Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten 9783428523627, 9783428123629, 9783428823628

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten
 9783428523627, 9783428123629, 9783428823628

Table of contents :
Inhaltsübersicht
Abkürzungsverzeichnis
Verkürzt zitierte Literatur
Zur vorliegenden Ausgabe
Vorwort
Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten
Inhalt
I. Preußischer Soldatenstaat und bürgerlicher Konstitutionalismus
1.
2.
3.
4.
5.
II. Der Zusammenbruch
1.
2.
3.
4.
Schluß
Anmerkungen
Anhang
Die Logik der geistigen Unterwerfung
1.
2.
3.
Nachbemerkung des Herausgebers

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CARL SCHMITT

Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches Der Sieg des Bürgers über den Soldaten

Anhang: Die Logik der geistigen Unterwerfung

Duncker & Humblot · Berlin https://doi.org/10.3790/978-3-428-52362-7 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 09:55:40 UTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH

CARL SCHMITT

Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches Der Sieg des Bürgers über den Soldaten

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CARL SCHMITT

Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches Der Sieg des Bürgers über den Soldaten

Herausgegeben, mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke

Anhang: Die Logik der geistigen Unterwerfung

Duncker & Humblot · Berlin https://doi.org/10.3790/978-3-428-52362-7 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 09:55:40 UTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

„Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches“ erschien erstmals 1934 bei der Hanseatischen Verlagsanstalt, Hamburg. „Die Logik der geistigen Unterwerfung“ erschien erstmals in „Deutsches Volkstum“, 1. 3. 1934, S. 177–182. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-12362-9 (Print) ISBN 978-3-428-52362-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-82362-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706* ∞

Internet: http://www.duncker-humblot.de

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Inhaltsübersicht

Zur vorliegenden Ausgabe (von Günter Maschke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Vorwort (von Günter Maschke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIII Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Anmerkungen (von Günter Maschke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

Anhang: Die Logik der geistigen Unterwerfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

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Abkürzungsverzeichnis a. Anm. AöR APZ ARSP ASWSP Aufl. Bd., Bde. BMH Diss. DJZ Dok. FAZ FBPG Fn. FS GGA HJb Hrsg. HZ Jb Kap. MEW MGM MwR NDH Ndr. Nr., Nrn. PrJb RGBl. RT RV RW SMH Tb.

auch Anmerkung(en) Archiv für öffentliches Recht Aus Politik und Zeitgeschichte Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik Auflage Band, Bände Berliner Monatshefte Dissertation Deutsche Juristen-Zeitung Dokument, Dokumente Frankfurter Allgemeine Zeitung Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte Fußnote(n) Festschrift Göttingische Gelehrte Anzeigen Historisches Jahrbuch Herausgeber Historische Zeitschrift Jahrbuch Kapitel Marx-Engels-Werke Militärgeschichtliche Mitteilungen Militärwissenschaftliche Rundschau Neue deutsche Hefte Nachdruck, Neudruck Nummer, Nummern Preußische Jahrbücher Reichsgesetzblatt Reichstag Reichsverfassung Nachlaß Schmitts im Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv Düsseldorf Süddeutsche Monatshefte Taschenbuch

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Abkürzungsverzeichnis u. ö. vgl. VZG WaG WuW WWA WwR ZfP ZgStW ZNR

und öfter vergleiche Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Die Welt als Geschichte Wehr und Wissen Weltwirtschaftliches Archiv Wehrwissenschaftliche Rundschau Zeitschrift für Politik Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte

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VII

Verkürzt zitierte Literatur Anschütz

Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis. Vierte Bearbeitung, 14. Auflage. Berlin 1933, Georg Stilke.

v. Beyme

Klaus von Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa. München 1970, Piper.

Bismarck

Otto von Bismarck, Werke in Auswahl. 8 Bände in 9. Darmstadt 2001, Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Bismarck, Erinnerung

Otto von Bismarck, Erinnerung und Gedanke (Bde. 8 A u. 8 B o. a. Ausgabe).

Bismarck, Gedanken

Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart u. Berlin, o. J. (1928), Cotta.

Boldt

Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte. 2 Bände. München 1990, Deutscher Taschenbuch Verlag.

Deutsche Militärgeschichte

Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648 – 1939, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Herrsching 1983. Lizenzausgabe des Pawlak-Verlages.

Dierk Walter

Dierk Walter, Preußische Heeresreformen 1807 – 1870. Militärische Innovation und der Mythos der „Roonschen Reform“. Paderborn 2003, Schöningh.

Dürig / Rudolf

Günter Dürig / Walter Rudolf (Hrsg.), Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte. München 1996. 3. Aufl., C. H. Beck.

Fiedler, Einigungskriege

Siegfried Fiedler, Kriegswesen und Kriegführung im Zeitalter der Einigungskriege. Bonn, 1991, Bernard & Graefe.

Fiedler, Millionenheere

Siegfried Fiedler, Kriegswesen und Kriegführung im Zeitalter der Millionenheere. Bonn 1993, Bernard & Graefe.

FoP

Carl Schmitt, Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924 – 1978, hrsg. v. Günter Maschke. Berlin 2005, Duncker & Humblot.

Friedrich

Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft. Berlin 1997, Duncker & Humblot.

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Verkürzt zitierte Literatur

IX

Hartung

Fritz Hartung, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches, in: Ders., Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze. Berlin 1961, Duncker & Humblot, S. 376 – 392 (zuerst in: Historische Zeitschrift, 151, 1935, S. 528 – 544).

Heckel, Wehrverfassung

Johannes Heckel, Wehrverfassung und Wehrrecht des Großdeutschen Reiches. I. Teil: Gestalt und Recht der Wehrmacht. Der Waffendienst. Hamburg 1939, Hanseatische Verlagsanstalt.

Hildebrand

Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler. Darmstadt 1996, 2. Aufl., Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Hofmann

Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts. Neuwied u. Berlin 1964, Luchterhand.

Höhn, Erziehungsschule

Reinhard Höhn, Die Armee als Erziehungsschule der Nation. Das Ende einer Idee. Bad Harzburg 1963, Verlag für Wissenschaft, Wirtschaft und Technik.

Höhn, Soz.

Reinhard Höhn, Sozialismus und Heer. 3 Bände. Bad Homburg vor der Höhe 1961 (zuerst 1959) – 1969, Verlag Dr. Max Gehlen.

Huber

Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. 8 Bände. Stuttgart 1960 – 1990, Kohlhammer.

Huber, Dok.

Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. 5 Bände. Stuttgart 1978 (zuerst 1961) ff., Kohlhammer.

Huber, Heer u. Staat

Ernst Rudolf Huber, Heer und Staat in der deutschen Geschichte. 2. erweiterte Auflage. Hamburg 1943, Hanseatische Verlagsanstalt.

Messerschmidt

Manfred Messerschmidt, Die politische Geschichte der preußisch-deutschen Armee, in: Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648 – 1939, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Herrsching 1983. Lizenzausgabe des Pawlak-Verlages, Bd. II, Abschnitt IV / 1, S. 9 – 380.

Mohler-Briefwechsel

Carl Schmitt, Briefwechsel mit einem seiner Schüler. Hrsg. von Armin Mohler in Zusammenarbeit mit Irmgard Huhn und Piet Tommissen. Berlin 1995, Akademie.

PuB

Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923 – 1939. Hamburg 1940, Hanseatische Verlagsanstalt.

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X

Verkürzt zitierte Literatur

Reichsarchiv

Der Weltkrieg 1914 bis 1918. Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft. Erster Band: Die militärische, wirtschaftliche und finanzielle Rüstung Deutschlands von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Weltkrieges; sowie: Anlagen zum ersten Band. Berlin 1930, E. S. Mittler & Sohn. Besorgt vom Reichsarchiv.

Ritter, Staatskunst

Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland. 4 Bände. München 1970 (zuerst 1954) ff., Oldenbourg.

Schmid

Michael Schmid, Der „Eiserne Kanzler“ und die Generäle. Deutsche Rüstungspolitk in der Ära Bismarck (1871 – 1890). Paderborn 2003, Ferdinand Schöningh; Lizenzausgabe Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt.

SGN

Carl Schmitt, Staat-Großraum-Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916 – 1969, hrsg. von Günter Maschke. Berlin 1995, Duncker & Humblot.

Stein

Oliver Stein, Die deutsche Heeresrüstungspolitik 1890 – 1914. Das Militär und der Primat der Politik. Paderborn 2007, Ferdinand Schöningh.

Stolleis

Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. 3 Bände. München 1988 – 1999, C. H. Beck.

VA

Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre. Berlin 1958, Duncker & Humblot.

VL

Carl Schmitt, Verfassungslehre. München & Leipzig 1928, Duncker & Humblot.

Willoweit

Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. 3. Auflage. München 1997, C. H. Beck.

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Zur vorliegenden Ausgabe Unser Text folgt der in Frakturschrift gedruckten Erstausgabe Hamburg [Mai] 1934, Hanseatische Verlagsanstalt, 49 S., Heft 6 der von Schmitt herausgegebenen Reihe „Der deutsche Staat der Gegenwart“. Die wenigen Setzfehler wurden berichtigt, die Zitate geprüft und notfalls korrigiert, die Fußnoten durchnumeriert und in einigen Fällen durch Bemerkungen und Hinweise in eckigen Klammern ergänzt, die von Schmitt gesperrt gedruckten Wörter und Sätze kursiviert. Seine Schreibweise wurde zur Gänze respektiert. Die Auflage der Schrift soll 2000 Exemplare betragen haben; möglich sind jedoch Nachdrucke ohne entsprechende Kennzeichnung. Nach einer im Schmitt-Nachlaß befindlichen Aufstellung des Verlages wurden 1722 Exemplare verkauft (Brief des Verlagsmitarbeiters Georg Fickel v. 6. 9. 1934, RW 265 / 421). Siegfried Lokatis erklärt in seinem Buch Hanseatische Verlagsanstalt – Politisches Buchmarketing im „Dritten Reich“, Frankfurt am Main 1992, S. 54 hingegen, daß bis Ende April 1935 2638 Exemplare verkauft wurden, was die Vermutung, es habe eine zweite Auflage gegeben, stützen würde. Da Lokatis die geschäftlichen Aktivitäten der Hanseatischen Verlagsanstalt wie kein zweiter kennt und ihm die gesamte Korrespondenz des Verlages mit Schmitt vorlag, spricht die Wahrscheinlichkeit für diese Zahl. Ein seitenidentischer photomechanischer Nachdruck der Schrift erschien 1985 im Bremer Faksimile-Verlag; eine Mikrofilm-Edition 2002 in New York (Yivo Institute for Jewish Research) und Leyden (IDC), Mikrofilm Nr. 1926. Der italienische Historiker Delio Cantimori (1904 – 1966), ursprünglich Faschist, später Marxist, der häufig und stets kritisch über Schmitt schrieb (vgl. die Sammlung seiner Aufsätze und Rezensionen u. d. T. Politica e storia contemporanea – Scritti scelti 1927 – 1942, a cura di Luisa Mangoni, Torino 1991, Einaudi, bes. S. 71 – 76, 178 – 180, 197 ff., 237 – 252, 352 ff., 383 – 388, 391 ff., 558 ff.) übersetzte Schmitts Schrift zusammen mit Der Begriff des Politischen (in der Fassung v. 1933) und Staat, Bewegung, Volk (1933) und publizierte sie in: Carl Schmitt, Principii politici del nazionalsocialismo. Scritti scelti e tradotti da D. Cantimori. Prefazione di A. Volpicelli, Firenze 1935, G. S. Sansoni, X / 231 S., der Text dort S. 109 – 171, betitelt mit Compagine statale e crollo del secondo impero tedesco. La vittoria del borghese sopra il soldato. Von diesem Band gibt es zwei Raubdrucke; der erste erschien ohne Ort, Verlag u. Jahr (1981?), der zweite ohne Ort und Jahr (1983?), angeblich herausgegeben von den sicherlich fiktiven „Edizioni del movimento“. (Über Cantimori vgl.: Pierangelo Schiera, Carl Schmitt und Delio Cantimori, in: Helmut

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XII

Zur vorliegenden Ausgabe

Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum – Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 529 – 535). Eine koreanische Ausgabe u. d. T. „Che 2 Chekuk eui Kukkakucho wa Bungkoe“ in der Festschrift für Ilam Byon Jae-Ok, S. 169 – 208, erschien 1994 in Seoul bei Hyundai Kongbob Nonchong; Übersetzer war Hyo-Jeon Kim, der von Schmitt bereits „Hugo Preuß – Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre“ (1930), „Ex captivitate salus“ (1950), „Die Tyrannei der Werte“ (1967) und „Die legale Weltrevolution“ (1978) in den Jahren 1980 – 1987 übertragen hatte. Spanisch erschien das Buch, zusammen mit dem Aufsatz „Die Logik der geistigen Unterwerfung“ u. d. T. Estructura del Estado y Derrumbamiento del Segunda Reich – La Lógica de la Sumisión Espiritual 2006 in Madrid bei der Editorial Reus, Colección Scientia Iuridica, Nr. 1, 140 S.; die Übersetzung stammte von Gabriel Guillén Kalle, die Noten und die Bibliographie von Günter Maschke (S. 103 – 140). * Der im Anhang unserer Edition wiedergegebene Aufsatz „Die Logik der geistigen Unterwerfung“ erschien am 1. März 1934 in der von Wilhelm Stapel (1882 – 1954) herausgegebenen Zeitschrift Deutsches Volkstum, S. 177 – 182; er beruht auf einem Vortrag, den Schmitt am 24. 1. 1934 zum 222jährigen Geburtstag Friedrichs des Großen in der Berliner Universität hielt und der betitelt war mit „Heerwesen und staatliche Gesamtstruktur“. Das vermutlich nicht vollständige Vortragsmanuskript (RW 265 / 21752, 13 S.) ist sehr stark korrigiert und differiert von der veröffentlichten Fassung. Es geht zunächst näher auf Friedrich den Großen, dem „Symbol für die Einheit von Staat und Heer“, ein und auf das Bewußtsein von dieser Einheit bei preußischen Reformern wie dem Freiherrn vom Stein, Scharnhorst und Boyen. In einem von Schmitt an Freunde verteilten Auszug aus seinem Tagebuch vom 21. 1. – 26. 1. 1934 bemerkte er u. a.: „Ott [Eugen Ott, 1889 – 1977, Offizier aus dem Umkreis Kurt v. Schleichers, damals Militärattaché in Japan, 1938 – 1942 ebd. deutscher Botschafter] kam gegen 7 Uhr, erzählte bis abends 12 herrlich von Japan, viele Bilder, ich hatte ihn sehr gern und bewunderte ihn. Sprach mit ihm auch über meinen Vortrag, den Neutralitätsanspruch der Reichswehr gegenüber der SA. Er war sehr vernünftig und ohne falschen Imperialismus.“ (21. 1. 1934). Am Tage darauf notierte Schmitt: „War kaum fertig mit dem Vortrag, plötzlich telephonierte Achelis [Johann Daniel Achelis, 1898 – 1963, Physiologe, damals Ministerialrat im Reichs- und Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Erziehung u. Volksbildung, ab Mitte 1934 Ordinarius für Physiologie an der Universität Heidelberg], der Vortrag ist verschoben, Vorwand: das Fest des Ordens Pour le mérite, in Wirklichkeit, sagt er, auch politische Gründe. Wahrscheinlich ist alles gelogen.“ Am 23. 1. bemerkte Schmitt: „Um 9 zu Popitz, schön frisch (erst todmüde, konnte kaum

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Zur vorliegenden Ausgabe

XIII

aufstehen, Herzbeschwerden), mit ihm in die Stadt. Es ist eine unheimliche Stimmung, Krise beim Führer, fuhr zu Achelis, der mir sagte, der Vortrag sei verboten . . .“; im gleichen Passus heißt es aber schließlich: „Der Vortrag findet doch statt, dann die Sekretärin von Achelis, die das mitteilte; war sehr wütend über die Belästigung durch Achelis.“ Am Abend des 24. 1. 1934 resümierte Schmitt: „Ziemlich munter auf, den ganzen Vormittag fleißig gearbeitet, um 1 / 2 12 in Eile in die Stadt, großes Fest des Ordens Pour le mérite in der neuen Aula, waren ziemlich viele Leute da, besonders von der Reichswehr, der Rektor Fischer sprach zuerst, dann hielt ich meinen Vortrag über Heerwesen und politische Gesamtstruktur, es ging sehr gut.“ (Vgl. inzw.: Schmitt, Tagebücher 1930 bis 1934, Akademie Verlag, 2010, S. 320 – 23). Diese Notizen sagen weder etwas aus über die Gründe, die Schmitt zur Abfassung seines Vortrages und seiner Schrift bewogen noch was er mit diesen Texten politisch erreichen wollte; sie dienten ihm wohl nur als Gedächtnisstütze. Tatsächlich bleiben Schmitts Motive und Ziele, wie wir darzulegen versuchen (s. S. XLIV) einigermaßen im Dunkeln und die ausgedehnte Sekundärliteratur schweigt sich gewöhnlich über Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches aus oder erwähnt die Broschüre nur en passant; Hasso Hofmanns Ausführungen in Legitimität gegen Legalität – Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts (Neuwied 1964, S. 90 – 94) zählen zu den raren Ausnahmen. Aber auch 1934 war das Echo, vergleicht man es mit dem auf Staat, Bewegung, Volk (1933) und Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (1934) ziemlich dürftig. Sieht man von der Polemik Fritz Hartungs und deren Weiterungen (s. S. XXXVII) ab, so kam es erst später, in der Kontroverse über den deutschen Konstitutionalismus, zunächst zwischen Schmitt und Ernst Rudolf Huber, dann zwischen Huber und Ernst-Wolfgang Böckenförde, zu einer gründlicheren Beschäftigung mit einem wichtigen Aspekt des Werkes (s. S. XXXIX ff.). Die unmittelbareren Stellungnahmen waren eher oberflächlich oder blieben stark punktuell. Stellen wir, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige von ihnen vor. * Die vermutlich erste, ziemlich umfängliche Besprechung stammt von Carl Dyrssen, dem Hauptschriftleiter der Schlesische(n) Zeitung (Breslau), die dort am 27. 4. 1934, S. 1 – 2, erschien; sie war betitelt mit „Bürger- oder Soldatenstaat?“. Schmitt, von Dyrssen als „hervorragender Nationalsozialist“ und als „Kronjurist“ bezeichnet, erfuhr weitgehende Zustimmung und der Rezensent erklärte u. a.: „Es würde sich wahrlich lohnen, einmal die beschämende Geschichte dieser würdelosen Haushaltsdebatten [im Preußischen Landtag bzw. im Reichstag] bis in alle Einzelheiten zu schreiben, um dem deutschen Volke diesen Spiegel eines jahrzehntelangen Selbstverrats im Angesicht glänzender Waffentaten immer wieder vor Augen zu halten und ihm für ewig den Wunsch nach der Wiederkehr solcher Zustände zu verleiden.“ Zum Schluß warnte

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XIV

Zur vorliegenden Ausgabe

Dyrssen „manche doktrinären Heißsporne“, die „vergessen machen wollen, daß wir im Grunde genommen doch nur mit allem, was wir heute tun, unsere große preußische Überlieferung aufnehmen, die, wenn schon zeitweise verdunkelt, so doch niemals, auch in der oft und viel geschmähten Vergangenheit ganz abgerissen war.“ Vermutlich waren mit den „Heißspornen“ die Anhänger Ernst Röhms gemeint? Helmuth Croon, 1906 – 1994, Historiker, Schüler Fritz Hartungs und Mitarbeiter der Berlin-Brandenburgischen Historischen Kommission, warf Schmitt eine „völlige Verzeichnung des geschichtlichen Geschehens“ vor sowie die Konstruktion von Gegensätzen, „wo keine sind“; imgrunde folgte er der Argumentation Hartungs (in: Croon, Neuere Verfassungsgeschichte [Literaturbericht], Jahresberichte für Deutsche Geschichte, 1934, S. 406 – 413 (410). In einem mit „Neue Legalität. Bemerkungen zu einem Buch von Carl Schmitt“ überschriebenen Artikel, Berliner Tageblatt, 7. 6. 1934, erklärte der anonyme Verfasser: „Die Geschichtsbetrachtungen Karl [!] Schmitts sind in ihrer Form und in ihrem Inhalt stets interessant, auch für den, der nicht bereit ist, ihnen vorbehaltlos zu folgen. Seine Darstellung der Konstruktionsfehler des Kaiserreichs ist überzeugend. Und sicher hat Schmitt auch recht, wenn er erst in der Revolution von 1933 die grosse historische Gelegenheit erblickt, dem Reiche eine Form und eine Führung zu sichern, die seiner besonderen Lage entsprechen und die Nation instandsetzen, ihre politische und geschichtliche Aufgabe zu erfüllen. Missverständlich könnte in seiner Darstellung nur die Polemik gegen den Begriff des Rechtsstaates erscheinen, weil sich mit diesem Begriff verschiedene Vorstellungen verbinden lassen.“ Der Bericht schloß mit einer für das Berliner Tageblatt wohl nicht untypischen Hoffnung: „So werden auch für die neue deutsche Verfassung, die im Werden begriffen ist, neue Formen für die rechtliche Bindung der Staatsgewalt gefunden werden. Ohne dass wieder zu befürchten wäre, dass ein „Stück Papier zu einer Art zweiter Vorsehung“ werden oder Staat und Untertan in gegensätzliche Lager führen könne, wird wiederum eine Legalität begründet werden, allerdings eine Legalität mit einem anderen Gehalt als dem der liberalen Aera.“ Ein Autor mit dem Kürzel „Dr. W. R.“ stimmt Schmitt in seinem Beitrag „Zusammenbruch des zweiten Reiches. Zu dem neuen Buch von Carl Schmitt“, Münchner Neueste Nachrichten, 17. 7. 1934, nachdrücklich zu: „Die neue Schrift . . . unternimmt es, das, was Adolf Hitler die ,inneren Schwächen‘ und die ,Fehlkonstruktion‘ des alten Deutschlands nennt, am staatlichen Gefüge des zweiten Deutschlands aufzuzeigen. Ja, die Uebereinstimmung der geschichtlich-staatsrechtlichen Beweisführung Carl Schmitts mit der Intention Adolf Hitlers geht so weit, daß er dessen hellsichtige Charakterisierung des Wilhelminischen Deutschlands als des ,bürgerlich-legitimen Kompromisses‘ . . . geradezu als Leitmotiv verwenden kann.“ Nach einer genauen Wiedergabe der Hauptlinien der Schrift Schmitts bemerkt der Verfasser kritisch, daß Schmitt „nicht immer der Gefahr einer allzu starken Zuspitzung [entgehe].

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Zur vorliegenden Ausgabe

XV

Weder war das Preußentum in der Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt noch so intakt, wie es nach seiner Darstellung manchmal scheinen könnte, noch können die preußischen politischen Kräfte aus dem Soldatischen allein heraus ganz verstanden werden, sondern ihr Wesen lag ebensosehr darin, daß sie von einer allerdings in höchstem Grade soldatisch geformten, gesellschaftlichen und politischen Aristokratie verkörpert wurden.“ Zum Schluß bezeichnet er „die Form, die Bismarck dem zweiten Reich gab, als ein unausweichliches geschichtliches Verhängnis“, eine These, die vielleicht Schmitts Widerspruch gefunden hätte. Aber auch Dr. W. R. sieht das zweite Reich als eine „Uebergangsform“ und behauptet, daß erst im Nationalsozialismus „die tiefsten politischen Kräfte eine moderne und gesamtdeutsche Auferstehung“ erleben. Auch die Besprechung des Militärhistorikers Hermann Gackenholz (1908 – 1974) ist überwiegend lobend (in Wissen und Wehr, 1934, S. 696). Immerhin wendet Gackenholz ein: „Gewiß sehen wir heute auch die Bedingtheiten der politischen Leistung Bismarcks stärker als frühere Generationen, die im zweiten Reich schlechthin die Ideallösung erblickten. Aber soll man die staatsmännische Tat von 1867 – 1871 vorwiegend vom Zusammenbruch von 1918 her betrachten? In die historische Realität von 1866 gehört doch die Bitte um Indemnität ebenso wie das allgemeine – damals revolutionäre – Wahlrecht. Bismarck ist damit der politischen Bedeutung des liberalen Bürgertums gerecht geworden [wohl nur mit der Bitte um Indemnität!], die heute nur zu leicht vergessen wird. Jenes Bürgertum war der hauptsächlichste Träger des gesamtdeutschen Nationalgefühls ohne dessen ausschlaggebende Mitwirkung der Partikularismus der Dynastien und Einzelstaaten jener Zeit kaum zu überwinden war.“ In einem Brief Ernst Jüngers an Schmitt v. 24. 10. 1934 stimmt Jünger der Argumentation Gackenholz’ zu und weist auf dessen „Bemerkung hin, die ich Ihnen schon im Frühling machte, – daß nämlich die Bitte um Indemnität in die historische Realität von 1866 gehört.“ (Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930 – 1983, Stuttgart 1999, S. 42). Der Aufsatz „Das Heer und der bürgerliche Rechtsstaat“ des Staats- und Völkerrechtlers Carl Bilfinger (1879 – 1958), der oft ähnlich wie Schmitt argumentierte und gemeinsam mit ihm und Erwin Jacobi das Reich im Leipziger Prozeß „Preußen contra Reich“ 1932 vertrat, knüpft eher nur an Schmitt an, als daß er eine Rezension darstellt. Doch Bilfinger stimmt Schmitt ohne Einschränkung zu (in Hallische Hochschul-Blätter, 9. 7. 1934, S. 3) und verweist auf eine Äußerung Metternichs von 1817: „Der preußische Staat ist vermöge seiner geographischen Lage und seiner Zusammensetzung keiner Zentralrepräsentation im reinen Begriff fähig, weil derselbe vor allem einer freien und gediegenen militärischen Kraft bedarf und diese nie neben einem reinen Repräsentativsystem bestehen kann und wird.“ Mit dem Gesetz vom 24. 3. 1933 bestimme die Regierung das Haushaltsgesetz, endlich sei damit, so Bilfinger, das Budgetrecht „begraben“. Bilfinger warnt diejenigen, die „sich wieder vornhin drängen [wollen] oder von der

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Nachhut her sich zäh und entschlossen vorwärts stemmen und schieben . . . Es wird noch lange sehr nötig sein, gegen diesen Geist [des wichtigtuerischen Mitdabeiseinwollens] zu kämpfen.“ „Bismarckreich und preußische Staatsidee“ ist der Titel eines Beitrages des Historikers Hans Herzfeld (1892 – 1982), der unmittelbar an Bilfingers Text anschließt (s. o., S. 3 – 4); Herzfeld ist auch der Autor eines wichtigen Aufsatzes über Johannes Popitz in der Festschrift Fritz Hartung, Berlin 1958, S. 345 – 365. Für Herzfeld ist Schmitts Broschüre „die Anmeldung einer Umwertung aller Werte für die Deutung der nationalen Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert.“ Die Hinweise Schmitts auf den Dualismus Militärstaat – konstitutionell-parlamentarische Organisation der politischen Gewalten, „kompliziert noch durch die Spannung Reich-Preußen“, aufnehmend, kritisiert Herzfeld die fehlende „wirtschaftliche Kriegsvorbereitung des eingekreisten Reiches“ vor 1914, wendet gegen Schmitt jedoch ein, daß gegenüber der Aufnahme des allgemeinen Wahlrechts das Indemnitätsgesetz von 1866 doch nur von sekundärer Bedeutung sei. Die jetzige Lage Deutschlands habe zu einem „wagenden Realismus in der Wahl der rettenden Mittel“ genötigt; die „Loslösung von jenem Einstrom westeuropäischer Staatsidee auf deutschem Boden und zum Rückgriff auf die tiefsten Grundtraditionen unserer preußischen Vergangenheit“ sollte aber nicht „als Gegensatz gegen die Bismarcksche Lebensleistung der Reichsgründung, sondern als Fortführung und Abschluß dieser größten geschichtlichen Tat der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert“ betrachtet werden. Der Historiker und Bismarck-Forscher Egmont Zechlin, 1896 – 1992 (vgl. von ihm: Staatsstreichpläne Bismarcks und Wilhelms II. 1890 – 1894, Stuttgart 1929 (dazu Schmitt, Staatsstreichpläne Bismarcks und Verfassungslehre (1929), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 29 – 33; Bismarck und die Grundlegung der deutschen Grossmacht, Stuttgart 1930), bezweifelte in „Zur Kritik und Wertung des Bismarckreiches“, Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 6 / 1934, S. 538 – 547, Schmitts Kritik an Bismarcks Ersuchen um Indemnität: „Ich meine gegenüber Schmitt, daß die Aufgabe von damals, also die der deutschen Einigung und ihrer europäischen Sicherung, den Wertmaßstab für die Beurteilung der Indemnität geben muß – auch vom heutigen Standpunkt aus.“ (S. 539). Bismarck hätte sich, auch aus Rücksicht auf die europäische Lage, mit dem stärksten Träger der nationalen Idee, dem liberalen Bürgertum, arrangieren müssen; er hätte den Liberalismus sowohl gegenüber Napoleon III. wie auch gegenüber der katholisch-großdeutschen Idee gebraucht. Waldemar Gurian (1902 – 1954), zeitweise mit Schmitt befreundet, doch bereits vor 1933 von ihm abrückend (über ihn: Heinz Hürten, Waldemar Gurian – Ein Zeuge in der Krise unserer Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Mainz 1972, dort zu Schmitt bes. S. 12 – 14, 73 f., 127 f., 133 ff.) und ab 1934 als Emigrant in der Schweiz in der von ihm hrsg. Zeitschrift „Deutsche Briefe“ scharf gg. Schmitt polemisierend (Vgl.: Deutsche Briefe 1934 –

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1938. Ein Blatt der katholischen Emigration. Bearbeitet von Heinz Hürten, Mainz 1969, 2 Bde.) bemerkt in einem unter dem Pseudonym Paul Müller erschienenen Aufsatz: „Wie vergeßlich sind doch die Zeitgenossen – sonst müßten sie sich daran erinnern, daß Carl Schmitt noch 1925 als Redner in Zentrumsveranstaltungen auftrat (siehe seine im Verlage der Rheinischen Zentrumspartei erschienene Broschüre von 1925: Die Rheinlande als Objekt der internationalen Politik [jetzt in: Schmitt, Frieden oder Pazifismus?, 2005, S. 26 – 50]), was ihn heute nicht hindert, die „zentrumskatholische“ mit der „international-marxistischen Politik“ zusammenzubringen (Staatsgefüge . . . , S. 14 [bei uns S. 13])“. Doch tatsächlich führten das Zentrum und die damals noch marxistische SPD einen „heftigen Kampf gegen Bismarcks preußisch-deutsches Reich“; eine Tatsache bleibt eine Tatsache, auch wenn sie der angebliche Groß-Opportunist Schmitt ausspricht (vgl. P. Müller, Entscheidung und Ordnung – Zu den Schriften von Carl Schmitt, Schweizerische Rundschau, 1. Okt. 1934, S. 566 – 576, 567). Die zur Gänze zustimmende Rezension (in Europäische Revue, Oktoberheft 1934, S. 689 f.) von Bernhard Ludwig v. Mutius (1913 – 1979), einem lebenslangen Freund Schmitts, der 1934 / 35 dessen Adjudant in der ,Fachgruppe Hochschullehrer des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen‘ war, erfasste die Hauptlinien der Broschüre durch ausführliche Zitate. v. Mutius wies dabei auf den französischen Romantiker Alfred de Vigny (1797 – 1863) hin, in dessen Werk Servitude et Grandeur Militaires (1835) es u. a. hieß: „Die Armee ist eine Nation in der Nation, es ist dies ein Laster unserer Zeit. Im Altertum stand es damit anders; jeder Bürger war Krieger und jeder Krieger war Bürger. Die Menschen der Armee gaben sich nicht anders als die Menschen der Stadt. Die Furcht vor Göttern und Gesetzen, die Treue zum Vaterland, die Strenge der Sitten und auch die Liebe zu Friede und Ordnung fanden sich im Feldlager mehr als in den Städten, weil es die Elite der Nation war, die es bewohnte . . . Man kann die Epoche, in der die Armeen mit der Nation gleichgesetzt sein werden, nicht genug beschleunigen.“ v. Mutius beendete seine Rezension mit den Sätzen: „Nicht nur die liberale Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts, auch der moderne absolutistische Staat trägt Schuld an der Trennung von Heer und Nation. Die Aufgabe, Nation und Heer, Volk und Staat wieder zu vereinigen, ist für Deutschland als eine Lehre aus der Geschichte des zweiten Reiches von besonderer Bedeutung. Es ist dem Nationalsozialismus gelungen, die Nation und die Armee, das Volk und den Staat als Teile einer umfassenden Volksordnung einer organisierten Volksgemeinschaft einzuordnen.“ Der sich als katholischer „Brückenbauer“ zum Nationalsozialismus betätigende Theodor Brauer (1880 – 1942), Volkswirtschaftler und führender Vertreter der christlichen Gewerkschaften, kritisiert in seiner Rezension in Der Gral, Märzheft 1935, S. 280 f., die „Ungenauigkeiten in den Einzelzügen“ bei Schmitt, bewundert aber die „große Schlagkraft“ und „glänzende Antithetik“

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der Schrift. Er bezweifelt etwas Schmitts These, daß es nicht gelungen sei, den Arbeiter in Bismarcks System zu integrieren, kommt aber zu dem Ergebnis: „Schriftstellerisch ist das Büchlein eine Glanzleistung. Die Darstellung strotzt geradezu von treffsichern Charakteristiken; die jeweils Getroffenen freilich werden entrüstet aufschreien.“ Hugo Marx (1892 – 1979), bis 1933 Richter in Mannheim, 1933 Emigration in die Schweiz, ab 1941 in den Vereinigten Staaten, nach dem Kriege vor allem über Antisemitismus und Judenverfolgung publizierend (s. seine Kontroverse mit Ernst Fraenkel 1957 in: Fraenkel, Gesammelte Schriften, II, Nationalsozialismus und Widerstand, Baden-Baden 1999, S. 588 – 594) beließ es erstaunlicherweise in einer Sammelrezension über nationalsozialistische Broschüren bei einem 12zeiligen, völlig ,neutralen‘ Referat der Grundthesen Schmitts (in: Zeitschrift für Sozialforschung, (Paris), 1935, S. 134 f.). In Deutsches Recht, 5. Jg., 10. 5. 1935, S. 263, schrieb ein Dr. Hartmann zu Schmitts „meisterhafter“ Schrift, daß sich nunmehr die Aufgabe erhebe „darüber zu wachen, daß das Dritte Reich nicht gleichfalls [wie das Zweite] ideologischer Zersetzung verfallen möge.“ Er betonte, „daß der Formalakt des persönlichen Fahneneides noch nicht ein Führer-Gefolgschaftsverhältnis schafft. Auch muß militärische Kommandogewalt und Führung scharf unterschieden werden, weil sonst der Gedanke nahegelegt wird, daß das Wesen des neuen Staates in der Konstituierung von Befehlsverhältnissen besteht und daß die Aufhebung der Antithese von Militärisch und Zivil so geschieht, daß die Initiative, die politische Führung auf militärische Stellen übergeht. Vielmehr hat die den Staat bildende Volksgemeinschaft durch ihren Führer den Geist des Soldatenstaates erneuert und ist zur wehrhaften Volksgemeinschaft geworden.“ In der Sammelbesprechung eines anonymen Autors u. d. T. „Die Arbeit am neuen Staatsrecht“, in der es auch um Broschüren Heinrich Henkels, Friedrich Schaffsteins, Reinhard Höhns und um Schmitts „Staat, Bewegung, Volk“ geht, wird Schmitts Schrift als „das bedeutendste Stück“ aus der Reihe „Der deutsche Staat der Gegenwart“ bezeichnet. „Schmitts Schrift ist gross durch die Sicherheit, mit der sie den Kern verwickelter geschichtlicher Vorgänge heraushebt und ihnen eine klare Deutung gibt, die in ihrer Selbstverständlichkeit genial genannt werden muss.“ (Baltische Monatshefte (Riga), 1935, S. 361 – 365, 362). Die Aufsätze „Wehrmacht und Staat“ von Heinz-Adolf Freiherr v. Heintze und „Soldat und Bürger“ von Wilhelm Rößle, 1890 – 1953? (in Deutsches Adelsblatt, 6 / 7 –1935, S. 755 – 758 bzw. 12 – 1935, S. 1450 – 1451) nehmen Schmitts Text zum Anlaß, die Geschichte der Beziehungen zwischen den genannten Größen zu skizzieren. V. Heintze unterstreicht die Bedeutung des persönlichen Eides auf den Führer, Rößle betont, „daß der Weltkrieg mit bürgerlichen Heeren geführt wurde“ und daß „die Gegensetzung von Bürger und Soldat in der Einrichtung der Berufsheere überhaupt erst ihre Wurzel“ habe. Der liberale Bürger „entwickelte als Soldat ganz selbstverständlich die

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jedem Deutschen innewohnenden soldatischen Tugenden“ und der Kompromiß nach 1866 „war nicht der zwischen Soldat und Bürger, sondern der zwischen autoritärer Staatsführung und Parlamentarismus, zwischen Königtum und liberaler Demokratie.“ Der Historiker und Mitherausgeber der Friedrichsruher Ausgabe der Werke Bismarcks, Werner Frauendienst (1901 – 1966), bezweifelt in seinem Artikel „Deutsche Staatsführung“ (in: Der Weg zur Freiheit, 16, 1936, S. 6 – 10, bes. S. 7 f.) Schmitts These, daß Bismarcks Bitte um Indemnität 1866 „das Heer doch der Verfügung des Parlaments“ ausgeliefert habe. Das Ringen um die Armee hätte erst 1874, beim ersten Septennat, begonnen. „Die entscheidende Wendung nach dem Kriege von 1866 ist weniger von der Indemnität als von der Verleihung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts für den Reichstag des Norddeutschen Bundes zu datieren.“ Bismarck hätte zur Abwehr des aus Ost und West drohenden Angriffs „des Bundes mit dem eifrigsten Verfechter der nationalen Einigung, eben dem nationalen Liberalismus“ bedurft; im übrigen hätte er „einen Einbruch in das königliche Bollwerk“ nicht geduldet; das Parlament hätte unter ihm keinen Fortschritt für sich buchen können. Mehr oder minder gibt Frauendienst dem „persönlichen Regiment“ Wilhelms II. ab 1889 die Schuld am Niedergang und am Heraufkommen der diversen „Nebenregierungen“. Im Rahmen einer Sammelrezension u. d. T. „Verfassungsrechtliches Schrifttum“ (in Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 96, 1936, S. 388 – 403, 392) stimmte der nationalsozialistische Jurist Gottfried Neeße (1911 – 1987) der Schrift Schmitts zu und betrachtete sie als diejenige, welche die Voraussetzungen von „Staat, Bewegung, Volk“ umrissen habe. „Wichtig ist vor allem, daß die innere Einheitlichkeit des wilhelminischen und des weimarschen „Systems“ aufgezeigt wird. Die schlechte alte Zeit der Sattheit und des Wohlergehens, der falschen patriotischen Begeisterung und der echten Gewinnsucht im deutschen Kaiserreich war nur die Vorbereitung der offenen Niedrigkeit und Erbärmlichkeit der Republik, während im Weltkriege schon das neue, zukunftsträchtige, nationalsozialistische Gedankengut, das echte und unbedingte Deutschtum emporzuwachsen begann. Und wie die Schrift über „Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches“ den Sieg des Bürgers über den Soldaten beschreibt, so deutet die andere Schrift über „Staat, Bewegung, Volk“ den neuen Sieg des Arbeiters über den Bürger an – im weltanschaulichen, nicht im klassenkämpferischen Sinne gesprochen.“ – Neeße, der zeitlebens Kontakte mit Schmitt unterhielt, veröffentlichte 1936 das Buch „Partei und Staat“ in Schmitts Reihe „Der deutsche Staat der Gegenwart“ als letztes, 20. Heft der Reihe, in der als Heft 6 „Staatsgefüge und Zusammenbruch . . .“ erschienen war. Justus Ide (geb. 1914) promovierte im November 1936 in Kiel bei Ernst Rudolf Huber (1903 – 1990) und Walther Schoenborn (1883 – 1956) mit der Arbeit Die Entwicklung der preußischen Armee als Verfassungsbestandteil vom Tode Friedrichs II. bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes, Kiel 1937, 83 S.

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Auch Ide hält es, was Bismarcks Ersuchen um Indemnität angeht, für wahrscheinlich, daß dieser „glaubte, nicht nur mit den geschlagenen preußischen, sondern mit allen deutschen Liberalen rechnen zu müssen, wenn er daran ging, die Einigung Deutschlands unter preußischer Führung zu vollziehen.“ (S. 77). In der Kontroverse Schmitt / Hartung stimmte Ide eher Schmitt zu. Bismarck hätte zwar die Liberalen als Partner benötigt, doch sei „der Parlamentarismus im Bismarckschen Reich mit dem sich nun aus ihm entwickelnden Parteiwesen in immer höheren Grade zu einer der Ursachen der inneren Erschütterung des Staates geworden . . . Es ist die Tragik der Politik Bismarcks, daß sie genötigt war, ein aufbauendes Ziel mit der Hilfe von politischen Gruppen anzustreben, deren Haltung eine ganzheitliche Bezogenheit im Grunde fehlte, weil es andere Gruppen, die mächtig genug gewesen wären, ein solches Ziel zu erreichen, in der damaligen Zeit nicht gab.“ (S. 81). Der Jurist Heinrich Muth (1909 – 1985 o. 1986), ein Schüler von Fritz StierSomlo (1873 – 1932), 1935 – 1942 Mitarbeiter des von Reinhard Höhn (1909 – 2000) geleiteten Instituts für Staatsforschung, schloß sich eher Hubers Auffassung über das Indemnitätsersuchen und den deutschen Konstitutionalismus an und bemängelte Schmitts Neigung zu einer „rein antithetische(n) Betrachtungsweise“ (Muth, „Staatswissenschaft und historische Forschung“, Deutsche Rechtswissenschaft, 3 / 1937, S. 346 – 367 (350 – 352). Muth erregte 1971 größeres Aufsehen mit seiner in vielen Details zweifelhaften und Schmitt stark verärgernden Studie „Carl Schmitt in der deutschen Innenpolitik des Jahres 1932“, in Beiträge zur Geschichte der Weimarer Republik, Beiheft 1 der Historischen Zeitschrift, 1971, S. 75 – 147. Zum Schluß dieses sicherlich lückenhaften Berichts sei hingewiesen auf das Buch von Kurt Kaminski, Verfassung und Verfassungskonflikt in Preußen 1862 – 1866. Ein Beitrag zu den politischen Kernfragen von Bismarcks Reichsgründung, Ost-Europa-Verlag Königsberg (Pr) und Berlin W 37, Schriften der Albertus-Universität, VII / 127 S.; die Arbeit wurde wohl im Okt. 1936 als Diss. eingereicht. Kaminski, ein Schüler von Paul Ritterbusch (1900 – 1945) folgt weitgehend Schmitt, kritisiert aber die liberalen Gegner Bismarcks weitaus schärfer als dieser: „Jeder „Stoß von außen“ mußte nach liberaler Prophetie den absolutistischen, aller Volkskräfte baren Staat zerbrechen . . . Die Liberalen setzten es sich daher zum Ziel, die erwartete, doch zum Scheitern verdammte, außenpolitische Aktion Bismarcks, die außerordentliche Geldmittel und den Einsatz der Volkskraft und des Nationalbewußtseins erfordern würde, nach Kräften zu sabotieren und zum Sturz des verhaßten Ministeriums zu benutzen . . . Es konnte bald kein Zweifel mehr bestehen, daß die Opposition ihre starre Haltung bis zu der Konsequenz durchführen würde, der Regierung die Mittel auch im Falle eines feindlichen Angriffs zu verweigern . . . Ist diese Haltung nicht die offene Ankündigung des Landesverrats?“ (auf S. 90 – 92). Kaminski sah die letzte Ursache des Konflikts in der konstitutionellen Verfassung selbst: „Der Verfassungskonflikt als die offene Krisis des

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konstitutionellen Systems demonstriert nur die eine Wahrheit: die Unmöglichkeit eines politischen Prozesses, der nach heterogenen Prinzipien und von verschiedenen Machtträgern gestaltet wird. Das künstliche Überbrückungssystem der konstitutionellen Verfassung in seiner ganzen Unentschiedenheit und inneren Unwahrhaftigkeit ist es, das den staatsgefährdenden Zustand letztlich darstellt. Es ist die offenbare Unmöglichkeit überhaupt einer konstitutionell-verfassungsmäßigen Lösung des Konfliktes, die den Notstand des Staates begründet.“ (S. 94 f.). Obgleich Kaminski des öfteren Schmitt zitiert und ihm auch gerne zustimmt, sieht er doch Bismarck als Sieger des Verfassungskonflikts, da dieser „die politische Situation geradezu souverän beherrscht und die preußische Krone sicher und ungeschwächt aus dem langjährigen Kampf um die Verfassung des Staates herausführt.“ (S. 113 f.). Auch für Kaminski sind die entscheidenden politischen Fehler nach Bismarck geschehen, – dieser konnte und musste so und nicht anders handeln, wie er gehandelt hatte. * Auf eine ganz eigene Art reagierte Schmitts früherer Schüler und Doktorand Otto Kirchheimer (1905 – 1965) auf dessen Schrift. Der Linkssozialist, der 1934 nach Paris, später in die Vereinigten Staaten emigrierte, veröffentlichte 1935 in Paris unter dem Pseudonym „Dr. Hermann Seitz“ eine Broschüre mit dem Titel „Staatsgefüge und Recht im dritten Reich“, deren äußere Aufmachung vollkommen der der Publikationen in Schmitts Reihe „Der deutsche Staat der Gegenwart“ entsprach; die Schrift wurde nach Deutschland eingeschmuggelt. Schmitt forderte am 6. 9. 1935 die Hanseatische Verlagsanstalt auf, in Holland wg. der Verletzung des Copyright zu klagen; die Hanseatische Verlagsanstalt ihrerseits nutzte das Ereignis zu einem Reklameinserat im „Börsenblatt des deutschen Buchhandels“ am gl. Tag. Dort heißt es u. a.: „Herausgeber und Verlag, Verlagssignet und Copyright wurden fälschlicherweise und widerrechtlich verwandt; ebenso wird für den Druckort der bei den Erscheinungen unseres Verlages übliche Text mißbraucht. Die Geheime Staatspolizei verfolgt die staatspolizeiliche Seite der Angelegenheit, während unsererseits bereits die notwendigen zivilrechtlichen Schritte eingeleitet wurden. Wir bitten den deutschen Buchhandel um Übermittlung von irgendwelchen Wahrnehmungen und Nachrichten, die der Aufklärung der Angelegenheit dienen können, und ersuchen, evtl. auftauchende Exemplare der Schrift sofort der nächsten Staatspolizeistelle abzuliefern.“ Der Text Kirchheimers, die Rechtsentwicklung im Nationalsozialismus scharf kritisierend, ist abgedruckt in: Kritische Justiz, 1 / 1976, S. 39 – 59, sowie in: Kirchheimer, Von der Weimarer Republik zum Faschismus. Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung, Frankfurt a. M. 1976, S. 152 – 185. Zu Schmitt-Kirchheimer vgl.: Volker Neumann, Verfassungstheorien politischer Antipoden: Otto Kirchheimer und Carl Schmitt, Kritische Justiz, 3 / 1981, S. 235 – 254, a. in: Der Unrechts-Staat II,

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Baden-Baden 1984, S. 31 – 50; vgl. a.: Riccardo Bavaj, Otto Kirchheimers Parlamentarismus-Kritik. Ein Fall von „Linksschmittianismus“?, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1 / 2007, S. 33 – 51. * Es bleibt mir noch die angenehme Pflicht, mich zu bedanken: bei Herrn Prof. Dr. Jürgen Becker (München) für die Erlaubnis zum Abdruck der Texte Schmitts, bei den Mitarbeitern des Düsseldorfer Hauptstaatsarchivs, das den Nachlaß Schmitts beherbergt, für die stets gern geleistete Unterstützung; bei den Verantwortlichen des Verlages Duncker & Humblot für ihre große Geduld. Ratschläge, Materialien, Hinweise erreichten mich von Alain de Benoist (Paris), Dr. Gerd Giesler (Berlin), PD Dr. Ewald Grothe (Wuppertal), Dr. Gabriel Guillén Kalle (Madrid), Prof. Dr. Hans-Christof Kraus (Passau), Dr. Christian Tilitzki (Berlin) und Prof. Dr. Piet Tommissen (Brüssel). Nur in einer Hierarchie finden alle Platz und so möchte ich besonders meine liebe Frau Sigrid und meinen unermüdlich hilfsbereiten Freund Andreas Raithel (Hürth b. Köln) hervorheben. G. M.

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Vorwort Von Günter Maschke „Der Sieg des Bürgers über den Soldaten“ – der Untertitel von Carl Schmitts schmaler und letztlich rätselhaft bleibender Schrift aus dem Jahre 1934 hat manchen heutigen Leser verblüfft, der zunächst einen kapitalen Fehler des Setzers vermutete. Müßte es denn nicht „Der Sieg des Soldaten über den Bürger“ heißen und ging das Zweite Reich nicht an seinem ,Militarismus‘ zugrunde, an der Übertragung der militärischen Subordination in das zivile Leben und an der „Auffassung des militärischen Berufes als eine der bürgerlichen Gesittung überlegene höhere Lebensform“?1 War es nicht der aus Preußen über das Reich hereinbrechende ,Militarismus‘ gewesen, der, zur Zeit Bismarcks noch leidlich kontrolliert und kanalisiert, in der Ära Wilhelms II. die zivile Sphäre deformierte und zersetzte und schließlich zur Überwältigung der politischen durch die militärischen Gesichtspunkte führte? Es war doch offensichtlich, daß die autoritäre preußisch-deutsche Militärmonarchie, dem Liberalismus gegenüber feindselig und sich der Parlamentarisierung und Demokratisierung2 hartnäckig widersetzend, unfähig war zu wehrpolitischer Mäßigung 1 Eckart Kehr (1902 – 1933), Zur Genesis des Königlich Preußischen Reserveoffiziers (zuerst 1928), in: Ders., Der Primat der Innenpolitik, 2. Aufl., Frankfurt / M. 1970, S. 53 – 63, 54. „Das Heer ist nicht nur Veranstaltung oder Werkzeug, sondern vor allem eine Lebensform des Volkes“ schrieb Rudolf Smend (1882 – 1975) in: Verfassung und Verfassungsrecht (1928), Nachdruck in: Ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl., Berlin 1968, S. 119 – 276, 161. – Zum „Militarismus“ u. a.: Erhard Assmuss, Die publizistische Diskussion um den Militarismus unter bes. Berücksichtigung der Geschichte seines Begriffs i. Deutschland u. seiner Beziehung zu den polit. Ideen zw. 1850 u. 1950, Diss. Erlangen 1951; Gerhard Ritter (1888 – 1967), Staatskunst und Kriegshandwerk – Das Problem des ,Militarismus‘ in Deutschland, 4 Bde., München 1954 – 1967; Werner Picht, Der Begriff ,Militarismus‘, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1954, S. 455 – 469; Volker R. Berghahn (Hrsg.), Militarismus, Köln 1975; Werner Conze / Michael Geyer / Reinhard Stumpf, Militarismus, in: Otto Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, IV, Stuttgart 1978, S. 1 – 47. 2 Daß Parlamentarismus und Demokratisierung nicht zwingend zusammengehören zeigt: Christoph Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung – Einflußgewinn und fehlende Herrschaftsfähigkeit des Reichstages im sich demokratisierenden Kaiserreich, Historische Zeitschrift, 272, 3 / 2001, S. 623 – 666. Dort als Resumé: „Die wachsende Partizipation breiter Bevölkerungsschichten trieb die Parlamentarisierung nicht voran, sondern behinderte sie . . . Die Demokratisierung zeichnete die vielfältige Segmentierungen der wilhelminischen Gesellschaft nach und verstärkte sie. Hieraus entstand ein Herrschaftssystem des gouvernementalen Konsensualismus“.

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XXIV

Vorwort

und zur Verständigungspolitik und daß dieses System der Herrschaft von Beamten und Militärs – wenn nicht der von Militärs über Beamte – keine wirklichen Politiker hervorbrachte, die doch nur in der harten Schule echter parlamentarischer Kämpfe sich entwickeln konnten.3 Wo aber gab es im deutschen ,Scheinkonstitutionalismus‘ mit seinen gegenüber den Regierungen so schwächlichen Abgeordnetenhäusern diese echten Kämpfe? Unter der Halbdiktatur einer unfähigen Machtelite stolperte Deutschland 1914 in den Großen Krieg, der Europas Stellung in der Welt zerstörte, – wenn diese Führungsschicht den Krieg nicht sogar selbst entfesselt hatte. Ja, war nicht bereits das 1890 endende Reich Bismarcks eine Gründung wider „den Geist der Zeit“ gewesen, ein System, das sich ständig „im Kriegszustand mit den Ideen des Jahrhunderts“ befand und das auf einer fast absurden, flickenhaften Verfassung beruhte, „halb preußische Kaserne, halb Cäsarenpalast“4, – ein Wesen, das nur so lange zu leben vermochte wie sein Schöpfer, der fähige Nachfolger nicht fand und nicht suchte, Regierungschef blieb? Da die Reichsverfassung Bismarck „wie auf den Leib zugeschnitten“ war (weil er sie sich selbst geschneidert hatte), mußte sie „wohl auch mit ihm zu Grabe gehen, weil sie für keinen anderen passen würde“. Fehlte dieser Verfassung denn mehr als der Zusatzartikel „Der Kanzler altert nicht und ist unsterblich“?5 3 So die Quintessenz der hartnäckigen Kritik Max Webers (1864 – 1920) die z. T. auch die Bismarcks mit einschloß; vgl. Weber, Gesammelte politische Schriften, 3. Aufl., Tübingen 1971, dort die Beiträge aus den Jahren 1896 – 1919; s. a. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890 – 1920, 2. Aufl., Tübingen 1974, bes. S. 147 – 205. 4 Vgl. Johannes Ziekursch (1876 – 1945), Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches, 3 Bde., Frankfurt / M. 1925 – 1930; Bd. I, S. 3, 181, 328. Z. schreibt ü. Bismarcks Reichsverfassung: „Dem alten Deutschen Bunde war der eine Teil entlehnt, der Reichsverfassung von 1849 ein zweiter, der preußischen ein dritter, den Zeiten des Absolutismus ein vierter und ein fünfter dem napoleonischen Regiment . . . Die so verschieden gearteten Teile hatte der Baumeister für seine besonderen Zwecke umgebaut; über das Ganze erhob sich beherrschend und die Teile zu einer Einheit zusammenfassend der Zentralbau, halb preußische Kaserne, halb Cäsarenpalast.“ (Bd. I, S. 224 f.). – Z., Linksliberaler u. Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, betonte stark die „künstliche Ausschaltung Preußens und Deutschlands aus der allgemeinen europäischen Entwicklung“; er kritisierte die seiner Meinung nach verspätete Wendung zum parlamentarischen Regime, aber auch die „zu abrupte“ Einführung des allgemeinen Wahlrechts; daß die Phase des bürgerlichen Parlamentarismus übersprungen wurde, hielt er für bes. schädlich. Ü. Ziekursch: Hans Schleier, in: Jahrbuch f. Geschichte, 3, 1969, S. 137 – 199; Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges – Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980, bes. S. 219 – 225. 5 Constantin Frantz (1817 – 1891), Die Weltpolitik unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland, Chemnitz 1882 / 83, Zweite Abtheilung, S. 40. Vgl. von Frantz auch: Der Militairstaat, Berlin 1859 (dort S. 51: „Die parlamentarische Regierung ist das Grab des Militairstaates“); Bismarckismus und Fridericianismus, München 1873; Die Genesis der Bismarckschen Ära und ihr Ziel, ebd. 1874.

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Vorwort

XXV

Doch gewöhnlich werden sich hier Bismarcks Kritiker mit höflicheren und zurückhaltenderen Betrachtern einig. Deutschlands Schuld lag nach ihnen vor allem darin, nicht begriffen zu haben, daß die parlamentarische Demokratie, ob nun monarchisch verziert oder nicht, das eigentliche Ziel der gesamteuropäischen Verfassungsentwicklung war, sodaß es seinen Mangel an zeitgemäßen Institutionen mit zunehmendem Chaos in der Reichsleitung und mit bald hoffnungsloser Isolation in der Staatenwelt bezahlen mußte; die Einkreisung war nur das Ergebnis der kopflos betriebenen Selbstauskreisung. Die außenpolitischen Eskapaden und die bramabarsierenden Reden des Kaisers bildeten da nur noch eine den Herd der tödlichen Krankheit enthüllende Fassade. Aber ob man nun die Zeit Bismarcks als eine bewertet, in der noch politisches Augenmaß herrschte und die Tugend des ,Mehr sein als scheinen‘ einigermaßen fortgalt oder ob man bereits in ihr die Lineamente der eitlen Großmannssucht des Wilhelminismus mit seiner polternden Prestigepolitik entdeckt, die oft nur im kleinlauten Rückzug endete, – „nichts reizt so sehr zu Mißtrauen und Widerstand wie eine abrupte Machtäußerung ohne wirklichen oder ersichtlichen politischen Zweck“6 –, auch hier finden heutige Beobachter zusammen und ergänzen die These von der fehlenden Parlamentarisierung mit der Behauptung, die Ursache der Misere und der späteren Katastrophe des Zweiten Reiches habe im ,Versagen‘ oder im ,Verrat‘, im ,Scheitern‘ oder in der ,Tragödie‘ des deutschen Liberalismus gelegen.7 Weil die liberalen Vertreter des Preußischen Abgeordnetenhauses (zumindest mehrheitlich) am 3. 9. 1866 Bismarck die Indemnität erteilten8 und damit die ihrer Überzeugung nach nicht verfassungskonforme etatlose Regierungszeit nachträglich legalisierten und legitimierten, hätte sich „die liberale Bewegung dadurch endgültig um ihre politische Kraft gebracht . . . Die Alternative von Nationalem oder Liberalem, die sich 1866 auftat, mußte für sie tödlich werden. Indem der Liberalismus um der Verwirklichung des Nationalen willen seinen liberalen Rechtsstandpunkt nicht mehr verteidigte, war sein moralisches Rückgrat gebrochen und die Annahme aller weiteren Verfassungskompromisse unvermeidlich.“9 Hugo Preuß (1860 – 1925), Das deutsche Volk und die Politik, Jena 1915, S. 11. Vgl. etwa Friedrich Sell, Die Tragödie des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1953; Klaus Schwabe, Das Indemnitätsgesetz vom 3. September 1866 – eine Niederlage des deutschen Liberalismus?, in: Heinrich Bodensiek (Hrsg.), Preußen, Deutschland und der Westen, Göttingen 1980, S. 83 – 102. 8 Zu Indemnitätspolitik u. -gesetz a.: Gerhard Ritter, Die Entstehung der Indemnitätsvorlage von 1866, Historische Zeitschrift, 114, 1915, S. 17 ff.; Georg Frhr. v. Eppstein / Conrad Bornhak (Hrsg.), Bismarcks Staatsrecht – Die Stellungnahme des Fürsten Otto von Bismarck zu den wichtigsten Fragen des Deutschen und Preußischen Staatsrechts, 2. Aufl., Berlin 1923, bes. S. 353 – 360; Ernst Rudolf Huber (1903 – 1990), Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 2. Aufl., Bd. III, Stuttgart 1978, bes. S. 348 – 369; vgl. v. Huber auch: Heer und Staat in der deutschen Geschichte, 2. Aufl., Hamburg 1943, S. 226 – 244. 9 Ernst Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, Berlin 1995 (zuerst 1961), S. 149 f. 6 7

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XXVI

Vorwort

Die Akzeptierung der Indemnitätsvorlage hätte, so hören wir weiter, „dem parlamentarischen Machtstreben die Sehnen“10 zerschnitten. Für die Mehrheit der Kommentatoren ist die Niederlage der liberalen Parlamentarier offenkundig11, da sie ja gegenüber einem zustimmungslos vorgenommenen Regierungsakt, der ihrer Meinung nach zustimmungspflichtig gewesen war, die Indemnität aussprachen, was angeblich nichts anderes bedeutete, als daß damit das Abgeordnetenhaus selbst sein bisheriges Machtstreben verurteilte.12 Doch inwieweit der betreffende Regierungsakt wegen der Art und Weise seines Zustandekommens tatsächlich ein Verstoß gegen die Verfassung war, ist bei den Schwierigkeiten der Interpretation nicht zu klären13; in kritischen Zeiten bleibt wenig anderes übrig, als die Entscheidung den faktischen Machtverhältnissen zu überlassen und die vollendeten Tatsachen achselzuckend als Recht anzuerkennen. „Wieviel unnütze Mühe hat man sich gegeben, die budgetlose Wirtschaft in Preußen 1862 – 66 wenigstens bis zu einem gewissen Grade als rechtmäßig nachzuweisen!“, seufzte Georg Jellinek einmal14; mit vielleicht größerer Plausibilität hätte sein Satz enden können mit „. . . als unrechtmäßig nachzuweisen“! Gewichtiger scheint die These, daß Bismarck im Verfassungskonflikt triumphierte, weil das Indemnitätsgesetz vom 14. 9. 1866 nur die budgetrechtliche, nicht aber die wehrrechtliche Seite der Frage betraf.15 Das preußische Abgeordnetenhaus, seine Zustimmung zum Staatshaushalt 1862 / 63 von der EinZiekursch, wie 4, Bd. I, S. 199. Vgl. Schwabe, wie 7. 12 So Ziekursch, wie 4, Bd. I., S. 198. 13 Bismarck behauptete mit seiner „Lückentheorie“ (Rede v. 27. 1. 1863, in: Werke in Auswahl, III, 2001, S. 57 – 64), daß, schweige die Verfassung darüber was geschehen solle, komme es zwischen König und Abgeordnetenhaus zu keiner Einigung über das Haushaltsgesetz, die alleinige Entscheidungsgewalt beim Könige liege,– „weil das Staatsleben auch nicht einen Augenblick stillstehen kann“, widerspräche ein budgetloses Regiment nicht der Verfassung. Nach der „Appelltheorie“ mußte der König in einem solchen Falle das Abgeordnetenhaus auflösen und an das Wahlvolk appellieren, „um mit einem anders zusammengesetzten Parlament die Durchsetzung der Regierungspolitik zu versuchen“ (Willoweit). Die „Lückentheorie“, oft als krypto-absolutistisch u. pseudo-juristisch abgetan, entsprach dem preuß. Konstitutionalismus mit seinen „existentiellen Vorbehalten“ (Huber) und seinem monarchischen Prinzip wohl eher; ein Sich-Ausrichten an der „Appelltheorie“ hätte wegen der dann möglichen definitiven Unterwerfung unter das Budgetrecht Bismarcks Pläne gefährdet. Vgl. Huber, wie 8, S. 17 f., 309 – 312, 333 – 343; Hans Boldt, Verfassungskonflikt und Verfassungshistorie – Eine Auseinandersetzung mit Ernst Rudolf Huber, in: E. W. Böckenförde (Hrsg.), Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert, Berlin 1975, S. 75 – 102; Ders., Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf 1975, S. 131 – 193, 286 f.; Hans-Christof Kraus, Ursprung und Genese der „Lückentheorie“ im preußischen Verfassungskonflikt, in: Der Staat, 2 / 1990, S. 209 – 234; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Aufl., München 1997, S. 249 – 252. Vgl. Anmerkung 61, S. XLI; S. 53 f., Anm. 11. 14 Georg Jellinek (1851 – 1911), Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1922, S. 359. 15 So mit Nachdruck Huber, wie 8, S. 363 – 365 u. ö. 10 11

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Vorwort

XXVII

führung der zweijährigen Militärdienstpflicht und der Erhaltung der Landwehr abhängig machend, konnte beide Forderungen nicht durchsetzen und erreichte nur die erst mit der Indemnität erfolgende Zusage der Regierung, künftig das Budgetrecht des Hauses zu respektieren. Der Versuch, mittels des Budgetrechts an der Kommandogewalt über das Heer zumindest teilzuhaben, scheiterte vollständig. Die Kommandogewalt verblieb ungeschmälert bei der Krone, alle die die Dienstzeit, die Heeresstärke, die Heeresorganisation, die Befehlsverhältnisse usw. betreffenden Fragen blieben Sache des ,Staates im Staate‘ und damit des ,Kriegsherrn‘, dessen Anordnungen auch weiterhin keiner ministeriellen Gegenzeichnung bedurften. Der Dualismus von Soldatenstaat und konstitutionellem Staat wurde so eher befestigt als nur bekräftigt und für viele blieb damit das Heer, das weiterhin nicht auf die Verfassung, sondern auf den König vereidigt wurde, eine extrakonstitutionelle Größe, Preußen nur ein partieller Verfassungsstaat und vielleicht nicht einmal ein ,Rechtsstaat‘. Der Sieg des Soldaten über den Bürger zeigt sich nach vorherrschender Meinung auch darin, daß, nachdem die Mehrzahl der liberalen Abgeordneten sich zur Annahme des Indemnitätsersuchens entschloß und eine immerhin noch erkleckliche Zahl dieses ablehnte, die Fortschrittspartei spaltete.16 Die nunmehr entstehende Nationalliberale Partei unterstützte Bismarck bis 1878 so daß auch dadurch die Fortdauer des Soldatenstaates gesichert schien. Aber Bismarck war von dieser Unterstützung weitgehend abhängig und sah sich gezwungen, sie mit massiven Zugeständnissen mindestens an den Wirtschaftsliberalismus zu bezahlen und die rasch an Umfang zunehmende Reichsgesetzgebung an liberalen Vorstellungen auszurichten; zeitweise betrieb er durchaus eine liberale Politik.17 Der Liberalismus war also, nach einer angeblich geradezu vernichtenden Niederlage, runde elf Jahre Teilhaber der Macht! Wer ein ,Versagen‘, einen ,Verrat‘, eine ,Tragödie‘ usw. des Liberalismus behauptet, unterstellt damit, daß dieser mit seinen sozusagen ideellen Vorstellungen und Zielen – vor allem ,Freiheit‘ und parlamentarisches System – dekkungsgleich sei bzw. zu sein habe; daß die von ihm gern mit großem Pathos proklamierten Ziele unverzichtbar und nicht verhandelbar seien. Hätte jedoch Huber, wie 8, S. 369. Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, II, München 1990, S. 184 – 186, spricht treffend von der Reichsverfassung als einem „liberal-gouvernementalen Kompromiß“ u. weist auf die zahlreichen liberalen Gesetzeswerke hin, u. a. Freizügigkeitsgesetz 1867, Gewerbeordnung 1869, Reichstrafgesetzbuch 1870, Reichspreßgesetz 1877, Zivilprozeßordnung u. a. m. Die „liberale Phase“ Bismarcks endete mit dem Übergang vom Freihandel zur Schutzzollpolitik ab 1878 („Zweite Reichsgründung“), dazu u. a.: Ludwig Maenner, Deutschlands Wirtschaft u. Liberalismus in der Krise von 1879, Berlin 1928; Emil Ruschen, Bismarcks Abkehr vom Liberalismus 1877 – 1878, Diss. Köln 1937; Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, Köln 1966, bes. S. 213 – 420; Rudolf Vierhaus / Gisela Stüer (Hrsg.), Die Wendung in der deutschen Innenpolitik 1878 / 79 (Dok.), Göttingen 1967. 16 17

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XXVIII

Vorwort

der Liberalismus im August 1866, einen Monat nach dem Tag von Königgrätz (und nach seiner Wahlniederlage an eben diesem Tage!) sich seiner vermeintlichen Pflichten und seiner ihm zugeschriebenen Prinzipien erinnert und das Indemnitätsersuchen abgelehnt, so wären die bis heute stattfindenden Diskussionen um seinen Tod oder Nicht-Tod müßig, – er wäre, nach einer damaligen Redewendung, sofort „erschossen wie Robert Blum“ gewesen. Doch abgesehen davon, daß selbst deutsche Liberale zur Einsicht fähig sein können, daß das ,Nationale‘ vor dem ,Liberalen‘ zu stehen hat und daß die möglichst machtvolle Existenz des Staates wichtiger ist als die einem zupaß kommende Interpretation seiner Verfassung, – ,den‘ deutschen Liberalismus gab es gar nicht.18 Er war ideologisch uneinheitlicher, regional unterschiedlicher, sozial zersplitterter als in anderen Ländern. Zudem sind auch Liberale erst einmal bourgeois und erst danach vielleicht citoyens und erkennen, besonders wenn sie bereits vom Proletariat bedroht sind, den Wert einer starken Staatsmacht. Und zur beträchtlichen Verwunderung der Liberalen setzte der vermeintlich reaktionäre Junker Bismarck die ihnen gemeinsame, von ihren ökonomischen Interessen her gut begründbare Forderung durch, daß Deutschland eins werde. Daß aber Preußen, sich nach kurrenter Meinung bei erfolgter Einigung Deutschlands unvermeidlicherweise liberalisieren werde und eine bessere freiheitliche Perspektive bot als das zurückgebliebene, halbabsolutistische und katholische Österreich, war für jeden Liberalen, ganz gleich welcher Couleur, nicht zu bezweifeln. Von einem ,Scheitern‘, einem ,Versagen‘, einem ,Verrat‘ o. ä. des deutschen Liberalismus zu sprechen ist also nur dann möglich, wenn man eine seiner Ausformungen, sagen wir: die idealistisch-deklaratorische, als die allein wahre und gültige ansieht. Man vergißt leicht, daß auch im Bismarck-Reich die Grundrechte und bürgerlichen Sicherheiten, die bürgerliche Machtteilnahme usw. gesichert waren, daß ein umfassender Rechtswegeanspruch19 bestand. Und es sollte nachvollziehbar sein, daß eine Klasse sich mit der Lockerung ihres politischen Jochs zufriedengibt, falls sie nur endlich ihre vorrangigen Interessen mit Energie verfolgen kann, falls sie dadurch der „Abschüttelung der Bande, welche den egoistischen Geist der bürgerlichen Gesellschaft gefesselt hielten“20 zumindest näherkommt. Nach 1849 / 49 hatten die Liberalen begriffen, daß sich ohne Macht nichts machen läßt und daß die edelsten Inten18 Vgl. etwa Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. II, Ausg. 1975, S. 390 – 403 („Die Gruppen des deutschen Liberalismus“); James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus – Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770 – 1914, München 1983 (zuerst engl. 1978), S. 66 ff., 120 ff., 147 – 154, 165 ff. 19 Dazu a.: Huber, Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem (1973), in: Ders., Bewahrung und Wandlung – Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Berlin 1975, S. 132 – 151. 20 Karl Marx, Zur Judenfrage (1843 / 44), in: Ders., Die Frühschriften, Stuttgart 1953, S. 171 – 207, 197; a. in: Marx-Engels-Werke, I, Berlin 1956, S. 347 – 377, 369.

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Vorwort

XXIX

tionen am Fels der Realpolitik zerschellen, deren Regeln ein einsichtig gewordener Liberaler formulierte20a und ein bis dahin verteufelter Junker virtuos anwandte. „Die Bahn der Macht“, so rief der mit nicht allzuviel gutem Willen als Liberaler einzustufende Friedrich Christoph Dahlmann am 27. 1. 1849 in der Frankfurter Paulskirche aus, „ist die einzige, die den gärenden Freiheitstrieb befriedigen und sättigen wird, – denn es ist nicht bloß die Freiheit, die der Deutsche meint, es ist zur größeren Hälfte die Macht, die ihm bisher versagte, nach der es ihn gelüstet.“21 Jetzt war, ausgerechnet mit und dank Bismarck, die Chance zur Verwirklichung zentraler liberaler Ziele gegeben. Weshalb sollte sich da der Liberalismus puristisch-doktrinär verhalten, weshalb sollte er sich Bismarck verweigern, der ihm erst einmal ein beträchtliches Quantum an Macht konzedierte, nein, konzedieren mußte? In Voraussicht der kommenden, unvermeidlichen Kämpfe um die Durchsetzung der Einheit Deutschlands konnte sich Bismarck nicht die einflußreichste aller diese Einheit wollenden Gruppierungen zum Feinde machen, – zumal ihn ,seine‘ Konservativen im Stich ließen.22 Bismarck „brauchte zu seinem Werk alle willigen Kräfte des liberalen Bürgertums . . . eine reaktionäre oder auch nur weniger versöhnliche Politik hätte alle weitergespannten Pläne zunichte gemacht.“23 Bismarcks Ersuchen um Indemnität war also nur eine realpolitische Notwendigkeit, wenn auch eine des höchsten Ranges. Seine Weitsicht zeigte sich auch darin, daß er schon während der Anfänge des Konflikts den diesen beendenden Friedensschluß mit den Nationalliberalen plante und das hierauf 20a Ludwig August v. Rochau (1818 – 1873), Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands (1. Teil 1853, 2. Teil 1869), hrsg. v. H. U. Wehler, Frankfurt / M. 1972; vgl. zu Rochau: S. A. Kaehler, Realpolitik zur Zeit des Krimkrieges – Eine Säkularbetrachtung, in: Historische Zeitschrift, 174, 1952, S. 417 – 478, bes. S. 417 – 429; Karl Georg Faber, Realpolitik als Ideologie – Die Bedeutung des Jahres 1866 für das politische Denken in Deutschland, ebd., 203, 1966, S. 1 – 45; a. Huber, wie 18, S. 386 – 388. 21 Zit. nach Friedrich Meinecke (1862 – 1954), Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 3. Aufl., München u. Berlin 1929, S. 493; zur Bejahung der Machtstaatsidee bei vielen Liberalen um 1850 a. Huber, wie 18, S. 383 – 386. – Dahlmann (1785 – 1860) bemerkte in s. Hauptwerk „Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt“ (1835): „Die Militär-Verfassung sey an gesetzliche Bestimmung geknüpft, aber ein Parlament, welches die Kriegsmacht befehligt, ist der Krone Sturz.“ (Insel-Ausgabe 1997, S. 76). 22 Zum schwierigen u. konfliktiven Verhältnis zw. Bismarck u. den Konservativen: Hans-Christof Kraus, Bismarck und die Konservativen, Friedrichsruh 2000; dort gute Literaturhinweise. – Der Liberale Karl Twesten (1820 – 1870) erklärte in einer Rede am 17. 4. 1866, daß die konservative Partei in einer Zersetzung begriffen sei, „welche ich Herrn v. Bismarck zu einem sehr großen, wenn auch nicht gewollten Verdienste, anrechne“, in: Ernst Ludwig v. Gerlach, Von der Revolution zum Norddeutschen Bund, hrsg. v. H. Diwald, 2 Bde., Göttingen 1970; II, S. 1301. 23 Kurt Kaminski, Verfassung und Verfassungskonflikt in Preußen 1862 – 1866 – Ein Beitrag zu den politischen Kernfragen von Bismarcks Reichsgründung, Königsberg u. Berlin 1938, S. 105.

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XXX

Vorwort

folgende Bündnis mit ihnen bedachte.24 Mit welch unterschiedlicher Nuancierung man dabei auch die „Indemnität“ beurteilen mag25, – sie bedeutete weder (so bis heute die Mehrheitsmeinung) den Sieg Bismarcks über einen angeblich Selbstverstümmelung betreibenden Liberalismus noch (so Carl Schmitt) seine Kapitulation vor diesem; eine Kapitulation, die zunächst kaum bemerkt wurde, die aber laut Schmitt bald desaströse Auswirkungen zeitigen sollte. Doch wer Politik treibt, muß mit den Mädchen tanzen, die greifbar sind und sollte diese möglichst nicht verärgern. Die Antwort auf die Frage „Wer-wen?“ bleibt trotzdem schwierig und mag am Ende nur ein lever les épaules sein. Über diese realpolitische Notwendigkeit schweigt Schmitt in vorliegender Schrift beharrlich, – dies tut ein Mann, der sonst nicht müde wurde, von konkreten Verfassungslagen, konkreten Situationen, konkreten Ordnungen usf. zu sprechen. Man versteht zwar seine Empörung, daß ausgerechnet ein Parlament um eine Art Generalpardon gebeten wurde, „das alles getan hatte, um den Sieg unmöglich zu machen (und) gegen dessen lautes Geschrei und offenen Widerspruch die Heeresorganisation durchgeführt und der Sieg errungen“ (S. 17) wurde. Doch abgesehen davon, daß die Liberalen, von denen sich etliche reuig-einsichtsvoll zeigten26, nunmehr zugaben, mit ihrem Kampf gegen die Heeresreform und mit ihrer Verweigerung der Finanzmittel die Armee gefährdet zu haben und damit die einzige Organisation, die ihr vornehmstes Ziel, die deutsche Einheit, durchsetzen konnte und trotz ihrer zähen Obstruktionspolitik auch durchsetzte, – wie hätte Bismarck sich denn 1866 verhalten sollen? Schmitt ist sich der Zwangsläufigkeit der Entwicklung seit 1848 / 50 bewußt gewesen, schreibt er doch, daß „die liberale Bewegung des Jahres 1848 . . . den preußischen Staat gezwungen (gezwungen! – G. M.) (hatte), sich auf eine „Verfassung“ einzulassen“ (S. 7); gleichwohl hält er Bismarcks Indemnitätsersuchen für einen grundsätzlichen Mißgriff, der die bereits inganggekommene Fehlentwicklung endgültig machte. Wie viele Autoren seiner Zeit wagt er es dabei nicht, Bismarck offen zu kritisieren, obgleich dieser sich, so Schmitts Überzeugung, der Rechtsauffassung des Feindes unterworfen habe. Allein interessant ist jedoch, welches politische Gewicht einer Rechtsauffassung zukommt! Bei allen oft bestechenden Bemerkungen Schmitts zu den Implikationen und Folgen des Dualismus Soldatenstaat – konstitutioneller Staat reicht es, 24 Bereits am 13. 10. 1862 äußerte Wilhelm I. in einer königl. Botschaft die Hoffnung, daß die budgetlosen Ausgaben „die nachträgliche Genehmigung“ des Abgeordnetenhauses erhalten würden; vgl. a. Huber, III, wie 8, S. 308. 25 Zu den Deutungsmöglichkeiten Huber, III, wie 8, S. 354 – 369. 26 Vgl. die berühmte Schrift von Hermann Baumgarten (1825 – 1893), Der deutsche Liberalismus – Eine Selbstkritik (1866), Nachdruck 1974; der Meinungs- u. Stimmungsumschwung bei vielen Liberalen um 1866 ist dokumentiert bei: Julius Heyderbrand / Paul Wentzke (Hrsg.), Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks – eine politische Briefsammlung, 2 Bde., Bonn / Leipzig 1925 / 26.

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Vorwort

XXXI

kommt die Rede auf Bismarck, nur zu der verlegenen Wendung, daß „es töricht wäre, nachträglich mit Bismarck zu rechten oder gar etwa der konservativen Reaktion jener Zeit recht zu geben“ (S. 18). Doch die Distanzierung Schmitts von der „konservativen Reaktion jener Zeit“ mutet ziemlich hilflosrhetorisch an. Wenn der vermutlich noch sehr lange Weg zur Parlamentsherrschaft nicht beschritten werden sollte, die Bismarcksche Lösung, mittels der „die Mehrheit der Volksvertretung auf die Seite der Regierung (gezogen wurde), ohne die Unabhängigkeit der Königsgewalt preiszugeben“27 jedoch ebenfalls abzulehnen war, gab es doch nur noch die mit militärischen Mitteln zu erzwingende Rettung des preußischen Soldatenstaates, d. h. den Staatsstreich oder Präventiv-Staatsstreich à la Edwin v. Manteuffel.28 Mußte sich Schmitt nicht, bedenkt man seine gesamte Argumentation, zugunsten dieser von Bismarck vermiedenen bzw. verhinderten Lösung aussprechen?29 Schmitt bedeutendster Schüler, Ernst Rudolf Huber, beschrieb die wahrscheinlichen Folgen eines solchen Staatsstreiches treffend: Er „hätte in Preußen zur Herrschaft der reaktionären Militär- und Adelskaste, die zugleich die Repräsentanten des altpreußischen Partikularismus waren, geführt. Die preußische Staatsstreichpartei hätte zu ihrer Selbstbehauptung dringend des Rückhalts an Österreich bedurft; sie hätte in der deutschen Frage dem österreichischen Kurs folgen müssen; ein Beitrag zur nationalen Einigung war von ihr nicht zu erwarten. Der Staatsstreich hätte daher innenpolitisch den Widerstand der Mehrheit der Bevölkerung gegen die Regierung, außenpolitisch aber die erneute Unterwerfung Preußens unter die österreichische Hegemonialpolitik herbeigeführt.“30 Auf die Auseinandersetzung mit dieser außenpolitischen Problematik kann Schmitt verzichten, weil er die Staatsstreichlösung mit einem so schlichten wie bequemen „töricht“ beiseite schob. Doch wo werden in seiner Schrift die zum Verfassungskonflikt, d. h. zu dessen konkreter Situation gehörenden außenpoHuber, III, wie 8, S. 367. Vgl. Huber, III, wie 8, S. 302; W. Gradmann, Die polit. Ideen Edwin v. Manteuffels u. ihre Auswirkungen auf seine Laufbahn, Diss. Tübingen 1932; Ludwig Dehio, Die Pläne der Militärpartei und der Konflikt, in: Deutsche Rundschau, Nov. 1927, S. 91 – 100. 29 E. W. Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert (1967), in: Ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt / M. 1991, S. 273 – 305, kritisiert S. 299 Hubers These von der Nähe Schmitts zu den Ultra-Konservativen und deren Einwänden gg. Bismarcks Indemnitätspolitik (Huber, III, S. 366) und erklärt: „. . . zwischen der legitimistisch-romantischen Auffassung der Monarchie bei den Brüdern Gerlach und der von Schmitt vertretenen Entgegensetzung von „preußischem Soldatenstaat“ und „bürgerlichem Verfassungsstaat“ liegt doch eine ganze Welt.“ Zweifellos, doch Schmitt befindet sich wohl eher in der Nähe v. Manteuffels; Ernst Ludwig v. Gerlach (1795 – 1877) notierte in s. Tagebuch am 13. 11. 1862: „Manteuffel erschien viel zuverlässiger als Bismarck. Absolutisten sind sie beide.“ (v. Gerlach, wie 22, Bd. I, S. 438). 30 Huber, III, wie 8, S. 350. 27 28

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Vorwort

litischen Fragen auch nur oberflächlich erwähnt, geschweige denn erörtert? Die Schwierigkeiten der Lage Bismarcks werden allenfalls zu einem kleinen Teil sichtbar. Bismarck, dem es mittels des Indemnitätsersuchen immerhin gelang, sowohl die Liberalen als auch die Konservativen zu spalten und zu lähmen31, vermochte es, die Lage zu stabilisieren und mit Hilfe des größeren Teils der zukunftsfähigen Klasse die nächsten, außerordentlich riskanten Schritte zu gehen. Mag sein, daß er im Grenzbereich der verfassungsmäßigen Legalität handelte, aber einen offenen, nicht zu bestreitenden Verfassungsbruch wollte und konnte er vermeiden. Seine Lösung war auch kein Scheinkompromiß, wie Schmitt behauptet, denn es dürfte ihm und nicht nur ihm klar gewesen sein, daß der Kampf bald weitergehen würde. Kompromisse sind in der Politik zwar unentbehrlich, aber sie sind nur Waffenstillstände und können nur bei Fragen minderen Ranges länger dauernden Frieden beinhalten. Ein anderer Politiker hätte freilich die Gelegenheit benutzt und die Liberalen innenpolitisch vernichtet, d. h. die Opposition bis ins Mark gedemütigt.32 Doch „klugen Leuten geziemt es, zunächst das Ende eines Unternehmens ins Auge zu fassen und es erst dann ins Werk zu setzen“ meinte schon Aesop. In der Politik bedeutet das nicht, Wechsel auf eine 30 oder 40 Jahre entfernte Epoche zu ziehen, zehn oder auch nur fünf Jahre in den Grundlinien vorauszusehen ist hier schon sehr viel. Schmitt, der den einmal gegebenen und nicht mehr überwindbar scheinenden Dualismus Soldatenstaat / Konstitutionalismus oft eindringlich und präzise schildert, vermag es auch, die kontinuierlich zunehmende Macht eines jedoch letztlich verantwortungslos bleibenden Parlamentarismus zu verdeutlichen, der sich mit Kontrolle und Kritik, mit Steuerbewilligung, Mitarbeit an der Gesetzgebung und Petitionsrecht begnügen mußte und meist auch begnügen wollte, der „nicht nach der Regierung, sondern nach Macht über die Regierung“33 strebte und überwiegend „negativer Parlamentarismus“33a blieb. s. Kraus, wie 22. So die Kritik vieler Konservativer an Bismarck um 1866. Dieser schrieb am 3. 8. 1866 an s. Frau: „. . . Lippe [Leopold Graf zur Lippe-Biesterfeld-Weißenfeld, 1815 – 1889, preuß. Justizminister 1862 – 1867] führt das große Wort im conservativen Sinne gegen mich, und Hans Kleist [Hans v. Kleist-Retzow, 1814 – 1892, preuß. Oberpräsident] hat mir einen aufgeregten Brief geschrieben. Die Leutchen haben alle nicht genug zu thun, sehn nichts als ihre eigne Nase und üben ihre Schwimmkunst auf der stürmischen Welle der Phrase. Mit den Feinden wird man fertig, aber die Freunde!“ (Bismarck, Werke in Auswahl, III, 2001, S. 781). 33 Georg Jellinek, Regierung und Parlament in Deutschland – Geschichtliche Entwickelung ihres Verhältnisses, Leipzig 1909, S. 35. Jellinek bemerkt weiter: „Da sie sämtlich Minoritätsparteien sind und ihnen auf Grund der vorhandenen sozialen Verhältnisse die Aussicht mangelt, jemals zu einer geschlossenen Mehrheit zu gelangen, so ist das herrschende System der reinen Beamtenregierung ihren Zwecken viel zuträglicher als ein parlamentarisches Regiment. . .“. 31 32

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Vorwort

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Doch schon aufgrund der Industrialisierung und Unifizierung des Reichs mit der damit einhergehenden Gesetzesflut nahm die Macht des Reichstags bis 1914 ständig zu.34 Der indirekte Einfluß der parlamentarischen Parteien stieg zwar, aber sie konnten bestenfalls einen Minister aus dem Amt drängen oder eine Ernennung verhindern, doch nie über die Zusammensetzung der Regierung entscheiden. M. a. W.: Die Ebene der wirklichen Parlamentsherrschaft wurde bis 1914, ja, bis zum Oktober 1918 nie erreicht. Was aber schon früher ingang gekommen war, war die Erosion des Systems, ein allmählicher Prozeß, zu dem Schmitt nur Streiflichter bietet. Ein Machtzuwachs des parlamentarischen, vor allem aber des „gesellschaftlichen“ Liberalismus, doch dieser mit Osteoporose – und vorne zackige Reserveleutnants? Wäre das auch eine Formel für das Kaiserreich? Den Strukturfehler sieht Schmitt darin, daß es zu keiner wirklichen Entscheidung, zu keinem „Entweder Soldatenstaat oder konstitutioneller Staat mit Kurs auf das parlamentarische Regime“ kam, wobei seine Sympathien eindeutig dem Soldatenstaat gelten. Mit dieser These steht er nicht allein, aber den Fehler sieht er stärker als andere im konstitutionellen System selbst, dessen tiefe Wandlungen zwischen 1862 und 1918 er kaum beachtet; selbst die Wendung in der deutschen Innenpolitik 1878 / 79, die den Liberalismus außerordentlich schwächte35, das Auftreten der Sozialdemokratie oder die Abberufung Bismarcks 1890 werden von Schmitt auch nur skizziert. Mit Preußens Ausgreifen gen Westen, in die industrialisierten Zonen des späteren Reiches, waren aber die Tages des Soldatenstaates gezählt und es war absehbar, daß er weder zur Vorherrschaft geschweige denn zur Alleinherrschaft fähig war. Schmitt, der die Historie zwar zitiert, sie aber letztlich scheut, schweigt auch dazu, daß der Soldatenstaat, wie sehr er auch in die Defensive geriet und geraten mußte, stark genug blieb, die Wehrkraft dauernd zu beeinträchtigen. Schmitt weist mit Recht darauf hin, daß Deutschland bis 1914 unterrüstet war und bei ungenügender Ausschöpfung der Wehrkraft in den Ersten Weltkrieg eintrat. Der Friedensstand des Heeres blieb 1910 mit 0,79% der Bevölkerung weit unter dem Frankreichs mit 1,53%36, die Heeresvermehrungen 33a Dazu Klaus v. Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, München 1970, S. 255 f. 34 Aufgrund dieser ja nicht zu bestreitenden Entwicklung sieht Manfred Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus im Wilhelminischen Reich, Düsseldorf 1973 u. ders., Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, ebd. 1977, die Parlamentarisierung schon während des Kaiserreiches als quasi vollendet an („stille“ Parlamentarisierung); zur Kritik: Dieter Langewiesche, Das Deutsche Kaiserreich – Bemerkungen zur Diskussion über Parlamentarisierung und Demokratisierung Deutschlands, in: Archiv f. Sozialgeschichte, 19, 1979, S. 628 – 642, 636 ff.; a. Schönberger, wie 2, S. 625. 35 Dazu u. a. Sheehan, wie 18, bes. S. 214 – 223. 36 Carl Hans Hermann, Deutsche Militärgeschichte, Frankfurt / M. 1966, S. 262. – Zum Umfeld dieses Problems auch die Meinung des englischen Generalleutnants Francis Tuker: „Der deutsche Generalstab hatte einen blinden Fleck in seinem Gesichtsfeld,

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Vorwort

vor der Jahrhundertwende blieben zu gering und selbst 1913 fehlten Deutschland, rechnet man mit einer Annahme von nur 75% der Tauglichen bis 32 Jahren (statt vom 84% wie in Frankreich), die Bataillone, die am 4. August 1914 schon hätten marschieren müssen.37 Und Gott ist bekanntlich meist mit den stärkeren Bataillonen. Schmitt weist einige Male auf den Generalstab hin, der diese Lage erkannt und immer wieder kritisiert hätte (S. 27 f.). Betrachtet man jedoch dessen Warnungen und Hinweise, auch zur Zeit v. Schlieffens, so kann man diese doch nur als äußerst zaghaft und zurückhaltend ansehen38. Der Ton in den Eingaben und Schreiben des Generalstabes wird nur dann dringlich, wenn Ludendorff daran mitwirkte39, Ludendorff wurde aber erst einmal aufs Abstellgleis geschoben und 1913 Kommandeur eines Füsilierregiments. Die ausgeprägte Gehemmtheit, ja Schüchternheit des Generalstabes wird von einigen Betrachtern als ein Beweis für den auch im Zweiten Reich herrschenden Primat der Politik angesehen40. In Wirklichkeit handelte es sich nur um einen Respekt vor dem Primat der Politiker! Man ist Clausewitz nicht treu, postuliert man, daß die politische Intelligenz eines Staates stets bei den zivilen Mitgliedern der Regierungsspitze beheimatet sein müsse. Die eingeschränkte Rüstung und die mangelnde Ausschöpfung der Wehrkraft vor 1914 wie auch der zunehmende Wirrwarr in der Reichsleitung und die wachsende Polykratie erscheinen bei Schmitt als Folge des Vordringens der in zwei Weltkriegen zur Katastrophe führte. Er verstand niemals die Wirklichkeit des ,totalen Krieges‘. Total ist die Art von Krieg, die eine Demokratie führt, die ihr Gewissen zum Fenster rausgeworfen hat. Sie führt ihn gründlich, unnachgiebig und grausam.“ (Tuker, The War Machine, in: The Twentieth Century, Dez. 1955, S. 523 – 528, 524 f.), 37 Vgl. Gerhard L. Binz, Die stärkeren Bataillone, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau, 1959, S. 64 – 85, 139 – 161. 38 Dies belegt schon Schmitts Zitat aus v. Schlieffens Niederschrift 1905 (S. 28). Für die Erstellung der Heeresvorlage 1905 wurde der Generalstab sogar völlig übergangen; vgl. v. Schlieffens Brief an das Kriegsministerium v. 16. 3. 1904 in: Reichsarchiv, Der Weltkrieg 1914 – 1918, 1930, Anlagenband, S. 88 f. – „Während die Nation voller Bewunderung auf diese von einem Mythos umgebene Institution blickte [auf d. Generalstab] wurde sie von Kaiser und Kriegsministerium in einer so wichtigen Frage wie der Heeresrüstung bewußt ignoriert. Daß dieses so möglich war, hatte mehrere Gründe. Am schwersten wog der Umstand, daß das in der Rüstungspolitik federführende Kriegsministerium sich – im Blick auf die Finanzlage – in weitgehender Übereinstimmung mit Kaiser und Regierung befand und dadurch den Generalstab um so leichter abdrängen konnte. Doch spielte daneben auch die Frage der Persönlichkeit eine Rolle. Graf Schlieffens zurückhaltendes Wesen schloß ein lautstarkes Insistieren aus.“ (Oliver Stein, Die deutsche Heeresrüstungspolitik 1890 – 1914 – Das Militär und der Primat der Politik, Paderborn 2007, S. 254). 39 Vgl. Binz, wie 37. 40 So der m. E nach eher irreführende Untertitel des außergewöhnlich sorgfältigen und kenntnisreichen Buches von Oliver Stein, S. 38.

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des „Liberalismus“, der völlig schattenhaft bleibt und nie Fleisch und feste Kontur gewinnt. Daß der „Liberalismus“ vordrang und daß dadurch der „Soldatenstaat“ Schaden nahm, soll nicht bestritten werden. Doch zu einem erheblichen Teil war die von Schmitt so beklagte Polykratie, die freilich vor allem auf der von ihm weitgehend ausgesparten zivilen Ebene des Staatsapparates wucherte, von Bismarck gewollt und geschaffen. Er war der erste Architekt des kunstvoll gefertigten Chaos des Zweiten Reiches und seines äußerst labilen verfassungspolitischen Balancesystems40a. Seine Nachfolger, besonders aber Wilhelm II., waren hier seine ungeschickteren Epigonen. Auch der militärische Trialismus – Kriegsministerium, Militärkabinett, Generalstab – und die Vermehrung der Immediatstellen gehören zu diesem kunstvoll gefertigten Chaos; hier wird von Schmitt immerhin deutlich gemacht, daß zuweilen Bismarck einer der Urheber war. Wer die Staatsmaschine beherrschen will, sieht sich nicht selten dazu gezwungen, anderen den Einblick und den Eingriff in ihren Mechanismus zu erschweren oder gar, deren Funktionieren gezielt zu beeinträchtigen. Der Zuwachs der eigenen Macht im Staate kann aber zur Minderung der Macht des Staates führen, – ein Vorgang, für die weder im Bismarck-Reich noch unter Wilhelm II. der „Liberalismus“ verantwortlich zu machen ist. Die ungenügende Ausschöpfung der Wehrkraft war in erster Linie die Schuld des ,Militarismus‘ bzw. des immer noch existenten Soldatenstaates. Schmitt weist auch kritisch auf die Politik der Kriegsminister, besonders auf die General v. Einems (S. 30), hin, die sich, mit der Ausnahme von Verdy du Vernois, einer vollständigen Verwirklichung der Wehrpflicht widersetzten. Hinter ihrer Devise „Qualität vor Quantität“ verbarg sich nur zu deutlich die Furcht, daß bei besserer Ausschöpfung der Wehrkraft ungeeignete, vor allem aber sozialistisch infizierte Soldaten das Ethos der Armee zersetzen und die Treue zum Kriegsherrn erschüttern könnten. Die Armee sollte ,Staat im Staate‘ bleiben und nicht die Armee des Staates werden, und so votierte sie für ihre 40a Man muß stets im Blicke behalten, daß Bismarck der Schöpfer „seiner“ Verfassung war; diese „benötigte einen Reichskanzler, der folgende sieben Probleme gleichzeitig lösen konnte: er mußte das Vertrauen des Kaisers besitzen; er mußte die Zustimmung des Bundesrates, d. h. der verbündeten Regierungen, erlangen; er mußte jeweils eine Mehrheit im Reichstag finden; er mußte mit dem preußischen Landtag zurechtkommen (Abgeordnetenhaus mit Dreiklassenwahlrecht, Herrenhaus mit grundbesitzendem Adel . . . ); er mußte sich mit den obersten Militärbehörden vertragen, die ihm nicht unterstanden; er mußte die preußischen Ministerien und die Reichsämter koordinieren; er mußte die Ressortstreitigkeiten zwischen den Reichsämtern schlichten. Dabei hatte Bismarck auch die Außenpolitik auf ähnlich komplizierte Prinzipien aufgebaut, die kein Nachfolger je beherrschte.“ (Friedrich Berber, Das Staatsideal im Wandel der Weltgeschichte, München 1973, S. 43). Der Historiker Otto Becker (1885 – 1955) bemerkte, daß Bismarck es unternahm, „die preußische Macht gegen die Verbündeten, diese gegen den preußischen Partikularismus, den Reichstag gegen beide und beide gegen den Reichstag auszuspielen und nicht zuletzt die Verbündeten gegeneinander“ (zit. n. Egmont Zechlin, Die Reichsgründung, Frankfurt / M. 1970, S. 133). Diese Aufzählungen sind mit Sicherheit nicht erschöpfend.

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Vorwort

eigene Schwächung. Wie es um den Wehrwillen und die Kampfmoral der beargwöhnten sozialistischen Arbeiter stand – soweit sie zum Kriegsdienst herangezogen wurden! – zeigte sich 1914, als es bereits zu spät war41. Sicher wurzelte dieses Versäumnis auch in der Furcht des Bürgertums vor dem Proletariat. Der größere Teil dieses Versäumnisses bzw. dieser Schuld ist aber dem Soldatenstaat anzulasten, der sich, was Schmitt richtig sieht, bereits in der Defensive befand, der aber noch machtvoll genug blieb, um seine Konzeption einer Armee, die kleiner als notwendig und möglich war, durchzusetzen. Eine Perspektive nach vorn besaß dieser Soldatenstaat nicht, „sein Untergang war historisch unvermeidlich, wenn er nicht eine positive Beziehung und Verbindung zum Konstitutionalismus und der hinter diesem stehenden ,bürgerlichen Gesellschaft‘ fand“, wie Ernst Wolfgang Böckenförde treffend, wenn auch ziemlich einbahnstraßenhaft, feststellte.42 Sollte Deutschland eine Chance haben, die Probe von 1914 zu bestehen, so mußte es seinen „Gesinnungsmilitarismus“ aufgeben oder zumindest zurückstutzen zugunsten eines „Zweckmilitarismus“ wie er in Frankreich unter der Führung Clemenceaus praktiziert wurde.43 Für eine Durchsetzung des ,Zweckmilitarismus‘ mußte man das dualistische System beseitigen und durch eine parlamentarische Führerdemokratie ersetzen, die bei weit geringerem Widerstand die nationale Kohäsion erhöhen und die Mobilisationsquote steigern konnte.44 Es ist aufschlußreich, daß Schmitt diesen Gedanken des ihn sonst so stark beeinflussenden Max Weber nicht einmal erwähnt. Er vermag Liberalismus und Parlamentarismus nur als Schwächung von Staat und Staatlichkeit begreifen, wohl weil er seinen Blick nicht von den deutschen Zuständen wenden kann. Vom Feinde essen, kann aber auch – gesünder machen. Zudem ignoriert Schmitt, daß die Machtambitionen Deutschlands erst durch seine Flottenrüstungspläne wirklich aufblühten. Zur damit verbundenen Expansionspolitik war der Soldatenstaat gar nicht fähig. „Zum Schutze der Grundrente bedarf es keiner Flotte“.45 Während das Heer wegen des immer noch beträchtlichen Einflusses des Soldatenstaates nie auf sein mögliches 41 Dazu Binz, wie 37. – Die bedeutendste Erörterung des Themas „Sozialismus und Heer“ bleibt das so betitelte dreibändige Werk von Reinhard Höhn, Bad Homburg 1959 / 69. 42 Böckenförde, wie 29, S. 303. 43 Vgl. G. Ritter, Staatskunst . . . , wie 1, Bd. I, S. 36 ff.; bes. instruktiv: LieutenantColonel Charles Bugnet, Drei Diktaturen. Der Kampf um die Kriegsführung in Frankreich 1914 – 1918, Berlin 1938 (zuerst franz. 1937), S. 289 – 373, „Clemenceau oder die Diktatur der Regierung“. – Vgl. Max Scheler (1874 – 1928), Über Gesinnungs- und Zweckmilitarismus – Eine Studie zur Psychologie des Militarismus, in: Ders., Krieg und Aufbau, Leipzig 1916, S. 167 – 195. 44 Soweit ich sehe äußert sich Max Weber in seinen Kritiken des Kaiserreiches, das als „Machtstaat“ versage, nirgendwo zum Thema der Unterrüstung des Heeres. 45 Max Weber, Stellungnahme zur Flottenumfrage der Allgemeinen Zeitung (München), 13. 1. 1898, in: Weber, wie 3, S. 30 – 32, 3.

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Vorwort

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Rüstungsniveau und auf seinen möglichen Personalstand gelangte, wurde die Flotte, deren Aufbau enorme Geldmittel verschlang, von einer dem Soldatenstaat recht fernen, liberalen Bourgeoisie unterstützt, die sich an einem irrealen Kriegsbild begeisterte. Doch trotz all seiner Schwächungen blieb der Soldatenstaat ein Faktor aller ersten Ranges und zwar ein störender, – und die Führerdemokratie, „inmitten eines Heerlagers, wie unser Staat es sein muß“46 entstand wegen dieses Soldatenstaates einerseits, wegen der „spießbürgerliche(n) Furcht vor dem roten Gespenst“47 andererseits nicht. Die zahlreichen historischen Aberrationen und Zurechtstilisierungen Schmitts sollen hier nicht noch einmal ausgebreitet werden; gelegentlich versteht man sogar das harte Wort, es handele sich hier um „Geschichtsklitterungen“.48 Doch diese Aberrationen beeinträchtigen nicht die Faszination, die von dem Schriftsteller Schmitt ausgeht und die sich auch aus seinem Faible für den dramatischen Augenblick, für den „pathognomische(n) Moment, (der) . . . plötzlich den sonst verdeckten wahren Zustand erkennen läßt“ (S. 7), erklärt. Aber kann die Komplexität dieses Zustandes, die Undurchsichtigkeit und Wirrnis seines Werdens, dank solch geschickt inszenierter Punktualität nicht auch unserem Auge entschwinden? Ist hier der momento de la verdad so sicher feststellbar wie bei einer corrida de toros? Man darf deshalb auch Zweifel hegen gegenüber Schmitts Kritik am zweiten pathognomischen Moment, an der Rede v. Bethmann Hollwegs vom 4. August 1914, als der Reichskanzler den Einmarsch des deutschen Heeres in Belgien als ein „Unrecht“ bezeichnete, das man wiedergutmachen müsse und werde. Man mag Helmuth Plessner zustimmen, der bemerkte (s. S. 95), daß, „wer zu den höchsten Entscheidungen und Würden gelangt, die der Staat zu vergeben hat, und dann noch glaubt, sich den Luxus der Gewissensharmonie des Rentiers leisten zu können, . . . vielleicht menschliches Mitleid (verdient), aber keinen Zoll mehr ernst genommen“ werden dürfe. Aber um, wie Schmitt schreibt, „eine bedientenhafte Angst um den Eindruck im Auslande“ – der Eindruck war doch höchst ungünstig – oder gar um eine „schändliche Kapitulation“ (S. 39) handelte es sich bei diesen Erklärungen eines eher sympathischen Hamlet nicht, sondern um einen Fall von Rolleninkonsistenz, die auch härter gesottene Staatsmänner als es v. Bethmann Hollweg war, schon heimsuchte. In einer schwachen Minute, während der v. Bethmann Hollweg Max Weber, Zwischen zwei Gesetzen (1916), wie 3, S. 142 – 145, 143. Wie 45, ebd. 48 Vgl. bes. die berühmte Kritik von Fritz Hartung, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches, in: Historische Zeitschrift, 151, 1935, S. 528 – 544; Nachdruck in: Ders., Staatsbildende Kräfte der Neuzeit, Berlin 1961, S. 376 – 392, dazu die eindringliche Studie von Hans-Christof Kraus, Soldatenstaat oder Verfassungsstaat? Zur Kontroverse zwischen Carl Schmitt und Fritz Hartung über den preußisch-deutschen Konstitutionalismus (1934 / 35), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 1999, S. 275 – 310, mit zustimmenden Briefen an Hartung ab S. 305. 46 47

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Vorwort

wohl sogar wähnte, der Staatsraison nahe zu sein, sprach er die Wahrheit, – nicht weniger, aber auch nicht mehr.49 Den dritten pathognomischen Moment sieht Schmitt in den Gesetzen vom 28. Oktober, in den „Oktoberreformen“ (S. 38 u. 39)50. Mit ihnen begann Deutschlands Weg in das parlamentarische System, ganze 12 Tage, bis zur Abdankung des Kaisers am 9. November, noch als parlamentarische Monarchie. Schmitt schweigt sich über die Oberste Heeresleitung (OHL) aus, die bereits Ende September energisch die „Umbildung der Regierung oder einen Ausbau auf breiterer Grundlage“ forderte, eine Forderung, die in engem Zusammenhang mit dem überraschenden Waffenstillstandsersuchen des Heeres und mit Hoffnungen auf einen günstigen Friedensschluß stand. Die Repräsentanten des Soldatenstaates erzwangen die Parlamentsherrschaft und stießen die von ihnen verachteten Parteien auf den Weg zur (ob der Kriegslage freilich ziemlich ohnmächtigen) Macht, die Parteien, denen es bis dahin am Willen zur Macht fast gänzlich mangelte. Die Parlamentarisierung wurde „nicht vom Reichstag erkämpft, sondern von Ludendorff angeordnet“51. Diese seltsame Art von Revolution bedeutete aber auch das endgültige Desaster des Soldatenstaates, der mittels seines Selbstmordes die Schuld auf die zivile Reichsleitung schob, – geschickter als dies ausgebuffte Parlamentarier vermocht hätten. Dazu hört man von Schmitt nichts. Daß die OHL während des Krieges de facto zum Diktator wurde, müßte dabei gar nicht kritisiert werden, – sie hatte oft genug v. Bethmann Hollweg und die ihm folgenden Kanzler aufgefordert, „die personelles, geistigen und materiellen Kraftquellen des Reiches wenigstens so weit zu aktivieren, wie es die Gegner und insbesondere England taten“52. Wer eine einheitliche Krieg-Politik durchsetzte, wer sich wem unterstellte, war im Grunde sekundär. Aber weil es in Deutschland nicht zur wirklich geschlossenen Einheit der Nation und zur möglichst totalen Mobilisierung kam und weil Deutschland außer den vagen „Ideen von 1914“ und der „deutschen Freiheit“ keinen „Weltgedanken“ anzubieten hatte53, was vielleicht eine Führerdemokratie hätte leisten können, war die 49 „An den Worten, mit denen ich am 4. August unser Unrecht zugab, aber zugleich unseren Notstand als unentrinnbaren, auch das Unrecht sühnenden Zwang bezeichnete, halte ich auch heute fest. Unseren Notstand leugnen kann nur, wer die Augen vor den militärischen Tatsachen böswillig verschließt, und unser Unrecht in Abrede zu stellen, fehlt es noch heute an schlüssigen Unterlagen“, schrieb Th. v. Bethmann Hollweg in: Betrachtungen zum Weltkriege, 1. Teil, Berlin 1919, S. 168. 50 Dazu: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, V, 1978, S. 584 – 598. 51 Arthur Rosenberg (1889 – 1943), Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik (1928), Frankfurt / M. 1955, S. 212. 52 Franz Uhle-Wettler, Bemerkungen zum deutschen Militarismus, in: Neue Ordnung (Graz), 2 / 2010, S. 26 – 29, 28. Auf entsprechende Initiativen weist Uhle-Wettler hin in: Erich Ludendorff in seiner Zeit, 1966, bes. S. 196 ff., 257 ff., 281 ff. 53 Vgl. u. a.: Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat – Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; Heinz Goll-

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Diktatur der OHL zwar notwendig, doch nur ein Notbehelf. Der noch starke Soldatenstaat war aber nicht stark genug, die Nation zu einen und die zivile Polykratie wirklich zu überwinden. Beide, ziviler Konstitutionalismus und Soldatenstaat, starben durch den Feind, beide aber auch durch den Kampf miteinander; ihr Dualismus erwies sich noch einmal im Nebeneinander ihrer Niederlage. Jenseits seiner politischen Thesen und Gehalte, jenseits seiner oft bezweifelnswerten historischen Konstruktionen hat Schmitts Schrift eine verfassungsgeschichtliche und -theoretische Debatte provoziert, die viele immer noch beschäftigt. War das „deutsche konstitutionelle Regime eine eigenständige Staatsform oder nur eine dilatorische Zwischenstufe zwischen den beiden gegensätzlichen Grundformen des monarchischen Absolutismus und der parlamentarischen Demokratie gewesen?“54 Schmitt plädierte für letzteres; der Konstitutionalismus führe unweigerlich zum Parlamentarismus. Im übrigen gäbe es eine „irreführende Betonung des nur relativen Unterschiedes von konstitutioneller und parlamentarischer Regierung“ (S. 22), – eine Behauptung, die Schmitt 1940 noch verschärfte, als er erklärte, daß die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung „in der sekundären und nur taktischen Kompromißunterscheidung von konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie befangen blieb“ und daß „Konstitutionalismus und Parlamentarismus im Wesen dasselbe“ seien55. Mit etwas Anstrengung könnte man Schmitt zustimwitzer, Für welchen Leitgedanken kämpfen wir?, in: Kl. Hildebrand / Reiner Pommerin (Hrsg.), FS Andreas Hillgruber, Köln / Wien 1985, S. 83 – 109. Bethmann Hollweg, wie 49, 2. Teil, Berlin 1921, bemerkte S. 60: „Ein geistig und national noch nicht zusammengewachsenes Volk aber konnte auch keine Weltthese aufstellen.“ 54 Huber, V, S. 533. Huber, wie oben, weist hier noch einmal die von Schmitt, Bökkenförde u. a. vertretene These zurück, beim Konstitutionalismus habe es sich nur um eine „Zwischenform“ o. ä. gehandelt. „. . . die Eigenständigkeit des Konstitutionalismus als Staatsform (besteht) gerade in der ihm eigentümlichen Verbindung konkurrierender politischer Formelemente, Prinzipien und Kräfte zu einer gegliederten und gefügten Einheit . . . (es) läßt sich aus dem eingetretenen Untergang eines geschichtlichen Gebildes kein Beweis dafür ableiten, daß es nach seiner Wesensart nichts als ein Übergang gewesen sei – dem „Untergang“ ist alles in der Welt bestimmt und in diesem Sinne ist alle Geschichte ein „Übergang“ . . . – Vgl. a. Hubers Darstellung im Bd. III s. „Verfassungsgeschichte“, S. 3 – 26, „Das Wesen der konstitutionellen Monarchie“. 55 Vgl. a. Schmitt, Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte (1936), in: Ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923 – 1939, Hamburg 1940, S. 229 – 234. „. . . die verfassungsgeschichtliche Bedeutung der Unterscheidung von konstitutioneller und parlamentarischer Regierung (ist) bisher fast nirgends erkannt worden. . . ; eine Zweckantithese, die aus diesen bloßen Nuancen des liberal-autoritären Kompromisses einen tiefen weltanschaulichen Unterschied zu machen suchte, wurde unbesehen weitergeschleppt, weil sie in Preußen scheinbar Erfolg hatte. In Wahrheit war dieser Erfolg eine schwere Niederlage des preußischen Staatsgedankens. Der Sieg des liberalen Konstitutionalismus hatte sich gerade darin gezeigt, daß der preußische Staat, als er 1848 nachgeben mußte, sich, um dem Parlamentarismus zu entgehen, an diesen sekundären Unterschied von konstitutioneller und parlamentarischer

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Vorwort

men, ginge es z. B. um den belgischen Konstitutionalismus – bei diesem so bedeutenden und einflußreichen Modell war der Weg zum parlamentarischen System aufgrund der Verfassung von 1831 tatsächlich vorgezeichnet56. Mit seiner Fast-Gleichstellung von Konstitutionalismus und Parlamentarismus näherte sich Schmitt der Argumentation der Ultrakonservativen wie der Linksliberalen vor 1848: der Konstitutionalismus wäre nichts als die unheilschwangere oder die hoffnungsschwangere Vorstufe zum Parlamentarismus. Keinerlei Augenmerk den so unterschiedlichen, ja, unvereinbaren Ausformungen des Konstitutionalismus57 schenkend, zielte Schmitt hier aber ausschließlich auf dessen preußisch-deutsche Variante, die sich doch lange Zeit als haltbarer Damm gegen Volkssouveränität und parlamentarisches System erwies und aufgrund ihres „monarchischen Prinzips“ und der darauf gründenden „existentiellen Vorbehalte“58 die Letztentscheidung bei der Krone bzw. Regierung klammerte und eben dadurch den für ihn gefährlichen Boden des Konstitutionalismus betrat, denn die „konstitutionelle“ Regierung kann immer höchstens ein Vorstadium auf dem Wege zur parlamentarischen Regierung sein.“ (S. 231); vgl. v. Schmitt auch: Neutralität und Neutralisierungen – Zu Christoph Steding „Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur“ (1939, in: Positionen u. Begriffe, S. 271 – 295, bes. S. 275). – In der „Verfassungslehre“ v. 1928 hatte Schmitt noch die übliche These vom Sieg Bismarcks über den liberalen Parlamentarismus vertreten: „Die überwältigenden Erfolge Bismarcks entschieden die Frage [des Dualismus] in Deutschlands konstitutioneller Monarchie gegen die parlamentarische Regierung und zugunsten der Monarchie; sie hielten die konstitutionelle Monarchie deutschen Stils noch ein halbes Jahrhundert aufrecht. Die königliche Regierung hatte im Kampf gegen das Parlament die nationale Einheit bewirkt; gegenüber dieser politischen Leistung konnte der Gedanke, daß das Parlament in höherem Maße als der König die nationale Repräsentation sei, nicht durchdringend“ (S. 314). 56 Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 328: „. . . die belgische Verfassung von 1831 gilt als Verfassung einer parlamentarischen Monarchie, obwohl sie sich, was den Text des Verfassungsgesetzes angeht, von einer konstitutionellen Monarchie deutschen Stils wenig unterscheidet . . .“; vgl. a. John Gilissen, Die belgische Verfassung von 1831 – ihr Ursprung und Einfluß, in: Werner Conze (Hrsg.), Beiträge zur deutschen u. belgischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1967, S. 38 – 69; Kl. v. Beyme, wie 33a, S. 121 – 132. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Verfassung von 1831 beibehalten. „Der Verzicht auf eine neue Verfassung . . . erhielt die älteste Verfassung des Kontinents, die seit Anfang ihres Bestehens die parlamentarische Regierung ermöglicht hatte.“ (v. Beyme, S. 132). – Französ. u. dt. Text der belg. Verfassung v. 7. 2. 1831 in: Willoweit / Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, 2003, 509 – 32. 57 Vgl. Hans Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf 1975, bes. S. 131 – 193, „Deutscher oder wahrer Konstitutionalismus?“ 58 Vgl. Friedrich Julius Stahl (1802 – 1861), Das monarchische Prinzip. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Heidelberg 1845. – Die kleine Schrift wurde in die späteren Ausgaben von Stahls Hauptwerk „Die Philosophie des Rechts“ (zuerst Heidelberg 1830 / 37, 3 Bde. in 2) integriert. Das monarchische Prinzip, bei Stahl strikt abgegrenzt von der britischen, im Grunde damals schon parlamentarischen Monarchie, wird vor allem darin gesehen, „daß die fürstliche Gewalt dem Rechte nach über der Volksvertretung stehe, und daß der Fürst thatsächlich der Schwerpunkt der Verfassung, die positiv gestaltende Macht im Staate, der Führer der Entwickelung bleibe.“ (Die Philosophie des Rechts, 5. Auflage 1870, S. 384). Zum Einfluß Stahls auf Bismarck: Bernhard Mich-

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Vorwort

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der Regierung verankert sah, – was sich ja gerade im Verfassungskonflikt zeigte. „Souverän ist, wer über die Wehrmacht gebietet“, konnte Ernst Rudolf Huber gegen seinen Lehrer Schmitt formulieren59. Hinzu kommt jedoch, daß die von den meisten Betrachtern geteilte Meinung Bismarcks, es sei bei dem Konflikt darum gegangen, „ob das Verfassungssystem sich zur Parlamentsherrschaft fortentwickeln oder als Königsherrschaft befestigen solle“ und daß der Konflikt ein „Entscheidungskampf zwischen dem parlamentarischen und dem konstitutionellen System“60 gewesen sei, fragwürdig ist. Bismarcks Opponenten wollten, bis auf einige radikalere Linksliberale, vermutlich nur ihre Mitwirkungsrechte verteidigen bzw. ausbauen; als die Basis der Verfassung sahen sie die Gewähr allseitiger Kompromißbereitschaft an; Bismarcks Handeln beruhte ihrer Ansicht nach auf einem vorschnellen Abbruch der Suche nach dem Kompromiß. Es wurde von Bismarck also gar nicht ernsthaft versucht, die „Lücke“ zu schließen bzw. entstand diese ja erst nur, weil er die Kompromißmöglichkeiten nicht wirklich ausschöpfte. Die Befürworter der „Appelltheorie“ konnten die Verfechter der „Lückentheorie“ des Verfassungsbruchs bezichtigen, während diese jenen Verfassungsfeindschaft vorwarfen, da sie (angeblich) eine Parlamentsherrschaft wollten, – und damit die Beseitigung der Monarchie als einer konstitutionellen.61 Doch auch wenn man die von Bismarck und anderen Interpreten behauptete Alternative „Monarchie oder parlamentarisches System“ zurückweist, bleibt die politische Perspektive, – und sie war es wohl, die Bismarck vor allem anderen schreckte. „. . . es sind stets die Girondins gewesen, die den Staatswagen an den Rand des Abgrunds schoben, sie haben überall die konstitutionelle Entwicklung fördern wollen [im] . . . liberalen humanen Sinne . . . , sind aber schließlich immer über ihr Ziel hinausgeraten . . . , der Liberalismus gerät immer weiter, als seine Träger wollen“62. Man konnte die Verfassungsbewegung überhaupt als eine schiefe Ebene auffassen, „auf der es bis zur gänzlichen niwiecz, Stahl und Bismarck, Diss. Berlin 1913; vgl. a. Wilhelm Füßl, Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802 – 1861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis, Göttingen 1988. – Als „existentielle Vorbehalte“ sieht Huber (Bd. III, S. 16 ff.) u. a. an: das Vetorecht und das Notverordnungsrecht d. Monarchen, die Befreiung der Kommandoakte von der ministeriellen Gegenzeichnung, die provisorische Entscheidungsgewalt in nicht-geregelten Konfliktsfällen („Lückentheorie“) usf. „Der existentielle Vorbehalt zugunsten der Exekutive war geradezu das Kriterium des konstitutionellen Systems.“). 59 Huber, Heer und Staat in der deutschen Geschichte, Ausg. 1943, S. 245. 60 Huber, Bd. III, S. 299. 61 Zu diesem Kampf zwischen „Appelltheorie“ und „Lückentheorie“ ausführlich Hans Boldt, wie 13 (gegen Hubers Plaidoyer für die „Lückentheorie“). Vgl. S. 53 f., Anm. 11. 62 Reichstagsrede Bismarcks v. 29. 11. 1981, in: Werke in Auswahl, 2001, Bd. VI, S. 591 – 602, 595.

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Vorwort

Beseitigung der Monarchie abwärts ging“63, wobei Bismarck jedoch, im Gegensatz zu den Ultrakonservativen, mit dem ihn lange Zeit beeindruckenden Friedrich Julius Stahl diese Bewegung als nicht mehr zurückdrängbare Gegebenheit ansah.64 Nur auf dem Boden dieser Bewegung war katechontisches Handeln noch möglich, was der Lobpreiser des Katechon nicht wahrhaben wollte. Während die Liberalen Bismarck verdächtigten, eine autoritäre Militärdespotie errichten zu wollen, und den ungeheuren Druck, unter dem Bismarck seitens der Ultrakonservativen und der Staatsstreichpartei stand, ignorierten, sah Bismarck, der sich der Fragilität seiner Schöpfung stets bewußt blieb, in eine vielleicht unabwendbare, zumindest aber noch hinausschiebbare Zukunft. Es war nicht zuletzt diese wechselseitige Furcht, sich auch aus Erinnerungen an 1848 / 49 speisend, die dem zunächst recht harmlos beginnenden Verfassungskonflikt verschärfte und die Kämpfenden immer mehr erbitterte. Die beträchtliche Intensität von Feindschaft und Mißtrauen war nicht von Anfang an gegeben, sondern entwickelte sich erst im Fortschreiten des Konflikts. Die bereits erwähnte, von Huber einerseits, Schmitt und Böckenförde andererseits erörterte Frage, ob man den deutschen Konstitutionalismus als eigenständige Staatsform oder als bloße Zwischenstufe zu beurteilen hat, scheint im Sinne Hubers beantwortet werden zu können; seine historisch dichte, in seiner monumentalen „Verfassungsgeschichte“ breit entfaltete Argumentation darf man als „überwältigend“ ansehen. Bei seinen Kritikern kommt auch zu kurz, daß man die Zeit von 1862 bis 1918 nicht als „Einheit“ betrachten kann. Mit Huber muß man vielmehr eine „Verfassungswende 1888 / 90“ annehmen; mit dem Tode Wilhelms I. „vollzog sich die große Wende im deutschen Verfassungsleben . . . und seine Nachfolger besaßen weder die Autorität noch die Beharrlichkeit im Kampf, um die alte, auf dem Vorrang der Wehrordnung aufgebaute Verfassung zu behaupten“65. Diese „Verfassungswende“ wird bei Schmitt nirgendwo zum Problem; man tut ihm kaum Unrecht, bemängelt man, daß bei ihm ein immergleicher Konstitutionalismus, ein immergleicher Soldatenstaat und vor allem ein immergleicher Liberalismus jahrzehntelang im Kampfe liegen. Wir werden zwar mit scharf gesehenen einzelnen Tatsachen konfrontiert, aber der Vorwurf Fritz Hartungs, Schmitt arbeite mit „blutleeren Schemen statt mit lebendigen Kräften“, seine Schematik tue der „Wirklichkeit Gewalt“ an und sei „willkürlich konstruierende Geschichtsbetrachtung“66 63 So Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland 1800 – 1914 (Bd. II), München 1992, S. 101. 64 Zahlreiche Belege bei Füßl, wie 58. 65 Huber, Heer und Staat . . . , wie 59, S. 317. Die Kontroverse Schmitt-Huber wird sorgfältig dargestellt bei Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900 – 1970, München 2005, S. 270 – 286, 282 f. 66 s. Hartung, wie 48.

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Vorwort

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trifft zu. Nun, Schmitt war kein Historiker, doch er versäumte es, ein historisches Buch zu schreiben. Kaum bestreitbar ist freilich, daß man als die „letzte und eigentliche Ursache des Konfliktes . . . diese konstitutionelle Verfassung (selbst)“ ansehen kann; daß dies aber die „Unmöglichkeit eines politischen Prozesses (demonstriert), der nach heterogenen Prinzipien und von verschiedenen Machtträgern gestaltet wird“67, darf angezweifelt werden. Der politische Prozeß war möglich und fand statt; jedwedes Verfassungssystem hat seine Kannbruchstellen und seine ihm eingebaute, grundsätzliche Labilität, deren Ausmaße freilich variieren können. Doch wer in einem modernen Krieg verliert, wird gewöhnlich zur Änderung seines Systems gezwungen, u. a. deshalb, weil das Weiterleben des Systems für den Sieger gefährlich werden kann. Daß die 1914 in den Krieg eintretenden Mächte nicht an einen nur „relativen“ Unterschied von Konstitutionalismus und Parlamentarismus glaubten, beweisen ihre Propaganda und ihre Legitimationsideologien. Die Deutschen sollten zur parlamentarischen Demokratie gezwungen werden, weil diese, als verordnete, das deutsche Volk spalten, schwächen, desintegrieren würde, – angeblich aber, weil die parlamentarische Demokratie das moralisch bessere, friedlichere, dem Entwicklungsstand der „Menschheit“ gemäßere System war. Die Deutschen ihrerseits glaubten an die Höherwertigkeit und größere Gerechtigkeit ihres Systems gegenüber der westlichen Demagogie und Plutokratie (zumindest wenn sie nicht vom „inneren England“ angetan waren). Tatsächlich war der Erste Weltkrieg auch ein „Verfassungskrieg“68 zwischen konstitutioneller und parlamentarisch-demokratischer Ideologie, ein Krieg, in dem keine der beiden Parteiungen zu einer vernünftigen Kriegführung fähig war, die Sieger aber, das neue industrielle Deutschland mit dem von diesem weitgehend aufgesogenen Soldatenstaat identifizierend, unfähig waren zu einem wirklichen Frieden. Der Antimilitarismus der fast hundertprozentig Mobilisierten machte den Frieden unauffindbar69. Um Relativitäten ging es im Großen Krieg gerade nicht. Carl Schmitt stand stets im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles70 und daß der Pazifismus Weimarer und Genfer Provenienz, der Pazifismus der sich selbst Betrügenden und der Pazifismus der Betrüger, in seiner Schrift mit auf der Anklagebank saß, erlaubt keinen Zweifel. Bis 1933 war Schmitt ein Gegner Hitlers und damit der „Ausantwortung der Macht an den Verfassungsfeind“ (Huber), sein Buch „Legalität und Legitimität“ von 1932 zeigt dies deutlich, Kurt Kaminski, wie 23, S. 94 f. Erich Kaufmann (1880 – 1972), Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung (1917), in: Ders., Autorität und Freiheit. Gesammelte Schriften I, Göttingen 1960, S. 143 – 223; dort bes. S. 146 – 151, „Der Krieg als Verfassungskrieg“. 69 Vgl. Julien Freund, Der unauffindbare Friede, in: Der Staat, 2 / 1964, S. 159 – 182. 70 Vgl. Schmitts bekannten Sammelband von 1940; dazu Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, 3. Aufl., Berlin 1995, bes. S. 17 – 24. 67 68

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Vorwort

nicht minder seine Reaktion auf den 30. Januar 193371. Dabei wurde von Schmitt eher freundlich gesonnenen Interpreten behauptet, er sei loyal gegenüber der Weimarer Verfassung gewesen. Zweifel sind angebracht, – Schmitt hielt spätestens 1932 die Weimarer Republik und ihre Verfassung für unfähig, dem Ansturm eines wirklich entschlossenen Feindes standzuhalten. Gegen einen solchen Feind half nur eine in den wesentlichen Punkten veränderte, im Grunde neue Verfassung, wie sie in den Präsidialregimes zögernd Gestalt annahm. Die Präsidialregimes waren nicht die Einleitung und auch nicht die „Steigbügelhalter“ Hitlers, wie es unser aller Gemeinschaftskunde wähnt; sie wurden von den Nationalsozialisten, nachdem ihnen ihre Macht gesichert schien, rückblickend als die einzig ernsten Hindernisse für ihren Erfolg angesehen. Schmitts Kontakte zu Schleicher und zur Reichswehr, seine extensive Ausdeutung des Art. 48 WRV, seine Mitarbeit am Staatsnotstandplan Ende 193272, aber auch der von ihm unterstützte „Preußenschlag“ vom 20. 7. 1932, mit dem der durch ein Bündnis mit dem Zentrum mögliche Zugriff der NSDAP auf die preußische Staatsmacht verhindert werden sollte73, belegen, daß er vor dem 30. 1. 1933 mehr gegen Hitler tat als seine hypermoralischen Kritiker, die wegen seiner danach folgenden Wendung zu Hitler diese Wendung in seinen zuvor stattgehabten Aktivitäten vorbereitet sehen wollten. Ende 1933 / Anfang 1934 schien es aber, als stabilisiere sich das Regime und eine seiner nicht nur von den Anhängern begrüßten Taten war die Zerbrechung des Versailler Diktates; die andere Tat war die vorhersehbare Aufrüstung eines bis dahin wehrlosen (= ehrlosen), investigierten, tributpflichtigen Volkes. Wir müssen davon ausgehen, daß für Schmitts Verhalten nicht nur sein „Opportunismus“ ursächlich war. Daß er jetzt, 1934, den 20. Juli 1932 als eine Art Vorbereitung des 30. Januar 1933 pries, sollte verstehbar sein. Beinahe alles sprach jetzt dafür, daß Hitler ein sicher autoritäres, aber die entsetzliche Misere Weimars überwindendes Regime etablieren könne, – ein überwiegend legal zustande gekommenes, von anderen Staaten sofort anerkanntes Regime, dem gegenüber Loyalität zu leisten war und an dessen Stabilität man interessiert sein mußte. Dirk Blasius ist zuzustimmen, schreibt er, daß Schmitt den „Rückgriff auf die preußische Staatstradition für unabdingbar hielt, sollte der nationalsozialistische Staat der Gegenwart Bestand haben und ein Rückfall in die Weimarer 71 Vgl. die Auszüge aus Schmitts Tagebüchern v. 23. 1. – 31. 1. u. v. 1. 4. – 13. 4. 1933 bei: Paul Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie, 1993, S. 156 ff., 170 ff., a. Wolfram Pyta / Gabriel Seiberth, Die Staatskrise der Weimarer Republik im Spiegel des Tagebuchs von Carl Schmitt, Der Staat, 3 / 1999, S. 423 – 448, 4 / 1999, S. 594 – 610. (Vgl. inzw.: Schmitt, Tagebücher 1930 bis 1934, Akademie Verlag, 2010, S. 255 – 58, 276 – 81). 72 Vgl. Lutz Berthold, Carl Schmitt und der Staatsnotstandsplan am Ende der Weimarer Republik, Berlin 1999. 73 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VII, 1984, S. 1016 ff., 1067 ff.; Ders., Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum – Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 33 – 50, 38 f.

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Vorwort

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„Systemzeit“ vermieden werden“74. Dazu gehörte, daß „das deutsche Heer und Beamtentum . . . ein Jahrhundert lang selbst die Funktion der staatstragenden Schicht übernommen hatte“75. Das muß man wohl als Plaidoyer für die Schichten und Traditionen verstehen, denen Hitler trotz seiner Propaganda und Rhetorik eher fern stand. Schmitt, ein Mann der Reichswehr, sah daß deren Position bedroht war durch die Ambitionen der SA Röhms, die eine „zweite Revolution“ wollte, welche die noch prekäre neue Staatlichkeit zerstört oder zumindest stark beschädigt hätte76. Blasius meint, daß Schmitt „Röhms Polemik gegen den Fortbestand staatlicher Ordnungsstrukturen in ein Verhältnis zu dem den Staat spaltenden Bestrebungen des bürgerlichen Liberalismus im 19. Jahrhundert (setzte)“77. Das ist eine Deutung, zu der man allzu große hermeneutische Fähigkeiten benötigt, da sich weder im Text der Broschüre von 1934 noch in Schmitts Manuskripten im Nachlaß („Heerwesen und staatliche Gesamtstruktur“) keine auch noch so subtile Anspielung findet. Blasius ist jedoch zuzustimmen, erklärt er, daß Schmitt „mehr als nur die Demokratievorbehalte des national eingestellten Bürgertums mobilisieren wollte“ und daß es ihm „auf eine Mobilisierung der Machtressource Reichswehr“78 ankam. Nicht zuletzt kam es ihm aber darauf an, eine endgültige Versöhnung von Heer und Staat im neuen Reich zu fördern. Auch Blasius’ These, daß es Schmitts Befürchtung gewesen sei, das „Gefüge des jungen Führerstaats“ könne „in der Röhm-Krise“ zusammenbrechen, so daß es „zu einem 74 Dirk Blasius, Carl Schmitt und der „Heereskonflikt“ des Dritten Reiches 1934, Historische Zeitschrift, 281, 3 / 2005, S. 659 – 682, 662 f. Der Aufsatz findet sich auch in: Ders., Carl Schmitt und der 30. Januar 1933. Studien zu Carl Schmitt, Frankfurt / M. 2009, S. 71 – 99, dort unter dem Titel „Carl Schmitt und die Formierung des Führerstaats in der Röhm-Krise“ und mit einem hinzugefügten Schlußsatz; das Zitat in dem Sammelband auf S. 75. 75 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, 1933, S. 29; vgl. a. Huber, Die staatsbildende Kraft des Heeres, Zeitschrift f. Deutsche Geisteswissenschaft, 1 / 1940, S. 1 – 10. Hier scheint sich Huber Schmitts Standpunkt von 1934 sogar anzunähern; er schreibt: „Das Strukturprinzip des Bismarckschen Reiches – sofern hier noch von Struktur und Prinzip zu sprechen erlaubt ist – aber war nicht die Übereinstimmung, sondern der Gegensatz der staatsbildenden Kräfte. Das Reich war auf der einen Seite Militär- und Beamtenstaat, der aus der Überlieferung der preußischen Ordnungsmächte lebte, auf der anderen Seite Parteien- und Klassenstaat, der von der Zerrissenheit der modernen politischen und sozialen Ordnung bestimmt war. Militärstaat und Parteienstaat aber standen in einem Widerstreit, der durch die Verfassung des Reiches nur noch formal überdeckt, nicht aber wirklich ausgeglichen werden konnte. In ständig sich wiederholenden politischen Konflikten brach dieser Widerstreit offen hervor, bis er im Weltkrieg in seine entscheidende Krise trat.“ (S. 7). 76 Zum Verhältnis SA / Reichswehr vgl.: Heinrich Bennecke, Die Reichswehr und der „Röhm-Putsch“, München / Wien 1964. 77 Wie 74, S. 667 bzw. S. 80. 78 Wie 74, S. 673 bzw. S. 88.

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Vorwort

zweiten Sieg des Bürgers, zu einer Wiedergeburt des Parlamentarismus“79 kommen könne, mag in ihrem ersten Teil zutreffen, während eine „Wiedergeburt des Parlamentarismus“, sei es durch Röhms Sieg, sei es durch seine Niederlage, ziemlich phantastisch anmutet. Zwar war Schmitts Sympathie für den preußischen Soldatenstaat deutlich80, zwar darf man annehmen, daß er dessen Ethos wiederbelebt sehen wollte, doch wie sollte die im Januar 1934 noch so schwache Reichswehr, die erst am 16. 3. 1935 zur „Wehrmacht“ und zu einer auf der Wehrpflicht beruhenden Massenarmee werden sollte, das Rückgrat eines trotz der schließlich erfolgenden Niederschlagung des Röhm„Putsches“ durch und durch revolutionären Systems sein können und dabei auch noch das Ethos des preußischen Soldatenstaates bewahren? Oder sollte Hitler sich zum Fürsprecher dieses ehrfurchtheischenden, mittlerweile aber wohl ziemlich verschimmelten Ideals wandeln? Wollte Schmitt, wie viele seiner Kritiker behaupten, die konservativ-etatistischen Eliten dem neuen Regime zuführen oder sollte dieses Regime der Ideologie und den Leitgedanken dieser Eliten folgen und so doch zum ,Staat‘ werden? Je öfters man Schmitts Schrift liest, desto häufiger stellen sich Fragen ein, Fragen, die immer neue, gewagtere Fragen gebären. Wie bei vielen anderen Texten dieses oft scheinklaren Schriftstellers weiß man auch hier häufig nicht, welche Antwort er nahelegen und welche Wirkungen er auslösen wollte. Man weiß auch nicht, ob dies auf einem Unvermögen angesichts der Komplexität der Probleme beruht oder auf Vorsicht, oder ob sich hier nur die bei vielen bedeutenden Autoren zu findende Fähigkeit zeigt, die eigenen Schwächen möglichst gut zu verbergen. Wer nicht weiß, darf mutmaßen. Es gilt auch gegenüber dieser Schrift der Satz, den Walther Rathenau in einem leider verlorengegangenen Brief an den jungen Schmitt schrieb: „Sprich Dich nur aus, ’s wird schon ein Rätsel sein!“81

79 „Bräche das Gefüge des jungen Führerstaats in der Röhm-Krise zusammen, so Schmitts Befürchtung, könne es zu einem zweiten Sieg des Bürgers, zu einer Wiedergeburt des Parlamentarismus kommen“, so der der Buchfassung v. 2009 hinzugefügte Schlußsatz Blasius’. 80 Diese Sympathie fehlte Schmitt im Ersten Weltkrieg, den er in der Etappe vor allem als Bedrohung seines privaten Liebesidylls, dazu noch bei ständig steigenden Preisen für Schokolade, erlitt; vgl. Schmitt, Tagebücher Oktober 1912 bis Februar 1915, hrsg. v. Ernst Hüsmert, Berlin 2003; eine Fundgrube für Satiriker! 81 Private Mitteilung Schmitts.

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches Der Sieg des Bürgers über den Soldaten

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Inhalt

I. Preußischer Soldatenstaat und bürgerlicher Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . .

5

1. Der unlösbare Konflikt von soldatischem Führerstaat und bürgerlichem Rechtsstaat 7; 2. Der Soldatenstaat geistig in der Defensive 12; 3. Die Bitte um Indemnität 18; 4. Das Volk ohne politische Führung 20; 5. Der Staat ohne Regierung 22

II. Der Zusammenbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

1. Entfaltung des innerstaatlichen Zwiespalts im Weltkrieg 34; 2. Die drei verfassungsgeschichtlichen Tage: 5. August 1866, 4. August 1914, 28. Oktober 1918 38; 3. Die Weimarer Verfassung als posthumer Sieg des liberalen Bürgers über den deutschen Soldaten 40; 4. Die Reichswehr im Weimarer Parteienstaat und der Preußenschlag vom 20. Juli 1932 43 Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Preußischer Soldatenstaat und bürgerlicher Konstitutionalismus Für Preußen, den führenden deutschen Staat, bedeutete die bürgerlich-liberale Entwicklung des 19. Jahrhunderts eine Zeit fortwährender offener oder verdeckter Konflikte zwischen Regierung und Parlament, Staat und Volksvertretung. Die Konflikte betrafen in typischer Weise Heer und Staatshaushalt. Regierung und Parlament, Staat und Gesellschaft, Heer und Wirtschaft, Soldat und Bürger standen in dem Gesamtgefüge des „konstitutionellen“ Preußen in einem Gegensatz, der sich nach der Reichsgründung auch auf das Deutsche Reich übertrug und es politisch und geistig in zwei Teile spalten mußte. Aus dem inneren Zwiespalt seiner staatlichen Organisation, aus der unauffälligen, aber unaufhaltsamen Logik staatskonstruktiver Folgerichtigkeit, sind dem preußischen Staat und damit dem Deutschen Reich Gefahren erwachsen, deren Bewußtsein zuerst im Rausch der wirtschaftlichen Prosperität, dann in der krampfhaften Hoffnung auf ihre Restauration untergegangen ist. Das Staats- und Verfassungsdenken des 19. Jahrhunderts währt bis in die Gegenwart hinein fort. Die Nachwirkungen eines fast hundertjährigen Zwiespaltes sind sehr stark und dauern an, mit der kaum besiegbaren Macht geistiger „Residuen“. [1] Entscheidende Begriffe, wie Verfassung, Freiheit und Gleichheit, Rechtsstaat und Gesetz, beherrschen mit bestimmten Idealvorstellungen sowohl das Geschichtsbild wie das Staats- und Verfassungsdenken des ganzen letzten Jahrhunderts. Sie haben sich in jenem Dauerkonflikt von Soldat und Bürger zahlreiche feste, handliche Begriffe und Formeln geschaffen und die Auseinanderreißung von Heer und Verfassung, Staat und Gesellschaft, Politik und Wirtschaft als einen Dauerzustand herausgebildet. Sie haben insbesondere auch die Einordnung des deutschen Arbeiters in das von Bismarck gegründete zweite Reich verhindert. [2] Erst seit dem Sieg der nationalsozialistischen Bewegung besteht die Möglichkeit, durch eine andere staatliche Gesamtstruktur, die dreigliedrige Einheit von Staat, Bewegung, Volk [2a], die Verfassungsbegriffe des bürgerlichen Gesellschaftsdenkens zu überwinden und die – sonst ganz selbstverständliche – Restauration des staatlichen Systems zu verhindern, das Adolf Hitler in seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1934 als „bürgerlich-legitimistischen Kompromiß“ gekennzeichnet hat. [3] Das deutsche Volk hat soldatische Qualitäten wie wenige andere Völker. In dem Soldatenstaat Preußen hat es sich eine politische Gestaltung dieser Wesensart geschaffen und dadurch den Fortbestand des deutschen Volkes als einer politischen Einheit ermöglicht. Zuerst im preußischen Königtum, dann

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

im preußischen Generalstab hat der preußische Soldatenstaat die Form und Führung gefunden, die seiner konkreten Art politischer Existenz gemäß waren. Aber von Anfang an bestand für diesen Soldatenstaat die Gefahr, entweder in eine geistige Verengerung und bloße Defensive zu geraten, oder aber einem fremden Geist zu erliegen. Schon unter Friedrich dem Großen hat der tiefste Denker des preußischen Ostens, Johann Georg Hamann, in einer rührenden und ergreifenden Weise von dem „Philosophen von Sanssouci“ an den „König von Preußen“ appelliert1. [4] Im ganzen neunzehnten Jahrhundert aber stand ein soldatisches Volk und ein Soldatenstaat innerlich hilflos den politischen Machtansprüchen eines ganz selbstverständlich bürgerlich-liberalen Rechtsund Verfassungsstaates gegenüber. Was der Freiherr vom Stein im Jahre 1822 dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm geschrieben hat, kann – losgelöst von der Lage des Jahres 1822 – fast als ein Leitsatz der gesamten Entwicklung bis 1933 gelten: „Endlich stehen die militärischen und bürgerlichen Institutionen miteinander in Widerspruch. Diese lähmen den Gemeingeist, jene setzen ihn voraus2.“ [5] Der preußische Generalstab hat in seiner zweihundertjährigen Geschichte [6] Siege und Niederlagen überdauert. Er verfiel nicht jenem niedrigen Rausch, dem nach den siegreichen Kriegen von 1866 und 1870, in einem Zeitalter scheinbar grenzenlosen wirtschaftlichen Aufschwungs, ganze Schichten und Generationen des deutschen Volkes erlegen sind. Er hat sich den ungeheuren Dimensionen eines modernen Weltkrieges anzupassen vermocht, sich ihnen sogar gewachsen gezeigt und einen Feldherrn von der weltgeschichtlichen Größe Ludendorffs hervorgebracht. Aber das Mißverhältnis und der innere, geistige Zwiespalt von Staatsführung und Kriegsführung, der furchtbare Dualismus des innerstaatlichen Gefüges Preußens und damit auch des Reiches, waren schließlich doch stärker als alles, was die soldatische Kraft des deutschen Heeres und die bewundernswürdige Größe seiner militärischen Führung in vier Kriegsjahren vollbringen konnte. Es ist an der Zeit, das deutlich zu erkennen. Ein weithin noch vorherrschendes national-liberales Geschichtsbild und eine mit ihm verbündete, aus gleichem Geist geborene Staatslehre haben uns bisher daran gehindert, zur tiefsten und eigentlichsten Ursache des Zusammenbruchs von 1918 vorzudringen. Wir dürfen aber nicht aufhören, nach den wahren Ursachen des Unheils zu fragen, damit der Weg frei und das richtige 1 In seinem (in französischer Sprache abgefaßten) Schreiben an die General-Administration der Zölle vom 18. August 1776 (in Gildemeisters Ausgabe von Hamanns Leben und Schriften, Bd. II. [1857], S. 202. [Dieses Schreiben u. d. T. „A l’Administration générale des Accises et Peages. 18 Août 1776“ auch in: Hamann, Sämtliche Werke, hrsg. v. Josef Nadler, Wien 1950, Bd. II, S. 325 f.]. 2 Bemerkungen über die allgemeinen Grundsätze des Planes zu einer provinzial-ständischen Verfassung, Kappenberg, am 5. November 1822. [Auch in: Freiherr vom Stein, Briefe und sämtliche Schriften, VI, Stuttgart 1965, S. 556 – 570, 560; dort mit dem Datum 1. / 3. November 1822].

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I. Preußischer Soldatenstaat und bürgerlicher Konstitutionalismus

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Ziel erkennbar bleibt. Ich will versuchen, dieser Pflicht mit Hilfe der Einsichten und Ergebnisse meines wissenschaftlichen Faches zu genügen, nicht, um neue Schuldfragen aufzuwerfen und neue Schuldige zu benennen, sondern um die Verschleierungen einer seit zwei Generationen herrschenden liberalen Staatsrechtslehre aufzudecken, das Staatsgefüge des zweiten Reiches in seiner wirklichen Verfassung richtig zu sehen und dadurch sowohl die gefährliche Auseinanderreißung von Heer und Verfassung, Staat und Gesellschaft, wie auch den tödlichen Widerstreit von staatlich-militärischer und gesellschaftlich-bürgerlicher Führung dem gegenwärtigen Deutschland zum Bewußtsein zu bringen. 1. Der Konflikt von Kriegführung und Politik, der Deutschlands Zusammenbruch verursacht hat, erhielt seine eigentliche Tiefe durch eine in sich zwiespältige staatliche Gesamtstruktur, die ganz aus dem liberalen 19. Jahrhundert stammte. Die liberale Bewegung des Jahres 1848 hatte den preußischen Staat gezwungen, sich auf eine „Verfassung“ einzulassen [7] und sich der Gefahr auszuliefern, sein Wesen selbst zu verlieren, indem seine Regierung parlamentarisch und sein Heer ein Parlamentsheer wurde. Trotz aller Vorbehalte und Distinktionen, trotz der sozusagen offiziellen Unterscheidung von konstitutioneller und parlamentarischer Regierung, war das die logische Endfolge dessen, was man damals unter einer „Verfassung“ verstand. Eine „verfassungsmäßige“ Regierung war schließlich doch nur eine parlamentarische Regierung [7a]. So hat man es 1848 zuerst verstanden3, ehe man den juristischen Strohhalm jener Unterscheidung von „parlamentarisch“ und „konstitutionell“ ergriff; so stellte es sich in dem ungelöst gebliebenen großen Verfassungskonflikt heraus, der sofort eintrat, als der preußische Soldatenstaat sich auf sich selbst und auf seine Armee besann. Der preußische Verfassungskonflikt von 1862 bis 1866 hat das unlösbare Problem eines Kompromisses zwischen deutschem Soldatenstaat und bürgerlichem Verfassungsstaat für kurze Zeit unverhüllt zu Tage treten lassen. Dieser Konflikt wird für unser heutiges verfassungsrechtliches und staatskonstruktives Bewußtsein immer mehr zu einem Brennpunkt aller innerstaatlichen Problematik, zu einem Vorgang, der, wie in einer Krankheitsentwicklung der „pathognomische Moment“, in einem Augenblick plötzlich den sonst verdeckten wahren Zustand erkennen läßt. Er ist das Zentralereignis der inner3 Vgl. Fritz Hartung, Verantwortliche Regierung, Kabinette und Nebenregierungen im konstitutionellen Preußen 1848 – 1918, Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, XLIV, Heft 1, S. 2 f. [S. 1 – 45, 302 – 373; Ndr. in: Hartung, Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1940, Koehler & Amelang, S. 230 – 338, vgl. dort S. 231 f.].

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts4. Er zeigte, statt der verschleiernden, unwahren Übertreibung des Unterschiedes von konstitutioneller und parlamentarischer Regierung, den wesensmäßigen Gegensatz von Soldat und liberalem Bürger. Er hat sich periodisch bei jeder späteren Heeresvorlage, bei jeder großen politischen Wendung und bei symptomatischen Einzelheiten, wie im Zabernfall 1913 [8], in irgendeiner Form wiederholt. Er hat schließlich auch die Weimarer Verfassung wesentlich bestimmt, die in weitem Maße nichts als die verspätete Antwort auf die innerpolitische Frage jenes großen Konfliktes ist. Der Verfassungskonflikt von 1862 – 66 war ein Militär- und ein Budgetkonflikt zugleich. Dadurch, daß er sich auf die Heeresorganisation und ihre Finanzierung bezog, ergriff er die zwei wesentlichen Angelegenheiten jedes und insbesondere des preußischen Staates: Heer und Finanz, Krieg und Wirtschaft. Er endete nur scheinbar mit einem Kompromiß. Die königliche Regierung führte die Heeresreform gegen den Willen des Landtags durch und gewann zwei Kriege, aber nach dem Siege suchte sie bei dem Parlament um nachträgliche Anerkennung, Genehmigung und Entlastung, um „Indemnität“ nach und erhielt sie. Die entscheidende Stelle der Rede, mit der der König am 5. August 1866 den preußischen Landtag eröffnete [9], lautet so: „Die Staatsausgaben, welche in dieser Zeit geleistet sind, entbehren der gesetzlichen Grundlage, welche der Staatshaushalt, wie Ich wiederholt anerkenne, nur durch das nach Art. 99 [10] der Verfassungsurkunde alljährlich zwischen Meiner Regierung und den beiden Häusern des Landtages zu vereinbarende Gesetz erhält. Die vorjährige Verwaltung ohne diese Grundlage entsprang einer Notlage, die der Regierung anders zu handeln ganz unmöglich machte, jetzt aber nicht weiter bestehen wird.“

Es kommt hier nicht darauf an, wie die führenden Männer, sei es der König, Bismarck oder ein anderer, diesen Schritt im einzelnen bei sich begründet und gerechtfertigt haben, ob die Bitte um Indemnität ein „Eingeständnis begangenen Unrechts“, ein „pater peccavi“ war oder nicht, ob sie nur eine „formale Dechargierung“ ohne „schlimmere Tragweite“ oder etwas anderes sein sollte5. Die herrschende, man darf sagen „offizielle“ verfassungsrechtliche Lehre gab die Antwort, daß eine Lücke in der Verfassung vorliege. „Das Staatsrecht hört hier auf 6.“ [11] Damit war anerkannt, daß der Staat eigentlich noch keine Ver4 Von Paul Ritterbusch ist eine Darlegung der zentralen verfassungsgeschichtlichen und staatstheoretischen Bedeutung des preußischen Verfassungskonfliktes zu erwarten. [7b] 5 Darüber das 21. Kapitel von Bismarcks Gedanken und Erinnerungen und insbesondere der Aufsatz in den Hamburger Nachrichten vom 21. Juni 1891 (Hermann Hofmann, Fürst Bismarck 1890 – 1898, Bd. 1, Stuttgart 1913, S. 370), der allerdings aus einer Zeit stammt, in der Bismarck besonderen Wert darauf legte, nicht als Gegner des Parlaments zu gelten. Über Bismarcks Motive vgl. unten S. 18 f. 6 G. Anschütz in dem Lehrbuch des [deutschen] Staatsrechts von Meyer-Anschütz, 7. Aufl. 1919, S. 906. Daß die Lückentheorie die wahre Verfassungslage enthüllte und

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I. Preußischer Soldatenstaat und bürgerlicher Konstitutionalismus

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fassung hatte. Denn die wesentliche Frage war von der Verfassung nicht erfaßt, und die Lücke setzte gerade im entscheidenden Falle ein, dessen Beantwortung für die beiden Partner der Verfassungsvereinbarung der eigentliche Inhalt der Verfassung sein mußte. Der abgründigen Doppeldeutigkeit des Satzes „Das Staatsrecht hört hier auf“ war sich niemand bewußt. Der Verfassungskonflikt endete ohne Entscheidung. Jeder konnte sich für den innerpolitischen Sieger halten und für die weitere Auseinandersetzung davon ausgehen, daß er sein gutes Recht gewahrt und durchgesetzt habe. Der Konflikt war nicht, auch nicht durch einen eigentlichen Sachkompromiß beendigt worden; er war nur mit Hilfe eines ganz außergewöhnlichen außenpolitischen Erfolges in einer außergewöhnlichen Situation, in der Stimmung nach einem siegreichen Kriege, verdeckt und überbrückt, d. h. auf eine spätere und andere Zeit vertagt. Jede folgende Heeresvorlage bewies, daß die entscheidende, Heer und Budget betreffende Frage noch offen war. Die „Verfassung“ Preußens und des zweiten Reiches, wie der ganze sogenannte „Konstitutionalismus“, gab also am entscheidenden Punkte überhaupt keine Lösung, vor allem in der Sache auch keine echte Kompromißlösung. Für den Soldatenstaat Preußen war es ein trügerischer Gewinn, ein „konstitutioneller Verfassungsstaat“ zu sein und für das Linsengericht einer fremden Legalität das Prinzip seiner politischen Existenz in Frage gestellt zu haben. Die preußische Verfassung von 1850 [12] versuchte, einen Militär- und Beamtenstaat mit einem bürgerlichen Verfassungsstaat zu verbinden. Sie war von den innerpolitischen Partnern nicht vereinbart, sondern vom König einseitig oktroyiert, aber sie konnte insofern als ein Kompromiß aufgefaßt werden, als der eine Teil, der König, nachgegeben hatte. Sie war wenigstens ein Scheinkompromiß. Die Verfassungen des Norddeutschen Bundes von 1867 und des Deutschen Reiches von 1871 waren bereits mit dem Parlament „vereinbart“. [13] Als Partner des Scheinkompromisses standen die preußische Militärmonarchie und die liberale bürgerliche Bewegung einander deutlich gegenüber. Darauf gründete sich die dualistische Struktur des so entstandenen neuen Staatsgebildes. Das Heer blieb der Kern des preußischen Staates; es war nicht nur, wie man oft gesagt hat, ein „Staat im Staate“; es war der Staat im Staate. [14] Aber ihm gegenüber hörte das liberal-bürgerliche Staatsrecht auf. Das Beamtentum, das nach 1807 noch die Aufgabe einer führenden und staatstragenden Schicht erfüllt hatte, war „objektiviert“ und „neutralisiert“; es war nach dem Grundsatz der „Gesetzmäßigkeit der Exekutive“ dem „Gesetz“, die Lücke fundamental war, zeigt sich auch in dem Versuch des Freiherrn Marschall von Bieberstein, die fehlende Gegenzeichnung bei Anordnungen des Obersten Kriegsherrn mit der fehlenden Budgetbewilligung in eine Parallele zu setzen: Verantwortlichkeit und Gegenzeichnung bei Anordnungen des Obersten Kriegsherrn. [Studien zum deutschen Staatsrecht], Berlin 1911, S. 431. – [Vgl. zu diesem Buch die Rez. von Otto Mayer (1846 – 1924), AöR, 1912, S. 353 – 356, der die Unentbehrlichkeit d. Gegenzeichnung bei Akten der Kommandogewalt betonte.].

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

d. h. einem nur unter Mitwirkung eines Beschlusses der Volksvertretung zustande kommenden politischen Willen unterworfen. Es blieb in seiner Gesinnung königstreu, aber nur im Rahmen der Legalität eines Rechts- und Verfassungsstaats, in welchem die Lex und nicht der Rex, eine Norm und nicht ein Führer maßgebend waren. Es hatte den politischen Nerv und damit auch die Fähigkeit verloren, die staatstragende Schicht der politischen Einheit des deutschen Volkes zu sein7. Infolge der rechtsstaatlichen Sicherungen sowohl seiner dienstlichen Stellung wie seiner vermögensrechtlichen Ansprüche erhielt es im Laufe des 19. Jahrhunderts in dem Kampf des liberalen Bürgertums gegen den preußischen Soldatenstaat eine Art Zwischenposition8. Zwischen ihm und dem Monarchen stand das Gesetz und eine urkundliche Normierung, die Verfassung. Nicht auf den König, sondern auf ein Normensystem war der Beamte vereidigt (vgl. Art. 108 der preußischen Verfassung 1850 [15]), während der Soldat den Fahneneid seinem Könige leistete. In der Auseinandersetzung zwischen dem preußischen Soldatenstaat und der bürgerlichen Gesellschaft war der „liberale Geheimrat“, nach seiner Bildung und seiner objektiven Lage, keineswegs ein geistiger Bundesgenosse des Soldatenstaates. Behält man die eigentliche staatliche Wirklichkeit, nämlich den soldatischen Charakter der preußischen Monarchie, im Auge, so wird das innerlich Wesensfremde dieser Kombination von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, dieses ganzen „bürgerlich-legitimistischen Kompromisses“, sichtbar. Die süddeutschen Staaten waren nicht in gleichem Maße wie Preußen die Träger eines besonderen, in dem soldatischen Charakter des Staates begründeten geschichtlichen Auftrages. Sie konnten den Kompromiß als gefahrlosen Ausweg betrachten. Ihre Monarchen konnten gute Bürgerkönige werden, soweit sie nicht für ihre individuelle Person, wie der edle König Ludwig II. von Bayern, 7 Otto Hintze schrieb im Jahre 1901 (Acta Borussica, Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. VI, S. 554): „Die Bureaukratie von 1740 war eine ecclesia militans, war eine Reformpartei im Staate selbst, die mit den Ideen der Aufklärung und der Rechtsgleichheit, mit der neuen kameralistischen Bildung eine verrottete Gesellschaft und ihre egoistischen Anschauungen bekämpfte. Die heutige Bureaukratie ist keine ecclesia militans mehr; sie hat längst gesiegt, sie will nichts mehr erkämpfen; sie hat sich behaglich eingerichtet und ist mit der conservativen Aufgabe beschäftigt, ihren alt überkommenen Besitzstand gegen unbequeme Neuerungen zu vertheidigen; aber als Stand . . . als geschlossene Körperschaft steht sie entfernt nicht mehr so an der Spitze der Zeit und ihrer Bildung, wie das damalige Beamtenthum“. [15a] 8 Das frühliberale „eigenartige Nebeneinander von Kampf gegen die Bürokratie und Kampf um ihre rechtliche Sicherstellung“ behandelt Th. Wilhelm, Die Idee des Berufsbeamtentums [Ein Beitrag zur Staatslehre des deutschen Frühkonstitutionalismus], Tübingen 1933, S. 11 f.: „Durch die verfassungsmäßige Sicherung der Rechtsstellung des Beamtentums wird dieses aus einem Werkzeug des Monarchen zu einer Schranke der Regierung gemacht. Von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt, um den Spieß völlig umzudrehen und aus der Waffe der Regierung gegen das „Volk“, eine Waffe „des Volkes“ gegen die volksfeindliche Regierung zu machen.“

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I. Preußischer Soldatenstaat und bürgerlicher Konstitutionalismus

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an den existentiellen Widersprüchen eines bürgerlich-legitimistischen FürstenDaseins zugrunde gingen. In Preußen aber war das sogenannte „konstitutionelle“ System nur ein Schleier über dem Abgrund, der einen preußischen Soldatenstaat für ewig von einem liberalen Bürgerstaat trennt. Der Dualismus von Soldat und Bürger war hier nicht etwa ein Fall friedlicher Funktionenund Zuständigkeitsverteilung, keine Angelegenheit eines schiedlichen „Ausgleiches“, kein juste milieu, kein irgendwie zu „balancierendes Gleichgewicht“ von Fürst und Volk, Regierung und Parlament. Der Gegensatz war auch tiefer als der eines allgemeinen staatsbürgerlichen und eines speziellen Dienst- und Gewaltverhältnisses nach Art des zivilen Beamtentums. Es ist in höchstem Maße kennzeichnend für die bürgerliche Staatsrechtslehre des zweiten Reiches, daß sie die „eigenartigen Beziehungen zwischen dem Soldaten und dem Staat“ als eine bloße Modifikation des zivilen Beamtenverhältnisses, als ein von diesem nicht wesentlich verschiedenes „Gewaltverhältnis“ zu deuten suchte, „nur daß die militärische Gehorsamspflicht einen größeren Umfang hat und durch strengere Strafen gegen Verletzungen gesichert ist“. Das hatte „Labands scharfes Auge sofort erkannt“9 [16]. Die öffentlich-rechtliche Theorie trug auf diese Weise dazu bei, den Soldaten in einen zivilen Beamten zu verwandeln, ihm seine spezifische Wesensart zu nehmen und ihn dadurch in das Rechtssystem des bürgerlichen Verfassungsstaates einzubeziehen. Aber weder die vermittelnde Stellung des rechtsstaatlich gesicherten Beamtentums, noch parteimäßige Zwischenbildungen wie Nationalliberale und Freikonservative [17] vermochten den Gegensatz zu überbrücken. Denn Soldat und liberaler Bürger, preußisches Heer und bürgerliche Gesellschaft, sind Gegensätze zugleich der Weltanschauung, der geistigen und sittlichen Bildung, des Rechtsdenkens und vor allem auch der fundamentalen Ausgangspunkte für die staatliche Struktur und Organisation. Ein vom deutschen Soldaten her aufgebauter Führerstaat kann mit einem vom liberalen Bürger her konstruierten Rechtsstaat keinen echten Kompromiß schließen. [18] Es handelte sich seit 1848 nicht mehr nur um den alten Gegensatz von Linie und Landwehr [19], auch nicht um den Wechsel einer konservativen und einer liberalen Regierung und die Verschiedenheiten eines „Regime“, sondern um den unendlich tiefer greifenden Widerstreit wesensverschiedener Menschentypen. Es ging, bis in seine physische Sonderart hinein, um die Gestalt des Deutschen selbst. Ein Verfassungs„kompromiß“ organisierte und stabilisierte den inneren Zwiespalt einer doppelt widerspruchsvollen Heeres- und Staatsverfassung: kraft des Wahlrechts wählte der Preuße seine „Volksvertretung“ als „Bürger“ nach liberalen und schließlich nach liberal-demokratischen Grundsätzen; kraft der allgemeinen Wehrpflicht war er Soldat und von dem preußischen Volksheer in den entscheidenden Jahren seines Lebens und in den entscheidenden Zeiten seines Daseins total 9

Vgl. Freiherr Marschall von Bieberstein, a. a. O., S. 359.

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

erfaßt. Das Doppelwort „Staatsbürger“ (eine Kompromiß-Variante des Wortes „Weltbürger“) [20] verschleierte das Problem in derselben Weise wie andere, für den national-liberalen Zwiespalt typische Wortverkoppelungen, z. B. „Bundesstaat“ oder „Rechtsstaat“. Wenn der König Wilhelm I. mit der ganzen Sicherheit seines preußischen Staatssinnes um die dreijährige Dienstzeit kämpfte [20a], und sie seinen Nachfolgern als ein heiliges Vermächtnis hinterließ, so kannte er die Bedeutung gerade dieses dritten Dienstjahres, wie auch das zugrunde liegende staatliche Prinzip, für das er kämpfte: erst im dritten Dienstjahr tritt die totale Erfassung durch den Soldatenstaat, die innerliche Umwandlung in den preußischen Soldaten ein, der sich von einem militärisch abgerichteten Bürger unterscheidet. Hinter dem Dualismus von preußischem Soldatenstaat und bürgerlichem Verfassungsstaat stand also etwas Anderes und Tieferes als der allgemeine innerpolitische Kampf um die „Regierung“. Dieser Dualismus wurzelte in dem unüberbrückbaren Gegensatz einander widersprechender, totaler Führungs-, Bildungs- und Erziehungsansprüche. Durch die Entwicklung zum liberalen Staatsbürger war der Gegensatz der Menschentypen, der Gegensatz von Bildung und Besitz gegen Blut und Boden [21], sichtbar geworden. Der nachrückende deutsche Arbeiter verschärfte die Problematik. Obwohl er alle soldatischen Eigenschaften des Deutschen besaß, unterstellte er sich fremder Führung. Er wurde dadurch zum Werkzeug der eigentlichen Nutznießer des liberalen Konstitutionalismus, nämlich der zentrumskatholischen und der internationalmarxistischen Politik, in deren Kampf gegen Bismarcks preußisch-deutsches Reich. 2. Der preußische Soldatenstaat hat sich tapfer gewehrt. Es ist ihm gelungen, den Fahneneid auf den Landesherrn statt auf die Verfassung durchzusetzen und dadurch die Armee als Gefolgschaft eines Führers erscheinen zu lassen. Es ist ihm ferner gelungen, die militärische Kommandogewalt von dem „konstitutionellen“ Erfordernis der ministeriellen Gegenzeichnung frei zu machen. Dadurch war die Armee aus dem Bereiche des bürgerlichen Verfassungssystems herausgenommen und als königliche oder kaiserliche Armee davor geschützt, ein Parlamentsheer zu werden. Auch in dem Streit um den Umfang der Kommandogewalt, insbesondere um das Erfordernis der ministeriellen Gegenzeichnung bei der Ernennung und Entlassung von Offizieren und um die Militärgerichtsbarkeit, hat Preußen seinen soldatischen Standpunkt gut gehalten. Das Heer war also den politischen Auswirkungen des liberalen Verfassungsstaates entzogen. Die Staatsrechtslehre fand sich damit ab, daß die Anordnungen des Obersten Kriegsherrn nicht von dem „verantwortlichen“ Kriegsminister gegengezeichnet wurden. Man hatte verschiedene Konstruktionen zur Rechtfertigung

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I. Preußischer Soldatenstaat und bürgerlicher Konstitutionalismus

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der preußischen Praxis: Gewohnheitsrecht, Natur der Sache und besonders, seit dem Aufsatz Heckers in Stengels Wörterbuch 1890, die Unterscheidung von Regierungsgewalt und Kommandogewalt. [22] Es ist jedoch von größter symptomatischer Bedeutung, daß die einzige eingehende, monographische Erörterung der staatsrechtlichen Frage, die im Jahre 1911 erschienene, in der Staatsrechtslehre sehr erfolgreiche Abhandlung des Freiherrn Marschall von Bieberstein, mit der ganzen Überheblichkeit streng „juristischen“ – das war für sie selbstverständlich bürgerlich-verfassungsstaatlichen – Denkens, den Nachweis übernahm, daß die Verfassung alle Anordnungen des Obersten Kriegsherrn gegenzeichnungspflichtig mache und daß alle nicht gegengezeichneten Anordnungen demnach verfassungswidrig und fehlerhaft seien. Nur weil der Soldat ein beschränktes Prüfungsrecht habe und wegen der Besonderheit des militärischen Gehorsams, wegen der „absolutistischen Dienstgewalt“ des Obersten Kriegsherrn, sollten diese fehlerhaften Akte trotzdem verbindlich sein und befolgt werden müssen; freilich nur von Soldaten, nicht von Militärbeamten und anderen, nicht zum militärischen Gehorsam verpflichteten Personen. Dieses Buch ist für die geistige Lage sowohl des preußischen Soldatenstaates wie der Staatsrechtslehre der deutschen Vorkriegszeit überaus kennzeichnend. Sein Ergebnis lautet (S. 435): „Auf eine juristische Rechtfertigung solcher (nicht gegengezeichneter) Anordnungen gegenüber dem entgegenstehenden Verfassungsgebot ist von vorn herein verzichtet – wie denn überhaupt unsere Wissenschaft nicht dazu da ist, politischen Postulaten die begehrte rechtliche Legitimation zu vermitteln, sondern umgekehrt, solche Postulate in die Rechtsschranken zu weisen, indem sie lediglich den bestehenden Rechtszustand mit ihren Mitteln und Formen juristisch zu erfassen und zu erklären strebt. Die rechtliche Erklärung der faktisch vorhandenen Wirksamkeit jener fehlerhaften und doch nicht nichtigen Akte aus einer auf Einschränkung des Prüfungsrechtes beruhenden Steigerung der Subjektion gewisser Organe hat dann ganz von selbst zugleich zur Begrenzung dieser Wirksamkeit und zwar zur Festlegung eines personellen Wirkungsbereiches geführt.“

„Rechtlich“ und „juristisch“ war also die ganze preußische Praxis, mit allen Offiziersernennungen und ehrengerichtlichen Anordnungen des Kaisers, verfassungswidrig und fehlerhaft; aber weil das Prüfungsrecht des Soldaten gegenüber rechtswidrigen Befehlen eingeschränkt ist, mußte der deutsche Soldat trotzdem gehorchen! Ich behaupte, daß ein auf seinem Heer beruhender Staat, in dem eine solche Art von Jurisprudenz für „unpolitisch“ gehalten wird, ausgehöhlt und dem Untergang geweiht ist [23]. Aber nicht nur die liberale Wissenschaft des Staats- und Verfassungsrechts, die gesamte geistige Entwicklung drängte den preußischen Soldatenstaat in eine schwierige Defensive. Die liberale Demokratie stieß im 19. Jahrhundert außerhalb Deutschlands, in Europa und in der ganzen Welt, wie auch innerhalb Deutschlands mit schicksalhafter Unwiderstehlichkeit vor. Viele Beobachter erwarteten schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, daß sie jeden

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

Damm zerreißen werde. Unter solchen Aspekten erschien der preußische Soldatenstaat nur noch als eine schon fast überflutete Insel, deren Schicksal besiegelt war. Liberalismus und Demokratie fühlten sich zukunftssicher auf der Seite des Fortschritts, der Freiheit, der Entwicklung, der kommenden Dinge, und die marxistische Sozialdemokratie drängte auf den gleichen Denkgeleisen in derselben Richtung nach. Im Geschichtsbild des liberalen Jahrhunderts verlief die Entwicklungslinie der Menschheit vom militärischen zum industriellen Typus, vom Krieg zum Frieden, von der Politik zur Wirtschaft, von der Anstalt zur Genossenschaft, vom Absolutismus zur Demokratie. Nicht nur für den Kirchenvater dieser liberalen Metaphysik, H. Spencer, war gerade Preußen – neben Dahome, dem Inkareich, Rußland und ähnlichen mythischen Schreckbildern – ein militaristischer Gewaltstaat. Als genaue geistesgeschichtliche Parallele zur Weimarer Verfassung und als ihr weltanschauliches Fundament ist dieser Mythus vom preußischen Militarismus und sein Gegenbild, der angelsächsisch-friedliche Kommerzialismus, im Jahre 1919 offen auch in Deutschland (in Josef Schumpeters „Soziologie der Imperialismen“) „wissenschaftlich“ verkündet worden. [24] Das lag in der folgerichtigen Logik des liberal-bürgerlichen Denkens. Kein noch so gut gemeinter, „königstreuer“ Vorbehalt patriotischer Nationalliberaler konnte den Lauf dieser Logik aufhalten. Geistig, oder vielmehr – um das ihr adäquate Wort zu gebrauchen – ideologisch, erfaßte die liberale Bewegung, trotz des Mißerfolges ihrer Revolution von 1848 und trotz ihrer eigenen Vorbehalte, mit größter Selbstverständlichkeit auch in Deutschland alle Gebiete des öffentlichen Lebens. Das Beispiel der süddeutschen Staaten, in denen der Konstitutionalismus vorbildlich gelungen schien und sogar die Kommandogewalt nach liberal-verfassungsstaatlicher Forderung der Gegenzeichnung in vollem Umfange unterworfen war, konnte als ein besonders schlagendes Argument dienen. Noch während des Weltkrieges ist von den Vertretern der späteren Weimarer Koalition geltend gemacht worden, daß die unter Gegenzeichnung des Ministers ernannten bayerischen, württembergischen und sächsischen Offiziere doch ebenso tapfere und treue Soldaten seien wie die preußischen Offiziere. In einer solchen Lage hatte die liberale Beweisführung das große politische Übergewicht, das der Besitz eines politischen umkämpften Begriffes verschafft. Verfassungsstaat und Rechtsstaat [25] waren ihr Monopol. Sie hatte sich ihre eigenen Begriffe von Recht und Verfassung geschaffen, und alles, was sie tat und forderte, erschien daher als ein Kampf, nicht etwa nur für ein liberales Recht und eine liberale Verfassung, für einen liberalen Rechtsstaat und liberale Freiheit und Gleichheit, sondern für die Verfassung und den Rechtsstaat, für Freiheit und Gleichheit überhaupt. Unversehens unterschob sich überall, selbst in den Darlegungen der preußischen Regierung, dem Wort „Verfassung“ ein liberal-rechtsstaatlicher Sinn [26]. Wenn die Kommandogewalt in Preußen von der ministeriellen Gegenzeichnung ausgenommen und dadurch aus dem liberalen Teil der Staatsverfassung eximiert war, so mußte

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I. Preußischer Soldatenstaat und bürgerlicher Konstitutionalismus

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das, was Preußen in seiner wahren Verfassung hielt, für die Denk- und Sprechweise des bürgerlichen Verfassungsstaates als ein von der Verfassung überhaupt nicht erfaßter, verfassungsloser, anarchischer, unmöglicher Zustand erscheinen. Bei der Beratung des Reichsmilitärgesetzes, 1874, sagte der nationalliberale Führer von Bennigsen: „Die Kriegsverfassung, die Heereseinrichtung bilden einen so wesentlichen Bestandteil der Verfassung eines Volkes, eines Staates, sie bilden bis zu einem so hohen Maße das Knochengerüst der Verfassung eines jeden Staates, daß, wenn es nicht gelingt, . . . die Heerverfassung und Wehrverfassung einzufügen in die konstitutionelle Verfassung –, überhaupt die Konstitution in einem solchen Lande noch keine Wahrheit geworden ist.“ [27] Dem kraftvollen und mächtigen preußischen Soldatenstaat fehlte die geistige Macht über die Rechtsbegriffe seiner Zeit und über die neugebildeten Rechtsvorstellungen des 19. Jahrhunderts. Roon schrieb 1865: „Unsere Gegner sind unausgesetzt in der Initiative . . . Die Vorteile der Initiative aber sind im Kampfe der Geister wie der Waffen gleich entscheidend.“10 Die bekannten Antithesen von Recht gegen Macht, Rechtsstaat gegen Machtstaat [28], Verfassung gegen Willkür wirkten von selbst gegen den preußischen Soldatenstaat. Auch die Antithese von Geist gegen Macht, Bildung gegen Unbildung, arbeitete für die liberale, bürgerliche Gesellschaft und gegen den preußischen Staat. Die propagandistische Gegenüberstellung des friedliebenden, besitzenden und gebildeten Bürgers gegen den machthungrigen, ungebildeten und ungeistigen preußischen Militarismus ist nur der gröbste, aber auch der folgerichtigste Anwendungsfall dieses allgemeinen Dualismus [29]. Die ganze liberale Litanei von Rechtsstaat gegen Polizeistaat [30], Volksstaat gegen Obrigkeitsstaat, Genossenschaft gegen Anstalt, Verfassung gegen Diktatur, Geist und Bildung gegen Militarismus setzte ihre Sprech- und Denkweise in den verschiedensten Schichten des geistigen und gesellschaftlichen Lebens durch. Sie drang auch in die juristische Bildung der Beamten ein und beherrschte die geistige Atmosphäre. Die Klage über die Juristen Deutschlands, zu der selbst Rudolf Gneist (Der Rechtsstaat, 1872, S. 149) sich veranlaßt sah, gilt nicht nur für die Zeit des frühen Liberalismus bis 1848; die „konstitutionelle“ Denkweise dauert vielmehr bis zur Gegenwart fort und dokumentiert sich in zahlreichen Entscheidungen der Gerichte, insbesondere auch des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich. Gneist spricht von der „reißenden Propaganda“ der konstitutionellen Ideen und sagt: „An diesem Ideenkreis nahmen auch die Juristen Deutschlands ihren Anteil, nicht sowohl mit der besonderen Kenntnis ihres Berufs, als mit der allgemeinen Bildung und mit den gesellschaftlichen Vorstellungen, die ihnen mit den gebildeten Klassen des deutschen Volkes gemeinsam waren. Die eigentümliche Zusammensetzung unseres Privat- und Strafrechts und das geringe 10 Brief an Perthes vom 3. Juni 1865, Denkwürdigkeiten (5. Aufl., Berlin 1905), Bd. 2, S. 345; die Äußerung von Bennigsens in den Stenogr. Reichstagsberichten 1874, Bd. 2, S. 41 [recte: 754] [27a].

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

Interesse, welche das entschwundene Reichsstaatsrecht den Rechtsstudien darbot, gewöhnte unsere Juristen an eine stetige Scheidung zwischen ,Theorie und Praxis‘. Das ganze Staatsrecht wurde von dem Richter und Anwalt zur ,Theorie‘ gerechnet, d. h. es fiel der allerfreiesten, individuellen Auffassung anheim, in welcher auch der preußische Jurist (unbekümmert um seinen Teil II des Allgemeinen Landrechts [31]) mit der Staatsphilosophie der gebildeten Klassen wetteiferte. Die Lehren des französischen Constitutionalismus fanden jetzt auf allen Seiten einen bereiten Boden, und erschienen nun auch in dem uns so sehr zusagenden philosophischen Gewande als ein ,allgemeines Staatsrecht‘. Dies war es, welches man auf den Universitäten noch gerne hörte.“ [32] Ein Eduard Lasker [33] stand also führend auf der Seite von Geist, Recht und Bildung gegen Männer wie Bismarck, Moltke und Roon, die infolgedessen auf der Seite der Unbildung standen. Jener Typus, nicht die großen deutschen Männer, sollte die „Verfassung“ des Deutschen Reiches bestimmen! Welche Verwirrung! Die Herausnahme der Kommandogewalt aus dem liberalen Verfassungssystem, d. h. die Rettung des deutschen Soldatentums vor den Führungsansprüchen einer solchen Art von „Bildung“, erschien allen diesen Bürgern als unbegreifliche Abnormität, als unfaßbare Hartnäckigkeit eines bösartigen Militarismus, der als ein Feind der Freiheit, als das letzte Bollwerk einer geist-, bildungs- und fortschrittsfeindlichen Reaktion hingestellt wurde. In seinem berühmten Brief an Herrn von Vincke [34] vom 2. Januar 186311 fragte der König Wilhelm I., dem dieses ganze, Staat und Recht und Staat und Verfassung auseinanderreißende Begriffsspiel unbegreiflich war, mit der Empörung eines rechtlich denkenden Mannes: „Wo steht es in der Verfassung, daß nur die Regierung Konzessionen machen soll und die Abgeordneten niemals???“ Die Antwort auf diese Frage, die der König mit drei Fragezeichen versah, lag darin, daß der Verfassungsbegriff des 19. Jahrhunderts eben der liberale Verfassungsbegriff der bürgerlichen „Volksvertreter“ war, und diese den „Geist der Zeit“ auf ihrer Seite hatten. Ihm hat die königliche Regierung durch ihre Bitte um Indemnität das geistige Kampffeld überlassen. In einem Staat mit einem solchen Verfassungsbegriff stand der soldatische Teil des Staates auf einem verlorenen Posten. Die Verfassung selbst, das Grundgesetz, die Grundvereinbarung, der fundamentale „Kompromiß“, war ausschließlich auf Kosten des Soldatenstaates geschlossen worden. „Verfassung“ bedeutete im deutschen 19. Jahrhundert in der Sache wesentlich nicht etwa nur eine Beschränkung der königlichen Machtbefugnisse, sondern vor allem eine Verneinung der Grundlagen und Auswirkungen des preußischen Soldatenstaates. Das war das innere Grundgesetz, nach dem der monarchische Konstitutionalismus in Preußen angetreten war und unter dem er sich mit unweigerlicher Logik weiter entwickeln mußte. Ein Staats- oder Verfassungs11 Abgedruckt in Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, [I] 14. Kapitel. [In „Erinnerung und Gedanke“, II, 3. Kap.].

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I. Preußischer Soldatenstaat und bürgerlicher Konstitutionalismus

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gerichtshof hätte vor dem Siege von 1866 jenen Liberalen Recht gegeben und Bismarcks Reich verhindert. Der Urkompromiß, den eine solche Verfassung darstellte, mußte sich in immer weiteren Kompromissen von gleicher Struktur, mit immer weiteren Minderungen des Soldatenstaates fortsetzen. Jedes Gesetz, jeder Jahreshaushalt, jede Heeresvorlage, jede Vereinbarung zwischen Regierung und Parlament über die Friedenspräsenzstärke und sonstige Angelegenheiten, bestätigten und erweiterten die Macht der Volksvertretung über die Verfassung und lieferten ihr, auch wenn sie nachgab und der Regierung entgegenkam, neue Argumente und neue Rechtstitel. Jedes Entgegenkommen gegen die militärischen Forderungen der Regierung gefährdete in der Logik eines solchen Verfassungszustandes die Parteien, die sich dazu verstanden, und lieferte sie den billigen Trümpfen der „Links“-Parteien aus, die die Logik des bürgerlichen Verfassungsstaates auf ihrer Seite hatten. Das Entwicklungsgesetz, auf das der preußische Soldatenstaat sich eingelassen hatte, als er sich auf diese Art von „Verfassung“ einließ, konnte sich nur gegen ihn auswirken. Ungeheure militärische und außenpolitische Erfolge haben nichts daran geändert, und nur einen Aufschub, eine Vertagung, bewirken können. Siegreiche Kriege, wie die Weltgeschichte wenige kennt, politische Erfolge erstaunlichster Art verhalfen diesem preußischen Soldatenstaat innerpolitisch nur dazu, notdürftig seine Existenz zu behaupten, den Konflikt zu verdecken, die Exemtion der Kommandogewalt und eine Verschleierung des offenen Konfliktes zu erreichen. Darüber darf der äußere Glanz dieser Zeit nicht hinwegtäuschen. Ein Parlament, das alles getan hatte, um den Sieg unmöglich zu machen, gegen dessen lautes Geschrei und offenen Widerspruch die Heeresorganisation durchgeführt und der Sieg errungen war, wurde von dem Sieger um Indemnität gebeten und genehmigte den siegreichen Krieg. Der König Wilhelm I. hat den entscheidenden Punkt der verzweifelten Lage des preußischen Staates, die militärische Kommandogewalt [35], erkannt und mit heldenhafter Festigkeit gehalten. Je mehr uns die Einzelheiten und Hintergründe der Geschichte des Kampfes zwischen dem preußischen Staat und der liberalen Bewegung bekannt werden, um so mehr wächst die Gestalt dieses Königs in eine weltgeschichtliche Größe. Seine Überlegenheit war lautlos. Es war nicht die Überlegenheit eines genialen Individuums, sondern die eines in den überindividuellen Geschichtszusammenhang sich einfügenden Mannes, der eine Linie festhielt, die nur ihm kraft seiner selbstverständlichen Einheit mit dem preußischen Staat erkennbar war. In einem Jahrhundert, das von dem Lärm konstitutioneller Diskussionen erfüllt war, hörte er nur die Stimme der Pflicht zum Staat, und zwar zum preußischen Soldatenstaat. Nur dadurch fand er die Kraft, die großen und genialen Männer festzuhalten, die das Werk durchführten: Bismarck, Moltke und Roon. Aber auch der König war damit einverstanden, das Parlament nach dem siegreichen Kriege um „Indemnität“ zu bitten. Das war eben die „konstitutionelle Korrektheit“.

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

3. Bismarck selbst hat die Gründe, die ihn bewogen, eine „Indemnität“ nachzusuchen, im 21. Kapitel seiner „Gedanken und Erinnerungen“ [in „Erinnerung und Gedanke“ im Buch II, 10. Kap.] ausführlich dargelegt. Für ihn kam es darauf an, die liberale Opposition des preußischen Landtags zu gewinnen, um den zahlreichen „Unzufriedenen“ im alten Preußen, in den neu erworbenen Provinzen und im übrigen Deutschland eine wirksame Waffe gegen Preußen zu nehmen und „die Führung auf liberalem und nationalem Gebiet“ in der Hand zu behalten. Niemand wird leugnen, daß das ein triftiger Grund war. Es wäre töricht, nachträglich mit Bismarck zu rechten oder gar etwa der konservativen Reaktion jener Zeit [36] recht zu geben. Trotzdem ist es notwendig, die Erfahrungen im Auge zu behalten, die sich im Laufe der weiteren Entwicklung auch für Bismarck selbst daraus ergaben, daß eine innerpolitische Entscheidung fehlte. Gerade dieser Abschnitt in Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ ist voller Einschränkungen und Vorbehalte. Bismarck sagt von der preußischen Verfassung: „Es läßt sich mit ihr regieren“. Aber er sagt das ausdrücklich nach dem siegreichen Krieg und fügt sofort hinzu: „Vor dem Sieg würde ich nicht von Indemnität gesprochen haben, jetzt nach dem Sieg war der König in der Lage, sie großmütig zu gewähren“. Für ihn ist es also merkwürdigerweise der König, der die Indemnität gewährt. Darin zeigt sich, daß jeder der innenpolitischen Gegner glauben konnte, nicht nur recht zu haben, sondern auch dem anderen noch etwas zu gewähren: der König „gewährt“ die Bitte um Indemnität, und der Landtag „gewährt“ die Indemnität. In unmittelbarem Anschluß an diesen Satz sucht Bismarck dann aber gleichzeitig die ganze Angelegenheit zu bagatellisieren und als einen bloßen Streit um Worte, um sprachliche und juristische Gegenstandslosigkeiten hinzustellen. Er spricht von einem „sprachlichen und rechtlichen Irrtum“, betont, daß es nun darauf ankäme, den innenpolitischen Gegnern, soweit sie national und nicht nur liberal wären, „sei es politisch, sei es sprachlich, eine goldene Brücke zu bauen“ und schließt dann seine Ausführungen mit einem lateinischen Zitat, das in der gleichen Richtung geht und das ganze Problem der Indemnität zu einem Wortstreit herabmindert: In verbis simus faciles. [37] Bismarck ist der Denkweise des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates innerlich niemals verfallen. Den eigentlichen Sinn und die politischen Gefahren der Ideologie und des Wortes „Rechtsstaat“ hat er allerdings erst später, in den Erfahrungen des Kampfes mit Zentrum und Sozialdemokratie, klar erkannt. Jetzt stellte sich nämlich heraus, daß ein Streit um Worte und Begriffe, je nach der wechselnden politischen Lage, aus einer bloß „sprachlichen und rechtlichen“ zu einer folgenreichen politischen Angelegenheit werden kann. In einem an Goßler gerichteten Schreiben vom 25. November 1881 sagt Bismarck: „Ich teile freilich die Besorgnis, daß wir dadurch (nämlich durch eine

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I. Preußischer Soldatenstaat und bürgerlicher Konstitutionalismus

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Erweiterung der Vollmachten der Regierung) in einen lebhaften Kampf geraten werden mit dem von Robert von Mohl erfundenen Kunstausdruck „Rechtsstaat“ [37a], von welchem noch keine einen politischen Kopf befriedigende Definition und keine Übersetzung in andere Sprachen gegeben ist12.“ Im Jahre 1866 aber fühlte er sich zu sehr als Sieger, um die Möglichkeit einer politischen Gefahr solcher Worte bereits in Rechnung zu stellen. Damals wollte und konnte er die Bitte um Indemnität, ähnlich wie die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, aus außenpolitischen Gründen „in die Pfanne werfen“. Dabei erkannte er übrigens den ganzen Vorgang durchaus als das, was er wirklich war, nämlich als eine „Vertagung der inneren Fragen“. Ausdrücklich setzt er voraus, daß man erst einmal die außenpolitische Lage klären und sich vom Ausland unabhängig machen müsse, weil wir erst dann „in unserer inneren Entwicklung uns frei bewegen könnten, wo wir uns dann so liberal oder so reaktionär einrichten könnten, wie es gerecht und zweckmäßig erschiene“. Der weitere Verlauf der innerpolitischen Entwicklung hatte gezeigt, daß die Logik des liberalen Konstitutionalismus den Mächten eines pluralistischen Parteienstaates, insbesondere dem politischen Zentrumskatholizismus und der Sozialdemokratie zugute kam. Im Jahre 1866 und in der Verfassung von 1871 mußte man sich zunächst einmal vorläufig einrichten. Um so deutlicher trat dann hervor, daß diese Verfassung eine provisorische Regelung war. Sie hatte den Vorteil, allen Wachstumsmöglichkeiten freie Bahn zu lassen. Aber auch alles aus der liberalen Verfassungsstaatlichkeit erwachsende Unheil hatte freie Bahn. Daß man sich unter dem Eindruck einer überwältigenden, aber schnell vorübergehenden nationalliberalen Reichstagsmehrheit [38] darüber täuschen konnte, wird jeder verstehen. Doch enthebt uns das nicht der Verpflichtung, die Widersprüche im Staatsgefüge des neuen Reichs vorurteilslos zu sehen und die verfassungsgeschichtlichen Erfahrungen wissenschaftlich zu verwerten.

12 Den Hinweis auf diese überaus wichtige Stellungnahme Bismarcks zu dem Wort und Begriff des Rechtsstaats verdanke ich meinem verehrten Kollegen Professor Johannes Heckel, der sie entdeckt und in seiner Abhandlung „Die Beilegung des Kulturkampfes in Preußen“ (Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung XIX, 1930, [S. 215 – 353] S. 268 ff.) veröffentlicht hat. Um den Sinn des Kampfes um ein Wort wie „Rechtsstaat“ oder „Verfassungsstaat“ (liberale Gegenbegriffe gegen den Führerstaat) zu verstehen, wird man, außer diesem vom politischen Standpunkt gesprochenen Wort eines großen Staatsmannes, zugleich auch die aus sittlichen Beweggründen stammende Empörung eines großen Dichters und Volksmannes wie Jeremias Gotthelf beachten müssen, der Wort und Begriff des „Rechtsstaates“ als die Ursache aller Rechtsverwirrung des 19. Jahrhunderts ansieht; vgl. darüber meine Rede auf dem Kölner Gautag des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen vom 17. Februar 1934, abgedruckt in der Juristischen Wochenschrift 1934, S. 713 ff. und Deutsche Verwaltung, 1934, S. 35 ff. [Schmitt bezieht sich auf: Nationalsozialismus und Rechtsstaat, S. 713 – 718 bzw. S. 35 – 42 der erwähnten Zeitschriften].

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

4. Bismarck sagt mit gutem Recht, der König habe nur mit der liberalen Landtagsopposition, nicht mit dem Volk Frieden schließen müssen, weil der Friede mit dem Volk nie unterbrochen war [39]. Das Repräsentativsystem eines liberalen Verfassungsstaates ist aber ganz darauf angelegt, der parlamentarischen „Volksvertretung“ das Monopol des Volkswillens zu verschaffen und jede andere Führung oder unmittelbare Beziehung zum Volk als verfassungswidrig zu verhindern. Der bürgerliche Konstitutionalismus beseitigte die Führung des Volkes durch seinen König und Obersten Kriegsherrn, den Zusammenhalt des preußischen Königs mit seinem Volk, und unterwarf das deutsche Volk der offenen oder getarnten Leitung durch einen Menschentypus, der artmäßig dem bürgerlichen Verfassungsdenken, nicht aber dem preußischen Soldatenstaat zugeordnet war. Durch diese Verfassung war jeder echte unmittelbare Appell der Regierung an das Volk unmöglich gemacht. Alle Neuwahlen nach der Reichstagsauflösung (1887, 1893, 1906) zeigten, daß die Mehrheit des deutschen Volkes stets bereit war, auf die Seite des deutschen Soldatenstaates zu treten. [40] Aber das System einer parlamentarischen Parteienherrschaft mediatisierte den politischen Willen des Volkes; es verhinderte die politische Auswirkung des Volkswillens und stellte eine Mehrzahl wohlorganisierter Parteien wie eine feste Mauer zwischen den politischen Willen der Regierung und den Willen eines durch eben dieses von Parteien zerrissenen und parzellierten Volkes. Der Kaiser und König war verfassungsmäßig der „militärische“ im Gegensatz zum „politischen“ Führer. Das bürgerlich-rechtsstaatliche Verfassungsdenken zwang jeden, der konstitutionell korrekt sein wollte, zu solchen tödlichen, die Totalität des Politischen aufspaltenden Zerreißungen des Wirtschaftlichen gegen das Politische und des Politischen gegen das Militärische. Ein soldatisches Volk wurde in einem aus preußischem Soldatenstaat und bürgerlichem Verfassungsstaat dualistisch zusammengesetzten Staatsgefüge innerlich zerspalten. Die Armee wurde in steigendem Maße geistig isoliert und ein „Staat im Staate“. Sie mußte in dieser Lage darauf verzichten, über ihren eigenen Rahmen hinaus, gegenüber dem ganzen deutschen Volk den totalen Führungsanspruch zu erheben, der zu jeder politischen Führung und Entscheidung gehört. Scheinbar bestand die allgemeine Wehrpflicht und war das Heer immer noch „die große Bildungsschule der Nation“ [41]. Aber der Bildungsbegriff der deutschen bürgerlichen Gesellschaft war ein anderer als der des preußischen Soldatenstaates. In der offenen Kollision dieser „Bildungs“ansprüche trat die Armee bescheiden zurück. Durch die Einrichtung des Einjährig-Freiwilligen-Dienstjahres [42] waren bürgerlicher Besitz und bürgerliche Bildung – obwohl sie sich seit den Freiheitskriegen von 1813 wesentlich gewandelt hatten – auch von Militär wegen anerkannt. Das Entscheidende war, daß die Armee die Bildungsschule der Nation nur für den

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I. Preußischer Soldatenstaat und bürgerlicher Konstitutionalismus

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Krieg sein sollte und wollte [43], und der Krieg dem Denken dieses Jahrhunderts als ein seltener Fall, als eine extreme und isolierbare, rasch erledigte Angelegenheit erschien. Die meisten Sachverständigen, die allgemein herrschende Auffassung und Stimmung rechneten mit einer Kriegsdauer von einem halben bis höchstens einem Jahr. Vergebens hat Moltke in der Reichstagssitzung vom 14. Mai 1890 gewarnt: „Wenn der Krieg, der jetzt schon mehr als 10 Jahre lang wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern schwebt, – wenn dieser Krieg zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und sein Ende nicht abzusehen. . . Es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden.“ [44] Aber das „Dogma“ von der schon aus wirtschaftlichen und finanziellen Gründen kurzen Kriegsdauer war bei allen „Sachverständigen“ unerschütterlich13 [45]. Der Anspruch des Heeres, „Bildungsschule“ zu sein, und der daraus folgende Erziehungs- und Führungsanspruch bezog sich also, wie ein ausgezeichneter Offizier treffend bemerkt hat, leider nur auf eine ultima ratio, auf einen als abnorm vorgestellten, außergewöhnlichen, extremen Sonderfall, nicht in irgendeinem über den engsten fachlichen Rahmen des Militärs hinausgehenden Sinne auf eine das gesamte wirkliche Leben des deutschen Volkes umfassende Erziehung. „Die Vorbereitung zur Schlacht ist die Hauptaufgabe der militärischen Ausbildung“14. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewöhnte man sich fast unbewußt immer mehr daran, daß die Armee eine technische Sache für sich war, eben jener, nur für den äußersten, schnell vorübergehenden Fall in Aktion tretende „Fremdkörper“ [46]. Sie zog sich in sich selbst zusammen und war schon aus diesem Grunde im Verhältnis zur Totalität des deutschen Volkes geistig in einer fast verzweifelten Abwehrstellung. Die deutsche bürgerliche Intelligenz der Vorkriegszeit „konnte den Geist der Nation nicht beschwören“15. Die militärische Führung stand ganz in der geistigen Defensive. Die staatliche Gesamtkonstruktion des Reiches aber 13 Reichsarchiv, Der Weltkrieg von 1914 bis 1918. Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Bd. I, Berlin 1930, S. 333 / 34. 14 Vgl. die Denkschrift Moltkes vom 25. Juli 1868 und die auf ihr beruhende geheime „Instruktion für die höheren Truppenführer“ vom 24. Juni 1869 (Moltke, Taktisch-strategische Aufsätze [aus den Jahren 1857 bis 1871, Berlin 1900], S. 67; Curt Jany, Geschichte der Königlich Preußischen Armee, 4. Bd., 1933, S. 257). [Moltkes Satz lautet genau: „Die Vorbereitung zur Schlacht ist daher Hauptaufgabe der militärischen Ausbildung.“ – Das „daher“ erklärt sich aus der Notwendigkeit „nach großer und schneller Entscheidung. Die Stärke der Armeen, die Schwierigkeit, sie zu ernähren, die Kostspieligkeit des bewaffneten Zustandes, die Unterbrechung von Handel und Verkehr, Gewerbe und Ackerbau, dazu die schlagfertige Organisation der Heere und die Leichtigkeit, mit welcher sie versammelt werden – Alles drängt auf rasche Beendigung des Krieges. – Die kleineren Gefechte üben darauf nur geringen Einfluß, aber sie ermöglichen die Hauptentscheidung und bahnen den Weg zu ihr.“ Moltke, Aus den Verordnungen für die höheren Truppenführer vom 24. Juni 1869, in: Reinhard Stumpf, (Hrsg.), Kriegstheorie und Kriegsgeschichte. Carl von Clausewitz / Helmuth von Moltke, Frankfurt a. M. 1993, S. 433 – 459, hier S. 436]. 15 Albrecht Erich Günther in dem Aufsatz „Die Intelligenz und der Krieg“ (in Ernst Jüngers Sammlung „Krieg und Krieger“, Berlin 1930 [S. 69 – 100], S. 95). [47]

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

machte diesen schlimmen Zustand seit Bismarcks Entlassung fast hoffnungslos. So ist ein großes Volk von unerhörter soldatischer Kraft, mit einer unvergleichlichen Armee und einem technisch vollendeten industriellen Apparat, politisch führerlos in einen Weltkrieg gezogen [48].

5. Nach Bismarcks Entlassung hatte das Deutsche Reich nicht nur keine politische Führung, sondern nicht einmal mehr das, was man im vollen Sinne eine Regierung nennen kann. Der innerpreußische Zwiespalt von Soldatenstaat und bürgerlichem Konstitutionalismus war durch die Konstruktion eines ebenfalls „konstitutionellen“ Reiches nicht überwunden oder auch nur gemildert worden. Vielmehr dehnte sich die innere Problematik Preußens auf das Reich aus. Sie wurde dadurch noch komplizierter, noch mehr erweitert und vertieft. Das Wort „konstitutionelle Monarchie“ und die irreführende Betonung des nur relativen Unterschiedes von konstitutioneller und parlamentarischer Regierung verschleierten die inneren Widersprüche eines bürgerlichlegitimistischen Kompromisses, der die fundamentale Frage Fürsten- oder Volkssouveränität, dynastisches oder demokratisches Prinzip? offen ließ. Das Wort „Bundesstaat“ verdeckte den inneren Widerspruch von Fürstenbund [49] und nationalem Einheitsstaat. Das Staatsgefüge baute sich auf dem doppelten Boden dieser beiden unentschiedenen Fragen auf. Die grundlegenden politischen Entscheidungen waren vertagt. Eine Regierung ließ sich infolgedessen nur dadurch ermöglichen, daß man sich entweder, unter vorsichtiger Vermeidung der Grundfragen, in dem kleinen Spielraum neutraler Angelegenheiten hielt, oder aber dadurch, daß ein großer Staatsmann die widerstrebenden Kräfte fortwährend balancierte und gegeneinander ausspielte. Bismarck ist das eine Zeitlang gelungen. Gegenüber der Gefahr, die der deutschen Einheit von dem Partikularismus der deutschen Dynastien drohte, hoffte er, sich auf einen national zuverlässigen, vom ganzen deutschen Volk gewählten Reichstag stützen zu können, also auf dem nationalstaatlich-demokratischen Boden zu stehen; gegenüber den hauptsächlich im politischen Zentrumskatholizismus und in der Sozialdemokratie organisierten Mächten eines pluralistischen Parteiensystems und einem von ihnen beherrschten, unzuverlässigen Reichstag konnte er sich auf die „bündische Grundlage“ [50] dieses zweiten Reiches, nötigenfalls auch in den preußischen Staat zurückziehen. Die dynastische Solidarität der Bundesfürsten, die staatliche Kraft Preußens und die nationale Homogenität des deutschen Volkes waren auf diese Weise in den Dienst der politischen Einheit Deutschlands gestellt. Der Vorteil dieser doppelten und sogar dreifachen Konstruktion lag darin, daß die eine Gefahr gegen die andere beschworen werden konnte. Der Meister

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I. Preußischer Soldatenstaat und bürgerlicher Konstitutionalismus

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des außenpolitischen „Spiels mit den drei Kugeln“ und der „Rückversicherung“ [51] wußte auch dieses innerpolitische Kugelspiel zu handhaben. Dazu gehörte freilich die beispiellose Überlegenheit Bismarcks. Jeder andere wäre von dem furchtbaren Gewicht der zu handhabenden politischen Kräfte erdrückt worden, und was bei dem großen Diplomaten höchste Genialität war, mußte sich in den Händen kleinerer Menschen in eine kümmerliche Taktik verwandeln. Aber selbst Bismarck konnte nach einigen Jahren, als die nationalliberale Reichstagsmehrheit zerronnen war, diesem Staatsgefüge keine sichere politische Führung mehr geben. Er erkannte, daß grundlegende Änderungen nötig waren. Wie weit seine Staatsstreichpläne wirklich gediehen sind, ist eine Frage für sich16. Daß aber bei einem Manne wie Bismarck um das Jahr 1890 der bloße Gedanke, die bloße Erwägung, auftreten konnte, das zweite Reich durch einstimmigen Beschluß der Bundesfürsten aufzulösen und mit neuer Verfassung neu zu begründen, beweist die tiefe Verzweiflung, ja Hoffnungslosigkeit dieses politischen Gebildes [52]. In dem Augenblick, in dem man sich der politischen Führung des einen Mannes nicht mehr unterwarf, entfiel jede Führerschaft und sogar jede echte Regierung überhaupt und trat eine zerstörende innerstaatliche Verwirrung ein, weil das Reich als staatliche Konstruktion vorläufig nur ein Regime, noch nicht eine Institution war und das Staatsgefüge keine feste verfassungsmäßige Ordnung in sich enthielt. Man hatte zwar eine liberale „Konstruktion“, aber keine Regierung und daher in Wahrheit auch keine Verfassung. Wer konnte denn, sollte es wirklich mit „konstitutioneller Korrektheit“ zugehen, in einem solchen vielgeleisigen System überhaupt regieren und die Richtlinien der Politik wirklich bestimmen? Der „konstitutionelle“ Deutsche Kaiser und König von Preußen; der „verantwortliche“ Reichskanzler; der von seinem Budgetrecht Gebrauch machende Reichstag; der angeblich souveräne Bundesrat [53]; die Landesregierungen; die über die wichtigsten Steuerquellen verfügenden Landtage der einzelnen Staaten? Oder die eigentliche politische Kraft, der deutsche Soldatenstaat und die ihn tragenden militärischen Stellen, der Oberste Kriegsherr mit seinen beratenden Organen, Großer Generalstab und Zivilkabinett, oder der zwischen Soldatenstaat und bürgerlichem Verfassungsstaat stehende „verantwortliche“ Kriegsminister? Jeder konnte von sei16 Egmont Zechlin, Staatsstreichpläne Bismarcks und Wilhelms II. 1890 – 1894, Stuttgart 1929, dazu mein Aufsatz in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 10. Juli 1929 und die Besprechung von H. Rothfels in der Deutschen Literaturzeitung 1929, Sp. 2304-16. In diesem Aufsatz vom 10. Juli 1929 findet man wörtlich folgenden Satz: „Bis jetzt spricht man in Deutschland noch nicht vom Pluralismus und dem mit diesem Wort bezeichneten Problem. Es ist anscheinend das Unglück nicht nur der Könige, sondern aller regierenden Gruppen, daß sie die Erörterung fundamentaler Fragen als unangenehm empfinden und sich lieber an den Gewinn und Applaus der Tagespolitik halten. Eine echte Verfassungstheorie steht infolgedessen heute nicht weniger vor einer undankbaren Aufgabe als in der Ära Wilhelms II. Überdies ist an formalistischen Verschleierungen und Ausweichungen kein Mangel.“ [Ein Nachdruck dieses Aufsatzes findet sich in: Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 29 – 33; die zitierten Sätze auf S. 32.].

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

ner Zuständigkeit oder seinem wohlbegründeten Einflußrecht aus, kraft der Totalität jeder echten politischen Frage, die Entscheidung für sich beanspruchen. Jeder war gezwungen, die eine Stelle gegen die andere auszuspielen, um das, was er für richtig hielt, durchzusetzen. Jeder konnte dem andern vorwerfen, daß er eine „Nebenregierung“ sei [54]. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß ein solches Staatsgefüge keine Regierung, sondern überhaupt nur Nebenregierungen kennt. Vielleicht hätte sich dieser Zustand in einer langen, ungestörten Entwicklung „organisch“ von selbst zurechtgewachsen. Aber die außen- und die innenpolitische Lange Deutschlands machten das unmöglich und drängten auf eine klare Entscheidung. Das Reich und seine Regierung, Kaiser, Reichskanzler und Staatssekretäre der Reichsämter, wuchsen allmählich, über die abgrenzbaren Zuständigkeitsverteilungen hinaus, auch gegenüber Preußen in eine führende Stellung hinein. Zum Unterschied von Wilhelm I. erschien der Kaiser Wilhelm II. bereits mehr als Deutscher Kaiser wie als preußischer König. Aber auch diese Entwicklung hätte großer Zeiträume und dauernder glücklicher Erfolge bedurft, um ein politisch sicheres Ergebnis herbeizuführen. In den kritischen Jahren vor dem Ausbruch des Weltkrieges war die staatsrechtliche Lage so, daß Preußen nicht mehr und das Reich noch nicht führte, während sich staatsrechtlich in der doppelten und dreifachen Konstruktion von föderalistischem Bundesstaat, preußischer Hegemonie und nationalem Einheitsstaat nichts geändert hatte. Staatsrechtlich hatte Deutschland vier Heere und vier Kriegsminister [55]. Der preußische Kriegsminister übte tatsächlich die Funktionen eines Reichskriegsministers aus; er war für Heeresvorlagen und den Heereshaushalt zuständig und vertrat sie auch vor dem Reichstag; aber man mußte sich dabei der innerlich widerspruchsvollen und unwahren staatsrechtlichen Fiktion bedienen, daß der preußische Kriegsminister nur als preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrat im Reichstag auftrete. Die für die übrigen Armeen erforderlichen Mittel flossen ebenfalls aus der Reichskasse. Der Reichstag bewilligte auf Grund seines als heilig anerkannten Budgetrechts die Mittel für das Heer. Aber er hatte bei den staatsrechtlich anerkannten Grundsätzen des damaligen Finanzausgleichs nur indirekte Steuern zur Verfügung, während die direkten Steuern, insbesondere die Einkommenssteuer, den Ländern verblieben, deren Armeen finanziell vom Reich getragen wurden. Ansätze zu direkten Reichssteuern, wie die Erbschaftssteuer von 1906 und der einmalige Wehrbeitrag von 1913, kamen nicht zur Entwicklung. Eine Reichseinkommenssteuer ist weder durch die Begeisterung des ersten, noch durch die Not des letzten Kriegsjahres herbeigeführt worden. [56] Der Kaiser und König war Oberster Kriegsherr und Führer seiner Armee, die kraft des ihm geleisteten Fahneneides seine Gefolgschaft war, und über deren Disziplin und Ehre er ohne Gegenzeichnung des Kriegsministers kraft seiner Kommandogewalt verfügte. Aber dieser Kaiser und Führer war gleichzeitig ein konstitutioneller Monarch; er war nach den anerkannten Grundsätzen des konstitutionellen Systems nicht verantwortlich und seine Anordnun-

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gen bedurften, um verbindlich zu sein, der Gegenzeichnung des Reichskanzlers oder eines Ministers, der „dadurch die Verantwortlichkeit übernahm“. Auch die Unterscheidung von konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie kann aus dem nicht-verantwortlichen Monarchen nicht diejenige Stelle machen, die mit konstitutioneller Korrektheit wirklich regiert. Es ist nicht denkbar, daß eine geltende, geschriebene Verfassung eine Verantwortung ausdrücklich feststellt und dann trotzdem ein Anderer als der Verantwortliche führt und regiert. Hierbei ist es ganz gleichgültig, wie die Verantwortung des Näheren durchgeführt und organisiert ist, ob sie justizförmig von einem Staatsgerichtshof, oder parlamentarisch durch Mißtrauensbeschlüsse, oder plebiszitär durch Volksabstimmung verwirklicht wird. Die verfassungsmäßige Feststellung der Verantwortlichkeit ist entscheidend und als bloßer Grundsatz auf die Dauer auch politisch stark genug, um sich irgendwie das Verfahren ihrer Verantwortung zu schaffen, sofern nur irgendeine verfassungsmäßig anerkannte, politische Kraft das Verfassungswort auf ihrer Seite hat. Daß ein verantwortlicher Minister einem Parlament bei einer Gesetzesvorlage oder bei einer Haushaltsfrage Rede und Antwort stehen muß, genügt, um der Verantwortlichkeit des Ministers und der Nicht-Verantwortlichkeit des konstitutionellen Monarchen politische Wirklichkeit zu verleihen. Das kann wirksamer und folgenreicher sein, als alle verfassungsgesetzlich normierten Pflichten zur Demission bei einem parlamentarischen Mißtrauensbeschluß. Die Verbindung einer solchen grundsätzlichen, verfassungsmäßigen Minister-Verantwortlichkeit mit einem durch die Indemnität von 1866 doppelt sanktionierten Budgetrecht des Parlaments hinderte also den Monarchen und seinen Minister, wirklich zu regieren. Andrerseits gab es aber auch keine parlamentarische Regierung. Das vielgerühmte System einer konstitutionellen (zum Unterschied von der parlamentarischen) Monarchie ist darauf angelegt, in einem Staat von der Art des zweiten Reiches jede normale Möglichkeit einer echten Regierung zu zerstören. Es bedurfte der außerordentlichen Kraft und Geschicklichkeit eines Bismarck, um gegenüber dem König und anderen Stellen die Verantwortlichkeit vor dem Reichstag, gegenüber dem Reichstag aber die Verantwortlichkeit vor dem Kaiser und dem König geltend zu machen und sich durch ein solches Hin und Her einen Spielraum für seine Führung zu schaffen. Aber auch das war, wie schon erwähnt, nur solange möglich, als die Wirkung seiner erstaunlichen Erfolge von 1866 und 1871 und die national-liberale Parlamentsmehrheit anhielt. Die Begründung des Entlassungsgesuches vom 18. März 1890 zeigt deutlich genug, wie stark die konstitutionelle Verantwortlichkeit den Reichskanzler oder Ministerpräsidenten auf die Seite des Parlaments drängt und, wie Bismarck hier sagt, „das Wesen des Verfassungslebens bildet“.17 17 Bismarcks Gesuch beruft sich darauf, daß die Kabinettsorder vom 8. September 1852 nur dem Ministerpräsidenten (und dem Kriegsminister), nicht jedem Staatsminister die Befugnis gibt, dem König unmittelbar Vortrag zu halten. „In der absoluten Monar-

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Der Oberste Kriegsherr hatte demnach außerhalb seiner militärischen Kommandogewalt nur eine potestas indirecta, und, da Militärisch und Politisch begrifflich auseinandergerissen wurden, keine echte Regierungsmöglichkeit. Er war nicht verantwortlich; ebendeshalb galt auch für ihn der Satz: le roi règne et ne gouverne pas [57]. Wilhelm I. hat das verstanden. Die späteren Anläufe zu einem „persönlichen Regiment“ [58] haben nichts Wesentliches daran geändert und nur illusionistische Prestigewirkungen gehabt. Die Stellung eines Monarchen ist in jeder konstitutionellen Verfassung überhaupt kaum konstruierbar, und Lorenz von Stein, der größte Kenner, meint, kein menschlicher Scharfsinn reiche aus, um die inneren Widersprüche der Stellung eines konstitutionellen Staatsoberhauptes zu lösen [59]. Solche Unklarheiten haben nach Lage der Sache manche politischen Vorteile, aber auch große Nachteile. Jedenfalls zwingen sie den konstitutionellen König, der selber die Richtlinien der Politik bestimmen und die wesentlichen politischen Entscheidungen treffen will, schließlich doch vor das einfache Dilemma, entweder seinen Einfluß auf unauffällige Weise indirekt auszuüben, oder aber die verfassungsmäßige Verantwortlichkeit seiner Minister zu beseitigen. Es ist ein Irrtum, in Verfassungsfragen zwischen Juristisch und Politisch unterscheiden zu wollen. In der widerspruchsvollen Doppelrolle eines korrekt konstitutionellen, d. h. infolge der Gegenzeichnung eines verantwortlichen Ministers nicht verantwortlichen Monarchen, und eines an keine ministerielle Gegenzeichnung gebundenen, also von jeder konstitutionellen Verantwortung eximierten, alleinigen höchsten Führers der Armee, wiederholt sich nur der oben dargelegte, innere Widerspruch und Zwiespalt von bürgerlichem Verfassungsstaat und preußischem Soldatenstaat. Der Reichskanzler dagegen war verfassungsmäßig verantwortlich, aber gleichzeitig vom Vertrauen seines verfassungsmäßig nicht verantwortlichen kaiserlichen Herrn abhängig und außerdem als preußischer Ministerpräsident Mitglied eines Kollegiums, das er nicht sicher in der Hand hatte. Jede parlamentarische Erörterung einer Heeresvorlage bewies, daß der Reichskanzler und preußische Ministerpräsident, trotz aller Distinktionen, auch dem Parlament wirklich verantwortlich war und daß die innere Logik des bürgerlichen Konstitutionalismus zum Parlamentarismus führt. Das ist, wenn das Budgetrecht des Parlaments außer Zweifel steht, eine Frage der Zeit, der Mittel und Wege, aber nicht des Endergebnisses. Mit Hilfe eines anerkannten Budgetrechts kann jedes Parlament die politische Führung wenn nicht an sich reißen, so doch bei jedem anderen verhindern [60]. Denn das Politische ist das Totale und die Totalität läßt sich von der wirtschaftlichen und finanziellen chie war eine Bestimmung, wie die Ordre von 1852 sie enthält, entbehrlich und würde es auch heut sein, wenn wir zum Absolutismus, ohne ministerielle Verantwortlichkeit, zurückkehrten. Nach den zu Recht bestehenden verfassungsmäßigen Einrichtungen aber ist eine präsidiale Leitung des Ministerkollegiums auf der Basis [des Prinzips der Ordre] von 1852 unentbehrlich.“ [Text des Gesuches in: Gedanken und Erinnerungen, III / 8, in Erinnerung und Gedanke, II / 8; auch in: Huber, Dok. II, S. 421 – 423; zum Streit um die Kabinettsordre: Huber, IV, S. 231 – 234].

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Seite her ebenso gut und ebenso logisch durchsetzen, wie vom Militärischen her. Der Reichstag war bei dieser Verfassungslage selbstverständlich bestrebt, die Stärke des deutschen Heeres in Abhängigkeit von der jährlichen Haushaltsbewilligung zu halten. Mit diesem Bestreben hatte er politischen Erfolg. Die Verfassung schrieb allerdings klar und deutlich die allgemeine Wehrpflicht vor: „Jeder Deutsche ist wehrpflichtig und kann sich in Ausübung dieser Pflicht nicht vertreten lassen“ (Art. 57). Aber während in andern Fällen die Heiligkeit der Verfassung und jedes Verfassungswortes mit allen Beschwörungen einer rechts- und verfassungsstaatlichen Ideologie verkündet wurde, ging man über dieses Verfassungswort selbstverständlich hinweg, weil es sich hier, solange das Heer kein Parlamentsheer war, um den soldatenstaatlichen Bestandteil des Staatsgefüges handelte. In der Kollision zwischen der Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht und den budgetrechtlichen Machtansprüchen des Parlaments siegte die Rücksicht auf das Parlament. Die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres wurde in Artikel 60 der Reichsverfassung [61] auf 1 v. H. der Bevölkerung von 1867 (401 659) normiert, zunächst nur bis zum 31. Dezember 1871, dann durch Reichsgesetz bis 1874 verlängert. Für spätere Zeiten sollte sie im Wege der Reichsgesetzgebung, d. h. durch neue Kompromisse mit dem Reichstag festgestellt werden. Da in einer derartig entscheidenden politischen Frage eine jährliche Abhängigkeit von der wechselnden parlamentarischen Mehrheit offenbar sinnwidrig war, kam es auch hier zu typischen, kompromißhaften Zwischenlösungen, zu Vereinbarungen für sieben und später für fünf oder sechs Jahre, zu Septennaten, Sexennaten, Quinquennaten18, die aber durch außerplanmäßige, außerordentliche, außerterminliche Vorlagen und Novellen in steigendem Maße unterbrochen werden mußten, weil die Lage sich fortwährend änderte, und, je näher es dem Weltkrieg zuging, die militärische Vorbereitung Deutschlands mit der Rüstung der Nachbarn nicht mehr Schritt hielt [62]. Das politische Entscheidungsrecht des Reichstags wurde dadurch immer stärker und die Logik der konstitutionellen Entwicklung zum Parlamentarismus trat immer deutlicher zutage. Die an den Kriegsminister gerichteten Darlegungen des Großen Generalstabs werden mit wachsender Gefahr von Jahr zu Jahr eindringlicher. Sie sind heute Dokumente eines innerlich unmöglichen, ein großes Reich von innen aufspaltenden Verfassungszustandes. Vorschläge des Generalstabs, deren politische Vernunft heute jeder erkennt, Beschwörungen, deren Kraft und Größe jeden erschüttert, der sich von der Sophistik des bürgerlichen Konstitutiona18 1. Septennat 1881 – 88; 2. Septennat 1887 – 94; 1. Quinquennat 1894 – 99; 2. Quinquennat 1899 – 1904, verlängert bis zum 31. März 1905; Sexennat von 1905 – 11; 3. Quinquennat von 1911 – 1916. Während dieses letzen Quinquennats brach der Weltkrieg von 1914 aus; durch die Heeresvorlagen von 1912 und 1913 waren außerplanmäßige Änderungen vorgenommen worden, ohne daß an dem Grundsatz des Quinquennatssystems etwas geändert worden wäre. [63]

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lismus frei machen kann, Warnungen, deren politischen Weitblick jeder bewundern muß, sind ohne Wirkung geblieben. Sie sind, unmittelbar vor einem furchtbaren Krieg, mit dem jeder rechnen mußte, immer wieder an den inneren Widersprüchen der staatlichen Organisation gescheitert, so daß sich heute jeder darauf berufen kann, daß Niemand eine Verantwortlichkeit trifft. Der deutsche Generalstab erwies sich in der Lebensfrage des deutschen Volkes, in der Frage der Vorbereitung auf einen totalen Krieg [64], als der wahre Träger aller politischen Führerqualitäten des deutschen Volkes. Aber die Logik des bürgerlichen Konstitutionalismus stand jeder staatspolitischen und völkischen Logik im Wege. Sie zerbrach von innen her das Staatsgefüge des Deutschen Reiches, indem sie den Soldatenstaat in eine verfassungsmäßig abnorme Lage drängte. Sie wiederholte im Verlauf eines äußerlich glänzenden halben Jahrhunderts, unauffällig und unbewußt, aber jetzt mit durchschlagendem Erfolg, dasselbe Verhalten, das in der Konfliktszeit vor dem Jahre 1866 mit lautem Oppositionslärm die wirksame Vorbereitung auf den Krieg, damals erfolglos, zu verhindern gesucht hatte. Vergebens berief sich der Generalstab darauf, daß das Wesen der von der Verfassung vorgeschriebenen allgemeinen Wehrpflicht doch nicht in dem einen Prozent, sondern darin bestehe, daß die vorhandenen Diensttauglichen ausgebildet würden. Die allgemeine Wehrpflicht konnte nicht wirklich durchgeführt werden, weil diese Durchführung das Budgetrecht des Reichstags und damit den bürgerlichen Konstitutionalismus selbst gefährdet hätte, und diese Gefährdung wiederum innen- und außenpolitische Hemmungen und Bedenken hervorrufen mußte. Auch der Versuch, eine Kontrolle für den Landsturm, wie sie in Frankreich und Rußland bestand [65], auch in Deutschland einzuführen, scheiterte an solchen Hemmungen19. Das politische Ergebnis dieses Zustandes hat der Chef des Generalstabes, Generaloberst von Schlieffen, kurz vor seinem Ausscheiden in einer Niederschrift aus dem Jahre 1905 zusammengefaßt: „Wir haben die allgemeine Wehrpflicht und das Volk in Waffen [66] erfunden und den anderen Nationen die Notwendigkeit, diese Institutionen einzuführen, bewiesen. Nachdem wir aber unsere geschworenen Feinde dahin gebracht haben, ihre Heere ins Ungemessene zu vermehren, haben wir in unseren Anstrengungen nachgelassen. Wir pochen noch immer auf unsere Einwohnerzahl, auf die Volksmassen, die uns zu Gebote stehen, aber diese Massen sind nicht in der vollen Zahl der Brauchbaren ausgebildet und bewaffnet20.“ Als die Gefahr dieses Zustandes zum erstenmal deutlich bewußt wurde und der Kriegsminister von Verdy im Jahre 1890 ernsthaft den Plan gefaßt hatte, die allgemeine Wehrpflicht durchzuführen, gab der Reichstag in vier Entschließungen seiner Haushaltskommission vom 16. Juni 1890, die im Reichstag 19 Reichsarchiv, Der Weltkrieg 1914 bis 1918. Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Bd. I, Berlin 1930, S. 51. 20 A. a. O., S. 86. [„Schlieffens große Denkschrift vom Dezember 1905“ (Schlieffenplan), in: Gerhard Ritter, Der Schlieffenplan, 1956, S. 145 – 160, 155.].

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am 28. Juni 1890 angenommen wurden, mit großer Mehrheit eine grundsätzliche Antwort [67]. Man muß diese Entschließungen mit der während des Weltkrieges gefaßten Friedensentschließung des Reichstags vom 19. Juli 1917 [68] zu einer geschichtlichen Linie verbinden, um die tieferen Zusammenhänge der „Verfassung“ eines solchen Reiches zu erkennen. In jenen Entschließungen von 1890 wurde in aller Schärfe die Erwartung ausgesprochen, „daß die verbündeten Regierungen Abstand nehmen werden von der Verfolgung von Plänen, durch welche die Heranziehung aller wehrfähigen Mannschaften zum aktiven Dienst durchgeführt werden soll, indem dadurch dem Deutschen Reiche geradezu unerschwingliche Kosten erwachsen müßten“21. Die weiteren Forderungen dieser Entschließungen betrafen die Aufhebung der Fristbestimmung des Septennats und das Etatsjahr als Bewilligungsfrist, Herabminderung der tatsächlichen Präsenzzeit bei der aktiven Armee und endlich die Einführung der gesetzlichen zweijährigen Dienstzeit für die Fußtruppen. Diese erfolgte tatsächlich bereits im Jahre 1892 [69]. Im Lauf der folgenden Jahre trat dann, von Vorlage zu Vorlage, in steigendem Maße hervor, daß sich die „rein budgetrechtlichen“ Hemmungen nicht nur immer mehr zu innen- und außenpolitischen Hindernissen verstärkten, sondern vor allem, daß auch die politischen Stellen des Reichs, Reichskanzler, Staatssekretär des Innern, Staatssekretär des Reichsschatzamtes u. a., sogar der preußische Kriegsminister, zu Organen des innerstaatlichen Widerstreits werden mußten. Das Staatsgefüge des zweiten Reiches war nämlich derartig, daß alle gegen die notwendigste militärische Verteidigung Deutschlands gerichteten Bedenken der verschiedenen Ressorts sich auf den innerstaatlichen Gegensatz feindlicher politischer Kräfte und Tendenzen bezogen. Nicht nur der allgemeine Gegensatz von Militär und Zivil, auch der tiefere Widerstreit von bürgerlichem Konstitutionalismus und preußischem Soldatenstaat, von nationaldemokratischem Einheitsstaat und dynastischem Bundesstaat, wirkte in das organisatorische Gefüge des Reiches hinein und spaltete seinen einheitlichen politischen Willen vom Innern auf. Die Auseinanderreißung und Entgegensetzung von Politisch und Militärisch, Politisch und Wirtschaftlich wurde dadurch sozusagen zu einer verfassungsmäßigen Institution erhoben. Eine politische Führung war nur als vorübergehende Folgeerscheinung siegreicher Kriege und glücklicher Erfolge, nicht aber auf der Grundlage eines gesicherten Staatsgefüges und als feste Voraussetzung für die sachgemäße Vorbereitung eines gefahrvollen Weltkrieges möglich. Heute läßt sich erkennen, daß die Vorbereitung auf eine Maßnahme, die Ernst Jünger als „totale Mobilmachung“ bezeichnet hat, ebenfalls total sein mußte [70]. Es hat in der Vorkriegszeit auch keineswegs an der Erkenntnis oder wenigstens der Ahnung dieser Notwendigkeit gefehlt. Unter dem Eindruck des Balkankrieges von 1912 gewannen alle in Betracht kommenden Stellen die Überzeugung, daß mindestens für die Ernäh21

A. a. O., Anlagenband I, S. 45.

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rung des deutschen Volkes im Kriege wirtschaftliche Maßnahmen vorbereitet werden müßten. An der ersten Beratung der Sitzung vom 21. Dezember 1912 [71] nahmen teil: Vertreter des Reichsamts des Innern, des Auswärtigen Amts, des Reichsschatzamts, des Reichsmarineamts, des Generalstabs, des kaiserlich statistischen Amts, der Reichsbank, des preußischen Minister des Innern, der Landwirtschaft, Domänen und Forsten, der Finanzen, der öffentlichen Arbeit, des Handels, des Kriegsministeriums und des preußischen statistischen Landesamts. Die Kompliziertheit des behördlichen Apparates war also groß genug. Es kam auch zur Bildung von Kommissionen und Unterkommissionen, doch trat ein wirklicher Erfolg nicht ein. Auch hier handelt es sich nicht um die Feststellung einer persönlichen Schuld, sondern darum, das Organisationssystem eines Staatsgefüges zu erkennen, in welchem jede Differenz der verschiedenen Ressorts sofort in den innerstaatlichen Zwiespalt feindlicher Tendenzen hineingezogen werden mußte. Die natürliche Ordnung eines wirklichen Staatswesens wurde dadurch gestört, daß die verschiedenen Behörden ihre Entschlüsse nicht nur unter dem Gesichtspunkt des natürlichen Gegensatzes zu anderen Ressorts, sondern unter Vorwegnahme der Gesichtspunkte des innerpolitischen Feindes fassen mußten. Was das bedeutet, zeigt eine typische Äußerung des preußischen Kriegsministers von Einem, die im Juni 1906 an den Reichskanzler von Bülow gerichtet ist: „Der Generalstab und die Verkehrstruppe sagen vom militärischen Standpunkte, dem es auf die Kosten nicht ankommt, der auch Änderungen in den Kauf nimmt, und dem politische Erwägungen fern liegen: ,Möglichst bald, sofort‘. Mit einer so einfachen Lösung der Frage ist es für mich [aber] nicht getan. Ich muß sie vom politischen und finanziellen Standpunkt betrachten und außerdem berücksichtigen, daß das Ansehen der Militärverwaltung nur gewinnen kann, je weniger sie ihre Ansichten den gesetzgebenden Faktoren gegenüber zu ändern hat. . . Ob wir so lange [bis zum Ablauf des damaligen Quinquennats] warten können, ist lediglich eine politische Frage; militärisch würden wir uns mit Improvisationen helfen können. Daß das Quinquennat uns in mancher Beziehung die Hände bindet, ist einleuchtend. Sollen wir es darum aufgeben? Ich glaube nicht, daß das zweckmäßig sein würde, denn die bei jeder weiteren Ausgestaltung des Heeres hervortretenden erbitterten und zielbewußten Agitationen gegen die Existenz des Heeres würden bei jährlicher Wiederkehr nur um so gefährlicher sein22.“ [72] Diese Äußerung eines guten preußischen Offiziers ist ein anschauliches Beispiel der sachwidrigen Auseinanderreißung des Politischen und des Militärischen und der Verlegung innerpolitischer Hemmungen in die Zusammenarbeit der staatlichen Ressorts. Sie ist zugleich ein Beispiel dafür, daß der preußische Kriegsminister zu der eigentlich tragischen Figur einer solchen Staatskonstruk22 A. a. O., Anlagenband I, S. 101 / 2. [Der vollständige Brief auch in: Generaloberst von Einem, Erinnerungen eines Soldaten, Leipzig 1933, K. F. Koehler, S. 101 – 107].

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tion werden mußte [73]. Wenn man vom konstitutionellen Monarchen mit Recht gesagt hat, daß kein menschlicher Scharfsinn ausreiche, um seine Stellung richtig zu konstruieren, so wird man von dem preußischen Kriegsminister des zweiten Reiches sagen müssen, daß seine Position geradezu monströs und widersinnig war. Der König konnte immerhin kraft seiner persönlichen Unverantwortlichkeit aus einer unsichtbaren Stellung heraus politischen Einfluß nehmen. Der Chef des Generalstabs brauchte das innerpolitische Kampfgebiet ebenfalls nicht zu betreten und nicht im Reichstag zu erscheinen. Der Kriegsminister dagegen stand im Schnittpunkt aller innerstaatlichen Kampflinien eines so schwierig organisierten Reiches. Auf seinem Rücken wurde der Kampf ausgetragen; sein Geschäftsbereich wurde von allen Seiten her zerrieben. Er war als preußischer Staatsminister Mitglied des vom preußischen Ministerpräsidenten geleiteten Kollegiums, hatte aber nach der Kabinettsordre vom 8. September 1852 [74] die Befugnis des Immediat-Vortrages beim König. Er war dem Reichstag verantwortlich, wobei es, wie erwähnt, im wesentlichen nicht darauf ankommt, wie diese Verantwortlichkeit verfassungsrechtlich konstruiert war; daß er „verantwortlich“ ist, daß er dem auf sein Budgetrecht pochenden Parlament Rede und Antwort stehen muß, genügt, um der Verantwortlichkeit ihre politische und staatsrechtliche Wirksamkeit zu geben. Er ist aber selbstverständlich immer auch preußischer Soldat und Offizier, der militärische Untergebene seines Obersten Befehlshabers, Kriegs- und Gerichtsherrn, bei dem er unmittelbar Vortrag hält. Er bedarf also gleichzeitig immer auch des Vertrauens seines königlichen Auftraggebers, für den er jedoch durch seine Gegenzeichnung die Verantwortung übernimmt, der also, weil ganz unverantwortlich, ein konstitutionell beachtliches Vertrauen überhaupt nicht gewähren kann. Diese widerspruchsvolle, innerlich unmögliche Position wird nun durch die Herausnahme der Kommandogewalt aus dem konstitutionellen System auf die bloße Militärverwaltung, zum Unterschied von der Kommandogewalt, beschränkt. Ebensowenig wie der Gegensatz von preußischem Soldatenstaat und bürgerlichem Verfassungsstaat eine bloße „Gewaltenteilung“, ist die Unterscheidung von Kommandogewalt und Militärverwaltung in einer solchen Verfassungslage eine Angelegenheit bloß administrativer Zweckmäßigkeit oder gar Vernunft. Sie wird zu einer staats- und verfassungsrechtlichen Prinzipienfrage ersten Ranges, die an die letzten politischen Wurzeln des ganzen Staatswesens rührt. Bismarck hat das in seiner Reichstagsrede vom 11. Januar 1887 [75] ausgesprochen. Die Folge ist, daß der Geschäftsbereich des Kriegsministers, der in solcher Weise auf die Militärverwaltung beschränkt ist, vom Wesenskern des Militärischen, der Kommandogewalt, abgeschnitten und mit Hilfe der Antithese von Militärisch und Zivil auf die Seite des „Zivils“, mit Hilfe der Antithese von Militärisch und Politik auf die Seite des „Politischen“ gedrängt wird. Jeder Erfolg, den der preußische Soldatenstaat dem liberalen Konstitutionalismus dadurch abrang, daß er die Kommandogewalt aus dem System des bürgerlichen Verfassungsstaates herauszunehmen wußte, wirkte

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

sich ressortmäßig gegen den preußischen Kriegsminister aus. Auf Kosten seines Geschäftsbereichs wurden die Aufgaben der Heeresleitung und wesentliche personale Angelegenheiten wie die Ernennung der Offiziere anderen Stellen, Generalstab und Militärkabinett, übertragen. Diese gerieten dadurch in eine natürliche und unvermeidliche Rivalität mit dem Kriegsminister, der nach allen Seiten, gegenüber dem Parlament um die Armee, gegenüber dem Generalstab und Militärkabinett um sein Ressort kämpfen mußte, wobei, wie oben gezeigt, die tiefen innerpolitischen Gegensätze einer zwiespältigen Staatskonstruktion sich wie ein Keil in die gegensätzlichen Gesichtspunkte der Ressorts hineintrieben. Bei dem Kriegsminister Roon trat das noch nicht so auffällig hervor, weil Roon mit dem König und Bismarck zusammen den Streit mit dem Landtag durchgekämpft hatte. Das große gemeinsame Werk der Heeresreform und der gemeinsame, während eines offenen Konflikts alles beherrschende Gegensatz gegen das Parlament ergriff alle Mitarbeiter Wilhelm I., relativierte ihre gegenseitigen Differenzen und Rivalitäten und ermöglichte für diese Zeit einer abnormen Verfassungslage eine normale Durchsetzung des soldatenstaatlichen Bestandteils dieses Staatsgefüges. Das änderte sich nach dem Kriege von 1871, als eine äußerlich normale Gesamtlage eingetreten war. Am 1. Januar 1873 trat der merkwürdige Zustand ein, daß Preußen, und mittelbar auch das Reich, fast ein Jahr lang zwei Kriegsminister zu gleicher Zeit hatten [76]. Roon wurde preußischer Ministerpräsident, blieb aber Kriegsminister und in dieser Eigenschaft Vorsitzender des Bundesratsausschusses für das Landheer und die Festungen; der Generalleutnant von Kameke, der Staatsminister und Mitglied des preußischen Staatsministeriums wurde, führte die Geschäfte eines „zweiten Chefs der Armeeverwaltung“ und zwar „mit voller Wirkung“ in der Weise, daß Rekurse gegen seine Entscheidungen nicht etwa an Roon, sondern unmittelbar an den König gingen. Bismarck hat diesen zweiten Kriegsminister amtlich ignoriert; er hat auch die Versuche Roons und Kamekes, den preußischen Kriegsminister zu „einem Organ des Kaisers“ zu machen, energisch verhindert23. Nachdem der General von Kameke dann, nach Roons Abgang, am 9. November 1873 zum alleinigen preußischen Kriegsminister ernannt worden war, fand er sich bald sowohl gegenüber dem Chef des Militärkabinetts von Albedyll, als auch gegenüber dem Generalquartiermeister Grafen Waldersee in fortwährenden und aussichtslosen Reibereien. Die zehn Jahre seiner Tätigkeit als Kriegsminister sind mit internen Streitigkeiten über den Inhalt und Umfang seines Ressorts angefüllt, wobei er schließlich einer gemeinsamen 23 Otto Küsel-Glogau, „Bismarck. Beiträge zur inneren Politik“, mit einem Vorwort des Reichsministers der Finanzen Graf Schwerin von Krosigk, Berlin 1934, S. 67 ff. Dieses Buch enthält besonders aufschlußreiche Belege dafür, wie jede noch so „rein finanzielle“ Frage, z. B. die gnadenweise Verfügung über einen Betrag aus einem Dispositionsfonds, eine hochpolitische Frage werden kann. Wenn auf S. 95 / 97 Bismarcks Gründe gegen die Vorschläge Roons und Kamekes als unhaltbar behandelt werden, so scheint mir das sowohl die eigentliche Schwierigkeit von Bismarcks Lage wie auch die Problematik des Reichsgefüges zu verkennen.

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Front von Militärkabinett, Generalstab und Reichskanzler gegenüber stand. Als er sich im März 1883 im Kriegsministerium verabschiedete, tat dieser alte preußische Soldat den Ausspruch: „Der letzte preußische Kriegsminister verläßt mit mir dies Haus24“ [77].

24 Rudolf Schmidt-Bückeburg, Das Militärkabinett der preußischen Könige und deutschen Kaiser. [Seine geschichtliche Entwicklung und staatsrechtliche Stellung 1787 – 1918], Berlin 1933, S. 151. [Zu Kamekes Sturz u. zu seinem Ausspruch: Schmid, S. 145 – 150.]

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II. Der Zusammenbruch In dem für das folgende halbe Jahrhundert ausschlaggebenden Jahre 1866 hatte der preußische Soldatenstaat den schnellen militärischen Sieg und den außenpolitischen Erfolg, die liberale Bewegung aber die „Verfassung“ auf ihrer Seite. Auf dieser Grundlage kam die Vertagung des Konflikts, aber kein in sich geordnetes Staatsgefüge zustande. Was mußte eintreten, wenn Sieg und Erfolg ausblieben? 1. Bei militärischen Siegen und außenpolitischen Erfolgen wie denen von 1866 und 1870 kann sich jedes liberale Bürgertum mit Heer und Krieg wohl abfinden. Aber dazu gehört eben ein siegreiches Heer und ein zu wirtschaftlicher Prosperität führender Krieg. Ohne das hätte der Landtag nicht von Indemnität, sondern von Verfassungsbruch und Staatsgerichtshof gesprochen. Der Krieg wird auch von der liberalsten Bourgeoisie keineswegs allgemein und unbedingt verneint; ein siegreicher Krieg kann ihr sogar als „soziales Ideal“ gelten, aber natürlich nur ein siegreicher Krieg [78]. Kein Staat jedoch, und am wenigsten ein Staat von der Struktur Preußens, kann sich im Ernst auf solche Ansprüche und „Ideale“ einlassen; keine Institution, und am wenigsten die politische Einheit eines Volkes, darf sich nur auf den günstigen Fall einrichten und ihre Art Existenz von ununterbrochen glücklichen Erfolgen abhängig machen. Setzte das Glück einmal aus, hörte der Krieg einmal auf, siegreich zu sein, so entfiel die Grundvoraussetzung des „Verfassungskompromisses“. Dann hatte die liberale Opposition von 1866 eben doch recht behalten. Der Bürger mußte sich betrogen fühlen und den konsequent liberal-demokratischen Verfassungsstaat als sein gutes Recht verlangen. Hierbei ist es ganz gleichgültig, ob die einzelnen Liberalen als Individuen wohlmeinende patriotische und gebildete Leute waren oder nicht. Sie waren gewiß alle gute Bürger und wollten nur das Beste. Doch sie standen alle unter dem Gesetz ihrer politischen Bewegung, in dem Zwang der von ihnen selbst herbeigeführten, innerpolitischen Gesamtstruktur des preußischen Staates und des auf ihm aufgebauten zweiten Reiches. Der preußische Soldatenstaat aber hatte sich dem bürgerlichen Anspruch auf siegreiche Kriege und wirtschaftliche Prosperität politisch unterworfen, als er nach dem siegreichen Krieg um Indemnität bat und sie erhielt. Das Gesetz der weiteren innerstaatlichen Entwicklung Preußens und Deutschlands war jetzt aufgestellt.

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II. Der Zusammenbruch

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Da die inneren Gegensätze eines solchen Staatswesens weder die außenpolitische Sicherheit noch die Zeiträume zur Verfügung hatten, die notwendig gewesen wären, um auch nur die Möglichkeit eines ausgleichenden organischen Wachstums zu schaffen, gab es für den preußischen Soldatenstaat nur drei denkbare Weiterführungen dieser Verfassungslage: entweder die klare revolutionäre Entscheidung durch den vollen innerpolitischen Sieg des einen Gegenspielers über den anderen, des Soldaten über den Bürger oder des Bürgers über den Soldaten; oder ein Herabsinken Deutschlands auf eine politische Stufe, auf der alle inneren Widersprüche belanglos werden, weil das Ganze der politischen Einheit belanglos geworden ist, also Herabsinken zum geschichtlichen Rang eines von außerdeutschen Bündnissystemen getragenen Mittelstaates und Verzicht auf die deutsche Großmacht und ihren geschichtlichen Auftrag; oder endlich drittens heroischer Untergang im vollen Bewußtsein des verlorenen Postens. In klarster Folgerichtigkeit läßt sich heute erkennen, daß für einen Soldatenstaat von der Art Preußens nach einem Jahrhundert des Liberalismus nur die letzte Möglichkeit in Betracht kam. Während sich das Bürgertum seit dem Jahre 1917 und namentlich in der Weimarer Verfassung auf eine traurige und posthume Art von Erfüllung seiner „Verfassungsansprüche“ eingelassen hat, war es der Ruhm dieses Soldatenstaates und eine Gewähr für die Wiederauferstehung Deutschlands, daß er den heroischen Weg gegangen ist. Der Zwiespalt der innerstaatlichen Struktur brach während des Weltkrieges auf und zerrieb die Kraft zum Widerstand. Ausländische Beschreibungen des Verhältnisses von Kriegführung und Staatsführung gehen für den Weltkrieg 1914 / 18 gern davon aus, daß die Beziehungen von Militär- und Zivilgewalt, Heeresleitung und Regierung, während des Krieges für Deutschland überhaupt kein ernsthaftes organisatorisches Problem gewesen seien, weil der Kaiser als Oberster Kriegsherr in einem nicht parlamentarisch regierten Staat eine unbeschränkte Gewalt gehabt habe25. Das ist eine oberflächliche Betrachtung, die auf einer irreführenden Übertreibung des Unterschiedes von konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie beruht. Die Herausnahme der Kommandogewalt des Kaisers aus dem bürgerlichen Verfassungssystem ist auch während des Krieges ein Anzeichen dafür geblieben, daß die Gesamtstruktur des Staates zwiespältig war und dieser Zwiespalt sich mit steigender Ausdehnung und Intensität des Weltkrieges vertiefte. Vielleicht hätte sich manche Reibung durch einen die verschiedenen Ressorts zu gemeinsamer Beratung vor dem Obersten Kriegsherrn zusammenführenden Obersten Kriegsrat vermeiden lassen. In allen kriegführenden Ländern ist es zu kritischen Gegensätzen zwischen Heeresleitung und Regierung gekommen26. Sie werden irreführen25 So zum Beispiel: J. M. Bourget, Gouvernement et Commandement. [Les Lécons de la Guerre Mondiale], Paris (Payot) 1930. 26 Vgl. Fritz Hartung, a. a. O., S. 370; über die staatsrechtliche Entwicklung in Frankreich, die von 1914 – 1918 vier verschiedene Systeme versuchte, die überaus lehrreiche Darstellung von Esmein-Nézard, Éléments de Droit Constitutionnel français et com-

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

derweise unter der allgemeinen Rubrik des Gegensatzes von „Militär und Politik“ behandelt. In Wahrheit verhält es sich so, daß die Totalität des Kriegszweckes sich in jedem kriegführenden Lande durchsetzt. [79] Diese Totalität kann aber nicht isoliert werden, sondern wird von jedem Gebiete aus in Anspruch genommen. Sie äußert sich infolgedessen nicht nur als Totalitätsanspruch der Kriegführung, sondern auch als Totalitätsanspruch der politischen Staatsführung und ebenso der Wirtschaftsführung. Die deutsche Verfassungslage war nun derartig, daß die in allen kriegführenden Staaten auftretenden Kollisionen und Differenzen zwischen Heeresleitung und Regierung, zwischen militärischer und ziviler Zuständigkeit, in Deutschland immer wieder bis zum Grunde, nämlich bis zu dem ungelösten Konflikt von preußischem Soldatenstaat und bürgerlichem Verfassungsstaat stoßen und sich deshalb in einer Staat und Volk zerstörenden Weise innerpolitisch auswirken mußten. Es kommt nicht darauf an, ob den Kaiser der Vorwurf der „Selbstausschaltung“ trifft; bei gegebener Verfassungslage konnte er kaum anders handeln, als er gehandelt hat27. Aber mit konstitutioneller Korrektheit konnte ein solcher Krieg für Deutschland nicht gewonnen, sondern nur verloren werden, wie ja auch die vom Generalstab vergebens geforderte Vorbereitung auf den Krieg verloren gegangen war. Der innere Bruch im Staatsgefüge des zweiten Reiches, das den Gegensatz von preußischem Soldatenstaat und bürgerlichem Verfassungsstaat nur verdeckt und vertagt, nicht überwunden hatte, trat offen zutage, als die militärische Lage schwierig wurde. Jede persönliche Differenz zwischen dem Reichskanzler und einem Heerführer [80] rührte sofort an die letzten Wurzeln dieparé, Bd. 2, 7. Aufl. Paris 1921, S. 143 f. [80a] und die Aufsätze von Barthélemy, Le Droit public en temps de guerre; les pouvoirs publics et le commandement militaire, in der Revue du droit public, 1916 und 1917. [Recte: 1915, p. 134 – 162, 310 – 359, 545 – 575; 1916, p. 73 – 119, 552 – 586]. 27 In der wachsenden Selbstausschaltung des Kaisers sieht Oberst Schwertfeger (Die politischen und militärischen Verantwortlichkeiten im Verlaufe der Offensive von 1918; Gutachten für den parlamentarischen Untersuchungsausschuß über den deutschen Zusammenbruch 1918, Berlin 1927) die eigentliche Ursache des Gegensatzes von Regierung und Kriegführung. Dazu sagt Oberarchivrat W. Foerster, Deutscher Offizier-Bund, Bd. 4, Nr. 23 f.: „Das konstitutionelle System legte dem Monarchen sicherlich nicht bloß eine formale, sondern auch eine moralische Verantwortung auf, aber es wies doch die Hauptlast der praktischen Arbeit in der Vorbereitung und Durchführung der Aufgaben den mitverantwortlichen Ressorts zu. . . Im letzten Jahr des Weltkrieges aber stand wohl die militärische Beratung des Monarchen auf der Höhe ihrer Aufgabe, nicht aber die politische.“ Oberstleutnant A. Niemann, Kaiser und Heer [Das Wesen der Kommandogewalt und ihre Ausübung durch Kaiser Wilhelm II.], Berlin 1929, S. 367 / 8, meint, der Kaiser habe den Ausgleich zwischen dem Übergewicht der Heeresleitung und der politischen Führung fast stets mit persönlichen Opfern schwerster Art, insbesondere mit innerpolitischen Prestigeverlusten erkauft und die zur Volkssouveränität strebenden Kräfte des deutschen Volkes nutzten den Zwiespalt zwischen der militärischen und der politischen Kriegführung. Das trifft zu; es wird aber erst aus der Verfassungskonstruktion des zweiten Reiches in seiner eigentlichen Tragweite erkennbar.

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ses innerstaatlichen Dualismus und zerriß den Schleier der Scheinkompromisse des konstitutionellen Systems. Die Kriege von 1864, 1866 und 1870 haben einen schnellen und siegreichen Verlauf genommen, aber trotzdem bereits die durchaus isolierte, innerpolitisch defensive Lage des soldatischen Staatskernes erkennen lassen. Während des Weltkrieges mußte jede Verschlechterung der militärischen oder außenpolitischen Lage mit fast mathematischer Exaktheit innerstaatlich sofort dem Gegenspieler, dem Parlament, zugute kommen und ihm verfassungsrechtliche Argumente für neue Machtansprüche liefern. Die beiden Bestandteile des Staatsgefüges lösten sich voneinander ab und entwickelten sich, voneinander getrennt, jeder nach seinem inneren Gesetz unter dem unwiderstehlichen Zwang eines verzweifelten Krieges. Nur aus der staatlichen Gesamtstruktur des zweiten Reiches erklärt sich die Tatsache, die Oncken28 feststellt: „Während der Gegensatz der Ressorts im Jahre 1870 / 71 nur wenig über die beteiligten Kreise hinweg durchsickerte, nur gelegentlich einen leisen Nachklang in der Presse fand, dem Volke selber aber, den Kämpfern so gut wie der Heimat, verborgen blieb, ist er im Weltkriege in steigendem Maße der Öffentlichkeit, der Presse, den Parteien, den Organisationen verfallen. . . Damit verlängerte sich das Problem ,Politik und Kriegführung‘, zum ersten Male in solchem Umfange, in die Seele eines in den Tiefen aufgewühlten ganzen Volkes hinein . . .“. Der Gegensatz konnte sich so verlängern und vertiefen, weil er unausgetragen tief in der Verfassungslage verfestigt und organisiert war. Statt daß mit wachsender Gefahr die innerpolitische Geschlossenheit des deutschen Volkes stärker und fester wurde, wirkte die Logik des konstitutionellen Dualismus von Soldat und Bürger, und in ihrer Folge dann auch der künstliche Gegensatz von Soldat und (dem Bürger folgenden) Arbeiter nach der entgegengesetzten Richtung. Jeder Mißerfolg, jede Schwierigkeit der Kriegführung gab den nur durch einen glänzenden Erfolg beschwichtigten Argumenten der Opposition von 1866 nachträglich doch wieder recht und riß den nur durch einen siegreichen Krieg überdeckten Konflikt von neuem auf. Die unausgetragenen Widersprüche des innerstaatlichen Gesamtgefüges, der Widerstreit des preußischen Soldatenstaates gegen einen bürgerlichen Verfassungsstaat, die schlimme Tatsache, daß der eigentliche Verfassungskompromiß und damit das Staatsgefüge selbst nur auf einem schnell gewonnenen, siegreichen Krieg beruhte, alles das wurde in dem Zwang eines solchen Verfassungssystems mit den wachsenden Schwierigkeiten der Weltkriegslage zu einem grundsätzlichen, ja, weltanschaulichen und totalen Gegen28 Politik und Kriegführung, Münchener Universitätsreden, Heft 12, München 1927, S. 28 [Nachdruck in: Hermann Oncken (1869 – 1945), Nation und Geschichte. Reden und Aufsätze 1919 – 1935, Berlin 1935, Grote, S. 415 – 438, das Zitat auf S. 435. Schmitt ,unterschlägt‘ freilich Onckens hier folgende These: „Es ist ein Stück deutschen Schicksals im Weltkriege gewesen, daß in der obersten Leitung der Primat des politischen Willens in steigendem Maße an die militärische Seite verlorenging, während bei unseren Gegnern die politische Hand durchweg das Übergewicht über das militärischen Werkzeug behauptete.“ (S. 31 bzw. 437)].

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

satz von Regierung und Volk und schließlich zu dem tödlichen Gegensatz von Heer und Heimat, Soldat und Arbeiter. Daran ist Deutschland zusammengebrochen. Die Verweigerung der Heereskredite wurde für die offen hoch- und landesverräterischen Parteien die legale, konstitutionell korrekte Einbruchsstelle. [81] Die Mehrheit des Reichstages wollte keinen Verrat, wohl aber Verstärkung der Immunität der Reichstagsmitglieder, also Erweiterung dieser legalen Einbruchsstelle für den Verrat, und folgerichtige Durchführung des parlamentarischen Systems, d. h. des Verfassungsideals der Feinde. Noch während des Krieges, in den legalen Formen von Bismarcks Verfassung, hat der bürgerliche Verfassungsstaat über den preußisch-deutschen Soldatenstaat triumphiert. Nach der berühmten Friedensresolution vom 19. Juli 1917 hat der Reichstag bei der Beratung des Haushaltsplans 1917 / 18 einen „Verfassungsausschuß“ [82] eingesetzt, der eine nähere Regelung der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers vor dem Reichstag und Gegenzeichnung des Kriegsministers oder des Reichskanzlers auch für Offiziersernennungen forderte. Die letzten Reichskanzler, Graf Hertling und Prinz Max von Baden, waren bereits parlamentarische Minister [83]. Am 28. Oktober 1918 ergingen schließlich, ebenfalls legal und konstitutionell korrekt, vom Kaiser ausgefertigt und verkündet, die verfassungsändernden Gesetze vom 28. Oktober 1918, die alle diese Forderungen des Parlaments erfüllten und die letzten Reste des preußischen Soldatenstaates aus der Verfassung ausmerzten [84]. Sie haben den Zusammenbruch nicht aufgehalten, aber sie sind bedeutungsvoll als logischer Schluß des monarchischen Konstitutionalismus. G. Anschütz, der Klassiker der liberalen Staatsrechtslehre, bemerkt zu dieser letzten gesetzgeberischen Äußerung des zweiten Reiches: Sie „bewirkt, indem sie das gesamte Kriegswesen, und zwar nicht nur die Militärverwaltung, sondern auch die Heeresleitung ministerieller Verantwortlichkeit, und damit dem Einfluß des Reichstags unterstellt, die Unterordnung der Militärgewalt unter die Zivilgewalt und beseitigt damit ein Stück ,Militarismus‘, welches zu den Besonderheiten des preußisch-deutschen Staatsrechts gehört und mit den Grundsätzen des konstitutionellen Staates unzweifelhaft im Widerspruch gestanden hatte.“ [85] Unzweifelhaft. Das war die Stimme der angeblich unpolitischen, rein juristischen Staatsrechtslehre. Das Heer löste sich auf; die Waffen wurden dem Feind abgeliefert. Siegreich triumphierte der bürgerliche Konstitutionalismus über den preußisch-deutschen „Militarismus“.

2. Der tapfere und im Felde siegreiche preußische Soldatenstaat hat ein ganzes Jahrhundert hindurch geistig in einer verzweifelten Defensive, ja in voller Wehrlosigkeit gestanden. Seine politischen Gegner beherrschten die Sprache

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und die Begriffe der Zeit. Ihnen allein kam das große Argument vom „Eindruck im Auslande“ zugute. Siegreiche Kriege, staatliche Leistungen von beispielloser Größe sind dadurch um ihren geschichtlichen Lohn gebracht worden, daß man innerpolitisch notwendigen Entscheidungen wegen außenpolitischer Rücksichten ausweichen zu müssen glaubte. In drei entscheidenden Augenblicken der Geschichte des letzten Jahrhunderts hat die geistige Unterwerfung unter die Rechtsauffassung des Gegners das Schicksal Deutschlands unheilvoll bestimmt. Zuerst scheinbar unwichtig und scheinbar nicht entscheidend am 5. August 1866, als man es sich leisten zu können glaubte, die liberale Opposition, mit der Überlegenheit und Großzügigkeit des Siegers und im Augenblicke des Erfolges, um Indemnität zu bitten und sich ihren Begriffen von Recht und Verfassung ohne Gefahr anzupassen. Der zweite Augenblick liegt am Beginn des Weltkrieges und eröffnet den Riesenkampf der Völker mit einer furchtbaren geistigen Niederlage Deutschlands. Der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg sah die geistige Rechtfertigung des deutschen Krieges im „Kampf gegen den Zarismus“ [86]; das um seine nationale Existenz kämpfende deutsche Volk wurde dem Kriegsziel und der Verfassungsideologie der westlichen Liberaldemokratie, die zugleich die Ideale der innerpolitischen Feinde des preußischen Soldatenstaates waren, unterstellt. Aber die geistige Unterwerfung unter die Rechtsbegriffe des Feindes ging noch weiter. Am 4. August 1914 erklärte der deutsche Reichskanzler in seiner Reichstagsrede den Einmarsch des deutschen Heeres in Belgien für ein „Unrecht“, das man wieder gutmachen müsse [87]. Eine kindische Notstandsjurisprudenz, verbunden mit einer bedientenhaften Angst um den Eindruck im Auslande, hat diese schändliche Kapitulation herbeigeführt und das deutsche Volksheer an die Verfassungsideale und Rechtsbegriffe seiner außenund innenpolitischen Feinde verraten. Der dritte Augenblick endlich vollendet diese Entwicklung: in den Gesetzen vom 28. Oktober 1918 haben die Ideen des liberal-demokratischen Verfassungsstaates noch mit der Legalität von Bismarcks Verfassung über den Geist des deutschen Volkes triumphiert und die innere Widerstandslosigkeit des kämpfenden deutschen Heeres bewirkt. Diese drei Tage – der 5. August 1866, der 4. August 1914 und der 28. Oktober 1918 – stehen in einer einzigen zusammenhängenden Entwicklungslinie. Die oben (S. 29) erwähnte Reichstagsentschließung vom 28. Juni 1890 und die Friedensresolution des Reichstags vom 19. Juli 1917 bleiben ganz im Rahmen des durch diese drei Tage bestimmten Abschnittes der deutschen Verfassungsgeschichte. In ihrer Reihenfolge entfaltet sich folgerichtig ein Gesetz: erst die innerpolitische geistige Unterwerfung des preußischen Soldatenstaates unter die Rechtsbegriffe des bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaates; dann die Unterwerfung unter das geistige Kriegsziel des Feindes, verbunden mit dem subalternen Bestreben, einen guten Eindruck im Ausland zu machen und den Feind durch geistiges Nachgeben und „Objektivität“ zu beschwichtigen; und schließlich der offene Verzicht auf den preußischen Soldatenstaat und die ver-

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

fassungsmäßig sanktionierte Unterwerfung unter die Staats- und Rechtsideale eines eben dadurch siegreichen, erbarmungslosen Feindes. Die Logik der geistigen Unterwerfung vollendete sich in einer widerstandslosen politischen Knechtschaft. 3. Wären die Verfassungsansprüche des liberalen Bürgertums in Deutschland berechtigt gewesen, und hätten sie in irgendeinem echten Sinne der wirklichen deutschen Gesamtverfassung entsprochen, so hätten sie jetzt Gelegenheit gehabt, von sich aus den Zwiespalt zu überwinden und die geschlossene politische Einheit von Staat, Heer, Volk und Wirtschaft herbeizuführen. Die Parteiführer und Berufspolitiker der bisherigen parlamentarischen „Opposition“ waren jetzt gezwungen, die Berechtigung ihres Kampfes gegen den preußischen Soldatenstaat statt durch Reden gegen den verfassungswidrigen Militarismus, durch eine politische Leistung darzutun, ihr Führerrecht zu beweisen und, statt im Schutze des tapferen Soldatenstaates mit billiger Rechthaberei normativistische Argumentationen geltend zu machen, sich mit ihrem konkret verwirklichten Verfassungsideal selbst in der Feuerprobe der politischen Gefahr zu bewähren. Tatsächlich kann man die Weimarer Verfassung von 1919, so wie sie vorliegt, nur als eine Antwort auf die halbhundertjährigen Fragen der preußisch-deutschen Heeres- und Verfassungskonflikte verstehen. Ich würde sie nicht, wie mein verehrter Kollege G. A. Walz [88], als eine „Zwischenverfassung“ ansehen29. Sie ist, als staatliche Konstruktion, nur der im Zusammenbruch des preußischen Soldatenstaates für eine kurze Zeit schattenhaft weiterlebende bürgerliche Teil aus dem zwiespältigen Staatsgefüge des zusammengebrochenen Reiches. Wenn diese Verfassung in Art. 25 Abs. 2 bestimmt, daß der Reichspräsident den Reichstag nur einmal aus dem gleichen Anlaß auflösen kann [89], so ist das bewußt und ausdrücklich die Antwort auf die wiederholten Auflösungen des preußischen Landtages während der Konfliktsjahre 1862 – 66. Wenn in Art. 50 gesagt ist, daß alle Anordnungen und Verfügungen auf dem Gebiete der Wehrmacht der Gegenzeichnung bedürfen [90], so ist das die Erfüllung einer Forderung, die das liberale Bürgertum ein halbes Jahrhundert hindurch erhoben hat und entscheidet den halbhundertjährigen Kampf um die Kommandogewalt des Königs scheinbar zugunsten des Parlaments. Und wenn in Art. 176 vorgeschrieben wird, daß alle Angehörigen der Wehrmacht „auf diese Verfassung zu vereidigen“ sind [91], so ist das die nachträgliche Genugtuung dafür, daß der preußische Fahneneid der Soldaten nur dem Landesherrn und nicht der Verfassung geschworen wurde. Französische Royalisten haben die Republik öfters als die bloße „Abwesenheit des Königs“, 29 G. A. Walz, Das Ende der Zwischenverfassung. [Betrachtungen zur Entstehung des nationalsozialistischen Staates], Stuttgart 1933.

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II. Der Zusammenbruch

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„l’absence du roi“ [92], definiert. Von dieser Weimarer Verfassung muß man sagen, daß sie nicht einmal das war. Sie war nur die verspätete Auseinandersetzung mit dem nicht mehr vorhandenen preußischen Soldatenstaat, der andere Bestandteil des zweiteiligen Staatsgefüges, der nach dem Wegfall seines Gegenelements hemmungslos in sich abrollte. Die Weimarer Verfassung gab eine Antwort auf eine entfallene, von der wirklichen Gegenwart gar nicht mehr gestellte Frage [93]. Der Sieg der liberalen Demokratie, der sich in der Weimarer Verfassung kundgab, war nur posthum. Er war in die Vergangenheit gerichtet, ohne Gegenwart und ohne Zukunft, unwirklich, der Sieg, den ein Gespenst über den Schatten seines Gegners davonträgt. Daß man im Jahre 1919 solche Verfassungsurkunden und Dokumentierungen für nötig hielt, beweist, wie sehr die staatskonstruktive Fragestellung für das staatliche Bewußtsein des deutschen Volkes immer noch von der innerpolitischen Lage des 19. Jahrhunderts bestimmt war. Kein neuer Staatsgedanke hatte das durch den Wegfall der Militärmonarchie eingetretene Vakuum auszufüllen vermocht. Die bundesstaatliche Struktur des Reiches wurde hilflos beibehalten, aber die Hegemonie Preußens energisch beseitigt, so daß die „Fehlkonstruktion“ eines weder hegemonisch noch gleichgewichtig konstruierten Bundesstaates eintrat. In einem „Zweiten Hauptteil“ der Verfassung wurde, unter der Überschrift „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“, an den organisatorischen ersten Hauptteil ein interfraktionelles Parteiprogramm angehängt, das auf einem gutgemeinten Versuch Friedrich Naumanns beruhte [94], aber der Verfassung keine Substanz geben konnte. Es enthielt neben- und durcheinander liberal-demokratische, sozialdemokratische und zentrumskatholische Grundsätze, die in sich zusammenhanglos und auch ohne organisatorische Verbindung mit dem ersten Hauptteil waren. Ein Zusammenhang bestand nur insofern, als die dilatorischen Formelkompromisse [95] von drei widersprechenden, einander aufhebenden Weltanschauungen, ebenso wie der wert- und wahrheitsneutrale erste Hauptteil, im praktischen Ergebnis zu einer leeren, paritätischen Neutralität führen mußten. Art. 148 [Abs. 2] dieser Verfassung ist ein getreuer Ausdruck eines solchen nichts als neutralen Staatswesens. „Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, daß die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden.“ Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich hat diesen Satz in seiner Entscheidung vom 11. Juli 1930 über die Frage der Thüringischen Schulgebete (Entscheidungen in Zivilsachen, Bd. 129, Anhang S. 9 f.) [96] mit einer Begründung ausgelegt, die für alle Zeiten ein Dokument „neutralen“ Denkens und Empfindens bleiben wird. Es handelte sich um die Frage, ob deutsche Kinder in deutschen Schulen im Schulgebet Gott darum bitten dürfen, daß er uns „frei von Betrug und Verrat“ mache. Der Staatsgerichtshof betont, daß die Empfindungen Andersdenkender ohne Rücksicht darauf geschützt werden, ob sie objektiv berechtigt sind. „In Dingen der Empfindung, der Überzeugung, gibt es keine Stelle, die mit allgemeiner Wirkung feststellen könnte, wel-

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

che die objektiv richtige ist.“ „Andere Auffassungen zu schonen, eben weil sie bestehen, das ist es, was Art. 148 Abs. 2 RVerf. dem Unterricht in öffentlichen Schulen zur Pflicht macht.“ [96a] So wurde das Andersdenken als solches ein Schutzobjekt, das Andersempfinden als solches – eben weil es anders war – gegenüber dem völkischen Empfinden geschützt, und in dieser Dialektik der Andersheit wird schließlich der Andersdenkende, Andersempfindende und Andersgeartete überhaupt zum bestimmenden Beziehungspunkt des öffentlichen Lebens und zur Zentralfigur der „Grundrechte“ eines „anderen“ Deutschland. Aber noch aus einem weiteren, nicht weniger entscheidenden Grunde mußte die Weimarer Verfassung ein bloßer Schatten bleiben. Vor und nach dem Kriege hatte man in Deutschland die Forderung einer demokratischen Verfassung damit begründet, daß die allgemeine, gleiche Wehrpflicht und das allgemeine, gleiche Wahlrecht untrennbar zusammengehören [97]. Das ist ein oft aufgestellter Satz, der in dieser abstrakten Allgemeinheit meistens irreführend ist, weil die Demokratien der verschiedenen Völker und Zeiten nicht vergleichbar sind, und insbesondere die typische Liberal-Demokratie des 19. Jahrhunderts etwas wesentlich anderes als eine politische Demokratie im vorliberalen Sinne ist. Das Wort Demokratie bezeichnet viele verschiedenartige politische Systeme. Auch kann eine allgemeine Wehrpflicht mit verschiedenartigen Heeresverfassungen (stehendem Friedensheer oder Miliz) verbunden sein. Jedenfalls enthielt die liberal-demokratische Weimarer Republik ohne die allgemeine Wehrpflicht einen doppelten Widerspruch in sich. Gegenüber dem preußischen Soldatenstaat hätte sie sich, nach ihrer Herkunft aus dem langjährigen Kampf gegen diesen Staat, geschichtlich und moralisch nur dadurch rechtfertigen können, daß sie die soldatischen und kriegerischen Eigenschaften des deutschen Volkes, seine Tapferkeit und seinen Wehrwillen, unvermindert weiterführte oder sogar noch steigerte. Stattdessen wurde sie das Instrument der Entwaffnung und der Unterwerfung. Nicht geringer war der Widerspruch gegenüber der allgemeinen Ideologie der westlichen Demokratien, deren Grundsätzen man sich unterwarf, um sich von dem Vorwurf des preußischen Militarismus zu befreien und ein artgleiches Mitglied der liberal-demokratischen Zivilisationsgesellschaft zu werden. Die westliche Liberal-Demokratie hatte den Krieg gewonnen, aber das „andere“ Deutschland [98] unterwarf sich nicht nur ihrem Verfassungsideal, sondern zugleich dem Versailler Diktat, das die allgemeine Wehrpflicht und den deutschen Generalstab abschaffte. Der Verfassungsbegriff der Westmächte triumphierte nur auf Kosten Deutschlands; der existentielle Zusammenhang von Heerwesen und staatlicher Gesamtverfassung wurde mißachtet, und dieses Weimarer System glaubte ein Volksstaat [99] ohne Volksheer, eine waffenlose Demokratie, sein zu können. Man versuchte, ein allgemeines Wahlrecht ohne allgemeine Wehrpflicht, ein allgemeines Staatsbürgertum ohne allgemeinen Staatsdienst zu organisieren – eine erstaunliche Monstrosität.

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II. Der Zusammenbruch

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Auch die Weimarer Verfassung war ein Kompromiß. Aber die Partner dieses neuen Kompromisses waren anders geartet als die der Verfassungskompromisse von 1848 und 1867. Es standen sich nicht mehr zwei unterscheidbare Gegner, preußischer Soldaten- und bürgerlicher Verfassungsstaat, gegenüber, sondern eine Mehrzahl verschiedenartiger Parteien und Verbände koalierten sich zu wechselnden Mehrheiten. Die Gesamtstruktur des neuen Staatswesens war nicht mehr dualistisch, aber sie brachte noch viel weniger die versprochene Einheit. Sie war pluralistisch geworden. Der Dualismus von Soldat und Bürger war entfallen; dafür standen sich jetzt zahlreiche fest organisierte Gegensätze und Verschiedenheiten gegenüber; Nationalisten, Über- und Internationalisten; Bürgerliche und Marxisten; Katholische, Evangelische und Atheisten; Kapitalisten und Kommunisten. Sie schlossen unter dem Vorbehalt ihrer Parteiziele Kompromisse und Koalitionen über die Fragen des deutschen Schicksals. Das Wort „Pluralismus“ ist hier nicht eine äußerliche und oberflächliche Kennzeichnung irgendeiner Vielzahl von Gruppierungen, wie es sie bei der Mannigfaltigkeit des sozialen Lebens überall und zu allen Zeiten gibt, sondern ein präziser technischer Ausdruck der Staats- und Verfassungslehre. Er bezeichnet eine spezifische Art des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, eine bestimmte Struktur des sozialen Lebens in ihrem Verhältnis zur politischen Einheit. Dieses System entwickelt sich in einer typischen Weise für ein bestimmtes Stadium der bürgerlichen Gesellschaft, in einer Zeit, in der eine Mehrzahl von Gewerkschaften, Kartellen, Religionsgesellschaften und anderer sozialer und kultureller Verbände und Organisationen, jede auf ihrem Gebiet, auf der formalrechtlichen Grundlage der liberalen Freiheiten, aus der Sphäre des Sozialen und des Privaten heraus, das öffentliche Leben beherrscht und die politische Einheit zum Abfallprodukt ihrer täglichen Kompromisse macht. Denn die Methode der politischen Willensbildung dieses pluralistischen Systems ist der tägliche Kompromiß und die für die wechselnden Fragen und Gebiete des öffentlichen Lebens wechselnde Parteikoalition30. [100]

4. Dieses pluralistische System ergreift alle staatlichen Einrichtungen und verwandelt sie in Stützpunkte und Machtpositionen der verschiedenen Parteien. Es ergreift aber auch alle gesellschaftlichen Einrichtungen und zwingt sie, sich zu „politisieren“. Es ist schwer, zu berechnen, was aus Deutschland geworden wäre, wenn die pluralistische Aufteilung der staatlichen Substanz auch das deutsche Heer, die Reichswehr, erfaßt hätte. Ebenso wie für das staatliche Be30 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen, 1931, S. 97; Europäische Revue, Februar 1933; Paul Ritterbusch, Der Verfassungskompromiß von Weimar, das Experiment der Präsidialregierung und die nationalsozialistische Staatsidee, Wittenberg, 1932. [101]

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

amtentum gab es hier an sich nur drei Möglichkeiten: entweder eine Aufteilung unter die Koalitionsparteien nach dem Gesetz der Quote oder der parteipolitischen Parität; oder eine Einfügung des Heeres in das System, in der Weise, daß Heer und Beamtentum, verbunden oder gesondert, zum Mitspieler dieses Pluralismus wurden und sich als Koalitions- und Kompromißpartner in den täglichen Kompromiß einschalteten; oder endlich der Versuch, zwischen den Gegensätzen der politischen Parteien und den verschiedenen Organisationen die Rolle eines neutralen und deshalb höheren dritten, ausgleichenden Schiedsrichters zu spielen. Wäre dieses pluralistische Parteiensystem mit der allgemeinen Wehrpflicht – sei es mit der Vorkriegs-Organisation eines stehenden Heeres, sei es mit einer Miliz-Organisation – zusammengetroffen, so hätte es in der Logik einer solchen staatlichen Struktur gelegen, ebenso wie das deutsche Volk, so auch das Volksheer nach Parteien zu parzellieren. Schließlich hätte jede Koalitionspartei über ihren Teil der bewaffneten Macht verfügt, und der furchtbarste aller Bürgerkriege wäre unvermeidlich gewesen. Es ist der deutschen Reichswehr gelungen, unter der Führung des Reichspräsidenten und ihrer militärischen Leitung eine parteipolitisch neutrale Gewalt zu bilden [102] und auf diese Weise, in Zeiten offenen oder latenten Bürgerkrieges, durch das gefährliche Stadium eines solchen Pluralismus hindurch, den deutschen Staat zu halten. Von der staatsrechtlichen Seite her wurde das durch eine aus staatspolitischem Verantwortungsbewußtsein und klarer Erkenntnis der konkreten Verfassungslage entstandene, staatsrechtliche Konstruktion des Reichspräsidenten als des Hüters der Verfassung [103] ermöglicht, mit einer sinngemäßen Auslegung sowohl des Verfassungsbegriffes wie der außerordentlichen Befugnisse des Art. 48. Wie damals während der Konfliktszeit der preußische König, so fand jetzt ein preußischer Generalfeldmarschall, aus einer seinsmäßigen Verbundenheit mit dem preußisch-deutschen Soldatenstaat heraus, in schweigender Sicherheit den Weg, der einen Übergang zu andern Verfassungszuständen eröffnete. Am 20. Juli 1932 enthob der Reichspräsident, unter gleichzeitiger Verhängung des militärischen Ausnahmezustandes, auf Grund des Artikels 48 die geschäftsführende Weimarer Koalitionsregierung in Preußen ihres Amtes [104]. Damit war der preußische Staat dem Weimarer System aus der Hand geschlagen. Soweit hat die Kraft des alten Staates noch gereicht, und der Tag dieses Preußenschlages bleibt ein Ruhmestag der deutschen Reichswehr. In einem pluralistischen Parteiensystem ist es ihr gelungen, ihren Anspruch auf Neutralität und Überparteilichkeit durchzusetzen und rein zu halten. Aber den Totalitätsanspruch, der zu jeder politischen Führung gehört, konnte sie nicht einmal auch nur erheben, viel weniger durchführen, obwohl die staatstragende Funktion, die sie in steigendem Maße wahrzunehmen gezwungen war, fortwährend dazu nötigte, und die Legalität einer Verfassung von der Art des Weimarer Kompromisses wie ein Leichengift jeden derartigen Erneuerungsversuch schon in seinen ersten Anfängen zerstören mußte.

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II. Der Zusammenbruch

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Wenn der 20. Juli 1932 und die Beseitigung der Weimarer Preußenregierung auch bewiesen hatten, daß selbst der schwache Rest des preußisch-deutschen Soldatenstaates den bürgerlich-konstitutionellen Nutznießern des Zusammenbruchs von 1918 immer noch überlegen war, so reichte doch seine politische Kraft nicht aus, um das Deutsche Reich politisch zu führen. Das Reich mußte sich von den amtenthobenen Ministern des Weimarer Systems und von einigen gleichgearteten Landesregierungen vor die Schranken des Leipziger Staatsgerichtshofs ziehen lassen [105]. Dort hatte es sich als „Beklagter“ für eine politische Entscheidung vor einer Instanz zu verantworten, deren ganzer Autoritätsanspruch nur darauf beruhte, daß sie völlig unpolitisch sein wollte. Auch das Stadium der Verfassungsgerichtsbarkeit gehört noch zum folgerichtigen Ablauf eines bürgerlichen Konstitutionalismus, der jede Möglichkeit einer echten Regierung zerstört. Die im zweiten Reich betriebenen, auf das Budgetrecht des Parlaments gestützten Hemmungen politischer Notwendigkeiten hatten immerhin einen politischen Führungsanspruch des Parlaments zur Grundlage, und wenn diese parlamentarische Regierung auch kläglich versagte, als sie ihren Führungsanspruch rechtfertigen sollte, so lag in der Forderung einer parlamentarischen Regierung wenigstens gedanklich noch keine völlige Verneinung des Begriffs einer Führung und Regierung überhaupt. Und wenn die Totalität der politischen Entscheidung von der budgetrechtlichen, also von der wirtschaftlichen und finanziellen Seite her in Anspruch genommen wurde, so war das ein Anspruch, der sich auf eine sachliche Verantwortung und auf eine wichtige Materie stützte. Wenn aber nur der Normativismus einer Verfassung gelten soll, und weder eine dynastische, noch eine demokratische, noch eine sonstige Art von Legitimität, sondern nur noch eine wertneutrale Legalität vorhanden ist, werden alle politischen Regierungsentscheidungen dem angeblich rein juristischen Urteil einer Instanz unterworfen, die ihrerseits Niemand als einem höchst unklaren, von ihr selbst interpretierten Gesetz verantwortlich und unterworfen ist. Dann spricht ein mit unabhängigen, d. h. nicht verantwortlichen, unabsetzbaren, berufsbeamteten Richtern besetzter Gerichtshof im Staat das letzte Wort. Jede Möglichkeit einer Regierung oder gar Führung ist dann beseitigt und das liberaldemokratische Ideal des führerlosen Rechtsstaates verwirklicht. Der richterliche Berufsbeamte kann nicht einmal theoretisch behaupten, daß seine Prozeßentscheidung Regierung oder politische Führung sei. Freilich ist es denkbar, ebenso wie vom Wirtschaftlichen und vom Finanziellen, die Totalität der politischen Entscheidung auch von der juristischen Seite her aufzurollen; weil jede politische Entscheidung notwendigerweise immer auch eine rechtliche Seite hat, wie umgekehrt jede rechtliche Entscheidung immer auch eine politische Seite haben kann. Aber die Unterscheidung von Juristisch und Politisch stützt sich nicht auf ein Sachgebiet, wie Wirtschaft oder Militär, sondern nur auf den abstrakten, rein formalen Normativismus einer bloßen Legalität. Die Methoden eines solchen Staatsgerichtshofes ver-

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Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches

nichten infolgedessen auf die Dauer jede staatliche [105a] Autorität, nicht nur der Regierung, sondern auch des Gerichtshofes selbst. Denn es ist praktisch und theoretisch ein Widerspruch in sich, einen unpolitischen Richter, eben weil er unpolitisch sein will, über politische Fragen von der juristischen Seite her entscheiden zu lassen. Der Richter wird dadurch in eine ausweglose Zwangslage versetzt: entweder trifft er die politische Entscheidung, dann erhebt er für sich den unmöglichen Anspruch, daß die politische Meinung eines richterlichen Beamten etwas Höheres sei als die politische Meinung des politischen Führers; oder er lehnt die Entscheidung aus politischem Verantwortungsgefühl ab und setzt sich dann dem Vorwurf der Rechtsverweigerung aus.

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Schluß Darin, daß im letzten Stadium des Weimarer Systems ein prozeßförmig entscheidender Gerichtshof als höchste politische Instanz des Deutschen Reiches auftrat und in den Verzerrungen eines politischen Prozesses [106] über Recht und Unrecht, Ehre und Unehre des Reichspräsidenten und der Reichsregierung zu Gericht saß, vollendete sich der bürgerliche Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts. In der Weimarer Verfassung von 1919 hatte er sein von allen „nichtkonstitutionellen“ Elementen gereinigtes System gefunden. Nach dem Versagen der parlamentarischen Regierung entwickelte er sich von selbst zur politischen Unterwerfung unter die Neutralität unpolitischer Richter, die nicht nur nicht beanspruchten, politisch zu führen oder zu regieren, sondern im Gegenteil ihre Zuständigkeit und ihr Entscheidungsrecht gerade darauf stützten, daß sie jeden politischen Führungsanspruch entrüstet von sich abwiesen. So fand der folgerichtig zu Ende gedachte bürgerliche Konstitutionalismus seinen Gipfelpunkt eben dort, wo der Nullpunkt des Willens zur politischen Führung lag. Das war die Vollendung und Krönung des bürgerlichen Verfassungsdenkens. Die Rettung Deutschlands konnte nicht aus dem System einer solchen Legalität kommen. Sie kam aus dem deutschen Volke selbst, aus der nationalsozialistischen Bewegung, die im Widerstand gegen die Mächte des Zusammenbruchs von 1918 entstanden war. Bereits jener Preußenschlag vom 20. Juli 1932 war nur dadurch möglich geworden, daß die nationalsozialistische Bewegung unwiderstehlich vordrang [107]. Am 30. Januar 1933 hat dann der Generalfeldmarschall des deutschen Weltkriegsheeres einen deutschen Soldaten, aber eben einen politischen Soldaten, Adolf Hitler, zum deutschen Reichskanzler ernannt. Daß der Führer einer mit dem Totalitätsanspruch auftretenden Bewegung deutscher Reichskanzler wurde, lag bereits außerhalb der Begriffe eines liberal-demokratischen Verfassungssystems. Dadurch, daß einem solchen Führer die ganze staatliche Macht des Deutschen Reiches in die Hand gegeben wurde, war demnach der erste Schritt auf einen neuen Verfassungsboden getan. Jetzt öffnete sich ein Weg, um klare innerpolitische Entscheidungen zu treffen, das deutsche Volk von der hundertjährigen Verwirrung des bürgerlichen Konstitutionalismus zu befreien und, statt normativer Verfassungsfassaden, das revolutionäre Werk einer deutschen Staatsordnung in Angriff zu nehmen.

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Anmerkungen [1] Schmitt übernimmt die Terminologie des von ihm äußerst geschätzten Vilfredo Pareto (1848 – 1923); vgl. dessen Hauptwerk Trattato di Sociologia Generale, erstmals 1916 (französ.: Traité de sociologie générale, 2 Bde., 1917 / 19), Kap. VI-VIII, §§ 842 – 1396. Danach sind die Residuen der aus den Gefühlen sich ergebende, irrationale Kern jeder sozialen Handlung, welche durch die Derivationen scheinlogisch begründet werden; sie sind empirisch-analytisch nicht weiter auflösbar und relativ dauerhaft, können sich jedoch aufgrund sozialer Einwirkungen ändern (so Eisermann); zu ihnen zählen u. a. der „Instinkt der Kombinationen“; die „Persistenz der Aggregate“ (gewisse Kombinationen verdichten sich zu einem Aggregat, dem personale Pseudorealität zukommt; das Bedürfnis, Gefühle auszudrücken und das Bedürfnis nach sozialer Anpassung u. a. m.; vgl. etwa: Arnold Gehlen, Vilfredo Pareto und seine „neue Wissenschaft“ (zuerst 1941), in: Ders., Studien zur Anthropologie und Soziologie, 2. Aufl., 1971, S. 149 – 195, bes. S. 186 ff.; Giovanni Busoni, Introduction à une Histoire de la Sociologie de Pareto, 2. Aufl., Genève-Paris 1967, S. 67 ff.; Raymond Aron, Hauptströmungen des soziologischen Denkens (zuerst engl. 1967), 1971, Bd. II, S. 114 ff., 131 ff.; Gottfried Eisermann, Vilfredo Pareto, 1987, S. 143 ff.; vgl. a. Piet Tommissen, Gehlen-Pareto-Schmitt, in: Helmut Klages / Helmut Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, 1994, S. 71 – 97. – In eines seiner im Nachlaß befindlichen Handexemplare der vorl. Schrift (RW 265 – 29071) notierte Schmitt auf dem Titelblatt: „Pareto § 2588“. Dieser Paragraph lautet in der französ. Ausgabe: „Ce qu’on nous raconte de l’élection de Tacite nous montre qu’en ce temps déjà sévissait la maladie de l’humanitarisme, qui a recommencé de nos jours à sévir dans nos contrées.“ (p. 1744). [2] Hartung meint S. 388, daß, „weit bedeutungsvoller als das [Problem] des liberalen Rechtsstaats und des bürgerlichen Konstitutionalismus, die Entstehung eines industriellen Arbeiterstandes und die Entwicklung der Sozialdemokratie [gewesen ist]. Damit, daß S. [= Schmitt] dieses Problem ebenso ignoriert wie das Verhältnis der Zentrumspartei zum Reich, hat er sich und uns das Verständnis für die verfassungspolitische Entwicklung des Kaiserreichs völlig verbaut.“ Zur Rechtfertigung seines wohl allzu scharfen Wortes „ignoriert“ zitiert H. in einer Fußnote S. 388 f. die seiner Meinung nach allzu knappen Textstellen auf S. 7 [hier S. 5], S. 14 [hier S. 12], S. 22 [hier S. 19] und S. 25 [hier S. 22] und weist zuletzt auf S. 40 [hier S. 37] hin: „Statt daß mit wachsender Gefahr die innerpolitische Geschlossenheit des deutschen Volkes stärker und fester wurde, wirkte die Logik des konstitutionellen Dualismus von Soldat und Bürger, und in ihrer Folge auch der künstliche Gegensatz von Soldat und (dem Bürger folgenden) Arbeiter nach der entgegengesetzten Richtung.“ Deshalb kommt Hartung zu dem Schlusse: „Man sieht, daß sich das Problem auch S. aufgedrängt hat, aber er hat es, weil es sein Grundschema Soldat gegen Bürger zerstören mußte, bewußt aus der Betrachtung ausgeschieden.“ – Vgl. zum Thema von Schmitt, VL, S. 314: „Bei den späteren deutschen Liberalen, die unterschiedslos auch als Demokraten bezeichnet wurden, Friedrich Naumann, Max Weber und Hugo Preuß, ist teils der Gedanke maßgebend, daß eine neue gesell-

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schaftliche Klasse, die Arbeiterschaft, in den Staat einbezogen werden müsse; hier wird dann die spezifisch liberal-bürgerliche Integrationsmethode, das Parlament, auf eine neue Klasse übertragen, unter Verkennung der ideellen Struktur des Parlaments, die wesentlich von Eigenschaften wie Bildung und Besitz bestimmt ist.“ In seinem Aufsatz „Der bürgerliche Rechtsstaat“, zuerst 1928, in: SGN, S. 49 f., lautet der letzte, hier aber auf Weimar gemünzte Satz: „Gerade die zentrale Aufgabe, das Proletariat in den neuen Staat zu integrieren, läßt die Unzulänglichkeit der Methoden des bürgerlichen Rechtsstaates erkennen.“ – Zur „sozialen Verfassungskrise“ u. zu Bismarcks Versuch der „Integration des Vierten Standes in das nationale Reich“ vgl. a. Huber, Verfassungs-Krisen des Zweiten Reiches, Leipzig 1940, S. 10 – 12. Adolf Richter, Bismarck und die Arbeiterfrage im preußischen Verfassungskonflikt, Stuttgart o. J. (1935), Kohlhammer, meint, daß Bismarck gerne die soziale Frage im Sinne von Hermann Wagener (1815 – 1889) gelöst hätte, „wenn er eine befriedigende außenpolitische Lösung, wie die Jahre 1866 und 1870 / 71 sie brachten, nicht gefunden hätte. . .“; immerhin sei Bismarck nahe daran gewesen, „das Bündnis zwischen Staat und Arbeit zu schließen und den Arbeiter als Gleichberechtigten in einen sozialen Volksstaat aufzunehmen“ (S. 260). [2a] Schmitt weist damit auf seine Broschüre „Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit“, Hamburg 1933, Hanseatische Verlagsanstalt, 46 S. (2. Aufl. 1933; 3. Aufl. 1935) hin; Schmitt hatte als Titel „Die dreigliedrige Gesamtstruktur der politischen Einheit“ vorgesehen, was ihm der Leiter des Verlages Benno Ziegler (1894 – 1949) ausreden konnte. Die Schrift war das erste Heft der von Schmitt hrsg. Reihe „Der deutsche Staat der Gegenwart“, „Staatsgefüge und Zusammenbruch“ das sechste. – Über Schmitts Beziehungen zu Zieglers Verlag: Siegfried Lokatis, Hanseatische Verlagsanstalt. Politisches Buchmarketing im „Dritten Reich“, Frankfurt a. M. 1992, bes. S. 46 – 66. [3] Vgl.: Die Rede des Führers Adolf Hitler am 30. Januar 1934 im Deutschen Reichstag nebst dem Gesetz über den Neuaufbau des Deutschen Reiches und der Begründung von Reichsinnenminister Dr. Frick, Leipzig 1934, Reclam, S. 7. Hitler erklärte: „Die Novemberrevolution des Jahres 1918 fegte mit einem Schlage die sogenannte Staatsautorität des bürgerlich-legitimistischen Kompromisses hinweg.“ [4] Vgl. von Hamann auch: Salomon de Prusse, in: Ders., Sämtliche Werke, III, Wien 1951, S. 55 – 60. Ausführlicher zu Hamanns notgedrungen verdecktem, doch erbitterten u. hartnäckigen Kampf gg. Friedrich den Großen wegen dessen Abhängigkeit von der französischen Aufklärung, seiner französischen Günstlinge, der Französischen Akademie zu Berlin und der Auspressung der Bevölkerung zugunsten der Staatskasse durch die von Friedrich herbeigeholten „Zollfranzosen“: Nadler, Johann Georg Hamann. 1730 – 1788. Der Zeuge des Corpus mysticum, Salzburg 1949, bes. S. 138 – 45, 211 f., 374 – 85. Friedrich wurde für Hamann zum Antichristen und zum ,Androgyne du Diable‘. Schmitts Bezug auf Hamann wirkt in der vorliegenden Schrift noch überraschender als in: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 1938, S. 93 f. Vgl. a. Schmitt, Ex captivitate salus, 1950, S. 40. [5] Hartung, S. 379 f., weist auf diesen Text Steins hin und kritisiert Schmitts Interpretation. Für Schmitt wäre der Satz „ein Beweis für seine These vom Dauerkonflikt zwischen Soldat und Bürger; er will ihn sogar „fast als einen Leitsatz der gesamten Entwicklung bis 1933 gelten“ lassen. Aber daß Stein damit genau das Entgegengesetzte sagen wollte, nämlich daß die auf bürgerlichem Gemeingeist beruhende allgemeine Wehrpflicht und die noch absolutistischen zivilen Institutionen in Widerspruch stünden, ver-

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Anmerkungen

steht sich für jeden Kenner der Steinschen Gedankenwelt von selbst, ergibt sich zum Überfluß aber auch aus dem Zusammenhang.“ Tatsächlich hatte Stein seine Bemerkung eingeleitet mit: „Die reine Bürokratie wird ferner dadurch hauptsächlich verderblich, daß sie den Gemeingeist lähmt, der nur durch unmittelbare Teilnahme am öffentlichen Leben sich bildet. . .“ und zur Behebung dieser Mängel „Gemeinde-, Kreis- und Provinzialverfassungen“ vorgeschlagen, „die die Verwaltungskosten mindern, der Neuerungssucht widerstehen, in den toten Aktenkram Leben bringen“ sollen, usw. Der Kritik Hartungs an Schmitt schließt sich Gerhard Ritter, Staatskunst, I, S. 351, Anm. 24, an. – Zur Gänze berechtigt ist Hartungs Einwand trotzdem nicht: Er übersieht Schmitts Erklärung „losgelöst von der Lage des Jahres 1822“: trotz seines Kontextes „paßte“ Steins Satz zu Schmitts Argumentation an der vorl. Stelle. [6] 1934 von einer „zweihundertjährigen Geschichte“ des preußischen Generalstabes zu sprechen, ist verfehlt, bedenkt man, daß der Generalquartiermeisterstab des 18. Jahrhunderts, der sich kaum mit operativen Fragen befaßte, nur sehr eingeschränkt als ,Vorläufer‘ zu sehen ist. Ein Generalstab der, angesichts der aufkommenden Massenheere, mit wissenschaftlichen Methoden arbeitet, entsteht erst nach und nach im Verlaufe der preußischen Heeresreform unter Gerhard v. Scharnhorst (1755 – 1813); danach erweitert Karl v. Grolman (1777 – 1843) die Befugnisse und den Aktionsradius der damals noch dem Kriegsministerium unterstellten Behörde außerordentlich stark. Trotz seines wachsenden Einflusses gelang es erst Moltke 1866, dem Generalstabschef eine echte Immediatstellung zu verschaffen, so daß erst ab diesem Datum von einem voll ausgebildeten Trialismus der obersten Militärbehörden (Kriegsministerium, Militärkabinett, Generalstab) gesprochen werden kann. Vgl. Huber, I, S. 230 f.; Grolman, Entwurf zur Errichtung eines Generalstabes (1814), in: J. Ullrich, Deutsches Soldatentum, 1941, S. 120 ff.; Paul Bronsart v. Schellendorf (1832 – 1891; preuß. Kriegsminister 1883 – 1889), Der Dienst des Generalstabs, 2 Teile, 1875 / 76, 4. Aufl. 1905; Hermann v. Kuhl (1856 – 1958), Der deutsche Generalstab in Vorbereitung und Durchführung des Weltkrieges, 1920; Günther Wohlers, Die staatsrechtl. Stellung des Generalstabes in Preußen u. dem Deutschen Reich, Diss. Bonn 1921; Wolfgang Foerster (1875 – 1963), Aus der Gedankenwerkstatt des dt. Generalstabes, 1931; Friedrich v. Cochenhausen (1888 – 1941) (Hrsg.), Von Scharnhorst zu Schlieffen, 1933; Huber, Heer u. Staat, bes. S. 337 – 354; Eberhard Kessel (1907 – 86), Grolman u. die Anfänge des Preuß. Generalstabes, MwR, 1944, S. 120 – 129; Walter Görlitz, Der deutsche Generalstab, 1950 (enthält viele Irrtümer; zur Kritik vgl. Wolfgang Foerster, WwR, 8 / 1951, S. 7 – 20; spätere Auflagen sind gekürzt u. berichtigt); Hermann Teske, Die silbernen Spiegel. Generalstabsdienst unter der Lupe, 1952; Reinhard Höhn, Scharnhorsts Vermächtnis, 1952, S. 298 – 364 („Scharnhorsts Kampf um den Generalstab“); Ritter, Staatskunst, bes. Bde. I u. II; Karl Kraus, Der preuß. Generalstab u. der Geist der Reformzeit, WwR, 4 / 1957, S. 203 – 16; Waldemar Erfurth, Die Geschichte des deutschen Generalstabes von 1918 – 1945, 1957; Wiegand Schmidt-Richberg, Die Generalstäbe in Deutschland 1870 – 1945, 1962; Höhn, Erziehungsschule, S. 472 – 502; Gustav Hillard, Epilog auf den preußisch-deutschen Generalstabsoffizier, NDH, Nr. 100, 1964, S. 90 – 99 (der Autor, eigentlich Gustav Steinbömer, 1881 – 1972, gemeinsam mit dem Kronprinzen erzogen, später Berufsoffizier u. schließlich Schriftsteller, weist darauf hin, daß die Allgemeine Kriegsschule u. die Berliner Universität mit Absicht am gleichen Tage, dem 15. 10. 1810, gegründet wurden u. skizziert die Verbundenheit der ursprünglichen Bildungsidee des Generalstabes mit der des deutschen Idealismus u. Humanismus); Hansgeorg Model, Der deutsche Generalstabsoffizier, 1968; Herbert Rosinski, Die deutsche Armee, 1970, S. 256 – 284; Detlef

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Anmerkungen

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Bald, Der deutsche Generalstab 1859 – 1939, 1977; Trevor Dupuy, A Genius for War. The German Army and General Staff, 1807 – 1945, London 1977; D. Bald (Hrsg.), Militärische Verantwortung in Staat und Gesellschaft. 175 Jahre Generalstabsausbildung in Deutschland, 1986; Christian E. O. Millotat, Das preußisch-deutsche Generalstabssystem, Zürich 2000; Dierk Walter, bes. S. 117 – 122, 499 – 555. Vgl. a.: Dt. Militärgeschichte, IV / 1, S. 308 – 27, IX, S. 227 – 31. [7] Die hochkonservative ,Kamarilla‘, das ministère occulte des Kreises um Ernst Ludwig v. Gerlach (1795 – 1877), schon ab Ende März 1848 gegenrevolutionäre Pläne hegend, hatte zwar im September 1848 die Oktroyierung einer liberalen Verfassung für denkbar gehalten (vgl. Huber, II, S. 763), widersetzte sich danach aber der Intention v. Friedrich Wilhelm IV., zugleich mit der einen Staatsstreich bedeutenden Auflösung der Nationalversammlung (5. 12. 1848) eine Verfassung zu oktroyieren. Die Kamarilla erblickte „schon in der Existenz der Verfassungsurkunde eine Verfälschung der preußischen Monarchie . . . Der König, einer romantisch historisierenden Verklärung seines Berufes anhängend, dachte ähnlich und hätte die Verfassung am liebsten durch einen königlichen „Freibrief“ ersetzt. [Zu seinem Verfassungsverständnis vgl.: F. L. Kroll, Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik, 1990, S. 65 – 107.] Nur sein Rechtsbewußtsein ließ die Verfassung unangetastet. Auf diesem noch unsicheren Fundament wirkte 1858 der Regierungsantritt des Prinzen Wilhelm an Stelle des erkrankten Königs als ein befreiender „Sieg der Verfassung“, da der neue Herrscher die Verfassung zu halten versprach. . .“ (Willoweit, S. 249). Zur Verfassung v. 5. 12. 1848 vgl. u. a.: Huber, II, S. 763 – 766; ihr letzter Artikel (Art. 112) lautete: „Die gegenwärtige Verfassung soll sofort nach dem ersten Zusammentritt der Kammern einer Revision auf dem Wege der Gesetzgebung (Art. 60 und 106) unterworfen werden.“ (Der Text in: Huber, Dok., I, S. 484 – 493, hier 493). Diese Revision fand ihren Abschluß in der Verfassung v. 31. 1. 1850 (Text in: Huber, Dok., I, S. 501 – 514, auch in Dürig / Rudolf, S. 135 – 152); „der Sinn der Verfassungsrevision [war] die Verwandlung der oktroyierten in eine vereinbarte Verfassung.“ (Huber, III, S. 36); vgl. zu den Details: Friedrich Frahm, Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der preußischen Verfassung (vom März 1848 bis zum Januar 1850), FBPG, 1928, S. 248 – 301. – Siehe auch: V. Ludwig, Friedrich Wilhelm IV. Stellung zur preuß. Verfassungsfrage, Diss. Breslau 1907; H. Wegge, Die Stellung der Öffentlichkeit zur oktroyierten Verfassung u. die preuß. Parteibildung 1848 / 49, Berlin 1932; E. Marcks, Bismarck und die deutsche Revolution 1848 / 51, 1939, S. 71 ff.; G. Grünthal, Zwischen König, Kabinett und Kamarilla. Der Verfassungsoktroi in Preußen v. 5. 12. 1848, Jb. für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 32, 1983, S. 119 – 174; vgl. a. Anm. 12, S. 54f. [7a] Vgl. dazu Schmitt, VL, § 4, „Idealbegriff der Verfassung“, S. 36 – 41, wo es u. a. heißt: „Insbesondere hat das liberale Bürgertum in seinem Kampf gegen die absolute Monarchie einen bestimmten Idealbegriff von Verfassung aufgestellt und ihn mit dem Begriff der Verfassung schlechthin identifiziert. Man sprach also nur dann von „Verfassung“, wenn die Forderungen bürgerlicher Freiheit erfüllt und dem Bürgertum ein maßgebender politischer Einfluß gesichert war. . . Die Staatsrechtslehrer des 19. Jahrhunderts haben im allgemeinen auch in Deutschland ein bestimmtes und zwar ein liberal-bürgerliches Verfassungsideal. . . Für die Ausdrucksweise des bürgerlichen Liberalismus liegt nur dann eine Verfassung vor, wenn Privateigentum und persönliche Freiheit gewährleistet sind; alles andere ist nicht „Verfassung“, sondern Despotismus, Tyrannei, Sklaverei. . .“. Schmitt weist dabei (S. 39) auf den Art. 16 der Déclaration des droits de l’homme

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Anmerkungen

et du citoyen v. 26. 8. 1789 hin: „Toute société dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n’a pas [auch: point] de constitution.“ Vgl. Anm. 26, S. 65. [7b] Diese Untersuchung hat Ritterbusch u. W. nach nicht geschrieben bzw. nicht veröffentlicht. – Der Kieler Jurist Paul Ritterbusch, 1900 – 1945 (Selbstmord), organisierte die berühmte Kieler Tagung „Völker und Völkerrecht“ (31. 3. – 3. 4. 1939), auf der Schmitt seine Thesen über die „Völkerrechtliche Großraumordnung“ vortrug (vgl. Text u. Hinweise in: SGN, S. 269 – 371). Als Rektor der Universität Kiel rief R. im Frühjahr 1940 im Auftrage des Wissenschaftsministeriums die deutschen Geisteswissenschaftler zum „Gemeinschaftswerk“ des „Kriegseinsatzes der Wissenschaften“ auf; dabei sollte die Überlegenheit der deutschen Geisteswissenschaften demonstriert und die Ideologie der Westmächte bekämpft und widerlegt werden; die „Aktion Ritterbusch“ initiierte zahlreiche Vorträge, Tagungen, Publikationen; vgl. Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaften“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940 – 1945), Dresden 1998; dort wird, S. 44 f., Schmitts Einfluß auf R. zu hoch veranschlagt. – Schmitt beteiligte sich mit: Staatliche Souveränität und freies Meer. Über den Gegensatz von Land und Meer im Völkerrecht der Neuzeit (1941), in: SGN, S. 401 – 430, sowie: Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten (1942), ebd., S. 281 – 292. Vgl. a. Schmitts Fn. 30 im vorl. Bd., S. 43 sowie Anm. 101, S. 101 f.; allgemein zu Ritterbusch: Stolleis, III, bes. S. 279 ff., 388 ff. [8] In der elsässischen Stadt Zabern (französ.: Saverne) kam es im November 1913 zu massiven Unruhen und Demonstrationen, nachdem ein Leutnant in der Instruktionsstunde abfällige Bemerkungen über die Elsässer („Wackes“) gemacht hatte. Das Militär nahm ohne klare rechtliche Grundlage randalierende Zivilpersonen fest und es kam zu Kompetenzkonflikten zwischen Militär- und Zivilbehörden. In der Reichstagsdebatte wurde das eigentlich belanglose lokale Ereignis als Beweis für das Bestehen einer „Militärdiktatur“ gewertet und es kam zu einer nationalen wie internationalen Pressekampagne über die Verdrängung des Verfassungsstaates durch „militärische Anarchie“ u. ä. Der Vorfall zeigte jedoch, daß in 42 Jahren die moralische Eroberung des Elsaß nicht gelungen war u. offenbarte eine bedenkliche Unfähigkeit militärischer wie ziviler Stellen; im Elsaß galt die deutsche Armee „großen Teilen der alteingesessenen Bevölkerung noch immer als eine Art von Besatzungsmacht . . . Alles war, wie in einem militärisch besetzten Land, einfach der „Kommandogewalt“ des Kaisers anvertraut . . . Die Bevölkerung des Elsaß . . . behielt den Eindruck, daß die Zivilbehörden praktisch außerstande waren, sie gegen Willkürakte der Militärgewalt zu schützen.“ (Ritter); der Fall Zabern erwies „die offenbare Machtlosigkeit des Reichskanzlers und Reichstags gegenüber dem Militärapparat, da alle Vorfälle als interne Angelegenheiten des dem Kaiser unmittelbar unterstehenden Straßburger Generalkommandos, des Militärkabinetts und des Obersten Kriegsherrn selber betrachtet wurden . . . Zabern war eine Generalprobe auf die Durchschlagsfähigkeit der politischen Gruppen gewesen, die auf eine parlamentarische Reichsregierung und die Demokratisierung der preußischen Verfassungsstruktur drängten . . . Das Ergebnis war ein vollständiger Sieg für die in einer Grenzsituation erneut behauptete traditionelle Wehrverfassung . . .“ (Wehler). Die Affäre wurde zum Anlaß einer maßlosen innerpolit. Demagogie, sich u. a. äußernd in einem Mißbilligungsvotum gg. Bethmann Hollweg (293 zu 54 Stimmen), weil dieser Verständnis für die empfindliche Reaktion Kriegsminister v. Falkenhayns auf die Polemik gezeigt hatte; Scheidemann forderte sogar die Demission des Kanzlers. Zu den Auseinandersetzungen im RT vgl.: Huber,

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Anmerkungen

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Dok., II, S. 442 – 449. Die Literatur über den z. T. burleske Züge aufweisenden Konflikt ist uferlos, vgl. u. a.: August Wiebicke, Wackes und Leutnant. D’Revolütion vun Zawere, Zabern 1913; G. F. Leberecht, Zabern und des Königs Rock, Berlin 1913; H. Ays, Die Wahrheit über Zabern, Kehl 1914; W. Jellinek, Zabern. Ueber das Verhaftungsrecht des Militärs, Tübingen 1914; Zabern! Militäranarchie und Militärjustiz. Rede des Reichstagsabgeordneten Hermann Wendel am 13. Januar 1914 im Saalbau zu Offenbach a. M., Frankfurt a. M. 1914; Julien Rovère, L’affaire de Saverne, Paris 1918; Erwin Schenk, Der Fall Zabern, 1927; Jacques Brissaud, L’affaire du Lieutenant de Saverne, Paris 1929; Sergeant [Willy] Höflich, „Affaire Zabern“. Mitgeteilt von einem der beiden „Missetäter“, 1931; A. Haydt, Der Fall Zabern. Ein Dokument, Straßburg 1934; H. G. Zmarzlik, Bethmann Hollweg als Reichskanzler 1909 – 1914, 1957, S. 114 – 130; H. U. Wehler, Der Fall Zabern. Rückblick auf eine Verfassungskrise des wilhelminischen Kaiserreichs, WaG, 1 / 1963, S. 27 – 46; Gerhard Ritter, Staatskunst, II, S. 168 ff.; Huber, IV, S. 477 f., 581 – 96; a. ders., Heer u. Staat, S. 309 ff. – Interessant auch Lenin, der von der blitzartigen Erhellung d. Verfassungslage durch die Zabernaffaire spricht: Lenin, Zabern (29. 11. 1913), in: Ders., Über Deutschland u. die dt. Arbeiterbewegung, 1957, S. 290 ff. [9] Diese Thronrede des Königs bei der Eröffnung der beiden Häuser des Landtages ist nachzulesen in: Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses 1866 / 67, I, S. 1 f.; Auszug in: Huber, Dok., II, S. 85. Die von Schmitt leicht geänderte Orthographie und die von ihm hier vorgenommene Kursivierung wurden beibehalten. [10] Der Art. 99 der Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. 1. 1850 lautete: „Alle Einnahmen und Ausgaben des Staats müssen für jedes Jahr im Voraus veranschlagt und auf den Staatshaushalts-Etat gebracht werden. – Letzter wird jährlich durch ein Gesetz festgestellt.“ – Der nachfolgende Art. 100 lautete: „Steuern und Abgaben für die Staatskasse dürfen nur, soweit sie in den Staatshaushalts-Etat aufgenommen oder durch besondere Gesetze angeordnet sind, erhoben werden.“ (Huber, Dok., I, Nr. 194, S. 512). [11] In seiner Rede v. 27. 1. 1863 vor dem Preuß. Abgeordnetenhause (Text u. a. in: Huber, Dok., II, S. 49 – 53; Bismarck, Werke, III, S. 57 – 64) rechtfertigte Bismarck das budgetlose Regiment u. verwies darauf, daß die Verfassung keine Regelung darüber treffe, was bei einem Scheitern des Etatgesetzes zu geschehen habe. „Angesichts dieser Verfassungslücke sei es Sache der Regierung, den Staatsstillstand zu verhüten, indem sie die Staatsausgaben ohne Etatgesetz leiste.“ (Huber, III, S. 309); man warf daraufhin Bismarck vor, er habe mit der „Lückentheorie“ den Satz „Macht vor Recht“ proklamiert, was B. empört zurückwies. Zu den parlamentarischen Auseinandersetzungen u. zu den politischen u. juristischen Implikationen vgl. Huber, III, bes. S. 309 – 312, 333 – 342, der belegt, daß „die Zentralfrage des Konflikts nicht budgetrechtlicher, sondern wehrrechtlicher Natur“ (S. 333) war u. daß Bismarck sich „im Rahmen des legalen Staatsnotstands hielt“ und „jede Versuchung zu staatsstreichartigem Vorgehen ausschlug.“ (S. 347). Zur „Lückentheorie“ vgl. a.: Hans-Christof Kraus, Ursprung und Genese der „Lückentheorie“ im preußischen Verfassungskonflikt, Der Staat, 2 / 1990, S. 209 – 234. Mit dem Satz „Das Staatsrecht hört hier auf; die Frage, wie bei nicht vorhandenem Etatgesetz zu verfahren sei, ist keine Rechtsfrage“, beendete Gerhard Anschütz seine Überlegungen über das Recht und die Pflicht zum Regierungshandeln bei fehlendem Budget (in: Georg Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts. Nach dem Tode des Verfassers in siebenter Auflage bearbeitet von Georg Anschütz, 1919, S. 906).

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Anmerkungen

Anschütz behauptete, daß eine „Lücke im Recht“ vorliege, Huber wandte dagegen ein: „Seine Formel: „Das Staatsrecht hört hier auf“ machte die Konfliktsfrage zu einer Frage jenseits von Recht und Unrecht . . . Wenn die Konfliktsfrage auf einer „Lücke im Recht“ beruhte, so war sie keine Frage von Recht und Unrecht, sondern eine Frage von Macht und Ohnmacht. Dann aber war entscheidend der Erfolg. Die Paradoxie des staatsrechtlichen Perfektionismus Anschützcher Prägung war, daß er in der Grenzsituation die Rechtsfrage in eine Erfolgsfrage ummünzte . . . Nach der Anschützchen Lückentheorie war hinsichtlich des „wie“ der Budgetfrage alles Verfassungsrecht im Verfassungsgesetz enthalten. Die damit gegebene Verfassungslücke mußte durch eine politische Machtentscheidung geschlossen werden, die ihrerseits weder Recht noch Unrecht war. Das aber bedeutete nichts anderes als die Negation des Rechts überhaupt . . . Wenn Lücken des Verfassungsgesetzes als Lücken des Verfassungsrechts zu gelten haben, ist der Staat als Rechts- und Verfassungsstaat unmöglich. Lücken des Verfassungsgesetzes wird es immer geben; wenn sie zugleich Lücken des Verfassungsrechts sind und damit einen rechtsfreien Raum reiner Machtentscheidung offen lassen, so wird der Rechtsund Verfassungsstaat undenkbar.“ (Huber, III, aus S. 338 – 342). Zu dem berühmten Satz Anschütz’ bemerkte Schmitt u. a.: „Das Staatsrecht hört hier auf. Die Normen also, deren Bedeutung und Wert doch gerade darin liegen sollte, Konfliktsfälle zu entscheiden, ließen aus sich heraus keine Antwort gewinnen! Es blieb deshalb dabei: der Monarch, der die politische Einheit repräsentierte, konnte im kritischen Fall erstens eine Lücke in der Verfassung finden und zweitens über die Ausfüllung dieser Lücke entscheiden. Die vielen staatsrechtlichen Subtilitäten, mit denen man diese einfache Rechtslage verwirrte, haben heute jeden theoretischen und praktischen Wert verloren. Doch ist es geschichtlich von besonderem Interesse, daß das Staatsrecht damals eben dort aufhörte, wo die wichtigen und bedeutenden Fragen des Verfassungsrechts begannen.“ (VL, S. 56). Im November 1933 erklärte er: „Der sogenannte Positivismus und Normativismus der deutschen Staatsrechtslehre der Wilhelminischen und der Weimarer Zeit ist nur ein degenerierter – weil statt auf ein Naturrecht oder Vernunftrecht begründeter, an bloß faktisch „geltende“ Normen angehängter – daher in sich widerspruchsvoller Normativismus, vermischt mit einem Positivismus, der nur ein rechtsblinder, an die „normative Kraft des Faktischen“ statt an eine echte Entscheidung sich haltender, degenerierter Dezisionismus war. Die gestaltlose und gestaltungsunfähige Mischung war keinem ernsten staats- und verfassungsrechtlichen Problem gewachsen. Diese letzte Epoche der deutschen Staatsrechtswissenschaft ist dadurch gekennzeichnet, daß sie die staatsrechtliche Antwort auf den entscheidenden Fall, nämlich die Antwort auf den preußischen Verfassungskonflikt mit Bismarck und infolgedessen auch die Antwort auf alle weiteren entscheidenden Fälle schuldig geblieben ist. Um der Entscheidung auszuweichen, prägte sie für solche Fälle einen Satz, der auf sie selbst zurückgefallen ist und den sie nunmehr selbst als Motto trägt: „Das Staatsrecht hört hier auf.“ (Politische Theologie, 2. Aufl., 1934, S. 8). E. W. Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert (1967), in: Ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, erklärt hingegen, daß Anschütz’ Formel „in ihrer objektiven Aussage der inneren Logik des konstitutionellen Verfassungssystems entspricht und gerade den Kompromißcharakter des konstitutionellen Verfassungsrechts, den auch Schmitt scharf herausgestellt hat, dogmatisch angemessem zum Ausdruck bringt.“ (S. 196). [12] Zur preuß. Verfassung v. 31. 1. 1850 (Text in: Huber, Dok., I, S. 501 – 514, auch in Dürig / Rudolf, S. 135 – 152) vgl. u. a. Huber, III, S. 3 – 26, 35 – 128, der betont, daß dem König allein die vollziehende Gewalt zustand, seine militärische Kommandogewalt un-

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Anmerkungen

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bezweifelt blieb, er über ein ausgedehntes Recht zu Verordnungen und Notverordnungen sowie über das Recht des Belagerungszustandes verfügte, usw.; Huber versteht die Verfassung v. 1850 als ein Regime der existentiellen Vorbehalte (S. 13 – 18) zugunsten der Krone u. kommt so zu einer gänzlich anderen Einschätzung als Schmitt. – Vgl. a.: Ludwig v. Rönne (1798 – 1865), Die Verfassungs-Urkunde für den Preuß. Staat vom 31. Januar 1850, Berlin 1850 (2. Aufl. 1852, 3. Aufl. 1859); H. Gräff, Die Verfassungs-Urkunde des preuß. Staats, Breslau 1857, 2. Aufl.; ihre Problematik verdeutlicht Lorenz v. Stein (1815 – 1890), Zur preußischen Verfassungsfrage (zuerst 1852), besorgt u. mit einem Nachwort versehen von Carl Schmitt, Berlin 1940; 2. Aufl. hrsg. v. Norbert Simon, ebd. 2002; Schmitts Nachwort, verändert, in: Schm Jb, 1940, S. 641 – 646, Ndr. in: SGN, S. 156 – 165; dazu: R. Koselleck, Geschichtliche Prognose in Lorenz v. Steins Schrift zur preußischen Verfassung, Der Staat, 4 / 1965, S. 469 – 481, Ndr. in: Ders., Vergangene Zukunft, 1979, S. 87 – 104; R. Smend, Die Preußische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen, Göttingen 1904 (tatsächlich lehnte sich die preuß. Verfassung v. 1850 an die belgische v. 7. 2. 1831 an, betonte aber stark die Prärogative des Königs u. bejahte nicht die Volkssouveränität); E. Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 1940, S. 167 – 173, 4. Aufl., 1972, S. 126 – 130 („Auch in ihrer endgültigen Gestalt lehnte sich die Verfassung eng an das belgische Vorbild an“); F. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte, 9. A., 1969, S. 252 – 257 (verweist ebenfalls auf die – m. E. recht äußerliche – Nähe zum belg. Vorbild); H. Boldt, Die preuß. Verfassung v. 31. Januar 1850, in: Preußen im Rückblick, Sonderheft 6 v. ,Geschichte und Gesellschaft‘, 1980, S. 224 ff.; vgl. a. G. Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat v. 31. Januar 1850, 1912, Bd. I (mehr nicht erschienen); die belg. Verfassung v. 7. 2. 1831 in: Willoweit / Seif, Europäische Verfassungsgeschichte, 2003, S. 509 – 532. Vgl. Anm. 7, S. 51. [13] Zum Norddeutschen Bund und seiner Verfassung v. 26. 7. 1867 (Text in: Huber, Dok., II, S. 227 – 240): Bismarck, Gedanken, S. 375-96; Erinnerung, S. 326 – 47; Heinrich v. Treitschke (1834 – 1896), Die Verfassung des Norddeutschen Bundes, PrJb, 1867, S. 717 – 733; Konrad Hiersemenzel, Die Verfassung des Norddeutschen Bundes, erläutert mit Hülfe und unter vollständiger Mittheilung ihrer Entstehungsgeschichte, Berlin 1867; Ders., Das Verfassungs- und Verwaltungsrecht des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins, 2 Bde., Berlin 1868 / 69; Georg Meyer (1841 – 1900), Grundzüge des Norddeutschen Bundesrechts, Leipzig 1868; Friedrich Thudichum (1831 – 1913), Verfassungsrecht des Norddeutschen Bundes und des deutschen Zoll- und Handelsvereins, Tübingen 1870; Huber, III, S. 649 – 680; Stolleis, II, S. 338 f. Die Verfassung v. 16. 4. 1871 (Text in: Huber, II, S. 289 – 305, auch in: Dürig / Rudolf, S. 153 – 175) führte rasch zu einer Fülle von Literatur, daraus nur: L. Auerbach, Das neue deutsche Reich und seine Verfassung, Berlin 1871; E. Riedel, Die Reichsverfassungsurkunde v. 16. April. 1871 u. die wichtigsten Administrativgesetze des deutschen Reichs, Nördlingen 1871; Joseph v. Held (1815 – 1890), Die Verfassung des Deutschen Reiches vom staatsrechtlichen Standpunkt aus betrachtet, Leipzig 1872; J. B. Westerkamp, Ueber die Reichsverfassung, Hannover 1873; Robert v. Mohl (1799 – 1875), Das deutsche Reichsstaatsrecht. Rechtliche und politische Erörterungen, Tübingen 1873; Max v. Seydel (1846 – 1901), Commentar zur Verfassungs-Urkunde für das deutsche Reich, Würzburg 1873; Albert Hänel (1833 – 1918), Studien zum Deutschen Staatsrecht, 3 Bde. (unvollendet), Leipzig 1873 – 1888; L. v. Rönne (1798 – 1865), Das Verfassungsrecht des Deutschen Reiches, historisch-dogmatisch betrachtet, 2 Bde., Leipzig 1876 – 77; Paul Laband (1838 – 1918), Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 3 Bde., Tübingen 1876 – 1882; von größtem Wert ist die Quellensammlung von Emil Bezold, Materialien zur

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Anmerkungen

Deutschen Reichsverfassung. Sammlung sämtlicher auf die Reichsverfassung, ihre Entstehung und Geltung bezüglichen Urkunden und Verhandlungen, 4 Bde., Berlin 1872 / 73; vgl. a. Heinrich Triepel (1868 – 1946), Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht, Tübingen 1922, 3. Aufl., S. 198 – 331; vgl. Anm. 49, 53. Die frühen deutschen Verfassungen waren vom Landesherrn oktroyiert, mithin „hoheitliche Gewährungen, in denen sich die monarchische Gewalt freiwillig Begrenzungen auferlegte“ (Stolleis, II, S. 100); eine bedeutende Ausnahme war die württembergische Verfassung v. 25. 9. 1819, die, nach langen Auseinandersetzungen, auf eine Vereinbarung zwischen König Wilhelm I. (1781 – 1864) und den Ständen beruhte und als erster deutscher Verfassungsvertrag gilt; vgl. Huber, I, S. 334; Text d. Verfassung in: ders., Dok., I, S. 187 – 219. – Am 31. 3. 1867 kam es zu einem Geheimvertrag zw. Preußen, Sachsen, SachsenWeimar und Hessen-Darmstadt, „beim Scheitern der Verfassungsverständigung die Bundesverfassung [des Norddeutschen Bundes] durch Oktroyierung in Kraft zu setzen“, so Huber, III, S. 654. – Zum Problem oktroyierte / vereinbarte bzw. paktierte Verfassungen: Schmitt, VL, S. 51 f., 61 – 75; Huber, I, S. 318 f.; III, S. 647 f., 676 ff.; Dieter Grimm, Konstitution, Grundgesetz(e) von der Aufklärung bis zur Gegenwart, in: Heinz Mohnhaupt / D. Grimm, Verfassung – Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 1995, S. 100 – 144, bes. S. 123 f. (Welcker: eine oktroyierte Verfassung ist keine), 128 f. (Philipp Zorn: alle Verfassungen sind oktroyiert, es gibt keine paktierten). [14] Die Formel „Staat im Staate“ bzw. „Staaten im Staate“ findet sich schon bei Severinus v. Monzambano (Pufendorf, 1632 – 94), De statu imperii germanici (1667), dt.: Über die Verfassung des deutschen Reiches, 1922, 7. Kap., § 9, S. 108: „Denn es liegt ja auf der Hand, daß die Geistlichkeit gleichsam einen besonderen Staat im Staate bildet und daß so Deutschland unter zwei Oberhäuptern steht, was alle, die ihr Vaterland mehr lieben als die römische Kirche, für das größte Unglück Deutschlands halten.“ Bei Spinoza, Tractatus Politicus (postum 1677) 2. Kap., § 6, heißt es: „At plerique ignaros naturae ordinem magis perturbare quam sequi credunt, et homines in natura veluti imperium in imperio concipiunt – Meist glaubt man, daß die Toren die Ordnung der Natur eher stören als befolgen, und man meint, die Menschen seien innerhalb der Natur wie ein Staat im Staate“. In vielen frühen Benutzungen der Wendung geht es um die Gefahr der Auflösung der staatlichen Einheit durch die Macht organisierter Gruppen u. Verbände, also um den Pluralismus, vgl. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 851. – Zu den zahlreichen, auch unterschiedlichen Bezugnahmen auf die Armee als Staat im Staate vgl. u. a.: Huber, I, S. 218 f., 250; III, S. 78; IV, S. 516: „Die Armee war, . . .in der konstitutionellen Epoche ein „Staat im Staat“. Genauer müßte man sagen: sie war ein „Staat außerhalb des Staats“. Es gab nach dieser dualistischen Ansicht nebeneinander einen der spätabsolutistischen Vollgewalt des Monarchen unterstehenden „Militärstaat“ und einen dem monarchisch-parlamentarischen Kompromiß unterworfenen Verfassungsstaat. – Die konsequenteste Begründung dieser These der Antinomie von preußischem Soldatenstaat und bürgerlichem Konstitutionalismus findet sich bei C. Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches (1934) . . .“. – Ggü. Paul Bronsart v. Schellendorff (1832 – 91) als neuem Kriegsminister erklärte Bismarck 1883, daß dieser nun „den Schlüssel zur Macht in Händen hielte, da die Armee mit Recht einen Staat im Staate“ bilde (Schmid, S. 9). Fritz Hartung, Staatsverfassung und Heeresverfassung (1936), in: Ders., Volk und Staat in der deutschen Geschichte, 1940, S. 28 – 40, meint S. 32: „Damit [mit der Einrichtung der stehenden Heere] war die Entwicklung zum Abschluß gebracht, die mit dem Lehns-

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wesen angefangen hatte: der Soldatenstand war nun als besonderer Stand, als ein Staat im Staate, von der Masse der übrigen Bevölkerung völlig geschieden.“ – Vgl. a. Deutsche Militärgeschichte, I, S. 209; II, S. 83; IV / 1, S. 283; bes. markant zwei Äußerungen v. Seeckts aus den Jahren 1927 u. 1929: „Nicht zum Staat im Staat soll das Heer werden, sondern im Staat dienend aufgehen und selbst zum Abbild des reinen Staates werden“ und „Das Heer dient dem Staat, nur dem Staat; denn es ist der Staat“ (ebd., VI, S. 136). [15] Der Art. 108 der revidierten preußischen Verfassung v. 31. 1. 1850 lautete: „Die Mitglieder der beiden Kammern und alle Staatsbeamten leisten dem Könige den Eid der Treue und des Gehorsams und beschwören die gewissenhafte Beobachtung der Verfassung. – Eine Vereidigung des Heeres auf die Verfassung findet nicht statt.“ (Huber, Dok., I, S. 513 f; Dürig / Rudolf, S. 151). Immerhin hatte König Friedrich Wilhelm IV. in einem Patent über die „Zusammenberufung der Volksvertreter“ am 5. 12. 1848 noch erklärt: „Unmittelbar nach erfolgter Revision [der am gleichen Tage verkündeten oktroyierten Verfassung] werden Wir die von uns verheißene Vereidigung des Heeres auf die Verfassung veranlassen.“ (bei Huber, a. a. O., S. 494). Huber, III, S. 75 f., ist überzeugt davon, daß der König diese Zusage auch einlösen wollte, doch aufgrund der Schrift „Ueber die Vereidigung des Heeres auf die Verfassung“ (Berlin 1849) seines damaligen Ministerpräsidenten Adolf Graf v. Arnim-Boitzenburg (1803 – 1868), in der die von diesem selbst veranlaßte Zusage als Fehler bezeichnet wurde, entschieden die Revisionskammern zugunsten der Vereidigung auf den König; dazu auch: Sven Lange, Der Fahneneid – Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär, 2002, S. 54 f. – Huber, III, S. 78, weist darauf hin, daß das preußische Heer durch die Beschränkung des Soldateneides auf den reinen Fahneneid nicht „außerhalb der Verfassung“ geblieben sei, weil ja der König, dem der Eid geleistet wurde, „seinerseits ein eidliches Verfassungsgelöbnis zu leisten hatte.“ Zwar sei der militärische Kommandobereich der parlamentarischen Kontrollgewalt, nicht jedoch der Verfassung entzogen gewesen, – ein etwas seltsamer Juristentrost. – Zum jahrzehntelangen, schon lange vor 1866 einsetzenden Kampf um den Heereseid in Deutschland vgl. u. a.: F. Everling, Der Fahneneid in Preußen, AöR, 1916, S. 167 – 205; Ernst Friesenhahn, Der politische Eid, 1928, Ndr. 1979 (Diss. bei Schmitt); Reinhard Höhn, Verfassungskampf und Heereseid – Der Kampf des Bürgertums um das Heer 1815 – 1850, Leipzig 1938; dazu süffisant-ironisch: Eberhard Kessel, FBPG, 1939, S. 205 – 207; eine systematische Kritik, die zugleich als Gesamtschilderung der Entwicklung gewertet werden muß, von E. R. Huber, ZgStW, 103, 1943, S. 546 – 558; allgemein zum Thema a.: Huber, Heer u. Staat, bes. S. 170 – 174; Messerschmidt, S. 160 f. Vgl. Treitschke, Politik, II, 1898, S. 365 f. [15a] Dieser Passus entstammt nicht einem Text von Otto Hintze (1861 – 1940) aus den „Acta Borussica“, sondern findet sich in einem Aufsatz von Gustav Schmoller (1838 – 1917): Der preußische Beamtenstand unter Friedrich Wilhelm I., PrJb, 26, August 1870, S. 148 – 172, Sept. 1870, S. 253 – 270, Nov. 1870, S. 538 – 55, das Zitat ebd., S. 554. Hartung, S. 388, bemerkt zwar Schmitts Fehler, behauptet jedoch, der Passus sei aus Schmollers Aufsatz „Die innere Verwaltung des preußischen Staates unter Friedrich Wilhelm I.“, ebenfalls PrJb, 1869, S. 575 – 91; 1870, S. 1 – 16. (Vgl. von Schmoller a.: Herkunft und Wesen der deutschen Institutionen, in: Otto Hintze u. a. (Hrsg.), Deutschland und der Weltkrieg, Leipzig u. Berlin 1915, Teubner, S. 186 – 218, 193.). Zur Sache bemerkt Hartung: „Der Beweis dafür, daß der liberale Rechtsstaatsgedanke die Umwandlung des preußischen Beamtentums bewirkt habe, scheint mir weder für die Zeit um 1870 noch für die Jahrhundertwende erbracht zu sein. Abgesehen davon, daß

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Anmerkungen

bei den sog. politischen Beamten in Preußen weder von absoluter Sicherung der Stellung noch von völliger Objektivierung und Neutralisierung gesprochen werden konnte, daß ferner auch eine an das Gesetz gebundene Verwaltung Raum zur Initiative bietet, ist die entscheidende und von S. nicht erklärte Tatsache die, daß das Beamtentum sich mit der Verteidigung des überkommenen Besitzstandes gegen unbequeme Neuerungen begnügte und von der alten Reformfreudigkeit, die sich auch im Entwerfen von Reformgesetzen äußern konnte, nichts mehr zeigte“ (S. 388). Hartung geht auf Schmollers Betrachtung der preuß. Bürokratie noch einmal ein in: Gustav von Schmoller und die preußische Geschichtsschreibung, Schmollers Jahrbuch 1938, S. 277 – 302; Nachdruck in: Hartung, Staatsbildende Kräfte der Neuzeit, 1961, S. 470 – 96, 476. [16] So schrieb Paul Laband [1838 – 1918] in: Deutsches Reichsstaatsrecht, 5. Aufl., Tübingen 1909, S. 358 f.: „Der Eintritt in den berufsmässigen Militärdienst ist Eintritt in den berufsmässigen Staatsdienst; der Offizier ist im juristischen Sinne ein Staatsbeamter; die von ihm verwaltete Stelle im Heere ist im juristischen Sinne ein Staatsamt; die ihm obliegenden Pflichten sind Beamtenpflichten. Nicht in den Grundsätzen über die Wehrpflicht, sondern in den Grundsätzen des Beamtenrechts sind demnach die allgemeinen Rechtsnormen zu suchen, welche für das Dienstverhältnis der Offiziere etc. massgebend sind, wenngleich mit zahlreichen Modifikationen.“ Er übernahm damit seine Formulierungen aus seinem Hauptwerke: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4. Aufl., 4 Bde., IV, Tübingen / Leipzig 1909, S. 189. – Kritisch zu Laband: Heckel, Wehrverfassung, S. 219 f. [17] Die Nationalliberale Partei, 1866 / 67 von Parlamentariern der Deutschen Fortschrittspartei ins Leben gerufen, die, zunächst unter der Führung von Eduard Lasker, für die Indemnität stimmten, „verband . . . in ihrer Programmatik nationale Politik und liberal-rechtsstaatliche Ziele. Zur Zeit der Reichsgründung war sie die bedeutendste deutsche Partei mit einem Stimmenanteil von 30 Prozent bei der Reichstagswahl von 1871.“ (Boldt, II, S. 384). Bis 1878 war sie, gemeinsam mit Freikonservativen und Altliberalen, „geradezu die staatstragende Gruppe der Reichsgründungszeit . . . Bismarck war in vielen Fragen, auch wo es seinen eigenen Intentionen nicht entsprach, gezwungen, nationalliberale Politik zu machen.“ (Huber, IV, S. 139); vor allem durch Bismarcks Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik geriet die Partei in die Krise, so daß aufgrund ihrer hohen Verluste bei den RT-Wahlen 1881 Bismarck seine rechte RT-Mehrheit verlor und bis 1887 mit wechselnden Mehrheiten regieren mußte. Zur Geschichte der Partei u. a.: Constantin Frantz (1817 – 91), Die Religion des Nationalliberalismus, 1872, Ndr. 1970; Ludwig Bamberger (1823 – 99), Die Secession, 1881 (Über d. Abspaltung d. Parteilinken unter Lasker nach deren Ablehnung d. Heeresvermehrung 1880); Martin Spahn (1875 – 1945), Zur Entstehung der nationalliberalen Partei, ZfP, 1908, S. 346 – 470; Arthur Blaustein, Von der Uneinigkeit der Liberalen bei den Reichstagswahlen 1867 – 1910, 1911; Erich Brandenburg (1868 – 1946), 50 Jahre nationalliberale Partei, 1917; H. Sacher, in: Staatslexikon der Goerres-Gesellschaft, 5. Aufl., 1929, III, Sp. 992 – 995; Hermann Block, Die Spaltung d. Nationalliberalen Partei u. die Entwicklung des Linksliberalismus bis zur Auflösung d. Deutsch-Freisinnigen Partei (1878 – 1893), Diss. Kiel 1953; Huber, III, S. 873 – 78, IV, S. 63 – 74, 138 – 40, 142 – 44, 221 – 23 u. ö.; vgl. a.: Hermann Kalkoff, Die nationalliberale Fraktion des Preußischen Abgeordnetenhauses 1866 – 1913, 1913; Ders. (Hrsg.), Nationalliberale Parlamentarier des Reichstages u. der Einzellandtage 1867 – 1917, 1917; Gerhard Eisfeld, Die Entstehung der liberalen Parteien in Deutschland 1858 – 70, 1969; vgl. Anm. 38, S. 72. f.

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Anmerkungen

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Die Freikonservative Partei (später „Deutsche Reichspartei“) spaltete sich 1866, unter der Führung von Eduard Georg v. Bethusy-Huc (1829 – 93), von den Altkonservativen ab, da sie Bismarcks Politik der nationalen Einigung unterstützte; sie war eine z. T. sehr elitäre Honoratiatorenpartei. Zu ihren Mitgliedern zählten zahlreiche Hochadlige, Diplomaten u. Industrielle, u. a. Bismarcks Söhne Herbert (1849 – 1904) u. Wilhelm (1851 – 1901); deshalb war ihr Einfluß größer als ihre Wahlergebnisse (1878 errang sie 57 Mandate =14,3 % der Stimmen) vermuten lassen. Vgl. u. a.: A. Wolfstieg, Die Anfänge der freikonservativen Partei, FS Hans Delbrück, 1908, S. 313 ff.; K. Viebig, Die Entstehung u. Entwicklung der Freikonservativen u. der Reichspartei, Diss. Greifswald 1920; Huber, IV, bes. S. 37 – 40; Volker Stalmann, Die Partei Bismarcks. Die Deutsche Reichsund Freikonservative Partei 1866 – 1890, Düsseldorf 2000. [18] Vermutlich eine polemische Spitze Schmitts gg. seinen damaligen Kritiker Otto Koellreutter (1883 – 1972) der, im Gegensatz zu Schmitts Zurückweisung einer Übernahme des Rechtsstaatsbegriffes (weil dieser vom Liberalismus infiziert sei und kaum wider dessen Einflüsse immunisiert werden könne) für eine Übernahme des Begriffes unter nationalsozialistischen Vorzeichen plädierte (vgl. v. Koellreutter u. a.: Der nationale Rechtsstaat, DJZ, 1933, Sp. 517 – 24; Grundriß der Allgemeinen Staatslehre, 1933, S. 71 – 110) u. forderte, daß man „die Rechtsstaatsidee aus den Umklammerungen des entarteten Nachkriegsliberalismus . . . befreien“ müsse (in: Der Deutsche Führerstaat, 1934, S. 20). Koellreutter zählte dabei Schmitts „Legalität und Legitimität“ v. 1932 zu den „Versuchen der liberalen [!] Machtstaatstheorie, den Rechtsstaatsbegriff zu diskreditieren“ (ebd.) während Schmitts Bemerkung wohl mit „Entweder Rechtsstaat oder Führerstaat“ zu deuten ist. Zu diesem „Streit um den Rechtsstaat“ vgl. die Anm. 28 u. 30, S. 65 f., 67 sowie: Kurt Groß-Fengels, Der Streit um den Rechtsstaat, Diss. Marburg 1936; Ulrich Schellenberg, Die Rechtsstaatskritik. Vom liberalen zum nationalen und nationalsozialistischen Rechtsstaat, in: E. W. Böckenförde (Hrsg.), Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, 1985, S. 71 – 88; Stolleis, III, S. 330 – 338. [19] Mit den Wehrgesetzen von 1813 / 14 (vgl.: Huber, Dok., I, S. 51 – 60) wurde die Allgemeine Wehrpflicht in Preußen eingeführt u. zugleich die Landwehr geschaffen. „In ihr vor allem sollte sich der neue vaterländische, nicht bloß königstreue Geist der Erhebungszeit verfestigen. Diesen Geist nicht verlorengehen zu lassen im Alltag des Gamaschendienstes und Paradedrills war die Hauptsorge Boyens. Darum stellte er mit Bedacht seine Landwehr als einen selbständigen Heerkörper neben das stehende Heer mit seinen Berufsoffizieren, seinem großen Stamm von langdienenden Unteroffizieren, Kapitulanten und dreijährig dienenden Mannschaften.“ (Ritter, Staatskunst, I, S. 135). Wurden bei Boyen Linie und Landwehr weitgehend getrennt – die nationaldemokratische Idee des „Volks in Waffen“ à la Gneisenau sollte koexistieren mit dem aus Gründen der militärischen Effizienz notwendigen stehenden Heer – so zielten Roons Reformen u. a. darauf, die Landwehr des ersten Aufgebots der Linie zuzuschlagen und sie damit de facto abzuschaffen. Ein Grund hierfür war das geringe Vertrauen in die politische Zuverlässigkeit der Landwehr, deren quasi-revolutionäre Ursprünge schreckten und in deren Reihen es im April / Mai 1849 zu kleineren Emeuten gg. das Vorgehen der Krone gekommen war (vgl. Huber, II, S. 862 – 865). Im preuß. Verfassungskonflikt, in dem es nur sekundär um die Budgetfrage, primär jedoch um die Wehrverfassung und den Besitz der Kommandogewalt ging, erregte, neben dem Beharren der Krone auf der dreijährigen Dienstzeit, die Abschaffung der Landwehr den heftigsten Widerstand der Opposition. Vgl. u. a.: R. Braeuner, Geschichte der preußischen Landwehr, 2 Bde., Berlin 1863; R. de l’Homme de Courbière, Die preuß. Landwehr in ihrer Entwickelung von 1815 bis zur

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Anmerkungen

Reorganisation von 1859, Berlin 1867; Fr. Meinecke, Boyen und Roon. Zwei preußische Kriegsminister, HZ, 77, 1896, S. 207 – 233; Ders., Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, 2 Bde., Berlin 1896 / 99; O. Hintze, Staatsverfassung u. Heeresverfassung (1906), in: Ders., Staat u. Verfassung, 3. Aufl., 1970, S. 52 – 83, bes. S. 76 f.; Huber, Heer und Staat, bes. S. 155 – 159; Ritter, Staatskunst, I, S. 125 – 158, 348 – 353 („Von Boyen bis Roon: Volksheer oder königliche Garde?“); Huber, I, S. 249 – 256; II, S. 862 – 865; III, S. 278 – 285; Deutsche Militärgeschichte, IV / 1, S. 63 – 87, 104 – 109; Willoweit, S. 250 f.; Dierk Walter, S. 271 – 274, 281 – 292, 359 – 380 u. ö. – Klärend: Höhn, Sozialismus, I, der die Glorifizierung der Landwehr durch August Bebel (1840 – 1913) und Wilhelm Liebknecht (1826 – 1900) als Fortschreibungen der frühliberalen Illusionen von der Überlegenheit der Miliz über das stehende Heer kritisiert (S. 268 ff.), ihre gern behauptete Bedeutung für 1813 widerlegt („die Landwehren, die bei Waterloo und Ligny fochten, waren keine Rekruten mehr, sondern in der Zwischenzeit kriegsgeübte Truppen geworden“, S. 271) und auf die geringe Qualität der Landwehr zur Zeit der Roon’schen Reform hinweist (S. 130 ff.) und sich dabei auf Friedrich Engels (1820 – 95) stützen kann, der die von den Liberalen heftig angegriffene Degradierung der Landwehr durch Roon für triftig hält, vgl. Engels, Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei (1865), in: MEW, 16, 1962, S. 37 – 78; zu Linie / Landwehr a.: Fiedler, Einigungskriege, S. 47 – 59, 107 ff. [20] Diese Behauptung Schmitts verblüfft und bleibt einigermaßen geheimnisvoll, da doch die beiden Begriffe gemeinhin als gegensätzlich betrachtet werden: „Schon Demokrit und Sokrates beginnen sich als Weltbürger zu fühlen; im Kynismus wird kosmopolitische Vaterlandslosigkeit Ersatz für alle politische Empfindung, und die Stoa setzt endlich das die ganze Menschheit zu umfassen bestimmte Weltreich an Stelle des Stadtstaates.“ (Georg Jellinek, 1851 – 1911, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1922, S. 301). Zu den Bedeutungsinhalten bd. Begriffe: Paul-Ludwig Weinacht, „Staatsbürger“ – Zur Geschichte und Kritik eines politischen Begriffs, Der Staat, 1 / 1969, S. 41 – 63; Peter Coulmas, Weltbürger. Geschichte einer Menschheitssehnsucht, Reinbek 1990. [20a] Wilhelm I. (1797 – 1888; 1858 – 61 Prinzregent, 1861 – 88 König von Preußen, 1871 – 1888 Deutscher Kaiser) trat schon als Offizier vehement für die dreijährige Dienstzeit ein; man darf sagen, daß dieses Problem ihn sein ganzes Leben lang beschäftigte; vgl.: Militärische Schriften weiland Kaiser Wilhelms des Großen Majestät, Berlin 1897 (zwei Bände in einem), bes. I, Kap. XIX, S. 142 – 218 („Zwei- oder dreijährige Dienstzeit – Etats der Linieninfanterie 1832 – 1837“); II, Kap. XLIX, S. 128 – 189 („Erneute Kämpfe um die Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit. 1851 bis 1857“); II, Kap. LV, S. 296 – 495 („Die Reorganisation der Armee 1857 – 1865“; dort bes. S. 489 – 495, „Denkschrift über die Reorganisation der Armee. Im Januar 1865“; dieser Text auch in: Kaiser Wilhelm des Großen Briefe, Reden und Schriften, II, Berlin 1906, S. 95 – 103). In der zuletzt genannten Schrift betont Wilhelm I. die „Nothwendigkeit eines festen Rahmens [basierend auf den Längerdienenden] . . . in welchen diese kurz Dienenden eingereihet werden müssen, wenn sie etwas leisten sollen . . . Zeitweise ist sie [die Dienstpflicht] aus finanziellen Rücksichten bis auf zwei Jahre vermindert worden. Und grade diese Verminderung hat allen Militärs die Ueberzeugung gewährt, daß jene drei Jahre, die das Gesetz [vom Sept. 1814] bestimmt, das Minimum der ersten Dienstabrichtung bilden . . . Erst im dritten Dienstjahr fühlt der Mann seine Ueberlegenheit über den neu eintretenden Ersatzmann, dem er nun nicht nur als Vorbild aufgestellt werden kann, sondern wo er auch selbst als Instruktor auftritt . . . kurzum er fühlt sich nun erst als Soldat dem Geist und der Fähigkeit nach.“

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Wilhelms I. These, alle Militärs seien überzeugt von der Notwendigkeit einer dreijährigen Dienstzeit, geht fehl, – häufig hielten sie zwei Jahre für ausreichend u. bevorzugten sie sogar, weil die Heeresvermehrung so leichter zu bewerkstelligen war (vgl. Dierk Walter, S. 337 – 359). Doch Wilhelm I., dessen Motive auch von seiner Revolutionsfurcht bestimmt waren, zeigte in der Dienstzeitfrage keinerlei Kompromißbereitschaft. „Hätte die Regierung in der Hauptfrage der dreijährigen Dienstzeit nachgegeben und in einige Ersparnisse gewilligt, so war jedermann überzeugt, daß in den übrigen Fragen ohne allzu große Schwierigkeit eine Einigung zu erreichen war . . .“. (G. Ritter, Staatskunst, I, S. 170). Mußten die Liberalen vermuten, daß es Wilhelm I. in der Dienstzeitfrage eher darum ging, das Heer in eine königstreue Bürgerkriegsarmee zu verwandeln als die außenpolitische Macht Preußens zu stärken, so mußte Wilhelm I. dafürhalten, daß „der Liberalismus in Wahrheit darauf abzielte, durch Auflockerung von Disziplin und Gehorsam im Heer die Grundfesten der Monarchie zu untergraben . . . Die Dienstzeitfrage eignete sich bestens zur Projektion aller bereits vorher gehegten Ängste auf den politischen Gegner.“ (Dierk Walter, S. 460 f.). – Zu den Debatten um die Dienstzeitfrage: Stein, S. 183 – 200. [21] „Bildung und Besitz“ (bzw. „Besitz und Bildung“) waren in Westeuropa während des Konstitutionalismus die Zulassungskriterien für den polit. status activus; in Deutschland diente das Begriffspaar als Schlagwort der zensitär-liberalen Bourgeoisie, die für Bismarck zumindest zu Teilen „reichsfeindlich“ war; aus der abundanten Literatur u. zu verschiedenen Aspekten: Huber, I, S. 4, 97 f., 269 – 77; II, S. 310, 389, 787 – 91 (Wahlrechtsdebatte d. Paulskirche); III, S. 64 f.; Schmitt, VL, S. 310 – 15 („Die Zwischenstellung des liberalen Bürgertums beruht auf zwei verschiedenen Voraussetzungen, auf Bildung und Besitz. Beide zusammen ermöglichen und tragen das parlamentarische System. Wenn sie geschichtlich nicht mehr zusammentreffen und auseinanderfallen, entfällt die kunstvolle Konstruktion eines labilen Gleichgewichts und der Mischung politischer Formen. Jede der beiden Eigenschaften führt, verfassungstheoretisch betrachtet, zu verschiedenen Konsequenzen; beide kommen in der bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassung zur Geltung. – Die Bildung ist eine persönliche Qualität und deshalb fähig, in dem System einer Repräsentation verwendet zu werden . . . Der Besitz ist keine Qualität, die repräsentiert werden kann. Dagegen werden die Interessen der Besitzer vertreten. Das Zensuswahlrecht sorgt dafür, daß diese Interessenvertretung wirklich zustande kommt. Dadurch aber erhält das Parlament, neben der Qualität einer nationalen Repräsentation, den Charakter eines Interessentenausschusses.“); Hermann Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? (1929 / 30), in: Gesammelte Schriften, II, 1971, S. 443 – 62, 448 („Daß diese Demokratie auf ,Bildung und Besitz‘ beschränkt blieb, konnte von einer Zeit gerechtfertigt werden, in welcher der Besitz noch gebildet und die Bildung noch besitzend war. – Das mußte sich im Zeitalter des entwickelten und organisierten Kapitalismus grundlegend ändern.“); Gerhard Schilfert, Sieg u. Niederlage des demokrat. Wahlrechts in der deutschen Revolution 1848 / 49, 1952; Theodor Schieder, Die Krise des Liberalismus (1954), in: Ders., Staat u. Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, 2. Aufl., 1970, S. 58 – 88, 66 ff.; Walter Gagel, Die Wahlrechtsfrage in der Geschichte der deutschen liberalen Partei 1848 – 1918, 1958; Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (1961), 3. Aufl., 1968, S. 98 – 101, 220 ff.; Jacques Droz, Liberale Anschauungen zur Wahlrechtsfrage u. das preuß. Dreiklassenwahlrecht (zuerst französ. 1963), in: E. W. Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 – 1918), 1972, S. 195 – 214; James Sheehan, Der deutsche Liberalismus (zuerst englisch, 1978), 1983, bes. S. 97 f., 192 – 97, 274 ff., 280 ff.; vgl. a. Heinrich Best, Die Männer von Besitz und

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Anmerkungen

Bildung. Struktur u. Handeln parlamentarischer Führungsgruppen in Deutschland u. Frankreich 1848 / 49, Düsseldorf 1990. Vgl. Anm. 42, S. 73; a. Huber, I, S. 4, 97 f.; II, 310, 389; IV, 64. S. a. Schmitt, Der Mut des Geistes, FAZ, 30. 12. 1950. Die Formel „Blut und Boden“ geht vermutlich auf August Winnig (1878 – 1956) zurück, der sich dabei von Oswald Spengler anregen ließ; er eröffnete sein Buch „Das Reich als Republik. 1918 – 1928“, Stuttgart 1928, Cotta, mit den Sätzen: „Blut und Boden sind das Schicksal der Völker. Aus diesen beiden Urgegebenheiten erhält das Leben Richtung und Form. Jede zweckbewußte Absicht findet hier ihre Voraussetzungen und ihre Grenzen. Vor der stillen Gewalt dieser Elemente zerfällt jede Doktrin.“ Die Formel war nicht rassistisch gemeint, da Winnig es für schwer vorstellbar hielt, daß einem Volke „sich nicht fremdes Blut zugesellte“ u. auf die veränderten Beziehungen zum Boden durch Technik, Arbeit, Wanderungsbewegungen usw. hinwies (S. 5 f.); Winnigs „Blut und Boden“ erinnerte aber auch an Maurice Barrès’ (1862 – 1923) „le sang, la terre et les morts“. Winnig, im Nov. 1918 Bevollmächtigter des Reiches für das Baltikum und Reichskommissar für Ost- und Westpreußen, im Juli 1919 Oberpräsident von Ostpreußen, forderte während der „Verhandlungen“ in Versailles die Gründung eines autonomen „Ost-Staates“ in Ostpreußen u. rief „für den Fall der Ablehnung wie den der Annahme des Friedensvertrages zur Verteidigung deutschen Bodens durch die elementare Erhebung der Bevölkerung“ (Huber, V, S. 1164 f.) auf; von Ostpreußen aus sollte der Widerstand das gesamte Reich erfassen; vgl. Hagen Schulze, Der Oststaats-Plan von 1919, VZG, 1970, S. 123 – 63; Wilhelm Ribhegge, August Winnig. Eine historische Persönlichkeitsanalyse, Bonn 1973, bes. S. 115 – 231. – Die Formel wurde von Richard Walther Darré (1895 – 1953), dem Reichsbauernführer u. zeitweisen Landwirtschaftsminister Hitlers, aufgegriffen u. erhielt erst durch ihn und im Zusammenhang mit seiner Erbhofideologie („Einheit von Blut und Boden“ als Grundlage des Bodenrechts) ihr nationalsozialistisch-rassistisches Gepräge; vgl. Darré, Neuadel aus Blut und Boden, München 1930; Blut und Boden (in: Grundlagen, Aufbau u. Wirtschaftsordnung des nationalsozialistischen Staates), Berlin o. J. (1936?); Darré war auch Herausgeber von: Odal – Monatsschrift für Blut und Boden. [22] Schmitt bezieht sich auf: Karl Hecker, Armeebefehl und Armeeverordnung, in: Karl Frhr. v. Stengel (1840 – 1930) (Hrsg.), Wörterbuch des deutschen Verwaltungsrechts, 5 Bde., Freiburg i. Br. 1890 – 1897, Bd. I, S. 63 ff.; als „Armeebefehle“ galten hier alle Anordnungen, die der Kaiser aufgrund seiner Kommandogewalt erließ; sie betrafen Angelegenheiten vornehmlich militärischen Inhalts, bes. Militärdienstsachen u. Personalfragen u. bedurften nicht der Gegenzeichnung; gegenzeichnungspflichtige „Armeeverordnungen“ waren diejenigen Anordnungen, die der Kaiser aufgrund seiner „Regierungsgewalt im engeren Sinne“ (Helfritz) traf, so zu Fragen der allgem. Militärverwaltung u. zu Problemen, die den Etat „alterierten“; zu den Schwierigkeiten der Abgrenzung, zu den entsprechenden theoret. Konsequenzen u. zur wenig konsistenten Praxis u. a.: Hans Helfritz (1877 – 1958), Geschichte der Preuß. Heeresverwaltung, Berlin 1936, S. 310 ff.; Heckel, Wehrverfassung, u. a. S. 30, 228, 336 („Die Unterscheidung war nicht aus militärischen Gründen getroffen, sondern aus verfassungsrechtlichen: Armeeverordnungen wurden kontrasigniert, während das bei Armeebefehlen nicht der Fall war. Jene paßten also in den Rahmen des konstitutionellen Systems, diese sprengten ihn. Für das militärische Leben war die Unterscheidung sachfremd, und alle Rechtfertigungsversuche blieben erfolglos.“) Vgl. a. Huber, Staat u. Heer, S. 292 – 296; Ders., III, S. 1001 f., IV, S. 522 f.; Eckart Busch, Der Oberbefehl. Seine rechtliche Struktur in Preußen u. Deutschland seit 1848, Boppard 1967, bes. S. 11 ff. – „. . . wo der Trennungsstrich zwi-

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schen Kommando und Verwaltung zu ziehen war, . . . wußte niemand“, so R. SchmidtBückeburg, Das Militär-Kabinett der preuß. Könige u. dt. Kaiser, 1933, S. 136; dort zu den häufigen Konfliktsfällen bes. S. 128 f., 130 – 33; vgl. a. Dierk Walter, S. 224 – 232. [23] Huber, Heer und Staat, schreibt u. a. zu Marschall v. Biebersteins (1883 – 1939) Thesen: „Die Studie war ein bemerkenswertes Ergebnis der das damalige Staatsrecht bestimmenden „juristischen Methode“. Aber gerade darin lag ihre Schwäche, daß sie versuchte, alle politischen Erwägungen als juristisch illegitime Scheingründe auszuscheiden und das Staatsrecht mit den Prinzipien formaler, zivilistischer Logik zu meistern. Dabei mußte auch Marschall zugestehen, „daß das Problem sich auf dem Boden des Gesetzesrechts nicht ohne weiteres lösen läßt“; auch er mußte seine Zuflucht nehmen zu den „geheimnisvoll uns innewohnenden, nicht weiter ableitbaren Überzeugungen, aus denen alles geschriebene wie ungeschriebene Recht seine verpflichtende Kraft schöpft“. (S. 331). So war vor allem die für Marschalls Lösung entscheidende Lehre von der unbedingt verpflichtenden Kraft des militärischen Gehorsams auch in bezug auf die nichtgegengezeichneten und daher „rechtswidrigen“ Akte eine Konstruktion, die mit einer rein juristischen Methode niemals hätte gewonnen werden können. Die von Marschall vertretene Lehre vom Wesen des soldatischen Gehorsams gründete sich nicht auf die juristische Logik, sondern auf eine bestimmte politische Überzeugung von einfachen militärischen Notwendigkeiten. Sie beruhte auf nichts anderem als einer unmittelbaren Einsicht in die „Natur der Sache“, während Marschall selber seinen Gegnern, die sich für ihre eigene Lehre auf die „Natur der Sache“ beriefen, mit scheinbar überlegener Ironie begegnete. (S. 317.) Marschalls Lehre von einer relativen Verbindlichkeit nichtgegengezeichneter und daher rechtswidriger Akte war nicht weniger in politischen Postulaten verwurzelt wie die alte Theorie, die die Akte der Kommandogewalt von dem Erfordernis der Gegenzeichnung und der Ministerverantwortlichkeit freiließ. Sie unterschied sich von dieser früheren Theorie nur dadurch, daß sie ihren politischen Ursprung durch ein Geflecht kunstreicher Scheinkonstruktionen verdeckte. So konnte Marschall nicht in Abrede stellen, daß die Lehre von der relativen Verbindlichkeit der ohne Gegenzeichnung erlassenen Kommandoakte zu der widerspruchsvollen Konstruktion eines zugleich verbindlichen und unverbindlichen Aktes führen müsse, so daß ihm nur die resignierte Feststellung blieb: „Ein solcher Konflikt ist eben nun einmal mit unseren juristischen Mitteln nicht zu lösen.“ Kein Wunder, daß er sich an dieser Stelle an die „viel erörterte Streitfrage der Budgetlosigkeit“ erinnert fühlte, daß er die ganze Frage für eine „Machtfrage“ erklärte und als ein neues „instruktives Beweisstück gegen die Lückenlosigkeit des Rechtssystems“ ansah. (S. 430 ff.) Auch diese staatsrechtliche Studie hatte ihren – wenn auch unter scharfsinnigen Deduktionen verborgenen – Schlüsselpunkt in dem resignierten Bekenntnis: „Das Staatsrecht hört hier auf!““ (Huber, Heer u. Staat, S. 294 f.). Vgl. a. Huber, III, S. 1001 f., 1004; IV, 522 f. – Als „praktisches Ergebnis“ sah Huber „die Ausdehnung der Ministerverantwortlichkeit und des parlamentarischen Kontrollrechts auf den Bereich der Kommandogewalt“ an (S. 294). – Heinrich Hasenbein, Die parlamentarische Kontrolle des militärischen Oberbefehls im Deutschen Reich von 1871 bis 1918, Diss. Göttingen 1968 (bei Schmitts engen Schülern Ernst Rudolf Huber u. Werner Weber, sodaß die Tatsache, daß Schmitt in dieser Schrift nicht einmal genannt wird, erstaunt) erörtert auf S. 12 – 15 Marschalls Buch; dessen Lehre sei 1914 von Laband „versteckt“ aufgenommen worden und Anschütz habe sie 1919 in der 7. Aufl. des „Meyer-Anschütz“, S. 277 („Das Erfordernis der Kontrasignatur erstreckt sich ohne Ausnahme auf alle Regierungsakte, d. h. alle Akte des Monarchen, welche von ihm in Ausübung der Staatsgewalt vorge-

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nommen werden – sofern sie, was nicht schlechthin notwendig ist, in schriftlicher Form ergehen.“), u. 845 f. bekräftigt, während er in der 5. Aufl. 1905 noch die alte These von der parlament. Unverantwortlichkeit kaiserlicher Kommandoakte verfochten habe. Jedoch hätten noch Adolf Arndt, Verfassung des Deutschen Reiches, 1913 u. Heinrich Triepel, Die Reichsaufsicht, 1917, die alte Lehre vertreten, ebenso andere Autoren. „Einen breiteren wissenschaftlichen Meinungsumschwung haben die Darlegungen Marschalls, soweit ersichtlich, in der verhältnismäßig kurzen Zeit bis zum Ende des Kaiserreichs nicht mehr auslösen können . . . Bei der Betrachtung des ganzen Zeitraumes von 1871 bis 1918 bleibt daher festzuhalten, daß der militärische Oberbefehl nach ganz überwiegender verfassungsrechtlicher Überzeugung nicht der Kontrolle des Parlaments unterlag.“ [24] „Herbert Spencer hat ein überaus wirkungsvolles, in zahllosen Popularisierungen über die ganze Welt verbreitetes Geschichtsbild entworfen, dessen propagandistische Kraft sich im Weltkrieg 1914 – 1918 bewährt hat, nämlich die Philosophie vom Fortschritt der Menschheit als einer Entwicklung, die vom Feudalismus weg zu Handel und Wirtschaft, vom Politischen zum Ökonomischen, vom Soldaten zum Industriellen, vom Krieg zum Frieden geht. Dadurch wird der Soldat im preußisch-deutschen Sinne zu etwas eo ipso „Feudal-Reaktionärem“, zu einer „mittelalterlichen“ Figur, die dem Fortschritt und dem Frieden im Wege steht“, bemerkte Schmitt 1937 in seinem Aufsatz „Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat“ (Ndr. in: FoP, S. 481 – 507, 484). Spencer (1820 – 1903) entwickelte seine These eines notwendigen Fortschreitens von militärisch-despotischen zu industriell-friedlichen Gesellschaftssystemen bes. in: The Principles of Sociology, II / 2, New York-London 1886; deutsche Auszüge in: V. R. Berghahn (Hrsg.), Militarismus, 1975, S. 40 – 60. Sein Konzept wurde von utilitaristisch argumentierenden Pazifisten ebenso übernommen wie von Kritikern des angeblich ,atavistischen‘ und ,militaristischen‘ Preußen; Spencer sah aber die Gefahr der ,re-barbarisation‘, des Rückfalls in Krieg, Gewaltverherrlichung u. Imperialismus, auch im eignen Vaterland u. anderen Staaten, dazu: Ernst Troeltsch (1865 – 1923), Das Ende des Militarismus (1918), in: Ders., Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918 / 22, Tübingen 1924, S. 4; vgl. a. F. Battistelli, Zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Natur. Das britische soziologische Denken von der Schottischen Schule zu Herbert Spencer, in: H. Joas / H. Steiner (Hrsg.), Machtpolitischer Realismus und pazifistische Utopie. Krieg und Frieden in der Geschichte der Sozialwissenschaften, 1989, S. 18 – 48, bes. S. 35 ff. – Der österreichische Nationalökonom Joseph Alois Schumpeter (1883 – 1950), den Schmitt seit der gemeinsamen Zeit an der Universität Bonn sehr schätzte (vgl.: Glossarium, S. 101, Eintragung v. 19. 2. 1948) entwickelte in seinem Aufsatz „Soziologie der Imperialismen“, ASWSP, 1919, S. 1 – 39, 275 – 312, Ndr. in: Sch., Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953, S. 72 – 146, die These, daß für die moderne Welt der Übergang von militärischer Gewalt zu ökonomischer Dominanz o. Durchdringung typisch sei; eine mittels ökonom. Überlegenheit erreichte polit. Position galt ihm als „essentiell unkriegerisch“ und deshalb nicht als imperialistisch, – der Imperialismus hingegen, bes. der deutsche, beruhe auf vorkapitalistischen Herrschafts- und Kampfinstinkten und sei ein „Atavismus“. Schmitt hat gegen diese Auffassung wiederholt polemisiert, vgl. u. a.: Die Kernfrage des Völkerbundes, 1926, Ndr. in: FoP, dort S. 96; USA und die völkerrechtlichen Formen des modernen Imperialismus (1932 / 33), Ndr. in: FoP, S. 349; Der Begriff des Politischen, 1932, S. 64, Ausg. 1963, S. 77. Zur Kritik an Schumpeter u. a.: E. Heimann, Schumpeter and the problem of imperialism, Social Research, 1952, p. 177 – 196; M. Greene, Schumpeters Imperialismustheorie, dt. in: H. U. Wehler (Hrsg.), Imperialis-

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mus, 1970, S. 155 – 163; allgemein zum Problem: Raymond Aron, War and Industrial Society, London 1958; französ.: La société industrielle et la guerre, Paris 1959; dt.: Der Krieg und die industrielle Gesellschaft, in: Uwe Nerlich (Hrsg.), Krieg und Frieden im industriellen Zeitalter, Gütersloh 1966, S. 17 – 65. – Zu Spencer a.: Otto Hintze (1861 – 1940), Staat und Verfassung, Ausg. 1970, bes. S. 53 – 55, 365 (Aufsätze aus d. Jahren 1906 u. 1911). [25] Zur Geschichte beider Begriffe in Deutschland: Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, bes. S. 776 – 786. [26] Diese Entwicklung wurde schon früh vorausgesehen; zur Staatsrechtstheorie des Biedermeier bemerkt Stolleis: „Verfassungen wurden von den Vertretern des Ancien Régime gefürchtet, weil sie Produkte der Revolution waren, weil sie den Abbau von Vorrechten unwiederbringlich in einer öffentlichen Urkunde festlegten und den Monarchen sogar zwangen, dies zu besiegeln. Letztlich, so sahen die Konservativen ganz richtig, war die Verfassungsbewegung eine schiefe Ebene, auf der es bis zur gänzlichen Beseitigung der Monarchie abwärts ging.“ (Stolleis, II, S. 100 f.). Vgl. Anm. 7a, S. 51 f. [27] Ernst Rudolf Huber, in seiner Einschätzung des preußischen Verfassungskonflikts von Schmitt differierend, bemerkte zu dieser Rede v. Bennigsens: „In der Tat gelang es während der ganzen Dauer des Zweiten Reiches nicht, die Wehrverfassung den konstitutionellen Prinzipien zu unterwerfen: die kaiserliche Kommandogewalt, die mangelnde Gegenzeichnungspflicht und Ministerverantwortlichkeit für Kommandosachen, die Befugnis des Kaisers, die Heeresstärke auch ohne Gesetz zu bestimmen (Art. 63 Abs. 4 der Reichsverfassung [„Der Kaiser bestimmt den Präsenzstand, die Gliederung und Eintheilung der Kontingente des Reichsheeres, sowie die Organisation der Landwehr, und hat das Recht, innerhalb des Bundesgebietes die Garnisonen zu bestimmen, sowie die kriegsbereite Aufstellung eines jeden Theils des Reichsheeres anzuordnen.“]), nahmen die Wehrordnung von der parlamentarischen Entscheidungsgewalt aus und gaben ihr eine selbständige, auf unbedingte Befehlsgewalt, Hierarchie und Disziplin gegründete Gestalt. Die im Rahmen der alten preußischen Verfassung während des Konflikts erstrittene Selbständigkeit der Wehrordnung gegenüber dem konstitutionellen System wurde auch unter der Reichsverfassung behauptet.“ (Huber, Heer und Staat, S. 315). – Zum Reichsmilitärgesetz v. 1874 schrieb Huber später: „Als es 1874 darum ging, das in Aussicht genommene Reichsgesetz über die Friedenspräsenzstärke zu erlassen, erhoben die alten Gegensätze sich in verschärfter Form. Die Reichsleitung meinte, der Art. 60 [der Verfassung v. 16. 4. 1871; er lautete: „Die Friedens-Präsenzstärke des Deutschen Heeres wird bis zum 31. Dezember 1871. auf Ein Prozent der Bevölkerung von 1867. normirt, und wird pro rata derselben von den einzelnen Bundesstaaten gestellt. Für die spätere Zeit wird die Friedens-Präsenzstärke des Heeres im Wege der Reichsgesetzgebung festgestellt.“] verlange ein Äternat, also ein dauerndes Gesetz über die Heeresstärke. Der Entwurf des Reichsmilitärgesetzes, den der Kriegsminister v. Kameke am 5. Februar 1874 im Reichstag einbrachte, suchte daher die Heeresstärke „bis zum Erlaß einer anderweiten gesetzlichen Bestimmung“ zahlenmäßig festzulegen, und zwar auf 401 659 Mann. Der Reichstag wäre dann jeweils bei der jährlichen Haushaltsbewilligung an diesen Heeresumfang gebunden gewesen. Die Mitte wie die Linke des Reichstags verstanden unter dem in Art. 60 vorgesehenen Reichsgesetz jedoch das jährlich neu zu beschließende Haushaltsgesetz; die Heeresstärke war dann von Jahr zu Jahr neu der Bestimmungsmacht des Reichsgesetzgebers unterworfen.“ (Huber, IV, S. 550). Die Debatten über den Gesetzentwurf offenbarten die Uneinigkeit der Nationallibera-

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Anmerkungen

len: Gneist votierte für den Regierungsentwurf, Lasker brachte das Äternat zu Fall, während Bennigsen „den Streit schließlich durch einen Kompromißvorschlag (überwand), der auf die Festlegung der Heeresstärke durch ein Septennat, also für eine siebenjährige Bewilligungsperiode, zielte.“ (Huber, a. a. O., ebd.). – Bismarck war jedoch, entgegen der Ansicht vieler Kommentatoren, kein Befürworter des Äternats, das seinen Einfluß auf die Armee beschnitten u. daß ihn in Konflikt mit seiner Basis im Reichstag und seinen Verbündeten im Kulturkampf gebracht hätte; ihm kam es darauf an, die Äternatspläne Roons u. Kamekes zu verhindern, „ohne natürlich dem Reichstag mehr Macht“ zuzugestehen (Schmid, S. 81). Das Septennat wurde hingegen von der Sozialdemokratie als Beweis für die „totale Unterwerfung“ des Bürgertums angesehen und als „die offizielle Todeserklärung des Konstitutionalismus und Parlamentarismus“, während die ultrakonservative Neue Preußische Zeitung („Kreuzzeitung“) das Septennat als vollständigen Sieg des Parlamentarismus wertete: „Das Königtum ist in einer seiner wesentlichsten Bedingungen dem Parlamentarismus in ganz konsequentem Verlaufe der Bismarckschen Politik erlegen . . .“; vgl. dazu Höhn, Sozialismus, II, S. 24 – 30; vgl. a. Fiedler, Millionenheere, S. 39 ff.; zu den Septennaten: Schmid, S. 73 – 150, 200 – 272. Zum Reichsmilitärgesetz 1874 vgl. u. a.: Georg Beseler (1809 – 1888), Das Reichsmilitärgesetz u. das Budgetrecht, PrJb, 33, 1874, S. 589 ff.; H. Müller, Die Auseinandersetzungen über das Reichsmilitärgesetz von 1874, Diss. Berlin 1960; M. Messerschmidt, S. 232 ff.; Huber, a. a. O., S. 547 – 549, untersucht das Verhältnis der Art. 60 u. 63 Abs. 4 der Verfassung v. 1871; a. Michael Stürmer, Militärkonflikt und Bismarckstaat, in: G. A. Ritter (Hrsg.), Gesellschaft, Parlament u. Regierung, 1974, S. 225 – 48. – Text des Gesetzes in: RGBl., 1874, Nr. 15, S. 45 – 64. Zum Kontext: Schmid, S. 73 – 106. [27a] Im Manuskript war diese Anmerkung zur Rede Bennigsens umfangreicher und wurde fortgesetzt mit: „Hugo Preuß hat diesen Ausspruch Bennigsens in seiner Erstlingsschrift „Friedenspräsenz und Reichsverfassung“, Berlin 1887, Seite 41 zitiert. Meine Rede über Preuß (Hugo Preuß, sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930), beruht auf dem Satz, daß es „historisch gerecht und fast symbolhaft“ ist, daß gerade Hugo Preuß der Vater der Weimarer Verfassung wurde. Ich glaube nicht, daß man das Wesentliche deutlicher zusammenfassen kann. Preuß hat seine Laufbahn mit jener Schrift über „Friedenspräsenz und Reichsverfassung“ begonnen und mit der Weimarer Verfassung beendet. Auch das gehört zum Gesamtbilde der inneren Folgerichtigkeit, mit welcher der liberale Konstitutionalismus sich entwickelt hat. Ein Mann wie Hugo Preuß konnte zu einer paradigmatischen Figur dieser Entwicklung werden. Wenn ein Joll Jolson aus dem Münchner Ghetto unter dem Tarnungsnamen Friedrich Julius Stahl den geistigen Führer des preußischen Konservativismus spielt, so muß das für alle beteiligten Menschen und für die Sache selbst zu einer krampfhaften Scheinechtheit führen. Hugo Preuß dagegen ist als liberaler Bürger weltanschaulich in Ordnung und existentiell echt. Die Geschichte des liberalen Bürgertums zeigt, daß „der Zusammenhang von bürgerlicher Bildung und Weimarer Verfassung nicht gelegentlich, sondern wesensmäßig ist. Und das Schicksal der deutschen Intelligenz und Bildung wird deshalb tatsächlich mit dem Schicksal der Weimarer Verfassung untrennbar verbunden bleiben.“ Schmitt hat diese Anmerkung „aufgrund einer Warnung des Pressechefs des NS-Juristenbundes Dr. du Prel (Gespräch vom 28. Dezember 1933) und eines Gesprächs mit Staatsminister Prof. Popitz im letzten Augenblick“ gestrichen; seine maschinenschriftliche Abschrift der ursprünglichen Anmerkung war mit der Notiz versehen:

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„Aufgeschrieben nach dem mir vorliegenden Original des Manuskripts der Anmerkung am 4. November 1960 unter dem Eindruck der Hugo-Preuß-Rede von Prof. Theodor Heuß in der Freien Universität Berlin vom 28. Oktober 1960, FAZ Nr. 254 vom 29. Oktober 1960.“ (RW 165 – 21752). Dirk Blasius, Carl Schmitt und der „Heereskonflikt“ des Dritten Reiches 1934, HZ, 281, 3 /2005, vermutet hierzu: „. . . 1933 / 34 war das Schicksal der Weimarer Verfassung besiegelt, doch der NS-Staat bedurfte in seiner Formierungsphase der bürgerlichen Eliten, um an innerer Stabilität zu gewinnen und sich den Anschein von Bürgerlichkeit zu geben. Man warnte Schmitt vor einer Diskreditierung der Schichten, die man brauchte.“ (S. 681, auch b. Blasius, Carl Schmitt und der 30. Januar 1933, Frankfurt a.M. 2009, S. 98). Schmitt bezog sich auf eine Rede Heuß’ zum 100. Geburtstag von Hugo Preuß, in der er als „eine jener peinlichen Figuren“ bezeichnet wurde, „die dem Unrecht, je nach dem Tagesbedarf der Macht, juristische Formeln liefern“; vgl. FAZ, 29. 10. 1960; vgl. dazu das Anti-Heuß-Gedicht Schmitts (Mohler-Briefwechsel, S. 294; auch in: Maschke, Der Tod des Carl Schmitt, 1987, S. 69). Am 20. 1. 1930 hatte Heuß Schmitt zu seiner Schrift über Hugo Preuß noch beglückwünscht; der Brief ist abgedruckt bei: Sepp Schelz (1917 – 86), Ein epochaler Staatsdenker – Die Leidenschaft für das Konkrete – Carl Schmitt begeht am 11. Juli seinen 90. Geburtstag, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 9. 7. 1978. [28] Schmitts Aufsätze „Der Rechtsstaat“ und „Was bedeutet der Streit um den „Rechtsstaat“?“ von 1935 stehen in engem Zusammenhang mit der vorl. Schrift. Dort heißt es u. a.: „In dem Bereich der politischen Auseinandersetzung erhält das Wort [Rechtsstaat] . . . seine Klarheit und Bestimmtheit erst durch einen bestimmten Gegenbegriff. Für gewöhnlich ist das, namentlich in der liberalen Polemik, der Machtstaat. In dieser Bedeutung hat es der Liberalismus ein Jahrhundert lang verstanden, jeden nichtliberalen Staat, mag es sich um eine absolute Monarchie, einen faschistischen, nationalsozialistischen oder bolschewistischen Staat handeln, unterschiedslos als Nicht-Rechtsstaat und damit als Unrechtsstaat hinzustellen . . . Man stellt den Rechtsstaat als den Gegen-Begriff zu einem Nicht-Rechtsstaat im Sinne von Unrechtsstaat (Machtstaat, Gewaltstaat, Willkürstaat, Polizeistaat) hin und hat es dann natürlich leicht, den Rechtsstaat über einen solchen Widersacher triumphieren zu lassen . . . In der Auffassung des Rechtsstaates als des bloßen Gegensatzes gegen den Unrechts- oder Machtstaat bekundet sich nichts anderes als der Sieg der bürgerlich-individualistischen Gesellschaft über Recht und Staat. Abgesehen von dieser symptomatischen Bedeutung hat diese Auffassung heute keinerlei wissenschaftlichen Belang oder Rang.“ (SGN, S. 108 – 120, 121 – 132, dort S. 109, 121). – Zur Kritik an den Klassikern d. Rechtsstaates wie Mohl, Bähr, Gneist: L. Gumplowicz, Rechtsstaat u. Socialismus, Innsbruck 1881; bes. S. 186 – 191, 194 – 241. Schmitt weist in s. Aufsätzen S. 109, 121 u. 124 kritisch auf das Buch von Friedrich Darmstaedter (1883 – 1957), Rechtsstaat oder Machtstaat? Eine Frage nach der Geltung der Weimarer Verfassung, 1932, hin; vgl. a. dessen Schrift: Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaates – Eine Untersuchung zur gegenwärtigen Krise des liberalen Staatsgedankens, 1930, sowie die Kritik von Friedrich Grüter (= Ernst Forsthoff), Der Rechtsstaat in der Krise, Deutsches Volkstum, 1. Aprilheft 1932, S. 260 – 65. Darmstaedter wurde 1935 die Lehrbefugnis entzogen; er emigrierte nach England. Vgl. Anm. 37a, S. 72. [29] Vgl. zu diesem (früh-)liberalen, bildungsbürgerlichen Affekt: Ritter, Staatskunst, I, S. 130 – 34, 348 – 50, der bes. auf die Schrift von Karl v. Rotteck (1775 – 1840), Über

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Anmerkungen

stehende Heere und Nationalmiliz (1816) verweist, in der die stehenden Heere als „Werkzeuge des Despotismus“ und „Brutstätten feilen Sklavensinns“ dargestellt werden, die sich nur durch Zerstörung von Kulturgütern und gewaltsame Eroberungen auszeichneten; Ritter vermutet dabei wohl zurecht den Einfluß der Schrift von Benjamin Constant (1767 – 1830) „De l’esprit de conqueˆte et de l’usurpation“ (1814). Statt die Bürger zu Soldaten müsse man die Soldaten zu Bürgern machen, nur die Bildung einer „Nationalmiliz“ könne Abhilfe schaffen; hier wurzelt auch die im deutschen Liberalismus gängige Überschätzung der Rolle der Landwehr während der Befreiungskriege. Reiches Material findet sich bei Höhn, Erziehungsschule, bes. S. 1 – 6, 29 – 43. Ritter weist in diesem Zusammenhang auf die Autobiographie von Heinrich Steffens (1773 – 1845), Was ich erlebte, 10 Bde., 1840 / 44, hin; diese machten „die ursprüngliche Fremdheit des gebildeten Deutschen der Goethezeit gegenüber dem soldatischen Wesen besonders deutlich“; er belegt auch, daß selbst Scharnhorst u. Gneisenau gelegentlich von bildungsbürgerlichen Affekten gg. die stehenden Heere geplagt wurden (S. 349, 350). Gneisenau bemerkt 1807: „Man klagt über Entnervung und Entartung der Völker; aber nichts hat mehr dazu beigetragen als die stehenden Heere, die den kriegerischen Geist der Völker und ihren Gemeinsinn zerstörten.“ Sein Affekt ist aber etwas anders geartet als der der Frühliberalen à la Rotteck: „Um ein ganzes Volk zu Soldaten zu machen, muß ihnen mitten im Frieden militärischer Geist eingeflößt werden.“ (Gneisenau, Militärisch-politische Aufzeichnungen 1807, in: R. Vaupel (Hrsg.), Stimmen aus der Zeit der Erniedrigung, 1923, S. 60 f. [30] „Polizeistaat“ meinte im wissenschaftlichen Sprachgebrauch ursprünglich nur den Verwaltungsstaat des 17. u. 18. Jahrhunderts; mit dem Begriff war keineswegs ausgemacht, „daß es in einem solchen Staate grundsätzlich unrechtlich, ja vielleicht sogar willkürlich zugehen müsse oder zugegangen wäre.“ (H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 777); vgl. die klassische Darstellung von Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft in Deutschland, 1966. Negativ besetzt wurde der Begriff wohl erst durch die bürgerlich-liberale Bewegung des 19. Jahrhunderts, für die er ein „Mittel psychologischer Kriegführung“ (H. Krüger) war; in der juristischen Wissenschaft konfrontierte Otto Mayer (1846 – 1924) mit großer Schärfe den „Polizeistaat“ mit dem „Rechtsstaat“, bes. in: Deutsches Verwaltungsrecht, 2 Bde., 1895 / 96: „Dem Polizeistaat wird . . . jede Beziehung zu einer festen Rechtsordnung abgesprochen“ (Hans Maier, S. 293); vgl. a. Schmitt, Der Rechtsstaat (1935), in: SGN, S. 108 – 120, 109 f. [31 / 32] Die Sperrungen (hier als Kursivierungen) stammen von Schmitt. Der von ihm zitierte Passus findet sich auch in der 1879 erschienenen zweiten, umgearbeiteten und erweiterten Auflage von Gneists „Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte“, photomechan. Ndr. Darmstadt 1958, S. 257 (mit sehr geringfügigen Abweichungen). Gneists Hinweis auf den Teil II des Allgemeinen Landrechts zielt wohl darauf, daß in ihm das Sozialmodell des Ständestaates umrissen wird und die Rechte und Pflichten der Mitglieder von Gemeinschaften (es geht u. a. um Ehe, Familie, Kirchen und die Beziehungen zw. Herrschaft u. Gesinde) dargelegt werden; im Gegensatz dazu handelt der Teil I vom Einzelmenschen und ist deutlich den moderneren Auffassungen zugewandt; vgl.: Allgemeines Landrecht der Preußischen Staaten von 1794, Frankfurt am Main 1970, S. 345 – 728, hrsg. von Hans Hattenhauer. H. spricht denn auch treffend vom „Gesetzbuch der Kompromisse“ (S. 30 – 38).

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Der von Schmitt zitierte Abschnitt wird eingeleitet mit den Sätzen: „Unter einer „constitutionellen Verfassung“ wird ein Verhältniss gedacht, in welchem die bestehende Verwaltung durch Einwirkung der Volksvertretung verbessert werden soll, nicht aber eine Unterwerfung der Verwaltung unter wechselnde Parteisysteme. Die Censur und die noch sehr dürftige Gestalt der Tagespresse legte der Zeit eine zum Theil wohl unfreiwillige Mässigung auf. Bedeutungsvoll ist es, dass die constitutionellen Verfassungen dieser Zeit noch in unzweideutiger Fassung den Grundsatz der Staatssouveränetät an die Spitze stellen: Der König ist das Oberhaupt des Staats, vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt, und übt sie unter den in der Verfassungsurkunde festgesetzten Bedingungen aus. Vom Jahre 1830 an macht sich indessen der Einfluss der Juli-Revolution Frankreichs geltend. In den neuen Verfassungen werden die dem gesellschaftlichen Constitutionalismus entlehnten Klauseln immer zahlreicher. Die politischen Streitschriften erscheinen zahlreicher und bedeutender. Die Tagespresse wird schon ein wirksames Organ der neuen Gesellschaft. Die Lehren der Rotteck-Welcker’schen Schule finden in den weitesten Kreisen der Gebildeten Anklang und Beistimmung. Seit dem Jahre 1840 kommt auch in Preussen diese Bewegung mit dem Regierungswechsel in Fluss und steigert sich zu einer Spannung der Gegensätze in grossem Massstab. In dieser Periode haben die „constitutionellen“ Ideale in der öffentlichen Meinung ihre reissende Propaganda gemacht. Die süddeutschen Kammerverhandlungen gaben das lebendige Bild ihrer Anwendbarkeit auf Deutschland. Die Repressivmassregeln des deutschen Bundes gegen diese Verfassungen gerade haben ihre Popularität in den Kreisen der Gebildeten unermesslich erhöht.“ Gneist (1816 – 1895), von Kaiser Friedrich III. in den erblichen Adelsstand erhoben, war 1859 – 1893 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses, 1868 – 1884 Mitglied des Reichstags; „im Verfassungskonflikt ein Wortführer der liberalen Opposition, schloß er sich 1866 der neuen Nationalliberalen Partei an und rückte in der Folgezeit immer mehr nach rechts, ohne aber aus der Fraktion auszuscheiden“ (so M. Friedrich, S. 272). Gneist votierte u. a. 1867 u. 1874 für die Militärvorlagen der Regierung, ebenso 1893. In Schriften wie „Budget und Gesetz“ (1867) u. „Gesetz und Budget“ (1879) stellte Gneist „Rechtsstaat“ und „Constitutionalismus“ als schroffe Gegensätze dar. „Rechtsstaat“ war hier der tatsächliche (z. B. der bismarcksche) Staat, der, um seine Aufgaben erfüllen zu können, sich auch über das Gesetz stellen dürfe, während „Constitutionalismus“, eine „französisch-belgische Doctrin“, staats- und damit rechtszerstörend wirke (u. a. durch ein vermeintliches Recht auf Budgetverweigerung); dazu Ludwig Gumplowicz (1838 – 1909), Rechtsstaat und Socialismus (1881), S. 228 – 41, der Gneist zustimmt, jedoch dessen Festhalten am „eitlen Klang“ eines „sinnlosen“ Begriffes moniert. [33] Nicolaus Sombart, selten ein sorgfältiger Leser, gibt diesen Passus mit den Worten wieder: „Unter Nennung des Namens Lasker spricht Schmitt von jenem „artfremden [!?] Typus“, der sich anmaßt, gegen die „großen deutschen Männer“ die Verfassungsentwicklung des Reiches in eine Richtung zu drängen, die den Deutschen „wesensfremd“ [!?] sein mußte.“ (Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München 1991, S. 228). Lasker, dessen politischer Stil beträchtliche demagogische und querulantenhafte Züge aufwies, mutiert für Sombart jun. zum „großen liberalen Freiheitskämp-

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Anmerkungen

fer“ (S. 230). Als Lasker am 4. 1. 1884 auf einer Reise in New York starb, verabschiedete das US-Repräsentantenhaus eine Entschließung, in der man seinen Tod bedauerte und behauptete, er habe durch sein Eintreten für die liberalen Ideen die sozialen und politischen Verhältnisse in Deutschland gefördert. Am 9. 2. 1884 überreichte der US-amerikanische Gesandte in Berlin diese Resolution und bat darum, sie dem Reichstag zu übermitteln. Bismarck verweigerte dies und sandte die Resolution zurück, da er das darin enthaltene positive Urteil über Lasker als eine implizite Polemik gegen seine Politik deutete, auch wenn es seiner Meinung nach auf Kenntnis- und Arglosigkeit des Repräsentantenhauses beruhte. – Lasker hatte in verschiedenen Interviews in den Vereinigten Staaten sich als Vorkämpfer der Freiheit dargestellt u. behauptet, daß Kaiser und Reichskanzler einer gedeihlichen Entwicklung in Deutschland entgegenstünden. Bismarck war überzeugt davon, daß die Resolution in Deutschland nur dazu dienen konnte, eine Propagandakampagne gegen ihn zu entfesseln („ . . . man hat den Toten zitiert gegen mich und hat ihn reden lassen; Sie haben Spiritismus gespielt mit Lasker, ihn mir gegenüber zitiert, als wenn er redete; und wenn Sie glauben, daß Sie mir durch den Mund des Toten alle möglichen Injurien sagen können, ohne daß ich darauf reagiere, so irren Sie sich“); vgl. Bismarcks sorgfältige, auch seinen Konflikt mit Lasker überzeugend darlegende Reichstagsrede v. 13. 3. 1884 (in: Bismarck, Werke, VIII, S. 79 – 91). Sombart jun. sieht die Ursache [!!] für Bismarcks Verhalten darin, daß Lasker an Syphilis starb, weicht dann aber in die neblichten Gefilde seiner höchst seltsamen ,Psychoanalyse‘ aus (S. 231 f.). Zu Lasker, der ab 1866 / 67 eine Zeit lang mit Bismarck zusammenarbeitete: Constantin Frantz, Der Föderalismus, 1879, S. 361 f. (bösartige Charakteristik); Veit Valentin, Bismarck and Lasker, The Journal of Central European Affairs, 3, 1943 / 44, S. 400 – 415; Richard W. Dill, Der Parlamentarier Eduard Lasker u. die parlamentarische Stilentwicklung der Jahre 1867 – 1884, Diss. Erlangen 1956; Louis L. Snyder, Bismarck and the Lasker Resolution, The Review of Politics, 1 / 1967, S. 41 – 64; James F. Harris, Eduard Lasker and Compromise Liberalism, The Journal of Modern History, 1970, S. 342 – 360; Adolf Laufs, Eduard Lasker und der Rechtsstaat, Der Staat, 1974, S. 365 – 382; Ders., Eduard Lasker. Ein Leben für den Rechtsstaat, 1984. Von Lasker u. a.: Zur Verfassungsgeschichte Preußens, 1874; Wege u. Ziele der Culturentwicklung, 1881; Aus Eduard Laskers Nachlaß. Fünfzehn Jahre parlamentarische Geschichte (1866 – 1880), hrsg. v. Wilhelm Cahn, 1902. [34] König Wilhelm I. antwortete in diesem Brief auf ein Glückwunschschreiben zum neuen Jahr seines Vertrauten Karl Frhr. v. Vincke-Olbendorf (1800 – 1869), eines altliberalen Ex-Offiziers. Vincke hatte u. a. geschrieben: „Das Volk hängt treu an Ew. Majestät, aber es hält auch fest an dem Recht, welches ihm der Artikel 99 der Verfassung [vgl. S. 8; 53, Anm. 10] unzweideutig gewährt. Möge Gott die unglücklichen Folgen eines großen Mißverständnisses in Gnaden abwenden.“ In s. Antwort betonte Wilhelm I., daß für die Regierung d. Paragraph existiere u. befolgt werden müsse, fragte aber: „Wer hat denn aber die Ausführung des Paragraphen unmöglich gemacht? Habe ich nicht von der Sommer- zur Wintersession die Konzession von vier Millionen gemacht und danach das Militärbudget – leider! – modifiziert? Habe ich nicht mehrere andere Konzessionen – leider! – gemacht, um das Entgegenkommen der Regierung dem neuen Hause zu beweisen? Und was ist die Folge gewesen?? Daß das Abgeordnetenhaus getan hat, als hätte ich nichts getan, um entgegenzukommen, um nur immer mehr und neue Konzessionen zu erlangen, die zuletzt dahin führen sollten, daß die Regierung unmöglich würde. Wer einen solchen Gebrauch von seinem Rechte macht, das heißt das Budget so reduziert,

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daß alles im Staate aufhört, gehört ins Tollhaus!“ (Text nach: Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, o. J., Cotta, S. 274). Schmitt hat entweder eine solche, weit verbreitete Volksausgabe benutzt oder die Sammlung v. E. Berner, Kaiser Wilhelms des Großen Briefe, Reden und Schriften, 1906; vgl. dort Bd. II, S. 43 (Nachdruck: Huber, Dok., II, S. 48 – 49). In der wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Edition „Erinnerung und Gedanke“, in: Bismarck, Werke, VIII A, S. 238, finden sich die von Schmitt erwähnten drei Fragezeichen hingegen nicht: „Wo steht es in der Verfassung, daß nur die Regierung Concessionen machen soll und die Abgeordneten niemals?“ – Der Brief Wilhelms I. endete mit einem Hinweis auf die angestrebte Indemnität: „Da, wie oben gezeigt, das Abgeordnetenhaus sein Recht zur Vernichtung der Armée und des Landes benutzte, so mußte ich wegen jenes ,Nichts‘ suppléiren und als guter Hausvater das Haus weiter führen und spätere Rechenschaft geben. Wer hat also den § 99 unmöglich gemacht? Ich wahrlich nicht!“ [35] Man kann sagen, daß bereits Friedrich Wilhelm IV. (1795 – 1862) den entscheidenden Punkt des Verfassungskonflikts v. 1862 voraussah, als er am 9. 3. 1851 an Otto v. Manteuffel (1805 – 1882) schrieb: „Die Organisation der Armee und das Verteidigungssystem des Landes ist allein Sache der Krone, und dieses in der Verfassung ausdrücklich ausgesprochene Recht [damit bezog sich der König wohl auf § 46 der Verfassung v. 31. 1. 1850: „Der König führt den Oberbefehl über das Heer“] gedenke ich Mir nicht schmälern zu lassen. Glaubt die Kammer, nicht die ganze für das Militärbudget geforderte Summe bewilligen zu dürfen, so habe Ich alleine zu entscheiden, auf welche Weise die dadurch nötig werdenden Ersparnisse zu erzielen sind, und Ich habe mir keine Vorschriften darüber machen zu lassen, bei welchen einzelnen Titeln des Militäretats die Ersparnisse zu machen sind. Ich werde jeden Beschluß der Kammer über die einzelnen Titel des Militäretats als wirkungslos betrachten und erwarte, daß meine Minister mich hierbei unterstützen.“ (Nach: Huber, III, S. 77; auch in: Deutsche Militärgeschichte, IV / 1, S. 167). Zur Geschichte der Interpretation, der z. T. extensiven Ausdehnung des Begriffsinhaltes von „Kommandogewalt“ etc.: Huber, III, S. 60 – 62, 73 – 78, 324 – 326, 363 – 365, 1001 – 1003; IV, 345 – 347, 515 – 525; V, 753 – 759, 934 – 943 u. ö.; Deutsche Militärgeschichte, bes. IV / 1, S. 166 – 168, 298 – 301; Dierk Walter, S. 224 – 232; Ernst Lodemann, Kommandogewalt und Gesetz zur Zeit der Reichsverfassung von 1871, in: FS Rudolf Laun z. 65. Geburtstag, 1948, S. 238 – 258. Vgl. S. 62 f., Anm. 22. [36] Diese Distanzierung Schmitts kontrastiert wohl mit seinen Erklärungen auf S. 8 f., mit denen er „sich der Kritik der Ultrakonservativen an der Indemnitätspolitik angeschlossen (hatte)“, so Huber, III, S. 366. Zu dieser Kritik Hubers vgl. Schmitts Brief an Forsthoff v. 10. 1. 1964, in: Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926 – 1974), 2007, S. 199 f.; a. S. 250. [37] Mit „In verbis simus faciles!“ beendet Bismarck den 5. Abschnitt des 21. Kapitels von Gedanken und Erinnerungen; in Erinnerung und Gedanke in Kapitel 10. Schmitt schreibt dazu in einem Brief an Ernst Jünger vom 9. 12. 1943: „Das Wichtige ist nun, daß Bismarck 1866, im entscheidenden Moment (Versöhnung mit den Liberalen) den Satz gesprochen hat: In verbis simus faciles. Das wird mir immer bedenklicher, dieses „in verbis simus faciles“; das ist doch ein sehr hoher Grad von Oberförsterei.“ (Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930 – 1983, hrsg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999, S. 175.). – „Oberförsterei“ meint ein Vorgehen im Sinne des 11. Kapitels der „Marmorklippen“ Ernst Jüngers, in dem der geheimnisumwitterte Oberförster als ein verschlage-

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ner und zugleich bieder wirkender Potentat charakterisiert wird, der seine destruktive Politik unter der „Maske der Ordnung“ betreibt, so der Kommentar Kiesels auf S. 605. Schmitt ging, angeregt durch die Lektüre von Werken Edgar Allan Poes (1809 – 49) und auf den italienischen Humanisten Lorenzo Valla (1407 – 57) verweisend, der die Konstantinische Schenkung als Fälschung entlarvte, von der Unterschätzung der Schöpferkraft der Worte (vis verborum) aus, die er hier bei Bismarck kritisierte. – Vgl. a. Günther Krauss, Erinnerungen an Carl Schmitt, 4. Teil, in: Piet Tommissen (Hrsg.), Schmittiana II, Brüssel 1990, S. 85 f. [37a] Empfänger dieses Briefes war Gustav v. Goßler (1838 – 1902), v. 17. 6. 1881 bis zum 12. 3. 1891 preuß. Kultusminister. – Robert v. Mohl (1799 – 1875) fand den Ausdruck „Rechtsstaat“ zwar bereits vor (vgl. u. a. Reimund Asanger, Beiträge zur Lehre vom Rechtsstaat im 19. Jahrhundert, Diss. München 1938; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 776 f.), hat ihn aber, bes. durch sein Werk „Die PolizeiWissenschaft und die Grundsätze des Rechtsstaates“, 2 Bde., Tübingen 1832 / 33, in Deutschland „etabliert“ (so Stolleis, II, S. 258). Vgl.: E. Angermann, Die Verbindung des „polizeistaatlichen“ Wohlfahrtsideals mit dem Rechtsstaatsgedanken im deutschen Frühliberalismus, FS Franz Schnabel, HJb, 1955, S. 462 – 72; E. W. Böckenförde, Entstehung u. Wandel d. Rechtsstaatsbegriffs (1969), in: Ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 143 – 69; U. Scheuner, Der Rechtsstaat u. die soziale Verantwortung d. Staates, Der Staat, 1 / 1979, S. 1 – 30. Die Vorwürfe von Jeremias Gotthelf, 1797 – 1854, („Die Idee des Rechtsstaates ist die legale Sanktion der Selbstsucht und das zersetzende, zerstörende Element der menschlichen Gesellschaft“) treffen wohl auf viele Apologeten des Rechtsstaates im 19. Jahrhundert zu, doch nicht auf Robert v. Mohl. Zum Thema ,Rechtsstaat‘ bei Schmitt, neben dem auf S. 19, Fn. 12 erwähnten Aufsatz „Nationalsozialismus und Rechtsstaat“: Der bürgerliche Rechtsstaat (1928), in: SGN, S. 44 – 54; Der Rechtsstaat (1935), in: ebd., S. 108 – 120; Was bedeutet der Streit um den ,Rechtsstaat‘? (1935), in: ebd., S. 121 – 132; in den bd. letzten Aufsätzen weist Schmitt auch auf Jeremias Gotthelf hin (S. 108 f., 130). Vgl. auch Schmitts Vor- u. Nachwort zur „Disputation über den Rechtsstaat“ seiner Schüler Günther Krauss (1911 – 1989) u. Otto v. Schweinichen (1911 – 1938), 1935, S. 7 f. u. 84 – 88. Zu Schmitt-Rechtsstaat jetzt u. a.: Wolfgang Schuller, Der Rechtsstaat bei Carl Schmitt, Gedächtnisschrift Roman Schnur, 1997, S. 117 – 33; Luc Heuschling, État de droit – Rechtsstaat – Rule of Law, Paris 2002, u. a. die Randnummern 6, 107 ff., 118 ff., 123 ff. u. bes. 563 ff. (S. 545 – 570). Vgl. Anm. 28, S. 66 f. [38] 1871 – 1878 konnte Bismarck sich halbwegs auf die parlament. Unterstützung durch die Nationalliberalen verlassen; Grundlage dafür waren deren gute Ergebnisse bei den RT-Wahlen 1871, 1874 u. 1877 (vgl. Huber, III, S. 877 f.), durch die sie zum stärksten Faktor der rechten RT-Mehrheit wurden. 1881 ging diese rechte Mehrheit aufgrund der starken Verluste der Nationalliberalen verloren, sodaß Bismarck bis 1887 mit wechselnden Mehrheiten regieren mußte (Huber, IV, S. 146 – 151). – Nachdem Bismarcks Versuch, den nationalliberalen Parteiführer Rudolf v. Bennigsen (1824 – 1902) zum Reichsstaatssekretär u. preuß. Staatsminister zu ernennen, 1877 scheiterte, weil Bennigsen den Miteintritt von Fraktionskollegen ins Ministerium forderte, was den „Anfang einer Parlamentarisierung der Reichsregierung bedeutet hätte“ (Huber, III, S. 830), weigerten sich größere Gruppierungen der Partei, Bismarcks Abwendung von einer liberalen Wirtschaftspolitik mitzutragen (Hinwendung zu einer staatssozialistischen Monopolpolitik, zur Schutzzollpolitik und zu verschärfter Bekämpfung der Sozialdemokratie bei gleich-

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zeitiger Intensivierung der Sozialpolitik); vgl. u. a. Huber, IV, S. 67 – 69, 142 – 44, 1042 – 44, 1191 – 95. 1879 kam es zu einer rechten, 1880 zu einer linken Abspaltung bei den Nationalliberalen, vgl. Ludwig Bamberger (1823 – 1899), Die Secession, 1881; Hermann Block, Die parlamentarische Krisis der nationalliberalen Partei 1879 – 1880, Hamburg 1930; Heinz Edgar Matthes, Die Spaltung der Nationalliberalen Partei u. die Entwicklung des Linksliberalismus bis zur Auflösung der Deutsch-Freisinnigen Partei (1878 – 1893), Diss. Kiel 1953; vgl. Anm. 17, S. 58. [39] In Gedanken und Erinnerungen, 21. Kapitel, „Der Norddeutsche Bund“, S. 389 f.; in Erinnerung und Gedanke, 10. Kapitel, S. 340: „Vor dem Siege würde ich nie von „Indemnität“ gesprochen haben; jetzt, nach dem Siege, war der König in der Lage, sie großmüthig zu gewähren und Frieden zu schließen, nicht mit seinem Volke – der war nie unterbrochen worden, wie der Verlauf des Krieges gezeigt –, sondern mit dem Theile der Opposition, welche irre geworden war an der Regierung, mehr aus nationalen als aus parteipolitischen Gründen.“ [40] Jeder beliebige Grund konnte zur Reichstagsauflösung führen, die der Bundesrat im Einvernehmen mit dem Kaiser gemäß der Verfassung v. 16. 4. 1871 beschließen mußte. Zu Auflösungen kam es 1878 (aufgrund d. Streites um das Sozialistengesetz), 1887, 1893 u. 1906, vgl. Huber, III, S. 883 f. – Am 14. 1. 1887 lehnten Zentrum und Linke das von von d. Reichsleitung verlangte Septennat (Huber, V, S. 551 ff.) ab u. forderten ein Triennat; die der Auflösung folgenden Wahlen („Kartellwahlen“) gewann das konservativ-nationalliberale Kartell, sodaß es zum Septennat kam. 1892 / 93 ermöglichte die Verkürzung der Militärdienstzeit auf 2 Jahre (vgl. vorl. Schrift, Anm. 69, S. 87 f.) eine Erhöhung der Rekrutenzahlen, während die Militärvorlage v. 23. 11. 1892 eine Vermehrung der Friedenspräsenzstärke um 72.037 Mann vorsah; der Widerstand von Zentrum, Freisinn und Sozialdemokratie führte zur Auflösung; bei den Wahlen v. 14. 6. 1893 („Militärvorlagewahlen“) siegten die Regierungsparteien; zu beiden Ereignissen Huber, IV, S. 550 – 555, 799 f., auch: Deutsche Militärgeschichte, V, S. 116 f. Im Dezember 1906 lehnten Zentrum, Sozialdemokratie, Welfen, Polen u. Elsaß-Lothringer den Nachtraghaushalt zur Finanzierung der Niederschlagung des Herero-Aufstandes ab; bei den Wahlen v. 25. 1. / 5. 2. 1907 („Block- o. Hottentottenwahlen“) verlor das Zentrum seine parlamentarische Schlüsselstellung, dazu Huber, IV, S. 58 f., 293 f., 614. [41] Dazu außerordentlich detailliert: Reinhard Höhn (1904 – 1992), Die Armee als Erziehungsschule der Nation. Das Ende einer Idee, Bad Harzburg 1963, bes. S. 17 – 32, „Armee und Nation im Blickpunkt Scharnhorsts“; S. 63 – 76, „Die Armee als NationalBildungsanstalt im Sinne Blessons“ (der Militärschriftsteller Johann Ludwig Urban Blesson, 1790 – 1861, postulierte in seiner Schrift „Ueber den wahren Soldaten-Geist“ (1843) die Überlegenheit der soldatischen Erziehung ggü. der der Gymnasien und Universitäten); S. 445 – 467, „Der Rückzug der Armee auf die Technik der militärischen Ausbildung“. Reiches Material zum Thema enthalten auch andere Werke Höhns, so: Revolution-Heer-Kriegsbild, Darmstadt 1944; Scharnhorsts Vermächtnis, Bonn 1952; Sozialismus und Heer, 3 Bde., Bad Homburg v. d. H. 1959 / 1969; vgl. Anm. 43; a. Fiedler, Einigungskriege, S. 50 f. [42] Zu der auf Hermann v. Boyens Heeresreform v. 1814 zurückgehenden Einrichtung des Einjährig-Freiwilligen Militärdienstes vgl. u. a.: Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, II, Monarchie und Volkssouveränität, Freiburg i. Br. 1933, S. 315 – 18. Während Boyen noch wirklich an Besitz und Bildung dachte – das Vorrecht des kürzeren Dienstes sollte nicht wegen gesellschaftlicher o. wirtschaftli-

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cher Sonderinteressen gewährt werden, „sondern weil der Staat die geistige Bildung nicht entbehren konnte und eine dreijährige Unterbrechung der Studien für den Nachwuchs schädlich war“ (Schnabel, S. 315) –, wurde der Sinn der Einrichtung in der Folgezeit fragwürdiger, da immer neuen Schultypen (Realschulen, Landwirtschaftsschulen usw.) die Qualifikation zur Ausstellung des Einjährigen-Zeugnisses zugebilligt wurde und aus dem Benefiz für Gebildete ein Zertifikat für Bildung wurde; die betr. Schulen wurden überfüllt, um das Privileg zu „ersitzen“. Die diesbezüglichen Probleme und den Kampf der Sozialdemokratie gg. das inzwischen „verbitternde Privileg“ schildert detailliert Messerschmitt, S. 87 – 103; vgl. a. Huber, I, S. 247; IV, S. 922 f. – Höhn, Sozialismus, II, S. 343 – 349, belegt, daß auch eine relativ große Zahl besonders qualifizierter Handwerker („kunstverständige oder mechanische Arbeiter, welche in der Art ihrer Tätigkeit Hervorragendes leisten“) zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst zugelassen wurden, sodaß also keineswegs nur die Söhne des Bürgertums profitierten, – in aller Regel wurden sie aber nicht Offiziersanwärter der Reserve und Landwehr: „der preußische Staat (war) nicht bereit . . . , die letzte Konsequenz aus seiner Aufgeschlossenheit dem Arbeiter gegenüber zu ziehen“; vgl. a.: F. Engels, Kann Europa abrüsten? (1899), in: MEW, 22, S. 369 – 99, 385; L. Mertens, Das Privileg des Einjährig-Freiwilligen Militärdienstes im Kaiserreich und seine gesellschaftliche Bedeutung, MGM, 1 / 1986, S. 59 – 66; Fiedler, Millionenheere, S. 48 f. Vgl. Anm. 21, S. 61 f. [43] Im „Wehrgesetz (Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienste“ vom 3. 9. 1814) lautete der § 4: „Die stehende Armee ist beständig bereit ins Feld zu rücken, sie ist die Haupt-Bildungsschule der ganzen Nation für den Krieg, und umfaßt alle wissenschaftliche [!] Abtheilungen des Heeres.“ (Huber, Dok., I, S. 59); der § 4 des Wehrgesetzes vom 9. 11. 1867, ab 1871 als Reichsgesetz fortdauernd, lautete: „Das stehende Heer und die Flotte sind beständig zum Kriegsdienste bereit. Beide sind die Bildungsschulen der ganzen Nation für den Krieg.“ (Huber, Dok., II, S. 343). Im Wehrgesetz v. 21. 5. 1935 lautete der § 2: „Die Wehrmacht ist der Waffenträger und die soldatische Erziehungsschule des Deutschen Volkes. Sie besteht aus dem Heer, der Kriegsmarine, der Luftwaffe.“ (F. Stuhlmann / H. Stange, Wehrgesetz und Wehrmacht, Berlin 1935, S. 55; H. Dietz, Das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 und seine Ausführung im Frieden und Krieg, Leipzig 1943, 2. Aufl., S. 67). J. Heckel, Wehrverfassung, S. 55 f. bemerkte zu Schmitts Hinweis u. zu den Wehrgesetzen 1867 u. 1935: „Wie in den anderen Organisationen der Nation ist . . . auch in der Wehrmacht die politisch-ethische Erziehung auf die nationalsozialistische Weltanschauung zu gründen und hier vom Soldatischen her zu vollenden. – In diesem Sinne nennt das Wehrgesetz die Wehrmacht „die soldatische Erziehungsschule des deutschen Volkes“ und weist ihr damit eine Aufgabe zu, die beträchtlich über die Zielsetzung der früheren Wehrgesetze hinausgeht. Denn damals war das Heer nur zur „Bildungsschule für den Krieg“ erklärt, während heute zu der militärischtechnischen Ausbildung noch die Fortsetzung der vaterländischen Erziehung kommt, die der Nationalsozialist schon vor dem Eintritt in die Wehrmacht erhalten hat.“ Vgl. a. Heckel, Das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935, DJZ, 1935, Sp. 777 ff. [44 / 45] Moltkes Rede „Unabsehbarkeit der Dauer des nächsten Krieges“ v. 14. 5. 1890 findet sich u. a. in: Moltke, Ausgewählte Werke, III, 1925, S. 344 – 46 bzw. in: Reinhard Stumpf (Hrsg.), Kriegstheorie und Kriegsgeschichte. Carl v. Clausewitz / Helmuth v. Moltke, 1993, S. 504 – 07. Damals war jedoch die Überzeugung vorherrschend, daß künftige große Kriege nur von kürzerer Dauer sein würden; dafür wurden wirtschaftl. u. finanzielle Gründe genannt o. auf die Entwicklung der Waffentechnik verwiesen; gelegentlich spielte die Annahme eine Rolle, daß eine entwickelte, humane Zivilisation ein

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längeres Blutvergießen nicht hinnehmen könne. In Deutschland war auch der Glaube an die eigene operative Überlegenheit wichtig. – Auch wenn Alfred Graf v. Schlieffen (1833 – 1913) den kurzdauernden Krieg nur als anzustrebendes Ziel sah u. nicht als einzige Möglichkeit, ist seine Argumentation typisch: „Solche [langdauernden] Kriege sind aber zu einer Zeit unmöglich, wo die Existenz der Nation auf einem ununterbrochenen Fortgang des Handels und der Industrie gegründet ist, und durch eine rasche Entscheidung das zum Stillstand gebrachte Räderwerk wieder in Lauf gebracht werden muß. Eine Ermattungsstrategie läßt sich nicht treiben, wenn der Unterhalt von Millionen den Aufwand von Milliarden erfordert.“ (Schlieffen, Der Krieg in der Gegenwart, zuerst 1909, in: Ders., Cannae, 3. Aufl., 1936, S. 273 – 285, 280). – Unter den bedeutenderen Militärschriftstellern hielten Wilhelm v. Blume (1835 – 1918), Colmar Frhr. v. d. Goltz (1843 – 1916) u. Fritz Hoenig (1848 – 1902) länger dauernde Kriege in der Zukunft für wahrscheinlich, u. a. wegen der „auf dem Spiele stehenden Interessen“ (v. Blume), wegen der Angleichung der Armeen, der verbesserten Grenzbefestigungen u. der Frontausdehnung durch Riesenheere (v. d. Goltz), usw. – Friedrich Engels (1820 – 95) schrieb in seiner Einleitung zu der Broschüre s. Freundes Sigismund Borkheim (1825 – 85) „Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten 1806 – 1807“, 1888: „ . . . endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen . . .“ etc. (MEW, 21, 1962, S. 350 f.); a. Fiedler, Millionenheere, S. 155 ff. – Vgl. a. Reichsarchiv, I, S. 326 – 336; Stein, S. 99 – 114. Ein bes. Interesse erheischt das sechsbändige Monumentalwerk des russischen Bankiers u. Pazifisten Johann (Jan) von Bloch (1836 – 1902): Der Krieg – Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung, 1899 ff. (zuerst russisch 1898); auf deutsch erschienen nur die Bde. I, Beschreibung des Kriegsmechanismus, 669 S.; III, Der Seekrieg, 448 S.; VI, Der Mechanismus des Krieges und seine Wirkungen – Die Frage vom internationalen Schiedsgericht, 360 S.; alle im Verlag Puttkammer & Mühlbrecht, Berlin; vgl. auch die Zusammenfassungen: Die wahrscheinlichen politischen u. wirtschaftlichen Folgen eines Krieges zwischen Großmächten, 1901, u.: Der Krieg der Zukunft. Nach den Theorien des Johann v. Bloch, 1909. Bloch sah, oft erstaunlich detailliert, den zermürbenden Stellungskrieg voraus, der den Heeren die Kraft zu entscheidenden Schlägen nahm; die Stärke des modernen Feuers mache den taktischen Angriff u. damit den Krieg selbst unmöglich; der technische Fortschritt führe zum Anwachsen der Defensivfähigkeiten, der Krieg deshalb zu endlosen Verlusten, schließlich zu Hunger u. polit. Katastrophen usw. – deshalb käme er als polit. Mittel nicht mehr infrage; aufgrund der materiellen und sozialen Kosten des Zukunftskrieges hielt v. Bloch es für möglich, daß die Staaten davor zurückschrecken würden, ihn zu entfesseln; vgl. jedoch die Kritik des Militärhistorikers Hans Delbrück (1848 – 1929), Zukunftskrieg und Zukunftsfriede, PrJb, 1899, S. 203 – 229, Ndr. in: Ders., Erinnerungen. Aufsätze und Reden, 1902, S. 498 – 525, der aus dem von v. Bloch dargebotenem Material die Folgerung zog, daß nur die weitere Aufrüstung den Frieden sichere. Delbrück betonte, daß die wirtschaftliche Schädigung des Feindes den Zukunftskrieg nicht verhindern könnte – wie v. Bloch hoffte – sondern ein besonders wichtiges Element der künftigen Kriegführung sein werde. – Zu Bloch u. a.: Alfred Hermann Fried (1864 – 1921), Handbuch d. Friedens-

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Anmerkungen

bewegung, I, 2. Aufl. 1911, S. 134 ff; II, 2. Aufl. 1913, S. 137 ff.; John Frederick Charles Fuller (1878 – 1966), Die entartete Kunst Krieg zu führen 1789 – 1961, dt. Ausgabe 1964, bes. S. 39 – 41; Jost Dülffer, Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen 1899 u. 1907 in d. internationalen Politik, 1981, bes. S. 31 f.; Peter van den Dungen, The Making of Peace. Jean de Bloch and the First Hague Peace Conference, Los Angeles 1983; Fiedler, Millionenheere, S. 98 ff., 154 ff.; zu den Kriegsbildern 1871 – 1914 u. a.: H. L. Borgert, Grundzüge der Landkriegführung von Schlieffen bis Guderian, Deutsche Militärgeschichte, IX, S. 435 – 66; Dieter Storz, Kriegsbild u. Rüstung vor 1914, 1992; Fiedler, Millionenheere, bes. S. 146 – 64; J. Dülffer, Préfigurations de la guerre en Allemagne avant 1914, Guerres mondiales et conflits contemporains, 171, 1993, S. 13 – 28, auch dt. in: W. Michalka (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg, 1994, S. 778 – 98 u. in: Dülffer, Im Zeichen der Gewalt, 2003, S. 107 – 23, 277 – 79. – Zur These vom nur kurzdauernden Zukunftskrieg: L. L. Farrar, jr., The Short War Illusion. The Syndrome of German Strategy, August-December 1914, MGM, 2 / 1972, S. 39 – 52, vgl. das mit gl. Titel versehene Buch des Autors, Santa Barbara 1973. Daß jedoch auch im deutschen Generalstab u. selbst bei Moltke dem Jüngeren die These vom kurzen Krieg bezweifelt wurde, zeigt Stig Förster: Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871 – 1914. Metakritik eines Mythos, MGM, 1 / 1995, S. 61 – 95, Ndr. in: Johannes Burkhardt u. a. (Hrsg.), Lange und kurze Wege in den Ersten Weltkrieg, 1996, S. 115 – 158. [46] Schmitt könnte mit seinem Ausdruck „Fremdkörper“ auf Hermann Rehm (1862 – 1917) anspielen, der in seiner Festrede zur akademischen Feier des Regierungsjubiläums von Wilhelm II. erklärte, daß das Heer zwar eine Staatsanstalt, politisch jedoch ein „Fremdkörper“ innerhalb des Staates sei, vgl. Rehm, Oberbefehl und Staatsrecht, Straßburg 1913, S. 32. [47] Günthers Einstellung im Zusammenhang: „So dürfen wir der deutschen Bildung große sittliche Kraft zuschreiben; sie festigte bürgerliche Menschen im Schrecken des Krieges, sie ließ Väter und Mütter zu Hause Entbehrungen und Ängste ertragen. Aber eine mitreißende, volksgestaltende Kraft war dieser Intelligenz nicht eigen. Sie vermochte nicht, wie das Bürgertum der großen französischen Revolution, nicht wie die Intelligenz der Freiheitskriege die Heimat zur seelischen Kraftquelle des Krieges zu machen. Das Heer konnte sich nicht durch die Berührung mit dem Heimatboden verjüngen; im Gegenteil, aus der Heimat drang endlich die Auflösung in die Armee. Die bürgerliche Intelligenz hatte wohl vermocht, ihre Träger für die Pflichterfüllung auszurüsten, aber ihre Kraft reichte nicht aus für die Funktion, die ihr im ständischen Gefügige des Volkes zugeteilt war: sie konnte den Geist der Nation nicht beschwören.“ Albrecht Erich Günther (1893 – 1942) gab ab April 1926 gemeinsam mit Wilhelm Stapel (1882 – 1954) die Zeitschrift „Deutsches Volkstum“ heraus u. veröffentlichte dort eine Reihe z. T. bedeutender Aufsätze; über Schmitt schrieb er: Der Endkampf zwischen Autorität und Anarchie. Zu Carl Schmitts „Politischer Theologie“, Jan. 1931, S. 11 – 20; Das Gesetz der politischen Sprache, 1. Halbjahr 1932, S. 143 f.; Der Staatsfeind, 2. Januarheft 1934, S. 45 – 49; Der Leviathan, 1938, S. 562 f.; a.: Wer ist der Hüter d. Verfassung?, Widerstand, 1931, S. 168 – 175. Von bes. Interesse ist der von ihm hrsg. Band „Was wir vom Nationalsozialismus erwarten – Zwanzig Antworten“ Heilbronn 1932, Eugen Salzer, mit Beiträgen u. a. von August Winnig, Albert Mirgeler, Julius Wilhelm Mannhardt, Wilhelm G. Grewe, Gustav Steinbömer, Heinrich u. Ernst Forsthoff. Er übersetzte Autoren der französ. Rechten (u. a. Alfred Fabre-Luce u. Jacques Bainville); über ihn schrieb sein Bruder Gerhard (1889 – 1976): Albrecht Erich Günther zum Gedächtnis, Zeitschrift für Geopolitik, 1952, S. 645 – 648.

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Anmerkungen

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[48] Vgl. dazu eindringlich: Ludwig Geßner, Der Zusammenbruch des Zweiten Reiches. Seine politischen und militärischen Lehren, München o. J. (1937), C. H. Beck, sowie bes. Wilhelm Ziegler (geb. 1891), Volk ohne Führung. Das Ende des Zweiten Reiches, Hamburg 1938, Hanseat. Verlagsanstalt (mehrere Nachdrucke). Beide Autoren argumentieren z. T. ähnlich wie Schmitt, ohne ihn zu nennen. [49] Huber spricht von der „Legende“ vom Reich als Fürstenbund: „Die Reichsverfassung u. das Reich waren nicht das bloße Resultat einer Vereinbarung zwischen Herrschern, die sich zu einem „Bund“ vereinigten. Ohne den beharrlichen Einheitswillen der Nation, ohne den durch ständigen Druck der Nationalbewegung schließlich bewirkten Eintritt Preußens in seine nationalhegemoniale Funktion, ohne die Zustimmung der gewählten Nationalrepräsentation zu dem ihr vorgelegten Verfassungsentwurf wäre das Reich nicht zustande gekommen. Diesen starken nationalunitarischen Anteil an der Reichsverfassung überging die Präambel geflissentlich. Soweit die These vom Reich als Fürstenbund einen historischen Vorgang oder einen politischen Zustand beschreiben wollte, war sie eine offenkundige Verkürzung und Entstellung der Wahrheit. Aber auch als staatsrechtliche Norm war die These vom Reich als Fürstenbund unhaltbar; denn die in der Präambel ausgesprochene Deutung stand mit dem institutionellen Gehalt der Reichsverfassung in offenem Widerspruch.“ Für Huber stellte die Formel vom Fürstenbund „eine bloß verbale Beteuerung [dar], die die nationalunitarische Verfassungswirklichkeit durch eine bündische Legende ideologisch zu verdecken suchte.“ (Huber, III, S. 788, 789). Immerhin hat sich Bismarck bei seinen Staatsstreichplänen auf die These vom Reich als Fürstenbund gestützt [vgl. Bismarck, Bd. 8A, S. 534, 699 f.]: Die Fürsten könnten von der Reichsverfassung zurücktreten, weil das Reich ein Bund der Souveräne, nicht der Staaten sei. Durch diesen Rücktritt würde dann der Weg frei für die Stiftung einer veränderten Reichsverfassung mittels eines neuen Bündnisses der Dynastien. Dieses Konzept eines lt. Bismarck ebenfalls legalen Weges der Verfassungsrevision (neben dem des Art. 78 der Reichsverfassung) erachtet Huber (damit auch im Ggs. zu Forsthoff) als klaren Verfassungsbruch: die Fürsten und Senate hätten bei der Reichsgründung als Organe der Länder gehandelt; das Reich sei weder ein Bund der Fürsten noch der Mitgliedsstaaten, sondern ein Nationalstaat. „Die Bismarcksche Konstruktion einer Verfassungsänderung durch actus contrarius der Landesherren war nichts als eine Verhüllung des Umsturzes.“ (Huber, IV, S. 218). Wegen der Art ihres Zustandekommens u. ihrer Präambel wurde die Verfassung v. 1871 oft nur abschätzig als bloßes „diplomatisches Aktenstück“ gewertet; vgl. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat (1916), in: Ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. A., 1968, S. 39 – 59, 40; Schmitt, Brief an L. Feuchtwanger v. 3. 7. 1927, in: Carl Schmitt – Ludwig Feuchtwanger, Briefwechsel 1918 – 1935, 2007, S. 213. Vgl. a. Anm. 13, 55. – Für Max Weber war die These von d. Auflösbarkeit d. Reiches durch Vertrag der Kontrahenten nur verächtliche „Bierbankpolitik“, vgl.: Die „Bedrohung“ der Reichsverfassung (1906), in: Weber, Politik und Gesellschaft, 2006, S. 70 – 72. [50] Vgl. Huber, VI, S. 69: „Zum Wesen eines Bundesstaats „mit bündischer Grundlage“, wie des Bismarckschen Reiches, gehörte, daß das vertragsmäßige Fundament, auf dem er ruhte, ein dauerndes Moment seiner Existenz war. Wie im Staatenbund konnte im „föderativen Bundesstaat“ der Gesamtstaat das Bestehen jedes einzelnen Gliedstaats nur mit dessen Zustimmung aufheben. Das föderative System als solches konnte nur ein unter Zustimmung aller Gliedstaaten geschlossener Gesamtvertrag beseitigen. In diesem Sinn gewährleistete die Bismarcksche Reichsverfassung den einzelnen Gliedstaaten sowohl ihren Gebietsbestand als auch ein unentziehbares Recht auf Existenz; ebenso ge-

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Anmerkungen

währleistete sie den Fortbestand der föderativen Struktur des Reichs insgesamt. Dagegen war der Weimarer Reichsverfassung eine Gebiets- wie eine Bestands-Garantie für die Länder ebenso wie eine Existenz-Garantie für das bundesstaatliche System insgesamt fremd.“ – Bismarck meisterte souverän die föderative Seite des Verfassungsstaates und bemühte sich gegenüber dem Bundesrat um Vergleiche u. Zugeständnisse; er behandelte die nur offiziell bedeutsame Institution respektvoll, ohne sich an ihren Aktivitäten zu beteiligen (vgl. Anm. 53, S. 80) u. vermied die Methode der Über- oder Unterordnung, vgl. u. a.: Georg Freiherr von Eppstein / Conrad Bornhak (Hrsg.), Bismarcks Staatsrecht. Die Stellungnahme des Fürsten Otto von Bismarck zu den wichtigsten Fragen des Deutschen und Preußischen Staatsrechts, 2. Aufl., Berlin 1923, bes. S. 108 – 122, „Verhältnisse der Landtage zum Reiche“; 249 – 264, „Der Bundesrat“; 326 ff., 406 ff., 459 ff.; Erich Kaufmann, Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung (1917), in: Ders., Gesammelte Schriften, I, 1960, bes. S. 168 f.; Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: Ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968, bes. S. 269 ff.; M. Spahn, Bismarck u. das bündische Verfassungsprinzip, Jungnationale Stimmen, 21 – 22 / 1932, S. 173 f.; E. R. Huber, Bismarck und der Verfassungsstaat (1964), in: Ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965, bes. S. 202 ff.; H. Reichold, Bismarcks Zaunkönige, 1977, bes. S. 29 f.; Huber, Verfassungsgeschichte, III, S. 848 – 860; vgl. a.: K. Oldenburg, Aus Bismarcks Bundesrat, 1929; F. Demmler, Bismarcks Gedanken über Reichsführung, 1934. – Sehr detailliert z. Bundesrat und s. sich ändernden Bedeutung: Manfred Rauh, Föderalismus u. Parlamentarismus im Wilhelmin. Reich, 1973; Ders., Die Parlamentarisierung des Dt. Reiches, 1977. Festhaltenswert ist, daß Schmitt, hier die „bündische Grundlage“ des Bismarck-Reiches als möglichen Faktor der Stabilisierung ansehend, ein Jahr zuvor, in seiner Broschüre „Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit“, Hamburg 1933, die „bündische Grundlage“ nicht nur der Weimarer Republik als gefährlich für die staatliche Einheit betrachtete: „Man kann in einer kurz zusammenfassenden, staatsrechtlichen Formel sagen, daß die Verknüpfung des Bundes-Gedankens mit dem Staats-Gedanken – sei es in der Gestalt des Staatenbundes, sei es des Bundesstaates – ein Jahrhundert lang die eigentliche Gefahr der politischen Einheit Deutschlands war. Denn in jeder bündischen Organisation ist eine Garantie des territorialen und politischen status quo vorausgesetzt; sie muß sowohl in einem Staatenbund wie in einem Bundesstaat gerade dem staatlichen Charakter des einzelnen Gliedstaaten als einer politischen Einheit zugutekommen und dadurch die staatliche Einheit des ganzen deutschen Volkes relativieren. Deshalb fällt es nicht nur in einem Staatenbund, sondern auch in einem bundesstaatlich aufgebauten Gebilde irgendeiner advokatorischen Geschicklichkeit nicht schwer, im Konfliktsfall unter Berufung auf die „bündische Grundlage“ oder auf „Wesen und Begriff“ des Bundesstaats ein „Recht auf eigene Politik“ zu konstruieren.“ (S. 18). Zwar bezog sich Schmitt hier vorrangig auf den Leipziger Prozeß und das Urteil des Staatsgerichtshofes vom 25. Oktober 1932, konstatierte aber, daß diese Gefahr „ein Jahrhundert lang“ bestand . . . Vgl. Anm. 53, S. 81. [51] Bismarcks „Spiel mit den drei Kugeln“ war innenpolitisch, nicht außenpolitisch, wie Schmitt hier schreibt. Gemeint waren die preußische Hegemonie, die bündische Solidarität der Fürsten und die nationale Legitimation des Reichstages, – diese eröffneten „dem Meister der Taktik und selbst weniger genialen Nachfolgern zahllose Möglichkeiten, eine Kraft gegen die andere auszuspielen und dabei das Heft in den Händen zu behalten“, so Dian Schefold, Verfassung als Kompromiß? Deutung und Bedeutung des preußischen Verfassungskonflikts, ZNR, 3 – 4 / 1981, S. 137 – 154, 142. – Proverbial wur-

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Anmerkungen

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de Bismarcks außenpolitisches „Spiel mit den fünf Kugeln“: sein Versuch, die Beziehungen zwischen England, Deutschland, Frankreich, Osterreich-Ungarn und Rußland im Interesse des Friedens zu steuern, dazu Hildebrand, S. 79 – 86. Dabei ging es u. a. darum, „keine dauernden Freunde und keine ewigen Feinde zu haben“ und „zu den Polen von Freundschaft und Feindschaft gleich weiten Abstand“ (Hildebrand, S. 83, 84) zu halten. Zu diesem System gehörte der sogen. Rückversicherungsvertrag zwischen Deutschland und Rußland, aus sechs Artikeln und einem „ganz geheimen Zusatzprotokoll“ bestehend, der am 18. 6. 1887 zwischen Bismarck und dem russ. Botschafter Paul Graf Schuwalow in Berlin geschlossen wurde und der den Dreikaiservertrag zw. Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland, geschlossen am 18. 6. 1881, erneuert am 27. 3. 1884 und endend 1887, ersetzte; Texte in: Große Politik, III, Dok. 532, S. 178 f.; V, Dok. 1092, S. 253 ff.; aufgrund der Spannungen zwischen der Donaumonarchie und Rußland wurde auf Österreichs Mitwirkung verzichtet. Der Vertrag sollte den russischen Druck auf die deutschen Grenzen reduzieren; er legte fest, daß, falls sich eine der Vertragsparteien im Kriege mit einer dritten Großmacht befinden sollte, die andere wohlwollende Neutralität ausübe; Deutschland anerkannte in ihm die „geschichtlich erworbenen Rechte Rußlands auf der Balkanhalbinsel“ (bes. in Rumänien und Ostrumelien); beide Mächte erkannten den bindenden Charakter der Schließung der Meerengen des Bosporus und der Dardanellen an; Deutschland sicherte in dem Zusatzprotokoll schließlich seine wohlwollende Neutralität für den Fall zu, daß Rußland gezwungen würde, zu Wahrung seiner Interessen „selbst die Aufgabe der Verteidigung des Zuganges zum Schwarzen Meere zu übernehmen“. Der Vertrag wurde 1890, trotz vorheriger deutscher Zusagen, nicht verlängert; dabei spielten Berichte über russische Angriffsvorbereitungen gg. Österreich-Ungarn eine Rolle und die gg. Bismarcks Rußlandpolitik sich richtenden Aktivitäten Friedrich v. Holsteins und Graf Waldersees; Bismarck konnte sich nicht mehr durchsetzen, da im März 1890 sein Sturz bevorstand, der dann am 20. 3. erfolgte. Die Kündigung bzw. Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages schädigte sein Sicherheitssystem beträchtlich u. führte zur französisch-russischen Allianz. Aus der überreichen Literatur: E. Daniels, Der Rückversicherungsvertrag vom 18. Juni 1887, PrJb, 178, Okt. 1919, S. 178 ff.; F. Hartung, Der deutsch-russische Rückversicherungsvertrag von 1887 und seine Kündigung, Die Grenzboten, 1 / 1921, S. 12 ff.; H. Rothfels, Zur Geschichte des Rückversicherungsvertrages, PrJb, 187, März 1922, S. 265 ff.; G. Raab, Der deutsch-russische Rückversicherungsvertrag in dem System der Bismarckschen Politik vornehmlich des Jahres 1887, Wetzlar 1923; Otto Becker, Bismarck und die Einkreisung Deutschlands, 2 Bde., Berlin 1923 / 25, I, S. 65 – 105; II, S. 9 – 147 (ab S. 92 detailliert über das Entstehen des russ.-französ. Bündnisses); C. Bornhak, Das Rätsel der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages, Archiv für Politik u. Geschichte, 1924, S. 570 – 582; R. Frankenberg, Die Nichterneuerung d. Deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages im Jahre 1890, 1927; U. Noack, Bismarcks Friedenspolitik u. d. Problem d. dt. Machtverfalls, 1928, S. 290 – 310, 463 – 70; H. J. Schlochauer, Der deutsch-russische Rückversicherungsvertrag, 1931; H. Krausnick, Rückversicherungsvertrag u. Optionsproblem, FS Otto Becker 1954, S. 210 – 32; P. Rassow, Zur Interpretation des Rückversicherungsvertrages, HJb, 1955, S. 758 – 65; D. Friede, Der verheimlichte Bismarck, 1960 (stark vom Kalten Krieg geprägt, schildert das Buch detailliert Bismarcks Mißtrauen ggü. Rußland); H. Hallmann, Zur Geschichte u. Problematik des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages von 1887, 1968 (die Aufsätze von Krausnick u. Rassow ebd., S. 400 ff. , 436 ff.). M. Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866 – 1918, Berlin 1983, bes. S. 202 – 204 (schätzt, wie auch andere Betrachter, den

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Anmerkungen

Wert des Vertrages ziemlich gering ein u. zitiert dazu Herbert v. Bismarck: „Es ist immer eine Art Druck auf den Czaren und hält uns im Ernstfall die Russen wohl doch sechs bis acht Wochen länger vom Hals, als ohnedem.“). – Caprivi, Bismarck als Kanzler nachfolgend, soll erklärt haben, er könne nicht „mit fünf Glaskugeln spielen, er könne nur zwei Glaskugeln gleichzeitig halten“ (nach Hildebrand, S. 156). – Zum Zusammenhang zw. dem Streit um den Rückversicherungsvertrag und der Entlassung Bismarcks vgl. Huber, IV, bes. S. 234 – 238. [52] Neben den von Schmitt in Fn. 16, S. 23 aufgeführten Schriften zu Bismarcks Staatsstreichplänen bzw. seiner „Staatsstreichbereitschaft“ u. a.: Hans Delbrück (1848 – 1929), PrJb, 126, 1906, S. 375 ff., 591 ff.; 133, 1908, S. 361 ff., 533 ff.; 147, 1912, S. 1 ff., 341 ff.; Ders., Regierung und Volkswille, 1914, S. 61 – 65 (glaubt „daß Bismarck abgehen mußte, weil der Kaiser es ablehnte, sich auf den Staatsstreichgedanken einzulassen“, S. 64); Friedrich Thimme (1868 – 1938), Der Fall des Sozialistengesetzes und Bismarcks „Staatsstreichplan“, SMH, April 1915, S. 108 ff.; P. Haake, Bismarcks legaler Staatsstreichplan 1890, Neue Jahrbücher f. Wissenschaft u. Jugendbildung, 8, 1932, S. 511 ff.; E. Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 1940, S. 202 (wendet sich gg. Delbrück, der Bismarcks Absichten für illegal hielt: „ . . . diese Pläne liegen durchaus in der verfassungsrechtlichen Linie, die Bismarck von der Gründung des Norddeutschen Bundes an verfolgt hat. Sie ziehen lediglich die Folgerungen aus dem Bundescharakter, den Bismarck (der es schließlich wissen mußte) seiner Verfassungsschöpfung von Anbeginn zugesprochen hatte. So bedeuten die sogenannten Staatsstreichpläne in Wahrheit nichts anderes als den Rückzug auf die Linie der monarchischen Souveränität und Legitimität, den die Verfassung infolge ihrer dualistischen Struktur von vornherein offen ließ.“ – Vgl. a. den leicht veränderten Text in der 4. Aufl., 1961, S. 155); W. Pöls, Sozialistenfrage u. Revolutionsfurcht in ihrem Zusammenhang mit den angeblichen Staatsstreichplänen Bismarcks, 1960 (sieht nur eine hypothetische Staatsstreichbereitschaft für einen eventuellen künftigen Konfliktsfall); H. Kober, Studien z. Rechtsauffassung Bismarcks, 1961, S. 95 – 100, 289 f.; J. C. G. Röhl, Staatsstreichplan oder Staatsstreichbereitschaft? Bismarcks Politik in der Entlassungskrise, HZ 203, 1966, S. 610 ff. (fragt sich, wie viele Betrachter, ob hinter dem „Plan“ eine ernsthafte Absicht stand); M. Stürmer, Staatsstreichgedanken im Bismarckreich, ebd. 209, 3 / 1969, S. 566 ff. (überschätzt m. E. hier wie in vielen seiner Schriften zu Bismarck dessen Drohung(en) mit dem Staatsstreich); L. Gall, Bismarck, 1980, S. 692 ff.; Huber, IV, S. 202 – 228 (aufgrund der Wahlergebnisse v. Februar 1890 sei Bismarck gezwungen gewesen, sich mit dem Zentrum zu arrangieren, zugleich aber, angesichts der Vorbehalte ggü. dem Zentrum, diese „geheime Annäherung . . . bis zuletzt hinter dem Gepränge eines militanten Staatsstreichplans zu verbergen“ (S. 228); das Zentrum als Regierungspartei wäre auch dessen Feinden als geringeres Übel erschienen denn ein Staatsstreich. Die Umstände hätten Bismarck gezwungen, „ein Konfliktsprogramm vorzutäuschen, um ein Kompromißprogramm durchzusetzen“ (S. 227) und die Krise verfassungskonform-parlamentarisch zu lösen; es finde sich also weder eine Staatsstreichabsicht noch eine -drohung. Die von Bismarck wie aber auch einigen Kommentatoren behauptete Legalität einer grundlegenden Verfassungsrevision durch einen einstimmigen neuen Verfassungsvertrag der Landesherren sieht Huber eindeutig als Verfassungsbruch (vgl. Anm. 49, S. 77). Vgl. a. Huber, Dok., II, S. 416 f. – Das von Schmitt erwähnte Buch Zechlins fand, neben ihm, noch andere bedeutende Rezensenten: Hans Beyer, Der Ring, 22. 9. 1929; Hans Herzfeld, GGA, 192, 1930, S. 268 – 270; E. Gagliardi, ZgStW, 88, 1930, S. 596 – 601.

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Anmerkungen

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[53] Der Text der Verfassung des Deutschen Reichs v. 16. 4. 1871, ausgehend von der Verfassung des Norddeutschen Bundes v. 26. 7. 1867, erwähnte in seiner Präambel nur die dem Bunde angehörenden deutschen Fürsten als Verfassungssubjekte; ihre Bevollmächtigten saßen, unter dem Präsidium des Kaisers u. dem Vorsitz des Reichskanzlers, im Bundesrat als dem angeblich höchsten Reichsorgan, das, an Legislative u. Exekutive beteiligt, nach der h. M. der damaligen Staatsrechtslehre der Träger der Souveränität war; mit dieser Auffassung konnte man sich „der eigentlichen verfassungs- und staatspolitischen Kernfrage entziehen . . . nämlich, ob der Kaiser oder der Reichstag die höchste Macht innehabe“ (Huber, III, S. 849). Der Bundesrat bildete sieben Ausschüsse (Landheer, Seewesen, Steuerwesen, Handel, Eisenbahnen, Justiz u. Rechnungswesen). Das auf dem Papier so mächtige Gremium war es in der polit. Wirklichkeit keineswegs; „Bismarck (hat) an seinen Sitzungen fast niemals teilgenommen . . . Er dachte gar nicht daran, die Regierungen der deutschen Bundesstaaten gleichberechtigt an der Reichspolitik zu beteiligen. Der Bundesrat erfüllte die ihm von Bismarck zugedachte Funktion, nämlich die Verhinderung einer parlamentarisch verantwortlichen Reichsregierung, schon allein durch seine Existenz. Daher sahen auch die Minister der Bundesstaaten keinen Grund, an den [nicht öffentlichen] Sitzungen des Bundesrates in Berlin teilzunehmen. Das Feld beherrschten dort die stellvertretenden Bevollmächtigten, Fachleute der hohen Bürokratie, welche die „Präsidialanträge“, d. h. die Gesetzesvorhaben der Reichsleitung, in den Ausschüssen unter die Lupe nahmen.“ (Willoweit, S. 273). „Die Schattenexistenz, zu der der Bundesrat zeit seines Lebens verurteilt war, obschon er formell gleichsam als Träger der „Souveränität“ zur gesamten Hand galt und demgemäß als möglicher Ansatzpunkt für eine antiparlamentarische Lösung der deutschen Frage und späterhin als mögliches Vehikel eines Staatsstreiches angesehen wurde, hatte die Kehrseite, daß faktisch der Kanzler ganz allein den übrigen an den politischen Entscheidungsprozessen maßgeblich beteiligten Verfassungsinstitutionen, der Krone, dem preußischen Staatsministerium und dem Reichstag, Paroli zu bieten hatte.“ (W. J. Mommsen, Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 als dilatorischer Herrschaftskompromiß (1983), in: Ders., Der autoritäre Nationalstaat, 1990, S. 39 – 65, hier S. 54). Vgl. a. Max v. Seydel (1846 – 1901), Der deutsche Bundesrat, Jb. f. Gesetzgebung, 1879, S. 273 ff.; K. Oldenburg, Aus Bismarcks Bundesrat, 1919; E. Deuerlein, Der Bundesratsausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten 1870 – 1918, 1955; H. O. Binder, Reich u. Einzelstaaten während der Kanzlerschaft Bismarcks 1871 – 1890, Tübingen 1971, bes. S. 53 ff.; Huber, III, bes. S. 848 – 860; Ders., Dok., II, S. 329 – 322, 323 – 339; vgl. a. Anm. 13, 50, s. o. [54] Vgl. dazu den bedeutenden Aufsatz von Fritz Hartung (s. Fn. 3, S. 7), der sowohl die OHL als auch die Reichstagsmehrheit von 1917 als Nebenregierung einstuft: „Zwischen diesen Nebenregierungen stand die verantwortliche Regierung ohne Kraft und Autorität; sie konnte wohl auf dem Papier den vollen Umfang ihrer Verantwortlichkeit behaupten, in der Praxis aber folgte sie der jeweils stärksten Gewalt . . . Die Entscheidung in dem Machtkampf der beiden Nebenregierungen wurde durch den Krieg gebracht. Als die Oberste Heeresleitung am 29. September 1918 die Einleitung von Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen und eine Verbreiterung der Grundlage der Reichsregierung vorschlagen mußte, war ihre politische Rolle ausgespielt . . .“ (a. a. O., S. 338); zu den verschiedenen Nebenregierungen, Kamarillas usw. in der preuß. u. deutschen Geschichte vgl. a. Huber, I, 146; II, 482 f., 582, 738; III, 69, 71, 162, 168, 171, 824; IV, 166, 255 f., 332. [55] Dazu schrieb Hans Helfritz (1877 – 1958), Geschichte der Preußischen Heeresverwaltung, Berlin 1938, S. 357 f.: „Es bestanden vier Kontingente, das preußische,

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Anmerkungen

bayrische, sächsische und württembergische. Über der preußischen Armee war der Kaiser als König von Preußen zugleich der Kontingentsherr. Über die bayrische Armee hatte der Kaiser im Frieden nur das an die Mitwirkung des Königs von Bayern gebundene Recht der Inspektion. Reglements wurden vom König von Bayern erlassen, stimmten aber mit den preußischen annähernd überein. Die Kosten für die bayrische Armee wurden dem Königreich Bayern pauschal vom Reiche überwiesen. Die Verwendung der Gelder unterlag nicht der Nachprüfung durch den Reichsrechnungshof. Die sächsische Heeresverwaltung vollzog sich im engen Anschluß an die preußische. Das gleiche galt in vermehrtem Maße von der württembergischen. Alle vier Staaten hatten ein eigenes Kriegsministerium. Aber Sachsen und Württemberg waren verpflichtet, die für die preußische Armee getroffenen Einrichtungen und Anordnungen, auch die des preußischen Kriegsministeriums, bei sich einzuführen. Bayern pflegte praktisch ein gleiches zu tun. Die Kriegsminister waren Landesbeamte. Ein Reichskriegsministerium bestand nicht. Die Verrichtungen, die es auszuführen gehabt hätte, wurden vom preußischen Kriegsminister wahrgenommen. So vertrat dieser im Auftrage des Reichskanzlers als einzigen Reichsministers die militärischen Angelegenheiten im Reichstage. Die Beamten der Kriegsministerien waren Landesbeamte, desgleichen die Beamten der Intendanturen. Nach alledem ist die preußische Heeresverwaltung durch die Gründung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches in ihrem inneren Bestand nicht berührt, in ihrem Wirkungsbereich nach außen aber wesentlich erweitert. Der einzige Gesichtspunkt, in dem ihr ein Nachteil erwuchs, war die Feststellung des Heereshaushaltes durch den Reichstag, statt wie bisher durch den preußischen Landtag. Denn der Reichstag entwickelte sich auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes weit demokratischer, als das preußische Abgeordnetenhaus, das bekanntlich nach dem indirekten Dreiklassenwahlrecht gewählt wurde.“ [56] Der „Wehrbeitrag“, ab einem bestimmten Grundeigentum erhoben, wurde durch das Wehrbeitragsgesetz v. 3. 7. 1913 (in: RGBl., 1913, S. 505 – 524) eingeführt u. diente als einmalige Sondersteuer zur Finanzierung der am gl. Tage beschlossenen Heeresvermehrung, vgl. Huber, IV, S. 560, 563; unter finanzwissenschaftlichen Aspekten vgl.: Matthias Erzberger (1875 – 1921), Der Wehrbeitrag; Richard van der Borght (1861 – 1926), Wehrbeitrag und Deckungsgesetze vom 3. Juli 1913, beide Schriften Stuttgart 1913. – Über die (auch 1912 / 13) durchwegs ungenügenden Heeresverstärkungen und die Furcht der Regierungen, die entsprechend nötigen Steuern zu erheben vgl. Hartung, Deutsche Geschichte, S. 285 – 288, auch Huber, IV, S. 550 – 560, bes. S. 557 ff. Die jeweiligen Generalstabschefs forderten dabei ausreichende Verstärkungen, die jeweiligen Kriegsminister wollten sie begrenzen u. setzten sich durch. Für sie waren finanz- u. außenpolitische Gründe entscheidend; hinzu kam die Furcht, daß durch die mit der Heeresvermehrung einhergehende Erweiterung des Offizierskorps „wenig geeignete Kreise“ in dieses einträten und so der Grundsatz des Kriegsministeriums „Qualität vor Quantität“ bedroht werden könnte; die Heeresvermehrung hätte auch die verstärkte Einziehung proletarischer Wehrpflichtiger mit sozialistischer Gesinnung beinhaltet, was man, soweit möglich, vermeiden wollte. – Über eine Reaktion Hans v. Seeckts berichtet sein Biograph: „Am 28. Januar 1913 schrieb er der Mutter, die „Komödie der Heeresverstärkungen“ sei „fast zu arg; ein Kriegsminister, der sich gegen ihm angebotene Mittel sträubt! Wer regiert eigentlich?“ Er meinte sarkastisch, daß es die wohl „am schwersten zu beantwortende Frage“ sei.“ (Hans Meier-Welcker, Seeckt, 1967, S. 33).

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Anmerkungen

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[57] Die Wendung „le roi règne et ne gouverne pas“ wird gewöhnlich Adolphe Thiers (1797 – 1877) zugeschrieben; Schmitt meinte, daß Thiers „schon 1829 die Formel verkündet hatte, die er 1846 in einer berühmten Kammerdebatte wiederholte: „le roi règne et ne gouverne pas“, d. h. der König hat sich jeder sachlichen Einflußnahme auf die Politik zu enthalten“ (VL, S. 327). Huber, III, S. 6, hält Thiers’ Formel für die Zeit des orleanistischen Bürgerkönigtums für triftig, das für ihn kein echter Konstitutionalismus ist, sondern eine „Fassade vor einem System bourgeoiser Parlamentsherrschaft“; er glaubt, daß Thiers’ Satz für Deutschland nicht gelte könne, weil im deutschen konstitutionellen System „der König nicht nur höchstes Symbol, sondern aktiver Träger der Herrschaft“ gewesen sei, – was mit der Wirklichkeit des Zweiten Reiches z. T. kontrastiert. Bismarck selbst lehnte in einer RT-Rede am 24. 1. 1882 (in: Bismarck, Werke, VI, S. 638 – 657) die Formel ab: sie sei weder mit der preußischen Verfassung noch mit den Traditionen der preußischen Monarchie vereinbar, da die Regierungsakte trotz der Gegenzeichnung Akte des selbst regierenden Königs blieben und er bei aller gesetzlichen Verantwortlichkeit doch nur der Diener seines angestammten Königs und Herrn bliebe: „Der königliche Wille ist und bleibt der allein entscheidende. Der wirkliche, faktische Ministerpräsident in Preußen ist und bleibt Seine Majestät der König.“ (S. 644). – Joseph Barthélemy / Paul Duez, Traité de Droit Constitutionnel, Ed. Paris 1933, p. 176 u. Maurice Duverger, Manuel de Droit Constitutionnel et de Science Politique, Cinquième Edition, Paris 1948, p. 253 f. weisen darauf hin, daß Thiers mit seiner Formel einer Wendung von François Guizot (1787 – 1874) antwortete: „Le trône n’est pas un fauteuil vide“, ein Satz, den Louis Philippe gerne übernahm. Barthélemy / Duez bemerken: „La loi sur la presse du 9 septembre 1835, . . . considère comme un délit punissable de faire remonter au Roi la responsabilité des actes du gouvernement“ während Duverger auf die beträchtlichen Neigungen Louis Philippes zum persönlichen Regiment hinweist: „Sans doute, dans les débuts de la Monarchie du Juillet, on incline plutôt vers le système de Thiers; mais, une fois le régime affermi, le monarque s’inspire nettement du système de Guizot; derrière le long ministère de celui-ci, c’est le roi qui gouverne personnellement et qui prétend d’ailleurs révoquer ses ministres, meˆme sans vote de défiance des Chambres, si ceux-ci viennent à lui déplaire.“ Als Urheber der Formel werden neben Thiers (der sie in Artikeln im Le National v. 4. 2. u. 19. 2. 1830 weiter bekanntmachte) auch andere Politiker genannt, u. a. Talleyrand (1754 – 1838), Chateaubriand (1768 – 1848), Hippolyte Philibert Passy (1793 – 1880), Prosper Duvergier de Hauranne (1798 – 1881). Der Temps stellte in einem satirischen Artikel am 24. 12. 1838 fest, daß die führenden Männer der Regierung unter „le roi règne . . .“ ganz Unterschiedliches verstünden; der Journal des Débats sprach gar von der „majestueuse imbécillité“ des Axioms. Vgl. a.: Kl. v. Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, 1970, S. 112 – 114; André Jardin, Histoire du libéralisme politique. De la crise de l’absolutisme à la constitution de 1875, Paris 1985, S. 328 f., 345; Pierre Rosanvallon, La Monarchie impossible. Les Chartes de 1814 et de 1830, Paris 1994, S. 156 – 158 (mit Varianten der Formel). [58] Zum persönlichen Regiment Wilhelms II. vgl. bes: Erich Eyck, Das persönliche Regiment Wilhelms II. Politische Geschichte des deutschen Kaiserreiches von 1890 bis 1914, Erlenbach-Zürich 1948; dazu, z. T. kritisch: Fritz Hartung, Das persönliche Regiment Kaiser Wilhelms II. (1952), in: Ders., Staatsbildende Kräfte der Neuzeit, Berlin 1961, S. 393 – 413; Ernst Rudolf Huber, Das persönliche Regiment Wilhelms II. (1951), erweitert u. verbessert in: Ernst Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, Köln 1972, S. 282 – 310. Der Machtanspruch Wilhelms II., sich oft als „Unklarheit, Oberflächlichkeit, Sprunghaftigkeit“ (Hartung) erweisend und zu pein-

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Anmerkungen

lichen Reden u. faux pas führend (vgl. bes. das Interview mit der engl. Zeitung „Daily Telegraph“ v. 28. 10. 1908), kontrastierte mit seiner ziemlich weitgehenden Einflußlosigkeit und provozierte die Formel von der „Selbstausschaltung des Kaisers“. Die berechtigten Resümees lauten: „Es war das Verhängnis Wilhelms II. geworden, daß er aus der Fiktion des persönlichen Regiments hatte eine Tatsache machen wollen, ohne die dazu erforderlichen Anlagen zu besitzen“ (Hartung) und: „Nicht ein Überschuß an echter persönlicher Aktivität, sondern die durch rednerisches Gepränge vorgetäuschte Scheinaktivität, verbunden mit passivem Zurückweichen und Treibenlassen in der existentiellen Krisis war das Kennzeichen der Persönlichkeit des Monarchen“. (Huber). Vgl. a. Huber, Bd. III, S. 814 – 817; Bd. IV, S. 329 – 347. – In den Jahren 1894 – 1897 setzte sich Wilhelm II. mit seinen Vorstellungen aber des öfteren durch, vgl. W. J. Mommsen, Großmachtstellung und Weltpolitik 1870 – 1914. Die Außenpolitik des Deutschen Reiches, 1993, S. 123 – 139 („Die Ära des ungebremsten „persönlichen Regiments“ Wilhelms II.“); vgl. a.: Das persönliche Regiment. Reden und sonstige öffentliche Aeußerungen Wilhelms II. Zusammengestellt von W. Schröder, München 1907; Huber, Dok., II, S. 438 – 441; zur Vorgeschichte u. a. Gerhard Oestreich, Das persönliche Regiment der deutschen Fürsten am Beginn der Neuzeit, WaG, 1935, S. 218 – 237, 300 – 316; Ndr. in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969, S. 201 – 234. [59] Vgl. Lorenz v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, I, Der Begriff der Gesellschaft und die soziale Geschichte der französischen Revolution bis zum Jahre 1830 (zuerst 1850), Ausgabe Gottfried Salomon, 1921, S. 498 f., wo es u. a. heißt: „Indem es [= das staatsbürgerliche Verfassungsprinzip] das Königtum als das absolut Unverletzliche, und als die Quelle aller Staatsgewalten aufstellt, nimmt es der Volksvertretung das Recht, den Mißbrauch der Gewalt, welche es jenem dennoch gibt, zu ahnden, weil seine Unverletzlichkeit die Verletzung des Rechts zur Nichtverletzung macht; indem es den König die Verfassung beschwören und sie als ein Recht des Volkes anerkennen läßt, stellt es der Unverletzlichkeit der Krone die zweite Unverletzlichkeit der Verfassung entgegen; ein Recht, welches unverletzlich ist, und dessen Verletzung dennoch für den, der sie begeht, nicht als Verletzung eines Rechts verfolgt werden soll. Dieser Eckstein der konstitutionellen Verfassung ist daher in der Tat, um nicht zu sagen ein absoluter Widerspruch, so doch ein absolut unaufgelöster Gedanke. Kein menschlicher Scharfsinn ist scharf genug, um diesen Gegensatz begrifflich zu lösen, und juristisch eine Grenze zu ziehen, die links und rechts keinen Widerspruch mehr enthielte.“ Stein kommt jedoch zu dem Schluß, „daß eben dieses unlösliche Verschwimmen der feindlichen Elemente ineinander eben der wahre Charakter alles Lebendigen“ sei. Vgl. dazu Schmitt, Politische Theologie, Ausg. 1922, S. 53; Ausg. 1934, S. 76 – 78; VL, S. 309 f. [60] Klaus v. Beyme, S. 414, stimmt Schmitts These von der „innere(n) Logik des bürgerlichen Konstitutionalismus“ ausdrücklich zu und bemerkt noch: „In einigen Fällen hat das Budgetrecht sogar mehr bewirkt als ein vorübergehendes konstitutionelles Gleichgewicht der Kräfte zu wahren: Es wurde zum Kampfmittel für die Parlamentarisierung.“ Die Drohung mit der Budgetverweigerung wurde, wie v. Beyme an zahlreichen Beispielen S. 414 ff. zeigt, in vielen Staaten dazu benutzt, die Regierungen zur Parlamentarisierung zu nötigen. Zur Lage in Deutschland vgl. Anm. 81; S. 92. [61] Der Art. 60 der Verfassung des Deutschen Reichs v. 16. 4. 1871 lautete: „Die Friedens-Präsenzstärke des Deutschen Heeres wird bis zum 31. Dezember 1871. auf Ein Prozent der Bevölkerung von 1867. normirt, und wird pro rata derselben von den ein-

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zelnen Bundesstaaten gestellt. Für spätere Zeit wird die Friedens-Präsenzstärke des Heeres im Wege der Reichsgesetzgebung festgestellt.“ [62] Dazu u. a. auch: Dieter Storz, Kriegsbild und Rüstung vor 1914. Europäische Landstreitkräfte vor dem Ersten Weltkrieg, Herford 1992; Oliver Stein, Die deutsche Heeresrüstungspolitik 1890 – 1914. Das Militär und der Primat der Politik, Paderborn 2007; vgl. Anm. 72, S. 88 f. Auch: Fiedler, Millionenheere, S. 89 – 114. [63] Zum „System der langfristigen Bewilligungsgesetze“ u. zu den jeweiligen parlament. Auseinandersetzungen: Huber, IV, bes. S. 550 – 560; Deutsche Militärgeschichte, IV / 1, bes. S. 232 – 243; vgl. a. die Dokumente zum Septennatsstreit 1866 / 67: Huber, Dok., II, S. 402 – 413. [64] Schmitts Wendung vom „totalen Krieg“ in einer im Mai 1934 erschienenen Schrift überrascht; die Formel wurde in Deutschland erst durch Ludendorffs Buch „Der totale Krieg“, München 1935, geläufig. Mit einiger Sicherheit aber kannte Schmitt, der die Veröffentlichungen der Action Française stets aufmerksam verfolgte, das Werk von einem Wortführer der Bewegung, Léon Daudet (1867 – 1942): „La guerre totale“, Paris 1918, Nouvelle Librairie Nationale, 248 S.; zur Geschichte der Formel vgl. m. Hinweise in: FoP, S. 487, 499 f., 504 – 508. Vgl. inzwischen auch: Jean-Yves Guionar, L’Invention de la Guerre totale. XVIIIe-XXe siècle, Paris 2004, Edition du Félin. [65] Schmitt bezieht sich hier auf: Reichsarchiv, Der Weltkrieg 1914 bis 1918. Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I, 1930, S. 51: „Um im Interesse der Hauptoperation im Westen möglichst geringe Kräfte des Feldheeres für die Sicherung der Ostgrenze abzweigen zu müssen, wünschte er [=Schlieffen] durch Einführung der Kontrolle des Landsturmes – wie in Frankreich und Rußland – eine bereits im Frieden sorgfältig vorbereitete Organisation der gesamten waffenfähigen Bevölkerung des deutschen Ostens.“ – Das Landsturm-Edikt v. Friedrich Wilhelm III. v. 21. 4. 1813, entschärft durch eine Zusatzverordnung v. 17. 7. 1813 (beide Texte u. a. in: E. v. Frauenholz, Das Heerwesen des XIX. Jahrhunderts, 1941, S. 161 – 175; J. Schickel (Hrsg.), Guerrilleros, Partisanen. Theorie und Praxis, 1970, S. 41 – 68) basierte auf Entwürfen v. Neithardt v. Gneisenau (1760 – 1831): Denkschriften zum Volksaufstand von 1808 und 1811, 1936; vgl. u. a. a.: Georg Heinrich Pertz (1795 – 1876), Das Leben des Feldmarschalls Graf Neithardt v. Gneisenau, II, 1865, S. 112 – 142; H. v. Boyen, Erinnerungen, III, 1890, S. 316 – 327. Der Landsturm war 1813 nur von geringer Bedeutung, vgl. u. a.: M. Blumenthal, Der Preußische Landsturm von 1813, 1900; A. Franke, Das Landsturm-Edikt vom 21. April 1813 u. seine Durchführung in Schlesien, Diss. Breslau 1923; K. U. Meurer, Die Rolle nationaler Leidenschaft der Massen in der Erhebung von 1813 gg. Napoleon, Diss. Freiburg i. Br. 1954. Bereits das zweite Edikt v. 17. 7. 1813 implizierte mehr oder minder die Beendigung des für die preußische Monarchie riskanten revolutionären Experiments, dazu Dierk Walter, S. 298 ff.; zum Kontext: Carl Schmitt, Gespräch über den Partisanen (1965, mit Joachim Schickel), in: Ders., SGN, S. 619 – 42. – Zur späteren Entwicklung: Höhn, Sozialismus, II, S. 30 – 47, „Der Verrat des Bürgertums an der Idee des Volksaufstands durch Preisgabe seines Landsturmideals“. [66] Fritz Hartung, Staatsgefüge, S. 385, bemerkte zu dieser Erklärung v. Schlieffens und ihrer Deutung durch Schmitt kritisch: „ . . . alle Generalstabschefs, der Feldmarschall Moltke, Schlieffen, der jüngere Moltke, [haben sich] von der Politik geflissentlich ferngehalten [mit Ausnahme Waldersees], in konsequenter Fortführung der unpolitischen Haltung des preußischen Offizierskorps überhaupt. Wohl rechnete Schlieffen bei

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seinen Kriegsspielen gern mit weitaus größeren Truppenzahlen, als in Wirklichkeit zur Verfügung standen; aber er tat nichts, um eine entsprechende Verstärkung der Armee gegenüber der Abneigung des Kriegsministers durchzusetzen. Charakteristisch für ihn ist die von S. [Schmitt] S. 31 [hier S. 28] angeführte Niederschrift aus dem Jahre 1905, die das Nachlassen der militärischen Anstrengungen Deutschlands im Vergleich zu denen seiner Gegner, den Verzicht auf Ausbildung und Bewaffnung aller Brauchbaren ausdrücklich feststellt, aber sich mit dieser Feststellung begnügt und bei den Akten des Generalstabs geblieben ist. „Politische Führerqualität“ kann darin schwerlich erblickt werden.“ – Der von Schlieffen gebrauchte Begriff „Volk in Waffen“ war in Preußen zunächst auf die Landwehr gemünzt, vgl. Huber, I, S. 255; II, S. 862; später bezog er sich auf die Massenheere der allgemeinen Wehrpflicht, auf die „nation armée“. Berühmt wurde die Wendung durch das außerordentlich bedeutende Werk von Colmar Freiherr v. d. Goltz (1843 – 1916), Das Volk in Waffen. Ein Buch über Heereswesen und Kriegführung unserer Zeit, zuerst 1883, 4. Aufl. Berlin 1890; v. d. Goltz befaßt sich darin nur am Rande u. in wenigen Zeilen mit dem „geringere Beweglichkeit, Lebendigkeit und Frische“ erfordernden „Besatzungsdienst in den heimathlichen Festungen“, der Sache der „Landwehr-Truppen“ sei, so S. 26: der wohl entschiedenste Vertreter einer militärischen Professionalisierung spart sich sogar eine rhetorische Respektsbezeugung vor der Landwehr aus den Tagen Boyens. [67] Kriegsminister Julius von Verdy du Vernois (1832 – 1910; Minister v. 8. 4. 1889 – 4. 10. 1890) „war der einzige Inhaber dieses Amtes im Kaiserreich, der ernsthaft den Versuch zur vollen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht unternahm. Als Antwort auf den wachsenden Rüstungsvorsprung der sich gerade herausbildenden russisch-französischen Allianz, arbeitete er um 1890 einen Plan zur vollständigen Ausnutzung der deutschen Wehrkraft aus. Sein Ziel war es, unter Beibehaltung der dreijährigen Wehrpflicht den Reichstag auf dieses Programm festzulegen, was gleichbedeutend mit der endgültigen Durchsetzung des Äternats und einer scharf disziplinierten Wehrpflichtigenarmee gewesen wäre. Die große Mehrheit des Parlaments lehnte ein solches Ansinnen jedoch entschieden ab, und der obendrein ungeschickt taktierende Kriegsminister mußte schließlich seinen Hut nehmen. Statt dessen einigten sich Regierung und Reichstag im Juni 1890 darauf, daß die vollkommene Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht allein schon aus finanziellen Gründen heraus unmöglich sei, denn es herrschte eine schwere Wirtschaftskrise. Unter Führung des Zentrums war damit das Verdy-Programm gestoppt worden.“ So Stig Förster, Militär und staatsbürgerliche Partizipation. Die allgemeine Wehrpflicht im Deutschen Kaiserreich 1871 – 1914, in: Roland G. Foerster (Hrsg.), Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung, 1994, S. 55 – 70, 66. Da Verdy du Vernois die Zahl der Friedenseinheiten durch ein Militärgesetz ein für allemal festlegen lassen wollte, andererseits die Stärke der Truppenkörper durch jährlichen Budgetbeschluß, hätte seine Reform die Heeresstärke gänzlich der parlamentarischen Gewalt ausgeliefert (Verdy du Vernois vertraute, ziemlich illusorisch, auf stets siegreiche Wahlen), – vor allem deshalb lehnte Bismarck den Plan ab. Auch Moltke verwarf die Pläne, weil eine Heeresvermehrung die Homogenität der Armee beschädigen könnte (vgl. Eberhard Kessel, Moltke, 1957, S. 704 – 758). Vgl. a.: Huber, IV, S. 553 f.; Deutsche Militärgeschichte, IV / 1, S. 238 – 242; M. Geyer, Deutsche Rüstungspolitik 1860 – 1980, 1984, S. 53 f.; Stig Förster, Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-quo-Sicherung und Aggression 1870 – 1913, 1985, S. 28 – 36. – Zu Verdy du Vernois’ Reformideen vgl. Schmid, bes. S. 601 – 637; Stein, bes. S. 159 – 177.

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[68] Die Friedensresolution des Reichstages vom 19. 7. 1917, von den Mehrheitsparteien (Zentrum, Fortschrittliche Volkspartei u. Mehrheitssozialisten) am 16. 7. eingebracht, verlangte einen Verständigungs- und Versöhnungsfrieden, den wechselseitigen Verzicht auf gewaltsame Gebietserwerbungen und auf „politische, wirtschaftliche und finanzielle Vergewaltigungen“, wandte sich gegen „wirtschaftliche Absperrung“, forderte die „Freiheit der Meere“, einen „Wirtschaftsfrieden unter den Völkern“ und den Ausbau internationaler Rechtsorganisationen, betonte aber auch den Kampfeswillen des deutschen Volkes; vgl. Huber, V, S. 316 – 321, 327 – 330, 423 f.; der Text der Resolution bei Huber, Dok., II, S. 471. Huber schreibt: „Die Friedensresolution des Reichtages wollte mehr sein als eine politische Meinungsäußerung oder als eine Empfehlung des Parlaments an die Regierung. Mit ihr beanspruchte das Parlament vielmehr die verbindliche Aufstellung der Richtlinien für die Kernfragen der Außenpolitik . . . (mit ihr) versuchte die Parlamentsmehrheit, sich zum selbständigen, durch den Interfraktionellen Ausschuß handelnden Regierungsorgan aufzuwerfen; sie war bestrebt, die Reichsregierung zu ihrem weisungsgebundenen Vollzugsorgan zu machen.“ (S. 318). Hermann Stegemann, 1870 – 1945, der große Historiker des Ersten Weltkrieges, bemerkte: „Die „Friedensresolution“ . . . wirkte besänftigend und festigend auf die deutsche Linke, verstimmend und erregend auf die Rechte und beruhigend und versöhnend auf die klein gewordene neutrale Welt, aber sie fand bei den „alliierten und assoziierten Mächten“ keinen günstigen Widerhall. Diese betrachteten sie als eine aus der Opposition hervorgegangene Kundgebung und deuteten oder mißdeuteten sie als ein Bekenntnis der Schwäche, das ihnen dazu diente, den Mut ihrer Völker zu stärken und die pazifistischen Bestrebungen zu unterdrücken.“ (Erinnerungen, 1930, S. 381). Vgl. a. Schmitt, VL, S. 336. Vgl. a. Arthur Rosenberg (1889 – 1943), Die Entstehung der Deutschen Republik 1871 – 1918 (zuerst 1928), in: Ders., Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, Ausg. 1962, „Die Reichstagsmehrheit der Friedensresolution“, S. 134 – 168, 258 – 261. H. Hofmann, S. 93, weist auf den Zusammenhang von Schmitts Kritik der Friedensresolution mit Spenglers Polemik hin: „Der 19. Juli 1917 ist der erste Akt der deutschen Revolution. Das war kein bloßer Wechsel der Führung, sondern, wie die brutale Form namentlich dem Gegner verriet, der Staatsstreich des englischen Elements, das seine Gelegenheit wahrnahm. Es war die Auflehnung nicht gegen die Macht eines Unfähigen, sondern gegen die Macht überhaupt. Unfähigkeit der Staatsleitung? Hatten diese Gruppen, in denen nicht ein Staatsmann saß, nur den Splitter im Auge der Verantwortlichen gesehen? Hatten sie statt der Fähigkeiten, die sie nicht bieten konnten, in dieser Stunde etwas andres einzusetzen als ein Prinzip? Es war kein Aufstand des Volkes, das zusah, ängstlich, zweifelnd, obwohl nicht ohne jene michelhafte Sympathie mit allem, was gegen die da oben ging, es war eine Revolution in den Fraktionszimmern . . . Es waren die Epigonen der Biedermeierrevolution von 1848, die Opposition als Weltanschauung betrachteten, und die Epigonen der Sozialdemokratie, denen die eiserne Hand Bebels fehlte . . .“. (Spengler, Preußentum und Sozialismus (1919), in: Ders., Politische Schriften, Ausg. 1934, S. 7 f.). – Zur wechselhaften, recht komplizierten Haltung Max Webers ggü. der Friedensresolution vgl.: Mommsen, Max Weber u. die deutsche Politik 1890 – 1920, Ausg. 1974, S. 278 – 283, 285 f., 521 f. [69] Der RT forderte am 26. 6. 1890 in Resolutionen die Reichsregierung auf, die aktive Dienstzeit auf zwei Jahre zu begrenzen; der preuß. Kriegsminister Hans v. Kaltenborn-Stachau (1836 – 1898; Minister 4. 10. 1890 – 19. 10. 1893) brachte die entsprechende Militärvorlage am 23. 11. 1892 im RT ein. „Die Verkürzung der Dienstzeit machte schon

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bei gleichbleibender Heeresstärke eine erhebliche Erhöhung der Zahl der jährlich einzustellenden Rekruten möglich; daraus ergab sich auf längere Dauer ein starkes Anwachsen der Zahl der ausgebildeten Reserven.“ (Huber, IV, S. 554). Zugleich kam es zu einer Erhöhung der Friedenspräsenzstärke um 72.037 Mann, sodaß die Gesamtstärke auf ca. 600.000 Mann stieg. Für Kavallerie, Artillerie und Marine blieb es bei der dreijährigen Dienstzeit. – Während Schmitt die Herabsetzung der Dienstzeit als ein Zeichen für das Zurückweichen des Militärstaates ggü. dem Liberalismus zu deuten scheint, muß sie doch eher im Zusammenhang mit dem zw. 1890 und 1893 relativ ernsten Bemühungen um Aufrüstung und Heeresvermehrung gesehen werden, – so unzureichend diese auch blieben. [70] Vgl. Ernst Jünger, Die totale Mobilmachung, zuerst in: Ders. (Hrsg.), Krieg und Krieger, Berlin 1930, S. 9 – 30, danach, z. T. verändert, zahlreiche Nachdrucke. Zur Entstehung u. Bedeutung der Formel u. a.: H. P. Schwarz, Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik bei Ernst Jünger, 1962, S. 83 – 87; M. Meyer, Ernst Jünger, 1990, S. 172 – 176; vgl. a. Carlo Galli, La mobilitazione totale, in: Ders., Modernità, Bologna 1988, p. 191 – 204. Schmitt sah die Formel als Hinweis auf das Heraufkommen des totalen Staates, vgl.: Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 79, auch in: PuB, S. 152. M. Jänicke, Totalitäre Herrschaft. Anatomie eines politischen Begriffes, 1971, bemerkt S. 41: „Wie der Begriff des „totalen Staates“, so hatte auch der Begriff der „totalen Mobilmachung“ bei Schmitt zunächst etwas Schillerndes. 1931 gebrauchte er ihn, ebenso wie den Begriff der „Politisierung“, eher im Sinne einer Selbstmobilisierung der pluralistischen Gesellschaft, nicht – wie bei Ernst Jünger – im Sinne einer Mobilmachung durch den Staat.“ – Nach Jüngers sicherlich zutreffender Überzeugung ging der Erste Weltkrieg für Deutschland verloren, weil es über keine einfache und große Idee verfügte und weil die Mittelmächte, aufgrund ihres Modernitätsrückstandes, zu einer wirklich totalen Mobilmachung außerstande waren. – Zum Sinn u. zu den Implikationen der Formel ab 1933, bes. unter kriegswirtschaftl. Gesichtspunkten: Bracher / Sauer / Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, 1960 ff.; III, Wolfgang Sauer, Die Mobilmachung der Gewalt, Tb.-Ausg. 1974, S. 165 – 93, 424 – 32. [71] Bereits am 11. 6. 1906 fand eine ähnliche Besprechung von Vertretern verschiedener Ministerien und Behörden statt; man gelangte jedoch zu dem Schluß, daß kriegswirtschaftliche Planungen relativ bedeutungslos wären, da der kommende Krieg nur kurze Zeit dauern könnte; als Obergrenze wurden meist 9 Monate angenommen; vgl.: Reichsarchiv, Der Weltkrieg 1914 bis 1918. Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I, 1930, S. 293 – 416, bes. S. 309 ff.; Anlagenband I, bes. S. 208 – 248 (Dok.); vgl. a. Lothar Burchardt, Friedenswirtschaft und Kriegsvorsorge. Deutschlands wirtschaftliche Rüstungsbestrebungen vor 1914, Boppard 1968, S. 16. Burchardts Buch bietet eine ausgezeichnete Übersicht über die meist unzureichenden deutschen Maßnahmen, vgl. bes. S. 242 – 250. Vgl. a. Clemens v. Delbrück (1856 – 1921), Die wirtschaftliche Mobilmachung in Deutschland 1914. Aus dem Nachlaß hrsg. v. J. v. Delbrück, München 1924; Fiedler, Millionenheere, S. 158 ff.; vgl. a. Schmid, bes. S. 668 – 692. [72] Karl v. Einem gen. v. Rothmaler (1853 – 1934), 1903 – 1909 Kriegsminister, antwortete damit auf einen Brief von Reichskanzler Bernhard Fürst v. Bülow (1849 – 1929), in dem dieser (vermutlich nicht wirklich ernsthaft gemeint, so Stein, S. 261 f.) Vorschläge zu einer erhöhten Heeresrüstung entwickelte; v. Einem war überzeugt, mit derartigen Forderungen im RT zu scheitern. Er hegte starke Bedenken gg. ein demokratisiertes Volksheer u. verwies gern auf die allgemein angenommene qualitative Überlegenheit der

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Anmerkungen

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deutschen Armee, die durch unbedenkliche Vergrößerungen nur gefährdet werden könne („Klasse statt Masse“). Zu v. Einem u. zur 1893 bis 1912 ungenügenden Landrüstung Deutschlands (z. T. auf die Kosten für die Marine zurückzuführen) vgl. Fritz Hartung, Deutsche Geschichte 1871 – 1919, 6. Aufl., 1952, S. 286 – 288; Hartung kritisiert, daß auch der Generalstab z. Zt. v. Schlieffens wenig unternahm, um die notwendigen Verstärkungen durchzusetzen. Doch wenn überhaupt, kamen solche Forderungen aus dem Generalstab, während die Kriegsminister (mit Ausnahme Verdy du Vernois’ 1893) Heeresverstärkungen meist skeptisch beurteilten, Aufrüstungsbestrebungen blockierten und ein Sich-Einlassen auf einen Rüstungswettlauf mit dem französisch-russischen Zweibund für aussichtslos hielten, vgl. Ritter, Staatskunst, II, S. 256 – 267; zum Zurückbleiben Deutschlands in der Rüstung: Deutsche Militärgeschichte, V, S. 36 – 39; Vgl. Anm. 62, S. 85. – Zu v. Einem vgl. Stein, bes. S. 244 – 252. [73] Während Scharnhorst und Boyen die umfassende Verantwortung des Kriegsministers für sämtliche Armeeangelegenheiten forderten u. größtenteils zugesprochen bekamen, wurde das Kriegsministerium, ansatzweise schon vor Wilhelm I., bes. aber unter ihm, zu einem bloßen Verwaltungsministerium, – eine Entwicklung, die auch Bismarck förderte, um die militärische Kommandogewalt vor parlamentarischen Einflußnahmen zu bewahren und die Armeeangelegenheiten vom übrigen Organismus des Staates getrennt zu halten. „ . . . dem Kriegsminister (oblag) vor allem die Vertretung des Heeresetats gegenüber dem Reichstag . . . Je stärker der Kriegsminister in diesen Abwehrkampf eintrat, desto stärker mußte er sich aus dem innerdienstlichen Leben des Heeres – dem eigentlichen Kommandobereich – entfernen.“ (Huber, Heer u. Staat, S. 326). Der Geschäftsbereich des Ministers wurde von mehreren Seiten aus bedroht und förmlich „zerrieben“ (Morsey), – Kaiser, Kanzler, Reichstag, preußischer Landtag, einzelstaatliche Kontingentsverwaltung, ganz abgesehen von Kompetenzkonflikten mit dem Militärkabinett u. dem Generalstab; vgl. u. a.: Frhr. Ludwig Rüdt v. Collenberg, Die staatsrechtliche Stellung des preußischen Kriegsministers von 1867 bis 1914, WuW, 8, 1927, S. 293 – 312; Heinrich-Otto Meisner, Militärkabinett, Kriegsminister und Reichskanzler zur Zeit Wilhelms I., FBPG, 50, 1938, S. 86 – 103; Ders., Der Kriegsminister 1814 – 1914. Ein Beitrag zur militärischen Verfassungsgeschichte, 1940 (dazu kritisch: F. v. Bronsart, Klarstellung zu dem Buch „Der Kriegsminister“ von H. O. Meisner, 1941); Huber, Heer und Staat, bes. S. 324 – 331; Morsey, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867 – 1890, 1957, bes. S. 226 – 241, sieht den Reichskanzler als „Reichskriegsminister“: „Da 1867 kein bundeseigenes, dem Kanzler und damit dem Parlament unterstehendes bzw. verantwortliches Kriegsamt geschaffen worden war, wie es die Nationalliberalen gefordert hatten, so gab es de facto zwei Kriegsminister: den Kanzler, der sich schon am 28. Sept. 1867 als für die Kriegs- und Marineverwaltung des Bundes dem Parlament gegenüber allein verantwortlich bezeichnete – und der sich später immer wieder als den im Reich für die Heeres- und Marineverwaltung allein verantwortlichen Minister hinstellte –, sowie den preußischen Kriegsminister, der als „Kontingentsminister“ der Hegemonialmacht in die Lücke trat.“ (S. 227); Morsey weist dabei auf Reden Bismarcks v. 28. 9. 1867 u. 5. 3. 1878 hin. [74] Die Kabinettsordre v. 8. 9. 1852 (Text in: Huber, Dok., II, Nr. 6, S. 9), von Friedrich Wilhelm IV. erlassen, „verpflichtete die Fachminister . . . , dem Ministerpräsidenten von allen wichtigen Ressortmaßnahmen vorher Kenntnis zu geben, die Ressortberichte an den König über den Ministerpräsidenten zu leiten und bevorstehende Immediatvorträge bei dem König gegenüber dem Ministerpräsidenten anzuzeigen, damit dieser bei den Vorträgen anwesend sein könne; nur die Immediatvorträge des Kriegsministers wa-

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Anmerkungen

ren bei dieser Regelung ausgenommen. Die wörtliche Beachtung dieser Ordre hatte sich im Lauf der Zeit angesichts der außerordentlichen Arbeitsbelastung des Ministerpräsidenten als unmöglich erwiesen. Doch war die Ordre in Geltung und auch insofern in Anwendung geblieben, als die Ressortminister sich bei der Leitung ihres Ressorts und der Ausübung ihres Immediatvortragsrechts von sich aus der Pflicht zur Loyalität gegenüber dem Ministerpräsidenten unterwarfen. In Angelegenheiten von staatspolitischer Bedeutung . . . , gaben die Minister dem Ministerpräsidenten von beabsichtigten Immediatberichten oder Immediatvorträgen rechtzeitig Kenntnis.“ (Huber, IV, S. 231 f.). Wilhelm II. machte Bismarck den unzutreffenden Vorwurf, er habe den Ministern Immediatvorträge bei ihm „verboten“ u. forderte die Aufhebung der Ordre, da sie die königliche Prärogative beschränke. Diese Aufhebung wies Bismarck zurück, weil sie eine einheitliche Politik erschweren bzw. unmöglich machen würde; der Streit um die Kabinettsordre v. 1852, die Bismarck selbst ändern sollte, war der Vorwand zu seiner Entlassung. Vgl. Huber, Dok., II, Nrn. 278 – 82, S. 415 ff.; Bismarck, Gedanken, S. 640 – 62; Ders., Erinnerung, S. 608 – 32 (mit gut begründeter Verteidigung der Kabinettsordre v. 1852, S. 650 – 54 bzw. 620 – 23); Huber, IV, S. 231 – 34. Vgl. a. Schmitt, Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, 1954, S. 18 f. [75] Diese Rede in: Bismarck, Die gesammelten Werke (Friedrichsruher Ausgabe), XIII, S. 209 – 222 u. in: Ders., Werke, VII, S. 432 – 460; ein Auszug in: Michael Stürmer (Hrsg.), Bismarck und die preußisch-deutsche Politik 1871 – 1890, München 1970, S. 223 – 225. Die Rede fand im Rahmen des Septennatsstreits v. 1887 statt; ein Kernpunkt war die Frage, ob aus dem „Kaiserlichen Heer“ (so die nicht präzise Ausdrucksweise Bismarcks) ein Parlamentsheer werden sollte, wie es Ludwig Windthorst (1812 – 1891) und Eugen Richter (1838 – 1906), die Chefs der Oppositionsparteien, implizit forderten. Bismarck ging in dieser Rede auch näher auf das kritische Verhältnis zwischen Deutschland u. Frankreich ein; vgl. a. Huber, IV, S. 150 ff., 549 – 553. [76] Wohl eine polemisch überspitzte Schlußfolgerung Schmitts aus dem von ihm ziemlich genau geschilderten Arrangement. Roon amtierte vom 21. 12. 1872 bis zum 9. 11. 1873 als preuß. Ministerpräsident, behielt jedoch sein Amt als Kriegsminister, das er am 1. 12. 1858 angetreten hatte. Um Roon zu entlasten, leitete Kameke während dieser Zeit das Kriegsministerium, blieb aber Roons „Vertreter“; Kriegsminister wurde Kameke am 9. 11. 1873 u. amtierte bis zum 3. 3. 1883. – Während des Roon’schen Zwischenspiels war Bismarck nur Außenminister. [77] Kameke, bei seinen Auseinandersetzungen mit dem RT um einen konzilianten Stil bemüht, „wurde von Bismarck in einer Immediateingabe schwächlicher Nachgiebigkeit beschuldigt“, als er „sich im Reichstag zu gewissen Konzessionen hinsichtlich der kommunalen Steuerfreiheit des Offizierskorps bereit zeigte, um dafür ein Militärpensionsgesetz durchzusetzen.“ (Ritter, Staatskunst, II, S. 150). Bismarck warf Kameke vor, die monarchische Kommandogewalt dem Parlament ggü. „nicht ausreichend gewahrt“ (so Kessel, S. 450) zu haben; Wilhelm I. forderte den Minister auf, im RT „zu erklären, daß er in Armeeangelegenheiten nur über Verwaltung und Gesetzgebung mitzusprechen habe, in Kommandoangelegenheiten stehe ihm eine Einwirkung irgendwelcher Art nicht zu. Kameke widerstand und mußte gehen . . .“ (Messerschmidt, S. 294). Gegen ihn wandten sich auch Alfred Graf v. Waldersee (1832 – 1904), Chef d. Generalstabes u. Emil v. Albedyll (1824 – 1897), Chef des Militärkabinetts: die beiden Freunde sahen ihren Machtbereich von Kameke bedroht. Im Zusammenhang der Auseinandersetzungen nahm auch Albrecht v. Stosch (1818 – 1896), Chef d. Admiralität, seinen Abschied. Vgl.

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Anmerkungen

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die Studie von Eberhard Kessel, Die Entlassung von Kameke und Stosch im Jahre 1883. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen militärischen Institutionen, in: Forschungen zu Staat und Verfassung – Festgabe für Fritz Hartung, 1958, S. 441 – 458; Messerschmidt S. 235 ff., 294 ff.; zu Bismarck-Kameke a.: Morsey, S. 231 ff. Ausführlich zu Kameke: Schmid, bes. S. 110 – 122, 143 – 150. [78] Schmitt bezieht sich damit polemisch auf eine These von Erich Kaufmann (1880 – 1972): „Nicht die „Gemeinschaft frei wollender Menschen“, sondern der siegreiche Krieg ist das soziale Ideal: der siegreiche Krieg als das letzte Mittel zu jenem obersten Zweck.“ (Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus, 1911, S. 146). Kaufmanns Einwand galt einem Satz von Rudolf Stammler (1856 – 1938); als das „oberste Ziel“ wurde die Teilnahme an der Weltgeschichte u. die Selbstbehauptung innerhalb ihrer betrachtet. Vgl. Schmitts frühere kritische Bemerkungen zu Kaufmanns Behauptung in: Der Begriff des Politischen (1927), in: FoP, S. 198; Buchausgabe 1932, S. 21; 1963, S. 33 f. Huber wandte hierzu ein: „Nicht weil Bismarck „Erfolg“ gehabt hatte, sondern weil er dem Bürgertum nunmehr als Vollstrecker der „Ideen des Nationalvereins“ erschien, trat die Mehrheit der Liberalen unter seine Führung. Nicht der „siegreiche Krieg“ schlechthin, wie Carl Schmitt in kritischer Anspielung gemeint hat, sondern die im Kampf errungene Nationaleinigung war das „soziale Ideal“ des liberalen Bürgertums zwischen Olmütz, Königgrätz und Versailles“, so Huber, III, S. 369. Zu Kaufmanns Diktum vgl. a.: Hermann Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, 1921, S. 208; Staatslehre, 1934, S. 219; jetzt in: Ders., Gesammelte Schriften, Leiden 1971, I, S. 237; III, S. 329; vgl. a. Schmitt, Antworten in Nürnberg, 2000, S. 43 f., 53, 56. [79] Dazu auch: Pierre Renouvin, Les Formes du Gouvernement de Guerre, Paris 1926; Sir William Robertson, Soldiers and statesmen 1914 – 1918, London 1926, dt. Ausg.: Soldaten und Staatsmänner 1914 – 1918, Berlin 1927; Otto v. Moser, Die obersten Gewalten im Weltkrieg. Das Werk der Staatsmänner, Heerführer, Parlaments-, Presseund Volksführer bei der Entente und bei den Mittelmächten, Stuttgart 1931; Werner Frauendienst, Unter der Diktatur Clemenceaus, BMH, 1934, S. 398 – 407; LieutenantColonel Charles Bugnet, Drei Diktaturen. Der Kampf um die Kriegsführung in Frankreich 1914 – 1918, Berlin 1938, aus dem Französ., bes. S. 289 – 373, „Clemenceau oder die Diktatur der Regierung“; U. Kessler, Wehrmachtführung bei der Entente im Weltkriege, ZgStW, 1938, S. 219 – 246; J. Cl. King, Generals and Politicians. Conflict between France’s High Command, Parliament and Government 1914 – 1918, Univ. of California Press 1951; Ritter, Staatskunst, II, S. 35 – 43, 347. – Ritter scheint zunächst der von Schmitt zurückgewiesenen These Bourgets (vgl. o., S. 35) zuzustimmen, indem er schreibt: „Rein organisatorisch wird eine parlamentarische Republik niemals die Geschlossenheit der obersten Führung erreichen können wie eine Monarchie, vollends wie eine Militärmonarchie nach Art der preußisch-deutschen. Darüber war man sich denn auch vor 1914 auf den französischen Seite ebenso klar wie auf deutscher.“ Danach verdeutlicht er jedoch, daß auf deutscher Seite „von einheitlich politisch-militärischer Kriegsführung keine Rede war und die Gegensätze zwischen politischen und militärischen Instanzen die Regierung des Reiches, ja zuletzt die Einheit der Nation selber gesprengt haben [was] die größte Überraschung der Jahre 1914/18 [war].“ In Frankreich, so zeigt Ritter, war die Lage freilich kaum besser: Das Heer wurde immer wieder Opfer unterschiedlichster und gegensätzlichster Einflußnahmen und Intrigen von Partei-Poli-

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tikern wie von politisierenden hohen Offizieren, – es war die außergewöhnliche Energie Clemenceaus, die „die ermattende Nation zu immer neuen Anstrengungen fort[riß].“ [80] Anspielung auf den Konflikt zw. Reichskanzler v. Bethmann Hollweg (1856 – 1921) u. Generalstabschef Erich v. Falkenhayn (1861 – 1922), der, nach Mißerfolgen Falkenhayns (u. a. Verdun) u. aufgrund des allgemeinen Vertrauens in Hindenburg, mit Falkenhayns Entlassung (29. 8. 1916) u. Hindenburgs Ernennung endete; vgl.: H. v. Zwehl, Erich von Falkenhayn. General der Infanterie, 1926, bes. S. 208 – 27; Karl Heinz Janßen, Der Wechsel in der Obersten Heeresleitung 1916, VZG, 4 / 1959, S. 337 – 71; Ders., Der Kanzler und der General. Die Führungskrise um Bethmann Hollweg und Falkenhayn (1914 – 1916), 1967 (vgl. dazu die Rez. von Erich Dombrowski, FAZ, 31. 12. 1966 u. von Werner Richter, Die Zeit, 11 / 1967); Heinz Kraft, Das Problem Falkenhayn. Eine Würdigung der Kriegsführung des Generalstabchefs, WaG, 1962, S. 49 – 78; Huber, V, bes. S. 204 – 213; Ritter, Staatskunst, III, bes. S. 216 – 249, 627 – 634. [80a] Diese Ausgabe des erstmals 1896 erschienenen Werkes von Adhémar Esmein (1848 – 1913), das ab der 6. Auflage von Henry Nézard (geb. 1875) weitergeführt und ergänzt wurde, war uns nicht erreichbar. Vermutlich ähnelt die von Schmitt gemeinte Passage den S. 159 – 162 der 8. Auflage, Bd. II, Paris 1928 (Sirey). [81] „In deutschen Parlamenten blieben die Ereignisse des preußischen Verfassungskonflikts ein Trauma, das dazu führte, daß das Budgetrecht nicht einmal in dem Maße als politisches Druckmittel gegenüber der Regierung benutzt wurde, in dem es legal möglich gewesen wäre“, schreibt Klaus v. Beyme, S. 416, u. verweist auf: Peter Molt, Der Reichstag vor der improvisierten Revolution, 1963, S. 26. Zur Lage außerhalb Deutschlands vgl. Anm. 60; S. 84. [82] Der auf Verlangen Stresemanns (RT-Rede v. 29. 3. 1917) am 30. 3. 1917 eingesetzte „Ausschuß für die Prüfung verfassungsrechtlicher Fragen, insbesondere der Zusammensetzung der Volksvertretung und ihres Verhältnisses zur Regierung“ (gemeinhin „Verfassungsausschuß“ genannt) forderte u. a. die Parlamentarisierung des Regierungssystems, die Permanenz des RT während des Krieges, die Verstärkung der Abgeordneten-Immunität, die Verpflichtung des Kaisers u. der Kontingentsherren, die Ernennung u. Entlassung von Offizieren nur nach Gegenzeichnung des dem RT ggü. verantwortlichen Kriegsministers vorzunehmen wie überhaupt eine parl. Kontrolle der militärischen Kommandogewalt; detailliert dazu: Huber, V, S. 140 – 151. Dem Kaiser gelang es, die Reichsregierung zum Widerspruch gg. diesen Angriff auf die Kommandogewalt zu veranlassen; die Regierung verwies auf die Absicht Preußens, „einer Beschränkung der kaiserlichen Kommandogewalt in jedem Fall im Bundesrat die verfassungsrechtlich erforderliche Zustimmung zu verweigern“; vgl. a. Huber, Heer u. Staat, S. 438 f. – Zum Verfassungsausschuß: Eugen Schiffer (1860 – 1954), Der Verfassungsausschuß und seine Arbeit, Berlin 1917; vgl. a. Max Webers Vortrag v. 8. 6. 1917, Was erwartet das deutsche Volk vom Verfassungs-Ausschuß des deutschen Reichstages?, in: Weber, Zur Politik im Weltkrieg, Studienausgabe 1988, S. 345 – 347, 403 – 404 (Bericht). Vgl. a.: M. Rauh, Die Parlamentarisierung d. Dt. Reiches, 1977, S. 365 – 84. [83] Schmitts Einschätzung, daß Graf Hertling u. Prinz Max v. Baden „bereits parlamentarische Minister“ gewesen seien, ist zu bezweifeln. Hertling lehnte eine weitergehende Parlamentarisierung aus föderalistischen Gründen ab, weil der Art. 9 Abs. 2 der Verfassung von 1871 gebot, daß Reichstagsabgeordnete nicht dem Bundesrat angehören dürften (vgl. Huber, V, S. 398 – 400); vgl. dazu die Kritik Max Webers, Die Abänderung

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des Artikel 9 der Reichsverfassung, Frankfurter Zeitung, 8. 9. 1917, Ndr. u. a. in: Weber, Gesammelte Politische Schriften, 3. Aufl. 1971, S. 222 – 25; Ders., Gesamtausgabe, 1984, I / 15, S. 310 – 13; Ders., Zur Politik im Weltkrieg, Studienausgabe 1988, S. 137 – 39; dazu: Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890 – 1920, 2. Aufl. 1974, S. 191 – 94. Weber wollte mit seinen Forderungen der Situation ein Ende machen, daß „zwischen Bundesrat und Reichstag nur wie zwischen zwei gegnerischen Mächten“ verhandelt werden könne, man darf aber seine Forderung in Zusammenhang bringen mit der von ihm energisch verlangten Parlamentarisierung. Hertling hingegen war noch Ende Sept. 1918 zum Widerstand gg. die Forderung der Mehrheitsparteien nach vollständiger Parlamentarisierung entschlossen. Gestürzt wurde er schließlich durch die OHL, die am 28. 9. 1918 ebendiese Forderung erhob, um zu einem aussichtsreicheren Waffenstillstandsersuchen zu kommen und durch eine „Revolution von oben“ eine von unten zu verhindern, vgl. Huber, V, S. 528 – 31. – Max v. Baden äußerte sich öfters kritisch zu einer durchgehenden Parlamentarisierung, wenn auch die These, er habe nur eine „unvollkommene“ durchgeführt, überspitzt erscheint; vgl. Klaus v. Beyme, Die parlamentarischen Regierungen in Europa, 1970, S. 252 – 62. Mit zu großem Aplomb erklärt Arthur Rosenberg: „Die Parlamentarisierung Deutschlands ist nicht vom Reichstag erkämpft, sondern von Ludendorff angeordnet worden. – Diese Art von Revolution ist in der ganzen Weltgeschichte ohne Beispiel.“ (in: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, zuerst 1928 / 35, Ausg. 1962, I, S. 212). – Zur Regierung von Georg Graf v. Hertling (1843 – 1919), Reichskanzler 1. 11. 1917 – 3. 10. 1918: Karl Graf v. Hertling, Ein Jahr in der Reichskanzlei. Erinnerungen an die Kanzlerschaft meines Vaters, 1919; Der Interfraktionelle Ausschuß 1917 / 18. Bearbeitet von Erich Matthias unter Mitwirkung von Rudolf Morsey, 2 Bde., 1959 – 1962; Udo Bermbach, Vorformen parlament. Kabinettsbildung in Deutschland,1967; Horst Gies, Die Regierung Hertling u. der Parlamentarismus in Deutschland 1917 – 1918, Der Staat, 1974, S. 471 – 96; Huber, V, S. 388 – 534. – Zur Regierung von Prinz Max v. Baden (1867 – 1929), Reichskanzler 3. 10.-9. 11. 1918: Kuno Graf Westarp, Die Regierung des Prinzen Max v. Baden und die Konservative Partei, 1921; Prinz Max v. Baden, Erinnerungen und Dokumente, 1927 (gekürzte Ausg. 1968); Alfred Niemann, Revolution von oben – Umsturz von unten, 1927; E. Matthias / R. Morsey, Bearb., Die Regierung des Prinzen Max v. Baden, 1962; Th. Eschenburg, Prinz Max v. Baden, in: Ders., Die improvisierte Demokratie, 1963, S. 97 – 109; Huber, V, S. 535 – 669. – Zu d. Regierungen v. Hertling u. Max v. Baden a.: M. Rauh, Die Parlamentarisierung d. Dt. Reiches, 1977, S. 407 – 69. [84] Die am 26. 10. 1918 beschlossenen verfassungsändernden Gesetze, in Kraft tretend am 28. 10. 1918, „besiegelten das Ende des deutschen Reichskonstitutionalismus“ (Huber) u. führten zur Parlamentarisierung der Reichsregierung u. zur beinahe vollständigen Unterstellung d. militärischen unter die zivile Gewalt, ebenso zur Aufhebung des preuß. Dreiklassenwahlrechts. Nach diesen „Oktoberreformen“ mußte der Reichstag an Kriegserklärungen beteiligt werden, wurde der Abschluß von Friedens- u. anderen Verträgen an die Zustimmung von Reichstag u. Bundesrat gebunden, benötigte der Kanzler das Vertrauen des Reichstages und war ihm und dem Bundesrat verantwortlich, – ebenso wie er für alle polit. Handlungen des Kaisers, also auch für Akte der Kommandogewalt, verantwortlich war. Mitglieder des Reichstages verloren nicht mehr – wie bis dahin – mit der Annahme eines Staatsamtes ihr Mandat; Ernennungen, Versetzungen, Verabschiedungen usw. von Offizieren benötigten die Gegenzeichnung des Kanzlers, nicht minder die vom Kaiser vorzunehmende Besetzung hoher Kommandostellen. Diese Verfassungsreformen waren sowohl Ergebnis innerpolitisches Drucks als auch der bereits

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Anmerkungen

erwähnten Forderungen der OHL (über die sich Schmitt bezeichnenderweise ausschweigt); von Bedeutung war auch die dritte Wilson-Note v. 23. 10. 1918. Zu den Details und zum Kontext u. a.: Hugo Preuß, Die Improvisierung des Parlamentarismus, Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 26. 10. 1918, Ndr. in: Ders., Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926, S. 361 – 64; F. Schiller, Die Einführung des parlament. Regierungssystems im Deutschen Reich während des Krieges, Diss. Tübingen 1924; J. V. Bredt (Hrsg.), Der deutsche Reichstag im Weltkrieg (Die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918), Berlin 1927 (Dok.); Schmitt, VL, S. 337; Huber, Heer u. Staat, S. 440 – 42: „Die alte monarchische Verfassung war damit nicht nur revidiert, sie war in ihrem Kern, der selbständigen Wehrordnung und der unabhängigen Kommandogewalt, zerstört worden. Das Gesetz vom 28. Oktober 1918 trug daher nicht verfassungsändernden, sondern verfassungsvernichtenden Charakter. Es war kein Akt der Verfassungsreform, sondern ein Vorgang der (wenn auch „legalen“, d. h. die Gesetzesform benutzenden) Revolution. Da nun der innere Halt der monarchischen Verfassung beseitigt war, war der Weg zum illegalen Umsturz frei . . . Für das Verhältnis von Wehrordnung und Verfassung ergab diese geschichtliche Wende eine wesentliche Erkenntnis: So wie die politische Grundordnung aus der Wehrverfassung erwächst, so wird mit der Vernichtung der Wehrverfassung die politische Gesamtordnung zerstört. Die Wehrverfassung war der Bereich der deutschen Lebensordnung, der innerhalb eines Systems der fortschreitenden inneren Auflösung seine Integrität bewahrt hatte. Sie gab einem Volke, das durch Klassenkampf und Parteienstreit zersetzt war, die Kraft, sich im größten und opferreichsten aller Kriege vier Jahre hindurch gegen eine Welt von Feinden zu behaupten. . . . Mit dem Zusammenbruch der Wehrverfassung ging dem Volke jede Einheit und Ordnung verloren; es geriet außer Verfassung und versank im Chaos, im Umsturz und im Bürgerkrieg.“; vgl., neben den Hinweisen in Anm. 83: W. Frauendienst, Demokratisierung des deutschen Konstitutionalismus in der Zeit Wilhelms II., ZgStW, 1957, S. 721 – 46; K. Epstein, Der interfraktionelle Ausschuß u. das Problem der Parlamentarisierung 1917 – 1918, HZ, 1960, S. 562 – 84; Klaus v. Beyme, Die parlamentar. Regierungssysteme in Europa, 1970, bes. S. 258 ff. (betrachtet die Parlamentarisierung auch nach den Oktobergesetzen als „unvollkommen“); D. Grosser, Vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlament. Demokratie, 1970; E. Grundmann / C. D. Krohn, Die Einführung des parlament. Systems in Deutschland 1918, APZ, B 12 / 71, 20. 3. 1971, S. 25 – 40; H. Potthof, Bearb., Der Parlamentarisierungserlaß vom 30. September 1918, VZG, 3 / 1972, S. 319 – 32; Huber, V, bes. S. 576 f., 584 – 92; H. Boldt, II, 1990, bes. S. 212 f.; C. F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 8. Aufl., 1993, S. 165 f.; Huber, Dok., II, S. 482 – 86. – Über die „immanente Konsequenz des Konstitutionalismus“ die dazu führt, „das jeder militärische oder außenpolitische Mißerfolg einer vom Parlament unabhängigen Regierung innerpolitisch eine Machtausdehnung des Parlaments zur Folge hat“ schreibt Schmitt, mit Blick auf die deutsche Lage 1917 / 18, in: VL, S. 334 – 338. [85] Anschütz im „Nachtrag“ zu: Georg Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts. Nach dem Tode des Verfassers in siebenter Auflage bearbeitet von Gerhard Anschütz, 1919, S. 1030. Vgl. S. 53 f, Anm. 11. [86] Bethmann Hollweg war weit stärker „von der Gefahr der riesigen Macht Rußlands erfüllt . . . als von der Hoffnung auf einen inneren Zusammenbruch des Zarenreichs“ (Erwin Hölzle, Die Selbstentmachtung Europas. Das Experiment des Friedens vor und nach dem Ersten Weltkrieg, 1975, S. 238); er stützte sich auch auf den RußlandHaß der SPD, vgl. Egmont Zechlin: Bethmann Hollweg, Kriegsrisiko und SPD (1966), in: Ders., Krieg und Kriegsrisiko. Zur deutschen Politik im Ersten Weltkrieg, 1979,

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S. 64 – 94; in einem Telegramm v. 28. 7. 1914 hielt er es für eine „gebieterische Notwendigkeit, daß die Verantwortung für das eventuelle Übergreifen des Konflikts auf die unmittelbar Beteiligten unter allen Umständen Rußland trifft“ (ebd., S. 77). Max Weber äußerte sich nach Kriegsende in mehreren Reden zum Kampf Deutschland-Rußland: „Die Unvermeidlichkeit des Kriegs lag im Zarismus begründet. Der Krieg gegen den Zarismus war Deutschlands Beruf. Es hat den Zarismus zu Boden geworfen, Jahrtausende werden uns das danken.“ (5. 12. 1918). Am 2. 1. 1919 sagte Weber: „Der Krieg war ein guter Krieg. Sein Sinn war die Vernichtung des Zarismus, dieses Systems der ungeheuerlichen Menschenknechtung.“ Im Schlußteil der „Professorendenkschrift“ die Weber, Hans Delbrück, Max Graf Montgelas und Albrecht Mendelssohn Bartholdy am 27. 5. 1919 unterzeichneten und die am folgenden Tage als „Bemerkungen zum Bericht der Kommission der alliierten und assoziierten Regierungen über die Verantwortlichkeiten der Urheber des Krieges“ den Siegermächten überreicht wurde, heißt es: „Der Zarismus, mit welchem eine wirkliche Verständigung vollkommen ausgeschlossen war, bildete das furchtbarste System der Verknechtung von Menschen und Völkern, welches – bis zu diesem jetzt vorgelegten Friedensvertrage – jemals ersonnen worden ist. Nur als Verteidigungskrieg gegen den Zarismus hat 1914 das deutsche Volk, wie mit Recht namentlich die gesamte Sozialdemokratie damals erklärt hat, den Kampf einmütig und entschlossen aufgenommen. Auch heute, wo Deutschlands militärische Macht für immer vernichtet ist, halten wir diesen Abwehrkrieg für unvermeidlich.“ (Weber, Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918 – 1920, Studienausgabe, 1991, S. 121, 128, 111). – Die Wehrvorlage zur Heeresvermehrung 1913 begründete v. Bethmann Hollweg mit der bevorstehenden, unausweichlichen Auseinandersetzung zw. Slawen und Germanen, vgl. a.: Helmut Altrichter, Konstitutionalismus und Imperialismus. Der Reichstag und die deutsch-russischen Beziehungen 1890 – 1914, Frankfurt a. M. 1977, S. 68 – 100. Zum Anti-Rußland-Affekt von Marx und Engels („Volkskrieg gegen Rußland als den Hort der Reaktion“) wie auch von Bebel und Wilhelm Liebknecht vgl. Höhn, Sozialismus, I, S. 85 – 105, 109 – 118; III, 572 f. u. ö. – Zur „Russophobie“ der SPD vor 1914 vgl.: D. Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus, 1973, bes. S. 634 – 647 u. ö. [87] Bethmann Hollweg erklärte in seiner Rede am 4. 8. 1914 u. a.: „Meine Herren, wir sind jetzt in der Notwehr; und Not kennt kein Gebot! Unsere Truppen haben Luxemburg besetzt, vielleicht schon belgisches Gebiet betreten. Meine Herren, das widerspricht den Geboten des Völkerrechts. Die französische Regierung hat zwar in Brüssel erklärt, die Neutralität Belgiens respektieren zu wollen, solange der Gegner sie respektiere. Wir wußten aber, daß Frankreich zum Einfall bereit stand. Frankreich konnte warten, wir aber nicht! Ein französischer Einfall in unsere Flanke am unteren Rhein hätte verhängnisvoll werden können. So waren wir gezwungen, uns über den berechtigten Protest der luxemburgischen und der belgischen Regierung hinwegzusetzen. Das Unrecht – ich spreche offen –, das Unrecht, das wir damit tun, werden wir wieder gutzumachen versuchen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist. Wer so bedroht ist wie wir und um sein Höchstes kämpft, der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut!“ – Vgl. a.: v. Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege, I, 1919, S. 166 – 183. Immerhin stellte Bethmann Hollweg am 2. 12. 1914 fest, daß die belgische Neutralität eine „Maske“ gewesen sei und daß Belgien seine Neutralität ggü. England längst aufgegeben hatte, was ja den Tatsachen entsprach (vgl.: Sechs Kriegsreden des Reichskanzlers, Berlin 1916, S. 10 f., 17 ff.). Belgien ließ aber nicht nur die Seegrenze in verteidigungsun-

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fähigem Zustande, sondern auch die Landgrenze ggü. Frankreich. Zu Belgiens PseudoNeutralität vgl.: FoP, S. 88 f., 152 f. (Literaturhinweise); vgl. a. die relativ frühen Stellungnahmen von Karl Hampe (1869 – 1936) u. Walther Schoenborn (1883 – 1956) in: Otto Hintze u. a. (Hrsg.), Deutschland und der Weltkrieg, 1915, S. 348 – 92, 565 – 90. Bethmann Hollweg hat aber sein ,Schuldbekenntnis‘ nie widerrufen u. betonte dies auch ggü. dem Untersuchungsausschuß der neuen Nationalversammlung am 4. 11. 1919; bei seiner Erklärung vom 4. 8. 1914 soll es ihm auch um die Gewinnung der Sozialdemokratie „für die vaterländische Sache“ gegangen sein, vgl. Eberhard v. Vietsch, Bethmann Hollweg – Staatsmann zwischen Macht und Ethos, Boppard 1969, S. 208 f. – Helmuth Plessner bemerkte hingegen treffend: „Er [= Bethmann Hollweg] hatte nicht die Freiheit, seine Meinung zu sagen, sondern er war angewiesen, die Geschäfte zu führen. Wer zu den höchsten Entscheidungen und Würden gelangt, die der Staat zu vergeben hat, und dann noch glaubt, sich den Luxus der Gewissensharmonie des Rentiers leisten zu können, verdient vielleicht menschliches Mitleid, aber keinen Zoll mehr ernst genommen zu werden.“ (H. P., Grenzen der Gemeinschaft, 1924, S. 111. Zu Bethmann Hollwegs ,Schuldbekenntnis‘ erklärte Albrecht Erich Günther (s. S. 75 f., Anm. 48): „Die Zweifel an der Gerechtigkeit der deutschen Sache hatten ihren ersten Anknüpfungspunkt bereits in dem unseligen Worte Bethmann-Hollwegs von dem „Unrecht an Belgien“. Der erste Reichskanzler hatte damit eben seine Bürgerlichkeit dargetan, jenen zivilen Moralismus, der alle historische Magie abtötet. Von diesem Worte aus bis zur Friedensresolution von 1917 und der Ohnmacht der politischen Führung gegenüber der Obersten Heeresleitung zeigt sich überall, wie zivilistisch das Kaiserreich bereits geworden war. Andererseits brachte dieses Bürgertum jenen naiven Chauvinismus eines Clemenceau nicht hervor, dessen die Massendemokratien im Kriege bedürfen, wenn sie die königliche Autorität verloren und die cäsaristische Diktatur noch nicht erlangt haben. Von der „moralischen Abrüstung“ der Friedensresolution war es nur noch ein Schritt bis zu einer „Objektivität“, die auch die Schuldfrage als diskutabel ansah, – als ob die Kriegsschuldfrage jemals etwas anderes gewesen wäre, als ein propagandistisches Kampfmittel der Entente! Mit Staunen sieht man, daß Historiker und Politiker in Akten wühlen, und zwar nicht nur auf der Suche nach Propagandatricks, sondern in ernstem Bemühen um die Wahrheitsfindung!“ (S. 96). [88] Gustav Adolf Walz, 1897 – 1948, zunächst Richter in Stuttgart, habilitierte sich 1927 in Marburg; nach rechtsphilosophischen u. staatsrechtlichen Arbeiten wandte er sich dem Völkerrecht zu. Er lehrte 1933 – 38 in Breslau, bis Ende 1939 in Köln u. war danach Kommissar für die Universität Brüssel. Ab 1941 Hauptmann in Zagreb, wurde er 1943 Präsident der dortigen Deutschen Akademie. Sich früh zugunsten des Nationalsozialismus erklärend, übernahm er 1933, gemeinsam mit Curt Rühland (1891 – 1987) und Ernst Wolgast (1888 – 1959) die Leitung der „Zeitschrift für Völkerrecht“ u. gab, nach dem Tode von Fritz Stier-Somlo (1873 – 1933), das „Handbuch des Völkerrechts“ heraus. Seine völkerrechtlichen Auffassungen berührten sich z. T. stark mit denen Schmitts, etwa in seiner Kritik des Genfer Völkerrechts-„Betriebes“ (vgl.: Inflation im Völkerrecht der Nachkriegszeit , 1939) oder in der Bejahung der Großraumidee (vgl.: Völkerrechtsordnung und Nationalsozialismus, 1942). Als seine Hauptwerke darf man ansehen: Wesen des Völkerrechts und Kritik der Völkerrechtsleugner (1930) und: Völkerrecht und staatliches Recht. Untersuchungen über die Einwirkungen des Völkerrechts auf das innerstaatliche Recht (1933). In diesem Werk wird der Ansatz von Heinrich Triepels „Völkerrecht und Landesrecht“ (1899) weitergeführt und die Bedeutung

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der Transformation betont: völkerrechtliche Normen sind erst nach ihrer Transformation in innerstaatliches Recht anwendbar. Walz unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Schmitt, vgl. u. a. seine Briefe v. 28. 4. 1939 (zur Großraumordnung) u. v. 3. 9. 1941 (zu Englands maritimer Existenz), in: SGN, S. 367, 429 f.; auch Schmitts Eintrag zu Walz’ Tod in: Glossarium, 20. 12. 1948, S. 211. Trotz einiger bedeutender Arbeiten Walz’ scheint es noch keine Monographie über ihn zu geben. Neben den erwähnten Büchern und einer großen Zahl staatsrechtlicher u. völkerrechtspolitischer Aufsätze schrieb er u. a.: Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilosophie Fichtes, 1928; Vom Wesen des öffentlichen Rechts, 1928; Kritik der phänomenologischen reinen Rechtslehre Felix Kaufmanns, 1928; Volkstum, Recht und Staat, 1937; Artgleichheit und Gleichartigkeit. Die beiden Grundprobleme des Rechts, 1938; Nationalboykott und Völkerrecht, 1939; Neue Grundsätze des Volksgruppenrechts, 1940; Der Begriff der Verfassung, 1942. – Vgl. a. Stolleis, III, bes. S. 276 f., 320 ff., 381 – 87, 391 ff. [89 – 91] Die entsprechenden Artikel der Weimarer Reichsverfassung v. 11. 8. 1919 lauten: Art. 25: „Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß. – Die Neuwahl findet spätestens am sechzigsten Tage nach der Auflösung statt.“ (Dazu u. a. Schmitt, Reichstagsauflösungen (1924) u.: Einmaligkeit und gleicher Anlaß bei der Reichstagsauflösung nach Art. 25 der Reichsverfassung (1925), in: VA, S. 13 – 28; Schmitt, VL, S. 353 – 359; Anschütz, S. 195 – 201). – Art. 50: „Alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten, auch solche auf dem Gebiete der Wehrmacht, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister. Durch die Gegenzeichnung wird die Verantwortung übernommen.“ (Dazu: Anschütz, S. 304 – 308). – Art. 176: „Alle öffentlichen Beamten und Angehörigen der Wehrmacht sind auf diese Verfassung zu vereidigen. Das Nähere wird durch Verordnung des Reichspräsidenten bestimmt.“ (Dazu: Anschütz, S. 759 – 761, der S. 761 eigens auf die Ablehnung der These, daß man nur einer Person, nicht der Verfassung die Treue schwören könne, hinweist). [92] Die Wendung „absence du roi“ ließ sich in der ausgedehnten Literatur des französischen Royalismus nicht finden. Charles Maurras, 1868 – 1952, das Haupt der Action Française, benutzte gelegentlich die auf Anatole France, 1844 – 1924, zurückgehende Formel von der „absence de Prince“, die jedoch anders gemeint war: Die „République bourgeoise“ verfüge, ähnlich wie die „République aristocratique“, über keinen Chef. Vgl. Maurras, Enqueˆte sur la monarchie (1924), Ndr. Paris 1986, Editions du PorteGlaive, S. LXXXII, CXXV f. [93] Schmitt bekräftigt hier eine bereits sechs Jahre früher geäußerte Ansicht: „ . . . die Weimarer Verfassung ist in gewissem Sinne etwas Posthumes. Sie verwirklicht Forderungen, Ideale und Programme, die schon 1848 aktuell waren. Die liberal-rechtsstaatlichen Ideen dieser Zeit sind 1870 nur zum kleinen Teil bei der Neubegründung des Reiches in die Verfassung Bismarcks eingegangen. Im übrigen wurden sie zwei Generationen zurückgedrängt. Sie gelangten erst nur Verwirklichung, als im Jahre 1918 bei dem Zusammenbruch die Monarchie, der Gegner von 1848, verschwunden war, nicht, weil er innenpolitisch besiegt war, sondern weil eine außenpolitische, militärische Niederlage ihn von selbst beseitigte. Nach zwei Generationen siegten die Ideen von 1848 ohne Kampf. Es ist so, wie wenn ein junger Mann von 20 Jahren, der sich um ein gleichaltriges Mädchen bemüht hat, aber zugunsten eines Nebenbuhlers abgewiesen wurde, Jahrzehnte später die Witwe erringt. So mußte die Verwirklichung des liberalen Programms, die 1848, wenn sie erkämpft worden wäre, ein glänzender Sieg gewesen wäre, 1919, als

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sie den Erben des Zusammenbruches kampflos in den Schoß fiel, zu spät kommen. Das ist ein weiterer Grund für jenes Gefühl der Leere, jene Begeisterungslosigkeit, die man heute der Verfassung gegenüber empfindet.“ (Schmitt, Der bürgerliche Rechtsstaat, zuerst 1928, nach: SGN, S. 44 f.). Ähnlich äußerten sich Rathenau (1920), Waldemar Gurian (1932), Ernst Forsthoff (1933), Ernst Niekisch (1968); Schmitt selbst sprach gelegentlich von der Weimarer Verfassung als einem „Notbau“; vgl. SGN, S. 47, 51, 52; a. VL, S. 338. Die Rede vom „Notbau“ war damals gebräuchlich. [94] Friedrich Naumann (1860 – 1919) brachte am 31. 3. 1919 im Verfassungsausschuß d. Nationalversammlung einen am Ende scheiternden, sich gg. den Regierungsentwurf richtenden „Versuch volksverständlicher Grundrechte“, auch als „Volkskatechismus“ bezeichnet, ein, – „einen Inbegriff von Fundamentalsätzen, in denen die Grundgesinnung ausgedrückt und zugleich erzeugt werde, auf die der Staat sich gründe und in der er sich ständig erneuere. Ein Hauptanliegen Naumanns war, daß der Staat sich in diesem Grundbekenntnis sowohl als Kulturstaat wie auch und vor allem als Sozialstaat darstelle. Deshalb verlangte er, die „sozialökonomischen“ Grunderfordernisse der Zeit in das Grundrechts-System einzufügen, um auf diesem Weg zu einem „Verständigungsfrieden“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu kommen und das alte „individualistische Staatsrecht“ durch ein soziales Staatsrecht zu ersetzen . . . Wenn auch keine der damals oft ironisch zitierten Lapidarformeln Naumanns in den Weimarer Verfassungstext Eingang fand, so übte sein um die Verbindung des liberalen, des sozialen, des nationalen und des nationenverbindenden Prinzips bemühter Verfassungsvorschlag doch einen bedeutenden Einfluß aus. Insbesondere die starken sozialstaatlichen Momente, die das Weimarer Grundrechtssystem in seiner endgültigen Fassung auszeichneten . . . leiteten sich entscheidend aus Naumanns Vorstoß ab.“ (Huber, Friedrich Naumanns Weimarer Grundrechts-Entwurf. Der Versuch eines Modells der Grundwerte gegenwärtigen Daseins, FS Wieacker, 1978, S. 384 – 98, hier S. 387, 388.). Naumanns Versuch litt an sprachlichen Absonderlichkeiten und an mangelnder juristischer Präzision („Geheimpolitik gibt es nicht mehr!“ – „Jeder Deutsche ist Wertgegenstand der Nation, solange er seinem Volke würdig bleibt!“ – „Weltverkehr ist Lebensluft!“), sodaß man gerne von „politischer Aphorismensammlung“, „interfraktionellem Parteiprogramm“ u. ä. sprach, während seine Intentionen z. T. mit Verständnis aufgenommen wurden; Text d. NaumannEntwurfes in: Huber, Dok., IV, Ausg. 1991, Nr. 89. Vgl. u. a.: Otto Meißner, Die Reichsverfassung, 1919, S. 157 f.; Ders., Das neue Staatsrecht des Reichs u. seiner Länder, 1921, S. 220; v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre u. Wirklichkeit (1924), S. 288; Schmitt, VL, S. 162; Smend, Verfassung u. Verfassungsrecht (1928), in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968, S. 119 – 276, 267: „ . . . wenn [Naumanns] Grundrechtsentwurf als das unglückliche, halb liturgische Alterswerk, das es war, mit Recht abgelehnt ist, so ist dessen Grundgedanke doch im Vergleich mit der wesentlich technischen Verfassungstheorie von M. Weber und H. Preuß eine ungleich tiefere Einsicht.“; Wilhelm Ziegler, Die Deutsche Nationalversammlung 1919 / 1920 und ihr Verfassungswerk, 1932, S. 138 ff.; Schmitt, Grundrechte und Grundpflichten (1932), in: VA, S. 181 – 231, 194; Anschütz, S. 509 f.; W. Apelt, Geschichte d. Weimarer Verfassung, 1946, S. 296; Huber, V, S. 1198 f.: „Für die Juristen aller politischen Richtungen des Verfassungsausschusses war der Naumannsche Entwurf nicht mehr als der skurrile Beitrag eines originellen Außenseiters. Immerhin hatte Naumanns Parole, den wirtschaftlich-sozialen Problemen der Gegenwart nicht auszuweichen, einen nachhaltigen Erfolg . . . Vor allem gab sich aus dem Bestreben, das Grundrechtssystem gegenwartsgerecht fortzubilden, ein neues Grundrechtsverständnis: es entstand ein Grundrechtssystem, das nicht

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bloß staatsabwehrend den negativen Freiheitsraum der Einzelnen gegenüber dem Staats gewährleistete, sondern das zugleich staatsgestaltend das nationale Gesamtdasein in seinen positiven Erscheinungsformen, nämlich als Rechtsstaat, als Kulturstaat und als Wirtschafts- und Sozialstaat, neu zu bestimmen unternahm.“(S. 1199); Stolleis, III, S. 84. – Einen Überblick zur Diskussion in Weimar leistet: C. H. Ule, Über die Auslegung der Grundrechte, AöR, 1932, S. 37 – 123; außergewöhnlich schroff ist die Kritik des auf Weimar zurückblickenden Schmitt am Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung in: Staat, Bewegung, Volk, 1933, S. 26 f. [95] Auf die „dilatorischen Formelkompromisse“ des zweiten Hauptteils der WRV, bes. im dritten und vierten Abschnitt, die das Verhältnis des Staates zur Kirche und zur Schule regeln sollten (Art. 135 – 150) geht Schmitt näher ein in: VL, S. 31 – 36, 118. Hermann Heller (1891 – 1933), Genie und Funktionär in der Politik (zuerst 1930), Ndr. in: Probleme der Demokratie, 2. Reihe, H. 10, 1931, S. 57 – 68, bemerkte dazu kritisch (S. 66 f.): „Wenn gewisse deutsche Staatstheoretiker ironisch auf die Formelkompromisse der Weimarer Verfassung hinweisen und dabei namentlich das Verhältnis von Kirche zu Staat und Schule bezeichnen, so hätten sie die Verpflichtung [?], zu sagen, ob der ,höhere Dritte‘ im Deutschen Reiche katholisch, protestantisch, freidenkerisch oder wie er sonst diktieren könnte. Genau das gleiche gilt für die andern, im zweiten Hauptteil der Verfassung zweifellos vorhandenen dilatorischen Kompromisse. Glaubt jemand ernstlich, daß die Frage Liberalismus oder Sozialismus durch Dekrete eines diktatorischen Dezionismus zu lösen wäre . . . ?“ Man darf ernstlich glauben, daß Schmitt dies nicht ernstlich glaubte. – Der von Schmitt geprägte Begriff wurde auf interessante Weise aufgenommen von Ernst Rudolf Huber, vgl. Huber, III, S. 9 – 11, „Der Konstitutionalismus – ein echter oder ein dilatorischer Kompromiß“, mit Hinweisen auf Schmitt, VL, S. 53 ff., 114 ff., 288 ff., 303 ff., weil hier der Konstitutionalismus positiver beurteilt worden sei als in der vorliegenden Schrift; vgl. a. Huber, IV, S. 814 – 31, „Der Friedensschluß im Kulturkampf – ein dilatorischer oder ein konstruktiver Verfassungskompromiß?“ [96] Durch seinen ,Schulgebetserlaß‘ v. 16. 4. 1930 empfahl der nationalsozialistische Volksbildungsminister Thüringens Wilhelm Frick (1877 – 1946), den Lehrern die Einführung von 5 Schulgebeten, in denen von Gott die Befreiung des deutschen Volkes erbeten wurde; Anstoß bei Reichsinnenminister Joseph Wirth (1879 – 1956) erregten die Gebete 2 – 4 („Drum mach’ uns frei von Betrug und Verrat, mache uns stark zur befreienden Tat“ – „Ich glaube, Du strafst unserer Länder Verrat und segnest der Heimat befreiende Tat“ – „Ich weiß, daß Gottlosigkeit und Vaterlandsverrat unser Volk zerriß und vernichtete“). Wirths Forderung v. 22. 5. 1930, auf diese Gebete fortan zu verzichten, wurde vom thüring. Ministerpräsidenten Erwin Baum abgelehnt, sodaß der Staatsgerichtshof angerufen wurde. Dieser behauptete am 11. 7. 1930 die Verfassungswidrigkeit der Empfehlungen Fricks was die Gebete 2 – 4 betraf und stimmte dem Reichsinnenminister zur Gänze zu; vgl. Anschütz, S. 687 f., Huber, VII, S. 776 f. In der Entscheidung des Staatsgerichtshofes hieß es u. a.: „Aus Art. 148 Abs. 2 RVerf. und seiner Entstehungsgeschichte ergibt sich, daß die allgemeine Toleranz als Richtschnur für die Erteilung des Unterrichts in den öffentlichen Schulen festgelegt ist. Die Weisung, daß beim Unterricht die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden dürfen, richtet sich nicht nur an die Lehrer, sondern auch an die staatlichen Organe der Länder, deren Aufsicht das Schulwesen nach Art. 144 RVerf. unterstellt ist. Diese Weisung, die nicht nur eine unverbindliche Mahnung ist, vielmehr eine Pflicht begründet, erstreckt sich auf das gesamte Gebiet des Unterrichts. Es ist dem Lehrer nicht ver-

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sagt, Fragen der Religion, Geschichte, Politik usw. sachlich zu erörtern und zu ihnen Stellung zu nehmen. Es ist aber unzulässig, dies in einer Weise zu tun, die Andersdenkende – sowohl andersdenkende Schüler als auch Andersdenkende in der breiten Öffentlichkeit – als Herabwürdigung ihrer Anschauungen peinlich und schmerzlich empfinden, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Auffassungen Andersdenkender objektiv berechtigt sind und ohne Rücksicht auf das, was dem Lehrer subjektiv berechtigt erscheint“ (n. Anschütz, S. 687 f.). [96a] Der Art. 148 der Weimarer Verfassung lautete: „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. – Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, daß die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden. – Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen. Jeder Schüler erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung. – Das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden.“ Frhr. v. Freytagh-Loringhoven (1878 – 1942), Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, 1924, bemerkte zum Art. 148: „ . . . Art. 148 . . . bestimmt, daß in allen Schulen sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben sei. Daß für jeden, der völkisch empfindet, unter den heutigen Verhältnissen eine solche Zusammenstellung des Geistes des deutschen Volkstums mit dem Geiste der Völkerversöhnung einen Schlag ins Gesicht bedeutet, bedarf keiner Darlegung . . . Art. 148 schreibt vor, daß die Jugend im Geiste der Völkerversöhnung zu erziehen ist. So durfte ein Siegervolk sprechen. In unserem Munde ist es eine Würdelosigkeit sondergleichen.“ (S. 55, 390). Auf S. 55 wies v. Freytagh-Loringhoven auf ähnliche Stellungnahmen einiger Staatsrechtler hin: von Gerhard Anschütz (1867 – 1948), Conrad Bornhak (1861 – 1944), Hans Nawiasky (1880 – 1961) und Friedrich Giese (1882 – 1958). Von Interesse sind die Kommentare von eindeutigen Befürwortern der Weimarer Republik. So schrieb Anschütz noch 1926 in „Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919“, 3.-4. Aufl., S. 387 f.: „Wenn Abs. 1 dem Lehrer gebietet, die ihm anvertraute Jugend „im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung“ zu erziehen, so mutet er ihm zwei Aufgaben zu, die schwierig miteinander vereinbar sein dürften. Bei „Geist des deutschen Volkstums“ darf nicht in erster Linie an „Volkstümlichkeit“ in dem üblichen Sinne dieses Wortes gedacht werden, und auch das ist nicht die Hauptsache, daß „die Deutschkunde den wesentlichsten Bestandteil des Unterrichts zu bilden hat“ (so der Berichterstatter Abg. Weiß, Pl. S. 1675 B). Vielmehr fordert der Geist unseres Volkstums, allem andern zuvor, Erziehung der Jugend zur Deutschgesinnung, zum nationalen Selbstbewußtsein, zu nationalem Ehrgefühl. Im Namen dieses Ehrgefühls aber muß Widerspruch erhoben werden dagegen, daß die deutsche Jugend – jetzt – mit dem Willen zur „Völkerversöhnung“ erfüllt werden soll. Es ist unser nicht würdig, nach Versöhnung der Völker zu rufen, solange die Feinde von gestern, nachdem sie uns mit vereinten Kräften besiegten, auch heute noch in einer von Grund aus unversöhnlichen Gesinnung gegen uns verharren. Erst wenn diese Gesinnung schwindet, wenn das Unrecht, die Schande, die dem deutschen Volke durch den Frieden von Versailles angetan wurde, gesühnt und getilgt sind, erst dann wird unsererseits von Völkerversöhnung geredet werden können. Bis dahin haben in dieser Sache die andern das Wort, nicht wir, und bis dahin bedeutet eine Vorschrift, die es als Aufgabe unserer Schulen bezeichnet, für Völkerversöhnung zu wirken, einen Gewissenszwang gegen jeden Nationalgesinnten, sei er Lehrer oder Schüler.“

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Anmerkungen

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In der vierten Bearbeitung u. der 14. Aufl. seines berühmten Kommentars, 1933, formulierte Anschütz um einiges milder, wenn auch bei ähnlicher Stoßrichtung (S. 686 ff.). Hans Nawiasky, Die Grundfragen der Reichsverfassung, 1920, S. 19, sprach von „Verbeugungen vor den tönenden, scheinheiligen Phrasen unserer Feinde“. [97] Obgleich die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland beseitigt wurde durch das Versailler Diktat, Art. 173 („Die allgemeine Wehrpflicht wird in Deutschland abgeschafft. – Das deutsche Heer darf nur im Wege freiwilliger Verpflichtung aufgestellt und ergänzt werden.“) lautete der Art. 133 WRV: „Alle Staatsbürger sind verpflichtet, nach Maßgabe der Gesetze persönliche Dienste für den Staat und die Gemeinde zu leisten. – Die Wehrpflicht richtet sich nach den Bestimmungen des Reichswehrgesetzes. Dieses bestimmt auch, wieweit für Angehörige der Wehrmacht zur Erfüllung ihrer Aufgaben und zur Erhaltung der Manneszucht einzelne Grundrechte einzuschränken sind.“ Axel Frhr. v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, 1924, schrieb dazu: „ . . . ist die wichtigste der persönlichen Dienstleistungen, die Wehrpflicht, durch den Versailler Frieden und die zu seiner Ausführung ergangenen Gesetze beseitigt. Wenn Art. 133 trotzdem sagt, die Wehrpflicht richte sich nach den Bestimmungen des Reichswehrgesetzes, so ist das eine der vielen Unaufrichtigkeiten und Halbheiten der Verfassung. Würdiger und wirkungsvoller wäre es gewesen, wenn man dem Art. 133 Abs. 2 – oder besser der Bedeutung des Gegenstandes entsprechend einem besondern Artikel etwa folgende Fassung gegeben hatte: „Jeder Deutsche ist wehrpflichtig. Solange der Versailler Vertrag in Kraft steht, ruht die Wehrpflicht.” (S. 329). Hingegen meinte Schmitt, VL, S. 254: „Allgemeine gleiche Wehrpflicht, genauer: das Recht und die Pflicht jedes Staatsbürgers, nach Maßgabe seiner Eignung den Staat und seine Ordnung nach innen und außen mit den Waffen zu verteidigen. So wenig wie eine echte Demokratie ohne allgemeines Wahlrecht, gibt es eine echte Demokratie ohne allgemeine Wehrpflicht. Art. 133 RV. („Die Wehrpflicht richtet sich nach den Bestimmungen des Reichswehrgesetzes“) wahrt daher ein wesentliches Prinzip, denn er behält die Möglichkeit vor, daß jeder Deutsche nach Maßgabe des Gesetzes wehrpflichtig ist. Nach Art. 178 Abs. 2 RV. gehen aber die Bestimmungen des Versailler Vertrages vor (in dessen Art. 173 die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland abgeschafft wird). Die Durchführung jener demokratischen Einrichtung ist also verhindert, doch ändert diese völkerrechtliche Vertragsbestimmung, . . . nicht die deutsche Verfassung.“ Zum Verhältnis von Wahlrecht u. Wehrpflicht auch Schmitt, Starker Staat u. gesunde Wirtschaft (1932), in: SGN, S. 79. – Das Gesetz zur Abschaffung d. allgem. Wehrpflicht v. 21. 8. 1920, RGBl, 1920, S. 1608; das Wehrgesetz v. 23. 3. 1921, RGBl, I / 1921, S. 329 – 344; das Gesetz zur Änderung des Wehrgesetzes v. 18. 6. 1921, ebd., II / 1921, S. 787. – Zum Thema auch: St. Förster, Militär u. staatsbürgerliche Partizipation. Die allgemeine Wehrpflicht im Deutschen Kaiserreich 1871 – 1914, in: R. G. Förster (Hrsg.), Die Wehrpflicht, 1994, S. 55 – 70. [98] Vermutlich denkt Schmitt hier auch an die innerhalb der Deutschen Friedensgesellschaft agierende, äußerst radikale Gruppe „Das Andere Deutschland“, deren Wortführer Fritz Küster (1889 – 1966) die gleichnamige Zeitschrift herausgab (1921 – 1933, 1947 – 1969). Küster und seine Zeitschrift betrieben eine extreme Polemik gg. die Reichswehr, verteidigten das Versailler Diktat, veröffentlichten landesverräterische Enthüllungen über die illegale Aufrüstung, warnten vor deutschen ,Revanchevorbereitungen‘ u. ä.; innerhalb der Deutschen Friedensgesellschaft betrieb Küster eine machtbewußte und rücksichtslose Ellenbogen- u. Intrigenpolitik (vgl. Karl Holl, Pazifismus in Deutschland, 1988, S. 189 – 204). Ein entschiedener Pazifist wie Kurt Hiller (1885 – 1972) bezichtigte die Küster-Gruppe, ausländische Regierungsgelder empfangen zu ha-

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Anmerkungen

ben. – Vgl. Helmut Donat / Lothar Wieland (Hrsg.), Das Andere Deutschland. Eine Auswahl (1925 – 1933), Königstein / Ts. 1980; Stefan Appelius, Zur Geschichte des kämpferischen Pazifismus, Oldenburg 1988 (stark hagiographisch). [99] „Den Sinn des Übergangs von der Monarchie zur demokratischen Republik faßten die Zeitgenossen oft in der Formel „Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat“ zusammen . . . Die Formel bedeutete im damaligen Bewußtsein nicht die Negation der Obrigkeit; sie forderte vielmehr: Obrigkeit auf dem Fundament des Volksstaats. Die Staatsform der demokratischen Republik sollte das zur Ausübung der Staatsgewalt aufgerufene Volk in den Stand setzen, dieser verfassungsmäßigen Aufgabe folgend das Reich zur selbstbestimmten Herrschaftsordnung zu entwickeln.“ (Huber, VI, S. 29). Die Formel wurde besonders von Hugo Preuß (1860 – 1925) benutzt, der die Einrichtung des Volksstaates in Deutschland forderte, weil es sich mit seinem Obrigkeitsstaat (= auch Beamtenstaat) außenpolitisch und moralisch isoliere. „Der deutsche Staat kann aber nur zum Volksstaat werden, wenn das deutsche Volk innerlich zum Staatsvolk wird, was es nach seinen bisherigen Schicksalen noch nicht völlig geworden ist.“ (Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, 1915, S. 186); vgl. v. Preuß auch: Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?, Berliner Tageblatt, 14. 11. 1918, Ndr. in: Ders., Staat, Recht und Freiheit, 1926, S. 365 – 68 („ . . . die Ueberalterung des Obrigkeitsstaats war die Ursache seines Bankerotts und des gegenwärtigen Umsturzes; sie ist aber auch die Ursache, daß an seine Stelle noch keineswegs der Volksstaat getreten ist, sondern ein umgedrehtes Obrigkeitssystem. Im alten Obrigkeitsstaat hatte der Bürger sehr wenig, im gegenwärtigen hat er absolut gar nichts zu sagen . . . Nicht Klassen und Gruppen, nicht Parteien und Stände in gegensätzlicher Isolierung, sondern nur das gesamte deutsche Volk, vertreten durch die aus völlig demokratischen Wahlen hervorgehende deutsche Nationalversammlung, kann den deutschen Volksstaat schaffen. Sie muß ihn baldigst schaffen, wenn nicht unsagbares Unheil unser armes Volk vollends verelenden soll.“); Richard Schmidt (1862 – 1944), Volksstaat und Obrigkeitsstaat. Ein Rückblick und ein Ausblick, ZfP, III / 1925, S. 193 – 222, hielt Preuß’ u. Max Webers Kritik am deutschen Obrigkeits- bzw. Beamtenstaat für einseitig u. irreführend; der Volksstaat beruhe auf Leistungen, der Staatsmann habe sich nicht unbedingt um das Parlament zu kümmern, sondern möglichst alle Schichten zu gewinnen; der Volksstaat sei der „durch seine Leistungen alle Volksschichten versöhnende Staat“. „Für uns Deutsche . . . bringt die Tradition es mit sich, daß wir bei den Berufsbeamten die erprobteste Schulung zur Wahrung der Volksinteressen erwarten dürfen, und auch wir sind ein Volksstaat, solange das Berufsbeamtentum die von seinen größten Vertretern, von den schöpferischsten Persönlichkeiten des deutschen Staatslebens überhaupt bewährte Geistes- und Willenskraft aufbringt.“ (S. 221). Die Formel „Volksstaat“ wurde neu belebt durch die von Wilhelm Heile (1881 – 1969) und Walther Schotte (1886-?) hrsg. Broschürenreihe „Der deutsche Volksstaat – Schriften zur inneren Politik“, Buchverlag der „Hilfe“; in deren Rahmen erschienen u. a. von Max Weber, „Wahlrecht und Demokratie in Deutschland“ u. von Friedrich Naumann, „Der Kaiser im Volksstaat“, beides 1917; vgl. von Naumann auch: Auf dem Wege zum Volksstaat, 1917, u.: Der Weg zum Volksstaat, 1918. – Vgl. a.: B. Fluck, Obrigkeitsstaat u. Probleme der Demokratisierung im Zweiten Reich, Geschichte in Wissenschaft u. Unterricht, 1971, S. 462 – 74. [100] Diese Passagen wie der ihnen folgende Abschnitt 4, S. 43 ff. fassen Schmitts Kritik am Pluralismus und am ,quantitativen‘ totalen Staat zusammen; vgl. dazu, neben seinen in der Fn. 30 erwähnten Schriften: Staatsethik und pluralistischer Staat, Kantstu-

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Anmerkungen

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dien 1930, S. 28 – 42, Ndr. in: PuB, S. 133 – 45. Zum Thema: Thor v. Waldstein, Die Pluralismuskritik in der Staatslehre von Carl Schmitt, Diss. Bochum 1989, bes. S. 117 – 19. [101] Vermutlich bezieht sich Schmitt auf die S. 87, nicht auf die S. 97 seiner Schrift „Der Hüter der Verfassung“, Tübingen 1931; die S. 73 – 91, dort mit der Überschrift „Entwicklung des Parlaments zum Schauplatz eines pluralistischen Systems“, sind ein Nachdruck des Aufsatzes „Die Wendung zum totalen Staat“, Europäische Revue, VIII, H. 4, April 1931, S. 241 – 250, Nachdruck in: PuB, S. 146 – 157. – Mit „Europäische Revue, Februar 1933“ meint Schmitt seinen dort veröffentlichten Aufsatz „Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland“ (S. 65 – 70); Nachdruck in: VA, S. 359 – 366 (mit einer Nachbemerkung, S. 365 f.). – Die Broschüre von Paul Ritterbusch erschien unter dem Autorennamen Willi Ritterbusch, dazu Stolleis, III, S. 251; Schmitt bemerkte in: Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 1933, S. 31: „Paul Ritterbusch hat in seiner im November 1932 erschienen Schrift „Der Verfassungskompromiß von Weimar, das Experiment der Präsidialregierung und die nationalsozialistische Staatsidee“ die innere Verzweiflung dieses Entwicklungsstadiums des Pluralismus staatsrechtswissenschaftlich dargelegt.“ Schmitt meinte damit jetzt auch die Verzweiflung der „beiden, nur auf die Reichswehr und den preußisch-staatlichen Machtapparat gestützten, angeblich „autoritären“ Regierungen von Papen (Juni 1932 bis November 1932) und Schleicher (November 1932 bis Januar 1933)“, die „das politische Vakuum, nämlich den Mangel an politischer Führung nicht ausfüllen“ konnten! Es geht in diesen Texten, deren Diagnosen sich ähnelten, deren Folgerungen aber differierten (Ritterbusch sprach sich zugunsten des Nationalsozialismus aus, Schmitt warnte noch vor ihm), um den ,quantitativen‘ totalen Staat, den Staat, der, pluralistisch zerspalten, zum Ausbeutungsobjekt totaler Ideologien, Parteien und Organisationen wurde, die sich „immer nur am Negativen begegnen“: „Zwischen fünf organisierten Systemen, von denen jedes in sich total ist und jedes, konsequent zu Ende gedacht, das andere aufhebt und vernichtet, also z. B. zwischen Atheismus oder Christentum, gleichzeitig zwischen Sozialismus oder Kapitalismus, gleichzeitig etwa zwischen Monarchie oder Republik, zwischen Moskau, Rom, Wittenberg, Genf und Braunem Haus und ähnlichen inkompatiblen Freund-Feind-Alternativen, hinter denen feste Organisationen stehen, soll ein Volk mehrmals im Jahre optieren!“ (Weiterentwicklung, S. 69 bzw. 364). [102] Dazu Schmitt, Starker Staat und gesunde Wirtschaft (Vortrag beim LangnamVerein v. 23. 11. 1932, in dem es vor allem um den quantitativ totalen Staat aus Schwäche ging), in: SGN, S. 71 – 91, 78: „Wir haben wenigstens eine Insel in dem Meere der grenzenlosen Kompatibilitäten in Deutschland gerettet, und jeder Deutsche fühlt es heute, daß es die Rettung des Staates und Deutschlands selber war, daß wir sie gerettet haben: die vom Parteienstaat reingebliebene Reichswehr. Ihr ist es gelungen, der trüben Flut zu entgehen. Das kann ein ermutigendes Vorbild auch für das übrige deutsche Beamtentum werden. Denn es beweist, daß Unparteilichkeit und Staatsgesinnung trotz aller gegenteiligen parteipolitischen Ideologien doch noch möglich sind und keineswegs utopisch zu sein brauchen.“ Zur Politik der Reichswehr unter Seeckt: Seeckt, Die Reichswehr, Leipzig 1933; Otto-Ernst Schüddekopf, Das Heer und die Republik. Quellen zur Politik der Reichswehrführung 1918 bis 1933, Hannover u. Frankfurt a. M. 1955; Harold J. Gordon, The Reichswehr and the German Republic 1919 – 1926, Princeton 1957 (dt.: Die Reichswehr und die Weimarer Republik 1919 – 1926, Frankfurt a. M. 1959); Otto Geßler, Reichwehrpolitik in der Weimarer Zeit, Stuttgart 1958; Thilo Vogelsang, Reichswehr, Staat und

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Anmerkungen

NSDAP, Stuttgart 1962; Francis L. Carsten, Reichswehr und Politik. 1918 – 1933, Köln 1964; E. Kaulbach, Generaloberst Hans von Seeckt. Zur Persönlichkeit und Leistung, WwR, 12 / 1966, S. 666 – 681; Hans Meier-Welcker, Seeckt, Frankfurt a. M. 1967, bes. S. 524 – 558; Ders., Seeckt in der Kritik, WwR, 5 / 1969, S. 265 – 284; Huber, bes. Bde. VI u. VII; Deutsche Militärgeschichte, bes. Bd. VI; zur Loyalität und Überparteilichkeit der Reichswehr während der Krisenjahre der Weimarer Republik prägnant Huber, VI, S. 635 f. – Vgl. a. Eberhard Kessel (1907 – 86), Seeckts polit. Programm, in: FS Braubach, 1964, S. 887 – 914 sowie: Claus Guske, Das polit. Denken d. Generals v. Seeckt, Lübeck / Hamburg 1971. In einem Brief an Armin Mohler v. 23. 9. 1948, in dem Schmitt „Die Stellung der Reichswehr bis 1933 im Rahmen meiner Neutralisierungs-Konstruktionen“ erläuterte, heißt es: „Der letzte Versuch, der Reichswehr zu Hilfe zu kommen, ist meine Schrift: Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches (1934); hier . . . war die Neutralisierung aber schon in die Totalisierung umgeschlagen und der Versuch hatte etwas Verzweifeltes. Nicht der (neutrale) Staat, sondern die Partei vollzog die Totalisierung. Die meisten Menschen diesseits des eisernen Vorhanges haben heute noch nicht begriffen, daß der totale Staat eine höchst liberale Angelegenheit ist im Vergleich zur totalen Partei!“ (Mohler-Briefwechsel, S. 33). [103] Vgl. Schmitts „Der Hüter der Verfassung“, zuerst als Aufsatz in: AöR, März 1929, S. 161 – 237; danach als Buch, entsprechend erweitert: Tübingen 1931, Mohr-Siebeck, VIII / 159 S. (spätere Auflagen mit gleicher Paginierung). Schmitts Thesen über die Rolle des Reichspräsidenten wurden ab 1930 und dann im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1932 von einigen seiner Schüler, u. a. von Ernst Rudolf Huber, Ernst Forsthoff, Karl Lohmann u. Horst Michael in popularisierter Form verbreitet, vgl. dazu die damalige Literatur zum ,Preußenschlag‘ u. die Jahrgänge 1930 – 33 von Zeitschriften wie „Der Ring“ und „Deutsches Volkstum“, bes.: Horst Michael / Karl Lohmann, Der Reichspräsident ist Obrigkeit!, 1932. Schmitts Aufsatz bzw. Buch wurden lebhaft rezensiert wie auch grundsätzlich erörtert, z. T. im Zusammenhang mit Kelsens Polemik „Wer soll der Hüter der Verfassung sein?“, Die Justiz, 1930 / 31, S. 576 – 628; vgl. u. a.: Robert Venter, HL, 1929 / 30, S. 176 – 79; Mario Einaudi, La Riforma Sociale, Nov.-Dic. 1931, S. 640 – 44; Clemens Bauer, Kunstwart, 1930 / 31, S. 809 – 12; Fritz Stier-Somlo, AöR, 1932, S. 447 – 53; Dr. H. Sch., Fischers Zeitschrift f. Verwaltungsrecht, 1932, S. 123 – 29; Gottfried Salomon, WWA, 1932, 252 – 256; Friedrich Kühn, ZfP, 3 / 1932, S. 212 – 14; Eugen Schiffer, DJZ, 10 / 1932, S. 687; Fritz Morstein Marx, ZgStW, 1932, S. 253 – 62; Hürth, Scholastik, 3 / 1934, S. 477 f. („Man weiß nicht, soll man heute die 1931 erschienene Schrift das „Buch einer vergangenen Zeit“ nennen oder, von damals aus gesehen, eine Art Vorhersagung, daß das Bisherige sein Ende erreicht habe und ein Anderes warten müsse . . . im zweiten Abschnitt des Buches kommen eine Reihe Begriffe und Grundsätze zur Darlegung, die nicht nur positiv-staatsrechtlicher, sondern in entscheidender Weise auch sittlicher Natur sind . . . dem theologisch eingestellten Leser wird es bald klar, daß hier letzte ethische Grundsätze berührt werden . . .“); später u. a.: Paolo Petta, Schmitt, Kelsen e il „Custode de la Costituzione“, Storia e politica, 1977, S. 505 – 31; Teodoro Klitsche de la Grange, Nuovi studi politici, 2 / 1981, S. 132 – 35. – Die gewöhnlich bei Schmitts „Hüter“ und Kelsens Kritik ansetzenden Darstellungen des Verhältnisses der Autoren sind zahllos; genannt werden können nur: Eleonore Sterling, Studie über Hans Kelsen und Carl Schmitt, ARSP, 1961, S. 569 – 85; Hofmann, bes. S. 44 – 53; Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, I, Frankfurt a. M. 1982, S. 140 – 51; Wolfgang Mantl, Hans Kelsen und Carl Schmitt, in.: W. Krawietz u. a. (Hrsg.), Ideo-

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Anmerkungen

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logiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1982, S. 185 – 99; Michael Haybäck, Carl Schmitt u. Hans Kelsen in der Krise der Demokratie der Zwischenkriegszeit, Diss. Salzburg 1990; Carlos Miguel Herrera (éd.), Le Droit, le Politique. Autour de Max Weber, Hans Kelsen, Carl Schmitt, Paris 1995; Dan Diner / Michael Stolleis, eds., Hans Kelsen and Carl Schmitt. A Juxtaposition, Gerlingen 1999; José Antonio Sanz Moreno, Ordenación jurídica y Estado político: Hans Kelsen y Carl Schmitt, Granada 2002. Rückblickend schrieb Ernst Rudolf Huber, Verfassung, 1937, S. 15: „Während man ursprünglich im Reichspräsidenten nicht viel mehr als eine äußere Dekoration erblickte, sprach man ihm bald die Aufgabe eines obersten Schlichters und Schiedsrichters zu. Dann erkannte man in ihm den „Hüter der Verfassung“, der die staatliche und nationale Ordnung und Ehre zu wahren habe. Schließlich wurde für ihn sogar die Stellung des autoritären Staatsoberhauptes in Anspruch genommen. Dieser wissenschaftliche Meinungsstreit war ein getreues Spiegelbild der sich wandelnden politischen Lage und der fortschreitenden Entwicklung, in der schließlich die konstitutionellen über die parlamentarischen Kräfte die Oberhand erlangten.“ Gleichlautender Text in: Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 1939, S. 17. [104] Beim „Preußenschlag“ bzw. „Papenstreich“ vom 20. 7. 1932 ging es keineswegs darum, durch die Zerstörung des preußischen ,Bollwerks‘ bzw. die Amtsenthebung der Regierung Otto Braun der NSDAP den Weg zu bahnen – wie immer noch gern behauptet wird –, das „Ziel des schnellen Reichseingreifens in Preußen noch vor der Reichstagswahl war nicht nur die Depossedierung der SPD aus ihrer auch nach der Wahlniederlage vom April festgehaltenen preußischen Bastion, sondern vor allem die vorbeugende Verhinderung des Zugriffs der NSDAP auf die preußische Staatsmacht vermöge einer mit dem Zentrum geschlossenen neuen Preußen-Koalition.“ (Huber, VII, S. 1016). Daß nicht nur Carl Schmitt den Sachverhalt nach dem 30. 1. 1933 ,umdeutete‘ (hier: „Damit war der preußische Staat dem Weimarer System aus der Hand geschlagen“), steht auf einem anderen Blatt. – Vgl. die m. E. endgültig klärenden Studien: Gabriel Seiberth, Carl Schmitt und der „Preußenschlag“, politolog. Diplomarbeit, FU Berlin 1996; Wolfgang Pyta / G. Seiberth, Die Staatskrise d. Weimarer Republik im Spiegel d. Tagebuchs von Carl Schmitt, Der Staat, 3 / 1999, S. 423 – 48, 4 / 1999, S. 594 – 610; Seiberth, Anwalt des Reiches. Carl Schmitt u. der Prozeß „Preußen contra Reich“ vor dem Staatsgerichtshof, 2001; zum Kontext auch die die Zeit ab dem 10. 8. 1932 untersuchende Schrift von Lutz Berthold, Carl Schmitt und der Staatsnotstandsplan am Ende der Weimarer Republik, 1999. [105] Zum Leipziger Prozeß, bei dem Schmitt neben Carl Bilfinger (1879 – 1958) und Erwin Jacobi (1884 – 1965) das Reich vertrat, vgl. den ,Stenogrammbericht der Verhandlungen vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig vom 10. bis 14. und vom 17. Oktober 1932‘: Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof. Mit einem Vorwort von Ministerialdirektor Dr. Brecht, Berlin 1933, J. H. W. Dietz Nachf., XVI / 520 S., die gelegentlich nicht der Mehrdeutigkeit entbehrenden Interventionen Schmitts auf den S. 39 – 41, 130 – 34, 175 – 81, 288 – 91, 311 – 22, 350 – 55, 466 – 69. Der komplexe Sachverhalt wird ausgeleuchtet bei Huber, VII, S. 1120 – 36, bes. detailliert in den Schriften Gabriel Seiberths, s. o. Das Urteil etablierte einen höchst seltsamen Kompromiß, der die preuß. Staatsgewalt spaltete: die im Juli 1932 amtsenthobene, jetzt restituierte Regierung Otto Braun erhielt ,Hoheitsrechte‘, wie die Vertretung Preußens im Reichsrat und im Reichstag konzediert, der Kommissariatsregierung wurde der Großteil der tatsächlichen Regierungsgewalt zugesprochen; beiden Regierungen wurde die ,Zusammenarbeit‘ empfohlen. Damit war aber auch Papens Versuch „zunichte [ge-

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Anmerkungen

macht], mit der Reichsintervention in Preußen die überfällige Reichsreform einzuleiten, d. h. den Dualismus Reich-Preußen auf Dauer zu beheben, die organische Verbindung der Reichs- und der preußischen Staatsgewalt herzustellen und von dieser Basis aus die destruktiven Momente des parlamentarischen Regierungssystems durch die Herstellung eines konstruktiven Verhältnisses von Reichsregierung und Reichsparlament zu überwinden. Das Präsidialkabinett konnte seit diesem Urteil nicht mehr damit rechnen, den Reichspräsidenten, der sich am 30. August bereitgefunden hatte, zur Rettung des Reichs die ihm vom Reichskabinett Papen vorgeschlagenen Aktionen eines überverfassungsmäßigen Staatsnotstands in Erwägung zu ziehen, nun noch für das Beschreiten dieses Wegs zu gewinnen. Unter allen Wirkungen des Leipziger Urteils wog am schwersten, daß es den Reichspräsidenten auf den Boden einer Verfassungspolitik der formalen „Legalität“ zwang und ihn damit wehrlos gegenüber den Gefahren machte, die sich in den nächsten Monaten für die Erhaltung der Republik und ihrer Verfassung ergeben sollten.“ (Huber, VII, S. 1130). Schmitt schätzte bes. das kleine Buch Hubers: Reichsgewalt und Staatsgerichtshof, Oldenburg i. O. 1932, Gerhard Stalling, 73 S., das einsetzt mit: „Das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 25. Oktober 1932, das den Kampf um das Einschreiten des Reiches in Preußen vorläufig entschieden hat, hat die Maßnahmen des Reiches vom 20. Juli 1932 als rechtmäßig anerkannt, soweit sie mit voller Entschiedenheit getroffen wurden. Überall, wo das Reich sich unsicher zeigte oder zögerte, hat der Staatsgerichtshof dem Reiche unrecht gegeben.“ Zum Schluß bemerkte Huber u. a.: „Die Worte Bismarcks sind unvergessen, daß man dem Reiche das Grabgeläute anstimmen kann, wenn eine Reichsexekution gegen Preußen notwendig wird. Die Maßnahmen des 20. Juli 1932 jedoch waren in Wahrheit keine Exekution gegen Preußen, sondern eine Exekution der aus wirklich eigenwüchsigen preußischen Kräften gestalteten Reichsgewalt gegen den Parteienstaat um der Ehre und Einheit Preußens willen. Der geschichtliche Sinn des 20. Juli war, die Einheit und Ehre Preußens den zerstörenden Mächten des Parteienstaates zu entziehen und für das Reich zu retten.“ Schmitt erklärte mir ggü. sogar, daß er Huber um diese Schrift „beneide“ und bat mich sehr dringlich (u. selbstredend ,erfolgreich‘) um eine Kopie des Büchleins, das ihm verloren gegangen war. – In s. Tagebuch notierte Schmitt am 20. 11. 1932: „Immer wieder dasselbe Schicksal: andere veröffentlichen meine Bücher.“ (Nach: W. Pyta / G. Seiberth, Die Staatskrise der Weimarer Republik im Spiegel des Tagebuchs von Carl Schmitt, Der Staat, 3 / 1999, S. 423 – 448, hier 448). (Vgl. inzw.: Schmitt, Tagebücher 1930 bis 1934, Akademie Verlag, 2010, S. 236). [105a] In der Erstausgabe heißt es auf S. 48: „stattliche“. [106] Im Anhang zum Nachdruck seines Aufsatzes „Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung“ (1929) bemerkte Schmitt: „Es bedürfte einer grundsätzlichen wissenschaftlichen Untersuchung der Frage, wie weit die Mittel und Methoden des justizförmigen Prozesses ihren Gegenstand verändern. Heute ist selbst Vertretern der Naturwissenschaft bewußt, daß ihre Beobachtungsmethode und das Beobachtungsmittel den beobachteten Gegenstand nicht unverändert lassen. Um wieviel mehr gilt das für einen förmlichen gerichtlichen Prozeß . . .“ (Schmitt, VA, 1958, S. 109). Schmitt verweist dabei ausdrücklich auf seine Stellungnahmen zum Leipziger Prozeß in den im gleichen Band präsentierten Nachdrucken von „Legalität und Legitimität“ (1932) und „Das Problem der Legalität“ (1947 / 50), S. 350, 450. Über diese „Veränderung des Gegenstandes durch die

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Anmerkungen

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Prozeßform“ sprach Schmitt des öfteren u. bedauerte mir ggü., dazu nichts geschrieben zu haben – Vgl. a. seine Bemerkung in: Glossarium, 19991, S. 56 (3. 12. 1947). [107] Dieses Vordringen der NSDAP sollte ja gerade durch den Preußenschlag beendet werden. „Als Ende Januar 1933 alles Bemühen um die Sicherung des Reichs gescheitert war, brach er [= Schmitt] in den Ruf aus: „Der 20. Juli ist dahin!““ So E. R. Huber, Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Zeit, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum – Über Carl Schmitt, 1988, S. 33 – 50, 38; s. a. Paul Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie, 1993, S. 137 – 54, der S. 143 auf Schmitts Artikel „Der Mißbrauch der Legalität“ (einem Auszug aus „Legalität und Legitimität“) verweist, der am 19. Juli 1932 in Schleichers „Tägliche(r) Rundschau“ erschien; dem Artikel waren (von Schmitt oder von der Redaktion?) die Sätze zugefügt: „Wer den Nationalsozialisten am 31. Juli die Mehrheit verschafft, obwohl er nicht Nationalsozialist ist und in dieser Partei nur das kleinere Übel sieht, der handelt töricht. Er gibt dieser weltanschaulich und politisch noch gar nicht reifen Bewegung die Möglichkeit, die Verfassung zu ändern, das Staatskirchentum einzuführen, die Gewerkschaften aufzulösen usw. Er liefert Deutschland dieser Gruppe völlig aus. Deshalb war es bisher unter Umständen gut, die Widerstandsbewegung Hitlers zu fördern, am 31. Juli ist es überaus gefährlich, weil die 51 Prozent der NSDAP eine ,politische Prämie‘ von unabsehbaren Folgen geben.“ – Bei den Reichstagswahlen am 31. 7. 1932 gewannen die Nationalsozialisten 37,4 %, konnten aber keine Koalition, etwa mit dem Zentrum, bilden; angesichts dieses Erfolges verwarfen Kreise der NSDAP sogar jede Koalitionsbildung u. hofften „auf die totale Eroberung der Macht.“ (Huber, VII, S. 1048 ff.).

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Anhang

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Die Logik der geistigen Unterwerfung* 1. Es war der Sinn der „konstitutionellen“ Monarchie des deutschen neunzehnten Jahrhunderts, einen Kompromiß und eine Überbrückung der Gegensätze von deutschem Soldatenstaat und bürgerlichem Verfassungsstaat zu versuchen. Aber nur in den kleineren und mittleren Staaten Deutschlands, die nicht wie Preußen die Träger eines großen geschichtlichen Auftrages waren und sich daher auswärtigen Entscheidungen leichter anpassen konnten, war ein wirklicher Kompromiß möglich und ist er gelungen. In Preußen, dem führenden deutschen Staat, blieb die staatliche Gesamtstruktur bis in die Fundamente hinein von dem Gegensatz bestimmt, der einen Soldatenstaat für immer von einem bürgerlichen Verfassungsstaat trennt. Auch der Soldatenstaat Preußen sah sich im Jahre 1848 zu der „konstitutionellen Lösung“ gedrängt. Aber er hat sich dadurch in eine selbstzerstörende Zwangslage gebracht: er konnte den Zwiespalt nicht überwinden, sondern mußte ihn durch fortwährende siegreiche Kriege und ununterbrochen steigende wirtschaftliche Prosperität verdekken. Nur auf diese Weise war es möglich, fünfzig Jahre hindurch die Illusion eines gelungenen Verfassungskompromisses und einer Synthese von Soldat und Bürger zu erhalten. Der preußische Soldatenstaat hat sich tapfer gewehrt. Es ist ihm gelungen, die militärische Kommandogewalt von der ministeriellen Gegenzeichnung freizuhalten und dadurch die Armee aus dem Bereich des bürgerlichen Verfassungssystems herauszunehmen. In dem halbhundertjährigen Streit um den Umfang der Kommandogewalt, insbesondere um die ministerielle Gegenzeichnung der Ernennung und Entlassung von Offizieren, und um die Militärgerichtsbarkeit hat Preußen seinen soldatischen Standpunkt gewahrt. Das Heer war den politischen Auswirkungen des liberalen Verfassungsstaates entzogen. Aber damit war der tödliche Zwiespalt der staatlichen Gesamtstruktur nicht überwunden, sondern nur noch verschärft. Die Armee war isoliert, ein „Staat im Staate“, und mußte in dieser Lage darauf verzichten, über ihren eigenen Rahmen hinaus gegenüber dem ganzen deutschen Volk den totalen Füh* Dieser Aufsatz enthält einige Gedanken eines am 24. Januar 1934 in der Berliner Universität gehaltenen Vortrages „Heerwesen und staatliche Gesamtstruktur“, sowie einer in kurzem erscheinenden Abhandlung „Staatliche Struktur und Zusammenbruch des zweiten Reiches; der Sieg des Bürgers über den Soldaten“.

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Die Logik der geistigen Unterwerfung

rungsanspruch zu erheben, der zu jeder politischen Führung und Entscheidung gehört. Zwar bestand die allgemeine Wehrpflicht, und das Heer war immer noch „die große Bildungsschule der Nation“, aber der Bildungsbegriff der deutschen bürgerlichen Gesellschaft war ein anderer als der des preußischen Soldatenstaates. In der offenen Kollision dieser „Bildungs“ansprüche trat die Armee bescheiden zurück. Sie sollte und wollte die Bildungsschule der Nation nur für den Krieg sein, und der Krieg erschien dem Denken dieses Jahrhunderts als ein seltener Fall, als eine extreme und isolierbare, rasch erledigte Angelegenheit. Der Anspruch, „Bildungsschule“ zu sein, und der daraus folgende Erziehungs- und Führungsanspruch bezog sich also, wie ein ausgezeichneter Offizier treffend bemerkt hat, leider nur auf die ultima ratio, nur auf einen als abnorm vorgestellten Fall, nicht in irgend einem über den engsten fachlichen Rahmen des Militärs hinausgehenden Sinne auf das gesamte wirkliche Leben des deutschen Volkes. „Die Vorbereitung zur Schlacht ist die Hauptaufgabe der militärischen Ausbildung“1. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewöhnte man sich fast unbewußt immer mehr daran, daß die Armee eine Sache für sich war, eben jener, nur für den äußersten Fall in Aktion tretende „Staat im Staate“. Sie zog sich in sich selbst zusammen und war schon aus diesem Grunde geistig in einer fast verzweifelten Abwehrstellung. In einem Staat von solcher „Verfassung“ stand der soldatische Teil, das Kernstück des Staates, auf einem verlorenen Posten. Die Verfassung selbst, das Grundgesetz, die Grundvereinbarung, der fundamentale „Kompromiß“, war ausschließlich auf Kosten des Soldatenstaates geschlossen worden. „Verfassung“ bedeutete im deutschen neunzehnten Jahrhundert wesentlich nicht nur eine Beschränkung der königlichen Machtbefugnisse, sondern vor allem eine Verneinung der Grundsätze und Auswirkungen des preußischen Soldatenstaates. Das war das innere Grundgesetz, nach dem der monarchische Konstitutionalismus in Preußen angetreten war und unter dem er sich mit unweigerlicher Logik weiterentwickeln mußte. Der Urkompromiß, den eine solche Verfassung darstellte, mußte sich in immer weiteren Kompromissen von gleicher Struktur, mit immer weiteren Minderungen des Soldatenstaates fortsetzen. Jedes Gesetz, jeder Jahreshaushalt, jede Vereinbarung zwischen Regierung und Parlament über die Friedensstärke oder sonstige Angelegenheiten bestätigten und erweiterten die Macht der Volksvertretung über die Verfassung, und lieferten ihr, auch wenn sie nachgab und der Regierung entgegenkam, neue Argumente und Rechtstitel. Jedes Entgegenkommen gegen die militärischen Forderungen der Regierung gefährdete in der Logik eines solchen Verfassungszustandes die Parteien, die sich dazu verstanden, und lieferte sie den billigen Trümpfen der „Links“-Parteien aus. Das Entwicklungsgesetz, auf das 1 Vgl. die Denkschrift Moltkes vom 25. Juli 1868 und die auf ihr beruhende geheime „Instruktion für die höheren Truppenführer“ vom 24. Juni 1869 (Moltke, Taktisch-strategische Aufsätze, S. 67 [in: Moltke, Militärische Werke. Herausgegeben vom Großen Generalstab, 2. Abt., Bd. II, Berlin 1900]; Curt Jany, Geschichte der Königlich Preußischen Armee, 4. Bd., 1933, S. 257).

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Die Logik der geistigen Unterwerfung

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der preußische Staat sich eingelassen hatte, als er sich auf diese Art von „Verfassung“ einließ, konnte sich nur gegen ihn auswirken. Ungeheure militärische und außenpolitische Erfolge haben nichts daran geändert und höchstens einen Aufschub bewirken können. Siegreiche Kriege, wie die Weltgeschichte wenige kennt, halfen diesem preußischen Soldatenstaat nur dazu, sich innerpolitisch zu halten, den Konflikt zu verdecken, die Exemtion der Kommandogewalt und eine Vertagung des offenen Konflikts zu erreichen. Ein Parlament, das alles getan hatte, um den Sieg unmöglich zu machen, gegen dessen lautes Geschrei und offenen Widerspruch die Heeresreorganisation durchgeführt und der Sieg errungen war, erteilte dem Sieger die nachträgliche Genehmigung und „Indemnität“. Der König Wilhelm der Erste hat den entscheidenden Punkt der verzweifelten Lage des preußischen Staates, die militärische Kommandogewalt, erkannt und mit heldenhafter Festigkeit gehalten. Je mehr und die Einzelheiten und Hintergründe der Geschichte des Kampfes zwischen dem preußischen Staat und der liberalen Bewegung bekannt werden, um so mehr wächst die Gestalt dieses Königs in eine weltgeschichtliche Größe. Seine Überlegenheit war lautlos. Es war nicht die Überlegenheit eines genialen Individuums, sondern die eines in den überindividuellen Geschichtszusammenhang sich einfügenden Mannes, der eine Linie festhielt, die nur ihm kraft seiner selbstverständlichen Einheit mit dem preußischen Staat erkennbar war. In einem Jahrhundert, das von dem Lärm liberaler verfassungsrechtlicher Diskussionen erfüllt war, hörte er nur die Stimme der Pflicht zum Staat, und zwar zum preußischen Soldatenstaat. Nur dadurch fand er die Kraft, die großen und genialen Männer festzuhalten, die das Werk durchführten: Bismarck, Moltke und Roon. Aber auch der König drängte darauf, das Parlament nach dem siegreichen Krieg um „Indemnität“ zu bitten, und hielt das für die Legalität. Auch er hat sich, ohne sich der Tragweite bewußt zu werden, im Vollgefühl und mit der Großzügigkeit des Siegers geistig unterworfen. 2. Der Weltkrieg begann für uns Deutsche mit einer furchtbaren geistigen Unterwerfung und Niederlage. Der Kampf gegen den russischen „Zarismus“ wurde offiziell als Kriegsziel übernommen: darin äußerte sich die geistige Widerstandslosigkeit gegen die Verfassungsideologie der westlichen Liberaldemokratie und der innerpolitischen Feinde des preußischen Soldatenstaates. Aber die Unterwerfung ging noch weiter. Am 4. August 1914 erklärte der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg in seiner Reichstagsrede den Einmarsch des deutschen Heeres in Belgien für ein Unrecht, das man wiedergutmachen müsse. Eine kindische Jurisprudenz im Dienste einer dem Eindruck im feindlichen Ausland nachlaufenden Politik hat diese schändliche Kapitulation verursacht.

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Der Zwiespalt der innerstaatlichen Struktur brach während des Weltkrieges auf und zerrieb die Kraft zum Widerstand. Ausländische Beschreibungen des Verhältnisses von Kriegführung und Staatsführung gehen für den Weltkrieg 1914 – 18 gern davon aus, daß die Beziehungen von Militär- und Zivilgewalt, Heeresleitung und Regierung, während des Krieges für Deutschland überhaupt kein ernsthaftes organisatorisches Problem gewesen seien, weil der Kaiser als oberster Kriegsherr in einem nicht parlamentarisch regierten Staat eine unbeschränkte Gewalt gehabt habe2. Das ist eine oberflächliche Betrachtung, die auf einer irreführenden Übertreibung des Unterschiedes von konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie beruht. In Wahrheit ist die Herausnahme der Kommandogewalt des Kaisers aus dem bürgerlichen Verfassungssystem auch während des Krieges ein Anzeichen dafür geblieben, daß die Gesamtstruktur des Staates zwiespältig war und dieser Zwiespalt sich mit steigender Ausdehnung und Intensität des Weltkrieges vertiefte. Die Totalität des Kriegszweckes setzt sich in jedem kriegführenden Lande durch. Diese Totalität kann nicht isoliert werden, sondern wird von jedem Gebiete aus in Anspruch genommen. Sie äußert sich infolgedessen nicht nur als Totalitätsanspruch der Kriegsführung, sondern auch als Totalitätsanspruch der politischen Staatsführung und der Wirtschaftsführung. Während des Weltkrieges war die deutsche Verfassungslage derartig, daß sich die in allen kriegführenden Staaten auftretenden Differenzen zwischen Heeresleitung und Regierung, militärischer und ziviler Zuständigkeit, in Deutschland in einer Staat und Volk zerstörenden Weise innerpolitisch auswirken mußten. Der innere Zwiespalt der Gesamtstruktur des zweiten Reiches, das den Gegensatz von preußischem Soldatenstaat und bürgerlichem Verfassungsstaat nur verdeckt und vertagt, nicht überwunden hatte, trat im Weltkrieg, als die militärische Lage schwierig wurde, offen zutage. Jede persönliche Differenz zwischen dem Reichskanzler und einem Heerführer rührte sofort an die letzten Wurzeln dieses innerpolitischen Dualismus. Die Kriege von 1864, 1866 und 1870 haben einen schnellen und siegreichen Verlauf genommen, aber trotzdem bereits die durchaus isolierte, innerpolitisch defensive Lage des soldatischen Staatskernes erkennen lassen. Während des Weltkrieges mußte jede Verschlechterung der militärischen oder außenpolitischen Lage mit fast mathematischer Exaktheit innerstaatlich sofort dem Gegenspieler, dem Parlament, zugute kommen und ihm verfassungsrechtliche Argumente für neue Machtansprüche liefern. Statt daß mit wachsender Gefahr die innerpolitische Geschlossenheit des deutschen Volkes stärker und fester wurde, wirkte die Logik der Verfassungsstruktur und des konstitutionellen Dualismus von Soldat und Bürger, dann auch von Soldat und (dem Bürger folgenden) Arbeiter nach der entgegengesetzten Richtung. Jeder Mißerfolg, jede Schwierigkeit der Kriegfüh2 So zum Beispiel: J. M. Bourget, Gouvernement et Commandement [Les Lécons de la Guerre Mondiale], Paris (Payot), 1930.

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Die Logik der geistigen Unterwerfung

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rung gab den nur durch einen glänzenden außenpolitischen Erfolg beschwichtigten Argumenten der Opposition von 1866 nachträglich doch wieder Recht und riß den nur durch einen siegreichen Krieg überdeckten Konflikt von neuem auf. Der unausgetragene Widerspruch der innerstaatlichen Gesamtstruktur, der Gegensatz des preußischen Soldatenstaates gegen einen bürgerlichen Verfassungsstaat, die schlimme Tatsache, daß der eigentliche Verfassungskompromiß nur auf dem siegreichen Krieg beruhte, alles das vertiefte sich in dem Zwang eines solchen Verfassungssystems mit den wachsenden Schwierigkeiten der Weltkriegslage zu dem Gegensatz von Regierung und Volk und schließlich zu dem tödlichen Gegensatz von Heer und Heimat, Soldat und Arbeiter. Daran ist Deutschland zusammengebrochen. Mit Heer und Krieg konnte sich das liberale Bürgertum nach den Erfolgen von 1866 und 1870 wohl abfinden, aber eben nur solange sie siegreich und erfolgreich waren. Diesem echt bürgerlichen Anspruch auf siegreiche Kriege und wirtschaftliche Prosperität hatte der preußische Soldatenstaat sich geistig unterworfen, als er 1866 nach dem siegreichen Kriege das Parlament um „Indemnität“ bat und sie erhielt. Damit war der Rechtsanspruch der liberalen Bewegung anerkannt und das Gesetz der weiteren geschichtlichen Entwicklung Preußens und Deutschlands bestimmt. Der Krieg wird von einer liberalen Bourgeosie keineswegs allgemein und unbedingt verneint; ein „siegreicher Krieg“ kann ihr sogar als „soziales Ideal“ gelten, aber natürlich nur ein siegreicher Krieg. Kein Staat jedoch, und am wenigsten ein Staat von der Struktur Preußens, kann sich im Ernst auf solche Ansprüche und „Ideale“ einlassen; keine Institution, und am wenigsten die politische Einheit eines Volkes, darf sich nur auf den günstigen Fall einrichten und ihre Art Existenz von ununterbrochen glücklichen Erfolgen abhängig machen. Setzte das Glück einmal aus, hörte der Krieg einmal auf, siegreich zu sein, so entfiel die Grundvoraussetzung des „Verfassungskompromisses“; der Bürger mußte sich betrogen fühlen und den konsequent liberal-demokratischen Verfassungsstaat als sein gutes Recht verlangen, wobei es ganz gleichgültig ist, ob die einzelnen Liberalen als Individuen wohlmeinende und patriotische Leute waren oder nicht. Sie waren gewiß alle gute und ehrliche Bürger. Aber sie standen alle unter dem Gesetz ihrer politischen Bewegung und unter dem Zwang der von ihnen selbst herbeigeführten, innerpolitischen Gesamtstruktur des preußischen Staates.

3. Im Jahre 1806 brach die Organisation eines in offener Feldschlacht geschlagenen Heeres und erst infolge dieses Zusammenbruches die dem Heere zugehörige staatliche Organisation zusammen. 1918 war die an der Front kämpfende Armee unbesiegt, aber ein fünfzig Jahre hindurch verdeckter und deshalb in seiner eigentlichen Bedeutung verkannter Zwiespalt der innerstaatli-

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Die Logik der geistigen Unterwerfung

chen Struktur brach im kritischen Augenblick zerstörend auf. Nicht föderalistische und bundesstaatliche Spannungen, sondern diese innerstaatliche und innerpreußische Verfassungsproblematik erwies sich als der unheilvolle Ansatz für den inneren Bruch der politischen Einheit eines gegen die Welt kämpfenden Volkes. Die westliche Liberaldemokratie hatte 1918 gewonnen. Die Weimarer Verfassung von 1919 gab die innerdeutsche Antwort des Bürgertums auf den nicht siegreichen Krieg; die nachträgliche, 1866 nur verdeckte und vertagte Antwort für den andern Fall. Mit dieser Verfassung unterwarf Deutschland sich dem demokratischen Verfassungsideal seiner Feinde und zugleich dem Versailler Diktat, das die allgemeine Wehrpflicht und den deutschen Generalstab beseitigte. Man übernahm das Rechts- und Verfassungsideal der triumphierenden Westmächte. Hilflos und wehrlos mißachtete man sogar den existenziellen Zusammenhang von Heerwesen und staatlicher Gesamtverfassung. Man hoffte, eine waffenlose Demokratie sein zu können. Man versuchte, ein allgemeines Wahlrecht ohne allgemeine Wehrpflicht, ein allgemeines Staatsbürgertum ohne allgemeinen Staatsdienst zu organisieren – eine erstaunliche Monstrosität. Aber der gute Eindruck im Ausland war erreicht, und die Spezialisten dieses guten Eindrucks fühlten sich als die innerpolitischen Sieger und gaben eine posthume Antwort auf die Verfassungsprobleme des preußischen Konflikts von 1862 – 66. Der tapfere und im Kriege siegreiche preußische Soldatenstaat hat ein ganzes Jahrhundert hindurch in einer verzweifelten Defensive, ja in voller Wehrlosigkeit gestanden. Seine politischen Gegner beherrschten die Sprache und die Begriffe der Zeit. Ihnen allein kam das große Argument vom „Eindruck im Auslande“ zugute. Siegreiche Kriege, staatliche Leistungen von beispielloser Größe sind dadurch um ihren geschichtlichen Lohn gebracht worden. In drei entscheidenden Augenblicken der Geschichte des letzten Jahrhunderts hat die geistige Unterwerfung unter die Rechtsauffassung des Gegners das Schicksal Deutschlands unheilvoll bestimmt. Zuerst scheinbar unwichtig und scheinbar nicht entscheidend im Jahre 1866, als man es sich leisten zu können glaubte, die liberale Opposition mit der Überlegenheit des Siegers und im Augenblick des Erfolges um Indemnität zu bitten und sich ihren Begriffen von Recht und Verfassung ohne Gefahr zu unterwerfen. Der zweite Augenblick war schon gefährlicher und der Katastrophe näher: der deutsche Reichskanzler sah die geistige Rechtfertigung des Weltkrieges im Kampf gegen den Zarismus; er erklärte den deutschen Einmarsch in Belgien als „Unrecht“ und verriet das deutsche Volksheer an die Verfassungsideale und Rechtsbegriffe seiner außenund innenpolitischen Feinde. Der dritte Augenblick endlich vollendet diese Entwicklung: in dem Zusammenbruch des Jahres 1918 haben die Ideen des liberal-demokratischen Verfassungsstaates zuerst innerpolitisch über den Geist des deutschen Volkes und dann auch militärisch und außenpolitisch triumphiert und die Entwaffnung des kämpfenden Heeres bewirkt.

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Die Logik der geistigen Unterwerfung

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Diese drei Augenblicke stehen in einer einzigen, zusammenhängenden Entwicklungslinie. In ihrer Reihenfolge entfaltet sich folgerichtig ein Gesetz: erst die innerpolitische geistige Unterwerfung des preußischen Soldatenstaates unter die Rechtsbegriffe des bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaates; dann die Unterwerfung unter das geistige Kriegsziel des Feindes, verbunden mit dem subalternen Bestreben, einen guten Eindruck im Auslande zu machen und den Feind durch geistiges Nachgeben und „Objektivität“ zu beschwichtigen; und schließlich die offen hoch- und landesverräterische Unterwerfung unter die Staats- und Rechtsideale eines eben dadurch siegreichen, erbarmungslosen Feindes. Die Logik der geistigen Unterwerfung vollendete sich in einer wehr- und widerstandslosen politischen Knechtschaft. * Nachbemerkung des Herausgebers Generalmajor Ferdinand v. Bredow, geb. 1884, enger Mitarbeiter Kurt v. Schleichers im Reichswehrministerium und wie dieser am 30. 6. 1934 während der „Röhm-Aktion“ von einem SS-Kommando ermordet, war bei Schmitts Vortrag anwesend und bemerkte in seinem Tagebuch am 25. 1. 1934: „Prof. C. Schmitt hielt Vortrag über Heerwesen und Staat anlässlich Geburtstag Friedrich d. Grossen. Sehr überspitzt. Zu geschroben. Immerhin recht anregend. Sehr anerkennend für Wehrmacht.“ (Zit. nach: Irene Strenge (Hrsg.), Ferdinand von Bredow. Notizen vom 20. 2. 1933 bis 31. 12. 1933. Tägliche Aufzeichnungen vom 1. 1. 1934 bis 28. 6. 1934, Berlin 2009, Duncker & Humblot, Reihe ,Zeitgeschichtliche Forschungen‘ Nr. 39, S. 217).

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