer Entwurf zum Umgang mit den „Sammlungsbewegungen“ erarbeitet wurde.

256 „Information“ der BVfS Dresden für den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden, Modrow, vom 12.10.1989 „über weitere Aktivitäten und Forderungen negativ-feindlicher Kräfte“; BStU, ZA, Neiber 616, Bl. 132–138, hier 138. 257 „Einige Worte zur Lageeinschätzung im eige nen Verantwortungsbereich“; handschriftl. Vermerk „ Gen. Felber auf Beratung im ZK mit 1. Sekr. BL“; BStU, ZA, HA XVIII 5885, Bl. 1–8, hier 2. 258 Information über die Beratung des Sekretariats des ZK mit den 1. Sekretären der Bezirksleitungen der SED am 27.10.1989, S. 18 f. (Beitrag Felbers). 259 Sein Beitrag wird in der bisher zitierten „ Information“ nicht referiert. Die folgende Darstellung basie rt auf dem Bericht, den d azu Günther Jahn im Sekretariat der SEDBezirksleitung Potsdam gegeben hat. Es handelt sich um sinngemäße, nicht um wörtliche Zitate; „Hinweise von der Sekretariatssitzung der BL am 28.10. in Auswertung der Beratung des Politbüros mit den 1. Bezirkssekretären am 27. 10.1989“; BStU, ASt Potsdam, AKG 617, Bl. 206–209.

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Das Politbüro und die Konzeption zur „Zurückdrängung“ Die erhoffte „Wende“ im Kräfteverhältnis zwischen Regime und Opposition war nicht eingetreten. Es hatte sich vielmehr noch verschlechtert. Allein am 26. Oktober hatten 160.000 Menschen demonstriert 260 , und die nächste Kraftprobe stand am folgenden Samstag in Berlin bevor. D ie Leiter des MfS, des MdI und der A bteilung Sicherheitsfragen und ihr Genosse von der ZK-Abteilung Staat und Recht konstatierten in der nunmehr 3. Fassung ihrer Politbüro-V orlage zum U mgang m it den „ Sammlungsbewegungen“ – diesmal für die Sitzung am 31. Oktober –, daß die SED sich „ noch nicht wieder in der politischen, ideologi schen und führungsm äßigen Offensive befindet“. 261 Vom Neuen Forum würden „die größten Gefahren“ ausgehen, weil es „ an die Vielzahl der berechtigten Fragen und Kritiken der Bürger anknüpft, sie emotional aufputscht und so selbst Einfluß gew innt“. 262 Die Gespräche von Parteifunktionären bis hin zu den 1. Sekretären der SED Bezirksleitungen mit Initiatoren des Neuen Forum s hätten gezeigt, daß die Bürgerrechtler auch künftig „nicht genehmigte Demonstrationen“ veranstalten werden. „Damit ist beabsichtigt, die führende Rolle der SED weiter zu untergraben und die Staatsorgane zu erpressen.“ 263 Angesichts dieser K onstellation – einer zunehm end demoralisierten SED und einer w achsenden Protestbew egung – w urde der V orlage für die Sitzung des Politbüros eine Handlungsvariante hinzugefü gt, die in den ersten beiden Entwürfen noch nicht enthalten gewesen war: „Wenn es ni cht gel ingt, den Führungsanspruch unserer Part ei durch Führungsqualität innerhalb der Partei und im Volk zu beweisen, sind Eskalationen ni cht zu vermeiden. Großdemonstrationen wi e i n Lei pzig und Dresden mit weit über 100.000 Teilnehm ern m achen deutlich, daß eine gut durchdachte Organisation bereits existiert. [...] Wenn es nicht gelingt, den Masseneinfluß m it p olitischen Mitteln zu rückzudrängen, ist ein möglicher Ausnahmezustand nicht auszuschließen.“ 264

Die Alternative wurde hier m it seltener Deutlichkeit form uliert: Entweder eine politisch-integrative Rettung des Regimes auf dem bis dahin erreichten, sehr bescheidenen Liberalisierungsniveau oder der Einsatz von Gewalt, denn das hätte der „ Ausnahmezustand“ bedeutet. Unter den Autoren dieses

260 „Sammlungsbewegungen“ 3/Version 30.10.1989, „Anlage 1. Information über antisozialistische Bewegungen in der DDR“, S. 7. 261 Ebenda, S. 1. 262 Ebenda, S. 2. 263 Ebenda, S. 8. 264 Ebenda, S. 8a. Für den Hinweis auf diese Veränderung der ursprünglichen Vorlage danke ich Hans-Hermann Hertle. Vgl. auch Hertle: Chronik des Mauerfalls (1996), S. 88 f.

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Entwurfs befand sich auch Wolfgang Herger, der Leiter der Sicherheitsabteilung. Das belegt einmal mehr, daß „Softliner“ keine Eigenschaft bezeichnet, sondern eine taktische Verortung in einem Machtkalkül, der ganz unterschiedliche Motive zugrunde liegen konnten. A uslöser dieses V ersuchs eines neuerlichen Kurswechsels war wohl die Einsicht, daß die H offnung vergebens war, der SED werde noch einmal eine „politische Offensive“ mit politischen Mitteln gelingen. Das Desaster von Schwerin hatte exem plarischen Charakter. Die Spitzen der Sicherheitsapparate wollten jedoch nicht, wie das bei einem Putsch der Fall gew esen wäre, an die Stelle einer unfähigen Führung treten, sondern diese Führung selbst zum Handeln bewegen. Die Ausrufung des „ Ausnahmezustandes“ hätte, w enn sie A ussicht auf Erfolg haben sollte, breiterer Unterstützung als nur durch den Parteiapparat und die „ bewaffneten Organe“ bedurft. Aber selbst in den Repressionsorganen war die aktuelle Gewaltbereitschaft gering – Folge vor allem der Ernüchterung angesichts der als ziellos em pfundenen Politik der SEDFührung, aber auch anderer, bereits erwähnter Faktoren. In Berichten von Parteiversammlungen im MfS und in A ufzeichnungen von Stasi-O ffizieren zum taktischen Vorgehen gegen die Opposition findet sich kaum ein Hinweis darauf, daß offene Repression als taugliches Hilfsmittel betrachtet würde. Typisch ist eher die Handlungsdevise, die ein Offizier der Rostocker Bezirksverwaltung in diesen Tagen in se inem A rbeitsbuch notierte: „ nicht dreinschlagen und Plattform für Gegner schaffen“. 265 Eine A usnahme bildeten in dieser Beziehung Ü berlegungen, die in der Bezirksverwaltung Potsdam angestellt wurden. In einer Vorlage der Auswertungs- und K ontrollgruppe beim Leiter der BV für die SED -Bezirksparteileitung vom 31. Oktober wurde die aktuelle Lage skizziert – die Rede war von einer „komplizierten und zum Teil dram atischen Entw icklung“ – ein ungetrübtes und die SED w urde aufgefordert, Sorge zu tragen für „ Feindbild und U nversöhnlichkeit gegenüber allen Feinden des Sozialismus“. 266 Die A rgumentation kulm inierte in der Prognose, „ daß w ir trotz aller Anstrengungen auf eine w eitere Zuspitzung der Situation gefaßt sein müssen“. Es folgte ursprünglich der Zusatz „ bis hin zur Notwendigkeit der militärischen Verteidigung unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht“. Doch dieser Satz wurde gestrichen. Daß gerade diese Passage – als einzige in dem gesamten Text – von der SED -Parteileitung in der Bezirksverwaltung verworfen wurde, zeigt, daß auch die Hardliner, die es im MfS gewiß noch gab, mit ihrem Latein am Ende waren. Gewalt war auch für sie keine realistische Handlungsoption mehr. Zur Stimmung in der SED wurde in der Politbürositzung am 31. Oktober 265 Arbeitsbuch von Hauptmann Darmer, Leiter de r EDV in der AKG der BVfS Rostock; BStU, ASt Rostock, AKG 66, Bd. 1, Bl. 71. 266 AKG der BVfS Potsdam: „ Thesen zur Unterstützung der politisch-ideologischen Arbeit in unserer Parteiorganisation“; „ am 31.10. übergeben“ an den Leiter der BV und den 1. Sekretär der Parteileitung; BStU, ASt Potsdam, AKG 617, Bl. 202–205.

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ein Bericht vorgelegt. Über die innerparteilichen Diskussionen zum Weg aus der K rise und über das V erhältnis zu den Bürgerrechtsorganisationen hieß es: „Deutlich erkennbar ist die Meinung, da ß verlorengegangenes Vertrauen nur zurückgewonnen werden kann, wenn da s politische System der DDR breiten Dialog und st ändige Volkskontrolle von unt en nach oben gewährl eistet und brennende Probleme mit aller Konsequenz angepackt werden. [...] Besonders in Grundorganisationen m it hohem Intelligenzanteil werden von Genossen Posi tionen und Forderungen vertreten, di e denen des ‚Neuen Forums‘ entsprechen oder nahe kom men. Kom munisten, di e konsequent den Standpunkt der Part ei vert reten, si nd oft i n der Rolle von Einzelkämpfern. Auch in öffentlichen Versammlungen fallen ihnen andere Parteim itglieder in den R ücken, so daß es auf Foren und anderen Veranst altungen m ehr und mehr zu Auseinandersetzungen zwis chen Genossen in der Öffentlichkeit kommt. [...] Parteileitungen und Parteim itglieder er warten baldige inhaltliche Aussagen zur Erneuerung der Part ei, dam it si ch di e SED an die Spitze des Erneuerungsprozesses stellt. [...] W eiterhin stark zugenom men haben unduldsam und teilweise sehr aggressiv geführ te Diskussionen über Pri vilegien für l eitende Partei- und Staatsfunktionäre.“ 267

Offenbar gingen die Erwartungen in eine ganz andere Richtung als die einer gewaltsamen Restauration. Erwartet wurde eine Erweiterung der politischen Öffnung und die Übertragung des V eränderungsimpulses auf die Partei selbst. Dabei ist deutlich, daß die Unzufriedenheit m it der unentschlossenen Taktiererei von Krenz längst schon die Parteibasis erreicht hatte. Wie über die V orlage zu den „Sammlungsbewegungen“ am 31. Oktober im Politbüro gesprochen w orden ist, kann m angels Unterlagen nur indirekt erschlossen werden. Wahrscheinlich ist diese Diskussion in den Hintergrund gedrängt worden durch die Schilderung der Wirtschaftslage der D DR, die Planungschef Gerhard Schürer vortrug und die so katastrophal ausfiel, daß man fragen m ußte, w elche H andlungsspielräume überhaupt noch existierten. 268 Als Mielke und Dickel dann zum Tagesordnungspunkt „Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Form ierung und zur Zurückdrängung der Wirksamkeit oppositioneller Sam mlungsbewegungen“ Bericht erstatteten, wurde die Vorlage nicht einmal offiziell „zur Kenntnis genommen“, sondern 267 „Information zur aktuellen politischen Lage in d er DDR“ vom 30. 10.1989, Vorlage von Horst Dohlus; Anlage zum Arbeitsprotoko ll der Politbürositzung am 31.10.1989, 11 S., hier S. 5–7; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3252. 268 Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit S chlußfolgerungen; Anlage zum Protokoll der Politbürositzung am 31.10.1989, 22 S.; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2356; vgl. Hertle: Chronik des Mauerfalls (1996), S. 92–95; Haendcke-Hoppe-Arndt: Außenwirtschaft und innerdeutscher Handel (1996).

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der Punkt erneut vertagt: „ Die inhaltliche Diskussion über die vorgeschlagenen Maßnahmen wird im Politbüro weitergeführt.“ 269 Entschieden wurde, die leitenden SED-Funktionäre von den ZK -Mitgliedern bis zu den K reissekretären „ über die vom Politbüro beschlossenen Maßnahm en“ – die tatsächlich gar nicht „beschlossen“ worden waren – „zu informieren“. 270 Ein w eiteres Mal aufgeschoben w orden ist noch eine andere, dam it unmittelbar zusammenhängende Entscheidung: über die Legalisierung des Neuen Forums. 271 Die Chefs der Sicherheitsapparate hatten auch dazu eine Vorlage erarbeitet, die den kom plizierten Titel trug: „Zur Nichtbestätigung der Anmeldung der beabsichtigten G ründung einer Vereinigung ‚Neues Forum‘“. 272 Die Sache schmorte zu diesem Zeitpunkt bereits seit Wochen im Innenministerium. Der Rechtsanwalt des Neuen Forums, Gregor Gysi, hatte bereits Anfang O ktober in einem Schriftsatz herausgearbeitet, daß es nach geltendem Recht, der „ Vereinigungsordnung“ der D DR, gar nicht m öglich war, eine solche A nmeldung abzulehnen. 273 Das hatte die Sicherheitsbürokraten wenig beeindruckt. Sie w aren anscheinend m it dem – eventuell zeitweiligen – Verzicht auf offene Repre ssion an die Grenzen ihrer Lernfähigkeit gestoßen und präsentierten eine A rgumentation, die einen Monat alt war: Das Innenministerium sollte Gysi mitteilen, daß an der „Versagung der Anmeldung“ festgehalten werde. 274 Selbst im MfS war das inzwischen o ffenbar umstritten. In dem einschlägigen Vorgang in den Stasi-Akten findet sich eine Gegenposition, deren Autor nicht zu identifizieren ist, wahrscheinlich kam die Vorlage aus der Zentralen A uswertungs- und Inform ationsgruppe (ZA IG). D arin wurde argumentiert, „gegenwärtig muß davon ausgegangen werden, daß die Zulassung des ‚Neuen Forum s‘ weder m it politischen noch mit rechtlichen Mitteln zu verhindern ist“. 275 Ein „Festhalten an der Nichtzulassung“ habe nur negative Folgen: eine w eitere „Zuspitzung der Lage“ , wachsender Einfluß des Neuen Forums durch Solidarisierung und eine „weitere Schwächung der staatlichen Autorität“, „da die Nichtzulassung m it staatlichen Mitteln nicht 269 Protokoll der Politbürositzung am 31. 10.1989, 14 S., hier S. 7; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2356. 270 Ebenda. 271 Bei der vorange gangenen Politbürositzung war die Diskussion darüber bereits einmal vertagt worden; vgl. Protokoll vom 24.10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2354, Bl. 4. 272 Vorlage von Mielke, Dickel, Herger und So rgenicht für die Sitzung am 31.10.1989; Anlage zum Arbeitsprotokoll des Politbüros; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3252. 273 Schreiben von Rechtsanwalt Dr. Gregor Gysi in Vertretung von Bärbel Bohley und Jutta Seidel an das MdI vom 3. 10.1989; Anlag e zum Arbeitsprotokoll des Politbüros vom 31.10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3252. 274 Vgl. Vorlage von Mielke, Dickel, Herger und Sorgen icht für die Sitzung am 31.10. 1989 und Anlage 2 „Anwortschreiben des Ministeriums des Innern zur Eingabe des Dr. jur. Gysi“ (Entwurf); BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3252. 275 „Hinweise zur möglichen Zulassung des ‚Neu en Forum‘“, o. D.; BStU, ZA, ZAIG 7388, Bl. 20–22. Es handelt sich um eine Anlage zu dem Entwurf für die Politbüro-Vo rlage; ebenda, Bl. 10–19.

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durchgesetzt werden könnte“. 276 Warnend fügte der A utor hinzu, daß „ die weitere Entwicklung des ‚Neuen Forum s‘ nicht allein m it den Mitteln des MfS kontrollierbar und beherrschbar ist“. In Klammern folgte ein Kommentar, der die H andlungsgrenzen der Staatssicherheit im Herbst 1989 in einem Satz zusam menfaßte: Die Mittel des Staatssicherheitsdienstes seien „kein ‚Ersatz‘ für politische Mittel“. 277 Gefordert sei die SED: „Die Beherrschung der Lage ist in erster Linie davon abhä ngig, wie es gelingt, durch spürbare Veränderungen das Vertrauen zur Partei wiederherzustellen.“ 278 Ein Beitrag dazu wäre „die Zulassung des ‚N euen Forums‘“, weil sie „zu einer Verminderung des Drucks führen“ und „ die Ernsthaftigkeit des Dialogwillens der Partei unterstreichen“ würde. 279 Mielke hat sich von dieser Argumentation offenbar nicht überzeugen lassen, denn er hat sie nicht übernom men. D as Politbüro aber war unfähig zur Entscheidung. Es vertagte die Angelegenheit erneut. 280 Kurz nach dem Ende der Politbürositzung w urde ein Fernschreiben von Krenz verschickt, das als „ vorläufige O rientierung für den U mgang m it Bürgern“ dienen sollte, „ die als Initiatoren und Organisatoren des ‚Neuen Forums‘ bekannt“ waren. 281 Diese Vorgabe folgte der bisher praktizierten Linie: Es seien weiterhin „Gespräche mit jedem Bürger“ zu führen, „ der als Vertreter des ‚Neuen Forums‘ bekannt ist“, jedoch so, „daß daraus keine offizielle A nerkennung des ‚N euen Forum s‘ als Vereinigung abgeleitet werden“ kann. In diesen Gesprächen sollte versucht werden, „nicht angemeldete Demonstrationen“ zu verhindern. Falls das scheiterte, galt: „ Erlaubnisse sollten erteilt und m it Auflagen zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit verbunden w erden. ‚Neues Forum‘ ist als Veranstalter nicht zu akzeptieren.“ 282 Damit wurde die Hinhaltetaktik fortgesetzt, die – soweit vorhanden – die G laubwürdigkeit des neuen K urses der SED-Führung nach und nach zerstörte. Bei der Politbürositzung w urde zwischen den A lternativen: Rückkehr zu offener Repression oder w eitere Liberalisierung keine Entscheidung getroffen. Staatssicherheitsminister Erich Mielke kündigte noch am gleichen Tag

276 Ebenda, Bl. 20. 277 Ebenda, Bl. 21. 278 Ebenda. 279 Ebenda. 280 Einstweilen wurde Dickel „beauftragt, mit Rechtsanwalt Dr. Gysi über den Stand der E ntscheidungsfindung zu sprechen“. Protokoll der Politbürositzung am 31. 10. 1989, 14 S., hier S. 7; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2356. 281 Dieses Dokument ist in den Protokollakten nicht enthalten, und das Protokoll vermerkt auch keine Bestätigung einer Vorlage, sonde rn spricht von „ einem Fernschreiben“. Da aber zwischen dem Ende der Sitzung um 16.30 Uhr und dem Sendetermin um 16.50 Uhr nur zwanzig Minuten vergangen sind, ist anzunehmen, daß es bereits vorher fertig war und das Büro des Politbüros unmittelbar im Anschluß an die Sitzung beauftragt wurde, es zu versenden. BA Berlin, DY 30 IV 2/2039/314 (Bestand Büro Krenz), Bl. 27–30. 282 Ebenda. Hv. im Original.

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seinen Rücktritt an. 283 D iese Entscheidung w ar w ohl nicht als Protest zu verstehen, sondern eher als A usdruck von Resignation. Ebenfal ls am 31. Oktober erteilte er den ersten eindeutig defensiven Befehl: Die Dienstgebäude, vor allem in den Kreisstädten, sollten verstärkt gesichert werden, da die D emonstranten ihnen im mer näher rückten und „mit einer weiteren Eskalation der Lage“ zu rechnen sei. Die „ operativen Unterlagen“ sollten „in Stahlblech- bzw. Panzerschränken“ w eggeschlossen oder besser noch aus den K reisdienststellen in die größeren und besser zu schützenden Bezirksverwaltungen ausgelagert werden. 284 Mielke ahnte, was auf die Staatssicherheit zukam. In einem w eiteren Schreiben, diesm al an alle A ngehörigen des MfS, das fast den Charakter eines Abschiedsbriefes hatte (obwohl dieser Punkt nicht erw ähnt w urde), vers icherte er jedoch, „ daß die Parteiführung alles unternimmt, um eine Beruhigung und Stabilisierung der Lage zu erreichen“. 285 Er war auch jetzt noch ein disziplinierter Parteisoldat.

5.6 Beratung mit den „Freunden“ Als neuer Generalsekretär der SED hatte Egon Krenz einen Antrittsbesuch in Moskau zu absolvieren. A ls er dazu, noch am Tag der Politbürositzung am 31. Oktober, startete, hatte er einen um fangreichen Fragenkatalog im Gepäck, in dem Problem e der inneren Sicherheit ganz an der Spitze standen. 286 Für sein Statement gegenüber Gorbatschow nahm er Notizen mit, in denen es nach einigen Höflichkeitsfloskeln ziem lich schnell um die Sache ging: die „ ernste politische Krise“ in der DDR und der Umstand, daß die SED sich „ vorwiegend in V erteidigungsstellung“ befinde. 287 O ffenkundig

283 Krenz berichtete das am nächsten Tag gegenüber Gorbatschow in Moskau; vgl. „ Niederschrift des Gesprächs von Egon Krenz, Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der D DR, mit Michail G orbatschow, Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vor sitzender des Obersten Sowjets der UdSSR, am 1. November 1989 in Moskau“; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/329, Bl. 128–162, hier 156. 284 Schreiben des Ministers an die Leiter der Diensteinheiten vom 31.10.1989; BStU, ZA, DSt 103125, 6 S. 285 Schreiben von Mielke an die Leiter de r Diensteinheiten mit Anlage vom 2. 11.1989; BStU, ZA, DSt 103632. 286 Eine Liste „Vorschläge des ZK der SED für den Erfahrungsaustausch und für Konsultationen“ zwischen den j eweiligen ZK-Abteilungen und den Ministerien enthielt 17 Punkte. Die ersten drei Punkte lauteten: „1. Politische und polizeiliche Eingrenzung von Provokationen“, „2. Aufklärung der Absichten und Ziele von antisozialistischen Gruppierungen“, „3. Politische Führung des ZK gegenüber NVA, MfS, MdI“; Egon Krenz: „Bericht über den Arbeitsbesuch [...] vom 31.10. bis 1.11.1989 in der UdSSR“, Anlage 2; Arbeitsprotokoll der Politbürositzung am 7.11.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3255. 287 „Empfehlungen für das Gespräch des Genossen Egon Krenz mit Genossen Michail Gorbatschow“, mit handschriftlichen Unterstreichungen und Ergänzungen von Krenz; BA Berlin, DY 30 IV 2/2039/329, Bl. 12–24, hier 14 u. 16.

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wollte er vor allem erfahren, wie es der KPdSU gelungen war, trotz nunmehr vier Jahren Perestroika und Glasnost die Macht zu behalten. 288 Das Gespräch verlief etwas anders, als von K renz geplant. Ein G rund mag gew esen sein, daß G orbatschow se inen Gesprächspartner richtig einschätzte und, noch bevor Krenz zu Wort kam, in seiner Begrüßung m ahnte, man „dürfe keine A ngst vor dem eigenen V olk bekom men“. 289 So sprach man zuerst über andere D inge, bald über die Wirtschaftslage. A ls Krenz offenbarte, daß die DDR zum Jahresende 26,5 Milliarden US-Dollar bzw. 49 Mrd. V alutamark Auslandsschulden haben werde, 290 war es ihm gelungen, Gorbatschow in Erstaunen zu versetzen: „ So prekär habe er sich die Lage nicht vorgestellt.“ 291 Mit gewissem Recht, wie sich inzwischen herausgestellt hat, denn die Zahl war überhöht: Vor allem dank der Finanzkünste von Schalck-G olodkowski hatte selbst die SED -Führung den Überblick über die reale D evisensituation verloren. 292 Unzweifelhaft war aber die wirtschaftliche Situation dennoch überaus „prekär“. Nachdem der Generalsekretär der KP dSU im weiteren Verlau f d es Gesprächs versichert hatte, daß die U dSSR an der Existenz zw eier deutscher Staaten festhalte, 293 und nach der Erörterung einiger anderer Punkte, kam man schließlich zur politischen Lage in der DDR. Krenz vertrat zu diesem Punkt wahrscheinlich keine grundsätzlich andere Position als am Vortag im Politbüro. Hinsichtlich der Demonstranten m einte er, es gebe unter ihnen „einige wirkliche Feinde“, doch „ ein großer Teil seien U nzufriedene oder Mitläufer“. Man sei entschlossen, „ politische Probleme mit politischen Mit288 Eine Darstellung der innenpolitischen Lage in der UdSSR, die Krenz als Zuarbeit – wahrscheinlich der ZK-Abteilung Internati onale Verbindungen – für seine Sowjetunionreise erhalten hatte, schilderte zwar eine Reihe von Problemen und „ Unsicherheiten in bezug auf die Stabilität“, ließ j edoch keinen Zweifel daran, daß „ die Führungsrolle der Partei“ – man möchte hinzufügen: noch – gegeben sei; „IV. Aktuelle Aspekte der innenpolitischen Entwicklung der UdSSR“; BA Berlin, DY 30 IV 2/2039/329, Bl. 117–122. 289 Niederschrift des Gesprächs von Egon Krenz mit Michail Gorbatschow am 1. 11.1989, Bl. 129. – Die im folgenden zitierte Version ist die Urfassung dieses Protokolls. Sie ist nicht identisch mit der bei Stephan (Hrsg. ): Vorwärts immer (1994), S. 199–224, veröffentlichten Version für die Mitglieder des ZK , in der einige brisante Passagen gestrichen worden waren. 290 Diese Zahl hatte Schürer am 31.10.1989 vor dem Politbüro bekanntgegeben. 291 Niederschrift des Gesprächs von Krenz mit Gorbatschow am 1. 11.1989, Bl. 142. – Die Diskussion zu diesem Punkt ist andernorts bereits ausführlich dargestellt worden, deshalb kann hier darauf verzichtet werden; Hertle: Chronik des Mauerfalls (1996), S. 95–99. 292 Mitte November 1989 teilten Alexander Schalck-Golodkowski und die stellvertretende Finanzministerin Herta König mit, daß die ur sprünglich genannte Zahl um 11 Mrd. VM zu hoch sei. Tatsä chlich werde die Verschuldung Ende des Jahres 20,6 Mrd. US-$ bzw. 38 Mrd. VM betragen. Nach neueren Berechnungen lag die Nettoverschuldung der DDR gegenüber dem Westen Ende 1989 wahrscheinlich zwischen 13 und 14 Mrd . $. Vgl. Schreiben von Alexander Schalck-Golodkowsk i und Herta König an Ministerpräsident Modrow v om 14.11.1989, dokumentiert in: Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck- Golodkowski 3, Anlage n (1994), S. 3121–3125; Volze: Ein großer Bluff? (1996), S. 701. 293 Niederschrift des Gesprächs von Egon Krenz mit Michail Gorbatschow am 1. 11.1989, Bl. 147.

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teln zu lösen. Die Demonstrationen würden legalisiert und man werde keine Polizei gegen sie einsetzen.“ 294 Demonstrationen konnte die SED nach eigener Einschätzung sow ieso nicht m ehr verhindern, 295 wie aber sollte m it der Forderung der Opposition nach Legalisierung ihrer Organisationen umgegangen werden? Dazu meinte K renz: „ Die Frage der A nerkennung des ‚Neuen Forums‘ sei noch nicht entschieden. Bisher könne m an deren Orientierung noch nicht voll einschätzen. Es m üsse verhindert werden, daß sich etwas ähnliches entwickle wie die Solidarno  in Polen.“ 296 Er fürchtete eine Verbindung zwischen Bürgerbewegung und Arbeiterschaft. Die A ntwort von G orbatschow zeigt, daß er die Lage in der DDR und insbesondere der SED -Führung begriffen hatte. Er rügte vorsichtig Krenz’ Fernsehansprache und lobte seine Rede in der V olkskammer. 297 Damit war die Richtung seiner Argumentation schon vorgegeben. Er w urde aber noch deutlicher. Zum Umgang mit der Bürgerrechtsbewegung sagte er: „Man dürfe den Zei tpunkt nicht verpassen, damit solche Bewegungen nicht auf die andere Sei te der B arrikade geraten. Die Partei dürfe sol chen Problemen nicht ausweichen, sie müsse mit diesen Kräften arbeiten. In der Sowjet union tue man das jetzt, aber es sei bereits sehr spät.“ 298

Es sei wichtig für die SED, „ nicht die Initiative zu verlieren“ – die sie, wie Gorbatschow wahrscheinlich wußte, bereits verloren hatte. Es könnte sonst „eine ausweglose Lage entstehen“ . Das „ Ansehen des Generalsekretärs“ , seine Glaubwürdigkeit, sei von fundamentaler politischer Bedeutung. 299 Und schließlich gab G orbatschow seinem G enossen K renz, der lange über das nächste ZK-Plenum gesprochen hat, noch den Rat m it auf den Weg: „Das Volk habe sich erhoben und sage heute seine Meinung. Man dürfe sich also nicht nur auf das Plenum des ZK, sondern müsse sich auch auf die Gesellschaft orientieren.“ 300 Das war eine Fülle beherzigenswerter Lehren, die allerdings zu spät kamen. Auf dem Rückweg von Moskau machte Krenz in Warschau Station. Dort hatte man beides versucht: m it dem Kriegsrecht eine repressive Lösung und mit dem Ru nden Tisch und den Wahlen eine Integration der Opposition. Präsident Wojcech Jaruzelski berichtete, daß beides gescheitert sei. Mit dem Kriegsrecht hätten sie geglaubt, „ den D eckel auf dem Topf halten zu können, aber die Arbeiterklasse stand in der ersten Reihe gegen uns“. 294 Ebenda, Bl. 157. 295 „Real gesehen nicht möglich, Demonstrationen zu verbieten oder mit ihrer Einstellung zu rechnen.“ Empfehlungen für das Gespräch von Krenz mit Gorbatschow, Bl. 15. 296 Niederschrift des Gesprächs von Egon Krenz mit Michail Gorbatschow am 1. 11.1989, Bl. 158 f. 297 Ebenda, Bl. 154. 298 Ebenda, Bl. 159. 299 Ebenda, Bl. 162. 300 Ebenda, Bl. 163.

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„Wir hatten den Schut zschirm des Kri egsrechts über unsere Kader, Verwaltungen und Parteiinstanzen gehalten [...] Doch dieser Schutzschirm hatte den Mangel, daß er best immte St rukturen geschüt zt hat , bestimmte Traditionen, bestimmte Menschen, weil diese ein Mitgliedsbuch der Partei hatten und bestimmte Funktionen innehatten.“ 301

Das w ar eine Lösung, die m it starken Mängeln behaftet w ar, die zudem „noch in die Zeit von Breshnew “ gefallen und auch deshalb nicht übertragbar sei. Dann habe sich die Polnisch e Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) aus Angst vor einem , so Jaruzelski, „ heißen Herbst“ auf den Runden Tisch und schließlich auf Wahlen eingelassen. D em habe eine „Fehleinschätzung“ zugrunde gelegen, weil „die Partei das Kämpfen verlernt hatte“. Anschließend hätten sich die ehemaligen Blockparteien verselbständigt, „weil wir sie nicht ernst genom men hatten“ . D amit reduzierte sich der H andlungsspielraum weiter: „Es blieb uns keine andere Alternative, als Panzer auf die Straße zu bringen oder die heutige Lösung.“ Mit den Panzern aber hatte m an es bereits vergeblich versucht. Eine H offnung blieb, m einte Jaruzelski: „ Wir haben das U nternehmen zw ar abgegeben, haben uns aber ein Kontrollpaket Aktien gesichert – das sind die Beteiligung an der Regierung, die Sicherheitsorgane und die Armee und das Amt des Präsidenten.“ Bei dem anschließenden Gespräch mit Mieczyslaw Rakowski ließ der Erste Sekretär der PVAP den Genossen Krenz ebenfalls an seinen Erfahrungen und Einsichten teilhaben. Es ging dabei vor allem um die Fehler seiner Partei, die nach Rakow skis Worten „ noch immer unter der Schockw irkung der Wahlniederlage“ stand. Die Reihe der Fehler hätte schon mit der Repression begonnen: „Als folgenschwer h atten sich zuvor i n den 80er Jahren di e Versuche erwi esen, Oppositionelle durch ständiges Einsperren und wieder Herauslassen einzuschüchtern. Es zei gte si ch, daß di e Gefängni saufenthalte zum eist nur zu größerer Ent schlossenheit und besserer Vorbereitung auf den Kam pf gegen die Part ei bei trugen. Zudem ent stand ei n M ärtyrer-Mythos in der Bevölkerung.“ 302

Letzteres war eine Befürchtung, die hohe MfS-K ader in der DDR hinsichtlich strafrechtlicher Maßnahmen auch wiederholt geäußert hatten. Rakowski erläuterte weiter: „[...] zu den Schlußfolgerungen aus der Entwicklung in Polen gehört auch, daß m an rechtzeitig eine klare Antwort auf die Frage 301 „Niederschrift des Gespräches zwischen Genossen Egon Krenz und Genossen Wojciech Jaruzelski“, 9 S.; Anlage zum Arbeitsprotoko ll des Politbüros am 7.11.1989; BA Berlin, J IV 2/2A/3255. 302 „Vermerk über ein Gespräch des Genossen Egon Krenz mit Genossen Mieczyslaw Rakowski am 2. November 1989 in Warschau“, Anlage zum Arbeitsprotokoll der Politbürositzung am 7.11.1989, 10 S.; BA Berlin, J IV 2/2A/3255.

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finden muß, was darf m an legalisieren und was nicht.“ Die Verhandlungen am Runden Tisch seien „im Prinzip“ richtig gewesen, nur hätten die PVAPVertreter äußerst ungeschickt taktiert und die längerfristigen Folgen bestimmter Entscheidungen nicht bedacht. Zu den Fehlern, die man vermeiden könne, gehöre die allzu lange Behandlung der Blockparteien „als ‚Satelliten‘“. Daß sie sich jetzt gegen die PVAP gestellt hätten, bezeichnete er als „die Q uittung für unsere früheren Sünden“ . D as gleiche gelte für die Medien, die sich sowieso verselbständigen würden. Nachdrücklich betonte Rakowski – das sollte sich bald als weiser Rat erweisen – die Notwendigkeit, auf „ Privilegien [zu verzichten], denn sie reizten die Menschen in besonderer Weise und sehr schnell entsteht ein My thos über das Leben von denen ‚da oben‘“. Aktuelle Befürchtungen seines G esprächspartners beförderte Rakowski schließlich, als er erklärte, „daß er noch vor kurzem Angst hinsichtlich der ‚Berliner Mauer‘ hatte. Er befürchtete, daß, wenn kein schneller Führungsw echsel erfolgt, eine der nächsten Demonstrationen die Mauer ansteuert und große Menschenmassen, auf die m an kein Feuer eröffnen kann, damit beginnen, die Grenze zu demontieren.“ Das war genau eine Woche vor der Öffnung der Mauer – doch wir wollen nicht vorgreifen. Nach zw ei w eiteren G esprächen m it Ministerpräsident Mazow iecki und dem Vorsitzenden der Solidarno -Fraktion im Sejm, Bronislaw Geremek, bei denen es vor allem um die deutsche Frage ging und „ Polens Interesse“ an der Existenz der DDR, 303 flog Krenz zurück nach Ostberlin. Er hatte eine Menge Eindrücke zu verarbeiten. Bei allen G esprächspartnern hatte in zwei Punkten Übereinstimmung bestanden: Eine Rückkehr zu offener Repression war keine Antwort auf die politische Krise, und Verzögerungstaktik im Umgang mit der Opposition, besonders hinsichtlich ihrer Legalisierung, verschärfte die Frontstellung noch und beförderte letztlich sogar die Schwächung des Regimes. Am Flughafen in O stberlin wurde Krenz abgeholt, H erger erwartete ihn. Auf der Rückfahrt ins Inn ere der Stadt w urde natürlich über die Reiseerfahrungen und über die Lage in der DDR gesprochen. Man war sich einig: Jetzt half nur noch Modrow, den Gorbatschow sehr gelobt hatte, als Ministerpräsident. 304

303 Geremek habe erklärt, so das Protokoll, es gebe ein „ Recht der Deutschen auf nationale Vereinigung“, doch müsse dies „im Kontext Europas“ gesehen werden. „ Die Existenz der DDR liegt im Interesse Polens. [...] Trotz aller politischer Differenzen sind sich in dieser Frage alle Kräfte einig.“ Niedersc hrift über ein Gespräch zwischen Egon Krenz und Prof. Bronislaw Geremek am 2.11.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3255, 2 S. 304 Diese Darstellung basiert auf dem Telefongespräch des Verf. mit W. Herger am 11.10.1996. Modrow selbst berichtet, er sei erst am 8. 11.1989, unmittelbar vor Beginn eines ZK-Plenums, von Krenz gefragt worden, ob er den Vorsitz im Ministerrat übernehmen werde. Vgl. Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998), S. 320.

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6 Die Kraftprobe am 4. November und die Sicherheitsorgane

In Ostberlin bereiteten sich zu dieser Zeit viele Menschen auf ein Ereignis vor, das zu einem Höhepunkt der Herbstrevolution werden sollte: die Demonstration am 4. November. 1 N achträglich hat Jens Reich, der auf der Kundgebung als Mitbegründer des N euen Forums sprach, diese Demonstration als „das Beste“ bezeichnet, „was die DDR hervorgebracht hat, ein politisches Schlußfeuerwerk“, 2 und Wolfgang U llmann hat gar vorgeschlagen, den Tag zum „künftigen Nationalfeiertag aller D eutschen“ zu erklären. 3 Es gab allerdings auch ganz andere Stim men; es w urde behauptet, die D emonstration sei die Folge einer besonders gerissenen Manipulation von Staatssicherheit und SED gewesen, „die von dem wankenden Regime retten wollten, was noch zu retten war“. 4 Tatsächlich war diese Demonstration eine der letzten großen K raftproben zw ischen dem Alten Regime, der sich von der Bevormundung durch die Partei em anzipierenden Bürgerschaft und der Opposition – ein Ereignis, das den Durchbruch zu einer neuen Phase politischer Entwicklung brachte. Die Idee zu dieser D emonstration entstand bei einer Sitzung des A rbeitsausschusses des Neuen Forums am 14. Oktober aus dem Gefühl heraus, daß nach den Demonstrationen in Leipzig nun auch in Berlin die Zeit gekommen sei, etwas Größeres auf die Beine zu stellen. 5 Allerdings wollten 1 2 3 4

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Eine frühere Version dieses Kapitels ist aus aktuellem Anlaß erschienen in: Deutschland Archiv 28 (1995) 12, S. 1240–1252. Für den vorliegenden Text wurde zusätzliches Quellenmaterial herangezogen. Reich: Rückkehr nach Europa (1991), S. 197. Wolfgang Ullmann: Stichwortmanuskript für eine Rede im Reichstag am 16. Juni 1990, als Anhang in: Thaysen: Der Runde Tisch (1990), S. 210–213, hier 213. In die Welt gesetzt wurde diese Legende dur ch einen nachlässig recherchierten Artikel („Plakate von der Stasi“, in: Der Spiegel 6.11.1995, S. 3 u. 72–79, Zitat S. 72), der keiner Erwähnung wert wäre, würde er nicht als Beleg in seriösen wiss enschaftlichen Arbeiten zitiert; vgl. Kapitza: Transformation (1997), S. 118, Anm. 18; Wettig: Niedergang (1996), S. 454, Anm. 195. – Hertle bezeichnet in seinem verdienstvollen Buch über die Maueröffnung die Spiegel-Kolportage zwar zu recht als „abwegig“, kann sich aber von dieser verschwörungstheoretischen Konstruktion dennoch nicht ganz lösen, wenn er etwa behauptet, es sei „der SED-Spitze gelungen, Politbüro-Mitglied Günter Schabowski auf die Rednerliste der Abschlußkundgebung zu setzen“; Hertle: Chronik des Mauerfalls (1996), S. 104 u. 289, A nm. 76. Gewiß hat Schabowski dort gesprochen, aber wie kam er dazu? – Irreführend ist auch die nicht weiter kommentierte Rede vom „ 4. November 1989, dem Tag der großen genehmigten und aus der SED heraus organisatorisch unterstützten (!) Demonstration in Berlin“ bei Thaysen u. Kloth: Der Runde Tisch und die Entmachtung der SED (1995), S. 1722. Was es mit der „ organisatorischen Unterstützung“ auf sich hatte, wird zu zeigen sein. Gespräch des Verf. mit der Mitbegründerin des Neuen Forums, Jutta Seidel, am 18.11.1995.

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die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler – auch aus Sicherheitsgründen – nicht schon w ieder das in den Medien als „ staatsfeindlich“ denunzierte Neue Forum ins Zentrum rücken. Schließlich lagen die A useinandersetzungen um den 40. Jahrestag nur w enige Tage zurück, und H onecker w ar zu dieser Zeit noch im Amt. Bei der Ü berlegung, wer als Organisator in Frage käme, fielen den Aktivisten vom Neuen Forum die Theat erleute ein, die im Deutschen Theater eine Protestversammlung gegen den Polizeiterror am vorangegangenen Wochenende, dem 7./8. Oktober, abhalten wollten. Den Kontakt sollten Jutta und Eberhard Seidel herstellen, in deren Nachbarschaft Jutta Wachowiak wohnte, Mitglied des Ensem bles des D eutschen Theaters. Die Seidels w aren Bürgerrechtler, die von der Staatssicherheit dem „harten Kern“ der „ feindlich-negativen Personenzusam menschlüsse“ zugerechnet wurden. 6 Bärbel Bohley und Jutta Seidel hatten im September gemeinsam die Zulassung des N euen Forums beim Ministerium des Innern beantragt. 7 An jenem Abend dachte Jutta Seidel zu H ause noch über ein en passenden Termin nach, schließlich kam sie auf den „ 4.11.“. Da Wachowiak nicht erreichbar war, warf sie ihr einen Zettel m it einer kurzen Notiz in den Briefkasten, sie möge bei dem Treffen der Berliner Theaterschaffenden doch vorschlagen, am 4. November eine Demonstration zu organisieren. 8 Am nächsten Tag kam en im D eutschen Theater etw a 800 Mitarbeiter Ostberliner Theater zusam men. 9 Berichtet w urde über die Prügeleien und Verhaftungen am 7. und 8. Oktober. Die Versammelten verurteilten in einer Resolution das „ menschenunwürdige V orgehen der Polizei“ und forderten die Bestrafung der Schuldigen. 10 Die Resolution wurde selbst vom stellvertretenden Kulturminister, Siegfried Böttiger, unterzeichnet. Es folgte eine mehrstündige Diskussion, in der sich – so die Staatssicherheit in einem Bericht – 19 Redner „gegen den gegenwärtigen Kurs der Partei und Regierung aussprachen“ und einer dafür; er wurde ausgepfiffen. 11 Dann m achte Jutta Wachowiak den Vorschlag, am 4.11. eine D emonstration zu organisieren. Ein Bericht der Kulturabteilung der SED -Bezirksleitung Berlin hielt diese 6 Vgl. MfS, ZAIG: Information Nr. 150/89 übe r beachtenswerte Aspekte des aktuellen Wirksamwerdens innerer feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen, Anlage, S. 10; BStU, ZA, DSt 103600. 7 Vgl. Zimmerling: Chronik 1 (1990), S. 49 u. 51. 8 Gespräch des Verf. mit Jutta Seidel am 18.11.1995. 9 Dieser Versammlung waren bereits mehrere Protestversammlungen in der „ Volksbühne“ am 2.10, 4.10. und 7.10.1989 vor angegangen, auf denen der Aufruf des Neuen Forums und die E rklärung der Rockmusiker verlesen und eigene Aktivitäten vereinbart worden waren; vgl. „Operativ-Information“ der HA VII vom 6.10.1989; BStU, ZA, HA XX 1179, Bl. 2–4. 10 Vgl. ADN-Information: „ Information übe r eine Veranstaltung der Berliner Theaterschaffenden am 15.10.1989 im Deutschen Theater“, Ve rmerk: „Nur zur Information – Interne Dienstmeldung“; BStU, ZA, HA II 1769, Bl. 113–119; Resolution in: Zentrum für Theaterdokumentation und -information: Rollen (1990), S. 193. 11 „Information über beachtenswerte Aspekte der aktuellen Lage im Bereich Kunst/Kultur“ vom 16.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 5377, Bl. 2–11, hier 4 f.

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historische Initiative fest: „Es erfolgte ein Antrag an die Versam mlung, eine Demonstration zu beantragen (großer Jubel).“ 12 Offenbar sprach sie e twas aus, was in der Luft lag. D ie Theaterschaffenden beschlossen, am 4. November zu demonstrieren, um die in den Artikeln 27 und 28 der D DRVerfassung festgeschriebenen, aber nie eingelösten Grundrechte Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit einzuklagen. Am 17. Oktober, dem Tag von H oneckers Sturz, versuchte Wolfgang Holz, Schauspieler und gewerkschaftlicher Vertrauensm ann am Berliner Ensemble, bei der Volkspolizei-Inspektion Berlin Mitte eine Genehmigung zu beantragen. 13 Daraufhin schickte das Präsidium der Volkspolizei, das sofort informiert worden war, ein Telegramm an die Ostberliner Stasi-Bezirksverwaltung: Es w erde „ eine provokatorische Demonstration“ vorbereitet. 14 Die Staatssicherheit allerdings wußte bereits Bescheid. Der IM „ Kastner“ hatte an der V ersammlung teilgenom men und darüber seinem Führungsoffizier von der Abteilung XX/7 der BVfS Berlin berichtet. 15 Partei- und Staatsm acht standen nun vor dem Problem, wie sie reagieren sollten. Dabei ist davon auszugehen, daß die Machthaber – entsprechend der Entwicklungsetappe, in der sich der U mbruch befand, und ihrer bisherigen Taktik – zw ei zentrale Ziele hatten: erstens die weitere Annäherung zwischen regimefeindlicher Opposition und kritisch-loy alen Bürgern zu blockieren und zweitens keine offen auf ihren Sturz gerichtete Massendemonstration in der H auptstadt zuzulassen. G eht m an von dem Charakter der damaligen politischen Situation aus, gab es fünf Varianten des Reagierens, die alle nicht optimal waren: Variante 1: D ie D emonstration zu verbieten und sie gew altsam zu verhindern. Das wäre die noch eineinhalb Wochen zuvor in O stberlin und anderswo praktizierte Taktik der Hardliner gewesen – sie hatte sich freilich als nicht erfolgreich erwiesen. Seit dem 9. und deutlicher noch seit dem 18. Oktober widersprach sie zudem der offiziellen Parteilinie. Variante 2: Die Dem onstration nicht zu legalisieren und durch politische Einflußnahme zu versuchen, sie zu verhindern. Das hätte der aktuellen Linie des eben erst inthronisierten neuen Generalsekretärs Krenz entsprochen. Variante 3: Die Dem onstration nicht zu legalisieren und, sollte sie dennoch stattfinden, sie durch eine eigene Manifestation zu überlagern und zu 12 „Ablaufnotizen zur Veranstaltung am 15. 10.1989 im Deutschen Theater“; Landesarchiv (LA) Berlin, Bezirksparteiarchiv (BPA), SE D-Bezirksleitung (SED-BL) 6312, Bd. 1, 10 S., hier S. 7. 13 BStU, ZA, HA XX, AKG 1465, Bl. 49–52. 14 Fernschreiben des PdVP Berlin an den Zentralen Operativstab des MfS vom 18.10.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 1465, Bl. 53 f. 15 Der Dramaturg Martin V. war seit 1971 „Inoffizieller Mitarbeiter Sicherheit“ (IMS). Seine Berichte vom 16.10.1989 sind die letzten in seiner Akte, die danach abbricht; BStU, ASt Berlin, AIM 5829/91, Teil II, Bd. 1, Bl. 3–10. Es existiert von ihm allerdings noch eine spätere Information, auf die noch zurückz ukommen sein wird. Vgl. auch die Lageeinschätzung der BVfS Berlin für den 13.–16.10.1989; BStU, ZA, Mittig 30, Bl. 33–35.

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neutralisieren. Das war das „ Modell Schw erin“, dessen küm merliches Ergebnis zu diesem Zeitpunkt noch im Nebel der Zukunft verborgen war. Variante 4: Was m an nicht verhindern konnte, zu legalisieren und zugleich zu versuchen, sich an seine Spitze zu stellen, das heißt, die Dem onstration im Sinne des Regim es zu beeinflussen, die Wellen des Protestes im Sinne der proklamierten „Wende“ in die „politische Offensive“ der SED zu integrieren. Variante 5: Die Demonstration zuzulassen und den V ersuch zu unternehmen, „das Schlimmste“ zu verhindern. D as w äre ein halber Rückzug gewesen. Was außerdem darunter zu verstehen war, blieb der Phantasie der Machthaber überlassen, die sich in den folgenden zwei Wochen entfalten sollte. Gewiß gehörte zu ihren Alpträum en die Vorstellung, die Dem onstration werde sich zu einem m ilitanten Versuch entwickeln, in der „ Hauptstadt“ das Regime zu stürzen. Keine dieser Varianten war aus Sicht des Regim es optim al, alle – mit Ausnahme von Variante 1 – wurden in den folgenden Tagen angedacht und zum Teil durchgespielt, was die O rientierungslosigkeit der neuen SED Führung zeigt. Eine Entw icklungstendenz ist allerdings unverkennbar. Der Umschlagspunkt zwischen den gemäßigt repressiven V arianten (2 und 3) und den eher resignativen V arianten 4 und 5 w ar der 24./25. Oktober, somit die Tage nach dem gescheiterten Testla uf in Schw erin. Dieser Umschlagspunkt hatte seine Vorgeschichte, die erzählt werden muß, will man die Geschehnisse verständlich machen. In den ersten Tagen nach dem Versuch, die Demonstration anzumelden, entwickelten sowohl SED-Funktionäre wie Sicherheitsapparate Konzeptionen, wie zu reagieren sei. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Kunst, Herbert Bischoff, inform ierte bereits am 16. Oktober den FD GB-Vorsitzenden H arry Tisch m it einem Schreiben, das das MfS noch vor seinem eigentlichen Adressaten erreichte. 16 Bischoff berichtete über die geplante D emonstration und w arnte: „ Es besteht die ernste G efahr, daß uns bereits in den nächsten beiden Wochen die entstandene Bewegung politisch entgleitet, wenn nicht sofort stabsmäßig eine zentrale Führung und Koordinierung erfolgt.“ 17 Eine D emonstration der „ Theaterschaffenden“ fiel in den Verantwortungsbereich von Kurt Hager, des ZK-Sekretärs für Kultur. Am 20. Oktober schrieb er in einer Hausm itteilung an Krenz: Er habe sich „ mit den Genossen des Ministeriums für Kultur und der A bteilung Kultur des ZK“ verständigt und man sei einhellig der Meinung, daß eine solche Dem onstration ein „gefährliches Ereignis w äre und ein A nlaß dafür nicht gegeben ist“. 18 Al16 Die „Sofortinformation“ der HV A für die HA XX vom 16.10.1989, der dieses Schreiben beigefügt ist, ist mit dem Hinweis versehen: „ Um Q uellenschutz w ird gebeten, da der Empfänger selbst die Information noch ni cht zur Kenntnis nehmen konnte.“ BStU, ZA, HA XX 1179, Bl. 12–16, hier 12. 17 Anlage zur „Sofortinformation“ der HV A für die HA XX vom 16.10.1989; ebenda, Bl. 14. 18 Hausmitteilung von Kurt Hager an Egon Kren z vom 20. 10.1989, handschriftl. Vermerk: „[An] Gen[ossen] PB 24.10./Kr[enz]“; BA Berlin, IV 2/2039/317, Bl. 21 f.

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lerdings seien „ die G enossen“ der Meinung, „ daß eine N ichtgenehmigung der Demonstration die Emotionen erneut ansprechen w ürde“. Was tun? Er machte den Vorschlag, „ am 4. November oder einem and eren Tag“ eine „Kundgebung der Berliner K ulturschaffenden auf dem Platz der Akademie zu ermöglichen“, auf der „ namhafte V ertreter unseres Kulturbereichs sprechen“ und „zur Unterstützung der Wende, die auf der Tagung des ZK eingeleitet wurde, aufrufen“ . 19 Das war die dam als noch unerprobte V ariante 3 („Modell Schwerin“). Kulturfunktionäre von SED und Staat versuchten w ährenddessen, die Berliner Theaterintendanten davon zu überzeugen, daß sie die D emonstration verhindern sollten. 20 Doch die Intendanten waren „ einhellig“ der Meinung, die D emonstration sei notw endig. D ie A bteilung K ultur der SEDBezirksleitung machte deshalb den Vorschlag, m an solle versuchen, daß bei der A bschlußkundgebung auf dem Platz der A kademie Egon K renz, Stephan Hermlin und Christa Wolf sprächen. 21 Über Christa Wolf als Rednerin hätte es gew iß keine D ifferenzen gegeben, außer daß sie vielleicht nicht bereit gewesen wäre, neben Krenz zu reden. In einem Auftritt des neuen Generalsekretärs aber lag der Sinn dieses Vorschlags, die Demonstration im Sinne der Variante 4 für die neue SED-Linie zu funktionalisieren und ihr damit den Protestcharakter zu nehmen. In einer Inform ation der SED-Bezirksleitung an den Minister für K ultur wurde dieser brisante Rednervorschlag zwar nicht w iederholt, aber sinngemäß lief der Vorschlag in die gleiche Richtung. Man habe sich noch einm al mit dem Intendanten des Maxim -Gorki-Theaters, A lbert H etterle, der Mitglied der O stberliner SED-Bezirksleitung war, zusammengesetzt und sei zu dem Ergebnis gekommen, daß die Theaterintendanten nicht in der Lage seien, die Demonstration zu verhindern. Sie plädierten für eine G enehmigung, auch w eil „ bei N ichtgenehmigung die D emonstration trotzdem stattfinden würde, den vernünftigen K räften aber die H ände gebunden w erden“. A ndernfalls wollten sie sich um „Zurückhaltung und Besonnenheit“ bemühen. Hetterle machte außerdem den Vorschlag, daß „sich die Intendanten, Parteisekretäre und BGL-Vorsitzenden aller Berliner Theater treffen, um gemeinsam die Inhalte und Ziele für die Demonstration festzulegen und dann in ihren Einrichtungen für deren Einhaltung zu sorgen“ . 22 Das hätte bedeutet, 19 Ebenda. 20 Vgl. „Kurzinformation zur Intendantenberatung am 20.10.1989“ der Abt. Kultur der SEDBezirksleitung Berlin; LA Berlin (Landesarchiv Berlin), BPA (Bezirksparteiarchiv), SEDBL (Bezirksleitung) 6312, Bd. 1, 3 S. 21 Ebenda, S. 3. 22 Abteilung Kultur: Information vom 23.10.1989, gez. H. Kießig, handschriftl. Vermerk: „Minister mit der Bitte um Kenntnisn. übergeben“; BStU, ZA, HA XX AKG 1465, Bl. 67 f. Den gleichen Vorschlag hat bereits am 16.10. der Vorsitzende der Gewerkschaft Kunst, Bischoff, in s einem Schreiben an Harry Tisch gemacht; vgl. Anlage zur „ Sofortinformation“ der HV A für die HA XX vom 16.10.1989, Bl. 15. Zu Hetterle vgl. Buch: Namen und Daten (1987).

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den Theaterleuten die Initiative aus der Hand zu nehm en und sie zu einer parteistaatlichen Veranstaltung im Sinne der von den Mächtigen geradezu ersehnten „politischen Offensive“ zu machen (Variante 4). All diese Überlegungen auf seiten der SED waren, wie sich zeigen sollte, wenig realistisch. D ie Sicherheitsapparate m achten sich eigene G edanken. Bereits am 19. O ktober traf bei der SED-Bezirksleitung Berlin ein „Entscheidungsvorschlag“ von Polizeipräsident Friedhelm Rausch ein. 23 Um der Partei die Entscheidung zu überlassen, offerierte Rausch zwei Optionen: „1. D em A ntrag zur D urchführung der D emonstration und des Meetings nicht zuzustimmen.“ D iesem V orschlag gehörte offenkundig seine Sympathie, weil „oppositionelle Kräfte und Kirchenkreise“ die Dem onstration „mißbrauchen“ würden und außerdem „ mit einer Zulassung“ ein „ Präzedenzfall geschaffen“ würde. Er mußte allerdings einräumen, daß „eine Verhinderung der Demonstration m it polizeilichen Mitteln“ „ unzweckmäßig“ wäre. (D ie V ariante 1 schied aus.) D ie 2. O ption sei: „ Die geplante Demonstration und das Meeting offensiv unter N utzung anerkannter Persönlichkeiten des politischen und kulturellen Lebens zu organisieren und damit in die Verwirklichung der Politik der Partei einzuordnen.“ Das entsprach den Überlegungen, die zur gleichen Zeit in der SED angestellt wurden. Allerdings hatte sich Rausch offenkundig noch nicht zu deren Präm isse durchgerungen: einer Genehmigung der Demonstration. Ebenfalls zu Wort m eldete sich Gene ralmajor Siegfried H ähnel, der Leiter der Berliner Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, in dessen unm ittelbarem Verantwortungsbereich die Demonstration stattfinden sollte. Er hatte ebenfalls zwei „Handlungsvarianten“ vorbereitet, die er Erich Mielke unterbreitete. 24 Zuerst aber inform ierte er über die Bem ühungen des Ministeriums für Kultur und der SED -Bezirksleitung, „ die Intendanten der Berliner Bühnen“ dazu zu bringen, „ diese V eranstaltung abzusagen“ . V iel Erfolg versprach sich Hähnel davon nicht. Er kündigte an: Falls die Demonstration nicht genehmigt würde, sei mit der „Ignorierung dieser Entscheidung durch den überwiegenden Teil der O rganisatoren und die beabsichtigten Teilnehmer an ihr“ zu rechnen. D eshalb war der Berliner Stasi-Chef auch sehr viel vorsichtiger, w as die Möglichkeiten seines D ienstes im Falle einer Genehmigung betraf: Sie solle m it der „ Erwartung“ verbunden werden, daß die „beteiligten Persönlichkeiten [...] Einfluß auf den ordentlichen, friedlichen und disziplinierten Verlauf der D emonstration und des Meetings nehm en“. Dazu sollten sie einen eigenen Ordnerdienst stellen. Eine weitere „ Erwartung“ wäre, daß die Veranstaltung „ im Einklang m it den begonnenen und weiter angestrebten Pro zessen zu V eränderungen“ stehe, und zwar „auf der 23 Präsident des Präsidiums der Deutschen Volkspolizei Berlin: Entscheidungsvorschlag für das Sekretariat der Bez irksleitung Berlin der SED vom 19.10.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 1465, Bl. 56. 24 Schreiben des Leiters der BVfS Berlin an Minister Mielke vom 20.10.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 1465, Bl. 59.

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Grundlage der Erklärung“ von Egon K renz vom 18. Oktober. Um dieser „Erwartung“ etwas nachzuhelfen, sollten sich „gesellschaftliche Kräfte“ „in angemessenem Umfang“ an der Dem onstration beteiligen, um ihr „ein progressives Gepräge zu geben“. Mielke scheint von solch feinsinnigen Ü berlegungen w enig gehalten zu haben. Er baute die neue Inform ation in sein Referat auf der Dienstbesprechung am folgenden Tag ein und erklärte zu der geplanten Demonstration, ihre „Inspiratoren und Organisatoren“ seien „zumeist auf antisozialistischen Positionen stehende K räfte“. 25 Sie w ürden versuchen, „ möglichst viele Theaterschaffende, aber auch K irchenkräfte, V ertreter von Berliner Betrieben, Studenten und w eitere Personen aus der gesam ten Republik für eine Teilnahme zu gew innen“. D araus ergebe sich in Umkehrung die Orientierung für das MfS: „Aufgabe der Diensteinheiten, vor al lem der B ezirksverwaltungen, m uß es sein, b ereits j etzt au f j ene Perso nen Einfluß zu nehm en, bei denen di e Absicht einer eventuellen Te ilnahme zu erkennen i st, um sie zu ei ner Abstandnahme zu bewegen. Dazu sind progressive Kräfte, gute Menschen einzusetzen, die entsprechenden Einfluß nehm en können. In Gesprächen, i n Auseinandersetzungen mit möglichen Teilnehmern ist besonders darauf hi nzuweisen, daß die Entwicklung der l etzten Tage zei gt, daß di e Forderungen und Losungen, unter denen demonstriert werden soll, eigentlich gegenstandslos geworden si nd – z. B. M edienfreiheit, kei ne ‚Zensur‘, kei ne Gewal tanwendung.“ 26

Wenn Mielke von „guten Menschen“ sprach, dann meinte er – entsprechend sowjetischer Term inologie – inoffizielle Mitarbeiter, deren A uftrag darin bestehen sollte, in ihrem Um feld zu demobilisieren. Der 2. Sekretär der SED-Kreisleitung im MfS, O berst Scheffel, der unter Mielkes Zuhörern war, notierte als Quintessenz der A usführungen seines Ministers: „ Demo möglichst verhindern“ 27 (Variante 2). Währenddessen machte die V orbereitung der D emonstration w eitere Fortschritte. Ihre Planung lag nicht etwa, wie sich das der Parteiapparat gewünscht hatte, in den H änden von Partei- und Kulturfunktionären, sondern auf seiten der Künstler bei einer 29-köpfigen „ Initiativgruppe 4.11.“. 28 Man 25 „Referat zur Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED und den sich daraus ergebenden ersten Schlußfolgerungen für die Tätigke it des MfS (21.10.1989)“; BStU, ZA, ZAIG 4885, Bl. 3–76, hier 19. 26 Ebenda, Bl. 20. 27 BStU, ZA, SED-KL 652, Arbeitsbuch Rolf Scheffel, Bl. 1242–1422, hier 1247. Zu Scheffels Teilnahme vgl. Teilnehmerliste der Dienstbesprechung am 21.10.1989 ; BStU, ZA, SdM 1573, Bl. 12–14. 28 Unter ihnen befindet sich kein einziger In tendant, hauptamtlicher Parteisekretär oder BGLVorsitzender; Mitgliederliste der „ Initiativgruppe 4.11.89“, in: Zentrum für Theaterdokumentation und -information: Rollen (1990), S. 240.

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darf sich die Sache allerdings nicht so vorstellen, daß dies ein geschlossenes Gremium gewesen wäre. Sie tagten öffentlich, m anche kam en dazu und redeten m it. V ieles w urde nebenher in den verschiedenen Theaterkantinen besprochen. 29 Um dem Ganzen mehr organisatorische K ohärenz zu geben, wurde am 24. Oktober eine kleinere „Vorbereitungsgruppe“ eingerichtet, die sich aus Mitarbeitern verschiedener Berliner Theater zusam mensetzte. 30 Das MfS m ißtraute dieser Gruppe. In ei ner detaillierten Übersicht zu ihren dreizehn Mitgliedern wurden zwei als politisch positiv und drei weitere als positiv mit Einschränkungen charakterisiert, einen verm ochte das MfS nicht zuzuordnen. Sieben Mitglieder wurden als politisch m ehr oder weniger negativ bezeichnet. 31 Diese Einordnung galt auch für den Liederm acher und IM „ Hanns Sänger“, dessen w idersprüchliches A gieren zw ischen Stasi-V erpflichtung und offenem Protest bereits geschildert wurde. 32 O b er zu diesem Zeitpunkt noch mit dem MfS in Verbindung stand, ist unbekannt. Seine Aktivitäten im Zusammenhang mit dem 4. N ovember w idersprachen auf jeden Fall den Bemühungen von SED und MfS, die Sache unter K ontrolle zu halten. So war er der erste, der am 24. O ktober auf einer V eranstaltung im H aus der Jungen Talente davor w arnte, die SED könnte versuchen, „analog wie in Schwerin“ die Demonstration für ihre Zw ecke um zufunktionieren. In diesem Falle m üsse man eine „ Gegendemonstration“ veranstalten. 33 Die Möglichkeit einer solchen Entw icklung, die die Lage noch unkalkulierbarer gemacht hätte, wurde in den nächsten Tagen zu einem wichtigen Mom ent in den Überlegungen der zuständigen SED-Funktionäre, die nichts mehr fürchteten als weitere Eskalation. Seine Klassifizierung als „ politisch negativ“ war allem Anschein nach ernst gemeint und nach MfS-Kriterien berechtigt. Dem MfS inoffiziell verpflichtet waren noch zwei weitere Mitglieder der Vorbereitungsgruppe: die D ramaturgen Joachim T. 34 und der bereits erwähnte Martin V. Von ihnen sind keine A ktivitäten überliefert, die die Protestbewegung vorangetrieben hätten. Insbesondere der IM „ Kastner“ verhielt sich so, wie es den Vorgaben für inoffizielle Mitarbeiter in der 29 Gespräch des Verf. mit Christian Ladwig, Mitglied der „ Initiativgruppe 4. 11.“, am 27.11.1996. 30 Vgl. Aktennotiz der Abt. Kultur der SED- Bezirksleitung Berlin vom 26.10.1989, Anlage „Aus einer Information der Beratung der Gruppe der gewerkschaftlichen Vertrauensleute der Theaterschaffenden Berlins am 24.10.1989, 15 Uhr, im Berliner Ensemble“ ; LA Berlin, BPA, SED-BL 6312, Bd. 1, 2 S. – Der IM „Kastner“ hat bereits am 16.10. berichtet, daß am Vortag eine „ sogenannte Vorbereit ungsgruppe“ gebildet worden sei, die jedoch mit der späteren Gruppe nur teilidentisch war und wohl rein informellen Charakter hatte. BStU, ASt Berlin, AIM 5829/91, Teil II, Bd. 1, Bl. 11 f. 31 „Information“ der HA XX „ über die für den 4. November 1989 in der Hauptstadt der DDR, Berlin, initiierte Demonstration von Kunst- und Kulturschaffenden“ vom 29.10.1989“, Anlage 2 „Vorbereitungsgruppe“; BStU, ZA, HA XX, AKG 1465, Bl. 99–102. 32 Siehe S. 225 ff. 33 Vgl. Lagebericht der HA XX vom 26.10.1989 zur „Aktion Störenfried“; BStU, ZA, HA XX/4 1685, Bl. 167 f. 34 IME „Hans Matusch“ war von 1973 bis 1989 verpflichtet; BStU, ZA, MfS AIM 8415/91.

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Protestbewegung entsprach: abw iegelnd. 35 Er bezichtigte die anderen Mitglieder der Gruppe gegenüber der Staatssicherheit der „ Unaufrichtigkeit“. 36 Die H auptabteilung XX w ußte – m öglicherweise von ihm –, „daß gestützt auf Mitglieder und Sy mpathisanten de s ‚N euen Forums‘ unter den Kulturschaffenden die Führungskräfte des ‚Neuen Forum s‘ zunehm end Einfluß auf die Gestaltung der geplanten Demonstration erlangen“. 37 Das betraf wohl eher den Bewußtse inswandel unter kritisch engagierten Theaterleuten als die Opposition, obwohl es Kontakte zwischen beiden Gruppierungen gab. Tatsächlich ist in jenen Tagen auf seiten der A ktivisten des N euen Forum s die D istanz zu de m gewachsen, was aus ihrer Idee geworden war. In dem Zwiespalt zwischen der Forderung nach Anerkennung im „Dialog“ und der Angst vor Vereinnahmung hatten manche Bürgerrechtler das Gefühl, berichtet Jens Reich, daß vor allem die Kundgebung mit „Sicherheitspartnerschaft“ und Rednern auch von der SED allzu „ staatstreu“ geraten könnte. 38 Das war bereits ein ty pischer Konflikt der nächsten Entwicklungsphase: Ging es in der frühen Phase der Liberalisierung darum , die Mächtigen zu einem Verzicht auf offene Repression, zu einem Ende der Ausgrenzung und zur Anerkennung der Opposition zu zwingen, so rückte nun langsam das Problem in den Vordergrund, sich nicht für eine Stabilisierung des Regimes funktionalisieren zu lassen. Alle Bedenken änderten nichts daran, daß die Mobilisierung für die Demonstration eine rasante Dy namik entwickelte. Die Initiatoren waren ursprünglich davon ausgegangen, daß etw a 20.000 Teilnehm er zu erw arten seien. 39 Das erkannte man bald als zu niedrige Schätzung. Bei einer Sitzung von etwa 35 Gewerkschaftsvertrauensleuten am 24. Oktober ging m an schon 35 Berichte der IM, die in der Vorbereitungsgruppe aktiv waren, sind mit einer Ausnahme nicht auffindbar. Die Ausnahme betrifft den er wähnten IMS „ Kastner“ alias Martin V. Er traf sich nach dem Treffen im D eutschen Theater am 15. 10. mit einigen zuverlässigen Genossen wie dem Vorsitzenden der Gewerkschaft Kunst, Herbert Bischoff, und seinem Stellvertreter, Horst Singer, um über die Lage zu beraten. Man kam überein, eine „ Offensive auf der gew erkschaftlichen Ebene einzuleiten, damit auch die Demonstration am 4.11., sofern sie stattfindet, in Erwägung g ezogen wird , beherrscht wird oder von unserer Seite aus in die richtigen Bahnen gelenkt werden kann. Ob das gelingt, ist eine Frage, die im Moment noch nicht überblickt werden kann.“ Die Chancen wurden als schlecht eingeschätzt: „ Das Handeln ist, wie wir übereinstimmend festgestellt haben, nicht auf unserer Seite, wir müssen das Heft des Handelns zurückgewinnen.“ Tonbandbericht des IMS „Kastner“ vom 16.10.1989; BStU, ASt Berlin, AIM 5829/91, Teil II/2, Bl. 1 f. 36 Außerdem machte „Kastner“ Ende Oktober den – nicht realisierten – Vorschlag, zwei der Hauptorganisatoren noch einmal zum Polizeipr äsidenten zu laden, um Rednerliste und Themen „ erläutern zu lassen“. „ Operative Information“ der A bt. X X/7 der BV fS Berlin vom 28.10.1989 auf Basis der „ Quelle IMS ‚Kastner‘“; BStU, ZA, HA XX 1179, Bl. 22– 27, hier 23 u. 26. 37 „Information z u den bisher vorliegenden Erkenntnissen im Zusammenhang mit der am 4.11.1989 geplanten Demonstration in der Hauptstadt der DDR“ vom 27.10.1989; BStU, ZA, HA XX; AKG 1465, Bl. 84–87, hier 84 f. 38 Gespräch des Verf. mit Jens Reich am 18.11.1995. 39 So ein Mitglied der Vorbereitungsgruppe bei Verhandlungen mit Polizeipräsident Rausch am 26.10.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 1465, Bl. 70 (zu diesem Treffen siehe unten).

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von ganz anderen Zahlen aus: Möglich seien bis zu 500.000 Teilnehmer. 40 Die Organisatoren befürchteten nun, „durch die breite Popularisierung könnten Ordnung und gewaltloser Charakter nicht in Eigenverantwortung gewährleistet werden“. Sie beschlossen deshalb, in den Massenm edien keine Werbung mehr zu m achen, „weil sonst die Teilnehm erzahl zu hoch ansteigen könnte“. 41 Eine Gruppe von fünf Theaterleuten war beauftragt worden, m it dem Polizeipräsidenten zu sprechen, um eine „Sicherheitspartnerschaft“ zu vereinbaren, hatte sich jedoch seit einer Woche vergeblich um einen Term in bemüht. Rausch selbst w ar ein G egner dieser Demonstration, und die übergeordneten politischen Instanzen wollten abwarten, welche Linie in der Politbürositzung am 24. Oktober und in der Rede von K renz vor der Volkskammer festgelegt würde. Deshalb war die Entscheidung über die Legalisierung der Demonstration noch nicht gefallen. 42 Davon waren die gewerkschaftlichen Vertrauensleute allerdings w enig beeindruckt. Selbst Manfred Wekwerth, langjähriger Intendant des Berliner Ensem bles und bis Jahresbeginn 1989 inoffizieller Mitarbeiter des MfS, 43 erklärte, er werde, ob „genehmigt oder ungenehmigt, mitdemonstrieren“. 44 Die Schauspielerin Renate Heymer warnte davor, „ sich vor den K arren der SED und Schabowski[s] spannen [zu] lassen w ie in Schw erin“. 45 Der Testlauf der SED , der dort inzwischen stattgefunden hatte, wurde als Warnung verarbeitet. U m V ereinnahmungsversuche zu unterlaufen, wurde die Parole ausgegeben, daß die Theaterensembles in „Eigenverantwortung“ demonstrieren und „Losungen individuell auf Rollentapeten durch jeden einzelnen Teilnehm er“ 46 mitgebracht werden sollten. Am folgenden Tag beriet auf Veranlassung des Politbüros 47 die G egenseite über ihr weiteres Vorgehen. Bei der Kultursekretärin der SED-Bezirksleitung Berlin, Ellen Brombacher, fand eine Besprechung statt zw ischen 40 Aktennotiz der Abt. Kultur der SED-Bezi rksleitung Berlin vom 26.10.1989, Anlage von Horst Singer: „Aus einer Information der Beratung der Gruppe der gewerkschaftlichen Vertrauensleute der Theaterschaffenden Ber lins am 24.10.1989, 15 Uhr, im Berliner Ensemble“; LA Berlin, BPA, SED-BL 6312, Bd. 1, 2 S. 41 HA XX: Information vom 29.10.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 1465, Bl. 92. 42 Vgl. Aktennotiz der Abt. Kultur der SED- Bezirksleitung Berlin vom 26.10.1989, Anlage von Horst Singer zur Beratung der gewerkschaftlichen Vertrauensleute am 24. 10.1989, S. 1. 43 Zu den unterschiedlichen Phasen und „ inoffiziellen“ Funktionen Wekwerths in Kooperation mit dem MfS zwischen 1955 und Januar 1989 vgl. Walther: Sicherungsbereich Literatur (1996), S. 623–625. 44 Aktennotiz der Abt. Kultur der SED-Bezi rksleitung Berlin vom 26.10.1989, Anlage von Horst Singer zur Beratung der gewerkschaftliche Vertrauensleute am 24. 10.1989, S. 1. 45 Ebenda. 46 Ebenda, S. 2. 47 Das Politb üro hat in seiner Sitzung am 24. 10.1989 noch keine endgültige Entscheidung über die Genehmigung der Demonstration getroffen, sondern nur den Beschluß gefaßt: „Genosse G. Schabowski wird beauftragt, eine Information über die geplante Demonstration der Künstler Berlins vorzubereiten und in der nächsten Sitzung des Politbüros vorzulegen.“ Protokoll; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2354, Bl. 1–11, hier 4.

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Kulturfunktionären aus der Bezirksleitung und dem ZK-Apparat, zwei Obristen der V olkspolizei und dem stellvertretenden Leiter der Abteilung XX der Berliner Bezirksverw altung für St aatssicherheit, einem Spezialisten für die Disziplinierung unbotmäßiger Kulturschaffender 48 . Sie kannten nun die neue, vorsichtigere Linie von K renz und w ußten w ahrscheinlich auch, daß „Schwerin“ ein Fiasko für die SED geworden war. Durch die „ Gespräche“ zwischen SED -Bezirkschefs und Mitgliedern des N euen Forums hatte sich zudem die Stigmatisierung der Opposition gelockert. Brombacher gab die Linie vor, indem sie eingangs erklärte, m an m üsse sich „ über das H erangehen an eine genehm igte D emonstration“ am 4.11. verständigen. 49 Nachdem Horst Singer, der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Kunst, über den Diskussionsstand bei den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten berichtet hatte, einigte m an sich auf folgende Punkte: D er Polizeipräsident solle spätestens am n ächsten Tag das geforderte Gespräch führen. Weiter w urde festgelegt: D er „Genosse Singer versucht Einfluß zu nehmen auf den Rednervorschlag für den Abschluß, die Festlegung des Moderators und die inhaltliche Orientierung im Sinne der Unterstützung der Wende“. Das war ein Auftrag, den m an sich m erken sollte, weil an seiner Realisierung das Ausmaß tatsächlich gelungener Einflußnahm e ablesbar ist. Außerdem sollte beim Kulturminister ein Treffen mit Verbandsfunktionären und Theaterintendanten stattfinden, um „sie in die politische und moralische Pflicht für den ordnungsgem äßen A blauf zu nehmen“. 50 H ier ging m an noch von der eigentlich bereits überholten Vorstellung aus, es wäre m öglich, die Demonstrationsvorbereitung der Kulturbürokratie zu unterwerfen. Polizeipräsident Rausch reagierte so fort auf die Weisung der Partei und lud Vertreter der V orbereitungsgruppe für den nächsten Tag zu sich. Zur Einstimmung auf dieses Gespräch traf er am Vorm ittag vier hochrangige Kulturfunktionäre: Gisela Steineckert, die V orsitzende des K omitees für Unterhaltungskunst; A nne Lessing von der Sektion Schauspielkunst des Verbandes der Theaterschaffenden; vor allem aber Prof. Hans-Peter Minetti, ZK-Mitglied und Präsident dieses V erbandes, und H orst Singer, Gewerkschaftsfunktionär und Inform ant der SED -Bezirksleitung. 51 Minetti war bei seinen Verbandsmitgliedern offenbar nicht sehr beliebt und konnte schwerlich als ihr Sprecher gelten, war er bei seiner Rede in der Versam mlung am 15. Oktober doch „durch Buhrufe und Pfiffe unterbrochen“ worden. 52 Minetti war – ebenso wie Rausch – gegen die Dem onstration. Laut Pro48 In der Runde war er als „ Fred Wild“ von der BVfS Berlin eingeführt worden. Zu Manfred Wild vgl. Walther: Sicherungsbereich Literatur (1996), S. 145 u. 170 f. 49 Aktennotiz der Abt. Kultur der SED-Bezi rksleitung Berlin zu der Zusammenkunft am 25.10.1989, 3 S.; LA Berlin, BPA, SED-BL 6312, Bd. 1. 50 Ebenda. 51 PdVP Berlin: Protokoll über die Beratung des Präsidenten der Volkspolizei Berlin mit Kunst- und Kulturschaffenden der Hauptst adt am 26.10.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 1465, Bl. 79–83. Das Gespräch fand zwischen 9.30 und 11.45 Uhr statt. 52 „Ablaufnotizen zur Veranstaltung am 15.10.1989 im Deutschen Theater“, S. 10.

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tokoll erklärte er: „ Ich, und ich w eiß mich da mit vielen von uns einer Meinung, empfinde eine derartige D emonstration als eine A rt von N ichtdialog, wir werden sie nicht verhindern und werden handeln müssen. Deshalb Dank für dieses Gespräch.“ 53 Horst Singer berichtete über den Stand der V orbereitungen. Man habe sich, behauptete er, darauf geeinigt: Erstens „ für die Politik der Wende“ zu dem onstrieren. Zweitens, zitierte er die Vorbereitungsgruppe, stünden die Organisatoren „ offensichtlich [als] die letzten, die sich an das G esetz halten, auf dem Boden der V erfassung“ – das w ar eine Anspielung sowohl auf die Übergriffe am 7. und 8. Oktober wie auf die bisherige Verweigerung der Grundrechte. Und drittens werde eine „ Sicherheitspartnerschaft“ angestrebt. A ll das sei „ auch D ank der Mitw irkung der Anwesenden“, das heißt seiner, Minettis und der anderen beiden, beschlossen worden. 54 Das war stark aufgeschnitten. Weder der „ Initiativgruppe 4.11.“ noch der V orbereitungsgruppe gehörte einer von ihnen an, vor allem aber: Mit Punkt 1 gab er seinen eigenen Auftrag als bereits erfüllt aus, wobei die Unterstützung der „Wende“ gar nicht strittig war, wohl aber, wie dieser Begriff inhaltlich auszufüllen sei. Der zweite Punkt verstand sich insofern von selbst, als m it der D emonstration V erfassungsrechte eingeklagt werden sollten. Und selbst Punkt 3, „ Sicherheitspartnerschaft“, war in einem Schreiben gewerkschaftlicher Vertrauensleute an Polizeipräsident Rausch bereits am 18. Oktober unter Hinweis auf die Leipziger Erfahrungen vorgeschlagen w orden. 55 D ie Fünf einigten sich, daß die Demonstration „kulturvoll verlaufen müsse“. Das sei „in erster Linie“ Sache der Veranstalter, doch „ die Volkspolizei wolle dazu ihren abgestimmten Beitrag leisten“. 56 Am Nachmittag des 26. Oktober traf sich Polizeipräsident Rausch m it Mitgliedern der Vorbereitungsgruppe. 57 Daß die politische Entscheidung für eine G enehmigung faktisch bereits gefallen w ar, sagte Rausch nicht, sondern erklärte eingangs, es gehe darum , „zu politisch verantwortungsbewußten Entscheidungen zu kom men“. 58 Wolfgang H olz, der offizielle A ntragsteller, gab dann in aller Deutlichkeit zu verstehen, daß sie als Fordern53 Protokoll über die Beratung des Präsidenten der Volkspolizei Berlin mit Kunst- und Kulturschaffenden der Hauptstadt am 26.10.1989, Bl. 80. 54 Ebenda, Bl. 81. 55 Anlage zum Schreiben von Wolfgang Holz an Polizeipräsident Rausc h vom 19.10.1989; ebenda, Bl. 58. Auch abgedruckt in: Zentrum für Theaterdokumentation und -information: Rollen (1990), S. 195. 56 Protokoll über die Beratung des Präsidenten der Volkspolizei Berlin mit Kunst- und Kulturschaffenden der Hauptstadt am 26.10.1989, Bl. 83. 57 Ein Mitglied dieser neunköpfigen Gruppe war der IMS „Kastner“, der anschließend darüber berichtete. Vgl. „ Operative Information“ der Abt. XX/7 der BVfS Berlin vom 28.10.1989; BStU, ZA, HA XX 1179, Bl. 22–27. 58 PdVP Berlin: Protokoll über die Beratung des Präsidenten der Volkspolizei Berlin mit gewerkschaftlichen Vertrauensleuten der Berlin er Kunst- und Kulturschaffenden am 26.10.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 1465, Bl. 69–78. Das Treffen fand zwischen 15.00 und 17.20 Uhr statt.

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de und nicht als Bittende gekom men waren: Sie stünden auf dem Boden der Verfassung, insbesondere der A rtikel 27 und 28, die (formell) die Meinungsfreiheit garantierten, und wollten „ dieses Recht uneingeschränkt ausüben“. 59 Zwei Punkte w urden dann noch länger diskutiert. Rausch äußerte sein Befremden darüber, daß – wie er am Vormittag erfahren hatte – Wolf Biermann auftreten solle, der noch im mer Einreiseverbot in die D DR hatte. 60 Daraufhin wurde ihm entgegnet – so das Protokoll der V olkspolizei –, „daß die Bohley w ohl nicht zu V eranstaltungen einladen könne, die durch uns [die K ünstlerverbände] organisiert w erden“. 61 Tatsächlich hatte Bärbel Bohley in einem vom Deutschlandfunk ausgestrahlten Telefongespräch den Liedermacher zu einem Auftritt „ auf unserer Demo am 4.[November]“ eingeladen. 62 Steffi Spira erklärte, daß dies keine V eranstaltung des Neuen Forums sei, obwohl das „nicht ausschließe“, daß auch V ertreter des N euen Forums auftreten würden. 63 Hier deuteten sich Differenzen zwischen den kritischloyalen Künstlern und der entschiedenen Opposition um die Radikalität der Systemkritik an, die nicht ausgefochten wurden. Das „ Neue Deutschland“ brachte am nächsten Tag einen üblen K ommentar gegen Biermann, und die Hauptabteilung X X verfügte, daß seine Einreisesperre „ nicht aufgehoben“ werde. 64 Die SED-Bezirksleitung kam einige Tage später in einer Einschätzung dennoch zu dem Ergebnis: „Was jedoch passiert, wenn er [Wolf Biermann] tatsächlich auftaucht, ist nicht abzusehen, gerade w enn man sich die vorgegebene Rednerliste ansieht.“ 65 Man kann das nur so verstehen, daß es nach Meinung der SED-Funktionäre Wege gegeben hätte, auch ohne Einreisegenehmigung nach Ostberlin zu kommen. Strittig war zwischen Volkspolizei und Vorbereitungsgruppe die Demonstrationsroute: Ursprünglich sollte die Abschlußkundgebung auf dem Platz der Akademie (dem heutigen Gendarm enmarkt) stattfinden. 66 Das 59 Ebenda, Bl. 69 f. 60 Ebenda, Bl. 70. Minetti hat darüber gesprochen. Er wird mit folgender Formulierung zitiert: „Biermann ist für uns inakzeptabel, sein Erscheinen oder Nichterscheinen wäre verheerend, selbst sein Nichtkommen birgt die Provokation in sich.“ Ebenda, Bl. 80. In der SED-Bezirksleitung scheint darüber nicht gesp rochen worden zu sein; vgl. Aktennotiz der Abt. Kultur der SED-Bezirksleitung Ber lin vom 26.10.1989 zu der Zusammenkunft am 25.10.1989. 61 Ebenda, Bl. 71. 62 Niederschrift des Telefongesprächs in: Der Tagesspiegel 25.10.1989. 63 Protokoll über die Beratung des Präsidenten der Volkspolizei Berlin mit gewerkschaftlichen Vertrauensleuten am 26.10.1989, Bl. 71. 64 „Auskunft über Bierma nn“, in: Neues Deutschland 27.10.1989; MfS HA XX: Information zu den bisher vorliegenden Erkenntnissen im Zusammenhang mit der am 4. 11.1989 geplanten Demonstration in der Hauptstadt der DDR, 27.10.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 1465, Bl. 84–87, hier 86. In den Stasi-Unterlagen findet sich noch nicht einmal ein Anflug von Überlegungen in Richtung einer Aufhebung des Einreiseverbots. 65 Vermerk der Kultursekretärin der SED-Bezirksleitung Berlin vom 30.10.1989, 7 S., hier S. 5; LA Berlin, BPA, SED-BL 6312, Bd. 1. 66 Dieser Kundgebungsort war im Genehmigungsantrag vom 17.10.1989 benannt worden; ebenda, Bl. 49.

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wollte der Polizeipräsident unbedingt verm eiden. Er fürchtete, daß ein Teil der D emonstranten von dort zum nahegelegenen Brandenburger Tor marschieren und die Mauer durchbrechen w ürde. D as Gespenst vom „Mauerdurchbruch“ war wieder aufgetaucht. 67 D eshalb plädierte Rausch für den weiter abgelegenen Alexanderplatz, weil – w ie er später auf einer Sitzung der SED -Bezirksleitung argum entierte – „ die Brücken am Marx-EngelsPlatz [vor dem Palast der Republik] unsere Festung bleiben m üssen“. 68 Da auch die Vorbereitungsgruppe ängstlich bemüht war, jede gewaltsame Eskalation zu vermeiden, wurde der „ Alex“ als Platz des A bschlußmeetings akzeptiert. 69 D as Treffen beim Polizeipräsidenten am 26. O ktober wurde schließlich mit der neuerlichen Beantra gung der D emonstration beendet. 70 Erst vier Tage später, am 30. O ktober, m eldete die N achrichtenagentur ADN, sie sei nun tatsächlich genehmigt worden. 71 Die Handlungsoptionen, die der SED noch verblieben, w urden auf einer Sitzung der Bezirksleitung am 28. Oktober diskutiert, um für das Politbüro eine Empfehlung zu erarbeiten. 72 Den Eröffnungsbeitrag hielt K ulturminister Hoffmann, der verschiedene Varianten erörterte. 73 Er warnte davor – wie in Schwerin – zu versuchen, „ die Sache umzudrehen und [zu] sagen, das ist unsere Demonstration“. Das würde zu einer Spaltung führen, und „wenn sie sich von uns abspalten, werden sie unkontrollierbar und werden das Gegenteil von dem m achen, w as w ir w ollen“. 74 D abei könnten „ die G enossen“, das hätten sie bei einem Gespräch im Kulturministerium erklärt, „nicht einmal für ihre eigene Parteiorganisation garantieren“. Jeder V ersuch, die D emonstration zu dom inieren, w ürde an dem „ Mißtrauen“ der „Mehrheit der 67 Eine Andeutung solcher Befürchtungen findet si ch in der Akte erstmals in dem Protokoll des Treffens von Rausch mit Minetti u. a. am 26.10.1989; ebenda, Bl. 83. Gewissermaßen nachträglich bestätigt wurden sie durch die Schlagzeile der BILD-Zeitung vom 4.11.1989: „500 000 Hand in Hand zum Brandenburger Tor?“. 68 Niederschrift über die Beratung in der Bezi rksleitung Berlin der SED am 28.10.1989, Anlage zu dem Schreiben von Generalmajor Hähnel, Leiter der BVfS Berlin, an den Leiter der HA XX, Generalleutnant Kienberg, vom 29.10.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 1465, Bl. 103–118, hier 115. Das Protokoll ist irrtümlich mit „ 29. November [sic!] 1989“ datiert. 69 Protokoll über die Beratung mit gewerkschaftlichen Vertrauensleuten der Berliner Kunstund Kulturschaffenden am 26.10.1989, Bl. 73. 70 Ebenda, Bl. 74. 71 ADN-Meldung in: Zentrum für Theaterdokumen tation und -information: Rollen (1990), S. 196. 72 Vgl. Eröffnungsworte des 2. Sekretärs der Bezirksleitung, Helmut Müller; Niederschrift über die Beratung in der Bezirksleitung Berlin der SED am 28.10. 1989, Bl. 104. 73 Ebenda, Bl. 105–109. 74 Ebenda, B l. 106. Ein Mitarbeiter der ZK-Abteilung Kultur pflichtet ihm bei und verweist darauf, „ daß alle Versuche, in Leipzig Demonstrat ionen oder andere Zusammenkünfte durch eine Übermacht gesellschaftlicher K räfte in unserem Sinne zu w enden, gescheitert sind.“ Ebenda, Bl . 116. – Die HA XX berichtet wenig später: „Aus Kirchenkreisen wurde festgestellt, daß, wie diese Personen sagen, bei erkannter Einflußnahme ‚der Parteiheinis‘ selbst eine kurzfristige Umleitung der De monstration in Erwägung gezogen wird.“ HA XX/7: „ Hinweise zur Vorbereitung der Demonstration am 4.11.1989“ vom 2.11.1989; BStU, ZA, HA XX 1179, Bl. 29–32, hier 31.

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Bevölkerung“ scheitern: „Es nutzt alles nichts, wenn wir hoch und heilig beteuern, es m it der Wende ehrlich zu m einen, sie glauben uns einfach nicht.“ 75 A ngesichts dieser K onstellation m üsse m an sogar fragen, „ob es richtig sei, [...] ein Politbürom itglied oder einen Vertreter der Regierung, etwa einen Minister, reden zu lassen“ . Hoffmann beschäftigte dieses Problem gewiß besonders, weil er zu diesem Zeitpunkt noch als Redner vorgesehen war. 76 Zu bedenken wäre: „Diese Regierung ist zur Zeit höchst unpopulär. Da kann kom men, wer will, er wird von vornherein ausgepfiffen.“ Er aber „würde Wert darauf legen, daß unsere V ertreter so ausgewählt werden, daß sie nicht von vornherein ausgepfiffen w erden, und w enn es nur wenige Sätze sind, die unser Vertreter sagt.“ 77 Der Kulturminister führte dann noch die bisher kaum erwähnte Variante 5 in die D ebatte ein, die V erhinderung des „Schlimmsten“. Jene Teile der Opposition, die beabsichtigten, „ die DDR zu liquidieren“ , waren seiner Meinung nach zu allem bereit: Würden sie „nicht vorankommen, werden sie Tote produzieren, w erden sie versuchen, Blut fließen zu lassen und werden es uns dann in die Schuhe schieben“ . D as sei zwar am 4. November noch nicht zu erwarten, wohl a ber „steht die Frage, es darf auf keinen Fall gelingen, die Grenze zu durchbrechen und es sind ja alles w enige Meter von der Grenze“. 78 Damit hatte er ein Them a vorgegeben, das insbesondere von den Chefs der Sicherheitsapparate dankbar aufgeg riffen wurde, war das doch ihr Terrain. Der Parteifunktionär Helmut Müller w ar näm lich so unvorsichtig gewesen, den Vorschlag zu m achen, w egen der Masse der Teilnehm er doch noch den jenseits der Spree gelegenen Marx-Engels-Platz zu genehm igen. Den befürchteten Marsch zum Brandenburger Tor wollte er durch eine Menschenkette verhindern, die vom Berliner „ Parteiaktiv“, also zuverlässigen Genossen, entlang der Friedrichstraße gebildet w erden w ürde. 79 Polizeipräsident Rausch hielt das w ohl für G roßsprecherei und w arnte „ nachdrücklich“ vor den „ Gefahren, die bei Abhalten der Kundgebung auf dem Marx-Engels-Platz für die Staatsgrenze bestehen“. 80 Unter Hinweis auf „einige militante Gruppen, wie beispielsweise die ‚Kirche von unten‘“ , wurde er darin von Stasi-Chef H ähnel entschieden unterstützt. 81 So beschloß m an denn, „Kundgebung und D emonstration wie geplant durchzuführen und die Variante Marx-Engels-Platz zu verwerfen“. 82 Am Ende der Sitzung entschied der stellvertretende Berliner SED-Boß 75 Niederschrift über die Beratung in der B ezirksleitung Berlin der SED am 28.10.1989, Bl. 105. 76 Vgl. den Beitrag von Horst Singer; ebenda, Bl. 110. 77 Ebenda, Bl. 108. 78 Ebenda, Bl. 107. 79 Ebenda, Bl. 114. 80 Ebenda. 81 Ebenda, Bl. 115. 82 Ebenda, Bl. 116.

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Müller: „daß [...] an der Dem onstration und Kundgebung, die für alle, wie sich im Verlaufe der Beratung herausgestellt hat, offen ist, also auch offen für die Mitglieder unserer Partei, Parteim itglieder in ausreichender Zahl teilnehmen sollen, damit auch unsere Präsenz gewährleistet ist, stimulierend im progressiven Sinne einwirken zu können. W as den Redner unserer Partei betrifft, so wird er dazu entsprechende Konsultationen führen.“ 83

Das war ein sehr bescheidenes Program m. Es entsprach den schw indenden politischen Möglichkeiten, die diese Partei damals noch hatte. Der Umstand, daß bei dieser Beratung von dem Gewerkschaftsfunktionär Singer die vorläufige Rednerliste für die A bschlußkundgebung bekanntgegeben worden ist, wurde als scheinbarer Beleg für eine heim liche Steuerung der D emonstration durch die SED angeführt. Tatsächlich hatte Singer eine Liste verlesen, die am V ortag bei einer Beratung der V orbereitungsgruppe erarbeitet und von IMS „Kastner“ an die Berliner Stasi-V erwaltung weitergemeldet worden war. 84 Ein sichtbarer Beweis für Steuerungsbemühungen sei, so hat m an spekuliert, der Auftritt des ehemaligen HVA-Chefs Markus Wolf, der dazu von Mielke persönlich anim iert worden sei. 85 Es lohnt sich, dem etwas genauer nachzugehen. In den relativ detaillierten Berichten de r Hauptabteilung X X zur Demonstrationsvorbereitung findet sich dafür kein Beleg. 86 Es wird an verschiedenen Stellen zw ar ein Redne r „Marcus [sic!] Wolf“ erwähnt, aber nirgendwo findet sich ein Hinweis auf eine positive oder negative Bewertung dieses V orhabens durch das MfS, geschw eige denn, daß der Minister in einem solchen Zusammenhang erwähnt würde. Wolf, der damals selbst noch von seinem ehemaligen Dienstherrn operat iv überwacht wurde, 87 schreibt in seinen Tagebuchnotizen, er habe am 25. Oktober einen Anruf von Mielke erhalten, ob er bei der Demonstration sprechen werde, läßt aber offen, ob ihm Mielke irgendwelche Em pfehlungen gegeben hat. 88 Auf Nachfrage erklärte er, Mielke habe deutlich sein Mißfallen zu er83 Ebenda, Bl. 117. 84 Vgl. die „ Operative Information“ der Abt. XX/7 der B VfS Berlin vom 28.10.1989, auf Basis der „Quelle IMS ‚Kastner‘“; BStU, ZA, HA XX 1179, Bl. 22–27, hier 25 f. mit der Niederschrift über die Beratung in der Bezirksleitung Berlin der SED am 28.10. 1989, Bl. 110 f. 85 Vgl. „Plakate von der Stasi“, in: Der Spiegel 6.11.1995, S. 77. 86 Informationen der HA XX vom 27.10., 29.10. u. 3.11.1989. 87 BStU, ZA, AOP 22623/91. 88 „25.10.1989 [...] Anruf von Mielke mit der Frag e, ob ich bei einer Veranstaltung am vierten November sprechen würde. Ich weiß von keiner solchen Veranstaltung.“ Wolf: In eigenem Auftrag (1991), S. 215. Die letzte Aussa ge klingt nicht sehr wahrscheinlich. Am 28.10. notierte Wolf: „ Heute erfuhr ich von de m Wunsch Berliner Künstler, auf der Protestdemo am vierten November auf dem Alexanderplatz zu sprec hen. Daher also Mielkes Anruf.“ Am 1.11.: „ [...] im Deutschen Theater zum Gespräch mi t Johanna Schall über die

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kennen gegeben. 89 Aber was auch im mer die beiden m iteinander gesprochen haben: Entscheidend ist, daß die V eranstalter keinen V orschlag von außen, gar von Mielke, „akzeptierten“, sondern aus verschiedenen G ründen wohl selbst auf diese Idee gekom men waren: Markus Wolf hatte sich in den Monaten zuvor durch verschiedene Interviews und sein Buch „Troika“ 90 als Anhänger einer Perestroika in der DDR profiliert, was im MfS kritisch vermerkt worden war. 91 Vor allem aber ist ein zeitlicher Zusam menhang auffällig: Wolfs Name als möglicher Redner tauchte zum ersten Mal auf, nachdem er im „Haus der Jungen Talente“ bei einer live im Fernsehen ausgestrahlten Podiumsdiskussion über den Traum von einer besseren DDR m it den Bürgerrechtlern Bärbel Bohley und Jens Reich debattiert hatte. 92 Der Gedanke, er sei ein für die D emonstranten akzeptabler Redner, w ar damals keinesw egs abwegig. Es gab einen Konflikt um diesen Auftritt, der aufschlußreich hinsichtlich der Stimmung unter den Veranstaltern ist: Walter Janka wollte nicht neben einem ehem aligen MfS-General sprech en. V or die A lternative Janka oder Wolf gestellt, entschieden sich die Organisatoren für Janka und strichen Wolf von der Rednerliste. 93 Erst als Walter Janka erklärte, er könne aus gesundheitlichen Gründen nicht auftreten, wurde Markus Wolf wieder auf der Rednerliste plaziert. 94 Diese Episode beweist einmal mehr, daß die Behauptung, „Stasi und SED-Funktionäre“ hätten die Rednerliste genehm igt, generell und auch im Falle Markus Wolf unzutreffend ist. Das belegt auch der einzige Fall, in dem explizite Vorbehalte gegen einen geplanten Redner in den A kten dokum entiert sind. Es ging um Stefan Heym. Der Schriftsteller – so die SED- Kultursekretärin Brombacher auf der Beratung der Berliner Bezirksleitung – sei bei einem früheren „Auftritt mit klarer Stoßrichtung gegen da s MfS“ hervorgetreten. 95 Dem wollte Kulturminister Hoffmann „offensiv in den Medien“ begegnen, „etwa mit der Fra-

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Demo am 4.11. Im Beisein von Heiner Müller sa ge ich zu.“ Am 7.11. habe Mielke nach längerem Abstand erneut angerufen und ihn angeraunzt: „ Du willst schon wieder reden? “ (Das „ wieder“ bezog sich auf eine Demonstration am folgenden Tag vor dem ZKGebäude.) Ebenda, S. 217, 219 u. 232. Gespräch des Autors mit Markus Wolf am 19.11.1995. Wolf: Troika (1989). Ein Vorabdruck war zu Jahresbeginn in der wichtigsten Literaturzeitschrift der DDR erschienen; Markus Wolf : Die Troika. Geschichte eines nichtgedrehten Films, in: Sinn und Form 41 (1989) H. 1, S. 74–84. Dazu siehe S. 529 ff. Vgl. Bahrmann u. Links: Wir sind das Volk (1990), S. 47 f. In der ARD wurde eine Aufzeichnung dieser Debatte am folgenden Tag ausgestrahlt. Vgl. Horst Singer: „ Informationen zur Vorb ereitung der genehmigten Demonstration der Künstler und Kulturschaffenden der Haupstadt am 4.11.1989“ vom 30.10.1989, 4 S.; LA Berlin, BPA, SED-BL 6312, Bd. 1. Vgl. MfS, HA XX: Information über weitere operativ bedeutsame Erkenntnisse und Hinweise zur Demonstration am 4. November 1989 in Berlin, 3.11.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 1465, Bl. 121–129, hier 129. Von Christian Ladwig , der Mitglied der „Initiativgruppe 4.11.“ war, wu rde diese Version in einem Gespräch mit dem Verf. am 16.11.1995 ebenso bestätigt wie von Jens Reich (Gespräch am 18.11.1995). Beratung der SED-Bezirksleitung am 28.10.1989, Bl. 112 f.

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gestellung ‚Wohin w olle H err H eym?‘“. 96 Auch in diesem Fall fand sich kein Beleg für V ersuche der Staatssicher heit, im Dienste der Partei seinen Auftritt zu verhindern. Selbst wenn – Hey m hat tatsächlich gesprochen und auf dem Alexanderplatz den Gefühlen von Millionen Ausdruck verliehen, als er hinausrief, ihm sei, „ als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dum pfheit und Mief und bürokratischer Willkür, von am tlicher Blindheit und Taubheit“. 97 Die SED-Bezirksleitung fertigte auf Basis der Beratung am 28. Oktober eine Vorlage für das Politbüro. 98 Ausgangspunkt war, daß „absoluter Schwerpunkt“ in „der Sicherung und der U nantastbarkeit der Staatsgrenze“ liegen müsse. 99 Das bedeutet, daß nun die V ariante 5 zur dominanten Orientierung geworden war. Auf „ politische Einflußm öglichkeiten“ (Variante 4) sollte jedoch nicht ganz verzichtet w erden. Es würden Genossen der Berliner Parteiorganisation die „ Möglichkeit“ wahrnehm en, „ sich unmittelbar in den Demonstrationszug einzureihen, ohne dabei Ansatzpunkte für eine mögliche Deutung als ‚G egendemonstration‘ zu bieten“ . 100 D iese Formulierung sagt viel darüber aus, w ie das K räfteverhältnis inzwischen eingeschätzt wurde. 101 An „neuralgischen Punkten der Strecke“, vor allem „öffentlichen Gebäuden“, würden Parteimitglieder präsent sein „ mit dem Ziel, Ruhe und Ordnung sowie einen friedlichen Verlauf der Demonstration im Interesse ihrer O rganisatoren zu unterstützen“ . 102 U nd schließlich plante m an eine „starke Teilnahme von Genossen am Abschlußmeeting“. Im Politbüro wurde diese V orlage am 31. Oktober abgesegnet und noch um einige Punkte ergänzt. 103 Die Berliner Parteiorganisation solle ihre Genossen zur Dem onstration schicken, aber m an wolle nicht dafür mobilisieren: „Die Bezirksleitungen der SED wurden beauftragt, Maßnahmen ein96 Ebenda, Bl. 113. 97 Text seiner Rede in: Zentrum für Theaterdokumentation und -infor mation: Rollen (1990), S. 219–221. 98 „Maßnahmen im Zusammenhang mit der Demonstration und Kundgebung am Sonnabend, dem 4. November 1989“, Anlage zum Sitzungsprotokoll des Sekretariats der SED-Bezirksleitung Berlin am 31.10.1989, 4 S.; LA Berlin, BPA, SED-BL 5700. Diese Sitzung fand nach der Politbürositzung statt. Der Maßnahmekatalog war identisch mit dem dort bestätigten Plan; vgl. Arbeitspr otokoll der Politbürositzung am 31.10.1989; BA Berlin, J IV 2/2A/3252. 99 Ebenda, S. 3. 100 Ebenda, S. 4. 101 In einer Vorlage der Abt. Kultur vom Vortag wurde noch einmal ausdrücklich gewarnt: „Durch einige radikale Gruppierungen wird die Vermutung/das Gerü cht verbreitet, die SED bereite eine Gegendemonstration (ähnlich Schwerin) vor, um das Anliegen der Demonstration ‚umzudrehen‘. In diesem Fall wo lle man spontan woanders hingehen. [...] Jede Aktion, die den Verdacht einer Gegenaktion erhärten würde, würde die Lage verschärfen.“ Vermerk der Kultursekretärin der SED-Bezirksleitung Berli n vom 30.10.1989, 7 S., hier S. 4 u. 5; LA Berlin, BPA, SED-BL 6312, Bd. 1. 102 „Maßnahmen“, S. 4. 103 Protokoll der Politbürositzung am 31. 10.1989, 14 S., hier S. 4; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2356.

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zuleiten, dam it die Teilnehm erzahlen v on Bürgern ihrer Bezirke zur Teilnahme an der D emonstration in Berlin möglichst beschränkt bleibt.“ 104 Verantwortlich für die Realisierung dieses Vorhabens waren neben Dohlus die G enossen Mielke und D ickel. A ls „ Sprecher der SED“ wurde Günter Schabowski, der von der „ Vorbereitungsgruppe“ am Vortag eingeladen worden war, 105 bestätigt. Egon K renz flog am nächsten Tag nach Moskau, um sich m it G orbatschow zu beraten. Er berichtete de m sowjetischen Generalsekretär auch über die bevorstehende Demonstration und erklärte, das Politbüro habe beschlossen, Schabowski reden zu lassen, „ um zu verhindern, daß die Opposition auf dieser D emonstration unter sich bleibe“ . 106 O ffenbar, um sich bei Gorbatschow einzuschmeicheln, erzählte er, das Politbüro habe „ entschieden, die Parteimitglieder zur Teilnahme aufzurufen“ 107 – das war eine Dreiviertellüge. V erhindert w erden m üsse, „ daß ein Massendurchbruch durch die Mauer versucht werde“. Dann nämlich müsse man die Polizei einsetzen und „ gewisse Elem ente eines A usnahmezustandes“ einführen. D as allerdings sei „nicht sehr w ahrscheinlich“. 108 Es ist m öglich, daß das der Minimalkonsens war, auf den man sich in der Politbürositzung bei der Debatte über die „Maßnahmen“ gegen die Opposition geeinigt hatte. Es ist aber auch nicht auszuschließen, daß es sich dabei um Aufschneiderei handelte. Gorbatschow reagierte nicht, obw ohl er – hätte er diese Möglichkeit ernst genommen – gew iß alarmiert gewesen wäre, weil die sowjetischen Truppen in Deutschland leicht hätten involviert werden können. 109 Bevor Krenz nach Moskau abgeflogen w ar, hatte er als V orsitzender des Nationalen Verteidigungsrates noch einen Befehl an die Ostberliner Einsatzleitungen erlassen, in dem Deeskalation verordnet w orden war: „Der aktive Einsatz polizeilicher Kräfte und Mittel erfolgt nur bei Gewaltanwendung der Demonstranten.“ Die Möglichkeit, daß Dem onstranten „in das Grenzgebiet eindringen“ würden, hatte er erwähnt: „Im Falle eines solchen Eindringens sind die Demonstranten durch Anwendung körperlicher Gewal t daran zu hi ndern, daß es i n der Haupt stadt der DDR, Berlin, zu Grenzdurchbrüchen n ach Berlin (W est) kom mt. [...] Die Anwendung der Schußwaffe i m Zusammenhang mit möglichen Demonstra104 Ebenda, S. 5. 105 Vgl. „Aktennotiz“ über einen Anruf von Steffi Spira in der Abt. Kultur der SED-Bezirksleitung Berlin am 30.10.1989; LA Berlin, BPA, SED-BL 6312, Bd. 1. 106 „Niederschrift des Gesprächs von Egon Krenz, Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, mit Michail Gorbatschow, Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR, am 1. November 1989 in Moskau“; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/329, Bl. 128–162, hier 158. 107 Ebenda, Bl. 158. 108 Ebenda; vgl. Hertle: Chronik des Mauerfalls (1996), S. 104. 109 Auch in seinen Erinnerungen erwähnt Gorbatschow zwar das Gespräch mit Krenz, nicht aber diesen Aspekt; Gorbatschow: Erinnerungen (1995), S. 712.

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tionen ist grundsätzlich verboten.“ 110

Das entsprach der seit dem April 1989 geltenden Linie, als der Schießbefehl – freilich unter ganz anderen Voraussetzungen – dauerhaft ausgesetzt worden war. Von Elementen eines Ausnahmezustandes war in dem Befehl von K renz nicht die Rede, ebensow enig in dem Befehl, den am nächsten Tag Helmut Müller, der 2. Sekretär der SED -Bezirksleitung Berlin, als am tierender V orsitzender der Bezirkseinsatzleitung herausgab. Darin betonte er, es ginge vor allem darum, die „ Partei wieder in die politische u nd ideologische Offensive zu führen“ . Gewalt wurde offenkundig nicht als Mittel dazu angesehen, denn in Wiederholung der Krenzschen Formulierungen wurde der Schußwaffengebrauch in jedem Falle untersagt und selbst körperliche G egenwehr bei „ Gewaltanwendung der D emonstranten“ von einer Genehmigung durch den V orsitzenden der Bezirkseinsatzleitung abhängig gemacht. 111 Offenkundig hatte m an auf seiten des A lten Regimes fast noch mehr A ngst vor einer gew altsamen Eskalation als auf seiten der Demonstranten. Das Politbüro hatte die Sicherheitsapparate beauftragt, „die erforderlichen Sicherungsm aßnahmen zu koordiniere n“. 112 Mielke hatte noch am gleichen Tag eine zentrale „Weisung“ für die A ktivitäten der Staatssicherheit an die Leiter der Diensteinheiten erteilt. Von seiten der Partei werde demobilisiert: „Durch Dialogangebote und andere gesellschaftliche Möglichkeiten in den Wohnorten, Arbeits- und Unt errichtsstätten soll gezielt einer Teilnahme von Personen, Arbeits- und Schul kollektiven an di eser Dem onstration bzw. am Meeting in der Hauptstadt entgegengewirkt werden.“ 113

Mit bis zu einer halben Million Teilnehm ern sei dennoch zu rechnen, eine gewalttätige Eskalation durch „ sozialismusfeindliche und m ilitante Kreise, Randalierer, Rowdys und andere Krim inelle [...] nicht auszuschließen“ . Mielke w ies die D iensteinheiten deshalb an, sich auf folgende Punkte zu konzentrieren: „ Verhinderung von Ge walthandlungen antisozialistischer Kräfte“ und „von Angriffen auf die Staatsgrenze“ ; „Einsatz aller operativen 110 Befehl Nr. 10/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates vom 1.11.1989; Militärisches Zwischenarchiv Potsdam, AZN 30922, Bl. 1–3. 111 „Befehl Nr. 08/89 des Vorsitzenden der Bezirkseinsatzleitung über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in der Hauptstadt der DDR, Berlin, vom 02. November 1989“, „Vertrauliche Verschlußsache!“, gez. Helmut Müller, Vorsitzender der Bezirkseinsatzleitung im Amt; BStU, ASt Berlin, A 1192/5, Bl. 2–5. 112 Protokoll der Politbürositzung am 31.10.1989, S. 4. – Zur Vorbereitung der NVA, die mit 14 Hundertschaften die Grenzsicherung verstä rkte, vgl. Hertle: Chronik des Mauerfalls (1996), S. 104 u. 221 f. 113 Schreiben Mielke s an die Leiter der Di ensteinheiten vom 31.10.1989; BStU, ZA, DSt 103629.

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Möglichkeiten zur gedeckten K ontrolle und Ü berwachung, ein schließlich Bild- und Tondokum entation“ sow ohl von „ Rowdys“ w ie auch von „bekannten Führungskräften antisozialis tischer Sam mlungsbewegungen“ (der MfS-Terminus für Bürgerrechtsorga nisationen); Anweisung an teilnehmende IM, auf einen „ friedlichen, disziplinierten V erlauf sowie Zurückweisung von Provokationen“ hinzuw irken; Sicherung „ zentraler O bjekte“, also G ebäude von Staat und SED , „gegen unbefugtes Eindringen“. Die Leitung des Einsatzes liege beim Chef der Berliner Bezirksverw altung, Hähnel, der zu diesem Anlaß Mielkes Stellvertreter Schwanitz unterstellt war. 114 Hähnel legt eine „Einsatzkonzeption“ vor, die sich ganz an dieser V orgabe und vor allem daran orientiert, keinen zusätzlichen Ärger zu verursachen: „Alle Si cherungsmaßnahmen durch Kräft e des M fS sind streng konspirativ und gedeckt durchzuführen. Das gewal tsame Vorgehen gegen Dem onstranten (auch bei Verletzung festgelegter Normative) sowie die Wegnahme von mitgeführten Plakaten und Transparenten u[nd] ä[hnliches] sind nicht gestattet. [...] Alle eingesetzten Kräfte sind zu besonnenem Handeln und zur äußersten Zurückhaltung zu erm ahnen, sie sollen nicht provozierend auftreten, sich aber auch nicht provozieren lassen.“ 115

Diese Konzeption im einzelnen darzustellen ist überflüssig. Es ging im wesentlichen um die „ rechtzeitige Verhinderung von Provokationen“ , um den „Schutz der Staatsgrenze“ und die „ Sicherung der O bjekte der Partei und der Regierung“. Der Stab der Berliner Bezirksverwaltung reichte am nächsten Tag „Hinweise zum Einsatz der Mitarbeiter des MfS“ nach, die auf „besondere Gefahren“ aufm erksam m achen sollten. 116 Dazu zählten „schwere Provokationen“ wie „Marsch in Richtung Staatsgrenze, A ngriffe auf G ebäude von Partei und Regierung“ . 117 Auch in diesem Fall gelte es, „ ein außerordentlich hohes Maß an Besonnenheit, Selbstbeherrschung und Zurückhaltung“ zu bewahren, um die „ Dialogpolitik“ nicht zu gefährden. 118 Die „Einsatzleitung des MfS“ ginge von folgender Einschätzung aus: „ Der politische und organisatorische A blauf der D emonstration ist weder für die Antragsteller/Organisatoren noch für die Schutz- und Sicherheitsorgane detailliert vorausschaubar.“ 119 Diese Einschätzung w ar zutreffend und zeigte die Grenzen jeder Einflußnahm e. Sie waren das Ergebnis einer intelligenten Demonstrationsvorbereitung, die zur Abwehr von Versuchen politischer In114 Ebenda. 115 „Einsatzkonzeption“ des L eiters der BVfS Berlin vom 1.11.1989 „zur Sicherung einer Demonstration im Stadtzentrum“, 8 S., hier S. 2; BStU, ASt Berlin, A 1189. 116 BVfS Berlin: „ Hinweise zum Einsatz der Mitarbeiter des MfS am 4.11.1989 im Stadtzentrum“ vom 2.11.1989; BStU, ZA, HA XX/AKG 1465, Bl. 142–147. 117 Ebenda, Bl. 143. 118 Ebenda, Bl. 144. 119 Ebenda, Bl. 147.

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strumentalisierung auf die Eigeninitiative der Teilnehmer setzte. Die beteiligten Diensteinheiten des MfS waren gehalten, ebenfalls Maßnahmepläne vorzulegen. V on besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang selbstverständlich die Hauptabteilung X X, w eil es eventuell ihre Aufgabe gewesen wäre, das Mißlingen des V ersuchs der SED, Demonstration und K undgebung in ihrem Sinne umzufunktionieren, zu kompensieren durch verdeckte Maßnahm en – falls sie dazu den A uftrag bekommen hätte. Mielke erw ähnte diese Möglichkeit in seinem Befehl überhaupt nicht. In Umsetzung dieses Befehls fertigte die H auptabteilung X X am 1. bzw . 2. November eine „Einsatzkonzeption“ und einen „ Maßnahmeplan“. 120 Am Tag vor der D emonstration w urden von der H auptabteilung XX außerdem noch „ Maßnahmen zur Sicherung der D ienstbereiche“ in der Normannenstraße festgelegt. „Operativ bedeutsame Unterlagen“ sollten aus dem Erdgeschoßbereich verlagert w erden. 121 Ein Mitarbeiter der A bteilung M (Überwachung des Postverkehrs) notierte zur gleichen Zeit in seinem Arbeitsbuch unter der Überschrift „ Absicherung der O bjekte des MfS“ : „ 4.11. für alle Dienst. Frauen nur soweit es notwendig ist. Masse der MA [Mitarbeiter] soll sich im Objekt aufhalten. [...] Objektsicherung: Bei Dunkelheit sind die Arbeitsräume zu verdunkeln; bei A nkündigung von Demo vor dem MfS kommt kein G en[osse] mehr rein oder raus“ 122 . Man befürchtete offenbar, daß das Stasi-Terrain von Demonstranten gestürmt werden könnte. Solche Befürchtungen hingen dam it zusam men, daß eine Verschiebung im U nterstützerkreis der D emonstration stattgefunden hatte. So hatte etwa auf einer überfüllten Veranstaltung in der Gethsemanekirche am Prenzlauer Berg U lrike Poppe von D emokratie Jetzt zur Teilnahm e aufgefordert. 123 Ebenso w urde bei einer Schriftstellerlesung in der Erlöserkirche, die unter dem Motto stand „Wider den Schlaf der Vernunft“, 124 zu der Demonstration aufgerufen. Die Nachricht von ihrer Genehmigung „löste bei den A nwesenden“, etwa 4.500 Teilnehmern, „Jubel aus“. 125 Die SED-Bezirksleitung konstatierte Ende O ktober, daß „ inzwischen der einbezogene Teilnehm erkreis erheblich erw eitert w orden [ist], das heißt 120 Schreiben des Leiters der HA XX, Generalleutnant Kienberg, an den stellvertretenden Minister, Generalleutnant Schwanitz, vom 1. 11.1989 mit Anlage „ Einsatzkonzeption der HA XX zur politisch-operativen Sicherung der Demonstration am 4. 11.1989“, mit Vermerk „bestätigt: Schwanitz“; BStU, ZA, HA XX/AKG 1465, Bl. 36–39; Leiter der HA XX: „Maßnahmeplan zur politisch-operativen Sicherung der Demonstration am 4.11.1989“ vom 2.11.1989; ebenda, Bl. 42–47. 121 HA XX: „Maßnahmen zur Sicherung der Dienstbereiche der HA XX im Haus 7 im Zusammenhang mit möglichen Angriffen auf das D ienstobjekt Normannenstraße vor, während und nach der Demonstration am 4.11.1989“ vom 3.11.1989; BStU, ZA, HA XX/AKG 1465, Bl. 119 f. 122 Arbeitsbuch Borowski; BStU, ZA, Abt. M 96, Bl. 309 f. 123 Vgl. „Information“ der HA XX vom 29.10.1989, Bl. 92; HA XX: „ Lagebericht zur Aktion ‚Störenfried‘“ vom 28.10.1989, Anlage; BStU, ZA, HA XX/4 1686, Bl. 5 f. 124 Auszugsweise dokumentiert in: Oktober 1989 (1989), S. 147–162. 125 HA XX: „ Lagebericht zur Aktion ‚Störenfried‘“ vom 29.10.1989, Anlage; BStU, ZA, HA XX/4 1686, Bl. 44 f.

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Kunst- und K ulturschaffende aller V erbände und Einrichtungen der Hauptstadt, Kunstschaffende anderer Bezirke, Vertreter der Kirche einschließlich der radikalen und m ilitanten Gruppierungen, Vertreter und Anhänger des ‚Neuen Forum‘, Vertreter von Betrieben und Einrichtungen der Hauptstadt.

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Es ist m it Abgesandten der dem onstrationserfahrenen Gruppen aus anderen Städten (etwa Dresden und Leipzig) zu rechnen.“ 126 Die „Einsatzkonzeption“ der Hauptabteilung XX ging davon aus, daß die Basis der Demonstration sich von den kritisch-loy alen Bürgern zur Opposition verlagert hatte, die immer noch als Projektionsfläche für die A ngst vor militanten Umsturzversuchen diente: „ Oppositionelle Gruppierungen wie ‚Neues Forum‘, ‚Dem okratischer Aufbru ch‘, ‚SDP‘ u. a. betrachten diese Demonstration als ih re V eranstaltung.“ 127 Wahrscheinlich würden sich ihnen „ feindlich-negative K räfte aus den Bezirken“ ebenso anschließen w ie „sozialismusfeindliche und m ilitante Kräfte, Randalierer, Rowdies und andere Kriminelle“, die eventuell „ den friedlichen Verlauf der Demonstration stören und Konfrontationen m it Sicherheitskräften provozieren“ wollten. Deshalb sei „ durch den Einsatz aller operativen Mittel und Kräfte [...] m it zu gewährleisten, daß die D emonstration friedlich und diszipliniert verläuft und im Einklang m it den eingeleiteten Prozessen zu V eränderungen“ im Sinne der jüngsten Erklärung von Egon K renz. In ty pischem MfS-Deutsch heißt es: „Mit dieser Erw artungshaltung w urden die O rganisatoren beauftragt.“ 128 Doch die Organisatoren konnten weder über die spontan gefertigten Transparente entscheiden, noch wollten sie die Redebeiträge zensieren. Insofern war letzteres ein unfrom mer Wunsch. Gewaltlosigkeit allerdings entsprach ihrem Selbstverständnis. Das MfS plante, die „Führungskräfte antisozialistischer Sam mlungsbewegungen“ zu überwachen und ihr V erhalten, wenn es „provokativ“ sei, zu „dokumentieren“, das heißt auf V ideo festzuhalten oder zu fotografieren. 129 Einen spezifischen Beitrag hatte die Hauptabteilung XX/4 zu leisten, die eine Schlüsselfunktion in der Ü berwachung der Bürgerrechtsbew egung hatte. In einem „Maßnahmeplan zur ‚Demo‘ am 4. November 1989“, abgezeichnet von ihrem Leiter, Oberst Wiegand, w urde insbesondere der Einsatz von inoffiziellen Mitarbeitern konzipiert. 130 Neun IM sollten für „ operative Kontrollmaßnahmen“ gegen „ antisozialistische Zusam menschlüsse“ eingesetzt werden, um die „Absichten feindlich-negativer K räfte“ im V orfeld zu erkunden. Bei der Demonstration selbst kam en 16 IM zum Einsatz. Ihre A ufgaben wurden um schrieben mit den Stichworten: „ Beruhigung“, „op[erative] Kontrolle von Personen aus den unter 1. genannten [„antisozialistischen“] Zusammenschlüssen“ und „Feststellung von Provokateuren“. 131 Ein Mitarbeiter dieser A bteilung notierte am gleichen Tag in „Auswertung einer Referatsleiterbesprechung“ der Hauptabteilung XX/4: „Demo am 4.11. scheint nicht m ehr überschaubar [...] Sache kann nicht mehr gestoppt 126 127 128 129 130 131

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Vermerk der Kultursekretärin der SED-Bezirksleitung Berlin vom 30.10.1989, S. 1. „Einsatzkonzeption“ der HA XX vom 1.11.1989, Bl. 37. Ebenda. Ebenda, Bl. 39. „Maßnahmeplan“ der HA XX/4 vom 1.11.1989; BStU, ZA, HA XX/4 2153, Bl. 1 f. Ebenda, Bl. 1.

Stop gibt es nur bei Marsch auf G renze“. 132 Im Zentrum der Bewerden mühungen der Staatssicherheit und der SED -Spitze standen nun „ Sicherung“ und „Überwachung“ aus der Furcht heraus, die D emonstration könnte in einen handgreiflichen Versuch zum Sturz der Machthaber oder zur Ö ffnung der Mauer umschlagen. Bei einer halben Million Teilnehm er wäre das Ergebnis unabsehbar gewesen. Es galt aus der Perspektive der Staatssicherheit, Kristallisationspunkte für solche Auseinandersetzungen gar nicht erst entstehen zu lassen. Auf Initiative der SED-Bezirksleitung gab es noch einen letzten Versuch politischer Vereinnahmung. 133 Am 2. November veröffentlichte die „Berliner Zeitung“ einen „ Gemeinsamen Aufruf“ des Vorsitzenden der Gewerkschaft Kunst, Herbert Bischoff, von Oberbürgerm eister Krack und Kulturminister Hoffmann. Sie appellierten, den 4. November als „friedliche Manifestation“ „gegen Provokation und G ewalt“ und „ für eine D DR als sozialistischen Rechtsstaat“ zu begehen. 134 Noch am gleichen Tag verwahrten sich die gewerkschaftlichen Vertrauensleute in einem Schreiben an den Vorstand der Gewerkschaft K unst gegen die Umdefinition ihrer „Protestdemonstration“ und gegen das mit ihnen nicht abgesprochene V orgehen des V orsitzenden. Sie forderten „ seinen sofortigen Rücktritt“ . 135 Am nächsten Tag schied Bischoff tatsächlich aus dem Amt. 136 Am 4. November hatten sich die Spitzen der Sicherheitsapparate im Innenministerium, die Mitglieder des Politbüros im G roßen H aus und die SED-Bezirksleitung im Präsidium der Volkspolizei regelrecht verschanzt und harrten der D inge, die da kamen. 137 Die Demonstration blieb gewaltlos. An ihrer Spitze wurden zwei Transparente getragen, jedes sechs Meter breit, auf denen stand: „ Protestdemonstration – Solidarität mit Václav Havel!“ und „Recht auf Freie Medien! “ 138 Auf anderen Transparenten wurden MfS und SED kritisiert mit Parolen wie: „ Rechtssicherheit ist die beste Staatssicherheit“, „ Statt Spitzeldienst – Produ ktionsarbeit“, „ Freie Wahlen! N ein zum festgeschriebenen Machtm onopol der SED “ und hunderten anderen mehr. 139 Der Abschlußkundgebung auf dem Alexanderplatz war die Vorgeschich132 Arbeitsbuch Leutnant Hasse (HA XX/4), Notizen zum 1. 11.1989; BStU, ZA, HA XX/4 2143, Bl. 134. 133 Vgl. Vermerk der Kultursekretärin der SED-Bezirksleitung Berlin vom 30.10.1989, S. 6. 134 Entwurf des Schreibens in den Unterlagen der Abt. Kultur der SED-Bezirksleitung; LA Berlin, BPA, SED-BL 6312, Bd. 1. 135 Dokumentiert in: Zentrum für Theaterdokum entation und -information: Rollen (1990), S. 198. 136 „Bischoff zurückgetreten“, in: Berliner Zeitung 4./5.11.1989. 137 Vgl. Hertle: Chronik des Mauerfalls (1996), S. 105 f. 138 Vgl. „ Bericht zum Sicherungseinsatz am 04. November 1989“ des Führungsstabes des Sicherungseinsatzes der BVfS Berlin; BStU, ZA, Neiber 618, Bl. 39–42; ebenso die Abbildung in: Zentrum für Theaterdokumentation und -information: Rollen (1990), S. 184 f. 139 Der Text vieler Transparente in: Zentrum für Theaterdokumentation und -information : Rollen (1990), S. 242–250.

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te dieser Demonstration durchaus noch anzum erken. N och vor ihrem Beginn, als die ersten Teilnehm er auf dem Platz eintrafen, versuchten StasiMitarbeiter in Zivil, sie zu überreden, nach Hause zu gehen, weil diese Demonstration doch überflüssig sei. 140 A uch später w aren die Kundgebungsteilnehmer keine einheitliche Menge: In der Nähe der Tribüne, der Ladefläche eines LK W, standen auffallend viele „ progressive K räfte“, die von der SED-Bezirksleitung Berlin offenkundig schon frühzeitig plaziert worden waren. Sie konnten die Redner aus den Reihen der Opposition etwas verunsichern, die Atmosphäre auf dem Platz bestimmten sie nicht. Auch einige Redner standen für eine Vereinnahmungstaktik im Zeichen „bekrenzter“ Reformen. Doch geleitet wurde die Kundgebung von Henning Schaller vom Maxim -Gorki-Theater. D as w ar gew iß kein Mann nach dem Geschmack der SED , 141 das sagen nicht nur seine früheren K ollegen, der Meinung w ar damals schon das MfS, hatte es doch erkundet, daß Schaller „politisch-negativen Positionen zur DDR“ anhing und in der Vorbereitungsgruppe „scharfmacherisch“ aufgetreten w ar. 142 Zu Beginn der K undgebung wurden die einschlägigen Verfassungsartikel 27 (Meinungsfreiheit) und 28 (Versammlungsfreiheit) verlesen. Sie wurden kommentiert durch die V erlesung von Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch der D DR, mit denen diese Grundrechte konterkariert w urden, zum Beispiel § 106 „Staatsfeindliche Hetze“ und § 217 „ Zusammenrottung“. Ihre Abschaffung wurde ebenso gefordert wie die Streichung der „ führenden Rolle“ der SED aus der V erfassung. D ann folgen 22 Rednerinnen und Redner. K urt D emmler sang sein bekanntes Lied: „Irgendeiner ist immer dabei von der ganz leisen Polizei irgendeiner macht immer ’n Strick und wenn du’s nicht bist, bin’s ick.“

Seine vielumjubelte letzte Strophe endete mit den Worten: „...daß sie uns den Schneid nicht abkauft manchmal zur Persönlichkeit, braucht’s Sicherheit auch vor der Sicherheit“. 143

Unmittelbar danach hatte – dank geschickter Regie der Organisatoren – Markus Wolf zu sprechen. Er setzte si ch gegen ein heftiges Pfeifkonzert für 140 So Henning Schaller, der Kundgebungsleiter, in: „ Chronik der Wende“ 4. November 1989, ORB, 9.11.1998, 22.40 – 22.55 Uhr. 141 Es sei daran erinnert, daß Horst Singer, Informant der SED-Bezi rksleitung, am 26.10. den Parteiauftrag erhalten hatte, „ Einfluß“ auf die „ Festlegung des Moderators“ zu nehmen. Offenkundig hatte er sich vergeblich bemüht. 142 „Information“ der HA XX vom 29.10.1989, Anlage 2 „Vorbereitungsgruppe“, Bl. 101. 143 In: Zentrum für Theaterdokumentation und -information: Rollen (1990), S. 208 f.

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eine differenzierte Behandlung seiner G enossen von der Staatssicherheit ein. 144 Falls er mit dem Auftritt die Hoffnung verbunden haben sollte, eine Brücke zwischen dem Reform erflügel in der SED und der Opposition z u schlagen und sich selbst als Mittler zu profilieren, ist das gründlich schiefgegangen. Das wäre schon eher G regor Gysi gelungen, der m it der Parole, „daß die beste Staatssicherheit im mer noch die Rechtssicherheit ist“, 145 einen Slogan von einem Transparent aufgriff und dam it ein bis heute geläufiges Motto in die Welt setzte. Christoph Hein sprach über „Bürokratie, Demagogie, Bespitzelung, Machtmißbrauch und auch Verbrechen“, und er w arnte davor zu glauben, es sei bereits geschafft. Im mer w ieder m üßten die Regierenden durch die „Vernunft der Straße“ unter D ruck gesetzt werden, bis wirklich demokratische und rechtsstaatliche Strukturen durchgese tzt seien. 146 Jens Reich erinnerte an Erich Loest und Wolf Bierm ann, die bei künftigen V eranstaltungen hoffentlich dabei sein würden. 147 Gewiß kein H öhepunkt der K undgebung, aber ein G radmesser für die Stimmung war der Auftritt von Günter Schabowski. Es war eine letzte Probe auf die V ariante 4, den V ersuch der V ereinnahmung des Protests für die SED-Politik. Schabowski wurde schon mit Pfiffen begrüßt. Er begann: „Liebe Berlinerinnen und Berliner, (anhaltende Pfiffe, Rufe) billigen wir einander die Kultur des Dialogs zu. (Pfiffe) Was bewegt einen Kommunisten in dieser Stunde, im Angesicht und i m Blickfeld von Hundert tausenden? (Pfiffe) [...] Viel Mühe wird es kosten, vertanes Vertrauen zurückzugewinnen. (Pfui-Konzert) (Sprechchor: Aufhören) Und dennoch st immen nicht wir, die wir hier stehen, stimmt nicht das Volk letztlich im Ziel der Erneuerung überein, (anhaltend Pfiffe, Pfui-Rufe, Sprechchor: Aufhören) wenngleich von unterschiedlichen Ausgangspositionen? [ ...] Und wir werden die Produktivität des W iderspruches nut zen. ( Pfiffe) Das Zent ralkomitee der SED, das am Mittwoch zusammentritt, (Pfui-Rufe, Pfiffe) wird das mit seinem angekündigten Aktionsprogramm meßbar machen. (Pfiffe, ‚aufhören‘).“ 148

Die Menge beruhigte sich erst, nachdem Schabow ski abgetreten war und Stefan Heym, als „der Nestor unserer Bewegung“ vorgestellt, m it lautem Beifall begrüßt wurde. Er forderte einen demokratischen Sozialismus: „Der Sozialismus – ni cht der St alinsche, der ri chtige, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands – (starker 144 Ebenda, S. 210–213. In dieser Tonbandabschrift sind auch die Reaktionen d es Publikums verzeichnet. 145 Ebenda, S. 204. 146 Ebenda, S. 235. 147 Ebenda, S. 215. 148 Ebenda, S. 218 f.

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Applaus) dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Dem okratie. Demokratie aber – ein griechisches Wort – heißt Herrschaft des Volkes! (Applaus). Freunde, Mitbürger, üben wir sie aus – diese Herrschaft! (starker Applaus)“. 149

Heyms Appell traf die dam alige Stim mung, die sich freilich bald ändern sollte. Eine Reihe weiterer Redner folgten. Am Ende sprach die hochbetagte Schauspielerin Steffi Spira. Von Beifall unterbrochen rezitierte sie mit fester Stimme einige Verse aus Bertolt Brechts „Lob der Dialektik“: „So, wie es ist, bleibt es nicht.“ „Wer noch lebt, sage nicht: niemals!“ „Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?“ „Und aus niemals wird: Heute noch!“ 150

Nach dem A bschluß der K undgebung löste sich die D emonstration gegen 15.00 Uhr auf. Sie hat die Machtverhältnisse in der DDR dauerhaft verändert. Die SED-Führung machte sich daran, dieses Ereignis zu verarbeiten. Egon Krenz hatte noch am V orabend in einer Fernsehansprache vergeblich versucht, die G emüter zu beruhigen, indem er w eitgehende Reform en versprach und ankündigte, daß die ältesten Politbürokraten, unter ihnen Erich Mielke, ihren Posten räum en würden. 151 Nun verschickte er an die Führungskader der SED ein Telegram m, in dem er konstatierte, daß die Kundgebung „in der Partei Betroffenheit und viele Fragen ausgelöst“ habe. Doch es habe dazu „ keine Alternativ e“ gegeben, wollte m an „ gewaltsame Konflikte“ vermeiden. 152 Ebenfalls noch am 4. November wurde durch das Politbüro an die A bteilung Propaganda im ZK der Auftrag erte ilt, die Dem onstration auszuwerten. Zwei Tage später überm ittelte deren Leiter eine „Erste Einschätzung“ an G eneralsekretär Krenz. 153 Er lobte Gewaltfreiheit und „Dialogbereitschaft“ der Teilnehmer und daß sich kein Redner „ für die Restauration des Kapitalismus hierzulande ausgesprochen“ habe. Doch sei „ die Haltung vieler Demonstranten“ von „ Mißtrauen in unsere Partei und die Staatsorgane gekennzeichnet“ gewesen. Die SED-Redner, „ begonnen bei Genossen Schabowski“, hätten die größte Mühe gehabt, sich G ehör zu verschaffen, 149 Ebenda, S. 220. 150 Ebenda, S. 230 f.; „Lob der Dialektik“ nach Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, Bd. IX, Frankfurt/M. 1967, S. 467 f. 151 Fernsehansprache von Egon Krenz am 3.11.1989, Nachdruck in: Neues Deutschland 4./5.11.1989; ebenso in: Deutschland Archiv 22 (1989) 12, S. 1437–1440. 152 BA Berlin, DY 30 IV 2/2039/3154, Bl. 40–42. 153 Abteilung Propaganda des ZK der SED: „Erste Einschätzung der Demonstration und Kundgebung am 4. November 1989 in Berlin“, 6.11.1989, gez. Klaus Gäbler, Leiter der Abt. Propaganda, mit Begleitschreiben vom 6.11.1989 an Egon Krenz; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2039/317, Bl. 59–68.

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während „die Reden anderer Personen, die sich gegen verschiedene Seiten der Politik der Partei wandten“ , angenom men worden seien, obwohl sie „wenig Konstruktives“ zu bieten gehabt hätten. Die dann folgende Analy se ist ein Musterbeispiel für Nachtrabpolitik. Die Redebeiträge w urden unter der Perspektive gesichtet, welchen Forderungen die SED zustimmen könnte. Freie Wahlen etw a könne m an „grundsätzlich unterstützen“, doch dürfe es keinen „bürgerlichen Parteienpluralismus“ geben. Die „Nationale Front als Klammer“ müsse erhalten bleiben und vor allem : „ Forderungen nach Beseitigung der führenden Rolle der SED sind für uns Kom munisten nicht annehm bar.“ In diesem Stil des Sowohlals-auch ging es weiter. Das Papier zeigte vor allem eines: Die SED hegte die Hoffnung, von diesem Ereignis wenigstens nachträglich etwas lernen zu können. „Eine Gruppe von Fachleuten für Dem onstrationen“ sollte den Ablauf analysieren und Vorschläge erarbeiten. Das Ziel war, den eigenen Ritualen neuen Schw ung zu verleihen: „ Aus der A rt und Weise der G estaltung und Organisation von Demonstration und Kundgebung sollten wir Schlußfolgerungen für den 1. Mai und die anderen traditionellen Dem onstrationen ziehen.“ Eine Lehre sei schon jetzt: „Keine Huldigungsvorbeimärsche und verordnete Manifestationen mehr“. 154 Und schließlich wäre es nützlich, mit den „Rednern vom Sonnabend, dem 4.11. [...] Einzelgespräche zu führen, um die Möglichkeiten produktiver Zusam menarbeit auszuloten bzw. die politisch-konzeptionellen Absichten näher zu erfahren.“ Eine Liste „ Wer mit wem?“ war beigefügt. Inform ationsbedarf hinsichtlich ihrer „ politisch-konzeptionellen Absichten“ bestand mit Ausnahme von Schabowski und Gerlach in bezug auf alle Redner. Es bleibt noch zu fragen, ob diese D emonstration, vor allem aber die Kundgebung und die R edner, die dort gesprochen haben, repräsentativ für die Herbstrevolution waren. Es war ein außerordentlich breites Spektrum politischer Kräfte zusam mengekommen, das von Bürgerrechtlern bis zu Liberalisierern und Reformern in der SED reichte. Bedenkt man, daß die Bürgerrechtsbewegung dam als noch die treibende K raft der Entw icklung war, so scheint sie unterrepräsentiert. V on den 26 Rednern kam en vier aus ihren Reihen: Marianne Birthler (Initiative Frieden und Menschenrechte), Jens Reich (Neues Forum ), Friedrich Sc horlemmer (Dem okratischer Aufbruch) und Konrad Elm er (SD P). A llerdings m uß bedacht w erden, daß von den 16 Rednern aus dem künstlerischen Milieu viele mit dem Neuen Forum, das damals keine festen Mitgliederstrukturen hatte, sympathisierten. Von den Blockparteien kamen zwei Redner, wobei nur Manfred Gerlach (LDPD) als Hoffnungsträger gelten konnte. D ie SED w ar durch vier Redner vertreten: 154 Damit wurde eine Anregung aufgegrif fen, die Christa Wolf in ihrem Redebeitrag gegeben hatte: „ Ein Vorschlag für den 1. Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei. (stürmischer Beifall)“. Zitiert nach Zentrum für Theaterdokumentation und -information: Rollen (1990), S. 225.

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zwei von den Dem okratisierern, näm lich Gregor Gy si und Lothar Bisky , und z wei von den Liberalisierern, Markus Wolf und G ünter Schabow ski. Diese beiden waren als einzige heftig ausgepfiffen worden – das zeigt das feine politische Gespür der Teilnehm er und wo – bei aller Breite des Bündnisses für einen Tag – doch die Grenzen zu ziehen waren. Unterrepräsentiert waren an diesem Tag – wie später auch am zentralen Runden Tisch – nicht die Bürgerrechtler, sondern die konservativen K räfte. In der CDU der DDR hat die Ablösung der alten Führung und die program matische Umorientierung vom Strukt urkonservatismus der SED auf einen Konservatismus im westlichen Sinne gerade erst begonnen. Und in der Ostberliner Bürgerrechtsbewegung gab es damals keine anerkannten Sprecher, die bereits explizit eine schnelle Wiedervereinigung und eine Marktw irtschaft nach bundesdeutschem Vorbild gefordert hätten, die späteren zentralen Forderungen konservativer Program matik. Da in der Fülle der von den Demonstranten selbst gefertigten Transparente entsprechende Losungen marginal waren, 155 entsprach das geringe Gewicht konservativer Positionen offenbar der damals noch in Ostberlin, aber auch anderen Städten wie Leipzig vorherrschenden Stimmungslage. 156 Mißt m an den V erlauf von D emonstration und Kundgebung am 4. November an den ursprünglichen Zielen der SED-Spitze – die weitere Annäherung zwischen O pposition und kritisch-loyalen Bürgern zu blockieren und eine regim efeindliche Massendem onstration zu verhindern –, war dieses Unternehmen ein völliger Mißerfolg. Der Redner, der für die aktuelle Politik stand, Schabowski, hatte das Ergebnis der zögerlichen Liberalisierungspolitik am eigenen Leib erfahren. Von ihrem Ziel, wieder in die „ politische Offensive“ zu kommen, war die SED weiter entfernt denn je seit dem Beginn der „Wende“.

155 Vgl. ebenda, S. 242–250; Rolf Hochhuth: „ Keine Silbe, kein Plakat zum Thema Wiedervereinigung“, in: Die Welt 6.11.1989. 156 H. Zwahr hat eindringlich darauf hingewiesen , daß in kleineren Städten wie etwa Plauen, in denen es keine Tradition einer Bürgerrechtsbewegung gab, schon relativ früh nationale Motive eine dominante Rolle spielten; vgl. Zwahr: Revolution (1995), S. 220.

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Entgrenzung und Staatszerfall

Das Recht auf Freizügigkeit w ar auf der D emonstration am 4. November – fünf Tage vor der Maueröffnung – kein vorrangiges Thema: Nur auf wenigen Transparenten sind entsprechende Forderungen erhoben worden, 1 und keiner der Sprecher auf der Abschlußkundgebung hat es auch nur erw ähnt. Das galt auch für die Redner aus der Bürgerrechtsbewegung. Tatsächlich hat dieses Recht in den G ründungsaufrufen ihrer verschiedenen O rganisationen eine geringe Rolle gespielt. Teils w urde es überhaupt nicht angesprochen, 2 teils wurde es zw ar erwähnt, aber nur als eine von vielen Forderungen zur Demokratisierung der politischen Strukturen. 3 G emessen an der Bedeutung, die die Realisierung dieses Rechts für die politische Entwicklung im Herbst 1989 bekom men sollte, mag das erstaunlich scheinen. Doch das Pendel w ar seit Ende Septem ber zw ischen den Polen exit und voice, Abwanderung und Widerspruch, 4 auf die Seite des inneren Protestes geschwungen, obwohl beide A lternativen der A bsage an das Regim e zum indest nicht mehr als völlig gegensätzlich betrachtet wurden. Aber der Widerspruch w ar nie ganz aufzuheben, denn w er etw a über Ungarn das Land verließ, verstärkte – w ie 1

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In einer umfangreichen, aber dennoch ge wiß unvollständigen Auflistun g von insgesamt 328 Transparenten finden sich 11 Parolen (3 %) mit Bezug auf Grenzöffnung und Reisefreiheit, während sich 30 Parolen (9 %) gegen die Staatssicherheit richteten und noch sehr viel mehr gegen die Machtanmaßung der SE D. Berechnet nach Zentrum für Theaterdokumentation und -information: Wir treten aus unseren Rollen heraus (1990), S. 242–250. Vgl. Gründungsaufruf des Neuen Forums vom 9. 9.1989, das allerdings in einem „Offenen Problemkatalog“ von Anfang Oktober dieses Recht eingeklagt hat, und die ersten programmatischen Dokumente der Sozialdemokra tischen Partei. Selbst noch in einer Erklärung zum „Selbstverständnis der Initiative Frie den und Menschenrechte“ von Ende Oktober sucht man dieses Thema unter den aufgelisteten Aufgaben für etwa zwei Dutzend Projektgruppen vergeblich. Vgl. „ Aufbruch 89 – Neues Forum“ vom 9.9.1989, in: Schüddekopf (Hrsg.): „Wir sind das Volk“ (1990), S. 29 f.; „Offener Problemkatalog“ des Neuen Forums von Anfang Oktober 1989, dokumentiert in: Der Tagesspiegel 10.10.1989; Aufruf zur Bildung einer Sozialdemokratischen Partei vom 24.7.1989 und „ Gründungsurkunde“ der SDP vom 7.10.1989, in: Rein (Hrsg.): Opposition (1989), S. 84–87, 89; Erklärung zum „Selbstverständnis der Initiative Frieden un d Menschenrechte“ vom 28.10.1989, Kopie in HA XX: „ Lagebericht zur Aktion ‚Störenfried‘“ vom 28.10.1989; BStU, ZA, HA XX/4 1686, Bl. 36–38. So in „Mindestanforderungen für die Gestaltung einer freien so zialistischen Gesellschaft in der DDR“ der „ Vereinigten Linken“ vom 4.9.1989, dokumentiert in: Rein (Hrsg.): Opposition (1989), S. 109–111; ebenso in „Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR“ von „Demokratie Jetzt“ vom 12.9.1989 und in der „ Programmatischen Erklärung“ des „ Demokratischen Aufbruchs“ vom 2.10.1989; Nachdruck ebenda, S. 62–64 u. 35–37. Vgl. Hirschmann: Abwanderung (1992).

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es in einem dieser Dokumente heißt – „die Resignation der Zurückgebliebenen“. 5 Noch im September kam es nach dem Montagsgebet vor der Leipziger Nikolaikirche zur verbalen Konfr ontation zwischen Ausreisewilligen, die riefen: „ Wir w ollen raus!“ , und Bürgerrecht lern, die dagegenhielten: „Wir bleiben hier!“ 6

7.1 Bürgerrechtsbewe gung, Freizügigkeit und „demokratischer Sozialismus“ Sicherlich hätte kein Bürgerrechtler das Recht auf Freizügigkeit bestritten, da es zu den Menschenrechten gehört. 7 Es w urde als eine logische K onsequenz der angestrebten D emokratisierung mitgedacht, wobei das darin enthaltene Recht, auch das eigene Land zu verlassen, politisch ganz im Vordergrund stand. A ber es sind zw ei verschiedene D inge, ein Recht zu postulieren und es für klug zu halten, darauf aktuell A nspruch zu erheben. In ziemlicher Schärfe hatte das ein Teilnehmer am Evangelischen Kirchentag in Leipzig, im Juli 1989, form uliert: „Man kämpft nicht für das Ausreiserecht, indem man einen Antrag stellt. Da tut man nichts für eine Verbesserung der Situation. Man tut aber etw as, wenn man kollektive Rechte“ – der Sprecher erw ähnte zuvor V ereinigungs-, V ersammlungs- und Meinungsfreiheit – „ in A nspruch nim mt und tut, als w ären sie bereits legal, indem man sich einfach versam melt.“ 8 Das war eine Aufforderung zu dem damals nur von wenigen gewagten „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ 9 , statt den herrschenden Verhältnissen resignativ den Rücken zu kehren. Im Herbst ging es um eine m oralische Haltung, aber auch um politische Überlegungen: Fast einhellig war man der Meinung, es müsse die Option eines „dritten Weges“ zwischen staatssozialistischer Parteidiktatur und freier Marktwirtschaft offengehalten werden. 10 D er Phy siker Sebastian Pflugbeil etwa, einer der Mitgründer des N euen Forum und führender A ktivist der Bürgerrechtsbewegung, erklärte damals:

5 Aufruf zur Bildung einer Sozialdemokratischen Partei vom 24.7.1989, S. 84. 6 Vgl. Petra Bornhöft: Ausr eiser und Bleiber marschieren getrennt, in: die tageszeitung 9.9.1989, Nachdruck in: taz-Journal I (1989), S. 8 f. 7 „Jedermann hat das Recht, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“ Art. 13 Abs. 2 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ vom 10.12.1948, in: Menschenrechte (1996), S. 37–43. 8 Ausschnitte aus einer Diskussion in der Leipziger Lukaskirche am 8. 7.1989, in: Rein (Hsrg.): Opposition (1989), S. 127–138, hier 136. 9 Vgl. Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben (1989). 10 Vgl. die programmatischen Texte in: Rein (Hrsg.): Die Opposition (1989); aus der Fülle d er Sekundärliteratur sei nur genannt Jarausch: Die unverhoffte Einheit (1995), S. 122–127; Wielgohs u. Schulz: Reformbewegung und Volksbewegung (1990), S. 17–20.

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„Wir m öchten au sdrücklich ein e so zialistische DDR. W obei wir allerdings Schwierigkeiten haben, jet zt ganz konkret zu sagen, wi e unser Sozialismus aussehen soll. [...] Wir wollen aber, um das mal ganz klar zu sagen, ganz gewiß nicht die Bundesrepublik kopieren.“ 11

Etwas zurückhaltender, aber dennoch ähnlich argum entierte zur gleichen Zeit Jens Reich, der es als die Absicht des Neuen Forums bezeichnete, „ein Angebot [zu] machen, das uns selbständig läßt und von der Bundesrepublik unterscheidet“, es gehe um die „Chance, daß wir eine alternative Form eines deutschen Staates aufbauen können“. 12 Für den D emokratischen A ufbruch erklärte Ehrhart N eubert, daß es „ Chancen gäbe, in einigen Gebieten und Bereichen doch alternativ zum Westen zu handeln“ , wobei die Leitlinie seiner Organisation sei, „daß wir einen demokratischen Sozialismus wollen, im Unterschied zu einem zentralistischen Sozialismus“. 13 Daß es sich bei solchen Positionen nicht nur um die Träum e von O stberliner Intellektuellen handelte, ist etwa daran ablesbar, daß selbst die D resdner „Gruppe der 20“ , die einen Querschnitt aus der Bevölkerung darstellte, in einer ihrer ersten Erklärungen als Ziel formulierte: „Wir wollen den gewaltlosen Dialog und wir wollen Veränderungen auf der Basis der sozialistischen Gesellschaft.“ 14 Dieser allgemeinen Stimmung wollte sich selbst die konservativ-liberale Bundesregierung im fernen Bonn nicht entziehen. A lexander Schalck, der Verhandlungsführer auf seiten der D DR, berichtete in diesen Tagen in einem Schreiben an Krenz über ein Telefongespräch mit Minister Seiters. Der habe ihm ausrichten lassen: Wenn „ die SED auf ihren absoluten Führungsanspruch verzichtet“ und bereit ist, mit allen gesellschaftlichen Kräften „mit dem Ziel der V erwirklichung eine s dem okratischen Sozialism us gleichberechtigt zu beraten“ – dann w ürde „ der Bundeskanzler vieles für möglich und alles [für] denkbar“ halten. 15 Gerade dieses Beispiel zeigt, daß der H orizont, in dem damals Veränderungen gedacht wurden, ein demokratischer Sozialismus war. Dabei spielten gewiß unterschiedliche Motive und Einschätzungen eine Rolle. V or allem 11 „WAZ-Gespräch mit ‚Forum‘-Gründungsmitglied Pflugbeil“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung 3.10.1989. Einige Wochen später äußerte er sich schon etwas vorsichtiger: „Wir sind uns im Neuen Forum eigentlich eini g, daß wir die Bundesrepublik nicht kopieren wollen. Wir sind uns auch einig, daß wi r an die sozialistischen Traditionen anknüpfen wollen.“ Interview mit Sebastian Pflugbeil am 26. 10.1989, in: Rein (Hrsg. ): Opposition (1989), S. 20–26, hier 26. 12 Interview mit Jens Reich Ende Oktober 1989, in: ebenda, S. 27–33, hier 32. 13 Interview mit Ehrhart Neubert, Anfang November 1989, in: Rein (Hrsg. ): Opposition (1989), S. 52–58, hier 55 u. 53. Ebenso hatte der Erfurter Pfarrer Edelbert Richter, ein weiterer Gründer des Demokratischen Aufbruchs, im September 1989 auf eine entsprechende Frage geantwortet: „ Nicht nur das Wort sozialistisch, sondern auch bestimmte gesellschaftliche Prinzipien des Sozialismus habe n für uns einen guten Klang.“ Interview in: die tageszeitung 16.9.1989, Nachdruck in: taz-Journal I (1989), S. 12 f. 14 „Erklärung der ‚Gruppe der 20‘ in der Stadt Dresden“, in: Oktober 1989 (1989), S. 85. 15 Schreiben von Schalck-Golodkowski an Krenz vom 7.11.1989; dokumentiert in: Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 486 f.

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war die sowjetische Führung offenkundig noch w eit davon entfernt, auf ihren wichtigsten Bündnispartner zu verzichten. Bei den Bürgerrechtlern aber ging es nicht nur um die Anerkennung machtpolitischer Konstellationen, sondern sie hatten diesen Begriff positiv besetzt. Im mer wieder wurde das Wort „Chance“ verwendet. Deshalb wurde in diesen Tagen von ihnen ebenso wie von Schriftstellern die neubelebte Wiedervereinigungsdebatte in der Bundesrepublik beklagt, die als störend empfunden wurde. 16 Ginge es doch darum, „eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines dem okratischen Sozialismus bewahrt“. Der „Aufruf zum Hierbleiben“, aus dem dieses Zitat stammt, ist mit Christa Wolf verbunden, w eil sie den Text im Fernsehen der DDR am 8. November verlesen hat. Tatsächlich lieh sie ihre Stim me dam als den wichtigsten Bürgerrechtsorganisationen. 17 Natürlich konnte ein solcher Aufruf im staatlichen Fernsehen nur mit Zustimmung der entsprechenden Parteiinstanzen ausgestrahlt w erden. Daß sie dagegen nichts einzuw enden hatten, versteht sich von selbst, aber manches weist darauf hin, daß sie dazu sogar den A nstoß gegeben haben. 18 Es gab hier – aus unterschiedlichen Motiven – ein Stückchen gem einsames Interesse, einen kleinsten gemeinsamen Nenner: Von oben her stabilisiert oder von unten aus verändert w erden konnte nur eine D DR, der die Menschen nicht davonliefen. Daß die Realisierung einer sozialistischen „ Vision“ nicht nur wegen der Stimmung im Land, sondern auch wegen der Anziehungskraft der überlegenen Bundesrepublik schw ierig w erden w ürde, w ar den m eisten bewußt. Wenige allerdings dürften das Problem in der Schärfe gesehen haben wie ein Diskussionsteilnehmer im Juli 1989 auf dem Leipziger K irchentag. Zur Bedeutung der Mauer erklärte er: „Was passiert also – die Mauer ist ja nur ein Merkmal dieses ganzen gewachsenen Systems –, wenn das wegfällt? Da ist bei mir die Befürchtung in letzter Zeit i mmer st ärker geworden, daß dann so gut wi e überhaupt nichts mehr 16 Vgl. etwa Interview mit Reinhard Schult (Neues Forum), in: Der Stern 2.10.1989, und mit Bärbel Bohley, in: Der Tagesspiegel 19.10.1989. 17 Unterzeichnet war dieser Aufruf von Bärbel Bohley (Neues Forum), Ehrhart Neubert (Demokratischer Aufbruch), Uta Forstbauer (SDP), Hans-Jürgen Fischbeck (Demokratie Jetzt) und Gerd Poppe (Initiative Frieden und Menschenrechte), außerdem von Christa Wolf, Volker Braun, Ruth Berghaus, Chri stoph Hein, Stefan Heym, Kurt Masur und Ulrich Plenzdorf. Dokumentiert in: Zimmerling: Neue Chronik DDR. Folge 1 (1990), S. 8. 18 In der Politbürositzung am Vortag war Schabowski, der nun für diesen Bereich zuständig war, beauf tragt wor den, „i n den M assenmedien [ ...] darauf hinzuwirken, daß die Bürger der DDR ihr Land nicht verlassen“. Am gleichen Tag hatte Außenminister Fischer den sowjetischen Botschafter Kotschemassow info rmiert: „ Die K ampagne in den Medien der DDR, die DDR-Bürger zum Hierbleiben zu ve ranlassen, w ird verstärkt. Es w erde versucht, auch andere bestimmte Leute dafür zu gewinnen. “ Arbeitsprotokoll der Politbürositzung am 7.11.1989, S. 6; BA Berlin, DY 30/J IV 2/2A/3255; „Vermerk“ über ein Gespräch von Fischer mit Kotschemassow am 7. 11.1989; BA Berlin, DC 20-4933, Nachdruck in: Nakath u. Stephan (Hrsg.): Countdown zur deutschen Einheit (1996), S. 225–227.

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bleibt, daß dann sich nur noc h eine riesige Wüste auftut. [...] Ich sehe eigentlich keine W erte, auf di e man hier bauen kann. Es i st nicht so, daß i ch das mit Häme betrachte, es ist mir sogar relativ schmerzlich.“ 19

In den A useinandersetzungen um eine dem okratische Revolution sind in den folgenden Wochen und Monaten solche Werte entstanden. Aber als Basis für einen eigenständigen Weg w aren sie zu w enig attraktiv, nicht zuletzt wegen ihrer Verbindung zu sozialistischen Idealen, die gegen ihren Mißbrauch in der D iktatur scharf a bzugrenzen offenbar nicht genügte. D ie Hoffnung auf einen „ Dritten Weg“ – auf eine Verbindung von Dem okratie, wirklichem „Volkseigentum“ und Ökologie – w ar gerade in der Bürgerrechtsbewegung, aber auch bei reformwilligen Kräften in der SED lebendig. Doch diese Perspektive war zumindest an die Fortexistenz eines eigenen Staates und eines relativ geschlossenen Biotops DDR gebunden. Letzteres war freilich eine Bedingung, die m an nicht program matisch form ulieren konnte, ohne sich in heillose Widersprüche zu verstricken oder gar in die moralisch und politisch untragbare Situation zu m anövrieren, die – wenngleich künftig durchlässigere – Mauer zu verteidigen. D ie Reaktion auf dieses Dilemma war – w enn es nicht zu verm eiden war, dazu Position zu beziehen –, das Problem wegzudrängen, zu erklären, „ daß die D ringlichkeit anderer Probleme wesentlich größer ist“. 20 In der Tat konnte die Opposition zu diesem Zeitpunkt kein Interesse daran haben, von der nächsten Aufgabe abzulenken: den wachsenden gesellschaftlichen Protest gegen die wankenden Strukturen der Diktatur zu sammeln. Dazu wurde jeder gebraucht.

7.2 „Prämissen“ einer Grenzöffnung Aus der Perspektive der politischen M achthaber hatte das Problem gerade deshalb höhere Aktualität. Schon im Vorfeld von Honeckers Entmachtung hatten die Softliner darüber nachgedacht. Der Vorschlag, den Herger Anfang Oktober seinem Vorgesetzten Krenz hatte zukommen lassen, zeigt, daß ihnen durchaus bewußt war, daß sich am Grenzregime etwas ändern m ußte und das Regime den Bürgern die Freiheit, ins westliche Ausland zu reisen und eventuell auch auszureisen, nicht m ehr lange verweigern konnte. Hinzu kam, daß der Status quo, der vor der Schließung der G renze zur Tschecho19 Ausschnitte aus einer Diskussion in der Leipziger Lukaskirche am 8. 7.1989, in: Rein (Hrsg.): Opposition (1989), S. 127–138, hier 134 f. 20 So Sebastian Pflugbeil, ein ebenso intelligente r wie couragierter Bürgerrechtler, in einem Interview am 26. 10.1989, in: Rein (Hrsg. ): Opposition (1989), S. 20–26, hier 25 f. – Selbst Bärbel Bohley, die eine ausgeprägte Aversion gegen Machtspiele hat, erklärte zur gleichen Zeit auf die Frage nach einem Reisegesetz keineswegs maximalistisch: „ Jeder muß einen Paß bekommen. Alle müssen fahren dürfe n. Mindestens einmal im Jahr.“ Interview mit Bärbel Bohley, in: Berliner Morgenpost 21.10.1989.

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slowakei bestanden hatte, nicht wiederherstellbar war: Die Grenze zwischen der SSR und Ungarn war inzwischen annähernd so durchlässig wie die von Ungarn nach Österreich. Der C hef d er t schechoslowakischen G renztruppen hatte in diesen Tagen berichtet: „ Die ungarischen G renzsicherungsorgane bewähren sich nicht m ehr als Partner bei der gemeinsamen Sicherung der Staatsgrenze; V ereinbarungen w erden nicht eingehalten und Grenzverletzungen unterstützt statt unterbunden.“ 21 Zugleich war die Grenze zwischen diesen beiden Staaten natürlich nicht so stark gesichert wie die ehemalige Grenze zwischen den Systemen. Es bestand dringlichster Entscheidungsbedarf. Deshalb hatte man in jener Politbürositzung am 10./11. Oktober, in der auch H oneckers Sturz eingeleitet worden ist, einen ersten Schritt zu einer Lösung unternommen. Es wurde der Auftrag erteilt, eine Vorlage für ei nen „neuen Reisepaß für alle Bürger der D DR“ auszuarbeiten. 22 Eine A rbeitsgruppe aus V ertretern des A ußenund des Innenministeriums und des ZK -Apparates wurde unter Leitung von Wolfgang Herger eingerichtet. 23 Der Arbeitsgruppe waren „drei Prämissen“ vorgegeben: „ keine Entvölkerung der D DR, Paß und V isum, es bleibt bei 15,– [DM] Ausstattung“. 24 Diese „Prämissen“ zeigen die unlösbaren Widersprüche, in die sich die Machthaber hinsichtlich der Gewähr ung von Freizügigkeit verstrickten: Es konnte keinerlei Garantie dafür geben, daß nicht – w ie Herger bereits prognostiziert hatte – „ Hunderttausende“ die Chance nutzten und ganz im Westen bleiben würden. Die Doppelung von Paß und V isum w ar schizophren: Der Paß war das Sym bol für Reisefreih eit, das Visum aber war als Ausreisevisum gedacht, vermittels dessen der Staat – und im Hintergrund die Partei – weiterhin die K ontrolle darüber behalten wollte, wer reisen und vor allem wer nicht reisen durfte. U nd was die 15 Mark der DDR als „Ausstattung“ der Reisenden betraf, so sollten sie, in 15 DM um gewechselt, für ein ganzes Jahr reichen. Auch wenn m an stillschweigend die 100 DM Begrüßungsgeld hinzurechnete, die jeder Besucher aus der DDR im Westen er21 Die „ Beratung“ mit Generalmaj or Nemec fand am 5. 10.1989 statt. „Lesenotiz“, o. D.; handschriftl. „ GL [Generalleutnant] Dietze weite rgeleitet“, „ 1 Expl. an GL Neiber“; BStU, ZA, HA I 5741, Bl. 9–11. 22 Protokoll Nr. 42 der Politbürositzung am 10./11.10.1989; BA Berlin, DY 30, J I V 2/2/2351. 23 In den U nterlagen der R echtsstelle des MfS fand sich eine mehrseitige N otiz, überschrieben mit „2. Oktoberwoche“ (zwischen dem 8. und dem 14.10.1989), zu den Überlegungen dieser Arbeitsgruppe. Sie ist von einem nichtidentifizierten Teilnehmer nachträglich angefertigt worden. Daß die Bildung dieser Arbe itsgruppe auf den Politbüro-Beschluß zurückgeht, ergibt sich aus ihrer Zusammensetzung. Vom Politbüro waren Krenz, Mielke, Dickel und Fischer beauftragt worden. Mit Ausnahme von Fischer, der durch den stellvertretenden Außenminister Herbert Krolikowski vertreten wurde, waren sie bei der Beratung eines 1. Entwurfs (der nicht überliefert ist) be teiligt, der zuvor von einer niederrangigeren Arbeitsgruppe unter Leitung von Herger erarbeitet worden war. Notiz: BStU, ZA, Rechtsstelle 101, Bl. 39–41. 24 Notiz, Bl. 39.

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halten würde, war das ein Betrag, dessen A nkündigung kaum geeignet war, Gefühle der Dankbarkeit zu wecken. Neu an diesem Vorhaben war vor allem , daß die Zwei-Klassen-Gesellschaft in Reisefragen aufgehoben werden sollte: Bis dahin durften nur diejenigen in den Westen reisen, die das Rentenalter überschritten hatten oder über Westverwandtschaft verfügten, die sie zu „ dringenden“ Familienfeiern oder ähnlichen Anlässen einlud, und Personen, die zu dem exklusiven Kreis der Reisekader 25 gehörten. Diese Teilung sollte aufgehoben werden, indem im Prinzip nun – fast – alle reisen durften. Man kann davon ausgehen, daß die Einschränkungen im Einzelfall nicht ausschließlich, aber auch die Angehörigen der Opposition betroffen hätten, während die Ausweitung der Reisemöglichkeiten für die breite Masse gedacht war. Hier war allerdings die Frage der Finanzierung der Pferdefuß, der zu einer Fortsetzung der alten Spaltung führte. In den folgenden Wochen w urde angesichts der desolaten Finanzlage der DDR gerade über dieses Problem im Machtapparat gegrübelt. In einem Entwurf für eine „Argumentation“ zum Reisegesetz von Ende Oktober, die zur Veröffentlichung bestimmt war, fand sich dazu ein erhellender Satz, der dann freilich gestrichen wurde (obwohl er faktisch Gültigkeit behielt): „Unterschiede, die sich z. B. aus dem V orhandensein bzw . Nichtvorhandensein gut betuchter Verwandter in der BRD für die einzelnen Bürger ergeb en, w erden sicher als ungerecht em pfunden, sind aber vom Staat nicht auszugleichen.“ 26 In dieser patzig anm utenden Formulierung kam nicht nur D evisenmangel zum Ausdruck, 27 sondern auch ein gerüttelt Maß an Ignoranz: D er paternalistische Parteistaat suchte sich im gleichen Moment aus der V erantwortung zu stehlen, indem er bemüht war, Autorität zurückzugewinnen. Als Krenz in seiner Antrittsrede reichlich unbestimmt ein neues Reisegesetz ankündigte, konnten sich diejenigen, die dieses Gesetz ausarbeiten sollten, auf die Vorüberlegungen der Arbeitsgruppe unter Herger stützen. Schon zwei Tage später, am 20. O ktober, lag ein erster Entw urf für das Politbüro 25 In der einschlägigen R ichtlinie des MfS heißt es: „ Dem Einsatz als Reise- oder Auslandskader (einschließlich Ehepartner) ist nur zuzustimmen, wenn bei den betreffenden Personen eine hohe politische Zuverlässigkeit und ein würdiges Vertreten der DDR im Ausland erwartet werden kann.“ Richtlinie des Mini sters für Staatssicherheit N r. 1/82 zur Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen vom 17.11.1982; BStU, ZA, DSt 102900, S. 15. 26 „Argumentation zum Entwurf des Reisegesetzes“, Anlage Nr. 5 zum Entwurf des Reisegesetzes, eing ebracht in der Politbürositzung am 31.10.1989 von Innenminister Dickel; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2A/3252. 27 Planungschef Schürer hatte zu dieser Passage einen Alternativvorschlag gemacht: „Schon bei der jetzigen Reiseregelung und dem zu erwartenden erheblichen Ansteigen der Reisen mit dem neuen Gesetz ist es so, daß bei einem Umtausch von 15, – M in 15, – DM pro Bürger alle Valutaeinnahmen a us dem Touris mus, einschließlich des Mindestumtausches, gebraucht werden für die Ausstattung unserer Bürger und für die F inanzierung der in Valuten [an die Bundesrepublik] zu zahlenden Transportkosten. Es ist deshalb kaum damit zu rechnen, daß für den einzelnen Bürger mehr Reisezahlungsmittel bereitgestellt werden können.“ Schreiben von Schüre r an Innenmin ister Dickel vom 27.10.1989; Anlage zum Arbeitsprotokoll des Politbüros vom 31.10.1989; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2A/3252.

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vor. 28 In zwei der zuvor genannten drei Punkte w urde an den „ Prämissen“ festgehalten, nur die Hoffnung, es sei m öglich, Reisefreiheit zu gew ähren und zugleich zu garantieren, daß auch fast alle zurückkom men w ürden, wurde stillschweigend fallengelassen. Als „ Versagungsgründe“ wurden der „Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder der Rechte und Freiheiten anderer“ genannt. 29 Das war eine wörtliche Übernahme aus dem „ Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ von 1966. 30 Im Kontext der D DR-Rechtskultur und in Verbindung mit den – in diesem Pakt nicht vorgesehenen – individuellen Ausreisevisa las es sich als Sam mlung von G ummiparagraphen, wobei die anschließende detaillierte Aufzählung von Einzelgründen die Sache nicht besser machte. N eben diesen auf den einzelnen A ntragsteller bezogenen Gründen wollte man sich auch das Recht vorbehalten, das neue Freiheitsrecht wieder ganz auszusetzen: „ Der Ministerrat wird im Gesetz ermächtigt, bei Vorliegen außergewöhnlicher gesellschaftlicher Erfordernisse zeitweilig einschränkende Festlegungen für die Erteilung von Genehmigungen (Visa) zu treffen.“ 31 Das war nun durch den genannten UNO-Menschenrechtspakt überhaupt nicht m ehr abgedeckt. N icht zuletzt diese Vorsichtsmaßnahme zeigt, wie schwer es den Politbürokraten fiel, auf ein Stück Macht über die Bürger definitiv zu verzichten und ih re Herrschaft rechtlichen Norm en zu unterstellen. Mielke informierte die Generalität der Staatssicherheit am folgenden Tag auf der bereits geschilderten Besprechung, die der V erpflichtung auf die neue politische Linie diente. Er wollte zur Reisefrage einen „ gedanklichen Vorlauf“ 32 geben: „Jeder Bürger der DDR wird demnach das Recht auf Reisen in das Ausland ohne Vorliegen verwandtschaftlicher Verhältnisse und ohne Vorliegen der bisher geforderten Reisegründe erhalten; ebenso das Recht auf Rückkehr in die DDR.“ 33 Dann zählte er vor allem die „ Versagungsgründe“ auf, ohne jedoch zu erw ähnen, daß man sich die Möglichkeit offenhalten wollte, das ganze Vorhaben unter bestim mten Umständen zeitweilig rückgängig zu machen. Zu den Konsequenzen dieser Regelung erklärte er, die Staatssicherheit müsse „darauf eingestellt sein, daß diese Mög28 Egon Krenz, Erich Mielke, Gerhard Schürer, Friedrich Dickel und Oskar Fischer: Vorlage zu „Regelungen zu Reisen vo n Bürgern der DDR in das Ausland“ vom 20.10.1989; Anlage zum Arbeitsprotokoll des Politbüros vom 24.10.1989; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2A/3250. 29 „Grundsätze für den Entwurf eines G esetzes zu Reisen von Bürgern der DDR in das Ausland“, Anlage 2 zu Krenz u. a.: „Regelungen“ vom 20.10.1989, S. 10 f. 30 „Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ vom 19. 12.1966, Art. 12 Abs. 3; BGBl. 1973 II 1553; Nachdruck in: Me nschenrechte. Dokumente und Deklarationen (1996), S. 52–72, hier 58. 31 „Grundsätze“, S. 11; vgl. Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 142 f. 32 Referat Mielkes zur Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED und den sich daraus ergebenden ersten Schlußfolgerungen für di e Tätigkeit des MfS (21.10.1989); BStU, ZA, ZAIG 4885, Bl. 3–76, hier 59. 33 Ebenda.

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lichkeiten von nicht w enigen Bürgern genutzt w erden, um unsere Republik zu verlassen“. 34 Irgendeine K onzeption, wie das zu verhindern w äre, hatte Mielke seinen Generälen nicht zu bieten. Das Politbüro beschäftigte sich nun in jeder Sitzung mit dem Reisegesetz. 35 Am 31. Oktober, in jener Politbürositzung, in der bekannt w urde, daß die wirtschaftliche Lage noch verzweifelter war, als bisher angenommen, verabschiedete m an sch ließlich einen ersten Entwurf, der dem Ministerrat zugeleitet wurde. 36 Verglichen m it den ursprünglichen Ü berlegungen hatte m an die „ Versagungsgründe“ auf die allgem eine Form ulierung aus dem „Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ zusam mengestrichen, der nun allerdings „Ausnahmecharakter“ zugeschrieben w urde. D ie Möglichkeit, die Regelung zeitweilig auszusetzen, war ganz entfallen. Bei der Vorschrift aber, daß ein Ausreisevi sum notwendig sein würde, sollte es bleiben. Wie kleinm ütig diese K onzeption deshalb im mer noch w ar, kann man daran ablesen, daß selbst das orthodox-kom munistische Regime in der Tschechoslowakei im Monat zuvor die Ausreisevisa abgeschafft hatte. 37 Für ein anderes Problem glaubte m an eine Lösung gefunden zu haben, über das in H ergers A rbeitsgruppe nachgedacht w orden w ar und bei dem vor allem die ZK -Abteilung für Sicherheitsfragen auf einer Entscheidung bestanden hatte: „ daß es nicht dazu kom men sollte, daß Bürger im Westen arbeiten und in der DDR leben. Es sollte ein Reiseverkehr werd en im Urlaub, an dem der größte Teil der Bürger gleicherm aßen A nteil haben sollte.“ 38 Vermieden werden sollte offenbar, daß es zu einer Situation wie vor dem Mauerbau kam : zehntausende Pendler, die im Westen harte D evisen verdienten, sie schw arz tauschten und m it der eingelösten Summe in der DDR zum Neid ihrer Umwelt sehr kom fortabel leben konnten. U m dem entgegenzuwirken, sollte „in der Regel ein Gesam treisezeitraum von 30 Tagen im Jahr nicht überschritten werden“ – eine Einschränkung, die nicht im Gesetzentwurf selbst zu finden w ar, sondern in der „ Durchführungsverordnung“ verborgen wurde. 39 Im Ministerrat wurde – wie üblich – die V orlage abgesegnet und zudem , 34 Ebenda, Bl. 61. 35 Tagesordnungspunkt war das Reisegesetz in den Politbürositzungen am 24.10. und 31.10., und am 3., 7. und 9.11.1989. 36 Eingebracht wurde der Gesetzentwurf durch Innenminister Dickel: „ Entwurf des Gesetzes über Reisen“ mit mehreren Anlagen; Arbeitsprotokoll der Politbürositzung am 31.10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3252. 37 Vgl. Pehe: Government Proposes More Liberal Travel Law (1989). Schon seit 1977 konnte pro Jahr eine Reise in das nichtsozialistische Ausland beantragt werden. Die Genehmigung war an den Nachweis gebunden, daß der Antragsteller über mindestens 20 $ je Reisetag verfügte; vgl. Übersicht der MfS-Rechtsstelle zu den Reiseregelungen in sozialistischen Ländern; ohne Titel, o. D.; BStU, ZA, RS 381, Bl. 6–10, hier 7 f. 38 Notiz aus der „ 2. Oktoberwoche“; BStU, ZA, Rechtsstelle 101, Bl. 39–41 (Hv. im Original). 39 „Durchführungsverordnung“, Anlage 2 zum „ Entwurf des Gesetzes über das R eisen“; Arbeitsprotokoll der Politbürositzung am 31.10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3252.

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ebenfalls nach Maßgabe des Politbüros, ein Zeitplan verabschiedet: Am 6. November sollte der Gesetzentwurf publiziert und dann bis zum 30. Nov ember öffentlich diskutiert werden. Am 5. Dezem ber war ein überarbeiteter Entwurf dem Politbüro und am 7. Dezem ber dem Ministerrat vorzulegen, der anschließend in der Volkskammer eingebracht werden sollte. 40 Entwurf eines Reisegesetzes Die Ministerratsvorlage wurde durch das Politbüro zur Publikation freigegeben 41 und am 6. November in allen DDR-Zeitungen veröffentlicht. Gemessen an der K omplexität und Brisanz dieser Entscheidung kann man nicht behaupten, daß die neue Führung sich dam it sehr viel Zeit gelassen hätte. Vom Am tsantritt Krenz’ bis zu diesem Tag waren nicht einmal drei Wochen vergangen. N un aber m utete sie den Bürgern zu, noch einmal wochenlang zu warten, bis die Volkskam mer – die ebensowenig Legitimation hatte wie das Politbüro, unter dessen K uratel sie stand – irg endwann im Dezember endgültig entscheiden würde. Wie auf die Veröffentlichung des Gesetzentwurfes reagiert wurde, davon zeugen Zeitungsberichte aus jener Zeit, die zugleich enorm gewachsenes Selbstbewußtsein dokumentieren. Zuerst ein Bericht aus Ostberlin: „Auf weni g B egeisterung bei DDR -Bürgern i st der Entwurf eines Reisegesetzes gest oßen, der gest ern i n al len DDR -Zeitungen nachzul esen war. Ein Ostberliner brachte die Bedenken auf den Punkt . Ihn st ört, daß ‚m an weiterhin wochenlang wie ein Bittsteller au f Entscheidungen der zuständigen Behörden warten m uß‘. Er will m it sein em Au sweis einfach über die Grenze gehen können, ‚nur weil eben schönes Wetter ist‘.“ 42

Über die Reaktion auf der nun schon traditionellen Leipziger M ontagsdemonstration, zu der dieses Mal 200.000 Menschen gekommen waren, wurde berichtet: „Das am selben Tag veröffentlichte Reisegesetz stieß auf einhellige Ablehnung. Ein lakonisches Transparent für viele: ein Paragraphenzeichen und ‚Wir bleiben Bittsteller‘.“ Spontan sprach auf der Abschlußkundgebung ein Arbeiter: „,Nun sollen dieselben, die uns immer gedemütigt haben, wi eder über unser Schicksal entscheiden!‘ – ‚W ir brau chen keine Gesetze, die Mauer m uß weg‘, skandiert die Menge. Olaf Reiche redet weiter: ‚Jetzt sollen wir reisen 40 Die erneute Vorlage im Politbüro findet sich nur in dessen Beschluß; sie fehlt im Ministerratsbeschluß. Das war nicht Weitsicht (am 5.12. gab es kein Politbüro mehr), sondern Wahrung der Form unter Beachtung d er tatsächlichen Machtverhältnisse; Beschluß des Ministerrates 113/1/89 vom 2.11.1989; BStU, ZA, SdM 1506, Bl. 577–585. 41 Vgl. Protokoll der Politbürositzung am 3.11.1989; BA Berlin, J IV 2/2/2357. 42 Walter Süß: Bürokratisch geregelte Reisefreiheit, in: die tageszeitung 7.11.1989.

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dürfen, mit dem Bettelsack auf dem Rücken!‘ ‚In dreißig Tagen um die Welt, ohne Geld‘ rufen die Massen. Olaf Reic he schließt unter riesigem Beifall: ‚Das Reisegesetz muß weg!‘“ 43

Die wesentlichen Kritikpunkte wurden hier benannt: die Beschränkung auf 30 Tage im Jahr; der fortdauernde Zw ang, sich eine bürokratische Erlaubnis in Form eines V isums besorgen zu müssen; die fehlende finanzielle Absicherung, die Reisen für viele zu einem virtuellen V ergnügen m achen würde. 44 Vor allem aber: Die Machtanm aßung der Politbürokraten wurde unerträglich, weil eine Alternative spürbar wurde – Volkssouveränität. Als das Politbüro am nächsten Tag erneut tagte, reagierte es auf diese negative Resonanz nur in einem einzigen Punkt: Auf eine Blitzinitiative von Günter Schabowski hin wurde aus der noch unveröffentlichten „Argumentation zum Reisegesetz“ jene Passage herausgenom men, nach der die Reis ewilligen mit 15 Mark pro Jahr „ ausgestattet“ werden sollten. 45 Man fürchtete wohl, daß das als Provokation verstanden werden könnte. Die Maueröffnung am 4. November Bei ihrer Sitzung haben sich die Mitglieder des Politbüros m it der Reisefrage unter einem anderen Aspekt ausführlicher beschäftigt. Um das zu verstehen, muß man einige Tage zurückblicken. Zu den drängen dsten innenpolitischen Problemen gehörte die Frage, wie mit jenen Bürgern zu verfahren sei, die fest entschlossen w aren, das Land zu verlassen. Für die Integrationsbemühungen der neuen Führung w aren sie verloren. Im mer lautstärker forderten sie das Recht auf Ausreise ein und w aren, da sie m einten, in der D DR kaum mehr etwas zu verlieren zu haben, bei Demonstrationen wie in Dres43 Klaus Hartung: Die Wut in Leipzig nimmt zu, in: die tageszeitung 8.11.1989. 44 Die entscheidenden Passagen des Gesetzes: § 2 „(1) Die Bürger de r Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht in das Ausland zu reisen.“ § 4 „ (1) Für Reisen in das Ausland sind ein Paß der Deutschen Demokra tischen Republik und eine darin eingetragene Genehmigung – Visum – erforderlich.“ § 5 „ (1) Die Genehmigung einer Privatreise begründet keinen Anspruch auf den Erwerb von Reisezahlungsmitteln.“ § 6 „(1) In Übereinstimmung mit Artikel 12 der Konvention über zivile und politische Rechte darf die Genehmigung für eine Reise nur dann versagt werden, wenn dies zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit und Moral oder der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. (2) Die Versagung der Genehmigung für Reisen in das Ausland trägt Ausnahmecharakter.“ § 8 „ (3) Anträge für Dienst- und Privatreisen sind innerhalb von 30 Tagen zu entscheiden. In dringenden Fällen wird über den Antrag innerhalb von 3 Arbeitstagen entschieden. (4) Anträge für ständige Ausreisen sind in der Regel innerhalb von 3 Monaten, spätestens jedoch innerhalb von 6 Monaten, zu entscheiden.“ „Gesetz über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik in das Ausland – Reisegesetz – (Entwurf)“, in: Neues De utschland 6.11.1989, S. 1. Die Beschränkung auf einen „ Gesamtreisezeitraum von 30 Tagen im Jahr“ wurde in der „ Durchführungsverordnung“ festgelegt; ebenda, S. 3. 45 Vgl. Günter Schabowski: Vorlage zur „ Änderung der Argumentation zum Reisegesetz“ vom 6.11.1989; Anlage zum Arbeitsprotokoll der Politbürositzung am 7. 11.1989; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2A/3255.

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den Anfang Oktober besonders risikobereit und deshalb in ihrem Verhalten schwer kalkulierbar. Zugleich konterkarierten sie die Bemühungen des Regimes um eine Beruhigung der Lage. Um diesen Druck etwas zu verringern, waren bereits erste praktische Konzessionen gemacht worden. A m 27. O ktober hatte das Politbüro – auf Vorschlag von Herger – im Umlaufverfahren die „Aussetzung des paß- und visafreien Reiseverkehrs“ in die Tschechoslowakei mit Termin zum 1. N ovember aufgehoben und zugleich in einer Pressemitteilung angekündigt, Ausreiseanträge w ürden „ großzügig und kurzfristig entschieden“ , so daß „der Weg über Botschaften der BRD im A usland“ künftig „ nicht notw endig“ sei. 46 Trotz dieses Versprechens machten sich erneut Tausende auf den Weg nach Prag, und noch am 1. November w urden in der Botschaft der Bundesrepublik 300 neue Ausreiseanträge gestellt. 47 Diese Anträge wurden von der bundesdeutschen Botschaft an die D DR-Botschaft w eitergeleitet; dort hielt m an Rücksprache m it Ostberlin, ehe dann eine Ausreisegenehmigung erteilt wurde. Das kostete Zeit, und deshalb warteten am Mittag des 3. November schon wieder 4.000 Menschen auf dem Gelände der bundesdeutschen Botschaft. We itere 8.000 hielten sich andersw o im Lande auf. Die Situation w urde ähn lich der einen Monat zuvor. Doch die Geduld der tschechoslowakischen G enossen w ar inzw ischen erschöpft. Der DDRBotschafter in Prag, Helm ut Ziebart, telegrafierte am gleichen Tag nach Ostberlin, ihm sei im Außenministerium erklärt worden: „1. Die SSR wird ‚keine Flüchtlingslager fü r p olitische Flü chtlinge‘ d er DDR einrichten. 2. Die SSR fordert von der DDR , solche Maßnahmen einzuleiten, die entweder a) d en Zustrom an ‚politischen Flüchtlingen‘ beendet [sic!] oder b) eine solche Abfertigungspraxis vorzunehmen, daß ‚jeden Tag so viele ehemalige DDR-Bürger aus der SSR in die BRD ausreisen können, wie täglich in die BRD-Botschaft neu hinzukommen‘.“ 48

Ziebart hatte bürokratische Sachzw änge geltend gemacht; doch dafür zeigte der tschechoslowakische Vertreter, der Leiter der 1. Hauptabteilung im Außenministerium Vetrovec, kein V erständnis. Auch der U mstand, daß in der DDR-Botschaft inzw ischen im 3-Schi cht-System gearbeitet wurde, beeindruckte ihn nicht. A llerdings war seine Seite auch nicht bereit, dem ungari46 Die Vorlage von Herger als Leiter der Abt. Sicherheitsfragen, der M ielke, Dickel und Fischer zugestimmt hatten, wurde, einschließlich einer Mitteilung an die Presse, am 27.10.19899 bestätigt; BStU, ZA, SdM 664, Bl. 42–45. Mitteilung am 28.10.1989 im Neuen Deutschland. 47 Vgl. Neues Deutschland 2.11.1989. 48 Telegramm von Helmut Ziebart an Außenminis ter Oskar Fischer, Wolfgang Herger (ZK), Erich Mielke (MfS) und Harry Ott (Mf AA) vom 3.11.1989; BStU, ZA, SdM 636, Bl. 52 f.; vgl. die Schilderung von Schabowski: Politbüro (1990), S. 136.

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schen Beispiel zu folgen und die DDR-Flüchtlinge – unter Verletzung des beiderseitigen Abkommens – einfach ziehen zu lassen. Da auch noch der tschechoslowakische KP-Chef Milos Jakeš mit einer persönlichen Botschaft bei Krenz intervenierte, w urde von der SED -Führung beschlossen, ihr Einverständnis dam it zu erklären, daß vom nächsten Tag an D DR-Bürger m it ihrem A usweis und ihrem Wagen ohne den Umweg über die bundesdeutsche Botschaft direkt aus der SSR in die Bundesrepublik ausreisen durften. 49 Es wurden keine von Ostberlin bestätigten Ausreisepapiere mehr verlangt. 50 D a in die Tschechoslow akei w eiterhin jeder fahren konnte, w ar damit die Grenze für Ausreisewillige praktisch offen. Für diese Menschen, die manchmal verzweifelt und in früheren Jahren verbunden m it hohem Risiko versucht hatten, das Land zu verlassen, denen sich jetzt viele spontan anschlossen, die eine vielleicht einm alige Chance nutzen wollten – für sie alle ist die Mauer nicht am 9., sondern bereits am 4. N ovember durchlässig geworden. Innerhalb von drei Tagen, bis zum 6. N ovember, nutzten m ehr als 30.000 Menschen den Weg über die SSR nach Bayern. 51 Splitting der Reisefrage Wozu noch diesen Um weg? Die Frage stellten sich auch die Teilnehm er an der Politbürositzung am D ienstag, dem 7. November. Auf dieser Sitzung, der ersten nach der D emonstration vom 4. N ovember, wurden in verschiedenen Politikbereichen Kurswechsel eingeleitet, die sich an unterschiedliche Adressaten innerhalb des Landes und in den angrenzenden Staaten richteten: die Ausreisewilligen und die innere Opposition, die ehedem angepaßten Bürger und die A nhänger des Systems, die tschechoslowakischen Genossen und die Bundesregierung in Bonn. O ffenbar hatte man sich nach der Machtprobe im Zentrum Ostberlins und vor dem am nächsten Tag anstehenden Plenum des Zentralkomitees dazu durchgerungen, einige drängende Probleme endlich zu entscheiden. Außenminister Fischer, der für diesen Tagesordnungspunkt hinzugezogen worden w ar, berichtete „ über die Situation bei der A usreise von D DRBürgern über die SSR“ 52 und den damit verbundenen Ärger. Es wurde beschlossen, daß er, in Abstimmung mit den Ministern für Inneres und für 49 Nach einem Bericht von Krenz wurde durch das Politbüro beschlossen, „ die sich in der Prager BRD-Botschaft aufhaltenden DDR-Bürger direkt aus der SSR in die BRD ausreisen zu lassen, ohne dabei DDR-Territorium zu berühren...“ Die weitergehenden Konzessionen, von denen gleich berichtet wird, finden sich nicht in diesem Beschluß. Protokoll der Politbürositzung am 3.11.1989; BA Berlin, DY 30/J IV 2/2/2357. 50 Vgl. Fernschreiben des Leiters der Zent ralen Koordinierungsgruppe, Generalmajor Niebling, an die Leiter der Bezirksverwaltungen des MfS vom 4.11.1989; BStU, ASt Berlin, A 1189, o. Pag. 51 „Hinweise zur Entwicklung des Verlassens der DDR“, o. D.; BS tU, ZA, Neiber 553, Bl. 10 f. 52 So der betreffende Tagesordnungspunkt im Arbeitsprotokoll der Politbürositzung am 7.11.1989, S. 6; SAPMO-BA, DY 30/J IV 2/2A/3255.

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Staatssicherheit, einen Vorschlag für das ZK (das am folgenden Tag ein dreitägiges Plenum beginnen würde) erarbeiten sollte, „ wonach der Teil des Reisegesetzes, der sich m it der ständigen A usreise aus der DDR befaßt, durch eine Durchführungsbestimmung sofort in Kraft gesetzt wird“. 53 Noch während im Politbüro über andere Them en verhandelt w urde, informierte Fischer den sowjetischen Botschafter Kotschemassow: „Es bestehe die Pflicht, die tschechoslow akischen G enossen zu entlasten.“ 54 Do ch wie? In seiner Antwort brachte Fischer ein ganz neues Elem ent ins Spiel: Die SSR solle „ gefragt werden, ob sie die Grenze zur DDR schließen kann“. Doch gesetzt den Fall, sie w ürde zustimmen, dann würde das bedeuteten, „die gutwilligen DDR-Bürger zu bestrafen“ . Damit hätte man also die eigene Basis, die angepaßten Bürger, die die SED zurückzugew innen versuchte, neuerlich verärgert. „Würde die DDR schließen“, setzte Fischer fort, „gäbe es eine Machtprobe.“ Die aber wollte m an aus naheliegenden Gründen vermeiden. Fischers Vorschlag mit der G renzschließung ist etwas mysteriös: Im Beschlußprotokoll des Politbüros ist nichts in dieser Richtung zu finden. Und DDR-Botschafter Ziebart, m it dem Fischer anschließend sprach – ehe der sich in Prag mit dem Mitglied des Präsidium s der KPTsch, Jozef Lenárt, traf –, hat in einem anschließenden Bericht nichts dergleichen erw ähnt. 55 Vielleicht sollte dem sowjetischen Botschafter, ein konservativer Diplomat, nur deutlich gem acht werden, daß m an alle Möglichkeiten ausgelotet hatte. Aber die Alternative blieb undeutlich: „ Der Teil des Reisegesetzes, der sich mit der ständigen A usreise von D DR-Bürgern befaßt, w ird vorgezogen“ , doch „die Grenze DDR/BRD werde nicht geöffnet, weil sie unkontrollierbare Wirkung hätte“ . D as w ar gew iß zutreffend prognostiziert, doch recht schlau; was nun tatsächlich beabsichtigt war, wird man aus all diesen Formulierungen nicht. Bei dem Gespräch von Ziebart mit Lenárt wurde die tschechoslowakische Seite informiert, „daß in der D DR erw ogen w ird, A usreiseregelungen vor Annahme des Reisegesetzes zu treffen“ . 56 Lenárt, als ZK-Sekretär für Organisation und Kader einer der mächtigsten Männer in der tschechoslowakischen Führung, w ar dam it allerdings nicht zufrieden. A m folgenden Tag ließ er ausrichten, „daß man befürchte, daß das noch eine Weile dauern werde“. Er überm ittelte deshalb – ein ganz neuer Ton im gegenseitigen Verhältnis – ein form elles „Ersuchen“ von Regierung und ZK der K PTsch, „die Ausreise von DDR-Bürgern in die BRD ‚direkt und nicht über das Ter53 Ebenda. 54 „Vermerk“ über Gespräch von Fischer mit Kotschemassow am 7. 11.1989, in: Nakath u. Stephan (Hrsg.): Countdown zur deutschen Einheit (1996), S. 226. 55 Vgl. Telegramm von Ziebart an Fischer u. a. vom 8.11.1989; BStU, ZA, Neib er 553, Bl. 2. 56 So Ziebart in dem Telegramm an Fischer u. a. vom 8.11.1989.

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ritorium der SSR‘ abzuwickeln“. 57 Verlangt wurde also gerade jene V ariante, von der Fischer eine „ unkontrollierbare Wirkung“ befürchtete – und die in der Staatssicherheit zur gleichen Zeit bereits vorbereitet wurde. Es ist anzunehmen, daß in der Politbürositzung – von der kein Diskussionsprotokoll existiert – unter Zeitdruck nur relativ vage Vorgaben festgelegt worden waren. Man war an diesem Tag noch mit anderen gravierenden Problemen beschäftigt: Der Rücktritt der Regierung Stoph wurde beschlossen; 58 der Umgang mit der Opposition wurde neu definiert; auf dem bevorstehenden ZK-Plenum sollte ein neues „Aktionsprogramm“ endlich Klarheit über die weitere Linie bringen und kaderpolitische Entscheidu ngen getroffen werden. So hat man in diesem Punkt wahrscheinlich nur diskutiert, bis die allgemeine Richtung feststand: Das Problem der Ausreisewilligen sollte sofort, nicht erst im Dezember gelöst werden, um die tschechoslowakische Führung nicht noch stärker zu verärgern und zugleich innenpolitischen Druck zu vermindern. Mit der konkreten Umsetzung dieser Maßgabe w urden drei zuverlässige alte G enossen beauftragt: Fischer, D ickel und Mielke. A ber Fischer war kein Gromyko. Er, der dem Politbüro nicht angehörte, wurde bei dem weiteren Entscheidungsprozeß w eitgehend außen vor gelassen. Ü brig blieben die Minister für Inneres und für Staatssi cherheit. Da auch Dickel kein Politbüromitglied war und zu dieser Sitzung noch nicht einm al hi nzugezogen worden war, hatte Erich Mielke die stärkste Position in dieser Konstellation. In den Sicherheitsapparaten m ußte nun eine V orabklärung stattfinden, mußten Verantwortlichkeiten festgelegt werden. Man hatte sich dort aber bereits weitergehende Gedanken gemacht. Der stellvertretende Minister für Staatssicherheit G eneralleutnant G erhard N eiber, in dessen Zuständigkeit dieser Problembereich lag, teilte Mielke noch am gleichen Tag mit: Von den ihm unterstellten Diensteinheiten HA V II (Sicherung des MdI) und ZKG (Zentrale Koordinierungsgruppe zur Bekämpfung der Fluchtbewegung) sei gemeinsam mit der Rechtsstelle des MfS und in Absprache m it dem Innenund dem Außenministerium ein „Vorschlag zur Modifizierung der Regelungen über ständige A usreisen“ erarbeitet w orden. 59 D as w ar offenbar noch vor der Politbürositzung geschehen. Man wolle, teilte Neiber mit, durch die vorgesehene Regelung den Druck auf die G renzübergangsstellen in der SSR v erringern und von vornherein verhindern, daß es zu neuen Problem en komme, wenn demnächst die Ständige V ertretung der Bundesrepublik in Ostberlin, die vorübergehend geschlossen w ar, w ieder geöffnet w ürde. Ziel sei, „für alle an der ständigen Ausreise interessierten Personen ein einheitliches, unbürokratisches und schnelles Genehmigungsverfahren“ zu erm öglichen. Beigefügt war der 57 Ebenda. 58 Noch am gleichen Tag faßte der Ministe rrat formell den entsprechenden Beschl uß; Beschluß des Ministerrates Nr. 114/1/89 vom 7.11.1989; BA Berlin, C-20 I/3 2866. 59 Schreiben von Neiber an Mie lke vom 7.11. 1989; BStU, ZA, Neiber 553, Bl. 4. Vom Außenministerium war der stellvertretende Minister Harry Ott beteiligt.

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Entwurf einer Presseerklärung: „Wie die Pressestelle des MdI mitteilt, sind die zustä ndigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der VPKÄ [Volkspolizeikreisämter] angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dafür noch gel tende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausrei sen können über al le Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin (West) erfolgen. Damit entfällt die vorübergehend erm öglichte Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten.“ 60 Das bedeutete, den Flüchtlingsstrom weg von der Tschechoslow akei, direkt über die DDR-Grenze nach Westen zu leiten und die A usreise an keine weitere Bedingung zu knüpfen als einen Besuch in einem der V olkspolizeikreisämter. Es war wortwörtlich der Text, den Schabowski zwei Tage später auf seiner berühmten Pressekonferenz mit unvorhergesehenen Folgen verlesen würde. Es fehlte allerdings noch jener Passus, der sich m it der Regelung von touristischen Reisen befaßte. Mit der weiteren Ausarbeitung der Regelung für die ständige Ausreise wurde nach der Politbürositzung eine Arbeitsgruppe von je zwei Obristen aus MdI und MfS beauftragt. Nicht überall im MfS wurde diese Entwicklun g positiv gesehen. Der Leiter der HA V I, die für die Paßkontrolle an der innerdeutschen G renze zuständig w ar, G eneralmajor Fiedler hatte schon zw ei Tage zuvor in einem Schreiben an seinen Vorgesetzten Neiber Bedenken angem eldet. Er bezog sich auf den Politbürobeschluß über das Reisegesetz vom 31. O ktober. Wenn „ im wesentlichen“ die bisher geltenden Abfertigungsbestimmungen beibehalten würden, dann seien w eder MfS noch Zollverwaltung und Verkehrswesen „ in der Lage, diese um fangreichen und aufw endigen Maßnahmen und A ufgaben durchzusetzen“ . 61 Um dem Rechnung zu tragen, kom mandierte daraufhin der Leiter der Hauptabteilung Kader und Schulung drei Mitarbeiter der HA IX (Untersuchung) als U nterstützung zu den Paßkontrolleinheiten der H A V I ab. 62 Term in: 1. Dezember. Diese Episode zeigt, daß in Teilen des MfS von den D imensionen der bevorstehenden Veränderung keine rechte Vorstellung existierte. Bedenkenträger aus „ technischen Gründen“ gab es auch auf der anderen Seite der Mauer. Bundeskanzler Kohl war durch Egon Krenz bereits am 26. Oktober in Kenntnis gesetzt worden, daß ein „Gesetz über die Reisefreiheit“ noch vor Weihnachten 1989 verabschiedet w erden würde. 63 U nd der 60 „Unverzügliche Visaerteilung für ständige Ausreise“, Anlage zu dem Schreiben von Neiber an Mielke vom 7.11.1989; BStU, ZA, Neiber 553, Bl. 5. 61 Schreiben von Fiedler an Neiber vom 4.11.1989; BStU, ZA, Neiber 224, Bl. 40 f. 62 Schreiben von Möller an die Leiter der Di ensteinheiten der HA IX vom 7.11.1989; BStU, ZA, HA IX 2467, Bl. 109 f. 63 Vgl. Vermerk über ein Telefongespräch von Bundeskanzler Kohl mit dem Staatsratsvor-

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Regierende Bürgermeister von Westberlin, Walter Momper, war durch Günter Schabowski am 29. O ktober über das geplante Reisegesetz inform iert worden. 64 D araufhin w ar beim Berliner Senat eine Projektgruppe „Vorbereitung auf einen verstärkten Besucher- und Reiseverkehr aus O stberlin und der DDR“ eingerichtet worden, die am 1. Novem ber erstm als zusam mentrat. 65 Wegen der spätestens ab Anfang Dezem ber zu erwartenden „300.000 Besucher aus der D DR“ w urde vom Senat eine Sperrung des Kurfürstendamm in Erw ägung gezogen. D as löste sofortigen Protest des Einzelhandelsverbandes aus: Die damit verbundene „abschreckende Wirkung“ auf das kaufkräftige Publikum w ürde gerade im Weihnachtsgeschäft zu empfindlichen Umsatzeinbußen führen. „Für 100 D M Begrüßungsgeld könne m an kaum etwas in der City kaufen. [...] Die meisten Besucher würden eher zum Schauen als zum Kaufen kommen.“ 66 So wurde vor der Ö ffnung der Mauer argumentiert. Doch Senat und Einzelhändler waren keine Hellseher, sondern sie schätzten die Lage nur realistisch ein. Nach der Veröffentlichung des Entwurfs für ein Reisegesetz w ar klar: Eine Lösung des Problem s von kurzen Besuchsreisen in den Westen würde in den nächsten Wochen kommen. Die Weichen dafür waren bereits gestellt.

7.3 Teilzulassung des Neuen Forums Das Politbüro traf auf seiner Sitzung am 7. November noch andere wesentliche Entscheidungen: Eine innenpolitische Weichenstellung bedeutete es, nun endlich die A nmeldung des N euen Forums entgegenzunehmen und damit die wichtigste Bürgerrechtsorganisation ansatzweise zu legalisieren. Das war der Übergang zu einer Politik der Liberalisierung, in der Organisationen der Zivilgesellschaft nicht mehr nur geduldet w erden, sondern in der ihnen ein legitimer Platz im politischen Leben eingeräumt wird. Warum gerade zu diesem Zeitpunkt eine Entscheidung, die noch eine Woche zuvor abgelehnt worden w ar? Es kam en m ehrere Faktoren zusam men: Erstens berichtete Krenz auf dieser Sitzung über sein G espräch mit Gorbatschow in Moskau, der die eindeutige Em pfehlung gegeben hatte, m it einer L egalisierung nicht so lange zu zögern, bis sich die Bürg errechtsinitiativen zu Gegnern des Systems als Ganzem entwickelt haben würden. Zugleich m ag in dieser Beziehung auch eine Rolle gespielt haben, daß die Noch-Blockpartei LDPD, die sitzenden Krenz am 26.10.1989, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit (1998), S. 468 f. 64 Vgl. Momper: Grenzfall (1991), S. 106 f. 65 „Beauftragte sprechen über Ost-Besucher“, in: Berliner Morgenpost 2.11.1989. 66 „Sperrung des Kurfürstendamms wegen hoher DDR-Besucherzahlen möglich“, in: Der Tagesspiegel 9.11.1989; vgl. auch „ Senat schlägt BVG-Fahrten in die DDR und nach Ostberlin vor“, in: Der Tagesspiegel 4.11.1989; „So soll der Ansturm von ‚drüben‘ bewältigt werden“, in: Berliner Morgenpost 8.11.1989.

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schon seit Wochen um ein eigenes Profil bem üht war, deutliche Avancen in Richtung der Bürgerrechtsbew egung machte, um sie vielleicht als Verstärkung für die eigenen Reihen zu gew innen. Das wäre dann bereits ein erstes, dieser Phase an sich noch fremdes Element politischer Konkurrenz. Zweitens war die bedrückende wirtschaftliche Lage nach dem Bericht vom 30. Oktober nicht mehr länger zu verdrängen und dam it auch die A bhängigkeit von ökonomischer Unterstützung durch die Bundesrepublik. Das engte den Handlungsspielraum hinsichtlich repressiver Manöver weiter ein. Zugleich verstärkte die Bundesregierung den Druck, weil sie die politische Schwäche von Krenz und Genossen im mer deutlicher sah. In einem Gespräch mit Schalck hatte Minister Seiters am V ortag „ keinen H ehl daraus [gemacht], daß es nach der ‚Sonnabend-Veranstaltung‘ in Berlin [der D emonstration am 4. November] große Zurückhaltu ng seitens der verantwortlichen Politiker der Regierungskoalition gäbe“ . 67 Solche Zurückhaltung bezog sich natürlich auf die Bereitschaft, höhere wirtschaftliche Unterstützung zu leisten. Es gehe, überm ittelte Schalck den Inhalt der Argum entation, um eine „ Verfassungsänderung“ m it dem Ziel, „ die führende Rolle der SED durch eine konstruktive, dem Sozialism us und der DDR dienende Zusammenarbeit im K onsens aller dem okratischen Kräfte neu auszugestalten“. 68 Am folgenden Tag, dem 7. November, wurde Minister Seiters in einem Telefongespräch unter Berufung auf den Bundeskanzler noch fordernder: Es sei nur dann mit Unterstützung zu rechnen, wenn Krenz als Staatsratsvorsitzender öffentlich erklären würde, „ daß die DDR bereit ist, die Zulassung von oppositionellen Gruppen und die Zusage zu freien Wahlen in zu erklärenden Zeiträumen zu gewährleisten“. 69 Damit verließ die Bundesregierung ihre bisherige Linie der N ichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR und m achte erstmals die Legalisierung der Opposition zur Bedingung für wirtschaftliche Hilfe. 70 Das war eine bedeutende V eränderung der Entscheidungsparameter des Ü bergangsregimes. Bis dahin konnten die Machthaber damit rechnen, daß die Bundesregierung aus Furcht vor einem repressiven Rückschlag – entgegen der offiziellen SED -Propaganda – kein Interesse an einer Destabilisierung der DDR hatte. Als Erklärung für den aktuellen Kurswechsel des Politbüros kann diese Mitteilung allerdings nicht dienen, weil sie dafür einen Tag zu spät eingetroffen ist. Es kam noch ein dritter Aspekt hinzu: die interne Lageeinschätzung des 67 Vermerk von Schalck über ein informelles Ge spräch mit Rudolf Seiters und Wolfgang Schäuble am 6.11.1989; dokumentiert in: Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 483–486, hier 485. 68 Ebenda. 69 Schreiben von Schalck an Krenz vom 7.11.1989, dokumentiert in: ebenda, S. 486 f. – Am Vorabend, dem 6. November, waren Bundeskanzler Kohl und die Bundesminister Schäuble und Seiters bei einer Beratung zum „Bericht zur Lage der Nation“ übereingekommen, diese Forderungen aufzunehmen; vgl. Faksimile der ergänzenden Textpassage in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit (1998), S. 491. 70 Vgl. Korte: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft (1998), S. 461–463.

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SED-Apparates. Es ist bereits deutlich geworden, daß die Politbürokraten von der D emonstration am 4. November, an der auch viele SED-Mitglieder in durchaus kritischer Absicht teilgenommen hatten, höchst beeindruckt waren. D ieses D emonstrationsfestival stand in krassem Widerspruch zu der Stimmung in den eigenen Reihen. A us der Partei w urde berichtet über „Abwartehaltungen und Forderungen nach klaren konzeptionellen O rientierungen durch die Parteiführung sow ie Zweifel und Mißtrauen zur erfolgreichen und dauerhaften Wende und zur Arbeit des Politbüros“. 71 Selbstverständlich gab es auch G enossen, denen die „ Wende“ bereits zu weit ging. Aber sie waren selbst parteiöffentlich in der Minderheit. Ein Beispiel soll dennoch genannt w erden. In einem Bericht zur „Stimmung der Bevölkerung“ wurde eine ehem alige Parteisekretärin zitiert, die „ vor kurzem von ihrer Funktion entbunden“ worden war: „Was jahrzehnt elang ri chtig gewesen sein sol l, könne doch pl ötzlich ni cht falsch sein. Man könne doch ni cht zulassen, daß t ausende Menschen auf di e Straße gehen und reden, wie ihnen ‚der Schnabel gewachsen ist‘. [...] W o solle d iese ‚Po litik d es Ex tremen‘ n ur n och hinführen, man ‚verlange die Köpfe‘ der Politiker, die letztendlich ‚dafür gekämpft haben, was wir h eute sind‘.“ 72

Diese Äußerung zeigt, daß auch der ideologisch harte K ern der A nhänger des Regimes durch die politische Entwicklung nicht mobilisiert, sondern nur noch frustriert wurde. Darin zumindest bestand eine fraktionsübergreifende Gemeinsamkeit. V on der A bteilung Parteiorgane im Zentralkomitee wurde in einer Information zur aktuellen Lage gemeldet, daß das Neue Forum „bei nicht wenigen Genossen“ zunehmend Unterstützung finde: „Verbreitet wird die Legalisierung des ‚Neuen Forums‘ als Probe für den Willen der SED zur revolutionären Erneuerung des Sozialism us betrachtet.“ 73 Diesen Willen aber wollte m an unbedingt glaubhaft verkörpern, war das doch die Voraussetzung dafür, die eigene, in Lethargie verfallene A nhängerschaft 74 zu m otivieren und damit die ersehnte „politische Offensive“ einzuleiten. Am 6. November entwarf der Leiter der A bteilung Sicherheitsfragen, Wolfgang H erger, in A bsprache m it D ickel und Mielke einen Entwurf für 71 „Information zur aktuellen politischen Lage in der DDR“ vom 30. 10.1989, Vorlage von Horst Dohlus; Anlage zum Arbeitsprotoko ll der Politbürositzung am 31.10.1989, 11 S., hier S. 4 f.; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3252. Hinweise zur Stimmung/Reaktion der Bevölkerung“ vom 72 AKG der HA XXII: „ 8.11.1989; BStU, ZA, HA XXII 5366/52, Bl. 28 f. 73 Abt. Parteiorgane des ZK der SED : „Information über die aktuelle politische Lage in der DDR“ vom 6.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 7834, Bl. 3–7, hier 7. 74 Aus Potsdam etwa meldete die Staatssicherheit, daß „Mitglieder der Partei sowie der Partei und ihren Idealen verbundene Werktät ige“ den „Eindruck [hätten], daß sich die Partei selbst aufgegeben habe“. BV Potsdam: „Erkenntnisse zu weiteren Aktivitäten, Zielen und Absichten oppositioneller Sammlungsbewegungen“ vom 6. 11.1989; BStU, ASt Potsdam, AKG 617, Bl. 212–224, hier 216.

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eine neue Politbüroentscheidung in dieser Sache. Sie verkehrte die von ihnen selbst eine Woche zuvor eingebrachte Beschlußvorlage ins Gegenteil. „Unter Berücksichtigung der Veränderungen“, die seither eingetreten waren, sollten nun „die zuständigen staatlichen Organe“ Anmeldungen von Bürgerrechtsorganisationen – im Text neutral als „ Vereinigungen“ bezeichnet – „entgegennehmen“. 75 Bestätigt werden sollten sie allerdings nur, wenn „ die Verfassung als Grundlage des politischen Handelns ausdrücklich anerkannt wird“. Dieser Beschluß wurde auf der Politbürositzung bestätigt und am folgenden Tag einem Plenum des Zentralkom itees vorgetragen. 76 In der Diskussion wurde der Vorschlag kritisiert, durch „ die gezielte Mitwirkung von Genossen in den entstehenden Vereinigungen“ Einfluß zu nehmen, „um vor allem V erfassungstreue zu sicher n und antisozialistischen Tendenzen entgegenzuwirken“. Das sei, wenn es bekannt werden sollte, „ nicht günstig“. 77 In der Endfassung, die anschließend an die Führungska der auf Bezirks- und Kreisebene geschickt w urde, w urde dieser Passus gestrichen. 78 Die Lücke, die dadurch entstand, mit Hilfe ihrer inoffiziellen Mitarbeiter zu schließen, machte sich noch am gleichen Tag die Staatssicherheit zur Aufgabe. Darauf wird zurückzukommen sein. Aus der damaligen Perspektive ihrer Teilnehmer betrafen die wichtigsten Tagesordnungspunkte bei der Politbürositz ung am 7. Novem ber sicherlich das kommende ZK-Plenum: Eine Neuwahl von Politbüro und ZK-S ekretären stand an, und ein „ Aktionsprogramm“ sollte verabschiedet werden. Die Grundlinie war: weitgehende Kontinuität im Führungspersonal und erhebliche programmatische Zugeständnisse in Richtung der Perestroika, wie sie in der nun wieder als Vorbild rehabilitierten Sowjetunion praktiziert wurde. Betrachtet man die Entscheidungen dieser P olitbürositzung im Zusam menhang, so handelte es sich zwar um keine in sich stim mige, längerfristig durchdachte Strategie, aber doch um einen umfassenden Katalog taktischer Maßnahmen zur Wiedergewinnung politischer Stabilität. Erstens hinsichtlich der Opposition: Die Ausreisewilligen, gewisserm aßen die „ Opposition A“, erwartete man als unruhiges Ferment bald loszuwerden. Die Bürgerrechtler, die „Opposition B“, hoffte m an durch die Verbindung von Halb-Legalisierung und Verpflichtung auf die V erfassung zu integrieren, zum indest aber zu spalten und damit zu schwächen. Zweitens. Der breiten Mittelgruppe der bisher mehr oder weniger loyalen Bürger hatte man mit der Bekanntgabe des Reisegesetz-Entwurfes eine wichtige Konzession gemacht. Die Zu75 Wolfgang Herger: „Vorschlag für einen Beschluß des Politbüros“ vom 6.11.1989; Anlage zum Arbeitsprotokoll des Politbüros vom 7.11.1989; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2A/3255. 76 Protokoll der 10. ZK-Tagung 8. –10.11.1989, in: Hertle u. Ste phan (Hrsg.): Das Ende der SED (1997), S. 135–437, hier 197 f. 77 So Herbert Krolikowski, ebenda, S. 202. 78 Anlage 3 zum Protokoll der Politbürositz ungen vom 8.–10.10.1989; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2/2359; mit Begleitschreiben von E. Schwertner, Leiter des Büros des Politbüros, an die Abteilungsleiter des ZK vom 9.11.1989; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2039/314, Bl. 46–48.

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lassung des Neuen Forum s, die weit über die Kreise der Opposition hinaus gefordert worden war, bedeutete auch in dieser Richtung ein Zugeständnis. Und der Rücktritt der Regierung Stoph personalisierte das Problem – was unvermeidlich war – und schien es zugleich w enigstens ansatzweise zu lösen. Hinsichtlich der eigen en Basis beseitigte m an drittens mit der Rückgewinnung zumindest verbaler H armonie zw ischen sow jetischer und SED Politik eine Ursache schwerwiegende r Identitätsstörungen. All das aber reichte nicht zur Stabilisierung der Situation, das stellte sich bald heraus. Vor allem erw ies sich das V orziehen von Teilen des Reisegesetzes als ein Manöver, das eine ganz eigene Dynamik entwickelte.

7.4 „Zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise...“ Die Frage, was eigentlich am 9. November 1989 passiert ist, bedarf in einigen Punkten noch der K lärung. Schon bald nach diesem Ereignis m achte angesichts des offenkundigen Chaos in den Entscheidungszentralen des Regimes an jenem A bend die V ermutung die Runde, es habe sich um einen „historischen Irrtum“ gehandelt. 79 D ie Partei- und Staatsakteure haben dagegen darauf bestanden, sie hätten sehr wohl gewußt, was sie taten – nur der ursprüngliche Zeitplan sei etw as ins Rutschen geraten. Andere wiederum – vornehmlich in Bürgerrechtskreisen – vermuteten, man sei Zeuge eines perfiden Manövers der Machthaber geworden, m it dem der innergesellschaftliche Druck nach außen abgeleitet werden sollte. Inzwischen ist zu diesem Them a eine detaillierte historische Untersuchung erschienen, die viele Fragen geklärt, aber doch m anches offengelassen hat. 80 G eklärt ist der grundsätzliche G ang der Entscheidungsfindung: daß es sich um keine geplante Aktion handelte, sondern eine Kette von Entscheidungen und Ereignissen, die von den Akteuren in ihren jeweiligen Konsequenzen nicht überblickt w urden. D ie U ninformiertheit und Verwirrung etwa bei der NVA und den für die Grenzsicherung unm ittelbar zuständigen G renztruppen hätte größer nicht sein können. Noch nicht zufrieden79 So Schnibben im U ntertitel zu seiner preisgekrönten Reportage; Schnibben: „Diesmal sterbe ich, Schwester“ (1990). 80 Die Darstellungen von Hertle basieren zu einem erheblichen Teil auf den gleichen verschriftlichten Quellen wie dieses Kapitel. (Er hat allerdings noch eine Fülle von Interviews mit Zeitzeugen geführt. ) Es soll deshalb ein genereller Verweis auf die beiden Publikationen dieses Autors genügen, von de m ich hinsichtlich der Umstände und des Ablaufs der Maueröffnung viel gelernt habe, auch wenn ich mit seiner Interpretation nicht in allen Punkten übereinstimme. Im folgenden wird nur dort auf diese Publikationen verwiesen, wo Hertle Quellen nutzte, die mir ni cht vorlagen, oder wo er eine überraschende neue Interpretation präsentiert. Vgl. Hertle: Chronik (1996); ders.: Fall der Mauer (1996). Als eigene Vorarbeiten vgl. Süß: Weltgeschichte (1990); ders.: Fall (1997).

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stellend erhellt oder zumindest in einzelnen Aspekten strittig scheint die Beantwortung folgender Fragen: Wie ist die Maueröffnung in die politische Entwicklung jener Wochen einzuordnen? Welche Rolle spielte die Staatssicherheit? Wie wurde von den Machthabern reagiert, als sichtbar w urde, was in Gang gekommen war? Entscheidend für die Beantw ortung des zentralen Problems – Versehen oder A bsicht – ist die Tätigkeit jener kleinen A rbeitsgruppe, die, w ie erwähnt, m it der A usarbeitung einer V orlage für das ZK beauftragt w orden war. 81 Die Einschätzung der Bedeutung dieser A rbeitsgruppe hängt von einem Punkt ab: Sollte von ihr eine Lösung für das Problem Reisen und ständige Ausreise gefunden werden oder nur für letzteren Aspekt? Wollte m an nur die Ausreisewilligen auf direktem Wege loswerden, oder wollte m an allgemeine Reisefreiheit einführen? Das Protokoll der Politbürositzung vom 7. November – und ebenso die zuvor erw ähnten V erhandlungen m it der SSR und dem sowjetischen Botschafter – scheint eindeutig zu belegen, daß allein zur vorfristigen Lösung des Problem s der ständigen Ausreise ein Auftrag erteilt worden war. Teilnehm er an dieser Sitzung bestreiten das jedoch vehement: Krenz, Schabowski und H erger erklären übereinstimmend, es sei eine V erordnung in A uftrag gegeben w orden, die Reisefreiheit in allen ihren Aspekten vorbereiten sollte. 82 A ndere Zeitzeugen, Mitglieder dieser Arbeitsgruppe, bestreiten w iederum genau das. 83 Wenn die Zeitzeugen sich widersprechen, bleibt nur der Rekurs auf die schriftlichen Quellen. Die Arbeitsgruppe bestand aus zwei MfS-Offizieren: Oberst Udo Lemme, dem Leiter von Mielkes Rechtsstelle, und O berst H ans-Joachim K rüger, 1. stellvertretender Leiter der H auptabteilung VII (Überwachung des MdI), und zwei Hauptabteilungsleitern im Innenministerium: Oberst Gerhard Lauter vom Paß- und Meldewesen, zuständig für touristische Reisen, und Generalmajor Gotthard Hubrich, Hauptabteilung für Innere Angelegenheiten und damit im MdI zuständig für A usreiseangelegenheiten. D ie V ier gingen am Morgen des 9. November mit Unterlagen bewaffnet (die uns jetzt zur Beweissicherung dienen sollen) in ihre Sitzung, die im Innenministerium in der Mauerstraße stattfand: D ie beiden MfS-V ertreter hatten das Papier vom 7. November über die „ Unverzügliche V isaerteilung für ständige A usreise“ 84 dabei, an dem einer von ihnen, O berst Lemme, höchstwahrscheinlich selbst m itgearbeitet hatte. 85 D ie MdI-V ertreter, denen dieser Text bekannt 81 Auf die Existenz der Arbeitsgruppe hat ers tmals Schnibben hingewiesen, ihr jedoch etwas übertriebene Bedeutung zugemessen; Schnibben: „Diesmal sterbe ich, Schwester“ (1990). 82 Vgl. Krenz: Wenn Mauern fallen (1990), S. 164; Schabowski: Der Absturz (1991), S. 305 f.; Interview mit Wolfgang Herger, in: Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 337 f. u. 347. 83 Vgl. Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 347. 84 BStU, ZA, Neiber 553, Bl. 5. Schnibben erwähnt den Titel dieses Papiers in seinem 1990 veröffentlichten Artikel. Da die Archive seinerzeit noch nicht zugänglich w aren, kann er die Information nur von einem Teilnehmer, wahrscheinlich Gerhard Lauter, erhalten haben. 85 In seinem Begleitschreiben an Mielke hatte Neiber berichtet, daß die Rechtsstelle an der Ausarbeitung beteiligt gewesen war. Die Stelle hatte damals nur zwölf Mitarbeiter. Wich-

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war – sie hatten ihn passagenw eise übernommen –, brachten einen Entw urf für eine Pressem itteilung mit. 86 Die entscheidende Differenz zwischen beiden Papieren bestand im ersten A bsatz des MdI-Entw urfs, der ein neues Element einführte, das eine inhaltliche Vorwegnahm e des ReisegesetzEntwurfs bedeutete. „ Privatreisen nach dem A usland“, w urde vorgeschlagen, „können ohne V orliegen von V oraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. D ie G enehmigungen w erden kurzfristig erteilt.“ 87 Gerhard Lauter berichtet, er habe in der V ierergruppe diese Erw eiterung mit einem einleuchtenden Argument begründet: „Wir sollten eine Regelung finden für denjenigen Bürger, der das Land für im mer verlassen will, aber denjenigen, der m al eben seine Tante besuchen will, nicht rauslassen? Das wäre doch schizophren gew esen!“ 88 Wäre es über diese Erweiterung zu einem Konflikt gekommen, dann wären die MfS-Vertreter wohl die Stärkeren gewesen: Über ihren Minister hatten sie einen direkten D raht ins Politbüro, und zudem standen die MdI-O ffiziere in einem spezifischen U nterlegenheitsverhältnis: Beide waren lange Jahre als inoffizielle Mitarbeiter jener MfSAbteilung, der H A V II, verpflichtet gew esen, die einer ihrer G esprächspartner leitete. 89 Doch wahrscheinlich hat dieser Punkt gar keine großen D ebatten ausgelöst, weil sich die MdI-V ertreter fü r ihr V orhaben bereits Rückendeckung geholt hatten. Friedrich D ickel und Wolfgang H erger hatten der „ MdIFassung“ zugestimmt. 90 Das bedeutet: Die Ausweitung des sc hriftlichen Politbüro-Auftrages, eine Regelung für die ständigen A usreisen, auch auf touristische Reisen, wurde – freilich noch nicht endgültig – bereits im Innentige rechtliche Stellungnahmen wurden in der Regel von Lemme selbst abgezeichnet. 86 G. Lauter hat die Frage, ob er mit einer „ fertigen Vorlage“ in die Besprechung gegangen sei, verneint (in: Hertle: Fall der Mauer [1996] , S. 329). So muß dieses Papier aber auch nicht verstanden werden. Daß es am Vortag im MdI Absprachen gegeben hatte, hat er bestätigt. Entwurf der Pressemitteilung: BStU, ZA, Neiber 553, Bl. 28 (künftig: „MdI-Fassung“). 87 MdI-Fassung, Bl. 28. – Hertle zitiert ebenfalls ausführlich diese beiden Papiere, hat j edoch meines Erachtens die Frage ihrer j eweiligen A utorschaft, die zeitliche Abfolge ihrer Entstehung und die Unterschiede zwisch en ihnen (er spricht bezüglich der MdIFassung vom „ Entwurf einer fast wortgleichen Presseerklärung“ der „ Obristen“) in seiner Interpretation nicht genügend berücksichtigt (Hertle: Fall der Mauer [1996] , S. 218 f.). Dadurch wird der jeweilige Beitrag von MdI und MfS nicht hinreichend deutlich. 88 Zitiert nach Schnibben: „ Diesmal sterbe ich, Schwester“ (1990), S. 104. Sinngemäß ebenso in dem Interview Hertles mit Lauter, Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 328. 89 Vgl. Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 217. 90 In einem Begleitschreiben zu diesem Dokum ent schrieb Gerhard Niebling, der Leiter der ZKG, an seinen Vorgesetzten Neiber mit Datum vom 9. 11.1989: „ Beiliegend die MdIFassung der ADN-Meldung, die vom Genossen W. Herger bestätigt worden ist. Genosse Dickel will mit Genossen Fischer abstimmen und bittet um ihre Zustimmung. “ Die Frage ist natürlich, wann dieses Papier entstanden is t. Es ist nicht anzunehmen, daß das während der etwa dreistündigen Sitzung g eschah, sonst hätten die vier Herren gleichzeitig zwei Papiere gefertigt: eine „ MdI-Fassung“ und ein gemeinsames Papier. Danach aber hätte es keinen Sinn mehr gemacht. Also kann es nur zuvor geschrieben worden sein. Schreiben von Niebling an Neiber vom 9.11.1989 mit Anlagen; BStU, ZA, Neiber 553, Bl. 27–29.

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ministerium vorgenommen. Ihr lag verm utlich eine Vora bsprache zwischen Lauter und H ubrich zugrunde. 91 Der schriftliche Entwurf wurde entweder am 8. oder am frühen Morgen des 9. November gefertigt. A ls die beiden MfS-Obristen mit der „ MdI-Fassung“ bekannt gem acht w urden, lag dazu die Zustimmung des Innenministers vor, des Leiters des Sektors MdI in der Abteilung Sicherheitsfragen des ZK, Gerhard Hötling, und durch ihn auch von Herger. 92 Angesichts dieser K onstellation und des Gewichts der Argumente ihrer G esprächspartner vom Innenministerium scheinen Lemme und Krüger nicht lange gezögert zu haben, holten sich aber – während sie weiter an einem endgültigen Papier arbeiteten – bereits Zustimmung von oben, von Generalmajor Niebling, dem Leiter einer in diesem Bereich besonders wichtigen MfS-A bteilung, der Zentralen Koordinierungsgruppe, der w iederum seinen Vorgesetzten, Generalleutnant Neiber, informierte. 93 Schließlich kam en zw ei w eitgehend deckungsgleiche Papiere zustande: eine „Beschlußvorlage“, als deren offizieller Autor der Ministerrat firmierte, und eine „Pressemitteilung“, die ADN zugeschrieben wurde. 94 In den insgesamt vier inhaltlichen Punkten waren beide Dokum ente identisch. Der erste Punkt wurde wörtlich aus der MdI-Fassung übernommen: „1. Privatreisen nach dem Ausl and können ohne Vorl iegen von Vorausset zungen (R eiseanlässe und Verwandt schaftsverhältnisse) beant ragt werden. Die Genehm igungen werden kur zfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt.“

Bei dem zweiten Punkt, betreffend die Fluchtbewegung, wurde die vorsichtigere MdI-Version verworfen. Dort war ebenfalls vorgeschlagen worden, daß ständige A usreisen „ beantragt“ w erden könnten und „ Genehmigungen [...] kurzfristig erteilt“ würden. Sta tt dessen griff m an auf das MfS-Papier mit seinen deutlicheren Formulierungen zurück: „2. Die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der VPKÄ [Volkspolizeikreisämter] in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dafür noch geltende Voraussetzun91 Lauter berichtet: „ Mit H ubrich habe ich mich vorabgestimmt. Er war glücklich, daß er nun seine Probleme in der DDR lösen konnte, daß es großzügig ’rausgehen sollte und er diesen entsetzlichen Druck los war.“ In: Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 328. 92 Vgl. einen „ Vermerk“, offenkundig des MdI, vom 9.11.1989, Anlage zu dem Schreiben von Niebling an Neiber vom 9.11.1989; BStU, ZA, Neiber 553, Bl. 29. 93 Niebling an Neiber: „Ich schlage in Abstimmung mit der HA VII und der Rechtsstelle“ – Leiter dieser beiden Abteilungen saßen in der Vierergruppe – „ vor, diesem Entwurf zuzustimmen.“ Als Anlage reichte er die MdI-Fassung weiter, die nicht mit der Endfassung identisch war. Ebenda, Bl. 27 f. 94 Willi Stoph: „Vorlage für das P olitbüro des Zentralkomitees der SED. Betreff: Zeitweilige Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreise aus der DDR“ vom 9.11.1989; BA Berlin, C 20 I/3-2867, Bl. 57–60.

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gen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen.“ 95 Die Punkte 3 und 4 – A usreise über alle G renzübergangsstellen und keine Ausreise mehr über Drittstaaten – wu rden ebenfalls aus dem MfS-Papier übernommen. Ein neues Element, das in beiden V orlagen nicht enthalten gewesen w ar, kam hinzu: D as ganze Regelw erk w urde im Vorspann als „zeitweilige Übergangsregelung“ deklariert. 96 Daran ist eine gew isse Unsicherheit der Autoren ablesbar, denn wer auch immer sonst Zustimmung signalisiert hatte, ohne einen neuerlichen förm lichen Politbürobeschluß in dieser Sache bewegten sie sich auf schwankendem Boden. Vermutlich kam die Relativierung auf Initiative der MfS-Vert reter hinein, die für dieses Vorhaben im eigenen Ministerium noch keine Rückendeckung hatten. 97 Das Endprodukt all ihrer Bem ühungen wird m an nicht als Kom promiß bezeichnen können, denn es gibt kein A nzeichen für einen K onflikt. Es w ar vielm ehr eine erneute K ombination eines sinnw idrig auseinandergerissenen, ursprünglich aber zusammengehörigen Konzepts. Dieses Konzept war freilich keineswegs m it der Praxis identisch, die zwölf Stunden später um sich greifen sollte. Es war der Versuch zur Einführung bürokratisch geregelter Reisefreiheit unter Wahrung der Staatsautorität ab dem Morgen des 10. N ovember 1989. Tatsächlich kam es anders. U m das zu verstehen, muß man das weitere Schicksal dieser Vorlage betrachten. Sie wurde auf zw ei verschiedenen K anälen die Partei- und Staatshierarchie hinaufgeschickt. D ie form ell notw endige Zustim mung der Mitglieder des Ministerrates sollte im Um laufverfahren eingeholt werden. Hier hätte das MfS, wenn seine Leitung es denn gewollt hätte, noch einmal die Möglichkeit gehabt, die A ngelegenheit abzublocken, denn organisiert wurde dieses Umlaufverfahren von Staatssekretär Möbis, im Ministerrat der ranghöchste MfS-Offizier im besonderen Einsatz (OibE). 98 Aber nichts dergleichen wurde versucht. Auf der Parteischiene w urde ein Teil der Mitglieder des Politbüros während einer Raucherpause am Rande des ZK -Plenums inform iert. D ie eher beiläufige Behandlung dieses Problem s ist aus der Situation zu erklären, in 95 Ergänzt wurde dieser Punkt noch durch einen inhaltlich aus dem MdI-Papier übernommenen Gedanken in neuer Formulierung: „ Die Antragstellung für ständige Ausreise ist wie bisher auch bei den Abteilungen Innere Angelegenheiten [die dem MdI unterstellt waren, aber von MfS-OibE dirigiert wurden] möglich.“; „Pressemitteilung“, ebenda, Bl. 60 (Hv. – W.S.). 96 Das MfS-Papier hatte diesen Aspekt überh aupt nicht erwähnt. Die MdI-Fassung war als Anwendungsbestimmung zur Reiseverordnung vom November 1988 „ bis zum Inkrafttreten des neuen Reisegesetzes“ deklariert. 97 In dieser Vermutung bestärkt mich ein Telefongespräch, das ich im Oktober 1990 mit Udo Lemme, dem ehemaligen Leiter der MfS-Rechtsstelle und Teilnehmer an der Vierergruppe, geführt habe. Auf die Frage nach Kompetenzüberschreitungen wies er sehr nachdrücklich darauf hin, daß es sich um eine vorübergehende V orwegnahme einer bereits gebilligten Regelung gehandelt hätte. 98 Das Begleitschreiben zu dem „ Umlauf“ ist unterzeichnet von Möbis; BStU, ZA, Rechtsstelle 101, Bl. 42.

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der sich die SED-Führung damals befand. Sie w ar an diesem Tag außerordentlich beschäftigt, denn auf dem Plenum wurde ein Program m für die künftige Reformpolitik diskutiert. Das war wichtig genug. Hinzu kam aber noch, daß sie gerade den Zusam menbruch ihrer innerparteilichen Autorität erleben mußte. Das Zentralkomitee hatte am Vortag ein neues Politbüro gewählt, in dem sich erheblich m ehr alte als neue N amen fanden. Das hatte in Untergliederungen der Partei zu einem Sturm der Entrüstung geführt. So war man gezwungen, einige neugew ählte alte Mitglieder gleich w ieder und diesmal endgültig abzusetzen. Man m uß die Struktur regierender Kom munistischer Parteien vor Augen haben, um zu verstehen, w as das bedeutete. Dort hatte sich die Führung im mer durch Kooptation ergänzt. Auch das galt nun nicht m ehr: Mehr als ein Drittel der ursprünglich geplanten Politbüromitglieder scheiterte während des Plenum s. Insofern ist es vielleicht verständlich, daß die führenden G enossen an diesem Tag andere Sorgen hatten und dem Entwurf, der ihnen von staatlicher Seite zugereicht worden war, nicht sehr viel Aufm erksamkeit schenkten. Das Wesentliche m einten sie ja zu kennen: Wie schon im Entwurf des Reisegesetzes gestanden hatte, sollte künftig, wer ausreisen wollte, direkt und ohne Kom plikationen in das Land seiner Träume gehen können. Vor den ZK-Mitgliedern gab dann Egon K renz in A bweichung v on der Tagesordnung das V orhaben bekannt. 99 Er führte es unter dem Titel „Beschluß zur Veränderung der ständigen A usreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die SSR“ ein, der das H auptmotiv zw ar zutreffend benannte, hinsichtlich seines Um fangs jedoch irreführend war. Dennoch steht außer Zweifel, daß die A nwesenden über alle Teile dieses Beschlusses informiert wurden und das Gehörte auch wahrgenommen haben. Das belegt eine kurze Debatte über die Streichung der Worte „ zeitweilig“ und „Übergangsregelung“. Will m an die ZK-Mitglieder nicht für unzurechnungsfähig halten, so muß man davon ausgehen, daß sie diesen Beschluß, dem sie per Akklamation zustim mten, so auch gewollt haben. Als kurzfristige Realisierung wesentlicher Teile des geplanten Reisegesetzes begriffen haben sie es freilich nicht, wie sie auch seine weiteren Konsequenzen nicht vorhergesehen haben. 100 Ein Widerspruch war den Anwesenden allerdings offenbar nicht aufgefallen: In dem verle senen Papier w urde als Term in der „10. November“ genannt, w ährend K renz davon sprach, „ daß der Regierungssprecher das 99 Wortprotokoll der 10. ZK-Tagung vom 8.–10.11. 1989, in: Hertle u. Stephan (Hrsg.): Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees (1997), S. 135–437, hier 303 f. Das parteioffizielle Protokoll dieser ZK-Tagung: BStU, ZA, SdM 398. 100 Ein eindeutiges Indiz dafür ist, daß d er Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, Otto Reinhold, sicherlich ein Teilnehmer an dieser Tagung, der fähig war, Zusammenhänge zu begreifen , geraume Zeit nach der Verlesung des Reisebeschlusses durch Krenz (aber noch vor Schabowskis Pressekonferenz) auf das Reisegesetz vom 6. November zu sprechen kam, es kritisierte, aber mit keinem Wort erwähnte, daß es sich inzwischen politisch erledigt hatte. Vgl. ebenda, S. 333.

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gleich macht“. 101 Anschließend wurde dann aber Schabow ski damit beauftragt, den Beschluß bei seiner Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße bekanntzugeben. Er jedoch w ar w ährend des ZK-Plenums beschäftigt gewesen und hatte die Ausweitung der vorfristigen Reiseregelung offenbar nicht mitbekommen. 102 Zudem w ar er auch noch mit anderen Dingen beauftragt, die aus der Sicht eines Parteikaders vielleicht wichtiger waren: die Bekanntgabe der Beratungen über ein „ Aktionsprogramm“, vor allem aber, daß das Zentralkom itee entgegen dem Drängen der Parteibasis, einen Sonderparteitag einzuberufen, beschlossen hatte, sich nur auf eine Parteikonferenz einzulassen. D as klang wie eine marginale sprachliche Differenz, tatsächlich war es ein Versuch aller Flügel in der alten Führung, ihre Position zu retten, weil ein Parteitag mit Neuwahlen der Leitungsgremien sie hätte hinwegfegen können. Doch zurück zu dem Beschluß über die Grenzöffnung: Für die Eskalation der Ereignisse w ar entscheidend, daß Schabow ski auf der Pressekonferenz bekanntgab, diese neue Regelung gelte „ ab sofort, unverzüglich“ 103 . Es sei – wurde behauptet 104 – Schabowskis Irrtum gewesen, nicht darauf hingewiesen zu haben, daß die neue Regelung erst ab dem 10. November 4.00 Uhr gelte. D as hat vor allem Egon K renz betont, 105 Schabowski selbst hat es entschieden bestritten: „Aber davon war in dem Papier keine Rede.“ 106 Welchem Papier? D ie Ministerratsvorlage „ VVS b2-937/89“ enthielt zwei Anlagen: den „Beschluß“ des Ministerrates und eine „ Pressemitteilung“ von ADN. 107 Beide Papiere unterschieden sich nur in zw ei Punkten: im Vorspann und darin, daß in der „Pressem itteilung“ die Sperrfrist 10.11. fehlte. Als Schabowski gegen Ende der Pressekonferenz die neue Regelung verlas, ging er ursprünglich über den Vorspann hinweg. Auf eine Nachfrage hin aber zitierte er die ersten Zeilen – aus der Pressemitteilung. 108 Das b edeutet, Krenz hatte Schabowski am Rande des ZK -Plenums für seinen A uftritt nicht den Beschluß, sondern diese Pressem itteilung mitgegeben, was ja auch eine gewisse Logik hatte. Ohne zusätzliche Inform ation konnte Schabowski von der Sperrfrist nichts wissen. Die Fehlleistung geht auf das Konto desjenigen, der noch am nächsten Morgen verständnislos grummelte: 101 Ebenda, S. 305. 102 Vgl. Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 166–169. 103 Zitiert nach der Tonbandabschrift der entscheidenden Minuten dieser Konferenz, in: Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 170–172. 104 Diese These findet sich zuerst bei Schnibben: „ Diesmal sterbe ich, Schwester“ (1990), S. 107. 105 Krenz: Mauern (1990), S. 182. 106 Schabowski: Absturz (1991), S. 308. 107 „Regelung für Reisen und ständige Ausrei sen aus der DDR“ vom 9.11.1989; BA Berlin, C 20 I/3 -2867, Bl. 48–51. 108 Vgl. die Tonbandabschrift in: Hertle: Fa ll der Mauer (1996), S. 170–172, hier 171. Das als „ Schabowskis Zettel“ präsentierte Faksimile in: Hertle: Chronik (1996), S. 10, zeigt den „Ministerratsbeschluß“.

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„Mann Gottes, da hat uns jemand was eingebrockt!“ – Egon Krenz. 109 Es gab neb en der plötzlich entfallenen Sperrfrist noch ein zweites Problem, das zu folgenreichen Mißverständnissen führen sollte. Einer der Journalisten hatte gefragt: „Ohne Paß?“ 110 Um diese Frage beantworten zu können, hätte m an den Text der Pressemitteilung, die keinem der Anwesenden vorlag, genau studieren m üssen, denn dieses Wort kam dort nicht vor. A ber es w ar von „ beantragen“ und von „ Genehmigung“ bei „ Privatreisen“ die Rede. Dahinter verbarg sich die alte K onzeption von Paß und A usreisevisum, die soviel Unwillen ausgelöst hatte, zudem hatte bisher nur jeder vierte DDR-Bürger ein solches D okument. Entw eder hatte m an deshalb diese Reizworte verm ieden und vorsichtiger form uliert, oder ein entsprechender Hinweis w ar, w eil als selbstverständlich vorausgesetzt, schlicht vergessen worden. G ewiß aber hatten die A utoren nicht dam it gerechnet, daß selbst derjenige, der ihren Text öffentlich erörtern würde, ihn nicht versteht. Schabowski dazu: „Die Paßfrage kann i ch jetzt nicht beantworten (blickt fragend [...]). Das ist auch eine technische Frage. Ich weiß ja nicht, die Pässe m üssen ja, ... also damit j eder im Besitz ein es Passes ist, ü berhaupt erst m al au sgegeben werden. Wir wollten aber ...“ 111

Und dann wurde er schon mit der nächsten Frage bom bardiert. So blieb im Raum stehen: Pässe m üssen „erst mal ausgegeben werden. Wir wollten aber ...“ Eine weitere Zwischenfrage kam : „Wann tritt das in Kraft?“ Schabowski: „Das tritt, nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“ 112 Das blieb hängen – b ei den Journalisten und bald auch in der breiteren Öffentlichkeit. Mit Schabowskis wahrlich historischem Satz hat er den Run auf die Mauer eröffnet. Bereits kurz nach der Ü bertragung der Pressekonferenz im Fernsehen und nach aktuellen Nachrichten, die auf die Mitteilung verkürzt w aren, die Mauer sei offen, 113 machten sich die ersten auf den Weg, um zu gucken, was das zu bedeuten hatte. N ach jeder w eiteren Mel109 So zitiert von Schabowski in einem Gespräch mit d. Verf. im Oktober 1990. 110 Die Frage fehlt in der Abschrift der Videoaufzeichnung bei Hertle, offenbar war sie nicht verständlich; Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 171. Als Teilnehmer an dieser Pressekonferenz ist mir diese Frage, mit der ein Schlüsselproblem benannt w urde, noch im Ohr. Schabowskis Antwort bestätigt meine Erinnerung. 111 Zitiert nach Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 171. 112 Zitiert nach der Tonbandaufnahme des RIAS, in: Süß: Weltgeschichte (1990). 113 ADN übermittelte die vier Punkte der Pressemitteilung, inklusive des Vorspanns, der von „sofortiger Wirkung“ sprach, ohne Sperrfri st um 19. 04 Uhr; Bundespresseamt/DDRSpiegel 10.11.1989, S. 8 f. Die Meldung ist dort mit 19. 07 Uhr terminiert; laut telefonischer Auskunft von ADN-Dokumentation gegenüber dem Verf. im Oktober 1990 wurde sie um 19.04 Uhr verschickt. DPA meldete zur gleichen Zeit noch, es sei nur eine Ausreiseregelung in Kraft gesetzt worden: „ DPA – 19.04 Uhr. Von sofort an Ausreise über innerdeutsche Grenzstellen möglich. Von sofo rt an können DDR-Bürger direkt über alle Grenzübergangsstellen zwischen der DDR und der BRD ausreisen.“; BStU, ZA, Neiber 553, Bl. 26.

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dung in Radio und Fernsehen wurde der Strom breiter. Dammbruch Der Wegfall der Sperrfrist bei der Bekanntgabe der neuen Grenzregelung bedeutete, daß in den Ministerien für Inneres und für Staatssicherheit vorbereitete Informationen und Befehle für die untergeordneten D iensteinheiten dort noch immer lagen, als bereits die ersten Bürg er zu den G renzübergangsstellen kam en. A m stärksten unter D ruck standen bald die Grenzbewacher am Übergang Bornholmer Straße, nahe dem Bezirk Prenzlauer Berg, wo bereits kurz vor 20.00 Uhr die ersten ungeduldigen Ostberliner eintrafen, um Schabow ski beim Wort zu nehm en. 114 D ie Paßkontrolleinheit, die aus MfS-Offizieren der H A V I bestand, w ar von dem Ansturm überrascht. 115 Sie hatte keine Weisungen. Mehrere A nrufe bei ihrer Zentrale in BerlinTreptow verstärkten eher noch die Ratlosigkeit. A ls gegen 21.00 Uhr deutlich w urde, daß sie der ständig w achsenden Menschenmasse nicht mehr Herr bleiben w ürden, telefonierte ihr Leiter erneut m it der Zentrale. Der stellvertretende Leiter der H A V I, O berst Ziegenhorn, gab – nach Rücksprache mit Mielkes Stellvertreter Neiber – die Anweisung: „Die am aufsässigsten sind und die provokativ in Erscheinung treten, die laß raus. D enen macht ihr im Ausweis einen Stem pel halb über das Lichtbild – und die kommen nicht w ieder rein.“ 116 D ie ersten Bürger w urden unter Wahrung der Form – Kontrolle des Ausweises und Stempel – durch die Grenze gelassen. Doch das Vorhaben, die unwissentlich Ausgebürgerten nicht wieder zurückzulassen, erwies sich als undurchführbar, w eil der Protest dagegen bedrohlich w urde. 117 Tatsächlich w ar das der Riß, der in kurzer Zeit zum Dammbruch führte. Währenddessen war etwa um 21.30 Uhr ein Fernschreiben des stellvertretenden Innenministers Generaloberst Wagner verschickt worden, in dem unter Berufung auf den Ministerrat m itgeteilt wurde, daß „ Reise- und Ausreiseregelung mit sofortiger Wirkung in K raft gesetzt werden“. 118 Selbst wenn 114 Vgl. „ Information“ des MfS vom 10.11.1989 „über die Entwicklung der Lage an den Grenzübergangsstellen der Hauptstadt zu Westberlin sowie an den Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD“; BStU, ZA, Mittig 30, Bl. 96–106, hier 96 u. 100; Claus Dümde: Die längste Nacht, in: Neues Deutschla nd, 9.11.1990; Hertle: F all der Mauer (1996), S. 180–187. 115 Zu dem komplizierten Geflecht unterschiedlicher Hierarchien in den Grenzübergangsstellen, deren Bewacher sich aus MfS-, MdI-, Zoll- und NVA-Angehörigen zusammensetzten, vgl. Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 181 f. Zu ergänzen ist, daß der Chef der Zollverwaltung, Oberst Gerhard Stauch, ein MfS-Offizier im besonderen Einsatz war; vgl. Wer war wer? (1995), S. 705. 116 Zitiert nach dem Interview Hertles mit dem „Leiter Paßkontrolle“ der Paßkontrolleinheit Bornholmer Straße, Oberstleutnant Harald Jäger, in: Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 380–389, hier 384. Ebenso Dümde: Die längste Nacht (1990). 117 Vgl. Hertle: Chronik (1996), S. 166. Die These, es habe sich dabei um den Beginn einer breit angelegten Ausbürgerungsaktion gehandelt, habe ich an anderer Stelle ausführlich kritisiert; Süß: Fall (1997), S. 451 f. 118 Fernschreiben von Wagner vom 9.11.1989 „ Betr. – Privatreisen und ständige Ausreisen

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dieses Schreiben die Diensthabenden in den G renzübergängen erreicht hat, war es in der konkreten Situation keine große H ilfe, da an den bürokratischen Formalismen festgehalten wurde: „ Zur Beantragung der Reise sind vom Bürger nur 2 Anträge und eine Zählkarte entgegenzunehm en.“ Die Bereitschaft dazu w ar denkbar gering. D eshalb war eine andere Regelung von höherer Relevanz: „ Die Bearbeitungszeit richtet sich nach den Reisew ünschen der Bürger. Das schließt Sofortreisen ein.“ 119 Etwas näher an der Realität war ein weiteres Fernschreiben, diesmal von Mielkes Stellvertreter Neiber, in dem unter Berufung auf die Anweisung aus dem Innenministerium erklärt wurde: „Genehmigungen für Pri vatreisen oder ständige Ausreisen können für jeden Bürger der DDR ohne Vorliegen von Voraussetzungen unverzüglich erteilt werden. [...] Ständige Ausreisen können bei den VPKÄ[Volkspolizeikreisämtern]-Paß-Meldewesen oder bei den Abt eilungen Inneres beantragt werden.“ 120

Dieses Schreiben könnte als A ufforderung gelesen werden, mit der Abfertigung an den Grenzübergangsstellen – freilich in geregelter Form – sofort zu beginnen, enthielte es nicht einen V erweis auf den MdI-Befehl und vor allem die A ufforderung, das V orliegen von V ersagungsgründen zu prüfen, was eine A d-hoc-Entscheidung direkt an der Grenze ausgeschlossen hätte. Wiederum unter Berufung auf diesen Befehl verschickte der Leiter der für die Paßkontrolleinheiten zuständigen H auptabteilung VI, Generalmajor Fiedler, um 23.05 U hr ein w eiteres Fernschreiben an die Leiter jener Bezirksverwaltungen, die über Grenzabschnitte zur Bundesrepublik bzw. im Falle Potsdams zu Westberlin zu wach en hatten. D arin wurden die Diensteinheiten des MfS informiert: „Die Personalausweise der bet reffenden Bürger sind mit einem Ausreisevermerk/Visum der VPKÄ [Volkspolizeikreisämter] zu versehen. Diese berechtigen nach entsprechender Identitätskont rolle zur ständigen Ausreise. Neben dem Lichtbild im Personalausweis – recht s – i st ein Paßkontrollstempel anzubringen, der zugleich als Entwertungsvermerk gilt.“ 121 nach dem nichtsozialistischen Ausland“; Verteiler: „ bdvp 1 bis 15 chef, alle vpkae, ltr., rdb 1 bis 15, stellv. d. vorsitzenden f. inneres d. rdb und rdk/stadtbezirke“; Sendetermin: Beginn 19.30, Ende 21.30; BStU, ASt Berlin (BdL) A 1189. Vorlage in: BStU, ZA, Neiber 553, Bl. 23–25. 119 Fernschreiben von Wagner vom 9.11.1989. 120 Fernschreiben von Generalleutnant Neiber an die Leiter der Bezirksverwaltungen vom 9.11.1989; FS-Nr. 247/89; BStU, ZA, DSt 103635. Die Uhrzeit der Versendung dieses Fernschreibens war nicht feststellbar. Da ein weiteres Fernschreiben, diesmal vom Leiter der HA VI, Generalmajor Fiedler, unter Be rufung auf dieses Telegramm um 23.05 Uhr verschickt wurde, müßte es vorher hinausge gangen sein; Fiedler an die Leiter der BVfS und die Leiter der Abt. VI in den Bezirksverwaltungen; BStU, ZA, HA VI 1735, Bl. 1. 121 Fernschreiben des Leiters der HA VI an die Leiter der Bezirksverwaltungen und die Lei-

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Das Objekt dieser Regelung w aren jene D DR-Bürger, die selbst bei den Volkspolizeikreisämtern ihre A usreise beantragt hatten. D as Fernschreiben wurde nur m it der zw eithöchsten Dringlichkeitsstufe „Flugzeug“ verschickt (die höchste wäre „Luft“ gewesen), und die erste Rückm eldung über die Umsetzung sollte erst sieben Stunden später, am 10. November um 6.00 Uhr, erfolgen. Das zeigt, daß es sich um keine Ad-hoc-Lösung für die minütlich brisanter werdende Lage an der G renze handelte. Bürokratisch gedacht w ar diese Terminierung durchaus sinnvoll, weil zwar die ersten Visa im Ostberliner „Haus des Reisens“ ab 23.00 Uhr und im Präsidium der Volkspolizei um 00.30 Uhr erteilt wurden, die Volkspolizeiinspektionen aber erst ab 6.00 Uhr geöffnet hatten. 122 Langen Bestand hatte diese Regelung nicht. Um 23.30 U hr wurden an der Bornholm er Straße, in der bereits seit über zwei Stunden Reisende durchgelassen w urden, ohne daß die Grenzposten den Andrang auch nur annähernd be wältigen konnten und angesichts beängstigend wachsenden Drucks, die Schlagbäum e geöffnet und alle K ontrollen eingestellt. Kurz danach folgten die anderen Grenzübergangsstellen. 123 Am nächsten Tag hieß es in einem offiziellen Tagesbericht des MfS: „Als aufgrund der unübersehbaren M enschenmengen vor ei nigen Grenzübergangsstellen und nach dem Ei ndringen zahl reicher Personen i n di e Grenzübergangsstelle B ornholmer St raße abzusehen war, daß di e Si tuation nicht länger zu beherrschen sei n we rde, wurde et wa gegen 23.30 Uhr auf zentrale Weisung mit der Abfertigung zur Grenzpassage nach W estberlin begonnen.“ 124

Doch keiner der unmittelbar Beteiligten kann sich an eine derartige „ zentrale Weisung“ erinnern, 125 Krenz selbst erwähnte am nächsten Tag, als er vor dem ZK -Plenum überaus kurz auf die Maueröffnung einging, nichts dergleichen. 126 Vielmehr hatten die Grenzposten vor Ort erstaunliche Eigeninitiative und Besonnenheit bewiesen und hatten – obw ohl sie gehalten waren, die G renze unter strengster K ontrolle zu halten – im Angesicht des heranter der Abt. VI der Bezirksverwaltungen Ge ra, Erfurt, Suhl, Magdeburg, Schwerin, Rostock, Potsdam, Karl-Marx-Stadt und Leip zig vom 9.11.1989, 23.05 Uhr; BStU, ZA, HA VI 1735, Bl. 1. 122 V gl. ADN-Meldung vom 10.11.1989, in: Bundespre sseamt: DDR-Spiegel vom 11.11.1989, S. 4 f. 123 Vgl. „Information“ des MfS vom 10.11.1989. 124 „Information“ des MfS vom 10.11.1989, Bl. 96. 125 Vgl. Claus Dümde: Wie kam es zum Sturm, in: Neues Deutschland, 3./4.11.1990; Hertle: Chronik (1996), S. 200; Horst Liebig: Grenzer handelten nach eigenem Ermessen, in: Fall der Mauer (1995), S. 53 f. 126 Krenz berichtete, „der Druck war nicht zu halten, es hätte nur eine militärische Lösung gegeben, Genossen, damit wir uns einig sind, durch das besonnene Verhalten unserer Grenzsoldaten, unserer Genossen vom MdI, vom MfS ist die Sache mit großer R uhe bewältigt worden“; Protokoll der 10. ZK-Tagung 8.–10.11.1989, in: Hertle u. Stephan (Hrsg.): Das Ende der SED (1997), S. 135–437, hier 394.

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strömenden Volkes alle ihre V orschriften ignoriert und w aren der V ernunft gefolgt. Allein in Berlin frequentierten noch in der Nacht 68.000 Menschen die Grenze in Richtung Westen. 127 Die Frage ist, warum sich die Angehörigen der Grenztruppen in dieser Situation so vernünftig und unbürokratisch verhalten haben, wie man es ihnen nicht zugetraut hätte. V on entscheidender Bedeutung w ar die vorangegangene Schwächung des institutionellen und des norm ativen Gefüges. Insbesondere die Autorität der SED war bereits stark angeschlagen und gerade in diesen Tagen eines teilweisen neuerlichen Führungsw echsels zusätzlich lädiert. Ähnlich war die Situation im MfS: Mielke w ar mit der gesamten Regierung zwei Tage zuvor zurückgetreten und amtierte nur noch bis zur Wahl eines neuen Ministerpräsidenten. Dieses Führungsvakuum wurde am Abend des 9. November drastisch deutlich, als niem and auch nur das Wort an die potentiellen Verteidiger des alten Grenzregimes richtete. Zugleich bedeutete das, daß dem regelw idrigen V erhalten der G renzposten eine gravierende Formverletzung durch ihre polizeibürokratische bzw. m ilitärische Führung vorausgegangen war: Es w ar für sie ein unerhörter V organg, von der beschlossenen Maßnahm e durch den Rundfunk zu erfahren, der allein schon Improvisation ihrerseits legitimiert hätte. Hinzu kam die Widersprüchlichkeit der norm ativen Situation. Es gab – nachdem im A pril 1989 der Schießbefehl ausgesetzt w orden w ar 128 – den Befehl, daß „ Grenzverletzer“ festzunehm en seien. D ann hatten die G renztruppen w enige Tage zuvor einen Befehl bekom men, w ie sie sich nun im Falle eines versuchten „ Grenzdurchbruchs“ verhalten sollten: „ Im Falle eines solchen Eindringens sind die D emonstranten durch A nwendung körperlicher Gewalt und geeigneter Mittel daran zu hindern, daß es zu Grenzdurchbrüchen kommt. [...] Die Anwendung der Schußwaffe im Zusammen129 hang m it m öglichen D emonstrationen ist grundsätzlich verboten.“ Allerdings bezog sich das auf D emonstrationen, im konkreten Fall auf jene am 4. N ovember, und als D emonstration konnte m an den A nsturm der ungeduldigen und zunehm end em pörten Bürger schw erlich verstehen. D urch Einsatz allein „körperlicher G ewalt“ von 15 G renzern w aren an der Bornholmer Straße keine 20.00 0 erregten Menschen aufzuhalten. Für eine solche Situation gab es überhaupt keinen einschlägigen Befehl, vor allem nicht an diesem Abend. Gleichzeitig hatte angesichts der Veröffentlichung des Reisegesetzentwurfs die ganze martialische Grenzsicherung und dam it auch die Tätigkeit 127 „Information“ des MfS vom 10.11.1989, Bl. 96. 128 Siehe Kap. 1.4.2, S. 148 ff. 129 Befehl N r. 1 1/89 d es V orsitzenden d es N ationalen V erteidigungsrates de r Deutschen Demokratischen Republik „ über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in den Bezirken der Deutschen Demokra tischen Republik vom 03.11.1989“; BStU, ZA, ZAIG 14392, Bl. 17–20.

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der Grenzsicherungsorgane ihren „objektiven Sinn“ 130 verloren. Und schließlich war die A nkündigung der G renzöffnung, wenngleich in formloser und verwirrender Form, zumindest doch von einem Mitglied der neuen Führung gekommen. Ein Angehöriger der Grenztruppen hat nachträglich Gefühle beschrieben, die wohl schon in der dam aligen Situation selbst dom inant w aren: „Die Erklärung des Politbürom itgliedes Schabowski und die dam it verbundene Art und Weise der Grenzöffnung führt en schlagartig zum Verlust jeglicher Motivation für eine weitere Grenzsicherung. Man fühlte sich hintergangen, betrogen und im Stich gelassen, ja verraten und einer völlig unklaren Situation preisgegeben.“ 131

Das institutionelle Gefüge von Rollenzwängen hat in dieser Nacht einen entscheidenden Knacks erhalten: Nicht nur die Erw artungen, die an sie gerichtet wurden, waren für die A ngehörigen der G renztruppen und Paßkontrolleinheiten diffus geworden. Darüber hinaus hatte die Identifikation mit der bisherigen Rolle irreparablen Schaden genommen. Den mittleren Führungskadern im Machtapparat schwante, daß ihnen alles zu entgleiten drohte. Ein Mitglied der V ierergruppe, Oberst Gerhard Lauter, wurde in den Morgenstunden des 10. November von Radio DDR gefragt, wie er als Leiter der Hauptabteilung Paß- und Meldew esen im Innenministerium die Lage einschätze. Seine Antwort: „Da heut e Nacht ni cht di e M öglichkeit best and, so wi e der M inisterrat das vorgesehen hat , ei n Vi sum zu beant ragen, si nd sie [die Bürger] zu den Grenzübergangsstellen gegangen, und dort haben di e Kontrollorgane, die Grenztruppen, äußerst besonnen reag iert und haben Möglichkeiten eingeräumt, die Grenze zu passieren. Ich glaube nicht, daß es d er staatlichen Ordnung ent spricht und ni cht den Fest legungen des M inisterrates, und es wi rd sicherlich i n den Fol getagen, wenn geprüft i st durch die Bürger, daß diese Reisemöglichkeit besteht, daß wir dann zu der fest gelegten Ordnung des Ministerrates kommen.“ 132

Diese Äußerung ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen bestätigt sie, daß die Grenztruppen vor O rt eigenständige Entscheidungen trafen, die gew iß gefördert w urden durch Radiom eldungen darüber, wie ihre Kollegen an anderen Ü bergängen bereits gehandelt hatten. A ber von eine m zentralen Befehl ist auch bei Lauter nicht die Rede. Zum zweiten macht sie 130 Vgl. Berger u. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion (1969), S. 77. 131 Hans Boenke: Unsicherheiten und Ängste bei den Grenzern – Erinnerungen an eine Festveranstaltung, in: Fall der Mauer (1995), S. 54–56. 132 Radio DDR I, 10.11.1989, 4.00 Uhr, zitiert nach: RIAS-Monitor 12.11.1989, S. 1 f.

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noch einmal den gemeinten Gehalt jenes „Ministerratsbeschlusses“ deutlich: Visum und Paß. Erst auf Drängen der Reporterin von Radio DDR, was denn nun mit jenen Bürgern sei, die bisher gar keinen Paß haben (immerhin drei von vier), räumte Lauter zögernd ein: „ Wenn der Bürger den dringenden Wunsch hat, unbedingt noch heute oder morgen zu fahren“, dann könnte als „Ausnahme und Ü bergangsregelung“ auch der Personalausweis „visiert“ werden. Tatsächlich wurden in den folgenden drei Tagen in einem letzten Aufbäumen des polizeistaatlichen Kolosses im Koma über fünf Millionen Visa erteilt 133 – eine unsinnig erscheinende Prozedur, die jedoch durchaus symbolische Bedeutung hatte. Das Drama dieses Dammbruchs bestand aus der Sicht des Regim es nicht darin, daß nun zum ersten Mal seit 1961 nicht m ehr nur ausgewählte Bevölkerungsgruppen, sondern alle reisen konnten. D as war – mit den erwähnten Einschränkungen – sowieso grundsätzlich beabsichtigt gewesen. Die Katastrophe für das System bestand in der Form der Ö ffnung: daß die D DR, die die Zeichen ihrer staatlichen Existenz gerade wegen ihres Legitim itätsdefizits im mer penetrant hochgehalten hatte, in der praktizierten Freizügigkeit als Staat nicht m ehr wahrnehmbar war. Die Grenze war zwar noch sichtbar, aber mit ihrem Passieren waren keine institutionalisierten Regeln m ehr verbunden. D as bedeutete einen realen K ontrollverlust, noch wichtiger aber war die dam it verbundene Sy mbolik: D ie D DR w urde in jener Nacht als Staat schlichtweg ignoriert. Institutionen, die ignoriert werden und keine Sanktionsmöglichkeiten haben, um sich w ieder nachdrücklich ins Bewußtsein zu rufen, werden inexistent. In sofern wurde nicht nur das Recht auf Freizügigkeit realisiert, sondern der Staat DDR geriet in einen Zustand der Entgrenzung als erste Phase des offenen Zerfalls. Am nächsten Tag, dem 10. N ovember, versuchte e iner dagegen ein Zeichen zu setzen: H einz K eßler, der V erteidigungsminister, der schon den Kurswechsel mit Mißtrauen betrachtet hatte, wollte in Berlin-Mitte Militär auffahren lassen. 134 Am Brandenburger Tor, wo in der N acht Hunderte vor den hilflosen G renztruppenangehörigen auf der m eterdicken Panzerm auer getanzt hatten, 135 sollte wieder Ordnung hergestellt werden. Seine Autorität war inzwischen allerdings derartig angeschlagen, 136 daß er in der Generalität auf keinen G ehorsam, geschw eige denn U nterstützung für ein solches Abenteuer rechnen konnte. Einer allerdings unterstützte ihn zumindest indirekt. Generaloberst Rudi Mittig, stellvertretender Minister für Staats133 „Über 5,1 Millionen Visa für Privatreisen erteilt“, in: Neues Deutschland 14.11.1989. 134 Dieser Versuch ist erst dank de r Recherch e von Hertle bekannt geworden; vgl. Hertle: Fall der Mauer (1996), S. 284–288. 135 Vgl. HA I Grenzkommando Mitte Abt. Abwehr: „ Vorkommnisse am 9. /10. November im Grenzabschnitt Brandenburger Tor, Grenzregiment 36“ vom 10 .11.1989; BStU, ZA, Neiber 553, Bl. 45–47. 136 Vgl. „ Information“ der HA I, Abt. MfNV, vom 9.11.1989; BStU, Z A, Neiber 874, Bl. 116; vgl. auch Wilfried Hanisch: Die Haltung der Soldaten bei der Grenzöffnung im November 1989. Nachbetrachtungen, in: Fall der Mauer (1995), S. 60–69, hier 67 f.

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sicherheit, behauptete zur gleichen Zeit in einem Redebeitrag auf dem ZKPlenum, in dem er vor „ gesteigerten Aktivitäten imperialistischer Geheimdienste“ und den „Feinde[n] im Innern“ warnte: „[...] am Brandenburger Tor versuchten Provokateure, gew issermaßen in K leinformat die geplante Provokation vom 7.10.1989 dennoch durchzuführen, nämlich den Sturm auf die Mauer“. 137 Obwohl die Mauer bereits offen w ar, wurde noch immer die Legende vom „Mauerdurchbruch“ verbreitet. Zusammen mit der Stasi-Legende, er sei am 7. Oktober geplant gew esen, 138 zeigt das, daß einige Machthaber inzwischen zu den Opfern ihrer eigenen Propaganda geworden waren. Über die Ö ffnung dieses sy mbolgeladenen O rtes im H erzen von Berlin aber sollte noch einige Wochen zäh verhandelt werden. Der Grund wurde in einer „ Information für die Mitglieder des Politbüros“ wahrscheinlich vom 12. oder 13. N ovember 1989 genannt, die überschrieben w ar mit „Überlegungen zum Brandenburger Tor/G renzübergangsstelle“. Darin wurde konstatiert: „ Die Ö ffnung des Brandenburger Tores bedeutet die Anerkennung der Einheit Deutschlands.“ 139 So weit war dam als noch keiner der Beteiligten, dies als unmittelbare Handlungsperspektive zu sehen. Falls es sich dennoch nicht vermeiden ließ, wollte m an wenig stens dafür noch etwas herausschlagen 140 : „Für die Öffnung des Brandenburger Tores muß unsererseits ein Preis ausgehandelt werden. Das gilt besonders für die Garantien für Sicherheit und Ordnung, Öffnung in Anwesenheit der vier Mächte. Gut wäre Beschränkung auf Fußgängerübergang, das heißt ohne Auto s. Flankierend sollte in Massenm edien mit Besorgnis von Bürgern der DDR gearbeitet werden, die anknüpfend an frühere Erfahrungen auf möglichen M ißbrauch großzügi ger und kühner Schritte der DDR-Führung aufmerksam machen.“ 141

Die Rede von den „kühnen Schritten“ war keineswegs se lbstironisch gemeint. „Besorgnis“ allerdings gab es durchaus, und zw ar nicht nur bei A nhängern des Regimes, sondern auch bei denjenigen, die als seine ärgsten Feinde galten, die aber aus der DDR noch etwas m achen wollten. Verschiedene Bürgerrechtler berichten, daß sie auf die Nachricht von der Maueröffnung nicht etwa an den Ort des Geschehens geeilt sind, sondern sich im Bett

137 Redebeitrag von Rudi Mittig auf dem 10. ZK-Plenum am 10.11.1989, in: Neues Deutschland 11./12.11.1989. 138 Dazu siehe S. 287 ff. Kap. 3.2. 139 BA Berlin, DY 30, IV 2/2039/320, Bl. 5–8, hier 5. Die Datierung ergibt sich daraus, daß in dem Papier „ die neu eröffnete Grenzübe rgangsstelle Potsdamer Platz“ erwähnt wird, die am 12.11.1989, 8.00 Uhr, ihrer Bestimmung übergeben wurde. 140 Im Sinne der Argumentation von Hertle – Ch ronik (1996), S. 272; ders.: Fall der Mauer (1996), S. 149 – sollte es die letzte verhand elbare „Immobilie“ werden. 141 „Überlegungen zum Brandenburger Tor/Grenz übergangsstelle“; BA Berlin, DY 30, IV 2/2039/320, Bl. 7.

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verkrochen und die Decke über den K opf gezogen haben. 142 Andere diskutierten darüber, eine gemeinsame Erklärung herauszugeben. Ausgehend von der Annahme, die Grenzöffnung sei ein Trick des A lten Regimes, um sich zu retten, sollte verlangt werden, daß sie wieder geschlossen werde. Die beteiligten Bürgerrechtler hatten Verstand genug, diese Idee zu verwerfen. Aber daß darüber von ernsthaften und moralisch integren Menschen überhaupt debattiert wurde, zeigt den Stand der Verwirrung, die diese neuerliche Wende auslöste, oder sollte m an besser sagen: den Stand der Einsicht, daß das Projekt einer „besseren“ DDR bereits scheiterte, ehe es richtig begonnen hatte? Das Neue Forum veröffentlichte am 12. Novem ber eine Erklärung, der die Ambivalenz in der Einschätzung dieses Befreiungsschlages anzum erken ist: „Auf diesen Tag haben wir fast 30 Jahre gewartet! Mauerkrank haben wir an den Gitterstäben des Käfigs gerüttelt. Die Jugend wuchs mit dem Traum auf, einst frei zu werden und di e W elt zu erfahren. Dieser Traum wird jetzt erfüllbar sein: Es ist ein Festtag für uns alle! [...] Bürgerinnen und Bürger der DDR! Eure spontanen furchtlosen W illensbekundungen im ganzen Land haben ei ne friedliche R evolution i n Gang gesetzt, haben das Politbüro gestürzt und die Mauer durchbrochen. Laßt Euch nicht von der Forderung nach einem politischen Neuaufbau der Gesellschaft ablenken! Ihr wurdet we der zum Bau der M auer noch zu i hrer Öffnung befragt, laßt Euch jetzt kein Sanierungskonzept aufdrängen, das uns zum Hinterhof und zur Billiglohnquelle des Westens macht! [...] Wir werden für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen keine Gesellschaft haben, in der Schi eber und Ellenbogentypen den R ahm abschöpfen. Ihr sei d die Held en ein er p olitischen Rev olution, laß t Eu ch j etzt nicht ruhigstellen durch Reisen und schuldenerhöhende Konsumspritzen!“ 143

In dieser Mischung aus Freude und Besorgnis w urde dem in Wandlung begriffenen Alten Regim e unterstellt, es wolle die DDR durch Integration in den Weltm arkt „ sanieren“, um die Bevölkerung ruhigzustellen und gleichzeitig einen „politischen Neuaufbau“ von unten zu verhindern. Damit wurde die politische Phantasie der Machthaber überschätzt. Sonst aber war die Einschätzung realistisch. Die D ynamik des revolutionären Prozesses als Volksbewegung w ar m it dem 9. N ovember unterbrochen. D as zeigt die Entwicklung der Teilnahm e an D emonstrationen und anderen Form en poli142 Öffentlich hat darüber Freya Klier gesprochen (Freya Klier: Die Mauer fällt. Unter die Bettdecke statt auf die Straße, in: die ta geszeitung 11.11.1989); in persönlichen Erzählungen stößt man öfter auf diese Reaktion. 143 Unterzeichnet war diese Erklärung von Jens Re ich, Sebastian Pflugbeil, Bärbel Bohley, Reinhard Schult, Eberhard und Jutta Seidel; Nachdruck in: taz-Journal I (1989), S. 132.

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tischen Protests, die in der folgenden Graphik festgehalten ist 144 : Entwicklung der Teilnehmerzahlen an Demonstrationen und anderen Protestaktivitäten (25.9.–26.11.1989) 2.500.000 2.000.000 1.500.000 1.000.000 500.000

20.-26.11.

13.-19.11.

6.-12.11.

30.10.-5.11.

23.-29.10.

16.-22.10.

9.-15.10.

2.-8.10.

25.9.-1.10.

0

Die Protestbewegung hat sich A nfang O ktober noch auf relativ geringem quantitativen Niveau befunden. Auch bei den Auseinandersetzungen um den 40. Jahrestag haben nur einige ze hntausend Menschen riskiert, auf der Straße zu protestieren. Der erste auch quantitative Umschlagspunkt war der 9. Oktober. Erst nach dem Sturz H oneckers (17. Oktober) erwuchs aus der wackeren kleinen Bürgerrechtsbew egung eine D DR-weite Bürgerbewegung. Die Ursache dafür war vermutlich nicht, daß der neue Generalsekretär 144 In die Berechnung dieser Graphik sind sowohl Demonstrationen wie andere Formen des politischen Protestes (Bürgerversammlungen; Gottesdienste mit politischem Charakter; Gründungsversammlungen von Bürgerrechtsorganisationen usw. ) aufgenommen worden. Die Zahlenangaben wurden einer Fülle von SED- und vor allem MfS-Materialien entnommen. Die wichtigsten Unterlagen mit ih ren Fundorten (alle BStU, ZA): „Wochenübersichten“ der ZAIG 2. 10.–6.11.1989 (ZAIG 4599); „ Informationen“ der Abteilung Parteiorgane im ZK der SED 9.10.–6.11.1989 (ZAIG 7834); „ Übersicht“ der Arbeitsgruppe des Ministers zu oppositionellen Aktivitä ten gegen Einrichtungen der Staatssic herheit 13.10.–20.11.1989 (AGM 1654); Überblickschroniken der HA XX zu oppositionellen Aktivitäten in den Bezirken Oktober/November 1989 (HA XX/4 1476); Rapporte des Lagezentrums der HA XXII 2.11.–8.12.1989 ( HA XXII 531); Rapporte des Zentralen Operativstabes 4.11.–9.12.1989 (HA VIII 1672); „ Lageberichte“ des MfS an SEDGeneralsekretär Krenz 5.11.–5.12.1989 (ZAIG 8266; Neiber 687); „Informationen“ des Ministerium des Innern zur „ Lage au f dem Territorium der DDR“ 11.11.–4.12.1989 (Neiber 687).

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noch unpopulärer als sein V orgänger gewesen wäre, sondern eine veränderte Risikow ahrnehmung: die A nkündigung von K renz, Problem e würden künftig „politisch gelöst“, die mit größerer faktischer Zurückhaltung der Sicherheitsorgane korrespondierte. A ls V erstärkung wirkte in dieser Beziehung die zunehm ende öffentliche Kritik – bis hin zu ersten staatsanwaltschaftlichen Erm ittlungsverfahren – an den vorherigen Polizeiübergriffen: Sie signalisierte, daß die Sicherheitsorgane restriktiveren V erhaltensregeln unterworfen würden, und verunsicherte zugleich deren A ngehörige. D azu kam der Versuch einer „Dialogpolitik“ seitens der SED, durch den trotz aller Hintergedanken der öffentliche Raum als Ort für politischen Streit quasi legalisiert w urde. D as senkte die H emmschwelle zu zivilem Engagement weiter ab und bedeutete zudem , daß die Erfolgsaussichten oppositioneller Politik erheblich wuchsen. 145 Der nächste Umschlagspunkt lag in der Woche vom 6. bis zum 12. N ovember. Nach der Ö ffnung der Grenze wurden, obwohl die politische Um wälzung noch längst nicht abgeschlossen war, die Energien offenkundig zum Teil auf andere O bjekte gerichtet: N achdem durch die Bürgerrevolution die Straßen und Plätze im eigenen Land erobert waren, wollte man nun den anderen deutschen Staat erkunden, den zu besuchen den meisten Bürgern fast drei Jahrzehnte verwehrt gewesen war. Diese millionenfachen Besuchsreisen sind in der Statistik nicht erfaßt, denn ihnen lag keine Protestintention zugrunde. Zur weiteren Destabilisierung der DDR aber haben sie – wie in den Sommermonaten die Ausreisewelle – gewiß entscheidend beigetragen.

7.5 Desorientierung im MfS Die Reaktion der MfS-Angehörigen auf die Maueröffnung ist w ie schon ihr Verhalten am 4. November nur im Kontext der Entw icklung in dieser Institution verständlich. Sie standen vor der Grundfrage: Sollten sie sich der politischen Wende tatsächlich anpassen und den künftigen Herren (es war noch nicht endgültig klar, wer sie sein würden) zu Diensten sein? Oder sollten sie versuchen, den politischen Prozeß heim lich zu steuern? Miel kes Weisung vom 21. O ktober, m it H ilfe von inoffiziellen Mitarbeitern einzudringen in die „ antisozialistischen Sammlungsbewegungen“ und sie zu m anipulieren, wies in letztere Richtung. Mielke hatte aber auch gefordert, sich dem neuen Kurs der SED unterzu ordnen. Eine K ombination beider O rientierungen setzte voraus, daß von der ne uen Führung eine klare Linie vorgegeben wurde, aus der etwa eine Einsatzkonzeption für die IM hätte abgeleitet werden können. Eben daran aber fehlte es, denn schrittweises 145 Zur Bedeutun g beider Faktoren – Risikovermeidung und Erfolgsaussichten – für ziviles Engagement vgl. Przeworski: Some Problems (1986), S. 54.

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Zurückweichen vor der Bürgerbew egung war kein „ Kampfauftrag“. Das ist kein Urteil im nachhinein. Der SED-Tschekist, der dafür zuständig w ar, die Einhaltung der Parteilinie zu überwachen, der Vorsitzende der Parteikontrollkommission im MfS, O berst Johannes Schindler, hatte am 24. Oktober bei einer Sitzung dieses G remiums er klärt: „ Wir alle erkennen den tiefen Ernst der Lage, den V erlust der Führungsrolle der Partei. Es muß von einer politischen Krise gesprochen werden.“ Er m einte dam it nicht nur den schwindenden Einfluß der SED, sondern auch dessen innerparteiliche Ursachen: „ Die Beschlüsse der 9. Tagung [des ZK der SED am 18. Oktober] stellen noch keine neuen Aufgaben dar“. 146 Die Diagnose eines Verlustes der „ Führungsrolle“ war in einer Institution, die sich als „ Schild und Schw ert der Partei“ verstand, eine revolutionäre Aussage. Freilich fiel sie noch im kleinen Kreis und war nicht für die Masse der MfS-A ngehörigen bestimmt. Um letztere m oralisch aufzurüsten, wurden einige Bem ühungen unternom men. Auf Bitte des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung im MfS, G eneralmajor Felber, 147 hatte Generalsekretär Krenz ein Schreiben an die Bezirksleitungen verschickt, in dem er erklärte, „das Handeln der Schutz- und Sicherheitsorgane für die öffentliche Ordnung und Sicherheit [verdient] D ank und Anerkennung unserer Partei“ . „In den letzten Tagen wurden einzelne Befugnisüberschreitungen sehr einseitig hochgespielt“, behauptete er, das habe zu „ Verunsicherungen“ geführt. D er „Einseitigkeit in der Beurteilung der V orgänge“ möge doch „ sachlich“ entgegengetreten werden. 148 Mielke selbst wandte sich am 2. Novem ber m it einem „ persönlichen Schreiben“ an alle MfS-Angehörigen. Er versuchte sie dam it zugleich auf die N achricht vorzubereiten, die K renz am nächsten Tag bekanntgeben würde: seinen Rücktritt. Dadurch wurd e es zu einer Art Abschiedsbrief. Mielke forderte noch einm al Vertrauen: „Ich kann Euch mit Gewißheit sagen, daß die Parteiführung alles unternimmt, um eine Beruhigung und Stabilisierung der Lage zu erreichen.“ Sie werde sich „schützend vor die Schutzund Sicherheitsorgane“ stellen. D er Brief endete m it einem Schw anengesang: „Ich bin gewiß, daß Ihr Euch in dieser großen Be währungsprobe [...] auch weiterhin m it politischer Standhaftigkeit und Leid enschaft für unsere Sache einsetzt – so, wie wir das als Tschekisten immer getan haben.“ 149 Mit dieser „Leidenschaft“ war es freilich nicht m ehr weit her. Die Haupt146 Protokoll der Sitzung der Parteikontroll kommission im Mf S am 24. 10.1989; BStU, ZA, SED-KL 510, Bl. 151–155, hier 151. 147 Felber hatte bei der Beratung des SED-Bezirkschefs im Zentralkomitee am 27.10. erklärt, „ein Satz, daß das MfS seine Aufgaben (nicht nur auf die letzten Tage bezogen) verantwortungsbewußt erfüllt hat, wäre scho n mobilisierend“. Horst Felber: „ Einige Worte zur Lageeinschätzung im eigenen Verantwortungsbe reich“; hs. Vermerk: „ Gen. Felber auf Beratung im ZK mit 1. Sekr. BL“; BStU, ZA, HA XVIII 5885, Bl. 1–8, hier 6. 148 Fernschreiben von Krenz an die SED-Bezirksleitungen vom 30.10.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 3. 149 Schreiben von Mielke an die Diensteinheiten vom 2.11.1989; BStU, ZA, DSt 103632.

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abteilung VIII (Observation) etwa meldete zur gleichen Zeit in einem Bericht über die „Kaderarbeit“ im Jahr 1989 mit ungewohnter Offenheit: „Bei der Mehrzahl der Angehörigen wird deutlich, daß sie ihre Entwicklung (z. T. altersbedingt) als abgeschlossen betrachten. [...] Es wird das ‚Geforderte‘ getan. Eine Motivation darüber hinaus ist kaum vorhanden. [...] Heftige Diskussionen und Pol emiken gab und gi bt es um die gegenwärtigen inneren Probleme der DDR , der UdSSR und anderer sozialistischer Staaten. In großer Offenhei t wi rd al les angesp rochen, was bewegt . Dabei si nd auch Argumente des Gegners nicht zu überhören.“ 150

Besonders anfällig für die „ Argumente des Gegners“ war, das zeigte sich auch in der Folgezeit, das „ Wachregiment F. E. Dzierzynski“, denn dort dienten Wehrpflichtige auf Zeit. Eine der ersten kollektiven Prote sterklärungen, die im MfS form uliert wurden, kam aus dieser Diensteinheit. Am 7. November – H onecker war gestürzt, aber die Mauer noch geschlossen – schickten 31 Angehörige des Wachregim ents in Erkner bei Berlin ein Schreiben an den „werten Genossen Minister“. Darin konstatierten sie: „Das Verhältnis zwischen Volk und M inisterium für St aatssicherheit ist gekennzeichnet von M ißtrauen, Unverständnis und Ang st, was durch di e Ereignisse vom 7./8./9. Oktober noch verstärkt wurde. Dieser für uns vor allem im Urlaub spürbare Zust and führte bei vielen Angehörigen zu ei nem Gewissenskonflikt.“

Der Hinweis auf Urlaubserlebnisse, aber auch eine Klage über das eigene Image als „Knüppel-Truppe“ (das angeblich auf einem „ Mythos“ beruhte) zeigt, welche Bedeutung sozialen K ontakten außerhalb der eigenen Berufsgruppe für den Bewußtseinswandel zuka m. Die Briefschreiber kritisierten auch die Zustände im Ministerium: die Privilegien der O ffiziere und G eneräle ebenso wie „die videounterstützte Überwachung der Posten“, die „mangelndes Vertrauen“ beweise. Zum Schluß erklärten sie: „Wir möchten hiermit unserer Hoffnung Ausdruck geben, daß die Veränderungen, die derzeit in unserem Land vo nstatten gehen, auch i n unserem Ministerium in vollstem Umfang sichtbar werden.“ 151

Diese Einheit w ar für die Bew achung der MfS-Zentrale in der Berliner Normannenstraße verantwortlich. 150 HA VIII: Bericht über die Erfüllung von Aufgaben der Kaderarbeit im Jahre 1989 23.10.1989; BStU, ZA, HA VIII 344, Bl. 143–149, hier 144 u. 146. 151 BStU, ZA, SdM 636, Bl. 37–39.

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vom

Die „Kämpfer“ vom Wachregiment standen m it ihrer Kritik nicht allein. Zweifel und Fragen, die sich schon länger angehäuft haben m ögen, wurden nun auch von anderen offen ausgesprochen. Im Aktenbestand des „Sekretariats des Ministers“ findet sich etw a aus der gleichen Zeit eine A uflistung der „ Probleme/Fragen/Meinungen“, die im Verantwortungsbereich des Mielke-Stellvertreters Schwanitz, der vorw iegend technische D iensteinheiten um faßte, „ in den letzten Wochen/Tagen“ aufgetreten waren. 152 Dieses Papier umfaßte 17 Schreibmaschinenseiten und enthielt Fragen und Positionen, die deutliche Indizien extremer Verunsicherung waren: „Sind wi r berei t, den Verfassungsgrundsat z der führenden R olle der Partei aufzugeben? [...] Müssen wir diesen Anspruch nicht in der gesellschaftlichen Praxis selbst erkämpfen?“ „Die Partei soll raus aus der Wirtschaft.“ „Warum traten die führenden Genossen nicht schon früher zurück?“ „Was ist au s u nseren In formationen g eworden, wie h aben sie in p olitische Entscheidungen und in die Lageeinschätzung Eingang gefunden?“ „Das Schreiben des Genossen M inisters [vom 2. November] wird als ‚Abgesang‘ gewertet, keine Motivierung der Genossen.“ „Die Genossen fühl en sich alleingelassen (Sprachl osigkeit der Führung der Partei und des MfS).“ „Wie wird die politische Wende im MfS vollzogen?“ „Bleibt das MfS noch das ‚Schwert der Partei‘?“ „War unser bisheriges Vorgehen richtig? (z. B. gegen den Untergrund?)“ „Warum konnten sich solche Privilegien und M achtmißbrauch innerhalb der Partei- und Staatsführung entwickeln?“ „Warum b raucht der Leiter der Hauptabteilung III 8 Pkw? (Seit Oktober nur noch 2)“ „Warum gehen immer noch so viele Menschen aus der DDR weg?“

Diese Fragen signalisierten eine tiefgreifende Störung des bisherigen „tschekistischen“ Selbstverständnisses: D as Feindbild w ar ins Wanken geraten; über die innere m aterielle Hierarchie im MfS, die Privilegien der Obristen und Generäle, wurde offen gesprochen, und zugleich w irkte die Sprachlosigkeit dieser O brigkeit lähmend. Vor allem aber hatte die sinnstiftende Institution, die SED, sie „alleingelassen“. Ein aufschlußreiches Beispiel für die Stim mung jener Tage bieten die Bemühungen, die der Leiter der Hauptabteilung VIII, Karli Coburger, unternahm, um seinen Leuten – die, w ie erwähnt, reichlich demotiviert waren – eine Orientierung zu geben. D er dam als 60jährige Coburger gehörte 152 „Zusammenfassung der in den letzten Wochen/Tagen aufgetretenen Probleme/Fragen/ Meinungen der Angehörigen in den Diensteinheiten des Verantwortungsbereiches sowie der Abteilung 26“; BStU, ZA, SdM 2290, Bl. 59–75.

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zum alten Eisen: Er w ar seit 1952 beim MfS, hatte eine steile K arriere gemacht und es bis zum G eneralmajor gebracht. Seit 1984 w ar er Leiter der für Observation, Ermittlungen und Festnahm en (vor allem in den fünfziger Jahren auch für Entführungen) zuständigen H auptabteilung V III. Bei einer Dienstbesprechung am 2. N ovember entw ickelte er „ einige G edanken zur Wende“. 153 Seine A usgangsfrage war, wie weit die „Wende“ gehen werde. Als Modell diente die sow jetische Perestroika: „ Die Wende w ird nicht nur die Ökonomie, Medienarbeit oder Staatslenkung umfassen. Sie wird, wie in der SU, alle Seiten des Lebens einschließen, ob w ir es w ollen oder nicht.“ Seine daran anschließende Zielbestim mung klingt einigerm aßen überraschend: „Wichtig ist vor allem , daß nie die grundsätzliche Orientierung auf eine Leistungsgesellschaft verlorengehen darf. A lles andere ist sekundär.“ 154 Genauere Aussagen seien nicht m öglich, w eil die ganze Sache „schlecht durchschaubar“ sei. In einem Punkt immerhin wurde er etwas präziser und sagte seinen Untergebenen, worauf sie sich einzustellen hätten: „[Wir] müssen lernen zu verstehen, daß das, was unsere Presse bri ngt, nicht mehr nur di e Auffassung unserer Part ei- und Staatsführung sein wird. [Die] Presse wird völlig frei sein und jeder Journalist ist für seine Arbeit verantwortlich. Lernen, aus Meinungspluralis mus den richtigen W eg zu finden, darin besteht die Kunst.“

Das bedeutete, an die eigene politische Urteilsfähigkeit der Mitarbeiter zu appellieren – eine bis dahin im MfS verpönte Verhaltensweise. Zugleich wurde dam it en passant ein fundam entaler Wandel des Sy stems angekündigt: die Transform ation der Presse zu einer von der Partei unabhängigen Institution. Um „ Zweifel auszuschalten“ , versicherte Coburger: „ Sorgen um Auflösung des MfS sind unnötig.“ Allerdings müsse man sich darauf einstellen – es folgte die Ankündigung der nächsten institutionellen Revolution –, „noch gesetzlicher [zu] arbeiten“ , denn „ die besondere Betonung der V erfassungsmäßigkeit unserer Arbeit ist wesentlicher Faktor. Das wird echte Grundlage w erden. Für uns w ichtig, w eil V erfassung bisher zu w enig als Orientierungshilfe genutzt.“ Die Sprache verrät erhebliche U nsicherheit im Umgang mit dem erwarteten neuen Regelwerk. Dazu paßt, daß mit manchen Aussagen das überkommene Rollenverständnis fortgesetzt w urde, so etw a 153 HA VIII: Protokoll der Dienstbesprec hung mit den Leitern der Abteilungen/AG am 2.11.1989; BStU, ZA, HA VIII 1672, Bl. 327–334, hier 327–330. 154 Zdenek Mlynár hatte prognostiziert: „ Die wahrscheinlichste ideologische Form, in der sich die Bestrebungen jener Kräfte ausdrücken , die um eine technokratisch-bürokratis che Reform der Wirtschaft bestrebt sein werden, könnte die ideologische Gestalt der Prinzipien der Leistungsgesellschaft sein. [...] Der wirkliche Inhalt solcher Ideologie wäre jedoch die Aufrechterhaltung der ‚Ordnung‘ gegen die ‚Anarchie‘.“ Mlynár: Krisen und Krisenbewältigung im Sowjetblock (1983), S. 183 f.

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mit der Ankündigung, man werde sich m it dem „ hartem K ern des U ntergrundes noch lange beschäftigen“. 155 Karli Coburgers Ausführungen, mit denen er eher die Kontingenz künftiger Entwicklungen angedeutet als eine klare Linie vorgegeben hatte, scheinen in seiner Hauptabteilung auf wenig positive Resonanz gestoßen zu sein. In der nächsten D ienstbesprechung w urde erneut berichtet, es gebe in den SED-Grundorganisationen zw ar „ rege D iskussionen“, doch noch immer werde „die ‚Windstille‘ im MfS“ und die „ Sprachlosigkeit“ seiner Leitung beklagt. 156 Das war noch verhalten argum entiert. In anderen Diensteinheiten wurde der Ton inzwischen erheblich schärfer. V or allem in der H auptabteilung IX, die für die Einleitung von Erm ittlungsverfahren zuständig war und in der es deshalb einen höheren A nteil echter Juristen als sonst im MfS gab, 157 wurden nun Positionen formuliert, die das bisherige Rollenmuster in Frage stellten. Mitglieder einer SED -Abteilungsparteiorganisation forderten in einer „Erklärung“, daß das Politbürom itglied Mielke, der Minister für Staatssicherheit, vor ihrer G rundorganisation „Rede und A ntwort“ zu stehen habe. Das war eine bewußte Verletzung der Hierarchie, deren Begründung mit einem Schuß Selbstkritik verbunden wurde: „Wir fühlen uns als Mitglieder der Part ei an der Basis [...] auch durch den Genossen Mielke [...] getäuscht. Diese Tatsache ist bitter, aber auch durch unser ei genes i nkonsequentes Verhal ten al s Part eimitglieder vor al lem i m Sinne von politisch motivierten ‚Befehlsempfängern‘ verursacht worden.“ 158

Andere Angehörige der gleichen H auptabteilung IX gingen in einem „Positionspapier“ noch weiter: „Der erlebte Prozeß der Anwendung strafrechtlicher und ordnungsrechtlicher 155 In seinem Buch über die Staatssicherheit zitie rt Richter allein diese und eine weitere Äußerung Coburgers, verbunden mit dem Kommentar, er habe seine Untergebenen „ auf die neue Situation“ orientiert, „ indem er sie mit 1953, 1956 und 1961 verglich“ (Richter: Staatssicherheit [1996], S. 42 f.). Dabei wird die Ambivalenz von Coburgers Argumentation ignoriert. Was bedeutete seine Äußerung? Diente sie der Vorbereitung auf eine offen repressive „ Lösung“ der Krise, was Richte r nahelegt, oder war sie ein Ermutigungsversuch nach dem Muster: Wir haben schon andere schwierige Situationen durchgestanden? Als Antwort das vollständige Zitat, das man bei Richter vergeblich sucht: „ Man muß besonders unseren jungen Genossen sagen, daß Situation 1953, 1956 und 1961 auch ähnlich war und gemeistert wurde. Wichtig ist, Zuversicht zu entfachen und Zweifel auszuschalten.“ Die Mittel, die damals angewendet worden sind, hat Coburger nicht propagiert. Er war erkennbar ratlos. 156 Vgl. Protokoll der Dienstbesprechung mit den Leitern der Generalmaj or Coburger direkt unterstellten Abteilungen/AG am 8.11.1989; BStU, ZA, HA VIII 1672, Bl. 437–441. 157 Hinter Diplomen und Promo tionen an der „Juristischen Hochschule“ des MfS verbarg sich ganz überwiegend Schulung in geheimd ienstlichen und geheimpolizeilichen Fertigkeiten neben viel Ideologie. Die rechtswissenschaftliche Ausbildung war äußerst schmal. 158 „Erklärung“ der HA IX APO 17 vom 9.11.1989; BStU, ZA, SdM 636, Bl. 24–26.

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Mittel gegen Andersdenkende und Unzu friedene und das Gefühl der Ohnmacht, eine grundlegende Wende herbeiführen zu können, führte zur Veränderung der Persönl ichkeit, zu Ersche inungen und Verhal tensweisen der R esignation und Passivität, Verbitterung und Isolation, zu Orientierungs- und

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Ratlosigkeit. Anderersei ts wurden di e B lindheit des Vert rauens und gedankenlose Ergebenheit sowie Anpasser und Aufpasser in dem Maß fragwürdig, wie sie verstärkt gefördert wurden.“ 159

Da Institutionen darauf basieren, daß ihre Angehörigen Norm enbeachtung als „ moralische Pflicht“ em pfinden, 160 wird hier ein Lernprozeß sichtbar, der bis dahin aber wohl nur in einzelnen G ruppen von MfS-Mitarbeitern eingetreten war: Gerade der blinde G ehorsam wurde als Ursache von Fehlentwicklungen erkannt. In den zuvor zitierten Äußerungen werden zudem einzelne Faktoren, die sich lähm end auf die Motivation ausw irken, sichtbar. „ Tschekist“ zu sein hatte durchaus eine gewisse Anerkennung vor allem im eige nen Milieu vermittelt. Außerhalb legte man sich mit ihnen zumindest besser nicht an. Nun schlug ihnen, vor allem in kleineren Städten, offene Ablehnung und Verachtung entgegen. 161 Der Chef der BVfS Karl-Marx-Stadt listete in einem Fernschreiben nach Berlin seitenlang Beleidigungen auf, die MfS-Mitarbeiter und ihre A ngehörigen in seinem Bezirk in den vorangegangenen Tagen hätten erdulden m üssen. 162 Auf den Demonstrationen wurden immer häufiger Parolen gegen die Staatssicherheit gerufen. Dafür einige Beispiele, zuerst aus der Zeit vor dem 6. November: „Stasi raus“, „Stasi in die Produktion“ (Rostock 2.000 Teilnehm er; A ue 1.500 Tn., Bad D oberan 400 Tn.); „Stasi in die Volkswirtschaft“, „Bullen raus“ (Zeulenroda 2.000 Tn.); „ Eure Tage sind gezählt“ (Bad Salzungen 500 Tn.); „ Gegen Lüge und Angst“ (Annaberg 6.000 Tn.); „ Stasi w eg, hat kein Zweck“, „Wir sind das Volk, schließt euch an“ (Rostock 10.000 Tn.). In der Woche vom 6. bis zum 12. November: „Wir verdienen euer Geld“ (Schmalkalden 250 Tn.); „ Faulenzer, Parasiten, faules Pack, Volksve rräter, ihr seid das Letzte“ (Leipzig 200.000 Tn.). 163 A ngesichts solcher A nwürfe war es schwer, sich selbst noch für eine „Elite“ zu halten. Mindestens ebensowichtig war, daß es auch innerhalb des eigenen Milieus – das m it dem Stasi-Begriff der „Partner des operativen Zusammenwirkens“ einigermaßen treffend um schrieben ist – erste Anzeichen von D istanzierung gab. Die Zentrale Auswertungs- und Inform ationsgruppe vermeldete in einem Bericht zur Stim mungslage, die Mitarbeiter zeigten sich „sehr beunruhigt darüber, daß insbesondere die leitenden Partei- und 159 HA IX APO 18: „Positions- und Diskussionspapier“ vom 9. 11.1989; BStU, ZA, HA IX 2386, Bl. 27–36, hier 31 f. 160 Vgl. Parsons: Beiträge zur Soziologischen Theorie (1973), S. 141. 161 Vgl. SED-Kreisleitung Abte ilung Parteiorgane: Auszüge aus den Monatsberichten der PO/GO Oktober 1989 zur Arbeit der SED-Kreisleitung und der Tätigkeit des MfS und im MfS vom 9.11.1989; BStU, ZA, SED-KL 1072, Bl. 287–296, hier 294. 162 Telegramm des Leiters der BV Karl-Marx-Stadt, Generalleutnant Gehlert, an das MfS Berlin: Information über das Stimmungsbild unter de n Mitarbeitern der BVfS Karl-Marx-S tadt, insbesondere in den Kreisdienststellen, 11.11.1989; BStU, ZA, Mittig 30, Bl. 76–78. 163 Zusammengestellt nach: „Übersicht“; BStU, ZA, AGM 1654, Bl. 1–27.

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Staatsfunktionäre auf den Ebenen der Bezirke und Kreise bis auf wenige Ausnahmen nicht oder nicht w irksam zu eskalierenden Angriffen aus der Bevölkerung gegen die Schutz- und Sicherheitsorgane Stellung beziehen und sich in der Öffentlichkeit nicht hinter das MfS und seine Mitarbeiter stellen.“ 164 Selbst die „Volkspolizei“, die w egen der Ü bergriffe in der ersten O ktoberwoche in heftiger öffentlicher Kritik stand, ging auf Abstand. Informationen aus der für ihre Überwachung zuständigen Hauptabteilung VII mußten im MfS als A larmsignal verstanden w erden. A nfang N ovember war zwar noch berichtet worden, die Einstellung der V olkspolizei zum MfS sei von dem „symbolischen G edanken des Schulterschlusses“ geprägt. 165 I n der Woche nach dem Mauerfall aber wurde plötzlich gemeldet: „Zu den Veränderungen i m Stimmungsbild gehören Erscheinungen, daß sich Angehörige der DVP [Deut schen Volkspolizei] zunehmend offen gegen das MfS stellen. Das fi ndet seinen Ausdruck zum einen in ablehnenden Haltungen zur Tät igkeit des M fS und zum anderen in der di rekten Ablehnung des POZW [Politisch-Operativen Zusammenwirkens]. So lehnen Kriminalisten die Erstellung von Gutachten ab, VK-Angehörige [Verkehrskontrolle] die Feststellung von Kfz-Kennzeichen u. ä. Das M fS, so di e verbreitete Auffassung, arbeitet nicht für und m it dem Volk, sondern gegen das Volk und die Polizei.“ 166

Große Erbitterung lösten auch erst e staatsanwaltschaftliche Erm ittlungen gegen einzelne MfS-Offiziere wegen der „Übergriffe“ am 40. Jahrestag aus. So wurde in Dresden gegen drei Mf S-Offiziere ermittelt. Einer von ihnen hatte sich deshalb erschossen. D ie SED-Grundorganisation in der U ntersuchungsabteilung der D resdner Bezirksverwaltung schrieb einen Protestbrief an Mielke: „ Wir m einen voller Bitterkeit, nicht die Kugel aus der Pistole, sondern das Ermittlungsverfahren, ungerecht und ungesetzlich, hat ihn tödlich getroffen aus unserem Kam pfkollektiv gerissen.“ 167 Der Dresdner Bezirkschef, G eneralmajor Böhm (den vier Monate später ein ähnliches Schicksal ereilen sollte), schickte diesen Brief auch noch an Krenz und Herger. Das Pathos dieses Schreibens war gewiß aus der Situation zu erklären. Zugleich aber zeigt es, w ie der U mstand, für seine H andlungen straf164 „Hinweise auf b eachtenswerte Reaktionen von Mitarbeitern des MfS auf die g egenwärtige Lage“, 14.11.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 14–16, hier 14. 165 AKG der HA VII: „ Information über die aktuelle Entwicklung der politisch-operativen Lage im Verantwortungsbereich der HA und Linie VII“ vom 9.11.1989, gez. Hauptmann Günther; BStU, ZA, HA VII 1359, Bl. 105–107, hier 107. 166 AKG der HA VII: „ Information über die aktuelle Entwicklung der politisch-operativen Lage im Verantwortungsbereich der HA und Linie VII“ vom 17.11.1989, gez. Hauptmann Günther; BStU, ZA, HA VII 1359, Bl. 65–67, hier 66. 167 Schreiben der SED-GO in der Abt. IX der BVfS Dresden an Mielke vom 10.11.1989, mit Begleitschreiben von Böhm; BStU, ZA, SdM 636, Bl. 30–32.

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rechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden, den Vorstellungshorizont sprengte. Daß es überhaupt dazu kam , war nur möglich, weil erste Risse im Machtgefüge entstanden waren. In diesem Falle w urden sie allerdings noch einmal gekittet: Das Ermittlungsverfahren gegen die anderen beiden Offizier e wurde nach dem Suizid eingestellt. Zur D esorientierung trug bei, daß auch innerhalb des Ministerium s die Spitze der Hierarchie keineswegs den Eindruck verm ittelte, sie würde eine klare Linie verfolgen. U m dem Vorwurf der „Sprachlosigkeit“ 168 entgegenzuwirken, meldete sich deshalb Mielke s Stellvertreter Generaloberst Mittig mit einem „ Interview“ zu Wort, in dem er die Öffentlichkeit glauben machen wollte, die Staatssicherheit sei eine relativ harmlose Institution: „Der ‚t otale Überwachungsst aat‘, das ‚allgegenwärtige Spi tzelsystem‘ exi stieren nur in der Phantasie westlicher Medien. Das Min isterium für Staatssicherheit ‚überwacht‘ nicht das Vol k, es arbei tet mit den Bürgern zusammen [...]“ 169

An diesem „Interview“ war nichts w ahr: w eder der Inhalt der A ussagen noch der angebliche Sprecher, und selbst das Genre stimmte nicht. Tatsächlich handelte es sich um einen Text, der bereits eine Woche zuvor im MfS wortwörtlich so zu Papier gebracht worden war. 170 Daß das „Interview“ nun Mittig zugeschrieben wurde, war wohl vor allem als Zeichen zu verstehen, daß er der nächste Staatssicherheitsch ef werden sollte. Die Resonanz war auch innerhalb des MfS negativ. Mitarb eiter der Abt. X I (Chiffrierwesen) etwa erklärten gegenüber dem Leiter ihres Stellvertreterbereiches, Generalleutnant Schwanitz, „daß dies kein Interview w ar, sondern ein durch die Führung des MfS inszeniertes und völlig m ißglücktes Beruhigungsm anöver“. 171 Die gleiche Wertung gilt für eine „ Erklärung“, die das Kollegium des MfS am 6. Novem ber verabschiedete . Dieser ursprünglich als ADN-Pressemeldung zu r Veröffentlichung konzipierte Text fand nur innerhalb des MfS Verbreitung. Dem Text nach zu schließen, glaubte die Spitze der MfSGeneralität, die Bürgerschaft m it der Mitteilung besänftigen zu können, es seien „Maßnahmen“ eingeleitet, die „ zur Erhöhung der Effektivität der Ar168 V gl. SED-Kreisleitung, Abt. Parteiorgane: Auszüge aus den Monatsberichten v om 9.11.1989, Bl. 294. 169 „Staatliche Sicherheit – Grundbedingung für Erneuerung und für Bewahrung des Erreichten. Interview des N D mit dem Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, Generaloberst Mittig“, in: Neues Deutschland 6.11.1989. 170 „Entwurf für ein Interview mit einem Führungskader des MfS“ vom 31. 10.1989; BStU, ZA, SdM 2151, Bl. 24–28. 171 GO XI A PO 2: „ Fragestellung an den Gen. Schwanitz“; hs. Vermerk „ 10.11.1989“; BStU, ZA, SdM 2073, Bl. 10–12; vgl. entsprechende Äußerungen in: „Zusammenfassung der in den letzte n Wochen/Tagen aufgetretenen Probleme/Fragen/Meinungen der Angehörigen in den Diensteinheiten des Verantwortungsbereiches sowie der Abteilung 26“; BStU, ZA, SdM 2290, Bl. 59–75, hier 64.

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beit des MfS“ führen würden. Für die MfS-Mitarbeiter, die tatsächlichen Adressaten dieser Erklärung, w ar vor allem die folgende Aussage relevant: „Im Innern der DDR setzt das MfS seine Kräfte und Mittel zur Verhinderung und Bekäm pfung verfassungsfeindlicher A ktivitäten ein. Das schließt Maßnahmen gegen A ndersdenkende aus.“ 172 Rudi Mittig wiederholte diesen Satz wenige Tage später in seinem Beitrag vor dem ZK-Plenum. 173 Es war eine ungewohnte Unterscheidung. Zuvor galt jeder, der Kritik an der herrschenden Politik übte, als „ feindlich-negativ“. Unklar war jedoch, wo die neue Grenze verlief zw ischen „ Andersdenkenden“, die nicht verfolgt werden sollten, und „ Verfassungsfeinden“, die zu observieren waren. 174 In der Staatssicherheit w urde nun diskutiert: „ Wer ist unser Feind? Sind die Vertreter des Untergrundes jetzt Andersdenkende?“ 175 Eine präzise Definition beider Begriffe existierte nicht; zudem waren gerade in dieser Beziehung die D inge im Fluß. Deshalb ist die Rede des frisch gekürten Politbürom itglieds und ZK -Sekretärs für Sicherheit, Wolfgang Herger, auf dem ZK-Plenum am 10. November gerade von MfS-A ngehörigen gewiß sehr aufmerksam gelesen worden. Sein Beitrag zur „Erneuerung des politischen Systems“ enthielt auch einige etwas nuanciertere Gedanken: Es gebe jetzt m anchen, der „ die führende Rolle“ der SED angreife, darüber könne man vielleicht debattieren, aber eines könne m an gewiß nicht, sie „dekretieren“. „ Solange w ir einer V olksbewegung hinterherlaufen, wird man in uns schw erlich eine führende Kraft erkennen.“ Es seien viele „ neue Bürgerinitiativen“ entstanden, ihnen müsse man sich politisch stellen: „Im Dialog und vor al lem bei der Lösung konkret er Aufgaben zum W ohle des Volkes wird sich zeigen, wer unser politischer Partner oder wer unser politischer Gegner oder wer einfach nur ein Demagoge ist. Ich sehe eine Grenzlinie: Wer sich den In teressen u nseres Vo lkes en tgegenstellt, g ar m it d em Umsturz unserer Gesel lschaftsordnung und der R estauration des Kapi talismus spielt, kann ni cht dam it rechnen, von uns auch noch unterstützt zu werden.“ 176

Der letzte Satz war natürlich beschönigend. Es folgte denn auch der H inweis auf Volkspolizei, Staatssicherheit und K ampfgruppen, die „ Chaos u nd 172 Kollegium des MfS: „Erklärung“ vom 6.11.1989; BStU, ZA, DSt 103011. 173 Redebeitrag von Rudi Mittig auf dem 10. ZK-Plenum am 10.11.1989, in: Neues Deutschland 11./12.11.1989. 174 Die Verwirrung ist etwa ablesbar an den Notizen eines Mitarbeiters der HA XX/4 (Bearbeitung der Kirchen), der bereits am 23.10.1989 als neue Linie notierte: „Dialog mit allen Leuten (auch fdl.[feindlich] -andersdenkenden), aber über Grundfragen, Grundlagen i[n] d[er] DDR wird nicht diskutiert“; Arbe itsbuch M. Wettstein; BStU, ZA, HA XX/4 1422, Bl. 192. 175 „Zusammenfassung der in den letzten Wochen/Tagen aufgetretenen Probleme...“, Bl. 68 (Hv. im Orig.). 176 Redebeitrag von Wolfgang Herger auf dem 10. ZK-Plenum am 10.11.1989, in: Neues Deutschland 11./12.11.1989.

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Anarchie“ – die alten Schreckensparolen strukturkonservativer Kräfte – verhindern würden, verbunden m it dem Ruf nach „ Sicherheitspartnerschaft“ und allgemeiner „ Gewaltfreiheit“. Zw ei andere Elem ente aber w aren entscheidend: daß Dialogbereitschaft nicht m ehr von der A nerkennung der „führenden Rolle“ der SED , also ihres Machtm onopols, abhängig gem acht werden sollte und daß hier als dem okratisches Element zumindest eine Ahnung von politischem Wettstreit durchschien. Für die Beantwortung der Frage von MfS-Mitarbeitern, w er denn nun der „ Feind“ sei, bot all das allerdings nur eine sehr grobe O rientierung, denn die „Restauration des K apitalismus“ forderte seinerzeit keiner der Sprecher der Bürgerbewegung explizit (und auch die heimlichen Lauscher der Staatssicherheit konnten dafür keine Belege beibringen). Das MfS w urde traditionell durch das Gefühl zusammengehalten, eine verschworene Kampfgemeinschaft zu sein. Nun aber machte sich bei seinen Angehörigen das Gefühl breit, Bauern in einem neuen Spiel zu sein, dessen Regeln sie nicht kannten. D as einschneidendste Beispiel dafür w ar die Grenzöffnung ohne V orwarnung. Es ist eige nartig, daß die Form dieses Ereignisses nicht – wie w enig später andere G eschehnisse – eine breite Protestwelle innerhalb des MfS ausgelöst hat. Vielleicht war seine Einschätzung zu ambivalent. Selbst von den unm ittelbar involvierten Einheiten der MfS-Paßkontrolleinheiten sind keine kollektiven Ä ußerungen überliefert, obwohl sie dam als bereits m öglich gew esen wären. Auf Dienstberatungen der HA VIII (Observation) und der H A XVIII (Wirtschaft), die wenig später stattfanden, w urde der V organg zw ar erw ähnt, aber ohne daß sich die Diskussion in irgendw elchen gemeinsamen Meinungsäußerungen niedergeschlagen hätte – zumindest ist in den Protokollen nichts dergleichen festgehalten. 177 Eine A usnahme machten A ngehörige d er H A III ( Funkaufklärung), die sich schon in der Woche zuvor wiederholt kritisch zu Wort gem eldet hatten. Auf einer Mitgliederversammlung ihrer SED-Grundorganisation wurde darüber debattiert. Einer spekulierte, die Öffnung der Grenze sei eine „,Notbremse‘ zur V erbesserung des V erhältnisses Bevölkerung – Polizei“ gew esen. 178 Eine andere, die Protokollantin dieser Sitzung, beklagte den Verlust an bisher stabil geglaubten Rollenerwartungen – natürlich in anderen Worten: „Wo war di eses uns anerzogene, von uns als Mitarbeiter voll akzeptierte Sicherheitserfordernis in der Nacht der Grenzöffnung? Warum konnte plötzlich jeder mit oder ohne Papiere – Gedanke: auch mit Papieren aus Panzerschrän177 Vgl. Protokoll einer Beratung des Leiters der HA XVIII vom 10.11 .1989; BStU, ZA, HA XVIII 4601, Bl. 11 f.; Protokoll der Dienstbesprechung mit den Leitern der Abteilungen/AG der HA VIII am 11.11.1989; BStU, ZA, HA VIII 1672, Bl. 434–436. 178 HA III/GO 12: Protokoll der Mitgliederv ersammlung der GO 12 am 14. 11.1989; BStU, ZA, HA III 7589, Bl. 43–49, hier 43.

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ken vielleicht – ins Operationsgebiet?“ 179

Das beschreibt zugleich den zuvor als Entgrenzung bezeichneten Prozeß. Am nächsten Tag schrieb die Leitung dieser G rundorganisation einen Brief an die SED -Kreisleitung im MfS. D arin w urde „Unverständnis“ geäußert, daß man in dieser D iensteinheit, die üblicherw eise den Funkverkehr des Gegners belauschte, um Neuigkeiten zu erfahren, nun „ erst aus den elektronischen Medien über die Entscheidung“ zur Maueröffnung inform iert worden war. Zugleich wurde eine weitgehende Rollendiffusion erkennbar: „Wo blieb das Si cherheitsdenken, wenn für St unden alle Gesetze und R ichtlinien de facto außer Kraft gesetzt wurden. Wer zählte die Tränen der Mütter und Väter, deren Ki nder sich – ohne W issen der El tern – i n Westberlin und der B RD aufhi elten, wer kann den moralischen Schaden wiedergutmachen, die Glaubwürdigkeit der El tern in den Augen ihrer Kinder wiederherstellen? Heute m ittag war alles n och v erboten, heute abend aber plötzlich erlaubt?“ 180

Das war gewiß nicht einfach zu erklären – auch sich selbst nicht. Das normative Gefüge begann sich aufzulösen. Ein eindrucksvolles Zeugnis dafür bietet das Protokoll einer Sitzung der Parteikontrollkommission (PK K) der SED -Kreisleitung im MfS. 181 Diese Kommission w ar bis dahin dafür zuständig gew esen, „ unmoralisches V erhalten“ (Trunkenheit, Seitensprünge etc.) zu bekäm pfen, die Parteidisziplin durchzusetzen, aufkeimende Zw eifel zu ersticken und Mitarbeiter, die Widerspruch wagten, aus der Partei und dam it auch aus dem MfS zu entfernen. 182 Zu Beginn der Sitzung am 13. N ovember berichtete eine Mitarbeiterin aus Karli Coburgers H auptabteilung V III (Observation), in ihrer Abteilung würden Anträge auf Dienstentlassung gestellt: „Als Grund geben sie an, daß sie durch den Mißbrauch der Macht der Partei, was sich auch auf die operative Arbeit ausgewirkt hat (z. B. Bearbeitung des [politischen] Untergrundes) nicht m ehr bereit sind, diese D inge zu m achen. Wie reagieren wir parteimäßig darauf?“ 183 Diese Frage war neu. Früher w ären solche Mitarbeiter mit Schimpf und Schande aus der Partei ausgeschlossen w orden, und m an hätte versucht, den Vorgang zur „Erziehung“ der Genossen auszuschlachten. Nun m achte Schin dler, der V orsitzende der Kommission, den Vorschlag, 179 Ebenda, Bl. 45. 180 Leitung der Grundorganisation 12 der Parteiorganisation III: Offener Brief an die SEDKreisleitung vom 15.11.1989; BStU, ZA, HA III 5361, Bl. 40–42. 181 SED-Kreisleitung, Parteikontrollkommission: Pr otokoll der Sitzung der PKK am 13.11.1989; BStU, ZA, SED-KL 510, Bl. 216–225. 182 Vgl. Schumann: Die Parteiorganisation der SED im MfS (1998), S. 61–79. 183 Protokoll der Sitzung der PKK am 13.11.1989, Bl. 216.

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„sie ohne Parteiverfahren gehen [zu] lassen, auch ohne längere Diskussion“. 184 Ein Vertreter der Hauptabteilung Kader und Schulung in der PKK berichtete darauf, in seiner A bteilung gebe es die „Orientierung“, „diese Genossen“, von denen offenbar m ehr existierten, „ aufgrund struktureller Veränderungen zu entlassen. D amit wird den G enossen nicht irgend etw as angelastet.“ 185 Heute würde m an das betriebsbedingte K ündigungen nennen, eine Form , die sicherlich nicht nur aus Rücksichtnahm e auf die ausscheidenden Mitarbeiter gewählt w urde, sondern auch, um D iskussionen über die politischen Beweggründe zu vermeiden. Doch nagender Zw eifel hatte inzw ischen selbst die Mitglieder der PKK erfaßt. Ein Mitarbeiter der H auptabteilung II (Spionageabwehr) meinte, er „habe das G efühl, es läuft nichts“ , „von unserer Partei im MfS herrscht absolute Ruhe. Es gibt keine klare Positionierung.“ 186 Ein anderer „ Genosse“ 187 , Andreas Knoppick von der Hauptabteilung I (Militärabwehr), erklärte: „Gegenwärtig gibt es einen echten V ertrauensschwund nach hinten aber auch nach vorn.“ Ein Mitarbeiter de s OTS (Operativ-Technischer Sektor) pflichtete ihm bei: „Die Genossen fühlen sich durch die Partei belogen und betrogen. Sie fordern Ehrlichkeit, egal wo sie im MfS tätig sind.“ 188 Au s dem Wachregiment wurde über Fälle von „ Befehlsverweigerung“ berichtet und daß dort sogar die Forderung aufgestellt worden sei: „Umgestaltung ja, SED nein“. 189 Die ärgsten Selbstzweifel aber äußerte ein Mitarbeiter der Hauptabteilung XX, die eine zentrale Funktion für die politische Repression hat. Der bisher für die Bearbeitung katholischer Priester zuständige Werner Sprotte von der Abteilung XX/4 beichtete: „Wir werden angeschwi ndelt und schwi ndeln sel ber. Di e t ieferen Ursachen kennen wir nicht. Die Regierung und Part eiführung hat über viele Jahre das Volk und uns als Genossen angeschwinde lt. Diese falsche Politik haben wir jeden Tag m itgemacht und m it realisiert. Bei uns kom mt hinzu, daß aus dieser falschen Politik die Befehle geword en sind. Ich rede nicht von der Abschaffung der B efehlsform, aber wi r wurden durch unsere Di nge di szipliniert. Zum Beispiel: Anzugsordnung, H aarschnitt bis hin zur Ansiedlung in eigenen W ohnbereichen. [...] W ir ha ben die jungen Geno ssen schizophren erzogen. Di e neue Verfassung, di e gefo rdert wi rd, wi rd es ni cht erlauben, daß die SED führend ist. [...] Das neue Parlament wird kein MfS mehr haben 184 Ebenda, Bl. 217. 185 Ebenda. 186 Ebenda. Bl. 216. 187 In Protokollen der Parteiorganisation im Mini sterium wurden – alle Parteimitglieder waren angeblich gleich – nicht wie sonst im MfS die Dienstgrade genannt, sondern alle Redner waren „Genossen“. Die Angaben zu den Diensteinheiten der Redner nach SEDKreisleitung: Mitglieder und Kandidaten der KPKK, 20.2.1986; BStU, ZA, KL-SED 652, Bl. 1203. 188 Protokoll der Sitzung der PKK am 13.11.1989, Bl. 217. 189 Ebenda, Bl. 218.

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wollen.“ 190

190 Ebenda. Zu W. Sprotte vgl. Strukturübe rsicht der HA XX/4 in: BStU, ZA, HA 2143, Bl. 322; Grande u. Schäfer: Kirche im Visier (1998), S. 35.

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XX/4

Das war nun wirklich ein A ngriff auf das grund sätzliche Selbstverständnis des MfS und auf die Rollenerw artungen an seine Mitarbeiter. Wie reagierte darauf der Vorsitzende der PKK, Oberst Schindler? Er erklärte: „Es wird so sei n, wi e Genosse Sprot te sagt , daß es Forderungen gi bt, daß Menschen der Blockparteien/Bündnispolitik in die Sicherheitsorgane kommen. Sie nutzen die Schwäche der Partei aus, um i hre Posi tionen durchzuset zen. [...] Es gibt keine fachliche Führ ung des MfS, keine Wirkungen des Kollegiums.“ 191

Nach diesem Angriff auf die Spitzen der H ierarchie fügte er hinzu: Man müsse „eine neue Position dazu erarbeiten [...], wie die Einheit von Partei-, Staats- und m ilitärischer Disziplin auszulegen ist“ . 192 Das zentrale Verhaltensregulativ, die „Disziplin“, war nicht mehr selbstverständlich. Doch man wußte nicht, wie m an sie neu begründen sollte. So wurde vorerst als einzig praktische Maßnahme beschlossen, eine A rbeitsgruppe einzurichten, die jene Parteimitglieder rehabilitieren sollte, gegen die in den Jahren zuvor aus politischen Gründen Sanktionen verhängt worden waren. Was bedeutete die Verunsicherung vieler ihrer Mitarbeiter, die noch nicht zu ihrem Abschluß gekommen war (der nächste bew ußtseinsfördernde Paukenschlag folgte noch am gleichen Tag), für die w eitere Entw icklung der Staatssicherheit? Wenn selbst ein MfS-General alter Schule wie Karli Coburger auf häretische G edanken kam, dann zeigt das, daß durch die rapide Veränderung des politischen Umfelds Lernprozesse angestoßen worden waren, die zur Erosion der bisherigen Basis staatssicherheitsdienstlichen Rollenverständnisses führten. Die Grenzöffnung mußte aus der tradierten Sicht der Staatssicherheit eine Ungeheuerlichkeit sein, da sie damit der Kontrolle über und des Zugriffs auf die Bürger beraubt w urde. Doch sie w ar an ihrer V orbereitung sogar beteiligt gewesen. Daß das Entscheidungschaos am A bend des 9. N ovember nicht blutig eskalierte, war auch das Verdienst von MfS-Offizieren direkt an der G renze. D er ganze V organg w urde, sicherlich von vielen kopfschüttelnd, hingenom men. A uch auf der Parteiaktivtagung im MfS zw ei Tage später, am 11. N ovember, wurde die Maueröffnung zw ar indirekt erwähnt, als Wolfgang Herger entschuldigend sagte: „ Vieles, w as w ir tun, m achen wir aus einer Mom entansituation heraus.“ 193 Aber debattiert wurde über andere Punkte. Der innere Prozeß w ar in ein Stadium eingetreten, in dem man sich vorwiegend mit sich selbst beschäftigte. 191 Protokoll der Sitzung der PKK am 13.11.1989, Bl. 219. 192 Ebenda, Bl. 221. 193 Von dieser Tagung ist nach gegenwärtigem Kenntnisstand kein Protokoll überliefert. Die zitierte Äußerung notierte Rolf Scheffel, der st ellvertretende 1. Sekretär der SED-Kreisleitung im MfS, in seinem Arbeitsbuc h; BStU, ZA, SED-KL 652, Bl. 1242–1422, hier 1290.

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Defensive Liberalisierung

Liberalisierung ist jenes Stadium im Übergang von der D iktatur zur Demokratie, in dem das Alte Regim e faktisch darauf verzichtet, zivilgesellschaftliche Selbstorganisation repressiv zu unterbinden. 1 Es geht, verglichen mit dem vorangegangenen Stadium , um m ehr als bloß taktische D uldung: um die Entstehung erster Regeln, die für die A ktivisten der civil society ein Stück w eit kalkulierbar sind, sei es aufgrund des beobachteten Verhaltens der Repressionsorgane, sei es aufgr und politischer Einschätzungen. Andererseits ist die Ausübung politischer M acht noch keiner gesellschaftlichen, institutionalisierten Kontrolle unterworfen. Das zu betonen ist wichtig: Der Repressionsverzicht ist politischer Natur. Rechtlich kann er in diesem Stadium noch nicht abgesichert sein, setzt das doch eine Unterordnung der Staatsgewalt unter das Recht voraus, die erst das Ergebnis konsolidierter Gewaltenteilung ist. 2 Es handelt sich zudem noch immer um ein autoritäres Regime: Ein solches Regime ist w eniger w eitreichend in seinem H errschaftsanspruch als ein Regime mit totalitären Ambitionen, und es kann Ansätze zur G ewaltenteilung zulassen, von demokratischen Machtstrukturen aber ist es noch w eit entfernt. Um den Eindruck zu vermeiden, es ginge um bloße Selbstbeschränkung der Machthaber, soll der Begriff der defensiven Liberalisierung andeuten, daß diese Politik durch die neue SED-Führung nicht freiwillig, aus eigener Einsich t, eingeleitet wurde, sondern in Reaktion auf gesellschaftlichen Druck und wegen interner Konflikte. Die G rundfrage w ar, w ie die bisher herrschende Partei sich im Übergangsregime situierte. Eine Antwort darauf versuchte die SED auf ihrem ZK-Plenum vom 8. bis 10. N ovember zu finden, jenem Plenum, das hinter den Turbulenzen um die G renzöffnung fast verschw unden ist. Präzisere

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Bereits in der Periode zuvor ist, wie gezei gt, eine strafrechtliche Sanktionierung der Mitarbeit in Bürgerrechtsorganisationen weitgehe nd (Ausnahme: Reisefreiheit) unterblieben. Es wurde jedoch versucht, ihre Aktivitäte n durch Polizeieinsätze und Ordnungsstrafen zu lähmen und ihre Akteure durch verdeckte Repression, „Zersetzung“, zu paralysieren. Bei O’Donnell und Schmitter wird diese Logik meines Erachtens nicht genügend beachtet, wenn sie schreiben: „ By liberalization we mean the process of making effective certain rights that protect both individuals and social groups from arbitrary or illegal acts committed by the state or third parties.“ Andererseits aber sei „a characteristic of this early stage in the transition [...] its precari ous d ependence upon governmental power, which remains arbitrary and capricious“. O’Donnell u. Schmitter: Transitions (1993), S. 7 (Hv. – W.S.). „Rechte“ sind gerade nicht von der Willkür der Mächtigen abhängig.

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Kriterien für die Relevanz der ang estrebten Veränderungen lassen sich aus einem Dokument ableiten, in dem wenige Tage zuvor die Verteidiger der alten Ordnung gewissermaßen ihr Selbstbild festgehalten hatten: die Beg ründung für die Nichtzulassung der Sozialdem okratischen Partei. 3 Als Grund war genannt worden, in den A ntragsunterlagen fänden sich „ verfassungswidrige“ Zielsetzungen und Positionen: „ Bestreitung des Wahrheits- und Machtanspruchs der herrschenden Partei“ , „ klare Trennung von Staat und Gesellschaft“, „ strikte G ewaltenteilung“, „ parlamentarische D emokratie“, „soziale Marktwirtschaft“ und „Freiheit der Gewerkschaften“. 4 In Umkehrung ergibt sich daraus der bisher als unantastbar geltende Kernbestand der Diktatur: als Zentrum des Machtsy stems die „ führende Rolle“ der SED im Sinne eines institutionalisierten Wahrheits- und Machtmonopols der Parteiführung; Einheit der Gewalten statt Gewaltenteilung in einem System „auf der Grundlage d es demokratischen Zentralismus“. Von realer Bedeutung war bei letzterem , etwas schillernden Begriff nur eine Dimension: die „unbedingte Verbindlichkeit der Beschlüsse der höheren O rgane für die unteren Organe und die Mitglieder“ 5 , wobei an der Spitze aller Hierarchien – der „Massenorganisationen“ wie der Blockparteien – die SED-P olitbürokratie stand. Innerhalb dieses Rahmens konnten mangels eines kompetitiven Elements Wahlen im mer nur affirmative Scheinwahlen sein. Mit all dem mußte bei einer wirklichen Wende zur D emokratie gebrochen w erden. A ls w eiteres Kriterium sollte hinzugezogen werden, wie die Ursachen der politischen „Krise“ erklärt w urden, deren Existenz nun nicht mehr länger zu leugnen war: als subjektiv verursachte „ Fehler“ der alten Führung oder als strukturelles Problem. Das gibt A ufschluß über die Tiefe des Bruchs m it Vergangenheit. Soweit die Ausgangslage.

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Das betreffende Papier war im Innenministerium gefertigt und am 24. und neuerlich am 31. Oktober gemeinsam von Mielke und Dickel im Politbüro eingebracht worden. Dort ist es nicht bestätigt, sondern nur „zur Kenntnis genommen“ worden, doch ist anzunehmen, daß es das Denken der obersten Sicherheits bürokraten wiedergibt. „ Entwurf für eine mündliche Antwort des MdI auf die Mitteilung über die Gründung der SDP durch I. Böhme“, Anlage 4 zum Protokoll des Politbür os vom 31.10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2356, und Protokoll des Politbüros vom 31.10.1989, ebenda. Damit sei gegen folg ende Verfassungsartikel verstoßen worden: Art. 1 und 2, Art. 9 Abs. 3, Art. 29, Art. 44 und Art. 47 Abs. 2. Artikel „demokratischer Zentralismus“, in: Kleines politisches Wörterbuch (1985), S. 172.

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8.1 Kurswechsel der SED Auf dem Plenum des Zentralkomitees am 8. N ovember hielt Eg on K renz das Hauptreferat. 6 Dieser Text kann aus unterschiedlichen Perspektiven gelesen und an verschiedenen Maßstäben gem essen w erden: entw eder als konzeptionelle Annäherung an ein dem okratisches Sy stem, w ie es von der Bürgerbewegung immer lauter gefordert wurde, oder als Schritt zur Reform einer kommunistischen Partei, deren Führung nach wie vor an ihrem Machtanspruch festhielt. Anders gefragt: Entwickelten sich die Softliner zu Liberalisierern, oder versuchten sie, den Rückzug zu stoppen und den erreichten Stand einz ufrieren? Welche K onzessionen w urden auf dem Weg zu einem demokratischen System gemacht? Auf dem Plenum w urde viel über die Macht gesprochen. Die Frage ist, was damit gemeint war. Weder daß die SED politische Macht, noch daß sie auch künftig eine Führungsrolle anstrebte, w ar per se undemokratisch – beides sind auch Charakteristika politischer Parteien in demokratischen Systemen. Obwohl man sich bei einer Partei m it einer solchen V ergangenheit, noch verwoben mit dem Staatsapparat, nur schw er vorstellen kann, w ie sie sich in ein dem okratisches Parteiensystem einbringen w ürde (w ofür es allerdings durchaus Beispiele gibt, etw a in Ungarn und Polen 7 ), ist das doch festzuhalten. A nders kann ein hinreichend differenzierter Kriterienkatalog für den Übergang nicht entwickelt werden. Die entscheidenden Punkte sind, ob Macht und Führung weiterhin zeitlich unbegrenzt institutionell abgesichert sein sollten und wie sie begründet wurden: „geschichtsphilophisch“, das heißt vordemokratisch-transzendental, oder zumindest in der Perspektive durch kompetitive Wahlen und somit auf Basis der Volkssouveränität. Die ZK-Mitglieder, die nun darüber zu entscheiden hatten, w aren sämtlich Mitglieder der alten Nomenklatura. Die späteren SED-Reformer, die im Dezember in die Ruinen der Parteim acht einziehen sollten, waren auf diesem Plenum nicht zugegen. A llenfalls Otto Reinhold, der Rektor der A kademie für G esellschaftswissenschaften der SED , sympathisierte mit ihnen. Doch sein Versuch einer selbstkritischen Bilanz wurde aus dem Plenum 6

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Die Redebeiträge auf der 10. ZK-Tagung vom 8. bis 10.11.1989 werden im folgenden nach der Transkription des Tonbandmitschnitts zitiert, die von Hertle und Stephan ediert wurde. Diese Veröffentlichung ist vollständiger als das parteiinterne Protokoll und enthä lt vor allem die Wortgefechte über Personalfragen zu Beginn der Tagung. Hertle u. Stephan (Hrsg.): Das Ende der SED (1997); hier S. 135–437 [künftig: Protokoll d er 10. ZK-Tagung]; Einleitungsreferat von Egon Krenz, ebe nda, S. 185–196 u. 204–235. Das offizielle „Protokoll der 10. Tagung des Zentralkomitees der Sozi alistischen Einheitspartei Deutschlands“, hrsg. vom Büro des Politbüros, Vermerk „ parteiinternes Material“, findet sich u. a. in: BStU, ZA, SdM 398. Maßstab ist, ob die Parteien eine Abwahl in einem demokratischen Urnengang akzeptiert haben. Diese Probe haben sie in beiden Lände rn bestanden. Vgl. Juchler: Probleme (1997), S. 910.

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heraus und durch Egon K renz ziemlich rüde abgew ürgt. 8 Sonst hatten nur Günter Schabowski und Hans Modrow Verbindungen zu konzeptionell denkenden Reform ern um den stellvertretenden Rektor der Humboldt-Universität, Dieter Klein. Auf diese Gruppe wird zurückzukommen sein. Die anderen ZK-Mitglieder wußten allenfalls von deren Existenz, 9 interessierten sich aber kaum für ihre als abgehobener Intellektualism us geltende Diskussion über eine „moderne Sozialismuskonzeption“. 10 Wie sehr sie dem überkommenen Denken und tradierten V erhaltensweisen verhaftet waren und wie weit sie sich von der Basis ihrer eigenen Partei entfernt hatten – oder letztere von ihnen –, ist an zw ei Tatbeständen ablesbar: der Wahl der neuen Leitungsgremien und der Entscheidung gegen einen vorgezogenen Parteitag. Unmittelbar nach dem Beginn der Sitzung wählte man Politbüro und ZKSekretariat. Auf einen Antrag aus dem Plenum hin w urde – anders als gewohnt – die Politbüro-Vorlage nicht en bloc bestätigt, sondern man beschloß Einzelabstimmung. Nach einer Intervention von H ans Modrow, der warnte, „Kaderentscheidungen“ zu treffen, „ unabhängig von dem , was draußen vor sich geht“ , w urde über die einzelnen K andidaten kurz diskutiert. 11 Drei Kandidaten fielen durch, einer trat zurück. 12 Doch die elf Vollmitglieder, die schließlich bestätigt wurden, hatten mit drei Ausnahmen 13 dem Gremium schon vorher angehört und som it dessen Politik m itzuverantworten. Modrow intervenierte in dieser Debatte mehrfach, bis schließlich 8 Vgl. Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 331–341; Stephan: Tagungen (1993), S. 316 f. 9 Sie hatten sich in den Tagen zuvor verschiedentlich zu Wort gemeldet. So hatte Michael Brie, der in den folgenden Wochen in den innerparteilichen K ämpfen eine wichtige Rolle spielen sollte, in einem ziemlich scharfen K ommentar „die K rise des administrativ-zentralistisch organisierten Sozialismus“ konstatiert und erklärt, „ die Macht, an Politik gleichberechtigt teilzunehmen, darum geht es jetzt“; Michael Brie: Die Wende, in: Sonntag 5.11.1989. Auf die Grenzen, die auch di ese Konzeption hatte, wird noch einzugehen sein. Im „ Neuen Deutschland“ erschien etwa zur gleichen Zeit ein sehr viel vorsichtiger formuliertes Papier von Mitarbeitern der Akad emie für Gesellschaftswissenschaften; Rolf Reißig, Frank Berg u. Peter Zotl: Zur Erneuerung der sozialistischen Demokratie, in: Neues Deutschland 4./5.11.1989. Am 9.11. wurd e ein Aufruf von Mitgliedern dieser Gruppe und weiteren Unterzeichnern veröffentlicht; Hein z Albrecht, Michael Brie, Dieter Klein, Alfred Kosing, Rolf Reißig u. a.: Was erwarten wir von der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED? Auffassungen von Berliner Pa rteifunktionären und Wissenschaftlern, in: Berliner Zeitung 9.11.1989, Nachdruck (Ausz ug) in: Behrend u. Meier (Hrsg.): Weg (1991), S. 178–181. Daß der künftige, damals alle rdings noch nicht für dieses Amt vorgesehene Berliner SED-Bezirkschef Hein z Albr echt zu den Mitunterzeichnern gehörte, zeigt, daß die Reformergruppe nun eine gewisse innerparteiliche Reputation gewonnen hatte. 10 Charakteristisch ist die ablehnende Reaktion aus dem Plenum, als Reinhold diesen Begriff in seiner Rede einführte; Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 336 u. 340. 11 Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 142. 12 Es handelte sich um Horst Dohlus, Günt her Kleiber und Gerhard Müller (Kandidat des Politbüros). Werner Krolikowski kandidierte nicht mehr, obwohl er vorgeschlagen worden war. 13 Auch sie waren zuvor schon in hohen Funktionen gewesen: Wolfgang Herger (ZKAbteilungsleiter), Hans Modrow (1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden) und Wolfgang Rauchfuß (eben zurückgetretener Minister).

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Krenz seinem N achbarn zuflüsterte: „ Ich laß m ir doch nicht dauernd von Modrow dazwischen[reden].“ 14 A ber ein anderes Personaltableau hat auch der künftige Ministerpräsident nicht zu bieten. Einen Vorschlag machte er, der alternativ zu einem K andidaten w ar, den K renz präsentiert hatte. Und prompt verlor er in einer Kam pfabstimmung – für seine Position erhielt er ganze drei Stim men. 15 A ls er schließlich doch noch Erfolg hatte, weil Krenz’ Favorit sich in der V orstellung desavouierte, erw ies sich Modrow s Vorschlag als nicht w eniger m ißglückt als die anderen Personalentscheidungen dieses Tages: Johannes Chem nitzer, der bisherige 1. Sekretär der Bezirksleitung Neubrandenburg, sollte ZK-Sekretär für Landwirtschaft werden; aber er m ußte am nächsten Tag zurücktreten, weil ihm die eigene Parteiorganisation das V ertrauen entzogen hatte. 16 D ieser V organg zeigt, daß Modrows Basis zu diesem Zeitpunkt personell außerordentlich dünn war. Er selbst wurde zwar mit nur einer Gegenstimme in das Politbüro gew ählt und auch als SED-Kandidat für das Amt des Vorsitzenden des Ministerrates bestätigt, mußte sich zuvor jedoch m it Vorwürfen auseinandersetzen, weil er in Dresden als Teilnehmer einer D emonstration gesehen worden war. 17 Personalpolitische Geplänkel und tatsächliche Kontinuitäten zeigen vor allem eines: Es existierte – anders als etw a in der ungarischen Partei – im formell höchsten Führungsgrem ium keine tragfähige A lternative, die die abgehalfterte Machtelite hätte ablösen kön nen. Der Wandel m ußte deshalb entweder von den alten Nomenklaturkadern selbst in Form eines Lernprozesses vollzogen werden, oder es m ußte, wenn sie sich dazu als unfähig erwiesen, eine andere Institution an ihre Stelle treten. Neben Kaderfragen bestand ein zweiter gravierender Konflikt zwischen Politbürokratie und Parteibasis auf diesem ZK-Plenum in der Frage, ob eine Parteikonferenz oder ein außerordentlicher Parteitag einberufen werden sollte. Nur ein Parteitag hätte das alte Zentralkom itee insgesam t abwählen können. 18 Er wurde von den einfachen Parteimitgliedern immer heftiger gefordert, um m it der alten Führung abzurechnen. Krenz jedoch bezeichnete das als Eskalation und w arnte davor. 19 Selbst für eine Parteikonferenz hatte er sich in seinem Referat auf kein genaues Datum festgelegt. 20 Die negative Resonanz bei der eigenen Basis führte dann dazu, daß am zw eiten Tag „einmütig“ beschlossen wurde, Mitte Dezem ber wenigstens eine Konferenz 14 Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 172. 15 Vgl. ebenda, S. 155 f. 16 Ebenda, S. 381. Zu den Hintergründen in der Neubrandenburger SED vgl. Niemann u. Süß: „Gegen das Volk kann nichts mehr entschieden werden“. MfS und SED im Bezirk Neubrandenburg (1996), S. 33–36, 41 f. u. 45. 17 Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 145–148. 18 Nach Art. 47 des Statuts der SED konnten Parteikonferenzen nur einzelne ZK-Mitglieder abberufen oder dazuwählen; vgl. Statut de r SED von 1976, in: Programm und Statut (1982) , S. 125. 19 Vgl. Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 274. 20 Vgl. Egon Krenz, in: Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 196.

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abzuhalten. 21 Wegen der Em pörung, die diese Entscheidung innerparteilich auslöste, wurde am dritten Tag neuerlich abgestimmt, der Beschluß bei ganzen 3 Gegenstimmen (von 163) jedoch bekräftigt. 22 Anschließend, nachdem die ZK-Mitglieder in ihre Bezirke zurückgekehrt waren, wurden sie mit derartig massiver Empörung der Parteibasis konfrontiert, daß sie sich weitere drei Tage später auf einem eiligst einberufenen und chaotisch verlaufenden weiteren Plenum – auf Vorschlag des Politbüros 23 und auf Drängen der Bezirksparteisekretäre – dazu durchrangen, noch im Dezember einen außerordentlichen Parteitag einzuberufen. 24 Das Motiv war beide Male das gleiche: Das Auseinanderbrechen von Parteiapparat und Parteibasis sollte gebremst werden, z uerst indem man eine handlungsfähige Parteiführung vorgaukelte, dann durch die Dem onstration von Flexibilität und Integrationswillen gegenüber der Basis. Deren Empörung war sicherlich auch eine Reaktion auf die Tatsache, daß die m eisten Redner – wie im „Neuen Deutschland“ nachzulesen war 25 – so agiert hatten, w ie sie im mer agierten, wenn ihnen die Ehre zuteil wurde, auf einem solchen Plenum sprechen zu dürfen: Sie begrüßten das Referat des G eneralsekretärs und berichteten dann über Erfolge und einige Problem e und K ümmernisse in ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld. Dieses Ritual wirkte in konkreter Lage allerdings mehr als m erkwürdig: Während das H aus brannte, wurde gewissermaßen die Kücheneinrichtung erörtert. Obwohl die m eisten Beiträge w enig ergiebig w aren, lassen sich doch deutliche politische Differenzen ausm achen. Die Hardliner wurden auf diesem Plenum durch die Sicherheitsbürokraten vertreten. Sie hatten nach dem Sturz von H onecker keinen anerkannten Sprecher mehr, und keiner von ihnen verm ochte, eine alternative Position anzubieten. D a sie Parteidisziplin gewohnt waren, forderten sie auch nicht, m it der „ Erneuerung“ Schluß zu machen, sondern unterstützten den K urswechsel verbal. Ihrer Frustration und Ratlosigkeit gaben sie indirekt A usdruck. Verteidigungsminister Heinz Keßler demonstrierte seine Verachtung für die „ Wende“, indem er m it einem einzigen Satz prononciert formal „Selbstkritik“ übte. 26 Innenm inister 21 Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 275. 22 Modrow hatte im letzten Moment beantragt, die Abstimmung zu verschieben, man müsse erst genauere Informationen zur Stimm ung in den SED-Grundorganisationen einholen, war damit aber gescheitert; vgl. Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 420. 23 Vgl. Protokoll der Politbürositzung am 12.11.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2/2360. 24 Protokoll der 11. Tagung des ZK der SED am 13.11.1989, in: Hertle u. Stephan (Hrsg.): Das Ende der SED (1997), S. 439–459, hier 459; vgl. auch „ Außerordentlicher Parteitag von 11. ZK-Tagung einberufen“, in: Neues Deutschland 14.11.1989; Stephan: Tagungen (1993), S. 321 f. 25 In der Berichterstattung des „ Neuen Deut schlands“ – parteiunabhängige Medien waren nicht zugelassen – wurden die Beiträge zu Konflikten in Personalfragen und zur desolaten wirtschaftlichen Lage (besonders der Verschuldung) bis zur Unken ntlichkeit gekürzt oder ganz weggelassen. Das verstärkte noch den Eindruck , daß das ZK keine Vorstellung von dem hatte, was im Land vor sich ging. 26 Vgl. Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 354. In der schriftlichen Version seines Referates wurde das noch deutlicher: Dort ließ er sich anschließend über die Anschaffungspolitik

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Dickel beklagte, welcher Unbill die Einsatzkräfte bei den „ sogenannten gewaltlosen Demonstrationen“ durch „ Randalierer, aufgeputschte Störer und kriminelle Elemente“ ausgesetzt seien. Seine wortreiche Schilderung gipfelte in einer idiosynkratischen Betrachtung der Kerzenrevolution: „Ja, Genossen, nicht nur Rufe – nicht nur Rufe! – sage ich hier; unseren Genossen wi rd, di ese psy chologische Se ite, mit den Händen vor den Augen – mit der Kerze werden i hnen di e Augenbrauen verbrannt ! Und so si eht di e Wirklichkeit im Leben aus. Und da nutzen mir keine schönen Worte, sondern wir haben dafür zu sorgen, daß Ordnung und Sicherheit und unsere Bürger in Ruhe und Frieden leben können.“ 27

Gar nicht skurril war der Beitrag von Generaloberst Rudi Mittig, dem potentiellen Nachfolger Mielkes an der Spit ze der Staatssicherheit. Als sein Stellvertreter war er für jene Diensteinhe iten verantwortlich, die in besonderem Maße für politische Überwachung und Repression zuständig waren. A uch er machte – in wörtlicher Übernahme der „Erklärung“ des MfS-Kollegiums vom 6. November – rhetorische Zugeständnisse an die neue Linie: „Im Innern der Deutschen Demokratischen Republik setzen w ir unsere Kräfte und Mittel zur V erhinderung und Bekäm pfung verfassungsfeindlicher A ktivitäten ein. Das schließt – und das m öchte ich ganz bew ußt betonen – Maßnahmen gegen A ndersdenkende aus.“ 28 Er befürwortete weiterhin die Verabschiedung eines neuen „ Gesetzes über die staatliche Sicherheit“ . Zugleich aber beschwor e r d ie „ Gefahr, d aß d urch antisozialistische Handlungen, durch Anarchie und Zerstörung alles vernichtet wird, was wir in 40 Jahren geschaffen haben“. Seine Schlußfolgerung konnte durchaus als Drohung verstanden werden: „Wir haben keine Illusionen über die Feinde unserer sozialistischen O rdnung und die von ihnen verfolgten Ziele. Wir sind uns bewußt, daß unsere Arbeit heute notwendiger denn je ist.“ Die Rede enthielt nicht ein Quentchen Reflexion über die eigene Tätigkeit. D eshalb mußte sie als Plädoy er für eine Fortsetzung der bisherigen Politik innerer Sicherheit verstanden werden. Die Hardliner waren jedoch doppelt gehandikapt: durch die Parteidisziplin, die gerade ihnen besonders w ichtig w ar und die sie nun verpflichtete, Konflikte „politisch zu lösen“, und dadurch, daß ihre bisherigen Rezepte bereits erfolglos versucht worden w aren. Innenm inister D ickel hatte schon Wochen zuvor, auf der D ienstkonferenz des Ministerium des Innern am 21. Oktober, die U nmöglichkeit konstatiert, die Bürgerbew egung durch Poder NVA und ähnliche Nebenthemen aus. Offenkundig schätzte er die Stimmung auf dem Plenum so ein, daß das eine zu starke Provokation gewesen wäre. 27 Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 291–298, hier 297. 28 Ebenda, S. 398–401. Das Redemanuskript wurde noch am gleichen Tag an die Leiter aller MfS-Diensteinheiten zur Auswertung in den Parteiversammlungen verschickt; BStU, ZA, DSt 103636.

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lizeigewalt zu zerschlagen. Und auch in den Führungsetagen der Staatssic herheit existierte keine aktuelle Konzeption für eine gewaltsam e Unterdrückung der Bürgerbew egung, obw ohl das logistische Instrumentarium dafür vorhanden gewesen wäre. 29 Man war bem üht, den Einfluß der Bürgerr echtsbewegung zurückzudrängen, hatte m it dieser defensiven Orientierung, die am 40. Jahrestag durch polizeistaatlichen Aktionismus unterbrochen worden war, in den vorangegangenen Wochen jedoch eine N iederlage nach der anderen einstecken müssen. Gerade die V erbindung von dogm atischem V erharren im ideologischen Schützengraben und praktischer H andlungsunfähigkeit auf seiten der sicherheitsbürokra tischen Hardliner ist ein wichtiges Erklärungsmoment dafür, warum eine offen repressive Lösung als politische Option nicht mehr existierte. Die Gruppe um Krenz war in dieser Beziehung in einer etwas komfortableren Position, die jedoch ihre konzeptionelle Schwäche umso deutlicher zutage treten ließ. Die konventionelle Lösung für dieses Problem, die Personalisierung einer „ verfehlten“ Politik, war Krenz verbaut, weil er noch nicht wagte, seinen Ziehvater Honecker offen zu attackieren. Er vollzog statt dessen eine Gratwanderung zwischen Strukturkonservatismus und Öffnungspolitik. Die Tabuzone, die er gegen Veränderungen verteidigen wollte, war groß: „Zu den Grundl agen der Erneuerung unserer sozialistischen Gesellschaft der DDR gehören die politische Macht der Arbeiter und Bauern, das gesells chaftliche Eigentum an den hauptsächlichen Produktionsm itteln, die Verantwortung unserer Partei in der Gesellschaft und das Bündnis aller demokratischen Kräfte unseres Landes.“ 30

Auch wenn von der führenden Rolle der SED nun nicht mehr die Rede war, statt dessen von ihrer „ Verantwortung“ in der G esellschaft, war damit doch so ziemlich das G leiche gemeint. Das zeigt die A useinandersetzung um die Zulassung des Neuen Forums: „Neue Bürgerbewegungen, die auf dem Boden der Verfassung der DDR wirken wollen, sollten zugelassen werden.“ 31 Das bedeutete, w ie in der D iskussion unterstrichen w urde, ihre Legalisierung von der Anerkennung des Artikels 1 der V erfassung abhängig zu m achen. 32 Die Grenzen seines Liberalisierungsprojektes m achte K renz auch mit einer unscheinbar wirkenden Klarstellung deutlich. Es gehe bei dieser Frage „um die Bürgerinitiativen und nicht um die Parteien“ . 33 In die Spra29 Das war die „ Mobilmachungsplanung“, die zwar laufend auf dem aktuellen Stand gehalten werden sollte, die j edoch eine intakte und kampf bereite SED und enges Zusammenwirken der verschiedenen Sicherheitsapparate voraussetzte. Vgl. Auerbach: Vorbereitung (1995). 30 Egon Krenz: Referat auf der 10. ZK-Tagung, S. 206. 31 Ebenda, S. 192. 32 Vgl. Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 200 u. 202. 33 Egon Krenz: Referat auf der 10. ZK-Tagung, S. 204.

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che der Macht übersetzt, bedeutete diese begriffliche U nterscheidung: Im gesellschaftlichen Bereich sollte Selbstorganisation zugelassen werden, doch für Organisationen, die in der politischen Sphäre im engeren Sinne zu intervenieren bestrebt w aren (w ie etw a die im A ufbau befindliche Sozialdemokratische Partei, die SDP), sollten vorerst die alten Restriktionen weitergelten. Krenz versuchte, die Abschaffung der institutionalisierten Führungsrolle der SED aus der ZK -Debatte herauszuhalten, und gab damit den Blockparteien eine hervorragende G elegenheit, sich zu dieser Kernfrage in neuer Eigenständigkeit zu profilieren. Die LDPD 34 – und bald auch die CDU 35 – haben sich das nicht entgehen lassen. Obwohl Krenz kritisierte, daß die SED den Staat „ in hohem Maße administrativ“ gegängelt habe, 36 hielt er am grundsätzlichen Machtanspruch fest. Zu seiner Rechtfertigung wurden jetzt aber neue Gründe vorgebracht. Nicht mehr historischer Optimismus, 37 sondern Angst vor Veränderung und der sozialpolitische Kern der „ Fürsorgediktatur“ 38 sollen die Parteiherrschaft legitimieren: „Wer diese Grundlagen in Frage stellt, sollte sich gründlich überlegen: W ill er das gesellschaftliche Chaos, will er Destabilisierung an der sensiblen Trennlinie zwischen Sozialismus und Kapitalismus, will er gefährdete Arbeitsplätze, will er soziale Unsicherheit anstatt der sozialen Sicherheit für alle.“ 39

Dies war jedoch nur die eine Seite seiner Positionsbestim mung. Auf der anderen Seite wurden in der Rede von K renz und stärker noch im „Aktions34 Zwar hatte der Vorsitzende der LDPD, Manfred Gerlach, Ende Oktober 1989 die „führende Rolle“ der SED verteidigt (in: J unge Welt 31.10.1989), doch noch während der ZKSitzung der SED erklärte er in einem Interview, die SED habe ihren Führungsanspruch verspielt und er passe nicht mehr in die Verfassung; vgl. „ Wenn man sich freien Wahlen stellt, muß man j edes Risiko eingehen“ [Interview mit Manfred G erlach], in: Der Tagesspiegel 10.11.1989. Am 14.11.1989 verabschiedete der Politische Ausschuß des Zentralvorstandes der LDPD „ Leitsätze liberal-demokr atischer Politik heute“, in denen konstatiert wurde: „Politische Führung durch Parteien kann nicht vererbt und nicht in der Verfassung verordnet werden. “ In: Der Morgen 16. 11.1989, zitiert nach Zimmerling: Chronik, 2. Folge (1990), S. 97. 35 Während bei der LDPD die alte Führung unter Gerlach selbst einen politischen Kurswechsel vollzog, mußte bei der CDU erst die Führung ausgewechselt werden. Die innerparteiliche Opposition um die Autoren des „Briefes aus Weimar“ forderte in diesen Tagen ebenfalls das Ende des Führungsanspruchs der SED; vgl. „ Ost-CDU-Politiker [Winfried Wolk] gegen SED-Führungsanspruch“, in: Berliner Morgenpost 10.11.1989; Hans Karutz: „Ost-CDU verbittet sich Bevormundung“, in: Die Welt 10.11.1989. Der Titel bezog sich auf die bundesdeutsche CDU, in dem Artikel wurde aber berichtet, daß etwa Martin Kirchner erklärt habe, nur das Volk könne in „freien Wahlen“ entscheiden, wer führen soll. 36 Egon Krenz: Referat auf der 10. ZK-Tagung, S. 188. 37 Die Stärkung des „ historischen Optimismus“ (eine Art idealistischer Fortentwic klung des „historischen Materialismus“) hatte die SED-Kreisleitung im MfS zwei Monate zuvor gefordert; Bericht des Sekretariats der S ED-Kreisleitung im MfS zur Sitzung am 7.9.1989; BStU, ZA, Neiber 89, Bl. 737–752, hier 742. 38 Vgl. Jarausch: Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur (1998). 39 Egon Krenz: Referat auf der 10. ZK-Tagung, S. 206.

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programm“ ernsthafte institutionelle Veränderungen, Schritte in Richtung Gewaltenteilung, angedacht: Eine Entflechtung von Parteiapparat und Regierung, eine stärkere Verrechtlichung staatlichen Handelns durch eine Novellierung des Strafgesetzbuches und eine Reihe neuer Gesetze, darunter über V ereinigungs- und V ersammlungsfreiheit und die Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofes, gehörten ebenso dazu w ie eine freiere Presse – zumindest jener Zeitungen, die nicht direkt der SED unterstanden. 40 Das Thema „freie Wahlen“ wurde von K renz nur kurz erw ähnt. Es handelte sich um ein Zitat aus dem „Aktionsprogramm“: Geplant sei eine „freie, allgemeine, demokratische und geheim e Wahl“ unter „ öffentlicher Kontrolle“ m it dem Ziel einer „ Koalitionsregierung“. 41 Neben d er offenen Frage, wer die Kontrolle ausüben sollte, war letzteres der Haken: Dahinter verbarg sich die Hoffnung, es sei m öglich, das längst brüchige „vertrauensvolle Bündnis“ mit den Blockparteien und dam it den „ Demokratischen Block“ zu erhalten, 42 so daß die Wahl zw ar „frei“, die Auswahl aber höchst beschränkt gewesen wäre. Insgesam t gesehen war es ein Versuch der politischen Öffnung bei gleichzeitiger Bewahrung des nicht mehr offen benannten Machtmonopols der SED, das vielleicht um einige oligarchische Elem ente ergänzt werden sollte. Nicht in seinem Einleitungsreferat, wohl aber in einem Redebeitrag am zweiten Tag des Plenum s wurde diese Absicht deutlich ausgesprochen. Anlaß w ar die negative Presseberichterstattung über eben dieses Referat. Nun verkündete Krenz, was gem eint ist: „ daß wir gem einsam eine Politik durchsetzen wollen, die Politik der Erneuerung , aber nicht die Politik der Zulassung der Opposition in Presse, Rundfunk und Fernsehen. (Beifall)“ 43 Weiter als Krenz ging H ans Modrow , neugew ähltes Politbürom itglied und designierter Ministerpräsident, der sich nun als Sprecher der Liberalisierer profilierte. Auch er beschwor das Dogma: die Arbeiterklasse als „führende K raft der G esellschaft“ und die Notwendigkeit einer „marxistischleninistischen Partei“. Das war ein Tribut an das tradierte Selbstverständnis. Seine Beschreibung der Krise zeigte jedoch, daß er in diesem Horizont nicht gefangen war. Als einziger Red ner deutete er – offenbar unter dem Einfluß der SED -Reformtheoretiker von der H umboldt-Universität 44 – an, daß zu den Ursachen der Revolution neben der Forderung nach bürgerlichen Rechten auch ein Wandel der Bedürfnis- und Interessenstruktur gehörte, der von der SED-Politik vollkommen verkannt worden war. Es gehe auch um „die 40 Ebenda, S. 221. 41 Ebenda, S. 221; „ Aktionsprogramm“, S. 143. Bereits in der DDR-Verfassung von 1974 war die Rede von „ freien, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen“ (Art. 54). Neu war das Wörtchen „ demokratisch“ und das Versprechen „öffentlicher Kontrolle“, und neu war selbstverständlich der Kontext, in dem diese Ankündigung gemacht wurde. 42 Egon Krenz: Referat auf der 10. ZK-Tagung, S. 219. 43 Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 243. 44 Vgl. Michael B rie, Rainer Land, H annelore Petsch, Dieter Segert u. Rosi Will: D as Umbaupapier. Studie zur Gesellschaftsstrateg ie (2. Fassung); datiert vom 29.10.1989; in: Land (Hrsg.): Umbaupapier (1990), S. 37–145, hier 93 f.

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ökologische und sozialprogressive Um gestaltung unserer Lebensum welt; die qualitative Entwicklung unserer Wohnfonds; die Infrastruktur der Städte und Gemeinden mit sehr viel m ehr autonomen Gestaltungsräumen für Individuum und für K ollektive; Umstellung der Konsumtion von primär extensiven Tendenzen zu einer mehr auf die Persönlichkeitsentwicklung gerichteten K onsumtion“; „ Ausbau der D ienstleistungen und der Freizeitmöglichkeiten“. 45 All diese Defizite hatten zur wachsenden Unzufriedenheit entscheidend beigetragen: Daß die Revolution im Bezirk Leipzig begann, wo die ökologische und die Wohnsituation besonders desolat w aren, hing dam it zusammen. 46 Zugleich hatte Modrow Vorhaben aufgelistet, für deren Realisierung der DDR effektiv das Geld fehlte. Diese längerfristige Perspektive war keine Flucht in eine Sozialutopie, um der politischen Realität auszuweichen, obwohl den Reformern von der Humboldt-Universität solche Erw ägungen keinesw egs frem d waren. 47 Modrow kritisierte das „ Abwarten und Zaudern“ des Krenzschen Politbüros und konstatierte: „Auf der Straße w erden Forderungen zu freien Wahlen und für einen Volksentscheid zur V erfassung erhoben. Wir m üssen uns diesen Fragen stellen.“ 48 Er ließ noch offen, w ie er sie beantworten würde, keinen Zweifel aber hatte er, daß die bisherige Rolle der SED ausgespielt ist. Über die Volkskammer, dieses bisherige Akklam ationsgremium für die Entscheidungen des Politbüros, sagte er, man müsse „rasch eine intakte, kompetente, höchste Volksvertretung schaffen, die w ir gegenw ärtig nicht haben“ . Zur Arbeit dieser Volkskammer prognostizierte er: „Wir werden bald Parl amentsdebatten zu führen haben, wi e si e di e SED i n ihrer ganzen Geschi chte noch ni e zu führen hatte. Sie werden mitentscheidend für die Führungsrolle sein; denn di e Partei m uß m it ihrer politischen Aktivität auf die Volksvertretungen wirken und kann si ch nicht mehr auf die staatliche Exekutive richten. Bisher ü bliche d irekte Zu griffe au f d en Staatsapparat sind zu beseitigen. Dieser ganze Prozeß muß und wird sich in größter Öffentlichkeit vollziehen.“ 49

Zusammen mit der Bindung der Regierung an die V olkskammer – nicht wie bisher an den Parteiapparat –, denn „ dort und nur dort kann und darf über 45 Modrow sprach am 9.11.1989; Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 283–291, hier 284 u. 290. 46 Vgl. Hofmann u. Rink: Der Leiziger Aufbruch 1989 (1990), S. 118 f. 47 In dem erwähnten „Umbaupapier“ (S. 91 f.) wurde vorgeschlagen, eine auf Reformkurs umschwenkende SED solle in einem ersten Schritt ökologische Probleme thematisieren, weil auf diesem Feld die Erfolgsaussichten „antisozialistischer Bewegungen“ eher gering wären und ein Vergleich mit der Bundesrepublik angeblich weniger negativ ausfallen würde als in anderen Bereichen. Die Vorste llung, die blind-produktivistische S taatspartei SED könne sich in kurzer Zeit zur Avantgarde einer ökologischen Bewegung transformieren, war reichlich verwegen. 48 Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 284. 49 Ebenda, S. 287.

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die Geschicke des Volkes entschieden werden“ , 50 bedeutet dies, das Ende der institutionalisierten Führungsrolle der SED und den Beginn einer echten Gewaltenteilung ins A uge zu fassen. D abei hat Modrow sicherlich gehofft, für seine Partei die politische Führung wiedergewinnen zu können. Der letzte Tag dieses ZK-Plenums folgte auf jene Nacht, in der die Mauer geöffnet worden war. Fragt m an, wer von den Anwesenden nachweislich – das heißt, in einem Redebeitrag dokumentiert – begriffen hatte, daß sich die politische Situation schlagartig verändert hatte, so findet man nur einen einzigen. Das war gewiß nicht Krenz. Er sprach vom „Ernst der Lage“, glaubte aber noch im mer, das entscheidende Problem seien die Ausreisewilligen, während er die Implikationen der Reisefreiheit gar nicht als aktuelles Problem erkannte. 51 Es war auch nicht der Sicherheitsbürokrat Mittig, der zwar über drohende G efahren schw adronierte und das besonnene Verhalten der Grenzorgane rühmte, aber dessen po litische Phantasie offenbar nicht ausreichte, sich die kom menden V eränderungen vorzustellen. 52 Bem erkenswerterweise war es Ku rt Hager, der als der einzige aus der Riege der alten zurückgetretenen Politbüromitglieder den Mut aufbrachte, vor dem Plenum zu sprechen, der vor allen anderen über die K onsequenzen der G renzöffnung nachdachte: „Wir werden einen Wahlkampf führen müssen, in freien Wahlen, in dem sich zeigen wird, ob wir Vertra uen haben in der Bevölke rung [...]. Aber wir werden um diese Situation nicht mehr herumkommen. Spätestens seit der heut igen Nacht hat sich die Lage in dieser Hinsicht, glaube ich, geändert.“ 53

Kann man angesichts dieses ZK -Plenums von einem Kurswechsel der SED sprechen? Es gibt dafür m ehrere G ründe. Einige Schlüsselentscheidungen wurden auf dem Plenum parteioffiziell abgesegnet: die Grenzöffnung (obwohl sie anders verlief, als geplant) und die Zulassung des N euen Forums (wenn auch unter einem Vorbehalt, der sich bald als belanglos erweisen wird). Ebenso wichtig war, daß dieses Plenum gezeigt hat, daß die Politbürokratie die Durchgriffsmöglichkeit in der eigenen Partei, die tragende Säule ihrer Macht, verlor. D as Plenum selbst hat diesen Prozeß beschleunigt. Der Abschied von der institutionalisierten Führungsrolle der SED wurde auf diesem Plenum noch nicht vollzogen, aber eingeleitet. Hinzu kamen weitere Faktoren: Modrow hatte sich als Ministerpräsident in spe mit einer Rede 50 Ebenda. Diese Forderung, daß die Regierung künftig allein dem Parlament verantwortlich zu sein habe, hatte als erster führende r SED -Politiker K ulturminister H ans-Joachim Hoffmann am 5. November 1989 bei einer Podiumsdiskussion in Leipzig aufgestellt. Vgl. „Chronik der Wende“ 5. November 1989, ORB 9.11.1998, 22.55 – 23.10 Uhr. 51 Vgl. seinen Diskussionsbeitrag auf de r Sitzung am 10.11.1989; Protokoll der 10. ZKTagung, S. 304. 52 Protokoll der 10. ZK-Tagung, S. 398–401. 53 Ebenda, S. 401–404, hier 404.

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profiliert, die politische Differenzen zum SED-Generalsekretär erkennen ließ und das Verhältnis zwischen den zentralen politischen Institutionen neu

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bestimmte: Bindung der Regierung an die V olkskammer und deren Transformation in einen Ort politischer Debatte und echter Entscheidungen. Der Einfluß seiner Partei sollte über die Abgeordneten, nicht über die Exekutive erfolgen. Das konnte freilich noch kein Übergang zu echter dem okratischer Gewaltenteilung sein: Die Volkskam merabgeordneten litten, auch wenn sie kontrovers debattierten, an einem unheilbaren Legitim ationsdefizit. Die Exekutive war mit SED-Kadern durchsetzt, deren Loy alität von der Partei auf den Staat um zupolen eine schw ierige A ufgabe w ar, bei der noch gar nicht klar w ar, wer sie übernehm en konnte – schwerlich die SED. Eine Beschränkung der Macht der Staatssicherheit w ar allenfalls insofern angedacht, als ihre Tätigkeit auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden sollte. Gemessen an den eingangs genannten Kriterien war das Plenum dennoch ein weiterer Schritt zur politischen Öffnung. Es hat teils ungewollt, teils bewußt die Re-Differenzierung des politischen Systems befördert und einige Hindernisse für die Institutionalisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen beseitigt.

8.2 Regierungswechsel Als der SED -Bezirkssekretär H ans Modrow A nfang N ovember den Beschluß gefaßt hatte, von D resden nach Berlin zu gehen, w ird ihm bewußt gewesen sein, daß er sow ohl als der letzte Hoffnungsträger des Parteiapparates wie derjenigen Bürger gerufen wurde, die eine „ bessere DDR“ wollten, ob mit oder ohne SED. Er selbst war gewiß davon überzeugt, daß dieses Ziel nur m it „ der Partei“ zu realisieren sei. Schon in diesen unterschiedlichen Erwartungen war eine Spannung angelegt, die bald zum A usdruck kommen sollte. Als sich der künftige Ministerratsvorsitzende an die Ausarbeitung einer Konzeption für eine Politik der „ Erneuerung“ machte, erlebte er eine herbe Enttäuschung: Er mußte feststellen, daß der SED-Apparat, einschließlich seiner Forschungseinrichtungen (w ie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften), „nichts zu bieten“ 54 hatte, was den aktuellen Problemen auch nur annähernd gerecht gew orden wäre. In dieser Situation war der Kontakt zu der SED -Reformer-Gruppe an der Humboldt-Universität der Rettung verheißende Strohhalm. 55

54 Modrow: Aufbruch (1991), S. 31. 55 Ein Teilnehmer an diesem Projekt schreibt rückblickend, im Herbst 1989 sei das „ Sozialismusprojekt wie eine ‚Fata Morgana‘ auf[ getaucht], die Rettung in der Not versprach.“ Segert: Politische Visionen im Zerfallsprozeß (1993), S. 87.

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Exkurs: Das Projekt „Moderner Sozialismus“ Das Forschungsprojekt „ Moderner Sozialism us“, ein D iskussionszusammenhang von zwei bis drei D utzend jungen Wissenschaftlern, agierte seit 1987/88 im Halbverborgenen unter der Obhut des Prorektors der HumboldtUniversität, des Wirtschaftswissenschaf tlers D ieter K lein, in der Sektion marxistisch-leninistische Philosophie. 56 Man strebte an, mit dem Instrumentarium westlicher soziologischer Theorie eine Konzeption für einen „ modernen“ Sozialism us zu erarbeiten . 57 Strategisch w ar das Projekt auf die SED orientiert: Wie viele Reform kommunisten vor ihnen hofften sie, die Partei zum Träger des Modernisierungsprozesses zu m achen. 58 Mitglieder der Gruppe haben im nachhinein ihren Ansatz als Mutation des traditionellen Avantgardismus der SED zu einem „konspirativen Avantgardismus“ interpretiert. N achdem die Reform projekte früherer G enerationen am Widerstand des A pparates gescheitert w aren, glaubten sie, „ der beschwiegene, heimliche Anspruch darauf, es doch besser zu w issen und besser zu m achen“, sei die beste Form der V orbereitung: „Es ist ein undatierter Wechsel auf die Macht und ihren besseren, vernünftigen G ebrauch, den man zurückhält und von dem die A lten nichts w issen sollen, den m an sich selbst kaum zugesteht und der schon gar nicht reflektiert w ird.“ 59 Da man ursprünglich die Machtstrukturen nicht beseitigen, sondern an ihnen im Sinne einer aufgeklärten Diktatur teilhaben wollte, war m an bemüht, „einen persönlichen Bruch möglichst zu vermeiden“ 60 – hätte er doch, neben den dam it verbundenen individuellen Risiken, aus dieser Perspektive auch bedeutet, w egen der bei „Fraktionsbildung“ zu gew ärtigenden Sanktionen zur Einflußlosigkeit verurteilt zu werden. Verbunden war das m it Kontaktscheu gegenüber der Bürgerrechtsbewegung, nicht zuletzt weil solche Verbindungen, wären sie bekannt geworden, die eigene innerparteiliche Position geschwächt hätten. Das war die A usgangsposition, als sich für die aufstrebenden Parteiintellektuellen im Herbst 1989 die Chance ergab, als Politikberater in die Nähe 56 Vgl. Segert: Politische Visionen im Zerfallsprozeß (1993), S. 87; zu D. Klein vgl. Vollrath: „ Reformsozialisten“ (1997), der ihn mit einem Begriff von Hans-Magnus Enzensberger als einen „Helden des Rückzugs“ charakterisiert. 57 Das wichtigste Grundsatzpapier war eine „ Studie zur Gesellschaftsstrategie“, die von M. Brie, R. Land u. a. erstmals im Juli 1989 einem i nternen Kreis vorgelegt wurde: Forschungsprojekt Sozialismustheorie – Sekti on Philosophie: „ Studie. Überlegungen zu Problemen und Perspektiven des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels des Sozialismus und der Weiterentwicklung gesellschaf tsstrategischer Kon zeptionen in der DDR und anderen sozialistischen Staaten des RG W“, Humboldt-Universität zu Berlin, Juli 1989, Ms.; erweiterter Nachdruck in: Sozialismus in der Diskussion 1 (1989), S. 11–106; und in: Land: Das Umbaupapier (1990), S. 37–145; vgl. Segert: Politische Visionen im Zerfallsprozeß (1993), S. 108. 58 Zum Denkansatz vgl. Land u. Possekel: Stimmen (1994), S. 36–48; kritisch Klein: Parteisäuberungen und Widerstand (1996), S. 102–107; zu stark verkürzt Eckert: Revolutionäre Krise (1995), S. 719–721. 59 Land u. Possekel: Stimmen (1994), S. 39 f. 60 Ebenda, S. 42.

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der Macht zu kommen. Gefördert wurden sie durch Günter Schabowski und Hans Modrow. 61 Schabowski hatte das Projekt im Sommer 1988 im Auftrag Honeckers, der zufällig darauf aufm erksam geworden war, inspiziert und anscheinend keine Sanktionen em pfohlen, jedenfalls blieb es unbehelligt. 62 Im Herbst 1989 gab er Modrow den Rat, sich m it diesen Genossen in Verbindung zu setzen. 63 Der hatte bereits einige Monate zuvor, noch in Dresden, Besuch von Dieter Klein erhalten, der bemüht war, innerparteiliche Reformchancen zu sondieren. 64 Er war also nicht ganz unvorbereitet, als ihm dieser Vorschlag gemacht wurde. Die Bedeutung des „Sozialismus-Projekts“ im Herbst 1989 ergab sich aus einer kurzzeitigen Konstellation: Es waren die einzigen SED-„ Vordenker“, die nicht nur Rückzugstaktiken form ulierten, sondern sich an neuen K onzepten versuchten, wobei sie in erstaunlicher G eschwindigkeit Papiere und Positionen produzierten. 65 Man kann der Gruppe dennoch vorwerfen, sie sei der Bürgerrechtsbewegung hinterhergehinkt, allerdings trifft m an damit nur die eine Seite ihrer Bewegung. 66 Ihre Mitglieder w aren ursprünglich – avantgardistisch – der Politbürokratie voraus. Mit dem Beginn der Revolution übten sie einen Spagat: vor der SED -Führung, doch hinter der Bürgerbewegung. Lange w ar diese unbequem e H altung nicht durchzuhalten, so daß sie sich schließlich von der Fixierung auf die Partei lösten, womit auch das Bindeglied der G ruppierung verlorenging: Während die einen die SED verließen, versuchten andere sich an ihrer Transform ation zu einer „ Partei des Demokratischen Sozialismus“. Ihr Schicksal zeigt die im manenten Grenzen, an die auch die avanciertesten Vertreter der SED-Intelligenz gest oßen sind. Das m acht sie für die Geschichte der Revolution interessant. V or dem U mbruch 1989 hatten „ Reformkommunisten“, diese Seiltänzer im Apparat, die objektive Funktion, die Widersprüche im Machtsystem zu befördern. Sie haben Perspektiven formuliert, die zu Rissen im geschlossenen Weltbild des herrschenden Dogmatismus führten, durch die, wer dazu bereit war, einen Blick von der Außenwelt erhaschen konnte. Die Angst der Polit bürokraten vor „ Revisionismus“ und „ideologischer Diversion“ w ar A usdruck der tatsächlich „ zersetzenden“ 61 Vgl. Modrow: Aufbruch (1991), S. 31 u. 37; Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998), S. 338 f.; Stephan: Tagungen (1993), S. 313. 62 Mündl. Information eines Projektmitglieds gegenüber dem Verf. 63 Vgl. Schabowski: Politbüro (1990), S. 140; Schabowski: Absturz (1991), S. 318–320. 64 Vgl. Segert: Politische Visionen im Zerfallsprozeß (1993), S. 100. 65 Dokumentiert in: Sozialismus in der Diskussion 1 (1989); Sozialismus in der Diskussion 2 (1990); Papiere von Michael Brie, Rainer Land u. André Brie in: Knabe (Hrsg.): Aufbruch in eine andere DDR (1989), S. 181–191, 216–226, 237–248; Oktober 1989 (1989), S. 106–115; Schüddekopf (Hrsg.): „Wir sind das Volk!“ (1990), S. 146–156. 66 Stefan Wolle spricht ohne nähere Begründung von „ Vertrauensleuten der Stasi an der Humboldt-Universität“, deren „ Häresien von vorgestern [...] in der DDR keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor[lockten] “. Dabei verwechselt er sein eigenes, damals gewiß schon weiter fortgeschrittenes Bewußtsein mit dem vieler SED-Mitglieder. Wolle: Die heile Welt (1998), S. 340.

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Wirkung solcher Ideen. Mit ihrem Zukunftsprojekt sind sie letztlich gescheitert, aber sie haben dazu beigetragen, daß es auch innerhalb des Apparates Menschen gab, die eher den Sturz des A lten Regimes riskierten, als es gewaltsam zu verteidigen. Das war von erheblicher Bedeutung, denn der innere Zerfall der Machtstrukturen wurde von A kteuren befördert, die auch anders hätten handeln können. Vergleicht man die Ausgangsposition des Projekts mit den in der Bürgerrechtsbewegung dominanten Themen, so gab es durchaus Parallelen: „Sozialismus“ als Bezugsrahmen, die Betonung ökologischer G esichtspunkte und der V ersuch, soziale G erechtigkeit im globalen K ontext, vor allem unter Bezug auf die Problem e der Dritten Welt, zu denken. Im Herbst 1989 kam noch der Glaube hinzu, es bestehe eine historisch offene Situation, die zumindest die Chance biete, die DDR in einen Staat zu verwandeln, der eher Antworten auf solche Fragen finden w erde als die Bundesrepublik. Wichtiger als die Gemeinsamkeiten waren allerdings die D ifferenzen: Das Projekt war theorielastig und elitär, während die zivile Opposition von moralischen Motiven geprägt und basisdem okratisch w ar. D ie SED -Reformer them atisierten eine Transformationskonzeption für den Machtapparat – die Bürgerrechtler dessen unheilbares Legitim ationsdefizit. 67 D ie Fixierung des Projekts auf die SED als Voraussetzung für die Realisierung seiner K onzeption war unvereinbar mit dem Ziel der Bürgerrechtler, die Macht dieser Partei zu brechen. Der „konspirative Avantgardismus“ enthielt zudem eine D imension, die in den dam aligen Debatten noch keine Rolle spielte, die aber trotzdem eine tiefe Kluft m arkiert: Im Diskurs der SED-Reformer galt – in den Worten zweier ihrer Protagonisten – Zusam menarbeit m it der Staatssicherheit „ als eine m ögliche politische Option [...], um eigene Reformvorhaben abzusichern und Machtzugänge offen zu halten“. 68 Tatsächlich hatten Mitglieder des Projekts als inoffizielle Mita rbeiter V erbindungen zur Staatssicherheit. 69 Die Begründung gibt, auch w enn es sich nur um einzelne handelte, 67 Treffend sind die Differenzen zusammengefaßt bei Land u. Possekel: Stimmen (1994), S. 60–75; aus der Sicht eines oppositionellen Bürgerrechtlers: Neubert: Geschichte der Opposition (1997), S. 871 f. 68 Land u. Possekel: „Symbolhafte Verweigerung“ (1995), S. 25 (Hv. im Orig.). 69 In den BStU-Unterlagen dokumentiert sind solche Verbindungen für André Brie (geb. 1950), seinerzeit Dozent an der Akademie für Staat und Recht in Potsdam, der von 1970 bis 1989 für verschiedene MfS-Abteilungen, vorwiegend für die Linie II (Abwehr), berichtete; BStU, ASt Potsdam, AIM 2219/89. Sein Bruder Michael Brie (geb. 1954) hat sich auf einer Studentenvollversammlung im Dezember 1990 selbst als ehemaliger HVAIM offenbart. Belege für diese Tätigkeit sind in den überlieferten MfS-Unterlagen nicht auffindbar. M. Bries Werdegang ist ein Beispiel für die Gratwanderung mit Auffangnetz, die für diesen Typus von Reformern nicht untypisch war. Seine akademische Laufbahn litt in den 80er Jahren unter wiederholten „Revisionismus“-Vorwürfen seitens der SED; u. a. seine Herkunft aus der SED-Elite (der Vater war lange Jahre Botschafter) dürfte ihn vor gravierenderen Konsequenzen bewahrt haben. Er arbeitete 1985–1989 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, ehe er 1989 an die Humboldt-Universität zurückkehrte. Vgl. Mechthild Küpper: Ein deutscher Intellektueller, ein

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näheren Aufschluß über die D enkmuster der G ruppierung. D ie V erpflichtung zu konspirativer Zusam menarbeit w ar in diesem Koordinatensystem ein „politisches“ Problem, weil die Staatssicherheit als Teil einer „sozialistischen Staatsmacht“ galt, die grundsätzlich auch mit geheimdienstlichen Mitteln zu verteidigen sei. 70 Das beinhaltete selbstverständlich auch die Möglichkeit, daß ein Mensch mit dieser Position, w enn er O bjekt eines Anwerbungsversuches war, aus persönlichen Gründen eine konspirative Zusammenarbeit m it dem MfS ablehnte. U mgekehrt konnte Erpressung zur Mitarbeit damit durch denjenigen, der schw ach geworden war, nachträglich rationalisiert werden. Das Motiv, über die Staatssicherheit einen Zugang zur Macht zu finden, gar zu versuchen, sie „ für eine Reform des Sozialismus zu instrumentalisieren“, 71 war seinerzeit häufiger anzutreffen. 72 In solchen Fällen ging es in der Regel darum , einen Kanal aufzutun, um die politische Führung über konkrete Mißstände zu informieren, die von den Bürokraten mittlerer Ebene unter den Teppich gekehrt wurden. Die Einflußmöglichkeit des MfS w urde dabei überschätzt. 73 Das galt nicht nur für die geheim dienstlichen Dilettanten, sondern auch für die Profis, mit denen sie sich eingelassen hatten und die im Herbst 1989 frustriert feststellen m ußten, daß jene kritischen Informationen, die sie nicht selbst unterschlagen hatten, auf politischer Ebene ignoriert worden waren. Soweit IM-Tätigkeit bewußt mit Teilnahme am Projekt Sozialism ustheorie verbunden wurde, war das V orhaben noch etw as anspruchsvoller: den geheimdienstlichen Apparat zur Beeinflussung des SED-Apparates zu nut-

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Stasi-Mann, in: Der Tagesspiegel 10.2.1991; Norbert Kostede: Doktor Brie wird abgewickelt, in: Die Zeit 5.7.1991; Wer war wer? (1995), S. 101. – Zu nennen ist in diesem Zusammenhang außerdem Jürgen J. (IMB „Taucher“) aus Leipzig, der mit dem Projekt eng zusammenarbeitete. Er war Ende der siebziger Jahre wegen „ staatsfeindlicher Gruppenbildung“ von der Staatssicherheit operativ bearbeitet und mit übelsten „Zersetzungsmaßnahmen“ unter Druck gesetzt worden. Er hat sich dann anwerben lassen (vgl. BStU, ASt Leipzig, AOPK 2966/80). Anfang Dezember 1989 informiert er die anderen Mitglieder des Projekts in einem Brief über seine Stasi-Verbindung. Weil eine solche Haltung vorausgesetzt wurd e, hätten SED-Mitglieder in der Regel nicht als IM angeworben werden sollen. Tatsächlich war zumindest in den siebziger Jahren jeder dritte neugew orbene IM zugleich SED -Mitglied. In einer einschlägigen (Ende der achtziger Jahre nicht mehr gültigen) MfS-R ichtlinie heißt es dazu: „ Bei Mitgliedern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschla nds ist immer davon auszugehen, daß diese nach dem Parteistatut verpflichtet sind, den sozi alistischen Staat zu schützen und sie auf Grund ihrer Stellung in der Regel bereitwillig helfen, die politisch-operativen Aufgaben zu erfüllen.“ „Richtlinie 1/68 für die Zusammenarbeit mit G esellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit und Inoffiziellen Mitarbeitern im Gesamtsystem der Sicherung der Deutschen Demokratischen Republik“ vom Januar 1968, Nachdruck in: Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter (1996), S. 242–282, hier 261. Land u. Possekel: Stimmen (1994), S. 43. Vgl. Müller-Enbergs: Warum wird einer IM? (1995), S. 112–114. Darauf lassen Einzelstudien zur Wirtschaft schließen; vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Die Hauptabteilung XVIII (1997), S. 75–79; Buthma nn: Kadersicherung (1997), S. 12, 91, 94–99, 107–110, 116 f., 128–130. Das Gleiche gilt fü r einzelne IM im Gesundheitswesen; vgl. Sonja Süß: Politisch mißbraucht? (1998), S. 234–237, 330–335.

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zen. Ganz abwegig war diese Vorstellung dam als nicht: Es dürfte unter Parteiintellektuellen bekannt gewesen sein, daß die Vorgänger Mielkes innerparteiliche Gegner Ulbrichts gewe sen waren: Zaisser hatte m it Herrnstadt, Wollweber mit Schirdewan zusammengearbeitet. 74 Gewiß wurde darüber debattiert, daß Gorbatschow seinen Aufstieg nicht zuletzt dem KGBChef Andropow verdankte, der als kur zzeitiger Generalsekretär der KPdSU selbst erste technokratische Reform schritte eingeleitet hatte. Das zweite zuvor genannte Motiv, die A bsicherung eigener Freiräum e, m ag sogar ein Stück erfolgreich gew esen sein – selbst wenn nur virtuelle Rückendeckung den Mut einzelner beflügelt hat. Tatsächlich w ar die Partei gar nicht informiert, wer dem MfS inoffiziell verpflichtet war. 75 Für die A rbeitsmöglichkeiten des Forschungsprojekts – auch als A bsicherung gegen repressiven Zugriff des MfS – ist die adm inistrative Position seines Mentors Dieter Klein in der Universitätshierarchie und vor allem seine Mitgliedschaft in der SED-Bezirksleitung Berlin, der er seit 1983 angehörte, sehr viel bedeutsamer gewesen. Zu den Förderern dieses Projektes gehörte auch Markus Wolf, der ehemalige HVA-Chef. Er hat ihr Grundsatzp apier zur Reformpolitik bereits am 3. Oktober erhalten, 76 was zeigt, daß in dieser Beziehung keine Berührungsängste bestanden. Wolf war danach unverkennbar bemüht, die Gruppe populär zu machen. 77 So scheint die Frage doch naheliegend: H at „die“ Staatssicherheit sich eines Projekts reform kommunistischer Vordenker bedient, um die „Wende“ in ihrem Sinne zu steuern? Die Verbindung zu Wolf wäre dafür allerdings kein besonders guter Beleg. Man kann zwar argumentieren – darauf wird noch zurückzukommen sein –, er habe im Herbst 1989 im Interesse der Institution Staatssicherheit agie rt, aus deren aktivem Dienst ist er aber bereits im Juni 1986 ausgeschieden. Seither w ar er in die operative Arbeit nicht mehr eingebunden. D as Projekt „ Moderne Sozialism ustheorie“ kam erst in den Jahren 1988/89 zu vorweisbaren Ergebnissen. Vor allem aber würde die Annahme, das Projekt habe im Einvernehmen mit der Staatssicherheit agiert, eine strategische Intelligenz der MfS-Generalität unterstel74 Vgl. Engelmann u. Schumann: Der Ausbau des Überwachungsstaates (1995); MüllerEnbergs: Der Fall Rudolf Herrnstadt (1991); Schirdewan: Aufstand gegen Ulbricht (1995); Wollweber: Aus Erinnerungen (1990). 75 Vgl. ZAIG: „ Die Informati onstätigkeit an den 1. Sekretär der Kreisleitung der SED und an andere leitende Partei- und Staatsfunktionä re des Verantwortungsbereiches (Vortrag), Oktober 1980“; BStU, ZA, ZAIG 7058, Bl. 3–68, hier 24; zusätzliche Belege in: Süß: Verhältnis von SED und Staatssicherheit (1997), S. 33; zur Genesis der Konspiration des MfS gegenüber der SED vgl. Schumann: Parteierziehung in der Geheimpolizei (1997), S. 135, 138–140, 146–149. 76 Vgl. Wolf: Im eigenen Auftrag (1991), S. 184. Er war möglicherweise nicht sonderlich überrascht, denn seit 1985 hatte Michael Brie, um sich abzusichern, seine Konzeptionspapiere seinem Führungsoffizier von der HVA z ugänglich gemacht. Das erklärte Bri e gegenüber der „Zeit“; in den Stasi-Unterlagen finde t sich dafür kein Beleg. Norbert Kostede: Doktor Brie wird abgewickelt, in: Die Zeit 5.7.1991. 77 Vgl. Wolf: Im eigenen Auftrag (1991), S. 213 f.

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len, die von deren Möglichkeiten sehr weit entfernt gewesen sein dürfte. Die „marxistisch-leninistisch“ durchtränkt e sicherheitsbürokratische Stupidität erlaubte nicht, solche Manöver auszuhecken, m it denen die Tabuzonen der Diktatur in einem taktischen Spiel hätten in Frage gestellt werden müssen. Für die heimlichen SED-Reformer aber w ar es naheliegend, zu Wolf K ontakt aufzunehmen, waren seine Sym pathien für die sowjetische Peres troika doch ebenso bekannt wie seine exzellenten Beziehungen in den SEDMachtapparat und zu den „ Freunden“. Es handelte sich also wahrscheinlich nicht um eine geheimdienstliche, sondern um eine politische Verbindung. Menschen mit dem politischen Hintergrund der Mitglieder des Sozialismus-Projektes mußten den revolutionären A ufbruch m it am bivalenten G efühlen betrachten: als Chance für überfällige Veränderungen und als Gefahr für die Macht. Am deutlichsten wurde das in einem Papier, das Teile der Gruppe am 8. Oktober verfaßten, als ein repressiver Rückschlag bereits begonnen zu haben schien. H onecker klam merte sich m it letzten Kräften an die Macht. Hätte er Erfolg gehabt, dann wären alle Hoffnungen auf eine wie auch immer geartete V eränderung und auch alle damit verbundenen Ambitionen auf unabsehbare Zeit erstickt worden. Das Projekt war damals politisch einflußlos. Nun versuchte es, Mitglied ern höherer Parteiinstanzen bewußt zu m achen, daß die DDR „ unmittelbar vor einer offenen politischen Krise“ 78 stehe. Angesichts dieser Situation m üsse die SED „ sich an die Spitze der unaufschiebbar gew ordenen Erneuerung“ stellen. 79 Daß dies angesichts einer „ Situation der Politikunfähigkeit“ 80 nur bei einem Führungswechsel und damit einem Sturz Honeckers möglich war, wagte man zwar nicht offen auszusprechen, es w ar jedoch eine zwingende Konsequenz. In dem Papier fanden sich auch bem erkenswerte Formulierungen, wie etwa: „Es bedarf souverän praktizierter O ffenheit, die in der Souveränität der Bürger gegenüber ihrem Staat ihre G rundlagen hat.“ 81 Trotzdem handelte es sich insgesam t um ein Liberalisierungsprojekt im zuvor erläuterten Sinne, auf dem Niveau, auf dem sich Krenz einen Monat später vor dem 10. ZK-Plenum bewegen würde. Teile dieser Positionsbestimmung haben, nachdem sie bekannt wurden, das ganze Projekt bei der Bürgerrechtsbewegung nachhaltig diskreditiert. Gefordert wurde, die Tätigkeit oppositioneller Gruppen auf „ das Gebiet der öffentlichen Diskussion“ zu beschränken, ihnen den Zugang zur Macht jedoch zu verwehren, „Opposition gegen den Sozialismus ist nicht zuzulassen.“ Die Entscheidung darüber solle jedoch – das wäre eine Neuerung gewesen – „gerichtlich nachprüfbar“ 78 André Brie, Michael Brie u. Wilfried Ettl: Die gegenwärtige Lage der DDR und Konsequenzen für die Gestaltung der Politik der SED (8. Oktober 1989), in: Sozialismus in der Diskussion 2 (1990), S. 79–99, hier 86; zuvor in: Oktober 1989 (1989), S. 106–115. 79 Ebenda, S. 79. 80 Ebenda, S. 96. 81 Ebenda, S. 82.

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sein. 82 Es sollten begrenzte zivile Freiräum e geöffnet werden, um die Krise zu entschärfen und eine gew altsame Eskalation zu vermeiden, die auch die eigenen Hoffnungen zunichte gemacht hätte, und gewiß auch, um die Macht für eine „erneuerte“ Partei zu retten. Gemessen an der herrschenden und der drohenden Politik war es ein kritisches Papier, in dem jedoch zugleich darauf geachtet wurde, den Parteioberen nicht so viel zuzumuten, daß sie nicht mehr zuhören würden. Zwei der Verfasser, André und Michael Brie, waren inoffizielle Mitarbeiter. Dennoch entsprach das Papier keinesw egs der dam als von der MfSGeneralität vertretenen Politik. Wenige Tage später wurde der IM-Vorgang zu André Brie wegen aktuell fehlender „ politischer Zuverlässigkeit“ geschlossen. 83 Ein Beleg für einen Zusam menhang zwischen dieser Einschätzung und der H erausgabe des Manuskriptes über „ Die gegenwärtige Lage“ findet sich in der A kte nicht. D ennoch ist w ahrscheinlich, daß A ndré Brie, der schon ein Jahr zuvor unliebsam aufgefallen w ar, w eil er gegen das „Sputnik“-Verbot protestiert hatte, 84 im Zuge seines Lernprozesses den Spielraum überschritten hatte, den das MfS aus operativen Gründen einem IM zu gewähren bereit war. 85 Nach dem Sturz H oneckers und im Zusam menhang m it dem Bem ühen der neuen SED-Führung, die politische Initiative zurückzugewinnen, aber auch angesichts der zunehmenden U nruhe an der SED -Basis, erhielt das Projekt parteioffiziellen Segen als „Arbeitsgruppe“ der SED-Kreisleitung an der Humboldt-Universität. 86 Für die Beantwortung der Frage, ob dieser Status theoretisch besonders versierten Propagandisten des Status quo verliehen wurde, oder Vordenkern, die zwar auf seiten der Macht gestartet waren, sich aber der Bürgerbew egung annäherten, ist deren V erhältnis zur Politik das entscheidende Kriterium : ob sie sich von ihrer Konzeption eines 82 Ebenda, S. 98. 83 Im „Abschlußbericht“ vom 13.10.1989 heißt es: „Der IM arbeitete von 1977 bis September 1989 mit dem MfS zuverlässig und ehrlich zusammen. Seine politische Zuverlässigk eit ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht gegeben.“ Der Vorgang werde wegen „Nichteignung/Perspektivlosigkeit“ beendet. BStU, ASt Potsdam, AIM 2219/89, Teil I/3, Bl. 113. 84 Vgl. ebenda, Bl. 97–100 (Bericht von eine r Sitzung seiner SED-Grundorganisation am 5.1.1989). 85 Ob Michael Brie damals noch irgendwelch e Stasi-Verbindungen hatte, ist unk lar. Ein eigenes Erlebnis, das ich mit ihm Mitte Oktober 1989 hatte, spricht zumindest dagegen, daß er im Sinne der Staatssicherheit agiert hat: An der Humboldt-Universität war eine interne Veranstaltung zum „ Projekt Sozialismustheori e“ angesagt. Ich war seinerzeit als Journalist tätig, hatte davon zufällig erfahren und versuchte, mich in den Hörsaal zu schmuggeln. Doch hatte ich zu wenig auf mein Äußere s geachtet. Die FDJ-O rdner am Eingang identifizierten mich so fort als „Westler“ und griffen mich heraus. In dieser etwas peinlichen Situation kam Bri e, einer der Referenten, hinzu. Ich kannte ihn bis dahin nicht persönlich, bat ihn an aber um ein kurzes Gespräch unter vier Augen. Als ich ihm sagte, ich sei ein Kollege von der Freien Universität (in Westberlin) und an dieser Veranstaltung sehr interessiert, nahm er mir das Versprechen ab, nichts darüber zu veröffentlichen, und schleuste mich dann an den Türhütern vorbei in den Saal. 86 Am 26.10.1989 wurde das durch die Kreispar teiaktivtagung an der Humboldt-Universität beschlossen; vgl. Segert: Politische Visionen im Zerfallsprozeß (1993), S. 107.

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aufgeklärten Autoritarism us verabschiedeten und Politik als kontingenten Prozeß begriffen. Das hätte sowohl einen V erzicht auf die, w ie auch immer begründete, „führende Rolle“ der SED bedeuten m üssen wie die A nerkennung der neuen politischen Kräfte als gleichberechtigte Konkurrenten um die politische Macht. Daß die SED-Reformer damit Mühe hatten, wurde in einem Papier zu diesem Them a deutlic h. Sie erklärten, „ informelle Gruppen“ benötigten überhaupt keine G enehmigung. „Formalisierte Organisationen“ aber, die Zugang zum politischen Entscheidungsprozeß suchten, seien dann zuzulassen, wenn sie „ keine antisozialistischen, nationalistischen, rassistischen oder m ilitaristischen Ziele verfolgen“ und „nicht verfassungsfeindlich“ sind. 87 Obwohl sich seinerzeit keine Bürgerrechtsorganisation zu „antisozialistischen Zielen“ bekannte, w ar das doch eine undemokratische Kautel. Noch problematischer w ar aus den bereits erläuterten G ründen der Begriff der „Verfassungsfeindlichkeit“. Deshalb war die Einschränkung wichtig: „Natürlich ist es zulässig, die Rechtsordnung m it rechtmäßigen Mitteln zu verändern.“ 88 Das Neue Forum etwa sei nicht verfassungsfeindlich. Andererseits hielten die Autoren in abgeschwächter Form noch an der „führenden Rolle“ der SED fest: Längerfristig sollte sie darin bestehen, daß die Partei „ überzeugende Positionen in die öffentliche Diskussion“ einbrächte. In dem Maße, wie diese Bemühungen erfolgreich wären, müßten „Formen des direkten administrativen Eingriffs in staatliche und wirtschaftliche Entscheidungsprozesse“ abgebaut und Partei und Staat getrennt werden. 89 Weiter ging die Feststellung, daß sich die SED „einer Wahl stellen“ müsse und mit „ erheblichen V erlusten“ zu rechnen habe, w enngleich sie immer noch die Chance besitzen würde, „ zwar nicht die absolute Mehrheit, aber doch eine starke oder die stärkste Fraktion in einem Parlament zu gew innen“. 90 Die logische Konsequenz aus diesem Politikmodell wurde noch nicht gezogen. Sie w urde erst einige Tage später von einer der Autoren, der Juristin Rosemarie Will, bei einer Podiumsdiskussion formuliert. 91 Sie stellte sich selbst die Frage: „ Bin ich als Kom munistin bereit, m ich abwählen zu lassen? Ein Kommunist m uß sich abw ählen lassen.“ 92 D as w ar in paradoxer Formulierung die entscheidende Einsicht. D ie SED -Führung unte r K renz dagegen brauchte noch drei w eitere Wochen, ehe sie sich w enigstens zur Streichung der „führenden Rolle“ aus der Verfassung bereitfand. 93 87 R. Land, R. Will u. D. Segert: „ Wie wollen wir mit den entstandenen informellen Gruppen und Bewegungen umgehen, und wie könnte mit dem Prozeß des Umbaus des politischen Systems sowie des Staates und des R echts begonnen werden? (22. Oktober 1989)“, in: Sozialismus in der Diskussion 2 (1990), S. 62–71, hier 63 f. 88 Ebenda, S. 64. 89 Ebenda, S. 68. 90 Ebenda, S. 70. 91 Zu Rosemarie Will siehe Küpper: Die Humboldt-Universität (1993), S. 65–73. 92 Die Diskussion fand am 3. 11.1989 in der Akademie der Künste statt. Zitiert nach W. Süß: „Hans Modrows Vordenker warten schon“, in : die tageszeitung 9.11.1989; Nachdruck in: taz-Journal Novemberrevolution (1989), S. 90 f. 93 In einem Interview erklärte Krenz: „ Ein Sozialismus, in dem nur das Volk der Souverän

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Ausführlich begründete Will die neue Position in der zweiten Fassung des Grundsatzpapiers des Sozialism us-Projektes, die Ende O ktober 1989 erarbeitet wurde. 94 Es war ein Versuch, an die Tradition westlicher Verfassungsdiskussion m it ihren klassischen Elem enten anzuknüpfen: Grundrechte als Abwehr- und Schutzrechte des einzelnen gegenüber dem Staat, Gewaltenteilung, Mehrheitsprinzip, Bindung der Exekutive an das G esetz, Unabhängigkeit der Justiz usw. Den Zeitumständen gesc huldet war der U mweg bei der Begründung dieser V erfassungselemente üb er die Reformdiskussionen in anderen sozialistischen Staaten. 95 A uch noch in diesem Text wurde die „führende Rolle“ der SED im traditionellen Sinn nur implizit verworfen, mit Aussagen wie: „Erst in dem Moment, wo die Abwahl aus einer politischen Funktion zum Alltag gehört, ist anscheinend der Rubikon auf dem Weg zu einer modernen politischen Kultur übers chritten.“ „Es ist Sache der Partei, in einem offenen D ialog gleichberechtigter Partner um die Hegemonie des eigenen Programmes und damit um die Mehrheit zu ringen.“ „Mehrheitsentscheidungen legitimieren Machtausübung.“ 96 Obwohl damit eine demokratische Verfassungsordnung skizziert wurde, sollte die Eigenstaatlichkeit der DDR bewahrt werden, um auf einem „dritten Weg“ 97 eine „sozialistische“ 98 Gesellschaftsperspektive offenzuhalten. So w eit war Modrow in seinem politischen Lernprozeß noch nicht, als er sich daran m achte, eine Konzeption

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ist – das ist der Kern der Forderungen der vielen Massenaktionen dieser Tage.“ Er sei dafür, die „führende Rolle“ der SED aus Artikel 1 der Verfassung zu str eichen. „Wir wollen einen Sozialismus, in dem nur das Volk der Souverän ist. ND-Interview mit Egon Krenz“, in: Neues Deutschland 24. 11.1989. Das Interview war am Vortag durch das Politbüro im Umlaufverfahren bestätigt worden; Protoko ll der Politbürositzung vom 22.11.1989, S. 10; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2/2364. Rosemarie Will: „ 4.3. Überlegungen zur Um- bzw. Neugestaltung des politischen Systems“, in: Umbaupapier (1990), S. 111–125. Nachdem die Gruppe ihren Beraterstatus beim Ministerratsvorsitzenden verloren und zur SED auf Distanz gegangen w ar, verzichtete Will auf solche U mwege; vgl. R osemarie Will: „ Revolution in der DDR und Verfassung (Dezember 1989), in: Sozialismus in der Diskussion 2 (1990), S. 9–16. Zum Verhältnis zur SED vgl. Segert: Politische Visionen im Zerfallsprozeß (1993), S. 107. Will: „Revolution in der DDR und Verfassung (Dezember 1989)“, S. 114–116. Der Begriff „ dritter Weg“ als Zielvorstell ung wurde von den führenden Mitgliedern des Sozialismus-Projektes erstmals in einem gemeinsamen Papier von Ende November 1989 verwendet, in dem gefordert wurde, „das administrativ-bürokratische System der Machtausübung durch den Partei- un d Staatsapparat zu zerstören“, und „ die Auflösung der SED als stalinistische und Neugründung als moderne sozialistische Partei“ proklamiert wurde; „ Die Überlebensfrage der D DR: der dritte Weg. W as wir vom außerordentlichen Parteitag der SED erwarten (25. November 1989)“, in: Sozialismus in der Diskussion 2 (1990), S. 17–23. Was das konkret bedeuten sollte, blieb unklar, denn einer der Unterzeichner, Rainer Land, hatte bereits zuvor die „volle Internationalisierung der DDR-Wirtschaft im europäischen Raum mit Bindungen an die BRD“ durch eine Öffnung für den Kapitalmarkt gefordert. In diesem Zusammenhang wurde der Gehalt des Begriffs „ Sozialismus“ auf eine erweiterte Mitbestimmung im Rahmen von „ Wirtschafts- und Sozialräten“ reduziert. In einem Punkt allerdings war das Papier eindeutig: „ Demokratischer, hum aner Sozialismus und Machtausübung einer Partei schließen sich aus.“ Ebenda, S. 21; Schreiben von Rainer Land an Hans Modrow vom 15.11.1989, 4 S., Privatarchiv d. Verf. – Modrow hat auf dieses Schreiben – so Land – nicht reagiert. Die Kooperation war beendet, ehe sie richtig begonnen hatte.

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für die künftige Regierungsarbeit zu entwerfen. Er suchte keinen „ dritten Weg“, sondern war bemüht, den „realen Sozialismus“ zu reformieren, inspiriert von der sowjetischen Perestroika, aber den Bedingungen in der D DR angepaßt. 99

8.3 Die erste Regierung Modrow Nach hinhaltendem Widerstand ihres Präsidenten H orst Sinderm ann, der befürchtete, seine Partei, die SED, würde bei einer solchen Tagung m it leeren H änden dastehen, 100 trat am 13. Novem ber die Volkskam mer zusam men. Sie sollte über die Lage im Lande debattieren und danach m it der Neuwahl des Ministerratsvorsitzenden die Regierungsum bildung einleiten. Es war die erste kontroverse A ussprache, die dieses G remium jemals führte. 101 Insofern bildete die Tagung einen Markstein politischer Entwicklung. Die Fraktionssprecher aller vier Blockparteien kündigten an, daß sie für eine Streichung der „ führenden Rolle“ der SED aus der V erfassung eintreten würden 102 – ein V orhaben, zu dem sich die SED -Führung unter Krenz zu diesem Zeitpunkt noch nicht durchgerungen hatte. D och mit der Bildung einer K ommission zur Ü berarbeitung und Ergänzung des A rtikels 1 (jenes Verfassungsartikels, in dem die „ führende Rolle“ der SED festgeschrieben war) wurde der Eckpfeiler der Diktatur zur Debatte gestellt. 103 Erhellend an der Debatte war die Aufklärung über Einzelheiten der Funktionsmechanismen politischer Macht. Fast alle Redner beklagten d en affirmativen, unterwürfigen Charakter ihres bisherigen Verhaltens. Der scheidende Ministerratsvorsitzende Willi Stoph etwa erklärte, daß bedeutsam e Entscheidungen nicht von der V olkskammer und auch nicht im Ministerrat getroffen worden seien. Das wäre noch keine Überraschung gewesen – aber selbst die höchsten Parteigrem ien seien übergangen w orden. Der „Generalsekretär“ und sein Intim us Mittag hätten weitreichende Investitions entscheidungen getroffen, „die w ir nachträglich erfahren haben und nach99 So Modrows eigene nachträgliche Eins chätzung; vgl. Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998), S. 338. 100 Vgl. den Redebeitrag Sindermanns auf der 11. Tagung am 13.11.1989, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 253. 101 Der Abgeordnete Lothar Fichtner (SED) merkte an: „ Ich habe den Eindruck, es ist eigentlich die 1. Tagung dieser Legislaturperiode. (Beifall) Zum ersten Mal geht es darum, nicht nur Vorgedachtes zur Kenntni s zu nehmen und zu bestätigen, sondern Nachzudenkendes auszusprechen.“ 11. Tagung am 13.11.1989, S. 254. 102 Vgl. 11. Tagung a m 13.11.1989: S. 234 (K oplanski, DBD), 235 (Wieynk, CDU), 237 (Raspe, LPDP), 238 f. (Hartmann, NDPD), ebenso in der anschließenden Debatte Trumpold, LDPD, u. Staegemann, NPDP (S. 248 f. bzw. 254). 103 Vgl. 11. Tagung am 13.11.1989, S. 308. Zur Regierungsbildung und -programmatik vgl. zusammenfassend: Peter Jochen Winters: Ei n neues Demokratiegefühl. Die Volkskammer ist nicht mehr sprachlos. In: Deutschland Archiv 22 (1989) 12, S. 1331–1339.

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träglich in den Plan hineinbringen m ußten. (Unruhe im Saal)“ 104 Die Stimmung in der K ammer – und w ohl auch derjenigen, die diese Tagung über die Medien verfolgten – w ar schon zuvor um geschlagen, als der amtierende Finanzminister, Ernst Höfner, auf die Frage eines A bgeordneten nach der Staatsverschuldung antwortete: „Wir haben immer vor der Vol kskammer erklärt, und ich habe das oft getan, daß wir einen ausgeglichenen Haushalt haben. Wir haben dabei nicht dargestellt, und ich habe das auch nicht getan, nicht deutlich gem acht, daß dieser Ausgleich zum Teil auf der Aufnahm e von Kredi ten beruht. (Mißfallensäußerungen)“ 105

Das w ar das Eingeständnis perm anenter fiskalischer Lüge. Zur Em pörung kam offenes Erschrecken, als Höfner weiter berichtete, daß sich die gesamte Inlandsverschuldung auf 130 Mrd. Mark belief. Zur Hälfte, also 65 Mrd., sei das dadurch bedingt, daß Exportwaren der DDR auf den westlichen Märkten immer schlechtere Preise erzielten; im Durchschnitt hätten sich die Erträge in den achtziger Jahren halbiert. D ie Zahlen zur Westverschuldung aber, die sich daraus ergeben m ußten, wurden den A bgeordneten noch im mer vorenthalten. G erhard Schürer, der Planungschef, erklärte, er sei nicht befugt, sie öffentlich zu machen. 106 Man konnte sich jetzt aber ausrechnen, daß dazu die nächste Katastrophenmeldung anstand. Die Tagung w urde von den Medien direkt übertragen und in vielen Betrieben von ganzen Belegschaften über Rundfunk verfolgt. Ü ber die Resonanz berichtete anschließend die Abteilung Parteiorgane der SED: „Die Volkskammertagung hat bei der Bevölkerung und besonders unt er Genossen Bestürzung und Fassungsl osigkeit über das Ausm aß der Lügen und des Vol ksbetruges ausgel öst. In den Part eikollektiven herrschen maßlose Enttäuschung und Verbitterung. [...] Da s politisch skandalöse Auftreten ehemaliger führender Part ei- und Staatsfunktionäre 107 hat zu neuerl icher Gereiztheit i n der St immung geführt . Es wi rd durchgängi g von Verrat an der Partei und am Volk gesprochen und die schonungslose politische und gerichtliche Bestrafung aller geforder t, die für Vertrauensund Machtmißbrauch Verantwortung tragen.“ 108

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11. Tagung am 13.11.1989, S. 258. Ebenda, S. 256. Ebenda, S. 259 f. Damit war – neben den zitierten Rednern – sicherlich auch der Auftritt von Erich M ielke gemeint, auf den noch zurückzukommen sein wird. 108 Abteilung Parteiorgane des ZK der SED: „ Stimmung der Bevölkeru ng“, Anlage 1 zum Protokoll der Sitzung des ZK-S ekretariats vom 15.11.1989, 5 S.; BA Berlin, DY 30, J IV 2/3/4462.

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Gerade weil sie plötzlich diskussionsfähig w aren, wurden die Abgeordneten als durch Schweigen und Akklamation für diese Zustände mitverantwortlich erkennbar. Einige waren so konsequent und forderten baldige Neuwahlen. 109 Der Gewinn an politischer Kultur, den die erste offene Debatte bedeutete, kam dem Sy stem nicht zugute. D ie Basis der Macht bröckelte nun immer stärker. D ie „ Situation in der Partei insgesam t“ w ar gekennzeichnet „ von großer Unsicherheit, von Passivität und Resignation in Parteileitungen, von weiteren Auflösungserscheinungen und von Mutlosigkeit vieler Funktionäre“. 110 In dieser Situation hat die Wahl von Modrow zum Vorsitzenden des Ministerrates, die am Ende der Tagung ohne D iskussion erfolgt war, relativ wenig Beachtung gefunden. 111 Das änderte sich erst, als bei der nächsten Sitzung der V olkskammer, am 17. November, Modrow seine Regierungserklärung erstattete. 112 Sie war m it den „ Koalitionspartnern“ abgesprochen und – so wurde jedenfalls in der Aussprache erklärt – einvernehmlich ergänzt worden. 113 Die Erklärung wurde auch dem Politbüro vorgelegt; m an hat ihr „mit Ergänzungen aus der D iskussion zugestim mt“. 114 Das entsprach dem bisherigen V erfahren. N eu w ar, daß der Ministerratsvorsitzende m anche dieser Korrekturen in seiner Rede dann w egließ – so etwa die angeblichen Verdienste des SED -Zentralkomitees bei der A ufdeckung von „ Amts- und Machtmißbrauch“. 115 Die Regierungserklärung stand unter dem Zeichen einer Fortsetzung und Vertiefung der Öffnungspolitik, denn – wie Modrow zutreffend diagnostizierte – „das Volk würde jeden beiseite fegen, der eine Wiederherstellung alter Verhältnisse zu versuchen wagt“. 116 In der Erklärung wurde auf verschiedenen Feldern eine neue Politik und generell – im Rahmen des „Sozialismus“ – eine „Reform des politischen Systems“ proklamiert. Unter letzterem, dem bedeutsam eren A spekt w ar eine Reihe von tiefgreifenden N euerungen angedacht: So w urde gefordert, „ die unterschiedlichen Funktionen von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion 117 – eine U mgenau festzulegen und exakt voneinander abzugrenzen“ schreibung für Gewaltenteilung. Unter dem traditionalistischen Signum „so109 Vgl. 11. Tagung am 13.11.1989, S. 249 (Schneeweiß, CDU), 255 (Fichtner, SED). 110 Abt. Parteiorgane des ZK der SED: „Stimmung der Bevölkerung“. 111 1 1. Tagung am 13.11.1989, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 264. 112 12. Tagung am 17.–18.11.1989, in: Volkskamme r, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 272–281 (künftig: Regierungserklärung). 113 Vgl. 12. Tagung am 17.–18. 11.1989, S. 281 (Gerlach, LD PD), 283 (Hartmann, NDPD), 285 (Werner, DBD); vgl. auch Gerlach: Mitverantwortlich (1991), S. 328–330; de Maizière: Anwalt der Einheit (1996), S. 64 f.; Schmidt: Von der Blockpartei zur Volkspartei? (1997), S. 75 f. 114 Protokoll der Politbüro-Sitzung am 14.11.1989; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2/2361. 115 Vgl. Entwurf der Regierungserklärung für die Politbüro-Sitzung am 14. 11.1989 mit handschriftlichen Ergänzungen; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2A/3258. 116 Regierungserklärung, S. 273. 117 Regierungserklärung, S. 278.

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zialistischer Rechtsstaat“ w urde „ eine grundsätzliche A ufwertung des Rechts im Leben der Gesellschaft“ angekündigt und als rechtsstaatlicher Grundsatz formuliert, „daß den Bürgern alles erlaubt sein m uß, w as nicht ausdrücklich untersagt ist; dem Staat darf nur erlaubt sein, was ihm rechtlich gestattet ist“ . 118 Der „Bevormundung“ der Regierung durch den ZK Apparat wurde eine Absage erteilt. 119 Sie solle künftig als „ Organ der Volkskammer“ agieren. 120 In der ganzen Erklärung kam die SED – außer bei der Benennung der neuen Minister – nicht vor; auch das war eine Aussage. 121 Angekündigt wurden verschiedene G esetzesvorhaben: von einem Mediengesetz und einem Reisegesetz bis hin zur Einrichtung eines V erfassungsgerichts. Besonders bedeutsam w ar – und tatsächlich auch eingelöst wurde – ein neues Wahlgesetz. So w eit, so gut. A ber m an w ürde diesen Text mißverstehen, wenn man ihn als die vorbehaltlose Proklamierung eines demokratischen Staatswesen interpretieren würde. Das grundlegende Manko war, daß dies eine Erklärung von Kräften des Alten Regimes war, die an der Spitze eines Staatsapparates standen, der in allen V erästelungen von der SED durchsetzt war. Die Hunderttausende, die in den Wochen zuvor in einem „zornigen Prozeß“ 122 auf die Straße gegangen w aren, waren in dieser Regierung kaum vertreten. 123 Gewiß genoß der Ministerratsvorsitzende als Person Popularität, aber von den Parteien, die seine Regierung bildeten, galt das allenfalls noch für die LD PD. In einer Situation des friedlichen Übergangs war vielleicht anderes kaum möglich. Das änderte aber nichts an dem Defizit, das – mit Hilfe des zentralen Runden Tisches – aufzuheben Modrow lange zögerte. Zwischen jenen K räften des A lten Regimes, die einen Lern- und Anpassungsprozeß versuchten, mußte nun das Kräfteverhältnis neu austariert werden. Um den Vorgang zu verstehen, muß man die vorherige Beziehung zwischen den „Koalitionspartnern“ in Betracht ziehen. Das Verhältnis zwischen 118 Regierungserklärung, S. 278. Beide Zitate sind wörtlich aus dem zuvor erwähn ten Papier von Rosemarie Will übernommen: „4.3. Überlegungen zur Um- bzw. Neugestaltung des politischen Systems“, S. 122 u. 125. 119 Diese Passage hatte das Politbüro ganz streichen wollen. Nun wurde der ZK-Apparat nicht genannt, aber jeder wußte, wer sich als Vormund aufgespielt hatte. Regierungserklärung, S. 273. 120 Regierungserklärung, S. 278. 121 Wolfgang Herger bezog in der anschließenden Debatte als Sprecher der SED-Fraktion in diesem Punkt keine klare Position: Er forder te nich t mehr die „ führende Rolle“ seiner Partei, w ohl aber „ den bestimmenden Einfl uß der A rbeiterklasse“. Es mußte gar nicht ausgesprochen werden, daß nach seinem id eologischen Verständnis diese Klasse durch die SED repräsentiert wurde. Da sich n ach der von ihm vorgetragenen Stellungnahme „künftig weder das Politbüro noch das Zent ralkomitee in die Regierungsarbeit einmischen“ – eine Aussage, die mit Beifall quittiert wurde –, war freilich unklar, wie d ieser Anspruch realisiert werden sollte. Herger in: 12. Tagung am 17.–18.11.1989, S. 286. 122 Regierungserklärung, S. 272. 123 Zu bedenken ist, daß sich unter den Demonstranten nicht wenige einfache SED-Mitglieder befanden.

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SED und Blockparteien hatte in den Jahrzehnten zuvor zwei Ebenen: eine sichtbare und eine unsichtbare. Sichtbar w ar seit Beginn der fünfziger Jahre die Verpflichtung jener Parteien durch ihre Program me und Statuten auf die „führende Rolle“ der „ Partei der A rbeiterklasse“, ihre Zugehörigkeit zu der von der SED gesteuerten „ Nationalen Front“ und ihrem K ernstück, dem „Demokratischen Block“, und die mehr oder w eniger servile Subordination ihrer Führungskader unter die SED. 124 Die unsichtbare Ebene ist bisher wenig erforscht: die Steuerung und K ontrolle der zentralen Blockparteiapparate durch die A bteilung „Befreundete Parteien“ im Apparat des Zentralkomitees der SED, für die lange Jahre Joachim Herrmann als ZKSekretär zuständig war. Die Hebel dafür waren: die Ausstattung der Parteien mit Finanzmitteln; 125 eine Art Vetorecht bei der Berufung von hauptam tlichen Parteifunktionären 126 und die Führung der V olkskammerabgeordneten dieser Parteien in der N omenklatur des ZK der SED; 127 die Steuerung ihrer Aufnahmepolitik und Mitgliederentwicklung; schließlich eine ausufernde Genehmigungspraxis und Zensur bei öffentlichen Verlautbarungen dieser Parteien. 128 Der unsichtbaren Ebene zuzurechnen w ar selbstverständlich auch die Ü berwachung und Beeinflussung der Blockparteien durch die Linie XX/1 des Ministeriums für Staatssicherheit. 129 Diese Instrumente hatten im November 1989 bereits beträchtlich an Wirkung verloren. N och vor der V olkskammertagung hatten auf einer Sitzung des „Demokratischen Blocks“ Manfred G erlach für die LD PD und Lothar de Maizière für die CDU erklärt, daß sie die „führende Rolle“ der SED nicht mehr länger zu akzeptieren bereit wären. 130 Es waren gewiß nicht zufällig die Repräsentanten jener Parteien im Block, die keine K unstprodukte der SED waren, sondern die noch auf eigene Substanz bauen konnten. Die DBD und die N DPD schlossen sich dieser Forderung erst zw ei Tage später, auf der Volkskammertagung, an. Für die SED mochte Günter Schabowski, der als Nachfolger von Joachim Herrmann im Politbüro für die „ befreundeten 124 Zur Genesis dieser Beziehung vgl. Lapp: Die „befreundeten Parteien“ (1988). 125 Für die Aushändigung der Gelder war die Abt. Finanzen und Parteibetriebe im ZK der SED zuständig; vgl. die plastische Schild erung bei Gerlach: Mitverantwortlich (1991), S. 88–90. 126 Vgl. Suckut: Die DDR-Blockparteien (1994), S. 110 f. 127 Vgl. Wagner: Das Kadernomenklatursystem (1997), S. 151. 128 Erhellend ist das Protokoll der 22. Sitzung der Enquete-Kommission „ Zur Rolle der Blockparteien und Massenorganisationen“, in: Deutscher Bundestag – Materialien der Enquete-Kommission (1995), Bd. II/1, S. 277–414. 129 Auf zentraler Ebene war die Hauptabteil ung XX/1 – Referat 3 unter Leitung von Major Jürgen Hardtmann für die Vorstände der Blockparteien, der Massenorganisationen und des Friedensrats zuständig. Dieses Refera t hatte fünf hauptamtliche und einige Dutzend inoffizielle M itarbeiter; vgl. Matthias Bra un u. Bernd Eisenfeld: Die Hauptabteilung XX/1 (Staatsapparat, Justiz, Gesundheitswesen, Blockparteien), BStU, unveröfftl. Ms. 1997. 130 Vgl. „Gedächtnisprotokoll der Tagung des Zentralen Demokratischen Blocks am 11.11.1989“, 1 0 S.; B A Berlin, v orl. S ED 40745, Bd. 2. Für den Hinweis auf dieses Dokument danke ich Siegfried Suckut. Vgl. auch Gerlach: Mitverantwortlich (1991), S. 322–324.

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Parteien“ zuständig w ar, so w eit nicht gehen. Er postulierte eine nebulöse Verbindung von „führender Rolle“ und „ demokratischer Zusammenarbeit“. Eine echte Konzession seinerseits war, daß „ der Kontakt zu den Leitungen der Parteien“ nur noch über ihn und nicht m ehr über „ Mitarbeiter“ laufen sollte. 131 Mit letzteren konnten nur jene der ZK -Abteilung „ Befreundete Parteien“ gem eint sein. Keiner der Anwesenden stellte bei dieser Sitzung die Fortexistenz des „ Demokratischen Blocks“ selbst in Frage. Die Verkehrsformen allerdings sollten grundsät zlich geändert werden. Es sollten – so Gerlach – „unabhängige selbständige Parteien mit offenen Bündnisbeziehungen“ in einen „ offenen Meinungsaustausch“ treten. 132 In der Volkskammerdebatte zur Regierungserklärung wurde diese Position von Rednern aller Parteien unterstrichen, zugleich aber betont, m an stehe weiterhin auf dem Boden des „ Sozialismus“ und trage nun gemeinsam „Verantwortung“. Gerlach, der als einziger bem üht w ar, trotz Regierungsm itgliedschaft eine gewisse Distanz zur Regierung aufscheinen zu lassen, wurde deshalb kritisiert: Er betreibe schon „Wahlkampf“. 133 Die Mechanismen, die bisher eingesetzt worden waren, um die Blockparteien gefügig zu halten, hatten w ahrscheinlich schon in den Wochen vor dem 4. Dezem ber, als der ZK-Apparat weitgehend lahm gelegt wurde, nicht mehr gegriffen. Die SED hatte keine Sanktionsmöglichkeiten mehr. Und ein ZK-Apparat, der die eigene Partei nicht m ehr unter K ontrolle hatte, konnte schwerlich andere Parteien steuern. A uf die Entscheidung über die A ufnahme neuer Mitglieder in diese Parteien etw a hatte die SED wohl keinen Einfluß mehr. So war inzwischen Konkurrenz zwischen LDPD und CD U aufgekommen, da beide Parteien – berichtete die Staatssicherheit – das „Potential“ der Anhänger des dam als noch als „ staatsfeindlich“ denunzierten Neuen Forum s für sich erschließen wollten. 134 Ä hnliches galt für die Presse der Blockparteien: Vor allem im Zentralorgan der LDPD, dem „Morgen“, standen schon seit Ende O ktober Artikel, die i n der SED-Zentrale äußerstes Mißfallen auslösten. 135 Den A ustausch an Führungskräften, der nun einsetzte, hatten auch die jeweiligen Parteispitzen nicht mehr unter Kontrolle – mußten sie doch selbst um ihre Posten bangen. D ie Staatssicherheit vermochte den Wegfall all dieser Einflußmöglichkeiten, obwohl sie in den Blockparteien prom inent ver131 Ebenda, S. 8. 132 Ebenda, S. 4. 133 Vgl. 12. Tagung am 17.–18.11.1989, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 285 (Werner, DBD) u. 287 (de Maizière, CDU). 134 Vgl. ZAIG: „Information Nr. 487/89“ vom 2.11.1989 „ über einige beachtenswerte Aspekte der aktuellen politischen Lage in den be freundeten Parteien“; BStU, ZA, ZAIG 3750, Bl. 11–13. 135 Gerlach soll vo r dem Zentralvorstand der LD PD am 17.10.1989 berichtet haben, in einer Information des ZK für die SED-Bezirksl eitungen werde ihm die Verbreitung von Positionen mit „ konterrevolutionärem Charakter“ vorgeworfen. Vgl. „ Über die politische Lageentwicklung in den befreu ndeten Part eien seit dem 13.10.1989“ vom 20.10.1989; BStU, ZA, HA XX/AKG 84, Bl. 65–70, hier 67.

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treten war, nicht zu kompensieren. Das war schon daran ablesbar, daß es vor allem mit der LDPD und der CDU – w äre es nach den „ Arbeitsplänen“ der Linie XX gegangen – niemals soweit hätte kommen dürfen. Der neue Ministerrat w urde von der Volkskammer am 18. November gewählt. Er war im Vergleich zur vorangegangenen Regierung deutlich verkleinert worden – von 44 auf 28 Mitglieder, von denen 17 der SED angehörten. 136 D eren A nteil w ar dam it von 91 auf 61 Prozent gesunken. Das war noch immer ein e deutliche Mehrheit, zeigte aber doch einen Trend an. Die sicherheitspolitischen Schlüsselpositionen blieben jedoch weiterhin in Händen von SED-Mitgliedern: die Ministerien für Nationale Verteidigung (Theodor Hoffmann) und für Inneres (Lothar A hrendt); an der Spitze eines Amtes für Nationale Sicherheit sollte ein Parteisoldat, der MfS-General Wolfgang Schwanitz, stehen. Das Justizm inisterium schließlich fiel zwar traditionell an die LDPD, sollte aber m it Hans-Joachim Heusinger von jemandem geleitet werden, der dieses A mt bereits seit 1972 innehatte und selbst in den Jahren zuvor als Geheimer Informator (GI) mit dem treffenden Decknamen „Knebel“ hohe Verläßlichkeit bewiesen hatte. 137 Auf die Staatssicherheit ging Modrow in der Regierungserklärung nur am Rande ein. Einerseits m achte er deutlich, daß auch die „Koalitionsregierung“ auf sie nicht verzichten w erde: „ Das A ufklären und V ereiteln friedensgefährdender Pläne und die Gewährleistung nationaler Sicherheit w ird auch w eiterhin ein w ichtiges A nliegen und A ufgabe sein.“ 138 Andererseits folgte ein H inweis, daß die nun auf der Tagesordnung stehende „ Erneuerung“ auch diese Institution nicht aussparen werde: „Neues Denken in Fragen der öffe ntlichen Ordnung und Sicherheit muß sich rechtlich und adm inistrativ umsetzen. Dazu gehört die Bildung eines Amtes für Nationale Sicherheit an Stelle d es Ministeriums für Staatssicherheit, verbunden mit einer Verringerung des Aufwandes.“ 139

Das war alles, was zu diesem Thema gesagt wurde. Andere Probleme hatten höhere Priorität: In einer Liste m it insgesamt 42 G esetzesvorhaben, die der Ministerrat nach der V olkskammersitzung verabschiedete, rangierte ein „Gesetz über die staatliche Sicherheit“ an 37. Stelle hinter Vorhaben wie einer Änderung der V erfassung, der Bildung eines Verfassungsgerichtshofes, einem neuen Wahlgesetz, Gesetzen über Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, einer Reform des Strafrech ts und des Strafprozeßrechtes, einer 136 12. Tagung am 17.–18.11.1989, in: Volkskamme r, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 2 5, S. 274 u. 307. 137 BStU, ZA, GI „Knebel“ (1955–1963) AIM 346/ 63; vgl. Vollnhals: Der Schein der Normalität (1997), S. 237. 138 Regierungserklärung, S. 278. 139 Ebenda.

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Verwaltungsreform und natürlich der Einleitung einer Wirtschaftsreform. 140 Als Term in für die Vorlage einer neuen „ Konzeption für öffentliche Ordnung und staatliche Sicherheit“ durch den Innenm inister und den Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit (AfNS) wurde der 20. Dezember 1989 vorgegeben. 141 Die Annahme, man habe in diesem Punkt etwas Zeit, sollte sich bald als Irrtum erweisen. Stimmungsbild Über die Reaktion der Bevölkerung auf die Regierungsbildung berichtete die ZAIG: Der „ Koalitionscharakter“ der Regierung werde begrüßt, aber „der dennoch hohe A nteil von Mitgliedern der SED an Ministerposten mit Erstaunen, z[um] T[eil] auch ablehnend, zur K enntnis genommen“. Modrows Regierungserklärung w erde „insbesondere von progressiven K räften als hoffnungserweckend und überzeugend bew ertet“. 142 Falls das zutraf, wäre es umso interessanter, daß diese Ermutigung nicht auf Modrow s Partei, die SED, ausstrahlte. Denn einige Tage später berichtete die A bteilung Parteiorgane im ZK, die Lage sei weiterhin „ außerordentlich kritisch, zugespitzt und widersprüchlich“ . 143 Zu den Mitgliederversam mlungen, die bisher Pflichtveranstaltungen w aren, k ämen n urmehr 5 0 b is 60 Prozent. „Weiter anhaltende Parteiaustritte, Enttäuschung und Resignation unter den Genossen bestimmen nach wie vor das politische Klima in den Grundorganisationen“, während „ die H inwendung zu A ndersdenkenden unübersehbar wächst“. 144 Von der SED-Mitgliedschaft w ürde eine „ klare O rientierung [...] durch die Parteiführung “ 145 gefordert, für die offenbar weder die Regierungserklärung noch das erst zw ei Wochen zuvor verabschiedete „ Aktionsprogramm der SED“ Ersatz boten. Diese generelle Einschätzung wird beispielhaft erhärtet durch eine Situationsschilderung aus dem Bezirk Schwerin. Dort hatte die SED einen Monat zuvor ihren gescheiterten Testlauf zur Rückgewinnung der politischen Initiative gestartet. Der damalige 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Ziegner, war inzwischen gestürzt. Sein Nachfo lger, Hans-Jürgen Audehm, gab Mitte November in einem Brief an Krenz die Befürchtung aus seiner Parteigliederung weiter, „daß unsere Partei keinen festen Boden m ehr unter den Füßen 140 „Beschluß über Maßnahmen zur Vorbereitung von Gesetzen für den Zeitraum bis Ende 1990“; Beschluß des Ministerrates 2/3/89 vom 23.11.1989; BStU, ZA, SdM 627, Bl. 16–23. 141 „Maßnahmeplan in Auswertung der 12. Tagung der Volkskammer der DDR“ [o. D.; vom 21.11.1989]; BA Berlin, DC 20 11422, Bd. 2. Datierung nach einem sonst identischen Dokument im Bestand BStU, ZA, SdM 1519. 142 „Hinweise über die Reaktion der Bevölkerung auf die 12. Tagung der Volkskammer der DDR [17.–18.11.1989]“ vom 24.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 5351, Bl. 79–87, hier 79. 143 Abt. Parteiorgane des ZK der SED, Konsultations- und Informationszentrum: „ Information für das Sekretariat des Zentralkomit ees der SED“ vom 27.11.1989 ; BA Berlin, DY 30/ IV 2/2.039/317, Bl. 144–149, hier 145. 144 Ebenda, Bl. 146 f. 145 Ebenda, Bl. 146.

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hat“. Er hatte aber noch die H offnung, „daß wir endlich, auch durch klare Entscheidungen des Politbüros, zu einer gewissen Ruhe in der Parteiarbeit kommen können“. 146 In einem zweiten Brief vom 22. November resümierte er eine Beratung der Bezirkssekretäre m it dem Politbüro m it den Worten, daß „ sie jeglicher m utmachenden O rientierung entbehrte“ . Anschließend schilderte er die Stimmung unter den Mitarbeitern des hauptam tlichen Parteiapparates in seinem Bezirk: „Die psychische Situation in den Appa raten, besonders jedoch i n den Kreisleitungen, ist aufs äußerst e gespannt. Viele Genossen sind verzweifelt, in ihren Handl ungen gel ähmt, verunsi chert und t ief ent täuscht. Das betrifft den politischen und technischen Apparat gleichermaßen. [...] Die augenblickliche Konzeptionslosigkeit der Part eiführung spitzt die Dinge zu. Die erschütternde W ahrheit, di e t äglich ergänzt wi rd, hat verheerende W irkung, Genossen zerfleischen sich , Selb stmordgedanken n ehmen zu , Austritte aus der Partei werden nicht weniger.“ 147

Die Bildung der Regierung Modrow hat die politisch-sozialen Stützen des Alten Regim es nicht einm al für kurze Zeit zu stabilisieren vermocht, weil gerade für sie die angekündigten Reform en „Besorgnis über die eigene berufliche Perspektive bis hin zur Existenzangst“ 148 auslösten. Dem Bemühen, Regierung und ZK -Apparat zu entkoppeln, entsprach an der Basis eine Trennung in der Wahrnehm ung des Ministerratsvorsitzenden und des SEDFunktionärs Modrow. Letztere Rolle w urde ausgeblendet, w odurch erstere in hellerem Licht erschien.

8.4 Zum Einfluß des MfS auf die Regierungsbildung Die Zusammensetzung der neuen Regierung w ar nicht von langer Hand geplant. Noch fünf Tage vor der Neuwahl des Ministerrates war bei der Hälfte der Ämter unklar, wer sie innehaben sollte. 149 Da Modrow als A ußenseiter nach Ostberlin kam und sich deshalb eine Mannschaft erst zusammensuchen 146 S chreiben von H.-J. Audehm, 1. Sekr. SED-BL Sc hwerin, an Egon Krenz vom 16.11.1989; BA Berlin, DY 30/IV 2/2.039/317, Bl. 99–101. 147 Schreiben von H.-J. Audehm, 1. Sekr. SED- BL Schwerin, an Egon Krenz „ persönlich“ vom 22.11.1989; SAPMO-BA DY 30 J 2/2.039/317, Bl. 115–117. 148 Diese Formulierung in einem ZAIG-Bericht bezieht sich auf die Stimmung unter Mitarbeitern des zentralen Staatsapparates und hauptamtlichen SED-Funktionären. „Hinweise über die Reaktion der Bevölkerung auf die 12. Tagung der Volkskammer der DDR [17.– 18.11.1989]“ vom 24.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 5351, Bl. 79–87, hier 81. 149 Vgl. Hans Modrow u. Wolfgang Herger: „Vorschlag für die Neubildung des Ministerrates“ vom 13.11.1989, Anlage zum Beh. Protokoll der Poli tbüro-Sitzung vom 14.11.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2A/3258.

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mußte, ist das nicht sehr verw underlich. Eher schon – und aufschlußreich hinsichtlich der Qualität dieser Bürokr atie –, daß ihm vom ZK-Apparat keine praktikable Personalliste vorgeschlagen worden ist. Welchen Einfluß aber hat die Staatssicherheit auf die Regierungsbildung genom men? D ie Quellenlage zu diesem Aspekt ist dürftig. Im merhin findet sich in den U nterlagen des Mielke-Stellvertreters Rudi Mittig, der sich dam als noch Hoffnungen machte, er selbst werde an die Spitze der Staatssicherheit treten, ein recht aufschlußreiches Papier. Es m uß in den Tagen vor dem 13. November verfaßt worden sein und trägt den Titel: „ Information über V orstellungen zur Struktur und ersten personellen Besetzungen der durch die Volkskammer der DDR zu berufenden Regierung der D DR“. 150 Die Frage, ob es sich dabei nur um Inform ationen handelt oder auch um eigene Wünsche der Staatssicherheit, ist schwer zu entscheiden: Die Quellen saßen im Sekretariat des Ministerrats; dort w aren im A uftrag der H auptabteilung X VIII ( Wirtschaft) sowohl Offiziere im besonderen Einsatz tätig als auch inoffizielle Mitarbeiter zu deren Überwachung. 151 Zur künftigen institutionellen Stellung der Staatssicherheit wurde in dem Papier prognostiziert, daß die Staatssicherheit in das Ministerium des Innern eingegliedert werde. 152 Für solche Erwartungen sind mehrere Gründe denkbar: eigene Erfahrungen mit einem solchen Arrangement in den Jahren 1953 bis 1955 und ähnliche institutionelle Regelungen in anderen Ostblockstaaten. D azu kam , daß die Staatssicherheit ausscheidenden Mitarbeitern den Start ins Zivilleben schon seit längerem durch einen Arbeitsnachweis des Ministeriums des Innern erleichterte. Eine solche Legende m ochte nun für die Instit ution Staatssicherheit selbst ein willkom mener Schutzschirm sein. Eine praktische Überlegung kann hinzugekommen sein: Die Staatssicherheit hätte ihren künftigen Chef, den designierten Innenminister Lothar Ahrendt, in der H and gehabt, w eil er als ehem aliger GMS „Karl“ leicht zu kompromittieren gewesen wäre. 153 Doch Ahrendt wehrte sich erfolgreich gegen die Erweiterung seines Kompetenzbereichs. Er argumentierte, damit würde sein Ministerium den g egen die Staatssicherheit gerich teten V olkszorn auf sich ziehen. 154 Das war ein verständliches Bedenken. Zugleich ist es ein Beispiel für die wechselseitige Distanzierung der einzelnen Teile des Machtapparates als Überlebensstrategie für die eigene Institution, die in dieser Zeit häufig zu beobachten war. Da man sich hinter keiner anderen Institution würde verstecken können, 150 Der sprachliche Duktus – „ inoffiziell wurde eingeschätzt...“ – zeigt, daß es sich tatsächlich um ein MfS-Papier handelt. BStU, ZA, Mittig 27, Bl. 233–235. 151 Die Herkunft der Informationen ergibt sich daraus, daß über die Mitarbeiter des Sekretariats berichtet wurde, sie würden aus Orientierungslosigkeit „in Untätigkeit verharren“. 152 „Information über Vorstellungen zur Struktur und ersten personellen Besetzungen der durch die Volkskammer der DDR zu berufenden Regierung der DDR“; BStU, ZA, Mittig 27, Bl. 233–235, hier 234. 153 Vgl. BStU, ZA, GMS „Karl“ (1964–1988) AIM 194/89. 154 Vgl. Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998), S. 324.

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wollte man wenigstens einen neuen Namen. Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe arbeitete in diesen Tagen an dem Entwurf für eine „Erklärung“ des MfS-Kollegiums, die am 15. N ovember verabschiedet w erden sollte. 155 In diesem Entwurf tauchte zum ersten Mal die Bezeichnung „ Amt für N ationale Sicherheit“ (A fNS) auf. Begründet w urde die Änderung damit, daß m an aus politischen Gründen ohnehin um benannt werden würde. Angesichts dieser Situation sei es taktisch besser, selbst einen solchen Vorschlag zu machen, statt von außen dazu ge zwungen zu sein, denn das würde als „Erfolg des G egners“ interpretiert. 156 Da der neue A mtsleiter dem V orsitzenden des Ministerrates direkt unterstellt und Mitglied des Ministerrates sein würde, war es tatsächlich eine Frage des N amens. A m Stat us änderte sich nichts, wohl aber an der Stellung in der H ierarchie: Bis dahin w ar die Staatssicherheit dem Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) und Generalsekretär der SED direkt untergeordnet. 157 Entsprechend der beginnenden Entflechtung von Partei und Staat w urde sie nun reines Regierungsorgan. 158 Schwer zu beantworten ist die Frage, inwieweit das MfS auf die personelle Zusammensetzung der neuen Regierung Einfluß genom men hat. Es ist kein Dokument überliefert, das aufzeigen w ürde, daß die Regierung gezielt mit IM durchsetzt werden sollte. Das m uß nicht bedeuten, daß es solche Bemühungen nicht gegeben hat. Da es sich um eine außerordentlich brisante Operation gehandelt hätte, w äre m an gew iß bem üht gew esen, m öglichst keine Spuren zu hinterlassen. Ganz war das nicht m öglich. Einschlägige IM-Akten sind erhalten geblieben, die freilich kaum direkte Hinweise enthalten. 155 „Hinweise“ [für die Erklärung des MfS-Ko llegiums vom 15.11.1989] ; BStU, ZA, ZAIG 7528, Bl. 158–181. Auf dem Dokument fehlen Herkunftsangabe und Datum. Der Bezug zur Kollegiums-Erklärung geht aus dem I nhalt hervor; Fundort und die für ZAIG-Vorlagen typische Betitelung verweisen ebenso auf deren Urheberschaft wie ihre Kompetenz zur Erarbeitung von Vorlagen zu Grundsatzdokumenten. 156 Ebenda, Bl. 158. 157 Vgl. „Statut des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 23.10.1967“; BA-MA, DVW 1/39487, Bl. 5–25. 158 In der Regierungserklärung blieb diese Frage, die durch ein eigenes Gesetz geregelt werden sollte, noch offen; in internen Diskussionen – so etwa bei der Rede von Schwanitz auf der Dienstberatung am 21.11.1989 – wurde davon bereits als feststehender Tatsache ausgegangen. Eine formelle Entscheidung zur Unterstellung unter den Vorsitzenden des Ministerrates wurde erst durch Regierungs beschluß vom 14.12.1989 getroffen (siehe unten). In der Zw ischenzeit galt der alte Zustand, denn das AfNS war Rechtsnachfolger des MfS. Mit dem Rücktritt von Krenz als Staatsratsvorsitzender und der Abberufung aller Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates am 6.12.1989 fehlte es für diesen Zustand allerdings an den institutionellen Voraussetzungen. Ein Konflikt deutete sich an, als Manfred Gerlach, der am gleichen Tag zum amtierenden Staatsratsvorsitzenden gew ählt worden war, in einer Erklärung dessen K ompetenz für die Landesverteidigung und die exekutive Funktion der Regierung in dieser Frag e betonte. Vgl. „Manfred Gerlach übernahm amtierend Vorsitz de s Staatsrates“, in: Neues Deutschland 7. 12.1989; 14. Tagung der Volkskammer am 11./12.1.1990, in: Volksk ammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 361.

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Die neue Regierung bestand fast zur Hälfte aus (ehemaligen) IM, bei den Ministern aus den Blockparteien betrug dieser Anteil sogar knapp zwei Drittel. 159 Das macht es sehr unwahrscheinlich, daß es sich um einen zufälligen Begleitumstand handelte. In irgendeiner Form w ar eine solche Verpflichtung, ob aktuell oder bereits beendet, allem Anschein nach ein A uswahlkriterium. Aber wer steckte dahinter, und w elche Absichten wurden verfolgt? Welche K onzeptionen konnten hinter der D urchsetzung der Regierung mit IM stehen? Drei Varianten sind denkbar: 1. die direkte Steuerung der Blockparteivertreter durch MfS und SED; 2. der A ufbau eines potentiellen „ Netzes“, wie es im Geheimdienst-Jargon hieß, das bei Bedarf und Möglichkeit aktiviert werden könnte; 3. eine frühere IM-Verpflichtung als Loy alitätsbeweis; zugleich als Auffanglinie für das Alte Regim e durch die Präparierung von Mitteln zur Diskreditierung und Erpressung solcher Minister, die nicht der SEDParteidisziplin unterworfen waren. Variante 1 hätte eine steuerungsfähige Zentrale vorausgesetzt. D ie jedoch existierte nicht, jedenfalls nicht aus Sicht der Staatssicherheit. Der Leiter der für die betreffende K lientel wichtigsten Hauptabteilung, der HA XX, Generalleutnant Kienberg, der unter anderem für die Führungen der Blockparteien zuständig war, stellte in den Tagen der Regierungsbildung auf einer Dienstberatung die rhetorische Frage: „ Was soll getan w erden?“ Einer seiner Untergebenen notierte: „ Er kann darauf keine Antworten geben“, doch es werde „neue Anweisungen [...] geben zur Arbeit des MfS“ . 160 Die Redenschreiber des künftigen Leiters der Staatssicherheit, Schw anitz, konstatieren zur gleichen Zeit in einem Redeentwurf: „Die führende Rolle der Partei – wie bereits gesagt – ist nicht mehr gegeben.“ 161 Variante 2: Es ging um den Aufbau eines nicht unmittelbar genutzten, sondern potentiellen „Netzes“ – ein Vorhaben, das auch von mittlerer Ebene aus gestartet werden konnte. Allerdings hätte man dann wohl in erster Linie aktive, bewährte IM lanciert. Doch dagegen spricht eine ganze Reihe von Indizien: Von den insgesam t 13 Ministern m it entsprechenden V erbindungen waren 11 nicht m ehr als IM aktiv. Bei über der H älfte lag die Beendi159 Bloße „Erfassungen“ durch die HV A, ohne zusätzliche Unterlagen, sind in diesen Zahlen nicht enthalten, w eil sie nicht eindeutig zu interpretieren sind: Es kann sich sowohl um Beobachtungsobjekte der HV A wie um IM gehandelt haben oder auch – in dieser Diensteinheit relativ häufig – um E xperten, die von der HV A unter Legende für Gutachten herangezogen wurden. In dem einzigen Fall, in dem von einer solchen, von der HV A „erfaßten“ Person die Akte erhalten ist, hande lte es sich um einen Wissenschaftler, der glaubte, Expertisen für das Ministerium für Wissenschaft und Technik zu erstellen. Als er für inoffizielle Mitarbeit geworben werden sollte, lehnte er ab. D araufhin betrieb die Staatssicherheit mit Erfolg seine Ablösung als Institutsdirektor. Vgl. BStU, ZA, V-IM „Professor“ Vorlauf-AIM 12007/76. 160 Arbeitsbuch Leutnant Frank Hasse (HA XX/4), Notizen vom 14.11.1989; BStU, ZA, HA XX/4 2143, Bl. 141. 161 „Hinweise für Dienstbesprechung am 15.11.1989“; BStU, ZA, ZAIG 8682, Bl. 1–23, hier 5.

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gung der Zusam menarbeit m ehr als zehn Jahre zurück. Mit zwei dieser ehemaligen IM war die V erbindung wegen fehlender Eignung abgebrochen worden. 162 Mit zwei Ausnahmen waren die Betreffenden als IM relativ kleine Lichter: Sie waren minderen IM-Kategorien zugeordnet; ihre A kten dokumentieren keine besonders intensiven A ktivitäten im Dienste des MfS. 163 Die jeweiligen Führungsoffiziere gehörten ganz unterschiedlichen Diensteinheiten an. A kten von IM, die außerhalb der Hauptstadt geführt worden waren, wurden nicht an die Zentrale geschickt, sondern verblieben in den jeweiligen Bezirksverwaltungen. 164 Einer der beiden noch aktiven IM in der künftigen Regierung war der Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft Klaus Watzek (DBD). Er hatte als IME „ Klaus Som mer“ seit 1983 der Bezirksverwaltung Neubrandenburg über die Situation in der Landwirtschaft (nicht aber über Personen) berichtet. Als er in den Ministerrat gewählt worden war, schickte die dortige Bezirksverw altung für Staatssicherheit seine Akte nicht etwa nach Berlin, wie das für eine Fortsetzung der Zusam menarbeit notwendig gewesen w äre. Sein N eubrandenburger Führungs offizier verm erkte vielm ehr in dem letzten Schriftstück, das in diesem IM-V organg (der heute noch in Neubrandenburg liegt) enthalten ist, einer „Einschätzung“ vom 24. November: „Seit der Wahl zum Minister wurde zum IME kein Kontakt aufgenommen.“ 165 Daß es sich dennoch, insgesam t gesehen, um eine Vorauswahl für die Etablierung eines künftigen „ Netzes“ handelte, ist nicht ganz auszuschließen, aber nicht plausibel. Bleibt Variante 3: Kräfte des Alten Regimes, die auf den Auswahlprozeß Einfluß hatten, glaubten m it einer früheren IM-Verpflichtung ein Mittel in der Hand zu haben, um w iderspenstige Minister einschüchtern oder durch können. Das entsprechend lancierte Inform ationen auffliegen lassen zu konnte allerdings nur die letzte Rettung sein, da in jenen Monaten der „Quellenschutz“ oberste Priorität hatte, um eine weitere Verunsicherung des verbliebenen IM-Bestandes zu verhinder n. D ennoch w aren die Voraussetzungen für solche Manöver m it der Regierungsbildung gelegt. Vielleicht aber handelte es sich bei dem Kriterium frühere IM-Verpflichtung auch nur um erhöhte Loyalitätserwartung. Der MfS-O ffizier, der am dichtesten in den Prozeß der Regierungsbil162 BStU, ASt Rostock, IMS „Franz Möller“ (1971–1985) AIM 778/85; BStU, ZA, GI „ Bernhard“ (1962–1965) AIM 9588/65. 163 BStU, ZA, GMS „Karl“ (1964–1988) AIM 194/89; ebenda, IMK „ Friedrich“ (1957–1963) MfS 14801/60; ebenda, GI „ Knebel“ (1955–1963) MfS AIM 346/63; ebenda, GI „ Lehmann“ (1956–1974) AIM 3181/74; ebenda, GI „Gisela“ (1963–1971) MfS AIM 10062/71. 164 BStU, ASt Erfurt, IME „ Klaus“ (1982–1983) AIM 772/83; BStU, ASt Magdeburg, IMS „Joachim“ (1973–1980) bzw. IME „ Joachim Uhlmann“ (1980–1988) AIM 1797/88; BStU, ASt Neubrandenburg, GMS (1983–1987) bzw. IME (1987–1989) „ Klaus Sommer“ AIM 113/83; BStU, ASt Leipzig, GI „ Peter Fritsche“ (1 956–1965) AIM 109/65 bzw. GMS „Klaus“ (1982–1988) AGMS 655/88. 165 Der Teil I dieser Akte, der die Unterlagen zur Person enthält, ist nicht vollständig überliefert. BStU, ASt Neubrandenburg, IME „Klaus Sommer“ AIM 113/83, Teil I, Bl. 14.

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dung eingebunden w ar, scheint der Leiter des Sekretariats beim Vorsitzenden des Ministerrates, Staatssekretär D r. H arry Möbis (59), gew esen zu sein. Nach einer Lehre als Metallarbeiter hatte er an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst studiert und promoviert 166 und dann im Jahr 1956 eine Karriere im Dienste des MfS, in der damaligen Hauptabteilung III (Wirtschaft), begonnen. 167 Er scheint – nach den Maßstäben seiner Institution 168 – ein tüchtiger Mann gewesen zu sein, denn bereits zehn Jahre später wurde er dazu auserkoren, eine sehr verantw ortungsvolle Aufgabe zu übernehmen: Beim Vorsitzenden des Ministerrats w urde die „ Arbeitsgruppe Staats- und Wirtschaftsführung“ eingerichtet (1973 in „Organisation und Inspektion“ umbenannt). Es handelte sich dabei um ein Netz von Sicherheitsbeauftragten, das zur Kontrolle der st aatlichen Industrie aufgebaut wurde. Möbis wurde als „Offizier im besonderen Einsatz“ (OibE) in den Ministerrat abkommandiert und leitete als Staatssekretär 169 die A rbeitsgruppe, die in der gesamten DDR aktiv war. Im MfS war Oberst Möbis an die HA XVIII (Wirtschaft) angebunden und zw ar direkt bei deren Leiter, dem gleichaltrigen G eneralleutnant A lfred Kleine. 170 Sein A mt hatte H arry Möbis über mehr als zwei Jahrzehnte inne. G ebürtig aus Hackpfüffel (Kreis Sangerhausen), ein Nest am Fuße des K yffhäuser, hat er sich in Berlin einen ziem lich privilegierten Lebensstil angewöhnt. Das zum indest behauptete in der Umbruchphase die SED -Parteiorganisation im Ministerrat und nannte als Beispiele: Westautos, eine Jagdhütte und einen eigenen Raum für die Fam ilie im Erholungsheim des Ministerrates in H ubertushöhe, w o sie gem einsam mit der Familie von Gerhard Beil 171 zu speisen pflegte, dem bisherigen und künftigen Minister für Außenhandel. 172 Solche Kritik aus der Partei war kein Hindernis dafür, daß Möbis Anfang November 1989 noch einm al einen kleinen Karrieresprung machte. Der 166 Vgl. Buch: Namen und Daten (1987), S. 215. 167 Zu Möbis vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Di e Hauptabteilung XVIII (1997), S. 11 u. 50; Seul: Das Ministerium für Staatssicherheit und die DDR-Volkswirtschaft (1995), S. 564 f. 168 Man kann das nur vermuten, denn die Kaderakte von Harry Möbis ist verschwunden, wie er überhaupt in den MfS-Unterlagen wenig Spuren hinterlassen hat. Allerdings findet sich etwa in der Besoldungsdatei der hauptamtlichen Mitarbeiter der Beleg, daß er noch bis Dezember 1989 monatliche Zuschlagszahlungen des MfS er halten hat. BStU, ZA, MfS-Besoldungsdatei, Eintragung zu „Dr. Möbis, Harry“. 169 Vgl. Neues Deutschland 11.10.1967. – Die Aussage von Modrow, Möbis sei „ einige Jahre“ OibE gewesen, ist deshalb unzutreffend. Seine Wertung, au ch wenn er das gewußt hätte, würde er ihn in seinem B üro beschäftigt haben, wirkt gewollt naiv, denn wie hätte ihm gleichgültig sein können, daß einer seiner engsten Mitarbeiter noch einer anderen Institution verpflichtet war? Vgl. Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998), S. 448 f. 170 Liste der OibE der HA XVIII/Leitung vom Oktober 1989; BS tU, ZA, HA KuSch/Kader 7, Bündel Nr. 44 (unerschlossenes Material). 171 Gerhard Beil (geb. 1926), seit 1986 Minister für Außenhandel, gehört zu jener Spezies unklarer HVA-Verbindungen, die zuvor erwähnt worden sind. 172 Vgl. Schreiben der Zentralen Parteileitung der Betriebsparteiorganisation im Ministerrat der DDR an „ den Genossen Hans Modrow “ vom 10.11.1989; BStU, ZA, HA XVIII/Ltg. 3325, Bl. 1–4.

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zweite Staatssekretär im Sekretariat des Ministerrates, Dr. Kleinert, wurde „aus gesundheitlichen Gründen“ vom Dienst suspendiert. Um welche Gründe es sich dabei handelte, soll nicht erläutert w erden; es waren auf jeden Fall keine, die plötzlich auftraten. 173 Zu seinem Nachfolger wurde Möbis ernannt, und zugleich wurde, angeblich um „die Leitungsstruktur zu vereinfachen“, die Arbeitsgruppe „ Organisation und Inspektion“ in seinen neuen Verantwortungsbereich verlagert, so daß bei ihm nun alle Fäden zusammenliefen. 174 Ü ber ihn w urde die K ommunikation zw ischen dem Ministerratsvorsitzenden und den Ministern organisiert, 175 so daß die Leitung der Staatssicherheit über Regierungsbildung und anschließende Regierungstätigkeit im mer gut inform iert gewesen sein m üßte. Freilich kann man das nur annehmen, nicht bew eisen, w eil einschlägige U nterlagen nicht auffindbar sind. Möbis w ar auf der richtigen Position, um die Regierungsbildung zu beeinflussen und Auswahlkriterien der Staatssicherheit einfließen zu lassen. Sein unmittelbarer Chef in der Staatssicherheit, Generalleutnant Kleine, hat wenige Tage zuvor in einer D ienstbesprechung angeregt, zu prüfen, ob „in der V ergangenheit abgelegte/nicht genutzte Q uellen“ reaktiviert werden könnten. 176 Das bezog sich zwar auf „oppositionelle Gruppierungen“, nicht auf die Blockparteien, aber der Gedanke, auf diesen Bestand zurückzugreifen, war ihm offenbar nicht fremd. Die taktische Schlüsselposition, die O berst Möbis als Leiter des Sekretariats des Ministerrates in den Tagen der Regierungsbildung hatte, hätte dauerhaft sein können. In dem bereits er wähnten MfS-Papier zu Struktur und personeller Zusammensetzung des Ministerrates wurde die Erwartung geäußert, der Ministerpräsident w erde einen einzigen Staatssekretär haben. Für dieses Amt sei der „ Genosse Dr. Möbis vorgesehen“. 177 Vielleicht war bei dieser Prognose der Wunsch der V ater des G edanken. D enn obw ohl sich Modrow mit Möbis gut verstand, 178 ernannte er noch einen zw eiten Staatssekretär: Walter Halbritter, der einen „ Krisenstab“ einrichten sollte. 179 Halbritter – und nicht etwa Möbis – wurde dam it auch für die Verbindung 173 Vgl. dazu Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998), S. 336. 174 Die Vorlage wurde am 1.11. von St oph abgezeichnet und am 8.11.1989 vom ZKSekretariat bestätigt. V gl. im U mlauf best ätigte Beschlüsse des ZK-Sekre tariats vom 8.11.1989, Protokoll Nr. 119; BA Berlin, DY 30 J IV 2/3A/4893. 175 Ein gutes Beispiel dafür ist die Vorbereitung des Ministerratsbeschlusses zur Öffnung der Grenze am 9. November 1989, dessen Umlauf auf Regierungsseite durch Möbis organisiert wurde; vgl. Hertle: Der Fall der Mauer (1996), S. 221–226. 176 „Protokoll der Lageberatung des Leiters der HA XVIII vom 31.10.1989“; BStU, ZA, HA XVIII 4601, Bl. 13–16. 177 „Information über Vorstellungen zur Struktur und ersten personellen Besetzungen der durch die Volkskammer der DDR zu berufenden Regierung der DDR“; BStU, ZA, Mittig 27, Bl. 233–235. 178 Vgl. Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998), S. 336. 179 So Modrow in: „ Dienstbesprechung anläßlich der Einführung des Gen. Generalleutnant Schwanitz als Leiter des A mtes für Nationale Sicherheit durch den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Gen. Hans Modrow 21.11.1989 (Tonbandabschrift)“; BStU, ZA, ZAIG 4886, Bl. 1–68, hier 19.

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zur Staatssicherheit zuständig. V erbindungsmann zw ischen ihm und der AfNS-Leitung w urde O berst K urt Zeisew eis. Letzterer kannte Schwanitz noch aus gem einsamer Zeit in der Führung der Ostberliner StasiBezirksverwaltung. Als zuletzt ste llvertretender Leiter der A rbeitsgruppe Geheimnisschutz im Ministerium war Zeiseweis ein überzeugter Verteidiger der Geheimnisse seines Amtes. 180 Noch Jahre später äußerte er sein Bedauern darüber, daß es 1989 unm öglich war, das Archiv zu vernichten, und daß „es nicht gelungen ist, so zu tun: Also das MfS gab’s nicht, das hat’s nie gegeben.“ 181 Bei der Umstrukturierung des Regierungsapparates ist ein Ressort kräftig aufgewertet worden: Das bisherige St aatssekretariat für Kirchenfragen wurde aufgelöst und an seiner Stelle das A mt eines stellvertretenden V orsitzenden des Ministerrates für K irchenfragen eingerichtet. 182 Dam it wu rde d er bedeutenden Rolle Rechnung getragen, die der evangelischen Kirche für eine Beruhigung der Lage im Land neuerdings durch die SED zugeschrieben wurde. Der Posten sollte an die CDU fallen. Nach Auffassung von deren Vorsitzendem , Lothar de Maizière , war Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, der bisher für die evangelische K irche die Verhandlungen mit SED und Staat geführt hatte, für dieses A mt geeignet. Für diesen Fall forderte die evangelische Kirchenleitung jedoch, daß er seine kirchlichen Ämter niederlegt. Da Stolpe dazu nicht bereit war, wurde aus dem Vorhaben nichts. De Maizière selbst übernahm das Amt. 183 Aus Sicht der Staatssicherheit trat damit an die Stelle von IM „ Sekretär“ 184 der IM „ Czerni“. Der reale Gehalt 180 Zeiseweis gehörte zu den ehemaligen MfS- Offizieren, die sich dem Gespräch mit den Opfern ihrer geheimpolizeilichen A ktivitäten stellten, allerdings nicht aus schlechtem Gewissen, sondern weil er meinte, dazu keinen Grund zu haben. Er konstatierte: „ Ich weiß auch heute nicht, was ich hätte wesentlich anders machen können bzw. müssen.“ Kurt Zeiseweis: Wir haben es nicht leicht miteinander. Vom Sinn meiner G espräche mit ehemals operativ bearbeiteten Personen, in: Zwie-Gespräch 1993/15, S.1–7, hier 4. 181 Zitiert nach dem Interview mit Zeiseweis, in: Rob Hof: „ Der Oberst. Kurt Zeiseweis Offizier des MfS – ein Portrait“, ORB 24.9.1995, 20.15 – 21.00 Uhr. 182 In dem Stasi-Papier zur Regierungsbildung und ebenso in dem Entwurf von Modrow und Herger vom 13.11.1989 war dieses Amt noch nicht vorgesehen. Es wird erstmals in einer Politbürovorlage vom 16.11.1989 erwähnt, versehen mit dem Zusatz „ Koll. Manfred Stolpe (CDU)“; vgl. „Vorschlag für die Neubildung des Ministerrates der DDR“, Anlage zum Beh. Protokoll der Politbürositzung am 16.11.1989; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2A/3260. 183 Diese Darstellung basiert auf de Maizière: Anwalt der Einheit (1996), S. 65. 184 Die Debatte über die Vergangenheit von Manfred Stolpe soll an dieser Stelle nicht referiert werden. Unstrittig ist, daß es sich bei dem in den U nterlagen der H A X X/4 der Staatssicherheit registrierten IM „ Sekretär“ um Manfred Stolpe handelte. Ebenfalls unstrittig ist, daß sich Oberkonsistorialrat Stolpe vielfach mit MfS-Offizieren, besonders mit Oberstleutnant Roßberg, getroffen hat, ohne seine kirchlichen Vorgesetzten darüber hinreichend zu informieren. Differenzen besteh en vor allem in zwei Einschätzungen: 1. ob auch diese Kontakte durch seinen kirchlichen Gesprächsauftrag pauschal abgedeckt waren; 2. ob er dabei als „ Verhandlungspartner“ im Interesse der Kirche zu agieren bemüht war (so die Mehrheit des Untersuchungsausschusses des Landtags Brandenburg, der Vorprüfungsausschuß der EKD und die Leitung der Evangelischen Kirche in BerlinBrandenburg) oder umgekehrt die Interessen von SED und Staatssicherheit in den innerkirchlichen Entscheidungsprozeß hineingetragen hat, wie von seinen entschiedensten Kri-

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dieser Stasi-Klassifikation ist jedoch sc hwer zu beurteilen, w eil die entsprechende Akte vernichtet w orden ist. Wie noch zu zeigen sein wird, hatte die Staatssicherheit in der Umbruchphase nicht den Eindruck, daß der neue CDU-Vorsitzende „ihr Mann“ sei. Daß im Dienst der Staatssicherheit stehende Mitarbeiter die Regierungsbildung beeinflußt haben, ist sehr w ahrscheinlich. Die sich aus den offiziellen Subordinationsverhältnissen ergebende Linie verläuft von Möbis über Kleine, den Leiter der H auptabteilung X VIII, z u d essen u nmittelbarem Vorgesetzten, dem stellvertretenden Minister Rudi Mittig. Er war, wie noch zu zeigen sein wird, in den ersten Tagen der A uswahl der künftigen Minister der wichtigste Mann in der Staatssicherheit. Allerdings wurde sein Einfluß noch vor der eigentlichen Regierungsbildung erheblich geschmälert. Das m ag einer der G ründe dafür gew esen sein, daß die zuvor referierten Überlegungen zur Struktur der künftigen Regierung nicht in die Tat umgesetzt wurden. Sie stammen aus einer Übergangsphase. Diese Überlegungen waren verengt auf die unm ittelbaren Machtinteressen der Staatssicherheit, erwecken aber noch nicht einm al den Anschein einer wie auch immer gearteten politischen Konzeption. Es ging vor allem um Personalpolitik als Machtpolitik. Als Erfolg konnte in dieser Beziehung der hohe Anteil ehemaliger IM verbucht w erden, der als Faustpfand künftiger Einflußmöglichkeiten betrachtet w erden mochte. Ein aus Sicht der Staatssicherheit wichtiger Erfolg war, daß ein verläßlicher Mann, Harry Möbis, eine Schlüsselposition innehatte. Freilich war auch dessen Kompetenzzuschnitt nicht so ausgefallen, wie sich das die Spitze der Staatssicherheit ursprünglich vorgestellt hatte. Kurzfristig mochte auch als Erfolg verbucht werden, daß der zweite Staatssekretär, der offenbar nicht zu verm eiden gewesen war und der auch die Verbindung zum AfNS halten sollte, m it Walter Halbritter 185 durch eine Person besetzt w ar, die für das A mt eines Krisenmanagers denkbar ungeeignet w ar. Zeitzeugen (die nicht genannt w erden w ollen) schildern den damals 65jährigen als einen lethargischen Menschen, der durch die neue A ufgabe überfordert war. Für die Richtigkeit dieser Darstellung spricht, daß er – ehe es in der ersten Dezem berwoche zum Eklat kam – überhaupt keine nachweisbaren Aktivitäten in Richtung Staatssicherheit untikern behauptet wird. Vgl. Landtag Bra ndenburg: „Bericht des Untersuchungsausschusses I/3“ vom 30. 5.1994, mit Anlagen, Drucksache 1/3009, 3 Bde., Potsdam 1994; Beschluß des Vorprüfungsausschusses der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 20.3.1995, in: Frankfurter Rundschau 5.4.1995; Beschluß der Leitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg vom 31.3.1995, in: ebenda. 185 Walter Halbritter kam aus der Gruppe der Wirtschaftsreformer der frühen sechziger Jahre und war zeitweilig sogar Kandidat des Politbüros gewesen (1967–1973). Das Ende der Reformversuche und der Machtwechsel zu Hon ecker kostete ihn zwar letztlich seine Parteiposition (außer die ZK-Mitgliedschaft), als Minister und Leiter des Amtes für Preise aber blieb er von 1965 bis 1989 im Amt. Eine frühere Verbindung zur Staatssicherheit bestand bei ihm nicht. Zu seiner Vorgeschic hte vgl. Jörg Roesler: Wirtschafts- und Industriepolitik, in: Herbst, Stephan u. Wi nkler (Hrsg. ): Die SED (1997), S. 277–293, hier 286; Stelkens: Machtwechsel in Ost-Berlin (1997), S. 508.

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ternommen hat. Er ließ die D inge laufen. Die Staatssicherheit hatte damit in den ersten drei Wochen der Regierung Modrow einen gew issen Freiraum zwischen Partei und Staat. Das war, wie sich herausstellen sollte, vielleicht

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bequem, aber politisch unklug. Insgesam t spricht das Ergebnis der Einflußnahme für eine ganz geschickt eingefädelte Taktik auf dem Niveau, das einem m ittleren MfS-Kader in einer Schlüsselposition zugänglich war. Gemessen an den Problemen des Übergangs und selbst an der bescheideneren Aufgabe, für die Staatssicherheit als Te il der Exekutive eine Überlebensperspektive zu entwickeln, war es eher kläglich. Der Übergang zur Liberalisierung hat in jenen eineinhalb Wochen, deren Marksteine die Maueröffnung, das 10. ZK -Plenum und der Regierungswechsel sind, einen kräftigen Schub erhalten. A n der Spitze der Regierung, die sich aus der Bevormundung durch den SED -Apparat zu lösen begann, stand nun mit Hans Modrow ein Mann, der zum indest den V ersuch unternahm, den unausweichlichen Wandel nicht nur – w ie Egon Krenz – hinauszuzögern, sondern neue Stabilität durch strukturelle Reformen des politischen Systems zu gewinnen. Die G renzen dieser K onzeption, die enger gezogen w aren als selbst m anche Ü berlegungen von SED-Reformern, sind bereits skizziert worden. Zu diesen Grenzen gehörte auch der vorsichtige Umgang mit der Staatssicherheit. Ein Ü bergang zur D emokratisierung w ar aber kaum vorstellbar ohne A usschaltung der Staatssicherheit als innenpolitischer Machtfaktor. Statt dessen w urde durch den Einfluß, der aus ihren Reihen w ahrscheinlich auf die Regierungsbildung genom men w orden w ar, zusätzliches Bremspotential gegen einen offenen U mgang mit der V ergangenheit geschaffen. Die fragile Legitim itätsgrundlage des Übergangsregimes wurde dam it in einer Situation w eiter unterhöhlt, in der die G ewinnung von Vertrauen die wichtigste politische Aufgabe überhaupt gewesen wäre – wenn die DDR denn gerettet werden sollte, was doch das wichtigste Ziel aller aus dem Alten Regime hervorgegangenen Kräfte war.

8.5 Der Fluch der bösen Tat oder Gewaltenteilung in statu nascendi Es ist noch einm al auf die V olkskammersitzung am 17./18. N ovember zurückzukommen. Für die A ngehörigen der Sicherheitsorgane war der Regierungswechsel vielleicht gar nicht das w ichtigste Ereignis dieser zw ei Tage. Aus ihrer Sicht mochte von größerer Bedeutung sein, daß dort auf offizieller Ebene die polizeistaatlichen Repressionsmaßnahmen in der ersten Oktoberwoche 186 debattiert worden sind. Durch Bürgerrechtsgruppen und in der Presse war darüber schon vielfach berichtet worden. Den Anfang hatten Aktivisten im Umfeld des O stberliner Stadtjugendpfarrers Hülsemann und der Bürgerrechtsorganisation Demokratie Jetzt gemacht, die eine Reihe von Be186 Dazu siehe Kap. 3.

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troffenen- und A ugenzeugenberichten zu einer auf Wachsm atrizen vervielfältigten Dokumentation zusammenstellten. 187 Der neue starke Mann in der SED, Günter Schabowski, hatte im letzten Moment noch versucht, die einen Tag vor der Wahl von Krenz zum Staatsratsvorsitzenden geplante V orstellung auf einer Pressekonferenz zu verhindern; selbst K onsistorialpräsident Stolpe war eingeschaltet w orden, doch vergeblich. 188 Am 23. O ktober waren die Gedächtnisprotokolle publik gew orden. 189 Die Veröffentlichung reaktivierte das Erschrecken aus der ersten O ktoberwoche und transponierte es in die „ Nach-Wende-Zeit“. Die Zeitungen berichteten nun darüber. Man könnte auch so sagen: Bürgerrechtler verschafften der G esellschaft eine Stimme, dann begann die Presse sich als vierte Gewalt bemerkbar zu machen. Auf Ostberliner Ebene w urde nun von der Stadtveror dnetenversammlung am 3. November eine U ntersuchungskommission eingerichtet, nachdem von Bürgerrechtsorganisationen und K ünstlern einiger D ruck gemacht worden war. 190 Aber die drei anderen G ewalten waren weiterhin in einer H and, und sie deckten sich gegenseitig. Unm ittelbar nach dem Regierungswechsel jedoch machte die Volkskammer, als Legislative die form ell erste Gewalt, die Geschehnisse zu ihrem Thema. Und Bericht wurde erstattet durch einen Vertreter der dritten Gewalt, der Judikative. Mit der Ansprache des Generalstaatsanwalts, Günter Wendland, 191 wurde am tlich, daß „ es zu Übergriffen von Angehörigen der Schutz- und Sich erheitsorgane, vor allem Tätlichkeiten und die Würde der zugeführten Personen verletzendem Verhalten“ gekommen war: „Im Gewahrs am befi ndlich wurden Personen geschl agen, über l ange Zei t zum St ehen, zum Tei l i n körperl ich schm erzhaften Stellungen gezwungen, auch beleidigt und auf andere Weise erniedrigend behandelt.“ 192

187 Vgl. HA XX: Lagebericht vom 24.10.1989 zur „ Aktion ‚Störenfried‘“; BStU, ZA, HA XX/4 1685, Bl. 141; Links u. Bahrmann: Wir sind das Volk (1990), S. 42 f.; auszugsweiser Nachdruck in: Schnauze! Gedächtnisprotokolle (1990), S. 19–132; Oktober 1989 (1989), S. 47–68; Rein: Die Protestantisch e Revolution (1990), S. 244–264; taz-Journal zur Novemberrevolution (1989), S. 39–41. 188 Vgl. Schabowskis Auslassungen vor der SED-Parteigruppe in der Volkskammer am 24.10.1989, dokumentiert (Auszug) in: Heinrich Fink: Vorwort zu: Schnauze! Gedächtnisprotokolle (1990), S. 11 f.; Rein: Die Protestantische Revolution (1990), S. 295 f. Dort ist dieses Dokument offenkundig falsch datiert. 189 Am gleichen Tag forderte Bischof Forck in einem Schreiben an Krenz eine Untersuchung dieser Vorgänge; vgl. Schreiben von Bischof Forck an den amtierenden Staatratsvorsitzenden vom 23.10.1989; BStU, ASt Schwerin, AKG 246, Bl. 16 f. 190 Vgl. Unabhängige Untersuchungskommission Berlin: Und diese verdammte Ohnmacht (1991), S. 48. 191 Günter Wendland (geb. 1931 in Königsberg ); Jurist; Mitglied der SED seit 1951, seit 1986 Kandidat des Zentralkomitees; 1986–1989 Generalstaatsanwalt. 192 Bericht des Gene ralstaatsanwaltes an di e Volkskammer; 12. Tagung am 17./18.11.1989, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 308–314, hier 309.

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Insgesamt seien in diesen Tagen 3.456 Personen festgenom men worden, gegen 630 Personen waren Erm ittlungsverfahren eingeleitet worden; 296 von ihnen seien „ kurzzeitig inhaftiert“ gewesen. 193 Wegen Ü bergriffen der Sicherheitsorgane seien 480 Anzeigen erstattet oder Mitteilungen gemacht worden, die zu 76 Erm ittlungsverfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung, Nötigung und Beleidigung geführt hä tten, darunter gegen 33 nam entlich bekannte A ngehörige der Sicherheitsorgane. 194 Außer den G esamtzahlen fügte Wendland zu dem , w as bereits bekannt w ar, w enig hinzu. A ber damit w aren die Fakten auch von ideologisch verfestigten Anhängern des Alten Regim es nicht m ehr zu leugnen. D ie Regierung, als zweite Gewalt, schwieg zu diesen Vorwürfen, teilte sie also dem Anschein nach, obwohl ihr mit Schwanitz einer der Hauptverantwortlichen angehörte. Der Generalstaatsanwalt war bemüht, die Führungsebene zu entlasten. Es habe sich „bisher nicht ergeben, daß es irgendw o einen Befehl gegeben hat, der zu solchen Maßnahmen wie Schlagen und Entw ürdigen auffordert“. Einen solchen Befehl hat es w ahrscheinlich tatsächlich nicht gegeben, wohl aber ideologische Indoktrination, die solche Übergriffe als legitim erscheinen ließ, Befehle, die nur mit Gewalt zu realisieren waren, und Vorgesetzte, die solches Verhalten billigten. Indem Wendland die Repression als „ Folge eindeutiger Befugnisüberschreitung“ 195 niederer Dienstgrade deklarierte, machte er vor allem eines deutlich: Die Verantwortung wurde nach unten abgewälzt. Für die Bereitschaft einfacher Mitarbeiter der Sicherheitsorgane, zur Verteidigung des Regim es künftig ähnlich zu agieren, mußte diese Erfahrung äußerst abträglich sein. A ber auch die höheren D ienstgrade mußten nun die Erfahrung machen, daß ihre Aktivitäten nicht mehr umstandslos gedeckt würden. Es w ar ein w ichtiger Moment in der G eschichte dieser Revolution: Aus dem Interesse der einzelnen Institutionen, Legitimität zu gewinnen, indem sie ihre formale Eigenständigkeit im politischen System als substantielle Eigenständigkeit von der im Verschwinden begriffenen Politbürokratie praktizierten, begann Gewaltenteilung zu entstehen. Dieser Vorgang sagt auch einiges über die Stellung der Staatssicherheit aus. Ihre angsteinflößende Macht resultierte nicht daraus – wie m anchmal behauptet worden ist –, daß sie schrankenlos agieren konnte, vor keinem Mittel zurückzuschrecken brauchte. Denn die Aktionen der „Tschekisten“ waren zumindest in den achtziger Jahren intern durchaus relativ restriktiven, äußerst detaillierten Regeln unterworfen. Aber es gab keine ihre Macht begrenzende, kontrollierende Instanz – außer der SED -Führung –, und w enn beide an einem Strang zogen, gar keine, mit Ausnahme der Rücksichtnahme auf die internationalen Interessen

193 Ebenda, S. 308. 194 Ebenda, S. 309. 195 Ebenda.

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der DDR. Nun aber mußte die Staatssiche rheit – ebenso wie die Volkspolizei – die Erfahrung machen, daß diese Z eiten vorbei w aren. Plötzlich entstanden institutionelle Verantwortlichkeiten; Handlungen konnten rechtliche Folgen haben. Ein kluger Beobachter aus der Ständigen V ertretung der Bundesrepublik in Ostberlin hat w enig später über die Folgen solcher, zu diesem Zeitpunkt vor allem atmosphärischer Veränderungen geschrieben: Es w äre „der Rückgriff auf die bewaffnete Macht unvorstellbar, weil die tiefgreifende Kritik wie auch die öffentlichen Untersuchungen über Machtm ißbrauch der Sicherheitskräfte das Selbstvertrauen der bew affneten Kräfte von Polizei und Staatssicherheit so w eit erschüttert haben, daß ein G riff zu den Waffen unvorstellbar ist.“ 196

196 Lageeinschätzung vom 1.12.1989; Verfasser war Hans-Jörg von Studnitz, der Leiter der Abteilung 1 Politik der Ständigen Vertretung; Fernschreiben an das Bundeskanzleramt vom 1.12.1989, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit 1989/90 (1998), S. 590–593, hier 591.

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Vom MfS zum AfNS

Mit dem Rücktritt der Regierung war Erich Mielke seit dem 7. Novem ber nur noch Minister auf A bruf. Die Stimmung, die damals in der Staatssicherheit herrschte, hat die SED-Kreisleitung im Ministerium mit den Worten resümiert: „Es muß erklärt werden, was das MfS eigentlich will und für was es da ist.“ 1 Das war die Kernfrage, um die Mitarbeiter wieder zu motivieren, doch die alte Führung w ar dazu nicht m ehr in der Lage. Mielke selbst m eldete sich danach nur noch einm al zu Wort: Am Tag nach der Maueröffnung deklarierte er „ volle D ienstbereitschaft“ und befahl, daß alle männlichen MfS-Angehörigen vorerst in den D ienstgebäuden zu verbleiben hatten 2 – eine Weisung, die am folgenden Tag von seinem Stellvertreter Mittig wieder aufgehoben wurde 3 .

9.1 Das „Interregnum“: Von Mielke zu Schwanitz Generaloberst Mittig rückte im mer stärker in den Vordergrund: Am 6. November hatte er ein „ Interview“ im „ Neuen Deutschland“ veröffentlicht. 4 Am 9. November sprach er, das einzige ZK-Mitglied unter Mielkes Stellvertretern, vor dem ZK-Plenum der SED. Auch intern unterzeichnete er nun jene Weisungen und Befehle, die form ell den Briefkopf des Ministers für Staatssicherheit trugen, „in Vertretung“. 5 Wenn tatsächlich Änderungen angestrebt werden sollten, war das eine sehr bedenkliche Entwicklung. Der 1 2 3 4

5

SED-Kreisleitung Abt. Parteiorgane: „ Auszüge aus den Monatsberichten der PO/GO Oktober 1989 zur Arbeit der SED-Kreisleitung und der Tätigkeit des MfS und im MfS“, 9.11.1989; BStU, ZA, SED-KL 1072, Bl. 287–296, hier 294. Schreiben Mielkes an die Leiter der Di ensteinheiten vom 10.11.1989; BStU, ZA, D St 103637. Schreiben Mittigs an die Leiter der Diensteinheiten vom 11. 11.1989; BStU, ZA, DSt 103637. Bereits am 5. November hatte er eine Ma rotte des bisherigen Ministers übernommen. Mielke, der keinen einzigen Tag in einer re gulären Armee gedient hatte, pflegte seine Unterschrift mit dem Zusatz „ Armeegeneral“ zu versehen. Mittig, der bis dahin mit seinem Dienstgrad Generaloberst unterschrieben hatte, unterzeichnete am 5. November ein Schreiben an K renz mit „ Mittig, A rmeegeneral“; vgl. B egleitschreiben zum „1. Lagebericht“ vom 5.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 8266, Bl. 1. Vgl. etwa Schreiben M ittigs an die Leite r der Diensteinheiten vom 8.11.1989, BdL/309/89; BStU, ZA, HA VIII 709 Nr. 2, Bl. 2; Schreiben Mittigs an die Leiter der Diensteinheiten vom 8.11.1989, VVS o008-87/89; BStU, ZA, ZAIG 7388, Bl. 1–4; Schreiben Mittigs an die Leiter der Bezirksverwaltungen vom 12.11.1989, BStU, ZA, HA VII 1359, Bl. 85 f.

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damals 64jährige Rudi Mittig, der fast sein ganzes Berufsleben in der Staatssicherheit verbracht hatte, hätte bei einer Berufung zu deren neuem Chef vor allem eines verkörpert: K ontinuität. Seit 1974 war er als stellvertretender Minister für den Bereich der inneren Repression im engeren Sinne zuständig. 6 Ihm unterstanden die H auptabteilungen XVIII (Wirtschaft) und XX (Staatsapparat, Kirche, Opposition). Obwohl er auf den Dienstberatungen zur Bekäm pfung der „ feindlich-negativen Kräfte“ im Jahre 1989 seine Untergebenen eher zu vorsichtigem Vorgehen angehalten hat, war er ideologisch – das hatte er gerade in den vorangegangenen Wochen gezeigt – ein Hardliner. Auf einer Parteiaktivtagung am 11. N ovember, die der Auswertung des 10. ZK-Plenums gewidmet war, wurde vereinzelt Kritik an Mittig laut. 7 Dennoch gab Wolfgang Herger, der nun im Politbüro für Sicherheitsfragen zuständig war, am Ende der Veranstaltung bekannt: „ Gen[osse] Mittig amtiert als Minister.“ 8 Diese Ehre währte freilich nur kurz. Noch an diesem oder am folgenden Tag m uß die Entscheidung gefallen sein, Generalleutnant Wolfgang Schwanitz 9 anstelle von Mittig zum neuen Amtschef zu machen. 10 Als Grund nannte Schwanitz später, er sei dem „designierten Minis6 Rudi Mittig (1925–1994) war von Beruf Maurer. Nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft (1945–1949) und der Rückkehr nach Deutschland arbeitete er zuerst in seinem erlernten Beruf, ehe er 1952 in das MfS eintrat. Vier Jahre später, 1956, wurde er Leiter der Bezirksverwaltung Potsdam. Nach Weiterbildung zum Bau-Ingenieur und – an der Hochschule des MfS – zum Diplom-Juristen wurde er 1961 Leiter der HA XVIII (Wirtschaft) und 1974 stellvertretender Minister für Staatssicherheit. 7 Von dieser Tagung ist kein Protokoll überlie fert. Es existieren allerdings Arbeitsbücher von Teilnehmern, die mehr oder weniger ausführliche Notizen enthalten: Arbeitsbuch Rolf Scheffel, stellvertr. Leiter der Krei sleitung der SED; BStU, ZA, SED-KL 652, Bl. 1290–1296; Arbeitsbuch eines Mitarbeite rs der ZAGG; BStU, ZA, ZAGG 2742, Bl. 13–26; Arbeitsbuch von Oberstleutnant Ax el Schulz, Sekretär der SED-GO 32 im Sekretariat von Schwanitz; BStU, ZA, SdM 2332, Bl. 61–69; Arbeitsbuch eines Mitarbeiters des Sekretariats Neiber (SED-GO 24); BStU, ZA, Neiber 533, Bl. 46–61. Notizen von einem Bericht über diese Tagung in: Arbeits buch von Leutnant Dorfmeister (HA XXII); BStU, ZA, HA XXII 584/6, Bl. 148–151. 8 Arbeitsbuch eines Mitarbeiters des Sekret ariats Neiber (SED–GO 24), Bl. 61; sinngemäß gleichlautend Arbeitsbuch eines Mitarbeiters der ZAGG, Bl. 28. Schon zuvor war Mittig in einem internen Papier al s „ amtierender Minister“ tituliert w orden; vgl. G eneralmajor Strobel, Leiter der Abt. M (Postüberwachung) : „ Thesen für Dienstkonfe renz des Leiters der Abteilung M des MfS Berlin“ vom 8.11.1989; BStU, ZA, Abt. M 1026, Bl. 59–63. 9 Wolfgang Schwanitz (geb. 1930 in Berlin); Großhandelskaufmann; 1951 Eintritt in das MfS; 1954 Leiter der KD Berlin-Pankow, dann Berlin-Weißensee; 1956 stellvertretender Leiter, 1958 Leiter der Abt. II (Spionag eabwehr) der Verwaltung Groß-Berlin; 1960–66 Fernstudium an der HU Berlin, Dipl.-Jurist; 1966 Stellvertreter Operativ de s Leiters der Verwaltung Groß-Berlin; 1973 Promotion an der JHS mit einer Arbeit über „Die Qualifizierung der politisch-operativen Arbeit zur Bekämpfung von feindlichen Erscheinungen unter jugendlichen Personen in der DDR“; 1974–1986 Leiter de r BVfS Berlin u. Mitglied der SED-Bezirksleitung Berlin; 1984 Generalleut nant; 1986 Stellvertretender Minister für Staatssicherheit; 1986–1989 Kandidat des ZK der SED. Vgl. Gieseke: Wer war wer im MfS (1998), S. 66 f. 10 Ein deutliches Indiz ist, daß am 13. 11.1989 ein Zeitungsinterview mit Schwanitz veröffentlicht wurde, in: Nationalzeitung 13.11.1989. – Von wem dieser Vorschlag kam, ist ungeklärt. Modrow schreibt, Mielke habe Schwanitz vorgeschlagen (was unwahrschein-

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ter“ aus A ltersgründen vorgezogen worden. 11 D as ist w enig überzeugend: Die Differenz betrug nur fünf Jahre. Eher steht zu vermuten, daß er als ehemaliger Stellvertretender Minister für die technischen Bereiche weniger kompromittiert schien als Mittig. Aber auch Schwanitz hatte als früherer Chef der O stberliner Bezirksverw altung für Staatssicherheit (1974 –1986) reiche Erfahrungen auf dem Gebiet der inneren Repression. Wolfgang Herger hat sich auf der Parteiaktivtagung im MfS als V ertreter des frisch gewählten Politbüros vor allem darum bemüht, die Stasi-Offiziere von der neuen Linie zu überzeugen. Eine „ Spaltung der Partei“ 12 oder zw ischen SED und Staatssicherheit sollte unbedingt verm ieden werden. Obwohl H erger vier Jahre lang d ie Sicherheitsabteilung des Zentralkomitees geleitet hatte, war dieser Auftritt für ihn kein Heim spiel, denn aus Sicht der „Tschekisten“ war er ein Zivilist, das heißt einer, der niem als selbst in den „bewaffneten Organen“ gedient hatte. In seinem Beitrag wiederholte er, daß Probleme künftig politisch zu lösen seien, forderte „Toleranz unter Andersdenkenden“ 13 und warnte davor, den „ politischen Gegner“ als „Feind“ zu betrachten. 14 Wahlen würden auf jeden Fall stattfinden; jetzt gehe es um die Frage, wie sie zu gewinnen seien. 15 Andererseits werde man sich mit denjenigen, die die „ soz[ialistische] Macht angreifen“ , „beschäftigen“ müssen. 16 Um die MfS-Angehörigen für die neue Führung zu gewinnen, nahm er sie in Schutz: Nicht die Staatssicherheit, sondern das ehem alige Politbüro trage die V erantwortung für die U nterdrückung von „ Andersdenkenden“. 17 Vo r allem aber stellte er die Dinge so dar, als ob ihr noch am tierender Minister selbst eine Schlüsselfigur beim Sturz H oneckers gewesen sei. Mielke habe wie kaum ein anderer unter dem „ autokratischen Leitungsstil“ Honeckers gelitten. Der Sinn dieser bezogen auf Mielke überraschenden Aussage (sein „eingefahrener Kommandostil“ wurde nach seinem Sturz selbst von der

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lich ist, weil der Mittig favorisiert hatte) und vom „ ZK“ sei dieser Vorschlag abgesegnet worden. Dann müßte er von Herger oder Bengelsdorf (dem Leiter des Sektors Staatssicherheit im ZK -Apparat) gekommen sein. V gl. Modrow : Ich wollte ein neues Deutschland (1998), S. 324 u. 438. Interview mit W. Schwanitz, in: Der Stern 7.12.1989, S. 26–28, hier 27. Vgl. Notizen vom 13.11.1989 zu einem Berich t über die Äußerungen Hergers in: Arbeitsbuch von Leutnant Dorfmeister (HA XXII); BStU, ZA, HA XX II 584/6, Bl. 148. Ein Mitarbeiter der HA XX/7 notierte am 16.11.1989 als sinngemäße Äußerung seines Hauptabteilungsleiters Kienberg: „ Erhalt der Partei und [des] Soz[ialismus] als HA [Hauptaufgabe] . Frage [der] Spaltung der Partei ist groß“; BStU, ZA, HA XX 2717, Bl. 272. Zitiert nach Arbeitsbuch Rolf Scheffel, Bl. 1294; Arbeitsbuch eines Mitarbeiters der ZAGG, Bl. 26. Zitiert nach Arbeitsbuch eines Mitarbeiters der ZAGG, Bl. 26. Zitiert nach Arbeitsbuch Axel Schulz, Sekr. der SED -GO 32, Bl. 66; ebenso A rbeitsbuch eines Mitarbeiters der ZAGG, Bl. 25. Zitiert nach Arbeitsbuch eines Mitarbeiters der ZAGG, Bl. 26; ebenso Arbeitsbuch Rolf Scheffel, Bl. 1294. Vgl. Arbeitsbuch Axel Schulz, Bl. 67; Arbe itsbuch eines Mitarbeiters des Sekretariats Neiber (SED-GO 24), Bl. 59 f.

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SED-Kreisleitung im Ministerium kritisiert 18 ) war, daß der Chef der Staatssicherheit angeblich die Lage nüchtern zur K enntnis genommen habe, während sich der G eneralsekretär in seinen „ Illusionen“ nicht habe stören lassen. Auf die Institutionen übertragen, bedeutete das: Die Staatssicherheit hatte ihrer Inform ationspflicht genügt, die Parteiführung aber hatte versagt. Mielke freilich – so Herger – „ konnte nicht sagen, ich stürze Honecker“ . Krenz jedoch habe sich allzu lange die „ lebensgefährliche Illusion“ gemacht, eine „Wende“ sei m it Honecker m öglich. 19 Das war eine Mischung aus Schm eicheleien an die Adresse se iner Zuhörer, etwas Selbstkritik (da Herger bekanntlich der engste Mitarbeiter von Krenz war) und Betonung der institutionellen Hierarchie. Mielkes Fall Zwei Tage später ist von der „ Hochachtung“ 20 , die Herger für Mielke zu verspüren behauptete, w ohl nicht viel übriggeblieben. A m 13. November sprach der scheidende Minister für Staatssicherheit vor der Volkskam mer. Der historische Mom ent, in dem Mielke seinen ersten öffentlichen Auftritt seit langem hatte, war üb eraus prekär. Für die Mitarbeiter des MfS war jene Ordnung, die ihre Welt ausgemacht hatte, aus den Fugen geraten: faktisch, weil die Gesellschaft, die sie unter operativer Kontrolle zu halten hatte, neue Regeln öffentlichen Verhaltens praktizierte, für die im Weltbild der „Tschekisten“ kein Platz w ar und selbst noch die räum liche U mgrenzung dieser Welt durch den Fall der Mauer verlorengegangen war – symbolisch, weil die Sinnwelt, aus der sie ihre Tätigkeit rechtfertigten, m it der Sprachlosigkeit der Parteiführung ihren A ngelpunkt verloren hatte. In dieser Situation trat der scheidende Chef der Staatssicherheit, der diese Institution wie kein anderer repräsentierte, vor die Öffentlichkeit. Er machte das nicht ganz freiwillig, denn ein Abgeordneter von der Fraktion des Gewerkschaftsbundes, des FDGB, hatte gewagt, von ihm eine Erklärung zu fordern. 21 Aus Sicht der MfS-Mitarbeiter hätte er , der sich bei seinen internen Auftritten im mer als „ Welt-Spezialist“ aufgeführt hatte, jetzt die Aufgabe gehabt, sie zu verteidigen und ihrer Tätigkeit wieder Sinn zu verleihen. Mielke hat diesen V ersuch unternom men. Er postulierte – durchaus zutreffend –, daß sein Ministerium im „ Auftrag“ tätig gew esen sei, aber benannte nicht den konkreten A uftraggeber, sondern reku rrierte auf Prinzipien der m arxis18 „Arbeitsthesen der Kreisleitung zu aktuelle n Aufgaben in der Parteiarbeit. Beschluß der Kreisleitung“ vom 18.11.1989; BStU, ZA, Neiber 89, Bl. 630–650, hier 634. 19 Zitiert nach Arbeitsbuch eines Mitarbeiters der ZAGG, Bl. 27 f.; sinngemäß ebenso Arbeitsbuch Axel Schulz, Bl. 68. 20 Zitiert nach Arbeitsbuch eines Mitarbeiters der ZAGG, Bl. 27; Arbeitsbuc h Axel Schulz, Bl. 68. 21 Vgl. 11. Tagung am 13.11.1989, in: Volkska mmer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 261 f.

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tisch-leninistischen Ideologie: „die Interessen der Werktätigen“ , den „ Frieden“ und den Schutz des „ sozialistischen Lagers“ . Schließlich bem ühte er eine noch höhere Legitim ationsebene und provozierte dam it ein Umschlagen der Stimmung: „Ich liebe, ich liebe doch alle ( Lachen). Ich liebe doch, ich setze mich doch dafür ein.“ 22 Um den Schock zu verstehen, den Mielkes Auftritt im MfS auslöste, muß man sich dessen Wirkung nach außen vergegenw ärtigen. Aus der Perspektive des Fernsehzuschauers hat sie der Dresdner Lyriker Thomas Rosenlöcher präzis beschrieben: „Erich M ielke vor der Vol kskammer. Der Gehei mnisträger vor den Augen der Öffentlichkeit. Der Sich erheitsminister im Zustand der Unsicherheit. Ein schäbiger alter Mann m it ei gentümlich kahl em Gesi cht. Sei n nach W orten schnappender M und. Das Gel ächter, al s er behaupt et, doch i mmer al les gemeldet zu haben. [...] Und während dieser Mielke-Fisch nach W orten schnappt, schauen ihm Millionen zu. Auch ich betrachte den kahlen Krempling mit unverhohlener Genugtuung. Der Tät er wird zum Opfer und der Zuschauer zum Tät er. Al s wohnt e i ch ei ner Hi nrichtung bei. So tut er mir am Ende nur noch leid.“ 23

Das wurde im MfS ähnlich em pfunden. Die SED-Grundorganisation in der Hauptabteilung III (Funkaufklärung) sprach in einem „ Offenen Brief“ von einem „Trauerspiel“ und erklärte: „Durch die Möglichkeit des Auftritts des Abgeordneten Mielke am 13.11.1989 vor der Volkskammer unseres Landes hät te das Vertrauen des Volkes in seine Si cherheitsorgane ei n kleines Stück wi edergewonnen werden können. Hätte, aber zu unserem Entsetzen wurd e diese Chance nicht nur nicht genutzt, sondern unserem Ministerium wurde durch den ei genen Minister ein lebensgefährlicher Stoß, hoffentlich nicht der Todesstoß, vers etzt! Anstatt von Stund an als Mitarbeiter des MfS wieder mit erhobenem Kopf leben zu können, zwin gt u ns d ieser Au ftritt, d en Ko pf n och tiefer zu nehmen, wenn wir uns in der Öffentlichkeit bewegen. Unser Ministerium, dem die meisten Genossinnen und Genossen der GO [Grundorgani sation] 12 di e best en Jahre und unzähl ige Frei zeitstunden gegeben haben, wurde der Lächerl ichkeit preisgegeben.“ 24

Die Mitarbeiter der H auptabteilung I X (Untersuchung), die schon früher kritisch in Erscheinung getreten waren, erklärten in einem Schreiben an 22 Ebenda, S. 262 f.; Nachdruck in: Deutschland Archiv 23 (1990) 1, S. 121. 23 Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine (1990), S. 51 f. 24 Leitung der SED-Grundorganisation 12 der Parteiorganisation III: „ Offener Brief der GO 12 an die Kreisleitung“ vom 15.11.1989; BStU, ZA, HA III 5361, Bl. 40–42, hier 40.

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Schwanitz, sie hätten „mit Bestürzung, innerer V erzweiflung und Betroffenheit [...] die Worte des Genossen Mielke zur Kenntnis genom men [...] Wir fühlen uns vor unserem Volk im Stich gelassen.“ 25 Mitarbeiter anderer Diensteinheiten form ulierten ebenfalls Protestschreiben. Der Leiter der Hauptabteilung XVIII, Alfred Kleine, äußerte „tiefe Enttäuschung“ über die „völlig unzureichende Darstellung“ der Arbeit seiner Abteilung durch den Minister. 26 Die Parteiorganisation der Bezirksverwaltung Erfurt bezeichnete in einem Brief an den neuen Ministerpräsidenten Mielkes Auftritt als „ makabres Schauspiel, welches die Würde und A chtung gegenüber diesem von tausenden Tschekisten der D DR und K ämpfern an der unsichtbaren Front verehrten Vorkämpfer der Partei der A rbeiterklasse gänzlich erschütterte“ . Nun sei „ das ohnehin schw er angeschlagene V ertrauen der Bevölkerung zu unserem Organ restlos zerschlagen“ und das MfS „vor den Augen der Weltöffentlichkeit [...] der Lächerlichkeit preisgegeben“. Sie forderten als neuen, „vom Volk geachteten und vom Feind gefürchteten Minister“ den ehem aligen HVA-Ch ef Mark us Wo lf. 27 Die Mitarbeiter der Kreisdienststelle Jena entschuldigten sich in einem Schreiben an Modrow dafür, daß Mielke „sich persönlich lächerlich gemacht und das MfS insgesamt herabgewürdigt“ hat. 28 Der Leiter der Kreisdienststelle Greifswa ld berichtete später über seine Reaktion und die seiner G enossen: „ Mir w urde fast übel, einige Mitarbeiter haben geweint. Da war es endgültig so, als hätte man uns den Boden unter den Füßen w eggezogen.“ 29 Selbst die SED -Kreisleitung im Ministerium hielt es für notw endig, sich in einem Schreiben an den Präsidenten der Volkskammer vom „ Auftreten des am tierenden Ministers für Staatssicherheit“ zu distanzieren. 30 Diese Stasi-internen Reaktionen hatten Züge eines Vatermords. Das ist leicht zu erklären: Weit über 90 Prozent der hauptamtlichen Mitarbeiter hatten erst unter Mielkes Ä gide den D ienst angetreten und nie einen anderen Minister erlebt. 31 Wegen seines hohen A lters – damals fast 82 Jahre – und seiner „tschekistischen“ Vergangenheit in der Sowjetunion und im Spanischen Bürgerkrie g war er unter MfS-A ngehörigen eine Legende. U nd nun hat er sich und dam it auch die Geheimpolizei, die er 25 MfS Abt. XI GO [Grundorganisation] XI, Sc hreiben an Generalleutnant Schwanitz vom 14.11.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 192. 26 Schreiben von Kleine u. Kopprasch (Parte isekretär der GO XVIIII) an W. Herger vom 14.11.1989; BStU, ZA, HA XVIII 6556, Bl. 2 f. 27 BVfS Erfurt GO 18, Schreiben an den Vo rsitzenden des Ministerrates Genossen Hans Modrow vom 14.11.1989; BStU, ZA, SdM 2291, Bl. 60 f. 28 Schreiben der KD Jena an den Genossen Modrow vom 14.11.1989; BS tU, ASt Gera, Ordner „Wende“ (unerschlossenes Material). 29 „Spiegel-Interview mit Peter Erfurth, dem bisherigen Stasi-Chef von Greifswald“, in: Der Spiegel 12.2.1990, S. 138. 30 Schreiben von Horst Felber an Dr. Günter Maleuda vom 14.11.1989; BStU, ASt Berlin, A 1286, o. Pag. 31 Mielke war 1957 zum Minister ernannt word en. 1988 hatten nur 10 % der Mitarbeiter ein höheres Dienstalter als 25 Jahre, hatten also beim MfS vor 1963 zu arbeiten begonnen. Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter (1995), S. 50.

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repräsentierte, „lächerlich“ gemacht und sie dam it um ihren angsteinflößenden Nimbus gebracht. Ursprünglich war geplant gewesen, daß Mielke am 13. November auf einem feierlichen Stehbankett der MfS-Generalität seinen förm lichen Abschied nimmt. 32 Nun ließ er – selbst kam er nicht m ehr – zw ei Tage später auf einer Dienstberatung sein „ Bedauern über das G eschehen“ ausrichten. Mittig zitierte ihn: „Ich war einfach nicht da; die Sache ist außer Kontrolle geraten.“ 33 Ein MfS-Major notierte am 15. November nach einer Dienstbesprechung der H auptabteilung I X, auf der sein Leiter, Generalmajor Fister, von der Sitzung berichtet hatte: „ Minister gesprochen / bedauert / konnte sich nicht mehr steuern / (psych[isch] / physisch am Ende)“. 34 Durch Befehl des neuen A mtsleiters wurde Mielke am 18. N ovember in den Altersruhestand versetzt. Zum Tr ost erhielt er noch einen „ Generalsdolch m it Gravur“. 35 G egenüber den A ngehörigen der Staatssicherheit distanzierte sich Schwanitz zugleich in deutlicher Form von seinem Vorgänger. Er sei über „ das Auftreten des ehem aligen Ministers in der Volkskammer“, schrieb er in einer Erklärung, die in allen D iensteinheiten zu verlesen war, „zutiefst bestürzt und enttäuscht“. 36 Am 24. November fand dann noch ein „ Entlassungsgespräch“ zw ischen ihm und Mielke statt. 37 Dem ehemaligen Staatsicherheitsminister wurde die Dienstpistole belassen, die Jagdwaffen freilich mußte er abgeben. Zu seiner „ persönlichen Sicherheit“ wurde ihm ein Bew acher, eine H aushälterin und ein PK W mit Fahrer zugestanden. Der ehemalige Leiter seines Sekretariats, Hans Carlsohn, sollte sich weiter um ihn kümmern. Mielke erklärte bei dieser G elegenheit, er könne seinem Nachfolger „ keine Unterlagen übergeben“, weil er alles Material an die zu ständigen Diensteinheiten geschickt habe. 38 Als Schwanitz die Einladung zu seiner „ offiziellen V erabschiedung“ beim Staatsratsvorsitzenden Krenz für den 28. November aussprach, teilte Mielke m it, daß er bis zum 32 Dieses B ankett w ar für den 13. N ovember um 20. 00 U hr geplant, ziemlich genau der Zeitpunkt, zu dem Mielke seinen Volkskamme r-Auftritt hatte. Vgl. handschriftliche Notiz von Schwanitz in: BStU, ZA, SdM 1992, Bl. 213. 33 Zitiert nach A rbeitsbuch eines Mitarbeiters des Sekretariats N eiber (SED-GO 24), Bl. 21 f. 34 Arbeitsbuch Major Haase, Eintragung vom 15.11.1989; BStU, ZA, HA IX 2915, Bl. 95; sinngemäß ähnlich die Notiz von einer Dienstkonferenz am 15.11.1989 in: Arbeitsbuch Rolf Scheffel; BStU, ZA, SED-KL 652, Bl. 1306. 35 Befehl K/4778/89 des Leiters des AfNS , Schwanitz, vom 18.11.1989; BStU, ZA, HA KuSch 1024, Bl. 181. 36 „Erklärung“ von Schwanitz vom 20.11.1989; BStU, ZA, DSt 103644. 37 Leiter des AfNS: „ Vermerk über das Entlassungsgespräch mit Genossen Erich Mielke“ vom 24.11.1989, in: Kaderakte Schwanitz; BStU, ZA, KS 1262/90, Bl. 388–389. Die Datierung dieses Gesprächs bei Schwan: Erich Mielke (1997), S. 318, ist unzutreffend. 38 Vor der Volkskammer berichtete Schwanitz am 1. Dezember den ungläubigen Abgeordneten, er habe von seinem Amtsvorgänger nur „ zwei leere Panzerschränke“ übernommen; 13. Tagung am 1.12.1989, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 350; vgl. auch „ Debatte über Korruption und Amtsmißbrauch“, in: Neues Deutschland 2./3.12.1989.

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30. November „krankgeschrieben“ sei. Seine Karriere war beendet: Am 3. De zember wurde er aus der SED au sgeschlossen und vier Tage später verhaftet.

9.2 Eine veränderte Sicherheitsdoktrin

Angesichts des demokratischen Umbruchs im ganzen Land, konfrontiert mit der Proklamation einer diffusen Politik der „Wende“ durch die SED und angesichts der Scheiterns der G alionsfigur Mielke standen die Mitarbeiter der Staatssicherheit Mitte Novem ber vor der Notwendigkeit, einen wie immer gearteten N euanfang zu finden. Es begann der mühselige, zum Scheitern verurteilte Versuch einer „ Reform“. Ehe er in Umrissen nachgezeichnet wird, ist eine grundsätzliche Frage zu beantw orten: Macht es überhaupt Sinn, von einer „ Reform“ der Staatssicherheit zu sprechen? D ieser A spekt ist wichtig, weil das Verhalten der Staatssicherheit in der Krise nur zu erklären ist, wenn Lageeinschätzung und Zukunftserw artungen ihrer Mitarbeiter berücksichtigt werden. Im nachhinein festzustellen, daß diese Institution nur aufgelöst werden konnte, trägt dazu nicht bei, weil es bei der Rekonstruktion der damaligen Handlungsorientierungen in die Irre führt: Wären die Akteure von der Perspektive A uflösung ausgegangen, so hätten sie sich möglicherweise ganz anders verhalten. 39 Eine „Reform“ der Staatssicherheit, die diesen N amen verdient, hätte Grundelemente seiner bisherigen Stellung im politischen Sy stem aufheben müssen. Den Kernbereich repressiver Macht hat K arl Wilhelm Fricke, der bestinformierte Beobachter des MfS in der alten Bundesrepublik, beschrieben: „Seine Gefährl ichkeit l ag i n der B ündelung umfassender Kompetenzen als politische Geheimpolizei, als Untersuchungsbehörde bei sogenannten Staatsverbrechen und anderen politischen Delik ten sowie als geheim er Nachrichtendienst, ohne daß sei n W irken gese tzlich defi niert oder parl amentarisch kontrolliert worden wäre.“ 40

Aus dieser Charakterisierung lassen sich K riterien für die Beurteilung von Änderungsvorhaben in der Staatssicher heit ableiten. V on ernsthaften Re39 An die Möglichkeit einer Auflösung der Staatssicherheit scheint zu diesem Zeitpunkt kaum einer der Hauptamtlichen gedacht zu haben. In einer Erklärung des MfS-Kollegiums heißt es dazu: „ Es ist grundsätzlich davon auszugehen, daß das Amt für Nationale Sicherheit auch zukünftig den mit der Verfassung der DDR übertragenen Auftrag, den Sozialismus zuverlässig zu schützen, zu erfüllen hat.“ Erklärung des Kollegiums des Ministeriums für Staatssicherheit vom 15.11.1989; BStU, ZA, SdM 627, Bl. 67–77, hier 71. 40 Fricke: MfS intern (1991), S. 7. Bündiger noch die Formulierung bei Geiger/Klinghardt: „Kurz gefaßt war das MfS politische Geheim polizei, geheimer Nachrichtendienst und Organ für strafrechtliche Untersuchungen“; Geiger u. Klinghardt: Stasi-Unterlagen-Gesetz (1993), S. 2.

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formbemühungen kann nur unter folgenden Bedingungen gesprochen werden:

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1. Gewaltenteilung als institutionelle Basis einer Demokratisierung des politischen Systems mit folgenden Dimensionen: – Der Sicherheitsapparat wird auf eine gesetzliche Grundlage gestellt und parlamentarischer Kontrolle unterworfen. – Ein solches Unterfangen ist nur bei einer strikten Trennung zwischen diesem Apparat und der SED realisierbar. – Zudem m uß ein institutionelles Kernelem ent eine Auslagerung und Beschneidung von K ompetenzen, insbesondere exekutiver Befugnisse, sein. (Durch die Verbindung von quasistaatsanwaltlicher Untersuchungskompetenz und geheimdienstlicher Arbeitsweise war die Institution zur Geheimpolizei geworden.) 2. Eine grundsätzliche politische Umorientierung: O hne eine Revision des paranoide Züge tragenden Feindbildes des Sicherheitsapparates und seiner daraus abgeleiteten Sicherheitsdoktrin w ar an irgendeine ernsthafte Reform gar nicht zu denken. Sie hätte selbstverständlich auch Folgen für das Selbstverständnis seiner Mitarbeiter, das wiederum für eine wirkliche Akzeptanz des notwendigen institutionellen Bruchs entscheidend war. 3. Politisch-organisatorische Maßnahmen, vor allem eine Verkleinerung des Bestandes an hauptam tlichen und „ inoffiziellen“ Mitarbeitern, der schon durch seine enorme Größe die Tendenz zu um fassender Bespitzelung in sich trug. Diese Kriterien sind der Entwicklung nicht äußerlich: Zum einen und vor allem waren sie der nachholenden, dem okratischen Revolution inhärent. Zum anderen findet sich die damit angezeigte Entwicklungsrichtung in den Kontroversen, die von Minderheiten in der SED angestoßen und bald auch im Staatssicherheitsdienst ausgetragen wu rden. Letzteres Konfliktfeld soll auf drei hierarchischen Ebenen nachg ezeichnet werden: der Führungsebene des MfS, der m ittleren Leitungsebene und schließlich der Initiativen, die von einzelnen Mitarbeitern oder auch von Gruppen von Mitarbeitern ergriffen wurden. Am 15. November tagte erstmals nach dem Sturz der Regierung und der Öffnung der Mauer das K ollegium des MfS. In dem Entw urf zur Eröffnungsrede des künftigen Leiters der Staatssicherheit 41 wurden „erhebliche Verunsicherung im Mitarbeiterbestand“ und „eine teilweise Minderung der Kampfkraft“ konstatiert. 42 Hinsichtlich der SED unter ihrem neuen Generalsekretär wurde festgestellt: „Die führende Rolle der Partei“ ist „ nicht mehr gegeben“. 43 Diese Feststellung enthielt Kritik an Krenz, dessen Nam e 41 „Hinweise für Dienstbesprechung am 15. 11.1989“; BStU, ZA, ZAIG 8682, Bl. 1–23. Es handelt sich bei diesem Manuskript um den Redeentwurf für Schwanitz. – In einem G espräch am 15.3 .1995 hat W. Schwanitz gegenüber dem Autor erklärt, dieser Entwurf sei für Generaloberst Mittig, den Favoriten Mielkes für seine Nachfolge, gefertigt worden. Er selbst habe sich in seiner tatsächlich gehaltenen Rede kaum darauf gestützt. 42 „Hinweise für Dienstbesprechung am 15.11.1989“, Bl. 4. 43 Ebenda.

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in dem Redeentw urf nicht erw ähnt w urde. „ Die Partei“ aber war mehr als ihr G eneralsekretär. D ie SED -Parteibasis hatte zw ei Tage zuvor – also zu der Zeit, in der dieser Entw urf geschrieben wurde – Zentralkomitee und Politbüro gezwungen, einen außerordentlichen Parteitag einzuberufen. Das war eine U mkehrung der bisherigen Entscheidungsstrukturen. Wenn in exakt diesem Mom ent deren „ führende Rolle“ für beendet erklärt w ird, verweist das auf das strukturelle V erhältnis von MfS und SED : D ie Staatssicherheit w ar nicht, w ie ihre Führung im mer behauptet hatte, „ Schild und Schwert der Partei“ , sondern der Politbürokratie. 44 Als letzterer das Ruder aus der Hand glitt, wurde die gesam te Subordinationsstruktur hinfällig. Die Generalität mußte sich nach einem neuen Befehlshaber um sehen od er abwarten, wie sich die Dinge weiter en twickelten. Für die einfachen MfSMitarbeiter, die fast alle SED -Mitglieder waren, mußte sich die Lage noch komplizierter darstellen, je nachdem wie tief ihre politische Überzeugung war. Von der neuen Regierung unter Modrow sei – wurde in dem Redeentwurf weiter konstatiert – die „Herbeiführung einer Entflechtung von Partei und Staat auf allen Ebenen“ zu erwarten. 45 Wie darauf zu reagieren war – dazu fiel den Autoren wenig mehr ein als Durchhalteparolen, die gegen die kritischen Geister unter den MfS-A ngehörigen gerichtet w aren: „Auch in unseren Reihen ist die Einheit und Geschlossenheit der Partei- und Dienstkollektive wieder herzustellen und zu sichern.“ 46 Um dazu beizutragen, verabschiedete die G eneralsriege eine – mit der SED-Führung abgestim mte 47 – „ Erklärung“ an die Mitarbeiter des MfS. Einleitend w urde postuliert, daß die MfS-Mitarbeiter, trotz des ungewohnten Charakters der Veränderungen, die Wende der SED-Politik m itzuvollziehen hätten: „Mit dem nunmehr begonnenen gesellschaftlichen Aufbruch zu einem erneuerten Sozialismus wurde ein Prozeß gravierender Umwälzungen in Gang gesetzt, hat sich das politische Kräfteve rhältnis in der DDR grundlegend verändert, ent standen bei spielsweise mit der Durchsetzung der parl amentarischen Demokratie und Kontrolle, mit der R eisetätigkeit und dem veränderten Grenzregime gänzlich neue B edingungen, die auch an das zu schaffende Am t für Nationale Sicherheit völlig neue Anford erungen stellen. W ir stehen vor dem objektiven Erforderni s, di e Verant wortung und di e Aufgaben des Amtes in die Politik der Erneuerung vorbehaltlos einzuordnen.“ 48

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Vgl. dazu ausführlicher Süß: Zum Verhältnis von SED und Staatssicherheit (1997). „Hinweise für Dienstbesprechung am 15.11.1989“, Bl. 5. Ebenda, Bl. 4. Vgl. Notizen zur Dienstbesprechung am 15. 11.1989, in: Arbeitsbuch eines Mitarbeiters des Sekretariats Neiber; BStU, ZA, Neiber 533, Bl. 22. 48 „Erklärung des Kollegiums des Ministeriums für Staatssicherheit (15 . November 1989 )“;

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Damit war für die Angehörigen dieser Institution verbindlich erklärt, daß stellen würde. sich die Staatssicherheit nicht offen gegen die neue Politik Was das aber konkret bedeuten sollte, wurde nicht ganz deutlich. Nicht mehr als ein vager H inweis war die Ankündigung, daß ein „Gesetz über die öffentliche Ordnung und staatliche Sicherheit“ in Vorbereitung sei. 49 Das „inoffizielle Netz“ war zu sichern, und „ die Aufklärung und Verhinderung verfassungsfeindlicher Aktivitäten“ wurde als vorrangige Aufgabe bestimmt. Entfallen w ürden dagegen andere „ Aufgaben im Zusam menhang mit der Sicherung von Veranstaltungen, der Sicherung des gesam ten Reiseverkehrs, einschließlich der O rganisierung der Paßkontrolle, der Sicherung der Staatsgrenze sowie der Gewährleistung des Geheimnisschutzes.“ Gemäß einer langen Tradition mieden die alten Generäle jede „Fehlerdiskussion“, sie fanden kein Wort der Selbstkritik oder der Entschuldigung, geschweige denn der Erklärung für die bisher von ihnen vertretene Ideologie und Praxis. Die Vergangenheit existierte für sie nicht. Für die aufbegehrenden Mitarbeiter, denen dieses Dokument zugedacht war, enthielt es kaum Antworten, vor allem nicht auf die entscheidenden Fragen. Deren Unsicherheit wurde sogar noch verstärkt, weil es nun am tlich war, daß auch die Staatssicherheit um „ die Freisetzung bzw . Umgruppierung von Kadern in erheblichen G rößenordnungen“ 50 nicht herum kommen w erde. Zur Ungewißheit hinsichtlich der Stellung und der Aufgaben des Ministerium s in einem wie auch immer „erneuerten Sozialismus“ kam nun noch die Angst um die berufliche Existenz, die umso größer war, je unbestimmter die politische Zukunft erschien. Ein MfS-A ngehöriger hat diese G efühle in dem Neologismus „ Perspektivangst“ zusam mengefaßt. 51 Im Prinzip konnte die Freisetzung fast jeden treffen und das in einer G esellschaft, deren Bürger die Angst vor der Staatssicherheit eben abschüttelten und in Empörung umwandelten. Fast eine Woche nach der Sitzung des K ollegiums, am 21. N ovember, fand im A fNS eine zentrale D ienstbesprechung statt, an der die gesamte Führungsmannschaft des Amtes einschließlich der Leiter der Bezirksverwaltungen – nun „ Bezirksämter für Staatssicherheit“ (BAfNS) genannt – teilnahm. 52 Der neue Ministerpräsident führte Schwanitz als Leiter ein. Mod row informierte in einer improvisierten Rede die MfS-Generäle, auf welche politischen Entwicklungen sie sich einzustellen hätten: D er Machtanspruch der SED w erde künftig nicht m ehr durch die Verfassung garantiert, sondern BStU, ZA, SdM 627, Bl. 67–77, hier 69. 49 Einen entsprechenden Vorschlag hatte die ZAIG bereits am 31.10.1989 in einer Zuarbeit für das Referat von Egon Krenz auf dem 10. Plenum des ZK der SED (8.–10.11.1989) gemacht; vgl. BStU, ZA, SdM 2151, Bl. 29–41. 50 „Erklärung des Kollegiums...“, Bl. 69. 51 Beratung des Leiters der HA Kader und Schulung mit den Leitern der Abteilungen Kader der Hauptabteilung am 28.11.1989; BStU, ZA, HA KuSch 260, Bl. 117–121, hier 119. 52 Ablaufplan und Teilnehmerliste; BStU, ZA, SdM 2290, Bl. 97–102.

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müsse aus einer überlegenen „

Gesellschaftskonzeption“ resultieren, also

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politisch errungen werden. Mit Wahlen sei im Herbst 1990 zu rechnen. 53 Das überkommene Feindbild sei obsolet, denn m an dürfe künftig nicht davon ausgehen, „das alles ist der Feind auf der Straße und dagegen haben wir zu kämpfen“. Doch die A lternative – ob es nun überhaupt kein innergesellschaftliches „Feindbild“ mehr geben oder ob es nur m odifiziert werden sollte – scheint auch Modrow noch unklar gewesen zu sein, denn er fuhr fort: „Das alles w ar und ist zu einfach. A ber um gekehrt auf der Straße ist nun nicht nur der Freund und wie fassen wir das nun künftig an, w ie werden wir damit fertig.“ 54 Seine – von eigenen Erfahrungen in D resden, 55 vielleicht auch von G orbatschow inspirierte 56 – V orstellung war, die Bürgerrechtsbewegung vor allem auf regionaler Ebene an einem Stück Macht partizipieren zu lassen, sie dam it in die politische Verantwortung einzubinden und zu „Konstruktivität“ zu zwingen. 57 Aufgabe der Staatssicherheit sei in diesem Zusammenhang, differenziertere Einschätzungen zu liefern, als sie das bis dahin gewohnt war, und besonders Vorschläge zum „Umgang“ mit der neugegründeten Sozialdemokratischen Partei (SDP) zu erarbeiten, die als die gefährlichste Konkurrenz hinsichtlich der eigenen Basis betrachtet wurde. 58 Es darf nicht unerw ähnt bleiben, daß für Modrow eine gewaltsame Lösung des Machtkampfs nicht in Frage kam. 59 Das war in der dam aligen Situation nicht unwesentlich. Auf das MfS kam er erst gegen Ende seiner Rede kurz zu sprechen. Irgendeine Kritik an sein er Tätigkeit war in seinen Ausführungen nicht enthalten, sieht m an von der vagen A ussage ab, daß „ die Erneuerung“ auch am A fNS nicht vorbeigehen w erde. A m Schluß dankte er der Generalität sogar „für die geleistete Arbeit, den hohen Einsatz“ . 60 Auch er meinte noch, um die Loyalität der Staatssicherheit werben zu müssen. Daß diese Dienstbesprechung in begrenzter Hinsicht zu einem Schnittpunkt in der Entwicklung der Staatssicherheit werde n sollte, lag weniger an den Ausführungen Modrow s als an jenen von Wolfgang Schw anitz. Ihm hätte man innovative politische Ideen kaum zugetraut, doch in seiner Rede verkündete er eine zumindest in Teilen neue O rientierung. D ie Ideen dazu stammten allerdings zu einem erheblichen Teil weder von ihm selbst noch – 53 „Dienstbesprechung anläßlich der Einführung des Gen. Generalleutnant Schwanitz als Leiter des Amtes für N ationale Sicherheit dur ch den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Gen. Hans Modrow 21.11.1989 (Tonba ndabschrift)“; BStU, ZA, ZAIG 4886, Bl. 1–68, hier 13 u. 25; Nachdruck der Modrow-Rede in: Stephan (Hrsg.): „ Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“(1994), S. 253–267. 54 „Dienstbesprechung anläßlich der Einführung des Gen. Generalleutnant Schwanitz als Leiter des Amtes für N ationale Sicherheit dur ch den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Gen. Hans Modrow 21.11.1989 (Tonbandabschrift)“; BStU, ZA, ZAIG 4886, Bl. 20. 55 Vgl. ebenda, Bl. 23. 56 Das entsprach den Empfehlungen, die Michail Gorbatschow am 1. November Egon Krenz bei einem Treffen in Moskau mit auf den Weg gegeben hatte; siehe Kap. 5.5. 57 Dienstbesprechung am 21.11.1989, Bl. 23 f. 58 Vgl. ebenda, Bl. 24. 59 Vgl. ebenda, Bl. 20 u. 26. 60 Ebenda, Bl. 30.

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wie das sonst üblich w ar – aus der ZA IG, die für die Erarbeitung von Grundsatzdokumenten zuständig war. Die Kritik, die in vielen Diensteinheiten des Ministerium s laut gew orden w ar, muß dem neuen Leiter zu Ohren gekommen sein, doch noch in der Rede vor dem Kollegium am 15. November w ar davon w enig zu spüren gew esen. V ergleicht m an die damals von der ZAIG erarbeiteten „Hinweise“ mit der sechs Tage später von Schw anitz auf der Dienstberatung gehaltenen Ansprache, zeigen sich beträchtliche Unterschiede. So w ar der Begriff „ Sicherheitsdoktrin“, den Schw anitz nun zur Beschreibung der ideologischen Ausrichtung des MfS verwendete, bis dahin hinsichtlich des „Abwehrbereiches“ ganz ungebräuchlich gewesen. 61 Die Lösung des Rätsels, w ie die AfNS-Spitze zu neuen Erkenntnissen und ihrer begrifflichen Fassung gekom men war, findet sich in einer der Arbeitsakten, in denen Schwanitz verschiedene Papiere zur Reorganisation der Staatssicherheit verw ahrt hat. Eines dieser Papiere trägt den schlichten Titel „MfS“, das Datum „12.–14. November 1989“ und den A utorennamen Markus Wolf. 62 Der ehemalige Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung hatte in diesem Positionspapier Gedanken zusammengetragen, die er Wolfgang Schwanitz bei einem Gespräch nahezubringen versuchte. 63 „Swingman“ Markus Wolf In demokratischen Umbrüchen, bei denen viel davon abhängt, daß Militär und Polizei ruhig bleiben, tauchen manchmal hohe Offiziere auf, die scheinbar oder tatsächlich, vor allem aber öffentlich sichtbar auf seiten der Reformer wechseln. Das gilt nicht nur für Lateinam erika, sondern galt zum Beispiel auch für Polen. In der Tr ansitionstheorie werden sie als swingmen bezeichnet. Ihre Bedeutung besteht vor allem darin, daß ihr Auftreten unbelehrbaren Hardlinern ein erhöhtes Risiko für den V ersuch eines repressiven Rollback signalisiert, weil die Sicherheitskräfte in einem solchen Fall vielleicht nicht m ehr geschlossen handeln w ürden. Die M otive hinter dem Rollenwechsel solcher Figuren können ganz unterschiedlich sein, entscheidend ist die politische Funktion, die ihr wahrgenommenes Verhalten hat. „Diese Offiziere mögen den Übergang vi el eher deshal b unt erstützen, wei l 61 In dem Redeentwurf zum 15.11. war erklärt worden: „ Die bisher in der A rbeit des MfS definierten Angriffsrichtungen politisch-ideol ogische Diversion, politische Untergrundtätigkeit, Kontaktpolitik/Kontakttätigkeit und die daraus abgeleiteten Aufgaben stellungen haben unter den Bedingungen der Politik der Erneuerung sowie des breiten inneren Dialogs, einschließlich der veränderten politisch en Kräfteverhältnisse im I nnern der D DR, kaum noch eine Berechtigung. Was sich daraus praktisch ergibt, ist noch weiter abzuklären und zu entscheiden.“ „Hinweise für Dienstbesprechung am 15.11.1989“, Bl. 13 f. 62 Markus Wolf: „MfS“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 439–443. 63 Zu diesem Gespräch, das am 14.11.1 989 stattfand, vgl. die Notizen in: Wolf: In eigenem Auftrag (1991), S. 253. Dort findet sich auch eine stilistisch überarbeitete und leicht gekürzte Version dieses Papiers (S. 253–257).

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sie glauben, das sei gut für die bewaffneten Kräfte, als aus irgendeinem Enthusiasmus für di e Dem okratie. Auf jeden Fall bedeut et i hr Gewi cht i nnerhalb der bewaffneten Kräfte, daß ein Putsch gegen sie durchgeführt werden müßte, und angesichts von bewaffnet en Kräft en, di e aus eben di esem Grund wahrscheinlich t ief gespal ten si nd. Das m acht di e Inszeni erung eines Putsches ziemlich riskant und sei n R esultat vorhersehbar weni ger erfol greich [...]“ 64

Auf Markus Wolf trifft die Bezeichnung swingman zu. Daß er diese Rolle im H erbst 1989 ausfüllen konnte, hatte natürlich eine V orgeschichte. Der damals 66jährige Wolf war immer etwas aus dem Rahm en der MfSGeneralität gefallen. Während die leitenden „ Tschekisten“ in der Regel auf eine „ proletarische H erkunft“ stolz waren, 65 w ar er 1923 in H echingen (Schwaben) als Sohn des A rztes und Schriftstellers Friedrich Wolf geboren worden. Die Jugend hatte er mit der Fam ilie in der Em igration in der Sowjetunion verbracht, wohin sich die Eltern als K ommunisten jüdischer H erkunft über einige Zw ischenstationen in Westeuropa gerettet hatten. 66 1945 nach Deutschland zurückgekehrt, war Markus Wolf nach einigen Jahren der Berufstätigkeit als Journalist und im diplom atischen D ienst der D DR im Jahr 1951 dam it beauftragt w orden, beim A ufbau eines Spionageapparates mitzuarbeiten. 67 Dessen Chef – zuerst im Außenpolitischen Nachrichtendienst des Ministeriums für ausw ärtige A ngelegenheiten, dann der A bteilung X V, später der H auptverwaltung A des MfS – w ar er vom November 1952 bis 1986. 68 In all den Jahren hat er die innerparteilichen und innerministeriellen A useinandersetzungen gut überstanden. Die Arbeitsergebnisse seiner Hauptverwaltung und w ohl auch Rückendeckung durch die sow jetischen „Freunde“ machten ihn relativ unangreifbar. Freilich war Wolf nicht nur – wie er seine Erinnerungen betitelt hat – „Spionagechef im K alten K rieg“, sondern auch stellvertretender Minister und Leiter einer Diensteinheit des MfS und damit institutionell eingebunden in die innere Repression. O bwohl die H V A bemüht war, sich von anderen Diensteinheiten abzugrenzen, war sie doch zum arbeitsteiligen Zusammenwirken verpflichtet und hat über ihren Beitrag auch regelmäßig stolz berichtet. 69 D ie ideologische A nnahme, der innere „ Feind“ verdanke seine Existenz und sein Wirken den subversiven Machenschaften „ imperialistischer Zentren“ ließ eine strikte U nterscheidung von „ Abwehr“ und „Aufklärung“ gar nicht zu. Wie lange hat Wolf daran w irklich geglaubt? Daß ihm schon die Niederschlagung des „ Prager Frühlings“ im Jahr 1968 – zu der er einen 64 65 66 67 68 69

O’Donnell u. Schmitter: Transitions from Authoritarian Rule (1993), S. 25. Vgl. Gieseke: Wer war wer im Ministerium für Staatssicherheit (1998). Vgl. Reichenbach: Chef der Spione (1992). Vgl. Wolf: Spionagechef (1997), S. 54–70. Vgl. BStU, ZA, KS 60003/90, Bl. 3. Vgl. Fricke: Ordinäre Abwehr – elitäre Aufklärung? (1997).

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Beitrag geleistet hat 70 – einen entscheidenden Denkanstoß gegeben hat, wie er in seinen Memoiren behauptet, 71 oder ob erst die Perestroika Lernprozesse ausgelöst hat, ist schwer zu sagen. Seine – bei aller Begeisterung für die Sowjetunion – kritische Sicht auf das Regim e Stalins hat ihn dem StalinVerehrer Mielke wohl schon früh politisch entfremdet. 72 Anzunehmen ist auch, daß der distinguiert w irkende Wolf mit dem aufbrausenden K leinbürger Mielke Problem e hatte. U nd die Zustände in der DDR für den „ real existierenden“ Endpunkt der G eschichte m enschlicher Emanzipation zu halten mußte einem intelligenten Menschen mit den Jahren immer schwerer fallen – und damit auch der eigene Beitrag zu ihrer „ Stabilisierung“. Wolf schreibt, er habe sich seit 1983 um den A bschied aus dem MfS bemüht. 73 Als er zum 1. Juni 1986 vom Dienst suspendiert wurde, geschah das dennoch nicht ganz freiwillig. Ein Teilnehmer an einer kurz danach stattfindenden Sitzung de s MfS-K ollegiums notierte dam als: „ GO [Generaloberst] Wolf beurlaubt. Es gibt G ründe, daß G en[osse] Wolf die HV A nicht mehr leiten kann.“ 74 M ielke hat später erklärt, sein Stellvertreter habe wegen „privater Geschichten“ die Dienstpflichten vernachlässigt. 75 Dennoch erhielt er einen ehrenvollen A bschied 76 , und das „ Neue Deutschland“ meldete – mit vier Monaten Verspätung –, er sei „auf eigenen Wunsch“ ausgeschieden. 77 Anschließend profilierte sich Wolf als Perestroika-freundlicher Schriftsteller. Und er hat seine alten Kontakte gepflegt, zu dem sowjetischen KGBChef K rjutschkow ebenso w ie zu Wolfgang H erger und H ans Modrow. 78 Als sich etwa Krjutschkow im Juni 1987 am Rande eines Arbeitsbesuches in der DDR mit Wolf traf, ist sicherlich über die innere Lage der DDR und ihre Beziehungen zur Sow jetunion gesprochen w orden. 79 Daß es dabei aber um mehr als einen Meinungs- und Inform ationsaustausch ging, gar um frühe Absprachen zum Sturz von H onecker, ist bloße Spekulation, gegen deren Plausibilität schon die abwartende Haltung der sowjetischen Führung hinsichtlich eines Wechsels in der SED-Spitze spricht. 80 70 Vgl. Tantzscher: „Maßnahme Donau und Einsatz Genesung“ (1994), S. 12, 59–75; Tantzscher: Staatssicherheitsdienst mit „menschlichem Antlitz“ (1998), S. 537–539, 543–545. 71 Vgl. Wolf: Spionagechef (1997), S. 231 f. 72 Vgl. Fricke u. Engelmann: „Konzentrierte Schläge“ (1998), S. 230; Wolf: Die Troika (1989); Wolf: Im eigenen Auftrag (1991), S. 89; Wolf: Spionagechef (1997), S. 107. 73 Vgl. Wolf: Spionagechef (1997), S. 426. 74 Notizen von Kollegiumssitzung am 2.7.1986, Autor unbekannt; BStU, ZA, SdM 15 72, Bl. 48. 75 Vgl. Interview mit Erich Mielke, in: Der Spiegel 31.8.1992, S. 38–53, hier 51. 76 Vgl. HA Kader und Schulung: „ Vorschlag zur Entlassung“ von Generaloberst Markus Wolf vom 12.11.1989; BStU, ZA, AOP 22623/91, Bd. 1a, Bl. 208–210. 77 Neues Deutschland 6.2.1987. 78 Vgl. Wolf: Im eigenen Auftrag (1991), S. 59, 155, 157–160, 180. 79 Wolf verschw eigt die ses Treffen in seinen Memoiren, vgl. aber Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998), S. 193 f. 80 Vgl. Kusmin: Die Verschwörung gegen Hon ecker (1995); Maximytschew: „ Die Situation ist seit 1953 nie so ernst gewesen!“ (1994).

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Wolf hielt die Abgrenzungspolitik der SED-Führung nach Osten für verhängnisvoll und eine politische Um orientierung der DDR auf die Perestroika für überfällig, das hat er im Frühjahr des Jahres 1989 verschiedentlich deutlich gem acht. 81 V om SED -Politbüro w urde gegen ihn w egen seines Auftretens im bundesdeutschen Fernsehen ein Interview verbot für die damals bevorstehende Leipziger Messe verhängt; 82 von seinen ehem aligen Kollegen wurde er im „Sondervorgang ‚Fuchs‘“ überwacht. So m eldete etwa der Chef der BVfS Karl-Marx-Stadt, Gehlert, an das Ostberliner Ministerium, „ progressive Bürger“ w ürden „ argumentieren, daß es nicht zu begreifen sei, w ie ein solcher Mann [Markus Wolf] das Verbot des ‚Sputnik‘ kritisieren kann und indirekt [gegenüber dem Westfernsehen] zugibt, daß unsere Gesellschaft der Erneuerung bedürfe“. Andere würden erklären, „daß Markus Wolf als ein ehemaliger ‚großer Staatssicherheitschef‘ jetzt [...] zum Kritiker der DDR geworden sei“. 83 Als sich die Lage am 7. O ktober 1989 dram atisch zuspitzte und Gorbatschow bei seinem Besuch das Signal gegeben hatte, daß es nun langsam Zeit würde zu handeln, hat Wolf am Abend des gleichen Tages Erich Mielke und – über den 1. Sekretär der SED-Kreisleitung im MfS, Felber – Egon Krenz ein Schreiben zugeleitet. Darin forderte er, das Zentralkomitee einzuberufen und „von eine Reform politik nach sowjetischem Vorbild einzuleiten, das heißt oben“ und gestützt vor allem auf größere O ffenheit (G lasnost) in den Medien. 84 Unter den Mitarbeitern der Staatssicherheit w ar er so populär, daß der „Rentner“ Markus Wolf Anfang Dezember 1989 von Mitarbeitern der AfNSZentrale als einer der Delegierten für den außerordentlichen Parteitag der SED gewählt wurde. 85 Dazu hat nicht zuletzt sein Auftritt auf der Demonst81 Wichtig, w eil auch für das D DR-Publikum w ahrnehmbar, w aren Fernsehinterview s mit der ARD, in „ Tagesthemen“ 9.3.1989; in „ ,Deutsches aus der anderen Republik‘. Interview mit Markus Wolf“, 13. 3.1989; und im „ heute-journal“, ZDF 9. 3.1989; Abschriften aller drei Sendungen in: BStU, ZA, AOP 22623/91, Bd. 1b, Bl. 278–290; vgl. auch das lange Interview von Markus Wolf mit Lew Hohmann, in: Die Zeit 24.3.1989. 82 Das Beschlußprotokoll der SED-Politbürositzung vom 14. 3.1989 enthält einen Tagesordnungspunkt „Zum Auftreten des Gen. M. Wolf im Fernsehen der BRD“. Berichterstatter war Honecker. Beschlossen wurde: „Genosse Erich Mielke wird beauftragt, mit Genossen M. Wolf zu seinem Auftreten entsprechend den gegebenen Hinweisen die Aussprache zu führen.“ In seinen Notizen vom gleichen Tag schreibt Wolf, Mielke habe ihn angerufen, „er habe den A uftrag, mir den B eschluß mitzuteilen, daß ich in Leipzig keinerlei weitere Interviews geben dürfe“.; SAPMO-BA, DY 30 J IV 2/2/2319; Wolf: Im eigene n Auftrag (1991), S. 54 f. 83 Undatiertes Fernschreiben, wahrscheinlich vom Frühjahr 1989, von Generalleutnant Gehlert an den Leiter der ZAIG, Generalleutnant Irmler, „ persönlich“; BStU, ZA, SOV „Fuchs“, AOP 22623/91, Bd. 1b, Bl. 118–120. 84 Die – im übrigen hinsichtlich des eigenen R eformhorizonts durchaus selbstkritische – Darstellung dieser Episode bei Wolf wird in groben Zügen durch den Abschiedsbrief von Horst Felber bestätigt, der sich in dessen Kadera kte befindet. Vgl. Wolf: Im eigenen Auftrag (1991), S. 189–191, 197; Schreiben von Felber an „Wolfgang“ [Schwanitz] vom 6.12.1989; BStU, ZA, HA KuSch, Kaderakte Horst Felber, KS 981/90, Bl. 166–180, hier 172. 85 Vgl. „ Delegierte zum außerordentlichen Parteitag“, 6.12.1989; BStU, ZA, SED-KL 570,

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ration am 4. N ovember beigetragen. V on Mitarbeitern der Hauptabteilung IX wurde er mit den Worten kommentiert: „Genosse Markus Wolf darf in seinem öffentlichen Engagem ent für das MfS nicht mehr allein gelassen werden.“ 86 D ieses Ereignis w ar w ahrscheinlich für die w eiteren Lernprozesse vieler Stasi-Mitarbeiter von erheblicher Bedeutung: G erade wegen der Pfiffe, die Wolf sich eingehandelt hatte, m ußte er als einer der ihren erscheinen. 87 Zugleich hatte er sich auf seiten der Dem onstranten gestellt und damit den Eindruck erw eckt, es gäbe zum indest für diejenigen, die sich der politischen Entwicklung nicht entgegenstellten, eine berufliche Perspektive, während der V ersuch, den U mbruch gew altsam zu stoppen, zu einer Spaltung selbst in der Staatssicherheit führen w ürde. Vom letzten „Königsmacher“ der SED , Schabow ski, w ar Wolf ursprünglich als neuer Leiter des Amtes vorgesehen worden, hatte einen entsprechenden V orschlag bei dieser Gelegenheit jedoch abgelehnt. 88 „Wir müssen uns trennen von ...“ Wolfs Wort hatte Gewicht; entsprechend aufmerksam hat Schwanitz dessen Positionspapier studiert. Das ist an einer Vielzahl von Unterstreichungen erkennbar. Wolf hatte eine scharfe Kritik am bisherigen System im Duktus der damaligen – in der D DR verpönten – sowjetischen Stalinismus-Diskussion zu Papier gebracht. Es habe „ zunehmend Form en eines absurden Absolutismus m it an by zantinischen Feudalism us erinnernden Zutaten“ 89 angenommen. Seine Ausgangsthese: Bl. 939–943. 86 Abteilungsparteiorganisation 18 in der HA IX: „ Positions- und Diskussionspapier“ vom 9.11.1989; BStU, ZA, HA IX 2386, Bl. 27–36, hier 28. 87 In einem Anfang Dezember entstandenen Schreiben eines Arztes, der im Zentralen Medizinischen Dienst des MfS arbeitete, wurde gera dezu Enthusiasmus spürbar: „ Zudem ist es eine Schande, daß bis vor wenigen Tagen kein führender Leiter des ehem. MfS sich echt für seine Mitarbeiter in der Ö ffentlichkeit eingesetzt hat! Nur unser hochverehrter G enosse Markus Wolf – obwohl schon seit Jahren aus dem Ministerium ausgeschieden – heute weiß j eder, w arum – hatte den Mut am 04. 11.89 auf dem A lexanderplatz dies zu tun!!! Und auf die Träger der politischen Verantwortung und damit deren Schuld hinzuweisen. Leider wurde diese mittlerweile in der ganzen DDR hoch angesehene und politischmoralisch integre Persönlichkeit nicht (zumi ndest für einen sauberen Neubeginn) als Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit beru fen.“ Hv. im Orig.; Schreiben vom 7.12.1989 an das „Neue Deutschland“, die Leitung des AfNS u. a.; BStU, ZA, Mittig 79, Bl. 4 f. 88 Auf eine entsprechende Frage kurz vor der Kundgebung am 4. November auf dem Alexanderplatz habe Wolf nur geantwortet: „ Nie wieder!“ Gegenüber Journalisten erklärte Wolf bei dieser Gelegenheit, er habe „ kein Interesse“ daran, Mielkes Nachfolger zu werden. Schabowski zitiert nach: H ertle, Pirker u. Weinert (H rsg.): „ Der H onecker muß weg!“ Protokoll eines Gespräches mit Günter Schabowski am 24. April 1990, S. 47; dpaMeldung vom 4.11.1989, 16.05 Uhr. Dagegen Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998), S. 311. 89 Das erinnert an die Analysen eines Anatolij Butenko oder Leonid Batkin. Die beste Zusammenstellung von Texten auf dem Stand jener Zeit findet sich in Af anassjew (Hrsg.): Es gibt keine Alternative zu Perestroika (1988).

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„Es beginnt mit der Sicherheitsdoktrin und der daraus abgeleiteten Praxis der operativen Tät igkeit. Trot z al ler in B efehlen und W eisungen ent haltenen Orientierung auf die tatsächliche Feindtätigkeit begann si ch die Philosophie des M inisters i mmer m ehr durchzusetzen. Die Sicherheit m uß alles wissen: Was im Staat geschieht oder nicht funkti oniert [...] – kein Gebiet wurde ausgenommen. Auch ni cht di e Part ei und i hre l eitenden Organe. Entsprechend wuchs und wuchs der Apparat in Dimensionen, die jeder Großmacht spürbare Belastungen auferlegen würden.“

Bei Generalleutnant Schwanitz liest sich diese selbstkritische Einschätzung so, daß man noch eine gew isse Unsicherheit im Umgang mit der neuen Begrifflichkeit spürt: „Es geht nicht etwa um kosmetische Veränderungen, sondern um eine grundsätzliche Neubestimmung unserer, wenn ich das mal so sagen will, Sicherheitsdoktrin oder Sicherheitsphilosophie, es gibt ja jetzt dafür so viele Begriffe, oder Sicherheitskonzeption. [...] W ovon m üssen wir uns trennen, Genossen. 1. Von der These, wi r m üßten al les wi ssen, was i n di esem St aat geschieht oder nicht funktioniert und überall Einfluß nehmen. [...] Um es ganz deutlich zu sagen, Genossen, sol ch ei nen ri esigen Si cherheitsapparat kann si ch kei n Staat dieser Welt mit dieser Bevölkerungszahl und di eser W irtschaft l eisten.“ 90

Schwanitz ist im folgenden, obw ohl er noch m anch andere Form ulierung fast wörtlich übernommen hat, erheblich von Wolfs „Vorlage“ abgewichen. Markus Wolf argumentierte: Der Staatssicherheit würde in der Bevölkerung „Haß“ entgegenschlagen, w egen ihrer K riminalisierung jeglicher Abweichungen von der herrschenden Politik, wegen ihrer allgegenwärtigen Präsenz, „ wegen operativer Maßnahm en und unterschiedlicher repressiver Schritte“. Gefordert sei deshalb eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Staatssicherheit, die Aufdeckung von Verbrechen und die „öffentliche Rehabilitierung“ unschuldiger Opfer. Genannt wurden beispielhaft die Namen von Walter Janka, Paul Merker, Willi Kreikemeyer und Lex Ende. D as waren Fälle aus den fünfziger Jahren. 91 Neben „ klarer Kritik der Vergan90 Rede von Schwanitz, in: Dienstbesprechung am 21.11.1989, Bl. 31–48, hier 35. 91 Zu den genannten Opfern der SED-Politbürokratie und des MfS vgl. Fricke: Warten auf Gerechtigkeit (1971); Herf: Antisemitismus in der SED (1994); Kießling: „ Partner im Narrenparadies“ (1994); Klein, Otto u. Grie der: Visionen (1996). Eine besonders große Rolle spielte in diesen Wochen das Schick sal von Walter Janka, der als ehemaliger Leiter des Aufbau-Verlags 1957 aus politischen Gründen zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Die Lesung seiner Erinnerunge n am 28. Oktober 1989 im Deutschen Theater und deren Ausstrahlung im Rundfunk der DDR öffneten vielen die Augen für das Tabuthema politischer Verfolgung auch eigener Genossen. Vgl. Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit (1990); ders.: Nach langem Schwei gen endlich sprechen. Briefe an Walter Janka (1990).

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genheit“ (die allerdings bei Wolf in ihren tatsächlichen Dim ensionen nicht annähernd sichtbar wurde 92 ) müsse auch die aktuelle Tätigkeit der Staatssicherheit grundlegend revidiert werden. Dazu sei die alte Generalität nicht in der Lage. Sie m üßte durch „ jüngere K ader“ ersetzt w erden, die entsprechende Reformvorschläge zu erarbeiten hätten. U nd schließlich m üßten die dienstlichen Bestimmungen radikal reduziert werden : „Alles mit ‚ideologischer Diversion‘ u[nd] ä[hnlichen] Begriffen Zusam menhängende ist kurzfristig außer Kraft zu setzen.“ Über diese Schritte sei stets die Öffentlichkeit zu informieren. Diese Vorschläge waren weitgehend, aber system immanent: Ihre Realisierung w ürde eine radikale U morientierung der Staatssicherheit bedeutet haben, ohne jedoch das Kernproblem auch nur zu benennen: die V erflechtung von SED und Sicherheitsapparat. Überhaupt war die institutionelle Seite der Schw achpunkt dieser K onzeption. D ie V erbindung von exekutiven Kompetenzen und geheim dienstlichen Aufgaben wurde ebensowenig thematisiert wie die Bindung eines wie auch immer gearteten „Dienstes“ an gesetzliche Vorgaben. Es war ein politisches Programm auf dem Niveau der damaligen Liberalisierungsphase. Der Vergleich dieser K onzeption m it dem , w as Schw anitz aus ihr gemacht hat, ist lehrreich. A uch Schw anitz ging es u m m ehr als „Kosmetik“. Er wies – der neuen Parteilinie entsprechend – die bis dahin dominierende Auffassung zurück, es sei m öglich, „politische Probleme und tiefgreifende gesellschaftliche Widersprüche m it adm inistrativen Mitteln [zu] lösen“ . D ie Erfüllung einiger seiner Forderungen hätte man sich sehr viel früher gewünscht: „Wir müssen uns t rennen von der opera tiven Bearbeitung Andersdenkender. Wir müssen uns i n di esem Zusam menhang t rennen von sol chen B egriffen wie politisch-ideologische Diversion, politische Unte rgrundtätigkeit, politische Kontaktpolitik/Kontakttätigkeit usw.“ 93

Das bedeutete, daß das traditionelle Feindbild der Staatssicherheit: die von ausländischen Geheimdienstzentralen gesteuerte „ politische Untergrundt ätigkeit“ „ feindlich-negativer“ Elem ente, fast stillschweigend fallengelassen 92 Das ist eine bei Wolf durchgängige Tendenz: Früher als andere seiner Genossen aus dem Parteiestablishment hat er die dunklen Seiten in der Geschichte des Kommunismus angesprochen, zugleich jedoch scheute er davor zurück, die wirklichen Ausmaße des Terrors zu benennen. In diesem Punkt ähnelte er Gorbatschow. So kann man seine Darstellung der sowjetischen Kollektivierung in der „ Troika“ (1989) nur als Schönfärberei auf dem Niveau von Gorbatschows Ansprache zum 60. Jahrestag der „Oktoberrevolution“ bezeichnen. Wolfs Veröffentlichung war in der DDR dennoch politisch wichtig: Sie thematisierte ein Tabuthema, die schrecklichen dreißiger Jahre in der Sowj etunion, und stellte das „Feindbild“ der Staatssicherheit in Frage, indem er Toleranz gegenüber „ Andersdenkenden“ forderte. 93 Rede von Schwanitz, in: Dienstbesprechung am 21.11.1989, Bl. 36.

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wurde. Zufälligerweise am gleichen Tag kam die Parteiorganisation jener MfS-Abteilung, die für strafrechtliche Erm ittlungsverfahren zuständig war und insofern am besten hätte informiert sein müssen, die Hauptabteilung IX, in einem Protestschreiben zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. D ort stand zu lesen, die Unterordnung des Rechts unter die Politik des Politbüros sei begründet worden mit „ der behaupteten geheim dienstlichen Steuerung einer politischen Untergrundtätigkeit in der DDR [...], obwohl das unbeweisbar blieb und anderslautende Erkenntnisse verdrängt wurden“. 94 Der AfNS-Leiter wies auf die veränderte Stellung der Staatssicherheit im politischen System hin und forderte ein neues Rechtsverständnis der Mitarbeiter: „Wir müssen uns von der These trennen, die Politik habe das Prim at in der operativen Arbeit, auch bei der Anwendung des sozi alistischen Rechts. Genossen, das hat fakt isch zu der Tat sache geführt , daß das MfS immer mehr das Machtorgan des Generalsekretärs wurde. Ich sage das so deutlich, wie es ist. Für die künftige Arbeit im Amt hat das sozialistische Recht im sozialistischen R echtsstaat das Pri mat. W ir unt erstehen der Vol kskammer und sind der Volkskammer, al s dem höchst en M achtorgan dieses Landes, rechenschaftspflichtig und zwi schen den Tagungen dem Ministerpräsidenten, dem Genossen Hans Modrow.“ 95

In institutioneller Beziehung ging Schwanitz weiter als Wolf. Die Bindung der Staatssicherheit an eine rechtliche Grundlage un d ihre Unterstellung unter parlamentarische Kontrolle wären ebenso wichtige Schritte in Richtung einer ernstzunehmenden Reform gewesen w ie die N eudefinition der „ Sicherheitsdoktrin“. Politisch allerdings blieb Schwanitz hinter der Position von Wolf zurück: Das Problem einer offenen A ufarbeitung der V ergangenheit – das natürlich zur Delegitimation der alten Generalität beigetragen hätte – ignorierte er ebenso w ie die Frage nach den inneren Trägern einer Transformation des Sicherheitsdienstes. U nd m it den V orgaben zur IMArbeit und vor allem zur Aktenvernichtung, auf die noch zurückzukom men sein wird, legte er die Voraussetzungen für die nächste politische Krise. Um noch m al auf das Positionspapier von Wolf zurückzukom men: A us dessen politischer Konzeption machte Schwanitz ein Manöver auf dem Weg des geringsten innerbürokratischen Wi derstands. Er w ar ein Sicherheitstechnokrat mit der H orizontverengung des langjährigen A pparatschiks. Der politische Raum als Ort öffentlicher Auseinandersetzung um Interessen und Ideen, in der D DR eben w ieder im Entstehen begriffen, w ar ihm frem d. Wolf dagegen wußte als Aufklärungsspezialist über politische Prozesse Be94 „Schritte zur Erneuerung – Position der Le itung der Grundorganisation IX“, 21. 11. 1989; BStU, ZA, HA IX 2386, Bl. 37–46, hier 40. 95 Rede von Schwanitz, Bl. 37.

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scheid. Zudem verschaffte ihm der Umstand, daß er bereits drei Jahre zuvor aus dem A mt und dessen sicherheitsbürokr atischer Scheinw elt a usgeschieden w ar, w ohl die notw endige D istanz, um die Tiefe der K rise und die Tragweite des Umbruchs zu ermessen. Seine genaue K enntnis der sow jetischen Perestroika hatte ihn zudem gelehrt, daß der Versuch, die Vergangenheit zu verdrängen, illusionär war. Er selbst schreibt: „Obwohl Wolfgang Schwanitz die in diesem Papier festgehaltenen Gedanken und m ein Angebot akzept ierte, Probl eme bei der Realisierung gemeinsam zu beraten, wurde di eses Angebot ebenso i gnoriert wi e meine Empfehlungen. Damit war di e B eschleunigung des Zerfal ls der Staatssicherheit vorprogrammiert und eine differenzierte Darstellung von Schuld und Verantwortung verhindert.“ 96

Es klingen Selbstüberschätzung und verletzte Eitelkeit an. Dennoch wurde mit Wolfs Rat, die Vergangenheit öffentlich aufzuarbeiten, eine unabdingbare Voraussetzung dafür benannt, eine ernstzunehmende Reform einzuleiten – die freilich die Staatssicherheit auch nicht gerettet hätte. Exkurs: Reaktionen in der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt Da die D ebatten auf zentraler Ebene und in den regionalen Diensteinheiten nicht identisch waren, soll an einem Beispiel die Rezeption dieser Entwicklung vor Ort dargestellt werden. Die Am tseinführung von Schwanitz war Gegenstand einer Dienstberatung in der Bezirksverwaltung (oder wie es nun hieß: dem Bezirksamt) Karl-Marx-Stadt. Es handelte sich dabei – nach Einschätzung ihres Chefs G eneralleutnant G ehlert – um die „stabilste in der DDR“. 97 Gehlert 98 , der dienstälteste BV-Chef in der Staatssicherheit, zeigte sich wenig beeindruckt von der Veranstaltung in Berlin: „Es ist mir [...] vorgestern trotz Ministerpräsidenten [M odrow] nicht gelungen, eine A ntwort auf die Frage zu erzwingen, wie geht es weiter.“ 99 Die allgemeine politische Lage streifte Gehlert in seiner Rede nur kurz und m einte, es sei für die SED 96 Wolf: Im eigenen Auftrag (1991), S. 257. 97 Dienstversammlung des BAfNS Karl-Marx-St adt am 23.11.1989; BStU, ASt Chemnitz, C AKG 442, Bl. 2–54, hier 24. 98 Generalleutnant Siegfried Gehlert (geb . 1925) war 1948 zur Volkspolizei gegangen und 1950 in das neugegründete MfS eingetreten. 1952–1954 war er Leiter der Kreisdienststellen Auerbach, Schwarzenberg und schließlich Zwickau, ehe er 1954 als Leiter der Abt. II (Spionageabwehr) zur BVfS Karl-Marx-Stadt ging. 1955 wurde er stellvertretender und 1958 Leiter dieser Bezirksverwaltung (vgl. Gieseke: Wer war wer? [1998] , S. 22). Durch Gehlerts „ Schule“ in Karl-Marx-Stadt waren mehrere MfS-Offiziere gegangen, die später selbst BV-Chefs wurden: Dieter Dangrieß (Gera), Horst Böhm (Dresden) und Heinz Engelhardt (Frankfurt), außerdem der spätere Leiter der HA VI (Überwachung des grenzüberschreitenden Verkehrs) Heinz Fiedler. 99 Dienstversammlung des BAfNS Karl-Marx- Stadt am 23.11.1989; BStU, ASt Chemnitz, C AKG 442, Bl. 18.

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möglich, auch in „ freien Wahlen“ zu r „stärksten Fraktio n“ in der Volkskammer zu werden, wenn es nur gelingen w ürde, eine Spaltung zu verhindern. 100 Sein Hauptthema war die Staatssicherheit. Dabei wurden nicht etwa geheimpolizeiliche Taktiken zur Eindäm mung der begonnenen Revolution erörtert, sondern die Zukunft der Institution selbst. Er klagte – wie zuvor schon in Berlin 101 – darüber, daß aus der „Zentrale“ in Berlin keine klaren Vorgaben kämen, sondern nur propagandistische Floskeln w ie Schw anitz’ Ankündigung einer Reduktion des Personalbestandes um „8.000“, 102 die bei den Mitarbeitern „ Hoffnungen“ w ecke, „ die niem and stützen kann“ . 103 In der anschließenden Diskussion war der einzige Punkt, der offenbar interessierte, die berufliche Zukunft der hauptam tlichen Mitarbeiter. Einerseits wurden verschiedene Möglichkeiten für den Übergang in das Zivilleben diskutiert: von der Ü bernahme durch die Zollverw altung bis zur G ründung von kleinen D ienstleistungsunternehmen. A ndererseits w ar die „ Sorge“ Gehlerts und seiner Genossen aus der Führungsetage des Bezirksam tes, „daß wir nicht auseinanderlaufen, wie eine Hammelherde“. 104 Entsprechende Anzeichen gab es auch im „stabilsten“ Bezirksamt der DDR. Der Verlauf dieser Dienstberatung war dafür selbst der deutlichste Beleg: Viele fürchteten, sie könnten angesichts des absehbaren Abbaus des SED-Parteiapparates und der Reduktion des Staatsapparates auf dem Arbeitsmarkt ins Hintertreffen geraten. Das vor allem beschäftigte sie. Das Ende der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ Für einen offenen Machtkonflikt zwischen Parteistaat und Gesellschaft gab es seit 1953 als zusätzliche Stütze neben den staatlichen „ bewaffneten Organen“ die „ Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ . Sie hatten eine doppelte Zwitterfunktion: als param ilitärische Verbände zwischen Militärs und Zivilisten und als Parteimiliz zwischen der SED und dem Ministerium des Innern, das für ihre Ausbildung und Führung zuständig war. In den Auseinandersetzungen bis zur Maueröffnung hatten sie keine große Rolle gespielt, denn sie waren schlecht ausgebildet und galten als unzuverlässig, wenn es darum ging, gegen das eigene soziale U mfeld vorzugehen. 105 Da 70 Prozent der etw a 200.000 100 Ebenda, Bl. 16. 101 „Dienstbesprechung anläßlich der Einführung des Gen. Generalleutnant Schwanitz als Leiter des A mtes für N ationale Sicherheit dur ch den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Gen. Hans Modrow 21.11.1989 (Tonba ndabschrift)“; BStU, ZA, ZAIG 4886, Bl. 1–68, hier 50–53. 102 Diese Zahl hatte Schwanitz in einem Interview genannt; in: Neues Deutschland 23.11.1989. 103 Dienstversammlung des B AfNS Karl-Marx-St adt am 23. 11.1989, Bl. 18. Vgl. zu Gehlerts gespanntem Verhältnis zur O stberliner MfS-Zentrale H orsch: „Das kann man überhaupt nicht verstehen“ (1997), S. 44. 104 Dienstversammlung des BAfNS Karl-Marx-Stadt am 23.11.1989, Bl. 27. 105 Die für die Überwachung der Kampfgruppe n zuständige Haupta bteilung VII des MfS konstatierte „ deutliche Zeichen von Erosion in den Kampfgruppen der Arbeiterklasse“; HA VII AKG: „ Information über die aktuelle Entwicklung der politisch-operativen Lage

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„Kämpfer“ der SED angehörten, stellte sich mit der Neudefinition der Rolle dieser Partei auch die Frage nach der Zukunft dieser Formation. Mitte November debattierte darübe r die Führungsriege der Kam pfgruppen bei einer zw eitägigen Dienstbesprechung unter V orsitz des Leiters der Hauptabteilung K ampfgruppen im Ministerium des Innern, Generalmajor Wolfgang Krapp. Anwesend waren die Leiter der Abteilungen Kampfgruppen in den Bezirksverw altungen der V olkspolizei und die für die Kampfgruppen zuständigen Sektorenleiter in den – in der Regel von Offizieren im besonderen Einsatz (OibE) geleiteten – A bteilungen Sicherheit der SED Bezirksleitungen. 106 Vorgeschlagen w urde, daß der Innenm inister einen Brief an den künftigen Vorsitzenden des Ministerrates schreiben sollte, um die Fortexistenz der Kampfgruppen zu sichern. 107 Darin würde angeregt werden, die Kam pfgruppen zu reduzieren und künftig vor allem im Objektschutz einzusetzen. Die Mitgliedschaft sollte „jedermann möglich sein, der für die Erhaltung des Sozialismus eintritt“. Unterstellt werd en sollten sie der Volkskam mer, dem Staatsrat und dem Nationalen Verteidigungsrat. Sollten diese Vorschläge nicht akzeptiert werden, dann bleibe nur, die K ampfgruppen aufzulösen und „in Ehren zu entlassen“. 108 Zumindest in Ostberlin gab es – mehreren IM-Berichten zufolge – „Kämpfer“, die nicht so sang- und klanglos abt reten wollten. Am Tag nach der zentralen D ienstbesprechung, am 16. November, trafen sich der Leiter der A bteilung K ampfgruppen im Präsidium der V olkspolizei, die für die Kampfgruppen in den V olkspolizeiinspektionen zuständigen O ffiziere und ein Mitarbeiter der A bteilung Sicherheit in der SED-Bezirksleitung Berlin. Es wurde über das Treffen vom Vortag berichtet. Allein auf ein Schreiben des Innenministers wollte man sich offenbar nicht verlassen: „Darüber hi naus wurden Orientierungen gegeben, daß al le KG[Kampfgruppen]-Offiziere mit den Kom mandeuren der KG-Ei nheiten reden sol len, um zu erreichen, daß bei Aufl ösung der KG- Einheiten di e zuverl ässigen Käm pfer bereit wären, auf der Grundl age der be stehenden St rukturen unt er Ausnut zung des Alarmsystems der KG der Arbe iterklasse wei terhin Auft räge der Partei illegal zu realisieren. Die Ko mmandeure sollten dazu mit ausgewählten

im Verantwortungsbereich der Hauptabteil ung der Linie VII“ vom 17.11.1989; BStU, ZA, HA 1359, Bl. 65–67. 106 Vgl. Wagner: Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse (1998), S. 324 f. 107 Vgl. dazu und zum folgenden das Schreiben des Leiters der HA VII, Generalmajor Büchner, an Generalleutnant Neiber vom 22.11.1989 „ Ergebnis der Überprüfung der Information der HA XVIII/5 zur Auflösung der Kampfgruppen der Arbeiterklasse“; BStU, ZA, Neiber 552, Bl. 75–77. 108 Insofern stimmt es nicht, wenn Wagner schreibt, zu diesem Zeitpunkt habe in der Führungsetage niemand mit einer Auflösung de r Kampfgruppen gerechnet; Wagner: Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse (1998), S. 325.

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Kämpfern, die sie als zuverlässig einschätzen, reden.“ 109 Das w äre die V orbereitung für den A ufbau einer bewaffneten Untergrundorganisation gegen einen künftigen demokratischen Staat gewesen. In Berlin-Köpenick m achten sich zwei Kam pfgruppenoffiziere aus der Volkspolizei schon am nächsten Tag in dieser Angelegenheit an einen „Kämpfer“ heran. Sie berichteten von der zentralen Dienstbesprechung und daß dort – angeblich in A nwesenheit von Egon Krenz – nur zwei Möglichkeiten debattiert worden seien: entweder die Kam pfgruppen dem politischen Einfluß der SED zu entziehen und sie in Territorialkräfte zu verwandeln oder sie ganz aufzulösen. O b er sich denn, fragten sie ihn, angesichts dieser Perspektive „vorstellen könne, in der Illegalität m it der Waffe in der Hand zu arbeiten“. Sie hätten auch schon eine Liste m it dreizehn anderen „Kämpfern“ aufgestellt, m it denen dazu „ verschwiegene und persönliche Gespräche“ geführt werden sollten. Seinen Part eisekretär solle er darüber nicht informieren. Was die beiden Verschwörer nicht wußten, war, daß ihr Gesprächspartner als IM „Walter“ dem MfS verpflichtet war. 110 Er berichtete sofort an seinen Führungsoffizier, der sich w iederum bei seinen V orgesetzten erkundigte, was zu tun sei. Vorgeschlagen wurde, „ dem IM zu empfehlen, sich an seine zuständige [SED-]Kreisleitung zu wenden und jegliche Tätigkeit, die gegen Verfassungsgrundsätze verstößt, zu unterlassen“ . 111 D er IM selbst konnte „das ganze Wochenende nicht ruhig schlafen [...], weil er auch persönlich zu keinem triftigen Grund gekom men ist, der eine solche illegale Tätigkeit in den K ampfgruppen rechtfertigt“. Schließlich rief er den Werber an, der seine ablehnende Entscheidung akzeptierte und nun behauptete, „ daß er ebenfalls m it dieser angestrebten illegalen Tätigkeit nichts anfangen kann“. 112 Die Sache war damit noch nicht erledigt. Durch die Kreisdienststelle Berlin-Köpenick der Staatssicherheit „ wurde Einfluß genom men, daß keine weiteren Gespräche der KG-Offiziere der VPI [Volkspolizeiinspektion] Köpenick mit Kommandeuren der K ampfgruppen in dieser H insicht erfolgen“. 113 Vor allem aber, berichtete H auptabteilungsleiter Büchner an den stellvertretenden Minister für Staatssi cherheit, wurden diese Inform ationen „am 20.11.1989 mit dem zuständigen Stellvertreter des Ministers für Innere Angelegenheiten, Generalleutnant Schmalfuß, mündlich ausgewertet. Durch ihn w erden die erforderlichen Maßnahm en zur U nterbindung dieser und 109 Schreiben des Leiters der HA VII, Generalmajor Büchner, an Generalleutnant Neiber vom 22.11.1989, Bl. 76. 110 „Information“ vom 17.11.1989; BStU, ZA, Neiber 552, Bl. 70 f. 111 Schreiben von Oberst Neuß, Leiter der HA XVIII/5, an L eiter der HA XVIII, Generalleutnant Kleine, vom 18.11.1989; BStU, ZA, Neiber 874, Bl. 142. 112 „Information“ vom 20.11.1989; BStU, ZA, Neiber 874, Bl. 140 f. 113 Schreiben des Leiters der HA VII, Generalmajor Büchner, an Generalleutnant Neib er vom 22.11.1989, Bl. 76.

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ähnlicher politischer Fehlhandlungen in eigener Verantwortung eingeleitet.“ Das ist eine in doppelter H insicht bemerkenswerte Episode: Erstens zeigt sie, daß es im mittleren und unteren F ührungskader der Volkspolizei Kräfte gab, die die Entmachtung des A lten Regim es nicht kam pflos hinnehm en Zusammenwollten. Zweitens ist die Rolle der Staatssicherheit in diesem hang überraschend: Sie nutzte ihre Informations- und Einflußmöglichkeiten, um das Unternehmen im Keim zu ersticken. Dabei hat sicherlich eine Rolle gespielt, daß man dort ohnehin keine hohe Meinung von diesen Form ationen hatte. Es spricht aber auch dafür, daß die Subordination unter die neue Politik zumindest insoweit ernst genom men wurde, als dieses abenteuerliche Vorhaben nicht als Chance begriffen wu rde, sondern als potentieller Störfaktor. Über die weitere Zukunft der K ampfgruppen war damit noch nicht endgültig entschieden. Egon Krenz schickte in seiner Funktion als SED-G eneralsekretär am 23. N ovember ein Schreiben an die SED-Bezirks- und Kreissekretäre, in dem von ihrem Fortbestand ausgegangen w urde. Zw ar sollten die „Kämpfer“ im Gelöbnis nicht m ehr auf „die Weisungen der Partei“ verpflichtet, sondern ausschließlich dem Innenm inisterium unterstellt und durch die jeweiligen Volksvertretungen kontrolliert werden. Aber weiterhin hätten sie als „ Schutzorgan de r führenden politischen Kraft unserer Gesellschaft, der Arbeiterklasse“, zu gelten. 114 Auch das SED -Politbüro befaßte sich noch einm al m it dem Thema. In seiner Sitzung am 28. November verabschiedete es einen „Brief“ an die Angehörigen der Kampfgruppen. Darin wurde die – gut zwei Wochen nach der Öffnung der Mauer politisch höchst brisante – Legende wiederholt, die Kampfgruppen hätten sich am 13. August 1961 Verdienste erworben, als es angeblich gegolten habe, „ damals vorhandene militärische Pläne zur Beseitigung der DDR zu vereiteln“ . Auch jetzt gehe es um die „ Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften“. Da in ihnen künftig „ Kommunisten und Christen, Mitglieder aller Parteien der DDR und Parteilose Schulter an Schulter“ stehen würden, sei es notwendig, „ ihre Stellung staatsrechtlich eindeutig zu bestimmen“. 115 D och eine in dem ursprünglichen Entwurf von Wolfgang Herger enthaltene Formulierung hatte man gestrichen: „Sie dürfen nicht länger als bewaffnete O rgane der Partei verstanden w erden“. 116 Die SEDÜbergangsführung wollte noch nicht ganz auf ihre Parteimiliz verzichten. Die Geschichte ging über diese Rückzugsm anöver hinweg. Am 6. Dezember verfügte Innenm inister Ahrendt die Entwaffung der Kampfgruppen. 117 Auf dem außerordentlichen SED-Parteitag am 8. Dezember forderte der neue 114 Fernschreiben an die 1. Sekretäre vom 23. 11.1989, gez. E. Krenz, Anlage 2 zum Protokoll des Sekretariats des ZK der SED vom 24.11.1989; BA Berlin, J IV 2/3/4467. 115 Anlage 7 zum Protokoll des SED-Politbüros vom 28.11.1989; BA Berlin, J IV 2/2/2365. 116 Anlage zum Arbeitsprotokoll der SED-Politbüro-Sitzung am 28. 11.1989; BA Berlin, J IV 2/2A/3263; vgl. Wagner: Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse (1998), S. 326. 117 Ebenda, S. 326.

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Vorsitzende, Gregor Gysi, die K ampfgruppen aufzulösen, w eil sie „ nicht mehr zeitgemäß“ seien. 118 Am 14. Dezember schließlich faßte der Ministerrat den Beschluß, ihre Tätigkeit zu beenden. 119

9.3 Erneuer ungsversuche

Schwanitz hatte sich am Tag seiner Wahl zum Chef des AfNS in einem Schreiben an alle Diensteinheiten vorgestellt. Bei dieser Gelegenheit gab er eine Umverteilung in der K ompetenzstruktur der obersten Leitung bekannt. 120 Der Zentralist Mielke hatte sich selbst als Minister 18 D iensteinheiten direkt unterstellt. Schwanitz wollte davon nur vier behalten, 121 alle anderen w urden – vielleicht als K ompensation dafür, daß er nicht selbst Chef geworden war – Generaloberst Mittig zugewiesen, der m it 22 Diensteinheiten den gesam ten „operativen Bereich“ anzuleiten hatte und zugleich zum Ersten Stellvertreter des A mtsleiters befördert w urde. Die Anleitungsbereiche von Generalleutnant Neiber und G eneraloberst Großmann blieben unverändert. Die einzige nennenswerte Veränderung auf dieser Ebene w ar, daß der bisherige Be reich von Schwanitz einen neuen Leiter bekam : Oberst Erich Schwager, der zuvor als Leiter der Abteilung Bewaffnung und Chemische Dienste sein Untergebener gewesen war. Dennoch gab es in diesem Schreiben einen ersten H inweis darauf, daß weitergehende V eränderungen ins A uge gefaßt w orden w aren. Es wurde angekündigt, daß auf zentraler Ebene „ Kommissionen z ur N eustrukturierung“ des Amtes eingerichtet würden. Freilich gab die personelle Besetzung dieser Kommissionen wenig Anlaß zur H offnung, daß tiefgreifende V eränderungen angestrebt würden: Eine Zentrale K ommission, die „ alle grundsätzlichen, übergreifenden Fragen und Problem e“ aufarbeiten sollte, stand politik entunter der Leitung von Schwanitz selbst. Die für eine Reform scheidende „ Kommission zur N eubestimmung der A ufgaben und Strukturen“ wurde Generalmajor Gerhard Niebling unterstellt, dem Leiter der Zentralen Koordinierungsgruppe Übersiedlung, der sich bis dahin bei der Verfolgung von Ausreisewilligen hervorgetan hatte. Leiter der Kom mission „Neuerarbeitung und Überarbeitung dienstlicher Bestim mungen“ wurde Oberst Karl Bausch, der als für Grundsatzdokumente, Planung und Kontrolle in der ZAIG zuständiger Bereichsleiter 122 in diesem Genre zweifellos reiche Erfahrungen hatte. U nd die „ kadermäßige Sicherstellung“ schließlich wurde dem Stellvertretenden Leiter der H auptabteilung Kader und Schu118 Rede Gysis in: Neues Deutschland 9. /10.12.1989; Außerordentlicher Parteitag der SED/ PDS (1990), S. 13–28, hier 25 f. 119 „Beschluß über die Beendigung der Tätigkeit der Kampfgruppen der Arbeiterklasse vom 14. Dezember 1989“; BStU, ZA, SdM 1508, Bl. 140–142. 120 Schreiben d es L eiters d es A fNS, S chwanitz, a n die Leiter der Diensteinheiten vom 18.11.1989; BStU, ZA, DSt 103643. 121 Die HA Kader und Schulung, die ZAIG, die Abteilung Finanzen und die Rechtsstelle. 122 Bereich 2 der ZAIG. Bausch war zugleich einer der Stellvertretenden Leiter der ZAIG.

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lung, Oberst Günter Schmidt, übertragen. 123 Zusätzlich zu diesen zentralen Kommissionen wurden die D iensteinheiten angewiesen, eigene Vorschläge zu erarbeiten. Vorschläge aus den Diensteinheiten Die Weisung traf auf Resonanz. In den beiden folgenden Wochen kam en aus etwa der Hälfte der zentralen Diensteinheiten Entwürfe für den jeweiligen Verantwortungsbereich. Nachweisbar sind 42 Papiere aus 21 Diensteinheiten. Die Autoren wurden in den m eisten Fällen nicht angegeben. In der Regel wurden die Entwürfe von den Leitern der jeweiligen Abteilungen zumindest abgesegnet. Nach dem reform erischen Gehalt lassen sich drei Gruppen unterscheiden: 1. Papiere, die nur die bisherigen Strukturen und A ufgaben der D iensteinheit w iederholten – zum Teil m it geringfügigen Modifikationen, ohne daß irgendwelche Ansätze zur Selbstkritik erkennbar gewesen wären: Dieser Spezies sind 16 Entwürfe (38 Prozent) zuzurechnen. Sie stam mten – mit einer A usnahme – aus „ operativen“ D iensteinheiten, das heißt aus solchen Bereichen der Staatssicherheit, die direkt am „ Feind“ arbeiteten (und berechtigt waren, „operative Vorgänge“ zu eröffnen – deshalb der Name). Papiere dieser Gattung sind unergiebig, so daß es überflüssig ist, sie zu referieren. 124 Eine Ausnahme bilden nur mehrere Entwürfe aus der Hauptabteilung XX, in denen versucht w urde, eine modernisierte und den Umständen angepaßte Form de r Repression zu konzipieren. 125 Auf sie wird im Zusammen123 Es wurden noch zwei weitere Kommission einberufen: „zur materiell-technischen Sicherstellung“ unter Leitung von Oberst Gert Grund, dem Stellvertretenden Leiter „ Rückwärtige Dienste“, und „ zur operativ-technischen Si cherstellung“ unter Leitung eines Oberstleutnant Kahnt. 124 – AGM (Arbeitsgruppe des Ministers) vom 25.11.1989; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 315–320; – HA I (Abwehr in der NVA) vom 17.11.; ebenda, HA I 2917, Bl. 14–18, und vom 20.11.; ebenda, Bl. 44–49; vgl. auch ein undatiertes „ Thesenpapier“ aus der HA I; ebenda, ZAIG 13955, Bl. 46–48; – HA VII (Überwachung des Ministeriums de s Innern) vom – unbestimmt datiert – November 1989, ebenda, HA VII 1359, Bl . 19–25, und vom 25.11.; ebenda, ZAIG 13955, Bl. 58–68; – HA IX/7 (Untersuchung/politisch-operative Vorkommnisse) vom 21. 11.; ebenda, HA IX 3746, Bl. 42–47; – HA XVIII/11 (Wirtschaft) vom 23.11.; ebenda, HA XVIII 433, Bl. 48 f.; – HA XIX (Überwachung des Verkehrswesens) vom 25.11.; ebenda, ZAIG 13955, Bl. 91–94; – ZOS (Zentraler Operativstab) vom 25.11.1989; ebenda, ZAIG 7117, Bl. 8 f. 125 [HA XX:] „Erste konzeptionelle Überlegungen zur Durchführung der Arbeit der Gewährleistung der nationalen Sicherheit und des verfassungsmäßigen Schutzes unter Berücksichtigung von Kirchen, Religionsgem einschaften und kirchlichen Zusammenschlüssen“ vom 20.11.1989; BStU, ZA, HA XX/AKG 1137, Bl. 12–14; HA XX: „Vorschlag für den Teil einer neuen Struktur des Amtes für Nationale Sicherheit, die sich aus dem bisherigen Sicherungsgegenstand der Hauptabteilung XX unter Berücksichtigung der v eränderten Lagebedingungen ergibt“ vom 24.11. 1989; ebenda, ZAIG 13955, Bl. 95–100; HA XX: „Zur Arbeit mit IM im Amt für Nationale Sicherheit“ vom 28. 11.1989; ebenda, ZAIG 13947, Bl. 14–16.

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hang mit der veränderten Taktik beim Einsatz inoffizieller Mitarbeiter einzugehen sein. 2. Technokratische V erbesserungsvorschläge, die sich auf Organisation, interne Kompetenzabgrenzung und Steigerung der Effizienz bezogen: Ü ber die Hälfte – insgesam t 23 – w aren Papiere solchen Charakters. 126 Etwa die Hälfte der 14 D iensteinheiten, aus denen sie kam en, war nicht-operativ, das heißt eher im Hintergrund, ohne direkte „Feindberührung“, tätig. Bei der Beurteilung dieser Entw ürfe ist die U nterscheidung zw ischen bloßen Lippenbekenntnissen und Ansätzen zu relevanten institutionellen Veränderungen nicht immer einfach. So legte etwa die SED-Kreisleitung im MfS/AfNS Thesen vor, die – gem äß einer Vorgabe von Wolfgang H erger – von einer Übertragung der „Entflechtung von Partei und Staat“ auch auf ihr Amt ausgingen. 127 Die Staatssicherheit sei künftig „ Organ einer Koalitionsregierung“ und man habe damit zu rechnen, daß künftig auch Mitglieder anderer Parteien als der SED in dies em Amt gleichberechtigt arbeiten würden. 128 Es bestünde deshalb die „ Notwendigkeit des ‚Raus der SED aus dem Amt‘“. 129 Zugleich wurde dieser Ansatz im konkreten wieder aufgehoben. Der Autor schrieb: 126 – Abt. X (i nternationale V erbindungen) etwa vom 22.11.1989; BStU, Z A, Z AIG 13955, Bl. 76–78; – Abt. XII (Archiv) vom 22.11.; ebenda, ZAIG 13955, Bl. 79–86; – BdL (Büro der Leitung) vom 23.11., ebenda, ZAIG 13955, Bl. 116–124; – HA II (Abwehr) vom 18.11.; ebenda, HA II 490, Bl. 3–5, vom 21.11.; ebenda, HA II 585, Bl. 156–162, und vom 24.11.; ebenda, ZAIG 13961, Bl. 4–7; – HA VI (Überwachung des grenzüberschreitenden Verkehrs) vom 4.12.; ebenda, Neiber 224, Bl. 34–39; – HA XVIII (Wirtschaft) vom 24.11.; ebenda, HA XVIII 433, Bl. 3–14; – HA XXII (Terrorabwehr) vom 23. u. 24.11., ebenda, HA XXII 5619, Bl. 72–78, 138– 143, u. vom 7.12.; ebenda, Bl. 204–207; – HA KuSch (Kader u. Schulung) vom 14.11.; ebenda, HA XVIII Ltg. 3334, Bl. 10 f.; – HV A (Spionage) vom 24. 11.; ebenda, Mittig 79, Bl. 38–43; HV A AG XV/BV vom 22.11.1989: „Vorschlag für die Organisierung de r Aufklärungsarbeit in den Territorie n“, Nachdruck in: Sélitrenny u. Weichert: Das unheimliche Erbe (1991), S. 141–152; – JHS (Juristische Hochschule) vom 21.11. ; ebenda, HA IX 3746, Bl. 49–54, u. vom 27.11.; ebenda, ZAIG 7117, Bl. 73–82; – Rechtsstelle etwa vom 25.11.; ebenda, Rechtsstelle 18, Bl. 3–6; – ZAGG (Zentrale Arbeitsgruppe Geheimnisschut z) vom 20.11. u. vom 4.12.; ebenda, ZAGG 2742, Bl. 128–138; – ZAIG vom 18.11.1989; ebenda, ZAIG 14353, Bl. 6–13, u. vom 24.11.1989; ebenda, ZAIG 7117, Bl. 45–48. 127 Herger wird mit den Worten zitiert: „Parteiorganisationen im Amt von den dienstlichen Strukturen, Aufgaben lösen.“ In: „ Beschlußentwurf über den Aufbau und die Organisationsstrukturen der SED im Amt für Nationale Sicherheit“ vom 27.11.1989; BStU, ZA, SED-KL 1072, Bl. 2–21, hier 8 u. 18. In überarbeiteter Form als: AfNS Parteiorganisation Abt. Parteiorgane: „ Vorschläge, Überlegungen, Hinweise zur Gestaltung der Parteiarbeit im Amt für Nationale Sicherheit“ vom 5.12.1989; ebenda, SED-KL 594, Bl. 1406– 1423. 128 Vgl. „Beschlußentwurf“ vom 27.11.1989, Bl. 11 f. 129 Ebenda, Bl. 12.

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„Um die Partei und die staatliche Tätigkeit sichtbar zu entflechten, halte ich die Bildung eines Dienstbe reiches ‚Staatspolitische Bildung‘ bereits in der Gegenwart für richtig. Gleichzeitig is t damit möglichen k ünftigen Entwicklungen, die der PO [Part eiorganisation] ni cht m ehr ei ne sol che Arbei t wi e gegenwärtig gewährleisten, rechtzeitig vorgebaut.“ 130 Das bedeutete: Die SED sollte das AfNS durch die Eingangstür verlassen, um sogleich durch die Hintertür einer Abteilung „Staatspolitische Bildung“ wieder zurückzukehren. Solche Gedankenspiele können nicht als ernsthafte Überlegungen für einen institutionellen Bruch betrachtet werden. Auf der anderen Seite reichte etw a die H auptabteilung XVIII ( Wirtschaft) ein Papier ein, das außer dem Vorschlag, etwa ein Fünftel des Personals einzusparen, w enig N eues enthielt. 131 Der Autor dieser Konzeption, Generalleutnant Kleine, kommentierte jedoch zur gleichen Zeit die G rundausrichtung künftiger A rbeit mit Worten, die verdienen, wiedergegeben zu werden: „ Prinzipiell m uß für die zukünftige operative A rbeit gelten, daß durch die D iensteinheiten der A bwehr und Aufklärung nicht mehr in Kompetenzen der Wirtschaft und Wissenschaft eingegriffen wird.“ 132 Eine solche Entflechtung von Zuständigkeiten in Bereichen, die unter den ausufernden Sicherheitsvorschriften des Mf S besonders zu leiden hatten, 133 könnte man als echten Reformvorschlag werten – w enn Kleine das nicht nur in einer Dienstberatung gesagt, sondern in seiner K onzeption tatsächlich ausgearbeitet hätte. 3. Reformvorschläge, die institutionelle und politische Problem e angingen und Elemente von Selbstkritik erkennen ließen: Nur Papiere aus zwei Diensteinheiten hatten solch einen breiteren H orizont. Sie stammten aus der Juristischen Hochschule des MfS und aus der U ntersuchungsabteilung (HA IX). Die Hauptabteilung IX hat schon relativ früh Vorschläge unterbreitet, deren Realisierung die politische Justiz in der DDR zwar nicht völlig beseitigt, aber doch stark eingeschränkt hätte. „ Überlegungen“ zu einem Strafrechtsänderungsgesetz 134 wurde in Konkretisierung der neuen Parteilinie als Ma130 Ebenda, Bl. 7. – Diese Idee hatte Generalmajor Felber von der NVA übernommen, wo zur gleichen Zeit mit dem Aufbau einer Hauptverwaltung „ Staatspolitische Arbeit“ begonnen wurde; vgl. Felber: „ Ergebnisse der Aussprache mit Generalleutnant Volland (MfNV)“ vom 25.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 13955, Bl. 125–128. 131 Leiter der HA XVIII: „ Aufgaben, Strukturen und erforderliche Kräfte für eine Struktureinheit zur komplexen Sicherung der Volkswir tschaft gegen feindliche Angriffe“ vom 24.11.1989; BStU, ZA, HA XVIII 433, Bl. 3–5. 132 Hv. im Orig.; „ Protokoll über die Beratung zu den zukünftigen Arbeitsinhalten und die Struktur der HA XVIII im Amt für Nationale Sicherheit“, gez. Kleine, 24.11.1989; BStU, ZA, HA XVIII 4601, Bl. 2–5, hier 5. 133 Vgl. beispielhaft Buthmann: Kadersicherung im VEB Carl Zeiss Jena (1997). 134 Von der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS war das bereits Ende Oktober gefordert w orden. In einem Schreiben an Schw anitz mit Vorschlägen für das Referat von Krenz auf dem bevorstehenden 10. ZK-Plenum hatte Oberst Taube, stellvertretender Leiter d er ZAIG, am 31.10.1989 geschrieben: „Als kurzfristige Maßnahme Erarbeitung eines 6. StÄG [Strafrechtsänderungsgesetzes] , mit dem insbesondere Straf-

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xime vorangestellt: „Es ist konsequent davon auszugehen, daß politische Probleme in der DDR mit politischen Mitteln gelöst werden. Für das Strafrecht ist k ein Raum, wo und solange politische Meinungsäußerunge n, Meinungsstreit, Interessenver-

tatbestände der Staatsverbrechen sowie von Straftaten gegen die staatliche Ordnung geändert bzw. neu gefaßt werden sollten.“ BStU, ZA, SdM 2151, Bl. 29–41, hier 32.

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folgung und W illensbildung im Rahm en der verfassungsm äßigen Ordnung und unter Einhaltung von Minde stregeln der politischen Kultur und der Achtung der Würde und Integrität der Beteiligten erfolgt.“ 135

In K onkretisierung dieser Erkenntnis w urde die Modifizierung oder Streichung einer Reihe einschlägiger Straftatbestände aus dem 2. und dem 8. Kapitel des StGB („Verbrechen gegen die D DR“ bzw . „ Straftaten gegen die staatliche Ordnung“) vorgeschlagen. So sollten etwa „ landesverräterische Nachrichtenübermittlung“ bzw. „ Agententätigkeit“ (§§ 99 und 100) und „verfassungsfeindlicher Zusammenschluß“ (§ 107) entfallen. „ Staatsfeindliche Hetze“ (§ 106) sollte nur noch bei „Aufwiegelung zu Gewalttätigkeiten“ sanktioniert werden. Umfassenderen Charakter hatten „ Vorschläge“, die der zentralen „Kommission für Neubestimmung der Aufgaben und Strukturen“ durch den Leiter der Hauptabteilung IX (Untersuchung), Generalmajor Fister, zugeleitet wurden. 136 Sie enthielten eine relativ enge Beschreibung von Straftatbeständen. Im Sinne einer Fortsetzung politischer Justiz war relevant, daß Ermittlungen gegen politische Vereinigungen künftig nur dann erfolgen sollten, wenn sie zuvor „ gerichtlich als verfassungswidrig eingestuft“ worden waren. Eine solche Bindung an G erichtsentscheidungen w ar neu und hätte ein Elem ent von Gewaltenteilung bedeutet. In die gleiche Richtung gingen die Ü berlegungen zur künftigen Stellung des Unters uchungsorgans: Entweder sollte es ausgegliedert und dem Justizm inister oder dem G eneralstaatsanwalt unterstellt werden. Dafür spräche, „ daß die zum Demokratieverständnis von Teilen der internationalen Öffentlichkeit gehörende Unabhängigkeit der Untersuchungsorgane von Polizei und Sicherheitsorgan betont w ürde“. 137 Od er aber die Abteilung würde innerhalb des A mtes weitgehende Autonomie erhalten. Das sollte bedeuten, daß der Amtsleiter keine Weisungsbefugnis gegenüber dieser Abteilung haben w ürde, die A bteilung ihre A ufgaben allein lösen m üßte und sich der anderen D iensteinheiten nicht bedienen dürfte. „Die Leitung der Erm ittlungen obliegt m it Konsequenz dem Staatsanwalt. Untersuchungsarbeit ist ausschließlich offizielle staatliche Tätigkeit.“ 138 Ergänzt w urde diese K onzeption noch durch den V orschlag, daß U ntersuchungshaft und H aftkrankenhaus aus der Staatssicherheit ausgegliedert und dem Justizm inisterium unterstellt werden sollten. Für einen – freilich eng 135 HA IX: „ Erste Überlegungen für die Ausarbe itung eines 6. StÄG [Strafrechtsänderungsgesetzes]“ vom 10.11.1989; BStU, ZA, HA IX 2386, Bl. 14–26, hier 14; vgl. auch „ Vorschläge für Problemberatungen zur weiteren Tätigkeit der Linie Untersuchung unter Berücksichtigung neuer rechtlicher Regelungen und internationaler Erfordernisse“ vom 10.11.1989; ebenda, HA IX 3746, Bl. 65–74. 136 HA IX, Generalm ajor Fister: „Vorschläge zu Verantwortung, Aufgaben und Arbeitsweise eines künftigen Untersuchungsorgans“ vom 20. 11.89, mit Begleitschreiben vom 22.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 7117, Bl. 10–17. 137 Ebenda, Bl. 15. 138 Ebenda, Bl. 12.

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begrenzten – Teilbereich bisheriger MfS-Aktivitäten waren das Schritte in Richtung größerer Rechtssicherheit. An der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam war zur gleichen Zeit ein um fängliches Papier entstanden, das mit „Erste hypothetische Aussagen“ überschrieben worden war. Tatsächlich handelte es sich um eine wenig durchstrukturierte Sam mlung von Ideen zur künftigen Stellung des Amtes im politischen Sy stem, die allerdings eine Reihe interessanter Überlegungen enthält. Ausgangspunkt war die A nnahme, daß sich die Staatssicherheit an einschneidend veränderte politische Rahm enbedingungen anzupassen hätte: „Das Amt für Nat ionale Sicherheit (AfNS) wi rd nicht als Weiterführung des bisherigen MfS unter neuer Bezeic hnung und m it gewissen Abstrichen am Personalbestand verstanden. Notwendig ist es, mit bisherigen Denk-, Verfahrensweisen und St rukturen konsequent zu brechen und Lösungen zu fi nden, die ei nem von Grund auf erneuert en, dem okratischen Sozi alismus ent sprechen und hohen Anforderungen an Rechtsstaatlichkeit gerecht werden.“ 139

Das A fNS dürfe deshalb nur auf gesetzlicher G rundlage und unter parlamentarischer Kon trolle tätig werden. 140 Die reale Bedeutung dieser V orgabe hing von der Entflechtung von SED und Staatsmacht ab. Das wurde zwar als Problem benannt, jedoch nic ht näher erörtert. 141 Hauptthem a des Entwurfs waren nicht die politisch en und rechtlichen Rahmenbedingungen, sondern das künftige Profil des A fNS. D as N ovum war, daß eine „ausschließliche Ausrichtung des Am tes au f nachrichtendienstliche Aufgaben“ gefordert wurde. 142 Dieser Ansatz wurde insofern durchgehalten, als das mit einer drastischen Einschränkung ex ekutiver Befugnisse verbunden sein sollte: „Der generel le Auft rag an das Am t – und dam it Inhal t und Rahmen seiner Befugnisse – sollte deshalb als ‚n achrichtendienstliche Beschaffung und Aufbereitung (bzw. ‚Auswertung‘) von Erkenntnissen und Informationen zur Gewährleistungen der staatlichen Si cherheit der DDR‘ verstanden und gesetzlich fixiert werden. Darüber hi nausgehende exekutive Befugnisse, insbesondere polizeiliche Befugnisse, sollte n dem Amt, abgesehen von eventuell konkret zu bestimmenden Aufgaben, nicht zur Verfügung stehen.“ 143

139 AfNS, Juristische Hochschule Potsdam: „ Erste hypothetische Aussagen zur Stellung, Kompetenz und Struktur des Amtes für Nationale Sicherheit (AfNS)“ vom 23.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 13956, Bl. 70–128, hier 111. 140 Vgl. ebenda, Bl. 75, 81, 101, 108, 112 f. 141 Vgl. ebenda, Bl. 73. 142 Ebenda, Bl. 81. 143 Ebenda, Bl. 83.

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Interessant ist die Begründung, w eil sie auf G ewaltenteilung als ein Ziel Bezug nim mt, das aus S icht der Gesellschaft anzustreben war: „Für eine solche konsequente Beschränkung des Am tes auf nachrichtendienstliche Tätigkeit und Befugnisse spricht: Sie gewährleistet ein hohes Maß an Rechtssicherheit für den Bürger durch konsequente Beachtung der Gewaltenteilung.“ Der Autor v ersprach sich davon einen Gewinn an Ansehen (und damit natürlich eine V erbesserung der Ü berlebenschancen) für das A fNS: „Das A mt verliert das O dium einer ‚G eheimpolizei‘ und angebli ch unbegrenzter und undurchschaubarer ‚Machtfülle‘.“ 144 In die nachrichtendienstliche Orientierung eingeschlossen war die Arbeit nach innen. Grundsätzlich sollten auch eigene Bürger – nicht zuletzt mit Hilfe inoffizieller Mitarbeiter 145 – überw acht werden können, allerdings in eingeschränktem Ausmaß. Das AfNS wü rde nach dieser Konzeption nur für „konspirative“ und „ gewaltsame“, „ verfassungsfeindliche Tätigkeiten“ zuständig sein, während „ öffentliche oder demonstrative Angriffe [...] von anderen O rganen geahndet w erden“ müßten. 146 Soweit es sich um politische Organisationen handelt, sollte über deren Verfassungsfeindlichkeit nicht das AfNS selbst, sondern nur ein künftiges V erfassungsgericht befinden können. 147 Diese Konzeption war hinsichtlich institutioneller Veränderungen und anzustrebender politischer und rechtlicher Verfahren relativ differenziert. Der zusätzliche Spielraum, den andere politische Kräfte durch solche Ansätze von G ewaltenteilung erhalten hätten, w urde jedoch durch einen ausufernden Katalog unverzichtbarer V erfassungsgrundsätze gleich w ieder drastisch reduziert. „Geschützt“ werden sollten nicht nur d ie „Volkssouveränität“, sondern auch das „ Volkseigentum“, das „ Klassenbündnis der A rbeiterklasse mit anderen K lassen und Schichten“ und die Bündnisbeziehungen im Warschauer Pakt. D amit nicht genug, w urden die „ Sicherung der sozialistischen Staats- und G esellschaftsordnung“ gefordert und „ die Behauptung der Dominanz sozialistischer Eigentums-, Distributions-, Konsumtions- und Organisationsverhältnisse gegen V ersuche, sie zu untergraben“. 148 Von einer pluralistischen, dem okratischen O rdnung w ar diese Vorstellungswelt noch ähnlich weit entfernt w ie mancher Staatswissenschaftler im frühen 19. Jahrhundert. A llerdings w ar sie als Ideologie des Machterhalts durch den Gedanken der V olkssouveränität geschwächt. Sie hatte dem kein eigenes Legitim ationsprinzip entgegenzusetzen. Der „ historische Materialismus“ w urde in diesem Text nicht einm al mehr als Hilfskonstruktion bemüht. Für die Festschreibung von K ernelementen der SED -Programmatik 144 145 146 147 148

Ebenda, Bl. 83 f. Vgl. ebenda, Bl. 115–120. Ebenda, Bl. 105. Vgl. ebenda, Bl. 100. Ebenda, Bl. 88 u. 97.

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als V erfassungsgrundsätze fehlte dam it jegliche argumentative Voraussetzung. Wenn aber als entscheidendes neues Charakteristikum eines künftigen „demokratischen Sozialism us“ die Verfahren rechtlicher Normsetzung und politischer Entscheidungsbildung zu gelten hatten, dann m ußten diese Prinzipien auch für die V erfassung gelten. G ewiß wäre es eine Ü berforderung, von einem in diesem historischen Kontext entstandenen Papier verfassungstheoretische Überlegungen zu erwarten, aber das rettet es nicht vor den Implikationen des eigenen Ansatzes: Wenn der Souverän erst einmal durch neue institutionalisierte Regeln die Möglichkeit geschaffen hatte, seinen Willen in rechtlicher Form zu fassen, dann halfen keine i nhaltlichen Kautelen, die ihn davor bewahren sollten, vom Pfad „ sozialistischer“ Tugend abzuweichen. Bei aller Kritik ist festzuhalten, daß dieser Text aus der Hochschule des MfS im Reflexionsniveau und in der Bereitschaft, institutionelle Konsequenzen zu ziehen, die Vorschläge aus allen anderen Diensteinheiten weit überragte. Insgesam t gesehen w aren diese V ersuche, sich auf den Wandel der V erhältnisse einzustellen, jedoch dürftig. D ie Hauptursache war sicherlich, daß die Papiere zum überwiegenden Teil von den alten Führungskadern produziert worden waren. Sie waren dam it selbst bei gutem Willen schlichtweg überfordert. Die Konzeption der Generalität Die Konzeption für das künftige A fNS, die auf Basis dieser V orschläge erarbeitet wurde, war innerhalb von zehn Tagen fertiggestellt und am 28. November in einer Erstfassung vom Kollegium der Staatssicherheit gebilligt worden. 149 Eine leicht veränderte Version 150 wurde an den beiden folgenden Tagen dem noch am tierenden Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, Krenz, und Ministerpräsid ent Modrow vorgelegt und von ihnen „bestätigt“. 151 Danach erst w urden einige einschneidende V eränderungen vorgenommen, die man, wie zu zeigen sein w ird, nur als nachträgliches Täuschungsmanöver zur Wahrung der K onspiration auch gegenüber dem Ministerpräsidenten bezeichnen k ann. 152 Dann wurde die K onzeption am 3. Dezember vor den Leitern der Bezirksäm ter für Nationale Sicherheit 153 149 „Zur Erläuterung im Kollegium – 28.11.1989“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 337–346. 150 „Konzeption zur Bestimmung der grundsätzlichen Aufgaben und Struktur des Amtes für Nationale Sicherheit“, 29.11.1989; BStU, ZA, SdM 2289, Bl. 655–667. 151 So die Behauptung in der Einleitung zur Endfassung „Vorläufige Grundsätze für Aufgaben und Strukturen des Amtes für Nationale Sicherheit“, 4.12.1989; BStU, ZA, ZAIG 13962, Bl. 1–38, hier 2. Diese Abfolge ents pricht auch einer Darstellung von Generalleutnant Neiber auf der SED-Delegier tenkonferenz im AfNS am 2.12.1989; vgl. BStU, ZA, SED-KL 570, Bl. 867–932, hier 926. 152 Mit einem kleinen Trick hat Schwanitz verh indert, daß das Kollegium Mitverantwortung für dieses Manöver übernommen hätte: Es wurden nur einige unproblematische Punkte zur Abstimmung gestellt. Vgl. „Zur Erläuterung“, 28.11.1989, Bl. 345. 153 „Aufgaben und Struktur des Amtes für Nationale Sicherheit“, handschriftl. Vermerk „Be-

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und am folgenden Tag auf einer zentralen D ienstbesprechung in BerlinLichtenberg erörtert. 154 Die Eckpunkte der K onzeption, wie sie dem Ministerpräsidenten vorgelegt wurde, 155 waren: – der hauptamtliche Personalbestand des Am tes würde um m ehr als die Hälfte reduziert; – ein Viertel der zentralen Diensteinheiten, zwei Fünftel der Diensteinheiten in den Bezirksämtern und alle Kreisämter würden aufgelöst; – das Am t sollte sich künftig vor allem konzentrieren auf „Aufklärung“, „Spionageabwehr“, „Aufklärung verfassungsfeindlicher Aktivitäten“, „Terrorabwehr“, „Observation und Ermittlungstätigkeit“; – bestimmte Funktionsbereiche w ie Teile der V erkehrspolizei, die bisher der Hauptabteilung Personenschutz zugeordnet waren, sollten ausgegliedert werden. Die inoffiziellen Mitarbeiter wurden in dieser Version gar nicht erw ähnt. Hinsichtlich einiger „offizieller“ Mitarbeiter findet m an eine Passage, die stutzig m acht. Es w urde von der N otwendigkeit gesprochen, mit verschiedenen Ministerien und wissenschaftlichen Einrichtungen „ konstruktiv zusammenzuarbeiten“. Zur Erläuterung: „ Das beinhaltet auch den Einsatz von ausgewählten Kadern mit entsprechender Q ualifikation in diesen O rganen und Einrichtungen unter strenger Wahrung der Konspiration und Geheimhaltung.“ 156 Das konnte nur heißen, daß die D urchdringung des Staatsapparates mit Offizieren im besonderen Einsatz (die gew iß einen neuen Namen erhalten hätten) fortgesetzt werden sollte. Das würde, war zur Beruhigung hinzugefügt, auf der Basis von „Vereinbarungen“ erfolgen. Mit Ausnahme dieses Lapsus war der „ Konzeption“ nicht so recht anzusehen, welches Ziel – außer dem Bemühen, sich als Institution darzustellen, die auch in einem demokratischen Staat „normal“ sei – mit der Reorganisation tatsächlich verfolgt wurde. Deutlich war, daß das AfNS gar nicht daran dachte, auf exekutive Befugnisse zu verzichten, 157 und insofern den Charakter einer Geheimpolizei behalten wollte. Noch sehr viel aufschlußreicher waren in dieser Beziehung die ergänzten Versionen, die – er st nach der Bestätigung durch die zuständigen Staatsorgane – am 3. bzw. 4. Dezem ber der ratung m. Leitern d. BÄ“ 3.12.89; BStU, ZA, ZAIG 7528, Bl. 9–24. 154 „Vorläufige Grundsätze für Aufgaben und Str ukturen des Amtes für Nationale Sicherheit“, 4.12.1989; BStU, ZA, ZAIG 13962, Bl. 1–38. Zitiert wird aus den Vorlagen für diese Besprechung. Ein Protokoll der Sitzung ist nicht auffindbar. Daß sie tatsächlich stattgefunden hat, ergibt sich aus: Arbe itsbuch Rolf Scheffel; BStU, ZA, SED-KL 652, Bl. 1242–1422, hier 1387–1389; Arbeitsbuch eines leitenden Kaders der HA VIII; BStU, ZA, HA VIII 1616, Bl. 11–18; „ Standpunkt des Sekr etariats der SED-Kreisleitung [...] vorgetragen auf der Kreisleitungssitzung am 4. Dezember 1989“; BStU, ZA, Neiber 89, Bl. 664–675, hier 665. 155 „Konzeption zur Bestimmung...“, 29.11.1989. 156 Ebenda, Bl. 666. 157 „Ermittlungs- und Untersuchungstätigkeit“ wurden zu den künftigen Aufgaben gerechnet.

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MfS-Führungsebene als Neukonzeption präsentiert wurden. Als eine der „grundsätzlichen Aufgaben des Amtes“ war in der „Konzeption“ – ohne weitere Erläuterung – die A ufklärung von „verfassungsfeindlichen Aktivitäten“ genannt w orden. D ie D efinition dieses Begriffes w ar in der damaligen DDR gewiß schw ierig. Beispielhaft genannt w urden N eofaschismus und Antisem itismus. Doch darauf wollten sich Schwanitz und Genossen keineswegs beschränken. In den „Vorläufigen Grundsätzen“, der Version vom 4. Dezember, hieß es erläuternd: „2.2 Abwehr verfassungsfeindlicher Aktivitäten: Allseitige Aufklärung von Kräften in Sammlungsbewegungen/Vereinigungen, von de nen verfassungsfei ndliche Akt ivitäten ausgehen, vor allem deren politische Ziel stellung, Struktur , personellen Zusammensetzung, Pläne, Absichten und Akt ivitäten, m it dem Zi el der Unterbindung bzw. Neutralisierung und Zurückdrängung ihres Einflusses, Herausarbeitung der Inspi ratoren, Organisatoren sowie anderer Führungskräfte, von denen verfassungsfei ndliche Akt ivitäten ausgehen, und deren differenzierte operative Bearbeitung und Kontrolle“.

Als ob das noch nicht genügt hätte, wurde zudem gefordert: „Nutzung der operativen Möglichkeiten zur Eingrenzung bzw. Verhinderung des Mißbrauchs der Ki rchen zur Du rchführung verfassungsfeindlicher Aktimlungsbewegunin Sam vitäten durch fei ndliche Kräft e gen/Vereinigungen.“ 158

Das war ein Program m zur Fortsetzung von Unterdrückung und Manipulation – soweit das noch in der Macht dieser G eneräle stand – mit dem Unterschied, daß früher von „ feindlich-negativen Kräften“ und nun von „verfassungsfeindlichen A ktivitäten“ die Rede w ar. Es überrascht nicht, daß die Vorlage für diese Form ulierungen von der Hauptabteilung XX geliefert worden war. 159 Die Abkehr von der „ verfehlten Sicherheitsdoktrin“ Mielkes, die am 21. N ovember postuliert w orden w ar, hatte nicht lange vorgehalten. Zwar hatte Schwanitz etwa zur gleichen Zeit, am 29. November, eine lange Reihe von dienstlichen Bestim mungen außer Kraft gesetzt, darunter jene, die sich 158 „Vorläufige Grundsätze“, Bl. 13 f. 159 Die HA XX hatte ein Papier vorgelegt, in de m u. a. vorgeschlagen wurde: „ Aufklärung und Bearbeitung illegaler Strukturen, deren Initiatoren und Organisatoren verfassungsfeindliche Ziele v erfolgen. (Unter Beachtung des Agierens unter dem Dach der Kirche).“ HA XX: „ Vorschlag für den Teil einer neuen Struktur des Amtes für Nationale Sicherheit, die sich aus dem bisherigen Sich erungsgegenstand der Ha uptabteilung XX unter Berücksichtigung der veränderten Lagebe dingungen ergeben“, 24.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 13955, Bl. 95–100, hier 95.

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auf die Bekämpfung von „ politischer Untergrundtätigkeit“ und „ ideologischer Diversion“ bezogen. D ie Liste der außer K raft gesetzten Bestim mungen ist stattlich, sie umfaßt 47 Seiten, jene der „ übergangsweise“ in Kraft bleibenden 21 und die der ohne Einschränkung weiterhin gültigen Dokumente acht Seiten. 160 Wahrscheinlich sollten diese Dienstanweisungen jedoch wenigstens zum Teil nur den neuen V erhältnissen angepaßt umformuliert werden. Schließlich hatte der AfNS-Leiter in seinem Schreiben vom 29. November explizit erklärt, daß die D ienstanweisungen zu den „inoffiziellen Mitarbeitern“ in der DDR und im „Operationsgebiet“ in K raft bleiben würden. Den Leitern der Bezirksäm ter schärfte er in seiner Rede am 3. Dezember ein, darauf zu achten, daß „ kein für die Arbeit des Amtes perspektivvoller IM verlorengeht“. 161 Von ähnlicher Qualität wie die Modifikation des „ Feindbildes“ war ein weiterer „Reformschritt“, von dem sich die AfNS-Generalität besondere Publikumswirksamkeit versprach: die Auflösung der Kreisdienststellen bzw. Kreisämter für Nationale Sicherheit, i n denen etwa 10.500 Mitarbeiter bzw . zwölf Prozent der Hauptamtlichen tätig waren. 162 In der dem M inisterpräsidenten vorgelegten „ Konzeption“ war von der „Auflösung der Kreisämter“ die Rede, deren Mitarbeiter bei der „ Eingliederung in den A rbeitsprozeß“ unterstützt werden müßten. Allerdings pl ane man, „in großen Städten bzw. für 3 bis 5 Kreise Außenstellen der Bezirksämter für Nationale Sicherheit zu schaffen“. In de r „Medienarbeit“ des A fNS habe die A uflösung der K reisämter „ einen besonderen Stellenw ert“. 163 Als Schwanitz am 3. Dezember den Leitern der Bezirksäm ter das V orhaben bekanntgab, erläuterte er den Zweck von Öffentlichkeitsarbeit an diesem Beispiel: „Die Auflösung der Kreisäm ter für Nationale Sicherheit könnte ein deutliches Zei chen set zen, daß das Am t fü r Nationale Si cherheit konsequent den Weg der revolutionären Erneuerung des Sozialismus in der DDR mitgestaltet und unterstützt, bereit ist, Kräfte des ehemaligen MfS radikal abzubauen. Das dürfte m it hoher W ahrscheinlichkeit zu ei ner spürbaren Verri ngerung von Angriffen bestimmter Kräfte auf diesem Gebiet führen.“ 164

Seine Zuhörer aus den Bezirksämtern wußten, wie dieses „Zeichen“ zu deuten war, denn zuvor hatte der Redner ganz andere G ründe für die Notwen160 Schreiben der Leiter des AfNS an die Leiter der Diensteinheiten vom 29.11.1989 zur „Reduzierung des Bestandes der dienstlichen Bestimmungen und Weisungen des MfS auf den für die Arbeit des Amtes für Nationale Sicherheit erforderlichen Mindestbestand“; BStU, ZA, DSt 103647. 161 „Zu einigen ausgewählten Aspekten der Lage“, handschriftl. Vermerk „Beratung mit Leitern d. BÄ 3.12.89“; BStU, ZA, ZAIG 7528, Bl. 25–39, hier 33. 162 Kaderbestand 31.10.1989; BStU, ZA, HA KuSch (unerschlossenes Material), Bündel Plg. 10 (3). 163 „Konzeption“ 29.11.89, Bl. 657 u. 667. 164 „Aufgaben und Struktur“, Bl. 23.

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digkeit einer A uflösung der K reisämter genannt: „ Die Erhöhung der Konspiration und G eheimhaltung erfordert gerade auf K reisebene einen radikalen Abbau der ‚institutionellen‘ und personellen Präsenz des ehemaligen MfS.“ 165 Auf Kreisebene sollte auch weiterhin „ eigenständige agenturische Arbeit zur Abwehr“ durchgeführt werden, allerdings mit einem Sechstel der bisherigen Diensteinheiten und einem um über die H älfte verringertem Personalbestand. 166 Zu denken sei besonders „an Aufgaben der Gewährleistung der inneren Sicherheit bezogen auf ehem alige A ngehörige und die inoffizielle Basis“ . Dabei wurden die neuen politischen Bedingungen nicht vergessen. Die „agenturische Arbeit“ auf K reisebene diene der „ Unterstützung von Maßnahmen der allseitigen Aufklärung von Kräften in Sam mlungsbewegungen/Vereinigungen, von denen verfassungsfeindliche Aktivitäten ausgehen, sowie der Abwehr neofasch istischer und antisem itischer Handlungen“, aber auch der „ Aufklärung und V erhinderung verfassungsfeindlicher Aktivitäten [...] an Hochschulen, Universitäten, Forschungseinrichtungen usw.“ Was war das Ziel dieser Manöver? Es ging Schwanitz offenkundig vorrangig um das Ü berleben des A mtes unter schwierigen äußeren Bedingungen durch quantitative Reduktion und vordergründige Zugeständnisse. Man fragt sich, an w elchem Leitbild er sich darüber hinaus orientierte. D as läßt sich nur thesenhaft beantw orten. Wahrscheinlich w ar – obw ohl darauf explizit an keiner Stelle Bezug genom men wird – der K GB ein Vorbild, da er die Perestroika bis Ende 1989 gerade deshalb unbeschadet überstanden hatte, weil er die sowjetische „ Wende“ unterstützte, soweit die eigenen institutionellen Interessen nicht gefährdet wurden. 167

9.4 Personalabbau und „soziale Sicherstellung“ Es hat einige Zeit gedauert, ehe sich die Leitung des A fNS dazu durchgerungen hat, eine Reduktion des Personalbestandes um die H älfte vorzuschlagen. Diese Entwicklung soll zurückverfolgt und es sollen die Überlegungen skizziert werden, die m an dazu anstellte, wie Mitarbeitern der Abgang erleichtert werden könnte. Beides war für das Betriebsklim a in der Staatssicherheit und dam it für ihre Integrationsfähigkeit von erheblicher Bedeutung. Darüber m achte m an sich große Sorgen. Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe betrachtete die eigenen Mitarbeiter inzw ischen als akutes Sicherheitsrisiko: 165 Ebenda, Bl. 13. 166 Zahlenangabe aus „Zur Erläuterung im Kolle gium – 28.11.89“, Bl. 345. In den späteren Vorlagen wurden für die Kreisebene keine Zahlen mehr genannt. 167 Vgl. Andrew u. Gordiewsky: KGB (1990), S. 781 f.; von Borcke: Der KGB in der sowjetischen Außen- und Sicherheitspolitik (1992), S. 37 f.

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„Wäre keine geordnete Überführung/Umprofilierung zu gewährleisten, würde das zu nicht absehbaren politisch en Erschütterungen und Verunsicherungen im Mitarb eiterbestand fü hren. Es wü rde u nweigerlich zu einer politischen Vertrauenskrise großer Tei le der Angehörigen des M fS zur Part ei und ihrer Führung sowie zum Staatssicherheitsorgan kommen. [...] Es muß damit gerechnet werden, daß ei ne R eihe von M itarbeitern Ordnung und Disziplin verletzt und die innere Sicherheit gefährdet. Es ist in Betracht zu ziehen, daß Mitarbeiter i n i hrer R atlosigkeit und Konfliktsituation Verrat üben und geheimzuhaltende Inform ationen prei sgeben, di e von verfassungsfei ndlichen und anderen Kräften genutzt werden könnten, um Partei und Staat einen großen politischen Schaden zuzufügen.“ 168

Um diese Risiken zu m indern, wurden für die Freisetzung von Mitarbeitern verschiedene Varianten angedacht und zum Teil auch bereits in A ngriff genommen. G estaffelt nach der H ärte der U mstellung, die den Betreffenden zuzumuten war, handelte es sich um: – Auslagerung ganzer Diensteinheiten in andere Ministerien; – Versetzung einzelner Mitarbeiter; – Beendigung der Verbindung zu vom Dienst freigestellten oder (meist konspirativ) delegierten Mitarbeitern; – Invalidisierung oder Verrentung; – Entlassung. Daß es überhaupt zu einem Personalabbau kom men w ürde, schien spätestens im Zusammenhang mit der Regierungsumbildung evident. 169 Das MfSKollegium kündigte am 15. Novem ber in der „ Erklärung“ zur Um profilierung des Amtes an: „Aus der Neubestim mung der Aufgab en und Verantwortlichkeiten ergibt sich [...] , daß eine Reihe bisher realisierter Aufgaben künftig nicht m ehr wahrgenommen werden. [...] Daraus ergi bt sich, daß einige Diensteinheiten bzw. Teilbereiche dieser Di ensteinheiten aufgel öst werden, verbunden m it einer erheblichen Reduzierung des Kaderbestandes sowie der fi nanziellen, materiellen und operativ-technischen Mittel und Fonds.“ 170

Um welche Diensteinheiten es sich handeln würde, wurde nicht gesagt; Zahlen w urden nicht genannt. 171 A uch in einer „ Persönlichen Erklärung“ , m it 168 „Hinweise“ für die Erklärung des Kollegiums; BStU, ZA, ZAIG 7582, Bl. 158–187, hier 160. 169 Der Leiter der Hauptabteilung Kader und Schulung, Möller, erwartete, daß im Staatsapparat insgesamt 230.000 Stellen abgebaut werden würden. In diesem Zusammenhang präsentierte er am 13.11.1989 einen ersten En twurf zur organisatorischen Vorbereitung für die Überstellung von Mitarbeitern in den zivilen Bereich. Vgl. „ Vorschlag“ von Generalleutnant Möller für die Leitung des MfS; BStU, ZA, HA XVIII Ltg. 3334, Bl. 1–3. 170 „Erklärung des Kollegiums des Ministeriums für Staatssicherheit (15. November 1989)“; BStU, ZA, SdM 627, Bl. 67–77, hier 72. 171 In einer ZAIG-Vorlage für diese Sitzung hatte es noch geheißen, man plane „ 4.000 bis

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der sich der neue Amtsleiter an alle Mitarbeiter wandte, wurde „ die Frage nach der weiteren Perspektive der [MfS-]Angehörigen“ zwar erwähnt, blieb jedoch offen. 172 Erst in einem Interview m it dem „ Neuen D eutschland“ antwortete Schwanitz auf die Frage, ob der Sicherheitsapparat nicht doch sehr groß sei: „ So sehe ich das auch. Wir w erden das Amt um etwa 8.000 Mitarbeiter reduzieren.“ 173 Da er die Gesamtzahl nicht nannte, sollte das als beachtliche Reduktion erscheinen. Es war wenig, aber für die 91.015 hauptamtlichen Mitarbeiter bedeutete es eine enorm e Verunsicherung. Tatsächlich war diese Zahl bereits eine Woche später veraltet. In der „ Konzeption“ zur Umstrukturierung des AfNS von Ende N ovember wurde als Richtgröße für die künftige Anzahl hauptam tlicher Mitarbeiter 43.000 genannt. 174 Das bedeutete die Freisetzung von etwa 48.000 MfS-Angehörigen, die freilich bei weitem nicht alle entlassen werden sollten, sondern denen neue Beschäftigungsmöglichkeiten vermittelt werden sollten. Auf zentraler Ebene war für diese Probleme die „Kommission zur kadermäßigen Sicherstellung“ unter Leitung von O berst Günter Schmidt zuständig, einem stellvertretenden Leiter der Hauptabteilung Kader und Schulung. 175 Unterstützt wurde die K ommission durch einen „Führungsstab zur Beendigung des Dienstes im AfNS“, Leiter: Oberst Günter Ganßauge, ebenfalls stellvertretender Hauptabteilungsleiter. D azu kam en unter Führung hochrangiger O ffiziere derselben A bteilung m ehrere A rbeitsgruppen, aus deren Bezeichnung auf ihr jeweiliges Aufgabenfeld zu schließen ist: „Wiedereingliederung in zivile Bereiche“ , „Überführung in bewaffnete Organe“ und „ Eingliederung und U mlenkung für Studenten“ . 176 Dabei war „d arauf [zu] achten, daß nicht die gesamten Leistungsträger aus dem Amt wollen“. 177 Eigeninitiative sei nicht gefragt, erklärte Möller in einem Schreiben: „Zu verhindern ist, daß A ngehörige selbständig auf A rbeitssuche gehen bzw. durch D ienstvorgesetzte geschickt w erden.“ 178 Wie schnell sich die Lage

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5.000 [MfS-]Angehörige freizusetzen“. Di ese Prognose mochte man offenkundig nicht übernehmen. Vgl. „ Hinweise“ [Entwurf der Erklärung vom 15.11.1989] ; BStU, ZA, ZAIG 7582, Bl. 158–187, hier 161. Schreiben von Schwanitz an die Leiter der Diensteinheiten vom 19.11.1989; BStU, ZA, DSt 103644. Interview in: Neues Deutschland 23.11.1989. „Konzeption zur Bestimmung der grundsätzlichen Aufgaben und Struktur des Amtes für Nationale Sicherheit“ vom 29.11.1989; BStU, ZA, SdM 2289, Bl. 655–667, hier 658. Vgl. Schreiben des Leiters des AfNS an die Leiter der Diensteinheiten vom 18.11.1989; BStU, ZA, DSt 103643. Vgl. Schreiben des Leiters der HA KuSch, Möller, an die Leiter der Kaderorgane vom 24.11.1989, 6 S.; BStU, ZA, HA KuSch, Kader 6, Bündel 9 (o. Pag.); vgl. auch M[anfred] Rammelt, Leiter der Abt. Parteiorgane in de r SED-Kreisleitung: „Übersicht über die Arbeit von Kommissionen zur neuen Struktur des Amtes sowie über Arbeitsgruppen, die sich mit sozial en und dienstlichen Problemen befassen“, o. D.; BStU, ZA, SED-KL 594, Bl. 550–552. „Beratung [des] Leiter[s] der Hauptabteilung [XVIII] mit den Leitern der Abteilun gen Kader und Schulung der Bezirksverwaltungen am 24.11.1989“; BStU, ZA, HA KuSch 260, Bl. 122–126, hier 123. Schreiben des Leiters der H A K uSch, M öller, a n d ie L eiter d er K aderorgane v om

zuspitzte, ist daran abzulesen, daß der AfNS-Kaderleiter wenige Tage später

24.11.1989, S. 5 (MfS-Paginierung).

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als neue Devise ausgab: „Wenn ein G enosse kommt, der eine konkrete A rbeitsstelle im Auge hat, soll man ihn das wahrnehmen lassen.“ 179 Die Auslagerung ganzer D iensteinheiten unter die Obhut anderer Ministerien w äre die verträglichste V ariante einer Personalreduktion gew esen. Oberst Schm idt hatte sie in einem früheren Papier vorgeschlagen. 180 Das setzte jedoch eine Restrukturierung des Staatsapparates voraus, die einige Zeit in A nspruch nehmen w ürde. V orerst ging es um die Umsetzung einer größeren Menge e inzelner Mitarbeiter. V on Bedeutung war die geplante Verlagerung der Mitarbeiter der Linie V I (Paßkontrolle), die durch die Maueröffnung w eitgehend überflüssig gew orden w aren und bis Ende des Jahres zum Zoll gehen sollten. 7.000 MfS-Angehörige würden übernommen werden, hörte man von dort, allerdings nur, wenn sie bald kämen, sonst würde sich die Zollverwaltung Kräfte aus anderen Bereichen suchen. 181 Aus dem Justizministerium kamen widersprüchliche Signale. G emeldet wurde, es gebe Bedarf an Diplomjuristen. Das Diplom der „Juristischen Hochschule“ des MfS w erde jedoch nicht anerkannt: D er „ Abschluß m uß an zivilen H ochschulen erfolgt sein“! 182 Dann mußte Oberst Ganßauge, der Leiter des Führungsstabes, auch noch berichten, daß generell „ kein Interesse am Einsatz ehemaliger Mitarbeiter des M fS als Staatsanwälte und Richter besteht, hierzu gibt es erheblichen Widerstand im Ministerium für Justiz“. 183 Auch bei der Volkspolizei, die dem Innenministerium unterstand, war die Bereitschaft gering, ausscheidende MfS-Angehörige zu übernehmen, wurde aus den Bezirken berichtet: Dort wolle man erst einmal die eigenen Leute unterbringen, die nach der Auflösung der Politorgane eine neue Aufgabe suchten. 184 Das war gew iß ein vorgeschobenes A rgument, ging die Volkspolizei in jenen Tagen doch generell auf D istanz zur Staatssicherheit. Einen Monat später wurde gem eldet, daß vom Ministerium für Innere Angelegenheiten inzwischen eine einzige Mitarbeiterin, eine Sekretärin, übernommen worden war. 43 Bewerber hatte man abgelehnt; 34 befanden sich noch „in Prüfung“. 185 179 Äußerung von Möller in: „ Beratung des Leiters d er HA KuSch mit den Leitern der Abteilungen Kader der Hauptabteilung am 28.11. 1989“; BStU, ZA, HA KuSch 260, Bl. 117–121, hier 117. 180 Stellvertretender Leiter der HA KuSch, Oberst Schmidt: „Vorschläge zur Reduzierung des Personalbestandes des MfS“ vom 14.11.1989; BStU, ZA, HA XVIII Ltg. 3334, Bl. 10 f. 181 Vgl. „Beratung [des] Leiter[s] der Hauptabteilung [XVIII] mit den Leitern der Abteilungen Kader und Schulung der Bezirksverwaltungen am 24.11.1989“; BStU, ZA, HA KuSch 260, Bl. 122–126, hier 123. – Einen M onat später waren der Zollverwaltung Berlin insgesamt 2.966 Einstellungsvorschläge übergeben worden, jedoch erst 451 MfSAngehörige „ eingestellt bzw. zur Einstellung bestätigt“. A rbeitsgruppe des Leiters des AfNS: Übersicht ohne Titel vom 3.1.1990; BStU, ZA, Mittig 79, Bl. 98 f. 182 „Hinweise, Empfehlungen für künftige mögliche Arbeitsplätze“; o. D.; BStU, ZA, HA II 490, Bl. 3–5. 183 Redebeitrag in: „Beratung [des] Leiter[s] der Hauptabteilung [XVIII] mit den Leitern der Abteilungen Kader und Schulung der Bezirksverwaltungen am 24.11.1989“, Bl. 125. 184 Redebeiträge der Kaderleiter aus Dresden und Leipzig, in: ebenda, Bl. 123 f. 185 In nachgeordneten Dienststellen der Ostberliner Volkspolizei und bei der Feuerwehr h atte man 17 AfNS-Angehörige übernommen. Vgl. Arbeitsgruppe des Leiters des AfNS: Über-

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So erfolgte die stärkste Personalreduktion in der zw eiten Novemberhälfte nicht durch Umsetzungen, sondern dadurch, daß die D ienstverhältnisse aller MfS-Angehörigen gekündigt wurden, die freigestellt oder andernorts delegiert worden waren. Das betraf erst ens diejenigen, die zum Studium an Ausbildungsstätten des Innenministeriums delegiert worden waren. Sie wurden von dort übernom men. Studenten an zivilen H ochschulen konnten vorerst weiterstudieren. 186 Zweitens wurde von Möller befohlen, all jene MfSMitarbeiter, die in verdeckter Form hauptamtlich tätig waren, abzuschalten: „Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß die Arbeit mit OibE [Offizieren im besonderen Einsatz] und HIM [Hauptamtlichen Inoffiziellen Mitarbeitern], soweit nicht neue aus [si c!] den Aufgaben des Amtes entsprechende operative Erfordernisse entstehen, auf der Grundl age der gel tenden Dokumente zu beenden ist. Ausgenommen davon si nd vorerst Oi bE und HIM der HV A [Hauptverwaltung Aufklärung] sowie der Abt eilungen XV der Bezirksämter für Nationale Sicherheit.“ 187

Die Abteilungen X V waren die bezirklichen Pendants zur H V A in Berlin. Die Ausnahmen betrafen also die Spionageabteilung, deren künftige institutionelle Zuordnung zw ar unklar w ar, an deren Fortexistenz aber niemand zweifelte. 188 Für sie w aren 30 Prozent der insgesam t 2.232 O ibE und ein Drittel der 2.118 Hauptamtlichen Inoffiziellen Mitarbeiter tätig. 189 Die Hauptabteilung Kader und Schulung w ar für das D ienstverhältnis aller OibE im MfS zuständig. 190 Das macht die Bedeutung der Weisung ihres Leiters, Möller, aus. Daß sie auch in die Praxis um gesetzt wurde, ist daran abzulesen, daß noch am gleichen Tag in der H auptabteilung X VIII (Wirtschaft) auf einer D ienstberatung festgelegt w urde, alle K aderdossiers von OibE an die H auptabteilung Kader und Schulung abzugeben. 191 Es war m it sicht ohne Titel vom 3.1.1990; BStU, ZA, Mittig 79, Bl. 98 f. 186 Vgl. Redebeitrag von Oberst Hempel, Leiter des Bereichs Schulung in der HA KuSch, in: ebenda, Bl. 125. – Zu diesem Zeitpunkt waren 467 Mitarbeiter an zivile und 991 an Bildungseinrichtungen der bewaffneten Organe delegiert; vgl. Übersicht der HA KuSch zum Mitarbeiterbestand vom 30.10.1989; BStU, ZA, HA KuSch, Plg. 15 (3), o. Pag. (Für den Hinweis auf dieses Dokument danke ich Jens Gieseke.). 187 Schreiben des Leiters der HA KuSch an die Leiter der Kaderorgane vom 24.11.1989; gez. Möller; 6 S., hier S. 5; BStU, ZA, HA KuSch, Kader 6, Bündel 9. 188 Oberst Schmidt hatte in dem zuvor erwähnt en Papier vorgeschlagen, die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) als „Auslandsnachrichtendienst“ beim Außenministerium anzusiedeln; „Vorschläge zur Reduzierung des Personalbestandes des MfS“ vom 14.11.1989; BStU, ZA, HA XVIII Ltg. 3334, Bl. 11. 189 Berechnet nach der Übersicht der HA KuSch zum Mitarbeiterbestand vom 30.10.1989. 190 Vgl. „Ordnung Nr. 6/86 über die Arbeit mit Offizieren im besonderen Einsatz des Ministeriums für Staatssicherheit – OibE-Ordnung –“; BStU, ZA, DSt 103276. 191 Protokoll einer Beratung des Leiters der HA XV III vom 24.11.1989; gez. Generalleut nant Kleine; BStU, ZA, HA XVIII 433, Bl. 3–6. – Ein Mitarbeiter der HA XVIII/5 (Überwachung von Wissenschaft und Technik) notiert e am 25.11.1989 in seinem A rbeitsbuch: „OibE und HIM aufgelöst.“ Zitiert nach Reinhard Buthmann: Das DDR-Dilemma in Forschung und Hochtechnologie. Das MfS zwischen Anspruch und Wirklichkeit, BStU

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111 solcherart legendierter Offiziere zwar ein quantitativ geringer Teil aller OibE, der jedoch für die D urchdringung des Staatsapparates von ganz besonderer Bedeutung w ar. A uch hier können bei den Entpflichtungen Ausnahmen gem acht worden sein, 192 und zudem bestand die Möglichkeit, sie bei Bedarf zu reaktivieren. 193 Die OibE des „Bereichs Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) unter Leitung von Oberst Schalck-Golodkowski sollten gemäß einem Befehl von Schwanitz ebenfalls aus dem aktiven D ienst entlassen werden. 194 Der Befehl wurde aber nicht in allen Diensteinheiten sofort umgesetzt. In der Abteilung M (Postkontrolle) etw a wurden noch am 29. N ovember Vorkehrungen getroffen, um die Legenden der OibE „zur weiteren Durchführung ihrer konspirativen Tätigkeit in den Einsatzobjekten“ aufrechtzuerhalten. Dam it sie in ihrem beruflichen Um feld nicht auffallen, sollten ihnen künftig Fahrten nach Westberlin gestattet werden. 195 Zur Personalreduktion mußten Entlassungen vorgenom men w erden. A ls mögliche offizielle Gründe wurden genannt: „– zeitliche bzw. dauernde Dienstuntauglichkeit, – Erfüllung der Dienstzeit, – strukturelle Veränderungen, – Übernahme wichtiger staatlicher oder gesellschaftlicher Aufgaben.“ 196

Daß dabei recht großzügig m it dem Sinngehalt dieser Termini und mit den gesetzlichen Vorschriften umgegangen werden sollte, ist daran ablesbar, daß „Konzentrationen auf einen bestim mten Entlassungsgrund“ zu verm eiden seien. 197 Erleichtert wurde der Schritt in die Rente durch „Übergangsbeihilfen“, gestaffelt nach Länge der D ienstzeit und D ienstgrad, m eist in Höhe von einigen tausend Mark. Hinsichtlich der Diensttauglichkeit der Generalität fertigte der Leiter des 1998, unveröfftl. Ms. (Druck in Vorb.), S. 46. 192 Harry Möbis könnte als Staatssekretär eine so lche Ausnahme gewesen sein, denn bei besonders hochrangigen OibE war gemäß de r „ OibE-Ordnung“ dem Minister die Entlassung vorbehalten. 193 Entpflichtungsanträge einzelner OibE hat es schon zuvor gegeben. So schrieb etwa ein der HA XVIII/13 (Überwachung der Che mischen Industrie) zugeordneter Oberleutnant am 21.11.1989: „In Anerkennung der gegenwärtig komplizierten Lage in der DDR bitte ich um Entlassung aus dem aktiven Dienst im Ministerium für Staatssicherheit. [...] Ich versichere bei Bedarf j ederzeit wieder mitzuwirken bei der Lösung sicherheitspolitischer Aufgabenstellungen.“ BStU, ZA, HA XVIII 4574, Bl. 141. 194 Vgl. „Aussprachevermerk“ des Leiters der HA KuSch, Möller, mit Schalck und seinem Stellvertreter Oberst Manfred Seidel vom 27.11.1989; dokumentiert in: Deutscher Bu ndestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 1, S. 1663. 195 Abt. M/3: „ Reiseregelung für OibE“ vom 29.11.1989, bestätigt von Generalmajor Strobel, dem Leiter der Abt. M; BStU, ZA, Abt. M 659, Bl. 2. 196 HA KuSch, AKG: „ Maßnahmen zur sozialen Sicherstellung in der Erklärung des Kollegiums des MfS gestellter Aufgaben“; BStU, ZA, HA IX 1537, Bl. 114–120, hier 114. 197 Ebenda.

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Zentralen Medizinischen Dienstes des MfS, Generalmajor Klein, eine Übersicht. Offenbar hatte Schwanitz unm ittelbar nach seinem Amtsantritt den Auftrag dazu erteilt. Das Bild, das der als kom petenter Mediziner geltende Prof. Dr. sc. med. Klein auf Basis seiner Krankheitsunterlagen vom Zustand der MfS-Spitze zeichnete, w ar düster: Von insgesamt 47 Führungskadern sei nur ein knappes Viertel (elf Generäle) mit einem Durchschnittsalter von 59,7 Jahren „ nicht zu invalidisieren“, zw ei Fünftel (18) jedoch (D urchschnittsalter 61,3 Jahre) seien zu invalidisieren und auf ebenso viele treffe dieses Kriterium „bedingt“ zu. Letztere Gruppe, deren Durchschnittsalter 60 Jahre war, enthielt die Grenzfälle, die m an so oder auch anders beurteilen konnte. 198 N eben einer ungesunden Lebensw eise kam darin die Überalterung der MfS-Spitze zum Ausdruck. Auch ihre physische Verfassung dürfte die Versuchung erheblich gedäm pft haben, doch noch die Initiative zu ergreifen, um die politische Entwicklung gewaltsam umzukehren. Den größeren Teil des nicht m ehr benötigten MfS-Personals w ürde man entlassen müssen. Um ihnen die Stellensuche zu erleichtern, w urde daran festgehalten, ihre Entlassungspapiere zu fälschen, indem als bisheriger Arbeitgeber das Ministerium des Innern (MdI) genannt wurde. Dieses Ministerium hatte dagegen bereits protestiert, trotzdem sollte – so Kaderchef Möller – schon aus technischen Gründen an dem Verfahren festgehalten werden: Es könnten in kurzer Zeit nicht Zehntausende neue Sozialversicherungsausweise gefertigt werden. 199 Zumindest eine Diensteinheit war in dieser Beziehung bereits w eiter. In der Hauptabteilung XVIII ( Wirtschaft) w ar a ngewiesen worden, für ausscheidende Mitarbeiter „ legendierte Nachweise von zivilen Arbeitsstellen zu schaffen, um bei Bew erbungen nicht als Angehöriger des MdI oder MfS in Erscheinung treten zu müssen“. 200 Die H auptabteilung K ader und Schulung begann die Funktionen eines Arbeitsamtes w ahrzunehmen. D ie „Arbeitsgruppe zur Wiedereingliederung in eine zivilberufliche Tätigkeit“ – berichtete ihr Leiter, Major Carlsohn, bei einer Dienstbesprechung – hatte „ Direktbeziehungen aufgenommen [...] zu Kaderleitern der Großbetriebe und Einrichtungen“. Dabei hätten sie „großes Entgegenkommen gespürt“. 201 Da viele dieser K aderleiter ein lange eingespieltes offizielles oder auch inoffizielles Verhältnis zum MfS hatten, gab es ein Fundament, auf dem gebaut werden konnte. Allerdings waren diese Beziehungen nicht repräsentativ für die Einstellung der jeweiligen Belegschaften. Obwohl es in der DDR damals keine Arbeitslosigkeit gab, im Gegenteil 198 Leiter des ZMD, Generalmajor Klein: „Vermerk“ vom 21.11.1989; BStU, ZA, HA KuSch (unerschlossenes Material), Plg. Bündel 7; eigene Berechnung. Prof. Klaus-Wolfgang Klein selbst feierte zwei Tage später seinen 56. Geburtstag. 199 Vgl. „Beratung des Leiters der HA KuSch mit den Leitern der Abtei lungen Kader der Hauptabteilung am 28.11.1989“; BStU, ZA, HA KuSch 260, Bl. 117–121, hier 119. 200 „Protokoll über die Beratung zu den gegenwärtigen Kaderveränderungen im Bestand der Hauptabteilung XVIII“ vom 22.11.1989; BStU, ZA, HA XVIII 4601, Bl. 9 f. 201 Vgl. „Beratung des Leiters der HA KuSch mit den Leitern der Abteilungen Kader der Hauptabteilung am 28.11.1989“; BStU, ZA, HA KuSch 260, Bl. 117–121, hier 118.

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Arbeitskräfte rar w aren, gestaltete sich der Ü bergang in den zivilen A rbeitsprozeß zunehm end schw ierig: Bei Bew erbungsgesprächen w urde ein Dienstzeugnis verlangt. 202 In kleineren O rten, w o die Ex-Tschekisten bekannt waren, weigerten sich manche Betriebskollektive, sie als K ollegen zu akzeptieren. Auf der anderen Seite gab es bei vielen Stasi-Offizieren eine ausgesprochene Schwellenangst vor dem Verlassen des Amtes. Es sei, klagte ein Mitarbeiter des Zentralen O perativstabes, „ erniedrigend, w as sich unsere Genossen anhören m üssen, w enn sie draußen im zivilen Sektor anfangen wollen oder anfangen müssen“. 203 Ein anderer schilderte seine Em pfindungen mit den Worten: „Nach Verlassen des Organs si nd unsere Genossen al s ‚M fS-Facharbeiter‘ gezwungen, als Bittsteller um Integration in unsere Gesellschaft von Tür zu Tür zu gehen. Ein Großteil erlebt einen sozialen Abstieg und hat das Gefühl als ‚Prügelknabe der Nation‘ herzuhalten.“ 204

Der Kaderleiter des Bezirksamtes Karl-Marx-Stadt berichtete auf einer Dienstbesprechung im O stberliner A mt: D ie „ Mitarbeiter sperren sich, die Ämter zu verlassen, sie sind in den K reisen bekannt“. 205 Das war noch vorsichtig formuliert. Am Vortag war in seinem Bezirksamt berichtet worden, es gebe Mitarbeiter, die erklärten: „Ich bin bekannt w ie ein ‚bunter Hund‘, mir bleibt nichts anderes übrig, als m ich aufzuhängen, w enn es heißt, ich muß in die Volkswirtschaft.“ 206 Die ZAIG berichtete zur gleichen Zeit, es lägen „ aus den Bezirken Rostock, Erfurt und aus der H auptstadt der D DR erste H inweise vor, w onach Arbeitskollektive eine Einstellung ehem aliger MfS-Mitarbeiter in ihren Betrieben kategorisch ablehnen“ . 207 Es handelte sich um „erste Hinweise“; zu breiten Protesten gegen die Eingliederung von Stasi-Mitarbeitern in die Produktion kam es erst A nfang des Jahres 1990, als eine Regelung bekannt wurde, die seinerzeit konzipiert w orden w ar. D ie MfS-A ngehörigen hatten 202 Vgl. ebenda, Bl. 119. 203 „Protokoll der Delegiertenkonferenz aller Grundorganisationen am 2.12.1989“; BStU, ZA, SED-KL 570, Bl. 867–935, hier 911. 204 Schreiben eines Mitarbeiters des Medizinischen Dienstes an den 1. Sekretär der SEDKreisleitung vom 4.12.1989; BS tU, ZA, SED-KL 652, Bl. 1579 f. Ähnlich „ Anlage zur Resolution der Delegiertenkonferenz der Juristischen H ochschule Potsdam“ vom 4.12.1989; BStU, ZA, SED-KL 594, Bl. 1432 f. 205 Redebeitrag in: „Beratung [des] Leiter[s] der Hauptabteilung [XVIII] mit den Leitern der Abteilungen Kader und Schulung der Bezirksverwaltungen am 24.11.1989“, Bl. 125. 206 Dienstversammlung des BAfNS Karl-Marx- Stadt am 23. 11.1989; BStU, ASt Chemnitz, C AKG 442, Bl. 2–54, hier 32. Vgl. dazu Kap. 9.2. Exkurs: Reaktion in der B ezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt. 207 [ZAIG:] „ Hinweise über die Reaktion der Bevö lkerung auf die 12. Tagung der Volkskammer der DDR [17.–18.11.1989] “ vom 24.11. 1989; BStU, ZA, ZAIG 5351, Bl. 79–87, hier 86.

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bisher Einkommen bezogen, die weit über DDR-Durchschnitt lagen. 208 Um ihnen den Neuanfang zu erleichtern, sollten sie „ Übergangsgebührnisse“ erhalten, durch die ein niedrigeres G ehalt im neuen Beschäftigungsverhältnis auf 80 Prozent des alten N ettolohnes aufgestockt w urde, und das für drei Jahre. 209 Daß dies bei Bekanntwerden das Image der Staatssicherheit weiter verschlechtern würde, war der Generalität bewußt. In „Arbeitsprinzipien“ zu der Regelung heißt es: „Die An gehörigen sin d zu b elehren, d aß sie hinsichtlich der durch das Amt für Nat ionale Si cherheit nach der Ent lassung gewährt en großzügigen sozialen Leistungen in der Öffentlichkeit strengstes Stillschweigen zu wahren haben.“ 210

Tatsächlich w urde die K onspiration nur einige Wochen durchgehalten. Dann drang das Vorhaben nach außen und trug zur weiteren Eskalation bei. Zu den Methoden einer Erleichterung des Starts ins Zivilleben gehörte auch, Teile des MfS zu kom merzialisieren. Erstmals dokumentiert sind solche Überlegungen wohl nicht zufällig aus der für die Wirtschaft zuständigen Hauptabteilung XVIII. Der Leiter der dort für die Restrukturierung zuständigen K ommission, O berst Pulow , m achte den Vorschlag, die „Schaffung von volkswirtschaftlichen Einrichtungen (VEB [Volkseigene Betriebe], PGH [Produktionsgenossenschaften des Ha ndwerks] u. a.) mit abzubauenden Fonds des A mtes und vorrangige[r] Einstellung von ehemaligen Mitarbeitern“ zu prüfen. 211 Außerdem wurde darüber nachgedacht, die Sicherheitsüberprüfungen – mit denen gerade diese A bteilung zur inneren Lähm ung der DDR-Wirtschaft beigetragen hatte – auf eine neue Basis zu stellen: „Durchführung auf A ntrag und gegebenenfalls gegen Bezahlung von Ü berprüfung zur Zuverlässigkeit von Kadern im Hinblick auf ihre politische und charakterliche Integrität“. Um die umstürzende Idee zu unterm auern, diesen Teil der Stasi als Wirtschaftsunternehmen zu führen, w urde auf die „Aufgaben solcher Bereiche in der BRD“ verwiesen, bis hin zu „privatwirtschaftlichen Schutzinstituten“. Vorsichtig wurde eingeräum t, es handle sich um einen „nicht ganz glücklichen Vergleich“. 212 208 Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS (1995), S. 58–62. 209 Das galt ab einem Dienstalter über acht Jahre; bei kürzerer Dienstzeit wurde nicht so lange gezahlt; vgl. Schreiben des Leiters des AfNS an die Leiter der Diensteinheiten vom 23.11.1989 mit Anlage 2: HA KuSch AKG, „1. Ergänzung zu den ‚Maßnahmen zur sozialen Sicherstellung in der Erklärung des Kollegiums des MfS gestellter Aufgaben‘ vom 18.11.1989“; BStU, ZA, HA XXII 5478, Bl. 83–92, hier 91. 210 Schreiben des Leiters der HA KuSch an die Leiter der Kaderorgane vom 24.11.1989; gez. Möller; 6 S., hier S. 5; BStU, ZA, HA KuSch, Kader 6, Bündel 9. 211 „Protokoll über die Beratung zu den gegenwärtigen Kaderveränderungen im Bestand der Hauptabteilung XVIII“ vom 22.11.1989; BStU, ZA, HA XVIII 4601, Bl. 9 f. 212 Hv. – W. S. Das undatierte Papier ist betitelt „ Aufgaben und Struktur zum Schutz der Volkswirtschaft“ und faßt Diskussionsergebnisse der Restrukturierungskommission in der HA XVIII zusammen; BStU, ZA, HA XVIII 433, Bl. 9–14, hier 11 u. 13.

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Der Leiter der Hauptabteilung Kader und Schulung, der w ichtigste Mann in Personalfragen, kam am 28. N ovember m it einer H iobsbotschaft, die er als „interne Voraborientierung“ bezeichnete, in eine Beratung: Es sei, anders als bisher gedacht, „von einer Reduzierung von m indestens 50 % auszugehen“. Nun mußte man auch unorthodoxe Überlegungen anstellen: „Zur Zeit wird geprüft, und Ent scheidungen sind in den nächst en Tagen zu erwarten, wie und auf welchem Wege ganze Dienstleistungsbereiche mit dem kompletten Kaderbestand im zivilen Sekt or angesiedelt werden können. [...] Das betrifft unter anderem Vorschläge und H inweise zu Fotolabors, Wäschereien, Werkstätten. Bis vor Weihnachten sollte hier Klarheit geschaffen werden. Die Mitarbeiter müssen spüren, daß wi r alles unternehmen, um zu hel fen.“ 213

In operativen Diensteinheiten wurden ähnliche Überlegungen angestellt. So wurden in der Hauptabteilung II (Spionageabwehr) Pläne entwickelt, Dienstwagen an ausscheidende Mitarbeiter zu verkaufen, um ihnen die Einrichtung von Taxiunternehmen zu erm öglichen. Andere sollten bei der „ Gründung s pezieller Unternehmen und Geschäfte“ unterstützt werden, wobei die Gewerbe zum Teil an bisher genutzte Fertigkeiten anknüpften. Genannt wurden: Fotolabor, Schlüsseldienst, Kfz-Werkstatt, Gaststätte im Objekt, Bauhandwerk, Schreibbüro, aber auch eine Gärtnerei m it Gemüseproduktion. 214 Von der Form her ähnlich, seinem G ehalt nach aber anderen Charakter hatte ein Vorhaben, das zur gleichen Zeit in der H auptverwaltung A ufklärung (HV A) ersonnen w urde. Dort wurde zwar kein radikaler Stellenabbau befürchtet, aber doch erhebliche Schw ierigkeiten bei der Sicherung der DDR-Basis ihrer Spionageaktivitäten. D eshalb w urde vorgeschlagen, die regionalen Untergliederungen der H V A, die Abteilungen XV, aus den zunehmend gefährdeten Bezirksämtern auszugliedern und nur noch zentral anzuleiten. Um die Geheimhaltung weiter zu verbessern, w urde auch hier ein Übergang in die Privatwirtschaft ins Visier genommen: „Gleichzeitig sollte jedoch begonnen we rden, parallel zu den Entwicklungen im Innern der DDR sch rittweise den Mitarbeiterbestand in die Konspiration zu überführen (z. B. Gründung von Fi rmen, Büros) und dabei möglicherweise eine weitere Dezentralisierung vorzunehmen.“ 215

213 „Beratung des Leiter der HA KuSch mit den Leitern der Abteilungen Kader der Hauptabteilung am 28.11.1989“; BStU, ZA, HA KuSch 260, Bl. 117–121, hier 117 f. 214 Konzeptpapier aus der HA II vom 29. 11.1989, überschrieben mit „Personalabbau/Soziale Sicherung“; BStU, ZA, HA II 585, Bl. 144–146. 215 HV A, AG XV/BV, Oberst Eber t: „Vorschlag für die Organisierung der Aufklärungsarbeit in den Territorien“ vom 22.11.1989; BS tU, ASt Gera, Abt. XV 142/3, Bl. 7–13,

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hier 13.

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Der Personalbestand des AfNS verringerte sich bis Anfang Dezem ber 1989 um etwa 6.000 Mitarbeiter. 216 Ganz überwiegend handelte es sich dabei um die Entpflichtung jener hauptam tlichen Mitarbeiter, die aus dem einen oder anderen G rund keinen aktuellen D ienst mehr in der Staatssicherheit zu erfüllen hatten. Echte Entlassungen bildeten noch eine Minderheit. Die Auflösung des Apparates hatte kaum begonnen.

9.5 Beginn der Aktenvernichtung Eine Frage, die in jenen Wochen in der Staatssicherheit sicherlich heftig debattiert worden ist, war der weitere Umgang mit den riesigen Aktenbergen, die in den vier Jahrzehnten zuvor angesam melt worden waren. Sich ihrer zu entledigen mochte naheliegend scheinen, mußte aus der Sicht der StasiGeneralität aber ein in hohem Maße am bivalentes Manöver sein. Erstens setzte der Beginn der V ernichtung das Eingeständnis einer Niederlage voraus: N ur unter der Perspektiv e, daß sich die Gegenseite der Archive und Aktenablagen bem ächtigen könnte, w urde ihre V ernichtung zum Them a. Zweitens steckte in diesen A kten sehr viel vergangene „ Arbeit“. Deren Resultate auszulöschen würde ihre Produzenten wahrscheinlich dem oralisieren. Und drittens beraubten sie sich da mit ihres wichtigsten Instrum ents für künftige Tätigkeit, denn gerade für die Staatssicherheit galt: In Akten geronnenes Wissen war Macht. Aus diesen Gründen ist es eher verwunderlich, daß der Entschluß zur Vernichtung gefaßt wurde. 217 Erste Anzeichen dafür hatte ein Schreiben Mielkes an die Leiter der Diensteinheiten vom 31. Oktober enthalten. Das war jener Tag, an dem sich das SED-Politbüro nicht dazu entschließen konnte, einem Vorschlag der Sicherheitsbürokraten zu folgen und eventuell auch den A usnahmezustand auszurufen, um wieder Herr der Lage zu werden. Es ging in Mielkes Schreiben darum, ein Eindringen von D emonstranten in die Dienstobjekte zu verhindern. A ls besonders gefährdet galten die über 200 K reis- und O bjekt216 Die überlieferten handschriftlichen Übersich ten widersprechen sich zum Teil; vgl. Übersicht der HA KuSch zum Mitarbeiterbestand vom 30.10.1989; HA KuSch: „ Kaderbestand am 30.11.1989“, o. D.; HA KuSch, Ab t. Planung: „ Stand der Auflösung des ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit“ vom 3.1.1990; alle: BStU, ZA, HA KuSch, Plg. 15 (3), o. Pag. 217 Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit Polen, wo wenige Mo nate zuvor die gleiche Entscheidung anstand. Ein Major von der tschechoslowakischen Staatssicherheit berichtete einem MfS-Kollegen dazu folgendes: „ Die Schutz- und Sicherheitsorgane [in Polen] haben die Weisung erhalten, alle Unterlagen über Solidarno zu vernichten. Dies führe nu r bei den älteren Angehörigen der Sicherheitskräfte zu Unverständnis, die j üngere Generation sieht das als normal an und erklärt sich mit den Zielen von Solidarno identisch.“ HA I/Kommando Grenztrup pen: „Information über das Ergebnis der Beratung des Grenzbevollmächtigten der SSR, Grenzbriga de Usti, und des Grenzbevollmächtigten der DDR am 25.9.89“; BStU, ZA, HA I 5741, Bl. 5–7.

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dienststellen, die sich in kleineren Städten und G emeinden befanden und vor denen sich seit Mitte Oktober zunehm end demonstrierende Bürger einfanden. D a Schußw affen nicht eingesetzt w erden durften, war Mielke von dem Erfolg dieses Vorhabens wohl nicht völlig überzeugt. Denn er befahl, „die sicherste A ufbewahrung der oper[ ativen] U nterlagen in Stahlblechbzw. Panzerschränken durchzusetzen“. 218 In der darauffolgenden Woche hatte die Dem onstration am Berliner Alexanderplatz stattgefunden, und auch außerhalb Berlins spitzte sich die Lage weiter zu. Das MfS meldete in einem Lagebericht an die SED-Führung: „Fast alle Demonstrationen in den Krei sstädten bewegten sich an den Krei sdienststellen des M fS vorbei. Neben dem Abstellen brennender Kerzen wurden i n der R egel fei ndlich-negative Losungen gegen das M fS vorgetragen. (Zu gewaltsamen Handlungen kam es dabei nicht.)“ 219

Obwohl es bisher nicht zu Gewalttätigkeiten gekom men war, wurde die Situation offenbar als so brisant eingeschätzt, daß in einem weiteren Ministerbefehl w egen „ möglicher G efährdung der D ienstobjekte“ angewiesen wurde, in den Kreisdienststellen dienstliche Bestim mungen zu vernichten. Zeitweilig in die Bezirksverwaltungen für Staatssicherheit zu überführen waren: Personalakten zu inoffiziellen M itarbeitern, Operativen Vorgängen (OV) und Personenkontrollen (O PK) sowie Materialien aus A ktivitäten der Linien M (Postkontrolle), 26 und III (Telefon- bzw. Funküberwachung). 220 Damit w aren vor allem jene U nterlagen benannt, aus denen Rückschlüsse auf das Überwachungssystem möglich gewesen wären. In einer Erläuterung dieses Befehls nannte der Leiter der ZAIG, Generalleutnant Irmler, der zum engeren Kreis um den Minister gehörte, den Zweck dieses Manövers: „Im Mittelpunkt muß dabei der zuverlä ssige Quellenschutz und die Gewährleistung und Geheim haltung spezifischer operativer Mittel und Methoden bzw. Arbeitsergebnisse des MfS stehen. Dazu sind Maßnahmen zur differenzierten Vernichtung bzw. zeitweilig en Auslagerung von Dokumenten der KD/OD [Kreisdienststellen/Objektdienststellen] ent sprechend fol genden Grundsätzen zu realisieren: [...] 2. In die Vernichtung sind solche Dokumente einzubeziehen, die für die künftige politis ch-operative Arbeit [...] keine operative Bedeutung mehr haben.“ 221 218 Schreiben von Mielke an die Leiter der Diensteinheiten vom 31.10.1989; BStU, ZA, DSt 103125, S. 4 (MfS-Paginierung). 219 „1. Lagebericht“ vom 5. 11.1989 mit Begleitschreiben von Armeegeneral Mittig an Krenz; BStU, ZA, ZAIG 8266, Bl. 1–4, hier 3. 220 Schreiben von Mielke an die Leiter der Diensteinheiten vom 6.11.1989; BStU, ZA, DSt 103633. 221 Der Inhalt dieses Schreiben hat die Kreisd ienststellen über die Bezirksverwaltungen er-

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Der letztgenannte Punkt war entscheidend. Bis dahin war nur die Vern ichtung von dienstlichen Bestimmungen angewiesen, alles andere „operative Material“ sollte nur ausgelagert werden. Nun waren „ IM-Berichte“ und „Berichte der POZW [Partner des Operativen Zusa mmenwirkens] vor 3 0.9.89“ e benso in eigener Zuständigkeit zu vernichten w ie „ Informationen, Materialien zu weiteren Personen des Verantwortungsbereiches, [...] wenn aus ihnen keine operative Bedeutsam keit hervorgeht“. 222 A uch über die Wirkung dieser Maßnahmen auf die A ngehörigen der Staatssicherheit hatte sich der ZA IGChef G edanken gem acht. Sie seien „ gründlich zu erläutern, um negative Auswirkungen auf ihre politische Standhaftigkeit auszuschließen“. 223 Die Berufung auf die fehlende „ operative Bedeutsamkeit“ für die künftige Arbeit w ar ein A rgument, das – nachdem die Sache ruchbar gew orden war – gegenüber der Öffentlichkeit im mer wieder bem üht wurde. Es hatte auch intern Bedeutung: D a zum Beispiel unklar w ar, wo die G renze verlief zwischen „Andersdenkenden“, die nicht verfolgt werden sollten, und „Verfassungsfeinden“, die zu observieren und zu bekäm pfen w aren, bot diese Unbestimmtheit den einzelnen Diensteinheiten die Legitim ation für um fassende Vernichtungsaktionen. Für die zentralen Diensteinheiten im Ostberliner Ministerium ist außer der Anweisung, alle A usbildungsunterlagen zu vernichten, 224 ein analoger Befehl nicht nachweisbar. Allem Anschein nach ist er m ündlich erteilt worden, denn auch dort w urde zur gleichen Zeit m it der Bereinigung der A ktenbestände begonnen. D ie A bteilung M (Postkontrolle) w ar am 11. November angew iesen w orden, ihre A rbeit einzustellen; 225 zwei Tage später notierte ein Mitarbeiter in seinem A rbeitsbuch: „ Auswertung Lage: planmäßige Vernichtung der Unterlagen, die auf die gesetzlose Tätigkeit der DE [Diensteinheit] hinweisen [...]; alles was Rückschlüsse auf die Arbeit zuläßt, ist zu vernichten.“ 226 Die Auswertungs- und Kontrollgruppe der Hauptabteilung XX gab die Devise aus, die Zentrale Materialablage (in der die aktuellen Ü berwachungsunterlagen gesam melt w urden) „ zu sichten mit dem Ziel, Berichte der Abt. 26, Abt. M sowie IM-Orginal-Berichte zu vernichten bzw. zu entfernen“ . 227 Kurz darauf gab Oberst Wiegand, Leiter der

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reicht. Formulierungen wurden zum Beispiel in einschlägigen Befehlen der BV-Chefs von Dresden und Rostock wörtlich übernommen. Leiter der ZAIG, Generalleutnant Irmler: „Reduzierung des Bestandes erfaßter und gespeicherter operativ bedeutsamer Informationen sowie vorliegender Einschätzungen der politisch-operativen Lage in den Kreisdienststellen/Objektdienststellen“ vom 13.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 13671, Bl. 1–9, hier 1. Ebenda, Bl. 4. Ebenda, Bl. 1. Befehl der HA Kader und Schulung an die Leiter der Diensteinheiten vom 16.11.1989; BStU, ZA, DSt 103642. Vgl. Protokoll der Dienstbesprechung mit den Leitern der Abteilungen/AG der HA VIII am 11.11.1989; BStU, ZA, HA VIII 1672, Bl. 434–436. Hv. im Orig., Notizen vom 13.11.1989; BStU, ZA, Abt. M 96, Bl. 315. HA XX/AKG: „Festlegungen über das Vernichten von VSH und ZMA“ vom 14.11.1989,

Hauptabteilung XX/4, den Befehl, „ ausgewählte IM-Vorgänge“ zu löschen. 228 Ebenso wurde in der Hauptabteilung XVIII (Wirtschaft) in einer Beratung bei deren Leiter, G eneralleutnant K leine, über die „Vorbereitung einer zentralen Vernichtungsaktion von operativem Material“ gesprochen. 229 Inspirierend hat in dieser Beziehung gew iß die zentrale Dienstbesprechung am 15. November gewirkt. Dort war angekündigt worden, daß neben Dienstanweisungen, die außer K raft gesetzt würden und deshalb vernichtet werden könnten, in den K reis- und Objektdienststellen „demnächst auch eine erhebliche Reduzierung des Bestandes erfaßter und gespeicherter operativ bedeutsamer Informationen sowie vorliegender Einschätzungen der Lage“ begonnen werden sollte. Je nach der örtlichen Situation war nun auch Eigeninitiative erlaubt: „Soweit aus der konkreten Lage heraus bei einzelnen Kreisdienststellen bereits vorher gehandelt w erden muß, hat dies unbedingt zu erfolgen, [es] sind durch die Leiter der Bezirksverw altungen dazu erforderliche Entscheidungen zu treffen.“ 230 Der Leiter der Bezirksverwaltung Rostock, Generalleutnant Mittag, hatte gar nicht so lange gewartet. Bereits am 6. N ovember befahl er, nicht nur in den Kreisdienststellen, sondern auch in der Bezirksverw altung selbst „ Unterlagen, die keinen operativen Wert haben oder deren Wert angesichts der Lageentwicklung an Bedeutung verloren hat, [...] kurzfristig zu entnehm en und zur Vernichtung vorzubereiten.“ 231 In Frankfurt (O der) begann, w ie die Bezirksverw altung berichtete, zur gleichen Zeit die „Aktion ‚Blau‘“: „In Umsetzung der i n der Kol legiumssitzung vom 15.11.1989 angewiesenen Maßnahmen wurde dam it begonnen, i n den Krei sämtern alle nicht mehr benötigten Unterlagen über IM /OV/OPK/ZMA [Inoffizielle Mitarbeiter/Operative Vorgänge/ Operative Personenkont rollen/Zentrale M aterialablage] und VSH-Kartei [Vorverdichtungs-, Sicht- und Hinweis-Kartei] zu vernichten bzw. zu sichern. Sie wurden in Behältnisse (insgesamt ca. 300 bis 500 Säcke) verpackt und zum Abtransport bereitgestellt. Maßnahm en werden bis 10.12.1989 abgeschlossen.“ 232 3 S.; BStU, BF, Information und Dokumentation. 228 Schreiben der HA XX/4 an die Abt. XII vom 29.11.1989; BStU, ZA, Abt. XII 880, Bd. 4, Bl. 77. 229 „Protokoll einer Beratung des Leiters der HA XVIII“ vom 16.11.1989; gez. Kleine; BStU, ZA, HA XVIII 433, Bl. 28 f. 230 Hinweise für Dienstbesprechung am 15.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 8682, Bl. 1–23, hier 13. 231 Schreiben des Leiters der BVfS Rostock an die Leiter der Diensteinheiten vom 6.11.1989; Vermerk: „ persönlich“; BStU, ZA, HV A 519, Bl. 1–3. Vgl. Höffer: „ Der Gegner hat Kraft“ (1997), S. 55 f. 232 „Vorschläge zur Gestaltung de r politisch-operativen Arbeit des Amtes für Nationale Sicherheit im Bezirksamt Frankfurt (O) – Thesen“ vom 20.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 13956, Bl. 1–12, hier 10.

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Solche Aktivitäten gingen weit über das hinaus, was nachweisbar schriftlich angewiesen worden war. Es w ar im Interesse künftiger A rbeitsfähigkeit ursprünglich eine selektive Aktenreduktion geplant gewesen. Trotzdem wurde dieses ausufernde Vorgehen von der Stasi-Spitze nicht m ißbilligt – im Gegenteil. Auf der zentralen D ienstberatung am 21. November hatte sich die Diskussion (nachdem der Ministerratsvorsitzende gegangen w ar) vor allem um diesen Punkt gedreht. Generalleutnant Mittag aus Rostock, der als einer der ersten in dieser Beziehung aktiv geworden war, führte Klage: „Wir müssen eine einheitliche Auffassung haben über das Wegschmeißen von Papier. Das macht jeder anders.“ 233 Wenn es ihm um Rückendeckung für seine eigenen Aktivitäten ging, so hätte er unbesorgt sein können. D ie beiden starken Männer im A mt für N ationale Sicherheit ließen über ihre Einstellung keinen Zweifel. Generalleutnant Rudi Mittig erklärte: „Eine weitere sehr wi chtige Frage i st, daß wi r echt durchgehen müssen das operative Material. Nicht nur vom Standpunkt der Vernichtung, daß es eben unter den heut igen B edingungen unt auglich ist, sondern vom St andpunkt – gibt es hier Befugnisse, rechtliche Vora ussetzungen, an diesem Material weiter zu arbeiten. [...] Aber Tatsache ist, daß das Material unter den heutigen Bedingungen einfach disqualifiziert ist. Und da kann man 100mal in der Präambel 234 au fschreiben, p olitische Ko nflikte sin d m it p olitischen Mitteln zu klären. Das wird zwar gesagt, aber a ndererseits l iegt das M aterial noch da und bi etet den Nachwei s, daß di e St aatssicherheit vom neuen Denken noch weit entfernt ist.“ 235

Damit hatte er ein echtes D ilemma form uliert: Sow ohl die Aufbewahrung wie die V ernichtung der A kten sprach gegen die Staatssicherheit. Der neue Amtschef Schwanitz meinte dafür eine Lösung gefunden zu haben: „Was das Verni chten anbetrifft, Genossen, besonders in den Krei sdienststellen. Macht das wirklich sehr klug und sehr unauffällig. W ir werden stark kontrolliert. [...] Also realisiert die Aufgaben kl ug und so wi e sie angewiesen wurden. Es hat keinen Zweck einen Haufen Papier mitzuschleppen, der uns in der gegenwärtigen und künftigen Zeit nichts nützt.“ 236 233 „Dienstbesprechung anläßlich der Einführung des Gen. Generalleutnant Schwanitz als Leiter des A mtes für N ationale Sicherheit dur ch den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Gen. Hans Modrow 21.11.1989 (T onbandabschrift)“; BStU, ZA, ZAIG 4886, Bl. 1–68, hier 65. 234 Wahrscheinlich gemeint: die Präambel des „Aktionsprogramms“ der SED vom 10.11.1989. 235 „Dienstbesprechung anläßlich der Einführung des Gen. Generalleutnant Schwanitz als Leiter des A mtes für N ationale Sicherheit dur ch den Vorsitzenden des M inisterrates der DDR, Gen. Hans Modrow 21.11.1989 (Tonba ndabschrift)“; BStU, ZA, ZAIG 4886, Bl. 60. 236 Ebenda, Bl. 65 f.

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Am folgenden Tag bekam en die Bezirkschefs diese O rientierung auch noch schriftlich. „Zur Gewährleistung des zuverlässigen Quellenschutzes und der Geheimhaltung spezifischer operativer Mittel, Methoden bzw. Arbeitsergebnisse“ – schrieb ihnen Schw anitz – ist alles zu vernichten, w as „ nicht den zukünftigen Erfordernissen der Arbeit des A mtes für N ationale Sicherheit entspricht“ . 237 D a aber diese „ Erfordernisse“ noch im N ebel undurchschaubarer Entscheidungsprozesse und wechselnder politischer Konjunkturen lagen, während die Dem onstranten jetzt vor den Türen der Dienstgebäude standen, lag es für die Mitarbeiter nahe, ihren Entscheidungsspielraum extensiv auszulegen. Im Ostberliner Bezirksam t für Nationa le Sicherheit wurde dieses Schreiben so interpretiert: „In den Kreisämtern sind nur solche Informationen zu belassen, die für die unmittelbare operative Handlungsfähigkeit be nötigt werden. Sie sind sicher aufzubewahren. Maßnahmen zur Vernichtung dieser Informationen haben die Leiter der Kreisämter auf Weisung bzw. lageabhängig in eigener Zuständigkeit zu veranlassen. Al le übri gen neugewonnene n Inform ationen si nd zu verni chten. [...] Alle Mitarbeiter sind zur unbedi ngten Geheimhaltung über di e Vernichtung bzw. Ausl agerung von regi strierten Vorgängen und Akt en sowi e weiteren operativen Materialien und Informationen anzuhalten.“ 238

Ähnlich schilderte der ehem alige Leiter der Kreisdienststelle Mü hlhausen (Bezirk Erfurt) im Rückblick die Folgen: „Von der Vernichtung betroffen war anfa ngs alles Material gegen ‚Andersdenkende‘, also zu tatsäch lichen o der v ermeintlichen Geg nern der DDR, der SED, des realen Sozialismus, sowohl ältere Unterlagen, als auch die im Aufbau befi ndlichen Dossi ers über die Exponenten der B ürgerbewegungen i n Stadt und Kreis Mühlhausen. [...] Vernichtet wurden des weiteren säm tliche Speicher der KD [Krei sdienststelle] sowi e di e um fangreich vorhandenen Dossiers zu Sachverhalten und Personen, insbesondere die Ergebnisse der bereits angeführt en, über Jahre vorha ndenen Si cherheitsüberprüfungen und Er-

237 Schreiben von Schwanitz an die Leiter der BÄfNS vom 22.11.1989; BStU, ZA, DSt 103645. Zur Weiterleitung dieser Anweisungen durch die BV-Chefs vgl. ihre j eweiligen Schreiben an die Leiter der Diensteinheiten: des Leiters des BAfNS Potsdam vom 23.11.1989; Nac hdruck in: Meinel u. Wernick e (Hrsg.): „ Mit tschekistischem Gruß“ (1990), S. 204–208; des Leiters des BAfNS Dresden vom 23.11.1989; Nachdruck in: Sächsischer Landtag: DS 1/4773 (1994), S. 529–534; des Leiters des BAfNS Berlin vom 27.11.1989; BStU, ASt Berlin, A 1184; des L eiters des BAfNS Rostock vom 27.11.1989; BStU, ZA, HVA 519, Bl. 8–13 238 Schreiben des Leiters des BAfNS Berlin, Generalmajor Hähnel, an die Leiter der Diensteinheiten vom 27.11.1989; BStU, ASt Berlin, E 256, o. Pag.

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mittlungen.“ 239 Ein Mitarbeiter der Kreisdienststelle Hagenow (Bezirk Schwerin) hat in seiner Diplomarbeit, einer der letzten, die an der Juristischen H ochschule eingereicht wurden, über die Atmosphäre in jenen Tagen berichtet: „Mitte November stellten vorrangig weibliche Mitarbeiter verstärkt die Frage, geht es jet zt mit uns zu Ende, gemeint war d ie Existenz der KD [Kreisdienststelle], oder sind das wirklich nur Sicherheitsvorkehrungen? Die zweite Novemberhälfte war dann durch sol che Erscheinungen geprägt wie fehlende Motivation zur Aufgabenreal isierung, beginnende Arbei tsstellensuche, offene und m assive Äußerungen gegen di e ehem alige Part eiführung und obere Leitungsstrukturen des MfS, also keine eigentliche Arbeit mehr, nur ein Abwarten und stupides Verni chten von überwi egend si nnlosen M aterialsammlungen.“ 240

In dieser Phase wurden vor allem die Kreisdienststellen faktisch lahmgelegt. Ein Nebeneffekt der Bereinigung der A ktenbestände war die weitere Demoralisierung der dort eingesetzten „ Tschekisten“, denen es immer schwerer fallen m ußte, sich in ihrer Institution noch irgendwelche Zukunftschancen auszurechnen. Sie machten zwar nur 12 Prozent aller hauptam tlichen Mitarbeiter aus, spielten aber die Hauptrolle bei der Ü berwachung: Mehr als die Hälfte aller inoffiziellen Mi tarbeiter, exakt 51 Prozent, w urden von Führungsoffizieren in den Kreisdienststellen geführt, 241 die nun ihre einschlägigen A kten entw eder in die Bezirksverw altungen verlagerten oder gleich verbrannten. Das Spitzelnetz erhielt dadurch enorme Löcher.

9.6 „Ingo läßt aus Eisenach grüßen“ Der 7. N ovember hatte für die Staatssicherheit einen gravierenden Einschnitt gebracht: Durch Beschluß des SED-Politbüros wurden jene politischen Kräfte, die vier Jahrzehnte lang auftragsgemäß als „feindlich-negativ“ observiert und bekämpft worden waren, faktisch zugelassen, und ihre Legalisierung w urde eingeleitet. D och die MfS-Spitze w ar davon gewiß nicht 239 Günter Siegel: Die Kreisdienststelle Mühl hausen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR im Herbst 1989, in: Lüttke-Aldenhövel, Mestrup u. Remy (Hrsg.): Mühlhausen 1989/1990 (1993), S. 197–228, hier 221 f. 240 Klaus-Peter Künzer: „ Die W iderspiegelung der Sicherheitspolitik der ehemaligen SEDParteiführung in den Jahren 1988/89 in der Arbeit der Kreisdienststelle bzw. des Kreisamtes für Nationale Sicherheit Hagenow und ih re sicherheitspolitischen sowie sozialen Folgen im Territorium“ vom 25.1.1990; BStU, ZA, JHS 21625, Bl. 27 f. 241 ZAIG/2: „Übersicht ü ber E ntwicklungstendenzen bei EV [Ermittlungsverfahren] , IM, OV und OPK im Jahre 1988 und damit verbundene politisch-operativ e Probleme“, 24.2.1989; BStU, ZA, ZAIG 13910, Bl. 90–106, hier 96.

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überrascht: Aus der Zentralen A uswertungs- und Inform ationsgruppe w ar bereits Ende des Vorm onats eine en tsprechende Initiative gekom men, und Mielke selbst hatte die Politbürovorlage mitunterzeichnet. 242 Die „ Zulassung“ oppositioneller Gruppen bedeutete auch keineswegs, daß die SED damals bereits auf ihr Machtm onopol verzichtet hätte. A us Sicht der Staatssicherheit mußte es deshalb darum gehen, Weiterungen zu verhindern: daß der Bodengewinn der Opposition auf das politische Machtterrain der Einheitspartei ausgeweitet wurde. Dieses Vorhaben glaubte m an ursprünglich mit Hilfe inoffizieller Mitarbeiter realisieren zu können. D ie einschlägigen Konzeptionen, die im folgenden vorgestellt werden, waren freilich im Zeichen traditioneller Machtbew ahrung entstanden, in einer Phase, in der eine erfolgreiche „ politische Offensive“ der SED noch für möglich gehalten wurde. Sie hatten nur kurze Zeit größere Bedeutung, weil durch die Um orientierung im Zusammenhang mit der Regierungsum bildung auch in diesem Bereich neue Überlegungen notwendig wurden. Noch am Tag des Politbürobeschlusses schickte Generaloberst Mittig an seinen Kollegen Schwanitz einen Entw urf zu „ Grundsätzen für den Einsatz von inoffiziellen Mitarbeitern in Sam mlungsbewegungen“. Das Papier hatte die H auptabteilung X X offenbar schon vorbereitet. 243 Entsprechend der aktuellen politischen Konstellation wurde zwischen zwei Ty pen von „Sammlungsbewegungen“, wie die Bürgerrechtsorganisationen im MfS-Jargon hießen, unterschieden: bereits „ legalisierten“ (w ie das N eue Forum ) und „nichtlegalisierten, antisozialistischen“ (zu denen etwa die Sozialdemokratische Partei oder der Demokratische Aufbruch gerechnet wurden). In letzteren, den nichtlegalisierten Organisationen sollten „bewährte, überprüfte und zuverlässige IM“ eingesetzt werden, um Informationen über „Inspiratoren und Organisatoren“ und „ deren Pläne und A bsichten“ und dam it „öffentlich verwertbare Beweise für Rechtsverletzungen zu beschaffen“ . Das verweist auf einen gewissen Fortschritt im Rechtsbewußtsein, den man freilich nicht überschätzen sollte. Mit dem Streben nach Öffentlichkeit war es nicht allzu weit her: Die IM sollten – anderes war nicht zu erwarten – „bei grundsätzlicher Wahrung der K onspiration“ tätig w erden. Ziele waren: a) Informationssammlung durch „Eindringen in das Inform ations-, Kommunikations- und Kuriersystem sowie Teilnahme an konspirativen Zusam menkünften“; b) „ Einflußnahme auf geplante und vorbereitende rechtswidrige Aktivitäten [...] m it dem Ziel ihrer vorbeugenden Verhinderung“. Letzterer Aspekt ist der interessantere, w enn m an nach aktiver Einflußnahm e der Staatssicherheit durch inoffizielle Mitarbeiter auf den Ve rlauf der Herbstrevolution fragt. 242 Siehe unten S. 380 ff. u. Kap. 7.3, S. 433 ff. 243 HA XX: „ Entwurf. Grundsätze für den Einsat z von inoffiziellen Mitarbeitern in Sammlungsbewegungen“; Anlage zum Schreiben von Mittig an Schwanitz vom 7. 11.1989; Vermerk „Persönlich! Streng vertraulich“; BStU, ZA, SdM 2148, Bl. 3–7.

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Vorgeschlagen wurde, daß der „IM-Einsatz unter nachdrücklicher Beachtung politischer und rechtlicher Konsequenzen zu erfolgen“ habe. Das sollte bedeuten: „Nichtbeteiligung an Straftaten w ie Inspirierung, O rganisierung“ und – das w urde von Schw anitz unterringelt – „ Durchführung öffentlichkeitswirksamer Demonstrativhandlungen“. Der künftige AfNS-Chef schrieb an den Rand: „ Dann kann IM wohl kaum Vertrauen erwerben. Rechtl[ich] absichern“. Damit war gemeint, daß eventuell eine Regelung in § 25 StGB der DDR genutzt werden sollte , die einen Verzicht auf Strafverfolgung ermöglichte, wenn der Täter durch „positive Leistungen“ praktische Reue bewies. 244 Es folgte eine lange Liste von Aktivitäten, die den inoffiziellen Mitarbeitern zu verbieten waren: „– Unterlassung der Herstellung, Verv ielfältigung, Verbreitung feindlicher Papiere, Konzeptionen, Plattformen sowie der B ildung neuer antisozialistischer Strukturen; – Untersagung der Übernahm e von Führungsfunkt ionen in antisozialistischen Sammlungsbewegungen, Auftritte im In- und Ausland (als Sprecher und Di skussionsredner auf Kundgebungen/Demonstrationen, bei anderen Ansammlungen, Gewährung von Int erviews, Zusammenführung antisozialistischer Strukturen der DDR mit oppositionellen Bewegungen/Kräften anderer sozialistischer Länder ode r Einrichtungen/Personen des westlichen Auslandes usw.)“.

Ergänzt um die neuen politisch en Möglichkeiten entsprach das der alten Linie, an der schon IMB „Karin Lenz“ verzw eifelt w ar und die an früherer Stelle geschildert worden ist: Die IM sollten abwiegeln, als agents pacificateurs agieren, nicht aber als agents provocateurs. 245 D iese A uflistung hat Schwanitz nicht m ehr moniert. Allerdings schrieb er in seiner Stellungnahme: „ Das notw endige V ertrauen kann der IM nur erlangen, w enn er an feindlichen Handlungen auch mitwirkt.“ Hinsichtlich der „legalisierten oder sich herausbildenden antisozialistischen Sammlungsbewegungen“ wurde der inoffizielle H andlungsrahmen etw as weiter gesteckt. Es sollte den IM – anders als in den „ nichtlegalisierten“ Organisationen – eine „ Mitwirkung in m aßgeblichen Funktionen“ gestattet werden. Dort hatten sie einerseits Informationen zu sam meln. Andererseits sollten sie eingesetzt werden „ zur offensiven politischen Einflußnahm e und vorbeugenden Verhinderung von Feindaktivitäten“ und um „selbst im Sinne der Politik unserer Partei wirksam “ zu werden. Auch hier galten die zuvor genannten Restriktionen:

244 Vgl. das Begleitschreib en von Schwanitz an Mittig; BStU, ZA, SdM 2148, Bl. 3; Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik (1984), S.107 f. 245 Zur Begrifflichkeit Süß: Politische Taktik und institutioneller Zerfall (1997), S. 262–265.

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„Einschränkend sind die unt er Punkt 1 genannten Grundsätze zu beachten. Es ist darauf hinzuwirken, daß IM – nicht die alleinige Führung solcher Sammlungsbewegungen übernehmen;

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– die vom M fS gegebene Linie/Instruktion um setzen und sich nicht durch negativ/feindliche Kräfte führen lassen; – [sich] mit Int erviews/Meinungsäußerungen/Standpunkten i n M edien und Presseorganen sowie auf Veranstaltungen nur dann äußern, wenn damit eine politisch gewollte Zielstellung und W irkung zu erwarten oder verbunden ist.“

Bei „rechtswidrigen Handlungen“ sollten sie „selbst öffentlich dagegen auftreten“. Das waren keine guten V oraussetzungen, um sich an der Spitze der Bürgerrechtsorganisationen zu prof ilieren und tatsächlich Einfluß auszuüben. Umgekehrt schwingt hier die Befürchtung m it, daß inoffizielle Mitarbeiter unter dem Einfluß ihres politischen Umfelds die Seite wechseln könnten, so wie jener IM der K reisdienststelle N euruppin, der seinem Führungsoffizier erklärte, er habe „die Schnauze gestrichen voll“ und werde sich nun dem N euen Forum anschließen. 246 D aß es sich hierbei um keine regionale Besonderheit handelte, belegt die Schilderung des Leiters der Hauptabteilung X IX (V erkehrswesen), G eneralmajor Braun, der auf einer Parteiversammlung einräumte: „Ich verhehle nicht, daß wir ein en Teil u nserer Patrioten haben, die mittlerweile Mitglieder des Neuen Forums und anderer oppositioneller oder anderer Gruppierungen sind. Genossen, wir treten ihnen gegenüber sehr offensiv auf. Wir machen ihnen keine Vorwürfe, wir versuchen, sie zu gewinnen für unsere Arbeit, für das Neue.“ 247

Bei dem Papier der H auptabteilung X X handelte es sich noch um einen „Entwurf“ zum weiteren Vorgehen. Ein höheres Bearbeitungsstadium hatte eine V orlage für einen Ministerbefehl, den die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe fertigte. Wegen Mielkes Rücktritt und der anschließenden Turbulenzen wurde er nicht mehr verabschiedet. In dieser „Weisung zur operativen A rbeit in V ereinigungen“ vom 9. November 1989 wurde eingangs die „ politische Zielstellung“ der Legalisierung erläutert. Es gehe um eine „Versachlichung des Dialogs“ – das heißt, es sollten gegen das Regime gerichtete Emotionen abgebaut werden – und darum , „ durch die Erschließung aller politischen Einflußm öglichkeiten die Verfassungstreue dieser Vereinigungen zu sichern“. 248 Einen Beitrag dazu sollten inoffizielle Mitar246 Aktueller Auslöser dafür war kein Konflik t mit der Staatssicherheit, sondern der Auftritt eines ZK-Mitglieds in seinem Betrieb; vgl. KD Neuruppin: „Mitteilung über Abbruch der Zusammenarbeit mit dem MfS“ vom 6. 10.1989; BStU, ASt Po tsdam, AIM 3455/89, Teil I, Bd. 2, Bl. 129 f. 247 Äußerung von Generalmajor Braun, Leiter der HA XIX, in: „ Protokoll der Delegiertenkonferenz aller Grundorganisationen [im AfNS] am 2.12.1989“; BStU, ZA, SED-KL 570, Bl. 867–935, hier 913. 248 Schreiben von Generalleutnant Neiber an den Leiter der ZAIG, Irmler, vom 9.11.1989, mit Anlage „Entwurf der Weisung zur operativ en Arbeit in Vereinigungen“; BStU, ZA,

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beiter leisten. Ihre A ktionsmöglichkeiten wurden nun w ieder sehr restriktiv bestimmt: „Mögliche politische und rechtliche Konsequenzen des Einsatzes von IM [m üssen] tiefgründig geprüft und allseitig beachtet werden.“ Das bedeutete, daß die bisher bestehenden Einschränkungen beibehalten w urden. A ußerdem sei darauf zu achten, daß „ durch den Einsatz der IM bzw. durch deren Handlungen keine wesentliche Erweiterung des Handlungsspielraums, der personellen Bas is, der m ateriell-technischen und finanziellen Grundlage der verfassungsfeindlichen Kräfte erfolgt“. 249 Es war die alte Furcht, daß die Geheimpolizei jene Bew egung, die sie zu bekäm pfen trachtete, durch ihre verdeckten Aktivitäten stärken könnte. Die w ichtigste Botschaft dieses Weisungsentw urfs w ar, daß der IMEinsatz weiter bürokratisiert und zentralisiert werden sollte. Die Linie X X, die im mer schon für die Bearbeitung oppositioneller Regungen zuständig gewesen war, bei der aber nur ein geringer Teil aller inoffiziellen Mitarbeiter plaziert war, 250 sollte eine Art Monopol für IM in Bürgerrechtsorganisationen erhalten: „Der Ei nsatz von IM i n Sammlungsbewegungen/Vereinigungen hat nur i n Abstimmung mit der Haupt abteilung XX bzw. der zust ändigen Abt eilung XX zu erfolgen. Die Aufgabenstellungen bzw. Einsatzrichtungen sowie die erforderliche Neugewinnung von IM sind nur durch di e Leiter der Abt eilungen XX bzw. den Lei ter der Haupt abteilung X X zu best ätigen. Der Ei nsatz von IM in Führungs- und andere n bedeutsamen Positionen, so im Verbindungssystem, hat ausschließlich vorgangsbezogen und nach zen traler Abstimmung zu erfolgen.“ 251

„Vorgangsbezogen“ meinte, daß ein operativer Vorgang durch den jeweiligen Leiter genehm igt und dam it auch eine konkrete Bearbeitungsperspektive gegeben sein m ußte. Schließlich so llten nur „ bewährte, überprüfte und zuverlässige IM zum Einsatz kommen“. Der Sinn dieses umständlich anmutenden Verfahrens war: „Die gesamte Arbeit mit IM ist so zu organisieren, daß jeglicher politischer Schaden ausgeschlossen wird.“ 252 Das war ein Bedenken, das in den folgenden Wochen im mer größere Bedeutung gew innen sollte. Neiber 874, Bl. 108 (Schreiben), 109–114 (Entwurf), hier 109. 249 Ebenda, Bl. 112. 250 Durch die HA XX wurden 1988 1.527 IM geführ t, all e Hauptabteilungen und selbständigen Abteilungen des Ostberliner Ministeriums verf ügten zur gleichen Zeit über 23.034 inoffizielle Mitarbeiter (ohne GMS und I nhaber konspirativer Wohnungen); vgl. Braun: Die Hauptabteilung XX (MfS-Handbuch), unverö fftl. Ms. Zur Gesamtzahl vgl. ZAIG/ Bereich 2: „ Übersicht über Entwicklungstendenzen bei EV, IM, OV und OPK im Jahre 1988 und damit verbundene politisch-operative Probleme“ vom 24.2.1989; BStU, ZA, ZAIG 13910, Bl. 90–106, hier 96. 251 „Entwurf der Weisung zur operativen Arbeit in Vereinigungen“ vom 9.11.1989, Bl. 112. 252 Ebenda.

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Beispiele aus den Regionen Die tatsächliche Vorgehensweise vor Ort war in jenen Wochen recht unterschiedlich. In Erfurt zum Beispiel w urde die A bteilung XX der Bezirksverwaltung von einem Zersetzungsspe zialisten, Oberstleutnant Günter Stark, geleitet. 253 Er hatte in der zweiten Oktoberhälfte einen umfangreichen „Maßnahmeplan“ zur „Verhinderung der Schaffung einer Massenbasis“ für die Bürgerrechtsbewegung geschrieben. Seinen Mitarbeitern gab er als Orientierung: „Die politisch-operative Bearbeitung oppositioneller Sammlungsbewegungen ist auf die operative Zersetzung bzw. Kanalisierung deren Akt ivitäten in gesellschaftlich ungefährliche Bahnen auszurichten.“ 254

Ohne sich um die damals noch gültigen Vorbehalte der MfS-Spitze zu scheren, plante man, inoffizielle Mitarbeiter in Führungspositionen zu schleusen. Sie sollten sich, war das gelungen, offen „ gegen Demonstrationen, Schweigemärsche usw.“ aussprechen und hi nwirken „ auf die vorbeugende Verhinderung von Resolutionen, Petitionen, Unterschriftenaktionen, Flugblattaktionen“ als angeblich „ wenig konstruktive Maßnahm en zur Lösung stehender Probleme“. 255 Tatsächlich gelang es der Erfurter Staatssicherheit, einige IM zumindest in der Nähe der Führungsspitze zu plazieren. Ihr Erfolg bestand jedoch allenfalls darin, daß die offizielle Gründung des örtlichen Neuen Forums um einige Tage verzögert wurde. Schon die erste große Demonstration in der Thüringer Bezirkshauptstadt am 26. O ktober m it etw a 15.000 Teilnehmern konnten sie nur noch relativ ohnm ächtig observieren. 256 Oberstleutnant Stark dürfte von diesem Mißerfolg nicht allzusehr überrascht gewesen sein, denn noch vor der H erbstrevolution hatte er konstatiert: „Zersetzungsmaßnahmen w irken nach vorliegenden Erfahrungen in der Regel nur zeitlich begrenzt und verhindern auf Dauer nicht, daß sich Feinde mit anderen Feinden wieder zusammenschließen.“ 257 253 Stark hatte 1989 mit einer Kollektivdissertati on an der Juristischen Hochschule promoviert über „ Die politisch-operative Bearbeitung von feindlich-negativen Personenzusammenschlüssen, die im Sinne politischer Untergrundtätigkeit wirken, in operativen Vorgängen“; BStU, ZA, JHS 22020. 254 Oberstleutnant Stark, Abteilung XX der BVfS Erfurt: „ Maßnahmeplan zur politischoperativen Bearbeitung oppositioneller Sammlungsbewegungen im Verantwortungsbereich der BV Erfurt“ vom 20.10.1989, 7 S., hier S. 5; bestätigt vom Leiter der BV, Generalmajor Schw arz; mit A nlage: „ Auftragsstruktur/Instruktionslinie für IM, die zur Durchdringung der Arbeitsgruppen oppositioneller Sammlungsbewegungen eingesetzt werden“, 5 S.; BStU, ASt Erfurt (unerschlossenes Material). 255 „Auftragsstruktur/Instruktionslinie für IM“, S. 2 f. 256 Vgl. Dornheim: Politischer Umbruch in E rfurt 1989/90 (1995), S. 61–66; Stein: Agonie und Auflösung (1995), S. 12 f., 15 f. 257 BVfS Erfurt, Obe rstleutnant Stark, Leiter der Abt. XX: „Die Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung im Rahmen der operativen Bearbeitung feindlich-negativer Personenzusammenschlüsse“ vom 18.1.1989, VVS Ef t o024 30/89, 12 S., hier S. 12; BStU,

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In Rostock w urde A nfang N ovember in der A bteilung XX der Bezirksverwaltung bereits debattiert, daß auch MfS-Offiziere, denen solche Kontakte zu diesem Zeitpunkt noch generell verboten waren, mit dem Neuen Forum in Diskussionen über eine sozialistische Wirtschaftsreform eintreten sollten. 258 Dort wies der Bezirksverwaltungschef, Generalleutnant Mittag, der schon relativ früh Sympathien für eine politische Wende hatte erkennen lassen, 259 äußerste Vorsicht an: „Treffs mit unzuverlässigen oder unsicheren IM sind zu unt erlassen. Besonders vorsichtig ist beim Einsatz jener IM zu verfahren, die im kirchlichen Bereich, unter Gruppen und Gruppi erungen i n Sam mlungsbewegungen bzw. politisch brisanten Personengruppen einge setzt werden. Die Forderung nach operativer Präsenz i n jeder Gruppi erung darf nicht schematisch aufgefaßt und ‚mit Kraft‘ durchgesetzt werden, di e Vielzahl entstehender neuer Gruppen und Grüppc hen läßt eine Kontrolle aller nicht mehr zu. Es m uß verhindert werden, daß durch Dekonspirationen politischer Schaden entsteht.“ 260

Diese Vorgabe war mehr von Resignation als von V orsicht geprägt und gewissermaßen ein dienstlicher Freibrief für Untätigkeit. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die Rostocker Staatssicherheit zu jener Zeit zwar noch Informationen sam melte, auf den engeren Führungskreis der Bürgerrechtsbewegung jedoch keinen Einfluß hatte. 261 In Dresden schließlich schien die Lage ganz anders. Ende N ovember berichtete Generalmajor Böhm mit spürbarer Befriedigung: „Es ist gelungen, in den neuen Sammlungsbewegungen ca. 80 – 100 IM sowohl in Führungspositionen als auch als Mitglieder einzubauen, um über diesen Weg die Bearbeitung verfassungsfeindlicher Aktivitäten zu forcieren und vor allem rechtzeitig zu erkennen.“ 262

Der Stolz wurde freilich dadurch geschm älert, daß fünfm al so viele inoffizielle Mitarbeiter, nämlich „ ca. 500 Personen“ , offenbar ohne Wissen und Wollen der Staatssicherheit „in die BRD und andere kapitalistische Länder“ übergesiedelt waren, was eine „ hohe Gefährdung für die innere Sicherheit“

258 259 260 261 262

ASt Erfurt (unerschlossenes Material). Für den Hinweis auf dieses Dokument danke ich Eberhard Stein von der Außenstelle Erfurt des BStU. Vgl. Höffer: „Der Gegner hat Kraft“ (1997), S. 45. Ein entsprechendes Schreiben hatte Mittag am 6.10.1989 an Mielke gerichtet; vgl. Höffer: „Der Gegner hat Kraft“ (1997), S. 12. Schreiben des Leiters der BVfS Rostock , Generalleutnant Mittag, an die Leiter der Diensteinheiten vom 6.11.1989; Vermerk: „persönlich“; BStU, ZA, HVA 519, Bl. 1–3. Vgl. Höffer: „Der Gegner hat Kraft“ (1997), S. 24. Schreiben von Böhm an Schwanitz vom 30.11.1989; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 268–280, hier 274.

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schaffen würde. 263 Tatsächlich erwies sich wenige Tage später, daß die Stasi auch in Dresden sehr weit davon entfernt war, die Lage unter Kontrolle zu halten. Auf der Suche nach neuen Partnern Seit der Inthronisierung von Egon Krenz hatten die Angehörigen der Staatssicherheit darauf gewartet, daß die SED wieder in die „politische Offensive“ kommen würde, und sie hatten versucht, ihren Teil dazu beizutragen. Mitte November war klar, daß das eine vergebliche H offnung w ar. D ie Bildung einer „ Koalitionsregierung“ m it Juniorpartnern, die zunehmend um eigene Profilierung bemüht waren, bedeutete – gewiß mit Einschränkungen – eine Brechung des Machtmonopols der SED im politischen Sy stem. Der Auftritt der Opposition auf der politischen Bühne drängte dieses politische Sy stem selbst ein Stück zurück. Hinzu kam, daß die Desintegration des Herrschaftsgefüges speziell die Staatssicherheit in die Isolierung führte und sie zum bevorzugten Objekt des Volkszorns m achte. Für die anderen Institutionen – von der Presse bis zu Justiz und Polizei – w ar das ein Grund mehr, eigenes Versagen durch Betonung der Schuld der Staatssicherheit vergessen zu machen. In einem zusammenfassenden Bericht der ZAIG zur Lage in den regionalen Diensteinheiten wurde Mitte Novem ber besonders aus dem Süde n der DDR, aus den Bezirken Erfurt, D resden, Leipzig und K arl-Marx-Stadt, allgemeine Frustration vermeldet: „Sie [di e M itarbeiter des M fS] zei gen si ch in diesem Zusammenhang sehr beunruhigt darüber, daß insbesondere die leitenden Partei- und Staatsfunktionäre auf den Ebenen der Bezirke und Kreise bis auf wenige Ausnahm en [...] sich in der Öffentlichkeit nicht hinter das MfS und seine Mitarbeiter stellen. [...] Vielfach wird dara uf hingewiesen, daß gegenw ärtig besonders die M itarbeiter der Bezirksverwaltungen und Krei sdienststellen hohen phy sischen und psychischen Belastungen ausgesetzt sind. Insbesondere bei Demonstrationen i n den Krei sstädten begegnet den Mitarbeitern des MfS durch provokantes Auftreten der Teilnehmer unmittelbar vor den Dienstobjekten ein regelrechter Psychoterror. Gerade i n sol chen Si tuationen fühl en si e si ch von der Partei allein gelassen.“ 264

Dieser Bericht m uß über den Schreibtisch von Generaloberst Mittig gegangen sein. Der aber, ohnehin frustriert, weil seine A mbitionen auf den Chef263 Ebenda, Bl. 269. 264 „Hinweise auf beachtenswerte Reaktionen von Mitarbeitern des MfS auf die g egenwärtige Lage“ vom 14.11.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 14–16, hier 14.

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sessel soeben gescheitert waren, scheint sich wenig Hoffnungen gemacht zu haben, daß der A ppell an die Partei auf Resonanz stoßen w ürde. Am nächsten Tag erklärte er auf einer D ienstberatung: „Der desolate Zustand im ZK [Zentralkomitee der SED] läßt nicht erw arten, daß m an sich vor [das] MfS schützend stellt.“ Er mache deshalb den Vorschlag, „in der Wahl der Partner nicht zimperlich sein, auch was [den] Schutz [der] O bjekte anbetrifft. Wer mit uns geht, ist unser Partner. Wie lange, bleibt dahingestellt.“ 265 Für Stasi-Verhältnisse war das revolutionär, auch wenn der letzte Satz zeigt, daß es um ein taktisches Manöver ging. In ähnliche Richtung gingen Bem erkungen, die Schw anitz auf der Dienstbesprechung am 21. November m achte. Modrow s Ü berlegung, m an solle versuchen, V ertreter der Bürgerrechtsbew egung durch Teilhabe an regionaler Macht einzubinden, konkretisierte er für die Staatssicherheit. Er postulierte, es sei m öglich, über gem einsame Ziele zu begrenzter Kooperation zu finden: „Genossen, Genosse Modrow führte das an, [...] daß dabei auch zu beachten ist, die Sicherheitspartnerschaft mit Kräften im Neuen Forum usw., die ebenfalls für ei nen demokratischen Sozialismus sind, wo wi r also doch ei nen gewissen Konsens finden können und wo dann sol che operat iven Aussagen [zuvor erwähnt: „faschistische Losungen“] eine große Rolle spielen können. [...] Wir müssen mit diesen Kräften reden und erreichen, daß sie uns als Partner akzeptieren, sich m it uns gem einsam für die Gewährleistung staatlicher Sicherheit engagieren [...] und da ß wir erreichen, daß sie sich m itverantwortlich für die Sicherheit dieses Landes fühlen.“ 266

Das war eine neue T onlage hinsichtlich der kurz zuvor noch als staatsfeindlich denunzierten Opposition. Dabei mögen überraschende Erfahrungen eine Rolle gespielt haben. Das Gros der MfS-Mitarbeiter und gewiß alle Generäle hatten Bürgerrechtler nur verm ittelt über konspirativ beschaffte Positionspapiere und ideologisch verzerrte IM-Berichte gekannt. Persönlich waren sie Vertretern dieser merkwürdigen Spezies nie begegnet. Nun traten sie ihnen dank der neugewonnenen Öffentlichkeit plötzlich auf der Straße und bei Versammlungen entgegen und w urden als Individuen m it bedenkenswerter Kritik kenntlich. Ihre Parole „Keine Gewalt“ hat in vielen heiklen Situationen gew iß auf beide Seiten beruhigend gew irkt. Zugleich hielten in der demokratischen Volksbewegung gerade die Bü rgerrechtler an der Fortexistenz der DDR als Staat fest. Die schweigende Mehrheit dagegen, der bis 265 Notizen eines Mitarbeiters im Sekretariat Neiber von der zentralen Dienstberatung am 15.11.1989; BStU, ZA, Neiber 533, Bl. 8. 266 „Dienstbesprechung anläßlich der Einführung des Gen. Generalleutnant Schwanitz als Leiter des A mtes für N ationale Sicherheit dur ch den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Gen. Hans Modrow 21.11.1989 (Tonba ndabschrift)“; BStU, ZA, ZAIG 4886, Bl. 1–68, hier 40.

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dahin vom MfS zumindest duldende Loyalität gegenüber dem System unterstellt worden war, begann auf Massendemonstrationen die Parole „Deutschland einig Vaterland“ zu skandieren. Gewissermaßen programmatischen Ausdruck erhielt diese U mgruppierung der Fronten durch den A ppell „Für unser Land“ , in dem von führenden Schriftstellern und Bürgerrechtlern für eine „ eigenständige“ D DR geworben und vor einer „ Vereinnahmung“ durch die Bundesrepublik gewarnt wurde. Der m anichäische Ansatz dieses Aufrufs ist später vielfach kritisiert worden: hie die arme, aber potentiell gute DDR, die sich nach der Befreiung „vom Stalinismus“ zu einer „solidarischen Gesellschaft“ und damit zu einer „sozialistischen Alternative“ entwickeln könne, dort die nach ihrer Vereinnahmung strebende Bundesrepublik. 267 Tatsä chlich war das D enken in solchen Alternativen dam als in oppositionellen Kreisen verbreitet – selbst bei denen, die zuvor die Abgrenzungspolitik der SED-Führung heftig kritisiert hatten. 268 Der Aufruf wurde kurzzeitig zu ei ner Brücke zwischen Bürgerrechtlern, der sy stemloyalen, aber kritischen Intelligenz und selbst sy stemtreuen Bürgern, die nun nach jedem Strohhalm griffen, der ein w enig Halt versprach. Diese Brücke w urde allerdings schon nach w enigen Tagen zum Einsturz gebracht. Egon Krenz meinte, auch er müsse unterzeichnen. 269 Als selbst noch Schw anitz in einem Interv iew erklärte, die Mitarbeiter seines Amtes würden sich „ einhellig“ hinter den Aufruf stellen, 270 war diese Initiative für jeden halbwegs kritischen Menschen politisch erledigt. 271 Ideologisch machte die Angst um die eigene institutionelle Existenz der AfNS-Generalität den opportunistischen Schwenk m öglich. Der „ demokratische Sozialismus“ war als Begriff un bestimmt genug, um als Rechtfertigung für die Vereinbarkeit des U nvereinbaren zu dienen. D aß zudem der 267 Zu den Erstunterzeichnern des Appells vom 26.11.1989 gehörten die bekannten Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil, Ulrike Poppe , Friedrich Schorlemmer und Konrad Weiß. Dokumentiert in: Schüddekopf (Hrsg.): „Wir sind das Volk!“ (1990), S. 240 f. 268 Ein in der Geschichte der DDR-Opposition wichtiger Aufruf aus dem Jahr 1987 hatte den programmatischen Titel „ Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ (Nachdruck in: Bickhardt [Hrsg.]: Recht ströme wie Wasser [1988], S. 16 f.). Einige der Erstunterzeichner wurden im September 1989 zu Gründungsmitgliedern von Demokratie Jetzt, in dessen Gründungsaufruf als Ziel vorgegeben wurde: „ Der Sozialismus muß nun seine eigentliche, demokratische G estalt finden, wenn er nicht geschichtlich verloren gehen soll. Er darf nicht verloren gehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens A lternativen zur w estlichen K onsumgesellschaft braucht, deren Wohlstand die übrige Welt bezahlen muß.“ („Aufruf zur Einmischung in e igener Sache“, in: Rein [Hrsg. ]: Die Opposition in der DDR [1989], S. 60). 269 Von Krenz am 29.11.1989 unterzeichnetes Ex emplar im Bestand Krenz; SAPMO-BA, DY 30 J IV 2/2039/314, Bl. 76. 270 Interview mit Schwanitz, in: Berliner Zeitung 7.12.1989. 271 Von Erstunterzeichnern wurde Schwanitz’ Ä ußerung interpretiert „als eine Art Provokation, diesen Minimalkonsens, den wir gefunde n haben [...] auseinanderzudividieren“. Sie protestierten dagegen in einer Pressemitteilung, aber das änderte auch nichts mehr. Vgl. „Auszug aus der Sendung ‚Klönsnack‘, Sender Rostock, am 11.12.89“; BStU, ZA, Mittig 95, Bl. 27–29.

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Antifaschismus instrum entalisiert werd en sollte, bedeutete, an eine herrschaftsstabilisierende Tradition in der frühen DDR anzuknüpfen. 272 Zusätzlichen Zynismus enthielt das dadurch, daß noch im Som mer 1989 linke „Antifa“-Gruppen mit der Begründung bekäm pft worden waren, sie würden verstärkte neofaschistische Tendenzen in der D DR „ unterstellen“. 273 Ab er auch wenn das eingesetzte Mittel zy nisch war, das Ziel war durchaus ernst gemeint. Dabei hatte gew iß auch Bedeutung, daß Stasi-intern berichtet wurde, Mitglieder des Neuen Forums würden argumentieren, „es gehe nicht um die Abschaffung der hauptam tlich tätigen Sicherheitskräf te, sondern um eine Offenlegung ihrer ‚internen A rbeit‘ in Betrieben und Wohngebieten“. 274 Dazu war die Stasi-Generalität freilich keineswegs bereit, sie hatte im Gegenteil keine Bedenken, die potentiellen „ Partner“ auszuspionieren. „ Sicherheitspartnerschaft“ und Ü berwachung gehörten aus dieser Sicht zusam men. Auch für Schwanitz ging es um Taktik, die allerdings Anpassungsleistungen erforderte. Zu achten war vor allem auf erhöhte Vorsicht – in doppelter Hinsicht: „Entscheidend i st, di e verfassungsfe indlichen Pl äne und Aktivitäten möglichst frühzeitig au fzudecken. Die o perative Arb eit ist d arauf au szurichten, Verfassungsfeinde zu erkennen. Genosse n, wir m üssen i n di eser R ichtung unsere IM-Arbeit wieder aktivieren. Aber nat ürlich bei Gewährl eistung strengster Geheimhaltung und Konspiration. Uns darf in dieser Situation keine einzige Panne passieren.“ 275

Zwischen beiden Vorgaben bestand ein Spannungsverhältnis, das nach einer Lösung verlangte. Eine weitere Frage war, inwieweit die Arbeit m it den inoffiziellen Mitarbeitern zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch funktioniert hat. D er neue Amtschef, der mit diesem Aspekt der MfS-Tätig keit seit 1986 w enig zu tun hatte, ließ Zweifel anklingen. Es gelte, sagte Schwanitz, „das Vertrauen [der IM] zum A mt und zu den Mitarbeitern des Amtes wiederzugewinnen“. Deutlicher wurde in der anschließenden Diskussion Generaloberst Mittig. „Die operative Substanz in Person der inoffiziellen Mitarbeiter“ zu erhalten, betrachtete er als die „Hauptfrage“. Doch damit sei es schlecht bestellt: 272 Vgl. Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft (1992). 273 So die Abteilung XX der BVfS Potsdam in einem Bericht vom 21.6.1989; zitiert nach Süß: Zu Wahrnehmung und Interpretation des Rechtsextremismus (1996), S. 16. 274 [ZAIG:] „ Hinweise über die Reaktion der Bevölkerung auf die 12. Tagung der Volkskammer der DDR [17.–18.11.1989] “ vom 24.11. 1989; BStU, ZA, ZAIG 5351, Bl. 79–87, hier 86. 275 „Dienstbesprechung anläßlich der Einführung des Gen. Generalleutnant Schwanitz als Leiter des A mtes für N ationale Sicherheit dur ch den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Gen. Hans Modrow 21.11.1989 (Tonba ndabschrift)“; BStU, ZA, ZAIG 4886, Bl. 1–68, hier 39.

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„[...] das Hauptproblem besteht darin, zu sichten, worin besteht unsere operative Substanz für die Zukunft. Bleiben wir bei diesem Problem, wer aus dem Netz der Inoffiziellen Mitarbeiter ist bereit, weiter m itzuarbeiten. Jetzt k ann man sagen, es gibt keine Treffm öglichkeit. Hab en wir sch riftlich d ie Ab standsnahme von i noffiziellen M itarbeitern, auch sogar von Part eimitgliedern, die haben wir. Höflich, korrekt, daß sie das oder jenes ni cht verstehen. Nehmen noch diese oder jene Begleiterscheinung, aber sie seilen sich ab.“ 276

Diese Darstellung war etwa hinsichtlich der fehlenden „Treffmöglichkeiten“ gewiß übertrieben. 277 Aber es m ußte einen altgedienten Stasi-General tief verunsichern, daß überhaupt eine größere Zahl inoffizieller Mitarbeiter von sich aus die „Zusammenarbeit“ aufkündigte. Es ist weniger der em pirische Gehalt von M ittigs Aussage interessant als der zeitliche Bezugsrahmen, in dem er argum entiert: Zukunftsplanung wird zum dominanten Thema und dam it zum Bezugsrahmen, in dem in der Gegenwart agiert w ird. D as w ar ein Zeichen dafür, daß die Erkenntnis nicht mehr länger zu verdrängen w ar: D ie erste Schlacht war bereits verloren. Zugleich bedeutete das, die Prioritäten neu zu ordnen: D ie Sicherung eines institutionellen und ideologischen Machtm onopols der Partei war offenkundig obsolet. A llenfalls konnte ihr künftiger Einfluß m aximiert werden. Für die Staatssicherheit m ußte es nun um ihre Position in einer künftigen Ordnung gehen, m it neuen A bhängigkeiten und Regelungsm echanismen, auf die sie sich im institutionellen Eigeninteresse einzustellen hatte, trotz der fortbestehenden ideologischen und vielfach die gesamte Biographie prägenden Nähe der „Tschekisten“ zur SED. Für die Nutzung inoffizieller Mitarbeiter bedeutete die V erschiebung in der Zeitperspektive, daß ihr aktueller Einsatz hinter anderen Prioritäten wie dem Image des A mtes und der Sicherung des „ Netzes“ zurückzustehen hatte. Schon bei der D ienstbesprechung am 15. November war die Parole ausgegeben w orden: „ Es geht in den nächsten Wochen vor allem darum , daß wir die Anstrengungen zum Schutz der IM w eiter erhöhen und mit ihnen so arbeiten, damit sie nicht enttarnt werden.“ 278 In Überlegungen zur künftigen Arbeit forderte Schwanitz Ende November alle IM-f ührenden Diensteinheiten auf, ihren Bestand an inoffiziellen Mitarbeitern entsprechend den künftigen „Einsatzrichtungen“ zu sichten. 279 Zu diesem Zweck sollte erstens der 276 Ebenda, Bl. 58 f. 277 Es existieren noch IM-Treffberichte von Anfang Dezember 1989; erst dann bricht die schriftliche Überlieferung ab. Das muß freilich nicht bedeuten, daß danach keine Treffen mehr stattgefunden haben, denn neue Informationen wurden nicht sofort zu den Akten genommen. 278 „Hinweise“ für die Dienstbesprechung am 15.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 8682, Bl. 1–23, hier 11. 279 Es handelt sich um einen Entwurf, der nicht mehr herausgegeben worden ist, aber die Position des AfNS-Chefs in dieser Frage deutlich macht. Es ist anzunehmen, daß Schwanitz damals in Besprechungen nicht anders argum entiert hat. [Schwanitz:] „ (Vorläufige)

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IM-Bestand reduziert werden: Die Zusam menarbeit m it Gesellschaftlichen Mitarbeitern Sicherheit (GMS), IM-Kandidaten und „Kontaktpersonen“ war einzustellen. Zweitens sollte eine „ zeitweilige Unterbrechung der Zusam menarbeit“ geprüft werden, „wenn perspektivisch eine w eitere Zusammenarbeit erfolgen soll und das aus Gründen des Schutzes, der Konspiration und Sicherheit der IM gegenw ärtig notw endig ist“ . D abei sei „ vorrangig“ die Zusammenarbeit mit folgenden IM-Typen zu unterbrechen: „– IM-Vorgängen der Kat egorien IM B [i noffizieller M itarbeiter mit Feindverbindung] und IME [IM im besonderen Einsatz], – anderen IM-Vorgängen, besonders mit Einsatzrichtungen: Arbeitsrichtung im und nach dem Operationsgebiet bzw. Bearbeitung innerer Feinde, – IM-Vorgängen zu g esellschaftlichen/politischen Sch lüsselpositionen, gewählten Volksvertretern, leitenden M itarbeitern staatlicher Organe, Funktionären von Parteien und Organisationen“. 280

Es w aren gerade die höherrangigen IM, di e in irgendeiner Form direkt am „Feind“ arbeiteten, die gewisserm aßen eingem ottet werden sollten. Den Grund dafür nannte Schw anitz in einer überarbeite ten V ersion dieses Papiers: „Die Gewährleistung der K onspiration und Geheimhaltung sowie der Schutz und die Sicherheit der IM haben absolute Priorität.“ 281 Wie man sich eine „ zeitweilige Unterbrechung“ vorzustellen hat, erhellt ein Aktenvermerk des Kreisamtes für Nationale Sicherheit Berlin-Mitte, der etwa zur gleichen Zeit gefertigt wurde: „Am heut igen Tag wurde bei m pl anmäßigen Treff mit dem IMS ‚Murkel‘ abgesprochen, daß di e i noffizielle Zusammenarbeit aufgrund der ent standenen politischen Lage auf unbestimmte Zeit unterbrochen wird. Damit war der IM ei nverstanden und erkl ärte si ch be reit, bei best ehender Notwendigkeit wieder für das Amt inoffiziell tätig zu werden. Es wurde abgesprochen, daß bei erneut er Kontaktaufnahme das Kennwort ‚Ingo läßt aus Eisenach grüßen‘ zur Anwendung kom mt. Nur unter Nennung dieses Kennwortes wird der IM wieder die Zusammenarbeit aufnehmen.“ 282

Grundsätze für die inhaltliche und methodische Gestaltung der Arbeit mit IM“, [handschriftl.:] [an] BV Halle, o. D.; BStU, ZA, ZAIG 13947, Bl. 28–34. Die Autorschaft von Schwanitz oder zumindest eines seiner Redensch reiber ergibt sich aus der Formulierung: „Die Leiter der Diensteinheiten des AfNS Berlin sowie die Leiter der Bezirksämter haben [...] entsprechend der in meinem Schr eiben vom 22.11.1989 (GVS o008-26/89) festgelegten Maßnahmen...“ Das zitierte Schreiben stammte von Schwanitz. 280 Ebenda, Bl. 31. 281 Der zum Teil handschriftliche Text basiert auf dem vorangegangenen Papier, aus dem Ausschnitte eingeklebt sind; BStU, ZA, ZAIG 13947, Bl. 1–13, hier 9. 282 Aktenvermerk des KAfNS Berlin-Mitte vom 30. 11.1989; B StU, ASt Berlin (unerschlossenes Material), Karton E 1.

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Ganz auf die künftige Arbeitsfähigkeit des Amtes war auch eine Konzeption ausgerichtet, die Ende N ovember von der H auptabteilung X X gefertigt wurde. Einerseits sei „ davon auszugehen, daß ein unbedingter Erhalt von Quellen gesichert w erden muß, die in der K onspiration des Gegners arbeiten.“ D azu gehörten etw a „ notwendige Q uellen in Schlüsselpositionen mit Entscheidungsmöglichkeiten“ und „ Quellen m it aktiver Zugehörigkeit zur Kirche“. A ndererseits gebe es eine Reihe von „ IM, von denen man sich zeitweilig oder dauerhaft trennen sollte“: „Im In teresse d er u mfassenden Sich erheit so llten so lche IM zur Ablage gebracht werden, [ ...] die auf Grund der funktionellen Tätigkeit im Blickfeld der Öffentlichkeit stehen (z. B. leitende Funktionen in Staat/Gesellschaft/Parteien [innehaben])“. 283

Um das zu bekräftigen, wurde angeordnet: „ Es sind alle A ufträge für IM rückgängig zu machen, mit denen politischer Schaden eintreten kann. (Kom promittierung des Amtes für Nationale Sicherheit, der Partei, des IM u. a.).“ Die zentrale Kom mission „ Neuerarbeitung und Überarbeitung dienstlicher Bestim mungen“ unter Leitung von O berst Bausch legte Anfang Dezember einen Entwurf „Zur operativen A rbeit in Sam mlungsbewegungen“ vor. Der Entwurf machte keine U nterscheidung mehr zwischen „legalisierten“ und „ nichtlegalisierten Sam mlungsbewegungen“ und ging – das w ar ein Fortschritt – vom Recht auf Koalitionsfreiheit aus: „Alle Bürger der DDR haben das Recht auf die Bildung von V ereinigungen auf der Grundlage und Übereinstimmung mit der V erfassung.“ A uch der A ufgabenbestimmung des künftigen A fNS ist anzum erken, daß die D iskussionen zur „Erneuerung“ des Amtes an den Autoren nicht spurlos vorübergegangen waren, sondern man einige Einschränkungen treffen wollte: „Das Amt für Nationale Sicherheit trägt die Verantwortung für die Verhinderung des Mißbrauchs dieses Rechts zu r Durchsetzung politischer Ziele, insbesondere mittels des gewaltsam en Umsturzes oder der planm äßigen Untergrabung der verfassungsmäßigen Ordnung [...].“ 284

In der K onkretisierung dieser A ufgabenstellung w urde dann wieder deutlich, w es G eistes K ind die A utoren trotz aller Anpassungsversuche waren. Die „ operative Arbeit“ sollte sich unter anderem konzentrieren auf die „Aufklärung von Personen in Sam mlungsbewegungen, von denen verfassungsfeindliche Aktivitäten ausgehen“ , und auf die „ Eingrenzung des 283 Hv. i m O rig. H A X X: „ Zur A rbeit mit IM im Amt für N ationale Sicherheit“ vom 28.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 13947, Bl. 14–16. 284 „Zur operativen Arbeit in Sammlungsbewegungen“ [Entwurf für eine Dienstanweisung des Leiters des AfNS] , Anlage zu Schreiben von Oberst Bausch an die Rechtsstelle des AfNS vom 2.12.1989; BStU, ZA, Rechtsstelle 26, Bl. 3–8, hier 4.

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Mißbrauchs von Kirchen u nd religiösen Einrichtungen zur D urchführung verfassungsfeindlicher Aktivitäten durch Sam mlungsbewegungen“. Letzteres war eigentlich nicht mehr zeitgemäß, weil die Bürgerrechtsorganisationen längst den Schutzraum der K irche verlassen hatten. An solchen Passagen m erkt m an, daß der ursprüngliche, w eitgehend übernommene Entwurf aus der Hauptabteilung XX/9 stammte, die für die Bekäm pfung „politischer Untergrundtätigkeit“ zuständig war. 285 Umso interessanter ist, daß die große Vorsicht, die sich hinsichtlich der Verwendung von IM durchzusetzen began n, auch in dieses D okument Eingang gefunden hat. In den Bürgerrechtsorganisationen dürften „nur zuverlässige, überprüfte und in der Zusam menarbeit bew ährte IM zum Einsatz kommen“, deren Aktionsspielraum sehr eng gezogen wurde: „Es ist darauf hinzuwirken und zu sichern, daß IM – nicht an der Vorberei tung, Organisierung und Durchführung verfassungsfeindlicher Handlungen aktiv mitwirken und sich dadurch einer möglichen strafrechtlichen Verfolgung aussetzen; – nicht zu Organisatoren neuer Sammlungsbewegungen werden oder in vorhandenen die alleinige Führung übernehmen.“ 286

Die inoffiziellen Mitarbeiter sollten sich also im wesentlichen auf die Sammlung von Inform ationen beschränken. Mehr w ar ihnen nur in Ausnahmefällen zur „Wahrung der Konspiration“ zu erlauben. Dann aber mußte der betreffende Leiter zustim men. 287 D ie Erw artung, diese IM würden „rechtswidrige H andlungen“ akti v verhindern, w ar wenige Wochen zuvor noch eine wesentliche Einsatzrichtung gewesen. Sie wurde nun stillschweigend fallengelassen. U nd auch die Ü berlegung, es sei m öglich, im Strafgesetzbuch der D DR eine Regelung zu finden, die inoffiziellen Mitarbeitern eine A rt Im munität verschaffen w ürde, w urde nicht mehr erwähnt. Der Grund dafür war wohl, daß man sich nicht mehr ohne Einschränkung auf die Kooperationswilligkeit der Justizorgane meinte verlassen zu können. Im Entw urf zu einer A nweisung des A fNS-Chefs, der aus diesen Tagen stammen muß, hatte Sch wanitz den IM-Einsatz in der Bürgerbew egung damit um schrieben, er sei „ auf die konsequente Unterstützung des sich vollziehenden Erneuerungsprozesses auszurichten“. Darunter hatte man sich unter anderem „ die Erarbeitung und Bereitstellung von Materialien“ vorzustellen, „mit denen Verfassungsfeinde entlarvt und die politische Auseinandersetzung mit ihnen geführt w erden kann“. Es gehe um „die Herausarbeitung von Feinden in Sam mlungsbewegungen m it dem Ziel, daß sich 285 Vgl. Schreiben von Oberst Reuter, Leiter der HA XX/9, vom 1.12.1989 mit Anlage „Entwurf einer Dienstanweisung zur operativen Arbeit in Sammlungsbewegungen“; BStU, ZA, HA XX AKG 1137, Bl. 15–20. 286 „Zur operativen Arbeit in Sammlungsbewegungen“, Bl. 7. 287 Vgl. ebenda, Bl. 7.

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die progressiven K räfte in diesen Bew egungen von solchen Personen distanzieren“. 288 D ie V orstellung w ar also, daß die verbliebenen inoffiziellen Mitarbeiter Inform ationen über ihre scheinbaren Mitstreiter und deren angeblich verborgene Pläne sam meln sollten, die, an die Öffentlichkeit gebracht, einen Differenzierungsprozeß in den Bürgerrechtsorganisationen auslösen würden. In einer Dienstbesprechung mit den Leitern der Bezirksäm ter für N ationale Sicherheit hat Schw anitz die O rientierung noch einmal betont, gerade in politisch h eiklen Fällen solle m an sich auf Inform ationssammlung beschränken, aber nicht versuchen, über diese IM die jeweilige offizielle Tätigkeit zu steuern: „Die Beauftragung von IM, di e gewählte Volksvertret er, Mitarbeiter staatlicher Organe und Funkt ionäre von Part eien und M assenorganisationen si nd, hat – sowei t überhaupt wei tere i noffizielle Zu sammenarbeit not wendig und zweckmäßig [ist] – ausschl ießlich zur Lösung von Aufgaben des Amtes und nicht im Zusammenhang mit ihrer staatlichen bzw. gesellschaftlichen Tätigkeit zu erfolgen. Jeglicher politische Schaden muß dabei ausgeschlossen werden.“ 289

Das konnte nur bedeuten, daß diese IM in der Regel vorsichtshalber abzu schalten waren und andernfalls wegen übergeordneter politischer Prioritäten nur Inform ationen sam meln sollten. 290 N eben Sicherheitsbedenken spielte dabei wahrscheinlich noch ein anderer A spekt eine Rolle: Die Staatssicherheit sollte als Institution von der SED auf die staatliche Exekutive um gepolt werden, der Ministerrat an die Stelle des SED -Politbüros treten. G ewiß fiel es ihren Mitarbeitern äußerst schwer, sich nicht mehr als „Parteisoldaten“ an der „unsichtbaren Front“ , sondern als Staatsdiener zu verstehen. Doch der desolate Zustand der SED und auch die absehbare politische Entwicklung waren Grund genug, eine rein staatliche Existenzform als Überlebensbedingung zu betrachten. D iese Möglichkeit, die damals noch als realistisch erscheinen konnte, hätte – mit einem Wort von Schw anitz – großen „ Schaden“ genommen, w äre offenbar gew orden, daß die Staatssicherheit versuchte, über die doppelte Loy alität inoffizieller Mitarbeiter die Regierung zu manipulieren und sich damit als „Staat im Staat“ zu etablieren.

288 Leiter des AfNS: „ Aufgabenstellungen zur Weiterführung der Arbeit mit IM im Amt für Nationale Sicherheit“, o. D., ohne Unterschrift; BStU, ZA, ZAIG 13663, Bl. 1–10. 289 „Zu einigen ausgewählten Aspekten der La ge“, handschriftl. Vermerk: „ Beratung mit Leitern d. BÄ 3.12.89“; BStU, ZA, ZAIG 7528, Bl. 9–39, hier 34. 290 Die Informationsgewinnung aus d en Führungen der Blockparteien verringerte sich in diesen Wochen zwar erheblich, wurde aber noch nicht vollständig eingestellt. Der letzte mir bekannte Bericht stammt vom 1.12.1989 und bezieht sich auf Interna aus dem Parteivorstand der CDU.

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IM „Harry“ und andere ... Welche praktische Bedeutung diese generelle U morientierung auf das Einfrieren der Verbindungen im Dienste höchstmöglicher Sicherheit hatte, soll nun noch an einigen Beispielen geprüft werden. Bereits erwähnt worden ist der A bbruch der V erbindung zu dem IME „ Klaus Sommer“, als er für die DBD Minister für Landw irtschaft wurde. Er war weder in der einen noch in der anderen Beziehung ein Einzelfall. Die Staatssicherheit w ar in den Führungen der Blockparteien stark verankert. Ein herausragendes Beispiel ist die Wahl von IMS „ Harry“ alias G ünter Hartmann zum Parteivorsitzenden der Nationaldemokratischen Partei (NDPD) am 7. N ovember. D aß sein Führungsoffizier von der Hauptabteilung XX/1 mit ihm über die Kandidatur auch nur gesprochen hätte, ist unwahrscheinlich: Das letzte Treffen lag schon zehn Monate zurück. 291 Eine Woche nach seiner Wahl wurde der Vorgang eines der dienstältesten IM geschlossen: Er w ar seit 1954 konspirativ verpflichtet gew esen. Die Begründung für die A rchivierung w ar die in solchen Fällen übliche MfS-Floskel: Die Zusam menarbeit w erde nun auf offizieller Ebene stattfinden. 292 Zwei Tage später m achte H artmann, d er zugleich V orsitzender der NDPDFraktion war, bei der Volkskammerdebatte über die Regierungserklärung als erster DDR-Politiker den Vorschlag, über eine Konföderation beider deutscher Staaten nachzudenken. 293 D aß er dam it seine Partei – ihrem Namen entsprechend – „national“ profilieren wollte, kann man vermuten. Auf jeden Fall entsprach diese Stellungnahme nicht der damaligen politischen Position von SED- und MfS-Führung. 294 Bei der Liberaldemokratischen Partei (LDPD) hatten zwar nicht der Vorsitzende, Manfred Gerlach, wohl aber seine drei amtierenden Stellvertreter – Heusinger, Lindner und Raspe – MfS-V erbindungen. Bei Hans-Joachim Heusinger lag das schon einige Zeit zurück. Er w ar – ehe er 1972 Justizminister wurde – in den Jahren von 1955 bis 1962 als Geheimer Informator 291 Vgl. BStU, ZA, MfS AIM 11945/89, Teil II, Bd. 5, Bl. 88. 292 Ebenda, Teil I, Bl. 129. 293 Vgl. 12. Tagung am 17.–18.11.1989, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 284; Neues Deutschland 18./19.11.1989. 294 Hertle und Stephan argumentieren unter Berufung auf den früheren sowjetischen Botschafter Kwizinskij , „ Moskau“ – noch immer die Macht im Hintergrund – hab e damals eine Doppelstrategie verfolgt: die SED-Führung unter Krenz in ihrer starren Ha ltung zur Wiedervereinigung unterstützt und zugleich erwogen, über die „ neuen politischen Parteien und Bewegungen“ die Idee einer Konföderation beider deutschen Staaten zu lancieren. Selbst wenn das zuträfe, ließe sich H artmanns A uftreten damit nicht erklären: Erstens war die NDPD selbstverständlich keine „neue Partei“. Zweitens handelte es sich nicht um „Überlegungen Moskaus“, sondern Kwizinskijs, der damit bei seinen Vorgesetzten nach eigener Darstellung auf wenig Begeisterung stieß. Und drittens wurde die Konzeption erst Ende November in Moskau vorgelegt. Das ergibt sich daraus, daß in ihr auf Helmut Kohls „Zehn-Punkte-Programm“ vom 28.11.1989 Bezug genommen wird. Vgl. Hertl e u. Stephan (Hrsg.): Das Ende der SED (1997), S. 87 f.; Kwizinskij: Vor dem Sturm (1993), S. 15–17.

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tätig gewesen. 295 Bei de n beiden anderen aber m ußte sich die Staatssicherheit entscheiden, wie weiter zu verfahren sei. Gerhard Lindner war seit 1962 als GI bzw. IMS „ Hans Reichert“ – zuletzt für die Hauptabteilung XX/1 – tätig. 296 Sein IM-Vorgang wurde am 15. N ovember 1989 m it der Begründung „offizieller Kontakt“ eingestellt. Ebenso jener von Hans-Dieter Raspe, der seit 1985 bei der H auptabteilung XX/1 als IMS „ Jurist“ registriert w ar, wobei es nach Aktenlage wahrscheinlich ist, daß es sich aus seiner Perspektive um offizielle, m it seiner beruflichen Funktion verbundene K ontakte handelte. 297 Aus der Demokratischen Bauernpartei (D BD) berichtete der V orsitzende ihrer Volkskammerfraktion Michael Koplanski seit 1959 als IMS „Wolf“ an die Hauptabteilung XX/1. 298 Sein IM-Vorgang wurde gleichfalls am 15. November 1989 mit der Begründung eingestellt: „ Aus politisch-operativen Gründen ist eine weitere Zusam menarbeit nicht m ehr m öglich.“ 299 Das verweist relativ deutlich auf Sicherheitsbedenken. In der CDU schließlich war der künftig e Generalsekretär Martin Kirchner, der sich im September 1989 als Mitunterzeichner des „ Briefes aus Weimar“ profiliert hatte, seit 1970 als IM tätig, zuletzt als IME „Hesselbarth“. 300 Er 295 BStU, ZA, MfS AIM 346/63, GI „Knebel“. 296 BStU, ZA, MfS AIM 11946/89; vgl. Walther: Sicherungsbereich Literatur (1996), S. 272. 297 Raspe war im Zentralvorstand der LDPD seit 1984 zuständig für Personalfragen („ Kader“). In dieser Funktion hatte er offizielle Kontakte zur Staatssicherheit, die die HA XX/1 in eine inoffizielle Verpflichtung umzuwandeln trachtete. In dem „ Werbungsvorschlag“ vom Dezember 1985 war vorgesehen, daß der künftige IM „ schriftlich“ verpflichtet werden sollte. In dem Werbungsgespräch lehnte Raspe, dem anschließenden MfS-Bericht zufolge, zuerst eine inoffizi elle Zusammenarbeit ab und war nur zu offiziellen Kontakten bereit. „ Nach längerer Diskussion“ habe er dann doch „seine Bereitschaft [erklärt], inoffiziell Verbindung zu den Vertretern des MfS zu halten, ohne daß der Parteivorsitzende Kenntnis erhält“. Aufgrund des Gesprächsverlaufs wurde darauf verzichtet, ihn zu einer schriftlichen Verpflic htung aufzufordern. Daß dies keineswegs nur eine Formsache war, ergibt sich daraus, daß Major Detzer in seinem Bericht die Notwendigkeit betonte, „ den Gewinnungsprozeß in der inoffiziellen Zusammenarbeit weiterzuführen und in der Perspektive mit einer schriftlichen Verpflichtung abzuschließen“. Dazu ist es nie gekommen. Zu den anschließenden, etwa vierteljährlichen Treffen kam der Stasi-Offizier j eweils in R aspes Dienstzimmer. D as letzte derartige G espräch fand Ende 1988 statt. Die „Berichte“ wurden durchweg nachträglich von den MfS-Offizieren zu Papier gebracht. In dem Archivierungsb eschluß wurde moniert: „Einer konkreten Berichterstattung zu Personen versuchte er [Raspe] auszuweichen. [...] Entsprechend seiner Funktion erhielt die ZA [Zusammenarbeit] w eitgehends [sic!] offiziellen C harakter.“ D aß Raspe wissentlich und willentlich inoffizie ll mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet hat, kann man meines Erachtens auf dieser Basis nicht zwingend schlußfolgern. Es ist durchaus möglich, daß sich aus seiner Perspe ktive nichts geändert und der Stasi-Offizier ihn nur bürokratisch umregistriert hatte, ohne se in eigentliches Ziel erreicht zu haben. Vgl. BStU, ZA, MfS AIM 11939/89; vgl. zu Raspes MfS-Verbindung auch Thaysen u. Kloth: Der Runde Tisch (1995 ), S. 1777 f. Hans-Dieter Raspe selbst hat am 25.7.1997 in einer Gegendarstellung zu dem zitierten Wer bungsbericht erklärt: „ Solch eine Erklärung wurde von mir nicht abgegeben.“ 298 BStU, ZA, MfS AIM 11947/89. 299 Ebenda, Teil I, Bl. 131. 300 Vgl. Schmidt: Von der Blockpartei zur Volk spartei? (1997), S. 52; BStU, ZA, Teilablage MfS 10509/73; BStU, ZA, Kartei F 22 u. F 77 zu IME „Hesselbarth“ Reg.-Nr. IX/9/70.

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wurde nicht von Berlin, sondern von der A bteilung XX der Bezirksverwaltung G era geführt. Wann dort dieser Vorgang abgeschlossen worden ist, geht aus der Akte nicht hervor. Längstens w ährte die V erbindung wohl bis zum 5. Dezember 1989, dem Tag, an dem das Bezirksamt Gera geschlossen wurde. 301 Wenn man vernünftigerweise nicht unterstellt, daß die Staatssicherheit ihre eigenen U nterlagen gefälscht hat, m uß man davon ausgehen, daß ihre Mitarbeiter die genannten IM-V orgänge, die alle „gesperrt“ archiviert wurden, tatsächlich zu den A kten gelegt haben. A us der anschließenden Zeit finden sich auch kaum mehr Berichte aus den Führungen der Blockparteien. Das schließt nicht aus, daß in manchen Diensteinheiten verfahren wurde wie in der Hauptabteilung II/2 (Spionageabwehr). Dort war entschieden worden: „Vernichtung aller Unterlagen, einschließlich K K [K erblochkarte], besonders gefährdeter IM/DDR, die in Blockparteien oder im früheren politischen Untergrund tätig sind. K ontakt w ird halbinoffiziell und persönlich durch Mitarbeiter aufrechterhalten.“ 302 D ie V erbindung aufrechtzuerhalten – das war w eit entfernt von den elaborierten Einsatzplänen der Staatssicherheit. Trotzdem hätte es Bedeutung geha bt: durch Stabilisierung von Abhängigkeit und politischer Beeinflussung. Die Entscheidung, die V erbindungen zu diesen inoffiziellen Mitarbeitern einzufrieren oder abzubrechen, m ag m ehrere U rsachen gehabt haben. Grundsätzlich war es üblich, IM, die in eine hohe staatliche oder Parteip osition aufrückten, „ aufgrund der Funktion“ zu entpflichten, w eil nun die Zusammenarbeit „ offiziell“ erfolgen konnte und um politischen Schaden zu vermeiden, falls die konspirative V erbindung ruchbar würde. 303 Gerad e letzterer A spekt w ar in diesen Wochen von überragender Relevanz. Wie aber ist die auffallende Häufung solcher Abstandsnahmen am 15. November 1989 zu erklären? A n diesem Tag geschah zw eierlei: Es w urde offiziell, daß die Staatssicherheit um eine Um profilierung nicht herum kommen würde, und es war das Ende der Führungsrolle der Politbürokratie konstatiert worden. Vor allem die Mitarbeiter der H auptabteilung XX/1, von denen die meisten hochrangigen IM in den Blockparteien geführt wurden, haben das offenbar als Signal verstanden. Eine Einsatzplanung für diese IM war unter solchen Umständen ohnehin nicht möglich. Andererseits hätte in einer heiklen politischen Situation durch Dekonspiration viel Porzellan zerschlagen werden können. Da mochte es sicherer scheinen, auf Tauchstation zu gehen.

301 Vgl. Zentraler Operativstab des AfNS: „ Rapport Nr. 339/89 vom 5.12.1989, 06.00 U hr bis 6.12.1989, 6.00 Uhr“; BStU, ZA, HA VIII 1672, Bl. 262–267. 302 HA II/2: „Umbruchprobleme“ vom 29.11.1989; BStU, ZA, HA II 585, Bl. 144–146. 303 Vgl. BStU, ASt Erfurt, AIM 772/83, Bd . I, Bl. 145; BStU, ASt Magdeburg, AIM 1797/88, Bd. II, Bl. 333 u. 336; BStU, ASt Leipzig, AGMS 655/88, Bl. 15.

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Exkurs: IMB „Czerni“ Ein prominenter Fall wurde bisher nur gestreift: IM „ Czerni“. Die Akte dieses inoffiziellen Mitarbeiters um faßte vier Berichtsbände m it etw a tausend Seiten. Im Dezember 1989 ist sie vernichtet worden. 304 „Czerni“ wurde später zur Affaire, die erhebliche Kont roversen ausgelöst und zum Rücktritt eines Spitzenpolitikers geführt hat. 305 Es handelt sich um ein Beispiel dafür, wie schwer oder gar unmöglich es ist, bei unvollständigen Akten verantwortungsvoll eindeutige Schlußfolgerungen zu ziehen. Der inoffizielle Mitarbeiter „ Czerni“ wurde in den Jahren 1981 bis 1989 vom Referat 4 der A bteilung XX in der O stberliner Bezirksverwaltung für Staatssicherheit zuerst als IM zur Sicherung eines V erantwortungsbereiches (IMS) und ab 1984 als IMB (IM m it Feindkontakt) geführt. 306 Dieses Referat unter Leitung von Major Kurt Dohmeyer war vor allem für die Ü berwachung der K irchen, insbesondere kirchenleitender G remien der Evangelischen Kirche, zuständig. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurde der IM in den Jahresarbeitsplänen der A bteilung XX der BV fS regelm äßig erwähnt: zuerst als K andidat für die „ Blickfeldarbeit“ gegenüber „bevorrechteten Pe rsonen“ aus dem nichtsozialistischen A usland, damit waren Diplomaten und Westkorrespondenten gem eint; 307 dann für die Ausforschung („Sicherung“) der Bundessy node der Evangelischen K irche. 308 Die Erwähnung eines IM in den Jahresplänen w ar fast ein Privileg, das nur einem geringen Prozentsatz zuteil w urde. Es zeigt, daß „ Czerni“ w ohl nicht nur in der Phantasie seines Führungsoffiziers, Major Hasse, existierte. Edgar Hasse, ein ausgebildeter D iplom-Physiker, w ar ein aufstrebender Mitarbeiter. Bereits im Alter von 29 Jahren hatte er es zum stellvertretenden Referatsleiter der Abteilung XX/4 gebracht. 309 Der Leiter der Abteilung XX, Oberst Häbler, hielt ihn für den „klügsten Mitarbeiter seiner Diensteinheit“, 310 304 Vgl. „ Löschauftrag“ vom 11.12.1989 zu Reg.-Nr. XV/468/81; BStU, ASt Berlin, Bln. XX 2479, Bl. 1; zum Umfang der Akte: BStU, ZA, Kartei F 77, Reg.-Nr. XV/3468/81. 305 Vgl. „ Als sogenannte Spitzenquelle“, in: Der Spiegel 18.3. 1991, S. 41–48; Robert L eicht: „Neues v on ‚Czerni‘“, in: Die Zeit 24.1.1992; „ IM ‚Czerni‘. Neuer Verdacht aufgetaucht“, in: Focus 26.1.1998, S. 11. 306 BStU, ZA, Vorgangsheft 2304 K, [Berlin] Abt. (XX) XVIII Edgar Hasse; ebenda, Vorgangsheft 1105 K, [Berlin] Abt. XX/4 Kurt Dohmeyer, Reg.-Nr. XV/3468/81. 307 BVfS Berlin Abt. XX: „ Arbeitsplan für das Jahr 1986“ vom 10.1.1986; BStU, ASt Berlin, Abt. XX 24 98, Bl. 166–214, hier 199; BVfS Berlin Abt. XX: „ Arbeitsplan für das Jahr 1987“ vom 17.12.1986; ebenda, Bl. 107–165, hier 147. 308 BVfS Berlin Abt. XX: „Arbeitsplan für das Jahr 1988“ vom 16.12.1987; ebenda, Bl. 61–106, hier 89 f.; BVfS Berlin Abt. XX: „ Arbeitsplan für das Jahr 1989“ vom 19.12.1988; ebenda, Bl. 1–60, hier 29 f. u. 40. 309 Edgar Hasse (geb. 1951) war seit 1969 als IMS „ Michael“ tätig; nach Abschluß eines Studiums trat er 1974 in das MfS, Bezirksv erwaltung Berlin Abt. XX, ein. Die Ernennung zum stellvertretenden Referatsleiter erfolgte 1980 kommissarisch, 1982 formell. Vgl. BStU, ASt Berlin, KS II 1101/91 Kaderakte Edgar Hasse. 310 Wiedergegeben nach „ Probleme, Festste llungen und Einschätzungen zu Gen. Hasse“, wahrscheinlich von Ende 1986; BStU, ZA, ZAIG 13748, Bl. 75 f.

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dem sein unm ittelbarer Chef Dohm eyer – ein MfS-Altkader Jahrgang 1931 – „ nicht gew achsen“ sei. 311 In einer Beurteilung bescheinigte er Hasse „Leistungswillen“ und „ einen gesunden Ehrgeiz zur Erlangung operativer Erfolge“. 312 Doch in bürokratischen Dingen war dieser Mitarbeiter unzuverlässig. 313 Das schien dam als nicht so w ichtig, denn H äbler war der Auffassung: „So lange hochkarätige Inform ationen kommen, interessiert m ich die Aktenführung überhaupt nicht.“ 314 Im Jahr 1988 allerdings hatte m an den Bogen überspannt. Eine K ontrollbrigade der ZA IG durchforstete die Abteilung und kam zu einer sehr negativen Einschätzung. 315 D ie K onsequenz war ein scharfer K nick in H asses Karriere. Er wurde im Oktober 1988 zum Hauptsachbearbeiter degradiert, mit Kürzung der Bezüge und V ersetzung bestraft. 316 Seine inoffiziellen Mitarbeiter mußte er abgeben. 317 Ab April 1989 war der bisherige Referatsleiter X X/4, Major D ohmeyer, für „Czerni“ zuständig. 318 Da Dohmeyer sich im September 1989 am Rande der Bundessynode der Evangelischen K irche in Eisenach m it IMB „Czerni“ traf, 319 hätte der MfS-Major spätestens dann m erken müssen, wenn die Person hinter „ Czerni“ von ihrer IM-V erpflichtung selbst nichts gewußt hätte. Allerdings hatte D ohmeyer die hochnotpeinliche U ntersuchung der Mißstände in seinem Referat durch die ZA IG hinter sich. D eren Konsequenzen waren bei ihm zw ar nicht ganz so hart w ie bei H asse gew esen, hatten ihn aber doch kurz vor der Pensionierung den Referatsleiterposten gekostet. 320 Er hätte deshalb eine solche Entdeckung vielleicht für sich behalten. 321 311 Zitiert in: „Zur Leitungstätigkeit des Referatsleiters XX/4 Gen. Dohmeyer“, wahrscheinlich von Ende 1986; BStU, ZA, ZAIG 13748, Bl. 77 f. 312 BVfS Berlin, Abt. XX, Oberst Häbler: „ Vorschlag zur Aufnahme in die Kaderreserve“ vom 20.10.1982; BStU, ASt Berlin, KS II 1101/91, Bl. 91–94. – Nachdem Hasse am 1. November 1989 frustriert sein e Entlassung au s dem MfS beantragt hatte, notierte sein langjähriger Vorgesetzter Dohmeyer eine wenig schmeichelhafte Charakterisierung in sein Arbeitsbuch: „ Edgar Hasse! 1. Ehrgeizig 2. Karrierist 3. Angst – kein Kämpfer“. Vgl. Entlassungsgesuch Hasses vom 1.11.1989; BStU, ASt Berlin, KS II 1101/91 Kaderakte Edgar Hasse; Arbeitsbuch Kurt D ohmeyer, Notizen vom 3.11.1989; BStU, ASt Berlin, Bln. XX 2251, Bl. 107. 313 Er selbst erklärte, daß er „,Büroarbeiten‘ nur ungern erledige“; [Hasse:] „ Gruppenberatung (28.06.88)“; BStU, ZA, ZAIG 13748, Bl. 91–93, hier 92. 314 Zitiert nach einer stichpunktartigen Übersicht: „ Zu Problemen der Führungs- und Leitungstätigkeit in der Abt. XX der BV Berlin “, wahrscheinlich von Ende 1986; BStU, ZA, ZAIG 13748, Bl. 62–66. 315 ZAIG/2: „Bericht über wesentliche Ergebnisse der Überprüfung in der Abteilung XX der BV Berlin“ vom 5.1.1989; BStU, ASt Berlin, Abt. XX 2484, Bl. 1–30. 316 Vgl. BStU, ASt Berlin, KS II 1101/91, „ Auskunft“ zu Edgar Hasse, Bl. 2–11; Befehl des Ministers für Staatssicherheit Nr. K/48 08/88 vom 1.10.1988; ebenda, Bl. 26; ZAIG/2: „Bericht über wesentliche Ergebnisse“ vom 5.1.1989, Bl. 17. 317 Vgl. die Übersicht der abzugebenden IM in: BStU, ASt Berlin, Bln. XX 2489, Bl. 4. 318 Vgl. BStU, ZA, Kartei F 77 Reg.-Nr. XV/3468/81. 319 V gl. Quittung Dohmeyers über die Verausgabung von 47,50 Mark Operativgeld bei Treffen mit „Czerni“ am Rande der Eisenacher Synode; BStU, ASt Berlin, Bln. XX 2496, Bl. 1. 320 Ab dem 1.5.1989 war er Offizier für Koordinierung; vgl. BStU, ZA, Kaderkarteikarte Kurt Dohmeyer. 321 Im April 1989 war geplant gewesen, IMB „Czerni“ an die HA XX/4 abzugeben. Aus unbekannten Gründen wurde dieses Vorhaben nich t realisiert. Vgl. BVfS Berlin, Abt. XX:

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Es deutet einiges darauf hin, daß m it jenem IMB „ Czerni“ der seit Anfang N ovember 1989 am tierende CD U-Vorsitzende Lothar de Maizière gemeint war: die Adressen eines Einfam ilienhauses in Berlin und eines Wochenendgrundstücks in Tornow ; 322 der Umstand, daß er Mitglied der Bundessynode der Evangelischen K irche war 323 und daß er Zugang zu internen Informationen aus dem Rechtsanwaltskollegium Ostberlin hatte; 324 schließlich auch „ Czernis“ gelegentliche Besuche in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in O stberlin. 325 D er Schnittpunkt dieser fünf A spekte verweist auf de Maizière. Nicht zu beweisen ist, daß er davon auch w ußte und nicht nur „abgeschöpft“ wurde. Er selbst räum t ein, mit Stasi-Offizieren gesprochen zu haben – allerdings nur in seiner Funktion als Anwalt. 326 Ein in dieser Beziehung entlastendes Indiz ist, daß Hasse dafür gerügt wurde, seinen IM „ Czerni“ häufig in dessen D ienstzimmer aufgesucht zu haben. 327 Gegenüber dem „Spiegel“ behauptete der inzwischen zum Kronzeugen avancierte Ex-MfS-Major, er habe „ Czerni“ alias de Maizière „auch in konspirativen Wohnungen“ getroffen. 328 D as m uß kein Widerspruch sein, aber es könnte schon darauf hindeuten, denn ein direkter Beleg für ein Treffen Hasses mit „Czerni“ in einer konspirativen Wohnung ist nicht auffindbar. 329

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„Bericht zum Stand der Realisierung der Festlegungen des Leiters der Bezirksverwaltung Berlin in Auswertung des Berichtes der ZA IG“ vom 20.3.1989; BStU, ASt Berlin, Abt. XX 2485, Bl. 22–29, hier 28. Vgl. BStU, ZA, Karteien F 22, F 77 u. F 78 zu Reg.-Nr. XV/3468/81 „Czerni“. Im Arbeitsplan der Abt. XX für 1988 wurde verfügt: „ Die Position des IMB ‚Czerni‘ ist zu nutzen zur rechtzeitigen Aufklärung der Pläne und Absichten zur Tagung der Bundessynode, [und] um seinen Einfluß geltend zu machen, damit von der Synodaltagung positive Impulse für die Gestaltung des Verhältnisses Staat – Kirche ausgehen.“; BVfS Berlin Abt. XX: „ Arbeitsplan für das Jahr 1988“ vom 16.12.1987; BStU, ASt Berlin, Abt. XX 2498, Bl. 61–106, hier 89. Vgl. „Information“ über ein Treffen Hasses mit IM „ Czerni“ vom 13.6.1984; BStU, ASt Berlin, Abt. XX 1083, Bl. 89. Dieser Bericht ist jedoch zweideutig, weil er auch so interpretiert werden kann, daß Hasses Gesprächspartner abgeschöpft wurde. Im „Arbeitsplan“ für 1989 war der Einsatz von „Czerni“ dafür vorgesehen, die „Bearbeitung der legalen Basen [des Gegners]“ zu unterstützen; BVfS Berlin Abt. XX: „ Arbeitsplan für das Jahr 1989“ vom 19.12.1988; BS tU, ASt Berlin, Abt. XX 2498, Bl. 1–60, hier 40. Vgl. de Maizière: Anwalt der Einheit (1996), S. 130–136. Vgl. Notizen zu dem Kontrollberic ht de r ZAIG/2 vom Januar 1989; BStU, ASt Berlin, Bln. XX 2485, Bl. 14; Protokoll der Dienstbesprechung in der Leitung der BVfS Berlin am 24.1.1989 zur Auswertung der Kritik der ZAIG/2 an der Abt. XX; ebenda, Abt. XX 2489, Bl. 1–8. Zitiert in: „Ehrlich, treu, zuverlässig“, in: Der Spiegel 10. 12.1990, S. 30–38, hier 34. Gegenüber dem „Stern“ erklärte Hasse, er habe de Maizière „ meist“ in konspirativen W ohnungen getroffen; vgl. „ Bei uns hieß der nur Czerny“, in: Stern 13.12.1990, Nachdruck in: Presse- und Informationsamt der Bundesreg ierung (Hrsg.): Deutschland 1990, Bd. 55, S. 1887–1889, hier 1888. Zu Hasses inoffiziellem Verbindungsnetz gehörte d ie „ konspirative Wohnung“ (IMK) „Knut“. In einer Analyse dieser IMK wurde im April 1989 festgestellt, in der Wohnung sei unter anderem der „ IMS ‚Czerni‘“ getroffen worden, jedoch werde „die IMK nicht mehr operativ genutzt“. In dem ZAIG-Kontrollbericht war moniert worden, die Nachweisführung Hasses über die Nutzung seiner IMK sei „ äußerst lückenhaft und teilweise

Die IM-Decknamen wählten die Stasi-Offiziere als Gedächtnisstütze häufig nach charakteristischen Merkmalen der betreffenden Person. Im Jahr 1981, als der zur Rede stehende inoffizielle Mitarbeiter noch ein „ IM-Vorlauf“ war, also erst gewonnen werden sollte, verpaßte m an ihm den Decknamen „Junior“. Es ist verm utet worden, die Bezeichnung habe daran angeknüpft, daß de Maizières 1980 verstor bener V ater, Clem ens de Maizière, als IMS „Anwalt“ lange Jahre über Gott und die Welt berichtet hatte. 330 Zuletzt war für ihn H auptmann Dohmeyer, damals stellvertretender Leiter des Referats XX/4, zuständig gewesen. 331 Noch im Jahr 1981 wurde Vorlauf-IM „Junior“ um registriert zum IMS „Czerni“. 332 Der Decknam e eines vollwertigen IM wurde in der Regel in Absprache mit dem Betreffenden gew ählt, und selbstverständlich mußte er ihn kennen. 333 „Czerni“ könnte eine A nspielung darauf sein, daß Lothar de Maizière ursprünglich Musik studiert hat. D och bei genauerer Betrachtung ist die Schreibw eise etw as m erkwürdig. Es handelt sich um eine Verballhornung des Namens von Carl Czerny (1791–1857). Jedem, der einmal Klavier gespielt hat, ist des K omponisten „Schule der Geläufigkeit“ ein feststehender Begriff. Bei der Schreibart „ Czerni“, die in den entsprechenden MfS-Vorgängen bis zum Schluß durchgehalten wurde, müßten sich einem musikalisch gebildeten Menschen die Haare sträuben. Es wäre aber voreilig, daraus zu schließen, die falsche Schreibw eise könnte nur auf dem Mist ignoranter MfS-O ffiziere gew achsen sein, w ährend der ehemalige Berufsmusiker de Maizière niem als selbst so geschrieben hätte. 334 D och Führungsoffizier Hasse schrieb den Decknamen in persönlichen Notizen korrekt als „Czerny“. 335 Noch in seinen 1996 erschienenen Erinnerungen wird dagegen von Lothar de Maizière dem Komponisten – nicht etwa dem IM – der Name „Czerni“ verliehen. 336 Die Aktenlage ist zweideutig: Die „ Blickfeldarbeit“ (durch die ein inoffizieller Mitarbeiter die Gegenseite auf sich aufm erksam m achen sollte) m it IM „Czerni“ geschah, wie in dem MfS-internen Kontrollbericht von Anfang

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nicht nachvollziehbar“. BVfS Berlin, Abt. XX/4: „ Operative Einschätzung der IMK ‚Knut‘“ vom 17.4.1989; BStU, ASt Berlin, Bl n. AIM 5464/89, Teil I/1, Bl. 78; ZAIG/2: „Bericht über wesentliche Ergebnisse der Überprüfung in der Abteilung XX der BV Berlin“ vom 5.1.1989, Bl. 16. BStU, ASt Berlin, AIM 5647/88; vgl. da zu Robert Leicht: „Neues von ‚Czerni‘“, in: Die Zeit 24.1.1992. Vgl. Archivierungsbeschluß Dohmeyers vom 8.8.1988; BStU, ASt Berlin, AIM 5647/88 IMS „Anwalt“, Teil I, Bd. 5, Bl. 136 f. BStU, ZA, Kartei F 77, Reg.-Nr. XV/3468/81. Vgl. die damals gültige Richtlinie 1/79 für die Arbeit mit IM vom 8.12.1979; dokumentiert in Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter (1996), S. 305–373, hier 350. Das wird in einem einschlägigen Artikel ve rmutet; „ Ehrlich, tr eu, zuverlässig“, in: Der Spiegel 10.12.1990, S. 30–38, hier 31. Notizen von Hasse vom 1.3.1989; BStU, ASt Berlin, XX 2491, Bl. 1 f. „Czerni [sic!] war ein Komponist, ein Schüler von Beethoven, und dieser Musikername hätte zu mir gepaßt, meinte der Spiegel. Dabei hasse ich C zerni!“ De Maizière: A nwalt der Einheit (1996), S. 134.

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1989 bemängelt wurde, ohne „Einsatzkonzeption“. 337 Das heißt, „Czerni“ war etwa Gast in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin, ohne daß sein dortiges A uftreten mit den zuständigen Diensteinheiten der Staatssicherheit abgesprochen gew esen wäre. So könnte H asse de Maizière nach solchen Besuchen ausgehorcht haben. 338 D a der Major von seinen inoffiziellen Mitarbeitern meist keine schriftlichen Treffberichte fertigen ließ und sich angew öhnt hatte, die Ergebnisse m ehrerer solcher Treffen zu einem IM-Bericht oder einer „Operativinformation“ zusammenzuschreiben, 339 waren seine Verbindungen selbst von seine n Vorgesetzten nicht zu kontrollieren. 340 Eigenartig ist ein „Auskunftsbericht“, den Hasse im Jahr 1986 für seine übergeordnete H auptabteilung, die H A X X/4, schrieb. 341 An laß war d ie Wahl de Maizières in die Bundessy node der Evangelischen K irche. H asse berichtete, es seien „ Kontakte zwischen Rechtsanwalt de Maizière und Mitarbeitern der Ständigen Vertretung der BRD in der D DR in der V ergangenheit festgestellt“ worden – das klingt nicht gerade so, als ob de Maizière sich in geheim dienstlichem Auftrag dorthin begeben hätte. Wegen seiner „bekanntgewordenen“ Verbindung zu dem als regim ekritisch bekannten Pfarrer Eppelmann (dem Hasse im OV „Blues“ zusetzte) sei 1982/83 „ eine operative Bearbeitung des de Maiziere“ erfolgt. 342 Er habe sich bisher jedoch stets als „ politisch loyal“ erwiesen. Dann wird es vollends sonderbar: Die „politische Arbeit m it de Maizière in Zusam menhang mit seiner Berufung zum Synodalen“ w erde „ über den V orstand des Berliner Rechtsanwaltskollegiums“ und den Bezirksvorstand der CD U „veranlaßt“. 343 Gerade wenn die Synode das Einsatzfeld des „ IM“ sein sollte, wäre das nach den Vorschriften der Staatssicherheit die Aufgabe des Führungsoffiziers gewesen. 344 337 ZAIG/2: „Bericht über wesentliche Ergebnisse der Überprüfung in der Abteilung XX der BV Berlin“ vom 5.1.1989, Bl. 18. 338 Vgl. BVfS Berlin, Abt. XX/4: „ Information über einen Empfang des Leiters der Ständigen Vertretung der BRD in d en Abendstunden des 22. März 1988“ vom 30.3.1988, gez. Major Hasse; BStU, ZA, HA XX/4 1981, Bl. 7–9. Dieses Exemplar war laut Verteiler für die AKG der HA XX bestimmt. 339 ZAIG/2: „Bericht über wesentliche Ergebnisse der Überprüfung in der Abteilung XX der BV Berlin“ vom 5.1.1989, Bl. 18. 340 Das wurde bereits bei einer Revision im Jahre 1986 kritisiert; vgl. „Zur Leitungstätigkeit des Referatsleiters XX/4 Gen. Dohmeyer“, wahrscheinlich von Ende 1986; BStU, ZA, ZAIG 13748, Bl. 77. 341 Hauptmann Hasse, BVfS Berlin, Abt. XX/4: „ Auskunftsbericht bezüglich des Bundessynodalen de Maizière, Lothar“ vom 22.1.1986; BStU, ZA, HA XX/4 450, Bl. 212 f. 342 Es findet sich in den Unterlagen kein Bele g dafür, daß de Maizière tatsächlich in irgendeiner Form (OPK oder OV) vom MfS bearbeitet worden wäre. Entsprechende Unterlagen wären der vernichteten IM-Akte beigefügt worden. 343 Hasse: „Auskunftsbericht“ vom 22.1.1986, Bl. 213. 344 Dazu die einschlägige Richtlinie: „ Die IM sind anhand der durch sie zu lösenden politisch-operativen Aufgaben, insbesondere im Zusammenhang mit der Auftragserteilung und Instruierung sowie der Berichterstattung zu erziehen und zu befähigen. Das hat vor allem durch ihre aktive Einbeziehung in die Beratung der Aufträge sowie ihre Mitarbeit

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Eine IM-Verpflichtung der betreffenden Person in solchen Auskunftsberichten offen zu erw ähnen w ar im übrigen nicht üblich. 345 Es gab dafür konspirative G ründe. Manchm al kam en interne Interessenkonflikte hinzu: Offiziere nachgeordneter D iensteinheiten fürchteten, daß die Hauptabteilung ihnen besonders gut plazierte IM w egschnappen könnte. Tro tzdem ist dieser Bericht in sich nicht stimmig. 1986 wurde Hasse beauftragt, den IMB „ Czerni“ in zwei operativen Vorgängen einzusetzen: dem OV „Blues“ und dem OV „Blauvogel“. 346 Im OV „Blues“ gegen Rainer Eppelmann findet sich in acht Bänden keine Spur von „Czerni“. 347 Das Gleiche gilt für den OV „ Blauvogel“ (gegen Ralph Hirsch), obwohl dieser OV sogar unter Fede rführung von Hasse bearbeitet worden war, der eine ganze Reihe von inoffiziellen Mitarbeitern anderer Diensteinheiten für sein Projekt bem üht hat. 348 H asse w ar allerdings persönlich der A uffassung, daß inoffizielle Mitarbeiter aus konspirativen Gründen möglichst nur auf einen Vorgang angesetzt werden sollten. 349 Das waren im Falle von „ Czerni“ gem äß den „Arbeitsplänen“ der Abteilung XX zeitlich zuerst die „legalen Basen des G egners“ (die Ständige V ertretung der Bundesrepublik in Ostberlin) und dann die Ü berwachung kirchenleitender O rgane. Die andere Seite: Hasse zeigte sich zum indest im Jahr 1987 außerordentlich gut inform iert über die D ebatten im Präsidium der Sy node des Bundes der Evangelischen K irche, dem de Maizière seit Ende 1985 angehörte. Er hatte dafür großes Interesse, w eil er – w ie die Staatssicherheit generell – bemüht war, die sogenannten progressiven K räfte in der evangelischen K irche, die zur Zusam menarbeit m it dem Parteistaat bereit waren, ebenso zu stärken wie die „loyalen Kräfte“, die den K onflikt scheuten, und die „negativen K räfte“ zu schw ächen, die die A useinandersetzung mit der Diktatur riskierten. A ls den U rsprung seines Wissens um solche Differenzierungen

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bei der Ausarbeitung und Konkretisierung der erforderlichen Verhaltenslinien und operativen Legenden zu erfolgen. “ R ichtlinie 1/79, in: Müller-E nbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter (1996), S. 323. So wird in einem analogen Auskunftsbericht zum Bundessynodalen Martin Kirchner, der unzweifelhaft langjähriger IM war, nichts de rgleichen erwähnt, allerdings werden – zarter Hinweis – dessen „ staatsbejahende Li nie“ und die Fähigkeit, „ abgestimmt aufzutreten“, betont. „Einschätzung“ der BVfS Ge ra, Abt. XX/4, für die HA XX/4 vom 30.5.1985; BStU, ZA, HA XX/4 450, Bl. 139–141. BVfS Berlin Abt. XX: „ Konzeption zur weiteren Entwicklung und Qualifizierung von IMB in der Abteilung XX im Zeitraum von 1986 bis 1990“ vom 16.6.1986; BStU, ASt Berlin, Bln. XX 2492, Bl. 1–10, hier 4. Bei dem OV „ Blues“ handelt es sich nicht um die Originalakte (die vernichtet worden ist), sondern um nachträglich zusammengestelltes Material; BStU, ASt Berlin, AOP 8695/91, 8 Bde. Vgl. OV „Blauvogel“, BStU, ASt Berlin, AOP 3319/88, 4 Bde. Vgl. BVfS Berlin, Abt. XX: „Erste Überlegungen zu Prämissen, konzeptionellen Vorstellungen und Problemen eines längerfristig angelegten Vorgehens zur Bekämpfung und generellen Zurückdrängung der politischen Untergrundtätigkeit (PUT) unt er Mißbrauch kirchlicher Möglichkeiten“ vom 10.3.1987, gez. Major Hasse; BStU, ZA, ZAIG 13748, Bl. 83–90, hier 89.

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und ihre jeweiligen Repräsentanten nannte der MfS-Offizier in zusammenfassenden „Operativinformationen“ eine nicht näher spezifizierte „zuverlässige und überprüfte inoffizielle Q uelle“. Die Schilderungen scheinen zu detailliert, um nebenher „ abgeschöpft“ worden zu sein; Sitzungsprotokolle sind jeweils beigefügt. 350 Woher kamen diese Informationen? In einer Liste inoffizieller Mitarbeiter des Referates X X/4 vom Januar 1989 findet sich der „IMB ‚Czerny‘ [sic!]“ mit dem Vermerk: „B.-Syn.“, das soll verm utlich Bundessynode heißen. 351 Es ist der einzige H asse zugeordnete IM, bei dem eine solche Bemerkung angefügt ist. 352 Weitere Spuren von „Czerni“ finden sich vereinzelt in anderen Akten; sie sind aber hinsichtlich bewußter, konspirativer Zusam menarbeit m it der Staatssicherheit nicht eindeutig zu interpretieren. 353 Wirkliche Klarheit ist bei dieser Aktenlage meines Erachtens nicht zu gewinnen. Die juristische Regel in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten, ist in einer historischen Arbeit nicht anzuwenden: Es geht um kein strafrechtliches Urteil; hohe Plausibilität m uß als Kriterium häufig genügen. Aber selbst eine zwingend erscheinende Schlußfolgerung drängt sich in diesem Fall nicht auf. Wenn man annehmen würde, daß de Maizière zuvor wissentlich und willentlich für die Staatssicherheit gearbeitet hat, so würde sein Verhalten im Umbruch die These stützen, daß die IM teils abgeschaltet w urden, teils aus dem Ruder gelaufen sind. So scheiterte wesentlich an de Maizière der letzte Versuch von Egon K renz, am 28. N ovember den Zusammenhalt des alten Machtkartells „Demokratischer Block“ zu retten. Er m achte – gegen den Willen der durch Krenz vertretenen SED – den Vorschlag, „diese Sitzung als unsere letzte zu betrachten und von ihr an den Runden Tisch zu gehen“. 354 350 Vgl. „ Operativinformationen“ zu den Pr äsidiumssitzungen am 12.3., 2.7. und 4.9.1987 und der Synodaltagung in Görlitz vom 18.–22.9.1987; BStU, ASt Berlin, Bln. XX 2477. 351 Die Liste ist überschrieben mit „Dohmeyer“ (er hatte einige der von Hasse zuvor geführten IM nach dessen Strafversetzung übernommen) und dem Datum 16.1.1989; BStU, ASt Berlin, Bln. XX 2489, Bl. 1. 352 In einer Übersicht zur künftigen Struktur des Referates XX/4 der BVfS Berlin vom Frühjahr 1989 findet sich unter der Überschrift „ In das Referat XX/4 werden übernommen“ folgende Auflistung: „ Ev[angelische] Kirche [:] 7 IMB (darunter ein Synodaler der Bundessynode), 25 IMS (darunter kirchl[iche] Wü rdenträger und kirchl[iche] Angestellte)“; BStU, ASt Berlin, Bln. XX 2493, Bl. 4. 353 So wurde in einem Operativen Vorgang gegen einen MfS-Offizier dem Betreffenden die Freundschaft seiner Familie mit der Familie de Maizière zum Vorwurf gemacht. Obwohl Lothar de Maizière in diesem Vorgang mehrfach genannt wird, findet sich in der Akte Kadett“, kein Bericht des IM „Czerni“. Vgl. BStU, ZA, MfS AOP 16310/91 OV „ Bl. 65 f. u. 89 (namentliche Erwähnung von de Maizière). Vgl. auch BVfS Berlin Abt. XX/4: „Operativ-Information über politische Meinungsäußerungen des Abteilungsleiters im Westberliner Senat, Thomas de Maizière“ vom 3.8.1988, gez. Major Hasse; BStU, ASt Berlin, A 653 (unerschlossenes Material). Lothar de Maizière wird in dieser Information mit Klarnamen zitiert; der Bericht basiere – w ird behauptet – auf einer U nterredung zwischen ihm und einer „zuverlässigen und überprüften Quelle“. 354 Protokollauszug der Sitzung des „ Demokratischen Blocks“ am 28.11.1989, in: Suckut: Die DDR-Blockparteien (1994), S. 186–197 (Protokoll), hier 187.

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Am 1. Dezember berichtete die Hauptabteilung X X/1 über die Lage in der CDU und speziell über deren neuen V orsitzenden de Maizière: Er habe „den realistischen Blick für positive Errungenschaften der bisherigen politischen Arbeit und des dem okratischen Blocks noch nicht gefunden“ . Weiter heißt es in der „Information“ für die Leitung der Hauptabteilung: „Zur möglichen Haltung des neuen CDU-Vorsitzenden gegenüber dem Amt für Nationale Sicherheit wird inoffiziell eingeschätzt, daß de M aizière offensichtlich noch ein völlig unklares Verhä ltnis zum Sicherheitsorgan hat. Er spricht zwar von ‚not wendigen Diensten‘, aber er si eht sie im Inneren ni cht. Auch ein Argument des Angebot es eines Schutzes der C DU vor Unt erwanderung durch verfassungs feindliche Kräfte sei gegenwärt ig kaum t ragfähig für eine Kontaktaufnahme. Es wurde em pfohlen, eine derartige Kontaktaufnahme noch zurückzustellen und wenn sie für erforderlich gehalten wird, sei für d e Maizière v ermutlich n ur d er Leiter d es Am tes ak zeptabel. En tscheidend sei für die CDU, daß das Am t k eine In stitution b leibe, d ie sich j eder parlamentarischen Kontrolle entziehe.“ 355

Das klingt wie eine grundsätzliche Entlastung de Maizières, doch zu diesem Dokument sind einige quellenkritische Anmerkungen notwendig. Es basiert auf dem Bericht eines inoffiziellen Mitarbeiters, offenbar im Hauptvorstand der CDU, der gem äß den konspirativen Regeln der Staatssicherheit von einer Verpflichtung de Maizières nichts gewußt hätte. Für „Czerni“ war zudem nicht die H auptabteilung X X/1, sondern die A bteilung XX/4 der Bezirksverwaltung Berlin bzw . die H auptabteilung X X/4 zuständig. Es ist anzunehmen, daß sich de Maizière gerade bei einer entsprechenden Verstrickung besonders vorsichtig zu dem heiklen Thema Staatssicherheit geäußert hätte. Umgekehrt ist aber kaum vorstellbar, daß die für die Führungen der Blockparteien zuständige Hauptabteilung XX/1 noch drei Wochen nach der Wahl von de Maizière zum (amtierenden) CDU-Vorsitzenden nicht von einer spezifischen V erbindung zu ihm gew ußt hätte – schließlich hätten ein Anruf oder ein Gespräch genügt. 356 Wäre sie aber informiert gewesen und hätte es sich um eine Beziehung besonderer Art gehandelt, so würde es sich bei dem zitierten Schreiben nicht um „Information“, sondern um Desinformation der eigenen Vorgesetzten gehandelt haben – was nicht anzunehmen ist. 357 355 HA XX/1: „ Information zu ei nigen Aspekten der Lage in der Führung der CDU“ vom 1.12.1989; Verteiler: Generalleutnant Kienberg, Leiter der HA XX, Oberst Paroch, sein 1. Stellvertreter, und Oberst Jaekel, Le iter der HA XX/1; BStU, ZA, HA XX/1, Bündel 1048, 5 Bl., hier Bl. 3 u. 5. 356 In einem Interview hat der Leiter der HA XX/1, Oberst Jaekel, später behauptet: „ Daß de Maizière IM war, wußten doch viele bei uns in der Hauptabteilung.“ „ Bei uns hieß der nur Czerny“, in: Stern 13.12.1990, Nachdruck in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Deutschland 1990, Bd. 55, S. 1887–1889, hier 1888. 357 Denkbar ist auch, daß das Wissen um eine IM- Verpflichtung als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Gerade dann aber wäre diese Information erläuterungsbedürftig ge we-

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Die Distanz der Staatssicherheit zu de Maizière war in jener Zeit so groß, daß er aus ihren Reihen heraus A nfang 1990 denunziert wurde: Am 10. Januar erhielten die Bürgerrechtsorganisationen am zentralen Runden Tisch einen anony men Brief: D er V orsitzende der CD U – die gerade auf prinzipielle Distanz zur SED-PDS ging und die ersatzlose A uflösung der Staatssicherheit zu fordern begann 358 – sei vom MfS als IM „Czerni“ geführt worden. 359 Das blieb dam als vertraulich und hatte keine Folgen. D er Brief kann nur aus der Staatssicherheit gekom men sein, denn nur dort w ar der Deckname seinerzeit bekannt. Vielleicht handelte es sich um jene Destabilisierungsvariante, die im Zusammenhang mit der IM-Durchdringung der Regierung Modrow erörtert worden ist, vielleicht aber auch um die Initiative eines unteren MfS-Offiziers. Schließlich macht es – w enn man Planung unterstellt – wenig Sinn, zuvor die „ Czerni“-Akte zu vernichten. Solche Widersprüche könnten freilich auch Ausdruck des zunehm enden Chaos in der Staatssicherheit gewesen sein. Aber we lche Schlüsse m an auch immer aus den fragmentarischen Beweismitteln zu „ Czerni“ zieht – eines scheint doch deutlich: Im Umbruchwinter 1989/90 hatten die Offiziere der Staatssicherheit in Lothar de Maizière keinen, auf den sie meinten, rechnen zu können.

9.7 „Der Laden zerbröckelt“ Um den Lernprozessen nachzuspüren, die sich in der zw eiten N ovemberhälfte 1989 unter den hauptamtlichen Mitarbeitern der Staatssicherheit vollzogen, soll noch eine Schicht tiefer gegraben w erden. Bisher wurden taktische Umorientierungen auf der Ebene der Generalität und m ehr oder weniger beschränkte Versuche nachgezeichnet, diese Institution auf Ebene der Leitungen einzelner Diens teinheiten zu „ erneuern“. Wie einfache MfS-Offiziere auf die entstandene Lage reagierten, zeigen Protestschreiben von MfSAngehörigen und Protokolle von Parteiversam mlungen. Die SED-Organierkenswerten Funksation im MfS hat in diesen Monaten einen bem tionswandel durchgemacht. Das war möglich, weil in ihr – anders als in der militärbürokratischen Dienstorganisation – formal demokratische Strukturen existierten. Sie hatten bisher freilich keine Rolle gespielt, weil dienstliche und Parteihierarchie w eitgehend zusammengefallen waren und vom angeblich „ demokratischen Zentralism us“ nur der Zentralism us tatsächliche Besen und hätte weit ere Fragen aufgeworfen, die zu beantworten gewesen wären: Was war geschehen, daß der IM nicht mehr mittun w ollte? Was hatte man versucht, um ihn umzustimmen? Konnte man ihn unter Druck setzen? usw. 358 Siehe Kap. 12.2, S. 714 ff. 359 Das O riginalschreiben i st n icht a uffindbar; berichtet wird darüber in: Der Spiegel 26.3.1990, S. 27; die tageszeitung, 11.12.1990; Die Welt 15.12.1990.

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deutung hatte. 360 In der aktuellen Situation aber erwiesen sich die Parteistrukturen als flexibler, da die statuarischen Rechte der einfachen Mitglieder angesichts einer verunsicherten Führung einen Rahm en boten, um Kritik zu artikulieren oder sogar Leiter abzulösen, ohne deshalb m it der Institution ganz brechen zu m üssen. Gewiß hatte ein SED -Mitglied viele Pflichten und kaum innerparteiliche Rechte. Aber solange keine Entscheidungen gefallen waren, hatte es theoretisch etwa einen A nspruch darauf, „ an der Erörterung der Politik der Partei und ihrer praktis chen Arbeit teilzunehmen, Vorschläge zu unterbreiten, seine Meinung frei zu äußern“. 361 Diese bis dahin nur auf dem Papier stehenden Rechte konnten nun genutzt werden. Die Parteileitung im AfNS Nachdem das MfS-K ollegium eine „ Erklärung“ verabschiedet hatte und damit wenigstens die grobe Richtung bestim mt war, fand am 18. November eine Sitzung der SED -Kreisleitung im MfS statt. 362 Deren eigentliche Führung, das hauptamtliche 16köpfige Sekretariat, an dessen Spitze Generalmajor Horst Felber stand, hatte d amit wochenlang gezögert. Man wollte erst abwarten, was die neue Linie sein w ürde, und hatte damit den Zorn der einfachen Parteimitglieder noch gesteigert. 363 Von verschiedenen Parteiorganisationen im AfNS war gefordert worden, daß das Sekretariat und ebenso die ehrenamtliche Kreisleitung, der 90 Personen angehörten, zurücktreten sollten. 364 A ngesichts der Zusam mensetzung dieses G remiums bestand wenig Aussicht, daß dem entsprochen w erden w ürde: D ie Mehrzahl seiner Mitglieder waren hohe O ffiziere, meist Leiter von Hauptabteilungen und selbständigen Abteilungen, einige ihrer Stellvertreter, dazu einzelne Leiter von unselbständigen Abteilungen und Referaten. D ie zw eite große Mitgliedergruppe bestand aus hauptam tlichen Parteifunktionären, den Mitgliedern des Kreissekretariats. Rangniedere M fS-Mitarbeiter w aren in der Kreisleitung nur spärlich vertreten. 365 360 Vgl. Schumann: Die Parteiorganisation der SED im MfS (1998). 361 Zitiert nach „Statut der SED“ vom 22.5.1976, in: Programm und Statut der SED (1982), S. 107–139, hier 112. 362 „Protokoll der Sitzung der SED-Kreisleit ung am 18. November 1989“; BStU, ZA, SEDKL 570, Bl. 782–865. 363 Auf der Sitzung der Parteikontrollkommission am 13.11.1989 berichtete ein Mitglied des Sekretariats der SED-Kreisleitung: „Da es keine fachliche Führung gibt, gibt es in der KL [Kreisleitung] keine Konzeption, mit der man vor das Kollektiv treten kann. [...] Die Kreisleitungssitzung wird von einem auf den anderen Tag verschoben. Es ist ein schwerer Kampf um durchzukommen.“; BStU, ZA, SED-KL 510, Bl. 216–225, hier 219. In einem Thesenpapier der Kreisleitung vom 18.11.1989 wurde selbstkritisch eingeräumt, daß spätestens „nach den Ereignissen um den 7. und 8. Oktober“ eine Sitzung notwendig gewesen wäre. „ Arbeitsthesen der Kreisleitung zu aktuellen Aufgaben in der Parteiarbeit. Beschluß der Kreisleitung vom 18.11.1989“ ; BStU, ZA, Neiber 89, Bl. 630–650, hier 634. 364 Vgl. „Protokoll...“, 18.11.1989, Bl. 790 u. 796. 365 Vgl. „Mitglieder der Kreisleitung“, 14./15.2.1986; BStU, ZA, Neiber 89, Bl. 58–62.

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Dennoch wurde auch in diesem Gremium ein Antrag auf Rücktritt der gesamten Kreisleitung gestellt. Die Initiativ e dazu ergriff der 1. Sekretär der Parteiorganisation in der HV A, ein Oberstleutnant. 366 Er war frisch in diese Funktion gew ählt und verkörperte auch durch seinen relativ niedrigen Dienstgrad (der Vorgänger war Generalmajor) einen G enerationenwechsel. In der HV A war der Unmut über die alte Führung besonders groß. Vertreter dieser Diensteinheit hatten sich schon eine Woche zuvor auf der Parteiaktivtagung des Ministerium s kritisch über den dam als am tierenden Minister, Rudi Mittig, geäußert. Das Vorhaben stieß auf heftige Kritik. Generalmajor Coburger, Leiter der Hauptabteilung VIII (Observation), postulierte: „Unsere Genossen brauchen doch Ruhe. [...] Ich m uß doch arbeiten. Wir können doch nicht verrückt spielen, weil es Mode gew orden ist, daß w ir Leute absetzen und wir wissen nicht, was wir tun sollen.“ 367 Ähnlich Generalleutnant Kienberg (HA XX): Er forderte, „ mit Bedacht alle D inge [zu] verändern, m it Bedacht und Ruhe“, und aufzuhören „mit dem Zerfleddern und Zerfleischen“.368 Angesichts solcher Ä ußerungen der bisherigen A utoritätsträger in der Staatssicherheit überrascht es allenfalls, daß der Rücktrittsantrag „ einstimmig“ abgelehnt wurde. 369 Irgend etwas aber mußte geschehen, denn w ie der Redner aus der H V A gemahnt hatte: „Die Situation in unseren Parteiorganisationen ist [...] explosiv“. 370 Da half auch nichts, daß G eneralleutnant G ünter Wolf, Leiter der Hauptabteilung Personenschutz, die rhetorische Frage stellte: „ Müssen wir jeder Stimmung aus unseren K ollektiven denn nachgeben? “ 371 Gan z war das nicht zu vermeiden. So sollte wenigstens über einen Rücktritt des Sekretariats, des eigentlichen Leitungsgrem iums, entschieden werden. Vor der Abstimmung, bei der es um seine eigene A bwahl nach zw anzig Jahren Tätigkeit als hauptamtlicher Parteifunktionär ging, gab der 1. Sekretär, Felber, deshalb zu bedenken: „Es ist uns gar nicht gedient, und wenn wir den Beschluß noch so einstimmig fassen darüber, daß das Sekretariat auch nicht zurücktritt, dann haben wir ab Montag spätestens in unserer Parteiorganisation leider einen Rabatz und den können wi r uns ni cht l eisten und den können wir auch nicht verkraften [...]“ 372

So wurde – auch diesm al „ einstimmig“ – beschlossen, daß das Sekretariat 366 367 368 369 370 371 372

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Oberstleutnant Dietmar Bauer, in: „Protokoll...“, 18.11.1989, Bl. 790. Ebenda, Bl. 791. Ebenda, Bl. 792. Ebenda, Bl. 797 f. Ebenda, Bl. 789. Ebenda, Bl. 794. Ebenda, Bl. 798.

der Kreisleitung zurücktreten sollte. 373 Der Um sturz hielt sich freilich in Grenzen, denn Nach folger Felbers wurde sein bisheriger Stellvertreter, der 48jährige Oberst Rolf Scheffel 374 . Felber aber erklärte in einem bitteren Abschiedswort, das etwas über die Atmosphäre im Amt verriet: „Am meisten bin ich davon berührt , wie plötzlich das St immungsbarometer umschlagen kann. Genossen, di e zu den persönlichen Gesprächen und auch zum Geburt stag [am 23. Oktober] noc h lobende Worte über di e Arbei t der Kreisleitung, des Sekretariats und auch auf m ich bezogen fanden, haben ei ne mir unverständliche Wende gemacht. Sie vertrauen plötzlich nicht mehr. Das geht natürlich auf das Gem üt, und auch auf m einer Seite ist ein Vertrauensbruch entstanden.“ 375

Das Protokoll dieser Sitzung läßt das Ausm aß des inneren Zerfalls der Staatssicherheit erahnen. D ie alte Leitung – nicht nur der SED -Parteiorganisation – hatte ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Die „Wende“ nahm man ihr nicht ab. Oberst Horst König, an der Schule der H V A für „ Imperialismusanalyse“ zuständig, schilderte die Lage: „Es geht ganz ei nfach darum , daß die Genossen m einer Grundorgani sation nicht mehr glauben, daß das, was an Si cherheitskonzept und Arbeit des MfS in der Vergangenheit des MfS gültig wa r, mit den gleichen Genossen grundsätzlich geändert wi rd, so wi e es der Genosse Herger auf der Aktivtagung [am 11. Novem ber] gesagt hat, geändert werden m uß. Das wi rd nicht mehr geglaubt, ob wir das annehmen oder nicht. [...] Ich habe in meiner Grundorganisation über das Auftreten unserer ZK-M itglieder nichts als Pfiffe geerntet [...] und in unseren Lehrgängen bei den jungen Genossen, sage ich euch ganz ehrlich, da kämpfen wir, damit der ganze Laden nicht zerbröckelt, damit er sich nicht selbst zersetzt.“ 376

Befehle, die vorherrschende K ommunikationsform im MfS, w urden nicht mehr widerspruchslos entgegengenom men. D er Leiter der H auptabteilung Kader und Schulung, Generalmajor Möller, 377 klagte: „ Es ist heute zur 373 Ebenda, Bl. 799. 374 Rolf Scheffel (geb. 1941 in Lichtentanne, Kr eis Zwickau) ist gelernter Werkzeugmacher. Er trat 1960 in das MfS, Abteilung Fu nkabwehr, ein, wo er vom einfachen operativtechnischen Mitarbeiter zum stellvertretenden Abteilungsleiter aufstieg. 1978 wechselte er als 2. Sekretär in die SED-Kreisleitung im MfS. 1987 promovierte er an der Hochschule des MfS mit einer K ollektivdissertation. Vgl. BStU, ZA, Kaderkarteikarte; BStU, ZA, JHS 21989. 375 „Protokoll...“, 18.11.1989, Bl. 802. 376 Ebenda, Bl. 796. 377 Günter Möller (geb. 1934 in Förtha/Thüringen); Werkzeugmacher; 1952 Einstellung beim MfS; 1954 Mitarbeiter der HA II (Spionageabwehr); 1965 s tellvertretender Abteilungsleiter, dann Abtei lungsleiter in der HA II; 1977 Promotion an der JHS mit einer Arbeit zur Spionageabwehr im MfS; 1982 Leiter der HA Kader u. Schulung; 1988 Generalleut-

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Mode geworden, über jede Dienstanweisung, über jeden Befehl zu diskutieren.

nant. Vgl. Gieseke: Wer war wer im MfS (1998), S. 51.

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Das geht so weit, daß es in den D ienstkollektiven im Grunde schon Verweigerungen gibt.“ 378 Angehörige der Staatssicherheit durften nach der Maueröffnung zw ar nach Italien oder Spanien reisen, nicht aber in den anderen deutschen Staat. Das hatte die MfS-Zentrale am 13. N ovember dekretiert. 379 Als aber die „Berliner Zeitung“ fälschlich gem eldet hatte, A ngehörige der Sicherheit dürften doch fahren, „standen bei uns in der V isastelle“ – berichtete Möller fassungslos – „ Schlangen und wollten sich ein Visum für Westberlin oder die BRD holen: Mitarbeiter unseres Organs.“ 380 Ein weiterer Redner meinte erschüttert, daß „selbst manchen reifen Offizier die 100 DM mehr locken als das, was sich in den Jahren als Ideal dargestellt hat“. 381 Wie es um den „ Kampfgeist“ bei den jüngeren „ Tschekisten“ bestellt war, machte der 1. Sekretär der FDJ-Kreisleitung, Major Willim, deutlich: „Tatsache ist, ohne in Panik zu verfallen, aber daß bei vielen unserer Kämpfer, unserer jungen Kämpfer Ideale zusammenbrechen [...] Die Stimmung unter jungen Genossen i st so, daß di e Erklärung [des MfS-Kollegiums vom 15. November], ich spitze das bewußt et was zu, als Abschied sbrief aufgefaßt wird an unsere M itarbeiter, und di e Losung i n unserer Krei sorganisation herumgeht, wer will, kann gehen und sich selbst eine Arbeit suchen. [...] Es gibt massiven Widerstand, Widerspruch möchte ich sagen, auch Demonstrationen gegen die Um setzung der Reiseo rdnung in unserem Organ [...] . Also unsere Unteroffiziere auf Zeit wollen fahr en. Und ich sehe auch di e Aktualität des B efehls ni cht m ehr aufrecht zuerhalten, daß in unseren Objekten die Westmedien nicht gehört und nicht gesehen werden dürfen. In den Kasernen, ich weiß, ich kann hi er nicht alles ausargumentieren, aber es wird so und so gemacht, und die Kommandeure und Politorgane sind hilflos, dort dem etwas entgegenzusetzen“. 382

Der Leiter der Politabteilung im Wachregiment hielt dagegen: „Wenn i ch jet zt dem UaZ-B estand [Unt eroffiziere auf Zei t] sage, ihr könnt fahren, si nd das m orgen di e B erufsunteroffiziere aus diesem Bestand und übermorgen sind es di e Offiziere aus di esem Bestand. So und den nächsten Tag darauf haben wir den gesamten Mitarbeiterbestand auf dem Hals. So real müssen wir die Frage einschätzen.“ 383

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„Protokoll der Sitzung der SED-Kreisleitung am 18. November 1989“, Bl. 829. Befehl von Generaloberst Mittig vom 13.11.1989; BStU, ZA, SdM 2275, Bl. 45–48. „Protokoll...“, 18.11.1989, Bl. 829. Jochen Lemm von der HA Personenschutz; ebenda, Bl. 841. Ebenda, Bl. 824. Ebenda, Bl. 830.

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Das bedeutete, daß die jüngeren Mitarbeiter nur offen aussprachen, w as die älteren, stärker disziplinierten Stasi-A ngehörigen noch aus purer Vorsicht für sich behielten. Die Befürchtung, die Schleusen würden nun auch im MfS brechen und damit die innere Hierarchie endgültig ins Wanken geraten, kam nicht von ungefähr. Ein besonders intensiv em pfundenes Problem w ar das Verhältnis zur SED. Daß auf die alte Führung geschim pft wurde, gehörte inzwischen zum Komment, aber auch mit der neuen war man nicht zufrieden. Eher zweitrangig, aber symbolisch doch von B edeutung war die vom Leiter der Hauptabteilung Personenschutz beklagte „ allgemein ablehnende H altung der neugewählten Mitglieder des Politbüros, überhaupt O rgane des Personenschutzes anzunehm en“. 384 Die „ Tschekisten“ schienen unter Liebesentzug zu leiden. Der Leiter einer Parteiorganisation bekannte: „ Man wartet ja auf jedes Wort, das aus zentraler Sicht an Gutem über die Staatssicherheit gesagt w ird.“ 385 Eine positive Ausnahme m ache in dieser Beziehung nur Wolfgang H erger. 386 Ein anderer forderte, daß endlich „ wirklich ganz klar ist, das und das ist die Linie“. 387 Der Verlust einer unhinterfragbaren Autorität war schwer zu verkraften. Generaloberst Mittig erinnerte die Anwesenden daran, daß die neue Regierung als „Koalitionsregierung“ bezeichnet wurde. Noch kenne m an die beteiligten „befreundeten Parteien“, doch „möglich ist auch eine große Koalition, und da ist vielleicht das Neue Forum drin“. Angesichts dieser denkbaren Perspektive werde Selbstdarstellung zur „Existenzfrage“: „Es wird viel an Interviews getan, fast sämtliche Bezirkschefs gaben mehrere Interviews, aber entscheidend ist, die beste Selbstdarstellung dürfte jetzt darin bestehen, wenn wir Arbeitsergebnisse auf den Ti sch legen. Arbeitsergebnisse, die deutlich machen, wie das Amt fü r Natio nale Sich erheit u nter Bedingungen des neuen Denkens und de n B edingungen der Erneuerung des Sozialismus, des Verfassungsschutzes, der S icherung der R echte der B ürger tätig wird.“ 388

Dafür war Mittig allerdings nicht der richtige Mann. Die andere Seite der von ihm vorgeschlagenen Politik war die Maxim e: „ Alle Maßnahm en, die wir einleiten unter strengster, strengster und nochmals strengster Konspiration.“ Verstehen kann man diese Konzeption w ohl nur, w enn m an sie vor 384 Generalleutnant Günter Wolf; ebenda, Bl. 843. 385 So Oberst Lanzendorf, 1. Sekretär der Parteiorganisation in der HA III (Funkaufklärung); ebenda, Bl. 838. 386 Ihm wurde sein Auftreten in der Volkskammerdebatte am Vortag hoch angerechnet; vgl. 12. Tagung am 17./18.11.1989, in: Volkskamme r, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 286 f. 387 „Protokoll der Sitzung der SED-Kreisleitung am 18. November 1989“, Bl. 840. 388 Ebenda, Bl. 823.

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dem Hintergrund der dam aligen sowjetischen Entwicklung sieht, in der ein solches Vorgehen erfolgreich schien. 389 Die Existenz solcher Überlegungen trägt zur Erklärung dafür bei, w arum sich selbst hochrangige K ader der Staatssicherheit von äußerlichem Stillhalten viel eher Chancen für ihre Institution versprachen, als wenn sie versucht hätten, die D emokratiebewegung niederzuknüppeln. Zur Krönung der Sitzung der Kreisleitung wurden „Arbeitsthesen“ verabschiedet. 390 Sie strotzten von Phrasen wie „mehr Parteilichkeit, Sachlichkeit und Besonnenheit“, „tiefes Verständnis“, „unerschütterlicher Klassenstandpunkt“. Auch die Kreisleitung sei ein Opfer: des „über viele Jahre eingefahrenen Kom mandostils des Politbüros und des Ministers persönlich“. Zwischen solchen Rechtfertigungen schim merte manchmal die Wahrheit durch. Schließlich mußte man demonstrieren, daß der Unmut der Basis zur Kenntnis genommen wurde: „Die gegenwärtige Lage wird i n st arkem M aße von Em otionen und Fragen nach der Verantwortlichkeit der Leiter und Funktionäre für die eingetretene Situation und zu Erschei nungen des F unktionsmißbrauchs für persönl iche Zwecke sowie der Anm aßung von Pri vilegien beeinflußt. Das beeinträchtigt die Einheit und Geschlossenheit der Parteikollektive.“ 391

Doch es wurde dringend davor gew arnt, daraus K onsequenzen zu ziehen: „Ein K ernproblem unserer A nstrengungen sind arbeitsfähige Leitungen. Dabei kann es in der gegenw ärtigen Situation nicht darum gehen, die Leitungen grundsätzlich neu zu wählen.“ 392 Neben der Angst vor einer U mwälzung der inneren Hierarchie dokumentierten diese Thesen vor allem Ratlosigkeit. Man habe „ einer fehlerhaften Politik gedient“, „einem falschen Ansatz für die Sicherheitskonzeption unseres Organs in einigen Hauptrichtungen, die sich mit der inneren Sicherheit befassen“. Welcher neue Ansatz nun aber gelten sollte, erfuhren die Genossen nicht: „ Hier ist die um gehende Bestim mung des Inhaltes der A rbeit notwendig. [...] Dann ist es auch m öglich, Antworten auf die Perspektive der Genossen im konkreten zu geben.“ 393 Zur Beruhigung der Lage hat die K reisleitungssitzung kaum beigetragen. 389 In einem Redeentwurf, wahrscheinlich fü r diese Sitzung, wurde gefordert, „ darüber nachzudenken, welche Erfahrungen des Komitees für Staatssicherheit der UdSSR für unsere Arbeit heute besonders wertvoll sind“; BStU, ZA, SED-KL 120, Bl. 3–16, hier 6. 390 Diese Thesen wurden vom neuen 1. Sekret är, Scheffel, vorgetragen, grundsätz lich bestätigt und dann einer Redaktionskommission anve rtraut, die sie noch am gleichen Tag überarbeitete und an die Parteimitglieder versch ickte. „Arbeitsthesen der Kreisleitung zu aktuellen Aufgaben in der Parteiarbeit. Beschluß der Kreisleitung vom 18.11.1989“; BStU, ZA, Neiber 89, Bl. 630–650 u. 785. 391 „Arbeitsthesen“ vom 18.11.1989, Bl. 642 f. 392 Ebenda, Bl. 641. 393 Ebenda, Bl. 636.

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An dem Tag, an dem Schw anitz offizi ell in sein Am t als Chef des Af NS eingeführt wurde, am 21. N ovember, kam es sogar zu einer Demonstration: Im Hof des w eiträumigen G ebäudekomplexes der Stasi-Zentrale an der Normannenstraße versam melten sich einige tausend MfS-A ngehörige. D avon sind keine schriftlichen Zeugnisse erha lten, aber es existieren verschiedene Berichte. Gefordert worden sei vor allem der Rücktritt des Kollegiums, des obersten Leitungsgremiums des MfS. 394 „Nachdenken über uns selbst!“ Die Forderung nach Rücktritt des Kollegi ums hatten Mitarbeiter der Hauptabteilung I X/3, zuständig für Erm ittlungsverfahren in der Volkswirtschaft, schon zuvor in einer Protesterklärung erhoben. D arin hatten sie der SED Kreisleitung im MfS, die sich ja gew eigert hatte, kollektiv zurückzutreten, wegen Unfähigkeit das V ertrauen entzogen und das K ollegium als „ ehemalig“ tituliert. Interessant an diesem Papier war auch eine Ankündigung, die nach Befehlsverweigerung klang: „ Von den G enossen des K ollektivs w erden Aktivitäten im rechtsfreien Raum oder entgegen rechtlicher Regelungen heute und in Zukunft abgelehnt.“ 395 Die Parteiorganisation der H auptabteilung I X vertiefte diesen A spekt noch in einem Schreiben, das über das bereits erwähnte, relativ gehaltvolle Reformpapier aus jener Abteilung hinausging. Als bisheriges Verhältnis von Macht und Recht wurde diagnostiziert: „Die Li nie Unt ersuchung war, wi e das M fS i nsgesamt, ei ngebunden i n das Verständnis des abgelösten Politbüros, daß das Recht keine Grenze sein könne bei der Durchsetzung de s politisch en W illens, den das Politbüro form ulierte. [...] Die Folge dieses Verständnisses des Verhältnisses von Politik und Recht war, daß [...] der Prozeß der M achtausübung in seiner Gesamtheit nicht mehr nach den rechtlichen Regeln erfolgte, denen auch der gesamte politische Mechanismus verpflichtet war.“ 396

Als Konsequenz wurde gefordert, daß „ die Funktionen von Legislative, abgegrenzt Exekutive und Jurisdiktion genau festgelegt und voneinander werden“ und „die Schutz- und Sicherheitsorgane als Organe des Ministerrates, nicht des Politbüros handeln“. 397 Diese Forderung war inzwischen nicht mehr neu, wohl aber jene nach „strikte[r] Beachtung des Prinzips der durch394 Vgl. Abramo wski: Im Labyrinth der Mach t (1992), S. 226; Schachtschneider: Endzeit (1991–1993), S. 26 f.; Wolf: Im eigenen Auftrag (1991), S. 274 f. Auch von anderen ehemaligen MfS-Mitarbeitern wird diese Darstellung bestätigt. 395 „Kollektiv der HA IX/3“: „ Standpunkt“ vom 20.11.1989; BStU, ZA, HA IX 3387, Bl. 17–19. 396 „ Schritte zur Erneuerung – Position der Leitung der Grundorganisation IX“ vom 21.11.1989; BStU, ZA, HA IX 2386, Bl. 37–46, hier 39. 397 Ebenda, Bl. 38.

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greifenden G esetzlichkeitsaufsicht des Staatsanw altes, der Unabhängigkeit des Richters, der um fassenden Wirkungsm öglichkeiten der Rechtsa nwälte“ 398 . Solche Einsichten gerade der Mitarbeiter dieser Abteilung wurden gewiß dadurch erleichtert, daß sie die Perspektive hatten, in das Justizministerium verpflanzt zu w erden. Wahrscheinlich w aren sie deshalb besonders bemüht, ihr „rechtliches Profil“ zu konturieren. Zu dem Them a „ Nachdenken über uns selbst!“ sprach vor AgitpropFunktionären der Parteiorganisation in der Staatssicherheit eine Dozentin an der Hochschule des MfS. Sie stellte die rhetorische Frage: „Ist aber ni cht vielmehr richtig, daß ausgehend von einer abstrichlosen Unterstützung der Politik der Führung der Partei und der dem entsprechenden Sicherheitsdoktrin (es durfte nichts gegen diese Gruppe gesagt werden), Andersdenkende kriminalisiert wurden, der MfS-Apparat aufgebläht wurde und dadurch Vert rauen zerst ört, M ißtrauen und Angst geschürt und damit der Sozialismus auch durch das MfS destabilisiert wurde?“ 399

Das Politbüro als „diese Gruppe“ zu titulieren war despektierlich gegenüber den alten Autoritäten. Vor allem aber eine These m ußte die Sel bstrechtfertigung der Stasi-Mitarbeiter im Mark treffen: daß sie das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigt, bewirkt hatten, die DDR nicht stabilisiert, sondern destabilisiert hatten – und dam it selbst zu den wichtigsten Totengräbern des „Sozialismus“ gehörten. Leider ist die Reaktion auf diesen V ortrag nicht überliefert. Selbstverständlich gab es auch MfS-A ngehörige, denen das alles viel zu weit ging. Solche Positionen w urden jedoch zu diesem Zeitpunkt nur von einer kleinen Minderheit vorgetragen. Entsprechende Ä ußerungen kam en überwiegend aus den regionalen D iensteinheiten, deren Mitarbeiter stärker unter Druck standen, die noch weniger als ihre Genossen in der Zentrale begreifen konnten, was sich hinter den Kulissen eigentlich abspielte, und durch den D auerkonflikt zw ischen der Peripherie des A mtes und „ Berlin“ zusätzlich motiviert waren. 400 Wer sich dergestalt laut oder gar noch schriftlich zu Wort m eldete, minderte freilich seine Chancen, in den neuen Dienst 398 Ebenda, Bl. 46. 399 GO der ZAIG-Leitung: „ Thesen eines Vortrags der Genossin Dr. [Hannelore] Phillip, Hochschullehrer an unserer Hochschule Potsdam/Eiche zu dem Ansatz ‚Nachdenken über uns selbst!‘ im Rahmen der Anleitung der Sekretäre und Funktionäre für Agitation und Propaganda der Leitungen der PO/GO durch das Sekretariat der SED-Kreisleitung am 22. November 1989“, Mitschrift; BStU, ZA, ZAIG 14280, Bl. 1–4, hier 1. 400 Aus dem Bezirksamt Karl-Marx-Stadt wurde ei n Fernschreiben an Schwanitz geschickt, in dem Mitarbeiter der Abteilung III (Chiffrierwesen) erklärten: „ Wir können und wollen nicht verstehen, daß w ir mit einem einfachen Satz all unseres bisherigen K ampfes entledigt und der Auflösung preisgegeben werd en.“ F ernschreiben vom 28.11.1989; BStU, ZA, HA III 512, Bl. 24 f. Vgl. auch Kommission „Kadermäßige Sicherstellung“: Bericht über das Mitarbeiterforum des Kreisamtes in Görlitz am 25. 11.1989; BStU, ZA, SdM 2291, Bl. 102–104.

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übernommen zu werden – schon deshalb blieb solche Kritik vereinzelt. Es ist bemerkenswert, daß aus diesen Wochen keine verschriftlichten Zeugnisse dafür existieren, daß die aggressiven G efühle sich gegen die demokratische Volksbewegung gerichtet hätten, obw ohl m an noch w enige Wochen zuvor manchenorts die Verhaftungslisten für die „Mobilmachungsplanung“ auf den neuesten Stand gebracht hatte. 401 Selbst eine fast rührend anmutende Forderung aus dem Wachregim ent blieb jetzt die Ausnahme. Angehörige dieser D iensteinheit hatten in einem Leserbrief gefordert: „Auch ein ‚Neues Forum ‘ sollte sich der Mühe unterziehen, auf wissenschaftlicher, vernünftiger Basis die No twendigkeit seiner Existenz für den Sozialismus unter Beweis zu stellen.“ 402 In A ggression um schlagende Frustration richtete sich zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich gegen die eigene Führung. Bezugspunkt w ar häufig die Diskrepanz zwischen Norm und Realität unter dem Alten Regime. So war die Rede von der „ parteifeindlichen Gruppe um den ehemaligen Generalsekretär Honecker“, 403 von „parteischädigendem Verhalten“ 404 und einer „Abkehr von den Leninschen N ormen des Parteilebens“ 405 . Aus dem Bezirksamt in Frankfurt (Oder) kam gar ein – freilich anony mes – Schreiben, in dem verlangt wurde, man solle die leitenden Kader des Bezirksamtes wegen Korruption verhaften und ebenso den „ Verbrecher Mielke“ und andere „Volksverräter“ w ie G eneralleutnant N eiber, den früheren Chef dieser Bezirksverwaltung. 406 Das war nicht nur stalinistisch form uliert, sondern auch gedacht. Die Zeiten für solche „Lösungen“ waren allerdings vorbei. Risse in der Staatssicherheit Generell ging es bei den Stasi-internen K onflikten in dieser Phase um Anpassung an Prozesse, die man für unvermeidlich hielt und durch die man die Existenz der Institution noch nicht grundsätzlich gefährdet sah. Die Zahl kritischer Äußerungen und Pr otestschreiben ist in der zweiten Novem ber401 Zu erinnern ist an Mielkes Befehl vom 8.10. und an seine Forderung vom 21.10.1989, Informationen zu oppositionell aktiven Personen „ sorgfältig zu erfassen und das zugriffsbereit zu halten“; Referat zur Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED und den sich daraus ergebenden ersten Schlußfolgerungen fü r die Tätigkeit des MfS (21.10.1989); BStU, ZA, ZAIG 4885, Bl. 3–76, hier 75. Vgl. auch eine einschlägige Namensliste, die in de r Kreisdienststelle Ebersw alde (Bezirk Frankf urt) am 7.11.1989 aktualisiert wurde; BStU, ASt Frankfurt (Oder), ZMA 4264, Bl. 23–25; Höffer: „ Der Gegner hat Kraft“ (1997), S. 16 f.; Löhn: „Unsere Nerven lagen allmählich blank“ (1996), S. 18 f. 402 Leserbrief der 5. FDJ-Grundorganisation des Wachregiments Berlin, in: Junge Welt 22.11.1989. 403 Schreiben der Abteilungsparteiorganisation im Institut für Technische Untersuchungen (ITU) des MfS vom 22.11.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 118 f. 404 Schreiben der A bt. VIII des BAfNS Cottbus an den Leiter des AfNS und die SEDKreisleitung vom 30.11.1989; BStU, ZA, SED-KL 571, Bl. 456. 405 Delegiertenkonferenz der GO 1 15 aus der KPO 18-01 am 29.11.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 5–7. 406 Schreiben vom 2.12.1989 an die Leitung des AfNS; BStU, ZA, HVA 453, Bl. 1–6.

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hälfte insgesamt gesehen – vorübergehend – zurück gegangen. Wahrscheinlich warteten viele auf die Neukonzeption für die A rbeit des A mtes, zudem dürfte das A ussortieren, V erlagern und V ernichten von U nterlagen einen Großteil der Energien gebunden haben. D och allzu lange dauerte das nicht, denn die politische Entwicklung spitzte sich erneut zu. Am 25. November hatte das Fernsehen der D DR erstm als über die abgeschottete und mit „Westwaren“ wohlversorgte Politbüro- Enklave „ Wandlitz“ berichtet. Nun verging kaum mehr ein Tag ohne neue Enthüllungen. D er schwerste Schlag folgte am 1. Dezember in der Volkskammer. Dort wurde nicht nur die „ führende Rolle“ der SED aus der V erfassung gestrichen, das hatte m an allgemein erw artet, sondern es w urde Bericht erstattet über die Privilegien der Machthaber. Der ehem alige Präsident de s Obersten Gerichts der DDR, Heinrich Toeplitz, ein sy stemkonformes CDU-Mi tglied, faßte die ersten Ergebnisse des Untersuchungsausschusses zu Amtsmißbrauch und Korruption zusammen, der von der V olkskammer am 18. November eingerichtet worden war. Er berichtete über luxuriöse Hausbauten für Kinder von Politbüromitgliedern, über riesige „ Sonderjagdgebiete“, deren Unterhalt Millionen kostete, über Honeckers und Mittags „ Ehrenmitgliedschaft“ in der „Bauakademie“, die jährlich mit 20.000 Mark honoriert wurde, u.a.m. 407 Dieser Bericht steigerte im ganzen Land die Em pörung. D ie A rt und Weise, in der er in der Staatssicherheit aufgenom men wurde, gab Wolfgang Herger in der anschließenden Debatte vor. Herger war für die „Tschekisten“ als für die „ Sicherheit“ zuständiges Politbürom itglied auf SED-Seite der höchstrangige direkte Ansprechpartner. „Die totale Deform ierung der innerp arteilichen Dem okratie hat es erm öglicht, daß eine Reihe von Personen durch Korruption, durch individuelle Bereicherung, durch Veruntreuung und durch widerrechtliche Aneignung von Volksvermögen Ansehen und Nam en unserer Partei aufs gröbste beschmutzten. Damit haben si e das gesamte werktätige Volk hintergangen und schwer enttäuscht. Get äuscht, bel ogen und be trogen wurden gerade auch di e aufrechten, selbstlos arbeitenden Mitglieder der SED.“ 408

Sich selbst als unwissende Opfer einer ruchlosen Führungsclique zu stilisieren entsprach einer weitverbreiteten Entlastungsstrategie. Die neueste Ausgabe des „ Neuen Deutschland“ mit dieser Äußerung lag vor vielen Delegierten, als sich am folgenden Tag, dem 2. Dezem ber, eine Delegierten407 Bericht des Unte rsuchungsausschusses zu A mtsmißbrauch und Korruption (Dr. Heinrich Toeplitz), Protokoll der 13. Tagung am 1. 12.1989, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 343–346; ebenso in: Deutschland Archiv 23 (1990) 1, S. 137–141. Nachdruck aus: Neues Deutschland 2./3.12.1989. 408 Herger in: Protokoll der 13. Tagung am 1.12.1989, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 346; ebenso in: „Debatte über Korruption und Amtsmißbrauch“, in: Neues Deutschland 2./3.12. 1989.

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konferenz von 27 SED -Grundorganisationen des A fNS zur Vorbereitung des außerordentlichen Parte itages traf. 409 Die Stimmung war stärker aufgeladen als zwei Wochen zuvor, w ohl auch deshalb, w eil wenige Teilnehmer aus dem höheren Offizierskader, weit mehr von der „ Basis“ stammen. Das Protokoll dieser Sitzung ist aus m ehreren G ründen von In teresse: D a über 90 Prozent der Mitarbeiter der Staatssi cherheit in der SED organisiert w aren, gibt es ein Bild von der Stim mung unter den Mitarbeitern der Zentrale (die Bezirke waren auf dieser Konferenz nicht vertreten). 410 Zudem wurden auf der Konferenz Delegierte für den bevorstehenden Parteitag gewählt. Um insgesamt neun Mandate bewarben sich 21 Kandidaten. 411 Viele Reden waren deshalb „Wahlreden“. Zusammen mit den W ahlergebnissen zeigen sie, womit zu dieser Zeit im AfNS Stimmen zu gewinnen waren. 412 Der Versuch der Versammlungsleitung, eine Grundsatzdebatte zu verhindern, scheiterte. 413 Zuviel hatte sich angestaut und konnte nun endlich ausgesprochen werden. Auch Delegierte, di e nicht zur Wahl standen, m eldeten sich zu Wort. Das Verhältnis zwis chen der Generalität und der Masse der MfS-Angehörigen schilderte ein Mitarbeiter der A bteilung X II (A uskunft und Archiv): Es gibt „im Ministerium, das h abe ich als n ormaler Mitarb eiter festg estellt, im Prinzip zwei Kategorien von Menschen – das sind die höheren Leiter und dann die Mitarbeiter, und die höheren Leiter scheinen die besseren Menschen zu sein, indem sie nämlich auf dem Feldherrenhügel 414 essen gehen, i n dem noch andere Privilegien vorhanden waren. Die Westwagen wurden ja nun irgendwo hingeschafft, aber da für sind ja neue Ladas jetzt [...] Und zum anderen bi n i ch der M einung, daß di ese Kl uft, die entstanden ist, nämlich zwischen der oberen Lei tung und dem Mitarbeiter, daß diese Kluft erstmal nicht

409 Delegiertenkonferenz der SED-GO im Af NS, 2.12.1989; BStU, ZA, SED-KL 570, Bl. 867–932. 410 Die Delegierten kamen aus j enen Grundorga nisationen, die weniger als 750 Parteimitglieder bzw. -kandidaten aufzuweisen hatten und deshalb ihre Delegierten nicht direkt wählen konnten. Dazu gehörten u. a. die Ab teilungen bzw. Hauptabteilungen IX (Untersuchung), XII (Zentrale Auskunft und Archiv), XVIII (Volkswirtschaft), XX (Staatsapparat und Opposition), Büro des Leiters, Zentraler Operativstab und ZAIG (Auswertung). 411 Vgl. ebenda, Bl. 867 f. 412 Daß ein Parteitagsdelegierter unabhängig von seinem Auftreten, allein dank seiner „Hausmacht“, d. h. des Stimmenpotentials seiner Herkunftsabteilung, gewählt wurde, war nicht möglich, denn selbst die zahlenmäßig stärks te auf dieser Versammlung vertretene Abteilung, die HA XVIII, verfügte nur über 57 Stimmen. Um gewählt zu werden, waren erheblich mehr Stimmen notw endig: D er D elegierte mit der geringsten Stimmenzahl, der noch gewählt wur de, hat 245 Stimmen erhalten. Das bedeutet, daß „Überzeugungsarbeit“ notwendig war. 413 Vgl. die einführenden Worte des 1. Kre issekretärs Scheffel und des Versammlungsleiters Mewes; ebenda, Bl. 869–871. 414 Spitzname für die auf einer kleinen Erhöhung inmitten der MfS-Zentrale liegende Kantine der MfS-Generalität.

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Vertrauen gebracht hat oder Vertrauen bewirkt.“ 415

Die Verbindung der Kritik an Hierarchie und Privilegien m it der Vertrauensfrage war in einer Situation, in der eingespielte V erhaltensweisen und Orientierungen ihre Gültigkeit verloren hatten, für die Handlungsfähigkeit der Staatssicherheit geradezu tödlich: Warum hätten sich diese Mitarbeiter noch zu irgendeinem riskanten U nternehmen kom mandieren lassen sollen, dessen Sinn wegen der Krise der Partei nicht erkennbar war und in der blindes Vertrauen in die eigenen „ höheren Leiter“ abhanden gekom men w ar? Die Erfahrung, w ie gefährlich blindes V ertrauen oder in vielen Fällen wohl Gehorsam war, machten diese MfS-A ngehörigen aber gerade zu jener Zeit. Lernprozesse wurden in manchen Beiträgen spürbar, so als ein langjähriger Mitarbeiter der Hauptabteilung XX erklärte: „Genossen, wir haben doch letztendlich alle versagt auf di eser Strecke. Wir haben einige bei uns, die haben Parteiverfahren gekriegt, die haben heute viel Zustimmung. Sie haben auch meine Zustimmung gekriegt, aber wir haben alle versagt hier – jeder auf sei ner Ebene. W ir haben hi nterher diskutiert und haben gesagt: So eine Inform ation ist doch ein Irrsinn, wo man sagt, Meckerer und Nörgler m üssen aus der Partei ausgeschlossen werden. [...] Also wir haben das unt er uns ausget ragen, aber nicht mit der Kreisleitung.“ 416 „Jeder hat sei ner Ebene ent sprechend vi eles gewußt und zu vielem nichts gesagt.“ 417

Aus dieser Ä ußerung geht auch hervor, daß frühere V orbehalte gegenüber der Parteilinie und dem Abgrenzungskurs zur sowjetischen Perestroika nun als V erdienst betrachtet w urden. D as w ird auch dadurch belegt, daß Delegierte, die erst auf der Konferenz se lbst zur Wahl vorgeschlagen wurden, mit der Behauptung eingeführt w urden, sie seien vor der „ Wende“ mit „kritischen Standpunkten“ angeeckt. 418 Das allein war allerdings für eine erfolgreiche K andidatur zu w enig: Wer nicht das Vertrauen seiner Grundorganisation hatte, w urde nicht gew ählt. Davon gab es eine Ausnahme: Eine Delegierte w urde mit dem V erweis darauf als Kandidatin präsentiert, „daß unsere sogenannte Gleichberechtigung durch null Prozent Anteil von Frauen 415 Ebenda, Bl. 874. 416 D as Politbüro hatte Anfang Januar 1989 wegen der wachsenden Kritik am verhärteten Kurs der Partei, besonders am Verbot des sowjetis chen Journals „ Sputnik“ in der DDR, eine „Parteiinformation“ herausgegeben, in der Kritiker mit Parteiausschluß bedroht wurden. 417 D elegiertenkonferenz der SED-GO im AfNS, 2.12.1989; BStU, ZA, SED-KL 570, Bl. 876 u. 878. 418 Vgl. ebenda, Bl. 931 u. 932. – In der HA III (Funkaufklärung), die auf dieser Konferenz nicht vertreten war, hatte man den Parteitagsdelegierten mit auf den Weg gegeben: „[...] jene Genossen sind zu w ählen, die sich bereits vor den politischen E reignissen im Oktober 1989 kritisch und offen zur fehlerhaften Politik der SED äußerten“. Parteiorganisation III: „Vorschläge, Hinweise und Kritiken aus den Diskussionsbeiträgen der Delegiertenkonferenz der Parteiorganisation vom 30. November 1989“; BStU, ZA, HA III 4752, Bl. 2–7, hier 4.

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an den vorgeschlagenen Kandidaten realisiert wird“. Sie wurde nachträglich aufgestellt und gewählt. 419 Zu den Standardargumenten, die fast alle Kandidaten vorbrachten, gehörte die „Empörung“ über die alte Parteiführung und ihre Privilegien. So erklärte ein Mitarbeiter des Zentralen Operativstabes (ZOS): „Ich schäme mich natürlich für diese Le ute, ich wage es ni cht mehr, sie als Genossen zu bezeichnen, was in der Zeitung geschrieben [steht] und was immer nach und nach zum Ausdruck kommt. Hier möchte ich appellie ren an alle Diensteinheiten, die dafür [sic!] in der Lage sind, endlich dazu beizutragen, offensives Auflegen von Zeitbomben.“ 420

Letztere Formulierung hatte wohl zu bedeuten, daß m an selbst die Initiative zur Aufdeckung von Skandalen ergreifen sollte. Der Redner, der das forderte, wurde gewählt. Ebenso war ein Mitarbeiter des Büros der Leitung erfolgreich, der klagte über „ die Bitternis, das Mißtrauen, auch die Enttäuschung aufgrund der H altungen und der Lebensw eise ehemals führender Genossen, wie sie in den Presseveröffentlichungen der letzten Tage sichtbar wurden über Wandlitz, Bohnsdorf usw.“ 421 . A ndere K andidaten, die in diesem Punkt ganz ähnlich argumentierten, fielen durch. 422 Auch die Einstellung gegenüber den „ Andersdenkenden“ w ar nicht das entscheidende Kriterium . Ein Mitarbeite r des ZOS erklärte auf eine Frage nach seiner Einstellung zu den „ neuen Bew egungen“: „ Andersdenkende nicht mehr bearbeiten dürfen, dazu gebe ich m eine volle Zustim mung. Es muß wirklich unterschieden werden nach, w as ist Feind, w as ist Freund, oder wer weiß nicht, wo er hingehört.“ 423 Er wurde gewählt. Es war aber a uch – mit hohem Stimmenanteil – ein Kandidat erfolgreich, der es nach dem Um bruch zu zweifelhafter Bekanntheit bringen sollte: Oberst Wiegand von der H auptabteilung X X. Er renom mierte mit seiner Unbelehrbarkeit: „ Ich bin im mer dafür eingetreten, daß die Kräfte in den Kirchen, welche die K irche mißbrauchen, bekämpft werden müssen, das ist mein Feindbild und dazu stehe ich heute noch.“ 424 Zugleich hielt er sich eine Hintertür offen: Er werde sich „auch in Zukunft dafür einsetzen, daß unsere Partei im Sinne der Bündnispolitik ihre Position tiefgründig zu den Christen unseres Landes überdenkt“ , denn viele Christen wollten ebenfalls „eine sozialistische DDR“. 425 419 Delegiertenkonferenz der SED-GO im Af NS, 2.12.1989; BStU, ZA, SED-KL 570, Bl. 931. – Die Behauptung selbst war zutreffend. 420 Ebenda, Bl. 909. 421 Ebenda, Bl. 918. 422 Vgl. ebenda, Bl. 890, 916, 921 u. 928. 423 Ebenda, Bl. 912. 424 Ebenda, Bl. 924. 425 Ebenda.

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Einen regelrechten Einbruch erlebten die Spitzen der alten Genera lität. Nur zwei von ihnen hatten überhaupt kandidiert, ehem alige Stellvertreter Mielkes: die Mitglieder des MfS-Kollegium s Neiber und Mittig. Generaloberst Mittig erschien erst gar nicht. Neiber verkündete zu Beginn seines Beitrags, er ziehe seine Kandidatur zurück. Anschließend verspielte er Restbestände von G laubwürdigkeit, als er behauptete, über Mielkes „ leere Panzerschränke“ nicht inform iert zu sein, und auf eine Frage zu SchalckGolodkowskis KoKo antwortete: „Ich weiß dazu noch weniger.“ 426 Der U nmut richtete sich gegen den inneren K ern der MfS-Spitze, das Kollegium, nicht gegen alle Führungskader. Ein Leiter, Oberst Schwager (Abteilung Bew affnung/Chemischer D ienst), erhielt nach einer populistischen Rede sogar einen der höchsten Stim menanteile. Er hatte zuvor einen wunden Punkt angesprochen: „Schlechtes Gewissen einiger Genossen, auch unserer Partei, auch leitender, läßt sich nicht dadurch aufbessern, daß m an einen Bogen um die Angehörigen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit macht oder die Organe heute am besten nicht mehr kennen will.“ 427

Gewählt wurden die Kandidaten, die sich prinzipiell für eine „ Erneuerung“ besonders der Leitungen aussprachen, zugleich aber versuchten, das lädierte Selbstbewußtsein der AfNS-Angehörigen aufzubauen, eine käm pferische Pose zur verbalen Verteidigung der Staatssicherheit gegen A ngriffe von außen einnahmen und den Eindruck erw eckten, daß sie eine K onzeption für das AfNS in der künftigen Staatsordnung hätten. N ur so glaubten sie, ihre zunehmende Isolation von den anderen Herrschaftsinstitutionen überwinden zu können. Die politische Bedeutung dieser Entwicklung zeigte sich in den folgenden Tagen. Die Welle von Protesterklärungen aus den zentralen Diensteinheiten schwoll nach der Volkskam mersitzung am 1. Dezem ber wieder an. Sie wurden nun noch aggressiver und waren deutlicher gegen die neue Führung gerichtet, deren Probezeit offenbar abgelaufen w ar. O ffiziersschüler an der Juristischen Hochschule des MfS/AfNS, die sich selbst als „verzweifelte Studenten“ bezeichneten, dokumentierten mit einer Resolution eine fulm inante Identitätskrise: „In dieser für uns al le unerträglichen Krisensituation, einem durch Unmoral, Irrationalität und Sprachlosigkeit gekennzeichneten Auftreten unserer ehemaligen parteilichen wie auch jetzigen dienstlichen Leitung des Am tes bzw. ehemaligen MfS, erheben wir angesichts unsozialer und unwürdiger Behandlung vieler unserer Genosse n schärfsten Protest! [...] Die Realität unseres si426 Ebenda, Bl. 926 u. 928. 427 Ebenda, Bl. 918.

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cherheitspolitischen Alltags kennt ohnm ächtige Mitarbeiter, wach sende Destruktivität, Werteverlust und Austragung dienstlicher Konflikte im privaten Bereich. Ein Riß geht durch die Gesamtpersönlichkeit.“ 428 Das bisherige Rollenverständnis befand sich in A uflösung. Bei MfS-Mitarbeitern, die dieser Institution erst relativ kurz angehörten, ging das aus naheliegenden Gründen besonders schnell. 429 Der erhoffte Wechsel auf seiten des „Volkes der DDR“ aber schien m it der alten Führungsschicht nicht realisierbar. In aller Deutlichkeit wurde das in einem nicht ganz so pathetisch formulierten Papier aus dem Führungsstab der HV A ausgesprochen: „Die Parteibasis, die sich den Idealen, die sie zu m Eintritt in die Reihen der Partei bewegt hatte, weiterhin verpflichtet fühlt, beginnt sich radikal von den sogenannten Führungskräften zu trennen, die nach wie vor eine Politik alter Prägung m it neuen Antlitz betreiben wollte n. Zu diesen Krä ften zählt auch eine große Zahl von Verantwortlichen des alten Mi nisteriums für Staatssicherheit, die glaubt, mit einer Umbenennung in ein Amt schon die Hauptaufgabe ihrer Erneuerung erfüllt zu haben. Doch in W irklichkeit, so stellt sich heute heraus, haben sie n ur noch dazu beigetragen, daß die Politik der Halbheiten, der Verschleierung und Verdunklung und der Machenschaften der alten Parteiführung viel zu lange weiterbetrieben werd en konnte. [...] Wir fordern, daß si ch das Am t für Nat ionale Sicherheit mit ganzer Kraft und allen Konsequenzen jet zt zur radi kalen Erneuerung von Part ei und Gesel lschaft bekennt, si ch dem Vol ke zuwendet und m it al len zur Verfügung st ehenden Mitteln an der Aufdeckung und Be seitigung aller Fälle von Amts- und Machtmißbrauch, Korruption und Privilegi enwirtschaft beteiligt, um nicht gleich von Beginn an den neuen Nam en m it al ten At tributen i n Verruf zu bringen.“ 430

Das Scheitern der „Erneuerungsversuche“ in der Ä gide Schwanitz ist in einem zeitgenössischen Dokument selten so deutlich benannt worden, wie in 428 „,Die Revolution entläßt ihre Kinder ...‘. Anlage zur Resolution der Delegiertenkonferenz der Juristischen Hochschule Potsdam“ vom 4.12.1989; BStU, ZA, SED-KL 594, Bl. 1432 f. 429 Von den Offiziersschülern der Nationalen Volksarmee (NVA), einer vergleichbaren Population, wurden aus der Vorgesetztenperspe ktive ähnliche V erhaltensweisen gemeldet: „Zu beachtende Entwicklungen sind an der OHS [Offiziershochschule] der Landstreitkräfte erkennbar. Dazu zählen [...] Undi szipliniertheit, Aufsässigkeit und Anmaßungen von Offiziersschülern gegenüber Vorgesetzten während der Ausbildung; prowestliche Haltungen, die durch das persönliche Erlebe n des Konsumangebots, des technologischen Entwicklungsstandes und der ‚Warmherzigkeit und Großzügigkeit‘ der BRD- und Westberliner Bürger entstünden. Leitende Kader der OHS [...] meinen, daß es sich bei den erkennbaren Entwicklungstendenzen um ‚Auflösungserscheinungen der NVA‘ handele.“ HA I/AKG: „Information über das Stimmungs- und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der GT/DDR [Grenztruppen der DDR]“ vom 1.12.1989; BStU, ZA, Neiber 876, Bl. 21–26, hier 24; vgl. auch Wenzke: Die Nationale Volksarmee (1998), S. 513–515. 430 Hv. im Orig. „ Standpunkt der Parteigruppe 2 des Stabes der HV A zu den jüngsten Ereignissen in Partei und Gesellschaft“ vom 4.12.1989; BStU, ZA, KL 652, Bl. 1528 f.

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diesem Schreiben. Für eine Kurskorrektur aber war es bereits zu spät. Gab es ein Muster, dem die dargestellten Äußerungen auf der Ebene der MfS-Zentrale folgten? Von den 45 D iensteinheiten, in die sie sich im Jahr 1989 gliederte, sind nur wenige wiederholt durch reformerische Konzeptpapiere, Protestschreiben gegen die eigene Führung (und die SED-Spitze) und durch Redner hervorgetreten, die auf Stasi-internen Versammlungen kritisch Position bezogen. Im mer wieder zitiert wurden in diesem Zusammenhang Verlautbarungen aus der H auptverwaltung A ufklärung (H V A), der H ochschule des MfS/A fNS (JH S), der H auptabteilung I X und dem Wachregiment. Vereinzelt wurde deutlichere Kritik auch referiert von Mitarbeitern der Hauptabteilungen III (Funkaufklärung), XVIII (Wirtschaft) und XX (Kirche, Kultur, Opposition) und des Zentralen Medizinischen Dienstes (ZMD). Als Erklärungsfaktor für D ifferenzen im A uftreten w urde bisher vor allem auf die Intensität von K ontakten zur sozialen Umwelt verwiesen, die veränderte gesellschaftliche Rollenerwartungen und Statusverluste besonders schmerzhaft spüren ließ. Denkt m an etw a daran, w ie A ngehörige des Wachregiments ihre U rlaubserfahrungen verarbeitet haben, so w ar das gewiß ein wesentliches Mom ent. Es m üssen aber noch andere Faktoren von Bedeutung gewesen sein, denn auf die HV A etwa trifft diese Erklärung nur mit Einschränkung zu. Eine Gemeinsamkeit der „ kritischen Diensteinheiten“ war größere Klarheit hinsichtlich ihrer Zukunft, als sie anderen Diensteinheiten vergönnt war: A n der Fortexistenz der „ Aufklärung“ etw a zw eifelte damals noch niemand, das m ochte ihren Sprechern Souveränität verleihen. U mgekehrt war relativ früh absehbar, daß die „ Juristische H ochschule“ aufgelöst und die H auptabteilung IX (U ntersuchung) und ebenso das Wachregiment ausgegliedert werden würden. Die meisten von dessen Angehörigen würden im übrigen die Staatssicherheit nach Ableistung ihrer dreijährigen Wehrpflicht ohnehin verlassen. Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Diensteinheiten lag darin, daß sie in gewisser H insicht am Rande des MfS situiert waren: Beim Wachregiment ist das wegen des – für die Staatssicherheit völlig aty pischen – hohen Anteils an Wehrpflichtigen unmittelbar evident. Der Hauptverwaltung Aufklärung wurde MfS-intern im mer wieder der Vorwurf elitärer Abkapselung gemacht. Ihre Mitarbeiter ließen sich allem Anschein nach tatsächlich ungern in die Karten gucken. Jetzt war es zudem die einzige Diensteinheit, die mit Markus Wolf, dem swingman, eine konzeptionell denkende Identifikationsfigur hatte, die außerhalb der aktuellen Zwänge der Institution plaziert war. 431 Die Juristische Hochschule stand trotz ihres starken Praxisbezuges 431 Eine Protesterklärung aus der HV A gegen die „Mitverantwortung von Mitarbeitern des ehemaligen MfS und AfNS für begangene Verbrechen und deren Vertuschung“, verbunden mit der Forderung, „ die Verwaltung Aufklärung aus dem A[f] NS herauszulösen“, war an den Ministerratsvorsitzenden und an Markus Wolf gerichtet. „ Erklärung der Grundorganisation IV [„ Militärische Aufklär ung in der BRD“] der Verwaltung Aufklä-

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als Bildungseinrichtung am Rande des täglichen Dienstgetriebes. Die Hauptabteilung IX (U ntersuchung) hatte eine Scharnierfunktion zur Justiz. In dem Maße, in dem es zu einer Form alisierung und Verrechtlichung der Repression kam , bestand ihre A ufgabe nicht nur darin, den Justizapparat zu manipulieren, sondern umgekehrt auch dessen Zw änge – etwa zu gerichtlich vorweisbaren Beweisen – nach innen weiterzugeben. In dieser Hauptabteilung waren zudem, wie in der Hochschule selbst, relativ viele Juristen beschäftigt, die nicht nur die geheim polizeiliche Schm alspurausbildung zum „Diplom-Juristen“ des MfS absolviert hatten. Das ist ein Indiz für einen weiteren relevanten A spekt: Die Mitarbeiter gerade dieser Diensteinheiten mußten nicht nur der geheim polizeilichen und der Parteilogik folgen, sondern sich auch noch auf einem dritten, fachspezifischen Diskursfeld bewegen, vorzugsweise dem des Rechts. Ein eigenes Feld lag natürlich auch der Arbeit des Zentralen Medizinischen Dienstes zugrunde. Die für die Wirtschaft zuständige H auptabteilung X VIII h atte k ein a ußerhalb polizeibürokratischer N ormen liegendes Tätigkeitsfeld. Aus ihr kamen auch kaum erw ähnenswerte Positionsbestim mungen. A ber im merhin hat ihr Leiter den spezifischen Beitrag seiner D iensteinheit zur Erneuerung darin gesehen, daß sie die Eigenlogik wirtschaftlichen Handelns künftig respektieren solle – in diesem Falle als Fremdlogik. Erklärt dieser A nsatz auch die H äufung einschlägiger Stellungnahm en aus der HV A? Die Hauptverwaltung Aufklärung war zwar eingebunden in die geheim polizeilichen Funktionen des MfS, ihre vorrangige Aufgabe jedoch w ar klassische Spionage. A uf diesem Terrain w urden durch die Gegenseite handwerkliche Schnitzer sehr viel schneller und härter geahndet als bei der inneren Repression. D as hat gew iß dazu beigetragen, den Regeln geheimdienstlicher Tätigkeit Priorität einzuräumen und damit ein professionell begründetes Sonderbewußtsein zu kultivieren. Der schnelle Zerfall der herrschenden Institutionen in der Herbstrevolution war nicht zuletzt eine Folge davon, daß die bis dahin von der Partei unterdrückten und reglem entierten Eigenlogiken der Subsysteme freigesetzt wurden. Offenbar gilt das auch für die Staatssicherheit, wobei die einzelnen Diensteinheiten in dieser Beziehung unterschiedlich prädisponiert w aren und deren Mitarbeiter deshalb auch nicht gleichförm ig agiert haben. Wenn die These zutrifft, daß es in irgendeiner Form eher randständige Diensteinheiten waren, in denen wirklicher Wille zu Veränderungen vernehmbar wurde, dann bedeutet das um gekehrt, daß die Lage in den Kernbereichen der Staatssicherheitszentrale anders war. Sie waren zwar auch nicht mehr intakt und ihre Mitarbeiter vielfach dem oralisiert, aber das konnte sich auch wieder ändern. In den regionalen D iensteinheiten allerdings, den K reisdienststellen und Bezirksverwaltungen, war der Verfallsprozeß schon weiter rung an die Parteiorganisation A und an die Genossen Modrow und Wolf“, o. D.; BStU, ZA, SED-KL 652, Bl. 1529.

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vorangeschritten.

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10 Konfrontation und Kapitulation in den Regionen

Anfang Dezember überstürzten sich die Ereignisse. Der Niedergang der SED verwandelte sich in einen rasanten Sturzflug. Ihrer verfassungsrechtlichen Entm achtung durch die V olkskammer und der moralischen Diskreditierung ihrer Führung durch die Toeplitz-Kommission am 1. Dezember folgte zwei Tage später die Enthaupt ung der Partei: Nach einer chaotisch verlaufenen letzten Sitzung traten Zentralkomitee und Politbüro am 3. Dezember zurück. Zuvor hatten sie noch die prom inentesten V ertreter des A lten Regimes, darunter Honecker, Stoph und Mielke, aus der SED ausgeschlossen. 1 Ebenso wie sie verschwanden einige der w ichtigsten Akteure der Liberalisierungsphase sang- und klanglos von der Bühne: Egon K renz, Wolfgang Herger und G ünter Schabow ski spielten von nun an nurm ehr als Beschuldigte oder als Zeitzeugen eine Rolle. Die ehedem mächtigsten Männer 2 in den Bezirken, die Ersten Sekretäre der SED -Bezirksleitungen, waren inzwischen von der em pörten Parteibasis gestürzt, 3 zw ei von ihnen – Gerhard Müller (Erfurt) und Hans Albrecht (Suhl) – verhaftet worden. 4 An die Stelle des Politbüros trat ein „ Arbeitsausschuß“, dem kein einziges Mitglied des alten Politbüros angehörte. G eleitet w urde er von Herbert Kroker, einem früher gem aßregelten Wirtschaftsfunktionär. D as G remium w urde von den neugewählten SED-Bezirkschefs dom iniert, ergänzt um einige SED Reformer, die bisher keine höhere Position in der Parteihierarchie innegehabt hatten w ie Lothar Bisky , Gregor Gysi, dem Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer, Dieter Klein und Brigitte Zim mermann. 5 Mit Markus Wolf gehörte zu dieser Runde au ch ein ehemaliger hauptamtlicher MfSMitarbeiter. Dennoch verkörperte der Ausschuß einen Bruch m it der bisherigen Macht der Politbürokratie. Selbst w enn darüber hinaus bei dem einen oder anderen noch eine aktive inoffizielle V erbindung zur Staatssicherheit bestanden hätte – w as in keinem Fall nach der A ktenlage w ahrscheinlich, geschweige denn nachweisbar ist –, wäre das keine Kompensation gewesen: Für die ideologisch verhärteten A nhänger des Systems war das Politbüro legitim, weil es sich auf Parteistatut und -tradition stützte und in ihren Au1 2 3 4 5

Wortprotokoll der ZK-Sitzung am 3.12.1989 in: He rtle u. Stephan (Hrsg.): Das Ende der SED (1997), S. 461–481. Es gab auch eine Frau unter ihnen: Christa Zellmer in Frankfurt (Oder). Vgl. Stephan (Hrsg. ): „ Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ (1994), S. 269, Anm. 374; Neugebauer: Von der SED zur PDS (1997), S. 106–108. Vgl. Bahrmann u. Links: Wir sind das Volk (1990), S. 163. Vgl. die Mitgliederliste in: Die SED. Ein Handbuch (1997), S. 856.

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gen den „historischen Auftrag“ verkörperte – im Unterschied zu dem Ausschuß, der die Position dieses Grem iums usurpierte. Das galt unabhängig davon, welche geheim dienstlichen Verbindungen m anch eines seiner Mitglieder gehabt haben m ag oder noch haben m ochte. Gerade für die alten Genossen fehlte von nun an die „Zentrale“. Während das Machtgebäude in O stberlin für jeden sichtbar akut einsturzgefährdet war, demonstrierten die Bürger eindrucksvoll, wer künftig Souverän im Lande sein w ürde. Eine Menschenkette für D emokratie verband am Mittag des 3. Dezem ber Hunderttausende quer durch die Republik vom Thüringer Wald bis zur Insel Rügen. Ein Bild von der Entwicklung des Demonstrationsgeschehens und anderer Protestaktivitäten in jenen Wochen vermittelt die folgende Graphik 6 : Entwicklung der Teilnehmerzahlen an Demonstrationen und anderen Protestaktivitäten (20.11.–17.12.1989):

1.200.000 1.000.000 800.000 600.000 400.000 200.000 0 20.-26.11.

6

27.11.-3.12.

4.-10.12.

11.-17.12.

In dieser Graphik sind sow ohl Demonstrationen wie andere Formen des politischen Protestes (Bürgerversammlungen; Gottesdienste mit politischem Charakter usw. ) enthalten. Die Zahlenangaben wurden vor allem folgenden Materialien entnommen (alle BStU, ZA): Überblickschroniken der HA XX zu oppositionellen Aktivitäten in den Bezirken Oktober/November 1989 (HA XX/4 1476); Rapporte des Lagezentrums der HA XXII 2.11.– 8.12.1989 (HA XXII 531); Rapporte des Zentra len Operativstabes 4.11.–9.12.1989 (HA VIII 1672); „ Lageberichte“ des MfS an SE D-Generalsekretär Krenz 5.11.–5.12.1989 (ZAIG 8266; Neiber 687); „ Informationen“ des Ministeriums des Innern zur „ Lage auf dem Territorium der DDR“ 11.11.–4.12.1989 (Neiber 687); Lagefilme des Zentralen Operativstabs des AfNS 1.12.–17.12.1989 (Neibe r 687; ZKG 129); Lagezentrum des AfNS: „Bericht[e] im Zusammenhang der Auflösung der Kreisämter“ 10.12.–15.12.1989 (SdM 2336; SdM 2240).

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Die Kurve der Protestaktivitäten zeigt, daß nach dem Rückgang unmittelbar nach der Maueröffnung gegen Ende Novem ber und Anfang Dezem ber ein neuer H öhepunkt erreicht w urde, 7 w enngleich nicht m ehr ganz auf dem quantitativen Niveau von einem Monat zuvor. Gesellschaftlicher Druck wurde nun nicht mehr nur auf der Straße und in K irchen ausgeübt, sondern vor allem in Diskussionsveranstaltungen, in Institutionen und Betriebsversammlungen, die nicht m ehr zahlenmäßig erfaßt w orden sind. A uch das war ein Ausdruck politischer Veränderung: Solche Aktivitäten galten in der Regel nicht länger als „ staatsfeindliche Zusam menrottungen“, die die H üter der herrschenden „Ordnung“ genau zu registrieren hatten – w enn sie denn dazu überhaupt noch in der Lage gewesen wären.

10.1 Die Flucht des Chefunterhändlers In diese angespannte Situation platzte w ie eine Bombe die Nachricht von der Flucht des Staatssekretärs Alexander Schalck-Golodkowski. 8 Er hatte in den Tagen zuvor plötzlich eine Publizität genossen, die ihm äußerst peinlich sein mußte. Unter dem Titel „ Fanatiker der Verschwiegenheit“ hatte zuerst der „Spiegel“ unter Berufung auf „westliche Sicherheitsexperten“ in einem wohlinformierten Artikel über die wirtschaftlichen Aktivitäten des von Schalck gesteuerten Bereichs K ommerzielle Koordinierung (KoKo) berichtet. 9 Wer auch immer das H amburger Journal m it Inform ationen beliefert und diese Meldungen lanciert hatte – er hatte gut gezielt: Schalck war in den Jahren zuvor – neben seiner Funktion als Leiter eines N etzes von SED Tarnfirmen in der Bundesrepublik – au f D DR-Seite zur zentralen Figur in den deutsch-deutschen Verhandlungen geworden. 10

7 Ein besonderes statistisches Problem wirft die Menschenkette vom 3.12.1989 auf. In der Berichterstattung ist die Rede von „ Hunderttausenden“ (Bahrmann u. Links: Volk [1990] , S. 161) oder gar „ Millionen“ (Zimmerling: Chronik, 3. Folge, S. 40), auf j eden Fall aber „unzählige Bürger“ (ADN 3.12.1989). Von der Staatssicherheit wurden sie nicht gezählt, und auch sonst existieren keine verläßlichen Zahlen. Um das Ereignis nicht schlichtweg zu negieren, wurde als Gesamtsumme für diesen Tag 500.000 eingesetzt. 8 Zu Schalck vgl. die umfassende Bestandsaufnahme: Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 3, Textband, S. 437–475; Gespräch mit Dr. Alexander Schalck-Golodkowski, Rottach-Egern, 28.9.1993, in: Pirker, Lepsius, Weinert u. Hertle: Der Plan als Befehl und Fiktion (1995), S. 143–172; Hertle: Der Fall der Mauer (1996), S. 154–162. Vgl. auch die journalistischen Veröffentlichungen von Bahrmann und Fritsch: Sumpf (1990), S. 43–58; Seiffert und Treutwei n: Die Schalck-Papiere (1991); Przybylski: Tatort Politbüro (2) (1992), S. 227–336. 9 Die Charakterisierung im Titel des Artikels stammt von Klaus Bölling, dem ehemaligen Ständigen Vertreter der Bundesrepublik in Ostberlin. „,Fanatiker der Verschwiegenheit‘. Die einträglichen Geschäfte des DDR-Staat ssekretärs Alexander Schalck-Golodkowski“, in: Der Spiegel 20.11.1989, S. 49–59. 10 Vgl. Korte: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft (1998), S. 213–227 u. passim.

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Der Wechsel in der SED -Führung hatte ihm zuerst Machtgew inn beschert: Er war als KoKo-Chef nun SED-Generalsekretär Krenz direkt unterstellt und zugleich als „ Sekretär der Arbeitsgruppe“ zur Vorbereitung der Verhandlungen mit der Bundesrepublik für diesen ganzen Bereich auf seiten der SED federführend. 11 In beiden Tätigkeitsfeldern sollte der Ministerratsvorsitzende von Entscheidungen zw ar „in Kenntnis“ gesetzt w erden, an der Suprematie der Partei gegenüber dem Staat aber nicht gerüttelt w erden. 12 Damit hatte sich Schalck gemeinsam mit seinem Freund Krenz eine Position zurechtgezimmert, die der SED-Spitze den Zugriff auf das abgedeckte Devisen-Imperium „KoKo“ gesichert hätte. Seine Position als Chefunterhändler mit der Bundesrepublik behielt Schalck auch nach der Wahl Modrow s zum Vorsitzenden des Ministerrates; der Bereich K ommerzielle K oordinierung blieb vorerst unter seiner Regie. Dann kam weitere Publizität im Gefolge des „Spiegel“-Artikels: In Kavelstorf bei Rostock wurde der geheim e U mschlagplatz für den K oKoWaffenhandel, die Lagerhalle der IMES-Gm bH, enttarnt. 13 Vor der SEDParteiorganisation im Ministerium für A ußenhandel mußte Schalck zugeben, daß er dafür zuständig gew esen w ar, die D evisen für den Wandlitzer Konsumbedarf an Westw aren zu beschaffen. 14 Auf der Volkskam mersitzung zu Machtm ißbrauch und Korruption wurde am 1. Dezember beschlossen, ihn vor den Untersuchungsausschuß zu laden. 15 Schon bei einem Gespräch mit Kaderchef Möller war Schalck m itgeteilt worden, daß die Staatssicherheit die V erbindung zu ihm – und zu seiner Frau, die ebenfalls als O ibE beschäftigt w ar – kappen w erde. Danach hatte Schalck gedroht, er w erde vor dem V olkskammerausschuß „ auspacken“, wenn man ihn nicht davor bewahre, vorgeladen zu werden. 16 Doch Modrow 11 Vgl. Beschlußprotokoll des Politbüros vom 31.10.1989; 14 S., hier S. 10; SAPMO-BA, DY 30 J IV 2/2/2356; Text der Vorlage in : Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 1, S. 1648 f.; Hertle: Der Fall der Mauer (1996), S. 134. 12 Vgl. den Beschluß des Politbüros vom 24.10.1989; Protokoll Nr. 45; SAPMO-BA, DY 30 J IV 2/2/2354, Bl. 1–11, hier 9. Den Beschlußentwurf hatte Schalck selbst entworfen und Krenz einen Tag nach dessen Wahl zum neuen Generalsekretär zugeleitet. Im Unterschied zu seiner Vorlage, die ganz auf den SED -Generalsekretär zugeschnitten w ar, sollten Entscheidungen nun auch dem Ministerpräsidenten „zur Kenntnis“ gegeben werden. Vgl. das Schreiben von Schalck an Krenz vom 19.10.1989, dokumentiert in: Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 1, S. 1635–1637; Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 3, Textband, S. 362 f. 13 Vgl. Höffer: „Der Gegner hat Kraft“ (1997), S. 39 f.; „Geheimen Waffenhandel entlarvt“, in: Neue Zeit 4.12.1989, Nachdruck in: Deutschland Archiv 23 (1990) 1, S. 144 f.; zur Bedeutung des „ KoKo“-Waffenhandels: Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 3, Textband, S. 176–213 u. 492–494. 14 Vgl. Bahrmann u. Links: Wir sind das Volk (1990), S. 154; vgl. dazu Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 3, Textband, S. 147, 285–293. 15 Vgl. 13. Tagung am 1.12.1989, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 349 u. 353. 16 Vgl. „Aussprachevermerk“ des Leiters der HA KuSch, Möller, mit Schalck und dessen Stellvertreter Seidel vom 27.11.1989; dokumentiert in: Deutscher Bundestag – Untersuchungsauss chuß zu Schalck-Golodkowski 1, S. 1663; vgl. auch Pr zybylski: Tatort Politbüro (2) (1992),

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hatte es am Abend nach der V olkskammersitzung nicht geschafft, die V orsitzenden der Blockparteien – de Maizière, G erlach und andere – dafür zu gewinnen. 17 Am nächsten Tag entschloß sich Schalck zur Flucht. Unmittelbarer Auslöser war nach seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuß des Bundestages ein Anruf von Schwanitz, der ihm mitgeteilt habe, der durch das Politbüro am 1. Dezember zugesagte Schutz könne i hm nicht gewährt werden. Vor allem aber habe ihn Schwanitz aufgefordert, vor der Volkskammer jede Zusammenarbeit mit dem MfS zu leugnen: „Nach Aussage von Dr. Schal ck-Golodkowski war di eser Anruf von Dr. Schwanitz der Anlaß, daß er di e DDR flüchtig verlassen habe, da er nun das si chere Gefühl gehabt habe, um sein Leben bangen zu m üssen. Er zog den Schluß, daß hi nter Dr. Schwani tz ‚eine andere Konst ellation, di e ni cht von Krenz geleitet wurde‘, stand, die gegen ihn operierte.“ 18

Schalck hatte offenkundig das berechtigte G efühl, daß die Stasi-Spitze ihn fallenließ. Ob er tatsächlich um sein Leben oder nur um seine Freiheit fürchtete, muß dahingestellt bleiben. Daß aber Krenz nicht m ehr in der Lage und Schwanitz nicht willens war, ihn zu decken, mußte ihn ernsthaft beunruhigen. Wenn die Schilderung des Telefongesprächs zutrifft, sagt das etw as über die geheimpolizeiliche Qualität des AfNS-Chefs aus: Am frühen Morgen des 3. Dezem ber konnte das Ehepaar Schalck unbehelligt einen Grenzübergang in Berlin-Mitte passieren. Auf diese Schlappe reagierte die Staatssicherheit mit Hektik. Noch am gleichen Tag wurden die leitenden Mitarbeiter der KoKo zur Fahndung ausgeschrieben. 19 Vom AfNS-Chef – und in einer gleichlautenden Anordnung von Modrow 20 – wurde „aus Gründen der nationalen Sicherheit [...] m it sofortiger Wirkung die Einsichtnahme in die G eschäftsakten der H auptabteilung I des Bereichs K ommerzielle Koordinierung“ gesperrt. 21 Diese Abteilung war für den Im port von Hochtechnologie unter Umgehung der COCOM-Bestimmungen zuständig und sollte auch weiterhin arbeitsfähig bleiben. 22 Von Finanzministerin Uta N ickel w urde ein Sonderbeauftragter

S. 334. 17 Vgl. Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 3, Textband, S. 462. 18 Ebenda, S. 463; vgl. auch Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland (1998), S. 366–369. 19 Arbeitsgruppe Bereich Kommerzielle Koordinierung im AfNS: Fahndungsliste zu Mitarbeitern der KoKo vom 3.12.1989; BStU, ZA, BKK 1297, Bl. 52–54. 20 Vgl. „ Anordnung“ des Vorsitzenden des Mi nisterrates vom 3.12.1989; dokumentiert in: Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 1, S. 1670. 21 „Anordnung“ von Schwanitz vom 3.12.1989; BStU, ZA, SdM 2240, Bl. 5. 22 So die Aussage von Dr. Modrow vor dem Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages; vgl. Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 3, Textband (1994), S. 369.

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eingesetzt, der die Verflechtung des KoKo-Im periums m it den SED-P arteifinanzen überprüfen sollte. 23 In einem Telegramm an die Leiter aller Diensteinheiten der Staatssicherheit schilderte Schw anitz die U mstände von Schalcks Flucht, ohne dessen MfS-Verbindung zu erwähnen: „Am 03.12.1989, gegen 0.40 Uhr, hat der ehemalige Staatssekretär im Ministerium für Außenhandel und Lei ter des B ereiches Kommerzielle Koordinierung Dr. Schalck-Golodkowski, Alexande r [...] gem einsam m it seiner Ehefrau [...] die DDR über die Grenzübergangsstelle Invalidenstraße nach Westberlin verl assen. Gegen Schal ck-Golodkowski wurde am 03.12.1989 durch den Generalstaatsanwalt der DDR ein Erm ittlungsverfahren wegen Vertrauensmißbrauch und Untreue im schweren Fal l, gemäß §§ 165 Abs. 1 und 2, 161a und 162 StGB eingeleitet. 24 In der gegenwärtigen politischen Situation entstehen durch das Verhal ten der Genannt en außergewöhnliche Gefährdungsmomente für die nationale und staatliche Sicherheit der DDR. Es sind alle politisch-operativen Kräfte , Mittel und Möglichkeiten einzusetzen, um den Aufenthaltsort des Dr. Schalck-Golodkowski festzustellen.“ 25

10.2 Angst vor offener Konfrontation Dem Leiter des A fNS schw ante, daß niem and ihm abnehm en würde, Schalck sei versehentlich entkom men, und daß die Geduld der Bürger nun überstrapaziert war. Er w urde ohnehin von Befürchtungen vor weiterer Eskalation geplagt. Im Entw urf für eine Rede, die er an diesem Tag vor Bezirksamtschefs hatte halten w ollen, 26 w urde zum D iskussionsstand in der Bürgerrechtsbewegung behauptet: „Streng internen Hinweisen zufolge planen einzelne Führungskräfte über die Etappen anhaltender Demonstrationen, die Auslösung von St reiks (vgl. Androhungen eines Generalstreiks durch das ‚Neue Forum ‘ Karl-Marx-Stadt 27 23 Der Beauftragte Jürgen Niesen legte am 20. Dezember einen ersten, nur drei Seiten umfassenden Bericht vor. Darin machte er den V orschlag, den K oKo-Immobilienbesitz im Ausland auf die SED zu übertragen und die dort unter Legende angesiedelten Firmen in „Volkseigentum“ umzuwandeln. Vgl. Ministerium der Finan zen und Preise, Beauftragter des Ministers: „ Vorschlag“ vom 20.12.1989, gez. Niesen; dokumentiert in: Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 1 (1992), S. 1684–1686. 24 Der Haftbefehl vom 3.12.1989 ist dokumentiert in: Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 3 (1994), Anlagen, S. 3238. 25 BStU, ASt Berlin, A 1184 (unerschlossenes Material). 26 Zu der tatsächlich gehaltenen Rede, die sich ganz auf die Umstrukturierung des AfNS konzentrierte, siehe S. 542 ff. 27 Solche Überlegungen gab es beim Neuen Forum Karl-Marx-Stadt tatsächlich; vgl. Horsch: „Das kann man überhaupt nicht verstehen“ (1997), S. 53.

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am 6.12. bzw. 11.12.89) und deren Hi nüberleitung i n ei nen sogenannt en Volksaufstand di e Ent machtung der SE D noch vor dem Stattfinden freier Wahlen.“ 28

Für ein solches Szenario, das freilich nur in den Köpfen der Stasi-Spitze existierte, hätten die Ereignisse dieses Tages das Signal geben können. Mit solchen Befürchtungen ist wohl zu erklären, daß Schw anitz noch ein w eiteres, hysterisch klingendes Telegramm an die Leiter der Bezirks- und K reisämter schickte: „Im Zusammenhang mit dem Rücktritt des ZK und des Politbüros der SED, den erfol gten Part eiausschlüssen, M aßnahmen i m Zusammenhang mit der Fahndung nach Schalck-Golodkowski und d azu bereits öffentlich erhobenen Forderungen ist m it Dem onstrationen, Kundgebungen, St reikandrohungen bzw. Streiks und anderen öffentlichke itswirksamen Handlungen zu rechnen, die durch feindliche Kräfte bzw. kriminelle Elemente zu gewaltsamen Handlungen und Störungen der öffentliche n Ordnung und Sicherheit genutzt werden können. Versuche von Terrorhandlungen, Gei selnahmen und ähnliches sind nicht auszuschließen. [...] Die Objektsicherung ist unverzüglich zu verstärken. Mit den Lei tern der B dVP/VPKÄ [B ezirksämtern der Vol kspolizei/Volkspolizeikreisämtern] i st ei n st ändiges Zusam menwirken und di e erforderliche Abstimmung von Maßnahmen zu gewährleisten.“ 29

Auch unter den Bürgerrechtlern wuchs die Nervosität, war doch eine Eskalation angesichts der wachsenden Gereiztheit auf beiden Seiten nicht auszuschließen. Deshalb verabschiedeten Mitglieder verschiedener Bürgerrechtsorganisationen, so der „Initiativgruppe 4.11. der Theater- und Kulturschaffenden“ (die die D emonstration auf dem A lexanderplatz vorbereitet hatte), des N euen Forums, von D emokratischer Aufbruch und „Demokratie Jetzt“ und einiger anderer, am Mittag des 3. Dezember einen Aufruf, der über die Medien verbreitet wurde: „Wir haben erfahren, daß angesichts der St aatskrise wi chtige Fi nanz- und Sachwerte ins Ausland verbracht, wese ntliche Akten vernichtet wurden und daß sich verantwortliche Personen ins Ausland abzusetzen versuchen. Diese

28 „Zu einigen ausgewählten Aspekten der La ge“; handschriftl. Vermerk „Beratung mit Leitern d. BÄ 3.12.89“; BStU, ZA, ZAIG 7528, Bl. 25–39, hier 26. Auf einem weiteren Exemplar des gleichen Dokumentes finden sich die handschriftl. Vermerke „ Nicht vorgetragen“ und daneben durchgestrichen: „Beratung am 10.12.1989 mit Vertretern d. Ltrs. der BÄfNS“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 245–259. Letztere Datierung muß fehlerhaft sein, weil in dem Text noch von der Fortexistenz des AfNS ausgegangen wird. 29 Telegramm von Schwanitz an die Leiter de r Diensteinheiten vom 3.12.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 98.

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Absatzbewegungen und Verschleierungsversuche müssen verhindert werden! [...] Inform iert die Deut sche Volkspolizei und die Öffentlichkeit! [...] Nach wie vor gilt: Keine Gewalt.“ 30

Die Bürger wurden aufgefordert, „Kontrollgruppen“ zu bilden und „ wo nötig gemeinsame Kontrollmaßnahmen“ zu beschließen. Die KoKo war nur in seltenen Fällen greifbar, für jederm ann sichtbar aber w aren die Kreis- und Bezirksämter für N ationale Sicherheit. D aß dort vertuscht w urde, daß Akten, zum Teil im Freien, verbrannt w urden und vollbeladene Lastw agen zu Papiermühlen der „SERO“ und sonstwohin fuhren, war vielerorts bekannt. Der 4. Dezember, ein Montag, begann zum indest für Rundfunkhörer m it einer Bestätigung dieser V ermutungen und Beobachtungen durch einen Insider. Ein Mitarbeiter der H auptabteilung X XII (Terrorabw ehr) berichtete um 6.45 Uhr – unter Berufung auf Markus Wolf – in einem Interview mit dem Berliner Rundfunk: „Ich habe gesehen, daß m ein direkter Leiter die Unterlagen genommen hat, damit i ns Hei zhaus gegangen i st, und daß im Umkreis des Hei zhauses, wie verbrannte Papi erschnipsel eben aussehen, eben dort l iegen, und aus dem Schornstein rausfliegen.“ 31

Diese Meldung wurde mehrfach wiederholt 32 und nicht nur in Berlin gehört. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt zum Beispiel beriefen sich Bürgerrechtler darauf, als sie einen Stopp der Aktenvernichtung forderten. 33 Wenn man so etwas verhindern wollte, m ußte m an in die Gebäude der Staatssicherheit hineinkommen. Bis dahin hatten Dutzende von Dem onstrationen vor den AfNS-Dienstobjekten sta ttgefunden. Parolen waren skandiert, brennende Kerzen als Zeichen der Gewaltlosigkeit an den Eingängen aufgestellt worden. Aber noch kein Demonstrant hatte gewagt, in eines dieser Gebäude einzudringen. Man wußte, daß sie noch voller Waffen steckten, und man wußte nicht, wie die Stasi-Mitarbeiter, die sich dort eingeigelt hatten, reagieren 30 BStU, ZA, SdM 2275, Bl. 20. Im Auszug auch in der „ Chronik“, in: Deutschland Archiv 23 (1990) 1, S. 162. Zum Zeitpunkt vgl. Aktenvermerk der AKG des BAfNS Berlin vom 3.12.1989 zu einem anonymen Anruf bei der Volkspolizei, der von Wolfgang Schnur veranlaßt worden sei; BStU, ZA, HA XXII 18138/8, Bl. 244. 31 Mitschrift der ZAIG; BStU, ZA, HA XXII 5619, Bl. 185–188. Der AfNS-Angehörige begründete diesen für Staatssicherheitsverhältnisse außergewöhnlichen Bruch der Verschwiegenheitspflicht damit, daß Markus Wolf einen Aufruf herausgegeben habe, es sollte verhindert werden, daß frühere Mitglieder des Politbüros und höhere Funktionäre des ZKApparates Zugang zu ihren Panzerschränken hätten und Unterlagen verschwinden lassen könnten. Auch das zeigt, daß die dienstliche Hi erarchie nicht mehr verinnerlicht war und andere Orientierungen gesucht wurden. 32 So am 4.12.1989 um 17.30 Uhr als Kurzmel dung des Berliner Rundfunks; Mitschrift der ZAIG; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 254. 33 Vgl. Telegramm des Leiters des BAfNS Karl-Marx-Stadt, Generalleutnant Gehlert, an das AfNS Generalleutnant Schwanitz vom 4.12.1989, 14.35 Uhr; BStU, ZA, SdM 2289, Bl. 534.

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würden.

10.3 Schritte in die Tabuzone

Die Tabuzone w urde in der Erfurter A ndreasstraße durchbrochen, dem Sitz des Bezirksam tes für Nationale Sicherheit nahe am Stadtzentrum. 34 Am Vorabend hatte eine K undgebung m it 50.000 Teilnehm ern auf dem Domplatz, auf der die bezirklichen Repräs entanten des Parteistaates, der SEDChef Müller und die O berbürgermeisterin Seibert heftig angegriffen worden waren, die veränderten politischen Kräfte verhältnisse in Erfurt sichtbar gemacht. 35 Das hat dazu beigetragen, jene Dem onstranten zu ermutigen, die sich auf Initiative von Frauen aus der Erfurter Frauenbewegung am Morgen des 4. Dezember kurz vor 9 Uhr vor dem Bezirksamt versammelten. Die Menge wurde größer, sie blockierte die Eingänge und kontrollierte die Taschen der Mitarbeiter. Die ließen das geschehen. Ihre K ollegen von der V olkspolizei, die solche Volkskontrolle vielleicht hätten verhindern können, kamen ihnen nicht zu Hilfe. Sie warteten auf einen Befehl aus dem Ostberliner Innenministerium. 36 „Da die Gefahr einer w eiteren Eskalation bestand“ , berichtete G eneralmajor Schwarz, der Bezirksam tschef, am Abend nach Berlin, hätte er beschlossen, „ eine A bordnung von 10 Personen zu empfangen, um über das Anliegen dieser K räfte inform iert zu w erden und beruhigend auf diese Einfluß zu nehmen“. D och die Beschw ichtigungstaktik scheiterte. In den Worten von Schwarz: „Während dieses Gespräches im Konferenzzimmer des Leiters des Amtes verschafften sich weitere Personen unter Führung einer Frau Dr. Schön, Kerstin, die sich al s Sprecheri n ei nes unabhängi gen Unt ersuchungsausschusses ausgab, gewaltsam Zugang zum B ezirksamt und begaben si ch ebenfal ls i n das Konferenzzimmer. Die Frau Schön hatte zuvor den Staatsanwalt des Bezirkes über ihre Absicht, Archivmaterialien und andere Unt erlagen im Amt für Nationale Si cherheit vor Verni chtung zu bewahren, i n Kennt nis geset zt. Di e Hauptforderungen der i n das Bezirksamt eingedrungenen Personen bezogen sich insbesondere auf die Einsichtnahme in die Archive sowie angeblich vorhandene Unterlagen zu konkret en Personen, di e si ch zum Tei l unt er den 34 Zu den Geschehnissen in Erfurt vgl. Dornheim: Politischer Umbruch in Erfurt (1995); Stein: „Sorgt dafür, daß sie die Mehrheit nicht hinter sich kriegen“ (1998). 35 Vgl. Abt. Parteiorgane des ZK: Informati on über die aktuelle Lage in der DDR (Stand vom 4.11.1989 – 6.00 Uhr); BStU, ZA, Mittig 30, Bl. 61 f. 36 Vgl. Anruf des Diensthabenden des BAfNS Erfurt, Major Schaffroth, an den Offizier vom Dienst im AfNS Berlin, 4.12.1989, 13.40 Uhr, OvD-Rapport vom 4.12. 1989; BStU, ZA, BdL [Büro der Leitung] 532, Bl. 79. Hinsichtlich der Entscheidungsstrukturen aufschlußreich ist, daß der Anrufer darum bat, Schw anitz zu informieren, damit der A fNS-Chef auf das Innenministerium einwirke.

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Anwesenden befanden, die Einsichtnahme in vorhandene Speicher sowie die Inaugenscheinnahme der Verkollerungsan lage und der Haftanstalt. [...] Im Beisein der erwähnten Staatsanwälte sowie von Journal isten der ‚Neuen Erfurter Zeitung‘, ‚Der Thüri nger Neuest en Nachri chten‘ sowi e des ‚Vol kes‘ wurde aufgrund der m assiven Forderungen ei ne Objekt begehung real isiert.“ 37

Insgesamt waren etwa 300 Personen in das BAfNS eingedrungen, besichtigten die Räum lichkeiten und richteten an kritischen Punkten Bürgerwachen ein. Damit war das Eis gebrochen. D ie Nachricht davon, was in Erfurt möglich gewesen war, ging wie ein Lauffeuer durch die Republik. Es w ar freilich zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, ob „ Erfurt“ eine A usnahme w ar oder ob es zur Regel w erden w ürde, denn m it der Besetzung des Erfurter Bezirksamtes war die Entscheidung noch nicht endgültig gefallen. Beide Seiten, Staatssicherheit und Bürgerrechtler, dachten m it einem gewissen Bangen daran, daß am A bend die traditionelle Montagsdemonstration in Leipzig stattfinden würde, die an der „ Runden Ecke“ , dem Sitz der StasiBezirksverwaltung, vorbeiführte. In der Woche zuvor, am 27. November, hatten dort etwa 200.000 Menschen demonstriert, und die Atmosphäre hatte sich verändert. Es hatten schw arz-rot-goldene Fahnen und Rufe nach Wiedervereinigung dominiert, die Stim mung w ar aggressiver gew orden, erstmals hatte m an einen Redner des Neuen Forums ausgepfiffen. 38 Welche Reaktionen die Nachrichten aus Erfurt bei den Demonstranten auslösen würden, war kaum kalkulierbar. Verschiedene Personen w urden aktiv. Eine G ruppe von Bürgerrechtlern, Kirchenleuten und Intellektuellen veröffentlichte einen „ Appell der Vernunft“, in dem gewarnt wurde: „Es gibt Anzeichen, daß aus diesem berechtigten Zorn Handlungen erwachsen, die in die G efährdung der Sicherheit der Bürger und des Lebens münden könnten.“ Vorgeschlagen wurde: „Die ernst en R egierungsgeschäfte können ni cht l änger ohne di e B ürgerbewegungen vonstatten gehen. Die Bürgerkomitees in Stadt und Land sollen in einer Sich erheitspartnerschaft m it d en staatlich en Org anen zu nächst Ko ntrollaufgaben wahrnehmen, Beweismaterial sichern und bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft mitarbeiten.“ 39

Aus den gleichen Motiven heraus kam es in den Mittagsstunden zu einem 37 Fernschreiben von Generalmajor Schwarz an Generalleutnant Schwanitz; Dringlichkeitsstufe: Luft; BStU, ZA, SdM 2289. 38 Vgl. Bahrmann u. Links: Wir sind das Volk ( 1990), S. 146 f.; Döhnert u. Paulus: Die Leipziger Montagsdemonstrationen (1990), S. 156. 39 Zu den Unterzeichnern gehörten u. a. Altbischof Schönherr, Christoph Hein, Volker Braun, Konrad Weiß, Gregor Gysi, Toni Krahl und Friedrich Schorlemmer. Text dokumentiert in: Zimmerling: Folge 3, S. 46 f.

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merkwürdigen Treffen: D er Leiter des AfNS, Generalleutnant Schwanitz, sprach mit einer Gruppe von Bürgerrechtlern (u. a. Christian Ladwig, Michael Passauer und Reinhard Schult) plus einem damals noch in hohem Ansehen stehenden inoffiziellen Mitarbeiter seines Am tes, dem IM „ Dr. Schirmer“, in der Bürgerrechtsbewegung als Rechtsanwalt Wolfgang Schnur bekannt. 40 Schnur wollte (oder sollte) nach Leipzig fahren, um besänftigend auf die Demonstranten einzuwirken. Das AfNS war bereit, ihm als technische Hilfe einen Lautsprecherwagen zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich kam Schnur zu spät. Als er in Leipzig eintraf, w aren – um einer Besetzung durch wütende Demonstranten vorzubeugen – Vertreter des Neuen Forums bereits in das Gebäude eingelassen worden. 41 D er Lautsprecherw agen w ar überflüssig. Statt dessen sprach Schnur mit Hilfe eines Megaphons der Volkspolizei und leistete einen kleinen Beitrag dazu, daß die Leute friedlich blieben. In die Bezirksverwaltung mußten sie dennoch eingelassen w erden, aber nicht gewaltsam, sondern ordentlich, in kleineren und größeren Gruppen.

10.4 Die Dramaturgie der Besetzungen Der äußere A blauf dieses Tages ist weitgehend bekannt, doch was geschah zu jener Zeit in der Staatssicherheit? Wie verhielt sich die Zentrale? Welche Rolle spielten die anderen „ Sicherheitsorgane“ und vor allem die Staatsanwaltschaft? Wie ist die Reaktion der „ Tschekisten“ auf diese für sie wenige Wochen zuvor noch undenkbaren Ereignisse zu erklären? Der Leiter des AfNS war am 4. Dezember ein vielbeschäftigter Mann. Am Morgen hatte er auf einer Dienstbesprechung die Konzeption zur Reorganisation der Staatssicherheit vorgestellt. Danach war das erwähnte Treffen mit den Bürgerrechtlern. Im A nschluß daran schickte Schwanitz mehrere Fernschreiben an die Leiter der Bezirks- und K reisämter. In einem Telegramm, handschriftlich terminiert auf „14.30“, teilte er mit, daß ihn „Vertreter von Bürgerrechtsbewegungen unter Leitung von H errn Rechtsanw alt Schnur gebeten“ hätten, den „ Aufruf“ zur Bildung von „ Kontrollgruppen“ und zur Gewaltlosigkeit „ über die Nachrichtenverbindungen des Am tes an die Medien der Bezirke zu geben“ . 42 D er A ufruf w urde mitgeschickt und zum Beispiel in K arl-Marx-Stadt auf einer D ienstbesprechung des Bezirksamtes verlesen und mit Erleichterung aufgenommen. 43 Zugleich wurden die 40 Die Darstellung dieser Episode beruht auf einem Gespräch des Autors mit Christian Ladwig, der an diesem Tag ständig mit Schnur zusammen war, am 10.11.1994. 41 Vgl. die Darstellung dieses Tages in: Bürgerkomitee Leipzig (Hrsg. ): STASI intern (1991), S. 21–51. 42 Ch. Ladw ig, Teilnehmer an diesem G espräch, kann sich an eine solche Bitte nicht erinnern. Fernschreiben von Schwanitz an die Leiter der BÄfNS vom 4.12. 1989, handschriftl. „14.30“, „Dringlichkeitsstufe: Luft“; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 257. 43 Mitschnitt der Dienstbesprechung am 4.12.1989; BStU, ASt Chemnitz, Tonband 201261.

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Dienststellenleiter gebeten, „ zu veröffentlichen, daß ich befohlen habe,

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sofort die Vernichtung und den Transport von U nterlagen des Amtes einzustellen“. 44 Um 15.30 U hr folgte, ebenfalls m it der höchsten Dringlichkeitsstufe „Luft“, der formelle Stopp der Aktenvernichtung: „Ab sofort ist jegliche Vernichtung und jeglicher Transport, einschließlich Kurierfahrten von dienstlichen Unterlagen zu stoppen. Es ist alles zu tun, um die erforderliche Sicherheit der noch i n den Ämtern vorhandenen Dokumente zu gewährleisten.“ 45

Eine Stunde später berichtete Schw anitz in einem w eiteren Fernschreiben, an „ alle Leiter der K reis- und Bezirksämter für Nationale Sicherheit“ über die Besetzung in Erfurt und forderte: „Der Zutritt unberechtigter Personen ist unbedingt zu verhindern. Es sind alle zur Verfügung stehenden Mittel, Lösc heinrichtungen und übergebenen speziellen Mittel – außer gezielte Sc hußwaffenanwendung – zum Einsatz zu bringen. [...] Mit der Volkspolizei sind weitere Abstim mungen zum Einsatz zusätzlicher Kräfte herbeizuführen.“ 46

Es war noch nicht ausgem acht, wie der Tag ausgehen würde. Die Weisung von Schwanitz war hinsichtlich des Mitteleinsatzes nur in dem Verbot des gezielten Schußw affengebrauchs eindeutig. D emonstranten zur „Beruhigung“ in die D ienststellen einzulassen w ie am Morgen in Erfurt war nicht vorgesehen. Im Gegenteil, der „ Zutritt unberechtigter Personen“ sollte „unbedingt“ verhindert werden. In Leipzig notierte der Leiter des Stasi-Bezirksamtes, Generalmajor Hummitzsch, am Nachmittag nach einer Dienstbesprechung in sein Arbeitsbuch: 44 Telegramm von Schwanitz an die Leiter a ller BÄfNS, 4.12.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 257 f. 45 BStU, ASt Berlin, Karton A 1189 (unerschlo ssenes Material). – Ein unbekannter MfSOffizier aus der HA XX notierte an diesem Ta g in seinem A rbeitsbuch: „ seit Mo[ntag] 4.12.89 Mittag Vernichtungsstop!“; BStU, ZA , HA XX/4 459, Bl. 13 (herausgerissenes Einzelblatt). Ein Mitarbeiter der Zentrale n Arbeitsgruppe Geheimnisschutz machte am 5.12.1989 unter der Überschrift „ Auswertung Di enstbesprechung Ltr. Amt“ eine Notiz: „ab sofort Stopp aller Vernichtungen“, Arbe itsbuch; BStU, ZAGG 2742, Bl. 63. – Gegenüber den Spitzen des Amtes motivierte Schw anitz am folgenden Tag seine Entscheidung mit dem Argument: „Auf jeden Fall ist zu verhindern, daß Bürger provoziert werden und damit eine Zuspitzung der Situation erreicht wird. [...] Aktenverbrennungen bzw. Auslagerungen von Akten sind grundsätzlich einzustelle n. Es darf nicht der Eindruck entstehen, daß wir Material über Machtmißbrauch, Korrumpierung oder ähnliches beiseite schaffen wollen.“ Zitiert nach einem Ms. ohne Titel, handschriftlich überschrieben mit „Befehl“, wahrscheinlich des Leiters der HA I, Gene ralleutnant Dietze; BStU, ZA, HA I 1710, Bl. 6–19, hier 8. 46 BStU, ZA, ASt Berlin, Karton A 1189 (unerschlossenes Material). Für die Bezirksämter Berlin und Karl-Marx-Stadt ist belegt, daß dieser Befehl auch tatsächlich eingetroffen ist: Das oben zitierte Exemplar aus dem B erliner B estand trägt einen Eingangsstempel „BAfNS Berlin 4.12.1989, 16.45, Tgb.Nr 424“. In Karl-Marx-Stadt wurde er auf der Dienstbesprechung verlesen, auf die oben verwiesen worden ist.

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„– alle Frauen ab 16.00 Uhr [nach Hause] – Türen Fenster so verbarrikadieren, daß keiner reinkommt – grundsätzlich keine Schußwaffen – alle anderen Hilfsmittel – die BdVP [Bezirksverwaltung der Volkspolizei] VP-Kräfte von außen – wir müssen diesen Montag überstehen – Ruhe, Besonnenheit, nicht durchdrehen“ 47

Ein w ichtiger A kteur tauchte w eder in diesen N otizen noch in Schwanitz’ Befehlen von jenem Tag auf: die Staatsanw altschaft. Ihr w ar ursprünglich, soweit geplant wurde, offenbar keine Rolle zugedacht. 48 In Erfurt hatte die Bezirksstaatsanw altschaft versucht, sich herauszuhalten, obwohl sie vorher von einer Bürgerrechtlerin inform iert w orden w ar. Der Militärstaatsanwalt mußte in die Bresche springen. 49 Bei den Begehungen, Besetzungen und Versiegelungen am Abend des 4. Dezember und am folgenden Tag aber waren die jeweiligen Kreisstaatsanwälte regelm äßig dabei. Inzwischen war Generalstaatsanwalt Wendland aktiv gew orden. Er war am Vortag wegen der erfolgreichen Flucht von Schalck neuerlich unter Beschuß gekommen. Zuvor schon hatte m an ihm Verschleppung der Erm ittlungsverfahren wegen der Ü bergriffe von Staatssicherheit und V olkspolizei am 7. und 8. O ktober vorgeworfen. 50 Nun war die A ktenvernichtung ruchbar gew orden, und von vielen Bürgern w urde erwartet, daß die Staatsanwaltschaft eingreift. Wendland schickte ein Schreiben an den „ werten G enossen Schwanitz“: „Bürger und Kol lektive wenden si ch i n den l etzten Tagen ständig mit Hinweisen an Staatsanwälte der Kreise, de r Bezirke oder an m ich mit teilweise konkreten B ekundungen, daß si e t eils verdeckt e und t eils i n der Nachtzeit vorgenommene Abt ransporte und Akt envernichtungen i m Zusam menhang mit Dienststellen Ihres Am tes festgest ellt haben. [...] Unter Bezug auf das heute geführte Telefongespräch fordere ich Sie gemäß §§ 20 und 30 des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft der DDR vom 7. 4. 1977 (GBl. I Nr. 10 S. 47 Reprint in: Bürgerkomitee Leipzig (Hrsg.): STASI intern (1991), S. 51. 48 Erst am folgenden Tag notierte Hummitzsch: „ richtig war die Hinzuziehung der Staatsanwaltschaft“; ebenda, S. 51. – In einem Schreiben des Generalstaatsanwalts vom 4.12., auf das noch zurückzukommen sein wird, erwähnt Wendland einen Staatsanwalt in Oelsnitz (Bezirk Karl-Marx-Stadt), der selbst die Initiative zur Versiegelung des dortigen Kreisamtes ergriffen habe. – Der Leiter des BAfNS Schwerin meldete am 5.12.1989 nach Berlin, daß im KA Parchim am Vorabend „ eine Versiegelung der Panzerschränke durch den Staatsanwalt erzwungen“ wurde, und erwähnte dabei keinerlei entsprechende Vereinbarung. Telegramm von Generalmajor Korth an das AfNS, Generalleutnant Schwanitz; Datum des Eingangsstempels: 5.12.89; BStU, ZA, SdM 2289, Bl. 535. 49 So die Darstellung in dem zitierten Telegramm von Schwarz an Schwanitz vom 4. 12.1989; BStU, ZA, SdM 2289; ebenso Dornheim: Politischer Umbruch in Erfurt (1995), S. 72. 50 Am 5. Dezember traten der Generalstaatsanwa lt und sein Stellvertreter schließlich zurück. Vgl. Neues Deutschland 6.12.1989.

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93) auf, jegliches Vernichten oder Beiseiteschaffen von schriftlichen Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit zu unterbinden, damit die Staatsanwaltschaft jederzeit die Möglichkeit hat, die Vorlage von Akt en oder Unterlagen durchzusetzen.“ 51

Es kann sein, daß es sich um ein Schreiben auf Bestellung handelte. Sehr wahrscheinlich ist das nicht: Sonst wären die D iensteinheiten darauf hingewiesen w orden, daß sie m it Besuch von der Staatsanwaltschaft zu rechnen hätten. Wie dem auch sei – die Weisung des Generalstaatsanwalts schaffte die rechtliche Voraussetzung dafür, daß sich die Staatsanwälte vor Ort gewissermaßen als Verm ittler einschalteten. Von den Dem onstranten wurde ihnen häufig starkes Mißtrauen entgegengebracht, denn m an ahnte die prinzipiell enge Kooperation zwischen beiden Institutionen; zudem kam en die beteiligten Staatsanwälte häufig aus der für politische Strafsachen zuständigen Abteilung 1 der Staatsanwaltschaft. Dennoch wirkte ihre Präsenz deeskalierend. Sie gaben dem ganzen Vorgang eine rechtliche Form , die für beide Seiten in dieser angespannten Situation, für die es keine Verhaltensregeln gab, akzeptabel w ar. 52 Angesichts der Undurchführbarkeit des Befehls aus ihrer Berliner Zentrale, den Zutritt „ unbedingt zu verhindern“ , hielten sich die Leiter der örtlichen Dienststellen an ihre bisherigen Kooperationspartner. Ihre Nachgiebigkeit gegenüber den dem onstrierenden Bürgern, die faktisch Befehlsverw eigerung w ar, fand so eine Begründung, für die sie nicht belangt werden konnten. Unter dem Druck der Bürgerbewegung siegte vor Ort die Vernunft. Die Hinzuziehung der Staatsanw älte wurde nachträglich von der Leitung des AfNS gebilligt. Schwanitz gab am 5. Dezem ber eine neue Weisung an Bezirks- und K reisämter heraus, die den Staatsanw älten eine Rolle zuw ies und sich in Ton und Inhalt erheblich von den D urchhalteparolen des Vortags unterschied. N un forderte der A fNS-Chef, „daß mit allen Personen das Gespräch zu suchen ist“. Wenn das nicht genügen sollte, wurde taktische Nachgiebigkeit empfohlen: „Bleiben di e Forderungen best ehen bzw. erhöht si ch der Druck weiter, um gewaltsam in d ie Ob jekte ein zudringen, k ann gemeinsam mit dem Militärstaatsanwalt, Angehörigen der VP [Vol kspolizei], Abgeordnet en und W ählern der Bürgerrechtsbewegungen (z. B. Sprechergruppen) ei ne Begehung des 51 Schreiben von Generalstaatsanwalt Wendla nd an den Leiter des AfNS vom 4.12.1989; BStU, ZA, SdM 2294, Bl. 39. 52 Über die Besetzung in Rostock berichtete Joachim Gauck: „ In Rostock hatte die Bürgerbewegung, bevor sie zur August-Bebel-Straße [dem Sitz der MfS-Bezirksverwaltung] zog, den Staatsanwalt und die Volkspolizei um Begleitung gebeten, um dem feindlichen Gegenüber die friedlichen Absichten zu signalisieren und der Stasi keinerlei Vorwände zu liefern, zu den Waffen zu greifen. D as w ar die Sicherheitspartnerschaft der ersten Stunde.“ Gauck: Die Stasi-Akten (1991), S. 80.

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Objektes vorgenommen werden. Forderungen zur Versi egelung von Räumen und Panzerschränken können real isiert we rden. Dabei ist jedoch zu verhi ndern, daß unberechtigte Personen Einsicht in Unterlagen erhalten oder gar i n deren Besitz gelangen.“ 53

Die D emonstranten m ißtrauten den Staatsanw älten, aber auch die Leitung des AfNS war mit ihnen – und mit der Volkspolizei – unzufrieden. In einem internen „Hinweis“ für die AfNS-Leitung, der wahrscheinlich am folgenden Tag entstanden ist, wurde geklagt: „Gegen Forderungen der ei ngedrungenen Personen, in Archive u. a. Unterlagen der Ämter, einschließlich Staatsgeheimnissen und anderen gehei mzuhaltenden Inform ationen, Ei nsicht zu nehm en, wurde durch die Staatsanwälte und Angehöri gen der DVP ni cht mit der not wendigen Konsequenz ei ngeschritten.“

Manche Volkspolizisten hätten sich noch schlechter verhalten: „ In einigen Fällen erklärten sich Dienststellen der D VP außerstande, den Ersuchen von Ämtern um Maßnahmen zum Schutz von O bjekten zu entsprechen.“ 54 Das Klima zwischen den ehem aligen „ Partnern des operativen Zusam menwirkens“ illustriert der an diese Kritik anschließende Wunsch: „Von den Organen der Deutschen Volkspolizei wäre zu erwarten, daß sie in den Objekten [den Dienstgebäuden des AfNS] nicht solche Handlungen vornehmen, die in die Aufgaben und Befugnisse der Ämter eingreifen und einen geordneten Dienstablauf behindern; Ersuchen der Äm ter für Nat ionale Sicherheit um Am tshilfe, i nsbesondere be i Handl ungen des Hausfri edensbruches und bei Gefahren der Verl etzung de r Fest legungen über den Gehei mnisschutz, wäre grundsätzlich zu entsprechen.“ 55

Bis dahin selbstverständliche H andlungsroutinen funktionierten offenbar nicht mehr. Zudem zeugt diese Klage davon, daß sich das Machtgefälle zwischen Staatssicherheit und V olkspolizei verkehrt hatte. Die Stasi-Offiziere, die sich immer als Oberaufseher der Polizei und des gesamten Innenministe-

53 Fernschreiben von Schwanitz an die Leiter aller Bezirks- und Kreisämter, 5.12.89, 16.00 Uhr; BStU, ASt Berlin, Karton A 1189 (unersch lossenes Material). Dieser Befehl wurde offenbar in der Rechtsstelle des AfNS formuliert, denn in deren Bestand findet sich der mit der Endfassung identische Entwurf: BStU, ZA, Rechtsstelle 693, Bl. 26 f. 54 „Hinweise zum Zusammenwirken des Amtes für N ationale Sicherheit, des Ministeriums für Innere Angelegenheiten und der Staatsanwälte auf den verschiedenen Ebenen“; BStU, ZA, ZAIG 14279, Bl. 66–68. Das Datum ergibt si ch aus dem Inhalt, der Adressat aus einem weiteren Fundort desselben Dokuments – ein persönlicher Ordner von Schwanitz (SdM 1992, Bl. 232 f.). 55 Ebenda, Bl. 68.

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riums aufgeführt hatten, 56 erschienen plötzlich in der Rolle des Bittstellers. Erklärbar ist das nur damit, daß die Polizei unter dem Druck der demokratischen Revolution als „Sicherheitspartner“ der D emonstranten in eine neue Rolle fand, während der Staatssicherheit solch ein eleganter Rollenwechsel verwehrt war. Es ist fast überflüssig anzumerken, daß die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“, die Parteiarm ee der SED , obw ohl sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht entwaffnet waren, an keinem Ort in Erscheinung traten. So ist es nicht verwunderlich, daß am Ende des Schreibens die Befürchtung geäußert w ird, es könnte zu einem „ Auseinanderdividieren der Schutz- und Sicherheitssowie Rechtspflegeorgane“ kommen. Tatsächlich hatte dieses „ Auseinanderdividieren“ bereits stattgefunden – auch unter Beteiligung des A fNS. A nders kann m an eine K onzeption zur „Gesprächsführung bei Erfordernis“ wohl nicht verstehen, die von der Hauptabteilung X XII (Terrorabwehr) am 5. Dezember verfaßt wurde und weite Verbreitung gefunden zu haben scheint, denn Zeitzeugen berichten, daß gemäß den dort festgelegten Regeln verfahren w urde. Für den Fall, daß die Staatsanwaltschaft, eventuell in Begleitung der V olkspolizei, Einlaß in ein Dienstobjekt fordern sollte, war zuerst der Diensthabende zu informieren: „Nach Bestätigung durch LDE [Leiter der Diensteinheit], Einlaß in das Dienstobjekt gewähren, wenn gefordert, Diensträume (keine Siegelzimmer) zur Besichtigung freigeben. B ei Si egelzimmern i st ei ne Öffnung ni cht m öglich (Schlüssel als Nichtvorhanden, da personengebunden angeben). Wird seitens der Vertreter der Rechtsorgane auf eine Sicherstellung der im Raum befindlichen Materialien bestanden, wird durch den Di ensthabenden auf eine durch ihn dann vorzunehmende zweite Versiegelung verwiesen.“ 57

Die Hemmschwelle sollte m öglichst hoch sein und die Verantwortung auf die Staatsanwälte abgeschoben werden. Von dem so oft beschworenen „vertrauensvollen Zusammenwirken“ war nicht viel übriggeblieben. N och unzufriedener dürfte die Staatssicherheit in den folgenden Tagen gewesen sein, als die ersten Leiter von K reisämtern wegen Aktenvernichtung festgenommen wurden. 58 Von solchen internen D ifferenzen war den aufbegehrenden Bürgern freilich nichts bekannt, als sie gegen Abend des 4. Dezember vor die Kreis- und 56 Vgl. beispielhaft Oberst Büchner, Leiter der HA VII: „ Status der Linie VII – Mai 1975“; BStU, ZA, HA VII 1360, Bl. 291–381. 57 HA XXII: „Anhalte für den Leitungsdienst zur Gesprächsführung bei Erfordernis“ , 5.12.1989; BStU, ZA, HA XXII 1667 Nr. 8, Bl. 76–83, hier 78 f. 58 Vielerorts gab es gerade in den folge nden Wochen wohl auch ein Zusammenspiel von Staatsanwälten und AfNS-Offizieren bei de r Abschirmung geheimer Unterlagen und so nachlässiger „Versiegelung“ (z. B. – wie in Gera – nur mit Heftpflaster), daß heimlicher Vernichtung Vorschub geleistet wurde. Aber das ist ein späteres Thema.

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Bezirksämter der Staatssicherheit zogen. So war weiterhin viel Mut erforderlich, um Zutritt zu Gebäuden zu fordern, um die m an sonst lieber einen Bogen gemacht hatte. D och in einer ganzen Reihe von Städten und Kleinstädten vom Süden bis zum Norden, vom Osten bis zum Westen der D DR faßten Demonstranten diesen Mut und gelangten in die ehem aligen Zwingburgen der Staatssicherheit oder in ihre vorgeschobenen A ußenposten. So geschehen am Abend des 4. Dezem ber in Arnstadt, Bad Doberan, Eisenach, Gera, Gotha, Greifswald, Jena, Leipzig, Parchim, Rathenow, Rostock, Saalfeld, Stadtroda, Stralsund, Suhl, Tem plin, Teschendorf, Weißwasser, Wernigerode und Zittau. 59 Am folgenden Tag sollten noch einmal so viele dazukommen. 60 Das Muster, nach dem diese A ktionen abliefen, w ar – sow eit es aus den MfS-Akten ablesbar ist und durch A ugenzeugenberichte bestätigt wird – ziemlich ähnlich und bestand in der Regel aus einer K ombination der ersten und der zweiten Phase der Erfurter Geschehnisse: Vor den Gebäuden versammelten sich Demonstranten. Der Kreis- oder der Bezirksstaatsanwalt oder auch ein Militärstaatsanwalt wurde hinzugerufen, häufig kam auch noch die Volkspolizei. D ann w urde eine D elegation gebildet. Sie w urde in das Gebäude eingelassen, und der Staatsanw alt versiegelte unter den w achsamen Augen der Bürgervertreter bestim mte Schränke, Räume oder Anlagen zur Verkollerung oder zum Verbrennen von Papier. In m anchen Städten ließen sich die Demonstranten ähnlich wie in Erfurt nicht damit abspeisen, daß nur einzelne ihrer V ertreter Zugang hatten. In Jena, Stralsund und Leipzig und am folgenden Tag in Potsdam mußten größere Gruppen eingelassen werden.

10.5 Reaktionen von Mitarbeitern der Staatssicherheit Die einfachen Angehörigen des AfNS waren zu verwirrt und verbittert, als 59 Diese mit ziemlicher Sicherheit unvollständige Liste basiert auf den Angaben in: ZOS: „Berichte zur sicherheitspolitischen Lage“, 4. 12.–5.12.1989; BStU, ZA, HA VIII 1672, Bl. 269–292; ZAIG: Information Nr. 519/89 „über das Erzwingen des Zutritts von Kräften von Bürgerbewegungen zu den Dienstobjekten von Bezirks- und Kreisämtern des Amtes für Nationale Sicherheit am 4. Dezember 1989“ , ZAIG 3815, Bl. 1–8; zu Gera vgl. Telegramm des Leiters des BAfNS an den Leiter des AfNS vom 4.12.89; BStU, ASt Gera, Ordner „Wende“ (unerschlossenes Material); zu Leipzig: Bürgerkomitee Leipzig (Hrsg.): STASI intern (1991); zu Rostock: Probst: „ Der Norden wacht auf“ (1993), S. 48 f.; zu Suhl: Fricke: Zur Abschaffung des Amtes für Nationale Sicherheit (1990), S. 59. 60 Am 5.12. wurden folgende Bezirksämter zur Besichtigung geöffnet bzw. besetzt: Cottbus, Dresden, Gera, Magdeburg und Potsdam. Hinzu kamen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – am gleichen Tag die Kreisämter für Staatssicherheit in Bad Liebenwerda, Guben, Herzberg, Jena, Lübben, Weißwasser, War tin/Angermünde und die insgesamt 16 Kreisämter im Bezirk Madgeburg, außerdem das Objekt Glienicke (Oranienburg) und die Hochschule des MfS in Potsdam-Eiche. Anga ben nach Zentraler Operativstab: Rapport Nr. 339/89 vom 5.12.1989, 6.00 Uhr bis 6.12. 1989, 6.00 Uhr; BStU, ZA, HA VIII 1672, Bl. 262–267. Zu Dresden, das in dieser Übersi cht fehlt, vgl. Fricke: Zur Abschaffung des Amtes für Nationale Sicherheit (1990), S. 60.

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daß sie sich für ein Amt geschlagen hätten, dessen Zukunft im Ungewissen lag, oder gar für eine Partei, die sich se it Wochen sichtbar selbst dem ontierte. Dennoch m ußte die Situation am 4. Dezember aus ihrer Sicht bedrohlich wirken. Es w ar deshalb nicht von vornherein klar, in w elche Richtung sich Frustration und A ngst dieser noch im mer bewaffneten und geschulten „Kämpfer“ entladen würde, wenn die Demonstranten den „militärischen Objekten“ 61 und damit auch ihnen zu nahe kämen. Eine erste A ntwort für die Zentrale in Berlin-Lichtenberg brachte eine Sitzung der SED-Kreisleitung, die wegen des Rücktritts von ZK und Politbüro der SED kurzfristig für den 4. Dezember, im Anschluß an die zentrale Dienstbesprechung, einberufen w orden w ar. D er am 18. November neugewählte 1. Sekretär der K reisleitung, Scheffel, gab den Ton vor. In Abweichung von seinem Redemanuskript äußerte er sich zur aktuellen Lage. 62 Er berichtete über die Besetzung im Bezirk Erfurt, über den Rücktritt des ZK und die Versiegelung der Politbüroetage. Deren ehem alige Nutzer, die Politbürokraten, bezeichnete er nun als „politisch unfähig und blind“ , „machtbesessen und korrupt“. Das habe schlimme Folgen für die Staatssicherheit: „Schmerzlich müssen die ehem aligen Angehöri gen des M fS dafür jet zt das Mißtrauen, die Verachtung und den Zorn eines großen Teils der Bevölkerung zur Kenntnis nehmen. [...] Durch das Vo lk und auch durch die Basis unserer Partei ist nicht nur ei n Sozialismus stalinistischer Prägung, sondern auch die darauf basierende Politik der totalen Sicherheit abgelehnt worden. [...] Das Ergebnis war ei n aufgeblähter Apparat, der dem Volk als gegen sich gerichtete Macht erscheinen mußte und auch immer erschien.“

Diese späten Einsichten sind aufschlußreich, weil m an sich schwerlich vorstellen kann, daß irgend jem and – nicht einm al ein „tschekistischer Kämpfer“ – m otiviert w äre, gegen Bürger vorzugehen, denen er „verständlichen Zorn“ bescheinigt. Scheffel versuchte nun, sich an die Spitze des Unmuts innerhalb des Amtes zu stellen, und gab zugleich ein vernichtendes Bild von dessen Funktionsfähigkeit: „Während der Delegiertenkonferenzen [z ur Vorbereitung des außerordentlichen Parteitages der SED] wurde sichtbar, daß das Vert rauen in die Leitung des Amtes für Nationale Sicherheit weiter zurückgegangen ist. Praktisch jede 61 In einer für die Öffentlichkeit bestimmten „ Sprechererklärung des AfNS“ vom 4. 12.1989 wurde betont: „ Die D ienststellen sind militärische Objekte, zu denen Unbefugte keinen Zutritt haben.“ BStU, ZA, SdM 2291, Bl. 196–198, hier 198. 62 Redeentwurf in: BStU, ZA, SED-KL 570, Bl. 951–961; Text der gehaltenen Rede: „Standpunkt des Sekretariats der SED-Kreisleitung [...] vorgetragen auf der Kreisleitungssitzung am 4. Dezember 1989 durch den 1. Sekretär der SED-Kreisleitung, Genossen Rolf Scheffel“; BStU, ZA, Neiber 89, Bl. 664–675. Die folgenden Zitate stammen, soweit nicht anders vermerkt, aus letzterer Version.

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Entscheidung wird zunächst einmal angezweifelt oder zumindest äußerst kritisch aufgenom men. Di e unt erschiedliche Ausl egung und Anwendung der Befehle und Weisungen in den Diensteinheiten tut dazu ein übriges.“ 63 Von der m ilitärisch-zentralistischen Maxim e, daß Befehle von oben nach unten „durchgestellt“ werden, die das MfS lange Jahre beherrscht hatte, war nicht viel übriggeblieben. Ein Wechsel in der H ierarchie wurde nun selbst vom 1. Sekretär der Kreisleitung eingefordert: „[...] das Am t [bedarf] keines neuen Etiketts, sondern eines Program ms auf der Grundlage einer neuen Si cherheitskonzeption. Bezweifelt wird [von den Mitarbeitern], daß der not wendige Umgestaltungsprozeß i m Amt für Nat ionale Sich erheit wirk lich mit d er n otwendigen Konsequenz betrieben wird, die besten Lösungen angest rebt und gefunden werden. Es wi rd befürchtet, daß es zu vi el Einfluß von Lei tern gibt, die am bisher Gewohnten festhalten wollen, die auch darauf hinarbeiten, daß notwendige Veränderungen nicht erfolgen.“

Er nannte keine Namen, erwähnte allerdings das „Kollegium“ als Kollektivschuldigen und berichtete, daß die zentralen Kommissionen zur Reorganisation des Am tes, deren Arbeitsergebnisse einige Stunden zuvor auf der AfNSDienstbesprechung vorgestellt worden waren, keinerlei Vertrauen genießen würden. Konkreter zu werden blieb einem Diskussionsredner von der Hauptabteilung I (Militärische Abwehr) vorbehalten, der berichtete, auf der Delegiertenkonferenz seiner Abteilung sei „ tiefe[s] Mißtrauen“ sichtbar gew orden, „das viele Genossinnen und Genossen gegenüber leitenden Genossen haben, die das ehem alige MfS in Führungsfunktionen auch heute noch vertreten“. Er kam zu der vorsichtig formulierten Schlußfolgerung: „Es wird die Forderung gestellt, pers onelle Konsequenzen einzuleiten und zwar die Entbindung des Lei ters des Am tes für Nat ionale Sicherheit, seiner Stellvertreter usw. Ich war ni cht in der Lage, das zurückzuhal ten und ich habe dabei selbst Probleme.“ 64

In der D iskussion m eldeten sich noch einige alte G eneräle zu Wort, die zweierlei erkennen ließen: daß ihnen die Entw icklung über den K opf gewachsen war, sie sich aber der „ Erneuerung“ nicht in den Weg stellen wollten. G eneralmajor O pitz, Leiter der Stasi-H ochschule, der JHS, bekannte: „Ich verstehe auch einiges nicht, das sage ich ehrlich, zum Beispiel das Auf-

63 Diese Passage war im Manuskript nicht enthalten gewesen. 64 „Diskussionsbeiträge zur Kreisleitungss itzung am 4.12.1989“; BStU, ZA, SED-KL 570, Bl. 962–968, hier 962.

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treten von [Wolf] Biermann und [Udo] Lindenberg.“ 65 Die Sitzung endete dam it, daß die Kreisleitung ihren Rücktritt noch einmal verschob, sich aber durch die Einrichtung eines – nach dem Vorbild der

65 Ebenda, Bl. 965.

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SED eingerichteten 66 – „Arbeitsausschusses“ selbst entmachtete. 67 Ihre Aktivitäten beschränkten sich in den folgenden Wochen auf die V ernichtung von Unterlagen. 68 Wortmeldungen unterer Dienstgrade Die Reaktion der einfachen AfNS-Kader auf die Turbulenzen dieser Tage ist ablesbar aus Anzeigen und Protestschreiben, die um den 5. Dezember bei den Untersuchungskommissionen für Fälle von A mtsmißbrauch und K orruption im MfS/A fNS, beim Leiter des A fNS und beim Ministerratsvorsitzenden eintrafen. U nter dem Druck der Bürgerbew egung richteten sich die Angst und die Wut der Mitarbeiter auch jetzt noch nicht nach außen, sondern nach innen, genauer gesprochen: nach oben. Viele Erklärungen entstanden offenbar unter dem Eindruck der Volkskammersitzung. In zum Teil drastischen Form ulierungen w urde angeprangert, daß die Staatssicherheit „ kriminelle Praktiken“ 69 , „Verbrechen, Amtsmißbrauch und K orruption“ 70 gedeckt habe, deren A ngehörige davon jedoch nichts gew ußt hätten. 71 Der Sinn dieser Vorwürfe war: Die einfachen MfS-Mitarbeiter – die A utoren – seien mißbraucht worden, ergo unschuldig. Diese Entlastungsstrategie hatte Herger m it seinem Beitrag zur Volkskammerdebatte vorgegeben. 72 Die Mitarbeiter des Kreisam tes Erfurt haben in einem Schreiben, das nach der Besetzung ihrer D ienststelle entstanden ist, diese A rgumentation aus ihrer Sicht auf den Punkt gebracht: „Wir fühlen uns verraten und betrogen, da wir Teil des Volkes sind. [...] Über die Machenschaften der ehemaligen Staats- und Parteiführung auch im Bezirk Erfurt hatten w ir keine K enntnis.“ 73 Das hätte sie, w ürde man dem 66 In der SED war aber das ZK immerhin zurückgetreten. 67 Vgl. die Erklärung dieses Arbeitsausschusses: „ Für eine grundlegende Erneuerung der Sicherheitsorgane im Dienst des Volkes und im Auftrag der Regierung“, wahrscheinlich vom 5.12.1989; BStU, ZA, SED-KL 570, Bl. 933–935. 68 Vgl. etwa die Übersicht zur Vernicht ung von Kader-Unterlagen der Kreisleitung vom 12.12.1989; BStU, ZA, SED-KL 594, Bl. 519 f. 69 Erklärung der Grundorganisation 7 Parteigr uppe 3 vom 4.12.1989; BStU, ZA, HA VIII, AKG 2233, Bl. 355–357. 70 Schreiben der Zentralen Parteileitung des BAfNS Berlin an die Leitung des AfNS vom 4.12.1989; BStU, ASt Berlin (BdL) A 1199, Bl. 3 f. 71 Vgl. auch Fernschreiben des KAfNS Fürstenwalde an den Leiter des AfNS vom 5.12.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 2; sinngemäß ähnlich: Schreiben des Sekretärs der SED-GO in der HA XVIII vom 5.12.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 123; Telegramm der Parteiorganisation des BAfNS Gera an den Genossen Modrow vom 5.12.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 1; Telegramm der Mitarbeiter des BAfNS Halle und der dazugehörigen Kreisämter an alle Bezirksämter, an die Volkskammer und den Ministerpräsidenten; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 4; Fernschreiben des BAfNS Frankfurt (Oder) an die Leitung des AfNS vom 6.12.1989, mit Solidaritätserklärung des BAfNS Berlin; BS tU, ASt Berlin, A 1189 (unerschlossenes Material). 72 Siehe oben S. 597 f. 73 Fernschreiben des KA Erfurt an den Leiter des AfNS über den Leiter des BAfNS Erfurt vom 5.12.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 11.

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Glauben schenken, von den einfachen Bürgern unterschieden. Irgend jem and in der Staatssicherheit aber m ußte informiert gewesen sein, das sagte einem der gesunde Menschenverstand, der in dieser Zeit zu neuer Geltung kam. Deshalb rückte zwangsläufig deren Führung ins Visier. So konstatiert die SED-Grundorganisation im Kreisamt Rudolstadt (Bezirk Gera): „Wir Genossen von der Basis [...] sind nicht nur wie alle anderen Genossen betrogen worden, wi r wurden außerdem m ißbraucht, um di esen B etrug zu decken, zu rechtfertigen. Umso unverständlicher ist uns, daß di e Leitung des neuen Amtes für Nationale Sicherheit nicht mit der notwendigen [...] Härte öffentlich gegen diejenigen vorgeht und diese benennt, die die politische Verantwortung für die bisherige, sich als falsch erwiesene Sicherheitsdoktrin getragen haben. Der Part eiausschluß von Erich Mielke kann da nur der Anfang sein.“ 74

Zum Teil beschränkte man sich auf bittere Vorwürfe, andere verlangten den Rücktritt der Leitung des AfNS. Forderungen nach einem generellen Austausch der Führungskader w urden in diesen Schreiben und Erklärungen nur vereinzelt erhoben. D afür liegt ein besonders schönes Beispiel vor, ein Telegramm an Schwanitz von der SED-Grundorganisation des Bereichs Nachrichtenwesen im Wehrbezirkskommando Rostock: „Seid Ihr des Wahnsinns? Wollt Ihr noch nachträglich bewaffnete Auseinandersetzungen provozieren?“ „Garantiert, daß kein Beweismaterial verschwindet. Schafft in den B ezirksverwaltungen dazu die Voraussetzungen. Die Erneuerung fordert nicht nur neue Strukturen, sondern auch neue Inhalte. Die alten, in ihren Funktionen belassenen Leiter sind dabei untauglich.“ 75

Zu einer klaren Sprache fanden auch die Mitarbeiter des Sektors Wissenschaft und Technik in der HV A in einem Aufruf, der nicht m ehr an die alten Autoritäten, sondern an „Genossinnen und Genossen“ gerichtet war: „Sofortige Absetzung der Leitung des Amtes für Nat ionale Sicherheit durch die Regierung und Ersatz durch verfassungstreue, dem Sozialismus ergebene,

74 Offener Brief der GO des KAfNS Rudolstadt an den Leiter des AfNS vom 5.12.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 12; ähnlich das Schr eiben des Sekretärs der SED-Grundorgan isation im AfNS Cottbus, Major Städter, an di e Leitung des AfNS vom 5.12.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 18; ebenso die bereits zitierten Schreiben aus Halle, Frankfurt und Berlin. 75 Telegramm an Schwanitz vom 5.12.1989; BS tU, ZA, SdM 2335, Bl. 19; vgl. auch Fernschreiben des KAfNS Plauen an die SED-Kr eisleitung, den Leiter des AfNS und den Leiter des BAfNS vom 4.12.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 117.

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unbelastete und moralisch saubere Personen.“ 76 In die gleiche Richtung zielten auf bezirklicher Ebene eine Reihe von A nzeigen gegen leitende Kader, denen meist vorgeworfen wurde, sie hätten ihre Dienststellung für persönliche Privilegien m ißbraucht, eigene Jagdreviere unterhalten und K apazitäten des MfS-eigenen Spezialhochbaus (SH B) zur Renovierung ihrer Häuser oder der ihrer Kinder und zur Errichtung luxuriöser Datschen eingesetzt. 77 Als MfS-Mitarbeiter hatte m an eine Sc hlüsselrolle bei der Aufrechterh altung der Diktatur gehabt, aber der „Feind“ war in den achtziger Jahren für die meisten unpersönlich und abstrakt gewesen. Als jedoch der Nachbar oder Kollege als rebellierendes Subjekt erlebt wurde, wollte m an nicht m ehr auf der anderen, moralisch plötzlich verächtlichen Seite stehen. Das war die gleiche Erfahrung, die die Angehörigen der „Kampfgruppen“, die ungleich w eniger isoliert waren, schon zuvor gemacht hatten. Besonders heftig wurde das natürlich von denjenigen empfunden, die in diesen Tagen dem mündigen Bürger in ihren eigenen Diensteinheiten begegnet sind, etwa in Erfurt oder Leipzig. Die Bemühungen der Mitarbeiter des K reisamtes Erfurt, sich angesichts der Revolution selbst zum Opfer zu stilisieren, wurden bereits erwähnt. Diese Mitarbeiter haben noch ein zw eites Schreiben, eine „ Erklärung“, nach Berlin geschickt, diesm al an den Präsidenten der Volkskammer und den Vorsitzenden des Ministerrates: „Aus tiefstem Herzen unterstützen wir den vom Volk der DDR eingeleiteten Prozeß der Erneuerung, zu dem die Volkskammer und der Ministerrat die ersten Schritte eingeleitet hat. [...] Die Mitarbeiter des Kreisam tes Erfurt solidarisieren sich mit den ehrlichen Bürgern unseres Territoriums, die wöchent76 Resolution mehrerer Abteilungsparteiorga nisationen des SWT (Sektor Wissenschaft und Technik) der HVA vom 5.12.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 17. Ähnlich: Schreiben der Parteiorganisation der HV A an Modrow vom 4.12.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 127 f.; Demonstrationsaufruf von „ Genossen“ der Ab t. 3/BdL vom 5.12.1989; BStU, ZA, ZAIG 14354, Bl. 40; „Erklärung der Angehörigen des Untersuchungsorgans des Amtes für Nationale Sicherheit“ vom 5.12.1989; BStU, ZA, HA IX 3387, Bl. 6; Interview des Sekretärs der SED-GO in der HA IX, Osterloh, mit Radio DDR I, 5.12.1989, Abschrift in: BStU, ZA, ZAIG 14354, Bl. 39; Schreiben der HA III Ab t. T/1 [Funkaufklärung/Anleitungsbereich Technik/Bereich Forschung] an den Leiter des AfNS vom 5.12.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 21 f.; Schreiben der PO OTS [Operativ-technischer Sektor] an Schwanitz vom 4.12.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 121; Erklärung der Mitarbeiter d es KAfNS Dessau, in: Freiheit 6.12.1989; Telegramm der Parteiorganisation des BAfNS Gera an Modrow vom 5.12.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 1; Telegramm der GO 117 an den Leiter des AfNS; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 3. 77 Entsprechende Anschuldigungen wurden gegen die ehemaligen Leiter der Bezirksämter Cottbus, Gera, Halle, Neubrandenburg und Frankf urt (Oder) erhoben. Vgl. einschlägige Unterlagen in: BStU, ZA, HA KuSch 327 u. HA KuSch 329; nicht alle Fälle zusammenfassend: Amt für Nationale Sicherheit, Untersuchungskommission zur Aufdeckung von Amtsmißbrauch und Korruption: „ Abschlußbericht“ vom 6.12.1989; handschriftl. gestrichen: „Abschluß“; BStU, ZA, HA KuSch 327, Bl. 117–126. Die Untersuchungskommission kam in dem Bericht zu dem Schluß, obw ohl eine Reihe von Hinweisen bestätigt worden seien, lägen keine strafrechtlich relevanten Tatbestände vor.

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lich ihren Pro test in g ewaltfreien De monstrationen zum Ausdruck bri ngen.“ 78 Diese „Wende“ war zu heftig, um überzeugend zu sein. Tatsächlich w ar die Bereitschaft der ehem aligen MfS-Mita rbeiter in Erfurt, an der A ufdeckung und Aufarbeitung der Stasi-Hinterlassens chaft m itzuwirken, in späteren Wochen sehr gering. 79 Das Kreisamt für Nationale Sicherheit Leipzig-Stadt befand sich in einer besonders ungemütlichen Position: im Zentrum der Revolution. In einem Schreiben „aller Mitarbeiter“ an Modrow und Schwanitz vom 4. Dezember, von dem nicht klar ist, ob es vor oder nach der Besetzung entstanden ist, erklärten sie: „Auf der Grundlage falsch er Sicherheitsdoktrin [...] wurde die Gefahr einer bew affneten A useinandersetzung der Sicherheitsorgane mit dem V olk heraufbeschw oren, die die Ex istenz unserer sozialistischen Heimat aufs Spiel setzte.“ 80 Für solche A benteuer stünden sie künftig nicht zur Verfügung; sie forderten, „einen Mißbrauch des A mtes für N ationale Sicherheit als Repressionsorgan gegen das eigene Volk [...] unm öglich zu machen“. D azu sei bisher zu w enig geschehen, deshalb seien „alle leitenden Kader des Am tes für Nationale Sicherhe it, die sich der Politik der Erneuerung widersetzen aus ihren Funktionen zu entfernen“ . D as A mt sei auch künftig notwendig für den „ Schutz des Volkes vor Neofaschismus und Terrorismus“ und zur „ Spionageabwehr fremder Mächte“, jedoch nicht zur politischen Unterdrückung: „Wir bekennen uns zu dem Grundsatz, daß politische Probleme nur mit politischen Mitteln zu lösen und Andersdenkende keine Feinde, sondern Bestandteil wahrer sozialistischer Demokratie sind.“

Deshalb, kündigen die Mitarbeiter an, w ürden sie sich nach neuen Bündnispartnern umsehen: „Wir sind gewillt [...] die eingetretenen Versäum nisse in Zusammenarbeit mit den führenden Kr äften der gesellschaftlichen Erneuerung in Leipzig schnellstens abzubauen.“ D as w ar vielleicht ein bißchen ehrlicher gem eint als die analoge Empfehlung von Generaloberst Mittig, aber es war gewiß illusionär, und doch eine Illusion, die hilfreich war, als es galt, in einer äußerst angespannten Situation die Ruhe zu bewahren. Allein anhand dieser D okumente ist nicht auszumachen, was Ergebnis einer w irklichen U mwälzung des Bew ußtseins w ar und welche Verlautba78 Fernschreiben des KA Erfurt an den Leiter des AfNS über den Leiter des BAfNS Erfurt vom 5.12.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 11. 79 Vgl. Stein: „Sorgt dafür, daß sie die Mehrheit nicht hinter sich kriegen“ (1998). 80 AfNS KA Lei pzig-Stadt: „Standpunkt aller Mitarbeiter des K reisamtes Leipzig-Stadt zur inkonsequenten Durchsetzung der Erneuerung der Arbeit im Amt für Nationale Sicherheit gerichtet an den Ministerpräsidenten, Genossen Hans Modrow, und den Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit, Genossen Generalleutnant Schwanitz“, Leipzig, 4. Dezember 1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 114–116.

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rungen Ausdruck von schierem Opportunismus waren. Der unmittelbare Effekt für die Institution Staatssicherheit aber war in beiden Fällen der gleiche: Das überkommene Feindbild wirkte nicht mehr als regulative Idee für die

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Strukturierung kollektiven H andelns. Mit diesen „ Kämpfern“ hätte die G eneralität, wenn ihr noch der Sinn danach gestanden hätte, bei einem gewaltsamen Konflikt mit der Bürgerbewegung schwerlich rechnen können. Beispiel einer Palastrevolte: Gera Die folgende Schilderung aus der Bezirkshauptstadt in O stthüringen macht zum einen plastisch, w elche Sprengkraft die im mer wieder angeprangerten „Privilegien“ im Einzelfall entwickelten, zum anderen illustriert sie die inneren Gegensätze in einer Bezirksverwaltung für Staatssicherheit im Herbst 1989. In der Geraer BVfS hat – glaubt man den Akten – ein unerquickliches Betriebsklima geherrscht. Das scheint an dem dort erst seit knapp zw ei Jahren amtierenden Chef gelegen zu haben, Generalm ajor Dieter Dangrieß (derselbe, der im August Mielke versprochen hatte, einen zw eiten „17. Juni“ zu verhindern). Dangrieß war mit 49 Jahren einer der jüngsten Stasi-Bezirkschefs. Anders als viele seiner G enossen hatte er keine Berufsausbildung außerhalb des MfS absolviert, sondern w ar 1958, direkt nach dem A bitur, in die Staatssicherheit eingetreten, von der er dam it in seiner gesam ten materiellen und wohl auch mentalen Existenz abhing. K arriere hatte D angrieß unter Siegfried Gehlert in Karl-Marx-Stadt gem acht, durch dessen als ruppig und proletenhaft geltende Schule einige gegangen w aren, die später hohe Positionen innehatten. In dieser Bezirksverw altung hatte er es zum Stellvertreter Operativ gebracht, ehe er A nfang 1988 in den N achbarbezirk versetzt wurde, um dort die Leitung zu übernehmen. 81 Dangrieß führte sich bei seinen neuen Mitarbeitern ungünstig ein, w eil er etwas ausufernde Wohnbedürfnisse entwickelte. Ein Einfam ilienhaus in Hanglage wurde auf seinen Wunsch durch den Rat der Stadt Gera von der Eigentümerin erworben, die damit ihrem Ausreiseantrag den entscheidenden Impuls verlieh. A nschließend wurde das H aus für gut 200.000 Mark an das MfS weiterverkauft und ihm als Dienstwohnung zur Verfügung gestellt. 82 Für die Renovierung w ar der Bereich Rückw ärtige D ienste der BV fS zuständig. Erstes Mißfallen m achte sich breit, als der neue Mieter für seinen Rottweiler die Einrichtung eines 18 m 2 großen H undezwingers mit Betonfundament verlangte. D ie A nlage selbst erhielt er als Abschiedsgeschenk von seinen Genossen in der BV K arl-Marx-Stadt. D ann standen größere Erdarbeiten an, weil Dangrieß die Vision hatte, die Hanglage zu korrigieren. Um des Gesamteindrucks willen wurde auch noch das Nachbargrundstück, mit Einverständnis des Eigentüm ers, begradigt, insgesam t 1.000 m2. Über Tempo und A usmaß dieser A rbeiten gab es erste Konflikte im Bezirksamt. 81 Grundinformationen in Gieseke: Wer war wer im MfS (1998), S. 12. 82 Vgl. dazu und zum folgenden: „Information“ der zentralen Untersuchungskommission des AfNS zur Aufdeckung von Amtsmißbrauch und Korruption vom 10.12.1989; BStU, ZA, HA KuSch 329, Bl. 59–64.

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Da Dangrieß der Chef war, setzte er sich durch. Das Ergebnis war, daß etwa zwei D utzend MfS-A ngehörige vor allem aus der Wach- und Sicherungseinheit wochenlang damit beschäftigt waren, Erdreich heranzufahren und zu verteilen. Über die Bezahlung des ganzen Unternehm ens gab es später heftige A useinandersetzungen. Weder die zuständige D iensteinheit in der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt noch die in Gera war dazu bereit. Schließlich übernahm das Ministerium in Berlin einen Teil der K osten 83 – Dangrieß hatte dort einen guten Bekannten, den stellvertretenden Leiter der Hauptabteilung K ader und Schulung, G eneralmajor Wellschmied, mit dem er im Jahr zuvor gemeinsam an der Hochschule des MfS promoviert hatte. 84 Das gartenarchitektonische Projekt war seinerzeit auch außerhalb der Stasi nicht verborgen geblieben und m it w enig Wohlgefallen betrachtet worden. A ls der N achbar, ein A rzt, in die Bundesrepublik flüchtete, äußerten Anwohner „in der Öffentlichkeit die Verm utung, daß der Grundstücksnachbar, Dr. [...], im August 1989 die DDR u. a. deshalb verlassen habe, weil er das Auftreten und Gehabe des G M [G eneralmajor] D angrieß nicht länger hätte ertragen können“. Dieses Auftreten wurde – wie der Untersuchungsbericht des AfNS genüßlich referiert – als „ großspurig, gönnerhaft und sich andererseits anbiedernd“ empfunden. 85 Geringe Anpassungsfähigkeit zeigte Dangrieß auch, als sich die politische Lage zuspitzte. Erstmals protestierte Mitte Novem ber der Parteisekretär in der K reisdienststelle Jena, die zum Dienstbereich der BV fS Gera gehörte. Im Namen seiner Grundorganisation beschwerte er sich bei Modrow , der BV-Chef sei „ in alten D enk- und Bew ertungsstrukturen gegenüber dem sich vollziehenden revolutionären U mgestaltungsprozeß befangen“. Bei einer Parteiversammlung in der K reisdienststelle habe D angrieß Sprecher auf der Berliner Demonstration am 4. November als „Pack, Gesockse und Lumpen bezeichnet“. 86 Zwei Wochen später wurde in einem Telegramm an Schwanitz über den Verlauf einer SED -Delegiertenversammlung zum bevorstehenden Parteitag im Bezirksamt Gera berichtet. Man habe sich um „konstruktive Ansätze zu dringend notwendigen Veränderungen“ bemüht, von der Leitung aber keine Unterstützung erhalten:

83 Ebenda, Bl. 64. 84 Das Thema dieser Kollektivdissertation, an de r auch noch der letzte 1. Sekretär der SEDKreisleitung im MfS, Scheffel, beteiligt war, lautete: „Die Stellung mittlerer leitender Kader im Leitungssystem des MfS, ihre Aufgab en sowie Wege zur Qualifizierung ihrer Arbeit“; vgl. Förster: Die Dissertationen an der „Juristischen Hochschule“ (1994), S. 95. 85 „Information“ vom 10.12.1989, Bl. 63. 86 In einer „Parteiinformation“ über die Reakti onen auf die Demonstration am 4.11. für den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung und das Mf S Berlin enthielt sich Dangrieß aller negativen Wertungen; Schreiben der KD Jena an Modrow vom 14.11.1989; BStU, ASt Gera, Ordner „Wende“ (unerschlossenes Material); BVfS Gera: „ Information“ 350/89 vom 6.11.1989, gez. Dangrieß; ebenda, Ordner „Parteiinformation 1989“.

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„Der dem Leiter des BA [Bezirksam tes], Generalmajor Dangrieß, abverlangte Beitrag entsprach in keiner Weise diesen Anforderungen und m ußte vom Versammlungsleiter abgebrochen werden . Uns em pört besonders das arrogante Auftreten des Gen. Dangri eß und seine oberflächliche Behandlung der anstehenden Fragen. Bereits angestautes Mißtrauen droht damit in Haß um zuschlagen. Dam it sehen wi r die Handlungsfähigkeit des B A Gera gefährdet.“ 87

Daß dem Bezirkschef auf einer V ersammlung das Wort entzogen wurde, ist sicherlich bis dahin nicht vorgekom men. Seine Autorität war damit zerstört, doch aus Berlin erfolgte keine Reaktion. In einem weiteren Telegramm nach Berlin beschwerte sich der Leiter des Kr eisamtes in Greiz, ebenfalls im Bezirk Gera, Dangrieß sei „ den D ingen nicht gew achsen, hat kein H erz für seine Genossen. Er wird von der überwiegenden Mehrheit der Unterstellten nicht anerkannt, weil er im Zusammenhang mit Hauserwerb u[nd] a[nderen] Dingen keine sauberen Hände habe.“ Doch „trotz Information an die K ommission des A mtes unter G en. Wellschm ied“ – dem ehem aligen Prom otionsgenossen von D angrieß und nunm ehrigen Leiter der Kommission gegen Amtsmißbrauch und Korruption – habe in Gera keine Untersuchung stattgefunden. 88 Am 4. Dezember wurde das Kreisamt Jena durch Demonstranten lahmgelegt, am darauffolgenden Tag auch das Bezirksam t in Gera. 89 Nun intervenierte die Geraer Parteiorganisation neuerlich bei Modrow: „Wir fordern wei ter umgehend di e Ent bindung von Generalmajor Dangrieß von seiner Funktion als Leiter des Bezirksamtes Gera. Der totale Vertrauensschwund der M itarbeiter zu di esem Lei ter droht i mmer st ärker in offenen Haß umzuschlagen.“ 90

Erst jetzt wurde Dangrieß mit sofortiger Wirkung von seiner Funktion entbunden. 91 Wellschm ied sah sich genötigt, zw ei U ntersuchungsführer nach Gera zu schicken. Sie kam en zu dem Ergebnis, es bestehe Verdacht auf einen Straftatbestand nach § 161a StGB, Untreue zum Nachteil sozialistischen 87 Fernschreiben der Abt. Nachrichten des BAfNS Gera an den Leiter des AfNS vom 30.11.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 9. 88 Schreiben des Leiters des KA Greiz, Müller, an den Leiter des AfNS vom 5.12.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 10. 89 Vgl. Telegramm des Leiters des KAfNS Jena an den Leiter des BAfNS Gera vom 4.12.1989; BStU, ASt Gera, Ordner „ Wende“ (unerschlossenes Material); Zentraler Operativstab: „Rapport Nr. 339/89 vom 5.12.1989, 6.00 Uhr bis 6.12.1989, 6.00 Uhr“; BStU, ZA, HA VIII 1672, Bl. 262–267, hier 265. 90 Schreiben der Parteiorganisation im BAfNS Gera an Modrow vom 5.12.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 1. 91 Leiter des AfNS: Befehl K/4904/89 vom 6.12.1989, gez. Schwanitz; BStU, ZA, HA KuSch, Bdl. K 10/48 (unerschlossenes Material).

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Eigentums. 92 Beim Militärstaatsanwalt in Erfurt wurde ein Verfahren eingeleitet. Noch Ende Dezem ber aber protestierte der von Modrow nach Gera geschickte Regierungsbeauftragte K obus in einem Telegramm an Staatssekretär Halbritter, daß disziplinarisch bisher überhaupt nichts erfolgt sei und Dangrieß damit seine Privilegien behalten habe. D as führe in der Ö ffentlichkeit zu Unruhe. Der Regierungsbeauftragte äußerte die V ermutung, der Leiter von Kader und Schulung, Möller, halte eine schützende H and über den ehemaligen BV-Chef. 93 Auch das blieb folgenlos, wie Kobus vier Wochen später in einem weiteren Fernschreiben beklagte. 94 Erst zum 28. Februar 1990 w urde D angrieß entlassen, zum gleichen Tag wie sein früherer Mentor Gehlert. 95 Meuterei im Wachregiment Das Wachregim ent „ Feliks E. D zierzynski“ war eine untypische MfS-Einheit, w eil m ehr als drei V iertel se iner zuletzt 11.000 Angehörigen Wehrpflichtige waren, die sich zu jeweils drei Jahren Dienstzeit verpflichtet hatten. 96 Es wurden bereits Beispiele dafür genannt, daß von ihnen gesellschaftliche Unruhe und Kritik in die Staatssicherheit hineingetragen wurden. Nicht immer handelte es sich dabei um Ausdruck von Zivilcourage und demokratischer Gesinnung, wiederholt war es auch zu rechtsextremistischen Vorfällen gekom men. 97 Im Herbst 1989 allerdings war aus dieser politischen Ecke nichts zu hören. Als der politische Aufbruch Anfang Dezember kulminierte, wurden spe92 „Information“ vom 10.12.1989, Bl. 64. 93 Fernschreiben von Kobus, Gera, an Staat ssekretär Halbritter vom 21.12.1989; handschriftl. „Gen. Möller z[ur] K[enntnis]“; BStU, ZA, HA KuSch 329, Bl. 65. 94 Das Telegramm trägt die handschriftl. Vermerke: „ nein, erst E[rmittlungs] -Verfahren“, „Sollte nicht eingeleitet werden“; Fernschreiben von Kobus an Halbritter vom 24. 1.1990; BA Berlin, DC 20-11350. 95 Leiter des AfNS in Auflösung: Entlassungs befehle vom 6.2.1990; BStU, ZA, HA KuSch, (unerschlossenes Material), Plg. Bündel 20. 96 Gieseke: Das Ministerium für Staatssicherheit (1998), S. 404. 97 Die zuständige Kaderabteilung meldete für die Jahre 1987 und 1988 Zwischenfälle mit 103 Unteroffizieren auf Zeit (UaZ) aus dem Wachregiment und den einzelnen Diensteinheiten zugeordneten Wach- und Sicherungseinheiten. 54 UaZ seien „ mehrfach durch faschistische oder nationalistische, militante, rassistische, chauvinistische, antikommunistische bzw. antisemitische Äußerungen in Erscheinung getreten“. So seien der „Hitler-Gruß“ gezeigt und andere UaZ in beleidigender Absicht als „ Jude“ oder „ Türke“ bezeichnet worden. Zusätzlich gebe es Skinheads unter ihnen (insgesamt 18 wurden der Sammelkategorie Skinheads, Punker und Rocker zugerechnet). Es gab einige Disziplinarmaßnahmen, aber nur insgesamt fünf von ihnen wurden vorzeitig aus dem Dienst entlassen. „Abteilung Kader 15“ in der HA Kader und Schulung: „ Einschätzung über bekanntgewordene Hinweise zu UaZ des Aufgabenbereiches, die mit neofaschistischen Äußerungen, Gedankengut sowie angrenzenden negativen Verhaltensweisen oder Vorfelderscheinungen auftraten“ vom 22.3.1988, 7 S.; BStU, ZA, HA KuSch, AKG 33, o. Pag. (unerschlossenes Material).

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ziell die „ Kommandos“ erneut aktiv, in denen Wehrpflichtige einen Anteil von bis zu 90 Prozent hatten. So w ählten Angehörige des Wachregiments, wahrscheinlich am 4. Dezem ber, einen „ Soldatenrat“, der als „Interessenvertreter der Basis m it den Kom mandeuren zusammenwirken“ sollte. 98 Für die Übernahme der Außenwache am Ministerium machten Angehörige des Wachregiments zur Bedingung, Losungen anbringen zu dürfen. D arauf sollte unter anderem stehen: „Wir sind auch das Volk. Rehabilitation des WR, macht uns nicht zum Prügelknaben anderer.“ „Wir schützen die Modrow-Regierung und die Interessen des Volkes gewaltfrei – WR.“ „Wenn wir keine Wache stehen, werden Akten in den Reißwolf gehen.“ 99

Noch am gleichen Tag wurde dem Wachregim ent die interne Bew achung der Staatssicherheitszentrale in Berlin-Lichtenberg entzogen. 100 Deutliche Indizien für Aktenvernichtung hatten sie auf dem Kasernengelände bemerkt, auf dem sie stationiert w aren. Mitarbeiter des „ Kommandos 5“ in Berlin-Hohenschönhausen stellten deshalb ein „Ultimatum“, daß sofort ein „ unabhängiger Untersuchungsausschuß“ eingerichtet werden solle, der Maßnahmen ergreift, dam it „ alle verfügbaren Akten sichergestellt“ würden. Bis dahin w ürden sie den Personen- und Fahrzeugverkehr auf das Gelände unterbinden. 101 Wehrpflichtige aus derselben D iensteinheit hatten den heimlichen Abtransport von A kten beobachtet. Sie erstatteten Anzeige beim Militärstaatsanwalt, der die Aussagen prom pt an den „ Bereich Disziplinar“ der Hauptabteilung Kader und Schulung weiterleitete. 102 Angehörige des Wachregim ents in Er kner kritisierten in einer Erklärung die „ Inkonsequenz und H albherzigkeit“, m it der die Leitung des AfNS an die „Aufklärung der Wahrheit“ herangehe. Sie bezeichneten die ihnen „ auferlegte Passivität“, das heißt das Verbot, sich öffentlich zu äußern, als „unerträglich“ und forderten: „Warten wir nicht darauf, bis andere gesellschaft-

98 Anhang zu Notizen von Schwanitz, überschrieben mit „ WR“, o. D.: „Konzeption zur Bildung von Soldatenräten im Wachregiment“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 120–122. 99 „Losungen der Wachgestellung WR ‚Feliks Dzierzynski‘, die als Bedingung der Wachübernahme am Dienstobjekt angebracht werden sollen“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 313. 100 Schreiben des Leiters des AfNS an die Leiter der Diensteinheiten vom 4.12.1989; BStU, ZA, DSt 103272. Für die Innensicherung der einzelnen Gebäude waren von nun an die Staatssicherheitsbürokraten aus den zentralen Diensteinheiten zuständig. Die Außensicherung verblieb noch einige Tage beim Wachregiment und wurde dann am 8. Dezember an die Volkspolizei übertragen. Vgl. „ Information“ zur Außensicherung, 8.12.1989; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 127. 101 „Erklärung“ des Kommandos V in Ahrensfelde vom 5.12.1989; BStU, ZA, HA IX 2501, Bl. 27 f. 102 V gl. „Übergabeprotokoll“ von Militärstaatsanwalt Michalak an Oberst Fügner, HA KuSch, vom 6.12.1989, mit Anlagen; BStU, ZA, HA KuSch 326, Bl. 154–160.

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liche Kräfte vor unseren K asernen st ehen und es von uns fordern, sondern übernehmen wir selbst die Initiative!“ 103 Ihre K ollegen vom „ Kommando 3“ in Teupitz (Bezirk Potsdam) waren schon einen Schritt weiter. Am 4. Dezember war es auf dem Truppenübungsplatz w egen A ktenverbrennungen zu einer A useinandersetzung zw ischen Offizieren der Hauptabteilung II (Spionageabwehr) und des Wachregiments gekommen. In der anschließenden N acht versam melte m an sich zu einer Demonstration auf dem Exerzierplatz. U rsprünglich bestand die A bsicht, „mit Kerzen zur A utobahn zu m arschieren und dam it den V erkehr zu blockieren“. 104 Das wurde durch den O ffizier vom Dienst verhindert (der deshalb in einem Bericht an Schwanitz „zur Prämie vorgeschlagen“ wurde). Von der Kundgebung, die statt dessen abgehalten w urde, sind Ä ußerungen überliefert: „Die K[om man]do-Führung kann unsere Fragen ni cht m ehr beantworten, hier muß sofort der General her und höher, di e unsere Forderungen und Fragen beantworten.“ „Wir gehen nicht in di e Kohl e (5. SK [Schüt zenkompanie]), sondern nach Hause und arbeiten dort in der Vol kswirtschaft – Zwi schenruf: ‚Wenn unseren Forderungen nicht Rechnung getrag en wird, sollten wir m it W affen Nachdruck verleihen!!!‘“ „Die Unfähi gkeit des neuen Am tsvorsitzenden Schwani tz vor der Vol kskammer unterscheidet sich kaum vom Auftritt Mielke[s].“ „Den Fahnenei d und di e Aufnahm e des Di enstes haben wi r i n den Namen von Verbrechern durchgeführt.“ „Wir akzeptieren die form ale Übernahm e durch d[as] AfNS ni cht, da wir nicht sicher sind, wieviel Dreck Schwan itz selber am Stecken hat bzw. wenn solche bewährte Mitarbeiter wie Mittig u. a. den alten Apparat verkörpern, das ist Kosmetik.“ „Wir wurden von Feinden des Volkes mißbraucht, ‚dafür lassen wir uns nicht hängen‘.“ „Wir haben Angst , daß m an uns aufhä ngt, für das was wi r ni cht get an haben.“ 105

Beide Seiten hatten voreinander Angst. Am 5. Dezember gingen Soldaten des Wachregim ents noch einen Schritt weiter: Sie postierten sich vor den Eingängen zum Ministerium in BerlinLichtenberg und ließen keine Fahrzeuge m ehr passieren, um so den heim li103 „ Erklärung von Angehörigen des Wachregiments Berlin/Standort Erkner“ vom 5.12.1989; BStU, ZA, SdM 2335, Bl. 14–16. 104 Wachregiment Kommando–3: „ Information zur Lage“, 5.12.1989; handschriftl. Vermerk von Schwanitz „Nicht mehr Amt unterstellt“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 123 f. 105 Ebenda, Bl. 123.

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chen Abtransport von Unterlagen zu verhindern. 106 Die Führung des A fNS zog zwei Tage später die K onsequenz. A uf einer Leitungsberatung w urde beschlossen: „Ablösung des Kommandeurs des Wachregiments am heutigen Tag – K ampfwert gleich Null“. 107 Diese Mitarbeiter sollten künftig keine Stasi-Gebäude mehr bewachen dürfen, sondern nur noch andere staatliche Immobilien, während die Sicherung der Gebäude des AfNS durch die Angehörigen der jeweiligen Diensteinheiten zu übernehm en war, die dam it zum ersten Mal seit Jahren oder Jahrzehnten wieder Wache schieben mußten. Überdies sollten „ Maßnahmen zur schnellstmöglichen Reduzierung des Bestandes des Wachregiments“ ergriffen und seine A ngehörigen entwaffnet werden. 108 D ie abstrakte Fixierung auf bew affnete Auseinandersetzungen, deren Gefahr in jenen Monaten im mer in die G egenseite projiziert w orden ist, und die naheliegende Vorstellung, daß die Spaltung der Institutionen sich auch innerhalb der Staatssicherheit reproduzieren w ürde, führte dazu, daß die Generalität die eigentliche Kam pfeinheit der Staatssicherheit lieber heute als morgen losgeworden wäre.

106 Vgl. Bahrmann u. Links: Wir sind das Volk (1990), S. 170. 107 „Festlegungsprotokoll über die Leitungsbera tung am 7.12.1989“; BStU, ZA, SdM 2289, Bl. 160–164, hier 161. 108 „Festlegungsprotokoll der Beratung beim Le iter des Amtes am 8.12.1989“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 68 f.

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11 Das Ende des AfNS

Die regionale Entm achtung der Staatssicherheit w ar nur ein Faktor in der finalen Krise des Alten Regimes. In den gleichen Tagen wurde das bisherige Machtzentrum, Politbüro und ZK-Apparat, gestürzt. 1 Es war in dieser Situation angelegt, daß auch das alte Machtkartell endgültig auseinanderbrach: Am 4. Dezem ber erklärten die CDU und die LDPD ihren Austritt aus dem „Demokratischen Block“ , am 5. Dezem ber die DBD und am 7. Dezember schließlich auch die NDPD. 2 Zuvor war ein letzter V ersuch von K renz gescheitert, den Zusam menhalt zu retten. 3 Es hatte nichts geholfen, daß die Staatssicherheit in diesen Parteien hervorragend verankert gewesen war. Die Auseinandersetzungen um die Staatssicherheit und die Chaotisierung der Partei, auf die sie sich vor allem stützte, trafen die Regierung noch aus anderen Gründen in einem denkbar ungünstigen Moment: Innenpolitisch wurde sie in diesen Tagen zusätzlich geschw ächt durch die Einrichtung des zentralen Runden Tisches und dam it die Institutionalisierung der Bürgerrechtsbewegung als Gegenmacht. Auch außenpolitisch war sie in die Defensive geraten: erstens durch das Überlaufen ihres Chefunterhändlers SchalckGolodkowski. Vor allem aber durch den Wechsel von Bundeskanzler Kohl zu einer sehr viel offener auf Wied ervereinigung ausgerichteten deutschdeutschen Politik, der als „ Zehn-Punkte-Plan“ in die Geschichte eingegangen ist. 4

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Außerdem ist Egon Krenz am 6.12.1989 als Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates zurückgetreten; sein Nachfolger als „ amtierender Vorsitzender“ wurde Manfred Gerlach von der LDPD; vgl. Zimmerling: Neue Folge 3 (1990), S. 53 f. Zur SED-Entwicklung vgl. Hertle u. Stephan (H rsg.): Das Ende der SED (1997), S. 84–97 u. 461–481; Neugebauer: Von der SED zur PDS (1997), S. 101–108; Zeitzeugenberichte in: Gysi und Falkner: Sturm aufs Große Haus (1990), S. 50–97. Vgl. Bahrmann u. Links: Wir sind das Volk (1990), S. 167, 172 u. 221 (dort als Austrittstermin der LDPD irrtümlich der 5. 12.1989 genannt); Spittmann u. Helwig (Hrsg. ): Chronik der Ereignisse (1990), S. 34 f. u. 37.; Suckut: Widerspruch und abweichendes Verhalten in der LDP(D) (1995), S. 1521. Vgl. den Protokollauszug der Sitzung des „ Demokratischen Blocks“ am 28.11.1989 in: Suckut: Die DDR-Blockparteien im Lichte neuer Quellen (1994), S. 186–197. Das „ Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ wurde von Helmut Kohl am 28.11.1989 vor dem Deutschen Bundestag bekanntgegeben. Darin wurde erstmals die Wiedervereinigung als Gegenstand operativer Politik bestimmt. Als Etappen auf dem Weg zur Vereinigung, für den man intern etwa fünf bis zehn Jahre veranschlagte, wurden eine „ Vertragsgemeinschaft“ und die Herausbildung „ konföderativer Strukturen“ vorgeschlagen. Text dokumen tiert in: Europa Archiv, 24/1989, S. D728– D734.

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Wie inzwischen gut belegt ist, wurd e dieser Vorschlag ausgelöst durch die mit zwei „ Non-Papers“ untermauerte Mitteilung eines Beraters aus der Internationalen Abteilung des ZK der K PdSU, Nikolaj Portugalow, gegenüber K ohls Berater Teltschik: In Mosk au w erde nun auch über das bisher „Undenkbare“ nachgedacht. 5 U m einem für m öglich erachteten V orschlag Gorbatschows zuvorzukom men, der der Sow jetunion in dieser zentralen Frage deutscher Politik die Initiative und dam it auch die Bestim mung der Konditionen überlassen hätte, wurde man in Bonn aktiv. 6 Das harmonierte – und war offenbar auch so einkalkuliert 7 – m it dem Stimmungsumschwung bei den D emonstrationen besonders im Süden der D DR. Für die Regierung Modrow rückte nun im mer stärker das Bestreben in den Vordergrund, die nackte staatliche Existenz der DDR zu retten. 8 In dieser Situation war die Staatssicherheit, von der m an sich einen Beitrag zur Rückgewinnung innerer Stabilität erhofft hatte, zum Kristallisationspunkt des Protestes und dam it zum Destabilisierungsfaktor geworden. Das war in den folgenden Wochen für das Verhalten der Regierung von entscheidender Bedeutung, weil es den Stellenw ert der Staatssicherheit für die Politik des Übergangsregimes drastisch änderte. Die Staatssicherheit behielt dabei eine ambivalente Bedeutung: für die Bürgerbewegung als Symbol der Unterdrückung, für die Repräsentanten der politischen Macht als ein Zeichen der staatlichen Existenz der DDR. In ihrer realen Existenz aber gefährdete sie die Bemühungen, die Lage zu beruhigen und wieder unter Kontrolle zu bekommen. Deshalb schälte sich nun als oberste Maxime heraus, daß die Stasi künftig möglichst wenig Negativ-Schlagzeilen zu machen hatte.

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Vgl. Vorlage von Ministerialdirektor Teltschik an Bundeskanzler Kohl vom 6.12.1989 mit A nlagen, i n: D okumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit 1989/90 (1998), S. 616–618; Teltschik: 329 Tage (1991), S. 44. Vgl. Küsters: Entscheidung für die deutsc he Einheit (1998), S. 61–64; Teltschik: 329 Tage (1991), S. 42–86. Vgl. Schreiben von Bundeskanzler Kohl an Präsident Bush vom 28.11.1989, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit 1989/90 (1998), S. 567–573, hier 572. Hinsichtlich der damaligen Wahrnehmung der Situation ist folgende Episode aufschlußreich: Bei dem Gipfeltreffen der Warschauer-Pakt-Staaten am 4.12.1989 in Moskau hatte Gorbatschow erklärt, „die Hauptfrage“ sei, „daß die Existenz zweier deutscher Staaten als Realität der Nachkriegsentwicklung erhalten bl eibe“. Auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED-PDS wenige Tage später berief sich Modrow auf dieses Treffen und erklärte zudem, G orbatschow habe ihm persönlich gesagt, daß damit auch das Schicksal der Perestroika in der Sowjetunion verbunden sei. Das war die Argumentationsbasis für einen Appell an die Delegierten, die Partei zu retten, um den Untergang der DDR zu verhindern: „Wenn bei der Schärfe des Angriffs auf unser Land dieses Land nicht mehr regierungsfähig bleibt, weil mir, dem Ministerpräsidente n der Deutschen Demokratischen Republik, keine Partei zur Seite steht, dann tragen wi r alle die Verantwortung dafür, wenn dieses Land untergeht!“ „ Ausführungen von Hans Modrow auf der geschlossenen Sitzung des ersten Beratungstages [am 8. 12.1989]“, in: Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS (1990), S. 29–32, hier 31. Vgl. auch Thaysen u. Kloth: Der Runde Tisch (1995), S. 1762.

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11.1 Revirement an der Spitze der Staatssicherheit In einer ersten Einschätzung der jüngsten Entw icklung seitens der Staatssicherheit wurde am 5. Dezember konstatiert, daß die „innenpolitische Stabilität erheblich beeinträchtigt“ ist: „ Staatliche Organe, besonders auf der E bene Bezirke und Kreise, [sind] zunehm end handlungsunfähig, z[um ] T[eil] in Selbstauflösung begriffen.“ 9 Die „ wesentlichen Ursachen“ für die entstandene Lage seien „ die maßlose Enttäuschung und Em pörung breitester Teile der Bevölkerung über das bekanntgewordene Ausmaß von K orruption, kriminellen H andlungen und A mtsmißbrauch der ehem aligen Partei- und Staatsführung und deren Erfüllungsgehilfen“ , zudem „ die fehlende G laubwürdigkeit der Politik der SED und der Regierung, bedingt durch unentschlossenes H andeln“. A uch die „ Lage im Amt“ für Nationale Sicherheit, „in den einzelnen D iensteinheiten [ist] außerordentlich kompliziert; Verunsicherung und Zersetzungserscheinungen im Mitarbeiterbestand nehmen ständig zu – bis hin zur Lähmung, zum Einsetzen einer regelrechten Entpflichtungswelle und bis hin zu Verratshandlungen“. 10 Schuld daran seien „die bisher nicht erfolgte Darlegung einer eindeutigen Position zur Mitverantwortung des Kollegiums und weiterer verantwortlicher Leiter für den Inhalt der Tätigkeit des ehem aligen MfS und für den autoritären Führungsstil“, weiter „das zögernde Herangehen und der zu langsam erfolgende Überführungs- bzw. radikale Erneuer ungsprozeß im Amt“. Eine der Konsequenzen, die in diesem Papier bereits als Faktum vorausgesetzt wurde, war die „Abberufung des K ollegiums sowie Kaderentscheidungen auf zentraler Ebene“. 11 Tatsächlich war der Rücktritt des Kollegium s als der Kerngruppe der alten Generalität bereits am 4. Dezember beschlossene Sache, 12 am folgenden Tag wurde er offiziell bekanntgegeben. 13 Nicht die Besetzungsw elle in den Regionen, das heißt der Bürgerprotest, w ar demnach der dafür entscheidende Faktor – der Schritt wurde einen Tag früher konzipiert –, sondern der wachsende Unmut vieler AfNS-Mitarbeiter, der sich auf den D elegiertenversammlungen zum bevorstehenden außerordentlichen Parteitag entladen hatte. D ie alten K ader w irkten nicht m ehr integrierend, sondern polarisierend; deshalb mußten sie im Interesse der Institution gehen. Schwanitz erklärte am 5. Dezember bei einer Besprechung der Spitze des Amtes, es bestehe eine „ katastrophale Situation“. Notwendig sei eine „Neu9 „Hinweise für die Beratung im Nationalen Verteidigungsrat 5.12.1989“; BStU, ZA, SdM 1992, Bl. 224–231. Das Papier stammt wahrscheinlich von der ZAIG. 10 Hv. im Orig., Bl. 227. 11 „Hinweise für die Beratung im Nationalen Verteidigungsrat 5.12.1989“, Bl. 230. 12 Im „Sekretariat des Ministers“ findet sich folgender Zettel: „Erklärung der Pressestelle des Amtes für Nationale Sicherheit: Am 4. Dezember 1989 ist das Kollegium des Amtes für Nationale Sicherheit geschlossen zurückgetreten.“; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 340. 13 Vgl. Neues Deutschland 6.12.1989.

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formierung des Amtes“, doch „der Apparat ist zu träge“ , „ es gibt zu viele Hemmnisse im eigenen H aus“. 14 Am 6. Dezember wurden deshalb – m it einigen Ausnahmen – die Spitzen der Generalität m it sofortiger Wirkung „von ihren Funktionen entbunden und bis zu ihrer Entlassung aus dem aktiven Dienst beurlaubt“. 15 Eine solche Entlassungsw elle war schon zuvor geplant gewesen: Möller, der Kaderchef, hatte am 1. Dezember im Auftrag von Schwanitz eine „Aufstellung zu m öglichen Kaderveränderungen“ erarbeitet, nach der – mit einigen Ausnahmen wie Schwanitz selbst – alle Führungskader, die das 58. Lebensjahr überschritten hatten, zu entlassen waren. 16 Das wäre ein fast vollständiges Revirement gewesen: Von den bereits eineinhalb Wochen zuvor auf ihren G esundheitszustand begutachteten 47 Generälen und Obristen aus der Führungsspitze w ar kein einziger jünger. Der Form nach hätte es sich bei einer Realisierung des früheren V orschlags um einen Generationswechsel gehandelt. Jetzt waren die Entlassungen Teil eines Rückzugs. Der wichtigste Einschnitt war die Bereinigung der engeren Führung: Die beiden stellvertretenden Leiter des AfNS Rudi Mittig und Gerhard Neiber mußten ebenso gehen wie Hans Carlsohn, Leiter des Sekretariats des Ministers und lange Jahre die rechte Hand Mielkes, und Egon Ludw ig, der Leiter des Büros der Leitung und Sekretär des K ollegiums. Erst jetzt wurde Schwanitz für ganz kurze Zeit w irklich der einzige Chef des Amtes. Weiter wurden von ihrer Funktion entbunden: H orst Felber als Mitglied der SEDKreisleitung, die Abteilungs- bzw. Hauptabteilungsleiter Werner Irm ler (ZAIG), P aul K ienberg ( HA XX) , A lfred Kleine (HA XVIII, Wirtschaft), Rudi Strobel (Abt. M, Postkontrolle), G ünter Wolf (H A Personenschutz) und weitere neun Spitzenkader. 17 Ebenfalls von ihrer Funktion entbunden und beurlaubt wurden zwölf Leiter von Bezirksäm tern, darunter einige bekannte Namen: Siegfried Gehlert (Karl-Marx-Stadt), Manfred Hum mitzsch (Leipzig), Rudolf Mittag (Rostock), Josef Schw arz (Erfurt) und – von seinen bisherigen Mitarbeitern gewiß begrüßt – D ieter D angrieß in G era. 18 A m folgenden Tag w urde noch 14 Zitiert nach Notizen von Rolf Scheffel, ste llvertr. Leiter der Kreisleitung der SED, vom 5.12.1989; BStU, ZA, SED-KL 652, Arbeitsbuch Rolf Scheffel, Bl. 1393. 15 Leiter des AfNS: Befehl K/4896/89 vom 6.12.1989; BStU, ZA, DSt 103651. 16 Namentlich genannt wurden in dieser Auflistung 91 Führungskader. Schreiben des Leiters der HA KuSch, Generalleutnant Möller, an Oberst Scheffel (SED-Kreisleitung im MfS) vom 1.12.1989, mit Anlage; BStU, ZA, SED-KL 652, Bl. 1227–1240. 17 Beurlaubt wurden außerdem Willi Damm (Abt. X, internationale Verbindungen), Joachim Büchner (HA VII, Überwachung des MdI), Ma nfred Dietze (HA I, Abwehr in der NVA), Gunar Hartling (A bt. X III, Rechenzentrum), G ünther K ratsch (H A II, A bwehr), H orst Männchen (HA III, Funkaufklärung), Heinz Rahnsch (Stellvertreter des Leiters der Arbeitsgruppe beim Amtsleiter), Günter Schmidt (OTS, Operativ-technischer Sektor) und Karl Zukunft (Abt. N, Nachrichtenwesen). Vgl. Leiter des AfNS: Befehl K/4896/89 vom 6.12.1989; BStU, ZA, DSt 103651. 18 Es wurden außerdem beurlaubt: Heinz Schmidt (Halle), Werner Korth (Schwerin), Horst Fitzner (Cottbus), Gerhard Lange (Suhl), Peter Koch (Neubrandenburg), Helmut Schickart (Potsdam) und Wilfried Müller (Magdeburg) ; Leiter des AfNS: Befehl K/4903/89 vom

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Horst Böhm , der Leiter des Bezirksam tes in Dresden, m it sofortiger Wirkung abgelöst, nachdem es dort besonders heftige Auseinandersetzungen mit protestierenden Bürgern gegeben hatte. 19 Alle diese Führungskader wurden provisorisch durch ihre bisherigen Stellvertreter ersetzt. Der einzige Bezirksamtschef, der den Personalwechsel überstand, 20 war Hein z Engelhardt aus Frankfurt (Oder). Auch er wurde abgelöst, jedoch in Berlin m it höheren Aufgaben betraut. Von Modrow wurden die Entlassungen am 14. Dezember bestätigt. 21 A m gleichen Tag w urden in einer weiteren Beurlaubungswelle die meisten noch verbliebenen Leiter von Hauptabteilungen und selbständigen Abteilungen abgelöst und ebenso die Leitung der HV A, die zuvor nicht betroffen gewesen war. 22 Als neue Führungsspitze des Amtes w urden neben Schw anitz, der im Amt verbleiben sollte, fünf stellvertretende Am tsleiter ernannt: Generalmajor Heinz Engelhardt (bisher Bezirksamtschef in Frankfurt/Oder) als 1. Stellvertreter, daneben zuständig für „ Verfassungs- und Staatsschutz“ G eneralmajor Edgar Braun (der von der Hauptabteilung II, Spionageabwehr, kam, zuletzt aber die H auptabteilung XIX, Verkehrswesen, geleitet hatte), außerdem Generaloberst Werner Großmann (bisher Leiter der H V A) als Leiter des „Auslandsnachrichtendienstes“, Generalmajor Gerhard Niebling (bisher Zentrale Koordinierungsgruppe) als Le iter des Zentralen K oordinierungsorgans und O berst Erich Schw ager für den Bereich materielle Sicherstellung. Als Leiter des Zentralen Kaderorgans verblieb Generalleutnant Günter Möller auf seinem Posten. 23 Neben den personellen Veränderungen wurde der normative Rahmen nun drastisch verändert: Eine ganze Reihe von Richtlinien und Dienstanweisun-

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6.12.1989, gez. Schwanitz; BStU, ZA, HA KuSch, Plg. Bündel 7. Zu Dangrieß erfolgte ein eigener Befehl: Leiter des AfNS: Befe hl K/4904/89 vom 6.12.1989, gez. Schwanitz; BStU, ZA, HA KuSch, Bündel K 10/48. Vgl. „Festlegungsprotokoll über die Leitungs beratung [des AfNS] am 7.12.1989“; BStU, ZA, SdM 2289, Bl. 160–164. Der formelle Befehl erfolgte wenig später; vgl. Leiter des AfNS: Befehl K/4999/89 vom 13.12.1989, gez. Schwanitz; BStU, ZA, HA KuSch, Plg. Bündel 20. Als letzter Bezirkschef wurde Siegfried Hähnel vom Bezirksamt Berlin mit Wirkung vom 20.12.1989 beurlaubt; vgl. Leiter des AfNS : Befehl K/5003/89 vom 13.12.1989, gez. Schwanitz; BStU, ZA, HA KuSch, Plg. Bündel 20; Fernschreiben von Schwanitz als Leiter des „ Verfassungsschutzes der DDR“ an die „Außenstelle B erlin“, o. D.; B StU, A St Berlin, E 107 (unerschlossenes Material). Schreiben des Leiters des AfNS, Schwanitz, an den Vorsitzenden des Ministerrates, Mod row, vom 13.12.1989, Vermerk „ Persönlich“, g ez. Schwanitz; handschriftl. Vermerk „Einverstanden: Hans Modrow 14.12.89“; BA Berlin, DC 20 11493/4. In einem von Schwanitz bereits abgezeichneten Entwurf zu diesem Schreiben sind handschriftlich auch Schwanitz selbst, Großmann, der Chef der HV A, und der Kaderleiter Günter Möller aufgeführt, die in der bestätigten Endfassung nicht mehr genannt wurden; BStU, ZA, HA KuSch, Plg. Bündel 20. Vgl. Leiter des AfNS: Befehl K/5000/89 vom 13.12.1989, gez. Schwanitz; BStU, ZA, HA KuSch, Plg. Bündel 7; Leiter des AfNS: Befehl K/5002/89 vom 13.12.1989, gez. Schwanitz; BStU, ZA, HA KuSch, Plg. Bündel 20; die HV A betreffend: Leiter des AfNS: Befehl K/5001/89 vom 13.12.1989, gez. Schwanitz; BStU, ZA, HA KuSch 85, Bl. 104 f. Leiter des AfNS: Befehl K/4914/89 vom 8.12.1989; BStU, ZA, DSt 103643.

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gen, „die auf eine breite Überprüfung und Kontrolle von Personen abzielte[ n]“, wurden rückwirkend zum 18. November „außer Kraft gesetzt“. Schwanitz erteilte dazu am 7. Dezem ber einen Befehl, in dem er sie als Ausdruck „der falschen Sicherheitspolitik der frühe ren Partei- und Staatsführung“ kritisierte. 24 Dabei handelte es sich unter anderem um die Richtlinien (RL) bzw. Dienstanweisungen (DA) zur „ Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und der politischen Untergrundtätigkeit“ (DA Nr. 4/66), zur „ Bekämpfung der staatsfeindlichen Hetze“ (D A N r. 2/71), zur „ Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels“ (Instruktion N r. 1/76), zu „operativen Personenkontrollen“ (RL Nr. 1/81), zu „Sicherheitsüberprüfungen“ (RL Nr. 1/82), zur „politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft“ (DA Nr. 1/82) und zur „ Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit“ (DA Nr. 2/85). Einige der Bestimmungen waren schon Ende N ovember außer Kraft gesetzt worden, andere, wie die – w egen der A nleitung zur „ Zersetzung“ 25 – berüchtigte Richtlinie zur „ Bearbeitung Operativer Vorgänge“ (RL Nr. 1/76), sucht m an in dieser A ufzählung vergebens. Es w ar zwar schon Ende November befohlen worden, jene Richtlinie bis auf ein Exemplar pro Diensteinheit einzuziehen; „ im Sinne einer Übergangsregelung“ sollte sie jedoch „vorerst ihre Gültigkeit“ behalten. 26 Es handelte sich dabei um ein Beharren auf alten Methoden. Zugleich aber bedeutete die Reduktion des normativen Gefüges insgesamt eine A bkehr von Mielkes V ision von der Omnipräsenz der Staatssicherheit.

11.2 Die „Beauftragten des Vorsitzenden des Ministerrates“ Solche Veränderungen in der Staatssicherheit selbst verhinderten nicht, daß jetzt auch andere Regierungsinstanzen aktiv wurden. Am 5. Dezember wurden in alle Bezirke „ Beauftragte des V orsitzenden des Ministerrates“ geschickt, die – ein A usdruck aufkeimenden Mißtrauens gegenüber bisherigen Befehlssträngen – an der bürokratischen Hierarchie der Staatssicherheit vorbei Sorge tragen sollten, daß die Lage wieder unter Kontrolle kam . Es handelte sich um dreiköpfige Gruppen unter Leitung eines Mitarbeiters des Ministerrates, der die jeweilige Gruppe nach außen vertrat, begleitet von Mitarbeitern des Innenministeriums und des Amtes für Nationale Sicherheit. Da die Auswahl durch das Sekretariat des Ministerrates erfolgte und etliche der insgesamt 18 Regierungsbeauftragten (einige w urden in den folgenden 24 Schreiben von Schwanitz an die Leiter de r Diensteinheiten vom 7.12.1989; BStU, ZA, DSt 103647. 25 Vgl. Sonja Süß: Repressive Strukturen in der SBZ/DDR. Analyse von Strategien der Zersetzung durch Staatsorgane der DDR (1997). 26 Schreiben von Schwanitz an die Leiter der Diensteinheiten vom 29. 11.1989 mit drei Anlagen; BStU, ZA, DSt 103647.

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Wochen ausgew echselt) aus der „ Arbeitsgruppe Organisation und Inspektion“ von Staatssekretär H arry Möbis kam en, überrascht es nicht, daß sich unter ihnen sechs OibE 27 und vier (ehemalige) inoffizielle Mitarbeiter 28 befanden. Zugleich wurden die K ommunikationsstrukturen zw ischen Zentrale und Regionen um organisiert. Bei Staatssekr etär Halbritter wurde ein „Informationszentrum“ eingerichtet, das künftig dafür zuständig w ar, auf Basis von Meldungen der Regierungsbeauftragten den V orsitzenden des Ministerrates auf dem laufenden zu halten. Der direkte Informationsstrang von der Staatssicherheit zur politischen Spitze, ihre täglichen Berichte für die Mitglieder des Politbüros, wurden eingestellt. Bei den „ ZAIG-Informationen“ (die nur intern so hießen) wurde auf dem Verteiler der Name Modrow gestrichen. Zu dessen Exemplar, es hatte die N r. 1, wurde vermerkt: „6.12. vern[ichtet]“. 29 Im Verteiler standen jetzt nur noch hohe Stasi-Offiziere. 30 Die O stberliner Zentrale m it Lageeinschätzungen zu versorgen war nur eine der Aufgaben, die die „ Beauftragten“ vor Ort erfüllen sollten. Was sie zu tun hatten, ergab sich aus einer „ Vollmacht“, die sie für die nächsten Monate zu den w ichtigsten Repräsentanten der Zentralm acht in den Bezirken machte – zumindest was den Sicherheitsapparat betraf. D ie Vollmacht galt: 27 Das ist anhand der einschlägigen Karteien und der Besoldungsdatei im Zentralarchiv des BStU für die folgend genannten Regierungsbeau ftragten nachweisbar: in Dresden Dieter Stein (BStU, ZA, AIM 9271/80, Teil I/1, Bl . 100, dort wird als Archivierungsgrund die Übernahme als OibE genannt. Die Kaderakte fehlt, aber in den U nterlagen der A bt. Finanzen finden sich einschlägige Spuren; BS tU, ZA, Abt. Fin 2403, Bl. 442); in Erfurt Bernhard Schenk (BStU, ZA, MfS KS 5534/90) ; in Frankfurt (Oder) Hans-Jürgen Grajcarek (BStU, ZA, MfS KS 5523/90); in Leipzig Hans-Peter Rosentreter (BStU, ZA, MfS KS 5543/90) und in Rostock Hans Rentmeister (BStU, ZA, Karteien F 16 u. F 22, i.V. mit BStU, ZA, Abt. Finanzen 2404, Bl. 476 u. 686 [MfS-Paginierung] ) und Horst Jähne (BStU, ZA, KS 5431/90). Bestätigt wird di eses Rechercheergebnis durch eine im unerschlossenen Material aufgefundene Liste von OibE der HA XVIII/Leitung aus dem Jahr 1989, in der dieselben Namen – mit Ausnahme von D. Stein und H. Rentmeister (der der Zentralen Arbeitsgruppe Geheimnisschutz zugeordnet war) – genannt werden, und Unterlagen der Abt. Finanzen des MfS, in denen ebenfalls nur sie auftauchen. Vgl. BStU, ZA, HA KuSch/K 7, Bündel 44; BStU, ZA, Abt. Fin 2402, Abt. Fin 2403 u. Abt. Fin 2404. 28 BStU, ZA, MfS AIM 5254/82 GMS/IME „ Werner“ (1972–1982); BStU, ASt Chemnitz, AIM 2626/83 IMK „ Koch“ (1977–1983); BStU , ZA, MfS AIM 3630/68 GI „ Karl“ (1961–1968); BStU, ZA, MfS AIM 8304/91 IMS „Joachim“ (1982–1989; letzter Treffbericht vom 31.3.1989). 29 ZAIG: „Information“ Nr. 517/89 vom 2.12.1989 „über Vorstellungen von führenden Politikern aus der BRD zur Unterstützung der Opposition in der DDR“; BStU, ZA, ZAIG 3756, Bl. 181–183. 30 In einer der letzten ZAIG-Informationen, Nr. 519/89 vom 5.12.1989, „über das Erzwingen des Zutritts von Kräften von Bürgerbewegungen zu den Dienstobj ekten“ wurden im Verteiler Krenz, Modrow und Maleuda (der Volkskammerpräsident) aufgeführt, versehen mit der Randnotiz: „ vermutl[ich] du[rch] Gen. Sc hwanitz mündl[ich] inf[ormiert] – vern[ichtet] 6.12.“; BStU, ZA, ZAIG 3815, Bl. 1–8. – Die letzte mir bekannte „ Information“, Nr. 521/89 vom 8.12.1989 über die Gründung einer neuen Partei in den Nordbezirken, führte allerdings im Verteiler Modrow wieder an erster Stelle; BStU, ZA, ZAIG 3816, Bl. 1 f.

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„– zur Durchsetzung der Sicherung der DO [Dienstobjekte] des AfNS, – zur Wiederherstellung und Gewährleistung der Einhaltung der Gesetze, – zur Wiederherstellung der Arbei tsfähigkeit der B ereiche, die im Interesse der Schadensabwendung wirksam sein müssen, – zur Sicherung der Nichteinsichtnahme in das 31 Schriftgut des AfNS, – zur Sicherung der Bewaffnung vor unberechtigter Zugriffnahme“. 32

Kurzum, sie sollten die durch Besetzungen und Blockaden gestörte Ordnung der Staatssicherheit auf reduziertem A ktivitätsniveau w iederherstellen und verhindern, daß deren Mittel (Inform ationen und Waffen) in die Hände der Gegenseite fielen. Das war inzwischen nur in Zusam menarbeit mit lokalen Kräften zu schaffen. Deshalb waren die Beauftragten gehalten, ihr Vorgehen „mit dem Vorsitzenden des Rates und dem Staatsanwalt abzusprechen“ und entsprechende Maßnahm en „ im Rahm en der Sicherheitspartnerschaft auf der Grundlage des A ppells der V ernunft mit den Bürgerrechtsbew egungen zu realisieren“. 33 Damit waren die Ziele vorgegeben und auch klargestellt, daß es sich trotz der MfS-Verbindung etlicher Beteiligter um keine geheime Kommandosache handelte. Auf zentraler Ebene w aren die Regierungsbeauftragten Staatssekretär Halbritter untergeordnet. Der vermochte es allerdings nicht, ihnen eine klare Orientierung zu geben. Das wurde schon in den ersten Tagen deutlich, in denen es um das brisante Them a Aktenvernichtung ging. Schwanitz hatte, wie erwähnt, am 4. Dezem ber den Befehl erteilt, die Aktenvernichtung sofort zu stoppen. Zwei Tage später, als die erste Besetzungsw elle vorbei schien, informierte er die D iensteinheiten, daß dam it zu rechnen sei, „daß autorisierte Kontrollgruppen, bestehend aus Vertretern staatlicher Organe sowie von Bürgerrechtsbewegungen, gebildet und in den BÄ fNS [Bezirksämtern für Nationale Sicherheit] und anderen D iensteinheiten A rbeits- und K ontrollmöglichkeiten erhalten werden“. Diese aus seiner Sicht wahrscheinlich höchst unerquickliche Perspektive meinte Schwanitz nutzen zu können: „Es ist die Bereitschaft zu zei gen und gegebenenfalls kontrollfähige Vereinbarungen zu treffen, daß jene Unterlagen und Karteien vernichtet werden, die ‚Überwachungsmaßnahmen des ehemaligen MfS‘ enthalten. Auch damit ist zu demonstrieren, daß di ese M aßnahmen vom AfNS ni cht fort gesetzt wer-

31 Im Dokument fälschlicherweise: und. 32 Dokument aus dem Bestand des Büros Schwanitz ohne Datum und Unterschrift, beginnend mit dem Satz: „ Zu Ihrer persönlichen Info rmation übermittle ich Ihnen folgende Information“; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 258. In einer früheren Variante dieses Dokuments werden die Leiter der Bezirksämter für Staatssicherheit als Adressaten genannt; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 86. 33 Ebenda.

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den.“ 34 Der AfNS-Chef hat diese Idee über seinen V erbindungsmann auch dem zuständigen Staatssekretär eingeflüstert. A m folgenden Tag erhielten die Regierungsbeauftragten, die eben vor O rt eingetroffen w aren, ein von Halbritter und Modrow abgezeichnetes Telegram m, das Zeiseweis form uliert hatte. 35 Die Kernsätze lauteten: „2. Der Ministerrat hat in seiner Sitzung am 07.12.1989 folgendes festgelegt: Die Regierung verurteilt das unberechtigte Sam meln von Inform ationen durch das ehem alige M inisterium für St aatssicherheit und verbietet ein Fortsetzen derartiger Praktiken. [...] – Die Regierung beauftragt den Lei ter des Am tes für Nationale Sicherheit, die unberechtigt angelegten Dokumente unverzüglich zu vernichten.“ 36

Es sollte sich dabei nicht um eine Fortsetzung der heimlichen, Stasi-internen Aktenvernichtung handeln, sondern um einen Modus, w ie ihn Schw anitz vorgeschlagen hatte: „ Das V ernichten hat unter Aufsicht von Beauftragten der Regierung, der örtlichen Staats- und Rechtspflegeorgane und gegebenenfalls Vertretern der Öffentlichkeit zu erfolgen.“ 37 In dem Wörtchen „gegebenenfalls“ verbarg sich der Auftrag, je nach dem örtlichen Kräfteverhältnis zu agieren. Es zeigt exemplarisch, wie wichtig ziviles Engagement in jenen Tagen war. „Keine Kumpanei“ Auch in Berlin wurde über dieses Them a debattiert. Es wurde bei einem Termin von Stasi-O ffizieren m it führ enden Repräsentanten der Bürgerrechtsbewegung in der Normannenstraße angesprochen. Solche Treffen w aren in diesen Tagen, in denen beide Seiten bem üht waren, durch Absprachen eine gew altsame Eskalation zu verm eiden, nichts Ungewöhnliches. Die Staatssicherheit hatte bereits am 4., 6. und 7. Dezem ber ähnlichen Besuch erhalten, der zum Teil in Begleitung von Journalisten gekom men 34 Schreiben von Schwanitz an die Leiter de r Diensteinheiten vom 6.12.1989; BStU, ZA, Rechtsstelle 693, Bl. 16 f. – Dem Generalst aatsanwalt teilte Schwanitz am gleichen Tag mit, er habe am 4.12. den Befehl gegeben, jegliche Aktenvernichtung zu stoppen. Schreiben von Schwanitz an den Generalstaatsanwalt vom 6.12.1989; BStU, ZA, SdM 2294, Bl. 38. 35 Zeiseweis hat sich in einem Interview stolz dazu bekannt, er habe für Halbritter den Text, mit der Aufforderung, die Archive zu vernichten, formuliert. In: Rob Hof: „ Der Oberst. Kurt Zeiseweis Offizier des MfS – ein Portrait“, ORB 24.9.1995, 20.15–21.00 Uhr. Nicht ganz ausgeschlossen ist, weil Zeiseweis in dem Interview das Datum nicht nannte, daß ein zweites Fernschreiben ähnlichen Inhalts einige Tage später gemeint war. Da in der Öffentlichkeit aber bisher nur das erste Telegramm bekannt ist und der ehemalige Oberst bei seinem Interviewpartner unterstellte, er wüßte Bescheid, ist das sehr unwahrscheinlich. 36 Fernschreiben des Ministerrates an die B eauftragten vom 7.12.1989; BStU, ZA, Rechtsstelle 693, Bl. 9 f. 37 Ebenda.

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war. 38 Diesmal, am 8. Dezember, war es ein engerer Kreis von Mitgliedern des Sprecherrates des Neuen Forums: Bärbel Bohley, Jens Reich und K laus Wolfram. Ihnen saßen der Pressesprecher des A fNS, Oberstleutnant Roahl, und als Protokollant ein O berstleutnant Stünzner gegenüber, der als „Beauftragter des Leiters des Am tes“ vorgestellt wurde. 39 Den Dienstgraden nach und gemessen an der Stellung dieser H erren im internen Machtgefüge w ar das – bedenkt m an, daß ihnen die Führungsspitze der bei weitem wichtigsten Bürgerrechtsorganisation gegenübersaß – eine beleidigend unbedeutende Vertretung. Später stieß allerdings noch unangemeldet Generalmajor Engelhardt dazu, 40 der kurz zuvor nach Berlin berufen worden war. In einem „Festlegungsprotokoll“ der Staatssicherheit wurde vermerkt, das Treffen sei auf Initiative von Bärbel Bohley zustande gekommen, aus Sorge vor weiterer Eskalation. Das Ziel sei „ Sicherheitspartnerschaft, keine Kumpanei (Jens Reich)“. Es sei – w ird in dem Protokoll behauptet – auch über die „Orientierung des Ministerrates an die Regierungsbeauftragten (Ziffer 2 des Fernschreibens des Gen. Modrow)“ gesprochen worden. Tatsächlich – erinnert sich einer der Teilnehm er aus der Bürgerrechtsbewegung – wurde zwar das Thema Aktenvernichtung debattiert, aber keinerlei Hinweis auf besagte „Orientierung“ gegeben oder gar dieses oder irgendein anderes Schreiben vorgelegt. 41 Wahrscheinlich ließ m an auf Stasi-Seite Form ulierungen aus diesem Schreiben in das Gespräch einfließen, um sie zu testen. Der StasiProtokollant notierte: Eine „ ,unverzügliche Vernichtung‘ l[au]t Fernschreiben w ird so nicht m itgetragen“; auch m üsse das „ Vernichten von Akten nicht nur gegebenenfalls, sondern prinzipiell unter Beteiligung von V ertretern der Öffentlichkeit“ geschehen. Ü ber die Frage selbst müsse der Runde Tisch beraten, w obei das „ Prinzip ‚Bis auf weiteres versiegeln‘“ empfohlen werde, eventuell auch „ bis zur N euwahl und Regierungsbildung“ . Die beiden Stasi-Offiziere waren m it dem Treffen, über das auf Bitte der Vertreter des Neuen Forums keine Pressem itteilung gefertigt wurde, ganz zufrieden. Sie empfahlen, den K ontakt fortzusetzen. Jedoch sei – heißt es in schöner Offenheit – unbedingt eine „ personelle V erstärkung der A nmeldung Ru38 Vgl. HA VIII/14: „Bericht über ein Gespräch mit einer Initiativgruppe des Neuen Forums Berlin-Lichtenberg“ vom 6.12.1989; BStU, ZA, HA VIII, AKG 2233, Bl. 330 f.; Vermerk (Abschrift) des Militär-Oberst aatsanwaltes vom 7. 12.1989: „Die Volkskontrolle war hier!“; BStU, ZA, HA II/6 1060, Bl. 2; Schreiben von Generalmajor Niebling an die Leiter der Diensteinheiten vom 7.12.1989; BStU, ZA, DS t 103653; Schreiben von Schwanitz an die Leiter der Diensteinheiten vom 7.12.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 1633, Bl. 13. 39 Stünzner hatte am Vortag an der Sitzung der AfNS-Leitung teilgenommen. Er kam aus der Funkaufklärung (HA III), einer Diensteinheit im alten Verantwortungsbereich von Schwanitz, und hatte anscheinend durch ein Pr otestschreiben die wohlwollende Aufmerksamkeit seines obersten Chefs auf sich gelenkt. „ Festlegungsprotokoll zum Informationsgespräch mit den Vertretern des Sprecherausschusses des Neuen Forums am 8. 12.89 von 11.00 bis 12.30 Uhr in der Anmeldung Ruschestraße“ vom 8.12.1989; BStU, ZA, SdM 2289, Bl. 165–168. 40 Die Teilnahme von Engelhardt wird in dem Stasi-Protokoll nicht erwähnt. Klaus Wolfram ist sich dessen aber ganz sicher; Gespräch d. Verf. mit Klaus Wolfram am 5.12.1997. 41 So Klaus Wolfram in dem erwähnten Gespräch mit d. Verf.

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schestraße durch H ochschulkader“ notw endig, „welche qualifizierte Gespräche mit den Besuchern führen können (gegenwärtig überfordert!)“. 42 Eine Landesdelegiertenkonferenz des Neuen Forums, die anschließend in Leipzig tagte, bezog in einer öffentlichen Erklärung Position: „Die Landesdelegiertenkonferenz stellt Strafanzeige wegen Verdachts der Verdunkelung durch die Ve rnichtung strafrechtlich re levanter Akten gegen die Herren Egon Krenz, Dr. W olfgang Schwanitz und unbekannt. Die Ereignisse der letzten W ochen recht fertigen den Schl uß, daß i n di esem Zusam menhang massiv gegen die Verfassung und damit gegen geltendes Recht verstoßen worden ist.“ 43

Von der Halbritter-Weisung wußten die Delegierten des Neuen Forum s anscheinend nichts. Trotzdem traf ihre Erklärung den politisch wunden Punkt. Alarmsignale aus den Regionen Außerhalb O stberlins, in den Bezirken, waren die Konstellationen zwar höchst unterschiedlich, gerade in der Frage A ktenvernichtung aber gab es Gemeinsamkeit. Bei dem Informationszentrum, das Staatssekretär Halbritter eingerichtet hatte, m eldeten verschiedene Regierungsbeauftragte noch am Abend desselben Tages, an dem sie sein Fernschreiben erhalten hatten, Bedenken an. D arunter war bemerkenswerterweise, soweit feststellbar, keiner der zuvor erw ähnten Beauftragten, die als O ibE oder als IM verpflichtet gewesen waren. 44 Ein Bericht kam aus Suhl, w o es zuvor bei der Besetzung des Bezirksamtes besonders heftige Auseinandersetzungen gegeben hatte – der dramatische Höhepunkt war der Selbstmord eines MfS-Offiziers. 45 Das Kreisamt in Schmalkalden, das zu diesem Bezirk gehörte, war am 6. Dezember gestürmt worden; eine IM-Akte mit Paßfoto und N amen war anschließend als Wandzeitung in einem Betrieb aufgetaucht, vom Bürgerkom itee jedoch w ieder eingesammelt worden. 46 In den folgenden Tagen hielten sich die StasiMitarbeiter aus „ Angst“ versteckt. 47 Es w ar eine etw as unruhige G egend, aus der der Regierungsbeauftragte Schröter am 7. Dezember meldete: 42 Hv. im Orig. „Festlegungsprotokoll“ vom 8.12.1989, Bl. 168. 43 Erklärung der Landesdelegiertenkonferenz des Neuen Forums in Leipzig am 9./10.12.1989; dokumentiert in: Zimmerling: Neue Folge 3 (1990), S. 71. 44 Die einschlägigen Unterlagen im Bestand Staatssekretariat Halbritter im Bundesarchiv sind unvollständig; nicht aus allen Bezirken liegen die Originalmeldungen vor. 45 Vgl. Bezirkstag Suhl: „ Genossen! Glaubt’s mich doch! Ich liebe Euch alle“. Dokumentation des Aktivs Staatssicherheit und der zeitweiligen Kommission „Amtsmißbrauch und Korruption“ des Bezirkstages Suhl, Suhl 1990, S. 5–8. 46 Vgl. „Meldung des Genossen Dieter Schröter aus Suhl am 7.12.1989, 9.20 Uhr“; BA Berlin, DC 20 11348; Meldung von Schröter vom 12.12.1989, 22.13 Uhr; ebenda. 47 Bericht des Lagezentrums des AfNS vom 11.12.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 79–83, hier 83.

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„Über den Inhalt des heutigen Fernschreibens des Vorsitzenden des Ministerrates wurden die Bürgerkommissionen sowie die zuständigen Leiter der territorialen Organe informiert. Probleme ergeben si ch bei der Um setzung der Festlegung zur unverzügl ichen Vernichtung von Unt erlagen. Die Bürgerbewegung sieht dari n ei ne B eseitigung von B eweisen zu Menschenrechtsverletzungen und eine Verhinderung von Re habilitationsverfahren. Es wird gefordert, eine Archivierung dieser Unterlagen für 2 Jahre. Di eser Forderung schließen sich der Bezirksstaatsanwalt und der Direktor des Bezirksgerichtes an.“ 48

Deutlicher noch wurde der Regierungsbeauftragte in Schwerin, jener Bezirkshauptstadt im Norden, in der die „politische Offensive“ der SED exemplarisch gescheitert war: „In Übereinstimmung mit dem amtierenden Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, dem Lei ter der B dVP [B ezirksbehörde der Volkspolizei] sowie dem Bezirksstaatsanwalt m öchte i ch kat egorisch darauf hi nweisen, di e i m Fernschreiben vom 7.12.1989 geforderte Vernichtung des Schriftgutes nicht durchzuführen. Di es würde zu ni cht absehbaren R eaktionen i n der Bevölkerung führen (Forderung nach Rehabilitierung).“ 49

Aus Cottbus m eldete der Regierungsbeauftragte keine Bedenken. 50 Dag egen schickte der 1. Stellvertreter des V orsitzenden des Rates des Bezirkes ein Fernschreiben direkt an Modrow und forderte eindringlich, die Vernichtungsanweisung auf ihre „Richtigkeit und Zweckmäßigkeit zu prüfen“, denn „gerade gegen die V ernichtung von U nterlagen haben sich jetzt viele Bürgerbewegungen konstituiert“ . 51 Eine ähnliche Warnung sandte der Regierungsbeauftragte in Neubrandenburg an Ha lbritter: „Die Realisierung dieser Aufgabe wird als politisch gefährlich eingeschätzt.“ 52 Sein Kollege Stranz, der aus Magdeburg berichtete, m achte noch stärkere V orhaltungen: „ Vernichtung der Akten erscheint unmöglich und Einsichtnahm e durch Bürger-

48 „Meldung des Genossen Dr. Dieter Schröter aus Suhl, 7.12.1989, 22.25 Uhr“; BA Berlin, DC 20 11348. 49 „Meldung des Genossen Goldmann aus Schwer in, 7.12.1989, 23.45 Uhr“; BA Berlin, DC 20 11348. 50 Vgl. „Meldung des Genossen Dr. Erhard Neubert aus Cottbus, 7.12.1989, 18.20 Uhr“; BA Berlin, DC 20 11348. – Am Vortag hatte er noch berichtet, das Neue Forum fordere, „ die Akten über politisch Andersdenkende (Dossiers)“ der Staatssicherheit zu entziehen und bei den Justizorganen zu deponieren, „damit die Gefahr einer Vernichtung nicht gegeben ist“. „Meldung Rat des Bezirkes, Cottbus, Genosse Neubert, 19.20 Uhr“ vom 6.12.1989; BA Berlin, DC 20 11348. 51 Fernschreiben des 1. Stellvertreters des Vo rsitzenden des Rates des Bezirkes Cottbus, Dr. Otto Wendt, an den Vorsitzenden des Ministerrates, Modrow, vom 7.12.1989, 13.00 Uhr; BA Berlin, DC 20 11348. 52 „Meldung von Genossen Dr. Siegfried Wikarski aus Neubrandenburg, 7.12.1989, 13.53 Uhr“; BA Berlin, DC 20 11348.

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gruppen sehr brisant. Sollte sofort durch Vorsitzenden des Ministerrates rückgängig gemacht werden.“ 53 Auf Grundlage dieser Einwände fertigte Halbritter am nächsten Tag eine „Information“ für Modrow, in der er zusammenfaßte: „Beauftragte aus fast allen Bezirken weisen mit großem Nachdruck auf di e Nichtdurchführbarkeit der mit dem Fernschreiben gegebenen M öglichkeiten zur Vernichtung der unberechtigt angelegten Dokumente hin. Bürgervereinigungen sehen darin eine Beseitigung von Beweisen für Menschenrechtsverletzungen und eine Verhi nderung von Rehabilitationsverfahren. Es besteht die Forderung nach zeitweiliger Arch ivierung und Auswertung dieser Unterlagen. Im Interesse der weiteren Stabilisierung der Lage sollten daher sofort Entscheidungen über Dauer und Ort der Archivierung sowie zu den Auswertungsmodalitäten getroffen werden.“ 54

Es war wahrscheinlich das erste Mal, da ß sich Halbritter als der zuständige Staatssekretär in einer Frage, die di e Staatssicherheit betraf, dezidiert zu Wort meldete. Seine Einschätzung blieb nicht ohne Wirkung auf Modrow , der zugleich von anderer Seite unter Druck kam.

11.3 Der zentrale Runde Tisch als neuer Akteur Während die Beauftragten in die Bezirke geeilt waren, war in Berlin selbst einiges in Bew egung geraten. A uslöser w ar die V eränderung der Machtkonstellation durch die Bildung einer Institution, die zu einschneidenden Veränderungen der Spielregeln im Machtkampf führen sollte: des zentralen Runden Tisches. 55 Die Revolution war damit in ein neues Stadium eingetreten: ihre Institutionalisierung auf zentraler Ebene. Ein Vorläufer waren die Gespräche m it der „ Gruppe der 20“ in der zweiten Oktoberwoche in Dresden gewesen. Die Einrichtung eines Runden Tisches auf zentraler Ebene hatte Wolfgang Ullmann 56 , der führende Kopf der Bürgerrechtsorganisation D emokratie Jetzt, Ende Oktober auf ei-

53 „Meldung des Genossen Stranz aus Magdebur g, 7.12.1989, 23.20 Uhr“; BA Berlin, DC 20 11348. 54 „Information über die Tätigkeit der Beauftragt en des Vorsitzenden des Ministerrates in den Bezirken am 7.12.1989“; BStU, ZA, SdM 1992, Bl. 8–12. 55 Dazu grundlegend: Thaysen: Der Runde Tisch (1990). 56 Der damals 60jährige Dr. Wolfgang Ullmann hat Philosophie und Theologie in Berlin und Göttingen studiert, war von 1954 bis 1963 Pfarrer in Sachsen, 1963 bis 1978 Dozent in Naumburg. Von 1978 bis 1990 lehrte er Kirchengeschichte am Sprachenkonvikt in Berlin, wo er als akademischer Lehrer bedeutende n Einfluß hatte. Nach dem Umbruch wurde er Abgeordneter von „Bündnis 90“ in der Volkskammer und ab Oktober 1990 MdB.

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ner Veranstaltung in der Ostberliner Gethsem anekirche vorgeschlagen. 57 Dem Berichterstatter der Staatssicherheit war das seinerzeit entgangen, obwohl ihm die O hren hätten klingen müssen. 58 In den folgenden Wochen fanden zwischen verschiedenen Bürgerrechtsorganisationen G espräche zur Einrichtung eines solchen Gremiums statt. Am 10. November hatte dann die „Kontaktgruppe“ der oppositionellen Gruppen die Forderung übernom men, verbunden mit dem Vorschlag, im September 1990 eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen und im Frühjahr 1991 freie Wahlen abzuhalten. 59 Am 22. November hatte sich die SED-Führung entschlossen, auf den Zug aufzuspringen. 60 In einer anschließenden Pressem eldung suchte sie den Eindruck zu erwecken, die Initiative käme von ihr. 61 Es ging dabei nicht nur um politischen Ideenklau, sondern auch um den Versuch, die Bedingungen zu definieren. Am liebsten wäre es den politischen Akteuren um Krenz gewesen, die SED oder der V olkskammerpräsident hätten als G astgeber figuriert. 62 Nichts fürchteten sie näm lich mehr, als daß der Runde Tisch in Polen zum Vorbild für die D DR w erden könnte. In einer V orlage für das Politbüro wurde berichtet: „Die Institutionalisierung des runden Ti sches [in W arschau] bedeutete eine de facto Entmachtung der Regierung und des Parlaments. [..] Mit dem Beginn der Rund-Tisch-Gespr äche hatte die Opposition ein faktisches Mitspracherecht in allen Belangen der gesellschaftlichen Entwicklung. Ihr gelang es, den Pluralismus in Richtung eines ‚freien Spiels‘ der Kräfte zu institutionalisieren und dam it ihr besteh endes ideologisches Übergewicht in politisches Kapital umzuwandeln.“ 63 57 „Ansprache in der Berliner Gethsemanekirche am 27. Oktober 1989“, in: Ullmann: Demokratie – jetzt oder nie! (1990), S. 147 f. 58 Der Redner hatte auch noch gefordert, am künftigen Runden Tisch sollten neben Vertretern der Regierungsparteien und der Bürgerrech tsorganisationen direkt gewählte Delegierte aus den Betrieben Platz nehmen. Das wäre nach polnischem Vorbild die Verbindung zwischen Bürgerrechtsopposition und Arbeiterschaft gewesen, die die SED und die Staatssicherheit unbedingt vermeiden wollten. – Der MfS-Bericht: HA XX: „ Lagebericht zur Aktion ‚Störenfried‘“ vom 28.10.1989; BStU, ZA, HA XX/4 1686, Bl. 5–8. 59 Zur Vorgeschichte vgl. Gutzeit: Der Weg in die Opposition (1993), S. 110 f.; Thaysen: Der Runde Tisch (1990), S. 25–32; vgl. auch Neubert: Geschichte der Opposition (1997), S. 890–894; Süß: Mit Unwillen zur Macht (1991), S. 470–472. 60 Vgl. Protokoll der Politbüro-Sitzung am 22.11. 1989, 11 S., hier S. 3; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2/2364. 61 Vgl. „Politbüro: Für Dialog am ‚Runden Tisch‘“, in: Neues Deutschland 23.11.1989. 62 Vgl. „ Entscheidungsfragen für das Herangehen an den ‚Runden Tisch‘ (24.11.1989)“, Anlage zum Arbeitsprotokoll der Politbüro- Sitzung am 28.11.1989; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2A/3263. – In Bulgarien, wo die Opposition und vor allem die Bürgerbewegung noch schwächer war, entwickelte sich der Runde Tisch tatsächlich nach diesem Muster: unter dem Vorsitz eines der Führer der Komm unistischen Partei. Vgl. Linz u. Stepan: Problems of Democratic Transition (1996), S. 338 f. 63 „Zu einigen Problem, die sich aus den Rund-Tisch-Gesprächen in Polen ergaben“, Anlage zum Arbeitsprotokoll der Politbüro-Sitzung am 28.11.1989; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2A/3263.

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In der DDR – meinte m an in der SED-Spitze – sollte „ die Gefahr einer Institutionalisierung des Runden Tisches“ abgewendet werden, weil sie „ zu einer Entmündigung der Volkskammer und der Regierung führen“ könnte. 64 Treffender wäre, von der endgültigen Entm achtung des Alten Regim es zu sprechen. Um sie zu verhindern, sollte der Runde Tisch – hieß es in einem Redeentwurf für Krenz – ein Grem ium werden, in dem man sich „auf Spitzenebene in loser Folge, d[as] h[eißt] nicht zu oft“ , zu „ vorparlamentarischer Diskussion“ trifft. 65 Man dachte sich das Ganze als eine Art unverbindlichen Gesprächskreis zwischen Vert retern der Mächtigen und ausgewählten Vertretern der Bürgerrechtsopposition – ein Grem ium, das keine Konkurrenz zu den bestehenden Institutionen bilden würde. Es wäre eine Neuaufnahme der bereits gescheiterten „ Dialogpolitik“ der SED auf höherer Ebene gewesen. Als der zentrale Runde Tisch schließlich am 7. Dezember im Ostberliner Dietrich-Bonhoeffer-Haus, von K irchenvertretern m oderiert, zu seiner ersten Sitzung zusam menfand, war eine wesentliche Voraussetzung der SEDKonzeption hinfällig geworden: Der herrschende Block war in seine Bestandteile auseinandergefallen. Es gab allerdings neben der bisherigen gemeinsamen Subordination unter die SED als Bindem ittel noch ein zweites, weniger sichtbares Element des Zusam menhalts. Auf der Sitzung w aren 33 stimmberechtigte Teilnehmer anwesend: 16 von den alten Kräften (SED und Blockparteien plus FDGB) und 17 aus den Bürgerrechtsorganisationen und neuen Parteien. 66 Auch wenn man die zweifelhaften Fälle ausklammert, hatte fast die Hälfte der V ertreter des A lten Regim es eine V ergangenheit als inoffizielle Mitarbeiter. 67 In einigen Fällen – so bei IMS „ Harry“ (Günter 64 „Entscheidungsfragen für das Herangehen an den ‚Runden Tisch‘ (24.11.1989)“. 65 „Zum ‚Runden Tisch‘. Überlegungen zur Position der SED im Demokratischen Block“, Anlage zum Arbeitsprotokoll der Politbüro- Sitzung am 28.11.1989; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2A/3263. Dieser Entwurf entspricht weitgehend den Ausführungen von Krenz in der Sitzung des „Demokratischen Blocks“ am 28.11.1989; dokumentiert in: Suckut: Die DDRBlockparteien im Lichte neuer Quellen (1994), S. 188–194. 66 Teilnehmerliste in: Berliner Zeitung 8.12.1989. 67 Das betrifft bei der CDU Dr. Rudolf Krause (1973–1982 IMS „Ries“; BStU, ASt Leipzig, Lpz. AIM 746/82) und vielleicht Lothar de Maizière (siehe S. 579 ff.); bei der DBD Georg Böhm (1971–1972 IMS „Fuchs“; BStU, ASt Halle, Halle AIM 1559/72) und Michael Koplanski (1959–1989 IMS „Wolf“; BStU, ZA, MfS AIM 11947/89); bei der LDPD Gerhard Lindner (1959–1989 GI bzw. IMS „ Hans Reic hert“; zu beiden siehe Kap. 9.6; S. 576 ff.); zu Hans-Dieter Raspe, ebenfa lls von der LDPD, siehe oben S. 577; bei der NDPD Günter Hartmann (1954–1989 GI bzw. IMS „ Harry“; siehe Kap. 9.6, S. 576 ff.); bei der SED Dr. Wolfgang Berghofer (1972–1982 IM „ Falk“; BStU, ZA, MfS AIM 873/82). – Nicht vollständig geklärt ist meines Erachtens der Charakter der Beziehungen zwischen Dr. Gregor Gysi und j enen Stasi-Offizieren, mit denen er als Anwalt zu tun hatte (1980–1986 Vorlauf-IM „Gregor“; BStU, ZA, MfS AIM 9564/86; Akte vernichtet). Einem Beschluß der im Immunitätsausschuß des De utschen Bundestages (13. Wahlperiode) versammelten Abgeordneten von CDU/CSU, SPD und Bündnis ’90 vom Mai 1998, Gysi habe an der „ operativen Bearbeitung von Oppos itionellen teilgenommen“, stehen fast ein Dutzend Gerichtsurteile gegenüber, in denen auf Antrag Gysis verschiedenen Beklagten untersagt wurde, ihn als „ IM“ oder als „ Stasi-Spitzel“ zu bezeichnen, und ebenso ein Beschluß der Berliner Justizverwaltung vom Ju li 1998, ihm könne in seiner anwaltlichen Tä-

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Hartmann von der NDPD) – lag sie nur wenige Wochen zurück. Selbst unter den neuen Kräften waren zwei prominente inoffizielle Mitarbeiter: Ibrahim Böhme (SDP) alias IMB „ Maximilian“ und Wolfgang Schnur (Demokratischer Aufbruch) alias IMB „Dr. Ralf Schirmer“. Sie waren allerdings auf dieser Seite des Tisches die Ausnahme und dam it eindeutig in der Minderheit. 68 Hier dominierten statt dessen Personen, die durch die Staatssicherheit „operativ bearbeitet“ worden waren: Zehn von siebzehn Vertretern der Bürgerrechtsbewegung w aren dadurch als m ehr oder weniger engagierte Gegner des Regimes ausgewiesen. 69 Diese heterogen zusam mengesetzte Runde faßte einen ausgesprochen bescheidenen Beschluß zum „ Selbstverständnis“ des Runden Tisches: Zusammengekommen sei man „aus tiefer Sorge um unser in eine Krise geratenes Land, seine Eigenständigkeit und seine dauerhafte Entw icklung“. Man wolle „keine parlamentarische oder Regierungsfunktion“ , sondern nur „ informiert und einbezogen“ werden und verstehe sich als „ Bestandteil der öffentlichen Kontrolle in unserem Land“. 70 Das bedeutete, die Machtfrage aufzuschieben. Für die sich verselbständigenden Blockparteien w ar das die attraktivere Perspektive: Solange die Übergangsregierung noch eine gewisse Popularität hatte, konnten sie hoffen, bei den kommenden Wahlen von einem Regierungsbonus zu profitieren. Lothar de Maizière etwa, der CDUVertreter am Runden Tisch und zugleich Regierungsm itglied, begrüßte ausdrücklich, „ daß der Runde Tisch sich nicht als Schattenkabinett der Modrow-Regierung versteht, sondern sein A nliegen mit darin sieht, die Lage in unserem Land so zu stabilisieren, daß die Regierungsgeschäfte bis zur Wahl am 6. Mai 1990 wahrgenommen werden können.“ 71 Exkurs: Die oppositionellen Gruppen und die Macht Warum haben sich die Bürgerrechtsorganisationen überhaupt auf dieses Spiel eingelassen? Um eine Antwort zu finden, muß man das Verhältnis der oppositionellen Gruppen zur Macht bedenken. Es ist behauptet worden, die Bürgerrechtler hätten selbst die Macht gar nicht gewollt. Eine gewisse Distanz w ar vorhanden, doch es ist zu fragen, ob es sich um grundsätzliche Abstinenz handelte oder um eine Frage der Bedingungen, oder w ar es gar nur eine Sache des Zeitpunkts des Machterw erbs? Vor Beginn der Massen-

tigkeit kein „persönliches schuldhaftes Verhalten“ vorgeworfen werden. 68 Zwei weitere Bürgerrechtler hatten eine jeweils etwa zwei Jahrzehnte zurückliegende IMVergangenheit, waren danach aber „operativ bearbeitet“ worden. 69 Marianne Dörfler, Fred Ebeling, Martin Gu tzeit, Rolf Henrich, Carlo Jordan, Thomas Klein, Gerd Poppe, Ulrike Poppe, Reinhard Schult und Wolfgang Ullmann. 70 Dokumentiert in: Herles u. Rose (Hrsg. ): Vom Runden Tisch zum Parlament (1990), S. 23. 71 Interview in: Neue Zeit (Ostberlin) 9.12.1989.

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demonstrationen im Oktober wäre die Vorstellung, die Bürgerrechtsgruppen könnten die Macht übernehm en, reiner Putschismus gewesen. Ganz abgesehen von der praktischen U nrealisierbarkeit, wäre ihr Rückhalt in der Bevölkerung ungewiß gewesen. Die Aufgabe war damals, die durch die diktatorischen V erhältnisse bedingte Isolation zu überw inden. A m besten auf die Notwendigkeit dieses Zwischenschritts waren die Aktivisten des Neuen Forums eingestellt, nicht diejenigen, die dam als schon mit halbfertigen Parteiprogrammen an die Öffentlichkeit gingen. 72 Das zeigte sich an der jeweiligen Resonanz und Mobilisierungskraft. Wegen der U nmöglichkeit, historische Entw icklungsetappen zu überspringen, wäre ein abw ertender Vergleich der DDR-Bürgerrechtsbewegung etwa m it der polnischen Solidarno verfehlt: Die unabhängige Gewerkschaft, die m ehr als eine G ewerkschaft w ar, hatte bereits die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, für sie w ar die Frage entscheidend, w ie die gewonnene Hegem onie politisch um zusetzen sei. Näherliegend ist an „ Charta 77“ in der Tschechoslowakei zu denken. Auch die „ Charta“ – und dann das eilig gegründete „ Bürgerforum“ – m ußten sich gedulden, bis im November 1989 die Massen die Straßen und den Prager Wenzelsplatz eroberten, ehe sie die Machthaber tatsächlich herausfordern konnten. 73 In ihren G ründungserklärungen vom Septem ber 1989 hatten die verschiedenen Bürgerrechtsorganisationen und Parteiinitiativen den monopolistischen Machtanspruch der SED bereits faktisch in Frage gestellt – so wenn Demokratie Jetzt das Ende der „ Ära des Staatssozialism us“ proklamierte und eine „demokratische Umgestaltung“ einforderte 74 oder das Neue Forum einen allgemeinen „Dialog“ eröffnete. D as w aren diplom atische Form ulierungen, hinter denen sich freilich oppositionelle Perspektiven unterschiedlicher Reichweite verbargen. Bärbel Bohley etwa, die bekannteste Sprecherin des Neuen Forum s, vertrat im Septem ber bei einer öffentlichen Veranstaltung noch die Auffassung, sobald sich die SED reform iert habe, hätte das Neue Forum seinen Zweck erfüllt und könne sich wieder auflösen.75 Andere wie die Initiatoren einer Sozialdemokratischen Partei vertraten von vornherein Ziele, die weit über solche system immanent-reformerischen Vorstellungen hinauswiesen. 76 72 Vgl. Jarausch: Die unverhoffte Einheit (1995), S. 65. 73 Vgl. Ash: Ein Jahrhundert wird abgewählt (1990), S. 401–450; Horský: Die sanfte Revolution in der Tschechoslowakei 1989 (1990); Linz u. Stepan: Problems of Democratic Transition (1996), S. 324–327. 74 „Aufruf zur Einmischung in eigener Sache“ vom 12.9.1989, dokumentiert in: Rein (Hrsg.): Die Opposition in der DDR (1989), S. 59–61. 75 So nach einem Bericht über eine Veransta ltung in der Gethsemane-Kirche am 19.9.1989; Fernschreiben der Ständigen Vertretung in Ostberlin an das Bundeskanzleramt vom 20.9.1989, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit 1989/90 (1998), S. 409 f. 76 Die SDP-Initiatoren Martin Gutzeit und Markus Meckel forderten in einem Papier vom Juli 1989 eine „Entmonopolisierung und Demokratisierung der Macht in Staat und Gesellschaft“, „ parlamentarische Demokratie und Pa rteienpluralität“. Von der Staatssicherheit,

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Den programmatischen Durchbruch brachte die erw ähnte gem einsame Erklärung der „ Kontaktgruppe“ der O ppositionsgruppen vom 4. Oktober: Die Forderung nach freien Wahlen mit Entscheidungsalternativen und unter UNO-Kontrolle konnte nur als Herausforderung des Machtm onopols der SED verstanden werden. Taktische Differenzen unter den G ruppen aber bestanden fort. Sie betrafen den Legalism us: ob man überhaupt eine staatliche Genehmigung der eigenen Organisation beantragen sollte und ob der Zeitpunkt schon gekommen sei, offen eine Streichung der „führenden Rolle“ der SED aus der Verfassung zu fordern. Wolfgang Ullmann von Demokratie Jetzt m achte Ende Oktober den Vorschlag, einen Volksentscheid über Artikel 1 der Verfassung zu initiieren. 77 Zur gleichen Zeit meinte Ibrahim Böhme (SDP) in einem Gespräch mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin (West), Walter Momper, die Zeit sei noch nicht gekommen, um den Machtanspruch der SED in Frage zu stellen. Angesichts der IM-Verpflichtung Böhmes war das nicht w eiter verwunderlich. Aber auch Bärbel Bohley warnte bei diesem Treffen davor, die Verfassung anzutasten. Momper hat ihnen – dem MfS-Bericht zufolge – in diesem Punkt nicht w idersprochen. 78 Die gleiche A uffassung hat seinerzeit Rolf Henrich, ebenfalls vom Neuen Forum, vertreten. 79 Obwohl man auf dieses Gerücht gelegentlich stößt, 80 war bei H enrich der G rund nicht etwa, daß er als IM den A nweisungen eines Führungsoffiziers gefolgt wäre – tatsächlich wurde er dam als in einem „Operativen Vorgang“ bearbeitet. 81 Seinem Zögern und vielleicht auch dem von Bärbel Bohley lagen politisch-taktische Überlegungen zugrunde, die in einem Bericht der Zentralen Auswertungsund Informationsgruppe der Staatssicherheit wohl zutreffend wiedergegeben werden:

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die darüber durch den Dritten im Bunde, den IMB „Maximilian“ alias Ibrahim Böhme, informiert worden war, wurde das zu Recht als Aufforderung zur „Beseitigung der führenden Rolle der SED“ interpretiert. Vgl. „Aufruf zur Bildung einer Initiativgruppe, mit dem Ziel, eine sozialdemokratische Partei in der DDR ins Leben zu rufen (24.7.1989)“, in: Rein (Hrsg.): Die Opposition in der DDR (1989), S. 84–87; HA XX/9: „ Information über feindliche Aktivitäten mit dem Ziel der Schaffung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR“ vom 3.8.1989; BStU, ZA, HA XX, ZMA 2108, Bl. 145 f.; Gutzeit: Der Weg in die Opposition (1993), S. 94–98. In einem Redebeitrag bei einer Veranstaltung in der Gethsemane-Kirche am 27.10.1989; vgl. HA XX: Lagebericht zur „Aktion ‚Störenfried‘“ vom 28.10.1989, Anlage; BStU, ZA, HA XX/4 1686, Bl. 6. Vgl. HA XX: Lagebericht zur „ Aktion ‚S törenfried‘“ vom 30.10.1989; BStU, ZA, HA XX/4 1686, Bl. 103–105. In Mompers Darstell ung der Begegnung wird dieser Aspekt nicht erwähnt; vgl. Momper: Grenzfall (1991), S. 99 f. Vgl. Gutzeit: Der Weg in die Opposition (1993), S. 108; Neubert: Geschichte der Opposition (1997), S. 891. Vgl. unter Berufung auf eine anonyme Quelle die Andeutungen bei Neubert: Geschichte der Opposition (1997), S. 774. Vgl. BVfS Frankfurt (Oder) Abt. XX/1: „Eröffnungsbericht zum Operativ-Vorgang ‚Psyche‘“ vom 5.1.1989; BStU, ZA, HA XX, AKG 5558, Bl. 1–9.

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„Aus Führungskreisen des ‚Neuen Forum s‘ wurde dem MfS streng vertraulich bekannt : Über das st rategische und taktische Vorgehen best ehen nach wie vor M einungsunterschiede. Da m an si ch z[ur] Z[ei t] außerst ande sehe, die Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehm en und kei n ‚Machtvakuum‘ entstehen lassen wolle, sei man gegenwärtig nicht an einer Zuspitzung der gesellschaftlichen Widersprüche in der DDR und an de r Infragestellung der führenden Rolle der SED (die praktisch bereits verlorengegangen sei) interessiert. Ungeachtet dessen trag e die öffentliche Bekundung zur Verfassungstreue nur einen taktischen Charakter, zumal davon wesentlich die Legalisierung des ‚Neuen Forums‘ abhänge.“ 82

Das w ürde bedeuten, daß m an sich im engeren Führungszirkel des Neuen Forums damals schon bew ußt war, daß die Macht der SED gebrochen w ar und es im Interesse eines demokratischen Übergangs zur Demokratie auf die Modalitäten des Wechsels ankam. 83 Ein w eiterer V erzögerungsfaktor w ar, verglichen mit anderen Organisationen wie der SDP, daß die Aktivisten des Neuen Forums die künftigen politischen Strukturen basisdem okratisch ausrichten wollten, ohne daß die institutionelle Fassung solcher Wertorientierungen deutlich gewesen wäre. 84 Im Dem okratischen Aufbruch wurde über die gleiche Frage bei der Gründungsversammlung am 29. Oktober heftig debattiert. Während Edelbert Richter aus Weimar, Rainer Eppelmann und Ehrhart N eubert forderten, die „führende Rolle der SED “ aufzuheben, sprachen sich Friedrich Schorlemmer (Wittenberg) und Wolfgang Schnur dagegen aus, zu diesem Zeitpunkt einen offenen Konflikt mit SED und Staat zu riskieren. D aß Schnur sich so verhielt, ist nicht sonderlich überraschend, hatte er als IMB „ Dr. Ralf Schirmer“ im D ienste der H auptabteilung X X/4, geleitet von O berst Wiegand, doch ursprünglich versucht, die G ründung des Demokratischen Aufbruchs überhaupt zu verhindern. Aufschlußreich aber ist, daß Schnur bei der Wahl zum Vorsitzenden m it seiner scheinbar verm ittelnden Position eine Stimmenmehrheit von über zwei Dr itteln (108 von 161 Stimmen) erzielte, während seine K onkurrenten Eppelmann und Richter zusammen nur gut 20 Prozent der Stim men erhielten. 85 Das zeigt, daß dam als aus Sicht vieler 82 Austauschseiten zur Information 496/89, o. D., vermutlich Anfang November 1989; BStU, ZA, Mittig 27, Bl. 225–227, hier 225. 83 Diese Einschätzung dürfte realistischer se in als die Vermutung von Thaysen und Kloth, noch vier Wochen später, bei dem Zusammentreten des Runden Tisches, hätten die Vertreter der Bürgerrechtsbewegung nicht gewußt , daß die „ Festung“ von innen her bereits gefallen war (vgl. Thaysen u. Kloth: De r Runde Tisch und die Entmachtung der SED [1995], S. 1717 f.). Sie fürchteten freilich, daß es beim Schleifen der „ Festung“ noch zu unerfreulichen Scharmützeln kommen könnte. 84 Vgl. Schulz: Neues Forum (1991), S. 24 f. 85 Vgl. „ Operativinformation“ der HA XX vom 30.10.1989; BStU, ZA, HA XX, ZMA 40142, Bl. 3–9; „Information“ Nr. 485/89 vom 30.10.1989 „ über das Wirken antisozialistischer Sammlungsbewegungen und damit in Zusammenhang stehende beachtenswerte Probleme“, gez. Mielke; BStU, ZA, ZAIG 3756, Bl. 154–165, hier 157 f.

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Aktivisten die Zeit noch nicht gekom men schien, den offenen K onflikt zu wagen. Aber bereits w enige Tage später einigte sich die Kontaktgruppe der Opposition darauf, eine V erfassungsänderung m it Streichung der „führenden Rolle“ und „freie und geheime Wahlen“ zu fordern. 86 In der folgenden Woche, nach der großen Dem onstration vom 4. November, wurde dann die Initiative für die Einberufung eines zentralen Runden Tisches ergriffen. Martin Gutzeit, der für die Sozialdem okraten am Runden Tisch saß, hat das Ziel dieser Institution zutreffend dam it beschrieben, es sei um „die Schaffung der rechtlichen und politischen Voraussetzungen für dem okratische Verhältnisse“ gegangen und um eine „ effektive politische Kontrolle, um Schlimmeres zu verhindern“ . 87 Außerdem brauchten die neuen politischen Kräfte etwas Zeit, um zusätzliche Mitstreiter zu gewinnen, um sich zu organisieren und um Strukturen aufzubauen, die es erlauben w ürden, auch außerhalb Ostberlins und Sachsens exekutive Verantwortung zu übernehmen. Mit Machtabstinenz hatte das nichts zu tun. Zugleich war der Runde Tisch „ der Platz der A nerkennung durch die Etablierten“. 88 Das war weder selbstverständlich noch – des U mstands eingedenk, daß jene noch über die Macht verfügten – zu vernachlässigen. Die Bürgerrechtsorganisationen wollten vor freien Wahlen die Macht nicht selbst übernehmen. Mit den „Etablierten“ – ein Begriff, den Reinhard Schult (Neues Forum) bei der ersten Sitzung gebrauchte – sollte vielm ehr öffentlich über die Regularien des Machtwechsels gestritten werden. Solch klärender Streit wurde freilich dadurch erschwert, daß sich die Fronten fast von Anfang an stärker verwischten, als das etw a in Polen oder auch in U ngarn der Fall gew esen war: Die ehemaligen Blockparteien distanzierten sich von der SED, und die vormals „führende Partei“ wurde nur durch Sprecher des Reformflügels vertreten. 89 D er klar konturierte G egner w ar abhanden gekommen. Um die Macht konnte nicht gestritten und gefeilscht werden, weil ihre Besitzer bereits insofern resignier t hatten, als sie bereit w aren, sich der Einführung neuer Mechanism en des Machterwerbs zu fügen. Alle Beteiligten hatten die polnische Lektion bereits gelernt. Die Bürgerrechtsorganisationen strebten kein unverbindliches Beratungsgremium an, sondern waren gewillt, tatsächliche Kontrolle und in bestim mten Fragen auch ein Vetorecht einzufordern. Dam it traten sie faktisch in Konkurrenz zur Volkskammer, dem Scheinparlament, in dem die Repräsen86 Treffen der Kontaktgruppe am 3. 11.1989; vgl. Gutzeit: Der Weg in die Opposition (1993), S. 109. 87 Gutzeit: Der Weg in die Opposition (1993), S. 111. 88 Rein: Die protestantische Revolution (1990), S. 310. 89 Überpointiert haben Thaysen und Kloth diesen Sachverhalt interpretiert. Sie stellen zutreffend fest, daß die Regierung ursprünglich am Runden Tisch nicht präsent war, ignorieren aber, daß die Regierungsparteien sehr wohl vertreten waren. Thaysen u. Kloth: Der Runde Tisch und die Entmachtung der SED (1995), S. 1717.

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tanten der Gegenseite alle als Fr aktionen – m it wachsendem Profilierungsbedürfnis – vertreten waren. Es kam darüber bald zu einem Konflikt mit den Etablierten. Bereits in diese Richtung ging ein Beschluß „zur Rechtsstaatlichkeit“, der auf der 1. Sitzung verabschiedet w urde. D arin wurde zur Staatssicherheit erklärt: „1.4. Di e R egierung der DDR wi rd aufgefordert, einen sofortigen Maßnahmeplan öffentlich bekanntzugeben, wie durch Sicherungskräfte des Ministeriums des Inneren alle Dienststellen des Amtes für Nationale Sicherheit auf allen Ebenen u nter Ko ntrolle g estellt werd en, d amit k eine Vernichtung von Dokum enten bzw. B eweismaterial erfol gen kann und Mißbrauch ausgeschlossen wird. 2. Die Regierung der DDR wi rd aufgefordert , das Am t für Nat ionale Si cherheit unter ziviler Kontrolle aufzulösen und di e berufliche Eingliederung der ausscheidenden Mitarbeiter zu gewährleisten. Über die Gewährleistung der eventuell notwendigen Dienste im Sicherheitsbereich soll die Regierung die Öffentlichkeit informieren.“ 90

Der Beschluß erging einstimmig. 91 Das bedeutet, daß auch die (ehemaligen) inoffiziellen Mitarbeiter dafür votiert haben. Wahrscheinlich existierte keine auf höherer Ebene abgestim mte A nleitung zum Stim mverhalten jener IM, die noch – hier stim mt der Begriff: inform ell – an der Leine eines Führungsoffiziers hingen. D a inoffizielle Mitarbeiter einander nicht kannten, war es für die betreffenden IM naheliegend, um gerade in diesem Punkt nicht aufzufallen, mit der sich abzeichnenden Mehrheit zu stimmen. Beide Seiten – alte und neue K räfte – w aren sich in der aktuellen Situation einig, daß nach den Ereignissen der vorangegangenen Tage Entscheidungen in bezug auf die Staatssicherheit überfällig waren, wenn die Lage nicht eskalieren sollte. 92 Für die Mitarbeiter der Staatssicherheit muß besonders schockierend gew esen sein, daß die beiden SED -Vertreter, Gregor Gysi und Wolfgang Berghofer, ebenfalls für die Auflösung ihrer Institution votiert hatten. Gysi wiederholte am nächsten Tag als neuer SED-PDS-Vorsitzender diese Forderung in seiner Rede vor dem außerordentlichen Parteitag mit Verweis auf die „ starke Diskreditierung des Amtes“. 93 Was auch immer die Motive gewesen sind – eine durch ihre Partei garantierte Perspektive für die Mitarbeiter der Staatssicherheit war nun nicht mehr erkennbar.

90 Dokumentiert in: Herles u. Rose (Hrsg. ): Vom Runden Tisch zum Parlament (1990), S. 25 f. 91 Vgl. Karl-Heinz Baum: Tischgespräche mit Blockflöten und SED, in: Frankfurter Rundschau 9.12.1989. 92 Vgl. Thaysen u. Kloth: Der Runde Ti sch und die Entmachtung der SED (1995), S. 1731– 1733. 93 G. Gysis Referat in: Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS (1990), S. 13–28, hier 27.

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11.4 Modrows Entscheidung zur Auflösung des AfNS Die Leitung des AfNS tagte in neuer Besetzung am 7. Dezember. 94 Schwanitz gab bekannt, daß Engelhardt künftig „ für Maßnahmen im Amt“ zuständig sei. Dann schilderte er die Lage in dramatischen Worten: „Kräfte“ des Neuen Forums würden fordern, Mitarbeiter des AfNS zu „internieren“. (Dabei handelt es sich um eine für „ tschekistische“ D enkmuster charakteristische Projektion. 95 ) Er behauptete, die „ Regie bei den militanten Kräften klappt“, m an m üsse sogar sagen: D ie „Konterrevolution formiert sich“. In der Staatssicherheit dagegen bekäme m an „ keine Inform ationen“, und die „bewaffnete[n] Kräfte“ befänden sich „ in der Zersetzung“ . Es folgte eine bittere Klage über die abwartende Haltung der ehemaligen Kooperationspartner: „Trugschluß anderer bew affneter Kräfte! Die Angriffe werden sich später auch gegen sie wenden.“ Im Anschluß an diese düstere Diagnose wurden Überlegungen angestellt, was zu tun sei. Schwanitz erteilte den Auftrag, „ Kontakt zwischen Gen. GL [Generalleutnant] G roßmann und G en. N owikow“ herzustellen, um „ evtl. Hilfe der Freunde zum Schutz der Mitarbeiter“ in Anspruch zu nehmen. Das ist eine sehr interessante Protokollpassage, weil die „ Freunde“ in den Unterlagen sonst fast nie erwähnt werden. General Anatolij Grigorjewitsch Nowikow war der Leiter der KGB-Residentur in Berlin-Karlshorst. Gem einsam m it ihm gelte es, „ Möglichkeiten der Evakuierung bedrohter Mitarbeiter/Familien [zu] prüfen“. Beim KGB w ar m an allerdings m it anderen D ingen beschäftigt, als der – völlig überflüssigen – Evakuierung von MfS-Fam ilien. 96 Nowikows Stellvertreter Kusm in beri chtete später, Anfang Dezem ber sei von der Moskauer K GB-Zentrale angeordnet w orden, „innerhalb einer Woche alle Unterlagen mit Operativ- und Informationsmaterial nach Moskau zu schicken. Alles übrige müsse an O rt und Stelle vernichtet w erden. Das ge94 Anwesend waren aus der neuen Amtsspitze: Sc hwanitz (zeitweise), Engelhardt, Niebling, Großmann, Möller und Schwager; außerdem Karl Bausch (neuer Leiter der ZAIG), Udo Lemme (Leiter der R echtsstelle), Günter Schmidt (stellvertretender Leiter der H A Kader und Schulung und Leiter der Kaderkommission) und Oberstleutnant Stünzner, der inzwischen für Öffentlichkeitsarbeit zuständig wa r. Dazu und zum folgenden: „Festlegungsprotokoll über die Leitungsberatung am 7.12.1989“; BStU, ZA, SdM 2289, Bl. 160–164. 95 Der einzige Beleg für eine solche Forderung ist ein an die „ Berliner Zeitung“ geschicktes Flugblatt eines wahrscheinlich rechtsextremis tischen Einzeltäters, der unter dem Signum einer Gruppe „ Zur nationalen Erneuerung“ forderte, alle Stasi-Mitarbeiter in Internier ungslager zu sperren. Eine genaue Datierung ist nicht möglich (vgl. Informationszentrum des Sekretariats Halbritter: „ Einschätzung der Lage in den Bezirken am 12.12.1989“; BStU, ZA, SdM, Bl. 56). Von der Staatssicherheit Be rlin wurde berichtet, zu einer solchen Gruppe lägen „keine Erkenntnisse“ vor; vgl. Lagezentrum des AfNS: Lagefilm Nr. 347/89 vom 13.12.1989; BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 66–85, hier 82. 96 Ein Jahr später war Nowikow jedoch Markus Wolf behilflich, der vor der bundesdeutschen Strafjustiz zeitweilig in die Sow jetunion auswich. Vgl. Wolf: Spionagechef im geheimen Krieg (1997), S. 446.

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schah auf einem unserer Truppenübungsplätze mit Hilfe eines Flammenwerfers.“ 97 Als Schwanitz die Sitzung der A fNS-Leitungsspitze verlassen hatte – er mußte zum Ministerrat – w urde über „ zwei Alternativen für das weitere Vorgehen“ nachgedacht: entweder die Tätigkeit der Bezirks- und K reisämter einzustellen und ihre Bew achung der Volkspolizei zu überlassen – das wäre die endgültige Kapitulation gewesen – oder, als zweite Möglichkeit, die „Aufstellung von (bewaffneten) Selbstschutzkräften in den Diensteinheiten/Objekten“, deren Aufgabe der „Schutz der Angehörigen und Quellen“ wäre. Offenbar hielt m an diese durchaus defensive Variante, die freilich von einer m aßlosen Ü berschätzung des G ewaltpotentials der Gegenseite ausging, für die bessere Lösung, denn beschlossen w urde: „Mit der Zusammenstellung von Selbstschutzkräften ist bereits zu beginnen.“ Man wollte in den Regionen noch nicht aufgeben. Die Leitung des A fNS trat an diesem Tag noch ein zw eites Mal zusammen, nachdem Schw anitz zurückgekehrt w ar. A nwesend war diesmal nur die engere Führung. 98 Schw anitz berichtete aus dem Ministerrat über die Entsendung der Regierungsbeauftragten. Schon w ährend der Ministerratssitzung hatte er sich notiert und dur ch Einrahm ung hervorgehoben: „ Ausweise OibE MR [Ministerrat] sofort einziehen – volle Konsp[iration]!“ 99 Nun wurde Kaderchef Möller angewiesen: „Die Ausweise der OibE im Ministerrat sind unverzüglich einzuziehen und es ist zu gew ährleisten, daß sie volle K onspiration gew ährleisten.“ 100 Wahrscheinlich w aren dam it jene MfS-Offiziere im besonderen Einsatz gemeint, die im Sekretariat Möbis beschäftigt waren und die man als „ Regierungsbeauftragte“ in die Bezirke geschickt hatte. Volle Konspiration sollte auch für die Akten zu den inoffiziellen Mitarbeitern gelten: „Einsichtnahme in IM-Akten durch die Öffentlichkeit (Anfrage Gen. Mittag [Leiter des B ezirksamtes in Rostock]) – gemeinsamer Standpunkt: Einsichtnahme ist auf jeden Fall zu unterbinden, da Auswirkungen für das inoffizielle Netz verheerend. Schußwaffenanwendung zur Verhinderung einer Einsichtnahme ist nicht zulässig. Lediglich körperlicher Einsatz ist zulässig.“ 101

Da Modrow die AfNS-Spitze für den nächsten Tag zu sich bestellt hatte, machte man sich außerdem Gedanken darüber, w elche Forderungen vorzu97 Kusmin: Da wußten auch die fähigsten Tschekisten nicht weiter (1994). 98 Außer Schwanitz: Großmann, Möller, E ngelhardt, Braun und Schwager. „Beratungsprotokoll der Leitung des Amtes für Nationale Sicherheit vom 7.12.1989“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 76–80. 99 Notizen von Schwanitz von der Sitzung des Ministerrats am 7.12.1989; BStU, ZA, SdM 1992, Bl. 74–78, hier 76. 100 „Beratungsprotokoll der Leitung des Amtes für Nationale Sicherheit vom 7.12.1989“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 78. 101 Ebenda, Bl. 79.

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tragen w ären. D en G enerälen ging es vor allem darum, die Autorität des Ministerratsvorsitzenden zu nutzen, um die „ Kampfgemeinschaft“ von NVA, Volkspolizei und Staatssicherheit wiederherzustellen: „Genosse Modrow sollte aufgefordert werden zu betonen, daß drei bewaffnete Organe g emeinsam d en Au ftrag h aben, d ie staatlich e Sich erheit zu g ewährleisten und di e Arbeitsfähigkeit der Regierungsstellen wieder herzustellen. Das Amt für Nat ionale Sicherheit handelt im Regierungsauftrag. Daraus lassen sich die Rechtspositionen seiner Mitarbeiter bestimmen. Evtl. über die Presse Kommuniqué vorbereiten.“ 102

Die Hoffnung der Stasi-G eneräle, sie könnten Modrow bei dieser Gelegenheit einspannen, um ihre w achsende Isolation zu überwinden, wurde arg enttäuscht. Schw anitz berichtete anschließend, er sei zu Modrow gerufen worden und es sei „ ohne Diskussion [die] Auflösung [des AfNS] gefordert“ worden. 103 Ein „ Verfassungsschutz“ und ein „Nachrichtendienst“ würden die Nachfolge des AfNS antreten. 104 Diesmal ging es nicht nur um einen Etikettenwechsel, wie daran ablesbar war, daß bereits feststand: „Es werden keine jetzigen Führungskräfte übernom men.“ 105 Die noch am Vortag abgelehnte Sicherung der D ienstobjekte durch die Volkspolizei schien nun beschlossene Sache, w obei sogar dam it zu rechnen sei, daß sie „eventuell unter Mitwirkung von Vertretern der Bürgerrechtsbewegungen erfolgen“ werde. 106 Der Ministerratsvorsitzende hat m it seiner Entscheidung auf den Auflösungsbeschluß des Runden Tisches reagiert. Es hat ihn wohl weniger dieses Gremium beeindruckt, dessen Bedeutung er seinerzeit unterschätzte, als der Umstand, daß die Repräsentanten der SED und auch die aller anderen in der Regierung vertretenen Parteien der Forderung zugestimmt hatten. Die Art und Weise, in der er dem AfNS-Chef seinen Sinnesw andel mitteilte, zeigt, daß sich die Atm osphäre zwischen Regierungschef und Staatssicherheit m erklich abgekühlt hatte. D abei m ag aktuelle Verärgerung darüber eine Rolle gespielt haben, daß er bzw. Halbritter sich von Schwanitz über seinen V ertreter Zeiseweis hatten verleiten lassen, die Erlaubnis zu erneuter Aktenvernichtung zu erteilen, und dam it eine politische Dummheit mehr begangen worden war. Differenzen zwischen beiden waren aber schon früher, in der V olkskam102 Ebenda, Bl. 76–80, hier 80. 103 Vgl. Notizen über die Rede von Schwanitz auf der Dienstberatung am 15.12.1989, in: Arbeitsbuch von Oberst Rolf Spange; BStU, ZA, HA VII 1360, Bl. 77. 104 V gl. „Entscheidungen zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit“ vom 8.12.1989, handschriftl. „12.00“; BStU, ZA, ZAIG 14279, Bl. 62 f. 105 „Beratung Niebling“; handschriftl.; undatiert , wahrscheinlich vom 8.12.1989; BStU, ZA, ZAIG 14279, Bl. 64 f. 106 „Hinweise für die Dienstbesprechung am 8.12.1989, 17.00 Uhr“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 70.

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mersitzung am 1. Dezember, sichtbar geworden. Schwanitz hatte dort in einer gewundenen Erklärung eingeräumt, „daß die Arbeit [des MfS] von Jahr zu Jahr unzulässig breit angelegt wurde, so daß für die Bevölkerung einfach der Eindruck entstehen m ußte: Die Stasi überwacht das Volk.“ 107 Modrow konterte: „ Zum Wirken der staatlichen Sicherheitsorgane ist gesprochen worden. U nd gew iß ist das Wort, es bestand, es ergab sich der Eindruck, nicht sehr exakt gewählt. Es gab schon, und das war eine Situation, wo viele Menschen es so empfunden haben.“ 108 Das war eine in diplomatischer Form verpackte, aber dennoch deutliche Distanzierung. Als Modrow am 8. Dezember dekretierte, daß das Am t für Nationale Sicherheit aufzulösen sei, geschah das m it Einschränkungen, auf die zurückzukommen sein w ird. Doch er hatte noch vor dem Treffen mit Schwanitz erste praktische Konsequenzen aus seiner Umorientierung gezogen. Das geht aus einem Telegram m hervor, das Halbritter an die Regierungsbeauftragten schickte. Es ging dabei um die am Vortag angewiesenen Modalitäten bei der A ktenvernichtung. 109 In dem Entwurf einer näheren Erläuterung hieß es nun: „,Unverzüglich vernichten‘ heißt, sich von ni cht archivierungswürdigen Dokumenten zu t rennen, ohne ei ne Auswert ung zu beei nträchtigen. Di e Entscheidung über Zei tpunkt und Umfang der Verni chtung bzw. Archi vierung ist eig enverantwortlich in d en Bezirk en im Einvernehmen zwischen den b[et]eiligten Staats- und Rechtspflegeorganen und den Vertretern der Öffentlichkeit zu treffen.“ 110

Auf diesem Entwurf war in großen Lettern handschriftlich verm erkt: „nicht bestätigt“. Ein neuer Entwurf war fällig. Schließlich gab Halbritter, nun „mit Billigung des Vorsitzenden des Ministerrates“, die Anweisung: „Die im Fernschreiben vom 7.12.1989, Pkt. 2 Abs. 3 get roffene Festlegung [der letzte, auf die Aktenvernichtung bezogene Absatz] wird außer Kraft gesetzt. Es gilt das Prinzip, das Material sicherzustellen und bei Notwendigkeit zu archivieren.“ 111 107 13. Tagung am 1.12.1989, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 350. 108 Ebenda, S. 352. 109 Zur Erinnerung – in dem Fernschreiben war erklärt worden: „ Die Regierung beauftragt den Leiter des Amtes für Nationale Sicherhe it, die unberechtigt angelegten Dokumente unverzüglich zu vernichten.“ Fernschreiben de s Ministerrates an die Beauftragten vom 7.12.1989; BStU, ZA, Rechtsstelle 693, Bl. 9 f. 110 „Fernschreiben an die Beauftragten des Vo rsitzenden des Ministerrates“, o. D.; BA Berlin, DC 20 11348. 111 F ernschreiben von Staatssekretär Halbritter an die Regierungsbeauftragten vom 8. 12.1989; BStU, ZA, SdM 1992, Bl. 7. Das Blitztelegramm ist in Cottbus um 11. 45 Uhr eingetroffen; das Treffen Modrow–Schwanitz fand um 12.00 Uhr statt. Vgl. „Meldung des Genossen E. Neubert aus Cottbus, 08.12.1989, 17.10 Uhr“; BA Berlin, DC 20 11348.

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Diese A nweisung ist nicht überall befolgt w orden. Was aber w aren die Prämissen und der Sinn solch w idersprüchlicher Vorgaben? Zuallererst w aren sie A usdruck eines Wirrw arrs von Kompetenzen und Optionen im Machtgefüge. D ie A nnahme, Modrow selbst habe alle Fäden gezogen, er sei, w ie behauptet w orden ist, ein „ Meister des geordneten Rückzugs“ 112 gewesen, bedeutet, seine politischen Fähigkeiten zu überschätzen. Von ihm kamen lange keine eindeutigen V orgaben, und sein zuständiger Staatssekretär machte eine ausgesprochen schwache Figur. Und die Führung der Staatssicherheit befand sich in einem unlösbaren Zielkonflikt: Sie fürchtete, daß eine Offenlegung der A kten das inoffizielle N etz zerstören w ürde. Mehr noch – wie der Leiter der ZAIG, Generalleutnant Irm ler, Anfang Dezember in einem Telegramm an die Leiter der Bezirksäm ter schrieb: Eine „ restlose Offenlegung aller Materialien würde konkrete Mittel und Methoden [der] Arbeit enttarnen“ und dam it den „ Lebensnerv des G eheimdienstes treffen“. Dadurch würden künftige Aktionsmöglichkeiten drastisch eingeschränkt. Es handelte sich bei Irm lers Schreiben nicht etwa um eine interne Warnung, sondern um eine „Argumentation“, die bestim mt w ar „ zur U nterstützung [des] öffentlichen Auftretens“ von Stasi-Offizieren in den Bezirken hinsichtlich der „ Vernichtung von Unterlagen des ehem aligen AfNS“ . 113 Das bedeutet, daß der Autor – und wohl nicht nur er – des Glaubens war, es gäbe an solchen Diensten ein gem einsames Interesse, an das appelliert werden könne. Wie niemand besser wußte als die Mitarbeiter dieser Institution, waren die Akten Werkzeuge innerer Repression. Sie aufzubew ahren bedeutete, die Instrumente verfügbar zu halten und damit die Glaubwürdigkeit des eigenen „Wandels“ zu gefährden. A ndererseits hatten die Ereignisse am 4. und 5. Dezember gezeigt, daß neuerlich bekannt werdende Vernichtungsaktionen zu einer weiteren Welle von Protestaktionen und Besetzungen führen könnten. Nach wie vor ein schier ausw egloses D ilemma. D ie Lösung bestand aus Sicht der Leitung des A fNS und w ohl auch von Staatssekretär Halbritter darin, die Zustimmung der Bürgerrechtsorganisationen und m öglichst des zentralen Runden Tisches für eine öffentliche Vernichtungsaktion zu gewinnen. Das war ein Fortschritt, geradezu das Zeugnis eines Lernprozesses, verglichen mit der Scheinlösung, die Schwanitz zwei Wochen zuvor proklamiert hatte: Statt m öglichst „unauffällig“ zu agieren, 114 sollte öffentlicher Konsens gesucht werden. Auch w ar diese V orstellung dam als nicht ganz abwegig, denn eine einheitliche Position zum Umgang mit den Akten hatte sich in der Bürgerrechtsbewegung noch nicht herausgebildet. 115 112 Thaysen: Rückzug, Verschleierung – und Rückkehr? (1994), S. 147. 113 Fernschreiben von Irmler an die Leiter de r Bezirksämter vom 4.12.1989; Chiffriernummer cfs 449; BStU, ASt Berlin, Karton A 1189. 114 So Schwanitz auf der Dienstbesprechung am 21.11.1989. 115 Vgl. Gill u. Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit (1991), S. 187.

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Die nächste Auseinandersetzung zwischen der politischen Führung und jener der Staatssicherheit gab es am 9. Dezember. Zur Vorgeschichte: Die Bürgeraktionen hatten sich vor allem gegen die Kreisämter für Staatssicherheit gerichtet, die schon seit Ende Oktober vorrangige Ziele von Demonstrationen gew orden w aren. D eshalb w ar in der „ Konzeption“ zur Reform des AfNS, die Schwanitz Ende November Modrow vorgelegt hatte, angekündigt worden, „ alle Kreisäm ter“ für Staatssicherheit würden aufgelöst. Das war nicht die volle Wahrheit, denn Schw anitz plante, die „agenturische Arbeit“ auch auf K reisebene in konspirativer Form fortzusetzen, und hatte sich mit der Auflösung der Kreisämter nicht sonderlich beeilt. Allerdings war für das Gespräch m it Modrow am 8. Dezember geplant gewesen, beim Ministerratsvorsitzenden die „ Zustimmung für [die] Auflösung der Kreisämter ein[zu]holen“ 116 . Dazu war es nicht gekommen. Modrow aber war der Meinung, er hätte m it seiner Zustim mung zu der „ Konzeption“ Entsprechendes bereits angewiesen. Im Machtapparat kam es erneut zum Konflikt. Staatssekretär Halbritter fertigte eine Notiz: „ Es w ird sichtbar, daß in D urchsetzung der Entscheidung des V orsitzenden des Ministerrates zur Auflösung der Kreisämter durch den Leiter des A mtes für N ationale Sicherheit keine konkreten Weisungen herausgegeben wurden.“ Er habe darüber m it dem Stasi-Chef gesprochen: „ Auf diese V ersäumnisse habe ich am 9.12.1989 Genossen Schwanitz hingewiesen und ihn dringend ersucht, eindeutige Weisungen zu diesen und anderen m it der Auflösung der Kreisämter zusammenhängenden Fragen zu erlassen.“ 117 Nun kam Schw anitz tatsächlich in Bew egung. N och am gleichen Tag schickte er ein Fernschreiben m it der D ringlichkeitsstufe „ Sturm“ an die Bezirksämter: „ Aufgrund der sich entw ickelnden Lage duldet die von m ir am 3.12.1989 angew iesene Auflösung der K reisämter für N ationale Sicherheit keinen weiteren Aufschub mehr.“ Alle Mitarbeiter in den K reisämtern seien mit sofortiger Wirkung zu beurlauben und die D ienstobjekte selbst bis zum 12. Dezember endgültig zu schließen. 118 Für Halbritter war es eine Ausnahm e, daß er sich mit der Stasi-Spitze angelegt hat. Es gibt sogar A nzeichen dafür, daß er – wahrscheinlich beeinflußt durch seinen Verbindungsmann zur Stasi-Spitze, vielleicht auch durch 116 „Beratungsprotokoll der Leitung des Amtes für Nationale Sicherheit vom 7.12.1989“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 76–80, hier 80. 117 Notiz von Halbritter, handschriftl.: „11.12.“; BA Berlin, DC 20 11348. 118 Die Dringlichkeitsstufe war bürokratisch-fein sinnig gewählt. Schwanitz, der in seiner Kopie der Halbritter-Notiz das Wort „ Entscheidung“ unterstrichen und am Rande mit einem Fragezeichen versehen hat, bedient sich mit Sturm eines Codewortes, das gemäß der „Ordnung [für] Dringlichkeitsstufen“ signalisiert e, daß es sich um eine Nachfolgemeldung für eine andere Meldung (die gar nicht erfolgt war) der höchsten Dringlichkeitsstufe Luft handelte; vgl. Der Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit: Telegramm an alle Bezirksämter für Nationale Sicherheit vom 9. 12.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 95 f.; Notiz von Halbritter; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 153 f.

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seinen Kollegen Möbis – ein eigenes Spiel betrieben hat. D enn der Staatssekretär schickte in Sachen Aktenvernichtung am 12. Dezember ein weiteres Fernschreiben an die Regierungsbeauftragten, und diesm al berief er sich nicht auf die Zustim mung des Regierungs chefs. Im alten Stil forderte er: „Vernichten desjenigen Schriftgutes, das im Ergebnis des unberechtigten Sammelns von Inform ationen über Bürger angelegt [worden] war. Vollzug dieser Maßnahme im Konsens m it den Vertretern der Bürgerinitiativen.“ Zugleich gelte es, „alle Hinweise auf Quellen zu vernichten“ . 119 Erneut gab es Widerspruch aus den Bezirken. So wurde aus Suhl gemeldet: „Militärstaatsanwalt lehnt die durch FS [Fernschreiben] des Gen. Halbritter angewiesene V ernichtung operativen Schriftgutes m it der Begründung der Beweissicherung ab.“ 120 Andernorts w urden bereits Stasi-Offiziere aus dem gleichen Grund verhaftet. 121 Auch die letzte Vorgabe des Staatssekretärs hatte nicht lange Bestand. In einem am folgenden Tag entstandenen Entw urf zu einer Rede des A fNSChefs auf einer Beratung m it den V orsitzenden der Räte der Bezirke w urde ein Fernschreiben Halbritters erwähnt 122 und beispielhaft darauf hingew iesen, daß es in Dresden Ansätze gebe, sich mit dem Bürgerkomitee auf selektive Vernichtung zu einigen. Warnend w urde hinzugefügt: „ Einzelaktionen in einem Bezirk können jedoch zu schw eren Folgen in anderen BA [Bezirksämtern] führen (evtl. Sturm auf die Ämter).“ Es gehe jetzt um die Wahrung des „Geheimnisschutz[es] mit aller Konsequenz“, um die „zuverlässige Sicherung des Schriftgutes bis zur H erbeiführung einheitlicher zentraler Regelung (unter Einbeziehung der Staatlichen Archivverwaltung)“ und um die „Suche nach für alle Beteiligten akzeptablen Regelungen“. 123

119 Fernschreiben von Staatssekretär Halbr itter an die Regierungsbeauftragten vom 12.12.1989; BStU, ZA, Mittig 79, Bl. 121. 120 Lagezentrum des AfNS: „ Berichterstattung zur angewiesenen Auflösung der Kreisämter des AfNS“ vom 13.12.1989; BStU, SdM 2249, Bl. 138–142, hier 138. 121 I n Brandenburg ermittelte die Volkspolizei „ wegen Verdachts der Aktenverbringung [sic!]“ auf eine Anzeige des Neuen Forums hin „ gegen Unbekannt“, in Neuruppin gegen zwei Mitarbeiter des Kreisamtes; vgl. Zentrale r Operativstab: Lagebericht vom 8.12.1989; BStU, ZA, HA VIII 1672, Bl. 258–261. – Gegen den Leiter des KAfNS Ueckermünde wurde durch den Militärstaatsanwalt „Strafantrag wegen Aktenvernichtung gestellt“; vgl. Lagezentrum des AfNS: „ Bericht im Zusammenhang mit der Auflösung der Kreisämter“ vom 11.12.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 79–83, hier 82. – Gegen den stellvertretenden Leiter des BAfNS Schwerin, Oberstleutnant Reinel, wurde am 14.12.1989 „ein Ermittlungsverfahren mit Haft wegen Verdacht der Urkunden- und Aktenvernichtung“ eingeleitet; Lagezentrum des AfNS: „Bericht über die Lage in den Bezirksämtern für Nationale Sicherheit sowie im Zusammenhang mit der Auflösung der Kreisämter für Nationale Sicherheit“ vom 15.12.1989; BStU, ZA, SdM 2240, Bl. 147 f. 122 Es ist nicht eindeutig, welches Fernschreiben mit dem folgenden Satz gemeint ist: „ Auf FS Gen. Halbritter hinweisen (Festlegungen unt er Mitarbeit Gen. Zeiseweis liegen bei GM [Generalmajor] Braun)“. „ Disposition für die Ausführungen des Leiters des AfNS auf der Beratung mit den Vorsitzenden der Räte der Bezirke im Ministerrat am 14.12.1989“ vom 13.12.1989; BStU, ZA, SdM 2240, Bl. 62–69, hier 68. 123 Ebenda.

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Um eine „zentrale Regelung“ ging es auch auf einer Sitzung der Spitze des AfNS. 124 Für Modrow sollte eine Vorlage erarbeitet werden, in der die „Brisanz der durch das Am t zu vernichtenden Materialien“ herausgestellt und die Forderung begründet w urde, für eine „Vernichtung der Unterlagen und Löschung der Speicher“ die notwendige „ rechtliche Sanktionierung“ in die Wege zu leiten. Die Stasi-Generäle wollten eine Rechtsgrundlage haben. Um das Vorhaben politisch abzusichern, sollte versucht werden, auf die Vertreter der Regierung und die SED -Mitglieder am Runden Tisch einzuwirken, um ihre „ Unterstützung“ zu gewinnen. Außerdem sollte Oberst Wiegand beauftragt werden, „ in gleicher Weise auf Vertreter der SDP [ Sozialdemokratische Partei] Einfluß zu nehmen“. Ein „Vorschlag zur kontrollierten Bereinigung des Aktenbestandes“ , mit dem Generalmajor Niebling beauftragt worden war, wurde tatsächlich erarbeitet. 125 Das Papier basierte auf zwei Pr ämissen: Erstens „ läßt die Weiterführung bestimmter geheimdienstlicher Tätigkeit im Bereich Spionage- und Terrorabwehr sowie Verfassungsschutz die generelle Vernichtung abgelegten Materials nicht zu. D agegen sprechen auch Ü berlegungen, die mit der Aufklärung der Tätigkeit des MfS bzw. A[f]NS zusammenhängen oder historische Zusammenhänge berühren.“ D amit w urde – in diesem K ontext unerwartet – die Bedeutung der A kten für die historische Forschung erwähnt. Auf den Hintergrund w ird gleich zurückzukom men sein. Zw eitens sei „vom absoluten Quellenschutz auszugehen“. Anschließend an diese Prämissen wurden zwei „Lösungsvarianten“ erörtert. Die eine Möglichkeit wäre: „ Das gesam te Archivgut [...] wird einschließlich der G ebäude und A nlagen dem Zentralen Staatsarchiv übergeben.“ Dabei müßte für Unterlagen, die Rückschluß auf die „ Quellen“ erlauben, eine „Sperrfrist 50 Jahre“ wie in den USA verhängt werden. 126 Die zw eite V ariante bestand darin, die Unterlagen auseinanderzusortieren und die „Akten zu Quellen [...] kontrolliert zu vernichten“ . Auch diese Variante wurde an eine überraschende Kondition gebunden: „Allerdings müßte hier einschränkend ein Modus gefunden werden – R ücksprache mit ablegender Diensteinheit oder der Unt ersuchungsabteilung, Mitsprache des Militärstaatsanwaltes –, der die Aufbewahrung der zur grund-

124 „Festlegungsprotokoll zur Beratung der Leitung des AfNS am 13.11. [sic!] 1989“ vom 13.12.1989; BStU, ZA, SdM 2289, Bl. 169–172. 125 „Vorschlag zur kontrollierten Bereinigung des Aktenbestandes“, wahrscheinlich vom 13.12.1989; BStU, ZA, MfS/AfNS in Auflösung Nr. 8, Bl. 89–91. Datierung nach einem an Generalmajor Niebling adressierten Komme ntar zu diesem Papier vom 13.12.1989; ebenda, Bl. 92–95. 126 In einem Kommentar zu diesem Papier wi rd eingewandt: „ Solche Bedenken, daß eine veränderte Regierung auch Zugriffszeiten verändern kann, können nicht ausgeräumt werden.“ Schreiben o. A. an Niebling vom 13.12.1989; BStU, ZA, MfS/AfNS in Auflösung Nr. 8, Bl. 92.

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sätzlichen historischen Aufklärung der Tätigkeit des MfS und des Am tes benötigten Unterlagen gewährleistet.“ 127

Aufzubewahren seien unter anderem A kten der G eneralstaatsanwaltschaft und Gerichtsakten (nicht aber die MfS-Akten zu Untersuchungsvorgängen), Befehle des Ministers und NS-Akten. Da bis dahin das Stasi-interne Interesse an der „historischen Aufklärung der Tätigkeit des MfS“ – vorsichtig gesagt – nicht überm äßig groß gew esen war, steht zu vermuten, daß solche Überlegungen einem anderen Motiv geschuldet waren. Man wollte damit Forderungen der Bürgerbew egung und inzw ischen auch der Staatsanwaltschaft entgegenkommen. Das zeigt, daß m an an einer V erhandlungslösung des Aktenproblems aus politischen Gründen tatsächlich interessiert war. Außerdem deutet es darauf hin, daß das H andeln der Spitze des A fNS durchaus regelgebunden war. Besonders plastisch wird die zune hmende Bindungskraft nicht m ehr nur Stasi-interner, sondern gesamtstaatlicher Normen in einem Briefwechsel zur Aktenvernichtung aus diesen Tagen. D ie D irektorin des Zentralen Staatsarchivs der DDR, Frau Oberarchiv rat Brachm ann-Teubner, warnte am 8. Dezember in einem Schreiben an Schwanitz vor einer „Politik der Reißwölfe“ und forderte den „ Schutz der Quellengrundlagen für Ermittlungen und Recherchen jeglicher A rt für die spätere D arstellung der tatsächlichen Geschichte der D DR“. Sie m ahnte: „Die Einhaltung der dafür vorhandenen Rechtsvorschriften ist eine Forder ung, der von allen Staatsfunktionären nachzukommen ist. Insbesondere sind alle ungesetzlichen A ktenvernichtungen zu unterbinden.“ 128 D ie A ntwort darauf w urde noch von Schw anitz entworfen. 129 Auf „ Ihr sorgenvolles Schreiben“ teilte er der „werten Frau Brachmann-Teubner“ m it, sie solle sich nicht beunruhigen, denn er habe dem Ministerpräsidenten bereits „vorgeschlagen, die Archive des MfS bzw . des A mtes dem Zentralen Staatsarchiv zu übergeben“ . D ann folgte eine dreiste Behauptung: „Eine ‚Politik der Reißwölfe‘ hat es nicht gegeben und wird es nicht geben.“ Vor allem hinsichtlich der vorangegangenen Wochen war das eine Lüge. Sie wird durch tausende Säcke m it Beweismitteln widerlegt, die in der ehemaligen Zentrale der Staatssicherheit liegen: zerrissenes Material vor allem aus der A mtszeit von Wolfgang Schw anitz. 130 Trotzdem werden in diesem Briefwechsel Ansätze sichtbar, rechtlic he Normen wie etwa die Archivord127 „Vorschlag zur kontrollierten Bereinigung des Aktenbestandes“, Bl. 90. 128 Schreiben des Direktors des Zentralen Staatsarchivs, Frau Oberarchivrat E. BrachmannTeubner, an den Leiter des AfNS vom 8.12.1989; BA Berlin, DC 1/MdI/22 2682, Bl. 164–166. 129 Der Leiter des AfNS an den Direktor des Ze ntralen Staatsarchivs, o. D., handschriftlich, gez. Schwanitz; BStU, ZA, Rechtsstelle 760, Bl. 27–29; Reinschrift ohne Unterschrift vom 18.12.1989; ebenda, Bl. 1 f. 130 Vgl. Dritter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten (1997), S. 116.

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nung durchzusetzen, und sie wurden nicht einfach zurückgew iesen. Wenige Monate zuvor hätte die A rchivdirektorin gew iß keinen solchen Brief geschrieben. Wäre sie so verm essen gewesen, dann hätte sie das zum indest ihren Posten gekostet. Freilich war es noch eine Zeit des Übergangs, in der jedoch zunehmend damit gerechnet w erden mußte, für N ormverstöße strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Widerworte aus der Staatssicherheit Für die nachgeordneten Mitarbeiter der Staatssicherheit bedeuteten der Beschluß des Runden Tisches, aber auch Modrow s Entscheidung zur A uflösung des A fNS und der Befehl von Schwanitz, die Kreisämter sofort zu schließen, eine ebenso überraschende w ie radikale V erdüsterung ihrer Zukunftsperspektive. Die Zustim mung der V ertreter ihrer eigenen Partei, der SED, am Runden Tisch setzte dem die K rone auf. Bisher w aren sie davon ausgegangen, daß die Staatssicherheit in irgendeiner Form weiterexistieren würde. Die neuerliche Wende blieb nicht unwidersprochen. Die Mitarbeiter im Bezirksamt N eubrandenburg schickten ein Protesttelegramm nach Berlin, „da mit dem – einstimmig – gefaßten Beschluß des Runden Tisches vom 7.12.89 zur Auflösung des A mtes für N ationale Sicherheit offenkundig wurde, daß niemand unter den politischen Kräften in diesem Lande ein Interesse am Schutz der verfassungsm äßigen G rundlagen (egal w ie sie auch immer aussehen m ögen) vor subversiv vor getragenen Angriffen“ hat. „ Zigtausende“ ehem aliger Mitarbeiter der Staatssicherheit würden „ mit einem Fußtritt ins soziale Aus befördert“. Deshalb forderten sie „ Gleichberechtigung bei der nun massenhaft anstehenden Arbeitsplatzsuche“. 131 Aus Guben (Bezirk Cottbus) wurde m itgeteilt, die Mitarbeiter des Kreisamtes hätten „mit Besorgnis, Entsetzen, Unverständnis und Empörung [vernommen], daß am ‚Runden Tisch‘ vom 7.12.89 in Berlin die vollständig e Abschaffung des A mtes für N ationale Sicherheit gefordert“ w orden w ar. 132 Ebenso wurde aus dem zuständigen Bezirksamt „ernste Besorgnis“ laut „um das gesicherte Weiterbestehen unserer sozialistischen D eutschen Demokratischen Republik“. Die Mitarbeiter erklärten, sie seien „ nicht einverstanden mit den V orschlägen des ‚Runden Tisches‘ und des G enossen G ysi 133 zur Auflösung des A mtes für N ationale Sicherheit“. 134 Zudem wurde – w ie in 131 „Protestresolution der Angehörigen des [N eubrandenburger] Bezirksamtes für Nationale Sicherheit (oder schon des ehemaligen? )“ vom 8.12.1989, 14.30 Uhr; BA Berlin, DC 20 11348. 132 „Stellungnahme“ der Mitarbeiter des KAfNS Guben vom 9.12.1989, 14.20 Uhr; BStU, ASt Neubrandenburg, Abt. XX S III 0219/92, Bl. 49. 133 Gregor Gysi war – wie erwähnt – einer der beiden SED-Vertreter bei der Sitzung des Runden Tisches am 7.12.1989. 134 Fernschreiben der „Mitarbeiter des BA Cottbus sowie der noch vorhandenen Kreisämter“ vom 9.12.1989 an den Präsidenten der Volksk ammer, den Vorsitzenden des Ministerra-

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anderen Schreiben ähnlichen Charakters – K lage geführt, daß sich Modrow als Regierungschef nicht öffentlich vor die Mitarbeiter der Staatssicherheit stellen würde (seine Anweisung zur A uflösung des A fNS w ar zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt). 135 So schrieb „ ein ehemaliges Dienstkollektiv des Bezirksamtes Gera“ an Modrow: „ Wir fordern Sie auf, [...] sich persönlich der wachsenden Welle von Haß, Aggression, Verleum dung und auch tätlichen Angriffen gegen Mitarbeiter sowie deren Ehepartner und Kinder mit entsprechenden Erklärungen und Aktivitäten entgegenzustellen.“136 Bezugspunkt für viele Proteste w urde eine Erklärung der Mitarbeiter des Kreisamtes Lübz (Bezirk Schwerin) mit dem Titel „Die staatliche Sicherheit ist nicht mehr gewährleistet“. Sie hätten „mit Empörung und großer Besorgnis [...] von den eingeleiteten Maßnahm en in bezug auf die Perspektive des Amtes für N ationale Sicherheit K enntnis erhalten“ . N un drohe „Anarchie und Chaos“ ; deshalb forderten sie „ sofortige H erstellung einer weitestgehenden Handlungsfähigkeit [des AfNS] auf der Basis der V erfassung der DDR und der geltenden Rechtsvorschriften“. 137 Letzterer Aspekt, die Einforderung einer gesetzlichen G rundlage für ihre Tätigkeit, taucht immer wieder auf und ist von besonderem Interesse. Frankfurter Stasi-Mitarbeiter schrieben: „Wir erwarten, daß es uns unverzüglich ermöglicht wird, wieder zu arbeiten, im Int eresse und zum Schut z des Landes, auf der Grundlage eines für alle verbindlichen Gesetzes ü ber d ie staatlich e Sicherheit. Wenn dieses Gesetz nicht vor dem 1. Januar 1990 verabschiedet wird, verlieren wir unsere nationale Identität.“ 138 tes, die Leitung des AfNS, alle BÄfNS, di e Nachrichtenagentur ADN u. a.; BStU, ASt Neubrandenburg, Abt. XX S III 0219/92, Bl. 39 f.; ebenso protestierten Mitarbeiter des BAfNS Berlin am 8.12.1989 in einer Erklärung gegen den Beschluß des Runden Tisches; BStU, ZA, SED-KL 191, Bl. 30. 135 V gl. Meldung ohne Titel vom 6.12.1989 über die Forderungen aus „verschiedensten Dienstzweigen“ des AfNS; nach Fundort an das Sekretariat Halbritter adressiert; BA Berlin, DC 20 11348. 136 Hv. im Orig.; Schreiben aus dem Bezirksa mt Gera an Ministerpräsident Modrow vom 8.12.1989; BStU, ZA, SdM 2336, Bl. 112 f. Ebenso forderten die Mitarbeiter des BAfNS Cottbus eine „ öffentliche Erklärung“ von Modrow und Schwanitz; Fernschreiben der „Mitarbeiter des BA Cottbus sowie der noch vorhandenen Kreisämter“ vom 9.12.1989 an den Präsidenten der Volkskammer, den Vorsitzenden des Ministerrates, die Leitung des AfNS, alle BÄfNS, die Nachrichtenagentur ADN u. a.; BStU, ASt Neubrandenburg, Abt. XX S III 0219/92, Bl. 39 f. – Die Mitarbeiter des KAfNS Luckau, die sich „abgeschoben und betrogen“ fühlten, verlangten ebenfalls am 9.12.1989 „die längst fällige und eine klare und eindeutige Stellungnahme des Minist erpräsidenten Genossen Modrow zum Amt für Nationale Sicherheit“; ebenda, Bl. 50. 137 Fernschreiben der Mitarbeiter des KAfNS Lübz vom 8.12.1989, 8.05 Uhr, an die Volkskammer, den Ministerrat, das AfNS, das Neue Forum Lübz u. a.; BStU, ASt Neubrandenburg, Abt. XX S III 0219/92, Bl. 45 – Mit dieser Erklärung solidarisierten sich Mitarbeiter der K reisämter G reifswald, G rimmen, H oyerswerda, K önigs Wusterhausen, Luckenwalde und Zossen. Fundort: ebenda. 138 Fernschreiben der Mitarbeiter des BAfN S Frankfurt (Oder) vom 6.12.1989, 18.50 Uhr, an das Präsidium der V olkskammer, den Ministerrat, das A fNS u. a.; B StU, A St Neu-

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Man kann vermuten, was in diesem Zusammenhang mit „nationaler Identität“ gemeint war: die Identifikation m it dem Staat D DR. Bei der Forderung nach einer Gesetzesgrundlage für ihre Institution ging es zum einen darum, daß die Stasi-Mitarbeiter nun, da es ihnen an den K ragen ging, für sich selbst die Vorzüge des Rechts als Schutzraum zu entdecken begannen. Dazu gehörte nicht zuletzt das in der V erfassung festgeschriebene Recht auf A rbeit, 139 da sich nun besonders in den Kreisstädten Betriebsbelegschaften zunehmend gegen die Einstellung entlassener MfS-Mitarbeiter aussprachen. 140 Zum anderen kam darin der Charakter der Staatssicherheit als Bürokratie zum Ausdruck: Der bisherige Rahm en ihrer Tätigkeit, die kom munistische Ideologie und die politischen Vorgaben der SED-Führung, war zerbrochen. Einen Ersatz konnte nach Lage der D inge nur eine „ eindeutige Gesetzgebung“ 141 , „ die Festlegung gesetzlicher Entscheidungsbefugnisse für unser Am t“ 142 , bieten, die die Sicherheitsorgane legitim ierte und regulierte. Es war das Bedürfnis nach einem Regelw erk, das die als anom isch empfundene Situation beenden würde und das die ehem aligen „ Tschekisten“ (ein im übrigen historisch falscher Begriff) zu Polizeibüro kraten transformierte. Sehr viel „ ursprünglicher“ war ein A ufruf von Mitarbeitern des Bezirksamtes Gera, der besonderes Aufsehen erregte, als er Anfang Januar 1990 allgemein bekannt wurde. Er war von den Initiatioren auch den DDRMedien zugedacht gewesen, seinerzeit aber nicht veröffentlicht worden. Unter der Ü berschrift „ Heute w ir – m orgen ihr“ heißt es unter Berufung auf Lenin: „Genossen, Bürger und Patrioten der unsichtbaren Front im In- und Ausland, wer m it der Macht spielt, sie sich aus der Hand nehm en läßt [...], der wird scheitern.“ 143 Gefordert wurde „ gemeinsames Handeln“ , um „ die

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brandenburg, Abt. X X S III 0219/92, Bl. 42 f.; die Mitarbeiter des BAfNS Berlin identifizierten sich in einer Erklärung ohne Datu m mit diesem Schreiben; vgl. BStU, ASt Berlin, A 1189, o. Pag. Vgl. etwa das Fernsch reiben der Angehörigen der Paßkontrolleinheit Saßnitz/Mukran an die Volkskammer etc. vom 10.12.1989, 00.20 Uhr; BStU, ASt Neubrandenburg, Abt. XX S III 0219/92, Bl. 46. Vgl. – selbstverständlich aus Perspektive des Machtapparates – Informationszentrum des Sekretariats Halbritter: „Einschätzung der Lage in den Bezirken am 13. 12.1989“, gez. Halbritter; BStU, ZA, ZAIG 13864, Bl. 258–262, hier 260; Lagezentrum des AfNS: Lagebericht vom 13.12.1989; BStU, ZA, S dM 2240, Bl. 134–137, hier 135; Informationszentrum des Sekretariats Halbritter: „ Einschätzung der Lage in den Bezirken am 15.12.1989“; BA Berlin, DC 20 11348. Protestresolution der Angehörigen des BAfNS Neubrandenburg vom 8.12.1989. Fernschreiben der Mita rbeiter des KAfNS Hoyerswerda vom 9.12.1989, 14.28 Uhr, an die Volkskammer, den Ministerrat, das AfNS u. a.; BStU, ASt Neubrandenburg, Abt. XX S III 0219/92, Bl. 41. Fernschreiben des „ Kollektivs des BAfN S Gera und die Kreisämter“ vom 9.12.1989, 20.00 Uhr; BStU, ZA, ZAIG 13744, Bl. 42–44. Inspirierend hat hier vielleicht ein Fernschreiben aus Spremberg gewirkt, in dem „ die über lange Jahre getäuschten und mißbrauchten MA [Mitarbeiter] des MfS“ forderten: „Stoppt sofort die Auflösung der Kreisämter! Wir verweisen auf Lenin – Eine Revolu tion ist nur dann etwas wert, wenn sie sich zu verteidigen versteht.“ Fernschrei ben des KAfNS Spremberg vom 9.12.1989,

Anstifter, Anschürer und Organisatoren dieser haßerfüllten Machenschaften gegen die Machtorgane des Staates zu entlarven und zu paraly sieren“. Ein „soz[ialistischer] Staat“ sei nur zu bew ahren bei „ Existenz eines O rganes, welches mit spezifischen Mitteln und Methoden arbeitet“. Es war das ein etwas hysterischer Versuch, die Kräfte des Alten Regimes noch einmal zu sam meln, um die Entw icklung umzukehren. 144 Erfolgsaussichten bestanden dafür keine m ehr: Schon in der Staatssicherheit selbst stieß der A ufruf kaum auf Resonanz. 145 Die A ngehörigen aller anderen herrschenden Institutionen aber waren gerade bem üht, sich von diesem Sicherheitsorgan zu distanzieren. Daß der Aufruf ausgerechnet in Gera entstanden war, wo sich die Mitarbeiter eben erst ihres verhaßten Bezirksam tschefs entledigt hatten, dem ja unter anderem vorgeworfen worden war, ein Gegner der „Wende“ zu sein, ist vielleicht gar nicht so m erkwürdig, wie es auf den ersten Blick scheint. Wie schon erw ähnt, hatten noch am V ortag Mitarbeiter der gleichen Diensteinheit von Modrow eine öffentliche Erklärung gefordert, mit der er sich schützend vor sie stellen sollte. Diese Erwartung war enttäuscht worden. Generell stand hinter dem Protest neben aufgestauten Frustrationen vor allem die als empörend empfundene Diskrepanz zwischen dem Machtanspruch der alten Führungskader und ihrer U nfähigkeit, den Mitarbeitern einen Weg in die Zukunft zu w eisen. Viele hatten geglaubt, geschicktere Anpassung an die politische Entwicklung würde eine solche Perspektive eröffnen. Nun wa r schlagartig deutlich geworden, daß die Zukunft weitgehend ohne sie stattfinden sollte.

16.00 Uhr, an alle Bezirks- und Kreisämter, die Volkskammer, den Ministerrat, das AfNS u. a.; BStU, ASt Neubrandenburg, Abt. XX S III 0219/92, Bl. 53 f. 144 Diese Erklärung ist später als „ Putschversuch“ interpretiert worden, doch derartige Versuche pflegt man nicht in solcher Breite anzukündigen: Das Fernschreiben war gerichtet an den Ministerpräsidenten, den amtierenden Staatsratsvorsitzenden, das Präsidium der Volkskammer, den Minister für innere Angelegenheiten und alle Bezirksverwaltungen der Volkspolizei, den Minister für Verteidi gung, den Leiter des AfNS, alle Bezirksämter für Nationale Sicherheit, die Vorsitzenden der in der Volkskammer vertretenen Parteien, das Fernsehen und den Rundfunk der DDR und an die Nachrichtenagentur ADN. – Die Interpretation als „ Putschaufruf“ wurde ers tmals am Runden Tisch in seiner Sitzung am 8.1.1990 vorgetragen. Das ist aus der damaligen, schwer kalkulierbaren Situation heraus verständlich. Weniger, wenn sie auch noch fünf Jahre später vertreten wird, so bei Thaysen u. Kloth: Der Runde Tisch und die En tmachtung der SED (1995), S. 1728. – Nach einer Stasi-internen Untersuchung, die stattfand, nachdem es zum Skandal geworden war, hatten die Autoren das Fernschreiben an das AfNS geschickt, verbunden mit der Frage, ob es von dort weitergeleitet werden könne. Das sei verneint worden. Tatsächlich erreicht habe das Telegramm nur die anderen Bezirksämter mit Ausnahme von Erfurt und Dresden und das Innenministerium. Vgl. „Zur Problematik Fernschreiben vom 9.12.1989“ ; BStU, ZA, MfS/AfNS in Auflösung Nr. 8, Bl. 75–78. 145 Es sind nur zwei Solidaritätserklärungen nachweisbar: von Mitarbeitern der Unterabteilung 11 der HA I im Militärbezirk III, Motorisierte Schützendivision Halle (BStU, HA I 1710, Bl. 38) und von der Militärabwehr (HA I) in der 9. Panzerdivision, Kreis Luckau (ebenda, Bl. 31 f.).

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11.5 Die Ministerratsbeschlüsse vom 14. Dezember 1989 Die Auflösung des AfNS war am 11. Dezember Gegenstand einer Sitzung des Ministerrates. Die Vorlage für diesen Tagesordnungspunkt kam aus der Staatssicherheit selbst: „Festlegungen zu Stellung, V erantwortung und Aufgaben der nachrichtendienstlichen Aufklärung und Abwehr“ . 146 An die Stelle des AfNS sollten ein „ Verfassungsschutz“ und ein „ Nachrichtendienst“ treten. Für die innere Repression entscheidend w ar die K onzeption für den Verfassungsschutz. Die wesentlichen Unterschiede zwischen der geplanten Institution und der bisherigen Staatssicherheit bestanden in folgendem: – Der Verfassungsschutz sollte nicht m ehr einer Partei, sondern dem Vorsitzenden des Ministerrates unterstellt und parlam entarischer Kontrolle unterworfen werden. – Er würde „keine exekutiven Befugnisse“ erhalten. – Eine Reihe von Aufgaben sollte ausgegliedert und anderen Ministerien (vor allem dem Innenm inisterium und dem Ministerium für N ationale Verteidigung) übertragen werden. – Anstelle der militärischen Dienstgrade würden „zivile Dienstbezeichnungen“ treten. – Das „ Wachregiment“, die am stärksten m ilitarisierte Diensteinheit des MfS, sollte aufgelöst werden. Und: – „In den V erfassungsschutz der D DR werden prinzipiell keine Führungskräfte (Leiter des A mtes, Stellvertreter, Leiter von Verwaltungen und Hauptabteilungen) des Amtes für Nationale Sicherheit übernommen.“ 147 Gemessen am bisherigen Selbstverständnis der Staatssicherheit als „ Schild und Schwert der Partei“ war das ein radikaler Bruch: Aus einer m ilitarisierten Parteigeheimpolizei mit enormer, auch exekutiver Machtfülle sollte ein staatliches Organ für die innere Überwachung ohne solche Befugnisse werden. Eine bedingungslose Kapitulation waren die „Festlegungen“ allerdings noch nicht. D ie V orlage w urde vom Ministerrat m it Weisung zur Wiedervorlage „zur Kenntnis genommen“. 148 146 Das Ministerratsprotokoll vom 11.12.1989 im Be stand des Bundesarchivs enthält diese Vorlage nicht. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Entwurf, den Generalmajor Braun am gleichen Tag Schwanitz als „ Grundsatzdokument für die Absprache bei Genossen Modrow“ zugeleitet hatte und der von ihm mit handschriftlichen Korrekturen versehen worden war; „Festlegungen zu Stellung, Verantwortung und Aufgaben der nachrichtendienstlichen Aufklärung und Abwehr“ vom 11. 12.1989; BStU, ZA, SdM 2289, Bl. 337–341. 147 „Festlegungen zu Stellung ...“ vom 11.12.1989. 148 Vgl. Beschluß des Ministerrates 5/2.d/89 vom 11.12.1989; BA Berlin, C-20 I/3-2878.

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Am Tag nach der Ministerratssitzung fand eine Beratung zur aktuellen Lage bei Ministerpräsident Modrow statt, zu der Schw anitz anscheinend nicht geladen war. Statt dessen w urde das AfNS durch Generalmajor Braun vertreten, einen der neuen stellvertretenden A mtsleiter. Der Bericht zur innenpolitischen Situation wurde jedoch nicht von ihm , sondern durch Innenminister Lothar Arendt erstattet. 149 Das war eine D emütigung der Staatssicherheit, die kaum dadurch gem ildert w urde, daß A rendt bis Jahresbeginn 1989 dem MfS als GMS „Karl“ zu D iensten gew esen w ar. Modrow w ar, wie aus den Notizen eines Teilnehmers hervorgeht, über die V erzögerungstaktik des Staatssicherheitsdienstes, die nun zum Eklat geführt hatte, stark verärgert. Er wird m it den Worten zitiert: „Wir haben zu lange Zeit gebraucht, um abzurüsten. Nach 2 Monaten sehen wir keine Ergebnisse. [...] Viel geredet, aber nichts kom mt sauber auf den Tisch.“ 150 Im Ergebnisprotokoll dieser Sitzung wird festgehalten: „ Genosse Modrow stellte mit Nachdruck die Forderung, den Prozeß de r Reorganisierung und Reduzierung des Amtes zu beschleunigen und in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen.“ 151 Für die Ministerratssitzung am 14. Dezember, auf der Entscheidungen getroffen werden sollten, reichte die AfNS-Leitung auftragsgem äß eine Reihe von V orlagen ein. 152 Eine davon ist besonders interessant. In dem ursprünglichen Entwurf vom 11. Dezember war die Frage offengeblieben, welche Größe Verfassungsschutz und Nachrichtendienst haben sollten – eine nicht nur quantitative Frage. Bei dem Versuch einer Antwort verspürte man offenbar ein Bedürfnis nach objektiveren Maßstäben. D er Ministerratsvorlage wurde deshalb eine A nlage über die personelle Stärke der bundesdeutschen D ienste beigefügt. 153 A m Bundesnachrichtendienst (BN D), aus Sicht der A utoren das Pendant zur H auptverwaltung A ufklärung, m ochte man sich offenbar nicht messen, denn für den N achrichtendienst wurde eine nur etwa halb so große Personalstärke empfohlen, die ungefähr dem bisherigen Stand der H V A entsprach: 4.000 Mitarbeiter. 154 Anders beim „Verfassungsschutz“, dem Kernstück zerrinnender geheim polizeilicher Macht: Hier wurden säm tliche bundesdeutschen Dienste zusam mengezählt, selbst jene 149 „Information über die Beratung bei Ge nossen Modrow, Zeitpunkt 12.12.1989, 11.00– 11.30 Uhr“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 228–230. 150 Notiz wahrscheinlich von Braun; BStU, ZA, Mittig 77, Bl. 22–27, hier 23. 151 „Information über die Beratung bei Genossen Modrow“, Bl. 228. 152 Schreiben von Schwanitz an Staatssekret är Möbis vom 13.12.1989; BStU, ZA, SdM 2098, Bl. 142. 153 Schwanitz notierte in der Ministerrat ssitzung am 11.12.1989 unter dem Tagesordnungspunkt „ Auflös[un]g best[ätig] t“ am Rande sein es Blattes: „ Argument[ation] – Stärke BND u. Verfassungsschutz“; BStU, ZA, SdM 1992, Bl. 59. 154 „Information über Personalstärke und Etat des Bundesnachrichtendienstes, des Verfassungsschutzes, des Bundeskriminalamtes und des Militärischen Abschirmdienstes der BRD“, Anlage zu „ Bildung des Nachrichtendienstes und des Verfassungsschutzes der DDR“ vom 13.12.1989; BStU, ZA, HA IX 3746. Bl. 8–10. – Die HV A hatte am 31.10.1989 3.819 hauptamtliche Mitarbeiter; Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter (1995), Anlage Faltblatt.

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(wie der Militärische Abschirm dienst, MAD), deren Aufgaben m an in der DDR anderen Ministerien zu übertragen beabsichtigte, 155 und auch noch das Bundeskriminalamt. Mit H ilfe dieses Rechenkunststücks kam m an auf eine Gesamtpersonalstärke von etwa 10.000 Mitarbeitern, die die Richtgröße für den geplanten eigenen Dienst sein sollte. Verglichen mit der Bevölkerungszahl war das – auch wenn man den selbstgew ählten Maßstab anlegt – noch immer ein w eit überdim ensionierter A pparat. Es bedeutete dennoch einen drastischen Einschnitt: statt bisher 91.000 hauptam tlichen Mitarbeitern nun 14.000, zu denen freilich noch eine unbekannte Zahl von Mitarbeitern zu zählen war, die durch andere Ministerien übernom men werden würden – eine sehr optim istische Stasi-interne Schätzung ging von 23.600 Personen aus, denen so ein A rbeitsplatz auf dem alten Tätigkeitsfeld gesichert werden könnte. Allein zum Zoll sollten 7.000 Mitarbeiter gehen. 156 Der Beschluß, den der Ministerrat am 14. Dezember verabschiedete, war identisch mit der Vorlage des AfNS. In ihm wurde die Personalstärke beider Dienste von 4.000 (N achrichtendienst) bzw . 10.000 Mitarbeitern (Verfassungsschutz bzw. VS) ebenso übernommen wie die zuvor bereits referierten „Festlegungen“: keine exekutiven Befugnisse, keine Ü bernahme von Spitzenkadern, U nterstellung unter den V orsitzenden des Ministerrates. Mit Ausnahme des letztgenannten Punktes sollten diese Regelungen geheim bleiben. 157 Die Pressemeldung über den Beschluß, die erst vier Tage später – inhaltlich identisch mit einer Information an die Volkskammer und an den zentralen Runden Tisch 158 – veröffentlicht wurde, beschränkte sich im wesentlichen auf die Mitteilung über die Auflösung des AfNS und die gleichzeitige „Bildung eines Nachrichtendienstes der DDR und eines Organs für Verfassungsschutz“. Dessen Aufgaben wurden relativ allgem ein damit umschrieben, „die verfassungsmäßige Ordnung der D DR zu sichern, Spionage und Angriffe auf die Volkswirtschaft abzuwehren, den Kampf gegen rechtsextremistische, neonazistische und antisem itische Handlungen sowie gegen den Terrorismus zu führen“. 159 Nicht allein auf die Staatssicherheit bezogen w ar die Einrichtung einer „zeitweiligen Untersuchungsabteilung für die Prüfung von Amtsmißbrauch 155 Am 7.12.1989 war von Schwanitz, Hoffmann, dem Verteidigungsminister, und Modrow beschlossen worden, die HA I (Abwehr in der NVA) „mit sofortiger Wirkung“ dem Ministerium für Nationale Verteidigung einzuglie dern; vgl. „ Beratungsprotokoll der Leitung des Amtes für Nationale Sicherheit vom 7.12.1989“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 76–80, hier 78. 156 Berechnet nach Hauptabteilung Kader und Schulung: „Aufgliederung des Personalbestandes“ vom 8.12.1989; BStU, ZA, SdM 2240, Bl. 289; vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter (1995), S. 90. 157 „Beschluß ü ber d ie Bildung des Nachrichtendienstes der DDR und des Verfassungsschutzes der DDR“, Beschluß des Ministerrates 6/18.a/89 vom 14.12.1989; BStU, ZA, SdM 1508, Bl. 144–152; Protokoll der 6. Sitz ung des Ministerrates am 14. 12.1989, S. 17; BA Berlin, C-20 I/3-2879. 158 Vgl. das Schreiben von Modrow an Volkskammerpräsident Maleuda vom 15.12.1989; BA Berlin, DC 20 11419, Bd. 2. 159 „Amt für Sicherheit wird aufgelöst“, in: Neues Deutschland 18.12.1989.

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und Korruption“, die der Ministerrat in der gleichen Sitzung beschloß. 160 Dem war eine Initiative von Ostberliner Bürgerrechtlern vorausgegangen, die eine „ Unabhängige Untersuchungskom mission 4.12.1989“ gegründet hatten, die neben dem Volkskammerausschuß aktiv werden sollte, zu dessen Ergänzung und gesellschaftlicher Kontrolle. Ihr Sprecher war Christian Ladwig, ihr juristischer Berater Rechtsanwalt Wolfgang Schnur. 161 Über die Kompetenzen dieser Kommission war mit dem Ministerrat verhandelt und gestritten worden, wobei auf seiten der Regierung Staatssekretär Möbis für die Verhandlungen zuständig war. 162 Ursprünglich hatte der Ministerrat diese Kommission überhaupt abgelehnt und statt dessen vorgeschlagen, einzelne Bürgerrechtler sollten im Volkskam merausschuß m itarbeiten. 163 Als das nicht akzeptiert wurde, einigte man sich schließlich darauf, besagte zeitweilige Untersuchungsabteilung unter Leitung von Prof. Dr. Ulrich Dähn einzurichten, in der A ktivisten aus der Bürgerrechtsbew egung mitarbeiteten, die von den Bürgerkomitees benannt und vom Leiter der Untersuchungsabteilung berufen wurden und für diese Tätigkeit von ihrem Arbeitgeber freizustellen waren. 164 Die Aufgabe der 18köpfigen Kommission, von deren Mitgliedern zwei Drittel aus dem Staatsapparat kam en, war „die Prüfung von Sachverhalten, Hinweisen und Mitteilungen zu Rechtsverletzungen durch Am tsträger, insbesondere von schweren Schädigungen des sozialistischen Eigentums und der Volkswirtschaft durch V eruntreuung, Vertrauensmißbrauch und Steuerhinterziehung, Bestechlichkeit und Vorteilsnahm e zur persönlichen Bereicherung“. 165 Soziale Absicherung Ein weiterer Beschluß des Ministerrates, zu dem die Vorlage von Schwanitz eingereicht w orden w ar, betraf die „ soziale Sicherstellung“ jener MfS-

160 „Beschluß über die Bildung einer zeitweiligen Untersuchungsabteilung für die Prüfung von Amtsmißbrauch und Korruption“, Beschluß des Ministerrates 6/10/89 vom 14.12.1989; BA Berlin, DC 20 11422, Bd. 1. 161 Vgl. Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 3 (1994), Textband, S. 384. 162 Vgl. Staatssekretär Möbis: Vorlage 1293/89 für den Ministerrat zur „ Bildung einer Untersuchungsabteilung für die Aufklärung der Vorgänge von Amtsmißbrauch und Korruption“ vom 11.12.1989; Faksimile in: Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 3 (1994), Anlagen, S. 3227–3231. 163 Vgl. „Beschluß zur Information über Gespräche mit Vertretern der neuen gesellschaftlichen Gruppen und Parteien“, Beschluß des Ministerrates 4/2/89 vom 7.12.1989; BStU, ZA, SdM 1508, Bl. 272 f. 164 Vgl. Vermerk des stellvertretenden Leiters de s Sekretariats des Ministerrates, Karl-Heinz Behrends, für Staatssekretär Möbis vom 12.12.1989 über ein Telefongespräch mit Christian Ladwig; BA Berlin, DC 20 11422, Bd. 1; „Liste für Freistellungen“, o. D., Faksimile in: Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski 3 (1994), Anlagen, S. 3234. 165 Beschluß über die Bildung einer zeitweiligen Untersuchungsabteilung vom 14.12.1989.

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Angehörigen, die entlassen werden sollten. 166 D er Entw urf knüpfte an die Vorstellungen an, die schon zwei Wochen zuvor in der H auptabteilung Kader und Schulung formuliert worden waren. 167 Es war ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Die älteren Mitarbeiter (Männer ab 60, Frauen ab 55 Jahren) galten als in zivile Arbeitsstellen nicht m ehr vermittelbar und sollten in den Vorruhestand geschickt werden. Die jüngeren, die eine geringer bezahlte Tätigkeit aufnahm en, erhielten entsprechend dem alten Entw urf, gestaffelt nach dem D ienstalter, bis zu drei Jahre lang eine „Übergangsbeihilfe“, durch die ihr neues Einkom men auf 80 Prozent des bisherigen Nettoeinkommens aufgestockt werden sollte. Hinzu kam eine Abfindung, die ebenfalls je nach Dienstalter und D ienstgrad bis zu m ehreren tausend Mark betragen konnte. Stasi-Angehörige, di e in Einfam ilienhäusern wohnten, die Eigentum des MfS gewesen waren, sollten diese Im mobilien kaufen können – zu den seinerzeit üblichen günstigen Preisen. Stasi-interne Ü berlegungen gingen noch über den Ministerratsbeschluß hinaus. So em pfahl Schw anitz, im Zuge der Ü bereignung bisheriger MfSImmobilien an die lokalen Staatsorgane auf die „komplette Übergabe größerer Einrichtungen“ zu dringen, einschließlich der dort – etw a in Erholungsheimen – beschäftigten Mitarbeiter, um ihnen dadurch Arbeitsstellen zu sichern. 168 Ein Maßnahmeplan zur A uflösung des A fNS wurde von O berst Schwager entworfen, der als „ Verantwortlicher für Sicherstellung“ zur neuen Führungsspitze gehörte. Er legte zu „ Dienst- und Wohnobjekten sow ie von Ferienobjekten“ als „Grundsatz“ fest: „In den Rechtsträgerwechsel von Objekten sind die funktionell zugehörigen A usstattungen und Ausrüstungen mit einzubeziehen. D ie zur Betreibung/Bew irtschaftung eingesetzten Kader sind grundsätzlich in diesen Einrichtungen w eiterzubeschäftigen.“ D arüber hinausgehend sollte die Staatssicherheit in ihrer letzten Phase zu einem Existenzgründer erheblichen Ausmaßes mutieren: „Im AfNS bisher vorhandene Kapazitäten zur Durchführung von B aureparaturen, Kfz-Instandsetzung [und zur] Durchführung von Dienstleistungen sind in bestehende volkseigene Betriebe einzugliedern. Die Eingliederung umfaßt sowohl die Objekte, t echnische und t echnologische Ausrüst ungen al s auch die entsprechenden Kader. [...] Zur Unterstützung der B ildung von B etrieben und Ei nrichtungen unt erschiedlichster Eigentumsformen durch ehem alige Mitarbeiter des AfNS sind die B ereitstellung von Gewerberäum en sowi e der Verkauf beweglicher 166 „Beschluß über Festlegungen zur sozialen Sicherstellung von Angehörigen des Amtes für Nationale Sicherheit, die im Zusammenhang mit der Auflösung desselben aus dem Dienst ausscheiden“; Beschluß des Ministerrates 6/18.c/89 vom 14. 12.1989; BStU, ZA, SdM 1508, Bl. 89–93. 167 Siehe oben S. 547 f. 168 Schreiben von Schwanitz an die Leiter der Bezirksämter vom 12.12.1989; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 226 f.

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Grundmittel, Arbeitswerkzeuge und Materialien zu koordinieren und zu veranlassen.“ 169 Inwiefern darüber hinaus von ausscheidenden Mitarbeitern konspirativ genutzte Im mobilien privatisiert oder im Panzerschrank lagernde „Operativgelder“ mitgenommen wurden, ist nicht abschließend zu beurteilen. Ein eklatanter Fall wurde noch 1989 bekannt: Am 4. Dezember war ein MfSOberst, der Leiter einer Außenstelle der H auptabteilung X VIII (Volkswirtschaft), vor dem „Haus der Elektrotechnik“ am Berliner A lexanderplatz kontrolliert und festgenommen worden. Er hatte in seiner Aktenm appe die stattliche Summe von fast 750.000 DM und andere Wertgegenstände. Seine Vorgesetzten gaben sich gänzlich uninform iert. Der Staatssicherheit gelang es nach seiner Inhaftierung durch das Ministerium des Innern nach eigener interner Auskunft nicht, m it ihm in V erbindung zu treten. Wenig später beging der O berst in der U ntersuchungshaft Selbstmord. 170 Der Fall blieb unaufgeklärt. Wolfgang Schwanitz, der etwa zur gleichen Zeit an seiner Rücktrittserklärung schrieb, machte sich G edanken über w eitergehende Perspektiven sozialer Sicherstellung. Sie w aren konform mit dem in die Wege geleiteten institutionellen Wandel, dennoch muten sie etwas befremdlich an: Wie ist es möglich, fragte er, „den künftigen Mitarbeitern die Sicherheit zu geben, daß sie bei einem erneuten Regierungsw echsel“ – eine nicht ganz treffende Bezeichnung für eine Revolution – „ nicht wieder die Geschädigten sind“? Um seine bisherigen Untergebenen gegen solche historischen Um brüche zu wappnen, hatte er eine Lösung parat: „eine Berufung in eine Art Beamtenstand“. 171

11.6 Vom AfNS zum „Verfassungsschutz“ Die Ministerratsbeschlüsse vom 14. Dezember hatten eine eigentümliche Dreiteilung der Institution Staatssicherheit zur Folge, die politisch brisant werden sollte: Im gleichen organisatorischen Gehäuse koexistierten Elemente der Auflösung (AfNS), des teilweisen Neuaufbaus (Verfassungsschutz) und fast völliger Kontinuität (HV A bzw. Nachrichtendienst). Die politisch heikelste Frage betraf das V erhältnis von A fNS und „Verfassungsschutz“. Ihre Nicht-Identität sollte personell dokum entiert werden durch einen – unvollständigen – Führungswechsel. Zum Nachfolger von Schwanitz an der Spitze 169 Oberst Schwager: „ Maßnahmen zur Auflösung/Überleitung von Objekten, beweglichem Sachvermögen und materiell-technischen Fonds des Amtes für Nationale Sicherheit“ vom 14.12.1989; BStU, ZA, Staatl. Überlie ferung zum MfS/AfNS in Auflösung 8, o. Pag. 170 Vgl. Schreiben des stellvertretenden Leiters der HA XVIII, Oberst Pulow, an Engelhardt vom 14.12.1989; BStU, ZA, HA XVIII 435, Bl. 6–8; Neues Deutschland 15.12.1989. 171 Dokument ohne Titel und Datum, wahrscheinlich vom 11.12.1989; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 202–204.

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des künftigen V erfassungsschutzes w urde vorerst Generalmajor Heinz Engelhardt berufen, 172 der nun freilich auf seinen m ilitärischen Titel verzichten mußte. Engelhardt hatte acht Jahre lang unter G ehlert die Abteilung XX in der Bezirksverw altung K arl-Marx-Stadt geleitet, ehe er 1987 Chef der Bezirksverwaltung Frankfurt (Oder) geworden war. Mit einem Alter von 45 Jahren gehörte er zu der in den höheren Rängen des MfS dünn gesäten Generation, die erst in der DDR herangewachsen war. Der gescheiterte A mtschef blickte düster in die Zukunft. In dem Entwurf zu seiner Rücktrittserklärung äußerte Schwanitz die Befürchtung: „ Die Empörung [...] kann beim geringsten Anlaß in offene Gewalthandlungen um schlagen. A uch besonnene K räfte vor allem der evangelischen K irche und der Bürgerrechtsbewegungen haben keinen Einfluß auf die haßerfüllten Massen, die gegen unsere D ienststellen vorgehen.“ A uf der anderen Seite hatte seiner Einschätzung nach die Stim mung innerhalb der Staatssicherheit einen neuen Tiefpunkt erreicht: „ Die Verbitterung und Angst der Mitarbeiter des Am tes, daß sie nunm ehr faktisch Geächtete in der DDR sind, ist groß. Es besteht die akute Gefahr des Verrats durch einige.“ 173 Das war eine sehr subjektive Wahrnehm ung, die aber bestim menden Einfluß auf seine letzten Amtshandlungen hatte. Am Tag der Ministerratsentscheidung schickte Schw anitz einen Brief an dessen V orsitzenden. Ü ber den Inhalt w ar zuvor in der Leitung des AfNS gesprochen worden, 174 er hatte aber doch fast den Charakter eines Vermächtnisses. Im Mittelpunkt stand die Frage, was m it den Unterlagen der Staatssicherheit geschehen sollte. Schwanitz versuchte, Modrow für eine möglichst weitgehende Vernichtungslösung zu gewinnen. Es gehe um „mehrere tausend Tonnen“ Unterlagen: „Bei dem Schri ftgut und den anderen Materialien handel t es si ch t eilweise um Dokum ente und Unt erlagen m it höchst er Gehei mhaltung und außerordentlicher politischer Brisanz. Bei ei ner unbefugten Eins ichtnahme und Offenlegung kann es zu großen Gefahren für die Gesellschaft, für unseren Staat und seine internationalen Beziehungen und besonders auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen bis zu Mord und Terror führen [si c!]. Di e Tat sache, daß extremistische Kräfte – z[um] T[eil] unter Vorgabe, im Auftrag von Bürgerinitiativen zu h andeln – ih re Ak tivitäten g egen d ie Äm ter in den letzten Tagen verstärkt haben und ei ne Stürmung von Äm tern nicht auszuschließen

172 Vgl. Schreiben von Schwanitz an die Le iter der Diensteinheiten vom 14.12.1989; BStU, ZA, DSt 103659. 173 Es handelt sich um ein dreiseitiges Schreiben ohne Titel und ohne Datum, wahrscheinlich vom 11.12.1989; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 202–204. 174 Vgl. AfNS Leiter: „ Festlegungsprotokoll zur Beratung der Leitung des AfNS am 13.11. [sic!] 1989“ vom 13.12.1989; BStU, ZA, SdM 2289, Bl. 169–172.

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ist, erhöhen diese Gefahren um ein weiteres.“ 175

Ziel m üsse deshalb die „ Vernichtung des gesamten Schriftgutes“ und der anderen Unterlagen sein, sow eit sie „ für die künftige Arbeit des Nachrichtendienstes und des Verfassungsschutzes der DDR keine unmittelbare Bedeutung haben und die nicht A rchivgut im Sinne der Verordnung über das staatliche Archivwesen vom 11. März 1976 sind“. Doch hatte Schwanitz offenbar das unbehagliche G efühl, auf einem Pulverfaß zu sitzen. So fügte er hinzu: „Anzustreben wäre auch, daß die Teilnehmer des Runden Tisches aus den oben genannten G ründen diesem Vorschlag folgen. U nseres Erachtens ist erst im K onsens eine volle und störungsfreie H andlungsfähigkeit möglich.“ Der Vorsitzende des Ministerrates reagierte nicht auf dieses Schreiben. Am 15. Dezember hielt Schwanitz auf einer Dienstberatung eine Art Ab176 schiedsrede vor der verbliebenen Führungsspitze der Staatssicherheit. Deren Zusam mensetzung hatte sich inzw ischen erheblich verändert: Von den 14 Mitgliedern, die das Kollegium des MfS noch im Oktober 1989 hatte, waren nur noch zwei im Amt: Großmann von der H V A und der K aderchef Möller. Die Leiter der Bezirksämter waren sämtlich abgelöst und in der Regel durch ihre bisherigen Stellver treter ersetzt worden. Von der Veranstaltung ist kein Protokoll erhalten, es existieren nur Mitschriften von Leitungsmitgliedern. 177 Schwanitz zeichnete diesen Notizen zufolge ein – aus seiner Sicht – düsteres Bild der Lage: Im Lande habe sich „ Doppelherrschaft“ ausgebreitet, „ Teile [des] Staatsapparat[es]“ außerhalb Ostberlins befänden sich „in A uflösung“. D ie D emonstrationen w ürden zunehm end „nationalistischen Charakter“ tragen . D ie „ Bürgerrechtsbewegung“ sei angesichts dieser Entw icklung auch „ voller Skepsis, [jedoch] teils schon außerstande, darauf Einfluß zu behalten“. 178 Jetzt, da es bereits zu spät schien, sehnte der Stasi-Chef offenbar den Einfluß der Bürgerrechtsbew egung herbei, den er bis spät in den Herbst hinein bekämpft hatte. Es gelte, eine „ Entwicklung chaotischer Verhältnisse“ zu verhindern und jene Kräfte zurückzudrängen, „ die WV [Wiedervereinigung] D [D eutschlands] fordern“ und die durch den bevorstehenden Besuch von Bundeskanzler Kohl in Dresden Auftrieb erhalten w ürden. 179 Bei der Lektüre der N oti175 Schreiben des Leiters des AfNS, Schwanitz, an den Vorsitzenden des Ministerrates, Modrow, vom 14.12.1989; BStU, ZA, SdM 2240, Bl. 156–159. 176 Liste allein der Teilnehmer aus den Bezirksämtern mit Unterschriften: BStU, ZA, SdM 2073, Bl. 73. 177 Oberst Rolf Spange, aus dessen Arbeitsbuch vor allem zitiert wird, war seit dem 7.12.1989 kommissarischer Leiter der HA VII; Arbeitsbuch Oberst Spange; BStU, ZA, HA VII 1360, Bl. 75–80; Arbeitsbuch eines leitenden Mitarbeiters der HA VIII; BStU, ZA, HA VIII 1616, Bl. 40 f.; Notizen von Oberst Rolf Schöppe, amtierender Leiter des BAfNS Halle; BStU, ASt Halle, BV Halle – Sachakte BAfNS 17, Bl. 31–35. 178 Zitiert nach Arbeitsbuch Oberst Spange, Bl. 75 f.; ebenso Arbeitsbuch eines leitenden Mitarbeiters der HA VIII, Bl. 40; Notizen von Oberst Schöppe, Bl. 31. 179 Am 19. und 20.12.1989 reiste Bundeskanzler Kohl zu einem Arbeitsbesuch nach Dresden und wurde dort von Hunderttausenden begeistert gefeiert. Für seine Wahrnehmung

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zen gewinnt man den Eindruck, daß angesichts dieser Situation das Schicksal der Staatssicherheit für Schw anitz von sekundärer Bedeutung w ar: D ie SED-Vertreter am Runden Tisch hätten – sagte Schwanitz fast verständnisvoll und ohne Kritik – der Auflösung zugestim mt wegen des „Drucks von unten“, vor allem der „ Besetzung [der] Ä mter“, und weil es in der Staatssicherheit selbst zu einer „ Destabilisierung“ durch die Proteste vieler Mitarbeiter gekom men sei, die „ gegen [die] Leiter aufgetreten“ sind. Letzteres mißbilligte er offenkundig als „ Unbedachtheiten im eigenen App[arat]“. 180 Nach dem A uflösungsbeschluß stehe die Frage: „ Wie geht es w eiter m it Schriftgut + rechnergestützten D aten?“ 181 „ Es m uß vernichtet w erden.“ 182 Doch nicht in Eigeninitiative sollte das geschehen, sondern vermittels einer „Untersuchungsabteilung“, die beim Ministerrat der D DR gebildet w orden war (die jedoch keine größere Bedeutung erlangte) und die entscheiden müsse: „was kann vernichtet werden + w as muß in [die] Staatsarchive“ . Er fügte hinzu: „Keine Vernichtung mehr dulden.“ 183 Nach Schwanitz sprach Engelhardt, dankte dem Vorgänger und erklärte: „Ge[nosse] Schwanitz hat gekäm pft, aber kein Gehör mehr gefunden.“ Das bezog sich auf dessen gestörtes V erhältnis zu Modrow . Ein anderer Teilnehmer notierte: „In [der] Zentrale unseres Staates [hatte] G en. Schw anitz kein[en] [Rück]Halt mehr.“ 184 Hinsichtlich der künftigen Orientierung ließ Engelhardt Elemente einer veränderten taktischen Einschätzung und (anders als Schwanitz) von Selbstkritik erkennen: Man müsse sich „absolut von vergangenen Strukturen trennen – nicht gleiche Fehler w ie vor Wochen machen“, denn nun gehe es „ um Sein/N ichtsein [der] D DR“. D abei sei eine neue Lage zu konstatieren: „Finden Unterstützung bei den[en], die auf anderer Seite standen“ . 185 Mit der „ anderen Seite“ konnte nur die Bürgerrechtsbewegung gemeint sein, und die „ Unterstützung“ bezog sich auf die Frage der Fortexistenz der DDR. In diesem Punkt bestand noch w eitgehende Übereinstimmung, 186 wenngleich es hier im Dezember 1989 erste Umorien-

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des Legitimationsverfalls der neuen DDR-Regierung unter Modrow und der Chancen für eine Wiedervereinigung war das ein Schlüsselerlebnis. In einem Gespräch mit dem in dieser Beziehung skeptischen Staatspräside nten Mitterrand Anfang Januar 1990 erklärte der Bundeskanzler: „Was er nicht verstehen könne, sei, daß man außerhalb Deutschlands Zweifel daran habe, was die D eutschen wollten. Das sei eindeutig. Die Deutschen wollten zusammenkommen. Wer in Dresden an der Frauenkirche gestanden habe, habe dies gespürt.“ Gespräch des Bundeskanzlers K ohl mit Staatspräsident Mitterrand, Latché 4.1.1990, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit 1989/90 (1998), S. 682–690, hier 683. Vgl. auch Teltschik: 329 Tage (1991), S. 87–94. Zitiert nach Arbeitsbuch Oberst Spange, Bl. 76 f.; ebenso Arbeitsbuch eines leitenden Mitarbeiters der HA VIII, Bl. 41. Zitiert nach Arbeitsbuch Oberst Spange, Bl. 79. Zitiert nach Notizen von Oberst Schöppe, Bl. 32. Zitiert nach Arbeitsbuch Oberst Spange, Bl. 79; sinngemäß ähnlich Notizen von Oberst Schöppe, Bl. 32. Arbeitsbuch eines leitenden Mitarbeiters der HA VIII; BStU, ZA, HA VIII 1616, Bl. 43. Arbeitsbuch Oberst Spange; BStU, ZA, HA VII 1360, Bl. 81. Vgl. Hubertus Knabe: Die deutsche Oktobe rrevolution, in: ders. (Hrsg.): Aufbruch in

tierungen gab. 187 Das zwischen beiden Seiten fortbestehende Problem der A kten – es w ar für die Opposition nicht das wichtigste – und dam it engstens verbunden der „Quellen“ thematisierte Engelhardt im Anschluß: „ Vorschläge zur Beseitieine andere DDR (1989), S. 6–21, hier 19. 187 Dazu Beispiele aus den wichtigsten Bürgerrechtsorganisationen bzw. sich neu konstituierenden Parteien: Die Sozialdemokratische Partei (SDP) postuliert in ihrem Ende November 1989 verabschiedeten „Statut“ „die Anerkennung der Zweistaatlichkeit als Folge der schuldhaften Vergangenheit“ (dokumentiert in Schüddekopf [Hrsg.] : „Wir sind das Volk!“ [1990], S. 243–250, hier 250). Mar kus Meckel, einer ihrer Sprecher, erklärte dann als Gastredner auf dem Programmparteitag der bundesdeutschen SPD am 18.12.1989: „Eine Konföderation der beiden deutschen Staaten wäre ein schon bald möglicher und auch wichtiger Schritt“ (dokumentiert in Zimmerling: Neue Folge 3, S. 108). – Die Grüne Partei der DDR nannte am 8.12.1989 in einer Erklärung zur deutschen Frage als Perspektive: „Nach den Wahlen 1990 Aufbau einer konföderativen Struktur bei völliger innerer Souveränität beider deutscher Staaten“ (dokumentiert in: ebenda, S. 64 f.). – Größeres Aufsehen erregte ein „ Dreistufenplan der nationalen Einigung“, den Demokratie Jetzt am 14. 12.1989 vorstellte. Als langfristiges Ziel wurde die Herstellung eines „ Bundes Deutscher Länder“ angestrebt, wobei als Schritte dorthin demokratische R eformen in der DDR und „soziale und gesellschaftspolitische Reformen in der Bundesrepublik Deutschland“ ebenso skizziert wurden wie „ ruhende Mitgliedschaften im Warschauer Pakt und NATO“ bis hin zu völliger „Entmilitarisierung“ beider deutscher Staaten (dokumentiert in: ebenda, S. 85 f.). – Vom Demokratischen Aufbruch (DA) kamen verwirrende Signale: Unter maßgeblichem Einfluß von Wolfgang Sc hnur erklärte die Programmkommission, ohne dazu autorisiert zu sein, „ die Einigung der Deutschen Nation“ stehe „auf der Tagesordnung“, und forderte „ die Einberufung einer Deutschen Nationalversammlung“ (Erklärung dokumentiert in: Neue Zeit 4.12.1989). Ihr Pressesprecher, Rainer Eppelmann, meinte w enig später: „ Eine w eitere kapita listische deutsche Republik brauchen wir nicht.“ Die DDR müsse sich durch Dominanz des Staatseigentums und „eine engere soziale und ökologische Rahmengebung der Wirtschaft“ auszeichnen (Interview in: Junge Welt 9.12.1989). Eines der führenden Mitglieder des DA, Ehrhart Neubert, machte etwa zur gleichen Zeit in einem Artikel der SED und den Blockparteien zum Vorwurf, sie hätten „ die Eigenständigkeit der DDR und damit die Interessen der Menschen in diesem Lande durch ihre falsche Politik gefährdet“ (E. Neubert: Motive des A ufbruchs, in: Knabe [Hrsg.] : Aufbruch in eine andere DDR [1989] , S. 141–155). Eine Bewegungsform fanden diese Widersprüche in dem Programm des DA, das auf seinem Leipziger Parteitag, 16./17.12.1989, verabschiedet wurde: „ Der Weg führt von vertraglicher Bindung zwischen den deutschen Staaten über eine n Staatenbund zu einem Bundesstaat.“ – Das Neue Forum schließlich warnte am 18.12.1989 in einer Sprechererklärung: „ Wir dürfen nicht aus der Konfrontation in eine Konfödera tion fallen. Was wir jetzt benötigen ist Kooperation.“ Eine „Vereinigung in der Zukunft“ sei nur bei grundlegenden Sozialreformen in beiden deutschen Staaten und „ totaler Entmilitarisierung und Neutralität“ anzustreben („Zur Bildung eines gemeinsamen deutschen Staates“, in: Die ersten Texte des Neuen Forum, Berlin [Ost] Januar 1990, S. 30 f.). – Der zentrale Runde Tisch erklärte am 18.12.1989 in einer Stellungnahme zu dem Besu ch von Bundeskanzler Kohl in Dresden: „Die Souveränität und staatliche Identität j edes der beiden deutschen Staaten darf durch keine Seite in Frage gestellt werden. Die Regierungen der beiden deutschen Staaten werden aufgefordert zu bekräftigen, daß sie sich ihrer Verantwortung für die Stabilität und Sicherheit in Europa bewußt sind und danach handeln.“ Den Vertretern des Neuen Forums und der Vereinigten Linken war diese Erklärung noch nicht scharf genug. Sie warnten in einem Minderheitenvotum außerdem vor „ einer Wiederbelebung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse in der DDR“. (Bes chlüsse dokumentiert in: Herles u. Rose [Hrsg.]: Vom Runden Tisch ins Parlament [ 1990], S. 28 f.) – Angesichts dieser doch recht unterschiedlichen Positionen, ist es zu stark vereinfacht, wenn resümierend behauptet worden ist: „Überwiegend waren die Oppositionellen auf eine künftige Einheit Deutschlands festgelegt.“ (Neubert: Geschichte der Opposition [1997], S. 888).

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gung Papier sind unterbreitet – bedürfen der Bestätigung.“ 188 Es sei ein „Brief an Modrow übergeben“ w orden, jedoch „keine Reaktion“. 189 Deshalb müsse man warten: „Kein Papier mehr vernichten und wenn es noch so heiße Akten sind“ 190 . In einer anderen Mitschrift wurde notiert: „Wo heißes Material – versiegeln lassen! N ichts vernichten – kann bis zu Gerichtsverfahren gehen.“ 191 O ffenbar w ar die Furcht vor den Folgen, die das Bekanntwerden weiterer Vernichtungsaktionen auslösen w ürde, größer als die Hoffnung, dadurch Spuren zu verw ischen. Angesichts des nun angestrebten „bündnispolitischen“ Manövers m it der Bürgerrechtsbewegung war das durchaus naheliegend. Wo das Risiko einer Enthüllung solcher A ktivitäten gering war, nämlich bei den elektronischen D atenträgern, versuchte auch Engelhardt die bisherige Praxis fortzusetzen. Eine Woche später unternahm er einen neuen Vorstoß, w enigstens dieses Problem in seinem Sinne zu klären. Er schickte Staatssekretär Halbritter einen Vorschlag, daß aus der Zentralen Personendatenbank (ZPDB) des MfS jene Daten gesichert werden sollten, die für den künftigen V erfassungsschutz von Bedeutung w ären – zu A genten fremder Mächte, organisierten Rechts- und Linksextrem isten und Gewalttätern. Anschließend sollte die gesam te ZPDB gelöscht werden. 192 Auch dieses Schreiben blieb unbeantwortet. Die Reaktion in der Staatssicherheit w ar, daß zwar mit der Datenselektion sofort begonnen wurde, eine Löschung der ZPDB zu diesem Zeitpunkt aber noch unterblieb. 193 Der Attentism us des verantwortlichen Staatssekretärs – vielleicht auch Modrows – hatte Sy stem: abzuwarten, bis für diese V orhaben die Zustim mung der Bürgerbew egung vorlag, sich aber gleichzeitig nicht festzulegen, indem diese Projekte nicht ausdrücklich untersagt wurden. Die einfachen Mitarbeiter der Staatssicherheit warteten jedoch nicht, bis auf zentraler Ebene und im Einvernehmen mit der Bürgerrechtsbewegung in der heiklen Frage der Vernichtung eine Entscheidung getroffen w ar. Wann einschlägige Aktivitäten in der Zentrale begonnen haben, ist schw er zu sagen – spätestens w ohl zu dem Zeitpunkt, als m it einer Besetzung des G ebäudekomplexes Normannenstraße gerechnet w urde, das heißt ab A nfang November. Bis zum 4. Dezember konnten sie sich der Zustim mung ihrer Führung sicher sein. D ann w ar die Befehlslage verw irrend. D och die V ernichtung wurde in einzelnen Diensteinheiten vermutlich auch ohne Erlaubnis fortgesetzt – bis zu w elchem Zeitpunkt ist ungeklärt, spätestens (m it 188 189 190 191 192

Zitiert nach Arbeitsbuch Oberst Spange, Bl. 82. Zitiert nach Notizen von Oberst Schöppe, Bl. 33. Zitiert nach Arbeitsbuch Oberst Spange, Bl. 82. Arbeitsbuch eines leitenden Mitarbeiters der HA VIII, Bl. 44. Schreiben von Engelhardt an Halbritter vom 20. 12.1989 mit Anlage; BStU, ZA, Staatl. Überlieferung zum MfS/AfNS in Auflösung 8, Bl. 49–51. 193 V gl. „Auflösungskonzeption RZ [Rechenzentrum] ZAIG Haus 8/Eingang A“ vom 30.1.1990; BStU, ZA, ZAIG 5720, Bl. 9–12.

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Ausnahme der HV A) bis zum 15. Januar 1990. In einem Konzeptpapier der Zentralen A uswertungs- und Inform ationsgruppe (ZAIG) wurde noch Mitte Dezember – am gleichen Tag, an dem Engelhardt einen V ernichtungsstopp anordnete – vorgeschlagen, die Unterlagen dieser D iensteinheit m it w enigen A usnahmen zu vernichten. 194 Die Mitarbeiter anderer D iensteinheiten w aren in der gleichen Richtung aktiv. Davon zeugen noch heute im ehemaligen MfS-Archiv über 6.000 Papiersäcke mit zerrissenem Material. Das entspricht etwa 6 Kilom eter Akten oder 18.000.000 Blatt Papier. D a knapp 25 Kilometer A kten in der Zentrale erhalten geblieben sind, bedeutet das, daß hier mindestens 20 Prozent der Aktenbestände zerstört worden sind; etwa 80 Prozent der Bestände blieben unversehrt. 195 Auch von den ZAIG-Akten sind noch 1.500 Meter vorhanden. Die Berufung eines ehem aligen BV -Chefs, H einz Engelhardt, an die Spitze des künftigen V erfassungsschutzes w idersprach dem Ministerratsbeschluß, daß keine Spitzenkader aus dem alten MfS übernom men werden sollten. Erleichtert wurde ein solches Vorgehen dadurch, daß das formelle Verbot der Weiterbeschäftigung von Spitzenkadern nur für den künftigen Verfassungsschutz galt, während m an hinsichtlich der Auflösung keine entsprechende Regelung getroffen hatte. D urch die V ermischung beider V orgänge war es m öglich, daß auch in dem engeren Führungszirkel alte K ader verblieben. Engelhardt übernahm die bereits zuvor eingesetzten Stellvertreter: Gerhard Niebling (57), Edgar Br aun (50), Erich Sc hwager (50) und Werner Großmann (60). Insofern gab es trotz des personellen Wechsels gerade in einigen Schlüsselpositionen ein hohes Maß an Kontinuität. Das war nicht der einzige Fall, in dem Zweideutigkeiten in der staatlichen Beschlußlage ausgenutzt wurden. So war in der Weisung von Modrow und Halbritter vom 7. Dezember „das unberechtigte Sammeln von Informationen“ verurteilt und „ ein Fortsetzen derartiger Praktiken“ verboten worden. 196 Das war keine präzise Begrifflichkeit. D aß damit die Überwachung 194 ZAIG: „Im Zusammenhang mit der Auflösung des AfNS vorrangig zu beachtende Probleme“, 15.12.1989; BStU, ZA, ZAIG 14284, Bl. 23–25. 195 Nicht erfaßt sind dabei Akten, die in der Heizungsanlage verbrannt worden sind, und jene Aktenbestände aus Dienststellen der Staatssich erheit, die sich zwar in Ostberlin, nicht aber auf dem Areal an der Normannenstraße befunden haben, soweit sie vernichtet worden sind. Auch das geschah keinesfalls vollständig. So sind etwa von der Abteilung XIV (Untersuchungshaft) in Berlin-Hohenschönhausen 156 m Akten und von der Hauptabteilung VI (Überwachung des Reiseverkehrs), die in Berlin-Treptow stationiert war, 817 m Akten erhalten. In den genannten ca. 20 % nicht erfaßt sind außerdem etwa 400 Sack Papier unbekannten Inhalts, die Zeitzeugen zu folge im Herbst 1989 in einer Papiermühle vernichtet worden sind. – Aus Bezirksver waltungen und Kreisdienststellen sind weitere 8.376 Papiersäcke mit zerrissenem Material überliefert. Hier ist es sehr viel schwerer, Aussagen über das relative Ausmaß der Vernichtung zu machen, da dort früher begonnen wurde und die Möglichkeiten größer waren, Unterlagen spurlos verschwinden zu lassen. Zu den Zahlenangaben vgl. Dritter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten (1997), S. 116 f. 196 Fernschreiben des Ministerrates an die B eauftragten vom 7.12.1989; BStU, ZA, Rechtsstelle 693, Bl. 9 f.

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der in der Regierung vertretenen Parteien und auch die Bürgerrechtsbew egungen gemeint sein könnten, w ar aber zumindest naheliegend. Tatsächlich finden sich w eder zu den einen noch zu den anderen aus der Zeit danach Spitzelberichte oder ähnliches. Vom Runden Tisch wurden die öffentlichen Übertragungen zum Teil m itgeschnitten und abgeschrieben. Es existiert jedoch kein Bericht eines inoffiziellen Mitarbeiters direkt von der ersten oder einer späteren Sitzung. Es gibt in dieser Beziehung eine A usnahme, eine der letzten einschlägigen „ Informationen“ überhaupt. Sie stam mt vom 14. Dezember. In ihr wurde auf Basis von „streng vertraulichen Hinweisen“ die Reaktion auf die erste Sitzung des Runden Tisches in der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) geschildert. Man sei „ sich im klaren, daß die A uflösung des Amtes für Nationale Sicherheit seine Ze it braucht, wolle aber die Entwaffnung fordern“. 197 Offenbar observierten Teile der Stasi-Zentrale die Bürgerrechtsbewegung noch im mer. In diesem Fall stammte die Meldung aus der Hauptabteilung XX/9, die in der „ Initiative“ durch den IMB „ Wolf“ alias Lothar P. präsent war, 198 der zugleich am zentralen Runden Tisch als Berater der IFM tätig war. Neue Konfliktlinien Vom zentralen Runden Tisch wurde auf seiner 2. Sitzung am 18. Dezember zum veröffentlichten Teil des Ministe rratsbeschlusses erklärt: Der Runde Tisch „heißt gut und unterstützt die Arbeit der unabhängigen Kontrollkommission zur A uflösung des A mtes für N ationale Sicherheit unter ziviler Kontrolle“. 199 D em lag allerdings ein Mißverständnis zugrunde, das durch die ADN-Meldung provoziert worden war: Die Tätigkeit des „Berliner Kontrollausschusses“ sollte sich nur auf die Bezirksverwaltung in BerlinFriedrichsfelde richten, 200 nicht etwa auf die ehemalige MfS-Zentrale in Berlin-Lichtenberg, die weiterhin unbehelligt blieb. Der Ministerratsbeschluß zur Auflösung des AfNS schien ein Zeichen dafür, daß sich die D inge nun in die richtige Richtung entwickelten. Ausdruck eines bei vielen Teilnehmern am Runden Tisch neu entstehenden Vertrauens war die Behandlung eines A ntrags von Martin Gutzeit (SDP). Die „unabhängige K ontrollkommission“ solle beauftragt w erden, die in die Bürgerrechtsgruppen von der Staatssicherheit „ eingeschleusten Personen“ aufzu197 BStU, ZA, Mittig 95, Bl. 41–43. 198 Vgl. „ Ein kühler Verrat und die Schwierigkeit, ihn zu begreifen“, in: Berliner Zeitung 11.2.1992; BStU, ZA, MfS AIM 3557/84; BStU, ZA, MfS AOP 1056/91. 199 Dokumentiert in: Herles u. Rose (Hrsg. ): Vom Runden Tisch zum Parlament (1990), S. 30. 200 Vgl. den „Zwischenbericht“ der Arbeitsgruppe des Kontrollausschusses zur Auflösung der Bezirksverwaltung Berlin des Amtes fü r Nationale Sicherheit vom 5.1.1990; BStU, ZA, SdM 78, Bl. 44–52.

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decken. Das wurde heftig kritisiert. Reinhard Schult vom Neuen Forum erklärte: „[...] wir können ja nicht zum Stasispitzeljagen aufrufen von diesem Tisch her. Also ich halte das wirklich für völlig widersinnig.“ Das war aus einem anderen als dem gemeinten Grund tatsächlich zutreffend. Bei der Abstimmung enthielten sich zwei Drittel der Teilnehm er, zehn stimmten dagegen und nur zwei dafür: der A ntragsteller selbst und sein Parteigenosse Ibrahim Böhme alias IM „Maximilian“. 201 Damit war der Antrag abgelehnt. Begrüßt hatte der Runde Tisch die Berufung eines zivilen Regierungsbeauftragten. Tatsächlich w urde ein solcher Regierungsbeauftragter eingesetzt: Peter Koch, dem „die personelle und m aterielle Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit“ übertragen w urde. 202 Der damals 38jährige Jurist war zuvor Abteilungsleiter der Verwaltung Staatliche Notariate im Justizministerium gewesen. In dieser Funktion hatte er offziell m it MfSDienststellen zusammenzuarbeiten, zudem war er als G eheimnisträger überprüft und bestätigt. 203 Das bedeutet: Er galt als verläßlich, stand aber in keiner inoffiziellen Verbindung zur Staatssicherheit. Auf eine Aufgabe von der Größenordnung, w ie sie nun vor ihm stand, war Koch nicht vorbereitet. Ein A rbeitsstab von anfänglich sechs Mitarbeitern konnte diesen Mangel nicht ausgleichen. 204 Auf seiten des AfNS wurde ihm – nicht durch den Ministerrat, sondern in einem selbstregulativen Prozeß – der bisherige Kaderchef Möller zur Seite gestellt. 205 Die erste Überraschung, die K och wenige Tage nach seiner A mtsübernahme erwartete, war, daß sein Kom petenzbereich erheblich enger gesteckt war, als sein Auftrag hätte verm uten lassen. In einem Gesp räch m it Staatssekretär Halbritter erfuhr er, daß seine Aufgabe vor allem die Übereignung von Stasi-Immobilien auf neue Träger war. Auch habe er sich auf Berlin (Ost) zu beschränken: „Gegenstand seiner Arbeit sind ausschließlich die zentralen Objekte des ehemaligen MfS, über alle Problem e der eh emaligen Bezirksäm ter entscheiden die B eauftragten des Vorsi tzenden des M inisterrates. Lediglich in Ausnahmefällen werden zu B ezirksobjekten zent rale Ent scheidungen herbei geführt.“ 206

Zugleich aber sollte Koch nach außen den Kopf hinhalten.

Halbritter gab

201 Zitiert nach Thaysen u. Kloth: Der Runde Tisch (1995), S. 1755 f. 202 Vgl. „Vollmacht“ für Peter Koch, unterzeichnet von Hans Modrow am 22.12.1989; BA Berlin, DC 20 11493, Bd. 4. 203 Vgl. HA XX/1: „ Vermerk zur Bestäti gung als GVS-Kader“ vom 15.2.1989; BStU, MfS AP 34065/92, Bl. 212 f. 204 Vgl. Beschlußvorschlag des Ministerra tes Nr. V 1318/89 vom 19.12.1989; BStU, ZA, SdM 1508, Bl. 88. 205 Vgl. „Festlegungsprotokoll zu der Beratung der Leitung des AfNS am 11.12.1989“; BStU, ZA, SdM 2289, Bl. 173–175. 206 „Vermerk zu einigen Problemen aus dem Mi nisterrat“ vom 22.12.1989, gez. Zeiseweis; BStU, ZA, Mittig 79, Bl. 153 f.

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ihm die „Empfehlung“, gegenüber den Medien Klage zu führen, „daß Schritte zur Übergabe von D ienstobjekten nicht vollzogen w erden können, w eil der Umgang mit dem Schriftgut durch Einflußnahme von Bürgerkom itees blockiert wird“. Die Diskrepanz zwischen propagandistischem Auftrag und realer Kompetenz belegt, welche Rolle dem Regierungsbeauftragten zugedacht war: als Placebo für die Öffentlichkeit zu dienen. Insofern war es auch m it dem Zugriff auf die MfS-Zentrale nicht w eit her – selbst w enn bei ihm der Wille dazu vorhanden gewesen wäre. Die ursprünglich wohlwollende Einstellung des zentralen Runden Tis ches zum Ministerratsbeschluß über die Auflösung des AfNS verflog schnell. Mit einer gew issen V erzögerung w ar in breiteren Kreisen bekanntgeworden – von Reinhard Schult (Neues Forum) wurde es am 27. Dezember 1989 in dieses Grem ium eingebracht –, daß die Regierung selbst in dem zitierten Schreiben vom 7. Dezember die Aktenvernichtung angewiesen hatte (wobei die Kautelen nun keine Rolle spielten). A uch hatte sich herum gesprochen, daß die ausscheidenden MfS-Mitarbeiter „ Übergangsgebührnisse“ erhalten sollten, die ihnen auf ihren neuen Arbeitsplätzen für drei Jahre ihre alten Bezüge sicherten. 207 (Daß es um 80 Prozent des früheren Einkom mens ging, w ar anscheinend nicht bekannt.) Ausdruck gesteigerten Mißtrauens war, daß nun eine frühere Entscheidung korrigiert und eine „ Arbeitsgruppe ‚Sicherheit‘“ eingerichtet w urde, die die A uflösung der Staatssicherheit kontrollieren sollte. 208 Zu „ Einberufern“ wurden ein nam entlich noch zu benennender Vertreter der SED-PDS und Ibrahim Böhme bestimmt. 209 In einem Beschluß „Zur Auflösung des A mtes für N ationale Sicherheit“ wurden die einschlägigen Regierungsentscheidungen vom Runden Tisch kritisiert und zugleich gefordert: „Die Weisung vom 14.12.1989 zur Bildung eines selbständigen Verfassungsschutzes ist bis zum 6.5.1990 auszusetzen. Von der Bildung eines selbständigen Verfassungsschutzes ist Abstand zu nehmen, Konzepte sind öffentlich zu diskutieren.“ 210

Mit diesem Beschluß w ar ein K onflikt m it der Regierung unausw eichlich, denn Modrow war nicht gewillt, diesen Forderungen nachzukom men. Seine 207 V gl. „DDR-Opposition: Heftige Kritik an der Regierung“, in: Berliner Morgenpost 28.12.1989. 208 B eschluß dokumentiert in: Herles u. Rose: Runder Tisch (1990), S. 34; vgl. dazu Christoph Links: Die Akteure der Auflösung, in Worst: Das Ende eines Geheimdienstes (1991), S. 67–96, hier 67 f. 209 Ein unmittelbarer Kausalnexus läßt sich zwar nicht nachweisen, aber es liegt nahe, daß ein Zusammenhang damit bestand, daß Oberst Wiegand eine Woche zuvor von der AfNS-Spitze aufgefordert worden war, „Möglichkeiten zur Herstellung von Kontakten zu Vertretern des Runden Tisches für die gegenseitige Absicherung der Auflösung des Amtes“ zu prüfen. AfNS, 1. Stellvertreter des Leiters: „ Beratungsprotokoll vom 11.12.1989 mit den Leitern der Diensteinheiten“; BStU, ZA, Mittig 81, Bl. 32 f. 210 Dokumentiert in: Herles u. Rose (Hrsg.): Runder Tisch (1990), S. 35.

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Begründung: „Kein entwickeltes Land dieser Welt kom mt ohne einen Inlandsnachrichtendienst aus, der es vor Spionage, Terror und Versuchen schützt, seine verfassungsm äßige O rdnung zu untergraben oder um zustürzen.“ 211 D aß auch Teilen der Bürgerbew egung diese A rgumentation nicht ganz frem d w ar, ist daran ablesbar, daß der N achrichtendienst in dem Beschluß des Runden Tisches nicht genannt worden ist. Mit seinem Beschluß hatte der zentrale Runde Tisch erstm als versucht, gegen eine Regierungsentscheidung ein V eto geltend zu m achen. D as bedeutete, die Rolle des zentralen Tisches neu zu definieren. D as Neue Forum forderte, darin konsequent, ein generelles V etorecht gegen Entscheidungen der Regierung. 212 Darüber kam es zu A useinandersetzungen mit den Etablierten. In der Medienberichterstatt ung werden als Hauptkritiker jenes Antrags Lothar Bisky (SED-PDS), Michael Koplanski (DBD), Lothar de Maizière (CD U) und H ans-Dieter Raspe (LDPD) genannt. 213 Mindestens zwei von ihnen hatten in der V ergangenheit mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet. Es fällt schwer, an Zufall zu glauben. Doch ist unklar, ob die gemeinsame U rsache für diese V erhaltenskongruenz eine Beeinflussung über inform elle K ontakte w ar, m it denen die Stasi-Spitze Oberst Wiegand beauftragt hatte, oder der ebenso banale wie offenkundige Umstand, daß die Betreffenden alle Mitglieder von Regierungsparteien w aren, deren Macht beschnitten werden sollte. Vielleicht waren sie auch einfach davon überzeugt, daß eine solche Regelung die Regierung in einer äußerst kom plizierten Situation handlungsunfähig m achen würde und in kürzester Zeit zu vorgezogenen Wahlen führen m üßte. Da daran auch die Opposition kein Interesse hatte, einigte m an sich schließlich auf den Kompromiß, daß künftig Regierungsvertreter bei den Sitzungen des Runden Tisches anw esend zu sein hatten und die Mitglieder des Runden Tisches über „Gesetzesvorlagen und wesentliche Regierungsentscheidungen“ vorab zu informieren waren. 214

11.7 Ein neuer Gegner In einem anderen Punkt gab es bei der Sitzung des Runden Tisches am 27. Dezember weniger Dissens: der Überzeugung, daß etwas gegen den zunehmend virulenten Rechtsextremismus getan werden müsse. 215 Auf Antrag 211 Zitiert nach Anlage zu dem Schreiben des Amtierenden Leiters des Verfassungsschutzes an die Le iter der Diensteinheiten vom 28.12. 1989, gez. i.V. Niebling; BStU, ZA, DSt 103659. 212 Vgl. Schulz: Neues Forum (1991), S. 28 f. 213 Vgl. Neues Deutschland 28.12.1989. 214 Beschluß „Beziehung zwischen Rundem Tisch u nd Regierung“ vom 27.12.1989, in: Herles u. Rose (Hrsg.): Runder Tisch (1990), S. 35. 215 Als das Thema im öffentlichen Diskurs der DDR noch tabuisiert war, hat Konrad Weiß

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der NDPD wurde eine „ Erklärung zu neofaschistischen Tendenzen in der DDR“ verabschiedet: „Die Teilnehmer am Runden Tisch beobachten mit ernster Sorge, daß Auftritte neofaschistischer Kräfte im Lande zunehm en und deren Formierung beginnt. [...] Sie sehen Alarmzeichen gesetzt. Noch ist Zeit, den Anfängen zu wehren. Aber höchste Zeit. Daher gilt es, d as antifaschistische Klima in der Gesellschaft der DDR zu bewahren und unm ißverständlich zu stärken, allem und jedem ent schieden ent gegenzutreten, was ganze M enschengruppen di skriminiert, Andersdenkende und Andersar tige ausgrenzt und damit die Gleichheit aller Menschen mißachtet und so schwere Gefahren für Nat ion und Demokratie heraufbeschwört.“ 216

Die Sorge war berechtigt. Es wäre töricht, das zu leugnen, nur weil sie – wie zu zeigen sein wird – funktionalisiert werden sollte. Tatsächlich hatte keine politische Richtung die neuen Möglichkeiten, die sich aus der Öffnung der Grenze ergaben, so schnell genutzt wie die extreme Rechte. 217 D as hing damit zusammen, daß das A lte Regime das Problem Rechtsextremismus zu einem erheblichen Teil externalisiert hatte: A usreiseanträge von bekennenden Rechtsextremisten waren schnell bewilligt, andere inhaftiert, verurteilt und abgeschoben w orden. 218 Da vielen „ Kameraden“ die Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft nicht recht gelungen w ar, w aren sie im Spätherbst 1989 relativ mobil, und so m ancher nutzte die Chance, in sein früheres Milieu zurückzukehren, nun zusätzlich geschult dank des höheren Organisationsniveaus der bundesdeutschen Szene. A ndere Faktoren w ie wachsende nationale Euphorie als Resonanzboden und verunsicherte Sicherheitsorgane kamen hinzu. 219

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auf diese G efahr hingewiesen; vgl. Konrad Weiß: Die braune Stafette, in: Zeit-Magazin 30.6.1989. „Erklärung zu neofaschistischen Tendenzen in der DDR“, dokumentiert in: Herles u. Rose (Hrsg.): Runder Tisch (1990), S. 36. Vgl. Bernd Siegler: Rechtsextremismus in der DDR und den neuen Ländern, in: Mecklenburg (Hrsg.): Handbuch Deutscher Rechts extremismus (1996), S, 616–638, hier 627–632; Peter Ködderitzsch: Republikaner in der ehemaligen DDR, in: Butterwege u. Isola (Hrsg.): Rechtsextremismus im vereinten Deutschland (1991), S. 82–87; Gerd Friedrich Nüske: Entwicklung des Rechtsextremismus in Berlin, in: Durchblicke 1 (1994) 1, hrsg. vom Landesamt für Verfassungsschutz Berlin, S. 7–62; Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in den neuen Bundesländer n (1992); Schröder: Rechte Kerle (1992), S. 85–89; taz-Journal Nr. 2 (1990), S. 10–14. Vgl. Süß: Zu Wahrnehmung und Interpretation des Rechtsextremismus (1993). Die zunehmende Präsenz von „Reps“ und anderen Rechtsextremisten, die freilich immer eine Minderheit blieben, bei Demonstrati onen im Süden war evident (zu Umfrageergebnissen für Leipzig vgl. Fischer u. Roski: DDR zwischen Wende und Wahl [1990] , S. 168 f.). – Das Gefühl, weitverbreiteten Einstellungen Ausdruck zu verleihen, hatte diese Spezies aber schon vor dem Umbruch. Eine soziologische Studie der Kriminalpolizei der DDR, die auf der Auswertung von Geri chtsverfahren und Vernehmungsprotokollen aus den Jahren 1987 bis September 1989 basierte und anscheinend Ende 1989 fertiggestellt worden ist, kam zu dem Schluß, die wichtigsten Aggressionsobj ekte seien Punks,

In der Staatssicherheit war – wie erwähnt – bereits im November überlegt worden, dieses Problem zu nutzen, um m it der Bürgerrechtsbew egung auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Für die Staatssicherheit schien der sichtbar werdende Rechtsextremismus zugleich die Gelegenheit zu bieten, eine neue Legitimationsgrundlage zu gewinnen. Das stand in der Tradition des für die Herrschaftssicherung funktiona lisierten Antifaschismus in der frühen SBZ/DDR. 220 Wie dam als wurde m it einer äußerst unscharfen Termi nologie operiert. Die Stasi-Oberen subsumierten dem „ Rechtsextremismus“ offenkundig alle diejenigen, die sich vehem ent für eine baldige Wiedervereinigung aussprachen. A uch deshalb wird kaum auseinanderzudividieren sein, was bei den Beteiligten zy nisches Kalkül m it der Angst vor „Rechts“, was Bemühen, das eigene Staatswesen zu retten, und w as eigene, echte Befürchtungen waren. Auf jeden Fall hatte bei der A ufgabenbeschreibung des künftigen V erfassungsschutzes die Bekäm pfung des Rechtsextremismus immer einen prominenten Platz. Die geringe Trennschärfe der Begrifflichkeit war wahrscheinlich eine Gemeinsamkeit der Stasi-Offiziere m it ihrem Ministerratsvorsitzenden. Modrow forderte in der zweiten Dezem berwoche von den Sicherheitsbehörden „Einflußnahme auf die Demonstrationen mit neonazistischen und nationalistischen Tendenzen einschl[ießlich] einer abgestim mten Pressearbeit und einer stärkeren Zusammenarbeit auf diesem Gebiet mit Kirchenvertretern und Bürgerinitiativen“. 221 Aus der H auptinspektion im Ministerium des Innern kam noch am gleichen Tag, dem 12. Dezember, der Vorschlag, die Regierung solle in dieser Frage öffentlich initiativ werden. Zur Bekämpfung des Rechtsextremismus müsse „ein Block Runder Tisch und Regierung geschaffen werden“. 222 Die nun zum „Verfassungsschutz“ mutierte Staatssicherheit ging nicht ganz so w eit. Sie sah ihre A ufgabe vor allem darin, die Beschaffung von einschlägigen Inform ationen zu organisieren, die zur Einleitung „exekutiver Maßnahm en an die zuständigen O rgane der DVP [Deutsche Volkspolizei]“ zu übergeben seien. 223

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Homosexuelle, Grufties, „ ausländische Bürger, besonders solche mit nichtweißer Hautfarbe“ und „ Angehörige bewaffneter Organe“. „ Angehörige dieser Zielgruppen würden als ‚unwert‘ eingestuft. Damit verbunden sei die Überzeugung, für eine solche Einstufung auch unter der Bevölkerung Beifall und latente Unterstützung zu haben.“ Ohne Autor: „Studie über Erkenntnisse der K riminalpolizei zu neofaschistischen A ktivitäten in der DDR“; BStU, ZA, ZKG 128, Bl. 13–40, hier 37 f. Vgl. Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft (1992), S. 29–40. „Information über die Beratung bei Ge nossen Modrow, Zeitpunkt 12.12.1989, 11.00– 11.30 Uhr“; BStU, ZA, SdM 1997, Bl. 228–230. „Vorschlag zur Erhaltung der inneren Sicherheit“ vom 12.12.1989; BStU, HA IX 748, Bl. 27–32. Verfassungsschutz der DDR: „ Orientierung zur Bekämpfung neofaschistischer Erscheinungen in der DDR“ vom 19.12.1989, gez. Wiegand; BStU, ZA, DSt 103661.

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Der Anschlag auf das sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow In der Nacht vom 27. zum 28. Dezember 1989, einige Stunden nachdem der Runde Tisch eine einschlägige Warnung verabschiedet hatte, w urde das sowjetische Ehrenm al in Berlin-Treptow m it nationalistischen Parolen beschmiert. Nach der heuristischen D evise Cui bono?, Wem nützt es?, wurde schon bald die V ermutung geäußert, die Staatssicherheit habe auf diesem Weg versucht, ihre Existenzberechtigung zu beweisen. 224 Das Arg ument Cui bono? gilt freilich auch für andere, die dam it ein Zeichen hätten setzen können. 225 Die Aktenlage läßt kein abschließendes U rteil zu; es finden sich aber doch einige interessante Hinweise. Die erste Meldung an das Innenm inisterium durch das Präsidium der Volkspolizei erfolgte am Morgen des 28. Dezem ber: Zwischen 1.30 Uhr und 2.45 Uhr hätten unbekannte Täter auf dem Sockel der K rypta des Ehrenmals und an acht w eiteren Stellen m it rotem Farbspray Parolen aufgesprüht: „Nationalismus – für ein Europa freier Völker“, „Volksgemeinschaft statt Klassenkampf“, „Nie wieder Diktatur des Proletariats / D ie Zukunft gehört den V ölkern, nicht den Mächtigen / Vorwärts im nationalen Befreiungskampf, Besatzer raus“ . 226 Die Volkspolizei-Inspektion Berlin-Treptow habe die Ermittlungen aufgenommen. Für die weitere Untersuchung war das O stberliner Polizeipräsidium, Abteilung K (Kriminalpolizei), in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe „Bekämpfung rechtsradikal m otivierter Krim inalität und Selbstjustiz“ in der Hauptabteilung K im Ministerium für Innere A ngelegenheiten zuständig. Die „Operative Terrorabwehr“ beim „Verfassungsschutz“ sollte ihnen, „ soweit aus G ründen der K onspiration vertretbar“ , mit Hinweisen behilflich sein. Bei einem ersten Gespräch am 29. Dezember gaben die Stasi-Vertreter den Tip, es könnte sich um eine A ktion der „ Nationalistischen Front WB [Westberlin] oder deren Sy mpathisanten“ handeln. 227 D ie V ermutung war nicht abwegig, 228 aber sie sollte sich als falsch erweisen. 224 Vgl. Schulz: Neues Forum (1991), S. 44; ebenso vage andeutend Thaysen u. Kloth: Der Runde Tisch (1995), S. 1728. 225 Anfang Januar 1990 meldete ein IM, der anscheinend in den neonazistischen „AsgardBund“ in Westberlin eingeschleust worden war, von dessen Führer Arnulf P. sei die Aktion lebhaft begrüßt worden. Vgl. „ Information“ vom 3.1.1990; BStU, ZA, HA XXII 5619, Bl. 81 f. (P., der bereits mehrfach einschlägig vorbestraft war, wurde 1995 wegen Bildung eines bewaffneten Haufens und Verung limpfung des Staates zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.) 226 Fernschreiben an das MdI vom 28.12.1989, 6.30 Uhr; BA Berlin, DC 20 11349, Bl. 158. 227 Verfassungsschutz der DDR, Operative Terrorabwehr, Mosig: „ Vermerk über eine Absprache mit dem Leiter der AG ‚Bekämpfung r echtsradikal motivierter Kriminalität und Selbstjustiz‘ der HA K des MfIA, Gen. OS L Wagner“ vom 2.1.1990; BStU, ZA, HA IX 1479, Bl. 54 f. 228 Die neonazistische „ Nationalistische Front“ wurde 1985 gegründet und 1992 durch den Bundesinnenminister verboten. Sie propagierte einen „völkischen Befreiungsnationalismus“. Zur „Nationalistischen Front“ vgl. Mecklenburg (Hrsg.): Handbuch Deutscher Rechtsextremismus (1996), S. 295–297.

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Am gleichen Tag gaben die m it dem A lten Regime mehr oder weniger stark verbundenen K räfte einen A ppell „ an alle Bürger“ heraus, der zeigt, daß sie bem üht waren, das Ereignis als Bestätigung ihrer sämtlichen Warnungen zu interpretieren. D ie SED -PDS, das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer und die bereits totgeglaubte G esellschaft für deutsch-sowjetische Freu ndschaft ri efen – unter Berufung auf den G ründungsmythos der D DR als „ aus dem A ntifaschismus geboren“ – zu einer „Einheitsfront gegen rechts“ und einer „Kampfdemonstration“ am sow jetischen Ehrenmal auf. 229

229 Vgl. den Aufruf in: Neues Deutschland 30./31.12.1989.

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Währenddessen gingen die Ermittlungen der Krim inalpolizei weiter. Als die Umgebung des Tatortes noch einm al abgesucht w urde, fand m an in einem nahegelegenen Abfallcontainer Plakate der „ Jungen Nationaldemokraten“ 230 . Wie sie dorthin gekom men waren, stellte sich bei Vernehm ungen der betreffenden Treptower V olkspolizisten heraus: Sie hatten in jener Nacht bei äußerst unfreundlichem Wetter vorgezogen, in der warmen Wachstube zu sitzen, statt in dem dunklen, feuchten Park Streife zu schieben. Damit hatten sie „ihre Dienstpflichten [...] aufs Gröblichste“ verletzt. 231 Als sie sich nach über sechs Stunden Pause, weit nach Mitternacht, doch zu einem Rundgang aufrafften, entdeckten sie Plakate, die auf dem Ehrenmal aufgeklebt waren. Wegen ihrer Pflichtverletzung waren die Volkspolizisten in helle Aufregung geraten, hatten die Plakate abgerissen und beseitigt. Erst als sie danach zum Ehrenm al zurückkehrten, hätten sie die aufgesprühten Parolen entdeckt. Diese Beweise ihrer Unachtsam keit ließen sich nicht so leicht beseitigen. Deshalb hatten sie nun Alarm geschlagen, ohne jedoch auf ihren ursprünglichen Fund hinzuweisen. Es scheint m ehrere Tage gedauert zu haben, bis die ermittelnde Kriminalpolizei auf den Container gestoßen ist. 232 Sie entdeckte weitere „ Tatwerkzeuge“ wie Spray dosen und Klebsto ff; alle waren aus westlicher Produktion. Auf den Plakaten stand als U rheber „ Junge N ationaldemokraten“ Köln bzw. Stade und die Losungen „Fremde Truppen raus aus Deutschland“ und „Deutsch ist Trumpf!“. 233 Allem Anschein nach hatten Rechtsextremisten aus der Bundesrepublik einen A usflug in den O sten gemacht und dabei die Aktion gestartet. Das war unerfreu lich, aber etwas, was bei offener Grenze an einem unzureichend bew achten Ort mit hoher sy mbolischer Bedeutung immer passieren konnte. Zugleich w ar es ein schlechter Beleg für die These, daß die D DR – wie in dem Demonstrationsaufruf behauptet – zu einer „Heimstatt der Neofaschisten [zu] werden“ drohte. Nur wenn die Täter aus der DDR selbst gekom men wären, hätte m an zumindest einen faktischen A nsatzpunkt für eine solche A rgumentation gehabt. V on den zur A ufklärung hinzugezogenen Stasi-Mitarbeitern ist als ersten vermutet worden, es habe sich um Rechtsextremisten aus der Bundesrepublik gehandelt. Das ist ein Indiz gegen die Vermutung, daß „die“ Staatssicherheit bzw. der „ Verfassungsschutz“ eine Rollenidentität von Brandstifter

230 Jugendorganisation der rechtsextremistischen NPD; vgl. Mecklenburg (Hrsg.): Handbuch Deutscher Rechtsextremismus (1996), S. 279–281. 231 Hierzu und zum folgenden: „ Vermerk zur Absprache mit dem Leiter Dezernat X, OSL der K Marmulla, am 5.1.1990 zum Sachverha lt ‚nationalistische Schmierereien Treptow‘“; BStU, ZA, Mittig 82, Bl. 12 f. 232 Bei der Besprechung am 29. 12.1989 war hinsichtlich der Plakate noch nichts bekannt; in einem Bericht vom 2.1.1990 werden sie erstmals erwähnt. 233 Vgl. Ministerium für Innere Angelegenheiten: „ Information über die Schändung des sowjetischen Ehrenmals in Berlin-Treptow“ vom 2. 1.1990; mit Begleitschreiben von Ahrendt an Modrow vom 3.1.1990; BA Berlin, DC 20 11493/4.

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und Feuerwehr praktiziert hat. Zwar is t natürlich nicht völlig auszuschließen, daß einzelne Stasi-O ffiziere sich hier ohne Wissen ihrer Vorgesetzten betätigt hatten, aber irgendw elche Belege dafür sind nicht bekannt. Gegen eine Täterschaft der Staatssicherheit spricht auch, daß die Krim inalpolizei und nicht der „Verfassungsschutz“ die Erm ittlungsbehörde war, weil sich letzterer nicht m ehr auf Kollegialität und Subordination der Mitarbeiter des Innenministeriums verlassen konnte. Ein Indiz, das gegen eine Provokation spricht, ist auch ein Schreiben, das die Stasi-Spitze am 28. Dezember an alle Diensteinheiten schickte, um gegen die Forderung des Runden Tisches zu protestieren, das AfNS ersatzlos aufzulösen. Beigefügt w ar eine A rgumentationshilfe, in der dargelegt wurde, w arum eine Realisierung dieses Beschlusses verhängnisvoll sei: Man würde „imp[erialistischen] Geheimdiensten und ihren Spionen freien Lauf“ lassen und Terrorism us, Drogenkrim inalität, Korruption und Wirtschaftsspionage nicht effektiv bekäm pfen können. 234 Ein weiteres Arg ument war: „Das hieße für den Kampf gegen rechtsextremistische Kräfte, gegen die unübersehbar zunehmenden neofaschistischen und antisem itischen Bestrebungen unbedingt notwendige nachrichtendienstliche Mittel lahmzulegen.“ Es ist offenkundig, daß die Spitze der Staatssicherheit glaubte, m it der Beschwörung rechtsextremistischer Gefahren den eigenen Legitimationsverlust kompensieren zu können. A ber es fehlt in dem Schreiben jeder Bezug auf die aktuellen Ereignisse in Berlin-Treptow. Bei einer geplanten Aktion hätte man gewußt, was geschehen w ar, und auf dieses A rgument schwerlich verzichtet. Und schließlich w urde in den folgenden internen Überlegungen des Verfassungsschutzes davon ausgegangen, daß es sich um ein Unternehmen bundesdeutscher Rechtsextremisten gehandelt hatte. 235 Die „Kampfdemonstration“ am 3. Januar 1990 geriet zu einer etw as gespenstischen Veranstaltung. Es w ar ein Versuch, an den „ antifaschistischen Grundkonsens“ der frühen DDR anzuknüpfen. Eine Viertelm illion Menschen kamen, und – w ie ehrlich es einzelne auch im mer gem eint haben – der Eindruck war verheerend: eine überzogene Mobilisierung der Kräfte des Alten Regim es, die auf diejenigen, die einen dem okratischen Übergang anstrebten, bedrohlich wirken m ußte. Das konnte nur Gegenreaktionen 234 Schreiben des Amtierenden Leiters des Verfassungsschutzes der DDR, i.V. Niebling, an die Leiter der Diensteinheiten vom 28.12.1989; BStU, ZA, DSt 103659. 235 Vgl. „Vermerk zur Zuarbeit zu Ermittlungsergebnissen der DVP zur Schändung des Ehrenmales in Berlin-Treptow“ vom 2.1.1990, g ez. Milde, handschriftl. „Original 1 Abzug Gen. Mosig“, dem ehemaligen Stellvertretenden Leiter der H A XXII; BStU, ZA, HAIX 1479, Bl. 50 f.; „Einschätzung zum Anschlag rechtsextremistischer Kräfte aus der BRD und Berlin (West), möglicherweise im Zusammenwirken mit Neonazis aus der DDR, gegen das Ehrenmal in Berlin-Treptow“ vom 2. 1.1990; handschriftl. „ Persönliche Einschätzung des langjährigen Ref[erats] -L[ei]ters für rechts motivierte Gewalt und Terror der bisherigen HA XXII“; ebenda, Bl. 52 f.; Schöppe, der amtierende Leiter des BAfNS Halle, notierte bei einer zentralen Dienstberatung in Ostberlin am 6.1.1990: „ Treptower Park – Täter jenseits d[er] Grenze“; BStU, ASt Halle, BAfNS Halle Sachakte 17, Bl. 64.

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auslösen, einschließlich schw indender Bereitschaft, die w achsende rechtsextremistische Gefahr in ihrer tats ächlichen Dimension ernst zu nehmen. 236 Kurzfristig aber war es ein Rückschlag für alle V ersuche, zwischen den reformwilligen Teilen aus dem Alten Regime und der Bürgerrechtsopposition eine Brücke zu schlagen. Das Klim a der politischen Auseinandersetzung wurde in den folgenden Tagen rauher.

236 Darauf hat früh Vera Wollenberger hingewiesen in einem Kommentar im „Sonntag“ vom 20.1.1990.

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12 Übergang zur Demokratisierung und Auflösung der Staatssicherheit

Die letzte Phase politischer Entwicklung in der Regierungszeit Modrow war – institutionell gesehen – der Übergang zur Dem okratisierung: die Einführung von für alle verbindlichen Regeln, die die Möglichkeit eines Machtwechsels einschlossen. Ihren zeitlichen Endpunkt bildeten die am 18. März stattfindenden dem okratischen Wa hlen und die Regierungsbildung unter Ausschluß der SED-Nachfolgepartei PDS. Schwieriger ist es, ihren Beginn zu bestim men. V on freien Wahlen im Jahre 1990 war auch auf seiten des Alten Regimes bereits vor dem Regierungsantritt Modrows die Rede gewesen, etw a in dem am 10. November 1989 verabschiedeten „Aktionsprogramm der SED“. 1 Das Problem ist zu bestimmen, was darunter verstanden wurde: eine kompetitive Wahl oder eine Veranstaltung zur Akklamation des herrschenden Blocks. So war in einem – bereits erwähnten – internen Papier der A bteilung Propaganda des Zentralkom itees der SED erklärt worden, man könne „die Forderung nach freien Wahlen“ unterstützen, doch „die Nationale Front als Klammer der miteinander befreundeten Parteien und O rganisationen m uß erhalten bleiben“ . 2 Mit einem solchen U nternehmen w äre der Schritt von der Liberalisierung zur Dem okratisierung noch nicht vollzogen worden, weil es den m achtpolitischen Status quo abgesichert hätte, wobei mitgedacht war, einen Teil der aus der Gesellschaft heraus entstandenen neuen Kräfte in den Machtblock zu kooptieren und zu integrieren. Erst wenn die Wähler zw ischen Alternativen entscheiden können und für die bisherigen Machthaber damit das Risiko des Scheiterns besteht, kann man im Wortsinn von Wahlen sprechen. D as zeichnete sich in der späten DDR in verschiedenen politischen Prozessen ab: der Auflösung des „Demokratischen Blocks“ der Altparteien in der ersten Dezem berwoche 1989 und der Institutionalisierung von Bürgerr echtsorganisationen zu konkurrierenden Parteien (Sozialdemokratische Partei; Dem okratischer Aufbruch). Man könnte den Beginn des Ü bergangs zur Demokratisierung bereits in diesem Monat ansiedeln. Freilich handelte es sich dabei um Entwicklungen, die aus der Perspektive der unm ittelbar Beteiligten reversibel erscheinen konn-

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„Aktionsprogramm der SED“, in: Deutschland Archiv 22(1989)12, S. 1445–1451, hier 1446. Abteilung Propaganda des ZK der SED: „ Erste Einschätzung der Demonstration und Kundgebung a m 4 . November 1989 in Berlin“, 6.11.1989; BA Berlin, DY 30 IV 2/2.039/317, Bl. 59–68.

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ten, w enngleich solche Befürchtungen von kompetenten außenstehenden Beobachtern schon damals für unrealistisch gehalten wurden. 3 Ein deutliches Zeichen dafür, daß auch in der Wahrnehm ung der Beteiligten eine neue Phase politischer Entwicklung erreicht war, ist das Schicksal des Wahlbündnisses der Bürgerrechtsorganisationen vom Oktober 1989. Noch am 3. Januar 1990 hatte m an es erneuert. Eine Woche später war es zerbrochen. Die Sozialdem okraten von der SD P w aren ausgeschert. Sie glaubten, mit Unterstützung durch die bundesdeutsche SPD auch ohne ihre bisherigen Mitstreiter mehrheitsfähig zu sein. 4 Markus Meckel, der 2. Sprecher seiner Partei, die sich auf ihre r ersten Landesdelegiertenkonferenz in SPD umbenannte, erklärte am 12. Januar: „Der Wahlkampf beginnt. Es geht um die Macht in diesem Lande. [...] Wir suchen sie nicht um jeden Preis, aber wir suchen sie! Wir wollen Macht übernehmen, weil wir niemanden sehen, be i dem sie besser aufgehoben wäre al s bei uns.“ 5

Viele Mitglieder von Bürgerrechtsorganisationen w aren nicht derart demonstrativ von sich selbst überzeugt. Sie w aren zwar ebenfalls bestrebt, die bisherigen Machthaber abzulösen, aber sie dachten noch nicht in den Kategorien kompetitiver Parteienkonkurrenz und hatten entsprechend weniger emotionale Emphase. Wolfgang Ullmann, früherer Lehrer von Meckel am Sprachenkonvikt (der H ochschule der Evangelischen K irche) und inzw ischen der führende Kopf von Demokratie Jetzt, antwortete auf die Frage, ob er „den Willen zur Macht“ habe: „ Den habe ich in ganz geringem Maße, und mein Ziel ist eigentlich auch, schnellstmöglich wieder an meine wissenschaftlichen Arbeiten heranzukom men.“ 6 Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung, aber er zeigt ein w eiteres wichtiges Distinktionsmerkmal der neuen Etappe: Für Ullmann und viele G leichgesinnte war die Vorstellung, Berufspolitiker zu werden, abschreckend, während andere die Sachzwänge eines ausdifferenzierten demokratischen Systems als Chance begriffen und bereits 3

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Hans-Jörg von Studnitz von der Ständigen Vertretung hat in einer Lageeinschätzung am 1.12.1989 festgestellt: „Es kann schon heute nicht mehr bezweifelt werden, daß es in der DDR zu freien Wahlen kommen wird. [...] Es ist schon jetzt zu erkennen, daß es bei den Wahlen keine gemeinsame Liste mehr geben wird. Alle Parteien treten gegeneinander an.“ Fernschreiben der Ständigen Vertretung an das Bundeskanzleramt vom 1.12.1989, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit 1989/90 (1998), S. 590–593. Vgl. Matthias Geis: Die DDR-SPD stürmt in den Wahlkampf, in: die tageszeitung 15.1.1990; Reich: 1989 Tagebuch der Wende, 14. Folge, in: Die Zeit 17.3.1995. Von diesen Formulierungen war man in seiner Partei offenbar so angetan, daß man sie in einem Informationsblatt gleich zw eimal zitierte; der Aufmacher war: „Die SPD ist wieder da. Sozialdemokraten wollen am 6. Mai Regi erungsmehrheit“. „Extrablatt. Zeitung für die Bürger der DDR“, hrsg. vom Vorstand der SPD , Januar 1990, S. 1 u. 5; Nachdruck der Rede (Auszüge), in: Zimmerling: Neue Chronik DDR 4/5 (1990), S. 54–60. Gespräch mit Wolfgang Ullmann am 25. 1.1990, in: Rein (Hrsg. ): Die protestantische Revolution (1990), S. 328–338, hier 336.

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ihre K arriere vorbereiteten. Erfolg und Scheitern in den nächsten Monaten waren in diesen Einstellungen vorgezeichnet. Das Feld für ein neues, jetzt dem okratisches Machtspiel schien freigeräumt, der Wahlkampf hatte bereits begonnen, weil – wie Ullmann meinte – „der politische Gegner SED im Verschwinden begriffen“ war. 7 Meckel, in dieser Beziehung ähnlich optim istisch, hat prognostiziert, die Offenlegung der SED-Vergangenheit werde „einen Prozeß in G ang bringen, bei dem wir dann nicht mehr viel tun müssen“. 8 Er hatte als potentielle Konkurrenten die Blockparteien, vor allem die CD U, im A uge, die zur gleichen Zeit begannen, sich im Kampf um Wählerstimmen zu profilieren, und gewiß auch die Bürgerrechtsorganisationen. Die Chance, die Wahlen zu einer Alternativentscheidung zwischen alten und neuen politischen Kräften zu machen, war damit vertan. Die Grundprinzipien der Wahlen waren inzwischen unstrittig – allgemein, gleich, geheim und frei sollten sie sein –, denn keiner wagte m ehr, daran öffentlich Zweifel anzum elden. Ebenso bestand über das Wahlsystem weitgehende Einigkeit: daß ein Verhältniswahlrecht einer Situation, in der eine Vielzahl neuer Parteien im A ufbau begriffen w ar, angem essener w ar als ein Mehrheitsw ahlrecht, w ie es vereinzelt von SED -Mitgliedern gefordert wurde (deren Partei angesichts der sich abzeichnenden Zersplitterung der Gegenseite dadurch privilegiert w orden w äre). 9 A useinandersetzungen gab es über die näheren Modalitäten: den Zeitpunkt der Volkskam merwahlen, die Frage, wer zur Wahl zugela ssen werden sollte (nur Parteien oder auch „Vereinigungen“ wie das Neue Forum), ob es eine Sperrklausel geben

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Ebenda, S. 330. Rede am 12.1.1990, S. 60. – Wenig später antwortete der Geschäftsführer der SPD und Ministerpräsidentenkandidat Manfred Ibrahim Böhme (alias Ex-IMB „Maximilian“) in einem Fernsehinterview auf die Frage, ob si ch die SED-PDS noch vor der Wahl auflösen werde, er sei „ überzeugt davon“; „ Im Brennpunkt“, Interview mit Jürgen Engert, ARD 29.1.1990, 21.45 Uhr, Abschrift in: Deutschland 1990, Bd. 38, S. 1056–1058. – Die Sammlung von Artikeln und Stellungnahmen, die zule tzt zitiert wurde, ist eine nützliche Ergänzung angesichts der Anfang 1990 entschieden dünner werdenden Archivbestände. Der Wert dieser hundertbändigen, mehrere zehntausend Seiten umfassenden „Dokumentation zu der Berichterstattung über die Erei gnisse in der DDR und die deutschlandpolitische Entwicklung“, die vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung herausgegeben wurde, wird allerdings empfindlich da durch geschmälert, daß fast ausschließlich bundesdeutsche Zeitungen berücksichtigt werden, während aus der DDR allein die Berichterstattung des „Neuen Deutschland“ dokum entiert wird. Die Vielfalt der Presselandschaft in der späten DDR – man denke etwa an „Die Neue Zeit“ oder „Der Morgen“, ganz zu schweigen von den aus der Bevormundung durch die SED entlassenen Regionalblättern – wird damit ebenso ignoriert wie die Pressemitteilungen der verschiedenen Bürgerrechtsorganisationen, die meist kurzlebigen Versuche, eigene Zeitungen zu gründen wie „Das Andere Blatt“ in Leipzig oder „ die andere“ in Ostberlin und ähnliches Material mehr, das nötig wäre, um ein authentisches Bild zu vermitteln. Vgl. Tord Riemann: Besser Personenstatt Parteienwahl, in: Neues Deutschland 30./31.12.1989; dagegen Ekkehard Lieberam u. Wolfgang Menzel: Wahlsysteme auf politische Konsequenzen überprüfen, in: Neues Deutschland 1.1.1990.

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würde und ob bundesdeutsche Parteien durch finanzielle Unterstützung und Redner intervenieren dürften. Die Frontlinien in den Debatten lagen quer zum bisherigen Konflikt zwischen Altem Regime und Bürgerbewegung. 10 Das zeigt, daß tatsächlich eine neue Etappe erreicht war und die Konkurrenz der politischen Kräfte um die Macht die politische Entwicklung zu dom inieren begann. Denkbar wäre allerdings, daß die Staatssicherheit hinter den K ulissen den alten Konflikt noch fortgesetzt und verm ittels inoffizieller Mitarbeiter vielleicht gar Regie geführt hat. Schriftliche Quellen, die eine solche Verm utung belegen würden, sind nicht bekannt. Aber es könnte m ündliche Absprachen gegeben haben. Um zu einigermaßen verläßlichen Aussagen zu kommen, sollen die A useinandersetzungen aus zw ei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet w erden: erstens die Ebene rationalen Interessenkonflikts, ausgehend von der Annahme, daß die Akteure auf dem politischen Feld ihre Wahlchancen zu optimieren suchten, zum zweiten die Perspektive m öglicher geheimdienstlicher Steuerung. Das heißt, die Positionen, die – ehemalige 11 – inoffizielle Mitarbeiter öffentlich bezogen haben, sind daraufhin zu prüfen, ob sie einer bestimmten Seite zuzuordnen sind und ob an dem Verhalten dieser spezifischen Akteure ein Muster zu erkennen ist, das auf eine heim liche Taktik der Staatssicherheit schließen läßt. A llgemeiner gefragt: H aben sich die Betreffenden nach den Regeln des alten Machtspiels oder nach denen der neuen Parteienkonkurrenz verhalten? Mit dieser Methode sind freilich nur Versuche aktiver geheimpolizeilicher Einflußnahme auf den weiteren Verlauf der Revolution nachweisbar, während sich der Einsatz von IM als „ inoffizieller Reserve“ 12 dem entzieht. Solche im Geheimdienstjargon als „Schläfer“ bezeichnete Personen haben aktuell die A ufgabe, sich möglichst perfekt an ihre jeweilige Um gebung anzupassen. Für das Verständnis der Entwicklung sind sie insofern irrelevant, weil sie sich als Akteure im politischen Spiel nicht anders verhalten würden, wenn sie keine geheim dienstliche Verbindung hätten oder wenn die Institution, die sich die Option ihrer Aktivierung offenhalten wollte, ihre Tätigkeit einstellt. Von unm ittelbarer Bedeutung für das Sozialverhalten w erden die eingemotteten inoffiziellen Verbindungen erst wieder, wenn sie aktiviert werden – oder wenn Enttarnung droht. Zurück zur V orbereitung auf die Wahlen. D ie erste Auseinandersetzung gab es um die Frage, ob U nterstützung durch bundesdeutsche Parteien zu10 Darauf hat Thaysen hingewiesen, mit dessen Interpretation ich sonst nicht in allen Punkten übereinstimme; vgl. Thaysen: Der Runde Tisch (1990), S. 117 ff. 11 Wenn in dieser Phase eine Person als „ IM“ bezeichnet wird, dann meint das eine einschlägige Verbindung bis zum Spätherbst 1989. Daß die Betreffenden zu dem Zeitpunkt, um den es hier geht, noch „ inoffiziell“ angebunden waren, ist in keinem der anschließend genannten Fälle nachweisbar. 12 Vgl. BAfNS Berlin, Abt. XX AKG: „Arbeitspapier zur Kategorisierung inoffizieller Verbindungen (einschl. GMS) in bezug auf mögliche künftige Arbeitsaufgaben der DE [Diensteinheit]“ vom 23.11.1989; BStU, ASt Berlin, E 100 (unerschlossenes Material).

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lässig sei. In einer frühen Phase w ar von einem Volkskammerausschuß der Entwurf eines Wahlgesetzes erarbeitet worden, nach dem solche Unterstützung untersagt werden sollte. 13 Das hatte nicht zuletzt in Bonn heftige Proteste ausgelöst. Der eklatante V orteil, den die SED -PDS organisatorisch, finanziell und durch die Masse ihrer Mitglieder gegenüber allen anderen Konkurrenten hatte, müßte, so wurde argumentiert, soweit wie möglich ausgeglichen w erden. 14 Daran sei im übrigen angesichts der absehbaren Wiedervereinigung nichts A nrüchiges. Es bestand allerdings – außer für die SPD – das Problem der K ooperationspartner und deren V ergangenheit als „Blockparteien“. 15 Die SED-PDS verhielt sich in dieser Frage w idersprüchlich. Der erwähnte V olkskammer-Entwurf ist w ohl unter ihrer maßgeblichen Mitwirkung entstanden. 16 Bald darauf erklärte ihr Parteivorstand jedoch, bei den anstehenden Wahlen sollte Unterstützung aus dem Ausland zulässig sein, um „größere Chancengleichheit“ zu erm öglichen. 17 Es ist zu verm uten, daß damit die D ebatte um die Parteifinanzen und die V erquickung von SEDund Staatsvermögen entschärft werden sollte. 18 Vor allem Bürgerrechtsorganisationen, die keine nennensw erte Hilfe aus der Bundesrepublik zu gewärtigen hatten, übten bald heftige Kritik an dieser Art „Einmischung“. 19 Auf der Gegenseite forder te die SPD ebenso wie die 13 „Parteien (politischen Vereinigungen) und Kandidaten ist die Annahme materieller und finanzieller Unterstützung für den Wahlkampf durch Organisationen, Einrichtungen und Personen anderer Staaten verboten. “ Zitiert nach: „ Parlamentarisch-politischer Pressedienst“ der SPD-Bundestagsfraktion vom 8.1. 1990, Nr. 35, Nachdruck in: Deutschland 1990, Bd. 38, S. 734. Vgl. Hz. [Albrecht Hinze]: Bundesparteien dürfen nicht helfen, in: Süddeutsche Zeitung 10.1.1990. 14 Ob die damit verbundene Überlagerung der Konflikte in der DDR durch bundesdeutsche Wahlkampfinteressen für die politische Identitätsfindung sinnvoll und der Integrationskraft des entstehenden demokratischen Systems fö rderlich war, steht an dieser Stelle nicht zur D ebatte. V gl. zur Problematik aus politikw issenschaftlicher Sicht: Lehmbruch: Die improvisierte Vereinigung (1990). 15 Auf Ebene der Landesverbände hatte man zum Teil weniger Bedenken als auf Bundesebene. Ihnen kam deshalb eine Vorreiterrolle zu. Vgl. C. G.: Dregger zu Wahlkampfauftritten in der DDR bereit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 8. 1.1990; Michael Grabenstöer: Vor allem die CDU mischt im DDR- Wahlkampf mit, in: Frankfurter Rundschau 9.1.1990; Helmut Lölhöffel: Rufe nach Bleis tiften und anderer Hilfe, in: Frankfurter Rundschau 11.1.1990. 16 In seiner Regierungserklärung am 11.1.1990 erklärte Modrow: „Kein Verständnis kann es für Einmischung von außen geben oder Versuche, eine Art Vorwahlkampf der BRD zu Lasten der DDR zu veranstalten.“ 14. Ta gung am 11.–12.1.1990, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 364. 17 Vgl. Zu den Grundzügen eines neuen Wahlgesetzes, in: Neues Deutschland 13.1.1990. 18 Zur Auseinandersetzung am zentralen Runde n Tisch um die Aufdeckung der bisherigen Parteienfinanzierung und die Hinhaltemanöver der Altparteien vgl. Thaysen und Kloth: Der Runde Tisch (1995), S. 1774–1786. 19 Bärbel Bohley erklärte in einem Interview über die Folgen: „ In der DDR wird ja der Wahlkampf der Bundesrepublik geführt und mit starken Mitteln und mit wirklich vielem Einsatz von Leuten und Material. [...] Ich muß sagen, daß ich das wirklich sehr verurteile, weil alle diese Aktionen nichts dazu beiget ragen haben, daß wir hier einen Selbstfindungsprozeß überhaupt beginnen können. “ Interview mit „ Echo der Zeit“ (Schweizer Fern-

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CDU die Zulässigkeit solcher U nterstützung. D er Streit w urde auch am zentralen Runden Tisch ausgetragen. G erd Poppe, ein über lange Jahre aktiver Bürgerrechtler aus der Initiative Frieden und Menschenrechte und aus Sicht des MfS ein „ unbelehrbarer Feind des Sozialism us“ 20 , stellte am 5. Februar 1990 den Antrag, zur Sicherung von Chancengleichheit zwischen den neuen politischen Kräften auf Gastredner zu verzichten. Unterstützung erhielt diese Position von Werner Schulz vom Neuen Forum, aber auch von den Vertretern der früheren Blockparteien N DPD und D BD, die auf wenig Unterstützung hoffen konnten. 21 Ihre H auptkontrahenten, die auf bundesdeutsche Beteiligung keinesfalls verzichten wollten, waren Markus Meckel, vom MfS „ operativ bearbeiteter“ Mitbegründer der SPD, CDU-Generalsekretär Martin K irchner (IME „ Hesselbarth“) und der Vorsitzende des Demokratischen A ufbruchs Wolfgang Schnur (IMB „ Dr. Ralf Schirmer“). 22 Bei der Abstimmung wurde der Antrag mit 22 zu 10 Stimmen angenommen, 6 Teilnehm er enthielten sich, darunter die Vertreter der PDS. 23 Die Nein Stimmen kamen von SPD, CDU, LDPD und DA. Noch während der Sitzung erklärten die U nterlegenen, daß sie den Beschluß ignorieren würden. 24 Das jeweilige Verhalten der Akteure ist aus ihrer Interessenlage in diesem Konflikt rational zu erklären. 25 Gemäß ähnlichen Regeln verliefen die Fronten in anderen Konflikten. Als etwa die CDU der DDR Mitte Januar 1990 auf Betreiben der bundesdeutschen CDU die Regierung Modrow verlassen sollte, um sich vom Ruch der Blockpartei zu befreien und etw as salon- und dam it bündnisfähiger zu machen, kam es effektiv zu einer Spaltung in der Parteispitze: Während der

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sehen) 10.2.1990, Nachdruck in: Deutschland 1990, Bd. 36, S. 15. Vgl. Joachim Nawrock i: Betäubt vom Tempo der Profis, in: Die Zeit 9.2.1990. MfS-Information Nr. 150/89 vom 23.05.1989 „über beachtenswerte Aspekte des aktuellen Wirksamwerdens innerer feindlicher oppositione ller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen“; BStU, ZA, DSt 103600, S. 4. Vgl. Der Tagesspiegel 6.2.1990. Vgl. Hz. [Albrecht Hinze]: Wahlredner aus der Bundesrepublik unerwünscht, in: Süddeutsche Zeitung 6.2.1990; zu früheren Äußerungen von Schnur vgl. Die Welt 18.1.1990. Beschluß des zentralen Runden Tisches vom 5.2.1990 dokumentiert in: Herles u. Rose (Hrsg.): Vom Runden Tisch (1990), S. 107. – In der Volkskammerdebatte über das Parteiengesetz verlangte ein einzelner Abgeordne ter der NDPD, diesen Beschluß sinngemäß zu übernehmen. Ihm wurde von seinem eigenen Parteivorsitzenden, Günter Hartmann (ExIMS „Harry“), mit der gewiß zutreffenden Begründung widersprochen, eine solche Regelung sei nicht durchsetzbar. Daraufhin zog er seinen Antrag zurück. Vgl. 17. Tagung am 20.–21.2.1990, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 486, 488 f., 509. Vgl. Frankfurter Rundschau 6.2.1990; S üddeutsche Zeitung 6.2.1990; Der Tagesspiegel 6.2.1990; Thaysen: Der Runde Tisch (1990), S. 137. Ein weiterer Beleg für diese These: Aus der bundesdeutschen FDP, die am längsten zögerte, sich mit ihrer „ Schwesterpartei“, der LDPD, gemein zu machen, kam ursprünglich der Vorschlag, aus Mitteln der im Bundestag vertretenen Parteien einen gemeinsamen Fonds einzurichten, aus dem alle bei den Volkskammerwahlen antretenden Parteien außer der SED-PDS zu gleichen Teilen subventioniert werden sollten. Vgl. Interview mit dem FDPSchatzmeister Hermann Otto Solms, in: B onner Rundschau 10.1.1990; „Finanzielle Unterstützung aller DDR-Parteien, die nicht SED heißen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.1.1990.

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Vorsitzende Lothar de Maizière einen solchen Schritt für politisch unverantwortlich hielt und ablehnte, war sein Generalsekretär Martin Kirchner dessen eifrigster Befürworter. 26 Unterstützung erhielt Kirchner von dem DAVorsitzenden Schnur, der die ehemaligen Blockparteien aufforderte, „ diese Regierung ohne Volk unmittelbar zu verlassen“. 27 Bei der Auseinandersetzung um den Termin für die Volkskammerwahlen, der ursprünglich für den 6. Mai geplant w ar, dann aber auf den 18. März vorgezogen werden sollte, kam en die Hauptakteure von der SPD. 28 Eine treibende Rolle spielte Ibrahim Böhme (IMB „ Maximilian“). Ministerpräsident Modrow und die Repräsentanten der ehem aligen Blockparteien w aren mit der V orverlegung einverstanden. Es gab dafür verschiedene G ründe, so die Sorge, das Land stehe vor dem Zusammenbruch aller staatlichen Autorität. 29 Vor allem aber brachte ein früher Wa hltermin jenen Parteien Vorteile, die bereits über eine funktionierende organisatorische Infrastruktur verfügten. Entsprechend agierten sie. Den wohl heftigsten Konflikt gab es um die Frage der Zulassung zu den Wahlen: ob nur Parteien oder auch politische „ Vereinigungen“ berechtigt sein sollten, Kandidaten aufzustellen. Ausgangspunkt war, daß künftig nicht mehr möglich sein sollte, daß die SED bzw. jetzt die PDS die Volkskammer über der Parteidisziplin unterworfene Vertreter der „Massenorganisationen“ wie den D emokratischen Frauenbund oder den G ewerkschaftsbund dominierte, die ihre optische Minderheit zu einer faktischen Mehrheit ergänzten. Dieses Problem, das noch zum alten Machtkam pf gehörte, w urde dadurch ausgeräumt, daß Mehrfachm itgliedschaften von Wahlkandidaten untersagt wurden. 30 Aber „ Vereinigungen“ im Sinne politischer Organisationen, die sich explizit nicht als Parteien verstanden, gab es auch unter den neuen Kräften. Die Meinungsführer im N euen Forum etw a, der w ichtigsten Bürgerrechtsorganisation, ließen keinen Zw eifel daran, daß sie etw as anderes als eine Partei sein wollten. Relativ früh schon, Anfang Dezem ber 1989, hatte der am tierende CDUVorsitzende Lothar de Maizière solchen „ Gruppierungen“ das Recht zu po26 Vgl. Schmidt: Von der Blockpartei zur Volkspartei? (1997), S. 96–99; Thaysen: Der Runde Tisch (1990), S. 86 f.; Interview mit Martin Kirchner, in: ZDF-Mittagsmagazin, 23.1.1990, 13.10 Uhr; Abschrift in: Deutschla nd 1990, Bd. 37, S. 455; K. Rüdiger Durth: Die CDU empfiehlt den möglichen Partnern eine „ Deutsche Allianz“, in: Bonner Rundschau 25.1.1990. 27 Meldung vom 14.1.1990, zitiert nach Zimmerling: Neue Chronik DDR, 4./5. Folge, S. 64. 28 Steffen Reiche, Mitglied des SPD-Vorstands, erklärte in einem Interview : „Es war unser Vorschlag, daß wir die Wahlen ... so früh wie möglich machen.“ Interview mit „Heute aktuell“, BBC 29.1.1990; Abschrift in: Deutsc hland 1990, Bd. 38, S. 1055; vgl. Monika Zimmermann: D ie V olkskammer muß ihr eigene s Schicksal besiegeln, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.1.1990. 29 Vgl. die Regierungserklärung von Modrow; 15. Tagung am 29.1.1990, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 422 f. 30 Vgl. „Gesetz über die Wahlen zur Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik am 18. März 1990“ § 8 Abs. 1, GBl. DDR, Teil I Nr. 9 vom 23.2.1990.

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litischer Repräsentanz abgesprochen und sie aufgefordert, ihr „ Selbstverständnis“ zu ändern. 31 Aber nicht nur die ehem aligem Blockparteien wollten unliebsam e K onkurrenz ausschalten, sondern auch die SD P/SPD, die den Bürgerrechtlern zum A usgleich anbot, auf ihren Listen zu kandidieren. 32 Dabei spielte nicht etwa Böhm e („Maximilian“) die treibende Rolle, er hatte zum Ärger seiner Parteigenossen Anfang Januar 1990 sogar der Erneuerung des Wahlbündnisses der Opposition zugestimmt. Es war schlichter Parteiegoismus, der das A gieren der alten und der neuen Kräfte bestimmte, legitimiert durch die Behauptung, die Bürgerrechtsorganisationen seien nicht politikfähig. Betrachtet man diese Auseinandersetzungen, in denen es um die künftige Machtverteilung ging, so verliefen die Fronten – w ürde man eine generalstabsmäßige Steuerung durch die Staatssicherheit unterstellen – unkoordiniert und sinnlos. Es m üßte ein sehr verw irrter G eneralstab gew esen sein. Wenn man dagegen als Bezugsrahmen das jeweilige Eigeninteresse und das Bestreben nimmt, Wahlchancen unter den neuen Bedingungen zu optim ieren, ist das Verhalten der wichtigsten Akteure unmittelbar plausibel. Karrieren ehemaliger IM Man fragt sich natürlich, was – wenn nicht eine ausgefeilte Stasi-Taktik – die mehrfach erwähnten, an höchst prom inenter Stelle im Wahlkampf aktiven ehemaligen inoffiziellen Mitarbeiter zu dem Risiko schier bodenlosen Falls getrieben hat. Dabei war ihr oppositionelles Engagement in der Frühphase wahrscheinlich noch in A bsprache m it der Staatssicherheit erfolgt, entsprach es doch deren Interesse, Inform ationen aus Zirkeln und Blockparteien zu sammeln und inoffiziell abgesicherte Positionen zu erringen, die es möglich machten, abwiegelnd einzuwirken. Sich bis an die Spitze vorzuwagen aber widersprach geheim dienstlichen Handlungsmaximen und auch jenen letzten nachw eisbaren Ü berlegungen zum IM-Einsatz, die Ende November, Anfang Dezember 1989 im Amt für Nationale Sicherheit angestellt worden waren. Der Bruch im Machtapparat, das offe nsichtliche Abwirtschaften der SED und die O rientierungslosigkeit der Staatssicherheit mußten auch für das Verhältnis jener Führungsoffiziere zu ihren IM einschneidende Folgen haben, die die Verbindung inform ell aufrechterhielten. Sie konnten ihren abhängigen Komplizen keine Stasi-intern ausgearbeiteten Instruktionen mehr geben. Umgekehrt bewegten sich die inoffiziellen Mitarbeiter in sozialen Zusammenhängen und befanden sich persönlich in K onstellationen, in denen der Verfall des Alten Regimes besonders sensibel registriert w urde. Die 31 Interview mit Lothar de Maizière, in: Neue Zeit 9.12.1989. 32 Vgl. Wahlen ohne Neues Forum? , in: die tageszeitung 12.1.1990; Detlev Ahlers: Wahlgesetz ohne Sperrklausel, in: Die Welt 24.1.1990.

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Milieus, die sie ursprünglich auszuforschen hatten, gewannen geradezu dramatisch an Bedeutung und eröffneten jetzt ganz neue Möglichkeiten zum Erwerb von Macht und sozialem Status, bald auch von Einkommen – mehr als die Staatssicherheit jemals zu bieten hatte. Eine Erklärung dafür, w ie die einzelnen auf diese um stürzenden Entwicklungen reagiert haben, wird man letztlich nur finden können, wenn m an auf die individuellen Geschichten und Persönlichkeiten eingeht. Doch es gibt auch einige Parallelen. Die simpelste Erklärungsvariante wäre, daß diese IM auf die Seite der absehbaren Gewinner w echselten. D as hat es sicherlich gegeben. Bei Wolfgang Schnur etw a drängt sich diese Interpretation geradezu auf. 33 Ab er selbst in seinem Fall ist es wahrscheinlich nicht die ganze Wahrheit. Er hat zu Zeiten der D iktatur, w ährend er noch ein funktionstüchtiger und geschätzter Mitarbeiter der Staatssicherhe it war, als An walt etwa Weh rdienstverweigerer m it einem Engagem ent und m it A rgumenten verteidigt, die nicht im Sinne oder gar im Auftrag seiner heimlichen Herren waren. 34 Mit Mandanten, die er als A nwalt in der U ntersuchungshaft besuchte, hat er – wird glaubwürdig versichert – inbrünstig gebetet. Bereits dam als hat sich sein Doppelspiel auf eine merkwürdige Weise ineinander verschränkt. Seine inoffizielle Verpflichtung hat Schnur subjektiv w ahrscheinlich auch als verdeckte Absicherung eines Engagem ents für jene O pfer des Regim es erlebt, für die er sich einsetzen wollte, und sich nicht ausschließlich als verlängerter Arm des Repressionsapparates verstanden. Im Herbst 1989 hat er öffentlich dagegen protestiert, daß seine Mandanten noch immer wegen versuchter „ Republikflucht“ inhaftiert w aren, w ährend Botschaftsbesetzern die Ausreise über Prag gestattet wurde. 35 Schnurs Protest w ar kein Stasi33 Wolfgang Schnur wurde 1944 in Stettin geboren. Er studierte Rechtswissenschaft und machte 1973 seinen Abschluß als Diplom-Juris t. Anschließend war er als Rechtsanwalt auf Rügen und in Rostock tätig. Er war Rechtsbeistand vieler Oppositioneller und in der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen sehr aktiv. (Vgl. Wer war wer? [1995], S. 653) Vom MfS wurde er 1965 als inoffizieller Mitarbeiter auf der Linie XX angeworben. Oberst Wiegand, der Leiter der HA XX/4, bescheinigte ihm im Jahre 1983, er habe „maßgeblich dazu beigetragen, einen Mißbrauch der Kirchen und eine Konfrontation Staat – Kirche vorbeugend zu verhindern“. Im gl eichen Jahr wurde „ Torsten“, so sein damaliger Deckname, zum IMB, der höchsten IM -Kategorie, umregistriert und festgelegt: „Die Haupteinsatzrichtung des IM besteht in der aktiven Bearbeitung negativ-feindlicher Kräfte in der DDR, unter besonderer B eachtung von Pastor Eppelmann. Ein Wirksamwerden als Einfluß-IM ist dabei nicht vorgesehen.“ Vgl. BStU, ASt Rostock, AIM 3275/90, Teil I/I, B l. 1 (Verpflichtungserklärung), 70 (Wiegand) u. 63 f. (Umregistrierung durch die Abt. XX der BVfS Rostock). 34 Das geht zum Beispiel aus einem Konflik t zwischen dem BV-Chef Gehlert und der HA XX/4 über den Einsatz Schnurs bei einem Prozeß gegen Jugendliche in Karl-Marx-Stadt hervor; vgl. Oberstleutnant Wiegand: „ Einsatz des IM ‚Torsten‘ der BV Rostock im Bezirk Karl-Marx-Stadt“ vom 22.12.1983; BStU, ASt Rostock, AIM 3275/90, Teil I/I, Bl. 100–102. 35 Schnur habe gegenüber einer Presseagentur sinngemäß erklärt, „Rechtssicherheit und Gleichheitsprinzip seien aufgegeben, wenn die einen aus den Botschaften in den Westen ausreisen dürften, die anderen aber ins Gefängnis kämen, wenn sie über die Grenze flüchten wollten“. Er wolle für seine Mandanten „ Strafaussetzung und Verfahrenseinstellung“ erreichen. dpa-Meldung vom 2.10.1989, als in terne ADN-Information in: BStU, ASt Rostock, AIM 3275/90, Teil II, Bd. 14, Bl. 238.

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Manöver, um sein Im age in der Opposition zu befördern. Im Gegenteil. Er wurde deshalb von seinem Führungsoffizier erm ahnt. 36 In diesen Tagen war sein Unbehagen so stark gew orden, daß er selbst dem MfS-Offizier gegenüber „deutliche Zweifel an der Führung der Partei zum Ausdruck“ brachte. Das überschattete, wie Major Fiedler berichtete, alles andere: „ Der Treff wurde ausschließlich zur D iskussion zu den aktuellen Problem en genutzt, wobei der Schw erpunkt auf die Stärkung des Vertrauens zur Partei der Arbeiterklasse im Mittelpunkt stand.“ 37 Viel scheint das nicht gebracht zu haben, denn es gab zw ar bis Ende Oktober noch einige Meldungen von „Schirmer“, aber die Inform ationen wurden im mer nichtssagender, bis sie ganz abbrachen. Schnur hatte seine Aufgabe aber auch im mer besonders gut erfüllen w ollen, mit einer – wie lobend erwähnt wurde – „an die Grenzen der physischen Leistungsfähigkeit gehenden Einsatzbereitschaft“ . 38 Skrupellosigkeit und ein Schuß G rößenwahn gehörten dazu. Seine MfS-Führungsoffiziere hatten ihm w iederholt „ übersteigertes G eltungsbedürfnis“ bescheinigt. 39 Sie werden sich bestätigt gefühlt haben, als sie hörten, daß ihr ehem aliger IM sich bei einer Wahlkundgebung als „ der künftige Ministerpräsident“ vorgestellt hat. 40 Schon Anfang Januar 1990, in der Zeit, in der Schnur den D emokratischen Aufbruch von einer reformerischen Perspektive auf einen strikt konservativen Kurs umpolte, war der zentrale Runde Tisch in einem anonymen Schreiben informiert worden, daß de r DA-Vorsitzende Zuträger der Staatssicherheit gew esen sei. 41 Da die zuständige D iensteinheit und der – allerdings vorletzte – Decknam e in diesem Schreiben zutreffend benannt wurden, kann es nur aus der Staatssicherheit gekom men sein. O ffenbar w ar „ Torsten“ alias „Dr. Ralf Schirmer“ alias Wolfgang Schnur völlig aus dem Ruder gelaufen und sollte nun durch gezielte Indiskretion eines Stasi-Insiders abserviert werden, der aber nicht auf dem neuesten Stand w ar – oder intern diesen Anschein erwecken wollte. Ähnlich wie bei den etwa zur gleichen 36 In einem „Treffbericht“ mit „Dr. Schirmer“ vom 7.10.1989 wird vermerkt: „Auseinandersetzung geführt zum Brief an Gen. Ho[necker] + Interviews. IM versprach zukünftig Abst[immun]g mit MfS einzuhalten. “ BStU, ASt Rostock, AIM 3275/90, Teil II, Bd. 14, Bl. 230 f. 37 „Treffbericht“ zu IMB „Dr. Schirmer“ vom 5.10.1989, gez. Fiedler am 11.10.1989; BStU, ASt Rostock, AIM 3275/90, Teil II, Bd. 14, Bl. 244. 38 BVfS Rostock, Abt. XX: „ Vorschlag zu r Auszeichnung [des IMB „ Ralf Schirmer“] mit der Verdienstmedaille der NVA in Gold“ vom 26.6.1989; BStU, ASt Rostock, AIM 3275/90, Teil I/I, Bl. 10. 39 Vgl. etwa BVfS Rostock, Abt. XX/4: „Einsatz und Entwicklungskonzeption zur langfristigen Profilierung, Qualifizierung und Über prüfung des IMB ‚Torsten‘“ vom 5.8.1987; BStU, ASt Rostock, AIM 3275/90, Teil I/I, Bl. 230–237, hier 230. 40 Die Kundgebung fand am 3. Februar 1990 in Halle statt; zitiert nach Zimmerling: Neue Chronik DDR, 4./5. Folge, S. 160. 41 Vgl. „Das war ’ne Top-Quelle“, in: Der Spiegel 12.3.1990, S. 18–22. – Schnur hat seinerzeit Anzeige wegen „ Verleumdung“ erstattet; vgl. Ammer u. Memmler (Hrsg. ): Staatssicherheit in Rostock (1991), S. 8.

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Zeit gegen Lothar de Maizière erhobenen Vorwürfen 42 w urde seitens der Empfänger des anonymen Briefes Vertraulichkeit gewahrt. Erst Anfang März 1990 flog Schnurs Vergangenheit endgültig auf. Bürgerrechtler hatten im Rostocker Stasi-Archiv die um fangreiche IM-Akte entdeckt, 43 seine ehemaligen Führungsoffiziere packten gegenüber dem „Spiegel“ aus. 44 Das Spiel war zu Ende. 45 Weit ernster als Schnurs Am bitionen waren seinerzeit Verm utungen zu nehmen, Manfred Ibrahim Böhme werde der erste – und letzte – frei gewählte Regierungschef der D DR als K andidat der SPD w erden. 46 Böhm e war, schon ehe seine A ktivitäten im D ienste der Staatssicherheit bekannt wurden, eine schillernde Figur. Er ist ein Mensch mit unklarer Herkunft, der immer mit seiner Identität laboriert und wohl auch experimentiert hat. 47 Ein Lebensweg am Rande der D DR-Gesellschaft, aber nicht nur m it Brüchen, sondern auch m it Sprüngen, die m anchen in seinem sozialen U mfeld früh mißtrauisch m achten: ein zu Gefängnis verurteilter „ Trotzkist“, der doch beauftragt wurde, Besuchsfahrten mit sowjetischen Offizieren zu veranstalten. Er verm ochte seine Mitm enschen zu motivieren, sogar systemkritisch zu erm utigen und zu begeistern, ein hochintelligenter Charism atiker, der sich doch auch zurückzunehmen verstand. 48 Zugleich war Böhme seit Ende des Jahres 1968 ein eifriger inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit, der bösartige Berichte über seine „ Freunde“ schrieb. 49 Doch sein Führungsoffizier w ar m it diesen Inform ationen m anchmal sehr unzufrieden, weil „August Drempker“ die Neigung hatte, „feindlich-negative“ Äußerungen Leuten 42 Siehe unten S. 587. 43 Vgl. Anruf des stellvertretenden Regierungsb eauftragten in Rostock, Becker, beim Informationszentrum von Staatssekretär Halbritter am 7.3.1990; BA Berlin, DC 20 11396. 44 „Das war ’ne Top-Quelle“, in: Der Spiegel 12.3.1990, S. 18–22. 45 Schnurs Anwaltszulassung wurde ihm im Jahre 1993 wegen Verstoß „ gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlic hkeit“ durch die Senatsverwaltung für Justiz in Berlin entzogen. Die Entscheidung wurd e durch den Bundesgerichtshof bestätigt. 1996 wurde er wegen „ politischer Verdächtigung“ (§ 241 a Abs. 1 u. 2 StGB) vom Landgericht Berlin zu einem Jahr Gefängnis mit Bewährung verurteilt. Vgl. dpa-Meldung vom 15.3.1996; LG Berlin (502) 65 Js 1285/91 KLs (22/95). 46 Vgl. „ Der letzte Premier“. Interview: Sozialdemokrat Böhme zur Zukunft der DDR, in: Wirtschaftswoche 2.2.1990. 47 Manfred Böhme, den zweiten Vornamen Ibrahim hatte er sich selbst zugelegt, wurde 1944 in der Nähe von Leipzig geboren. Neben eine r Reihe unterschiedlicher Jobs wie Jugendklubleiter und Bibliothekar studierte er im Fernstudium und machte einen Abschluß als Lehrer und Historiker. 1967 bis zu seinem Austritt 1976 war er Mitglied der SED (vgl. Wer war wer? [1995], S. 83 f.). Von Ende 1968 bis 1989 war er als inoffizieller Mitarbeiter des MfS tätig unter den Decknamen „ August Drempker“, „ Paul Bonkartz“, „ Bernd Rohloff“ und „Maximilian“; BStU, ZA, Kartei F 22 zu Reg.-Nr. X/693/68. 48 Diese Skizze basiert zum Teil auf Gesprächen mit ehemaligen „ Mitstreitern“ Böhmes in der Bürgerrechtsbewegung und persönlichen Beobachtungen des Autors. Ein Porträt Böhmes, das gerade deshalb interessant ist, weil es vor der Aufdeckung seiner zweiten Identität geschrieben wurde: Petra Bornhöft: Ibrahim for president? , in: die tageszeitung 19.2.1990, Nachdruck in: taz-Journal Nr. 2 (1990), S. 118–121. 49 Beklemmend sind die Berichte von „ August Drempker“ bzw. „Paul Bonkartz“, die dokumentiert werden in: Kunze: Deckname Lyrik (1990).

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zuzuschreiben, die sie gar nicht getan hatten, die Rollen von A kteuren zu vertauschen und auch mal einen angeblichen Hinterm ann zu erfinden. Im zweiten Halbjahr 1989 häuften sich zudem die Berichte unterer StasiDienststellen über „ feindlich-negative“ Aktivitäten eines „Böhme, Ibrahim“, der in der DDR-Provinz für dem okratische Veränderungen agitierte. 50 Zugleich berichtete er weiterhin über die Aktivitäten seiner „Freunde“ an die Staatssicherheit, etw a über die Bem ühungen zur G ründung einer sozialdemokratischen Partei. 51 Die innere Ambivalenz zweier Rollen, die schon bei Schnur andeutungsweise vorhanden war, ist bei Böhm e noch sehr viel ausgeprägter gew esen. Er war nicht einfach ein Agent der Staatssicherheit in der Opposition, sondern er lebte „ zwei Leben“ , wie es in dem Untertitel zu den Bemühungen einer Journalistin, ihn zu enträtseln, heißt: als Oppositioneller und als StasiAgent. 52 Die Verbindung zwischen beiden Rollen, das wird in diesem Buch angedeutet, war der V ersuch, das eigene, eine Leben als Rom an zu gestalten. Im Hintergrund stand w ohl Böhmes Liebe zur russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, vor allem zu den abgründigen Figuren Dostojewskis. Böhme lebte in einem Roman, und er schrieb ihn selbst. Er teilte Rollen zu, aber er war auch Teil der G eschichte. Die synthetisierende Position, die des schaffenden Erzählers, bedarf einer eigenen Erklärung: Was m achte diese Stellung aus? Hans Magnus Enzensberger schrieb in den sechziger Jahren über eine reale Figur, die doch einem Dostojewski-Roman hätte entsprungen sein können: Jewgej Filipowitsch Asew (1869 –1918). Der Chef der „ Kampforganisation der Sozialisten-Revolutionäre“ , einer terroristischen Geheimorganisation, w ar eine diabolische G estalt, ein A gent provocateur, der im Dienste der zaristischen Gehe impolizei Ochrana seine Genossen verraten und dem H enker ausgeliefert hat und der zur gleichen Zeit einige Großfürsten und G eneräle und selbst seinen V orgesetzten, Innenminister (Plehwe), ermordet hat; schließlich plante er sogar, den Zaren zu beseitigen. Böhme hat sich nie an Honecker vergriffen; er war in seiner aktiven Zeit etliche Nummern kleiner – etwa in dem Maße, wie die DDR kleiner war als das Russische Im perium. A uch setzte die Stasi keine Agents provocateurs ein, das steckte dem Tatendrang ihrer inoffiziellen Mitarbeiter enge G renzen. Aber im Kopf dieses IM m ögen sich ähnliche D ramen abgespielt haben. Enzensberger schreibt über A sews innere Einstellung, von dem „ Gefühl, über allen denkbaren Parteien des K ampfes zu stehen, an dem er teilnahm, den er leitete, und dem er sich entzog“. 53 Ein ähnliches G efühl 50 Vgl. BStU, ZA, HA XX KK (Kerblochkarteikarte) zu Manfred Böhme. 51 Vgl. HA XX/9, Oberstleutnant Lohr: Tonba ndabschrift zu einem Treffen mit IM „ Maximilian“ am 29.8.1989 „zu einer Initiative zur Gründung einer ‚Sozialdemokratischen Partei‘“; HA XX ZMA 2108, Bl. 130–134. 52 Lahann: Genosse Judas. Die zwei Leben des Ibrahim Böhme (1992). 53 Enzensberger: Die schönen Seelen des Terror, in ders. : Politik und Verbrechen (1978),

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mag für Böhm e ein zentrales Motiv abgegeben haben: in der engen und durch die Verpflichtung an die Staatssicherheit doppelt beengten DDR innere Freiheit zu gew innen, indem er sich dünkte, über den Fronten zu schweben, und m einte, alle m anipulieren zu können. Mit der Perspektive, Ministerpräsident der D DR zu w erden, zeichnete sich erstm als ein Inhalt für das Leben als Spiel ab, vielleicht sogar ein A usweg. Dann war aber auch schon alles vorbei. 54 Würde es sich bei der Aufdeckung von Böhm es doppelter Identität durch Stasi-Mitarbeiter um einen Einzelfall handeln, könnten dem verschiedene Motive zugrunde liegen: Rache und Neid eines entlassenen Hauptamtlichen, 55 denkbar w äre auch staatsbürgerliche V erantwortung. D ie H äufung prom inenter Fälle in einem relativ engen Zeitraum (Böhme, Kirchner, de Maizière und Schnur), w obei der A nfangsverdacht immer von Insidern gekommen sein muß, läßt jedoch auf ein gew isses System schließen. D ie Regie führte in dieser Phase wohl nicht mehr die Institution Staatssicherheit; sie ging von einzelnen ihrer Mitarbeiter aus, die nicht unbedingt in A bsprache gehandelt haben m üssen. Sie galt nicht der Steuerung des Transformationsprozesses, sondern war der Versuch, den historischen Prozeß durch Beseitigung einzelner Führungsfiguren aufzuhalten. Es war – kraß ausgedrückt – eine zivilisierten V erhältnissen a ngepaßte F orm i ndividuellen T errors: nicht mit Bombe oder Pistole, sondern m it H ilfe der Medien. Weitere Beweggründe mögen hinzugekom men sein: Es w ar eine Möglichkeit, aus dem im alten Beruf angehäuften Wissen materiellen Vorteil zu schöpfen. Eine realistische Chance sich ihrer, sow eit es sich um „Schläfer“ handelte, künftig zu bedienen, bestand ohnehin nicht m ehr. D ie Prom inenz der Fälle aber verlagerte die öffentliche Aufmerksamkeit, die bis dahin den hauptam tlichen Mitarbeitern gegolten hatte, auf ihre inoffiziellen Gehilfen. So konnten sie ein letztes Mal genutzt werden.

12.1 Er neute Polarisierung In den Bezirken hatten die V ertreter des Übergangsregimes Anfang des Jahres 1990 wachsende Probleme mit den Bürgerkomitees in Fragen der w eiteren A uflösung der Staatssicherheit. D ie Regierungsbeauftragten bemühten sich, gegen langsam wachsenden gesellschaftlichen Druck die Anony mität S. 325–360, hier 357. 54 Erste Verdachtsmomente tauchten Ende März 1990 auf, als Stasi-Offiziere über den ehemaligen IM berichteten (vgl. „ Es muß alle s raus“, in: Der Spiegel 26.3.1990, S. 26–32). Böhme trat bis zur Klärung der Vorwürfe von seinen Ämtern zurück. Für ihn tatsächlich vernichtend – auch im persönliche Sinne – war im Herbst 1990 die bereits erwähnte Dokumentation eines ehemaligen Opfers, an dessen Bearbeitung im Auftrag der Staatssicherheit er intensiv mitgewirkt hatte: Reiner Kunze: Deckname Lyrik (1990). 55 Diese Deutung wurde in dem eben erwähnten „Spiegel“-Artikel nahegelegt.

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der „Quellen“ zu sichern und das Einverständnis von Bürgerkomitees und regionalen Runden Tischen für die Vernichtung von MfS-Unterlagen zu erhalten. Doch die Bereitschaft dazu war gering, weil die m eisten Aktivisten hinsichtlich der Zukunft dieser Aktenbestände unschlüssig waren. Deshalb wollte man sie in der Regel erst einm al sicher aufbewahren. Nur aus wenigen Bezirken meldeten die Beauftragten, es gebe „ Fortschritte“ in der gesellschaftlichen Bereitschaft, bestimmte Akten zu vernichten: aus Cottbus, 56 aus Magdeburg, 57 aus Potsdam 58 und – mit starken Einschränkungen – aus Schwerin 59 . 56 In Cottbus hatten sich Regierungsbeauftra gter und Bürgervertreter am 21.12.1989 auf die „Vernichtung von operativem Schriftgut [geeini gt], welches nicht mehr für die neuen Dienste benötigt wird.“ („ Zum Stand der Auflösung des ehemaligen Bezirksamtes Cottbus“ vom 7.1.1990; BStU, ZA, ZAIG 14274, Bl. 13 f.). Am 4.1.1990 wurde diese Entscheidung in einer Beratung mit Bürgervertretern bekräftigt (vgl. „Meldung des Genossen Neubert aus Cottbus, 04.01.1990“; BA Berlin, DC 20 11349, Bl. 632). 57 Am 23.12.1989 wurde aus Magdeburg gemeldet: „ Es wurde Einigung erreicht, daß IM/ GMS-Akten und OV vernichtet werden. Strafa kten, Gerichtsakten und Kaderakten werden archiviert.“ (Lagezentrum: „ Berichterstattung zur angewiesenen Auflösung der Kreisund Bezirksämter des AfNS“ vom 23.12.1989; BStU, ZA, ZAIG 13864, Bl. 196; vgl. VS Lagezentrum: Lagefilm Nr. 356/89 vom 22. /23.12.1989; ebenda, Bl. 201 f.). Einige Tage später kam die Meldung, daß die Entscheidung wieder offen sei (vgl. Lagezentrum: „ Berichterstattung zur angewiesenen Auflösung der Kreis- und Bezirksämter des AfNS“ vom 29.12.1989; BStU, ZA, ZKG 128, Bl. 299). Am 3.1.1990 schließlich einigte man sich, daß „Schulungsmaterial“ vernichtet werden dürfe, sonst aber verlangte das Bürgerkomitee nun „die Aufbewahrung des gesamten Schriftgutes und der Ton- und Bildträger“ (Lagezentrum: „ Kurzinformation Magdeburg“ vom 3. 1.1990; ebenda, Bl. 90). Vgl. auch VS Lagezentrum: Lagefilm Nr. 3/90 vom 3. /4.1.1990; ebenda, Bl. 131; Lagezentrum: „ Bericht über die Lage im Zusammenhang mit der Auflösung der Kreis- und Bezirksämter für Nationale Sicherheit“ vom 5.1.1990; BStU, ZA, ZAIG 13864, Bl. 95. 58 In Potsdam hatte sich am 12.12.1989 eine „Kommission über die öffentliche Kontrolle zur weiteren Sicherung, Sichtung und eventuell teilweisen Vernichtung von Schriftgut der ehemaligen Bezirksverwaltung/Kreisdienstste llen für Staatssicherheit des Bezirkes Potsdam“ gebildet. In einem ersten Zwisch enbericht vom 19.12.1989 wurde vorgeschlagen, „die durch das ehemalige MfS unberechtigt angelegten Personendossiers und Quellenakten zum baldmöglichsten Termin zu vernicht en“. A llerdings w ollte man dafür die V erantwortung nicht selbst übernehmen, sondern forderte eine Entscheidung von Volkskammer und Rundem Tisch. Die Mitglieder dieser Kommission waren sich zudem nicht einig. Neues Forum, CDU und eine „Potsdamer Initiative“ votierten gegen den Zwischenbericht, blieben aber in der Minderheit. Fernschreiben des Regierungsbeauftragten Wolfgang Splett an Staatssekretär Halbritter vom 21. 12.1989, 10 S. ; BA Berlin, DC 20 11396; vgl. auch „Meldung des Genossen W. Splett aus Potsdam, 20.12.1989; BA Berlin, DC 20 11348, Bl. 68 f.; Lagezentrum: „Berichterstattung zur angewiesenen Auflösung der Kreisund Bezirksämter des AfNS“ vom 21.12.1989; BStU, ZA, ZAIG 13864, Bl. 223 u. 226. 59 In Schwerin hatte ein Bürgerkomitee schon am 13.12.1989 in einem Schreiben an den dortigen Regierungsbeauftragten die „ sofortige Vernichtung der Verzeichnisse sogenannter Patrioten“ und die „ Aufbewahrung des gesicherten Materials für den Zeitraum von 20 Jahren“ gefordert. Erstere Forderung war angesichts der Unsicherheit, ob die IM noch tätig waren, wohl ein Versuch, ihre Verb indung zur Staatssicherheit zu kappen. (Vgl. Schreiben der AG Staat und Recht des Neuen Forums Schwerin, Jutta Schuster, an den Referenten des Ministerpräsidenten, Herrn Goldmann, an verschiedene Nachrichtenagenturen und das Neue Forum Berlin; BStU, ZA, Mittig 95, Bl. 44 f.) Anfang Januar 1990 einigten sich Regierungsbeauftragter und Bü rgerinitiativen auf die „ Vernichtung von vorliegendem gedruckten Schriftgut“ (Vgl. Info rmationszentrum: „ Information Genosse Goldmann, Schwerin, 3.1.1990“; BA Berlin, DC 20 11349, Bl. 604 f.; VS Lagezentrum: Lagefilm Nr. 3/90 vom 3. /4.1.1990; BStU, ZA, ZKG 128, Bl. 121; Informationszentrum: „Schwerin/Goldmann“ vom 9.1.1990; BA Berlin, DC 20 11349, Bl. 821).

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Dort sollte nur „ Schulungsmaterial“ vernichtet werden. Es m utet etwas seltsam an, daß auf die K assation gerade dieser A ktenkategorie und zum Teil auch von dienstlichen Bestimmungen so großer Wert gelegt wurde. Wiederholt wurde sie erw ähnt. Man könnte m einen, es hätte in diesen stürmischen Wochen wichtigere Probleme gegeben. Der verborgene Sinn dürfte gewesen sein, daß das ein Einfallstor war, um den Gedanken einer Aktenvernichtung gesellschaftsfähig zu m achen, und zugleich eine Chance, bei dieser Gelegenheit auch noch andere A kten in die Papierm ühlen zu befördern, denn es handelte sich um Tonnen von Papier, die im einzelnen kaum zu kontrollieren waren. Doch selbst in jenen Bezirken, in denen diese Manöver anzulaufen schienen, gab es aus Sicht der A ktenvernichter bald Rückschläge, weil das Mißtrauen wieder im Wachsen begriffen war. Zwischen dem Einsatz von MfS-O ffizieren im besonderen Einsatz und jenen Orten, in denen sich eine Verständigung auf irgendeine Form von Aktenvernichtung abzeichnete, läßt sich – etwas überraschend – allenfalls eine Nichtübereinstimmung feststellen. In keiner der zuvor erw ähnten Bezirkshauptstädte – Cottbus, Magdeburg, Potsdam und Schwerin – war der Regierungsbeauftragte ein OibE. Umgekehrt bestand in m ehreren Orten, in denen Offiziere im besonderen Einsatz in der Position eines Regierungsbeauftragten tätig w aren, schon bald K larheit, daß die A kten auf jeden Fall erst einmal aufbewahrt werden sollten: in Frankfurt (Oder) 60 , Leipzig 61 und Rostock 62 . Das bedeutet nicht, daß die OibE-Beauftragten ihren Einfluß gerade in dieser Richtung geltend gem acht hätten, sondern ist w ohl so zu interpre60 Aus Frankfurt (Oder) hatte der neue Leiter des BAfNS, Oberstleutnant Gerhard Weckener, am 21. 12.1989 gemeldet, mit dem Bürgerkomitee sei noch keine endgültige Vereinbarung getroffen, doch zeichne sich ab, „daß real ab 5. 1.90 mit aktiven Handlungen der Vernichtung von op[erativem] Schriftgut begonnen werden kann“. (VS Lagezentrum: Rapport Nr. 355/89 vom 21./22.12.1989; BStU, ZA, HA III 13, Bl. 30). Aber am 3.1.1990 mußte der Regierungsbeauftragte Grajcarek , ein OibE, nach Berlin berichten: „ Die Bürgervertreter haben sich von der bisher erzielten Übereinkunft zur weiteren Verfahrensweise mit den Akten des ehemaligen A[f] NS zurückgezogen. Nach ihrer Vorstellung soll dazu e in Rechtsgutachten erstellt w erden.“ (Informationszentrum: „ Information G enosse G rajcarek, Frankfurt/ Oder, 3.1.1990“; BA Berlin, DC 20 11349, Bl. 596). Am 5.1.1990 schließlich verlangte das Bürgerkomitee, daß darüber „ zentral entschieden“ werde. („Telefonische Mitteilung der B ezirksstelle F rankfurt/Oder, G en. Weckener, am 05.01.1990“; BStU, ZA, ZAIG 13864, Bl. 71 f.). 61 Vgl. Lagezentrum: „ Berichterstattung zur angewiesenen Auflösung der Kreis- und Bezirksämter des AfNS“ vom 3.1.1990; BStU, ZA, ZKG 128, Bl. 153; „Telefonische Meldung Gen. Eppisch, Bezirksstelle Leipzi g, am 05.01.1990“; BStU, ZA, ZAIG 13864, Bl. 78 f. 62 Vgl. Informationsgruppe: „Information Gen. Rentmeister, Rostock, 28.12.1989“; BA Berlin, DC 20 11349, Bl. 144 f.; Informationszentrum Halbritter: „ Einschätzung der Lage in den Bezirken am 28.12.1989; BStU, ZA, Z KG 128, Bl. 304; Informationszentrum: „ Information Genosse Rentmeister, Rostock, 1990“; BA Berlin, DC 20 11349, Bl. 597. Am 5.1. erfogte dann allerdings plötzlich die Me ldung: „Seit voriger Woche ist eine differenzierte Vernichtung von operativem Schriftgut m öglich, unterliegt aber einer starken Kontrolle.“ „Telefonische Mitteilung Gen. Österreich, Bezirksstelle Rostock, am 05.01.1990“; BStU, ZA, ZAIG 13864, Bl. 85 f.

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tieren, daß sie besonders vorsichtig taktierten, m ußten sie doch befürchten, daß ihre Doppelrolle auffliegen und das zu einem Skandal werden würde. Auch in D resden w ar als Regierungsbeauftragter ein OibE eingesetzt. Das Bürgerkomitee blockierte alle V ersuche, einen Beschluß zur Aktenvernichtung zu fassen. 63 D er neue Leiter des „ Bezirksamtes in A uflösung“, Oberst Horst Hillenhagen, der zugleich stellvertretender Regierungsbeauftragter war, m eldete von dort in seltener Deutlichkeit: „Es wird zielstrebig mit Fachleuten (Staatsarchiv, Staatsanwaltschaft und zuständige Staatsorgane) auf eine Vernichtung der Dokumente hingearbeitet. Der runde Tisch will diesbezüglich Mitte Januar eine Entscheidung treffen.“ 64 D iese Bemühungen scheinen wenig gefruchtet zu haben, denn drei Wochen später m eldete der Regierungsbeauftragte: „ Die V ernichtung erfolgte noch nicht.“ 65 Das bedeutet keinesw egs, daß nicht auch in D resden A kten zerrissen worden wären. 66 Der Zeitpunkt der Zerstörung aber ist ungeklärt, denn schon lange zuvor war mit solchen A ktivitäten begonnen w orden, auch w eil bestimmte Diensteinheiten wie die „ Koordinierungsgruppen“ zur Bekämpfung der Ausreisebewegung offenkundig überflüssig gew orden waren. Erst einmal abgewartet und die Akten gesichert wurde auch in Städten wie Suhl 67 oder 68 Halle , w o keine O ibE tätig w aren. D as V erhalten in dieser Frage hing offenbar von anderen Faktoren ab: der A ufmerksamkeit der Bürgerkomitees und dem jeweiligen Kräfteverhältnis vor Ort. Auf einer Beratung am 3. Januar bei Ministerpräsident Modrow klagte Engelhardt, der AfNS-Chef: „Als Kernproblem der weiteren Auflösung der Bezirksämter – aber auch notwendiger M aßnahmen zur B ildung des Verfassungsschutzes – erwei st si ch die Verni chtung operat iven Schri ftgutes und dabei besonders der Kategorie ‚Quellenschutz‘. Seit 2 bi s 3 W ochen gibt es in dieser Frage keine nennenswerten Fortschritte, auch n icht in d en Bezirk sämtern, in d enen b ereits ein e gewisse Verständigung über das zu vernichtende operative Schriftgut erreicht werden konnte. Das Mißtrauen der Bürgerkomitees hat sich wieder verstärkt. Unsere Hinweise v erdichten sich , d aß d ie Bü rgerkomitees o ffensichtlich 63 Vgl. Lagezentrum: „ Bericht über die Lage im Zusammenhang mit der Auflösung der Kreisund Bezirksämter für Nationale Sicherhe it“ vom 28.12.1989; BStU, ZA, ZAIG 13864, Bl. 146 f. 64 „Telefonische Mitteilung Gen. Hillenhagen, Bezirksstelle Dresden, am 05. 01.1990“; BStU, ZA, ZAIG 13864, Bl. 66–68; vgl. auch VS Lagezentrum: Lagefilm Nr. 361/89 vom 27./28.12.1989; BStU, ZA, ZKG 128, Bl. 315 f. 65 Telefonnotiz des Informationszentrums Halbritter vom 25. 1.1990; BA Berlin, DC 20 11351, Bl. 363. 66 In Dresden verblieben 1.160 Aktenmeter zerrissenes Material. Vgl. Dritter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten (1997), S. 116. 67 Vgl. Lagezentrum: „ Berichterstattung zur angewiesenen Auflösung der Kreis- und Bezirksämter des AfNS“ vom 21.12.1989; BStU, ZA, ZAIG 13864, Bl. 222; Lagezentrum: „Tagesbericht Nr. 2 vom 4. Januar 1990“; ebenda, Bl. 100. 68 Vgl. Löhn: „Unsere Nerven lagen allmählich blank“ (1996), S. 55.

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Kurs darauf nehm en, di e Verni chtung und dam it m ögliche R äumung der ehemaligen Bezirksämter möglichst bis zu den Wahlen am 6. Mai 1990 hinauszuzögern, um über diesen Weg doch noch eine generelle Offenlegung der Quellen zu erreichen.“ 69

Ob Modrow auf diese Beschw erde direkt reagiert hat, ist nicht überliefert. Engelhardt berichtete zwei Tage später auf einer zentralen Dienstbesprechung, der Regierungschef habe von einem „Dilemma“ gesprochen. Modrow habe gesagt: „[Wir] dürfen nicht an alten Feindbildern festhalten, [wir] kommen sonst keinen Schritt weiter.“ 70 Der Ausgang der Wahlen sei „ungewiß“. Es gelte jetzt, m it den „ Bürgerinit[iativen] stab[ile] Bez[iehungen zu] schaffen“. An der Entscheidung, einen Verfassungsschutz aufzubauen, aber müsse man festhalten. Zur „agenturischen A rbeit“, also der A rbeit m it inoffiziellen Mitarbeitern, gebe es „ keinen Widerspruch“. 71 Doch „bis 13.1. muß [das] Them a: Verfassungsschutz vom Tisch“ . Das sollte in einem anderen als dem gemeinten Sinne tatsächlich der Fall sein. Am V ortag, dem 2. Januar, hatte das bundesdeutsche Fernsehmagazin „Kontraste“ über die A usgleichs- und Übergangszahlungen für ehemalige MfS-Mitarbeiter berichtet. Schon einige Tage zuvor w ar in der „Berliner Zeitung“, dem ehemaligen Blatt der SED -Bezirksparteileitung, darüber berichtet worden, 72 erst jetzt aber, verm ittelt über die „ Westmedien“, wurden sie zum Thema breiterer A useinandersetzungen. Die Staatssicherheit rückte erneut über den K reis der Bürgerkom itees hinaus in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Aus einer Reihe von Betrieben wurden Protesttelegramme an den Vorsitzenden des Ministerrates geschickt. Einige typische Beispiele: A us dem V EB K fz-Instandhaltung Suhl m eldete der Betriebsdirektor: „Am heutigen Tag kam es zu ei ner Arbei tsniederlegung, da di e gest rige Fernsehsendung ‚Kontraste‘ des B RD-Fernsehens Informationen verbreitete, in denen zum Ausdruck kam, daß für ehemalige Angehörige des MfS, die eine andere Tät igkeit aufnehm en, ei n Überbrückungsgeld bzw. ei ne Ausgleichszahlung über einen Zeitraum für 3 Jahre gezahlt wird. Die Kollektive forderten ei ndeutig, daß di ese R egelung zurückgenom men wi rd, da dies gegen bestehende Gesetzlichkeiten des AGB [Arbeitsgesetzbuches] verstößt. Die 69 „Ausführung auf der Beratung beim Genossen Modrow am 3. Januar 1990“; BStU, ZA, ZAIG 8683, Bl. 2–10, hier 6. 70 Hier und im folgenden: Notizen von Kaderchef Möller vom 5.1.1990 zu einer Besprechung mit Engelhardt; BStU, ZA, HA KuSch Ltg. , Bdl. 25 (unerschlossenes Material). Sinngemäß gleichlautend: Arbeitsbuch Oberst Spange; BStU, ZA, HA VII 1360, Bl. 90 f.; Aufzeichnungen eines unbekannten Mitarbe iters; BStU, ZA, HA XXII 5619, Bl. 90–100; Aufzeichnungen eines unbekannten Mitarbeiters; BStU, ZA, Abt. M 1026, Bl. 7–9. 71 Aufzeichnungen eines unbekannten Mitarbeiters; BStU, ZA, HA XXII 5619, Bl. 95. 72 Berliner Zeitung 30.12.1989.

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Werktätigen brachten zum Ausdruck, daß die MfS-Angehörigen bisher ungerechtfertigt wesentlich höhere Einkünfte /Löhne erhalten haben als die ‚normalen‘ Bürger der DDR.“ 73

Kurzzeitige Streiks wurden auch aus dem VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk Suhl 74 und dem VEB Schlacht- und Verarbeitungsbetrieb Dessau gemeldet. Aus Dessau wurde außerdem berichtet, m an sei „ nicht gegen den Einsatz dieser Beschäftigten in den Betrieben“, aber „ eine Zusatzvergütung lehnen w ir ab, da dam it das Mißtrauen zu diesen Kollegen nicht abgebaut wird“. 75 Die Mitarbeiter der LPG Pflanzenproduktion G öda drohten mit einem Streik, w eil „schon w ieder Privilegien gegenüber der arbeitenden Bevölkerung“ eingeführt w ürden. 76 Und aus dem VEB Papierfabriken Heiligenstadt m eldeten Betriebsdirektor und G ewerkschaftsvorsitzender unter der Überschrift „Information der Sozialdem okraten in der D DR zum Ministerratsbeschluß“: „Unser Kollektiv ist nicht dam it einverstanden, daß für die gleiche Tätigkeit unterschiedliche und ungerechtfertigte Löhne gezahlt werden.“ Damit werde der Gewerkschaftsbund (FDGB) geschwächt und die „Wiedereingliederung von Mitarbeitern des Staatsapparates [...] wesentlich erschwert“. 77 Daß die Fortsetzung der überhöhten Bezahlung ehem aliger Staatssicherheitsmitarbeiter kritisiert wu rde, war naheliegend, aber interessant ist, daß außerdem wiederholt auf die rechtlichen Bestim mungen des Arbeitsgesetzbuches Bezug genommen wurde. Das zeigt, daß es ein Rechtsbewußtsein gab, das die neue Regierung, die versprochen hatte, Rechtsstaatlichkeit einzuführen, verletzt hatte. Konflikt am Runden Tisch Bei der Sitzung des Runden Tisches am 3. Januar hatten die oppositionellen Gruppen die Forderung bekräftigt, vor den Wahlen im Mai keinen Verfassungsschutz zu bilden. In ihrem Namen hatte Wolfgang Schnur gesprochen. 78 Die Bürgerrechtler verlangten außerdem , daß dem Regierungsbeauftragten Koch „gleichberechtigt“ „eine von der Opposition benannte Vertrauensperson“ an die Seite zu stellen sei und bei der nächsten Sitzung über die Aushändigung der Waffen des MfS an NVA und Volkspolizei berichtet werde. 79 73 Fernschreiben vom 3.1.1990, 15.34 Uhr; BA Berlin, DC 20 11349. 74 Fernschreiben an den Minister für Wirtsc haft, Prof. Luft, vom 3.1.1990, 18.03 Uhr; BA Berlin, DC 20 11349. 75 Fernschreiben an den Ministerrat der DDR vom 3.1.1990, 12.50 Uhr; BA Berlin, DC 20 11349. 76 Fernschreiben an die Regierung der DDR, Genossen Modrow; BA Berlin, DC 20 11349. 77 Fernschreiben o. D.; BA Berlin, DC 20 11349. 78 Mitschrift der Übertragung: „ Stimme der DDR“ vom 3.1.1990; BStU, ZA, ZAIG 14302, Bl. 4. 79 Erklärung der oppositionellen Gruppen vom 3. 1.1990, dokumentiert in: Herles u. Rose (Hrsg.): Runder Tisch (1990), S. 44; vgl. „Verschärfte Spannungen am Runden Tisch in Ost-Berlin“, in: Der Tagesspiegel 4.1.1990.

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Staatssekretär Halbritter, der die Regierung am Runden Tisch vertrat, hatte zuvor in zw ei zentralen Punkten di e Unwahrheit gesagt: Erstens hatte er behauptet, es gebe „noch keinen Beschluß des Ministerrates zur Bildung neuer Organe“ 80 – dabei genügte ein Blick in das „ Neue Deutschland“ vom 18.12.1989, um ihn Lügen zu strafen. Er selbst hatte noch am V ortag bei einer internen Besprechung erklärt, „ Aufbau V S [V erfassungsschutz], Na[chrichten]-Dienst wird fortgesetzt“. 81 Es existierte nur noch kein vom Ministerrat bestätigter Strukturplan. Zweitens hatte er erklärt, „die Mitarbeiter des ehem aligen Amtes für Nationale Sicherheit sind alle entwaffnet“ . 82 Das traf zw ar auf die ehem aligen K reisdienststellen und die m eisten Bezirksverwaltungen zu – mit Ausnahme derjenigen Mitarbeiter, die für den Objektschutz zuständig w aren, 83 nicht aber für die Zentrale in BerlinLichtenberg. Die Teilnehm er am Runden Tisch verm ochte Halbritter schon in dieser Sitzung nicht zu überzeugen. D eshalb w urde gefordert, am 8. Januar erneut und diesmal präziser Bericht zu erstatten. 84 In der Bürgerrechtsbew egung machte sich das G efühl breit, hingehalten und hintergangen zu werden, während das A lte Regim e versuche, erneut Kräfte zu mobilisieren. Die Kundgebung am sowjetischen Ehrenm al habe das ebenso gezeigt wie die Verzögerungen bei der Auflösung des Staatssicherheitsdienstes. Deshalb hatte eine V ersammlung von etwa 30 Vertretern von Bürgerkomitees in Leipzig am Wochenende vor der entscheidenden Sitzung des Runden Tisches einen offensiveren Ton angeschlagen. 85 In einer Presseerklärung hatten sie die SED -PDS scharf angegriffen und verlangt, gegen die Partei „ wegen des Verdachtes verfassungswidriger Aktivitäten zu ermitteln“. Die Akten der Abteilungen Sicherheit in den SED-Bezirksleitungen und die Archive der Bezirkseinsatzleitungen seien zu öffnen. H insichtlich der Staatssicherheit hatten die Bürgerrechtler erneut gefordert, „die Weisungen der Regierung vom 14.12.1989 zur Bildung eines Verfassungsschutzes auszusetzen, bis die dem okratische Kontrolle eines solchen Organs möglich ist“. 86 80 Mitschrift der Übertragung in: „ Stimme der DDR“ vom 3. 1.1990; BStU, ZA, ZAIG 14302, Bl. 1–7, hier 2. 81 Handschriftl. Notizen von Generalmaj or Möller über eine Besprechung mit Halbritter am 4.1.1990; BStU, ZA, HA KuSch Ltg., Bdl. 25 (unerschlossenes Material). 82 Mitschrift der Übertragung in: „Stimme der DDR“ vom 3.1.1990, Bl. 2. 83 Vgl. „ Zum Stand der Auflösung der ehema ligen Kreis- und Bezirksämter für Nationale Sicherheit“ [5.1.1990]; BStU, ZA, SdM 2289, Bl. 515 f. 84 Mitschrift der Übertragung in: „Stimme der DDR“ vom 3.1.1990, Bl. 7. 85 Vgl. „Telefonische Mitteilung vom Gen. Hopfer, Leipzig, v. 5.1.1990“ an das Lagezentrum des AfNS i. A.; BStU, ZA, ZKG 128, Bl. 126; Informationszentrum Halbritter: „ Einschätzung der Lage in den Bezirken am 5.1.1990“; 5 S.; BA Berlin, DC 20 11349; Zimmerling: Neue Chronik DDR, Folge 4/5 (1990), S. 28 f.; als Stimmungsbild: Detlev Ahlers: Einigeln und überwintern, eine Taktik des Stasi, in: Die Welt 8.1.1990. 86 Dokumentiert in: Fernschreiben des Leipzige r Regierungsbeauftragten Rosentreter an das Informationszentrum des Sekretariats des Mi nisterrates vom 5.1.1990; BA Berlin, DC 2011349.

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Regierungsbeauftragter Koch und Staatssekretär Halbritter hatten ursprünglich erst bis Ende des Monats einen Bericht „ zur Sicherheitslage“ 87 anfertigen wollen. Aufgrund der Zuspitzung der Lage erschienen sie nun bereits am 8. Januar vor dem Runden Tisch. In einführenden Bemerkungen zum Stand seiner Arbeit vermittelte Koch den Eindruck, daß er und sein inzwischen auf 20 Mitarbeiter angewachsener Arbeitsstab sich im wesentlichen m it der Übergabe von Stasi-Immobilien an andere staatliche Träger beschäftigte: „Zur Zeit wird daran gearbeitet, einen Überblick über die zur Auflösung anstehenden Objekte und Ausrüstungen zu schaffen. Parallel dazu werden die ersten Entscheidungen zur Überführung von Produktionskapazitäten in die Volkswirtschaft und in Dienstleistungsbereiche für die Bevölkerung vorbereitet.“ 88

Diese D arstellung seines Tätgkeitsfeldes w ar nicht ganz falsch, aber dam it wollte sich die Opposition nicht abspeisen lassen. Es hagelte kritische Nachfragen, die Koch und Halbritter m eist nicht beantworten konnten oder wollten. Der Regierungsbeauftragte m achte seine Einstellung zu der ihm übertragenen Aufgabe deutlich, als er erkl ärte: „ Es wäre absolut töricht, wenn man jetzt etwas insgesamt auflösen würde, um das dann neu zu gründen.“ 89 Als die beiden Regierungsvertreter auch noch behaupteten, sie w üßten vom zentralen Datenspeicher des MfS eigentlic h nur, daß er in Berlin sei, sonst aber nichts Genaueres, war das Maß voll. Auf Antrag der oppositionellen Gruppen wurde Koch und Halbritter das Mißtrauen ausgesprochen. Die Bürgerrechtler verließen die Sitzung unter Protest und forderten das sofortige Erscheinen des Ministerpräsidenten. 90 Modrow kam nicht, und schließlich vertagte m an sich auf den 15. Januar. Es bestand die reale Gefahr, daß der Runde Tisch scheitern w ürde. Welche K onsequenzen das gehabt hätte, war damals so wenig absehbar wie heute. Taktische Differenzen im „Verfassungsschutz“ Auf der Gegenseite igelte sich die Staatssicherheit noch stärker ein. Engelhardt hatte einen Tag nach dem Leipziger Treffen in einer Dienstbesprechung mit Beauftragten der Bezirksäm ter erklärt, es werde weiter am Aufbau neuer Sicherheitsorgane aus den Beständen der alten Staatssicherheit festgehalten. Die Hoffnung, es sei m öglich, die Zustim mung der Bürgerbe87 Vgl. „ Information der Regierung der DDR an den Runden Tisch“ vom 5.1.1990; BStU, ZA, Mittig 95, Bl. 14–17, hier 17. 88 Protokollauszug nach „2. Fernsehen der DDR“; BStU, ZA, ZAIG 14279, Bl. 5–22, hier 8. 89 Zitiert nach Joachim N awrocki: G eht die fri edliche Revolution zu Ende? , in: D ie Zeit 12.1.1990. 90 Der Antrag, der mit 24 von 38 Stimmen angenommen wurde, ist dokumentiert in: Herles u. Rose (Hrsg.): Vom Runden Tisch zum Parl ament (1990), S. 48 f.; vgl. „ Scheitern des Runden Tisches nur knapp vermieden“, in: Der Tagesspiegel 9.1.1990.

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wegung für eine öffentliche Vernichtungsaktion zu gewinnen, war offenkundig zur Schim äre gew orden. D ie immer wieder geforderte zentrale und öffentlich verkündete Lösung aus Berlin kam ebenfalls nicht. Deshalb gab der AfNS-Chef nun die Parole aus, nicht m ehr länger zu w arten, sondern regional „Insellösungen“ zu suchen. Und schließlich w ies er die Leiter der Bezirksämter an, „ die vorhandenen A genturen, w enn m öglich, zu treffen“ und die inoffiziellen Mitarbeiter „ in dieser operativen Trefftätigkeit an den neuen Dienst zu binden“ . 91 Einer der Teilnehm er, der kommissarische Leiter des Bezirksamtes Halle, Rolf Schöppe, 92 brachte daraufhin „ Bedenken“ vor, „ob es richtig ist, daß an unserer K onsequenz beim Aufbau des Verfassungsschutzes möglicherweise die Regierung Modrow scheitert, da sich der Runde Tisch dagegen ausspricht“ . Und er stellte die rhetorische Frage: „Sind w ir der N abel der Welt? “ D as w urde von Kaderchef Möller mit der Bemerkung abgebügelt, „wenn es das Problem Verfassungsschutz nicht gäbe, würde der Gegner ein anderes Problem hochspielen“. 93 In dieser K onstellation hat der Eklat am Runden Tisch am 8. Januar die Entwicklung entscheidend vorangetriebe n. Halbritters „Informationszentrum“ meldete zwei Tage später: „Nach der Tagung des Runden Tisches in Berlin (8.1.1990) ist eine deutliche Verhärtung der Positionen be i den Vertretern der Bü rgerkomitees festzustellen. So wurden u[nt er] a[nderem ] di e ehem aligen B ezirksämter Erfurt und Gera bis auf Widerruf gänzlich geschlossen. In allen Bezirksämtern ist festzustellen, daß berei ts ausgehandel te Fest legungen bezügl ich des Umgangs und der Verfahrensweise mit dem operativen Schriftgut entsprechend der gegebenen Ori entierungen von Leipzig (5.1.1990 [gemeint ist das Treffen der Bürgerkomitees]) durch di e B ürgerkomitees nochm als überdacht und präzi siert werden. Durch das Bürgerkom itee Schwerin wurde u[nt er] a[nderem ] vorgeschlagen, daß das zur Archi vierung frei gegebene M aterial erst nach dem 6.5.1990 [dem gepl anten W ahltermin] eingesehen und durchgearbeitet werden sollte. Gegebene Zusagen bezüglich der Vernichtung von Schulungsmaterial und von Schri ftgut m it W eisungscharakter wurden, bis auf Schwerin, zurückgenommen.“ 94

Die H offnung, m an könne die A ktivisten in den Bürgerkom itees langsam auf die eigene Seite ziehen, ihnen „ Quellenschutz“ und A ktenvernichtung als Preis für einen friedlichen Ü bergang abringen und vielleicht gar noch 91 Beratungsprotokoll der Leitung des Verfassungsschutzes mit den Beauftragten der Bezirksämter am 6.1.1990; BStU, ZA, SdM 2073, Bl. 3–7. 92 Zu Schöppe vgl. Löhn: „Unsere Nerven lagen allmählich blank“ (1996), S. 50 u. 54. 93 Beratungsprotokoll vom 6.1.1990, Bl. 5. 94 Informationszentrum des Sekretariats des Mi nisterrates: „ Bericht über die Lage im Zusammenhang mit der Auflösung der Kreis- und Bezirksämter für Nationale Sicherheit“, 10.1.1990, 6 S.; BA Berlin, DC 20 11350.

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Zustimmung für den Aufbau neuer, „ normaler Dienste“ gewinnen, war gescheitert. Nachdem die regionalen Bastionen der Staatssicherheit ohne jede Gegenwehr gefallen waren und auf der politischen Ebene keine Signale in wirklich restaurativer Richtung – das heißt: der Rückkehr zur Einparteiendiktatur – kam en, w ar das D rohpotential der N achlaßverwalter des A lten Regimes dahin. Symptomatisch dafür ist die A ufregung über den schon erwähnten sogenannten G eraer Putschaufruf, 95 die aufkam , nachdem Rolf Henrich vom N euen Forum dieses D okument am zentralen Runden Tisch verlesen hatte. 96 Der Appell war zu diesem Zeitpunkt bereits einen Monat alt und hatte erkennbar keine Resonanz gehabt. (Henrichs ursprüngliche Frage machte im übrigen durchaus Sinn: Ob etwa Leuten, die solche Papiere verfaßt hatten, die Auflösung der Staatssicherheit anvertraut sei?) Man wollte es fast nicht glauben, daß das A lte Regime teils niedergerungen w orden war, teils im plodiert war. Die Schlußfolgerung ist klar: D ie „Abrüstung“ – um einen Terminus von Modrow aufzugreifen – des Regim es kam den O rganisatoren des Ü bergangs kaum zugute, w eil sie nicht in der Lage w aren, neues Vertrauen aufzubauen, und einen gewissen Vorschuß, den zumindest der Vorsitzende des Ministerrates hatte, verspielt hatten. Die Krise des Regierungsbeauftragten Erheblichen Anteil an dem erneut wachsenden Mißtrauen hatten diejenigen, die gegenüber der Öffentlichkeit für die Auflösung der Staatssicherheit „von oben“ verantwortlich waren: Staatssekretär Halbritter und Regierungsbeauftragter Koch. Mehr Kom petenzen hatte Halbritter; über ihn ist das Notwendige bereits gesagt worden. Als staatlicher Garant der gesellschaftlichen Bestrebungen, die Geheimpolizei aufzulösen, hatte K och zu gelten. Ihm haftet nachträglich das Image an, er sei derjenige gewesen, der die Staatssicherheit in die neue Zeit hinüberretten wollte. Das gilt bis zu dem ebenso hartnäckigen wie unzutreffenden G erücht, Peter K och sei identisch m it dem gleichnamigen Leiter der Bezirksverw altung für Staatssicherheit in N eubrandenburg. 97 Tatsächlich w ar er ein eher schlichter Bürokrat, gewiß kein engagierter Stasi-Auflöser, der von seiner neuen Aufgabe überfordert war. Seine Kommission kam mit ihrer H auptaufgabe, der Ü bereignung von Stasi-Immobilien an andere staatliche Träger, nur langsam voran, nicht zuletzt, weil sie zugleich Arbeitsplätze sichern sollte. Bei einer Beratung mit 95 Siehe S. 667 f.; vgl. „Aufregung um Telex der Geraer ‚Stasi‘“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.1.1990. 96 Vgl. Anhang zur „Erklärung der oppositionellen Gruppen und Parteien“ am Runden Tisch vom 8.1.1990, Nachdruck in: Herles u. Rose (Hrsg.): Vom Runden Tisch zum Parlament (1990), S. 49 f. Mitschrift der Passagen von der Sitzung des zentralen Runden Tisches am 8.1.1990, die die Staatssicherheit betraf en (auf Basis der Übertragung im DDRFernsehen); BStU, ZA, ZAIG 14279, Bl. 5–22, hier 17 f. 97 Vgl. Fricke: MfS intern (1991), S. 74; Rich ter: Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR (1996), S. 116 u. 293.

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hohen Stasi-O ffizieren w ar darüber ge sprochen w orden. K aderchef Möller berichtete anschließend: „ Viele Betriebe und Institutionen tragen Vorstellungen an uns heran, w as sie haben w ollen. Vor allem ist zu prüfen, w o wir ganze Bereiche ausgliedern können, um die Mitarbeiter weiterzubeschäftig en. In dieser H insicht ist G en[osse] K och bei der Entscheidung zu unterstützen.“ 98 Zuvor habe der Sekretär der Kommission, Heinz Jeschke, geklagt: „Die R egierungskommission arbei tet si ch nur m ühselig durch vorhandene Anträge, weil sie die Objekte nicht kennt. Deshalb muß schnell eine unmittelbare Partnerschaft herbeigeführt werden. Das Hauptanliegen ist, so schnell wie m öglich ganze Objekt e m it Invent ar, Technik und Personal zu übergeben. Di ese Objekt e m üssen funkt ionsfähig sei n. Über die weitere Nutzung großer Objekte muß die Regierung entscheiden.“ 99

Das heißt, daß die Mitglieder der Regierungskom mission keinen Zugang zu den Stasi-Im mobilien hatten, die sie anderen Trägern sam t Personal übereignen sollten. Die Objekte ihrer Auflösungsbem ühungen sahen sich also noch nicht einmal genötigt, die Form zu wahren. Zu den Aufgaben des Regierungsbeauftragten gehörte die Öffentlichk eitsarbeit. Wie kontraproduktiv Koch dieser Aufgabe gegenüber der Bürgerbewegung nachkam , ist geschildert worden. Aber auch die Stasi-Offiziere waren mit ihm nicht zufrieden. So hatte er am 5. Januar 1990 im DDR-Fernsehen eines der bestgehüteten Geheimnisse des Apparates gelüftet: die Anzahl seiner hauptamtlichen Mitarbeiter. 100 Er hatte eine Zahl genannt, die fast dreimal so hoch w ar w ie dam als kursierende Schätzungen. Em pört wurde in Stasi-Kreisen vermerkt, er habe „von 85.000 MA [Mitarbeitern] gesprochen – ohne Absprache!“ 101 Zwei Tage nach dem Desaster am Runden Tisch war Koch willens, das Handtuch zu werfen. In einem Schreiben an den V orsitzenden des Ministerrates schilderte er, wie es zu der Blamage gekommen war: „Ich bin als Zivilist weder fachlich kompetent, die frühere und künftige Tätigkeit der Sicherheitsorgane vor der Öffentlichkeit zu vertreten, noch in der Lage, die Auswirkung der Offenl egung a ller gefordert en Inform ationen auf die nat ionale Si cherheit zu beurt eilen. Ei ne Verant wortung i n di esem Umfang kann ich deshalb vor unserem Volk nicht tragen.“ 102 98 „Vermerk über die Beratung beim Leiter der Kommission [zur Auflösung des AfNS] vom 5.1.1990“, handschriftl., 8 S., hier S. 2; BStU, ZA, KuSch Ltg., Bdl. 25 (unerschlossenes Material). 99 Ebenda, S. 4. 100 In: Aktuelle Kamera, 2. Programm („AK-2“), 5.1.1990; vgl. Zimmerling: Neue Chronik DDR, 4./5. Folge, S. 31. 101 Notizen des amtierenden Leiters des BAfNS Halle, Schöppe, zur zentralen Dienstberatung am 6.1.1990; BStU, ASt Halle, BV Halle - Sachakte BAfNS 17, Bl. 64–66. 102 Schreiben des Regierungsbeauftragten für die Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit

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„Für den Fall, daß das K onzept der Bildung neuer D ienste seitens der Regierung, wie beschlossen, aufrechterhalten wird“ , stellte Koch für den eigenen Verbleib im Amt m ehrere Bedingungen. A n erster Stelle stand, ohne daß der Nam e genannt wurde, die Ablösung von Staatssekretär Halbritter, seines faktischen Vorgesetzten. Er forderte die „ Berufung eines kom petenten Staatssekretärs, der in der Regierung für die Bildung und die Diensta ufsicht der neuen Sicherheitsorgane verantwo rtlich ist“ . In Ausweitung seiner Rechte müsse er selbst befugt w erden, den Regierungsbeauftragten in den Bezirken „grundsätzliche Orientierungen [...] zu erteilen“. Er verlangte „gegenüber allen Leitern und A ngehörigen des A mtes für N ationale Sicherheit Weisungsbefugnis zur Offenlegung von Informationen“ und uneingeschränkte Berechtigung, „ Angaben zu überprüfen, O bjekte zu besichtigen und die Durchführung getroffener Entscheidungen zu kontrollieren“. Für die künftigen Dienste brauche man neue Leiter, die „ unvorbelastet“ seien und „ als Person geeignet“ , auch nach den Wahlen auf ihrem Posten zu verbleiben. Das gelte insbesondere für die kritischst e Position: „Als Leiter für den Verfassungsschutz kommt aus meiner Sicht nur ein Zivilist in Betracht, der bisher keinerlei Beziehungen zum Ministerium für Staatssicherheit hatte.“ Und schließlich wollte er nicht länger den Kopf hinhalten für eine Geschichte, die er nicht zu verantworten hatte: Gegenüber der Öffentlichkeit solle „ein hochrangiger Vertreter des ehem aligen Amtes für N ationale Sicherheit“ beauftragt werden, „zu Fragen der Struktur und insbesondere der Tätigkeit des früheren Ministeriums für Staatssicherheit Stellung zu nehmen“. Kochs Beschwerden waren einsichtig, seine V orschläge sinnvoll. A ber Modrow ließ ihn zw ei Tage später, w ohl als Zugeständnis an den Runden Tisch, fallen wie eine heiße Kartoffel. Bei einer V olkskammersitzung kündigte er an, der Regierungsbeauftragte w erde abberufen, denn es habe „ sich gezeigt, daß er sich nicht als fähig und kompetent erweist“. 103 Allzu tief fiel Koch nicht: Er sollte künftig als Sekretär der Kom mission fungieren. 104 Wer sein Nachfolger würde, blieb offen.

12.2 Der zweite Auflösungsbeschluß des Ministerrates Zusätzlicher D ruck auf den Regierungschef kam aus den Reihen der sich verselbständigenden Blockparteien, die Anstalten machten, die „Koalitionsregierung“ zu verlassen. Modrow meinte ursprünglich, solche Forderungen damit parieren zu können, daß er mit einer Volksabstimmung über den Fortan den Vorsitzenden des Ministerrates vom 10.1.1990; BA Berlin, DC 20 11493/4. 103 1 4. Tagung am 11.–12.1.1990, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 415. 104 Vgl. Möller: Handschriftl. Notizen von der zentralen Besprechung am 13.1.90; BStU, ZA, HA KuSch Ltg., Bdl. 25 (unerschlossenes Material).

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bestand der Regierung drohte und zudem – vorerst vergeblich – versuchte, Vertreter der Bürgerrechtsorganisationen in den Ministerrat zu kooptieren. 105 Zur Koalitionsfrage wurde der Aufbau neuer Nachrichtendienste noch vor den Wahlen. D as kam etw as überraschend, denn die ehem aligen Blockparteien hatten sich noch bei dem Eklat am Runden Tisch am 8. Januar von dem Auftreten der oppositionellen Gruppen distanziert. In einer gemeinsamen „Erklärung“ hatten sie zur Frage eines V erfassungsschutzes auf Zeit gespielt: „ Eine endgültige Entscheidung über die Zustim mung zum A ufbau einer solchen Einrichtung ist erst nach V orlage des Berichtes über die Innere Sicherheit m öglich.“ 106 Dieser Bericht sollte am 15. Januar vorgelegt werden, doch schon zuvor entdeckten einige gew endete Altparteien die Möglichkeiten, die in dem für sie neuen Thema lagen. Am 11. Januar gab der Ministerpräs ident eine Regierungserklärung ab. Die Volkskammersitzung war begleitet von Demonstrationen Zehntausender Bürger vor dem Palast der Republik, die gegen die Pläne zur Einrichtung von Nachrichtendienst und Verfassungsschutz protestierten. 107 Der zentrale Topos in Modrows Rede aber war hinsichtlich der Zukunft der Staatssicherheit, daß kein „ Sicherheitsvakuum“ entstehen dürfe, vor dem „die Bürger“ Angst hätten. A ls Beleg für die Ernsthaftigkeit einer solchen Gefahr wurde einmal mehr der Anschlag auf das sow jetische Ehrenmal in Berlin-Treptow angeführt. 108 (Diejenigen, die hinter diesem Anschlag Kräfte des Alten Regimes vermuteten, m ußten sich bestätigt fühlen. 109 ) Modrow m achte nur kleinere Konzessionen: Die Übergangsgelder für ausscheidende Mitarbeiter sollten nicht m ehr bezahlt, die Geheimdienste parlamentarisch kontrolliert werden. Den Teilnehmern am Runden Tisch w urde angeboten, dabei m itzuwirken. Außerdem wurde, was ohnehin geplant gew esen war, in die Tat umgesetzt: Wolfgang Schwanitz wurde durch Volkskam merbeschluß als Leiter des AfNS abberufen. 110 In der entscheidenden Frage aber blieb Modrow hart. Es gehe dabei „ keinesfalls darum, die alte Struktur aufrechtzuerhalten oder die Arbeit des ehem aligen Ministeriums für Staatssicherheit fortzusetzen, dessen rechtswidrige Praktiken erneut m it aller Entschiedenheit zu ver105 Vgl. „Modrow setzt frühere Blockparteien unter politischen Druck“, in: Der Tagesspiegel 11.1.1990; „Gysi hält Bruch der Koalition für möglich“, in: Süddeutsche Zeitung 11.1.1990. 106 „Erklärung der DBD, LDPD, NDPD, SED- PDS und der VdgB [Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe]“ vom 8. 1.1990; Nachdruck in: Herles u. Rose (Hrsg. ): Vom Runden Tisch (1990), S. 52 f. Die CDU hatte, um Eigenständigkeit zu demonstrieren, eine eigene Erklärung abgegeben, in der sie ebenfalls das Auftreten der oppositionellen Gruppen kritisierte und die Frage neuer Dienste gänzlich unerwähnt ließ. Vgl. „Erklärung der CDU“ vom 8.1.1990; Nachdruck ebenda, S. 51. 107 Vgl. Bahrmann u. Links: Chronik der Wende 2 (1995), S. 51. 108 Regierungserklärung vom 11.1.1990, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 361–369, hier 362. 109 Vgl. Interview mit Sebastian Pflugbeil, Gründungsmitglied des Neuen Forums, in: Bonner Rundschau 11.1.1990. 110 14. Tagung am 11.–12.1.1990, in: Volkskamme r, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 369.

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urteilen sind“, sondern um Grundrechte: „Die Bürger der DDR – und das i st der Kern der Sache – haben ebenso wi e die Bürger westlicher Staaten einen An spruch auf Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit. Dazu gehört auch der Schutz vor subversiven Aktivitäten und anderen verfassungsfeindlichen Handlungen. Wer von einer Regierung verlangt, daß sie di e Si cherheit des Landes und i m Lande gewährleistet, muß ihr auch di e dafür erforderl ichen Einrichtungen zugestehen.“ 111

Gerade weil die Begriffe „ Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit“ nun – was an sich ein Fortschritt war – ohne das Epitheton „sozialistisch“ verwendet w urden, w irkt es absurd, daß m it ihrem Schutz die Restbestände einer Institution betraut werden sollten, die über vier Jahrzehnte die Bürgerrechte verletzt hatte. Daß die Mehrheit der Bürger gerade diese „ Einrichtungen“ als die größte Gefährdung ihrer Sicherheit betrachtete, konnte oder wollte Modrow nicht begreifen. Für ihn war der ersatzlose Verzicht auf die „Dienste“ ein Beitrag zum Abbau der Staatlichkeit der DDR. In der anschließenden Debatte unterstützten die V ertreter der „Massenorganisationen“ (Demokratischer Frauenbund, Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe und Gewerkschaftsbund) diese Position. 112 Kritik kam von ehemaligen Blockparteien. Der Sprech er der LDPD-Fraktion, Hans-Dieter Raspe, w ies die These zurück, das V ersagen von K och am Runden Tisch sei, wie Modrow behauptet hatte, auf „ Mangel an persönlicher Kompetenz“ zurückzuführen. Der Grund liege, wie er einleuchtend argumentierte, tiefer: „Entweder haben sie keine K enntnisse, weil man ihnen Einblicke verwehrt, oder sie dürfen nicht sagen, w as sie w issen.“ 113 Raspe erklärte, daß „ die Einführung eines V erfassungsschutzes noch vor dem 6. Mai mit der LDPD nicht zu machen sein“ werde. „An dieser Grenze stellt sich für uns die Koalitionsfrage.“ 114 Nicht ganz so eindeutig war die Position, die für die Fraktion der N DPD G ünter H artmann (Ex-IM „ Harry“) vortrug. Er bem ängelte, daß es für den A ufbau eines V erfassungsschutzes kein „demokratisches Mandat“ gebe, und forderte eine parlam entarische Kontrollinstanz. Ein Kompromiß mit dem Runden Tisch könne darin bestehen, vor den Wahlen „ein Ü bergangsorgan im Bereich des Ministerium s des Innern zu schaffen“. 115 Mit der Koalitionsfrage war diese Position nicht verbunden. 111 Regierungserklärung vom 11.1.1990, S. 362. 112 So erklärte etwa die Sprecherin der DFD-Fraktion, Sibylle Ströhla: „Sorge und Angst um die Zukunft unseres Landes und die ihrer Familien erfüllt viele Frauen in Stadt und Land angesichts von Gewalttätigkeiten und zunehmenden Aktionen von Neonazis. Deshalb stimmen wir mit dem, was zur Verhinderung solcher Auswüchse in der Regierungserklärung gesagt wird, voll überein.“ 14. Tagung am 11.–12.1.1990, S. 398. 113 Ebenda, S. 393. 114 Ebenda. 115 Ebenda, S. 395.

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Für die CD U sprach der neue Fraktionsvorsitzende Adolf Niggemeier, ein dam als 58jähriger A ltkader. Schon seit 1955 w ar der gelernte Jurist hauptamtlich für die Blockpartei aktiv, seit 1977 als Sekretär für Agitation im H auptvorstand. A uch er w ar m it der Materie enger vertraut, als seine Zuhörer ahnten, hatte er doch in all diesen Jahren – von 1954 bis zum 15. November 1989 – als IM „Benno Roth“ aus seiner Partei berichtet. 116 Gerade er, eine Spitzenquelle der Staatssicherheit für seinen „ Sicherungsbereich“, geißelte das Alte Regime mit besonders scharfen Worten: „Für manchen hat sich da in den letzten Tagen und Wochen im Wortsinn ein Abgrund aufgetan. Aber schlimmer als das Bewußtsein des Ausmaßes des totalen Überwachungssystems, dem wir ausgeliefert waren, sind nur die ständigen Versuche, di ese für ei n demokratisches Gemeinwesen lebensgefährlichen Fallgruben nicht zu beseitigen, sonde rn zu tarnen. W ir können die Erregung der Tei lnehmer des R unden Ti sches, zu dem auch wi r gehören, angesichts der Haltung der Regierungsvertreter im Zusammenhang mit den zu Recht geforderten Informationen über die Auflösung des ehemaligen Amtes für Nationale Si cherheit ebenso gut verst ehen wi e di e Ent rüstung unserer Bürger über die unvertretbare Großzügigkeit der Regierung bei der Abfindung ehemaliger Mitarbeiter des Amtes.“ 117

Niggemeier alias „ Benno Roth“ prangerte die „Angstmacherei“ der SEDPDS an: „Angst vor einem Machtvakuum“, „Angst vor sozialer Not“ , „Angst vor einem neuen Faschism us“. 118 Diese Polem ik ist ein deutliches Zeichen dafür, daß er inzwischen eigene Politik machte, denn er konterkarierte damit die D efensivtaktik der Postkom munisten. 119 Er forderte „ die totale Auflösung aller Einrichtungen des ehem aligen A mtes für Nationale Sicherheit“ und erklärte im Namen seiner Partei, der CDU: „Wir stellen den förmlichen Antrag, daß alle A ktivitäten zur Bildung neuer, selbständiger Sicherheitsor116 N iggemeier war 1954 als Geheimer Informator angeworben worden und seither eine wichtige Quelle der Staatssicherheit für CDU-Interna. Ab 1981 konspirierte er für die HA XX/1. Der letzte Treffbericht stammt vom 24.10.1989. Als „Abbruchsgrund“ wurde in dem Archivierungsbeschluß vom 15.11.1989 „ offizieller Kontakt“ genannt; BStU, ZA, MfS AIM 11943/89 IMS „Benno Roth“, Teil II, Bd. 7, Bl . 150 f. u. Teil I, Bd. 1, Bl. 196 f. Zu Niggemeiers Rolle vgl. Schmidt: Von der Blockpartei zur Volkspartei? (1997), S. 45–49. 117 14. Tagung am 11.–12.1.1990, S. 396. 118 Ebenda, S. 396 u. 397. 119 Vielleicht konnte er jetzt auch frühere Zweifel ausagieren: Bereits 1986 wurde Niggemeier offenbar von einem anderen IM denunziert, weil er in einem CDU-Führungsseminar „ zynische Bemerkungen“ über den Vorsitzenden Götting gemacht habe und „stark westlich orientiert“ sei. BVfS Rostock, Abt. XX/4: „Informationen zur politischen Tätigkeit führender Funktionäre des Hauptvorst andes der CDU“ vom 10.4.1986; BStU, ZA, MfS AIM 11943/89 IMS „Benno Roth“, Teil I, Bd. 2, Bl. 41 f. – Auch in späteren Jahren hatte „Benno Roth“ deutliche Kritik an dem autoritären Führungsstil Göttings und der stillschweigenden Subordination unter die SED geübt; vgl. etwa den Treffbericht vom 14.10.1988, ebenda, Teil II, Bd. 7, Bl. 122–124. Vgl. Schmidt: Von der Blockpartei zur Volkspartei? (1997), S. 49.

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gane bis zu den Wahlen unterbleiben.“ 120 Zwei der drei schärfsten Kritiker der ungenügenden Auflösung der Staatssicherheit in der Volkskammerdebatte waren noch wenige Monate zuvor inoffizielle Mitarbeiter jener Einrichtung gewesen. Ganz unwahrscheinlich ist, daß sie noch in deren A uftrag gehandelt haben: Welches Interesse sollte die Stasi-Generalität an einer weiteren Radikalisierung der Atm osphäre oder gar einem Scheitern der Regierung Modrow haben? Sehr viel plausibler ist, daß die Redner im Einvernehmen mit ihren jeweiligen Parteiführungen agierten, die gerade in diesem Thema eine Chance sahen, sich von der SED-PDS kritisch abzusetzen und fü r die Wahlen eigenes Profil zu gewinnen. Die Emphase, mit der die Position jeweils vorgetragen wurde, hatte wohl mit dem Bedürfnis zu tun, die eigene Vergangenheit zu kaschieren und gar nicht erst den G edanken aufkom men zu lassen, der Vortragende habe mit dieser Institution auch nur das Geringste zu tun. Die geballte Kritik innerhalb und außerhalb des Hauses und dam it verbunden die Befürchtung, daß die DDR vor den Wahlen in einen chaotis chen, regierungslosen Zustand abgleiten w ürde, brachte Modrow schließlich dazu, daß er am zweiten Tag der Volkskam mersitzung in seinem Schlußwort zur Debatte entscheidende Zugeständnisse machte. Er kündigte an: „Ich gehe davon aus, daß di e Regierung morgen die Tagung der Vol kskammer i n Gründl ichkeit auswert en wi rd. Dari n wi rd ei nbezogen sei n, daß wir die Entscheidungen, die für den Verfassungsschut z getroffen sind, aufheben werden. Darin wird ein bezogen sein , d aß wir zu gleich mit all d en Sch ritten der Auflösung des ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit alles das vollziehen werden, was auch i n der R egierungserklärung an der Tät igkeit dieses ehemaligen Min isteriums o der Am tes m it aller Entschiedenheit kritisiert wurde. Es wird alles beseitigt, dam it sich das nicht wiederholt und daß die Auflösung, die bisher eingeleitet ist, sich gerade auf di ese Seite der Dienste, nämlich der Bespitzelungen und all dessen, richtet. [...] Es wird notwendig sein, daß wir auch sichern und gewährleisten, daß die Volkspolizei ihre Aufgaben voll erfüllen kann und daß wi r das, was noch not wendig ist, auch zur Unterstützung der Volkspolizei im Kampf gegen schwere Kriminalität, gegen Verbrechen, die früher von anderen wa hrgenommen wurden, die dafür keine Verantwortung m ehr erhal ten sol len, im Konsens m iteinander berat en und klären, und daß bi s zum 6. Mai kein Amt für Verfassungsschutz gebildet wird. (Beifall)“ 121

Es entbehrt nicht der Ironie, daß sich Modrow zu diesem für das w eitere Schicksal der Staatssicherheit entscheidenden Schritt nicht zuletzt durch die 120 14. Tagung am 11.–12.1.1990, S. 396. 121 14. Tagung am 11.–12.1.1990, S. 407; vgl. auch Mitschrift der Übertragung der Volkskammertagung am 12.1.1990 in Radio DDR I; BStU, ZA, ZAIG 14291, Bl. 10.

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Redebeiträge von ehemaligen IM genötigt sah, von deren früherer konspirativer Verpflichtung durch die Hauptabteilung XX auch er höchstwahrscheinlich nichts wußte. Darüber sollte m an freilich nicht vergessen, daß weitere, mindestens ebenso wichtige Faktoren hinzukam en: wieder zunehmende Demonstrationen und Streiks in m anchen Betrieben und die scharfe Polarisierung am zentralen Runden Tisch. Es bedurfte nun, wie angekündigt, einer Entscheidung des Ministerrates. Er faßte am folgenden Tag, dem 13. Januar, einen „ Beschluß zur w eiteren konstruktiven Zusammenarbeit der Regierung m it dem Runden Tisch“. Damit wurde der eigentliche Kontrahent in all diesen Fragen benannt. Zur „Vorbereitung des Runden Tisches am 15. Januar 1990“ wurde festgelegt: „3. Der Regierungsbeauftragte für di e Aufl ösung des Am tes für Nat ionale Sicherheit hat [...] dem Runden Tisch einen schriftlichen Zwischenbericht zu geben.“ „5. Der B eschluß des M inisterrates vom 14.12.1989 über di e B ildung ei nes Nachrichtendienstes der DDR und des Verfassungsschut zes der DDR wird, soweit er die Bildung des Verfassungsschutzes betrifft, aufgehoben. Es wird bis zum 6.5.1990 kein derartiges Amt gebildet. Notwendige Spezialaufgaben für die Bekämpfung von schwerer Krim inalität und Neofaschismus werden vom M inisterium für Innere Angel egenheiten wahrgenommen.“ 122

Der w ichtigsten Forderung des Runden Tisches wurde damit entsprochen: kein Aufbau eines V erfassungsschutzes vor dem okratischen Wahlen und damit Diskontinuität zwischen der Staatssicherheit und einem – wenn es ihn denn geben sollte – neuen „ Dienst“. Für die noch immer beachtlichen Restbestände der Staatssicherheit bedeutete das eine radikale V eränderung des Organisationsziels: statt Ü berwachung und – in den Wochen zuvor nicht mehr praktizierter – Unterdrückung der Bevölkerung nun kontrollierte Auflösung des Repressionsapparates. „Es geht um die DDR“ Es gab Diensteinheiten in der Staatssicherheit, die von dieser Entw icklung nicht überrascht w aren. D ie H auptabteilung X X etw a hatte noch vor der Volkskammersitzung einen Vorschlag erarbeitet, „ um innenpolitische Zuspitzungen zu vermeiden“. Darin war der Rücktritt von Koch und Halbritter vorgeschlagen worden. Vor allem aber wurde gefordert, m it dem Aufbau neuer Dienste erst nach den Wahlen zu beginnen. A uflösung des AfNS und Neubildung von Verfassungsschutz und Nachrichtendienst sollten „ strikt“ 122 Beschluß des Ministerrates 9/I.b/90 vom 13.1.1990: „ Beschluß zur weiteren konstruktiven Zusammenarbeit der Regierung mit dem Runden Tisch“; BA Berlin, C-20 I/3 2892.

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getrennt, ehemalige Führungskader und langjährige MfS-Mitarbeiter grundsätzlich nicht übernom men werden. Aber auch die anderen w aren erst einmal zu entlassen. Der Preis sollte sein: keine „ Offenlegung der Quellen des MfS“ und die „ Vernichtung eines Teils des vorhandenen Schriftgutes“ im öffentlichen Einvernehm en. Dabei glaubten die Autoren in mittlerer Sicht auf eine milde Behandlung durch die G esellschaft hoffen zu können, denn man habe sich gewaltlos ergeben. So sei „ der Befehl der Regierung, keine Waffen anzuw enden, konsequent eingehalten w orden, selbst als es zum Sturm auf Dienststellen gekommen ist“. 123 Das Papier hatte Modrow entw eder nicht erreicht oder war von ihm ursprünglich nicht beachtet worden. Nachdem der Vorsitzende des Ministerrates auf diese Linie eingeschw enkt w ar, fand noch am zw eiten Tag der Volkskammersitzung, am 12. Januar, eine Besprechung zw ischen Modrow und Engelhardt statt. V on dieser Sitzung existiert kein Protokoll, aber der Amtierende Leiter des V erfassungsschutzes informierte über die Ergebnisse auf einer zentralen Dienstbesprechung, von der m ehrere, inhaltlich weitgehend identische Mitschriften vorliegen. Engelhardt berichtete, aus Sicht Modrows sei die „Bildung neuer G eheimdienste [zum ] Zünglein an der Waage gew orden“. Er fügte hinzu, die „ Regierung muß weitere Kompromisse eingehen, um die weitere Zuspitzung der Lage zu verhindern“ . Seine Quintessenz, die nun ganz anders klang als die D urchhalteparolen eine Woche zuvor: „[Wir] können nicht m it dem Kopf durch die Wand“ . 124 Ein anderer Zuhörer, der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung in der Staatssicherheit, notierte als Engelhardts Einschätzung: „ Den extrem en K räften geht es um eine Demontage des politischen Systems, dabei spielt [das] A[f]NS eine untergeordnete Rolle – es geht um die DDR.“ 125 Diese Bemerkung kann m an nur so deuten, daß sich nun auch in der Spitze des A fNS die Prioritäten verschoben hatten: Die staatliche Existenz war wichtiger als die Existenz der Staatssicherheit, denn sie war die Conditio sine qua non für einen wie im mer gearteten künftigen „ Dienst“. Beide Ziele aber w aren in K onflikt miteinander geraten. D as hatten nun selbst die Ex-G eneräle begriffen, die sich noch A nfang Januar 1990 gegen diese Einsicht gesperrt hatten. Jetzt gelte es, trotz „ allen Problemen, die die Entw icklung für uns persönlich bringt“, künftig „alles [zu] unterlassen, was die Position der Regierung Modrow schwächt“. 126 Einige Festlegungen, die Engelhardt anschließend bekanntgab, zeigten, 123 „Vorschläge zum weiteren Auftreten vor dem ‚Runden Tisch‘“ vom 10.1.1990; auf dem ersten Blatt als Herkunftsdiensteinheit handschriftlich eingetragen: „HA XX“; BStU, ZA, Mittig 95, Bl. 18–24. 124 Notizen von Ex-Generalmajor Möller zum 12.1.1990; BStU, ZA, HA KuSch Ltg., Bündel 25 (unerschlossenes Material). 125 Arbeitsbuch von Rolf Scheffel, 1. Sekretär der SED-Kreisleitung im MfS; BStU, ZA, SED-KL 652, Bl. 1420. 126 Notizen von Ex-Generalmajor Möller zum 12.1.1990.

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daß die A uflösung der alten Strukturen jetzt m it sehr viel m ehr Entschiedenheit angegangen werden sollte. Er habe, notierte Kaderchef Möller, „nochmals betont: Es w erden keine ehem aligen Führungskader übernommen.“ 127 Die Arbeit an dem Aufbau eines Verfassungsschutzes sei zu beenden, „ bestimmte Bereiche (Spionageabw ehr, Terrorabw ehr)“ w ürden als „Übergangslösung“ vorerst dem Innenministerium unterstellt. Dem Runden Tisch sei ein „offener Bericht“ über die bisherigen Strukturen und den Stand der A uflösung vorzulegen. D as Ziel sei, bis zum 31. März den Personalbestand auf 10.000 Mitarbeiter zu reduzieren und bis zum 20. Juni die Auflösung abzuschließen. Die wichtigste Weisung, die Engelhardt als amtierender Chef bei dieser G elegenheit gab, betraf die A rbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern. Sie w ar in den Wochen zuvor zw ar unzweifelhaft stark reduziert worden, hatte aber vereinzelt besonders im neofaschistischen Milieu, durch dessen öffentlichkeitswirksam e Bekäm pfung sich der „Verfassungsschutz“ zu legitimieren suchte, noch stattgefunden. 128 Und schließlich hatte das „Netz“ als Option für künftige Zusammenarbeit aufrechterhalten werden sollen. Damit war es jetzt vorbei: Es „soll verdeutlicht werden, welche Position die Mitarbeiter zur verfehlten Sicherheitspolitik haben. In diesem Zusammenhang Weisung des amt[ierenden] Leiters [Engelhardt], die IM-Arbeit auf dem Territorium der DDR sofort einzustellen.“ 129

Mit diesem – durch die politische Entwicklung erzwungenen – Verzicht war das zentrale Instrument des Staatssicher heitsdienstes obsolet geworden, nachdem zuvor schon andere Machtinstrum ente verlorengegangen waren: Die Bastionen regionaler Präsenz waren geschliffen und die Waffen an Polizei und NVA übergeben worden. 130 Das abhörsichere Telefon-Sondernetz WTSch 127 Ebenda. 128 So hatte das Bezirksamt Erfurt am 22.12. 1989 gemeldet: „Es wurde eine Übersicht über Spitzenquellen zur Bekämpfung von Terror, Neonazismus und Spionage geschaffen und mit der IM-Arbeit wieder begonnen. “ (Lagezentrum: „ Berichterstattung zur angewiesenen Auflösung der Kreis- und Bezirksämte r des AfNS“ vom 23.12.1989; BStU, ZA, ZAIG 13864, Bl. 197). Der wahrscheinlich letzte in den Akten auffindbare IM-Bericht datiert vom 11.1.1990 und gibt Gerüchte wieder , die in der Ostberliner „ Autonomen Antifa“ kursierten: „Information zu vermuteten Aktionen/Vorhaben neonazistischer Kräfte“; BStU, ZA, Mittig 82, Bl. 1 f. 129 Hv. – W.S. Notizen von Ex-Generalmajor Möller zum 12.1.1990. Oberst Spange von der HA VII schrieb in sein Arbeitsbuch: „ Weisung: es ist die A rbeit mit IM im Innern der DDR einzustellen (eindeutige Weisung ohne jeden Abstrich)“; BStU, ZA, HA VII 1360, Bl. 101. Ebenso Arbeitsbuch eines Mitarbeiters der HA III; BStU, ZA, HA III 512, Bl. 9; Arbeitsbuch eines Leitungskaders der HA VIII, Aufzeichnung vom 12.1.1990; BStU, ZA, HA VIII 1616, Bl. 64; Arbeitsbuch von Ro lf Scheffel; BStU, ZA, SED-KL 652, Bl. 1420. 130 Vgl. „ Zur Auflösung der ehemaligen Bezirksämter für Nationale Sicherheit“, nachträglich von E. Braun datiert auf den 10.1.1990; BStU, ZA, MfS/AfNS in Auflösung Nr. 8, Bl. 68–74; „Protokoll. 2. Koordinierungstreffen der Bürgerkomitees der Bezirke zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit“, Dresden 12.1.1990; Privatarchiv David Gill.

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zwischen den D ienstobjekten war abgeschaltet. 131 A m 13. Januar w urden die Waffenkammern in der N ormannenstraße geräumt. 132 Es blieb noch der größere Teil des hauptam tlichen Personals, wobei freilich viele Mitarbeiter bereits in unbegrenzten U rlaub geschickt w orden w aren, und es blieb die alte MfS-Zentrale in Berlin-Lichtenberg. Ü ber den Stand der A uflösung sollte zwei Tage später vor dem zentralen Runden Tisch berichtet werden. Bericht an den Runden Tisch Zu der Sitzung des Runden Tisches am 15. Januar 1990 w ar überraschend auch Ministerpräsident Modrow gekommen. 133 Das war von den V ertretern der Bürgerbewegung wiederholt und zunehm end ultim ativ gefordert, von ihm jedoch im mer abgelehnt w orden, w eil er fürchtete – so seine eigene Darstellung –, m it N achgiebigkeit das „ Ansehen der Regierung“ zu beschädigen. 134 Tatsächlich steckte dahinter die Frage, ob die Macht m it dem Runden Tisch geteilt werden sollte. Inzwischen war die Lage so zugespitzt, daß die Regierung ihrer aus eigenen K räften nicht m ehr H err w urde. D eshalb kam Modrow nun, akzeptierte damit faktisch eine Kontrollfunktion des Gremiums gegenüber der Regierung und bat darum, „daß die Regierung mit Ihrer U nterstützung handlungsfähig bleibt“ 135 . Zu seinen weiteren Zugeständnissen gehörte, neben dem Angebot, daß Vertreter des Runden Tisches in die Regierung aufgenom men werden könnten, auch die Bitte „um Ihre Mitarbeit bei der zivilen K ontrolle der Auflösung“ des AfNS. Sein kurzer Auftritt wurde positiv aufgenom men. Korrespondentenberichte sprachen von einer „entspannten Atmosphäre“. 136 Den Bericht zur Staatssicherheit erstattete diesm al Manfred Sauer, stellvertretender Leiter des Sekretariats des Ministerrates. Es war das erste Mal, daß in der Öffentlichkeit relativ um fassend über den Personalbestand und die Ausstattung des MfS berichtet wurde. 137 Schon die Mitteilung, daß die

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Ich danke David Gill, ab 16. 1.1990 Koordinator des Bürgerkomitees Normannenstraße, für die Überlassung von Kopien dieses und weiterer einschlägiger Dokumente. Vgl. Schreiben des Stellvertretenden Leite rs des VS an die Leiter der Diensteinheiten vom 10.1.1990; BStU, ZA, Rechtsstelle 693, Bl. 1. Vgl. Bürgerkomitee Berlin: „ Protokoll einer Beratung des Arbeitsstabes zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit Berlin am 19.1.90“; Privatarchiv David Gill. Vgl. „Oppositionsparteien über Modrow empört. Ministerpräsident verschiebt Erscheinen am Runden Tisch“, in: Süddeutsche Zeit ung 15.1.1990; „ Modrow überraschend am runden Tisch“, in: Neue Zürcher Zeitung 17.1.1990. Vgl. Modrow: Aufbruch und Ende (1991), S. 72 f. Erklärung des Vorsitzenden des Ministerrate s vor den Teilnehmern am Runden Tisch am 15.1.1990; dokumentiert in: Herles u. Rose: Vom Runden Tisch (1990), S. 54–58. „Modrow überraschend am runden Tisch“, in: Neue Zürcher Zeitung 17.1.1990; ebenso Jochen-Peter Winters, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.1.1990, und Otto Jörg Weis, in: Stuttgarter Zeitung 16.1.1990. Der Bericht wurde seinerzeit in verschiedenen Zeitungen dokumentiert; Nachdruck in: Fricke: MfS intern (1991), S. 188–195. Inhaltlich damit weitgehend übereinstimmend, aber mit erheblichen Differenzen in der Darstellung: „ Zwischenbericht des Regierungsbeauftragt en

Staatssicherheit 85.000 hauptamtliche und 109.000 inoffizielle Mitarbeiter gehabt hatte, 138 übertraf bisherige Befürchtungen – obwohl die erste Zahl durch den ehemaligen Regierungsbeauftragten bereits bekanntgegeben w orden war. Die Auflistung der Bewaffnung dieses Apparates, von 124.593 Pistolen bis zu 3.735 Panzerbüchsen, illustrierte, daß es sich um eine geheime Bürgerkriegsarmee gehandelt hatte – sie wird manchem an den Besetzungen im Dezem ber 1989 Beteiligten noch nachträglich Schrecken eingejagt haben. Nur ganz kurz ging Sauer auf die Arbeitsmethoden des MfS ein, aber er lieferte doch wichtige Stichworte für die weitere öffentliche Auseinandersetzung. Das MfS habe versucht, „ den wachsenden Einfluß ‚Andersdenkender‘ zurückzudrängen“, und „ seit 1985 eine totale ‚flächendeckende‘ Ü berwachungsarbeit angestrebt“. 139 Angesichts dieser und anderer Fakten war es beunruhigend, daß noch im mer 32.500 Mitarbeiter im Dienst waren, wenngleich 20.000 von ihnen „in kürzester Zeit“ entlassen werden sollten. Die Reaktion auf diesen Bericht, der einige Grunddaten dargestellt, aber Strukturen und Arbeitsmethoden der Staatssicherheit nicht beleuchtet hatte, war unterschiedlich. Doch auch wenn Reinhard Schult (N eues Forum), der zu drastischen Formulierungen neigte, mit den Worten zitiert wird, er habe ihn „ halbseiden“ genannt und von „ Albernheiten“ gesprochen, hat die allgemeine Stim mung doch eher Markus Meckel (SPD ) zum Ausdruck gebracht, der ihn als „ recht überzeugend“ bezeichnete. 140 Diese Differenzen konnten nicht ausdiskutiert w erden, weil die Sitzung w egen einer Meldung aus der Normannenstraße unterbrochen werden mußte.

12.3 Der Sturm auf die Stasi-Zentrale Das Neue Forum Berlin hatte am 10. Januar 1990 – zu einem Zeitpunkt, an dem Modrow noch an der Fortführung von Teilen der Staatssicherheit festzur Auflösung des Amtes für Nationale Sich erheit vor dem Runden Tisch am 15. Jan uar 1990“, der am 13.1.1990 dem Ministerrat vorgelegt wurde; BA Berlin, C-20 I/3-2892. 138 Die Zahl der Hauptamtlichen stammt vom 30. 11.1989. In ihr sind nicht enthalten: 2.232 OibE, 2.118 HIM (hauptamtliche Inoffizielle Mitarbeiter) und ca. 1.000 MfS-Mitarbeiter, die in den Wochen zuvor ausgeschieden waren. Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter (1995), S. 88–90, der die Zahlen vom 30.10.1989 referiert. Die Zahl für den IMBestand auf Basis von Angaben für 1988 enthält – entsprechend den Kategorien der MfS-Statistik – nicht die Zahl der Inhaber „ konspirativer Wohnungen“ (IMK) und der „Gesellschaftlichen Mitarbeiter Sicherheit“ (G MS); vgl. Müller-Enbergs: IM-Statistik 1985–1989 (1993), S. 17. 139 Sauer bezog sich dabei auf die Dienstanweisung 2/85 vom 20.2.1985 „ zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit“; BStU, ZA, DSt 103138; Nachdruck in: Fricke: MfS intern (1991), S. 146–163. 140 Zitiert nach Neues Deutschland 17. 1.1990; vgl. zur Stimmung am Runden Tisch JochenPeter Winters: „ Demonstranten stürmen die ehemalige Stasi-Zentrale in O st-Berlin“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.1.1990, und Joachim Nawrocki: „ Unruhe wird zu Zorn“, in: Die Zeit 19.1.1990.

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hielt, und unter dem Eindruck des Eklats bei der vorangegangenen Sitzung des Runden Tisches – für Montag, den 15. Januar, zu einer „Aktionskundgebung vor dem Stasi-G ebäude Ruschestraße“ aufgerufen. Parolen waren: „Sofortige Schließung aller Stasi-Einrichtungen“ , „Hausverbot für alle S tasi-Mitarbeiter“ und „Keine Bildung von neuen Geheim diensten“. Die Teilnehmer an der K undgebung w urden aufgefordert, „Farbe und Spraydosen“ mitzubringen, aber auch „ Kalk und Mauersteine“ . 141 Die Eingänge sollten symbolisch vermauert werden, so wie da s zum Beispiel in Erfurt bereits im Dezember geschehen war. Über den unfriedlichen Ablauf dieser D emonstration, die in der Besetzung und Stillegung der Stasi-Zentrale m ündete, ist viel spekuliert worden. Mehrere Fragen bewegten die Gem üter: Wie kam es – das ist die entscheidende Frage – am späten Nachm ittag des 15. Januar 1990 zur Öffnung des Eingangstors? Wurden die eindringenden D emonstranten bewußt in den politisch unbedeutenden Versorgungstrakt dirigiert? Wer zerstörte Türen, Mobiliar und Akten und entleerte Feuerlöschgeräte? Steckte hinter all dem eine geschickte Provokation der Stasi, die die Bürgerbewegung zu diskreditieren suchte? 142 Die meisten zu diesem Ereignis vorliegenden Schilderungen und A nalysen gehen – mit Ausnahmen, auf die zurückzukom men sein w ird – von einem bipolaren A kteursmodell aus: In dem G ebäudekomplex hätten sich Stasi-Offiziere, verstärkt durch V olkpolizisten, befunden, davor etw a 50.000 Demonstranten, die dem Aufruf des Neuen Forums gefolgt waren. 143 Zwischen ihnen befand sich das Eingangstor an der Ruschestraße. Wer einmal davor gestanden hat, w eiß, daß sich selbst ein Panzer an der schw eren Stahlschiebetür Beulen geholt hätte. Für unbew affnete D emonstranten w ar es unmöglich, das Tor „gewaltsam“ zu öffnen – w ie das Ministerium für Innere Angelegenheiten am folgenden Tag in einer ersten Einschätzung (die zur Legendenbildung beitrug) behauptete. 144 So blieb damals schon die Frage unbeantwortet, die die „ Neue Zürcher Zeitung“ in einem Korrespondentenbericht aus Ostberlin stellte: „ [...] wer die Tore zum Gebäude geöffnet habe, [...] und hartnäckig hielt sich die Meinung, hier seien Provokateure des D ienstes am Werk gew esen, dem die Protestkundgebung galt“ . 145 Solange von nur zwei Akteursgruppen ausgegangen w ird, ist diese Interpreta141 Flugblatt des Neuen Forums „ Mit Fantasie gegen Stasi und Nasi“; BA Berlin, DC 20 11350. 142 Noch im Jahre 1998 schrieb eine Berliner Zeitung anläßlich des 9. Jahrestages: „ Inwieweit die Erstürmung inszeniert war, ist heute immer noch nicht klar.“ „Der Sturm auf die Stasi-Zentrale“, in: Berliner Zeitung 15.1.1998. 143 Vgl. Fricke: MfS intern (1991), S. 73; Thaysen: Der Runde Tisch (1990), S. 66–70; Worst: Das Ende eines Geheimdienstes (1991), S. 32–38. 144 Ministerium des Innern: „ Information vom 16.01.1990. Betreff: Gewaltsame Besetzung der Zentrale des ehemaligen A mtes für N ationale Sicherheit in B erlin-Lichtenberg“, Vermerk: „Persönlich“; BA Berlin, DC 20 11350. 145 „Ruhe nach dem Sturm auf die Stasi-Zentrale“, in: Neue Zürcher Zeitung 18.1.1990.

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tion zwingend. Diese Prämisse ist jedoch falsch. Die Bürgerrechtsbewegung war dam als kein einheitlich handelnder Akteur, nicht nur wegen der Ausdifferenzierung unterschiedlicher politischer Richtungen, sondern auch wegen eines w achsenden Gegensatzes zwischen „Berlin“ und den Bezirken. D ie regionalen Bürgerkom itees zur Auflösung der Staatssicherheit hatten A nfang Januar bei dem ersten gem einsamen Treffen in Leipzig bereits radikalere Töne angeschlagen. Bei einer erneuten Sitzung in Berlin w ar Unmut darüber laut gew orden, daß die Stasi-Zentrale noch immer ungestört w eiterarbeiten könne. Man hatte sich deshalb für das nächste Mal erneut dort verabredet, offenbar w eil man den „Berlinern“ etwas Beine machen wollte. Die planten erst für den 17. Januar eine „Objektbegehung“, gemeinsam mit Staatsanwaltschaft und Volkspolizei. 146 Das erweiterte Treffen der regionalen Bürgerkom itees fand am 14. Januar in der ehemaligen Ostberliner Bezirksverwaltung für Staatssicherheit statt. Anwesend waren Komiteevertreter aus allen Bezirken, einschließlich des für diese Bezirksverwaltung zuständigen K omitees. 147 In einer „ Stellungnahme“, die am nächsten Tag dem zentralen Runden Tisch unterbreitet werden sollte, wurde erklärt: „Das Anliegen der BK [Bürgerkomitees] der Bezirke ist, per 15.1. die in den Bezirken bewährte Methode zur Aufl ösung des M fS Norm annenstraße m it einzubringen und dam it die Sicherstellung des Zentralen Amtes zu begi nnen sowie [die] bisher nicht vorhandene Kontrolle auf das Zent rale Amt zu übertragen, unabhängig [von] der vom Neuen Forum für 17 Uhr aufgerufenen Demonstration vorm Objekt Normannenstraße. Zwischen VP [Volkspolizei] und NF [Neuem Forum] ist vereinbart, die personelle Räumung des Objektes bis 15 Uhr sowi e di e t echnische Sicherstellung des Objektes zu übernehmen.“ 148

Die außerhalb Berlins „ bewährte Methode“ war die Besetzung, die Versiegelung von Räum en und Stahlschränken in K ooperation m it der Staatsanwaltschaft und die Sicherung der G ebäude in „Sicherheitspartnerschaft“ mit der Polizei. Daß dies „unabhängig“ von der geplanten Aktion des Neuen Forums erfolgen sollte, die ja außerhalb des Gebäudekom plexes geplant war, bedeutete ein dem onstratives, wohl auch belehrend gemeintes Vorpreschen der Bezirkskomitees. 149 Allerdings sollte eine Gruppe am Morgen des näch146 Vgl. „Protokoll. 2. Koordinierungstreffen der Bürgerkomitees der Bezirke zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit“, 12.1.1990; Privatarchiv David Gill. 147 Vgl. Gill u. Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit (1991), S. 185. 148 Hv. – W.S. – „Protokoll. Erweitertes Koordinierungstreffen der Bezirkskomitees der Bezirke zur Auflösung des ehemaligen MfS No rmannenstraße Berlin“, Berlin 14.1.1990; Privatarchiv David Gill. 149 Auf diesen Konflikt, der der Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse ist, hat erstmals der inzwischen verstorbene Berlin-Korre spondent der Süddeutschen Zeitung, Albrecht Hinze, hingewiesen: „Vor dem großen Sturm ei ne geordnete Übergabe“, in: Süddeutsche

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sten Tages noch die V ertreter der Bürgerrechtsgruppen am zentralen Runden Tisch in Berlin-Niederschönhausen informieren und zur Teilnahme auffordern. Dort jedoch stieß die Initiative der regionalen Komitees, eigenmächtig sofort zur Tat zu schreiten, auf Ablehnung. 150 Man plante ja bereits eine eigene „ Begehung“ 151 und hatte zudem eben erst durch das Auftreten Modrows und den Bericht von Manfred Sauer den Eindruck gewonnen, daß auf zentraler Ebene nun Kooperation bei der Auflösung möglich sei. Die Vertreter der Bezirkskomitees hatten sich freilich nicht von der Reaktion ihrer Berliner Mitstreiter abhängig gemacht. Ihrem eigenen Zeitplan zufolge sollte eine weitere Gruppe um 11.00 Uhr in der Norm annenstraße vorsprechen und über die „ personelle Räum ung des Objektes“ verhandeln. 152 Tatsächlich traf sie erst gegen 14.00 Uhr ein, wobei nun auch Mitglieder der Arbeitsgruppe „Sicherheit“ des zentralen Runden Tisches zugegen waren. 153 In der Zentrale des AfNS war man auf entsprechende Forderungen schon seit einigen Tagen vorbereitet. A m 11. Januar hatte man von der geplanten Demonstration erfahren, 154 und bei der D ienstbesprechung am folgenden Tag, auf der vor allem die nun unabw endbare A uflösung beredet w orden war, hatte m an auch dazu erste Absprachen getroffen. 155 Man rechnete – noch sehr vage – mit einer Teilnehm erzahl zw ischen 10.000 und 150.000. Zeitung 14./15.1.1995. 150 Vgl. Süddeutsche Zeitung 14./15.1.1995. – In etwas herablassender Umschreibung, die für die damalige Atmosphäre zwischen Ber lin und den Regionen typisch sein dürfte, wurde das bereits von Gill und Schröter erwä hnt: Vertreter der Bezirkskomitees hätten „am Runden Tisch ihr Anliegen erläutert“; Gill u. Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit (1991), S. 185. 151 Später w urde in e iner C hronik der Bürgerkomitees zu den E reignissen notiert: „ Am Mittwoch, 17.1., stand als Ziel des Runden Tisc hes eine Objektbegehung mit Regierungsvertretern bzw. VPI-Angehörigen [Volkspolizeiinspektion] . Diese Begehung erfolgte nicht. Ein Rundgang durchs Objekt mit Vertretern der Medien wurde durch Modrow gewährleistet.“ „ Ablaufdokumentation der Auflösung des MfS, Objekt Normannenstraße ab 15.1. bis 22.1.1990“ vom 22.1.1990; Privatarchiv David Gill. 152 „ Protokoll. Erweitertes Koordinierungstreffen der Bezirkskomitees der Bezirke zur Auflösung des ehemaligen MfS Normannenstraß e Berlin“ vom 14.1.1990; Privatarchiv David Gill. 153 „Ablaufdokumentation“ vom 22.1.1990. – Di e Anwesenheit von Vertretern der Bezirkskomitees ist verschiedentlich erwähnt worden, jedoch ohne wahrzunehmen, daß auf seiten der Bürgerbewegung zwei voneinander unabhängige Akteure involviert waren. So schrieb Karl-Heinz Baum, der Korrespondent der Frankfurter Rundschau: „ Das ‚Objekt‘ war am Mittag von offiziellen Vertretern einem Bürgerkomitee übergeben worden. “ Er zog aus dieser Beobachtung aber keine Schlüsse für die Dynamik der ganzen Aktion. Vgl. „Die Bastille des Überwachungsstaates“, in: Frankfurter Rundschau 17.1.1990; ebenso Jochen-Peter Winters: „ Demonstranten stür men die ehemalige Stasi-Zentrale in O stBerlin“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.1.1990. Ebenso auf Basis eines Berichts von „Spiegel TV“ (in: VOX 12.1.1996) Richter: Staatssicherheit (1996), S. 160 f. 154 Vgl. Rapport des Offiziers vom Dienst vom 11.1.1990, 08.15 Uhr; BStU, ZA, BdL 532, Bl. 2 f. 155 Vgl. Notizen von Kaderchef Möller zum 12.1.1990; BStU, ZA, HA KuSch Ltg., Bündel 25 (unerschlossenes Material); Arbeitsbuch von Rolf Scheffel; BStU, ZA, SED-KL 652, Bl. 1421 f.; Arbeitsbuch Oberst Spange; BStU, ZA, HA VII 1360, Bl. 104 f.

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Von den Organisatoren sei Gewaltlosigkeit zugesichert, aber sie könne nicht garantiert werden. 156 Was bereits am 4. November 1989 befürchtet w orden war, schien nun ernst zu w erden: Es w urde mit einer Besetzung gerechnet. Kaderchef Möller notierte: Bestim mte Räume seien „aus Gründen des Quellenschutzes zu versiegeln“ , in den Diensteinheiten sollten außer Wach- und Sicherungskräften und den O perativen Diensthabenden nur „Ansprechgruppen“, bestehend aus „ 2– 4 befähigten A ngehörigen“, verbleiben, um „ im Fall von O bjektbegehungen sachkundig A uskunft zu geben“ . A lle anderen Mitarbeiter würden angewiesen, den Gebäudekom plex bis zum Mittag zu verlassen. 157 Einer der Anwesenden schrieb in sein A rbeitsbuch an den Rand: „kooperativ, kontaktfreudig Auskunft über DE [Diensteinheit] geben. Es gibt nunmehr keine Tabus mehr bis auf den Q uellenschutz (daß es Quelle[n] gab, weiß jeder)“. 158 Als das Häuflein von Vertretern der Bezirkskom itees an jenem Mittag dann am Einlaß klingelte, wurden sie nicht etwa abgewiesen, sondern sofort eingelassen. Zugegen waren schon die Volkspolizei und die Militärstaatsanwaltschaft, 159 die heikle Räum e bereits zuvor versiegelt hatte. 160 Es schien die Chance zu einer gar nicht bedrohlichen, sehr geordneten Ü bergabe gegeben. Das ganze Verfahren war bereits einmal durchgespielt worden: in Leipzig am 4. Dezember, wo die Montagsdem onstration die „ Runde Ekke“ erst erreicht hatte, als sich bere its Vertreter des Bürgerkom itees im Innern des G ebäudes befanden. 161 D ort hatte die K ommunikation zw ischen Bürgerrechtsvertretern im Innern und D emonstranten und deren Ordnern außen freilich geklappt (obwohl auch das die anschließende Besetzung nicht verhindert hatte), während sie in Berlin-Lichtenberg gestört w ar. D aß sich daran auch anschließend nichts änderte, ist einem Papier abzulesen, daß das Neue Forum am 18. Januar dem Runden Tisch vorlegte, unterzeichnet unter anderem von Reinhard Schult (N eues Forum), der bereits am Tag des Geschehens einem Journalisten gegenüber die V ermutung geäußert hatte, die Öffnung der Tore sei „ein Stück Provokation von der Stasi“ 162 gewesen. In der „ Erklärung“ wurde festgestellt: Die Schlüssel hätten die „Wachmann-

156 „Nicht ausgeschlossen werden kann – trotz ausdrücklicher Bekundung der Gewaltlosigkeit – das gewaltsame Eindringen in das Dien stobjekt.“ „ Aufruf zur Demonstration am 15.1.1990, 17.00 Uhr vor dem Dienstobjekt Ruschestraße“, o. D., handschriftl. Vermerk: „vom Gen. Niebling“; BStU, ZA, Mittig 89, Bl. 17–19. 157 Vgl. Notizen von Kaderchef Möller; sinngemäß gleich Arbeitsbuch von Rolf Scheffel, Bl. 1421 f. 158 Arbeitsbuch Oberst Spange, Bl. 104. 159 Vgl. Ministerium des Innern: „Information vom 16.01.1990“; BA Berlin, DC 20 11350. 160 Auf der Dienstbesprechung am 12.1.1990 war angekündigt worden: „Räume, wo erforderlich, durch Staatsanwalt versiegeln lassen.“ Arbeitsbuch von Rolf Scheffel; BStU, ZA, SED-KL 652, Bl. 1421. 161 Vgl. Bürgerkomitee Leipzig (Hrsg.): STASI intern (1991), S. 21–51. 162 Zitiert nach Detlev Albers: „Um zehn nach fünf wurden von innen die Tore geöffnet“, in: Die Welt 17.1.1990.

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schaften des ehemaligen MfS“ gehabt, „zu klären bleibt, w ie die Tore geöffnet wurden“. 163 Das hätte sich inzwischen klären lassen. Tatsächlich war gegen 17.00 U hr der D ruck auf das Tor durch die nachrückenden Demonstranten so heftig gew orden, daß Bürgervertreter im Innern des G ebäudes fürchteten, es w ürden in der drangvollen Enge Menschen zu Schaden kom men. Deshalb hatte der katholische Geistliche Martin Montag, der zuvor als Vertreter des Bürgerkom itees Suhl m itverhandelt hatte, einem Polizisten die A nweisung gegeben, das Tor zu öffnen. Seine Begründung: „ Wir wollten keine Gewalt, schon gar keine Toten.“ 164 Die Öffnung des Tors in der Ruschestraße und bald darauf auch in der N ormannenstraße traf die etw a siebzig O rdner, die das N eue Forum vor dem Gebäudekomplex postiert hatte, völlig unvorbereitet. So strömten Tausende in das Innere der einst so mächtigen Stasi-Zentrale. Es sind dort noch einige merkwürdige Dinge geschehen, die als Beleg dafür zitiert werden, daß das Ganze ein abgekartetes Spiel „ der Staatssicherheit“ war. 165 Es ist durchaus möglich, daß einzelne Stasi-Angehörige Mobiliar dem olierten, sei es, um die Bürgerbew egung in Mißkredit zu bringen oder um ein letztes Mal die scheinbare N otwendigkeit eines Staatssicherheitsdienstes unter Beweis zu stellen, oder auch aus purer Frustration. D och dagegen, daß es sich dabei um ein Elem ent in einer überlegten Taktik der AfNS-Spitze gehandelt hat, sprechen die – zugestanden eher spärlichen – Quellen und der Ablauf der Ereignisse, und schließlich spricht die damalige politische Orientierung dies er Führung dagegen: alles zu vermeiden, was eine weitere Eskalation auslösen könnte. Der 13. Januar markiert das staatsrechtliche Ende der Institution Staatssicherheit. Die Aktion der Bürgerrechtler aus allen Teilen der DDR und vieler empörter Berliner vom 15. Januar läutete ihr politisches Finale ein. Erhebliche Teile dieser Organisation aber bestanden fort, und es dauerte noch einige Monate, bis sie von der Bildfläche verschwunden waren: alle Mitarbeiter entlassen, die Immobilien und das bewegliche Eigentum anderen Trägern übereignet waren. Dabei sind m anche krum men D inge geschehen: G elder wurden auf die Seite gebracht, konspirative O bjekte privatisiert und Spuren verwischt. 166 Das waren Absetzmanöver, in denen sich einzelne Mitarbeiter 163 „Erklärung des Neuen Forum – Berlin zu r Demonstration am 15.1.1990“ vom 18.1.1990, unterzeichnet von Ingrid Köppe, Reinhard Schult u. Sebastian Pflugbeil; Privatarchiv d. Verf. Nachdruck ohne Unterzeichner in: Herles u. Rose: Vom Runden Tisch (1990), S. 60 f. 164 Zitiert nach „ Vor dem großen Sturm eine geordnete Übergabe“, in: Süddeutsche Zeitung 14./15.1.1995. Hannelore Köhler, ab dem 16. 1.1990 Sprecherin des Berliner Bürgerkomitees, berichtet, daß verschiedene Vertreter der regionalen Bürgerkomitees diese Darstellung der Rolle Martin Montags bestätigen; Gespräch mit d. Verf. am 7.1.1997. 165 Vgl. Worst: Das Ende (1991), S. 34–36. 166 Von MfS-Konten wurden in der Zeit zwischen Oktober 1989 und März 1990 schätzungsweise 700 bis 800 Millionen Mark der DDR abgehoben. (Vgl. Aussage des Abteilungsleiters in der Bundesanstalt für vereinigungsbedingtes Sondervermögen, Rath; referiert nach: Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß DDR-Vermögen [1998] , Bd. 1: Textband, S. 175.) Es handelte sich dabei ab er nicht um Schwarze Kassen oder Operativ-

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oder auch ganze G ruppen aus der Erbm asse des U nterdrückungsapparates eine neue m aterielle Existenz aufzubauen suchten. Gerade das ist ein Beleg dafür, daß die Institution Staatssicherheit als norm atives Muster der Verhaltenssteuerung an ihr Ende gelangt w ar. Aus „tschekistischer Sicht“ hätte es sich bei einem solchen Verhalten um „kleinbürgerliche“ und kriminelle Verfallserscheinungen gehandelt, die streng geahndet worden wären. Aus soziologischer Perspektive ist es ein deutliches Zeichen dafür, daß es keine verinnerlichten Rollenerw artungen m ehr gab, gegen die zu verstoßen Sanktionen nach sich gezogen hätte. Eine Institution, deren Mitglieder ihr dingliches Vermögen individuell an sich raffen, ohne daß das bestraft würde, ist erledigt. Diejenigen ausscheidenden Mitarbeiter, die sich in langen Reihen stundenlang in der Hauptabteilung Kader und Schulung anstellten, um ihre Entlassungspapiere abzuholen, haben dagege n die Existenz dieser Institution ein letztes Mal bestätigt. Sie hatten einen Befehl erhalten, und sie führten ihn aus. Ebenso natürlich diejenigen, die diese Papiere ausfertigten. Das Organisationsziel des „ AfNS in Auflösung“ (so die neue Bezeichnung) aber hatte sich radikal verändert. Mit der m artialischen Sinngebung eines „Schilds und Schwerts“ der Partei hatte das nichts m ehr zu tun. D ie Staatssicherheit war m utiert zu einer bürokratischen A bwicklungsmaschinerie. Selbstverständlich haben sich die Menschen, die in diesem Apparat gearbeitet haben, nicht von Stund’ an verändert. Sie waren ernüchtert, desillusioniert, und viele waren verbittert. Sie werden das Ziel ihrer Tätigkeit allenfalls widerwillig akzeptiert und sich m it ihrer neuen, zudem zeitlich befristeten Rolle kaum identifiziert haben. Manche werden versucht haben, ihr eigenen Sinn zu verleihen, indem sie die G elegenheit nutzten, auch jetzt noch Spuren zu verwischen.

12.4 Epilog Noch in der Nacht vom 15. zum 16. Januar 1990 konstituierte sich ein Bürgerkomitee zur Besetzung der A fNS-Zentrale. Die Geschichte des Komitees ist an anderer Stelle dargestellt worden. 167 Diese Tage hatten die entscheidende praktische Weichenstellung für die A bwicklung der Staatssicherheit gebracht, die selbst nicht mehr Gegenstand dieser Darstellung ist, in der das gelder, sondern um die aufgelösten Sparkonten der ehemaligen Mitarbeiter und Übergangsgelder in beträchtlicher Höhe. Letztere haben, um nur ein B eispiel zu nennen, in Karl-Marx-Stadt fast 19 Millionen Mark oder durchschnittlich 5.000 M je hauptamtlichen Mitarbeiter ausgemacht; vgl. Regierungsbeauftra gter Karl-Marx-Stadt: „ Bericht über den Stand der Auflösung des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit vor dem Runden Tisch Karl-Marx-Stadt am 15.2.1990“, 19 S., hier S. 14; BA Berlin, DC 20 11351. 167 Vgl. Gill u. Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit (1991), S. 183–203; Links: Die Akteure der Auflösung (1991), S. 67–96.

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Scheitern einer gegenrevolutionären Institution geschildert wird. Es sollen aber noch einige daran anschließende Regierungsbeschlüsse erläutert w erden. Aus Sicht des Übergangsregimes hatte sich die A usgangslage inzwischen grundlegend verändert: A bsoluten V orrang hatte für seine Träger nun die Rückgewinnung politischer Stabilität. Dafür wurden Geheimpolizei und Geheimdienst geopfert. Zugleich folgte daraus, daß die A uflösung nicht selbst zu einem Destabilisierungsfaktor werden sollte. Aus Sicht der einst Mächtigen gehörte dazu weiterhin der „ Quellenschutz“. D afür gab es m ehrere Gründe: Im mer w ieder w urde von seiten der Sicherheitskräfte behauptet, eine A ufdeckung der inoffiziellen Mitarbeiter w erde zu „ Mord und Terror“ 168 führen. D as hat sich zw ar nachträglich als unsinnige Behauptung erwiesen, trotzdem haben damals, in jenen stürmischen Zeiten, wohl gerade etliche von denen daran geglaubt, die ein schlechtes Gewissen hatten. Wie dem auch sei – daß das Bekanntw erden jener inoffiziellen Mitarbeiter, die sich durch politischen Aktivism us auszeichneten, zur weiteren Delegitimation etwa der „ Koalitionsparteien“ und dam it zu erneut wachsender Unruhe beigetragen hätte, war gew iß nicht von der H and zu w eisen. D ie sicherste Form des „ Quellenschutzes“ w ar die V ernichtung. In bezug auf die Akten hatte sie sich jedoch als politisch riskantes Vorhaben erwiesen. Wenn darauf nun verzichtet wurde, schließt das nicht aus, daß in Bereichen, wo eine Realisierung im Konsens möglich schien, an diesem Ziel festgehalten wurde. Solche Bereiche gab es: die U nterlagen der H V A und die elektronischen D atenträger. Doch vorerst w aren die adm inistrativen Strukturen den veränderten Verhältnissen anzupassen. Am 18. Januar wurde im Amt des Regierungsbeauftragten für die A uflösung als N achfolger von Peter K och der bisherige Leiter der Zivilverteidigung, Fritz Peter 169 , ernannt. Ihm w ar von nun an Engelhardt unterstellt, der von Modrow am gleichen Tag schriftlich beauftragt wurde, „ das ehem alige Am t für Nationale Sicherheit in allen seinen Gliederungen aufzulösen“ . 170 Mit diesem Auftrag wurde zugleich eine bewußte U nterlassung korrigiert, die noch der Ministerratsbeschluß vom 13. Januar enthalten hatte: D ort war nur vom „Verfassungsschutz“ die Rede gewesen, dessen Aufbau storniert werden sollte, während der „Nachrichten168 Verfassungsschutz der DDR: „Vorschlag zum weiteren Vorgehen für die Aufbewahrung bzw. Kassation von Archiv- und weiterem dienstlichen Schriftgut des ehemaligen MfS/ AfNS“ vom 4.1.1990; BStU, ZA, ZAIG 13670, Bl. 2–11, hier 10; „Vorschläge zum weiteren Auftreten vor dem ‚Runden Tisch‘“ vom 10. 1.1990; BStU, ZA, Mittig 95, Bl. 18– 24, hier 20. 169 Generaloberst Fritz Peter (62) hatte eine Karriere in der NVA gemacht, ehe er 1976 zum Chef der Zivilverteidigung ernannt worden war; vgl. Wer war wer? (1995), S. 563 f. – Zur Ernennung F. Peters zum Regierungsbeauft ragten vgl. Werner Fischer: „Information zur Arbeitsstruktur und Arbeitsweise für den Runden Tisch“ vom 5.2.1990, dokumentiert in: Gill u. Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit (1991), S. 191–197, hier 193. 170 „Vollmacht“ für Heinz Engelhardt vom 18. 1.1990, gez. Hans Modrow, Vorsitzender des Ministerrates; BA Berlin, DC 20 11493/4.

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dienst“ unerwähnt blieb. Nun galt der A uflösungsbeschluß auch für die ehemalige HV A, wenngleich seine Realisierung etwas anderen Konditionen folgte. 171 Der Runde Tisch befaßte sich in seinen Sitzungen am 18. und am 22. Januar erneut mit der A uflösung des MfS und seiner N achfolgeeinrichtungen. In der Sitzung am 18. Januar distanzierte m an sich vorsichtig von den Geschehnissen in der N ormannenstraße, 172 mit denen auch die Berliner Bürgerrechtler in diesem G remium düpiert w orden w aren. Zugleich w urde die Forderung bekräftigt, die der zentrale Runde Tisch bereits in seiner konstituierenden Sitzung aufgestellt hatte: „Das Amt für Nationale Sicherheit als institutionalisierte und personelle Nachfolgeeinrichtung des M inisteriums für St aatssicherheit i st ersatzlos aufzulösen. Das Vorhandensein und dessen Arbe it in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird im höchsten Maße als Gefahr für die gesellschaftliche Entwicklung sowie den inneren und äußeren Frieden eingeschätzt.“ 173

Eine weitere Forderung w ar, daß dem Regierungsbeauftragten V ertreter der Bürgerbewegung mit Kontrollberechtigung zur Seite gestellt wurden. Dam it wurde am 22. Januar vom Runden Tisch eine D reiergruppe beauftragt: Werner Fischer (Initiative Frieden und Menschenrechte) und Georg Böhm (DBD), außerdem Bischof Gottfried Forc k, der allerdings mit Rücksicht auf sein Amt nur beratend tätig werden wollte und sich durch Oberkonsistorialrat Ulrich Schröter vertreten ließ. 174 Dieser Dreiergruppe wurde die AG Sicherheit des Runden Tisches, die durch eine „ Operative G ruppe“ verstärkt worden war, 175 als „ Arbeitsstab“ zugeordnet. 176 Die laufenden Absprachen aber w urden vor allem in dem „ Arbeitsstab zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit“ getroffen, in dem die Regierungsbeauftragten, Vertre171 Das Staatliche Komitee beim Innenministerium erklärte in einem Bericht vom September 1990: „ Noch im Monat Februar hatte die damalige Regierung Modrow vor, die Hauptverwaltung Aufklärung mit einer Stärke von 25 % bestehen zu lassen. Unter dem Druck der Öffentlichkeit, insbesondere der Arbeits gruppe Sicherheit des Zentralen Runden Tisches und der Bürgerkomitees, wurde entschieden, auch die Hauptverwaltung Aufklärung aufzulösen.“ Komitee zur Auflösung von MfS/AfNS: „ MfS – der Machtapparat der SED“, Presse-Information des Ministeriums des Innern vom 25.9.1990, S. 5; Privatarchiv d. Verf., Nachdruck in: Sächsische Zeitung 26.9.1990, S. 52 f. 172 Vgl. „Beschluß zu den Ereignissen am 15.1.1990“, in: Herles u. Rose: Vom Runden Tisch (1990), S. 62. 173 „Zur Auflösung des Amtes für Nationale Si cherheit“, Beschluß vom 18.1.1990, in: ebenda, S. 67–69. 174 Vgl. Beschluß des Runden Tisches vom 22.1.1990 „ Zu Sicherheitsfragen“, Nachdruck in: Herles u. Rose: Vom Runden Tisch (1990), S. 84. (Dort wird jedoch als Vertreter der DBD ein unzutreffender Name genannt.) Die Be stätigung durch den Ministerrat erfolgte am 8.2.1990. 175 Vgl. Links: Die Akteure der Auflösung (1991), S. 68. 176 Vgl. Fischer: „ Information zur Arbeitsstr uktur und Arbeitsweise für den Runden Tisch“ vom 5.2.1990, S. 193.

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ter der A G Sicherheit, des Bürgerkom itees und der evangelischen Kirche mit dem „Leiter des AfNS in Auflösung“ und seinen Stellvertretern seit dem 19. Januar fast täglich zusammentrafen. 177 Nachdem Vertreter der oppositionellen Gruppierungen am Runden Tisch als Minister ohne G eschäftsbereich in die Regierung eingetreten waren, 178 traf der Ministerrat am 8. Februar eine Reihe von einschlägigen Entscheidungen. In einem „ Beschluß über w eitere Maßnahm en zur Auflösung des ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit“ wurden Georg Böhm und Werner Fischer als V ertreter des Runden Tisches m it „ Regierungsvollmacht“ ausgestattet. 179 In dem gleichen Beschluß wurde, gewisserm aßen als Pendant zu den verschiedenen A uflösungsgremien des Runden Tisches, ein „Komitee zur Auflösung des ehem aligen A mtes für N ationale Sicherheit“ als „Zentrales Staatsorgan“ gebildet, als dessen Leiter G ünter Eichhorn 180 , ein ehemaliger Abteilungsleiter im Finanzministerium und inoffizieller Mitarbeiter des MfS, eingesetzt w urde. D as K omitee hatte die „Abwicklung von Forderungen und V erbindlichkeiten“ des ehem aligen A fNS zu übernehmen. Das beinhaltete die Entlassung des Personals und die Klärung aller damit verbundenen rechtlichen Probleme sowie die Übergabe von Im mobilien und beweglichem Hab und Gut an andere staatliche Instanzen. Das Komitee sollte gebildet werden aus „ vorhandenen Spezialisten“ aus dem Staatsapparat, nach „ Personalvorschlägen von den V ertretern des Runden Tisches und erforderlichenfalls aus entlassenen Spezialisten des ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit“. 181 Insgesamt hatte das K omitee 261 Mitarbeiter: 176 in Berlin und durchschnittlic h je fünf in 15 Arbeitsstäben in den ehemaligen Bezirksverwaltungen. 182 25 dieser Mitarbeiter kamen aus den Bürgerkomitees (darunter Arm in Mitter, Reinhard Schult und Stefan Wolle 183 ). 69 Mitarbeiter, d. h. ein gutes V iertel, waren dagegen ehem alige 177 Vgl. Bürgerkomitee: „Protokoll einer Beratung des Arbeitsstabes zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit Berlin am 19.1.1990“; Privatarchiv David Gill. 178 Sie wurden am 5. Februar von der Volkskammer gewählt. Vgl. 16. Tagung am 5.2.1990, in: Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 458; Bahrmann u. Links: Chronik der Wende 2 (1995), S. 104. 179 Beschluß des Ministerrates 13/4/90 vom 8. 2.1990; Faksimile in: Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß DDR-Vermögen (1998), Bd. 2: Anlagen, S. 567–577. 180 Günter Eichhorn war von 1970–1985 als Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit zur „Sicherung der Verkehrswege“ in Ostberlin verpflichtet und 1985–1989 als Inhaber einer „konspirativen Wohnung“ (IMK). Das heißt, er stellte ein Zimmer in seiner Wohnung für konspirative Treffen der Staatssicherheit zur Verfügung. Vgl. BStU, ASt Berlin, AIM 2510/91 Bd. 1; vgl. auch Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß DDR-Vermögen (1998), Bd. 1: Textband, S. 174. 181 „Grundsätze zum Vorgehen zur weiteren Auflösung des ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit“, Anlage 1 zum Beschluß des Ministerrates 13/4/90 vom 8.2.1990. 182 Vgl. Vermerk von Günter Eichhorn vom 20.2.1990 mit Anlage „ Grobstruktur des Komitees“; BA Berlin, DC 20 8924. Da die Bezirksstäbe mehrfach besetzt waren, hatten sie im März 1990 tatsächlich 103 Mitarbeiter (Auskunft eines ehemaligen Komitee-Mitarbeiters gegenüber d. Verf.). 183 Vgl. Wer war wer? (1995), S. 509, 670 u. 813.

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hauptamtliche MfS-Angehörige. 184 Dazu gehörten die Obristen Horst Hillenhagen (ehemals stellvertretender Leiter der Hauptabteilung II und zuletzt amtierender Bezirksamtschef in Dresden) und Kurt Zeiseweis (zuvor stellvertretender Leiter der Zentralen Arbeitsgruppe Geheim nisschutz und dann Verbindungsmann zwischen der AfNS-Spitze und Staatssekretär Halbritter). Die Mitglieder einer fünfköpfigen Führungsgruppe um Eichhorn hatten in Positionen im Staatsapparat gearbeitet, die ein so hohes Maß an Verläßlichkeit im Sinne des Alten Regimes voraussetzten, daß – vorsichtig ausgedrückt – von ihnen eine Neigung zu rückhaltloser Aufklärung schwerlich erwartet werden konnte. 185 Der Ministerrat hatte außerdem „Grundsätze zum Umgang mit dienstlichem Schriftgut und Archivgut“ beschlossen, das „ unter Kontrolle der Bürgerkom itees“ in Depots konzentriert werden sollte, deren Sicherung in die Kompetenz des Ministeriums für Innere Angelegenheiten fiel. 186 Der Aktenzugang wurde „bis zu einer gesetzlichen Regelung gesperrt“ . Ausnahm e war die Einsichtnahme durch Staatsanwaltschaften und Gerichte im Zusammenhang mit einschlägigen Verfahren. Über weitere Einsichtnahm en konnten die Regierungsbevollmächtigten entscheiden. Zur Vernichtung von Akten wurde festgelegt: „Über die Vernichtung von m ehrfach vorhandenem und nicht m ehr benötigtem Schriftgut kann vor Ort im Einvernehm en m it den Bürgerkom itees entschieden werden.“ 187 Das bedeutete, daß keine Information unwiderruflich beseitigt werden sollte – ein Grundsatz, der schon bald durchbrochen wurde. Die ehem aligen hauptam tlichen MfS-Mitarbeiter wurden durch den Ministerrat von ihrer Schweigepflicht gegenüber Ermittlungsbehörden, Regierungsbeauftragten und parlam entarischen Untersuchungsausschüssen entbunden, „ soweit es die nach innen gerichtete, die Verfassung der DDR verletzende Tätigkeit“ des MfS/A fNS betraf. 188 Hinsichtlich „Strukturen und Arbeitsweisen“ in diesem Bereich w ar A uskunft auch gegenüber den Runden Tischen und der A rbeitsgruppe Sicherheit erlaubt. Allerdings durfte damit erstens „ keine V erletzung von Persönlichkeitsrechten“ verbunden sein, zweitens sollten „Staatsgeheimnisse, sofern sie die m it der Verfassung der DDR in Übereinstim mung stehende frühere geheim dienstliche und nachrichtendienstliche Tätigkeit betreffen“ , weiterhin geschützt werden. Vor allem letzteres war ein unscharfes Kriterium . So m ußte es einem Ehemaligen schon aus rechtlichen Gründen klüger scheinen, den Mund zu halten. In „Zweifelsfällen“ sollte die Militärstaatsanwaltschaft entscheiden. Das war 184 Gill u. Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit (1991), S. 201. Gegenüber dem Bundestagsuntersuchungsausschuß erklärte de r Komiteeleiter Eichhorn, etwa 50 % der Mitarbeiter seien ehemalige MfS-Angehörige gewesen; Deutscher Bundestag – Untersuchungsausschuß DDR-Vermögen (1998), Bd. 1: Textband, S. 174. 185 Vgl. Links: Die Akteure der Auflösung (1991), S. 84 f. 186 Anlage 3 zum Beschluß des Ministerrates 13/4/90 vom 8.2.1990. 187 Ebenda. 188 „Festlegungen zur Aufhebung der Schweigepflicht“, Anlage 4 zum Beschluß des Ministerrates 13/4/90 vom 8.2.1990.

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keine unabhängige Instanz: Ihre Mitarbeiter w aren in langjähriger, vertrauensvoller Zusam menarbeit m it der Staatssicherheit, insbesondere mit der Hauptabteilung IX (Untersuchungsorgan), sozialisiert. 189 Die Schweigeverpflichtung der inoffiziellen Mitarbeiter w urde erst einen Monat später aufgehoben. Auslöser dafür w ar wahrscheinlich der erste große IM-Skandal, die Enttarnung von IMB „ Dr. Ralf Schirm er“ alias Wolfgang Schnur, des V orsitzenden des D emokratischen A ufbruchs und Spitzenkandidaten seiner Partei für die bevorstehenden V olkskammerwahlen. Am gleichen Tag, an dem die Öffentlichkeit darüber inform iert wurde, am 8. März, wurden durch einen Ministerratsbeschluß alle inoffiziellen Mitarbeiter formell von ihrer A ufgabe und von ihrer Schw eigepflicht entbunden. Ab sofort w ar jede „ konspirative Tätigkeit“ verboten und unter Strafe gestellt. Gegenüber Staatsanwaltschaft und Krim inalpolizei wurden sie zur Aussage verpflichtet. Sie durften sich über ihre bisherige Tätigkeit uneingeschränkt offenbaren, Persönlichkeitsrechte Dritter m ußten jedoch gewahrt werden. 190 D ieses A ngebot ist von kaum einem ehem aligen IM genutzt worden, vielmehr wurde Schnurs Verhalten zu einer Art negativem Modell: so lange zu leugnen, bis die Beweislast erdrückend wurde. Die Bedeutung der Ministerratsbeschlüsse vom 8. Februar war ambivalent: Einerseits bestand nun kein Zw eifel m ehr daran, daß die Staatssicherheit in allen ihren Gliederungen aufgelöst wurde. Institutionell sollte das – m it einer Ausnahm e – unter externer Regie erfolgen: Die ehem aligen Spitzen der Staatssicherheit hatten nur noch ausführende Funktion. Vertreter der Bürgerkomitees hatten auf den ganzen Vorgang nicht unbeträchtlichen Einfluß, da sie in den Entscheidungsprozeß einbezogen w urden und einigen von ihnen staatliche Befugnisse eingeräumt worden waren. Andererseits waren manche Regelungen, wie etwa die nur teilweise Aufhebung der Schweigepflicht, so restriktiv, daß sie eine vorbehaltlose Aufklärung verhinderten. Auch war der Auflösungsapparat – vor allem das Staatliche Kom itee – mit verläßlichen Kadern des Alten Regimes durchsetzt, wobei die Personalpolitik die Handschrift von Harry Möbis trug, der als Leiter des Sekretariats des Ministerrates eine Schlüsselposition innehatte und schon w egen seiner Doppelfunktion als Staatssekretär und OibE des MfS kein Interesse daran haben konnte, Strukturen und Verflechtungen sichtbar zu m achen. Für diese V ermutung gibt es Belege: Bereits Mitte Januar 1990 war Möbis genötigt, sich gegen die A nschuldigung zu verw ahren, er behindere den A uflösungsprozeß. 191 Die „Zeitweilige Untersuchungsabteilung für die Prüfung von Amts189 Vgl. Vollnhals: Der Schein der Normalität (1997), S. 240 f. 190 M itteilung des Regierungspressedienstes; vgl. „Regierung entpflichtet einstige MfS-Informanten“, in: Neues Deutschland 9.3.1990; Bahrmann u. Links: Chronik der Wende 2 (1995), S. 161. 191 Eine e ntsprechende B eschuldigung war offenbar im Umfeld der „ Zeitweiligen Untersuchungsabteilung für die Prüfung von Amtsmißbrau ch und Korruption“ erhoben worden. Möbis schrieb an deren Leiter: „ Ich erkläre hiermit, daß ich weder schriftliche noch mündliche

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mißbrauch und K orruption“ attackierte den Staatssekretär in ihrem Abschlußbericht vom 7. März – also noch zu Regierungszeiten von Modrow – direkt: Sie sprach von „ungeklärten Eigentums- und Nutzungsverhältnissen“ bei den „ Erholungsgrundstücken m it ‚Gästehäusern‘“ der Fam ilien von Staatssekretär Möbis und Minister G erhard Beil. Weit schw erer noch w og die allerdings allgemein gehaltene Einschätzung: „Es gibt Beweise, daß bis hin zu wichtigen Positionen in der Wirtschaft, Leute abtauchen, die bisher wesentlich schuldhaften Anteil hatten an der katastrophalen wirtschaftlichen als auch po litischen Entwicklung in unserem Lande. Das t rifft besonders zu für Strukturen und personel le Verknüpfungen zwischen dem damaligen MfS, Parteien und Staatsapparat – Verflechtungen, die bis hi n i n den M inisterrat und di e Übergangsregi erung M odrow gehen und die bisher so gut wie gar nicht offengelegt wurden.“ 192

Der Bericht der „Zeitweiligen Untersuchungsabteilung“ hatte einen sehr kritischen Tenor, basierte jedoch notgedrungen auf einer dünnen Materialbasis: Die 18 Angehörigen der Abteilung hatten in den gut zwei Monaten ihrer Tätigkeit 1.000 Eingaben erhalten. 193 Das bedeutet, daß jeder im Durchschnitt monatlich 28 Eingaben zu bearbeiten hatte. Bedenkt m an zudem die Rahmenbedingungen: den Zerfall der öffentlichen Verwaltung und die extrem schlechte kommunikative Infrastruktur, dann folgt daraus, daß ihre Mitarbeiter nicht m ehr tun konnten, als Vorwü rfe auf ihre Plausibilität zu prüfen und Beweismittel für einen Anfangsverdacht zu sammeln. Im Falle des zuvor zitierten Verdachts hinsichtlich der „ Verflechtungen“ bis in die Regierung hinein w ar die Untersuchungsabteilung auf dem richtigen Weg. Das zeigt die A nleitungsstruktur für die Regierungsbeauftragten in den Bezirken. D ie Entlassung des dafür ursprünglich zuständigen Staatssekretärs Halbritter war vom Runden Tisch wiederholt gefordert worden. Anfang Februar 1990 schied er dann im Zusammenhang mit der K abinettsumbildung aus der Regierung aus. D as führte aber nicht dazu, daß diese Aufgabe verläßlicheren und in der Sache engagierteren Leuten übertragen worden wäre. Es entstand folgende Subordinationslinie: Vorsitzender des Ministerrates (Modrow) Stellvertreter für die örtlichen Staatsorgane (Moreth) Staatssekretär (Preiß) Weisungen gegeben h abe, u m d ie A rbeit d er U ntersuchungsabteilung zu erschweren.“ (Schreiben von Staatssekretär Möbis an Prof. U. Dähn vom 19.1.1990; BA Berlin, DC 20 11422, Bd. 1.). 192 Zeitweilige Untersuchungsabteilung beim Ministerrat der DDR und Unabhängige Untersuchungskommission 4.12.1989: „Bericht über die Tätigkeit und die erreichten Ergebnisse sowie Empfehlungen und Schlußfolgerungen“ vom 7.3.1990, gez. Christian Ladwig u. Prof. Dr. U. Dähn; 15 S., hier S. 7 u. 3 f.; BA Berlin, DC 20 11422, Bd. 1. 193 Vgl. ebenda, S. 1 u. 14.

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Regierungsbeauftragte in den Bezirken. 194 Am stärksten rückte jetzt der Stellv ertreter des Ministerpräsidenten für die örtlichen Staatsorgane, Peter Moreth 195 , in den V ordergrund. 196 Früher hatte er eher im H intergrund gew irkt: A ls IME „Joachim Uhlmann“ hatte der LDPD-Bezirksvorsitzende von 1973 bis 1988 Interna und Personalia aus seiner Partei an die Linie XX der Staatssicherheit gemeldet. 197 Das m ag ihm leichter gefallen sein als anderen. Denn in seiner IM-Akte wird behauptet, er hätte 1962 eigentlich in die SED eintreten wollen, doch habe ihm der Parteisekretär seines Betriebes empfohlen, „im Auftrag der Partei der LDPD beizutreten, weil er aus diesen V erhältnissen kommt“. 198 Nach der Anwerbung des IM war der Führungsoffizier bemüht, – eine bem erkenswerte Formulierung – „ sein zw eites ‚Ich‘ zu festigen“ 199 . Das scheint gefruchtet zu haben, denn „ Joachim“ erw arb sich besondere V erdienste, als er 1979 ein Manuskript mit Reformgedanken, das ihm sein Parteivorsitzender Manfred Gerlach vertraulich hatte zukom men lassen, 200 an die Staatssicherheit weitergab. D er IM hatte das – so der Bericht des Führungsoffiziers – mit der Einschätzung verbunden, es sei „ ein versteckter, raffiniert getarnter pol[itisch]-ideol[ogischer] A ngriff auf die G rundlagen unserer Macht, der AK [Arbeiterklasse] und ihrer Partei“ . 201 Moreth hatte also zu denjenigen gehört, die vorsichtige V ersuche, die verkrusteten Strukturen aufzulockern, aktiv bekämpft hatten. Die Zusammenarbeit mit „Joachim Uhlmann“ war im August 1988 auf Initiative der Staatssicherheit m it einer Begründung einge194 Vgl. O rganigramm d es M inisterrates, handschriftl. Vermerk „überholt//Anfang März 1990“; BA Berlin, DC 11492, Bd. 2. 195 Dr. oec. Peter Moreth, geb. 1941, gelernter Maurer und Verkäufer; 1971–1983 Vorsitzender des LDPD-Bezirksverbandes in Karl-Marx-Stadt, ab 1983 des LDPD-Bezirksverbandes Magdeburg; 1973 Abschluß eines Fe rnstudiums in Betriebswirtschaft, 1977 Promotion; 1986–1989 Mitglied der Volkskammer und des Staatsrates; November 1989 bis März 1990 stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates. Vgl. Wer war wer? (1995), S. 514. 196 Bereits am 16.1.1990 hatte sich Moreth in ei nem Fernschreiben direkt an die Beauftragten gew andt, um sie aufzufordern, über „ den Stand der Zusammenarbeit der örtlichen Staatsorgane mit dem Runden Tisch“ zu berichten. Das geschah noch „in Übereinstimmung mit Koll. Halbritter“ (BA Berlin, DC 20 11396). Am 12. 3.1990 sprach Moreth namens der Regierung die Dankesworte an de n zentralen Runden Tisch; Nachdruck in: Herles u. Rose (Hrsg.): Vom Runden Tisch (1990), S. 301 f. 197 Vgl. BStU, ASt Magdeburg, AIM 1797/88. Ein IME war ein „inoffizieller Mitarbeiter im bzw. für einen besonderen Einsatz“. Das konnte Verschiedenes bedeuten: entweder Experten-IM, der Gutachten und ähnliches fertigte, oder ein IM in einer Schlüsselposition, der aus seinem Verantwortungsbereich berichtete. Offenkundig gehörte „Joachim Uhlmann“ zu letzterer Kategorie. 198 Stellvertreter Operativ der BVfS Magdeburg, Oberst Dallmann: Bericht zu Treff mit dem IM „Joachim“ am 15.8.1983; BStU, ASt Magdeburg, AIM 1797/88, Teil I, Bl. 265–268. 199 BVfS Cottbus, Abt. XX/3: „ Einsatz- und Entwicklungskonzeption des IM ‚Joachim‘“; ebenda, Bl. 101–103. 200 Das Manuskript hatte den Titel „ Wortmeldung zur Zeitgeschichte. Erkenntnisse und Bekenntnisse eines Liberaldemokraten“. Seine Veröffentlichung wurde durch den SEDApparat verboten. Vgl. Gerlach: Mitverantwortlich (1991), S. 141–157. 201 BVfS Cottbus, Abt. XX/3: „ Überprüfungsbericht“ vom 15.1.1980; BStU, ASt Magdeburg, AIM 1797/88, Teil I, Bl. 141 f.

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stellt worden, die von allgemeinerem Interesse ist: „Bei der Treffdurchführung am 23.8.88 wurde dem IM unterbreitet, die inoffizielle Zusammenarbeit im In teresse sein er eig enen Sich erheit ein zustellen. Dies wurde von m ir dam it begründet , daß er häufi g i n sei ner Funkt ion al s Mitglied des Staatsrates, als Volkskammerabgeordneter und als Vorsitzender der LDPD [im Bezirk Magdeburg] in der Öffentlichkeit in Erscheinung tritt und es si ch sehr negat iv auswi rken würde, wenn durch irgendwelche Umstände seine inoffizielle Tätigkeit mit dem MfS bekannt wird.“ 202

Die Zusammenarbeit scheint damit tatsächlich beendet gewesen zu sein. Die Begründung dafür zeigt, daß die V orsichtsmaßnahmen bei der IM-Führung vom Herbst 1989 an frühere Verhaltensmuster anknüpften. In Staatssekretär Manfred Preiß 203 hatte der Minister einen passenden Mitarbeiter. Auch Preiß kam von der LDPD und hatte zugleich seit 1972 als IM „Sänger“ für die Kreisdienststelle Wernigerode gearbeitet. 204 Er war in jeder Beziehung eine N ummer kleiner als sein V orgesetzter: „Sänger“ w ar nicht auf Parteifreunde angesetzt, sondern auf Reisekader und berichtete zudem über Fragen des G eheimnisschutzes in seinem Betrieb. Als er 1985 an die Bezirksverwaltung Magdeburg abgegeben w urde, weil die K reisdienststelle m it ihm nichts m ehr anzufangen wußte, schlief die inoffizielle Zusammenarbeit ein. D rei Jahre später nannte der Führungsoffizier als Begründung dafür, daß in den zurückliegenden Jahren keine Treffen mehr stattgefunden hatten, der IM sei „ sehr schwer telefonisch zu erreichen“ . 205 Schließlich wurde der Vorgang im April 1989 archiviert. 206 In beiden Fällen, Moreth und Preiß, gibt es keinen Beleg dafür, daß die inoffizielle Zusam menarbeit wieder aufgenommen worden wäre. Aber es hätte eines fast überm enschlichen Maßes an Selbstverleugnung bedurft, wenn sich diese beiden in dem K onflikt zwischen Nachlaßverwaltern des Alten Regimes und Bürgerbewegung um die A ufdeckung der V ergangenheit auf die andere Seite geschlagen hätten. Bedenkt m an zudem, daß über den Aktenzugang m it Innenm inister Lothar A hrendt der ehem alige G MS „Karl“ zu entscheiden hatte, so ist es naheliegend, daß sich die Bereitschaft 202 Stellvertreter Operativ der BVfS Magde burg, Oberst Dallmann: „ Archivierung des ehrenamtlichen IME ‚Joachim Uhlmann‘“ vom 8.9.1988; ebenda, Bl. 335 f. 203 Manfred Preiß, geb. 1939, Ingenieur; nach einem Fernstudium an der Humboldt-Universität 1984 Diplom-Jurist; 1981–1990 Mitglied des Sekretariats des LDPD-Bezirksvorstandes Magdeburg. Vgl. Wer war wer? (1995), S. 579 f. 204 BStU, ASt Magdeburg, AIM 834/89. „ Sänger“ wurde 1973–1980 als IMV geführt. So wurde von 1968 bis 1979 ein inoffizieller Mitarbeiter bezeichnet, der zur Bearbeitung und „Entlarvung“ von im Verdacht der Feindtätigkeit stehenden Personen eingesetzt wurde. D ann w urde er zum IMS umregistriert, der untersten IM-Kategorie zur „Sicherung“ eines bestimmten gesellschaftlichen Bereichs. 205 BVfS Magdeburg, Abt. XX: „Einschätzung der bisherigen Zusammenarbeit mit dem IMS ‚Sänger‘“ vom 4.7.1988; ebenda, Teil I/1, Bl. 159. 206 Ebenda, Bl. 180 f.

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zur Transparenz in engen Grenzen hielt. Weitere Hindernisse für eine Aufklärung von Repressionsgeschichte und Verantwortlichkeiten wurden in den fo lgenden Wochen errichtet. Auf Initiative der AG Sicherheit und mit Empfehlung der AG Recht faßte der zentrale Runde Tisch am 19. Februar den Beschluß, die elektronischen D atenträger zu vernichten: „Ausgehend vom Recht des Bürgers auf Schutz der Persönlichkeit und Selbstbestimmung stellt der Runde Tisch fest, daß die Erfassung und Bearbeitung von Daten, wie sie durch das ehemalige MfS bzw. das Amt für Nationale Sicherheit erfolgte, eine verfassungswidrige Verletzung von Bürgerrechten darstellt. Mit dem Zi el, den verfassungsmäßigen Zustand wi ederherzustellen und um zukünftig ei nen M ißbrauch der gesa mmelten personenbezogenen Dat en des ehemaligen MfS bzw. des Amtes für Nationale Sicherheit weitgehendst auszuschließen und ei ne unverzügl iche vollständige Zerst örung der St rukturen dieser Organe bis hin zur physischen Vernichtung ihrer materiellen Datenträger zu sichern, beschließt der Runde Tisch: 1. Die phy sische Verni chtung aller magnetischen Dat enträger (M agnetplatten, W echselplatten, Disk etten, Ka ssetten) mit personenbezogenen Dat en einschließlich der dazugehöri gen m agnetischen Dat enträger m it der Anwendersoftware möglichst am Ort ihrer Aufbewahrung unter Leitung von Vertretern der R egierung, bei Kontrolle des R unden Tisches und im Beisein der Bürgerkomitees. [...] 3. Die Vernichtung der magnetischen Datenträger ist bis zum 9.3.1990 abzuschließen, um ei ne R echenschaftslegung über di e vol lständige Verni chtung am 12.3.1990 vor dem Runden Tisch zu gewährleisten.“ 207

Daß diese Entscheidung von (ehem aligen) IM inspiriert w urde, etwa von Ibrahim Böhme alias IMB „ Maximilian“, der in der AG Sicherheit eine dominierende Rolle spielte, ist wahrscheinlich. Doch sie wurde einstim mig angenommen, w as darauf schließen läßt, daß es einen kleinsten gemeinsamen Nenner in dieser Frage gab: Es war die Befürchtung, daß angesichts der chaotischen Verhältnisse in der DDR sich die G eheimdienste anderer Länder Zugang zu diesen Daten verschaffen könnten und damit Erpressungsmaterial in die H and bekäm en. 208 Der Ministerrat, dem inzwischen Bürgerrechtler angehörten, bestätigte den Beschluß des Runden Tisches in seiner Sitzung am 26. Februar. 209 Damit wurde in der Tat, wie es in dessen Begründung heißt, der „ schnelle Zugriff“ verhindert – freilich auch für alle 207 Beschluß des Runden Tisches vom 19.2.1990: „Physische Vernichtung aller Datenträger“; in: Herles u. Rose: Vom Runden Tisch (1990), S. 187 f. 208 Vgl. Gill u. Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit (1991), S. 222. 209 Beschluß des Ministerrates 16/I.6/90 vom 26.2.1990 „ zur Vernichtung aller magnetischen D atenträger des ehemaligen MfS/A fNS mit personenbezogenen D aten“; B A Berlin, C-20 I/3-2924.

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nachfolgenden Aufklärungsbemühungen. Nur wenige Datenträger sind dieser Vernichtung entgangen, die innerhalb von zwei Wochen unter Kontrolle von Vertretern des Runden Tisches, der AG Sicherheit und des Staatlichen Komitees durchgeführt wurde. 210 Einen gravierenden Inform ationsverlust brachte auch ein Beschluß, den die AG Sicherheit am 23. Februar faßte: „Zur kont inuierlichen W eiterführung des Auflösungsprozesses des ehemaligen AfNS wird in B erücksichtigung der spezi fischen B edingungen für di e planmäßige und ersat zlose Aufl ösung der Hauptverwaltung Aufkl ärung beschlossen: 1. Die Anzahl der Mitarbeiter wird bis zum 15. März 1990 auf 250 reduziert. Diese si ch wei ter verri ngernde Anzahl hat di e Aufl ösung bi s Ende Juni 1990 abzuschließen. [...] 3. Die die Auflösung der Hauptverwaltung Aufklärung abschließenden Mitarbeiter verlegen in der Zeit vom 01. bis 10. März 1990 in das Objekt Rödernstraße 30 [...].“ 211

Das bedeutete, daß die H V A in Eigenregie aufgelöst w urde und ihre verbleibenden Mitarbeiter im Mehrschichtbetrieb die A ktenbestände mit wenigen, ausgewählten Ausnahm en vernichten konnten. Diese Entscheidung hatte die A G Sicherheit getroffen. D ie Kompetenz dazu hatte ihr – auf Antrag des Neuen Forums – der Runde Tisch am 22. Januar erteilt. Dam als nämlich wurde die Regierung, „ dringend dazu auf[gefordert], [...] keine grundsätzlichen Entscheidungen zur Auflösung des A fNS ohne die Zustim mung der A rbeitsgruppe Sicherheit des Runden Tisches zu treffen“. 212 Das konnte nur bedeuten, daß dam it zugleich die A G Sicherheit bevollm ächtigt wurde, im Namen des Runden Tisches solche Entscheidungen zu billigen. Die Haupttätigkeit des Staatlichen Kom itees bestand in den letzten Wochen der Regierung Modrow in der Entlassung der ehem aligen MfSMitarbeiter. Waren Mitte Januar, wie damals an den Runden Tisch berichtet worden war, noch 32.500 Mitarbeiter in einem Dienstverhältnis, so war ihre Zahl zwei Monate später auf 2.903 gesunken. 213 Bis zum 31. März wurden auch sie alle entlassen. 214 Für das folgende V ierteljahr schloß das K omitee mit insgesamt 670 ehem aligen Hauptam tlichen befristete Arbeitsverträge, darunter mit 235 ehem aligen HV A-Mitarbeitern. Der Arbeitgeber war jetzt 210 Vgl. Dritter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (1997), S. 52–56. 211 Dokumentiert in: Gill u. Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit (1991), S. 213 f. 212 Nachdruck in: Herles u. Rose: Vom Runden Tisch (1990), S. 84 f. 213 So nach der letzten zugriffsfähigen Übersicht der Hauptabteilung Kader und Schulung, wahrscheinlich vom 13.2.1990; BStU, ZA, HA KuSch, Bündel Plg. 15 (3) (unerschlossenes Material). 214 Komitee zur Auflösung von MfS/AfNS: „ MfS – der Machtapparat der SED“, PresseInformation des Ministeriums des Innern vom 25.9.1990.

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nicht mehr die Staatssicherheit oder eine ihrer Nachfolgeinstitutionen, sondern das Staatliche Komitee. Fazit Entgegen der ursprünglichen A nkündigung Modrows – und des ersten von ihm geleiteten Kabinetts – wurde die Staatssicherheit in den sechs Monaten seiner Amtszeit als Institution lahm gelegt und in ihren wesentlichen Strukturen aufgelöst. Seine Regierung hat sich dazu nicht aus freien Stücken entschlossen, sondern unter dem Druck der dem okratisch-revolutionären Volksbewegung. Der konzeptionelle Wandel von einem „erneuerten“, künftig der Regierung statt Parteiinstanzen unterstellten „ Amt für nationale Sicherheit“ zu drastisch reduzierten D iensten ohne exekutive Befugnisse und schließlich zur Auflösung auch dieser Nachfolgeeinrichtungen des MfS erfolgte an Wendepunkten, in denen die Staatssicherheit zum Kristallisationspunkt zivilen Ungehorsam s geworden war. Diese Institution und ihre Nachfolgeeinrichtungen machten in wenigen Monaten einen Funktionswandel durch vom Instrument der herrschenden Politik zum – fragwürdigen – Sy mbol staatlicher Existenz, bis hin zum reinen Destabilisierungsfaktor. Es wäre allerdings eine unfaire Bilanz der beiden K abinette Modrow , w enn m an nicht auch darauf hinweisen würde, daß sie den U mstand, den der letzte Innenminister der DDR, Peter-Michael Dieste l, wiederholt als eigenes Verdienst herausgestellt hat, mit sehr viel größerem Recht für sich beanspruchen können: daß die Auflösung gewaltlos vollzogen wurde – wobei das natürlich ebensosehr ein Verdienst der Bürgerbewegung war. Zugleich hat die Regierung Modrow durch Hinhaltepolitik die Vernichtung von Unterlagen besonders in der ehem aligen MfS-Zentrale ermöglicht, ursprünglich sie sogar befördert. Selbst das zw eite Kabinett hat sie im Falle der elektronischen D atenträger aktiv betrieben. A llerdings handelte es in letzterem Fall im Einvernehmen mit allen am zentralen Runden Tisch versammelten K räften. Ü berhaupt w aren m anche Positionen damals weniger eindeutig einer Seite zuzuordnen, als es im nachhinein scheinen mag. So wurde noch im Bericht der AG Sicherheit an die letzte Sitzung des zentralen Runden Tisches am 12. März dem künftigen Parlament nahegelegt, zwar die Abgeordneten auf Stasi-Verstrickungen hin zu durchleuchten, sonst aber die personenbezogenen A kten zu vernichten. 215 Das Grem ium hat freilich nur den ersten Teil dieser Em pfehlung zum Beschluß erhoben: die Überprüfung der neuen Abgeordneten. 216 Keinerlei Konsens wäre allerdings in einem anderen Punkt m öglich gewesen, der deshalb wohl unter Verschluß gehalten und auch vom „Staatlichen 215 Vgl. „ Bericht der Arbeitsgruppe Sicherheit vor dem Zentralen Runden Tisch der DDR am 12. März 1990“, erstattet von Werner Fischer, in: Gill u. Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit (1991), S. 235–252, hier 244 f. 216 „Zu einer parlamentarischen Kommission der Volkskammer“, Beschluß vom 12. 3.1990, dokumentiert in: Herles u. Rose (Hrsg.): Vom Runden Tisch (1990), S. 301.

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Komitee zur Auflösung des ehem aligen MfS/A fNS“ (das m it ehem aligen Stasi-Mitarbeitern durchsetzt war) nicht thematisiert wurde: die fortdauernde Legende der MfS-O ffiziere im besonderen Einsatz, der O ibE, und der Hauptamtlichen Inoffiziellen Mitarbeiter (HIM). 217 Diese ehem aligen MfSMitarbeiter w aren zum Zeitpunkt des Machtw echsels zw ar „ abgeschaltet“, aber viele von ihnen hatten ihre Rolle als staatliche Funktionsträger zur neuen Existenzgrundlage gemacht. Die Aufdeckung dieser für den A ufbau einer demokratischen Ordnung denkbar ungeeigneten Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes sollte in den folgenden Monaten zu einer Vertiefung der Legitimationskrise der DDR führen. Ähnliche Konsequenzen hatte die Übernahme von Tausenden ehem aligen Hauptamtlichen in andere Teile der staatlichen Verwaltung. Die A ufarbeitung der G eschichte der Staatssicherheit ebenso w ie ihrer Durchdringung der G esellschaft stand im April 1990, als eine neue Regierung ins Amt kam, noch ganz am Anfang. Als umfassendes Projekt konnte dieses Vorhaben freilich erst in A ngriff genom men werden, nachdem sich die demokratischen Strukturen konsolidiert hatten. Kaum ein Bürgerkomitee forderte in der Umbruchphase, die A kten zu öffnen. D ie Entscheidung darüber sollte einer dem okratisch legitim ierten Volksvertretung überlassen bleiben. 218 D as bedeutete aber auch, daß die m ateriellen V oraussetzungen dafür – die A ktenberge der Staatssicherheit – aufbewahrt werden m ußten. Das ist – teils gegen die, teils mit der Regierung Modrow – zwar nicht vollständig, aber doch in hohem Maße gelungen.

217 Noch in dem Bericht dieses Komitees vom September 1990 – zu einem Zeitpunkt, als der zuständige Sonderausschuß der Volkskammer unter Leitung von Joachim Gauck längst erste „OibE-Listen“ bekanntgemacht hatte – wurde postuliert, diese Personengruppe aufzudecken gehöre nicht zu den Aufgaben des Komitees. Vgl. Komitee zur Auflösung von MfS/AfNS: „MfS – der Machtapparat der SED“, Presse-Information des Ministeriu ms des Innern vom 25.9.1990. 218 Zu den nachfolgenden Auseinandersetzungen vgl. Schumann: Vernichten oder Offenlegen? (1995).

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Zusammenfassung und Resümee

Warum gelang es den Mächtigen nicht, die Revolution zu verhindern? Die erste und einfachste A ntwort darauf wäre, weil sie es nicht mit Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Mittel versucht haben. Das wäre richtig, bedarf aber selbst der Erklärung, denn sie übten Zurückhaltung nicht aus freien Stücken. Es gab Gründe, die m it der inneren Verfassung des Machtapparates zusam menhingen, und externe Ursachen, die zu einer eminenten Einengung ihres H andlungsspielraums führten. Beide Prozesse begannen lange vor dem Herbst und spitzten sich bereits in der ersten Hälfte des Jahres 1989 zu. Von allen externen Ursachen die bedeutendste war gewiß der politische Umbruch in der UdSSR m it seinen außenpolitischen Konsequenzen. Die Neuordnung der sowjetischen Blockpolitik im Zuge der Um orientierung ihrer Westpolitik fand zu Beginn jenes Jahres einen Höhepunkt auf der KSZE-Folgekonferenz in Wien. Bem erkenswert waren die Zugeständnisse, die die sowjetische Seite in Menschenrechtsfragen m achte – und denen sich die DDR-Führung widerwillig und nur m it Vorbehalten fügte. Noch wichtiger war, daß die Konfliktlinie nicht m ehr dem bei solchen internationalen Verhandlungen üblichen Ost-West-Muster folgte, sondern quer durch den sowjetischen Hegemonialbereich ging. Hier zeichnete sich eine Entw icklung ab, die in den folgenden Monaten ihre eigene Logik entw ickelte: die Entsolidarisierung der Herrschenden. Ungarn begann im Mai m it dem Abbau der G renzbefestigung nach Westen, die nicht mehr die „verlängerte Mauer“ 1 der DDR sein sollte. Der Scheitel punkt war das offizielle Ende der Breshnew-Doktrin, die eine D oktrin nicht nur zur Bew ahrung des sowjetischen Führungsanspruchs gewesen war, sondern auch eine G arantie für die Machthaber in den kleineren osteuropäischen Staaten. D aß sie nicht m ehr galt, wurde nicht nur von G orbatschow mehrfach verkündet, sondern angesichts sowjetischer Zurückhaltung bei den politischen Um wälzungen in Polen und U ngarn auch praktisch erprobt . Zugleich w urden dam it m ehrere ideologische Grundsätze dementiert: so die These von der U numkehrbarkeit der Entwicklung in den staatssozialistischen Ländern und die D oktrin, daß eine herrschende kommunistische Partei die Macht niem als preisgeben würde. Am stärksten auf die DDR aber wirkte der politische Druck aus der Sowjetunion, wo das bisherige H errschaftsmodell, das der SED als V orbild diente, an sein Ende gelangt w ar und nun im Zeichen von Perestroika und 1

Vgl. Tantzscher: Die verlängerte Mauer (1998).

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Glasnost als Sy stem der „ Stagnation“ gegeißelt wurde. Diese Entwicklungen hatten auch Auswirkungen auf die Zusam menarbeit der Geheimpolizeien in Sachen innerer Repression: D ie „ Freunde“ w aren nicht m ehr verläßlich; aus Sicht Mielkes hatten sie die Basis für weitere Zusammenarbeit, den „Kampf gegen den gemeinsamen Feind“, verlassen. Die Staatssicherheit war nun auf sich selbst zurückverwiesen. Der H andlungsspielraum der D DR-Führung w urde weiter durch ihre wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen, vor allem der Bundesrepublik, eingeengt. Das war eine direkte Folge von zw ei Faktoren: Das Wirtschaftssystem erwies sich in den achtziger Jahren aus G ründen, auf die die Modernisierungstheorie schon lange hingewiesen hatte, als zunehmend unfähig, zu vertretbaren Preisen konkurrenzfähige Produkte für den Weltm arkt herzustellen. Innenpolitisch lebte die Honecker-Führung seit sie die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ auf dem VIII. Parteitag (1971) proklamiert hatte, über ihre Verhältnisse. Die Stabilisierungstaktik, politisches Wohlverhalten gegen wachsenden Lebensstandard, war aus eigenen K räften dauerhaft nicht finanzierbar. Die Differe nz w urde durch K redite überbrückt. Das machte die Diktatur äußerst anfällig für wirtschaftliche Sanktionen des Westens. Mit Blick auf Polen unter G ierek hatte die SED -Spitze davor im mer w ieder gew arnt und w ar doch in die gleiche Verschuldungsfalle getappt. Beide K onstellationen, Ost wie West, w aren zu bedenken, falls m an eine offen repressive Lösung der Krise als Option ins Auge gefaßt hätte: Die Mächtigen wären allein gewesen und verwundbar durch die wahrs cheinlichen Folgen. Die Veränderung der internationalen Konstellation hatte bereits im ersten Halbjahr 1989 spürbare innenpolitische Auswirkungen, die auch den Aktionsradius der Staatssicherheit erheblich beschnitten. So war die rechtliche Regelung der Reisefrage eine direkte K onsequenz der absehbaren Verpflichtungen durch die K SZE-Konferenz. Sie w ar w ahrscheinlich auf D ruck des MfS restriktiver ausgefallen als die in den Jahren zuvor gängige Praxis. Das ließ sich nicht durchhalten – nicht zuletzt w eil ein neuer A kteur auf die Bühne getreten w ar, der sich schon im Zusammenhang mit dem „Sputnik“Verbot bem erkbar gem acht hatte: die bisher fügsam en Bürger. Die Einengung der Reisem öglichkeiten mußte angesichts des U nmuts gerade in ihren Reihen zurückgenommen werden. Ein deutlicher Ausdruck veränderter Konfliktlinien war, daß ein neues Ausbildungsprogramm, mit dem die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ für die Auseinandersetzung m it dem „ inneren Feind“ geschult werden sollten, wegen Protesten der „ Kämpfer“, eigentlich als politisch besonders verläßlich geltende Werktätige, fallengelassen werden mußte. Sie wollten nicht als „Knüppelgarde“ gegen ihre N achbarn und Kollegen eingesetzt werden. Das war ein direktes Vorzeichen für da s V erhalten dieser Form ationen im Herbst, und es bedeutete, daß mit der zahlenmäßig stärksten Gliederung unter den „ bewaffneten O rganen“ in einer bürgerkriegsähnlichen Situation 743

kaum zu rechnen war. Ein wichtiges Zeichen für die nachlassende Repressionsfähigkeit des Alten Regimes w ar die A ussetzung und faktische A ufhebung des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze im April 1989. Der unm ittelbare Effekt dieser Maßnahm e w ar zw ar kaum w ahrnehmbar, w eil die veränderte Befehlslage nicht öffentlich gem acht wurde – und selbst heute noch weitgehend unbekannt ist –, aber es war ein internes Signal, daß außenpolitische Rücksichtnahme künftig höhere Priorität habe als die Durchsetzung staatlichen Willens m it allen, auch tödlichen Mitteln. Dam it war bereits vorprogrammiert, wie die Grenztruppen auf die Maueröffnung ein halbes Jahr später nicht reagieren würden. Verringertes Repressionsverm ögen zeigte sich auch in der U nfähigkeit der Staatssicherheit, den Nachweis der Fälschung der K ommunalwahlen im Mai 1989 durch Bürgerrechtler zu verhindern, obwohl sie über das Vorhaben genau informiert gewesen war – ein Muster für viele ähnliche Geschehnisse in den folgenden Monaten. Der Betrug wurde öffentlich, und das leistete in doppelter Hinsicht einen bedeutenden Beitrag zum weiteren Legitimationsverlust des System s: Die Mächtigen wu rden als Wahlfälscher entlarvt, was auch vielen, die dem System zumindest loyal gegenüberstanden, nicht gleichgültig sein konnte. Denjenigen aber, die sich bisher untergeordnet und geschwiegen hatten, außer vielleicht im Privatbereich, gab es ein Zeichen, daß das Risiko geringer wurde, Kritik öffentlich auszusprechen. Die Staatssicherheit, die dieses Risiko hätte steigern sollen, hatte bei allen ihren Aktionen darauf zu achten, daß sie keinen „ politischen Schaden“ anrichtete. Wo „ öffentlichkeitswirksame Folgen“ zu gewärtigen waren, wie vor allem bei Maßnahmen gegen A ktivisten in Bürgerrechtsorganisationen mit guten Verbindungen zu westlichen Medien, war große Vorsicht geboten: Auf Ordnungsstrafen eingeschränkte Sanktionsm öglichkeiten und eine noch stärkere Verregelung des Sanktionsvollzugs waren die Konsequenz. Liest man die Protokolle von Dienstbesprechungen aus dem Sommer 1989, so springt ins Auge, wie weit die Staatssicherheit von einer „umfassenden, verdeckten Steuerungs- und Manipulationsfunktion“ 2 selbst den eigenen Ambitionen nach entfernt war. Zumindest für die Spätphase liegt nicht diese an George Orwells „1984“ erinnernde Begrifflichkeit nahe, als vielmehr die Beschreibung einer Institution, deren Mitarbeiter sich angesichts der nahenden revolutionären K rise in der Position unangenehm neugieriger und böswilliger, aber weitgehend ohnmächtiger Zaungäste befanden. Wo sie in alter Manier direkt zuschlagen durften, wie in den ersten Oktobertagen, steigerten sie m ehr noch als die A ngst die allgemeine Empörung. Ihre „unsichtbaren“ Mittel und Methoden aber griffen nicht mehr. Die Staatssicherheit hatte w ahrscheinlich in allen neuen Bürgerorganisationen und gewiß in den Institutionen des Alten Regimes, beginnend bei den 2

So Henke: Zu Nutzung und Auswertung der Unterlagen (1993), S. 586.

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Blockparteien, ihre inoffiziellen Mitarbeiter. Doch obwohl sie in den ersten Wochen des offenen Aufbruchs noch fleißig Informationen sammelten, fehlte es an politisch-geheim polizeilichen Konzeptionen, um sie auch effektiv zu nutzen. Die Verzögerung der G ründung des D emokratischen Aufbruchs durch den Verrat von IMB „ Dr. Ralf Schirmer“ war schon eine Spitzenleistung. Der Aufbau des Neuen Forums und der Sozialdem okratischen Partei wurde in allen Aspekten ausgeforscht, konnte aber nicht verhindert w erden. Die IM waren nicht so konditioniert, daß sie m ehr gekonnt hätten als blockieren und behindern. D iejenigen, die ganz an die Spitze kamen – meist wahrscheinlich gegen den Rat ihres jeweiligen Führungsoffiziers –, mußten sich an ihre U mgebung anpassen und beförderten damit noch den Prozeß, den zu verhindern sie angetreten waren. Wenn von der Einengung repressiven H andlungsspielraums die Rede ist, dann ist noch ein dritter Faktor zu bedenken: die Lähm ung der Mächtigen durch ihre eigenen Erfahrungen. H ier ist an erster Stelle der 17. Juni 1953 zu nennen, der nicht nur für diejenigen, die die Verhältnisse ändern wollten, traumatische Bedeutung hatte, sondern auch für die Verteidiger der alten Ordnung. Fast alle Funktionäre, die 1989 an den H ebeln der Macht saßen, hatten damals schon politische Verantwortung getragen. Es war ihnen bewußt, daß nur sow jetische Panzer ihr Regim e gerettet hatten. D amit w ar jetzt nicht mehr zu rechnen. Es war aber nicht nur eine Machtfrage, sondern auch ein Problem des Selbstbildes. Nach fast vier Jahrzehnten „sozialistischer Entwicklung“ wäre ein nochmaliges gewaltsames Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung ein politischer Offenbarungseid gewesen, vor dem selbst hartgesottene Sicherheitskader zurückschreckten. Es sei an Mielkes Äußerung im Politbüro erinnert, man könne doch nicht Panzer einsetzen, 3 und an den Ausbruch von Innenminister Dickel vor seinen Bezirkschefs im Oktober 1989 nach den zw ei großen D emonstrationen in Leipzig. Direkt gegen die Arbeiterschaft m it militärischer Gewalt vorzugehen hätte bedeutet, daß sie sich ihre Lebenslüge von der „Partei der Arbeiterklasse“ hätten offen eingestehen müssen. 4 Anders als Honecker, der die Konsequenzen des eigenen Handelns offenbar nicht mehr überblickte, und anders w ahrscheinlich auch als Keßler, der die NVA-Hundertschaften für Dresden m it MPis hatte ausrüsten lassen, waren dazu einige Altkader trotz allem sonstigen Zynismus anscheinend nicht in der Lage. Andere Erfahrungen kamen hinzu. Von Ungarn 1956 meinte man zu wis3 4

Bei Mielkes Bemerkung allerdings ist nicht klar , ob es sich um eine rein repressionstaktische Überlegung handelte oder um eine Frage des Selbstverständnisses. Daß diese Einstellung verbreitet war, ergab eine – selbstverständlich nachträgliche – Befragung von 119 leitenden Kadern von Einsatzleitungen in Berlin, Dresden und Rostock durch David V. Friedman von der Yale-Univers ität. Etwa 70 % antworteten auf die Frage, ob es legitim gewesen wäre, im Herbst 1989 Gewalt gegen die Demonstranten anzuwenden, negativ: mit „Zweifel“ (31 %) oder „Nein“ (39 %), während nur knapp 9 % die Frage mit einem klaren „ Ja“ beantworteten. Referiert nach Linz u. Stepan: Problems of D emocratic Transition (1996), S. 323 f.

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sen, wie „die Konterrevolution“, war sie erst einmal entfesselt, toben würde. Es ist geradezu verblüffend, w ie sehr das Denken und Taktieren der Machthaber ab Mitte Oktober davon beherrscht war, der Gegenseite, diesen friedfertigen, disziplinierten Demonstranten, keinen Vorwand für eine von ihnen angeblich einkalkulierte gewaltsam e Eskalation zu bieten. Sie fürchteten wahrscheinlich sogar um ihr eigenes Leben. Ein weitere Lehre bot Polen 1980/81: Am wichtigsten schien, eine Verbindung zwischen kritischer Intelligenz und A rbeiterschaft zu verhindern. D as „ Kriegsrecht“, auch das w ar eine Lehre, hatte einschließlich der Internierung der oppositionellen Aktivisten das Problem erkennbar nur verschoben, aber nicht gelöst. Lähmend waren auch die jüngsten Erfahrungen in U ngarn und der Sow jetunion. Die Entwicklung in der Ungarischen Arbeiterpartei m it dem Sturz der alten Führung und ihrer Ablösung durch sozialdemokratische, westorientierte Reformer bedeutete aus Sicht H oneckers schon im Frühjahr 1989 das Ende des Sozialismus in U ngarn. Mielke befürchtete, daß es in der SED latent ähnliche Kräfte gäbe, die bei einer politischen Öffnung das Alte Regime herausfordern würden. In der Sow jetunion schließlich w ar es unter Gorbatschow zu einer Situation gekommen, die nach Meinung des Staatssicherheitsministers auf die DDR übertragen zu einer völlig unkontrollierbaren Lage führen m üßte. A ll diese Zw änge engten den A ktionsradius der Machthaber in der einen wie in der anderen Richtung ein, ließ harte Repression wie politische Öffnung als nicht kalkulierbare Lösungen erscheinen. So suchten die Mächtigen ihr H eil in Selbstisolation und einer – wohl auch ihrem Alter und G esundheitszustand entsprechenden – hinhaltenden D efensivtaktik. In den einleitenden Bemerkungen zu transitionstheoretischen Fragen wurde postuliert, man solle sich nicht nur auf die Eliten fixieren. Ebenso führt es in die Irre, sich auf die m ilitärischen oder (geheim )polizeilichen Aspekte zu beschränken, die freilich dazugehören, doch im Kern handelte es sich um einen politischen Kampf. Was die Revolution m öglich machte, war ideologische Ernüchterung und Frustration bei den treuen Anhängern des Regimes und der V erlust der „ Fügsamkeit“ (Max Weber) der großen Mehrheit. D ie Macht des A lten Regim es w ar gebrochen, als der Funke von den Bürgerrechtsaktivisten auf die A rbeiterschaft übergesprungen w ar (darin hatte Mielke recht) und als die bisher m ehr oder w eniger loyalen Bürger auf die Seite der Opposition wechselten. Die sichtbare Auseinandersetzung spielte sich lange Zeit nur zw ischen dem A lten Regim e einerseits und der kleinen Bürgerrechtsbew egung und den Ausreisewilligen andererseits ab . Dahinter aber fand ein politischer Konflikt statt, in dem um die Mehrheit der G esellschaft gerungen w urde. Um sie ruhig und fügsam zu halten, war die stete Repetition der ideologischen Glaubenssätze des „ realen Sozialismus“ und einschlägiger K lischees in den von Joachim Herrm ann geschurigelten Medien nur ein Mittel, auf dessen kontraproduktive Wirkung im übrigen Mitarbeiter der Staatssicher746

heit immer wieder hingewiesen haben. D er andere, wichtigere – bisher fast unbeachtete – Aspekt war, daß im Kalkül der Machthaber die verm utete oder tatsächliche Reaktion loyaler Bürger auf bestimmte Maßnahmen eine erhebliche Rolle spielte und daß das den H andlungsspielraum des Alten Regimes weiter einengte. Die U nzufriedenheit w uchs in diesen Monaten ohnehin: Die Versorgungslage w urde zunehm end zu einem Problem ; H onecker selbst hatte sie durch seinen unglückseligen Vergleich mit dem Lebensstandard in der Bundesrepublik Ende des Jahres 1988 aktualisiert. D aß die Subventionsw irtschaft nicht m ehr lange finanzierbar sein w ürde, w ar w eithin bekannt. Indem das „Neue Deutschland“ sie immer wieder verteidigte, wurde deutlich, wie sehr dieses Problem die Führung in Bedrängnis brachte, ohne daß sie eine Lösung gefunden hätte. Es war das ein Vorzeichen der Lage im Herbst, als die Verschuldung so drastisch angestiegen war, daß eine erhebliche Senkung des Lebensstandards wirtschaftlich unum gänglich, politisch aber nicht durchsetzbar schien. D er Effekt der neuen Reiseregelung w urde bereits erwähnt. Zugleich wurden die politischen Reformen in anderen Staaten Osteuropas zum Maßstab dessen, w as innerhalb des sow jetischen Herrschaftsbereiches erreichbar wäre: Reisemöglichkeiten für alle Bürger in den Westen, kritische Medien, Wahlen zwischen m ehreren Kandidaten. Auch hier dokumentieren die Stimmungsberichte der Staatssicherheit eine enger w erdende Klemme: Die politischen Möglichkeiten wurden am reformerischen Osten gem essen, die m ateriellen Lebensverhältnisse am Westen, an der Bundesrepublik. Warum die Bürger der D DR von all dem ausgeschlossen sein sollten, war nicht mehr einsichtig zu machen. Erwartungen, die nicht eingelöst w urden, führten zu neuen Enttäuschungen. Daß den Politbürokraten bewußt w ar, w ie angespannt die Situation wurde, ist an dem U mgang m it der beginnenden Fluchtw elle über Ungarn ablesbar. Unzweifelhaft hätten sie dem gern einen Riegel vorgeschoben. Aber die Staatssicherheit, die dafür in erster Linie zuständig war, wurde angehalten, keine Maßnahm en zu ergreifen, die – so Günter Mittag in Vertretung des G eneralsekretärs – „ die Masse der Bevölkerung“ zusätzlich hätten „verärgern“ können. Die daraus abgeleitete Aufgabe, potentielle Flüchtlinge schon präventiv herauszufiltern, war unlösbar, weil die Masse inzwischen zu groß w ar, und führte vor allem zu w eiterer Frustration der dam it beauftragten Mitarbeiter der Staatssicherheit. Ab Spätsommer 1989 entw ickelte sich eine w eitere, für die Machthaber doppelt ungünstige Konstellation: „Unten“, in der G esellschaft, kam es zu Synergieeffekten. „Bewegungen“, die vorher nebeneinander hergelaufen waren oder sich gar gegenseitig geschwächt hatten (wie die Ausreisebewegung und die bürgerrechtliche Opposition), ve rstärkten sich nun wechselseitig. 5 5

Vgl. Reich: 1989 Tagebuch der Wende, 1. Folge (1994); Detlef Pollack: Der innere Zusammenbruch der DDR als Zusammenfall getrennter Handlungslinien (Referat auf dem

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„Oben“ aber setzten Demotivierung und Diversifizierung ein. Der Auslöser für das Zusammenfließen der unterschiedlichen Formen des Unmuts war selbstverständlich die Fluchtwelle und die unbeholfene Reaktion der Machthaber darauf. Sie m achten damit deutlich, daß sie unfähig waren, die von ihnen dekretierten G esetze durchzusetzen, und daß sie den Zugriff auf den „ Bürger“ verloren. 6 Eine zweite wichtige Etappe waren die kontrafaktischen Bemühungen, den 40. Jahrestag der DDR – koste es, was es wolle – als H öhepunkt einer erfolgreichen Entw icklung zu feiern, verbunden mit polizeistaatlichen Repressionsm aßnahmen, die auch bisher loyale Bürger empörten. Würde man manchen Totalitarismustheoretikern folgen, so wäre es eine völlige Verwandlung gewesen: Zuvor hätten der totalitären Macht die atomisierten Bürger gegenübergestanden, während jetzt sich wechselseitig verstärkende Bürgerbewegungen m it einem zersplitternden Machtapparat konfrontiert w aren. Ein solches Bild w äre überzeichnet, aber die Tendenz ist zutreffend benannt: Zw ar nicht die Bürger, die auch zuvor – trotz der Staatssicherheit – nicht atomisiert waren, wohl aber manche vorher getrennte Milieus fanden zueinander. Betriebsbelegschaften gaben Abschiedsfeste für Kollegen, deren Ausreiseantrag be willigt worden war. Bärbel Bohley vom Neuen Forum traf sich mit dem Vorsitzenden der „Sektion Rockmusik im Komitee für Unterhaltungskunst der D DR“, um eine Protestresolution auszuhandeln. Die Evangelische Kirche stellte auf ihrer Synode politische Forderungen auf, die bisher nur dissidente G ruppen eingeklagt hatten. D ie Zeit war reif. Während die H andlungsspielräume der Macht im mer enger wurden, zerfiel der Machtapparat von innen. D as System war äußerst zentralistisch auf die Politbürokratie zugeschnitten und dort wieder auf den Generalsekretär. Als Honecker in den entscheidenden Monaten durch Krankheit ausfiel und sein Vertreter Mittag keine eigenen Entscheidungen von größerer Bedeutung zu treffen w agte, w ar es insgesam t blockiert. A ber auch Honeckers Anwesenheit änderte nicht viel, wie kaum eine Szene deutlicher gemacht hat als das Festbankett zum 40. Jahrestag im Palast der Republik, auf dem Honecker mit hoher kraftloser Greisenstimme als Antwort auf die Krise und Orientierung für seine G enossen die Weisheit „ Vorwärts immer, rückwärts nimmer“ zum besten gab. Die herrschende Ideologie war auf das Niveau von Kinderversen degeneriert. Das war ein besonders drastischer Ausdruck dafür, daß der ideologisch gestiftete Sinnzusam menhang verlorengegangen w ar. D er dafür entscheidende Faktor w ar natürlich nicht die Geistesverfassung Honeckers, sondern der Kurswechsel in Moskau. Der ins titutionalisierte Marxismus-Leninismus konnte die dank Glasnost nun mögliche offene Konfrontation mit seiner sta6

42. Deutschen Historikertag in Frankfurt a. M. 8.–11.9.1998). Vgl. Hirschmann: Abwanderung (1992), S. 344.

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linistischen Vergangenheit und m it einer Bestandsaufnahm e der tatsächlichen internationalen Position dieses Systems nicht überstehen. Gorbatschow glaubte seinerzeit noch an eine Revitalisierung der Ideologie durch Rückkehr zum „wahren Leninismus“. In der Sowjetunion, wo die Diktatur in sieben Jahrzehnten tiefere Wurzeln geschlagen hatte, konnte m an sich dieser Illusion hingeben, in der D DR und stärker noch den anderen osteuropäischen Staaten war das, wenn überhaupt, nur sehr kurzfristig möglich. Egon Krenz allerdings, der auf H onecker folgte, scheint ernsthaft des Glaubens gewesen zu sein, er könne zu einem deutschen Gorbatschow werden, 7 der die m onopolistische Macht m it nichtgewalttätigen Mitteln bew ahrt, indem er die Partei wieder in die „Offensive“ bringt. Der Gehalt seiner Politik beschränkte sich jedoch auf den V ersuch, den inzwischen erreichten Status quo einer faktischen Duldung zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation einzufrieren. D er „ Dialog“ m it dem „ Bürger“ wurde vielerorts ebenso zu einem Desaster wie der Versuch, den regim ekritischen Dem onstranten durch die Mobilisierung der Parteimitglieder die Straße als Forum streitig zu machen. Die Führung der Staatssicherheit hatte die Wende zu einer „politischen Lösung“ der Krise akzeptiert. Als aber deutlich wurde, daß dieses Manöver scheitern würde, spielte zumindest Mielke mit dem Gedanken, die Macht durch die Ausrufung des Ausnahmezustandes zu retten. D ieses Risiko wollte die SED-Führung nicht eingehen. In Moskau und Warschau, wo Krenz Rat suchte, w urde ihm dringend abgeraten, seine Verzögerungstaktik fortzusetzen oder gar eine Kehrtwende zu vollziehen. Zwei Ereignisse machten kurz darauf die Entw icklung unumkehrbar. Die große Demonstration in Ostberlin am 4. N ovember zeigte, daß die soziale Basis des Regim es auch im Zentrum bis auf einen kleinen Kernbestand weggebrochen war und daß die fügsam en Bürger m ündig geworden waren. Die Öffnung der Mauer fünf Tage später w ar, obwohl sie zu einer vorübergehenden Beruhigung der Lage führte, bereits der Beginn der Auflösung der staatlichen Existenz der DDR. In der Staatssicherheit m achte sich zu dieser Zeit die Einsicht breit, daß die „ führende Rolle“ der Partei verlorengegangen w ar. Die Alternative, in Form einer Stasi-Diktatur anstelle de r Parteidiktatur selbst die Macht zu übernehmen, existierte aus m ehreren G ründen nicht: Mit dem Ende der „führenden Rolle“ war auch der Sinnzusam menhang derjenigen verlorengegangen, die meinten, dem „Schild und Schw ert der Partei“ zu dienen. Es gab in dieser Ideologie keinen Platz für eine eigenständige geheim polizeiliche Diktatur. Wäre die Generalität auf diese Idee verfallen, so ist auch mehr als fraglich, ob die Institution Staatssicherheit nicht bereits durch die nun 7

In einer Klageschrift von Krenz‘ Anwälten aus dem Jahre 1998 wird als Selbsteinschätzung ihres Mandanten referiert, er habe eine „historische Rolle als deutscher Gorbat schow“ wahrgenommen. Vgl. „ Krenz sieht Ehre durch Ministerin verletzt“, in: Der Tagesspiegel 3.1.1999.

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offen zutage tretenden inneren Widersprüche so w eit in A uflösung übergegangen war, daß sie gar nicht mehr handlungsfähig gewesen wäre. Man fühlte sich in den unteren D iensträngen von der SED -Führung und der ihr hörigen MfS-Spitze verschaukelt. Zu dem V erlust des Sinnzusammenhangs ihrer Tätigkeit kam bei den Stasi-Mitarbeitern noch die banale Einsicht, daß ihre m ühsam ausspionierten und gesam melten Informationen auf höherer Ebene anscheinend schlichtw eg ignoriert w orden w aren. D ie finstere Vergangenheit des MfS kam langsam ans Licht; zumindest die Verbrechen, die in den fünfziger Jahren im Parteiauftrag verübt w orden waren, konnten nicht länger tabuisiert werden. Daß Walter Jankas Schicksal öffentlich wurde, zerstörte die Legende von den angeblich „sauberen Händen“ der deutschen „Tschekisten“ und m achte ihren Chef, den dam aligen Staatssekretär Erich Mielke, als einen der Haupttäter erkennbar. Das Elitebewußtsein wich dem G efühl, O bjekt allgem einer V erachtung zu sein, repräsentiert durch einen – wie die Volkskammersitzung am 13. November gezeigt hatte – verwirrten Greis. Die Wut über die Privilegien der Generalität spaltete die verschiedenen Ebenen der Hierarchie. In den Regionen hatte m an das Gefühl, daß „Berlin“ keine A hnung und kein K onzept hätte. Es gab kein sinnstiftendes „Feindbild“ mehr und keinen klaren „Kampfauftrag“. Die bisher abverlangten Rollen und Verhaltensweisen verloren ihre Selbstverständlichkeit, sie w aren fragwürdig geworden. Man sollte sich nicht mehr nur an die internen Dienstanweisungen und Befehle halten, sondern an die für alle Bürger gültigen Gesetze. Sanktionen zur Durchsetzung des Willens der Zentrale griffen nicht mehr. Eine personalisierte Form hatten einige dieser Widersprüche mit Schwanitz und Mittig als Repräsentanten der alten Generalität und Markus Wolf als V erkörperung reformerischer Anpassung gefunden. Eine Spaltung der Staatssicherheit w ar nicht m ehr undenkbar, zum indest w enn die Führung versucht hätte, ihre Mannen zu einer letzten Schlacht zur Rettung des Alten Regimes zu befehlen. Zudem wurden nun die Gegensätze zwischen den verschiedenen Institutionen immer deutlicher: Presse und Fernsehen berichteten über polizeiliche Repression, Staatsanwälte ermittelten gegen Stasi-Offiziere, Volkskam merabgeordnete der Blockparteien kritisierten die Sicherheitsorgane, SED-F unktionäre distanzierten sich vom MfS, selbst die Volkspolizei verweigerte verschiedentlich die Zusam menarbeit. Um gekehrt torpedierten Stasi-Offiziere das V orhaben einiger O stberliner K ampfgruppenkommandeure, bewaffnet in den „Untergrund“ zu gehen. Statt sich auf putschistische Abente uer einzulassen, w ar die Spitze der Staatssicherheit ursprünglich bem üht, die „ Wende“ für einen effizienzsteigernden Modernisierungsschub zu nutzen, der intern bereits stark verunsichernd wirkte. Trotz vieler Wehklagen, daß die Stasi nun zum „Prügelknaben“ für Fehler der alten Parteiführung gem acht würde, hatte sie dabei das Ausmaß allgemeiner Empörung über ihr Tun gröblich unterschätzt. A ls sich 750

diese Empörung Anfang Dezem ber bei der Besetzung der regionalen Dienststellen entlud, führte das in der Zentrale zu hysterisch anmutenden Reaktionen, während die Staatssicherheitsoffiziere vor Ort, wo m an die Lag e schon zuvor realistischer eingeschätzt hatte, sich ins Unvermeidliche fügten. Die Staatssicherheit war für das Üb ergangsregime zum politischen Problem geworden. Es kam zum Konflikt mit dem zentralen Runden Tisch und auch mit Modrow. Der Ministerratsvorsitzende hielt zwar an den „Diensten“ als Symbol staatlicher Existenz der DDR fest, aber sie sollten nicht länger als m obilisierender Faktor öffentlicher Em pörung und dam it als Destabilisierungsfaktor fungieren. Eine dras tische Reduktion des U mfangs wie der Kompetenzen des Geheimdienstes war nun unvermeidlich. Des scheidenden Stasi-Chefs H offnung ging fehl, seinen Mitarbeitern sei durch die Einführung einer „ Art Beamtenstatus“ berufliche Sicherheit zu garantieren. Parallel zur ersten großen Entlassungsw elle waren die folgenden Wochen vor allem der Bew ahrung der K onspiration gewidmet: die MfS-Angehörigen so abzufinden, daß sie nicht die Seite w echselten, dem Versuch, zu einem Arrangement für eine w eitgehende A ktenvernichtung zu gelangen, und dem Bemühen, den „ Quellenschutz“ aufrechtzuerhalten. D ie Zeit, die dadurch gewonnen wurde, daß die Bürgerrechtsbew egung in Berlin noch im mer einen Bogen um die Stasi-Zentrale in Lichtenberg m achte, verrann m it taktischen Spielen. Schließlich setzten zwei ursprünglich getrennte Aktionen der Bürgerkomitees in den Regionen und des N euen Forum s in Berlin dem Spuk ein Ende. Es folgte die Abwicklung der Institution. Die allermeisten Stasi-Mitarbeiter haben sich dem ganz undramatisch gefügt – im Unterschied zu den Angehörigen von Institutionen in anderen historischen Zusammenhängen, m it denen sie m anchmal verglichen w erden. Keiner von ihnen ist in diesen Wochen irgendeinen „Heldentod“ gestorben, und sie haben auch niem anden umgebracht. Es gab dafür m ehrere Gründe: Auch sie glaubten die längste Zeit, sie würden historischen Gesetzen zur Durchsetzung verhelfen, und folgten dabei der Maxim e, daß der Zw eck die Mittel heilige, alle Mittel. Aber dieser, wie Hannah Arendt ihn nannte, „Suprasinn“ 8 hatte trotz aller „ tschekistischen“ Rhetorik längst seine Wirkung eingebüßt. A ngesichts des Zusam menbruchs des „ realen Sozialismus“ in ganz Osteuropa gab es keine Schlacht, die sinnvoll noch zu schlagen gewesen wäre. Und eine Untergangsideologie, die es rechtfertigen würde, das eigene Volk strafend mit in den A bgrund zu reißen, w ar der „ MarxismusLeninismus“ nicht. Die einen glaubten ohnehin nicht m ehr daran und waren zu zynischen Geheimpolizisten geworden, denen heroische Gesten, die den eigenen Kopf kosten könnten, fremd gewesen sein dürften. Für die anderen, die noch vom kommenden „Sieg des Sozialism us“ träumten – w ahrscheinlich eine Minderheit –, gab es ein Leben danach: das Warten auf die nächste historische Chance, und wenn es hundert Jahre dauert. 8

Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1975), S. 233 f.

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Diese kleine Erörterung zeigt, daß die kom parative Perspektive, die der Totalitarismusansatz nahelegt, zu durchaus interessanten Einsichten führen kann. Auch wenn dieser Ansatz – aus Gründen, die gleich zu erwähnen sein werden – zu keiner überzeugenden Theorie geführt hat, als Phänomenologie kommunistischer Herrschaftssysteme ist er ein heuristisches Instrument, das offenbar auf K ernbereiche dieser O rdnung aufm erksam m acht. So um faßt das „totalitäre Syndrom“ zentrale Aspekte, deren Negation die Dynamik der Revolution bestimmte: Der Niedergang der Partei und der Zerfall der Ideologie als der beiden Schlüsselelem ente der Herrschaftsordnung zerstörten das G esamtsystem. D as U nterlaufen des Inform ationsmonopols durch die Westmedien schuf jene V ernetzung und Rückkopplung von Informationen, die die gesellschaftliche Mobilisier ung enorm beförderte. Die Einschränkung der Repressionsm öglichkeiten w ar auf D auer nicht vereinbar mit der Aufrechterhaltung des H errschaftssystems. Fügsamkeit war allein durch geheimpolizeiliche Präsenz und von der Gegenseite kalkulierbare Einschüchterungsmaßnahmen nicht aufrechtzuerhalten. Mängel an diesem Ansatz, die im Umbruch besonders deutlich wurden, sind gleichwohl anzumerken: Die Diversifizierung der Institutionen in dieser Situation verw eist auf latent vorhandene Eigenlogiken, die die Partei trotz ihres totalitären Machtanspruchs nicht auszuschalten und zu ersetzen vermochte. Der wichtigste Aspekt aber ist die Wirkung der G esellschaft auf das Machtgefüge, genauer gesprochen: der verschiedenen gesellschaftlichen Großgruppen und der quer dazu liegenden politischen Ausrichtungen, die jedem die Entscheidung darüber abverlangten, w ie er sich verhalten solle. Dieser Einfluß hat sich als außerordentlich bedeutsam erwiesen. Das gilt für die Revolution, aber in ihr kam zugespitzt zum Ausdruck, was zuvor schon wirksam gewesen war. D ie Parteidiktatur hatte die Menschen, auch w enn sie sich fügsam verhielten, nicht in gefühl- und gewissenlose Rädchen verwandelt. Der beste Beleg dafür ist, daß osteuropäische D issidenten, als sie noch verfolgt wurden, stärker als die jeweilige Funktion die individuelle Moral eines Menschen zum Beurteilungskriterium machten. D as w ar nicht einfach das Ergebnis eigener m oralischer Haltung, sondern stützte sich auf gesellschaftliche Erfahrungen. Solche Erfahrungen sind nicht aus der Struktur des Machtgefüges deduzierbar, sondern sind geprägt von gesellschaftlichen Traditionen, Interessenkonflikten, Schlüsselereignissen, Werten und Wahrnehmungsmustern. D eshalb ist der Erklärungsgehalt, den eine Herrschaftstypologie für reale Entw icklungen bietet, sehr begrenzt. D ie Dialektik von politischer Macht und Gesellschaft ist das größere und auch das interessantere Them a, dem sich zu nähern nur durch sozialhistorische Analysen möglich ist. So war, wie zu zeigen versucht wurde, die Staatssicherheit am Ende, als sie sich nach dem Verlust ihrer Leitideologie und damit der sinnhaften V erankerung im H errschaftsgefüge gegen den gesellschaftlichen Druck auch in den eigenen Reihen nicht m ehr abzuschirm en vermochte. 752

Anhang

Literaturverzeichnis A. Nichtgedruckte Quellen Die Arbeit basiert zum größten Teil auf Q uellen aus der dem Bundesbeauftragten anvertrauten Hinterlassenschaft der Staatssicherheit. 1 Im folgenden seien die Bestände genannt, die besondere Bedeutung haben. Zur Rekonstruktion der Entscheidungsprozesse und der Befehlslage in den kritischen Monaten: – das „Sekretariat des Ministers“ (SdM), in dem auch die A kten von Mielkes Nachfolger Schwanitz Platz gefunden haben; – die Arbeitsbereiche seiner beiden Stellvertreter Mittig und Neiber; – die Bestände der „Dokumentenstelle“ (DSt), in der sich die Befehle und Weisungen der MfS-/AfNS-Spitze aus jener Zeit finden; – die Bestände einiger D iensteinheiten, die Stabsfunktion hatten, so vor allem die U nterlagen der Zentralen A uswertungs- und Inform ationsgruppe (ZAIG), des Zentralen Operativstabs (ZOS) und der Rechtsstelle (RS). Zur Entwicklung der Stimmung unter den Mitarbeitern der Staatssicherheit und zu den D ebatten, die sich dort im Herbst 1989 entwickelten, findet sich wertvolles Material in den Beständen der SED -Kreisleitung im MfS (SED KL). Zu diesem Thema wurden außerdem Protokolle und ähnliches Material aus einzelnen Diensteinheiten herangezogen, so der Hauptabteilung VIII (Observation), der Hauptabteilung XVIII (Wirtschaft), der Hauptabteilung XX (Staatsapparat, Kirche, Opposition) und der „ Juristischen Hochschule“ des MfS (JH S). Zu analogen Entw icklungen in den Bezirksverwaltungen des MfS ist in den Beständen der ZA IG einiges verw ahrt, so etw a die Protestschreiben einfacher Mitarbeiter nach Ostberlin, die sich ab Novem ber häuften. Für diesen Them enbereich sind selbstverständlich die U nterlagen der ehemaligen Bezirksverw altungen und K reisdienststellen des MfS noch bedeutsamer, die heute in den A ußenstellen des BStU verw ahrt w erden. D ie Bestände des Büros des Leiters der eh emaligen BVfS Berlin (BStU, ASt Berlin) habe ich selbst durchgesehen, hinsichtlich einschlägiger Archivalien in anderen A ußenstellen (so in Chem nitz [ Karl-Marx-Stadt], Erfurt, Halle, 1

Ein zusammenfassender Überblick zu diesen Archivbeständen ist zu finden in: Zweiter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten (1995). Der aktuelle Erschließungsstand wird referiert in: Dritter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten (1997).

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Neubrandenburg, Rostock und Suhl) w aren m ir die dortigen Mitarbeiter dankenswerterweise behilflich. D iese Ü berlieferung bricht durchweg Anfang Dezember 1989 ab. Die Wahrnehm ung des Wachstum s der Bürgerrechtsbewegung, der Stimmung unter den Bürgern, kritischen wie „ progressiven“, wurde durch die ZAIG festgehalten und zu „ Informationen“ zusam mengefaßt. Zur Ergänzung wurden für bestimmte Ereignisse die Berichte der „ Auswertungs- und Kontrollgruppen“ (AKG) in einzelnen Bezirksverwaltungen herangezogen. Außerdem fanden sich aufschlußreiche Quellen zur Stimmung in Volkspolizei und K ampfgruppen im A rchiv der für ihre Überwachung zuständigen Hauptabteilung VII, das jedoch erst etwa zur Hälfte erschlossen ist. Ähnlich ist der Erschließungsstand der für die NVA zuständigen Hauptabteilung I. Auch hier harren noch um fangreiche Quellenbestände der zeitgeschichtlic hen Auswertung. Der zweite Quellenbestand, der erw ähnt werden muß, ist jener des Bundesarchivs, Außenstelle Berlin (BA Berlin). D ort finden sich die Bestände des ehemaligen zentralen Parteiarchivs, die heute der Stiftung Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv (SAPMO) unterstehen. D urchgesehen wurden die Unterlagen des Politbüros (J IV 2/2 bzw. J IV 2/2A) und der Sitzungen des Sekretariats des Zentralkom itees (J IV 2/3) von Ende 1988 bis Ende 1989, außerdem die zum Teil sehr lückenhaften Bestände der „ Büros“ Hermann Axen (DY 30/IV 2/2.035), Horst Dohlus (DY 30/IV 2/2.041), Kurt Hager (DY 30/IV B2/2.024), Er ich Honecker (J IV/... bzw. SED 18113), Egon Krenz (DY 30/IV 2/2.039), Günter Mittag (SED 18113), Günter Schabowski (DY 30/IV 2/2.040) sowie der ZK-Abteilung für Internationale Verbindungen (vorl. SED 18113 bzw. DY 30 J/IV). Im Bundesarchiv finden sich außerdem die U nterlagen des Ministerrates der DDR (C-20 I/3), sehr lückenhaft die Bestände der Staatssekretariate Halbritter und Möbis und eine unvollständige Sammlung der Berichte jener „Beauftragten des Ministerpräsidenten“, die ab Dezem ber 1989 die Um strukturierung bzw. Auflösung der Staatssicherheit überwachen sollten (DC 20). Lücken in der Stasi-Hinterlassenschaft, die besonders für die letzten Monate bestehen, konnten zu einem – allerdings relativ geringen – Teil durch dortige Überlieferungen geschlossen werden. Parallelüberlieferungen ermöglichten es, die Bestände des MfS-A rchivs auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen. Widersprüche, die etwa auf bew ußte Falsifikate hindeuten w ürden, waren dabei nicht zu entdecken. In der Regel schließen die Dokumente nahtlos aneinander an. Einige relevante Lücken, die offenkundig durch gezielte Vernichtung geschaffen worden sind, waren allerdings auch dadurch nicht zu schließen. Im Landesarchiv Berlin finden sich, allerdings wegen eklatanten Personalmangels noch weitgehend unerschlossen, die Unterlagen der SED-B ezirksleitung Ostberlin. Die zuständige Archivarin war so freundlich, mir Unterlagen zur D emonstration am 4. N ovember 1989 und zur A bteilung Kultur in 754

der Bezirksleitung im Herbst dieses Jahres herauszusuchen.

B. Verzeichnis der zitierten Literatur

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Chronologische Übersicht 1985 11. März

Michail Gorbats chow wird zum Generals ekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt.

1986 17.–21. April Auf ihrem XI. (und letzten) Parteitag erklärt die SED-Führung, daß sie in allen Bereichen an der bisherigen „ erfolgreichen“ Politik festhalten werde. 10.–11. Nov. Auf einem Gipfeltreffen der W arschauer-Pakt-Staaten in Moskau warnt Gorbatschow, die sozialistischen Länder stünden vor einer Wirtschaftskrise und einer dram atischen Verschlechterung ihrer internationalen Position. 1987 27.–28. Jan.

Ein Plenum des ZK der KPdSU stellt die Weichen für eine Ausweitung des Reformprojektes auf die politischen Strukturen. 10. April In einem Interview vergleicht SED-Chefideologe Kurt Hager die Perestroika mit einem „Tapetenwechsel“, den der „Nachbar“ DDR nicht nachahmen werde. 07.–11. Sept. Erich Honecker ist zu einem Arbeitsbesuch in der Bundesrepublik. 24.–26. Nov. Auf dem X. Schriftsteller kongreß der DDR attackiert Christoph Hein in scharfen Worten die Zensur. 25. Nov. Die Staatssicherheit durchsucht die Räum e der evangelischen Zionsgemeinde in Ostberlin und nimmt sieben Personen fest. Wegen anhaltender Proteste m üssen die Festgenom menen nach wenigen Tagen freigelassen werden. 1988 17. Jan.

25. Jan.

03. März

Am Rande der offiziellen Gedenkdem onstration für Rosa Luxem burg und Karl Liebknecht werden über hundert Ausreisewillige und Oppositionelle festgenommen, die für „ Freiheit der Andersdenkenden“ demonstrieren wollten. Ein großer Teil der Ausreisewilligen wird in die Bundesrepublik abgeschoben. Sieben führende Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler werden in Ostberlin unter dem Vorwurf „ landesverräterischer Beziehungen“ festgenommen. Die evangelische Kirche veranstaltet im ganzen Lan d Fürbittgottesdienste für die Verhafteten. Im Anschluß finden Informationsveranstaltungen statt, auf denen m it bis dahin unbekannter Schärfe über die Lage in der DDR debattiert wird. Anfang Februar werden die Verhafteten in den Westen abgeschoben. Bei einem Treffen m it Honecker fordert der evangelische Bischo f Leich die Eröffnung eines „ Dialogs“ zwischen SED und Gesellschaf t und den Beginn einer Reformpolitik.

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08.–09. Juni

Auf dem 6. ZK-Plenum der SED wird heftige Kritik an sowjetischen Historikern geübt, durch deren Veröffentlichungen angeblich „die schwere, aber große Geschichte des Sowj etlandes zu einer Aufeinanderfolge von Fehlern verzerrt wird“. 18. Nov. Verbot der sowj etischen Zeitschrift „ Sputnik“ in der DDR. – Am 21. November werden auch noch fünf antistalinistische sowj etische Filme verboten. 01.–02. Dez. Auf dem 7. ZK-Plenum bekräftigt die SED-Führung ihre Abgrenzung von der sowj etischen Perestroika und beruft für Mai 1990 den XII. Parteitag unter alter Führung ein. 14. Dez. Eine Verordnung über Reise und Ausreise wird veröffentlicht. Einerseits macht sie das Verfahren transparenter: Erstm als werden konkrete Ablehnungsgründe genannt, Bearbeitungsterm ine (maximal 30 Tage für Reiseanträge) fixiert, ein Beschwerderecht und das Recht au f gerichtliche Nachprüfung von ablehnenden Verwaltungsentscheidungen eingeführt. Andererseits entfallen seit 1986 praktizierte Genehmigungsgründe in „dringenden Familienangelegenheiten“. 1989 15.–19. Jan. 16.–17. Jan.

Abschlußsitzung der KSZE-Folgekonferenz in Wien. Das Zentralkomitee der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei stim mt Verhandlungen mit Soldiarno am „Runden Tisch“ zu. 19. Jan. Honecker bekräftigt, die Mauer werde noch „in 50 oder auch 100 Jahren“ stehen, wenn die Gründe für ihre Errichtung fortdauern würden. 06. Feb. Grenzsoldaten ers chießen den 20jährigen Chris Gueffroy, der versuchte, in Berlin-Treptow über die Grenze zu fliehen. 10.–11. Feb. Das ZK-Plenum der Ungarischen Vereinigten Arbeiterpartei bekenn t sich zum Parteienpluralismus. 21. Feb. In Prag wird Václav Havel zu neun Monaten Haft verurteilt. 01. März Die Generalversammlung des PEN-Zentrums der DDR verabschiede t eine Erklärung gegen die Verurteilung von Václav Havel. 26. März Bei den Wahlen zum Kongreß der Volksdeputierten in der Sowj etunion stehen erstmals mehrere Kandidaten zur Wahl. 01. April Wegen anhaltenden Unm uts m üssen die restriktiven Bestim mungen der neuen Reiseverordnung gelockert werden. 03. April Geheimgehaltene unbefristete Aussetzung des Schießbefehls an de r innerdeutschen Grenze. 05. April In Warschau werden die Gespräche am „ Runden Tisch“ zum Abschluß gebracht: Solidarno  wird zugelassen, und für Juni werden kompetitive Wahlen anberaumt. 07. April Erich Mielke trägt dem Leiter der 1. Hauptverwaltung des KGB, Schebarschin, seine Bedenken gegen die Reform politik in sozialistischen Staaten vor. 02. Mai Ungarn beginnt die Grenzbefestigung nach Österreich abzubauen. 07. Mai Bei den Kom munalwahlen in der DDR können von Bürgerrechtlern massive Fälschungen nachgewiesen werden. 04. Juni In Polen erringt die Opposition bei W ahlen zum Sejm und zum Senat einen fulminanten Sieg.

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08. Juni 12.–15. Juni 22.–23. Juni 23.–24. Juni 07.–08. Juli 08. Aug. 13. Aug. 24. Aug. 09.–10. Sept. 11. Sept. 14. Sept. 15.–19. Sept. 18. Sept. 19. Sept. 20. Sept. 22. Sept. 25. Sept. 03. Okt. 04. Okt. 04.–08. Okt. 07. Okt. 07.–08. Okt. 09. Okt.

Nach dem Massaker auf dem „ Platz des him mlischen Friedens“ (4. Juni) unterstützt die Volkskam mer in einer Erklärung die Unterdrückung der Demokratiebewegung in China. k Gorbatschow ist zu einem Staatsbesuch in der Bundesrepubli Deutschland. Auf dem 8. ZK-Plenum der SED wird davor gewarnt, daß in sozialistischen Ländern unter der „ Fahne der Erneuerung des Sozialismus“ der Kapitalismus restauriert werde. Auf einem Plenum des ZK der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei übernehmen die radikalen Reformer die Macht. Auf einem Gipfeltreffen der W arschauer-Pakt-Staaten in Bukares t wird die Breshnew-Doktrin widerrufen. In Ostberlin muß die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland wegen Überfüllung mit Flüchtlingen geschlossen werden. Auf einer Veranstaltung in Berlin-Treptow wird gefordert, daß die Bürgerrechtsgruppen sich zusam menschließen und an die Öffentlichkeit gehen. In Polen wird m it Tadeusz Mazowiecki ein nichtkommunistischer Regierungschef gewählt. Gründung des „Neuen Forums“. Ungarn öffnet seine Grenze nach Österreich. Der Ostberliner Schriftstellerverband fordert in einer Erklärung einen „demokratischen Dialog auf allen Ebenen“. Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in Eisenach verabschiedet politische Reformforderungen. Prominente Rockkünstler fordern in einer anschließend auf vielen Veranstaltungen verlesenen Resolution eine Demokratisierung in der DDR. Das „Neue Forum“ beantragt seine Zulassung. Vom Ministerium des Innern wird sie mit der Begründung „Staatsfeindlichkeit“ abgelehnt. Auf einer Sitzung des Sekretariats des ZK der SED werden die Forderungen der Eisenacher Synode als „konterrevolutionär“ bezeichnet. In einem Schreiben an die SED-Bezirksleitungen erklärt Honecker, daß die „feindlichen Aktionen im Keime erstickt werden müssen“. Erste Montagsdem onstration m it m ehreren tausend Teilnehmern in Leipzig. Schließung der DDR-Grenze zur Tschechoslowakei. Bürgerrechtsgruppen fordern Wahlen unter UNO-Kontrolle und kündigen an, ein Wahlbündnis anzustreben. In Dresden werden bei Auseinandersetzungen zwischen Ausreisewilligen, Demonstranten und Sicherheitskräften über 1.300 Personen festgenommen. Gründung der SPD (damals noch: SDP) in der DDR. In Ostberlin kom mt es im Zusam menhang m it Dem onstrationen gegen die Feiern zum 40. Jahrestag der DDR zu zahlreichen Übergriffen der Sicherheitskräfte. Die bis dahin größte Montagsdem onstration in Leipzig verläuft friedlich; der ursprünglich geplante und allgem ein befürchtete gewaltsame Polizeieinsatz findet nicht statt.

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10.–11. Okt. Das Politbüro der SED schwenkt vorsichtig auf einen Politikwechsel ein. In einer „Erklärung“ wird eine „Dialogpolitik“ angekündigt. 17. Okt. Das Politbüro fordert Honecker zum Rücktritt auf. 18. Okt. Erich Honecker tritt als SED-Generalsekretär zurück; zu seine m Nachfolger wählt das 9. ZK-Plenum Egon Krenz. 20. Okt. Das Verbot des „Sputnik“ (siehe 18. November 1988) wird aufgehoben. 21. Okt. Auf zentralen Dienstbesprec hungen im Ministerium für Staatssicherheit und im Ministerium des Innern wird der Sicherheitsapparat au f die „Wende“ verpflichtet. 23. Okt. In Schwerin gerät der Vers uch der SED, der Bürgerrechtsbewegung mit einer Gegendemonstration die Straße streitig zu machen, zum Desaster. 24. Okt. Die Volkskammer wählt Egon Krenz zum Vorsitzenden des Staatsrates. 27. Okt. Die Aussetzung des Reiseverkehrs in die SSR wird aufgehoben. – Für Personen, denen „Republikflucht“ vorgeworfen wurde, wird eine Amnestie verkündet. 28. Okt. Lesung der Erinnerungen W alter Jankas im Deutschen Theater und deren Ausstrahlung im Rundfunk der DDR. 31. Okt. Krenz reist zu Antrittsbesuchen nach Moskau und Warschau. – Zuvor war in einer Politbürositzung bekanntgegeben worden, daß die DD R kurz vor dem wirtschaftlichen Bankrott stehe. 03. Nov. In einer Fernsehansprache kündigt Krenz den Rücktritt einer Reihe von Politbüromitgliedern, darunter Erich Mielke, an. 04. Nov. In Ostberlin demonstrieren etwa 500.000 Menschen. – Mit Zustim mung der SED-Führung dürfen DDR-Bürger künftig direkt aus der Tschechoslowakei in die Bundesrepublik ausreisen. 06. Nov. Der Entwurf eines Reisegesetzes wird veröffentlicht, das prinzipiell jedem Bürger jährlich eine Auslandsreise von m aximal 30 Tagen ermöglichen soll. 07. Nov. Der Ministerrat erklärt seinen Rücktritt. – Das „ Neue Forum “ wird faktisch zugelassen. 08.–10. Nov. Das 10. Plenum des ZK der SED beschließt ein „ Aktionsprogramm“, die Einberufung einer Parteikonferenz und um fangreiche Kaderveränderungen. 09. Nov. Öffnung der Mauer. 12. Nov. Die CDU der DDR wählt Lothar de Maizière zu ihrem kommissarischen Vorsitzenden. 13. Nov. Das 11. Plenum des ZK der SED beruft unter dem Druck der rebellierenden Parteibasis einen außerordentlichen Parteitag ein. – Hans Modrow wird zum Vorsitzenden des Ministerrates gewählt. – Erich Mielke erklärt vor der Volkskammer, daß er alle Menschen „liebe“. 17. Nov. Eine Studentendemonstration in Prag wird von der Polizei brutal auseinandergetrieben. Das löst einen Proteststurm aus, der eine Woche später im Sturz der KPTsch-Führung kulminiert. 17.–18. Nov. Die Volkskammer bestätigt die Regierungserklärung von Modrow un d wählt einen neuen Ministerrat. Das MfS wird in Am t für Nationale Sicherheit umbenannt, zu seinem Leiter Wolfgang Schwanitz ernannt.

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21. Nov.

Amtseinführung von Schwanitz als AfNS-Chef durch Ministerpräsident Modrow. 22. Nov. Das SED-Politbüro erklärt si ch zu Verhandlungen m it Sprechern der Opposition an einem zentralen „Runden Tisch“ bereit. 23. Nov. Das Politbüro billigt im Umlaufverfahren die Streichung der „ führenden Rolle“ der SED aus der Verfassung. 24. Nov. Nachdem Journalisten die Politbüro-Siedlung W andlitz besuchen durften, erscheinen in vielen DDR-Zeitungen Reportagen über die privilegierten Lebensbedingungen der politischen Führung. 28. Nov. Bundeskanzler Helm ut Kohl gibt vor dem Bundestag ein „ ZehnPunkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands un d Europas“ bekannt. 29. Nov. Durch den Leiter des AfNS, Schwanitz, wird eine große Zahl dienstlicher Bestimmungen und Weisungen außer Kraft gesetzt. 01. Dez. Die Volkskammer streicht die „führende Rolle“ der SED aus Artikel 1 der Verfassung. 03. Dez. Politbüro und Zentralkomitee der SED erklären ihren Rücktritt. – Alexander Schalck-Golodkowski, Leiter des Bereichs Kom merzielle Koorn dinierung und Chefunterhändler der DDR-Regierung, flüchtet in de Westen. 04. Dez. CDU und LDPD verlassen den „ Demokratischen Block“; DBD und NDPD schließen sich ihnen wenig später an. 04.–05. Dez. Aufgebrachte Bürger, die die Vernichtung von Beweismaterial befürchten, beginnen m it der Besetzung von Bezirksäm tern und Kreisdienststellen der Staatssicherheit. 05. Dez. Das Kollegium des AfNS tritt zurück. In den folgenden Tagen werden die Leiter der meisten Hauptabteilungen und der Bezirksämter für Nationale Sicherheit abgelöst. 06. Dez. Egon Krenz tritt als Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender des Verteidigungsrates zurück. Sein „ amtierender“ Nachfolger wird Manfre d Gerlach (LDPD). 07. Dez. In Ostberlin tritt der zentrale Runde Tisch zusammen. 08. Dez. Ministerratsvorsitzender Modrow erklärt gegenüber AfNS-Che f Schwanitz, daß das Amt für Nationale Sicherheit aufgelöst werde. 08.–09. Dez. Auf einem Sonderparteitag der SED-PDS wird Gregor Gysi zum neuen Vorsitzenden gewählt. 09. Dez. Vor dem ZK der KPdSU erklärt Gorbatschow, daß die DDR „ strategischer Verbündeter“ der Sowjetunion ist und bleiben werde. 14. Dez. Der Ministerrat beschließt die Auflösung des AfNS und den Aufbau eines Verfassungsschutzes und eines Nachrichtendienstes. Wolfgang Schwanitz wird beurlaubt. 15. Dez. Auf einer zentralen Dienstbesprechung des AfNS verfügt der neue Amtschef Engelhardt einen sofortigen Stopp der Vernichtung von Akten. 19.–20. Dez. Bei einem Besuch in Dresden wird Bundeskanzler Kohl von hunderttausend Kundgebungsteilnehmern begeistert begrüßt. 25. Dez. In Rum änien wird die Diktatur gestürzt. Nach einem kurzen Geheimprozeß werden Nicolae und Elena Ceau escu zum Tode verurteilt und erschossen.

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28. Dez. 1990 03. Jan.

Anschlag auf das sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow.

„Kampfdemonstration“ vor allem von Kräften des Alten Regim es gegen „Neofaschismus und Antisowj etismus“ am sowj etischen Ehrenmal. 08. Jan. Am Runden Tisch kommt es wegen der zögerlichen Auflösung des AfNS zu einer heftigen Kontroverse mit Regierungsvertretern. 11.–12. Jan. In der Volkskam mer wird über den Fortbestand der Staatssicherheit gestritten. Um den Fortbestand der Regierung zu retten, kündigt Ministerratsvorsitzender Modrow an, vor den W ahlen werde kein neue r Dienst aufgebaut. – W olfgang Schwanitz wird formell von seiner Funktion als Leiter des AfNS entbunden. 12. Jan. Der amtierende Leiter des AfNS Engelhardt verfügt, die Arbeit m it inoffiziellen Mitarbeitern auf dem Territorium der DDR s ofort einzustellen. 13. Jan. Der Ministerrat beschließt, daß das AfNS ersatzlos aufgelöst und vor den Wahlen kein „Verfassungsschutz“ aufgebaut wird. 15. Jan. Aus einer Demonstration vor der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg und einer parallelen Aktion von Vertretern der regionalen Bürgerkomitees entwickelt sich eine Besetzung des Gebäudekomplexes. 28. Jan. Der Runde Tisch und Ministerpräsident Modrow kom men überein, den Wahltermin auf den 18. März vorzuziehen. 31. Jan. Nach einem Besuch bei Gorbatschow in Moskau präsentiert Modrow vor der Presse eine „Konzeption Deutschland, einig Vaterland“. 05. Feb. Acht Vertreter von Bürgerrechtsorganisationen werden durch die Volkskammer zu Ministern ohne Geschäftsbereich gewählt. 08. Feb. Der Ministerrat unterstellt die Auflösung der Staatssicherheit drei zivilen Regierungsbeauftragten, davon zwei Vertretern des Runden Tisches. Zudem wird ein „ Komitee zur Auflösung des ehem aligen AfNS“ eingerichtet. 10.–11. Feb. Bei einem Besuch von Bundeskanzler Kohl und Außenm inister Genscher in Moskau erklärt sich Gorbatschow grundsätzlich m it eine r Vereinigung der beiden deutschen Staaten einverstanden. 19. Feb. Der Runde Tisch beschließt die Vernichtung der elektronischen Datenträger der Staatssicherheit. 20. Feb. Die Volkskammer verabschiedet ein Gesetz über freie, allgem eine, gleiche und direkte Wahlen. 23. Feb. Die Arbeitsgruppe Sicherheit des Runden Tisches billigt die Selbstauflösung der HV A. 08. März Entbindung aller inoffiziellen Mitarbeiter von ihrer Aufgabe und ihrer Schweigepflicht durch Ministerratsbeschluß. 14. März Der Vorsitzende des „ Demokratischen Aufbruchs“ , W olfgang Schnur, legt wegen erwiesener IM-Tätigkeit alle Ämter nieder. 18. März Aus den W ahlen zur Volkskam mer geht die „Allianz für Deutschland“ als Sieger hervor. 31. März Alle Mitarbeiter der Staatssicherheit sind entlassen.

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Abkürzungsverzeichnis Abt. Fin Abt. K Abt. M

ADN AfNS AG AGB AGL AGM AGM/S

AGMS AIM AKG AKSK AOP AOPK AP APO ARD

ASt

Abteilung Finanzen Abteilung Kriminalpolizei im Ministerium des Innern Abteilung M – Diensteinheit, die Post- und Paketkontrollen sowie Postzollfahndungen durchführt Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Amt für Nationale Sicherheit Arbeitsgruppe Arbeitsgesetzbuch Abteilungsgewerkschaftsleitung Arbeitsgruppe des Ministers Einsatz- und Kampfgruppe des MfS, 1989 eingegliedert in die neu gebildete HA XXII archivierte GMS-Akte; GMS archivierter IM-Vorgang bzw. archivierter IMVorlauf; IM Auswertungs- und Kontrollgruppe Arbeitskreis Solidarische Kirche archivierter Operativer Vorgang; OV archivierte OPK-Akte; OPK Allgemeine Personenablage Abteilungsparteiorganisation (SED) Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der BRD Außenstelle

BA BÄ BAfNS BÄfNS

BBC BdL BDVP BdVP BEL BePo BF BFC BGBl. BGH BGL BK BKK BL BND BPA BStU

BVfS BVG CDU COCOM

Bezirksamt Bezirksämter Bezirksamt für Nationale Sicherheit – Rechtsnachfolger der BVfS seit dem 17.11.1989; AfNS British Broadcasting Corporation Büro der Leitung Bezirksverwaltung der Deutschen Volkspolizei Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei PdVP Bezirkseinsatzleitung Bereitschaftspolizei Abteilung Bildung und Forschung beim BStU Berliner Fußballclub („Dynamo“) Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Betriebsgewerkschaftsleitung Bürgerkomitee Bereich Kommerzielle Koordinierung Bezirksleitung (der SED) Bundesnachrichtendienst Bezirksparteiarchiv Der Bundesbeauftrage für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Berliner VerkehrsGesellschaft Christlich-Demokratische Union Coordinating Committee/ Controlling Commission (for East-West Trade Policy)

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SSR

CSU DA DBD DE DFD DO DPA DSt DVP EDV EKD EOS EV FAZ FDGB FDJ FS GBl. GI GKdos GL GM GMS GO GT GÜSt GVS HA HIM Hptm. HU

790

eskoslovenská Socialistická Republika (Tschechoslowakische Sozialistische Republik) Christlich-Soziale Union Demokratischer Aufbruch Dienstanweisung Demokratische Bauernpartei Deutschlands Diensteinheit Demokratischer Frauenbund Deutschlands Dienstobjekt Deutsche Presse-Agentur Dokumentenstelle Deutsche Volkspolizei Elektronische Datenverarbeitung Evangelische Kirche in Deutschland Erweiterte Oberschule Ermittlungsverfahren Frankfurter Allgemeine Zeitung Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Fernschreiben Gesetzblatt Geheimer Informator Geheime Kommandosache Generalleutnant Generalmajor Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit Grundorganisation Generaloberst Grenztruppe Grenzübergangsstelle Geheime Verschlußsache Hauptabteilung Hauptamtlicher Inoffizieller Mitarbeiter Hauptmann Humboldt-Universität

HV A

Hauptverwaltung A (Aufklärung) HV A/AGS Arbeitsgruppe Sicherheit der HV A IFM Initiative Frieden und Menschenrechte IM Inoffizieller Mitarbeiter IM-V IM-Vorlauf IMB Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung bzw. zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen IME Inoffizieller Mitarbeiter im bzw. für einen besonderen Einsatz IMK Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens IMS Inoffizieller Mitarbeiter, der mit der Sicherung eines gesellschaftlichen Bereichs oder Objekts beauftragt ist IMV IM-Vorlauf Inoffizieller Mitarbeiter, der unmittelbar an der Bearbeitung und Entlarvung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen mitarbeitet (1968–1979) IuD Information und Dokumentation in der Abt. BF des BStU JHS Juristische Hochschule des MfS KAfNS Kreisamt für Nationale Sicherheit KD Kreisdienststelle Kdo. Kommando KG Kampfgruppe KGB Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR

KK KL KoKo KP KPD KPdSU KPKK KPTsch KSZE KuSch KS LA LDE LDPD LG LPG Ltg. MA MAD MB MdB MdI MfAA MfNV MfS ML MPi MR MTW MV

Kerblochkartei, Kerblochkarte Kreisleitung (der SED) Kommerzielle Koordinierung Kommunistische Partei Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Kreisparteikontrollkommission Kommunistische Partei der Tschechoslowakei Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kader und Schulung Landesarchiv Leiter der Diensteinheit Liberal-Demokratische Partei Deutschlands Landgericht Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Leitung Mitarbeiter Militärischer Abschirmdienst Militärbezirk Mitglied des Bundestages Ministerium des Innern Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten Ministerium für Nationale Verteidigung Ministerium für Staatssicherheit Marxismus-Leninismus Maschinenpistole Ministerrat Militärtransportwagen Mitgliederversammlung

NATO ND NDP NDPD NF NSW NVA NVR O/S OASE o. D. OD ODH OHS OibE o. P. OPK ORB OSL OTS OV OvD PB PD PDS PdVP PHV PKE PKK PO PO/GO

North Atlantic Treaty Organization (Nordatlantikpakt) Neues Deutschland (Zeitung) Nationaldemokratische Partei National-Demokratische Partei Deutschlands Neues Forum Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet Nationale Volksarmee Nationaler Verteidigungsrat Ordnung/Sicherheit „Offene Arbeit“ (Bürgergruppe in Erfurt) ohne Datum Objektdienststelle Offizier des Hauses Offiziershochschule Offizier im besonderen Einsatz ohne Paginierung Operative Personenkontrolle Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg Oberstleutnant Operativ-Technischer Sektor Operativer Vorgang Offizier vom Dienst Politbüro Panzerdivision Partei des Demokratischen Sozialismus Präsidium der Volkspolizei Politische Hauptverwaltung (NVA) Paßkontrolleinheit Parteikontrollkommission Parteiorganisation Parteiorganisation/ Grundorganisation

791

POZW

Politisch-Operatives Zusammenwirken PS Personenschutz PT Parteitag PVAP Polnische Vereinigte Arbeiterpartei RD Rückwärtige Dienste RdB Rat des Bezirkes RdK Rat des Kreises RFE/RL Radio Free Europe/ Radio Liberty RGW Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe RIAS Rundfunk im amerikanischen Sektor RL Richtlinie RS Rechtsstelle RZ Rechenzentrum SA Sachakte SAPMO-BA Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv SBZ Sowjetische Besatzungszone SDAG Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft SdM Sekretariat des Ministers SDP Sozialdemokratische Partei (in der DDR) SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SERO Sekundärrohstofferfassung (VEB-Betrieb) SFB Sender Freies Berlin SHB Spezialhochbau – dem MfS nachgeordneter volkseigener Betrieb SiVo Sicherungsvorgang SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPW Schützenpanzerwagen StÄG Strafrechtsänderungsgesetz StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozeßordnung StS Staatssicherheit SU Sowjetunion

792

TB Tn. UaZ UdSSR

Tonband Teilnehmer Unteroffizier auf Zeit Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UNO United Nations Organization (Vereinte Nationen) USAP Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei UUK Unabhängige Untersuchungskommission UVR Ungarische Volksrepublik V-IM Vorlauf-IM V-Komplex Vorbeugekomplex VdgB Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe VEB Volkseigener Betrieb VK Verkehrskontrolle VM Valuta-Mark Vopo (ugs.) Volkspolizist VP Volkspolizei DVP VPI Volkspolizeiinspektion VPKA Volkspolizeikreisamt VPKÄ Volkspolizeikreisämter VR Volksrepublik VS Verfassungsschutz VSH Vorverdichtungs-, Suchund Hinweiskartei VVS Vertrauliche Verschlußsache WAZ Westdeutsche Allgemeine Zeitung WB Westberlin WR Wachregiment des MfS WTsch Hochfrequenz-Netz – (russ.) Abkürzung für das geheime TelefonSondernetz, das der Verbindung zwischen den Führungskräften des MfS und zu den Spitzenfunktionären der SED und der Regierung sowie zu den Führungskräften der NVA, des MdI und der Zollverwaltung diente

ZA ZAGG ZAIG ZDF ZERV ZK ZKG

Zentralarchiv Zentrale Arbeitsgruppe Geheimnisschutz Zentrale Auswertungsund Informationsgruppe Zweites Deutsches Fernsehen Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität Zentralkomitee Zentrale Koordinierungsgruppe

ZMA ZMD ZOS ZPA ZPDB ZPKK ZZP

Zentrale Materialablage Zentraler Medizinischer Dienst (MfS) Zentraler Operativstab Zentrales Parteiarchiv (SED) Zentrale Personendatenbank (MfS) Zentrale Parteikontrollkommission Zentraler Zuführungspunkt

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Personenregister* * Seitenangaben, auf denen sich Grundinformationen zur j

gedruckt.

Adamec, Ladislav 25, 244 Ahrendt, Lothar 493, 496, 532, 737 Albrecht, Hans 605 Albrecht, Heinz 468 Ambarzumow, Jewgenij 65 Andropow, Juri 482 Arendt, Hannah 17 f., 751 Arendt, Lothar 670 Arndt, Otto 258 Asew, Jewgej F. 702 Ash, Timothy Garton 58 Audehm, Hans-Jürgen 494 Auerbach, Dieter 302 Axen, Hermann 175, 178, 341 Bachmann (Generalmajor der VP) 284 Bahro, Rudolf 34, 139, 203 Bakatin, Wadim 98 Barkow, Leonid Iwanowitsch 98 Batkin, Leonid M. 78 Bauer, Dietmar 589 Baumgarten, Klaus-Dieter 149 Bausch, Karl 533, 573, 656 Behnisch (Oberstleutnant) 264 Behrends, Karl-Heinz 672 Beil, Gerhard 500, 735 Benda, Václav 23, 27 f. Bengelsdorf, Fritz 151 Berghaus, Ruth 417 Berghofer, Wolfgang 271–274, 605, 649, 655 Berija, Lawrentij 57 Biermann, Wolf 25, 62, 228, 397, 410, 623 Bilan, Heinz 278 Birthler, Marianne 412 Bischoff, Herbert 388 f., 393, 408 Bisky, Lothar 412, 605, 684 Bohley, Bärbel 85, 136, 199, 201, 202, 204, 206, 209, 232, 373, 386, 397, 401, 417 f., 449, 644, 651 f., 695, 748

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eweiligen Person finden, sind fett-

Böhm, Georg 649, 731 f. Böhm, Horst 251, 255, 257 f., 261, 266–271, 276, 278, 318, 373, 458, 528, 566, 639 Böhme, Hans-Joachim 102, 340 f. Böhme, Ibrahim 226, 650–652, 681, 683, 693, 697 f., 701–703, 738 Böttiger, Siegfried 386 Brachmann-Teubner 664 Braun, Edgar 258, 563, 639, 657, 662, 669 f., 680 Braun, Volker 417, 614 Brecht, Bertolt 411 Breshnew, Leonid 332, 383 Brie, André 480, 484 Brie, Michael 468, 478, 480, 484 Brombacher, Ellen 232, 394 f., 401 Büchner, Joachim 531, 619, 638 Bush, George 91 Bützow, Klaus 289 Carlsohn, Hans 514, 638 Carlsohn, Peter 550 Ceauescu, Nicolae 87 f., 92, 172 f., 787 Chemnitzer, Johannes 102, 332, 372, 469 Chruschtschow, Nikita 174 Coburger, Karli 454, 464, 589 Collins, Randall 16 Dahn, Daniela 199 Dähn, Ulrich 672, 734 Damm, Willi 638 Dangrieß, Dieter 181, 528, 628–631, 638 Danz, Tamara 199 Davies, James 64 Demke, Christoph 317 Demmler, Kurt 199, 409 Deng Xiaoping 128 Deutsch, Karl W. 30

Dickel, Friedrich 146, 255, 276, 288, 290, 292 f., 303, 307, 313, 338, 348, 355–358, 360, 363, 377, 379, 403, 419, 425, 428, 432, 436, 466, 471, 745 Diestel, Peter-Michael 46, 740 Dietze, Dieter 283 Dietze, Manfred 616, 638 Dohlus, Horst 123, 206, 212, 324, 341, 343, 403, 468 Dohmeyer, Kurt 579 f., 582 Dörfler, Marianne 650 Drees, Erika 202 Dubcek, Alexander 59 Dunn, John 11 Ebeling, Fred 650 Eberlein, Werner 328, 340 Eckert, Rainer 15 Eichhorn, Günter 732 f. Eigenfeld, Frank 85 Eigenfeld, Katrin 85 Elmer, Konrad 412 Ende, Lex 525 Engel, Wolfgang 277 Engelhardt, Heinz 528, 639, 644, 656 f., 674, 677–680, 706 f., 710, 720 f., 730, 787 f. Engler, Wolfgang 236 Enzensberger, Hans Magnus 702 Eppelmann, Rainer 85, 129, 286, 583 f., 653, 677, 699 Eppisch, Reinhard 705 Falcke, Heino 122 Falin, Valentin 297 Felber, Horst 82, 111, 187 f., 349, 374, 452, 523, 535, 588–590, 638 Fichtner, Lothar 487 Fiedler, Heinz 429, 443, 528, 700 Fink, Heinrich 285 Fischbeck, Hans-Jürgen 133, 198, 417 Fischer, Karl 359 Fischer, Oskar 91, 161, 169, 417, 419, 425–428, 436 Fischer, Werner 731 f. Fister, Rolf 127, 291, 362, 514, 537 Fitzner, Horst 638

Fojtik, Jan 99 Forck, Gottfried 310, 505, 731 Forstbauer, Uta 417 Förster, Andreas 42, 50 Franz, Horst 279 Fricke, Karl Wilhelm 139, 515 Friedrich, Carl J. 18 f., 31 Friedrich, Walter 117, 306 Fügner, Klaus 632 Führer, Christian 308 Furian, Hans-Otto 310 Gäbler, Klaus 411 Ganßauge, Günter 546 f. Gauck, Joachim 618, 741 Geggel, Heinz 80 Gehlert, Siegfried 132, 185, 457, 523, 528 f., 612, 628, 631, 638, 674, 699 Gehmert, Manfred 257, 261, 275 Geis, Matthias 14 Genscher, Hans-Dietrich 179, 242, 788 Geppert, Edmund 248, 259, 266 Geremek, Bronislaw 384 Gerlach, Manfred 334–336, 358, 366, 412, 473, 489, 491 f., 497, 576, 609, 635, 736, 787 Gill, David 40 Goldmann, M. 646, 704 Gorbatschow, Michail 13, 30, 37, 47 f., 55, 76 f., 79, 84, 86–89, 128, 167–170, 172, 174, 194, 216–218, 228, 278, 281, 297 f., 332, 380–382, 384, 403, 430, 519, 523, 526, 636, 742, 746, 748 f., 783, 785, 788 Götting, Gerald 334, 717 Gottwald, Klement 23 Grajcarek, Hans-Jürgen 641, 705 Grellert (Oberst) 266 Griebel (Oberst) 283 Griebsch (Generalleutnant) 358 Groh, Dieter 44 Gromyko, Andrej 428 Großmann, Werner 533, 639, 656 f., 676, 680 Grund, Gert 533 Gueffroy, Chris 149, 784 Gurr, Ted Robert 64

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Gutzeit, Martin 650 f., 654, 681 Gysi, Gregor 378 f., 410, 412, 532, 605, 614, 649, 655, 787 Haase (Major) 362, 514 Habermas, Jürgen 52 Häbler, Manfred 579 f. Hackenberg, Helmut 304 f., 307, 311 f., 336, 372 Hager, Kurt 12, 76, 79 f., 101, 328, 340 f., 388, 476, 783 Hähnel, Siegfried 181, 283 f., 390, 399, 405, 639 Halbritter, Walter 501, 503, 631, 641–647, 658–662, 679 f., 682, 706, 709 f., 712, 714, 719, 733, 735 f. Hammer, Eberhard 151 Hartling, Gunar 638 Hartmann, Günter 489, 576, 649, 696, 716 Hasse, Edgar 579–585 Havel, Václav 20, 23, 25 f., 92, 408, 415, 784 Havemann, Katja 136, 202 Havemann, Robert 25, 62 Hein, Christoph 373, 410, 417, 614, 783 Heller, Agnes 27 Hempel, Johannes 133, 271, 302, 307, 309 Henke, Klaus-Dietmar 17 Henrich, Rolf 132, 139, 202–204, 211, 650, 652, 712 Herger, Wolfgang 146 f., 188, 217, 243 f., 248, 293, 296, 299, 322, 325, 329, 336, 340, 363, 376, 378, 384, 418–420, 422, 425, 432, 435–437, 458, 460, 464, 468, 490, 502, 509–511, 522, 532, 535, 590, 592, 597, 605 Hermlin, Stephan 389 Herrmann (Oberst) 211 Herrmann, Frank-Joachim 354 Herrmann, Joachim 76, 177, 192, 207, 210, 221, 238, 324 f., 333, 341, 343, 491 Herrnstadt, Rudolf 482 Hertle, Hans-Hermann 39

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Hetterle, Albert 389 Heusinger, Hans-Joachim 493, 576 Heyl, Wolfgang 132 Heym, Inge 233 Heym, Stefan 233, 373, 401 f., 410 f. Heymer, Renate 394 Hillenhagen, Horst 706, 733 Hirsch, Ralph 584 Hirschman, Albert 14, 166 Hoffmann, Hans-Joachim 102, 347, 398 f., 401, 408, 475 Hoffmann, Heinz 671 Hoffmann, Theodor 493 Höfner, Ernst 488 Holz, Wolfgang 387, 396 Homann, Heinrich 333 Honecker, Erich 12 f., 23, 41 f., 45, 47 f., 56, 76, 79, 82, 85, 87, 90 f., 93, 101–104, 108, 122, 126, 139, 141, 143, 147, 149 f., 155, 167, 170, 173, 188, 192, 194 f., 205, 213, 217, 237, 240–243, 253, 260, 278, 281, 294–302, 305 f., 312, 324 f., 328 f., 331, 333 f., 336–338, 340–343, 346, 350, 352, 386 f., 419, 450, 453, 470, 472, 479, 483 f., 487, 503, 511, 522, 596 f., 605, 702, 743, 745, 747–749, 783 f., 786 Honecker, Margot 128, 296 Höpcke, Klaus 26 Horn, Gyula 161 Hötling, Gerhard 437 Hübner, Werner 296 Hubrich, Gotthard 435, 437 Huhn, Martina 221 Hülsemann, Wolfram 310, 504 Hummitzsch, Manfred 140, 181, 313, 616 f., 638 Ionin, Leonid 332 Irmler, Werner 324, 555, 638, 660 Jaekel, Eberhard 586 Jahn, Günther 102, 332, 373 f. Jakeš, Milos 22, 171, 173, 426 Jakowlew, Alexander 178 Janka, Walter 401, 525, 750, 786

Jarowinsky, Werner 205, 207, 340, 352 f. Jaruzelski, Wojcech 88, 171, 281, 382 f. Jeschke, Heinz 713 Joas, Hans 15 Jordan, Carlo 650 Kádár, Janos 88, 166 Kahnt, Eckhard 533 Kania, Stanislaw 59 Kaschlew, Juri 90 f. Keßler, Heinz 150, 233, 257, 281, 307, 325, 341, 346 f., 470, 745 Kienberg, Paul 134, 211, 219, 224, 498, 510, 589, 638 Kirchner, Martin 221 f., 577, 584, 696 f., 703 Kleemann, Christoph 11 Kleiber, Günther 340, 468 Klein, Dieter 468, 478 f., 482, 605 Klein, Klaus-Wolfgang 549 Klein, Thomas 650 Kleine, Alfred 362, 500 f., 503, 513, 536, 557, 638 Kleinert, Kurt 500 Klier, Freya 448 Knoppick, Andreas 463 Kobus (Regierungsbeauftragter) 631 Koch, Peter 638, 682, 708, 710, 712–714, 716, 719, 730 Kohl, Helmut 42, 216, 429, 431, 576, 635, 676, 787 f. Köhler, Hannelore 728 Kohli, Martin 15 Kokott, Raimund 257 Kolakowski, Leszek 28 Kolditz, Lothar 333 König, Hartmut 373 König, Herta 381 König, Horst 590 Königsdorf, Helga 199 Konrad, György 27, 35 Koplanski, Michael 577, 649, 684 Köppe, Ingrid 728 Korte, Karl-Rudolf 42 f. Korth, Werner 368, 638 Kotschemassow, Wjatscheslaw 417, 427

Krack, Erhard 286, 408 Krahl, Toni 199, 614 Krapp, Wolfgang 530 Kratsch, Günther 638 Krause, Rudolf 649 Kreikemeyer, Willi 525 Krenz, Egon 13, 41, 117, 122 f., 125 f., 139, 146 f., 149, 188, 205, 207, 213– 218, 221, 237, 243 f., 259, 261, 278, 281, 293, 296, 298–300, 305, 307, 312 f., 322, 328 f., 336–353, 356, 360, 363, 366 f., 370, 372, 374, 377, 379–384, 387–389, 391, 394 f., 403, 407, 411, 416, 418–420, 423, 426, 429–431, 435, 439 f., 444, 450, 452, 458, 467–469, 472–474, 476, 483, 485, 487, 494, 497, 504 f., 511, 514, 516, 518 f., 523, 531 f., 536, 540, 567, 569, 576, 585, 605, 608 f., 635, 641, 645, 648 f., 749, 786 f. Krjutschkow, Wladimir A. 522 Kroker, Herbert 605 Krolikowski, Herbert 419 Krolikowski, Werner 340, 343, 468 Krüger, Hans-Joachim 435, 437 Krumbiegel (Oberst) 267 Krusche, Günter 310 Kunert, Christian 228 Kuschel (Oberst) 229, 231 Kusmin, Iwan N. 656 Kwizinskij, Julij A. 576 Ladwig, Christian 401, 614 f., 672, 734 Land, Rainer 478, 486 Lange, Bernd-Lutz 310 Lange, Gerhard 638 Langer, František 244 Lauter, Gerhard 329, 435–437, 446 f. Leich, Werner 79, 85, 194, 329, 345, 352–354, 357, 783 Lemm, Jochen 591 Lemme, Udo 435, 437, 656 Lenárt, Jozef 427 Lenin, Wladimir I. 332, 667 Lepsius, Rainer M. 34 Lessing, Anne 395

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Lieberknecht, Christiane 221 Lietz, Heiko 133, 369 Ligatschow, Jegor 175 Lindenberg, Udo 623 Lindner, Gerhard 576 f., 649 Linz, Juan 20 f., 23, 25 f. Loest, Erich 410 Löffler, Kurt 133, 196, 207 f., 312, 354 Lorenz, Gerhard 149 Lorenz, Siegfried 102, 253, 340 Löwenthal, Richard 19 Ludwig, Egon 638 Ludz, Peter Christian 31, 35 Magirius, Friedrich 302 Maier, Charles 38 Maizière, Clemens de 582 Maizière, Lothar de 40, 491, 502, 581–587, 609, 649 f., 684, 697, 701, 703, 786 Maleuda, Günther 334, 641, 671 Männchen, Horst 638 Marx, Karl 203, 332 Masur, Kurt 307, 310, 417 Mazowiecki, Tadeusz 166, 384, 785 Meckel, Markus 133, 651, 677, 692 f., 696, 723 Medwedew, Wadim 101 Meier, Viktor 91 Merkel, Wolfgang 17 Merker, Paul 525 Meuschel, Sigrid 34 Meyer, Kurt 307, 310 Michalak (Militärstaatsanwalt) 632 Michnik, Adam 57 Mielke, Erich 41, 47–50, 57, 71, 81–85, 93–95, 97, 105, 119 f., 126 f., 145, 147, 153, 160, 162 f., 177, 180, 182 f., 192, 206, 208, 217, 233, 238–241, 252 f., 255, 257, 267, 269 f., 279 f., 283–291, 293–295, 297, 306 f., 313, 324 f., 328, 338–342, 348 f., 359–363, 367, 370, 377, 379 f., 390 f., 400 f., 403 f., 406, 411, 419, 421 f., 425, 428, 432, 445, 451–453, 456, 458, 466, 471, 482, 496, 508–515, 522–524, 533, 542, 555, 560, 566,

798

596, 605, 625, 628, 633, 746, 749 f., 753, 786 Minetti, Hans-Peter 395 f. Mischnick, Wolfgang 142 Mittag, Günter 45, 47, 161 f., 177, 205–207, 212, 217, 221, 233, 261, 297, 324 f., 328, 333, 341, 343, 487, 747 f. Mittag, Rudolf 557 f., 566, 657 Mitter, Armin 732 Mitterrand, Franois 676 Mittig, Rudi 106 f., 113, 131, 135, 137 f., 208, 219, 221 f., 224–226, 239, 255, 266, 277, 283, 293, 313, 315, 336, 447, 459 f., 471, 476, 496, 503, 508–510, 514, 516, 533, 558, 561, 567, 570, 589, 592, 601, 627, 633, 638, 750 Mlynar, Zdenek 30, 455 Möbis, Harry 438, 499–501, 503, 549, 641, 657, 662, 670, 672, 734 f. Modrow, Hans 40, 122, 245–247, 249 f., 253, 257–261, 264 f., 267, 269, 271, 273, 276–279, 331–333, 346, 373, 384, 468–470, 474–477, 479, 486 f., 489 f., 493–495, 500–504, 513, 517–519, 522, 527–529, 540, 568, 587, 603, 608 f., 624 f., 627, 629–632, 636, 639, 641, 643 f., 646 f., 650, 657–661, 663, 666, 668– 671, 675–678, 680, 683, 686, 691, 695–697, 706 f., 710, 712–716, 718, 720, 722 f., 730, 735, 739–741, 751, 786–788 Möller, Günter 546, 548, 550, 552, 590 f., 608, 631, 638 f., 656 f., 676, 682, 707, 709, 711 f., 714, 720, 727 Momper, Walter 430, 652 Montag, Martin 728 Moreth, Peter 735, 736 f. Mückenberger, Erich 328, 341 Müller (Ltr. KA) 630 Müller, Gerhard 141, 468, 605, 613 Müller, Gottfried 221 Müller, Heiner 400 Müller, Helmut 399, 404 Müller, Werner 107–110 Müller, Wilfried 638

Nagy, Imre 59, 166 Nedwig, Helmut 253 Neiber, Gerhard 255, 257, 266, 270 f., 428 f., 435–437, 442 f., 533, 596, 601, 638 Németh, Miklos 168 Neubert, Ehrhart 286, 416 f., 653, 677 Neubert, Erhard 646, 704 Neumann, Alfred 328, 341 Nickel, Uta 609 Niebling, Gerhard 157, 159, 161, 436 f., 533, 639, 656, 663, 680, 727 Niesen, Jürgen 609 Niethammer, Lutz 19 Niggemeier, Adolf 716 f. Nowikow, Anatolij G. 656 Nyers, Reszö 172 f. Nyffenegger, Willi 253–255, 257 f., 261, 267–270, 275 Oder, Helmut 370 O’Donnell, Guillermo 53 Offe, Claus 38 f. Okun, Bernd 308 Opitz, Rolf 302, 312, 623 Ortega, Daniel 174 Orwell, George 744 Osterloh, Frank 625 Österreich (Rostock) 705 Pahnke, Rudi 286 Palach, Jan 23 Palagi, Ferenc 157, 159, 161 Pannach, Gerulf 228 Paroch, Benno 229 Parsons, Talcott 32, 67 Passauer, Michael 615 Peter, Fritz 730 Pflugbeil, Sebastian 133, 415, 418, 449, 569, 728 Phillip, Hannelore 595 Plenzdorf, Ulrich 417 Pollack, Detlef 34 Pommert, Jochen 310 Poppe, Gerd 85, 417, 650, 696 Poppe, Ulrike 85, 406, 569, 650 Portugalow, Nikolaj 636 Preiß, Manfred 735, 737

Prießnitz, Walter 242 Przeworski, Adam 36, 52–54, 56, 61, 65, 80, 355 Pulow, Siegfried 552, 674 Rabis, Gerald 289 Rahnsch, Heinz 638 Rakowski, Mieczyslaw 281, 383 f. Raspe, Hans-Dieter 576 f., 649, 684, 716 Rauchfuß, Wolfgang 468 Rausch, Friedhelm 282–284, 288, 293, 348, 390, 394–399 Reagan, Ronald 91 Rehlinger, Ludwig 139 Reich, Jens 373, 385, 393, 401, 410, 412, 416, 449, 644 Reiche, Olaf 423 f. Reiche, Steffen 697 Reinel (OSL) 662 Reinhold, Otto 176, 219, 439, 467 Reitmann, Hartmut 307 Rentmeister, Hans 641 Reuter, Wolfgang 225, 228 Richter, Edelbert 85, 197, 416, 653 Richter, Frank 270 Richter, Johannes 302 Richter, Michael 40 Roahl, Stephan 644 Rosentreter, Hans-Peter 641 Roßberg, Klaus 502 Rüddenklau, Wolfgang 51 Rupnik, Jacques 28 Sabata, Jaroslav 23 Saslawskaja, Tatjana 78 Sauer, Manfred 722 f., 726 Schabowski, Günter 102, 123, 213, 229, 240, 293, 298, 333–343, 385, 394, 403, 410–413, 417, 424, 429 f., 435, 439–442, 446, 468, 479, 491, 505, 524, 605 Schaffroth (Major) 613 Schalck-Golodkowski, Alexander 42, 50, 142, 381, 416, 431, 549, 607–611, 617, 635, 787 Schälike, Rolf 139

799

Schall, Johanna 400 Schaller, Henning 409 Schäuble, Wolfgang 42, 431 Schebarschin, Leonid 97 Scheffel, Rolf 391, 464, 590, 593, 598, 622, 638, 720 f., 726 Schenk, Bernhard 641 Scherrer, Jutta 77 Schewardnadse, Eduard 91 f., 167, 169 Schickart, Helmut 638 Schindler, Johannes 451, 462, 464 Schirdewan, Karl 482 Schiwkow, Todor 88, 171–173 Schmalfuß, Karl-Heinz 115, 531 Schmidt (Oberstleutnant) 259 Schmidt, Günter 533, 546 f., 638, 656 Schmidt, Heinz 638 Schmitter, Philippe C. 53 Schnitzler, Karl-Eduard von 331 Schnur, Wolfgang 135, 615, 650, 653, 672, 696 f., 699 f., 702 f., 708, 734, 788 Schöbel, Frank 199 Schön, Kerstin 613 Schöne, Gerhard 199 Schönherr, Albrecht 614 Schöppe, Rolf 676, 711 Schorlemmer, Friedrich 133, 195, 412, 569, 614, 653 Schröter, Dieter 645 f. Schröter, Ulrich 40, 731 Schult, Reinhard 449, 615, 650, 654, 681, 683, 723, 727, 732 Schulz, Werner 696 Schürer, Gerhard 50, 328, 340 f., 343, 377, 420, 488 Schwager, Erich 533, 601, 639, 656 f., 673, 680 Schwanitz, Wolfgang 283, 286, 289 f., 293, 405, 453, 459, 493, 497 f., 501, 506, 509 f., 512, 514, 516, 518–520, 524–529, 533, 536, 540, 542–544, 546, 549 f., 558 f., 561 f., 568–572, 574 f., 593, 595, 602, 609–612, 614– 618, 625, 627, 629, 633, 637–645, 656–661, 664 f., 669–677, 715, 750, 753, 786–788

800

Schwarz, Josef 208, 320, 613 f., 617, 638 Schwenke, Hans 46 f., 49 f. Scowcraft, Brent 91 Seibert, Rosemarie 613 Seidel, Bernd 302 Seidel, Eberhard 386, 449 Seidel, Jutta 204, 206, 386, 449 Seiters, Rudolf 416, 431 Senghaas, Dieter 36 f. Sievers, Hans-Jürgen 309 Simmel, Georg 51 Sindermann, Horst 12, 174, 341, 487 Singer, Horst 393, 395 f., 400 Sorgenicht, Klaus 378 Spange, Rolf 676 Spira, Steffi 397, 411 Sprotte, Werner 463 f. Stalin, Josef W. 23, 57, 82, 522 Stark, Günter 565 Stauch, Gerhard 442 Stein, Dieter 641 Steineckert, Gisela 373, 395 Steiner, Rudolf 203 Stepan, Alfred 20 f., 23, 25 f. Stolpe, Manfred 107, 310, 502, 505 Stoph, Willi 104, 179, 218, 233, 340–343, 346, 428, 434, 487, 605 Strake, Kurt 309 Stranz, Siegfried 646 f. Straßenburg, Gerhard 303 f., 306, 311– 313 Strauß, Franz-Josef 35, 42, 142 Streletz, Fritz 149, 240, 337 f. Strobel, Rudi 638 Ströhla, Sibylle 716 Strougal, Lubomir 22 Studnitz, Hans-Jörg von 507, 692 Stünzner (OSL) 644, 656 Sudhoff, Jürgen 242 Szczypiorski, Andrzej 39 Taube, Rudi 536 Teichmann, Dieter 149

Teltschik, Horst 636 Thatcher, Margaret 193 Timm, Ernst 372 Tisch, Harry 341, 343, 388 f. Tocqueville, Alexis de 54, 64 Toeplitz, Heinrich 228, 597 Tschiche, Hans-Jochen 85 Tschiche, Wolfram 202 Uhl, Petr 23 Ulbricht, Walter 21, 82, 114, 482 Ullmann, Wolfgang 315, 385, 647, 650, 652, 692 f. Varga (Oberst) 154 Vehres, Gerd 161 Verner (Generalmajor des MdI) 267 Vetrovec (tschechoslow. Außenmin.) 425 Vogel, Wolfgang 242 Wachowiak, Jutta 386 Wagner, Karl-Heinz 255 f., 266, 293, 336, 442 Waller, David 16 Watzek, Klaus 499 Weber, Max 21, 56, 746 Weckener, Gerhard 705 Wedler 218 Weiß, Konrad 569, 614, 684 Weißbach, Dieter 219 Wekwerth, Manfred 394 Wellschmied, Lothar 629 f. Wendland, Günter 505 f., 617

Wendt, Otto 646 Wenzel, Siegfried 50 Werner, Karl-Heinz 531 Wiegand, Jochen 134, 192, 224 f., 407, 556, 600, 653, 663, 683 f., 699 Wild, Manfred 395 Will, Rosemarie 485 f., 490 Willim, Dieter 591 Wolf, Christa 13, 199, 389, 412, 417 Wolf, Friedrich 521 Wolf, Günter 589, 638 Wolf, Markus 373, 400 f., 409, 413, 482 f., 513, 520, 521–525, 527, 603, 612, 656, 750 Wolfram, Klaus 62 f., 644 Wolle, Stefan 732 Wollenberger, Vera 690 Wollweber, Ernst 82, 114, 482 Wötzel, Roland 310, 336 Zaisser, Wilhelm 482 Zeiseweis, Kurt 501 f., 643, 658, 661 f., 733 Zhao Ziyang 59, 128 Ziebart, Helmut 425, 427 Ziegenhahn, Herbert 102 Ziegenhorn, Rudi 442 Ziegler, Martin 354 Ziegner, Heinz 370–372, 494 Ziemer, Christof 134, 246, 271 Ziller, Christiane 286 Zimmermann, Brigitte 605 Zimmermann, Hartmut 31 Zimmermann, Peter 310 f. Zukunft, Karl 638

801

802

Sach- und Ortsregister ADN 437 Agent pacificateur 562, 565 Agent provocateur 137, 224, 288, 561 f., 564, 574, 702 Akteure des Umbruchs 53, 58, 63, 65, 351, 694 – Altes Regime 60, 193, 337, 342, 360, 411, 465, 668, 687, 689, 712, 742, 746 – angepaßte Bürger 61, 64, 79, 145, 162, 193, 265, 285 f., 314 f., 344, 369, 427, 568, 607, 743, 746 – Ausreisewillige 142 f., 158, 161, 164 f., 182, 191, 233 f., 245, 253, 258, 261, 275, 280, 301, 415, 433 – Hardliner 53, 57–60, 62, 99, 277, 300, 303, 312, 325, 327, 341 f., 346, 358, 466, 470 f., 520, 745 – Liberalisierer 58, 60, 65, 246, 276, 334 f., 351, 366, 373 f., 410, 413, 433, 472, 474, 477, 483, 489, 518, 649 – loyale Bürger 67, 100 f., 148, 176, 211, 222 f., 277, 285, 307 f., 310, 315 f., 348, 386, 396, 408, 433, 450, 479, 569, 707, 746–748 – Opposition 60, 63, 65, 193, 286, 301, 315, 327, 330, 392, 412, 415, 433, 450, 480, 568, 611, 650, 652, 654, 691, 709, 746 – Reformer 467, 478, 480, 485, 712, 730 – Softliner 53, 57 f., 65, 213, 243, 265, 272, 276, 296, 298, 310, 327, 329, 331, 333, 341, 343, 345 f., 351, 353, 358, 373, 376, 410, 418, 467, 523, 749 – systemtreue Bürger 61 f., 64, 66, 81, 147, 193, 204, 218, 227, 235, 272, 286, 299, 302, 305, 308, 318 f., 323, 326, 377, 386, 395, 398–400, 402, 409, 432, 495, 569, 597, 602, 605, 746 Amt für Nationale Sicherheit – Auflösung 655, 658 f., 719, 721 f., 728, 787

802

– Auflösung von Diensteinheiten 541, 543, 547, 560, 634, 661 – Außerkraftsetzung dienstlicher Bestimmungen 542, 640 – Funktion 517, 519, 538 f., 541, 570 f., 573, 575, 627, 636, 671, 689, 715 – gesetzliche Grundlage 471, 493 f., 516, 518, 527, 538, 666 – Kom missionen zur Neustrukturierung 533, 546, 550, 573 – Leitung 503, 508, 524, 533, 614, 638 f., 656, 670, 680, 715 – Mielke-Nachfolge 508 f., 514 – Namen 493, 497 – Personalabbau 541, 544–546, 549–551, 553 f., 638, 670, 673, 676, 719, 721, 729, 739, 788 – Privatisierung 552 f., 673 – Rechtsbindung 664, 676 – soziale Sicherung 545 f., 549, 552, 665, 671 f., 674, 683, 707, 715 – Status 496, 506 – Verhältnis zur Regierung Modrow 498, 503, 518 f., 543, 640, 658 f., 661, 663, 666, 670, 675–677, 686, 706, 711, 719 f. Amt für Nationale Sicherheit Sitzungen – Dienstbesprechung am 21.11.1989 518, 528, 558, 568, 570 am 3.12.1989 540, 543, 575 am 4.12.1989 541 f. am 15.12.1989 676 am 5.1.1990 712 am 6.1.1990 710 am 12.1.1990 720, 726 – Kollegium am 28.11.1989 540 – Leitungsberatung am 5.12.1989 637 – Leitungsberatung am 7.12.1989 634, 656 f. – Leitungsberatung am 13.12.1989 663 – SED-Delegiertenkonferenz am 2.12.1989 598

– SED-Kreisleitung am 4.12.1989 622 Andersdenkende 460, 471, 510, 526, 556, 559, 600, 627, 723 Antifaschismus 29, 100, 568 f., 684, 686 f., 689 Appell „Für unser Land“ 569 Arbeitskreis Solidarische Kirche 131, 202 Arbeitsstab zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit 731 Archivverwaltung, staatliche 662–664, 706 Arnstadt 621 Aufruf zum Hierbleiben 417 Ausnahmezustand 375, 403, 749 Ausreisebewegung 26, 142 f., 164 f., 195 f., 198 f., 233, 237, 242, 747 – Ausreiseanträge 143 – Botschaftsflüchtlinge 242, 244, 252, 425, 785 – Übersicht 158, 426 Außenministerium 195 Autonomes Forum Dresden 268 Bad Doberan 621 Bad Liebenwerda 621 Bad Schandau 245, 252, 255, 258 Bautzen 262, 264 Bereitschaftspolizei 307 Berlin (Ost) 120, 122 f., 127, 135, 137, 152, 158, 240, 279, 294, 319, 350, 385, 559, 723, 725 – Berliner Ensemble 316, 387 – Brandenburger Tor 287, 447 f. – Deutsches Theater 316, 386 – Kabarett 316 – Samariterkirche 129 – Übergang Bornholmer Straße 442, 444 – Übergang Chausseestraße 151 – Volksbühne 316 Berlin (West) 430 Besetzungen von Stasi-Objekten 617 f., 661 – Ablaufmuster 621 – am 4.12.1989 in Erfurt 613 f., 616 f. – am 4.12.1989 in Leipzig 615, 621, 727

– am 15.1.1990 in Berlin 724, 751 – Übersicht 621 Bezirkseinsatzleitung 240, 247–251, 259–261, 265, 267, 271, 275 f., 294, 312, 336, 346, 403 f. Blockparteien 384, 487, 490, 576, 578, 609, 649 f., 654, 695, 714 – Demokratischer Block 333, 336, 370, 412, 474, 491, 585, 635, 691, 787 Breshnew-Doktrin 86, 88 f., 167, 169, 172, 742 Budapest 159 Bukarest 90, 170 Bulgarien 20 f., 88, 90, 92, 94, 99, 163, 171 f., 648 Bundesregierung 416, 431, 635 Bürgerkomitees (s. Akteure des Umbruchs; Bürgerrechtsbewegung; Organisationsnamen wie Neues Forum) Bürgerrechtsbewegung 12, 14, 27, 45, 51, 59 f., 65, 85, 90, 92, 119–121, 129 f., 133, 135–138, 141, 166, 223, 315, 360, 382, 386, 413–415, 417, 448, 450, 480, 505, 568 f., 607, 611, 643, 650, 725, 744, 747 – Deeskalation 611, 614, 643 f. – Frauen 303, 613 – gegen Aktenvernichtung 558, 612 f., 620 f., 645 f., 662, 703, 706, 709, 711, 725, 729 – Kontaktgruppe 316, 648, 652, 654, 692 CDU (DDR) 220, 222, 334, 413, 473, 491 f., 577, 585, 587, 597, 635, 650, 684, 696 f., 716 f., 786 f. – Brief aus Weimar 221, 577 China 59, 237, 243 – Kulturrevolution 33 – Massaker 4. Juni 1989 128, 172, 785 – Reformen 128 Cottbus 621, 704 f. DBD 334, 491, 577, 635, 684, 696, 731, 787

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DDR – 17. Juni 1953 65, 355, 745 – 40. Jahrestag 1989 13 f., 71, 238, 242, 262, 279 f., 297, 317, 326, 748 – Honecker-Besuch 1987 in der BRD 43, 143 – staatliche Existenz 330, 344, 354, 636, 650, 677, 683, 715, 720, 741 – Wirtschaftslage 219 Demokratie Jetzt 198, 316, 335, 504, 611, 647, 651 f., 692 Demokratischer Aufbruch 197 f., 286, 316, 335, 412, 611, 650, 653, 696 f., 700, 734 Demokratisierung 60, 78, 466, 691 Demonstrationen 56, 138, 140, 294, 366, 375, 449 f., 457, 555, 567, 636 – am 3.12.1989 606 – am 7. des Monats 127, 282 – Berlin 7.–8.10.1989 282, 284 f., 293, 386 – Berlin 4.11.1989 41, 385, 408, 414, 431, 629, 749 – Berlin 3.1.1990 687, 689 – Berlin 11.1.1990 715 – Dresden 3.–5.10.1989 245, 252 – Dresden 6.–8.10.1989 261, 267, 269 – Erfurt 26.10.1989 565 – Erfurt 3.12.1989 613 – Leipzig September 1989 301 – Leipzig Oktober 1989 300, 303, 306, 315, 337 f., 367 – Leipzig November 1989 423, 614 – Schwerin 23.10.1989 367, 370, 374, 388, 392, 394, 398 – Übersicht 363, 449, 457, 606 Deprivation, relative 64 f., 78, 317, 326, 747 – Meinungsumfragen 66 Dessau 708 Differenzierung, blockierte 34, 752 Diversion, ideologische 183, 191, 233, 479, 526, 542

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Dresden 122 f., 133, 245, 247, 249 f., 252–255, 257–264, 266, 268, 275 f., 279 f., 282, 288, 291 f., 294, 310, 315 f., 318, 320 f., 326–328, 346, 350, 372–375, 458, 469, 566 f., 621, 662, 676, 706, 725, 785, 787 – Gruppe der 20 270, 273 f., 416, 647 – Staatsschauspiel 277 Eisenach 621 Entdifferenzierung 33 f., 67 Erfurt 294, 319, 565, 613 f., 617 FDGB 24, 716 FDJ 229, 249, 282 – Fackelzug 6.10.1989 280 f. – FDJ-Bataillon 283 Frankfurt (Oder) 557, 705 Friedenskreis Pankow 316 Fügsamkeit 56, 61, 746, 752 Geheimdienste, Zusammenarbeit der osteuropäischen 83 f., 97–99, 154, 157, 419, 656, 743 Generalstaatsanwalt 160, 505, 617 Gera 181, 621, 628 Geschichtsschreibung, fiktionale 42 Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft 24 Gewaltenteilung 348, 465 f., 473, 476 f., 486, 489, 506, 516 f., 526, 535, 537, 539, 594 Gewaltfreiheit 11 f., 14, 71, 272, 309, 350, 366, 374, 382, 403, 411, 461, 519, 593, 596, 612, 657, 728, 740 Göda 708 Gotha 621 Greifswald 621 Grenzsicherung 93, 322, 403 Grüne Partei 83 Gruppe Demokratischer SozialistInnen 316 Guben 621 Hagenow 560 Halle 294, 706 Heiligenstadt 708 Helsinki-Gruppen 90, 95

Herzberg 621 Hitler-Stalin-Pakt 100 Humboldt Universität zu Berlin 79, 478 Ideologie 11, 17 f., 20, 22 f., 28–30, 33, 35, 58, 73, 176, 237, 748 f., 751 f. – objektiver Feind 19 – real existierender Sozialismus 24, 27, 36, 55 – Zwie-Sprechen 29 IM (inoffizielle Mitarbeiter) 73, 114, 131, 576 – Abbruch der Beziehung 484, 499, 571 f., 576–578, 736 f. – Motive 227, 480 f., 702 f., 736 – Schweigepflicht 734 – Stimmung 223, 226, 229 f., 232, 563 – Verhalten im Umbruch 394, 496, 566, 585, 655, 684, 694, 696–698, 700, 703, 716–718, 732, 736–738 Informationsfreiheit 90 Initiative 198 Initiative Frieden und Menschenrechte 115, 131, 135 f., 316, 412, 681, 696, 731 Initiativgruppe 4.11. 391, 396, 611 Institut für Jugendforschung Leipzig 189, 306 Isolierung 212, 223, 295, 302 Jena 621 Jugendradio DT 64 316 Junge Nationaldemokraten (NDP) 688 Kampfgruppen der Arbeiterklasse 71, 102, 115, 239 f., 249, 257, 287, 305, 307, 529, 620, 743 – Auflösung 530, 532 – Ausbildungsordnung 1989 115 – Proteste von Mitgliedern 116, 318 f., 356, 369 – Untergrundaktivitäten 530 Karl-Marx-Stadt 132, 185, 253, 294, 319, 612 Kavelstorf 608 KGB 75, 97 f., 522, 656, 784

Kirche 25, 60, 79, 83, 106, 119, 122, 129, 131 f., 194, 271, 273, 286, 302, 309, 317, 327, 329, 336, 352, 354, 502, 574, 583 f., 600, 731 – 3. Ökumenische Versammlung 132, 134 – Kirche im Sozialismus 194 – Kirchentag in Leipzig Juli 1989 415, 417 – Schutzmantel-Madonna 194 – Synode (September 1989) 195–197, 204, 221 f., 580, 785 – Verhandlungen mit SED (März 1988) 194 Kirche, katholische 270 Kirche von Unten 121, 131, 133, 399 Koalitionsfreiheit 367, 415, 474, 483, 493, 573 Komitee für Unterhaltungskunst 199, 348, 395 Komitee zur Auflösung des ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit 732, 734, 739 Kommunalwahlen 7. Mai 1989 117 f., 120 f., 133, 230, 740, 744, 784 – Wahlfälschung 122–125 Konföderation 42, 50, 576 KSZE 23, 89, 92, 94–96, 142, 144, 146, 152, 154, 169, 174, 195, 233, 235, 742 f., 784 Kulturbund 317 LDPD 220, 334 f., 358, 412, 430, 473, 490–493, 576, 635, 684, 696, 716, 736 f., 787 Legitimität 32, 54–56, 60 f., 64, 80, 176, 219, 477, 480, 489 f., 504, 506, 539, 741 Leipzig 39, 79, 92, 115, 120, 123, 127, 140, 181, 222, 288, 294, 301, 305–307, 310, 312–315, 319, 326–328, 336–338, 349 f., 357, 372, 375, 385, 614–616, 705, 709, 711, 725, 785 – Aufruf der Sechs 307, 310 f., 326 – Nikolaikirche 121, 275, 302, 304, 307 f., 310 f., 415 – Reformierte Kirche 309

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Liberalisierung 13, 53, 57–59, 64, 77 f., 128, 183, 332, 345, 393, 430, 465, 504, 526 – Ursachen 54, 58 Lübben 621 Magdeburg 317, 319, 621, 704 f. Massenmedien 24, 78, 81, 131, 187, 191, 194, 222, 277, 326, 347, 350, 394, 397, 488, 505, 523, 607, 703, 707, 752 Maueröffnung 41, 93, 417, 426, 434, 444, 476, 508, 749 – Mauerdurchbruch 287, 292, 384, 398 f., 403–405, 408, 448 Meinungsfreiheit 84, 368, 387, 409, 415 Menschenrechte 84, 90, 92, 94, 96 f., 170, 309, 415, 685, 742 MfS-/AfNS-Diensteinheiten (s. a. Staatssicherheit) – Abt. M 349, 549, 556, 638 – Abt. XI 190, 459 – Abt. XII 598 – Abt. XVII 190 – AGM 190 – BdL 190, 600, 638 – Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo) 549, 601, 607, 609 – Bezirksverwaltung (BVfS) Berlin 239, 387, 390, 399, 405, 510, 559, 572, 579, 681, 725 Berlin XX 395 Berlin XX/2 229 Cottbus 665 KD Guben 665 Dresden 251, 253, 255, 266 f., 271, 274, 276, 373, 458, 566, 639 Erfurt 513, 565, 613, 638, 711 KD Erfurt 624, 626 KD Mühlhausen 559 Frankfurt (Oder) 203, 557, 596, 639, 666 Gera 202, 578, 628, 630, 638, 666, 668, 711 f. KD Greiz 630 KD Jena 513, 629 f. KD Rudolstadt 625

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Halle 711 Karl-Marx-Stadt 457, 523, 528, 551, 615, 628, 638 Leipzig 301, 304, 313, 616, 638, 706 KD Leipzig-Stadt 627 Neubrandenburg 295, 499, 665 Potsdam 376 Rostock 323, 557 f., 566, 638, 657 KD Greifswald 513 Schwerin 368 KD Hagenow 560 KD Lübz 666 FDJ-Kreisleitung 350, 591 HA I 463, 623 HA II 463, 553, 578, 633 HA III 112, 165, 189 f., 461, 500, 512, 592, 603 HA VI 152, 154, 429, 442 f., 547 HA VI OG Ungarn 159 HA VII 116, 428, 435, 458, 531 HA VIII 159, 200, 287, 452, 454, 456, 461 f., 589 HA IX 96, 98, 127, 138, 160, 320, 350, 456, 512, 514, 524, 527, 536 f., 594, 603 f. HA XII 190 HA XVIII 190, 362, 461, 500, 513, 536, 548, 550, 552, 557, 603 f., 638, 674 HA XIX 563 HA XX 118, 137 f., 140, 224, 229, 236, 281, 393, 397, 400, 405, 407, 498, 534, 542, 556, 561, 564, 573, 589, 599, 603, 638, 719 HA XX/1 491, 576–578, 585 f. HA XX/2 135, 229 HA XX/4 134, 192, 224, 407, 463, 556, 583, 586, 600, 653 HA XX/9 225, 229–231, 574, 681 HA XXII 279, 287–289, 350, 612, 620 HA Kader und Schulung 429, 462, 533, 546, 548, 550, 552, 590, 608, 629, 631, 673

– Hochschule (JHS) 135, 538, 547, 560, 601, 603, 623 – HV A 49, 109 f., 350, 521, 548, 553, 589 f., 602–604, 625, 639, 739 – OTS 190, 463 – PS 190, 589, 592, 638 – RD 190 – Rechtsstelle 244, 428, 435 – SED-Kreisleitung 349, 374, 462, 511, 513, 535, 587 f., 622, 638 Rücktritt 589, 623 – Wachregiment 283, 350 f., 453, 463, 591, 596, 603, 631, 633, 669 – ZAIG 112, 241, 324, 371, 378, 496, 560, 563, 580, 638, 679 – ZKG 161, 428, 437, 706 – ZMD 109 f., 549, 603 – ZOS 190, 239, 241, 551, 600 MfS-Sitzungen/-Tagungen (s. a. AfNS-Sitzungen) – Dienstberatungen Linie XX am 20.6.1989 131, 135 am 21.9.1989 192 am 26.9.1989 208, 219, 221, 224 – Dienstbesprechungen am 13.12.1988 105 am 15.12.1988 113 am 28.4.1989 120, 153 am 31.8.1989 160, 180 am 8.10.1989 293 am 21.10.1989 359, 391, 421 am 15.11.1989 514, 557, 571 – Kollegium am 1.2.1989 94 am 3.10.1989 279 am 5.11.1989 459 am 15.11.1989 497, 516, 520, 545, 591 am 5.12.1989 637 – Parteiaktiv am 7.9.1989 186, 188 am 18.10.1989 349 am 11.11.1989 464, 509, 590 – PKK am 31.1.1989 107 – SED-Kreisleitung am 15.12.1988 106 am 29.6.1989 177 am 18.11.1989 588, 593

Militarisierung, innere 36 Ministerium der Justiz 493, 547 Ministerium des Innern 116, 147, 238, 242, 255, 266, 275, 303, 313, 338, 375, 435 f., 442 f., 493, 496, 531, 547, 550, 686, 721 – Dienstbesprechung 21.10.1989 355, 357 Ministerium für Kultur 388, 395 Ministerium für Nationale Verteidigung (s. a. NVA) 71, 242, 247 f., 254, 257, 321, 447, 493 – Militärakademie 321 Ministerrat 487, 493 – Auflösung des AfNS 669–671, 674, 707, 715, 718 f., 730, 732–734, 738, 740, 787 f. – Informationszentrum 641 – Krisenstab 501, 659 f. – Sekretariat des Ministerrats 218, 438, 496, 499, 640, 657, 734 – Untersuchungsabteilung für die Prüfung von Amtsmißbrauch und Korruption 672, 735 Mißhandlungen 259, 262, 285, 291 f., 348, 366, 386, 458, 504 f. Mobilisierung 20–22, 24, 301 Mobilmachung 241, 294, 596 – Statut der Einsatzleitungen 250, 260 – Vorbeugekomplex 295 Modernisierungstheorie 15, 31 f., 35 f., 38, 743 Moskau 41, 98, 380, 403, 786 Mühlhausen 559 Nachrichtendienst 658, 669–671, 674, 683, 709, 719, 787 Nationaler Verteidigungsrat 240, 337, 366, 403, 540 Nationalsozialismus 16, 19 NDPD 491, 576, 635, 684, 696, 716, 787 Neubrandenburg 192

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Neues Forum 139, 193, 198, 200 f., 204 f., 209–211, 219, 222 f., 230, 242, 273, 307, 315 f., 321, 330, 335, 348, 365, 367, 370–374, 378 f., 382, 385, 393, 412, 415 f., 430, 449, 472, 565 f., 568, 570, 592, 596, 611, 614 f., 644 f., 651–654, 681, 683, 695–697, 712, 723, 727, 739, 785 f. Neuruppin 563 NVA 239, 321, 434 (s. a. Ministerium für Nationale Verteidigung) – Hundertschaften 272, 320 Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) 46–49, 438, 496, 500, 530, 541, 548 f., 608, 641, 657, 705, 741 – OibE-Überlebensordnung 45–47, 50 f. Parchim 621 Parteidiktatur 20 f., 35, 40, 54, 68 Parteisouveränität 60, 274 Parteistaat 19, 27–29, 34, 78, 752 Partner des operativen Zusammenwirkens 131, 165, 225, 302, 457 f., 496, 547, 550, 556, 567, 601, 613, 619, 632, 656, 687, 706, 750 Plauen 253, 320 Plovdiv 92 Pluralismus 20, 22, 24 f. Polen 13, 20, 27, 37, 52, 59, 65, 79, 88, 94, 97, 99, 108, 169, 171, 180, 183 f., 189 f., 205, 218, 243, 281, 336, 347, 372, 467, 654, 742 f., 746, 784 – Kriegsrecht 1981 35, 184, 382 – Runder Tisch 57, 117, 166, 198, 383 f., 648, 784 – Solidarno  29, 57, 177, 382, 384, 651 – Wahlen 171, 173, 383, 785 Politbürokratie 37, 63, 68, 517, 605, 635 Post-Totalitarismus 20–22 Potsdam 294, 317, 621, 704 f. Prag 23, 25, 79 f., 92, 237, 242, 244,

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252–255, 425, 786 Pressefreiheit 330, 368, 384, 387, 408, 455, 474, 490, 747 Privilegien 68, 350, 377, 384, 453 f., 500, 593, 597 f., 600, 602, 608, 626, 628, 631, 750 Quellenlage 73, 186, 371, 587 Rathenow 621 Rechtsextremismus 570, 631, 684 f. – Anschlag auf sowjetisches Ehrenmal 686, 688, 715, 787 Rechtsstaatlichkeit 408, 410, 455, 474, 486, 490, 493, 527, 594, 655, 708, 716 Regierungsbeauftragte 703, 714 – allgemein 647, 657 – Berichte 645 – Cottbus 646, 704 – Dresden 706 – Einsetzung 640 f. – Erfurt 631 – Magdeburg 646, 704 – Neubrandenburg 646 – Potsdam 704 – Schwerin 646, 704 – Suhl 645 Regierungsbeauftragter zur Auflösung des AfNS 682, 710, 712–714, 730, 732 Regierungswechsel 384, 428, 434, 487, 489, 493, 508, 732 Regime, autoritäres 80, 465 Regime, totalitäres 465 Reisefreiheit 84, 90, 92, 148, 368, 370, 414 f., 418 f., 743, 747 – Reisegesetz 335, 344, 363, 420, 422 f., 427, 429, 436 f., 446, 490, 786 Reiseverkehr 78, 143 f., 147 – Reisegenehmigung 143–145, 243, 329, 335, 419–421, 425, 441, 785 – Rolle des MfS 145, 363, 429, 437, 443, 743 Revolution 12 f., 16, 18 f., 28 f., 35, 37 f., 40 f., 45, 64 f., 746 – revol. Situation 63 f., 80, 193

Rostock 316, 557, 566, 621, 625, 705 Rückgewinnung 226, 242, 361 Rumänien 11, 14, 37, 87–90, 92, 94, 96, 156, 163, 169, 172 f., 787 Runder Tisch 316, 587, 635, 644, 647, 649, 654, 665, 681, 684, 696, 700, 710, 712, 719, 722, 726, 739 f., 787 f. – Arbeitsgruppe „Sicherheit“ 683, 731, 738–740, 788 – Bürgerrechtler 650, 684, 708, 722 – Etablierte Kräfte 654 f., 715 – IM am R.T. 649, 681, 684 – Selbstverständnis 650, 654, 684 – Teilnehmer 649 – Verhältnis zur Staatssicherheit 655, 681, 683, 708, 731, 738 Saalfeld 621 Schießbefehl 148 f., 404, 445, 784 – Aussetzung April 1989 150, 152–154, 744 Schmalkalden 645 Schriftstellerverband 79 Schwerin 365, 367, 646, 704 f., 711, 786 SDP 198, 316, 412, 466, 473, 519, 650–652, 654, 681, 692, 695 f., 698, 701, 723, 785 SED 786 f. – Aktionsprogramm 433, 473 f., 691 – Arbeitsausschuß 605 – Ausreisebewegung 243 f., 299, 424 – Bezirksleitung Berlin 227, 229, 232, 389, 394, 397–399, 401 f., 404, 406, 409 – Bezirksleitung Dresden 248, 264, 267, 269 f., 273, 276, 327, 373 – Bezirksleitung Erfurt 196, 605 Kreisleitung Eisenach 196 – Bezirksleitung Leipzig 301 f., 304–308, 311, 313, 327, 336, 372 – Bezirksleitung Neubrandenburg 332, 372, 469 – Bezirksleitung Potsdam 332, 373 f. – Bezirksleitung Rostock 372 – Bezirksleitung Schwerin 370, 372,

494 – Bezirksleitung Suhl 605 – Bezirksleitungen 71, 331, 372, 470, 605 – Dialogpolitik 85, 271, 273 f., 276, 299, 311, 327, 329, 335, 344, 346, 361, 363, 365 f., 370, 372–374, 379, 451, 460, 563, 649, 786 – Disziplinierung der Mitglieder 105, 331 – Feindbild 212, 238, 240, 274, 279, 305, 320, 329–332, 372, 375, 381, 399, 510, 519, 560 – führende Rolle 330, 334 f., 344 f., 353, 364, 370, 373, 375, 408 f., 412, 431, 460, 466, 472, 475, 483, 485–487, 491, 498, 516–518, 532, 567, 597, 652 f., 787 – Parteibasis 101, 104, 236, 302, 305, 308, 318 f., 326, 372 f., 376, 432, 439, 469 f., 480, 488 f., 494 f., 517 – Parteikonferenz 469 – Parteitag, außerordentlicher 469 f., 517, 523, 598, 655, 787 – XI. Parteitag 1986 48, 86, 783 – XII. Parteitag Mai 1990 104 – Politbüro 13, 82, 327 Sitzungen am 20.10.1987 80 am 5.1.1989 105 am 10.1.1989 94 am 24.1.1989 94 am 29.8.1989 141 am 5.9.1989 233 am 19.9.1989 221 am 29.9.1989 237 am 7.10.1989 297 am 10.10.1989 126 am 10.–11.10.1989 328, 419 am 17.10.1989 340 f. am 24.10.1989 364 am 31.10.1989 364, 376 f., 379, 402–404, 422 am 7.11.1989 426, 433, 560 am 12.11.1989 470 am 22.11.1989 648 am 28.11.1989 532

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am 3.12.1989 605 – Projektgruppe Moderner Sozialismus 474, 478, 482 – Taktik 57, 59, 91, 275, 295, 302, 306, 312–315, 337, 342 f., 345, 347, 351–354, 356, 358, 365, 367, 371, 374, 378–380, 382, 384, 387, 395, 398, 400, 402, 404, 411–413, 430, 432 f., 460, 472 f., 476, 519, 567, 749 – Taktik gegenüber Rundem Tisch 648 f. – Verhältnis zu China 128, 785 – Verhältnis zur Perestroika 76, 79 f., 96, 100 f., 176, 216, 239, 380, 433, 487, 523, 783, 785 – Zentrale Parteikontrollkommission 107, 110, 112 f., 185 – ZK-Abteilung Agitation 80 – ZK-Abteilung Befreundete Parteien 491 f. – ZK-Abteilung für die örtlichen Parteiorgane 123, 317, 373, 494 – ZK-Abteilung für Internationale Beziehungen 281 – ZK-Abteilung Kultur 388 – ZK-Abteilung Propaganda 411 – ZK-Abteilung Sicherheit 72, 146– 148, 151, 243, 248, 322, 363, 375 f., 422, 432, 437 – ZK-Abteilung Staat und Recht 123, 363, 365, 375 – ZK-Arbeitsgruppe Kirchenfragen 196, 205, 352 – ZK-Plenum Dezember 1988 101, 108, 784 – ZK-Plenum Juni 1989 177, 238 – ZK-Plenum Oktober 1989 249, 343, 354, 359 f. – ZK-Plenum 8.–10. November 1989 433, 438 f., 460, 465, 467, 508 SED-PDS 655, 683 f., 687, 691, 693, 695, 709 Sicherheitsbeauftragte 49, 500 Sicherheitspartnerschaft 268, 393 f., 396, 460, 568, 570, 614, 620, 642, 644 Sowjetunion 19, 27, 35, 38, 57, 65,

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68, 94 Augustputsch 1991 11 führende Rolle der KPdSU 77 Glasnost 77 Industrialisierung 33 Intelligenz 77 KPdSU – XXVII. Parteitag 12 KPdSU – ZK-Plenum Januar 1987 76, 78, 783 – Kriegskommunismus 33 – Krise 30, 35, 37 – Neue Ökonomische Politik 58 – Perestroika 22, 36, 38, 46, 56, 63, 66, 77 f., 87, 382, 742, 784 – Verhältnis zur BRD 167, 636 – Verhältnis zur DDR 47 f., 50, 55, 68, 75, 79 f., 88, 92, 168, 175, 297, 381 f., 417, 636, 787 f. – Westpolitik 55, 85, 169 f., 742 Sozialdemokratie 83 Sozialdemokratismus 177–179 Sozialismus, demokratischer 367, 416, 480, 486, 540, 568 f. Sputnik-Verbot 100, 109, 229, 363, 484, 523, 743, 784 Staatsanwaltschaft 291, 293, 458, 614 f., 617 f., 632, 662, 706, 727, 733 Staatssekretariat für Kirchenfragen 195 f., 312 Staatssicherheit (s. a. MfS-/AfNS-Diensteinheiten; MfS-Sitzungen/-Tagungen) – Aktenvernichtung 554–559, 578, 612, 617, 624, 632 f., 642–647, 655, 658 f., 662–664, 675, 677, 679, 683, 704–706, 710 f., 720, 733, 740 Ausnahmen 659, 663 f., 675 Verbot 616 f., 659, 677 f., 787 – als Geheimpolizei 82, 98, 137, 515 f., 526, 538, 541, 669, 671 – als Institution 67–69, 71, 74, 177, 325, 445, 457, 462, 464, 496 f., 511, 587, 604, 627, 667, 674, 719, 728 f., 734, 740, 749 f. – Ausreiseproblematik 325, 421, 428, 593 – – – – – – –

– Bürgerrechtsbewegung (Überblick) 129 – Defensivtaktik 127, 380, 390, 405 f., 554 f., 571 f., 575 f., 611, 613, 616, 618, 620, 642, 657, 660, 662–664, 676, 679, 703, 710 f., 719, 727 – Demoralisierung 165, 376, 380, 446, 451, 461, 463, 512, 516, 529, 551, 556, 560, 566, 590 f., 601, 633, 645, 656, 729 – Differenzierung in der StS 66, 69, 106 f., 111, 113, 184, 187 f., 190 f., 350, 464, 516, 526, 587, 589, 591, 593, 596, 598, 601 f., 622–625, 627 f., 633, 637, 750 – Disziplinierung, innere 108 f., 111–113, 186, 188, 464, 517 – Disziplinverfall 351, 456, 459, 462 f., 545, 590 f., 594, 618, 622, 630, 632, 637, 750 – Entlassungsgesuche 462, 529, 546, 591, 637 – Fehlerdiskussion 518 – Feindbild 84, 179, 184, 226, 262, 277, 349, 364, 368, 375 f., 391, 407, 454 f., 460–462, 471, 516, 518, 521, 526, 539, 542, 544, 556, 560 f., 568, 570, 573 f., 600, 611, 626 f., 629, 656, 662, 677, 745 – flächendeckende Überwachung 518, 659, 723 – Führungsstil 82, 180, 187, 283, 286, 289 f., 293, 510, 564, 593 – Generalität 517, 521, 540, 549, 600, 602, 623, 637 f., 669, 671, 676, 787 – Geschichte vor 1989 21, 69, 81, 525, 528, 590, 750 – Ideologie 43 f., 70, 83, 114, 178, 182, 184, 511 – IM-Dekonspiration 587, 700, 703 – IM-Einsatz 135–137, 201, 222–224, 226, 361 f., 368, 387, 391 f., 404, 407, 451, 496–499, 503, 518, 531, 539, 543, 548, 560–562, 564–566, 570–572, 574–576, 578 f., 681, 698, 707, 711, 717, 744 Beendigung 643, 680, 721, 788 – Lageeinschätzungen

Juni 1989 178 f., 181 September 1989 192, 222, 225 Oktober 1989 279, 322, 360, 375 f., 379 November 1989 404, 517, 555, 567, 571 Dezember 1989 610, 637, 656, 675 f. Januar 1990 720 – Löschung elektron. Speicher 663, 679, 738, 740, 788 – Öffentlichkeitsarbeit 459, 508, 511, 526, 543, 566, 575, 592, 600, 632, 659 f., 671, 714 – Proteste von Mitarbeitern 109 f., 112, 350, 453 f., 456, 458, 512 f., 527, 588–590, 594, 596, 601 f., 624, 632 f., 665, 667 – Quellenschutz 73, 499, 555, 559, 571, 657, 660, 662 f., 675, 704, 706, 711, 720, 727, 730, 733, 751 – Reaktion auf Grenzöffnung in Ungarn 156 f., 159 f., 162 f., 182, 190 – Reaktion auf Maueröffnung 451, 461, 464, 591 – Rechtsbewußtsein 126, 291, 455, 459, 462, 527, 531, 538, 549, 556, 594, 667 – Rechtsextremismus in der StS 631 – Reformvorschläge 324 f., 455, 459, 515, 524, 526, 534, 538, 541, 669 – Regierungsbildung, Einfluß auf 496 f. – Regionalgeschicht e 40, 528, 565, 628 – Repressionstaktik 23, 85, 96, 99, 127, 129, 131, 134, 137 f., 140, 180, 184, 192, 203, 222, 225, 231, 241, 262, 268, 270, 274, 279 f., 289 f., 294, 307, 313, 322, 338, 341, 360 f., 364, 367 f., 374–376, 378, 390 f., 404 f., 442, 526, 542, 565, 570, 573, 584, 640, 744, 748 – Schweigepflicht 733 – Selbstbild 69 f., 182, 342, 350 f., 379, 452, 454, 456 f., 461, 463, 507 f., 512 f., 525, 551, 592 f., 595,

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597, 599, 601, 622, 624 f., 633, 666, 669, 750 – Sicherheitsdoktrin 516, 520, 525, 527, 542, 590, 595, 622 f., 627 – Verhältnis zur KSZE 93, 97, 99 – Verhältnis zur Perestroika 83, 85, 97 f., 106, 108, 113, 175, 178, 187–189, 229, 453, 455, 544, 592, 599 – Verhältnis zur SED 59, 69, 98, 179, 183, 191, 222, 236, 258, 271, 322–325, 339, 342, 350, 359, 370, 376, 379, 388, 451 f., 454, 463, 498, 510, 516 f., 526, 535, 567 f., 575, 578, 590, 592, 599 f., 622, 641, 665, 669, 677, 749 – Zukunftserwartung 380, 453, 455, 463, 518, 560, 571, 592, 603, 627, 655, 660, 665, 668, 720 Stadtroda 621 Stalinismus 16, 19, 68, 77, 102, 303, 524, 569, 622, 748 Stimmungsberichte des MfS 322 – Arbeiterschaft 330, 339, 348, 360, 369 – Ausreisebewegung 233 f., 317 – Erfahrungen in BRD 144 – Gorbatschow in BRD 168 – Hoffnung auf SED-Kurswechsel 104, 339, 347 – Lebensstandard DDR 103 – loyale Bürger 233, 272, 348, 369, 386, 551, 637 – Medienpolitik 233, 237 – MfS-Angehörige 189, 191, 457, 544, 567, 637, 675 – Perestroika 79, 233 – politische Verhältnisse 234, 488 – Reaktion auf Erklärung des Politbüros vom 11.10.1989 330 – Regierungswechsel 488, 494 – Reiseverordnung 146, 148 – Sputnik-Verbot 100 – Ungarn 156 – Vergleich mit Osteuropa 117, 233, 235 – Versorgungslage 234 – Wirtschaft 234

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Strafrechtsreform 335, 493, 536 Stralsund 621 Suhl 621, 662, 706–708, 728 swingman 520, 524, 750 Templin 621 Terror 17–19, 302 Teschendorf 621 Totalitarismusbegriff 15 f., 18–21, 24, 27 f., 30–32, 40, 748, 751 Transitionstheorie 15, 52 f., 60, 694, 746 Tschechoslowakei 13, 18, 21–27, 29, 35–37, 90, 92, 97, 99, 108, 169, 171, 183, 243–245, 252, 258, 419, 422, 425–427, 429, 784, 786 – Charta 77 24, 27, 29, 90, 92, 651 – Intervention 1968 27, 79 – Prager Frühling 24, 31, 59, 63, 81, 521 – Staatssicherheit 25 Ungarn 13, 18, 20 f., 27, 35–37, 58, 63, 83, 88, 94, 97, 99, 108, 117, 154–157, 159–164, 169, 171 f., 178, 180 f., 183, 189, 205, 218, 243, 347, 414, 419, 467, 654, 742, 745, 785 – Grenzöffnung 161 f., 742, 784 f. – Grenzsicherung 142, 155 f. – Kurswechsel 166, 173, 746, 784 – Staatssicherheit 155 Untersuchungskommission Berlin 286, 290, 505 Verband Bildender Künstler 285, 316 Verband der Filmschaffenden der DDR 76 Verband der Theaterschaffenden 395 Vereinigte Linke 198 Verfassungsschutz 658, 663, 669–671, 674, 679 f., 683, 686–689, 707, 709, 714, 718 f., 721, 787 Versammlungsfreiheit 84, 330, 368, 387, 409, 415, 474, 493 Verschwörungsthesen 44 f., 50 f., 356 f., 527 Verwaltungsrecht 144

Volkskammer 348, 366, 475, 487, 577, 654, 695, 786, 788 – Sitzung am 13.11.1989 487, 511 f. am 17.–18.11.1989 489, 492 f., 504 f., 576 am 1.12.1989 597, 605, 608, 659 am 11.–12.1.1990 714 f., 788 – Untersuchungsausschuß 597 Volkspolizei 71, 138, 144, 146, 230, 239 f., 245, 248, 251, 253–257, 262– 264, 266–271, 275 f., 282 f., 289 f., 294, 301, 303, 306, 311, 313, 326, 337, 358, 387, 390, 395–397, 399, 408, 444, 458, 531, 547, 613, 619, 686–688, 718, 727 – Feindbild 254, 263 f., 292, 303, 355 f., 471 – Stimmung in der VP 256, 291, 303, 313, 355 f. – Verhältnis zur SED 356, 358 Volkssouveränität 274, 424, 467, 539, 648 Wachstum, intensives 35 f., 88 Wahlen, freie 370, 408, 412, 431, 466, 474–476, 485 f., 490, 493, 510, 528, 648, 652, 654, 691, 693, 695, 707, 747, 788

Wandlitz 296, 597, 600 Warschau 41, 57, 237, 382, 786 Warschauer-Pakt-Staaten 90 – Gipfeltreffen November 1986 87, 783 – Gipfeltreffen Juli 1989 170, 785 Wartin/Angermünde 621 Weißwasser 621 Wende 12 f., 72, 298, 345, 348, 359, 388, 396, 432, 455, 511 Wernigerode 621 Wiedervereinigung 193, 381, 416 f., 569, 614, 635, 676, 686, 695 Wirtschaftslage 377, 381, 431, 488, 743, 747 Zensur 77, 80, 491, 783 Zentrale Personendatenbank (ZPDB) 679, 710 Zersetzung 19, 131, 223 f., 226, 565, 640 Zittau 621 Zwickau 132, 253

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Danksagung Mein Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen aus der Abteilung Bildung und Forschung: Professor Dr. K laus-Dietmar H enke, der m ich im Jahre 1994, als er noch unser A bteilungsleiter war, auf die Idee zu diesem Buch gebracht hat; seinem Nachfolger Dr. Si egfried Suckut, der mir den für diese Arbeit notw endigen Spielraum gelassen und m ich immer wieder ermutigt hat, vielleicht doch einm al zum Ende zu kom men; Maria Haendcke-HoppeArndt, Dr. Hanna Labrenz-Weiß, Jens G ieseke, Dr. Tobias Wunschik und – von d er Abteilung Auskunft der Behörde – Herbert Ziehm , die m ich auf interessante D okumente aufm erksam gem acht haben; Frau Regina Teske und Frau Regina Leupold, die m ir bei der Recherche geholfen, und Frau Sabine Käding und den Mitarbeiterinnen des Sachgebiets Publikationen, die das Manuskript druckfertig gemacht und das Personenregister erstellt haben. Helmut Müller-Enbergs danke ich für kritische Lektüre der Teile zu den inoffiziellen Mitarbeitern. Besonderer Dank gilt Dr. Roger Engelm ann, der das gesamte Manuskript durchgesehen und m ir eine Reihe kluger Vorschläge gemacht hat, die ich fast durchweg beherzigt habe. Zu danken habe ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Zentralarchivs und der A ußenarchive des Bundesbeauftragten, deren unermüdliche Arbeit die V oraussetzung für diese D arstellung gelegt hat. Stellvertretend für viele sei D r. Jochen H echt genannt. Bedanken m öchte ich m ich bei den Mitarbeitern des Bundesarchivs, die m ir vielfach behilflich w aren. D ank meinen Kollegen aus den A ußenstellen der Behörde, die die A nregung zu Regionalstudien über die Entmachtung der Staatssicherheit aufgegriffen haben und mich mit ihren Forschungsergebnissen in m einer eigenen Einschätzung sicherer gem acht haben: D r. Volker Höffer (Rostock), Holger Horsch (Chemnitz), Dr. Hans-Peter Löhn (Halle), Andreas Niemann (Neubrandenburg) und Eberhard Stein (Erfurt). Ebenso m öchte ich David Gill vom Bürgerkomitee 15. Januar danken, der m ir w ichtige U nterlagen aus dem Bürgerkomitee zugänglich gem acht hat. Mein Dank gilt weiterhin den im Text genannten Zeitzeugen, die bereit waren, meine Fragen zu beantworten. Und schließlich und vor allem danke ich meiner Frau Sonja, nicht zuletzt für die G eduld, mit der sie sich abe nds am Küchentisch im mer wieder Geschichten aus dem Jahre 1989 angehört hat, ein Jahr, das sie als Leipziger Bürgerrechtlerin doch „von innen” erlebt hatte. A uch deshalb widme ich ihr dieses Buch.

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Angaben zum Autor WALTER SÜß Jahrgang 1947; Studium der Politikwissenschaften, der Soziologie und der osteuropäischen Geschichte, 1973 Dipl.-Politologe, 1979 Promotion zum Dr. phil.; wissenschaftlicher Mitarbe iter in Forschungsprojekten zur Geschichte des sowjetischen Stalinismus am Osteuropa-Institut und zur vergleichenden Kommunismusforschung im Arbeitsbereich DDR des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung an der Freien Universität Berlin; seit 1992 wissenschaftlicher Referent beim Bundesbeauftragten für die StasiUnterlagen, Fachbereichsleiter in der Abteilung Bildung und Forschung. Veröffentlichungen u. a.: Der Betrieb in der U dSSR. Stellung, O rganisation und Managem ent 1917– 1932, Frankfurt/Bern 1981; Hrsg. (mit Gernot Erler): Stalinismus. Probleme der Sow jetgesellschaft zw ischen K ollektivierung und Weltkrieg, Frankfurt/M. u. a. 1982; Die Arbeiterklasse als Maschine, Wiesbaden 1985; Ende und Aufbruch. Von der DDR zur neuen Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1992; Zu Wahrnehm ung und Interpretation des Rechtsextremismus in der DDR durch das MfS, BStU, Ber lin 1993; Hrsg. (m it Siegfried Suckut): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS, Berlin 1997; Mithrsg.: Anatom ie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur und Methoden. MfS-Handbuch, BStU, Berlin 1995 ff.

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Anhang

Ausgewählte Literatur * Amos, Heike: Justizverwaltung in der SBZ/DDR. Personalpolitik 1945 bis Anfang der 50er Jahre, Köln 1996. Arnold, Jörg (Hrsg.): Die Normalität des Strafrechts der DDR, Bd. 1: Gesammelte Beiträge und Dokumente, Freiburg/Br. 1995. Auerbach, Thomas: Vorbereitung auf den Tag X. Die geplanten Isolierungslager des MfS, BStU, Berlin 1995. Barth, Bernd-Rainer, Christoph Links, Helm ut Müller-Enbergs und Jan Wielgohs (Hrsg.): Wer war wer in der DDR. Ein biographisches Handbuch, Frankfurt/M. 1995. Bath, Matthias: 1197 Tage als Fluchthelfer in DDR-Haft, Berlin 1987. Beckert, Rudi: Die erste und letzte Instanz. Schau- und Geheimpro zesse vor dem Obersten Gericht der DDR, Goldbach 1995. Bisky, Lothar, Uwe-Jens Heuer und M ichael Schumann (Hrsg.): „Unrechtsstaat“? Politische Justiz und die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, Hamburg 1994. Brandt, Heinz: Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Weg zwischen Ost und West, München 1967. Braun, Jutta, Nils Klawitter und Falco Werkentin: Die Hinterbühne politischer Strafjustiz in den frühen Jahren der SBZ/DDR (Schriftenreihe des Berliner LStU, 4), Berlin 1997. Brentzel, Marianne: Die Machtfrau. Hilde Benjamin 1902–1989, Berlin 1997. Courtois, Stéphane (Hrsg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus . Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 1998. Crüger, Herbert: Verschwiegene Zeiten: Vo m geheimen Apparat der KPD ins Gefängnis der Staatssicherheit, Berlin 1990. Diedrich, Torsten, Hans Ehlert und Rüdiger Wenzke (Hrsg:). Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998. Drobnig, Ulrich (Hrsg.): Die Strafrechtsjustiz der DDR im Sy stemwechsel. Partei und Justiz – Mauerschützen und Rechtsbeugung, Berlin 1998. Engelmann, Roger und Silke Schumann: Kurs auf die entwickelte Diktatur. Walter Ulbricht, die Entmachtung Ernst Wollwebers und die Neuausrichtung des Staatssicherheitsdienstes 1956/57, BStU, Berlin 1995. Feth, Andrea: Hilde Benjamin – Eine Biographie, Berlin 1997. Finn, Gerhard: Die politischen Häftlinge in der Sowjetzone 1945 –1959, Pfaffenhofen 1960, Reprint: Köln 1989. Flocken, Jan von und Michael F. Scholz: Ernst Wollweber. Saboteur, Minister, Unperson, Berlin 1994.

*

Angesichts der Fülle der einschlägigen Veröffentlichungen wurden nur selbständige Publikationen berücksichtigt.

554

Florath, Bernd, Arm in Mitter und Stefan Wolle (Hrsg.): Die Ohnm acht der Allm ächtigen. Geheimdienste und politische Polizei in der modernen Gesellschaft, Berlin 1992. Fricke, Karl Wilhelm: Warten auf Ger echtigkeit. Kommunistische Säuberungen und Rehabilitierungen. Bericht und Dokumentation, Köln 1971. Fricke, Karl Wilhelm : Opposition und Widers tand in der DDR. Ein politischer Report, Köln 1984. Fricke, Karl Wilhelm: Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung – Strukturen – Aktionsfelder, Köln 1989. Fricke, Karl Wilhelm : Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung. Bericht und Dokumentation, 2. Aufl., Köln 1990. Fricke, Karl Wilhelm: MfS intern. Mach t, Strukturen, Auflösung der DDR-Staatssicherheit, Köln 1991. Fricke, Karl Wilhelm : Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung, 4. Aufl., Berlin 1997. Fricke, Karl Wilhelm und Roger Engelmann: „Konzentrierte Schläge“. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956, Berlin 1998. Fuchs, Jürgen: Vernehmungsprotokolle November ’76 bis September ’77, Hamburg 1978. Furian, Gilbert: Der Richter und sein Lenker. Politische Justiz in der DDR, Berlin 1992. Gieseke, Jens: Die hauptam tlichen Mitarbeiter des Ministerium s für Staatssicherheit, BStU, 2. Aufl., Berlin 1996. Gieseke, J ens (Hrs g.): W er war wer im Ministerium für S taatssicherheit. Kurzbiographien des MfS-Leitungspersonals 1950 bis 1989 (MfS-Handbuch, Teil V/4), BStU, Berlin 1998. Gieseke, Jens: Das Ministerium für Staatssicherheit 1950 bis 1989/90. Ein kurzer historischer Abriß, BStU, Berlin 1998. Gill, David und Ulrich Schröt er: Das Ministerium für Staat ssicherheit. Anatom ie des Mielke-Imperiums, Berlin 1991. Hagemann, Frank: Der Untersuchungsau sschuß Freiheitlicher Juristen 1949 –1969, Frankfurt/M. 1994. Harich, Wolfgang: Keine Schwierigkeiten m it der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition 1956 in der DDR, Berlin 1993. Henke, Klaus-Dietmar, Peter Steinbach und Johannes Tuchel (Hrsg.): Widerstand und Opposition in der DDR, Köln 1999. Herbst, Andreas, Gerd-Rüdiger Stephan und Jü rgen Winkler (Hrsg.): Die SED. Geschichte – Organisation – Politik. Ein Handbuch, Berlin 1997. Heuer, Uwe-Jens (Hrsg.): Die Rechtsordnung der DDR. Anspruch und Wirklichkeit, Baden-Baden 1995. Hodos, Georg Hermann: S chauprozesse. S talinistische S äuberungen in Osteuropa 1948–1954, Berlin 1990. Hoffmann, Dierk, Karl-Heinz Schmidt und Peter Sky ba (Hrsg.): Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte de s anderen deutsche n Staates 1949 –1961, München 1993. Hornbostel , Stefan (Hrsg.): Sozialistische Eliten, Opladen 1999. Hübner, Peter (Hrsg.): Eliten in der SBZ/DDR 1945–1990, Berlin 1999. Im Nam en des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED. W issenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung, hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, Leipzig 1994. Janka, Walter: Spuren eines Lebens, Berlin 1991. Lang, Jochen von: Erich Mielke. Eine deutsche Karriere, Berlin 1991.

555

Lochen, Hans-Hermann und Christian Mey er-Seitz (Hrsg.): Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokum ente der Stasi und des Ministeriums des Innern, Köln 1992. Loest, Erich: Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf, Leipzig 1990. Mampel, Siegfried: Der Untergrundkampf des Ministeriums für Staatssicherheit gegen den Untersuchungsausschuß Freihe itlicher Juristen in Berlin (West) (Schriftenreihe des Berliner LStU, 1), Berlin 1994. Mampel, Siegfried: Das Ministerium für S taatssicherheit der ehem aligen DDR als Ideologiepolizei. Zur Bedeutung einer Heilslehre als Mittel zum Griff auf das Bewußtsein für das Totalitarismusmodell, Berlin 1996. Markovitz, Inga: Die Abwicklung. Ein Tagebuch zum Ende der DDR-Justiz, München 1993. Materialien der Enquete-K ommission „Aufarbeitung von Ge schichte und Folgen der SED-Diktatur“ (12. Wahlperi ode des Deutschen Bundestag es), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. IV: Recht, Justiz und Poli zei im SED-Staat; Bd. VII/1–2: Möglichkeiten und Form en abweichenden Verhaltens und oppositionellen Handelns, die friedliche Revolution im Herbst 1989, die Wiedervereinigung Deutschlands und Fortwirken von Strukturen und Mechanismen der Diktatur ; Bd. VIII: Das Ministerium für Staatssicherheit – Seilschaften, Altkader, Regi erungs- und Vereinigungskriminalität, BadenBaden 1995. Meyer-Seitz, Christian: Die Verfolgung von NS -Straftaten in der Sowjetischen Besatzungszone, Berlin 1998. Mironenko, Sergej, Lutz Ni ethammer und Alexander von Plato (Hrsg.): Sowjetische Speziallager in Deutschla nd 1945 bis 1950, Bd. 1: Studien und Berichte, hrsg. und eingeleitet von Alexander von Plato; Bd. 2: Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik, eingeleitet und bearbeitet von Ralf Possekel, Berlin 1998. Mitter, Arm in und Stefan Wolle: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDRGeschichte, München 1993. Müller, Klaus-Dieter und Annegret Stephan (Hrsg.): Die Vergangenheit läßt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefange ner in der SBZ/DDR und deren gesundheitliche Folgen, Berlin 1997. Müller, Klaus-Dieter, Konstantin Nikischki n und Günther Wagenlehner (Hrsg.): Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und der Sowjetunion 1941–1956, Köln 1998. Müller-Enbergs, Helmut (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministe riums für Sta atssicherheit. Richtlinien und Durchführungsbestimmungen, Berlin 1996. Naimark, Norman M.: The Russians in Germany. A History of the Soviet Zone of Occupation, 1954–1949, Cambridge Mass. u. London 1995. Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Berlin 1997. Otto, Wilfriede: Die Waldheimer Prozesse 1950 (Hefte zur DDR-Geschichte, 12), Berlin 1993. Otto, Wilfriede: Zur Biographie von Erich Mielke. Legende und Wirklichkeit (Hefte zur DDR-Geschichte, 23), Berlin 1994. Peter Erler: „Lager X“. Das geheim e Ha ftarbeitslager des MfS in Berlin-Hohenschönhausen (1952–1972), Fakten – Dokumente – Personen. Mit einem Vorwort von Hans-Eberhard Zahn (Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat, 25), Berlin 1997. Poppe, Ulrike, Rainer Eckert und Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Form en des Wide rstandes und der Opposition in der DDR, Berlin 1995.

556

Posser, Diether: Anwalt im Kalten Krieg. Ei n Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968, München 1991. Raschka, Johannes: „Für kleine Delikte ist ke in Platz in der Krim inalitätsstatistik“. Zur Zahl der politischen Häftlinge während der Amtszeit Honeckers, Dresden 1997. Raschka, Johannes: Einschüchterung, Ausgrenzung, Verfolgung. Zur politischen Repression in der Amtszeit Honeckers, Dresden 1998. Rehlinger, Ludwig: Freikauf. Die Geschä fte der DDR mit politisch Verfolgten 1963–1989, Berlin 1991. Richter, Alexander: Das „L indenhotel“ oder 6 Jahre Z. fü r ein unveröffentlichtes Buch, Böblingen 1992. Roenne, Hubertus von: „Politisch untragbar ...? “ Die Überprüfung von Richtern und Staatsanwälten im Zuge der Vereinigung Deutschlands, Berlin 1997. Roggemann, Herwig: Die DDR-Verfassungen, Berlin 1989. Rottleuthner, Hubert (Hrsg.): Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994. Rottleuthner, Hubert (Hrsg.): Das Havemann-Verfahren, Baden-Baden 1999. Schmutzler, Georg-Siegfried: Gegen den Stro m. Erlebtes aus Leipzig unter Hitler und der Stasi. Göttingen 1992. Schuller, Wolfgang: Geschich te und Struktur des politischen Strafrechts der DDR bis 1968, Ebelsbach 1980. Schwan, Heribert: Erich Mielke. Der Mann, der die Stasi war, München 1997. Suckut, Siegfried (Hrsg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur „politisch-operativen Arbeit“, Berlin 1996. Suckut, Siegfried und Walter Süß (Hrsg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS, Berlin 1997. Süß, Sonja: Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1998. Süß, Walter: Das Verhältnis von SED und Staat ssicherheit. Eine Skizze seiner Entwicklung, BStU, Berlin 1997. Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999. Unrecht als Sy stem. Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen im sowjetischen Besatzungsgebiet, hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bde. I–I V, Bonn u. Berlin 1952–1962. Vollnhals, Clemens (Hrsg.): Entnazifizi erung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen, München 1991. Vollnhals, Clem ens: Das Ministerium für St aatssicherheit. Ein Instrum ent totalitärer Herrschaftsausübung, BStU, Berlin 1995. Vollnhals, Clemens: Der Fall Havemann. Ein Lehrstück politischer Justiz, Berlin 1998. Wagner, Matthias: Ab morgen bist Du Richter. Das System der Nomenklaturkader in der DDR, Berlin 1998. Weber, Hermann und Ulrich M ühlert (Hrsg.): Terror. Sta linistische Parteisäuberungen 1936–1953, Paderborn 1998. Weber, Jürgen und Michael Piazolo (Hrsg.): Justiz im Zwielicht. Ihre Rolle in Diktaturen und die Antwort des Rechtsstaates, München 1998. Wege nach Bautzen II. Biographische und autobiographische Porträts, eingeleitet von Silke Klewin und Kirsten Wenzel, Dresden 1998. Wentker, Hermann (Hrsg.): Volksrichter in der SBZ/DDR 1945 bis 1952. Eine Dokumentation, München 1997.

557

Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, 1. Aufl., Berlin 1995, 2. überarb. Aufl. (mit dem Untertitel: Vo m bekennenden Terror zur verdeckten Repression), Berlin 1997. Whitney, Craig R.: Advocatus Diaboli. Wolfgang Vogel – Anwalt zwischen Ost und West, Berlin 1993. Wiedmann, Roland (Bearb.): Die Organisation sstruktur de s Ministe riums für Sta atssicherheit 1989, BStU, 2. Aufl., Berlin 1996. Zahn, H ans-Eberhard: Haftbedingungen und Geständnisproduktion in den Untersuchungshaftanstalten des Mf S. Psy chologische Aspekt e und biographische Veranschaulichung (Schriftenreihe des Berliner LStU, 5), Berlin 1997. Zur Entlassung werden vorgeschlagen. Wi rken und Arbeitsergebnisse der Kommission des Zentralkomitees zur Überprüfung von Angelegenheiten von Parteimitgliedern 1956, mit einem Vorwort von Josef Grabert, Berlin 1991.

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Abkürzungsverzeichnis ADN Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst AfNS Amt für Nationale Sicherheit AfR Amt für Rechtsschutz des Vermögens der DDR AG S Arbeitsgruppe Sonderaufgaben AG Arbeitsgebiet AG Arbeitsgruppe AGMS Archivierte Akte eines Gesellschaftlichen Mitarbeiters für Sicherheit AGR Arbeitsgruppe Recht (der HA IX des MfS) AI Auswertung und Information AIM archivierter IM-Vorgang bzw. IM-Vorlauf AKG Auswertungs- und Kontrollgruppe AM Abteilung Militärpolitik (beim Reichsvorstand der KPD) AOP Archivierter Operativer Vorgang AOPK Archivierte Akte einer Operativen Personenkontrolle AP Allgemeine Personenablage APO Abteilungsparteiorganisation ARD Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Art. Artikel AS Allgem eine Sachablage ASt Außenstelle ASt Archivierte Akte der Staatsanwaltschaft AU Archivierter Untersuchungsvorgang Az Aktenzeichen BA Bundesarchiv

BA-MA BundesarchivMilitärarchiv BDJ Bund Deutscher Jugend BdL Büro der Leitung BDM Bund Deutscher Mädchen BDVP Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei BG Bezirks gericht BGD Bezirks gerichtsdirektor BL Bezirksleitung (der SED) BMJ Bundesministerium der Justiz BND Bundesnachrichtendienst BPO Bezirks parteiorganisation BRD Bundesrepublik Deutschland BstA Bezirks staatsanwalt(schaft) BStU Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik BV Bezirksverwaltung BVfS Bezirksverwaltung für Staatssicherheit CDU Christlich Demokratische Union CIA Central Intelligence Agency (Auslandsaufklärungsdienst der USA) CSSR Ceskoslovenská Socialisticka Republiká: Tschechoslowakische Sozialistische Republik CSU Christlich Soziale Union CVJM Christlicher Verein Junger Männer DA Demokratischer Aufbruch DA Dienstanweisung DBD Demokratische Bauernpartei Deutschlands DCGG Deutsche Continental Gas Gesellschaft DDR Deutsche Demokratische Republik

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Diss. Disse rtation Diszi Disziplinarakte DJV Deutsche Zentralverwaltung für Justiz DM Deutsche Mark DPA Deutsche Presseagentur DSt Dokumentenstelle DVdI Deutsche Verwaltung des Innern DVP Deutsche Volkspolizei DWK Deutsche Wirtschaftskommission EDV Elektronische Datenverarbeitung EMNID Ermittlungs-, Meinungs-, Nachrichten-, Informationsdienst (Meinungsforschungsinstitut) EV Erm ittlungsverfahren EV/B Bearbeitete Ermittlungsverfahren EV/F Erm ittlungsverfahren/ Fahndung EV/U Erm ittlungsverfahren gegen Unbekannt FDGB Freier Deutscher Gewerkschaftsbund FDJ Freie Deutsche Jugend FIM Führungs-IM, IM zur Führung anderer IM und GMS FSB Federal’naja sluschba besopasnosti: Föderaler Sicherheitsdienst (Rußlands) FU Freie Universität (Berlin) GARF Gossudarstwenny archiv Rossiskoi Federazii: Staatsarchiv der Russischen Föderation GBl. Gesetzblatt Gestapo Geheim e Staatspolizei GfM Gesellschaft für Menschenrechte GG Grundgesetz GI Geheimer Informator (IM-Kategorie von 1950 bis 1968)

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GKdoS Geheime Kommandosache GM Geheim er Mitarbeiter GMS Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit GO Grundorganisation (der SED) GPU Gossudarstwennoje polititscheskoje uprawlenije: Staatliche politische Kontrolle (sowjetische Geheimpolizei) GStA Generalstaatsanwalt(schaft) GULag Glawnoje uprawlenije lagerei: Hauptverwaltung der Straflager (der UdSSR) GUPVI Glawnoje uprawlenije po delam woennoplennych i internirowannych: Hauptverwaltung für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten (in der UdSSR) GVG Gerichtsverfassungsgesetz GVS Geheim e Verschlußsache HA Handakte HA Hauptabteilung HAIT Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden HAL Haftarbeitslager HFIM Hauptam tlicher Führungs-IM HIM Hauptam tlicher Inoffizieller Mitarbeiter HIME Hauptam tlicher Inoffizieller Mitarbeiter für besondere Einsätze HJ Hitlerjugend HKH Haftkrankenhaus Hptm. Hauptmann HUB Humboldt-Universität zu Berlin HV A Hauptverwaltung A (Aufklärung) HV Hauptverwaltung

HVDVP Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei IBZ Illustrierte Berliner Zeitung IFM Initiative für Frieden und Menschenrechte IfZ Institut für Zeitgeschichte München IKM Inoffizieller Kriminalpolizeilicher Mitarbeiter IM Inoffizieller Mitarbeiter IMK Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens (IMKategorie 1968–1989) IMS Inoffizieller Mitarbeiter zur politisch-operativen Sicherung des Verantwortungsbereichs (IMKategorie 1968-1989) IMV IM-Vorlauf IMV Inoffizieller Mitarbeiter, der unmittelbar an der Bearbeitung und Entlarvung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen mitarbeitet (IMKategorie 1968–1979) IWK Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung JH Jugendhäuser JHS J uristische Hochschule (des MfS) K Krim inalpolizei KD Kreisdienststelle KdS Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD KG Kreisgericht KGB Komitet gossudarstwennoi besopasnosti: Komitee für Staatssicherheit (der UdSSR) KGD Kreisgerichtsdirektor KgU Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit

KJVD Kommunistischer Jugendverband Deutschlands KKK Kaderkarteikarte KL Kreisleitung (der SED) KL Kirchenleitung KPD Kommunistische Partei Deutschland KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KPKK Kreisparteikontrollkommission (der SED) KS Kader und Schulung KStA Kreis staatsanwalt(schaft) KSZE Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa KuSch Kader und Schulung KVP Kasernierte Volkspolizei (Vorläufer der NVA) KW Konspirative Wohnung KZ Konzentrationslager LDP(D) Liberal-Demokratische Partei Deutschlands LG Landgericht LKK Landeskontrollkommission LPG Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft LStU Landesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik MdI Ministerium des Innern MdJ Ministerium der Justiz MDR Mitteldeutscher Rundfunk MF Mikrofilm, Microfiche MfAA Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten MfNV Ministerium für Nationale Verteidigung MfS Ministerium für Staatssicherheit MfV Ministerium für Verkehrswesen

561

MGB Ministe

rstwo gossudarstwennoi besopasnosti: Ministerium für Staatssicherheit (der UdSSR) MWD Ministerstwo wnutrennich del: Ministerium für innere Angelegenheiten (der UdSSR) ND Neues Deutschland NKGB Narodny komissariat gossudarstwennoi besopasnosti: Volkskommissariat für Staatssicherheit (der UdSSR) NKWD Narodny komissariat wnutrennich del: Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (der UdSSR) NS Nationalsozialism us NSA Nichtsozialistisches Ausland NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSG Nationalsozialistische Gewaltverbrechen NSKK Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps NSRB Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt NVA Nationale Volksarmee NVR Nationaler Verteidigungsrat o. D. ohne Datum o. O. ohne Ort ODH Offizier des Hauses (diensthabender Offizier) OG Oberstes Gericht OGPU Objedinjonnoje gossudarstwennoje polititscheskoje uprawlenije: Vereinheitlichte staatliche politische Kontrolle (sowjetische Geheimpolizei) OibE Offiziere im besonderen Einsatz

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OPK Operative Personenkontrollen OSL Oberstleutnant OSV Ordnungsstrafverfahren OV Operativer Vorgang OWG Ordnungswidrigkeitsgesetz OWVO Ordnungswidrigkeitsverordnung PA Personalakte PB Politbüro PDS Partei des Demokratischen Sozialismus PEN Poets Playwrigths Editors Essayists Novelists (internationale Schriftsteller vereinigung) POZW politisch-operatives Zusammenwirken PUT Politische Untergrundtätigkeit PVG Polizeiverwaltungsgesetz RAB Rechtsanwaltsbüro für internationale Zivilrechtsvertretungen RAS Rechtsinform ationAnalyse-Statistik Rdn., Rn. Randnummer RGW Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe RS Rechts stelle RSFSR Russisc he Sozialistische Föderative Sowjetrepublik RSHA Reichssicherheitshauptamt SAPMO-BA Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv SBG S tadtbezirksgericht SBZ Sowjetische Besatzungszone SD Sicherheitsdienst (der SS) SDAG Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft SdM Sekretariat des Ministers SDP S ozialdemokratische Partei (in der DDR)

SED Sozialistische Einheitspartei Deutschland Sekr. Se kretariat SfS S taatssekretariat für Staatssicherheit SG Sta dtgericht SGAK Strafgefangenenarbeitskommando Sipo Sicherheitspolizei SKK Staatliche Kontrollkommission SMAD Sowjetische Militäradministration in Deutschland SMT Sowjetisches Militärtribunal SoFD Soz ialer Friedensdienst SOV Sonderoperativvorgang SPD S ozialdemokratische Partei Deutschlands SR S Selbständiges Referat für Sonderaufgaben des Ministers SS Sc hutzstaffel (der NSDAP) StA Sta atsanwalt StAG Staatsanwaltsgesetz StÄG Strafrechtsänderungsgesetz StAV Staatliche Archivverwaltung StEG Strafrechtsergänzungsgesetz StGB S trafgesetzbuch StPO Strafprozeßordnung StRehaG Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz StVA Strafvollzugsanstalt StVE Strafvollzugseinrichtung StVG Strafvollzugsgesetz SU Sowjetunion SVP Sachverhaltsprüfung SVWG Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz

Tscheka Ts

chreswytschainaja Komissija: Außerordentliche Kommission (erste sowjetische Geheimpolizei) TU Technische Universität TV Teilvorgang U Untersuchung UB Um weltbibliothek UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UFJ Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen UHA Untersuchungshaftanstalt UHVO Untersuchungshaftvollzugsordnung Ukas Verordnung (russ.) UNO United Nations Organization: Vereinte Nationen UO Untersuchungsorgane USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands UV Untersuchungsvorgang VAVO Veranstaltungsverordnung VD Vertrauliche Dienstsache VdJ Vereinigung der Juristen (der DDR) Verf. Verfassung VK Volkskammer VKU Vorkommnisuntersuchung VO Verordnung VP Volkspolizei VSH Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei VVN Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVS Vertrauliche Verschlußsache WStVO Wi rtschaftsstrafverordnung ZA Zentralarchiv ZAIG Zentrale Auswertungsund Informationsgruppe ZDF Zweites Deutsches Fernsehen

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ZI Zelleninformator ZK Zentralkomitee ZKG Zentrale Koordinierungsgruppe (des MfS) ZKK Zentrale Kontrollkommission ZKSK Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle ZMA Zentrale Materialablage

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ZMD Zentraler Medizinischer Dienst (des MfS) ZOV Zentraler Operativer Vorgang ZPA Zentrales Parteiarchiv ZPKK Zentrale Parteikontrollkommission ZRT Zentraler Runder Tisch ZS Zentralsekretariat ZVOBl. Zentralverordnungsblatt

Personenverzeichnis Adrian (Richterin) 127 Arnold, Jörg 427 Auerbach, L. (Soziologe) 49 Auerbach, Thomas 321 Bahro, Rudolf 250 f., 254, 291, 297, 376, 426 Bailey, George 209 Bandelow, Karli 192 Bath, Matthias 49, 55 Bauer, Leo 137, 152 Beater, Bruno 144 Bechler, Margret 55 Beckert, Rudi 165 Behlert, Wolfgang 291 Benjamin, Hilde 96 f., 103, 109, 112, 123 f., 128, 142, 157, 173 f., 201, 203, 205, 211, 215, 220, 222, 225, 239, 292, 347, 349 Bergel, Arthur 213 Berger, Götz 223, 250, 372 Berger, Max 142 Berghofer, Wolfgang 414 Bergling, Gerda 208 Bergmann, Julius 193, 203 Berija, Lawrentij P. 70 f., 80 Bertz, Paul 96 Beuster, Heinz 196 f. Beyling, Fritz 168 Bialas, Hans 445 Biermann, Wolf 229, 250, 265, 299, 321, 376 Bleek, Wilhelm 52 Bloch (Landgerichtspräsident) 126 Bloch, Ernst 159 Blösche, Josef 520–523 Bohley, Bärbel 391 f., 402–404, 406 Bohlmann, Johannes 224 Böhm, Franz 421 Böhme, Alfred 138 Böhme, Ibrahim 420 Böhme, Werner 142 Borchert, Heinrich 290 Borchert, Karl-Heinrich 37 f., 41, 242 f., 252, 258, 369, 422, 430 Borning, Walter 194

Böse (Jugendstaatsanwalt) 42 Böttger, Till 401 f. Bracher, Karl Dietrich 54 Brandt, Heinz 163 Brandt, Helmut 173 f., 207 f. Breitbarth, Hans 240 Brüll, Carl-Albert 224 Brundert, Willi 125, 173 Brunner, Georg 51 f. Brüsewitz, Oskar 376 Buback, Siegfried 53 Buchholz, Erich 416 Bukanow (Oberst) 98 Burianek, Johann 198 Cetti (Ehefrau) 212, 215 Cetti, Lothar 212, 215 Chruschtschow, Nikita S. 66, 152 Coburger, Karli 248 Crüger, Herbert 159 Czernick (HVDVP) 138 Czwoidzinski (Staatsanwalt) 201 Dengler, Gerhard 168 Dertinger, Georg 208 Dickel, Friedrich 259, 290 Dieckmann, Johannes 101 Diestel, Peter-Michael 64, 184 Dommaschk, Matthias 463 f. Dorn, Erna 187, 198 Dzida (Landgerichtspräsident) 127 Ebeling, Heinz 191 f. Ebert, Friedrich 153, 195, 198 Edel, Oskar 188 f. Eisenfeld, Bernd 392 Emmerich, Klaus 334 Endesfelder, Siegfried 143 Engels, Friedrich 45 f. Eppelmann, Rainer 381, 391 f., 541, 544 Erbe, Siegfried 198 Esch, Arno 69, 137 Eschberger, Manfred 248 Faedtke, Horst 472 Faust, Siegmar 55

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Fechner, Erna 171 Fechner, Harry 170 f. Fechner, Max 100, 102, 107, 112, 127, 152, 165–179, 215 f., 219 f. Feig, Frieder 469 Field, Noël 143, 152 Filin, Hans-Georg 157, 329 f., 334 Finke (ZK, Abt. Staatl. Verwaltung) 138 Fischer, Horst 524 Fischer, Kurt 107 f. Fischer, Werner 402–404, 408 Fischl, Werner 128 Fister, Rolf 156, 230, 248, 263, 279, 290 Flach, Inge 191 Flach, Werner 190 Flade, Hermann Joseph 55, 224 Flegel, Joachim 192 Forck, Gottfried 390 f., 394 Formann, Erhard 129, 217 Fraenkel, Ernst 10, 268 Frei, Norbert 515 Fricke, Karl Wilhelm 49, 54, 56, 165, 177, 196, 544 Friedrich, Hans 168 Fuchs, Jürgen 55, 265, 321 Fuchs, Martha 203 Fühmann, Franz 265 Funk, Werner 203 f. Geffke, Herta 153 Gehlen, Reinhard 192 Gehrke, Bernd 420 Geier, Fritz 119 Gemballa, Udo 223 Gerats, Johannes 417 Giebeler, Eckart 480 Globke, Hans 516 Glombik, Egon 545 Gniffke, Erich 177 Goffman, Erving 533 Goldhammer, Bruno 152 Gorbatschow, Michail 58, 396 Große, Fritz 189 Grotewohl, Otto 166, 169, 207, 440

566

Grüber, Heinrich 207 Gülzow, Erwin 159 Gysi, Gregor 357 f., 390, 411, 417, 429 Gysi, Klaus 391 Haberkorn, Max 142 f., 156 Hager, Kurt 38 Hahn, Ludwig 521 Haid, Bruno 153, 155, 502 Hänsel, Erich 233 Harich, Wolfgang 157 f., 222, 425 Harrland, Harry 423 Hasse, Gerhard 159 Häusler, Gerhard 349–352, 357 Havemann, Robert 20 f., 245, 250, 254, 270, 297, 300 f., 317, 372, 376, 381 f., 425 Heger, Siegfried 38, 230, 233, 238, 290, 300, 357 Heilborn, Hans-Werner 281 Heinitz, Walter 146, 156 Heißmeyer, Kurt 526 Hellmann, Emil 193 f., 199 Hempel, Kurt 156 Hennig, Horst 69 Henniger, Gerhard 300 Henrich, Rolf 412, 419–421 Hentschel, Paul 190 Herrnstadt, Rudolf 168, 170 Herzog, Klaus 248 Hesse, Bernd 386 Heuer, Uwe-Jens 10 Heusinger, Hans-Joachim 278, 370, 419, 421–423 Heusinger, Hans-Joachim 230, 239 f., 259 Heyer, Eberhard 243 Heyer, Eleonore 230, 243, 266, 290, 422 Heym, Stefan 245, 297, 300 f. Hirsch (Richter) 127 Hirsch, Ralf 402–404, 541, 544 Hitler, Adolf 501, 512 Hoffmann, Heinrich 127, 175 f. Hoffmann, Joachim 159 Hohendorf, Gerrit 526 Holdorf, Karl 198 Honecker, Erich 35, 38, 40 f., 44, 134,

156, 186 f., 195, 201, 227, 229 f., 232, 238, 250 f., 253 f., 257, 261, 264, 267, 273–275, 277, 281–284, 290 f., 296–298, 300–302, 315, 337, 347–349, 353, 355, 358, 372, 380 f., 391 f., 401, 407 f., 428, 492, 531 f., 537 Honecker, Margot 38 Hübner, Nico 251 f., 254 Ignatjew, Semjon D. 143 Jacobsen, Hans-Adolf 54 Jahn, Roland 388 f., 401–403 Janka, Walter 155, 157 f., 222, 425 Jennrich, Ernst 187 Judin, Pawel A. 170 Kaatz (Angeklagter) 128 Kaiser, Monika 275 Kaiser, Wolfgang 198 Kalk, Andreas 401 f. Kalwert, Günther 240 Karassjow, Jakow A. 95 Kaul, Friedrich Karl 300 Kegel, Gerhard 513 Keisch, Henryk 266 Kempowski, Walter 55 Kern, Herbert 37 f., 233, 239, 242, 278, 290, 350, 359 Kiefel, Josef 541 Kiefert, Hans 153 Kienberg, Paul 343 f., 523 Kirchheimer, Otto 10 Klabuhn, Gerda 253 Kleikamp, Karl 205 Klein, Manfred 55 Klier, Freya 402, 404 Klinger, Horst 192 Kneifel, Joseph 375 Knoppe, Reinhold 171 Koenen, Bernhard 189 Komarowski, Josef 198 Kondraschow, Sergej A. 209 König, Kurt 198 Kopf, Achim 248 Köppe, Paul 191 f. Körner, Gerhard 241, 423

Körner, Walter 198 Krawczyk, Stephan 401 f., 404 Krenz, Egon 40–42, 233, 354, 412, 428 Krügelstein, Richard 175 Krüger, Bruno 190 Krüger, Susanne 190 Kruglow, Sergej N. 90 Krusche, Werner 386 f. Kukutz, Irena 391 Kunze, Kurt 491 Lampe, Reinhard 389 f. Lange, Fritz 116 f., 124, 127, 132, 172 Langer, Edmund 522 Laube (Angeklagte) 220 Lehmann, Helmut 153 Lehmann, Jürgen 248 Leich, Werner 388 f. Leipner, Hans 198 Leipold, Roland 156 Lemme, Udo 334–336, 339 Lenin, Wladimir I. 45 f. Leube (ZK, Abt. S.) 38 Leymann, Elfriede 343 Liebler, Ralph 140 Lindemann, Hans 212–215 Linse, Walter 61, 137, 211, 225 Loest, Erich 159, 426 Löffler, Kurt 265 Lohmann, Konrad 38, 281 Löser (Generalinspekteur HVDVP) 203 Lucht, Harro 159 Ludwig, Georg 194 Ludz, Christian Peter 46, 50 Lustik, Wilfried 467 Luther, Horst 417 Luxemburg, Rosa 398, 401, 404 Lyssjak (OSL) 98 Maizière, Lothar de 411, 431 Malenkow, Georgi M. 64 Malik, Jakow A. 64 Mampel, Siegfried 51 f. Markovits, Inga 418, 424 Marx, Karl 45 f. Marxen, Klaus 11 Matern, Hermann 143, 153, 172 Matthies, Frank-Wolf 265

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Maurach, Reinhard 63 Melsheimer, Ernst 96, 109, 112, 128, 143, 145, 172, 174 f., 178, 202, 206, 289 Mende, Karl 213 Merker, Paul 152 Michael, Klaus 394 Mielke, Erich 35, 38, 61, 104, 153, 165, 195, 201 f., 210, 227 f., 230, 232, 242–244, 247, 250–254, 259–261, 265–267, 270, 279, 288, 290 f., 293, 301, 303, 308, 323, 330, 340 f., 370, 380, 393, 401, 404, 407, 440, 449, 455 f., 468, 472, 477 f., 491, 493, 495, 502–505, 518, 523, 532, 535, 540, 553 Milke, Gertrud 208 Misera, Ewald 192 Mißlitz, Herbert 401 Mittig, Rudi 393 Modrow, Hans 412, 415, 419, 422 f., 428, 431 Möller, Günter 537 Mollnau, Karl 268 Molotow, Wjatscheslaw M. 79 f., 90 Moog, Leonhard 126 Mühlberger, Peter 334 Müller (Angeklagter) 128 Müller, Kurt 61, 137, 152, 426 Munsche, Walter 146, 155, 174 Muras, Johann 197 Murphy, David E. 209 Müthel, Eva 55 Natonek, Wolfgang 89 Neiber, Gerhard 552 Neumann, Erwin 211 Neumann, Willy 156 Nikolajew (Major) 98 Nitschke, Karl-Heinz 258 Nitz, Emil 203 Norden, Albert 500 Nuschke, Otto 207 Obenaus, Kurt 193 f., 199 Oberländer, Theodor 516 Oehmke, Karl-Heinz 418 Oertel, Werner 146, 156

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Orwell, George 106 Österreich, Tina 55 Palme, Olof 380 Pannach, Gerulf 321 Pätzel, Herbert 248 Penndorf, Lothar 242 Petri, Horst 191 Pieck, Wilhelm 177, 198 f. Plenikowski, Anton 130, 139, 172–174 Polak, Karl 95 Poppe, Ulrike 391 f. Poppitz, Jürgen 213 Preine, Gunter 386, 388 Pyka, Ewald 248 Ramsin, Leonid K. 124 Ranke, Hans 240, 423 Rataizick, Siegfried 445, 449, 456 Rathenow, Lutz 265 f., 388, 403 Ratz, Michael 511 Reinartz, Rudolf 215 f. Richter, Kurt 146, 156 f. Richter, Willi 523 Ring (Angeklagter) 129 Rochau, Lothar 386–388 Roelcke, Volker 526 Roenne, Hans Hubertus von 414, 422, 424 Roggemann, Herwig 57 Rösel, Friedemann 386, 388 Rösner, Günther 166–168 Rothe, Rainer 286 Rucz, Stanislaus 198 Saar, Heinrich 159, 426 Sachse, Willy 218 Sarge, Günter 41, 228, 230, 240 f., 290, 414, 420, 423 Schacht, Ulrich 55 Scheele, Günter 166, 168–170, 176–178 Schiebel (Ehefrau) 211 Schiebel, Hans-Joachim 211 f. Schiffer, Eugen 94 f., 99, 102, 108, 114 Schilling, Walter 391 Schirdewan, Karl 153, 500, 502 Schlegel, Bernd 401 f.

Schlegel, Joachim 281 Schmidt (Rechtsanwalt) 155 Schmidt, Henry 524 f. Schmidt, Herbert 221, 225 Schmidt, Karl Heinz 196 Schmiege, Emil 216 Schmitt, Carl 204 Schmuhl, Kurt 225 Schnabel, Horst 213 Schnur, Wolfgang 365, 412, 420 f., 462 Scholz, Alfred 141, 144, 146, 151, 172, 202 Scholz, Gertrud 213 f. Schön (Rechtsanwalt) 224 Schönbrodt, Walter 198 Schöneburg, Volkmar 10 Schönherr, Albrecht 293 Schönherr, Alfred 478 Schröder, Fritz 523 Schröder, Ralf 159 Schröder, Werner 522 Schuller, Wolfgang 54, 188 Schulz, Arno 522 Schumacher, Kurt 177 Schumann, Ekkehard 213 Schumann, Kurt 108, 112, 178, 206 Seidel, Jutta 391 Seidemann, Helmut 139 Selbmann, Fritz 118 f. Semiryaga, Michael 78 Semjonow, Wladimir S. 170 Sendler, Horst 10 f. Serow, Iwan A. 66, 79, 90 Siggelkow, Heinrich 198 Simon, Dieter 252, 422 Skiba, Dieter 504, 508, 525 Slansky, Rudolf 152 Smolka, Manfred 200 f. Sobik, Alfred 198 Sobisch (Staatsanwalt) 193 Sokolowskij, Wassilij D. 79 Sontheimer, Kurt 52 Sorgenicht, Klaus 33, 37 f., 40 f., 190, 194, 199, 201, 230, 233, 290 f., 300, 423 Spank, Richard 138 Stalin, Josef W. 45 f., 61, 65 f., 70 f., 74, 79 f., 88, 117, 131, 143

Stauch, Gerhard 246 Stelzer, Ehrenfried 331 Stiller, Werner 535, 539 Stolpe, Manfred 391 Stranowsky, Siegfried 414 Strasberg, Werner 37 f., 241, 423 Streim, Alfred 512 f. Streit, Josef 37 f., 138, 142, 155, 242, 251, 257, 276, 280 f., 290, 369, 371 Stroop, Jürgen 521 Suckut, Dagmar 55 Supranowitz, Stephan 239, 278 Templin, Lotte 402–404 Templin, Wolfgang 402–404 Teske, Werner 254, 535, 545 f. Theiner, Karl Helmuth 198 f. Thomas, Rüdiger 52 Thoms, Franz 166–168 Thräne, Walter 545, 547 Titow, Fjodor D. 166, 169, 190 Tjulpanow, Sergej I. 176 Toeplitz, Heinrich 240 f., 428 Trapp, Alfred 217 Trebeljahr, Gert 535, 545 f. Ulbricht, Walter 90, 115, 117 f., 121–124, 126, 128, 134, 152–155, 157, 166, 170, 174, 177, 186 f., 190, 194 f., 197, 207, 222, 273 f., 281 f. Vogel, Wolfgang 49, 362, 364, 371 Voigt, Richard 156 Voigt, Rudolf 194 Vollnhals, Clemens 382 Waldmann, Günter 421 Walk, Johann 198 Weikert, Martin 510 Weitzberg, Uwe 424 Wendland, Günter 41 f., 242, 291, 371, 422 Werkentin, Falco 10, 12, 155, 165, 174, 177, 218 Wiegand, Joachim 386 Wieland, Günther 426, 512, 514, 526

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Wiese, Friedrich-Franz 69 Wilhelm, Ernst 197 Windisch, Gernot 243, 281, 290 Wirth, Erich 359 Wittenbeck, Siegfried 41, 239 Wolf (Staatsanwalt) 203 Wolf, Markus 153 Wolff, Friedrich 357 f., 411, 417 Wolff, Wilhelm 202 Wollenberger, Vera 401 f., 404, 426

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Wollweber, Ernst 144 f., 147–153, 156, 221, 478 Wonneberger, Christoph 391 Wünsche, Kurt 229, 239 f., 278, 421 f., 426 Zaisser, Wilhelm 143 f., 148, 166, 169 f., 173 Zehm, Günter 159 Ziegler, Walter 42, 201 f., 206, 208, 221 f., 225, 240

Angaben zu den Autoren BELEITES, JOHANNES, geb. 1967, wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Rechtsphilosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. 1990 Mitglied des Bürgerkomitees zur Auflösung des MfS in Leipzig und des Sonderausschusses der Volkskammer der DDR zur Kont rolle der Auflösung des MfS/AfNS, 1996–1998 freier Mitarbeiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Veröffentlichungen: Mithrsg. (für das Bürgerkom itee): Stasi intern. Mach t und Banalität, Leipzig 1990, und verschiedene Aufsätze zum MfS und zur Aufarbeitungsproblematik. BRAUN, JUTTA, geb. 1967, M. A., Studium der Geschichte und Sinologie, 1999 P romotion über die Zentrale Kom mission für Staatliche Kontrolle; Veröffentlichung: (m it Nils Klawitter und Falco Werkentin): Die Hinterbühne politischer Strafjustiz in der SBZ/ DDR, Berlin 1997. EISENFELD, BERND, geb. 1941, Betriebswirt (grad.), wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung des BStU. Veröffentlichungen u . a.: Kriegsdienstverweigerung in der DDR, ein Friedensdi enst? Genesis – Befragung – Analy se – Dokumente, Frankfurt/M. 1978; Die SDI im Sp iegel ausgewählter deutscher Zeitungen und Wochenblätter 1983 bis 1985, Wi esbaden 1987; Die Zentrale Koordinierungsgruppe. Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung (MfS-Handbuch, Teil III/17), BStU, Berlin 1995. ENGELMANN, ROGER, geb. 1956, Dr. phil., Sachgebiet sleiter in der Abteilung Bildung und Forschung des BStU. Veröffentlichungen u. a.: Provinzfaschismus in Italien. Politische Gewalt und Herrschaftsbildung in de r Marmorregion Carrara 1921–1924, München 1992; (mit Paul Erker): Annäherung und Abgren zung. Aspekte deutsch-deutscher Beziehungen, München 1993; Hrsg. (mit Klaus-Diet mar Henke): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung, Berlin 1995; (mit Karl Wilhelm Fricke): „Konzentrierte Schläge“. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956, Berlin 1998. GIESEKE, JENS, geb. 1964, M. A., Historiker, wisse nschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung des BStU; Verö ffentlichungen u. a.: Die hauptam tlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssi cherheit (MfS-Handbuch, Teil IV/1), BStU, Berlin 1995; Das Ministerium für Staatssicherheit 1950 bis 1989/90. Ein kurzer historischer Abriß, BStU, Berlin 1998; Hrsg.: Wer war wer im Ministerium für Staatssicherheit (MfS-Handbuch, Teil V/4), BStU, Berlin 1998. FRICKE, K ARL WILHELM, geb. 1929, Dr. phil. h.c., 1974–1994 Leitender Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Warten auf Gerechtigkeit. Kom munistische Säuberungen und Rehabilitierungen. Bericht und Dokum entation, Köln 1971; Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschich te der politischen Verfolgung. Bericht und Dokumentation, Köln 1979; Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report, Köln 1984; Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung – Strukturen – Aktionsfelder, Köln 1989; MfS intern. Macht, Strukturen , Auflösung der DDR-Staatssicherheit, Köln 1991; Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung, Berlin 1995; (m it Roger Engelm ann): „Konzentrierte Schläge“. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956, Berlin 1998.

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JOESTEL, FRANK, geb. 1953, Diplom-Historiker und Ar chivar, Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung des BStU, Arbeit an Pr ojekten zur Agitations-, Informationsund Ermittlungstätigkeit des MfS. KNABE, H UBERTUS, geb. 1959, Dr. phil., wissenschaf tlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung des BStU. Veröffentlichungen u. a.: Klaus Ehring (Pseudony m des Verf.) und Martin Dallwitz: Schwerter zu Pflugscharen. Friedensbewegung in der DDR, Reinbek 1982; Hrsg.: Aufbruch in eine andere DDR. Reformer und Oppositionelle zur Zukunft ihres Landes, Re inbek 1989; Umweltkonflikte im Sozialismus. Möglichkeiten und Grenzen der Problemartikulation in sozi alistischen Systemen – eine vergleichende Analyse der Umweltdiskussion in der DDR und Ungarn, Köln 1993. LEIDE, HENRY, geb. 1965, Mitarbeiter der Abte ilung Bildung und Forschung des BStU; Veröffentlichungen: Hrsg. (m it Tina Krone und Irina Kukutz): Wenn wir unsere Akten lesen. Handbuch zum Umgang mit den Stasi- Akten, Berlin 1992; Zur Zentralisierung und Verwendung von NS-Akten durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, Berlin 1998 (Bericht für die Enquête-Kommission des Bundestages). MARXEN, KLAUS, geb. 1945, Dr. jur., Professor für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Rechtsphilosophie an der Hum boldt-Universität zu Berlin, Richter am Kammergericht Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Der Kam pf gegen das liberale Strafrecht, Berlin 1974; Strafsystem und Strafprozeß, Berlin 1984; Das Volk und sein Gerichtshof. Studien zum nationalsozialistischen Volksg erichtshof, Frankfurt/M. 1994; (mit Gerhard Werle): Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht, Berlin 1999. MÜLLER, KLAUS-DIETER, geb. 1955, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Veröffentlichungen u. a.: Zwischen Hippokrates und Lenin. Gespräche mit ost-und westdeutschen Ärzten über ihre Zeit in der SBZ und DDR, Köln 1994; (mit Waldemar Krönig): Anpassung – Widerstand – Verfolgung. St udium und Studenten in der SBZ und DDR, Köln 1994; Hrsg. (mit Annegret Stephan): Die Verga ngenheit läßt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ/DDR und deren gesundheitliche Folgen, Berlin 1997; Hrsg. (mit Konstantin Nikischkin und Günthe r Wagenlehner): Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und der Sowjetunion 1941–1956, Köln 1998. NEUBERT, EHRHART, geb. 1940, Dr. phil., Fachbereic hsleiter in der Abteilung Bildung und Forschung des BStU. 1964 –1984 Gemeinde- und Studentenpfarrer, 1984 –1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter in kirchliche n Einrichtungen, 1989 Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs, 1992 –1994 Mitarbe iter im „Stolpe-Untersuchungsausschuß“ des Brandenburger Landtags für die Fraktion Bündnis 90. Veröffentlichungen u. a.: Eine protestantische Revolution, Osnabrück 1990; Vergebung oder Weißwäscherei? Zur Aufarbeitung des Stasiproblems in den Kirchen, Freiburg/Br. 1993; Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Berlin 1997. RASCHKA, JOHANNES, geb. 1968, M. A., wissenschaf tlicher Mitarbeiter des HannahArendt-Instituts für Totalitarism usforschung an der TU Dresden. Veröffentlichungen u. a.: „Für kleine Delikte ist kein Platz in der Kriminalitätsstatistik“. Zur Zahl der politischen Häftlinge während der Amtszeit Honeckers, Dresden 1997; Einschüchterung, Ausgren-

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zung, Verfolgung. Zur politischen Verfolgung in der DDR der Am tszeit Honeckers, Dresden 1998; Aufsätze zur politischen Justiz und zur Ausreisebewegung in der DDR sowie zur russischen Geschichte. ROTTLEUTHNER, HUBERT, geb. 1944, Dr. phil, Professor für Rechtssoziologie an der Freien Universität Berlin, Mithrsg. der „Z eitschrift für Rechtssoziologie“ und der „Inderdisziplinären Studien zu Recht und Staat“. Veröffentlichungen u. a.: Hrsg.: Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahm e der Po litik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994; Mithrsg.: Rechtswisse nschaft in der DDR 1949 –1971. Dokumente zur politischen Steuerung im Grundlagenbere ich, Baden-Baden 1996; Entlastung durch Entformalisierung. Rechtstatsächliche Un tersuchungen zur Praxis von § 495 a ZPO und § 313 StPO, München 1997; Hrsg.: Das Havemann-Verfahren, Baden-Baden 1999. SCHROEDER, FRIEDRICH-CHRISTIAN, geb. 1936, Dr. jur., Professor für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Ostrecht an der Universität Regensburg, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Ostrecht München, Mitherausgeber der Zeitschri ften „Osteuropa Recht“ und „Jahrbuch für Ostrecht“. Veröffentlichungen u. a.: Die Grundsätze der Strafgesetzgebung in der UdSSR und den Unionsrepubliken, He rrenalb 1960; Die Strafgesetzgebung in Deutschland. Eine synoptische Darstellung der Strafgeset zbücher der Bundesrepublik Deutschland und der Deutsche n Demokratischen Republik, Tübingen 1972; Materialien zum Bericht der Lage der Nation 1972 (Mitverfa sser); Das Strafrecht des realen Sozial ismus. Eine Einführung am Beispiel der DDR , Opladen 1983; Kontinuität und Wandel in der kommunistischen Staatstheorie, Berlin 1985; 74 Jahre Sowjetrecht, München 1992. SUCKUT, SIEGFRIED, geb. 1945, Dr. rer. pol., Leiter der Abteilung Bildung und Forschung des BStU. Veröffentlichungen u. a.: Die Be triebsrätebewegung in der SBZ 1945 –1948, Frankfurt/M. 1982; Hrsg.: Blockpolitik in der SBZ/DDR 1945 –1949, Köln 1986; Hrsg.: Das Wörterbuch der Staatssicherheit, Berlin 1996; Hrsg. (mit Walter Süß): Staatspartei und Staatssicherheit, Berlin 1997; zahlreiche Aufsätze zu den Blockparteien, der Blockpolitik, der Gründungsgeschichte der DDR sowie zu Them en der Aufarbeitung von DDR-Geschichte. VOLLNHALS, CLEMENS, geb 1956, Dr. phil., M. A., ste llvertretender Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarism usforschung an der TU Dresden, bis 1998 Fachbereichsleiter in der Abteilung Bildung und Fo rschung des BStU. Veröffentlichungen u. a: Die Evangelische Kirche nach dem Zusammenbr uch. Berichte ausländischer Beobachter aus dem Jahre 1945, Göttingen 1988; Evange lische Kirche und Entnazifizierung. Die Last der nationalsozialistischen Vergange nheit, München 1989; Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vi er Besatzungszonen, München 1991; Hrsg. (mit Siegfried Bräuer): „In der DDR gibt es keine Zensur“. Die Evangelische Verlagsanstalt und die Praxis der Druckgenehmi gung 1954 –1989, Leipzig 1995; Der Fall Havemann. Ein Lehrstück politischer Justiz, Berlin 1998. WEINKE, ANNETTE, geb. 1963, M. A., Studium der Geschichte und Publizistik, 1990–1992 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der (für SED-Unrecht zuständigen) Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin, seit 1996 Arbeit an einem Dissertationsvorhaben zur Strafverfolgung von NS-Verbrechen in beid en deutschen Staaten. Veröffentlichungen: verschiedene Aufsätze zum MfS und zur politisch en Justiz in der DDR sowie zu Aufarbeitungsfragen.

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WENTKER, HERMANN, geb. 1959, Dr. phil., Leiter der Auße nstelle Berlin des Instituts für Zeitgeschichte München. Veröffentlichungen u. a.: Zerstörung der Großm acht Rußland? Die britischen Kriegsziele im Krim krieg, Göttingen 1993; Hrsg. (m it Adolf M. Birke): Deutschland und Rußland in der britischen Kolonialpolitik seit 1815, München 1994; Hrsg.: Volksrichter in der SBZ/DDR 1945 bis 1952. Eine Dokumentation, München 1997; verschiedene Aufsätze zu Kirchenpolitik und Justiz in der SBZ/DDR. WERKENTIN, F ALCO, geb. 1944; Dr. rer. pol., Mitarbe iter des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen der S taatssicherheit, langjähriger Redakteur der Zeitschrift „Bürgerrechte und Polizei (CILIP)“, Veröffentlichungen u. a.: Die Restauration der deutschen Polizei. Innere Rüstung von 1945 bis zur Nots tandsgesetzgebung, Frankfurt/M., New York 1985; (mit Heiner Busch u. a.): Die Polizei in der Bundesrepublik, Frankfurt/M., New York 1985; Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995; Recht und Justiz im SED-Staat, Bonn 1998. WUNSCHIK, TOBIAS, geb. 1967, Dr. phil., Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung des BStU. Veröffentlichungen u. a.: Di e Hauptabteilung XXII: „Terrorabwehr“ (MfS-Handbuch, Teil III/16), BStU, Berlin 1995; Die maoistische KPD/ML und die Zerschlagung ihrer „Sektion DDR“ durch das Mf S, BStU, Berlin 1997; Baader-Meinhofs Kinder. Die zweite Genera tion der RAF, Opladen 1997; verschiedene Aufsätze zur Staatssicherheit und zum Strafvollzug in der DDR.

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Analysen und Dokumente Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes Redaktion: Siegfried Suckut, Ehrhart Neubert, Walter Süß, Roger Engelmann Zuletzt erschienen in dieser Reihe: Band 10: Helmut Müller-Enbergs (Hg.) Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit Teil 2: Anleitungen für die Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und Spionen in der Bundesrepublik Deutschland 2. Auflage 1998; 1120 Seiten; 68,00 DM/sFr.; 496 öS; ISBN 3-86153-145-3 Band 11: Karl Wilhelm Fricke, Roger Engelmann »Konzentrierte Schläge« Staatssicherheit und politische Prozesse in der DDR 1953–1956 360 Seiten; Berlin 1998; 38,00 DM/sFr.; 278 öS; ISBN 3-86153-147-X Band 12: Reinhard Buthmann Kadersicherung im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena Die Staatssicherheit und das Scheitern des Mikroelektronikprogramms 256 Seiten; Berlin 1997; 25,00 DM/sFr.; 183 öS; ISBN 3-86153-153-4 Band 13: Clemens Vollnhals Der Fall Havemann Ein Lehrstück politischer Justiz 312 Seiten; Berlin 1998; 30,00 DM/sFr.; 220 öS; ISBN 3-86153-148-8 Band 14: Sonja Süß Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR 2. Auflage 1999; 776 Seiten; 58,00 DM/sFr.; 424 öS; ISBN 3-86153-173-9 Band 16: Roger Engelmann, Clemens Vollnhals (Hg.) Justiz im Dienste der Parteiherrschaft Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR 576 Seiten; Berlin 1999; 48,00 DM/sFr.; 351 öS; ISBN 3-86153-184-4

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