Staatliche Museen zu Berlin. Forschungen und Berichte: Band 17 Kunsthistorische und volkskundliche Beiträge [Reprint 2021 ed.] 9783112574508, 9783112574492

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Staatliche Museen zu Berlin. Forschungen und Berichte: Band 17 Kunsthistorische und volkskundliche Beiträge [Reprint 2021 ed.]
 9783112574508, 9783112574492

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STAATLICHE M U S E E N ZU BERLIN F O R S C H U N G E N U N D B E R I C H T E , BAND 17

S T A A T L I C H E M U S E E N ZU

BERLIN

FORSCHUNGEN UND BERICHTE B A N D 17

KUNSTHISTORISCHE UND VOLKSKUNDLICHE BEITRÄGE

AKADEMIE-VERLAG 1 97 6

• BERLIN

H E R A U S G E G E B E N VON D E N STAATLICHEN M U S E E N ZU B E R L I N

SCHRIFTLEITUNG: GERHARD RUDOLF M E Y E R ALBRECHT DOHMANN VOLKMAR E N D E R L E I N EDITH FRÜNDT GERALD HERES

D D R - 1 0 2 Berlin, Bodestr. i — }

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © by Akademie-Verlag, Berlin, 1976 Lizenznummer • 202 • 100/277/76 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg Bestellnummer: 7 5 2 8 1 0 1 (2081/17) • L S V 8108 Printed in G D R EVP: 68,-

INHALTSVERZEICHNIS

KUNSTHISTORISCHE FORSCHUNGEN:

E v a M ü h l b ä c h e r , Studien zur Gröninger Empore

7

V o l k m a r E n d e r l e i n , Der Mihräb der Bey Hakim Moschee in Konya - Ein Denkmal und seine Geschichte

33

E v a M ü h l b ä c h e r , Ein spätgotisches Relief aus dem Umkreis der Pacher-Werkstatt und seine Restaurierung

41

G e r h a r d P r i e b e , Bericht über holzkonservatorische Probleme des Gemäldes Kat.-Nr. 191, Paris Bordone, die zu einer neuen Methode der Rahmung führten

57

Irene G e i s m e i e r , Zu einigen spätmanieristischen niederländischen Landschaften der Berliner Galerie

63

W o l f g a n g Schulz, Zu einigen Zeichnungen des „RembrandtSchülers" Lambert Doomer in den Staatlichen Museen zu Berlin

73

R e g i n a H i c k m a n n , Analysen zur Komposition des Gruppenbildes in der Mogulmalerei des 17. Jahrhunderts

95

Renate K r o l l , Andreas Schlüter und der Sommerpalast Petersl. 113 Y a n g E n - l i n , Chinesische Exportmalerei für Europa im 17.und 18. J a h r h u n d e r t 135 B u r k h a r d t G ö r e s , Möbel von David Roentgen — Eine Ausstellung 143 B u r k h a r d t G ö r e s , Ein Rollschreibtisch (Bureau ä cylindre) von Jean Henri Riesener im Berliner Kunstgewerbemuseum . 171 Hans E b e r t , Über Hans Christian Genelü und seine Beziehungen zum Berliner Kultur- und Geistesleben um 1800 . . 175 Claude K e i s c h , Der Tod des Oskar. Joseph Anton Koch als Historienmaler 189 L o r e B ö r n e r , Der Elefant als Sinnbild auf Medaillen . . . . 1 9 9 Claude K e i s c h , Portraits in mehrfacher Ansicht. Überlieferung und Sinnwandel einer Bildidee 205 5

VOLKSKUNDLICHE STUDIEN:

JAHRESBERICHTE:

TAFELTEIL

6

W o l f g a n g J a c o b e i t , Volkskundliche Museen in der BRD. Ein Literaturbericht 241 Frühchristlich-byzantinische Sammlung

255

Gemäldegalerie

256

Islamisches Museum

258

Kunstgewerbemuseum

260

Kupferstichkabinett und Sammlung der Zeichnungen

266

Münzkabinett

271

National-Galerie

272

Skulpturen-Sammlung

274

Museum für Volkskunde

276

Tafel I —33

279

STUDIEN ZUR GRÖNINGER

EMPORE

(mit Farbtafel)

Eva Mühlbächer

Den Anlaß für erneute Studien zur Geschichte und Ikonographie der Emporenreliefs aus Kloster Groningen boten Untersuchungen technischer Art zum Material und vor allem zur ursprünglichen Polychromie dieser romanischen Bildwerke. Sie wurden für den zweiten Band des Kataloges der Skulpturen-Sammlung „Bildwerke aus sieben Jahrhunderten" (Berlin 1972) durchgeführt. Ihre Ergebnisse und Aufzeichnungen sollen hier ausführlicher dargelegt werden, als es im Rahmen des genannten Kataloges möglich war. Unsere Vorstellungen von farbig gefaßten Skulpturen des Mittelalters konnten sich besonders in den letzten Jahren auf Grund von Freilegungsarbeiten und damit verbundenen Rekonstruktionen zu einem immer vollständigeren Bild vereinen. Die heutigen Erkenntnisse über Wert und Bedeutung der Farbe für die Gesamterscheinung romanischer Skulpturen sind mühevollen Untersuchungen an zahlreichen Bildwerken zu verdanken. Damit zeichnet sich auch eine für diesen Zeitabschnitt typische Farbgebung ab 1 . Bisher wurde die Gröninger Empore lediglich nach ihren plastischen Formen beurteilt. Ein gleichmäßig aufgetragener heller Anstrich bedeckt Übermalungsreste vergangener Jahrhunderte sowie Reste der originalen Farbschicht. Noch Th. Demmler nennt Farbspuren (allerdings gewiß von Übermalungen, sie sind selbst auf alten Photographien zu erkennen), die vermutlich anläßlich der ,neuen' Aufstellung im ehemaligen Deutschen Museum 1930 noch einmal übertüncht wurden 2 . Wie im Deutschen Museum, so gehörte bereits im früheren Kaiser-Friedrich-Museum die Gröninger Empore zu den bekanntesten Exponaten mittelalterlicher Skulpturen der Berliner Sammlung. Wilhelm von Bode hatte ihr in seiner Ausstellungskonzeption einen hervorragenden Platz in dem 1904 eröffneten Museumsneubau am Kupfergraben zuerkannt. Mit ihrer Erwerbung im Jahre 1901 gelang es, den geringen Bestand von Werken deutscher Großplastik des 12. Jahrhunderts entscheidend zu bereichern. In seiner ,Geschichte der deutschen Plastik, Berlin 1887', übermittelt Bode, für uns nahezu immer noch gültig, folgende Darstellung der Relieffiguren an ihrem damals noch ursprünglichen Standort: „In Kloster-Gröningen unweit Halberstadt ist an den Außenwänden des merkwürdigen Einbaues im westlichen Teil der Kirche noch die Mehrzahl der Figuren erhalten: Um den auf dem Regenbogen thronenden Christus gruppieren sich die zwölf Apostel, auf Bänken sitzend und Bücher in den Händen haltend. Während diese Gestalten noch befangen im Ausdruck, schwerfällig im Bau, in der Gewandung schematisch und einförmig erscheinen und danach sowohl als nach ihrer archi1

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Veröffentlichungen bis 1970 bei: A.. Ballestrem, Sculpture polychrome, in: Studies in Conservation, V o l . 15, N o . 4, N o v . 1970. Danach: Konrad Riemann, Polychromierte Bildwerke aus Stein und Stuck des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Palette, 36, Basel 1970, S. 17ff. H. Claussen und K. Endemann, Z u r Restaurierung der Paderborner Imad-Madonna, in: Westfalen, Bd. 48, 1970, H . 1 - 4 , S. 79ff. Thomas Brachert, D i e Techniken der polychromierten Holzskulptur, in: Maltechnik 3 und 4, 1972,' S. 153ff., 237ff. Th. Demmler, Die Bildwerke in Holz, Stein und T o n . Katalog Staatliche Museen zu Berlin, Berlin/Leipzig 1930, S. 6.

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tektonischen Einrahmung noch dem 12. Jahrhundert, vielleicht sogar der Mitte desselben angehören, zeigen die gleichen, selbstin ihrer alten Bemalung noch gut erhaltenen Darstellungen außen an den Chorschranken der Liebfrauenkirche zu Halberstadt dieselbe Schule in jeder Beziehung weiter entwickelt. Wir dürfen daher ihre Entstehung nicht vor den Ausgang des 12. Jahrhunderts setzen." Der Vergleich des Gröninger Figurenzyklus mit den jüngeren Chorschrankenreliefs der Halberstädter Liebfrauenkirche bietet sich nicht nur von der Wahl des Themas und der Verwendung von Stuck als BildMaterial an. Vor einigen Jahren konnte ihre ursprüngliche Polychromie freigelegt werden, die sich der ehemaligen Farbgebung der Gröninger Empore unmittelbar anschließt3. Ihre in meist größeren Partien gut erhaltene Bemalung vermittelt dem Betrachter heute nahezu mühelos den ehemaligen Eindruck der gefaßten Chorschranke. Die lediglich in Resten festgestellte Fassung der Gröninger Empore kann mit als Voraussetzung für Halberstadt gelten und zur Vorstellung von der Farbigkeit der Skulpturen des letzten Jahrhundertdrittels beitragen. Die Kirche des ehemaligen Benediktinerklosters Groningen ist nur noch als Fragment erhalten4. Seitenschiffe, östliche Aspiden sowie die angrenzende Klosteranlage wurden im Laufe der Zeit entfernt und auch ihr westlicher Abschluß, nach Beseitigung der Türme, in seiner Wirkung völlig verändert5. Dieser allmähliche Verfall begann mit ihrer Lösung vom Mutterkloster Corvey am Ende des 16. Jahrhunderts. Vom Gründungsbau der Kirche (936) wurde 1934 bei Grabungen ein vermutlich zugehöriges Fundament an der Südseite festgestellt. Die heute noch vorhandenen Reste der Kirchenanlage entstammen in den Ost- und Mittelteilen dem Bau der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, als auch der figürliche und ornamentale Schmuck an Kapitellen und Gesimsen entstand. Ihre unmittelbare Abhängigkeit von der italienisch beeinflußten Bauornamentik der 1129 vollendeten Quedlinburger Stiftskirche ist bekannt. Nur wirken die Gröninger ,Nachahmungen' wesentlich abstrakter und derber, in manchem sind sie mißverstandene Umsetzungen ihrer Vorbilder6. Sie stehen in krassem Gegensatz zur Qualität des Skulpturenfrieses an der Empore, die später als westlicher Abschluß dem Mittelschiff eingefügt wurde. Als Querwand nimmt sie vor dem letzten Pfeilerpaar die volle Breite des Schiffes ein. Die halbkreisförmige Ausbuchtung in der Mitte ragt apsidenartig in den Raum (Abb. 1). In halber Höhe ist eine Tonnenwölbung eingezogen, die den Einbau in einen kryptenähnlichen Teil und eine Empore trennt. Die Einfügung dieses Baukörpers erfolgte nachweisbar später. Er verdeckt die westlichsten Pfeiler, springt in die folgende Bogenstellung nach Osten vor, wobei seine Brüstung das frühere Wandgesims überschneidet. Als Voraussetzung für diesen Einbau wird eine Änderung des Bauplanes angenommen. Vermutlich war für den westlichen Teil ursprünglich an die Errichtung einer Vorhalle gedacht worden. Nach einer Unterbrechung entschloß man sich zum Einbau der Krypta, kombiniert mit der darüberliegenden Empore7. Formal unmittelbar Vergleichbares findet sich weder im Harzgebiet noch sonst in romanischen Anlagen. Typisch für den additiven Charakter des romanischen Baugefüges ist jedoch die völlig autonome Stellung dieses Einbaues im Kirchenraum. Durch zwei Türen rechts und links des Apsidenvorsprunges gelangte man in die Krypta (die südliche Tür wurde 1902 bei der Restaurierung der Kirche vergrößert). Die Malereien an den Gewölben sind heute leider nur noch fragmentarisch erhalten. Einige wurden 9

K. Riemann, Polychromierte Bildwerke aus Stein und Stuck, a. a. O. S. 19 ff. P. 0. Leopold, Geschichtliches und Kunstgeschichtliches zur Kirche von Kloster Groningen. Halle (Saale) 1940 (maschinenschriftl. Manuskript im Institut für Denkmalpflege Halle), S. 8. Hier auch genaueste Angaben über den Abriß einzelner Bauteile vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Sowie: Wolfgang Leesch, Das Corveyer Pfarrsystem, in: Kunst und Kultur im Weserraum 800—1600. Katalog, Münster 1966, S. 52 wird Groningen unter den von Corvey abhängigen Pfarren genannt. Nach diesen Angaben ist die Kirche im 17. Jahrhundert verfallen. 5 Von den Westtürmen konnte 1931 ein verstärktes Pfeilerfundamentstück gefunden werden, das ursprünglich vom nördlichen Westturm zum Seitenschiff verlief (vgl. Leopold, a. a. O., S. 5). Wann die Türme entfernt wurden, ist nicht mehr festzustellen. ' Erwin Kluckhohn, Die Bedeutung Italiens für die romanische Baukunst in Deutschland. Mit einem Nachwort von Walter Paatz, in: Marburger Jahrbuch f. Kunstwissenschaft, 16. Bd., Marburg 1955, S. 44. „ A l s Kunstwerke lassen sie sich kaum bezeichnen, aber für uns sind sie wichtig als Beleg dafür, wie die aus Italien übermittelten Formen weiter umgedeutet wurden". 7 1935 wurde der ursprüngliche Kryptenboden freigelegt und unter dem Mittelteil wurden Skelettreste gefunden. Zweifel an der Bestimmung des Raumes zur Krypta dürften wohl kaum noch bestehen. Vgl. Leopold, a. a. O., S. 12. 4

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Abb. i . Kirche von Kloster-Groningen Blick zur Westempore (mit ergänztem Figurenfries)

beim Einbau der Treppe zur Empore, 1902, mit Gewölbeteilen beseitigt. Dargestellt sind Szenen aus dem Leben Christi, von der ,Verkündigung' bis zu den,Frauen am Grabe', und jeweils darunter entsprechende Parallelen des Alten Testamentes8. Die insgesamt zwölf Bilder trennt ein Flechtband an der Mittellinie des Tonnengewölbes. Unter sich sind sie isoliert durch rotbraune, rahmende Streifen, die Darstellungen des Neuen vom Alten Testament durch Schriftbänder. Stilistisch wirken die Bilder sehr skizzenhaft und routiniert gemalt. Ihre Farbgebung war, wohl auch 8

Zur Malerei Groningens: Georg Tröscher, Sächsische Monumentalmalerei von den Anfängen bis zum Jahre 1200. Phil. Diss. Berlin 1926, S. 76 ff. Hier auch, außer dem bekannten typologischen Programm am Klosterneuburger Altar, weitere Beispiele S. 85.

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unabhängig von den heutigen Zerstörungen der Oberfläche relativ hell und zart9. Die Figuren sind mit dünnlinigen rotbraunen Konturen umrissen und lasierend ausgemalt. Die Gewänder zeigen den Farbkanon: Gelb — Grün — Rot und Braun. Reste der Inkarnatpartien sind gelblich-braun. An der vorgewölbten Außenwand des Gröninger Einbaues setzte sich die Malerei fort. Dargestellt war hier das Jüngste Gericht. Davon sind heute nur noch Fragmente zu erkennen 10 . Auf der rechten Seite bewegt sich, äußerst lebendig wirkend, eine fast unbekleidete Teufelsfigur mit fliegenden Haaren, großen runden Augen, weit geöffnetem Mund und mit einem kurzen wehenden Umhang aus geschlitztem Stoff. Offensichtlich empfing sie die Verdammten. In der Mitte müssen wir uns die Gruppe der drei Erzsngel vorstellen, denen sich nach links die Seligen anschlössen. Schwebende Engel erweckten darunter mit ihren Posaunen die Toten. Aus den Gräbern auferstehend waren sie in der untersten Wandzone dargestellt. Hoch über dieser Szenenfolge thront Christus als Weltenrichter inmitten seiner Apostel. Die Relieffiguren bildeten mit der Malerei ein einheitliches Ensemble. Ihre ursprüngliche Polychromie glich sie den darunter liegenden Fresken an. Nicht als Fortsetzung der Malerei, sondern in Form von Reliefs wurden sie ihrer Bedeutung entsprechend dem Geschehen übergeordnet. Nach der Restaurierung der Gröninger Kirche im Jahre 1902 und Uberführung des Figurenfrieses in die Berliner Museen, wurde an seiner Stelle in Groningen ein Gipsabguß mit freien Rekonstruktionen der fehlenden Teile angebracht (zu vergleichen im Anhang ,zur Erwerbung'). Leider sind zwei aus der Reihe der originalen Apostelfiguren zerstört. Anläßlich eines Umbaues zur Orgelempore wurden bereits in früherer Zeit Teile der Brüstung für Zugänge herausgebrochen und dabei die erste Apostelfigur an der Südseite und die dritte der Nordseite entfernt 11 . Bruchstücke sollen noch um 1900 in der Krypta gelegen haben (vgl. Bericht vom 30. 1 1 . 1900 im Anhang ,zur Erwerbung'). Offenbar handelte es sich dabei aber nicht mehr um Teile der fehlenden Figuren oder Köpfe, sondern um vereinzelte Stücke aus der Fußzone der Figuren. Ein Vergleich des heutigen Zustandes mit der Umzeichnung im Inventarband Kreis Oschersleben von 1891 deutet auf eine Wiederverwendung von Bruchstücken, beispielsweise an der links neben Petrus sitzenden Figur oder der letzten Figur der rechten Seite. Dabei müssen allerdings auch Ergänzungen mit berücksichtigt werden. So wurde ein größeres rechteckiges Stück, das links neben dem Christuskopf fehlte (noch im Inventarband zu sehen), später zugesetzt. Soweit ersichtlich war, hatte man an den Skulpturen bei den Instandsetzungsarbeiten kaum Ergänzungen vorgenommen. Dies gilt auch für frühere Restaurierungen. So wurden bei den Farbuntersuchungen 1970 unmittelbar auf den Bruchflächen am Gesicht Christi Übermalungsreste gefunden, die vermutlich von einer barocken Fassung stammen 12 . Die Originale sind aus Stuck gebildet. Verwendet wurde gerade dieses Material häufig zur Herstellung von Skulpturen und plastischen Dekorationen im ganzen 12. und frühen 13. Jahrhundert 13 . In der Tradition antiker Vorbilder konnte sich diese Technik kontinuierlich weitererhalten, um in karolingischer Zeit in Oberitalien einen erneuten Aufschwung zu erleben. Die engen Bindungen zum italienischen Kunstkreis werden sich im Harzgebiet schließlich auch in materialtechnischer Hinsicht bei der Gipsverarbeitung ausgewirkt haben. Bedenken wir, daß sich heute nur noch Bruchteile vom zweifellos reichen Skulpturenschmuck aus Stuck erhalten haben, so läßt sich diese erste Blütezeit der Stucktechnik in Deutschland nur noch mit einem zweiten Höhepunkt, im Barock, vergleichen. Zugleich bot besonders die Harzgegend die besten Voraussetzungen für die Herstellung dieser Skulpturen auf Grund reicher Vorkommen von natürlichem Gipsgestein. Das Material der Gröninger 9 10

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Damit unterscheiden sie sich grundlegend von der ehemals starken Farbigkeit des Skulpturenfrieses. Vgl. G. Tröscher, a. a. O., S. 89. E r fand diese Bilder noch wesentlich vollständiger und daher rekonstruktionsfähiger vor, als sie es heute sind. Gustav Schmidt, Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Oschersleben, 1891, Tafel 2, S. 9J. Nachweisbare Ergänzungen und fehlende Teile wurden vermerkt im Katalog „Bildwerke aus sieben Jahrhunderten", 1 9 7 2 , S. 9. Umfassende Literaturangaben sowie historische Übersicht zur Verarbeitung von Stuck als Bildmaterial für alle Perioden zuletzt bei: Andreas F.A. Morel, Zur Geschichte der Stuckdekoration in der Schweiz, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, Bd. 29, 1972, Heft 4, S. 176 ff.

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Emporenbrüstung konnte in seiner Oberfläche und Reliefskulpturen als Gips oder Calciumsulfat auf einer Kunststeinunterlage identifiziert werden. Die figürlichen Teile wurden in der ,Antragetechnik' in einzelnen Schichten auf die Unterlage modelliert. Dabei verwendete man hochgebrannten Gips, der auf Grund seiner verzögerten Abbindezeit lange modellierfähig war und ein nachträgliches detailliertes Überarbeiten erlaubte. In Groningen wurden diese Schichten bis zu einer Höhe von 20 cm angetragen. „Unter starker Bevorzugung des Messers als Werkzeug sind die Figuren der Emporenbrüstung entstanden, so daß sie den Eindruck von Holzplastiken erwecken. Die einzelnen Schnittflächen grenzen scharfkantig aneinander und zeigen, daß man aus der stark aufgetragenen Stuckmasse die Figuren herausschnitzte, eine Ausführungsart, bei welcher die Herstellung besonders deutlich bleibt" 14 .

Abb^z. Kloster-Gröningen, Westempore Gesamtansicht in der Aufstellung des Berliner Museums. Dabei wurden anstelle der fehlenden Apostelfigur an der rechten Reliefseite die beiden letzten Figuren (9 und 10) den übrigen angeschlossen (vgl. Text S. 10)

Die heute fehlende Bemalung läßt den ,Bau' des Reliefs und seine Schichtung klarer hervortreten. Mit ihrer Abfolge von dünnen Lagen unmittelbar am Hintergrund, bis zu unterhöhlten oder stark gewölbten Partien, verbindet sich Tiefe und Körperhaftigkeit der Figuren. Der die Szene beherrschende Christus scheint mit seinen ausgebreiteten Armen flächenhafter und dem Grund stärker verbunden zu sein als die bewegteren Apostel. Sein Platz an der Mitte der vorspringenden Emporenbrüstung bedingte eine geringere Reliefhöhe. Dennoch wurde auch hier Plastizität und Tiefenwirkung erstrebt. Das straff um den Leib geschlungene Mantelpallium fällt in freistehenden' Bahnen über beide Arme nach vorn. Seine Falten sind unterhöhlt. Hinter dem rechten Oberarm Christi sehen wir den Umschlag als dünngefältelte Schicht direkt dem Grund aufliegend 15 . In vergleichbarer zarter Abstufung unterscheiden sich auch die Vorderseiten der ohnehin flachen Bänder von ihren leicht gerollten Enden, die über beide Handgelenke nach hinten fallen. Der Kreuznimbus überschneidet das obere Profil; er ragt bis in den abschließenden Rankenfries 16 . Damit wird zweifellos das ,vor' dem Reliefgrund Agieren der Figur unterstrichen. Der Kopf ist stark plastisch entwickelt, ebenso die vollgerundeten, fest aufgestellten Beine. Die Figuren der Apostel heben sich beinahe frei vom Hinter14

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Friedrich Berndt, Stuckplastik im frühmittelalterlichen Sachsen. Ihre Bedeutung und Technik. Diss. T . H . Hannover 1932, S. 50. Das hier fehlende Stück ist in schräger Bahn zur linken Schulter zu ergänzen. Derartige Überschneidungen des oberen Profils durch den Kopf Christi finden sich bereits im xi. Jahrhundert, z. B . am Christusrelief in Regensburg, St. Emmeran oder am Relief von Brauweiler (ehem. Benediktinerabteikirche).

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grund ab. Jene, an vier Apostelskulpturen erhaltenen Köpfe, sind nur geringfügig mit der Fläche verbunden. Auch die Bruchstellen über den Nimben der fehlenden Köpfe zeigen die ehemals nur sehr kleinen Bindungsansätze zum Grund. Massiv und vollgerundet wölben sich Schultern, Arme und Beine. Die sonst so eigenständig geführten Gewandteile liegen gerade jenen Körperpartien dicht auf, markieren sie und betonen damit zusätzlich ihre Plastizität. Christus, umgeben von den Aposteln, als Lehrender, Weltenherrscher oder Richter, gehörte bekanntlich zu den darstellungswürdigsten Themen der früh- und hochmittelalterlichen Kunst. Die Anfänge dieses Bildtypus lassen sich bis zum 4. Jahrhundert verfolgen 17 . Im allgemeinen wurde das grund-

Abb. 3. Kloster-Groningen, Westempore Ausschnitt. Christus mit Petrus und Paulus

legende ikonographische Schema kaum verändert, jedoch vereinigten sich im Laufe der Zeit im Bild Christi immer häufiger Hinweise auf seine zahlreichen ,Ämter'. Als Beispiel soll auf die Christusfigur des rheinischen Reliefs aus Gustorf (um 1150) verwiesen werden, welche das dreifache Amt Christi als Lehrer, Weltenherrscher und Priester durch Gestik und Attribute anzeigt 18 . Im Gröninger Christus verbinden sich die Funktion des Weltenrichters und Beherrschers des Weltalls mit dem deutlichsten Hinweis auf seinen Opfertod. Mit ausgebreiteten Armen werden die Wundmale an den Handflächen demonstriert 19 . Tunika und Mantelpallium sind zurückgeschlagen und lassen die rechte Seite des Oberkörpers mit der Seitenwunde frei 20 . Mit Eindringen dieser ,menschlichen' Züge in das Bild des Weltenrichters wird zugleich der Beginn einer völlig neuen Einstellung zum christlichen Glauben deutlich, welche schließlich in der Gotik zur reinen Darstellung des Leidenden und Erlösers anstelle 17

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Seit dieser Zeit wurde der profane Typus des thronenden Herrschers auf Christus übertragen. Von Aposteln umgeben finden sich beispielsweise Darstellungen auf Sarkophagen oder Mosaiken. Fran% Rademacher, Der thronende Christus der Chorschranken aus Gustorf. Köln, Graz 1964. Ursprünglich auch an den jetzt zerstörten Füßert. Vgl. Christi Auferstehungsbeweis Lukas 24, 39: „Sehet meine Hände und meine Füße. Ich bin es selber, fühlt mich und sehet."

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des majestätisch thronenden Richters führen sollte21. Motive des Richtenden zeigt die Gröninger Figur mit der Haltung ihrer Arme, die eine Scheidung der Erwählten von den Verdammten vornehmen. Auf den Spruchbändern wurde das Urteil verkündet. Zwei vergleichbare Beispiele mit ihren noch vorhandenen Beschriftungen sollen hier genannt werden. So ist die Darstellung des thronenden, richtenden Erlösers auf einem Elfenbeinkruzifix im Kopenhagener National-Museum (aus dem letzten Drittel des n . Jahrhunderts) sehr ähnlich komponiert, und wir finden sowohl die Urteilssprüche als auch schriftliche Hinweise auf die Wundmale22. Eine Szene auf dem Taufstein der Stiftskirche in Freckenhorst (um 1129) zeigt die Auffassung vom Weltenrichter, die wir in Groningen wiederfinden. Er thront auf dem Regenbogen, die Arme sind ausgebreitet sowie leicht angewinkelt, und hinter den Händen fallen die Spruchbänder zu den (hier unter der Mandorla) versammelten Auferstandenen. Das Segment des Himmelsgewölbes als Thron Christi kann wohl auch in Groningen als Regenbogen gedeutet werden23. Seiner Profilierung wird eine abgestufte Farbgebung entsprochen haben. Auffallend, zumindest am Regenbogen, ist die Verwendung des Gemmenbandmotives als Schmuck der Vorderseite. Auf sein häufiges Vorkommen, beispielsweise in der romanischen Malerei und Goldschmiedekunst, soll nur verwiesen werden. Vom antiken Herrscherthron übernommen, wurde es später oft zum Bestandteil des Thron-Dekors christlicher Darstellungen. Seine Abbildung im Zusammenhang mit dem Regenbogen ist m. E. heute nur noch am Gröninger Relief zu finden und hier vermutlich als Hinweis zum ,solium regale' aufzufassen24. Mit ihrer starren, auf Symmetrie bedachten Körperhaltung schließt sich die Gröninger Skulptur einem älteren Bildtypus des Thronenden an, der aus dem syrischen Kunstkreis stammend, bereits vor dem Einfluß byzantinischer Vorbilder hauptsächlich in Südfrankreich verbreitet war25. Ein Vergleich mit der gelöst und etwas schräg sitzenden Christusfigur der Halberstädter Chorschranke zeigt die ,altertümlichen' Züge des Gröninger Werkes. Über den säulenhaften, nebeneinander gesetzten Beinen ist die Drapierung des Mantels allerdings asymmetrisch und damit abweichend vom syrischen Typus. Er staut sich über dem linken Knie in einer Form, die wiederum den bewegteren, antikisierenden, unter byzantinischem Einfluß entstandenen Skulpturen entlehnt wurde. Ohne derartige Vorbilder wären auch Details, wie die auf ,Untersicht' gearbeiteten Faltensäume, nicht denkbar. Hingegen gehört die Augenbildung sämtlicher Figuren, mit ihren gebohrten Pupillen, zum traditionellen Formengut, das wohl über Elfenbeine oder Werke der Goldschmiedekunst, vereinzelt noch im 12. Jahrhundert, auf Großplastiken übertragen wurde26. Diese starr wirkenden Augen geben besonders dem Blick Christi etwas Zwingendes, das seiner Bedeutung und beherrschenden Rolle als 'Mittelfigur des Zyklus entspricht. W. Pinder bezeichnete es als „erstaunlich, wie die Macht der Mittenbeziehung vom richtenden Christus zu den Aposteln hin magnetisch wirkt und über einen nunmehr

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Hierzu: Robert Berger, Die Darstellung des thronenden Christus in der romanischen Kunst. Reutlingen 1926, S. 180ff. Adolf Goldschmidt, Die Elfenbeinskulpturen aus der romanischen Zeit. X I . — X I I I . Jahrhundert. 3. Bd. 1923, S. 35, Taf. X L I I I , X L I V . Nach der Offenbar. Joh. 4, 3: „und ein Regenbogen war um den Stuhl gleich anzusehen wie ein Smaragd." Z u m spätantiken Gemmenthron oder solium regale vgl. Christa Ihm, Die Programme der christlichen Apsismalerei. Forschungen zur Kunstgeschichte und Archäologie. 4. Bd. Wiesbaden 1960, S. 1 2 f. Außer der Deutung des Gemmenmotivs als Herrschaftssymbol aus antikem Erbe wird zumindest in Verbindung mit dem Schmuck heiliger Bücher in der christlichen Kunst die 5 Zahl der Steine symbolisch der Majestas Domini gleichgesetzt. Hierzu vgl. R. Rademacher, a. a. O., S. }6ff. — Im Zusammenhang mit der Randbemalung im Gemmenbandmuster am Triumphkreuz des Halberstädter Domes werden mehrere Vergleichsbeispiele mit dem gleichen Dekor genannt, u. a. das Gröninger Relief von: Konrad Riemann, Die Triumphkreuzgruppe im Dom zu Halberstadt, in: Kunst des Mittelalters in Sachsen. Festschrift Wolf Schubert, Weimar 1967, S. 238, Anm. 12. Hierzu: R. Berger, a. a. O., S. 1 2 1 ff. u. 192. Reste von eventuell vorhandenen Glaseinlagen konnten an den Augen der Gröninger Figuren nicht festgestellt werden. Vereinzelt kommen derartige Glasflüsse als Augeneinlagen auch noch im 12. Jahrhundert an Steinskulpturen vor. Als Beispiel sei hier auf die 1 1 6 0 datierten Figuren des Tympanons von St. Cäcilien in Köln verwiesen. A b b . bei: Rudolf Wesenberg, Der Frauenberger Kruzifixus, in: Jb. d. rhein. Denkmalpflege, Bd. X X I V , 1962, S. 14, Abb. 14. In diesem Zusammenhang werden auch für das Kopffragment einer bärtigen Kalksteinfigur (im SchnütgenMuseum), Abb. 12, gleichfalls ursprünglich vorhandene Augeneinlagen vermutet.

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wirklich leeren und festen Grund ausgreift" 27 . Die Hände des erhöht thronenden Christus liegen in gleicher Ebene mit den in verehrender Anteilnahme erhobenen Händen der beiden ihm zugewandten Apostel Petrus und Paulus. Obgleich sie ihn nicht berühren und auch ihre Gesichter, im Dreiviertelprofil, eher unbeteiligt erscheinen, sind sie Christus doch unmittelbar zugeordnet, komponiert nach einem ,Dreifigurenschema', das in der romanischen Kunst bekanntlich häufig angewendet wurde 28 . Die zu ihren Füßen verlaufenden Spruchbänder zeigen jene Zugehörigkeit zur Hauptfigur auch formal. Bereits die ihnen folgenden Jünger wirken unbeteiligter, sie wenden sich nur leicht der Mittelgruppe zu. Die übrigen Apostel sind wohl mit der Absicht des Disputierens jeweils in Zweiergruppen einander verbunden, was besonders an der linken Reliefseite deutlich wird. Vergleichbar der Christusfigur tragen sie alle die traditionelle Kleidung, bestehend aus Tunika und Mantelpallium, die sich lediglich durch Variieren der Manteldrapierung voneinander unterscheidet. Ausgezeichnet wurde nur die vierte Apostelfigur mit einem Mantel, den eine ornamentierte Borte, ein clavus, schmückt (auch trägt sie als einzige Sandalen). Als Muster wurde wieder das Gemmenbandmotiv verwendet, das den Wechsel von einem größeren ovalen und vier kleineren runden Vertiefungen deutlich zeigt. Der Mantel ist mit zwei Enden in modisch-weltlicher Form über der rechten Schulter verknüpft. Zur Deutung dieser Figur können nur Vermutungen geäußert werden. Vielleicht wollte man Johannes auf diese Weise neben Petrus und Paulus hervorheben29. Weit eher jedoch könnte die Darstellung eines Lokalheiligen gemeint sein. Als Kirchenheilige Groningens galten, außer Cyriacus, die Märtyrer Stephan und Veit. Naheliegend wäre auch das Abbild eines uns unbekannten Märtyrers, für den der Kryptenbau bestimmt war. Daß an die Stelle eines Apostels auch ein Heiliger, wie beispielsweise Barnabas, treten konnte, beweist seine Darstellung in der Figurenreihe des Halberstädter Apostelteppichs. Domweihe und gleichzeitiger Namenstag bewirkten hier seine Verewigung im Bild (vgl. L. v. Wilckens, Anm. 37, S. 287). Als rein dekorativer Abschluß kann der Wellenrankenfries angesehen werden. Über dem Haupt Christi befindet sich eine Blüte in halbkreisförmiger Umrandung. Hier, von der Mitte ausgehend, verlaufen die Ranken nach beiden Seiten. Aus der Kleinkunst kommend, wurde das Motiv des Rankenfrieses besonders in der Hoch- und Spätromanik (bis etwa 1230) häufig verwendet. Selbst unmotiviert treten derartige Rankenformen anstelle von Binnenzeichnungen. Ein extremes Beispiel hierfür ist der Kopf des Candidus-Reliquiars aus St. Maurice d'Augune, dessen Bart in Form einer Wellenranke graviert wurde. Als bauplastisches Schmuckelement sind Wellenranken allein im deutschen Raum vom Mittelrhein über Sachsen (hier besonders häufig) bis in nördliche Gebiete zu finden 30 . Der Gröninger Empore in ihrer Einmaligkeit kann auch stilistisch, zumindest aus dem Bereich der Plastik, nichts direkt Vergleichbares zur Seite gestellt werden. Allgemein erinnern bestimmte Züge an italienische Skulpturen. Auf die nicht zu unterschätzende Bedeutung romanischer Kunst Oberitaliens auch für größere, figürliche, bauplastische Werke im niedersächsischen und sächsischen Raum in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wurde mehrfach verwiesen 31 . Darin könnte eine natürliche Fortsetzung jener engen Bindungen zu Italien gesehen werden, die auch die Kunst des Harzgebietes am Jahrhundertbeginn und vorher stark beeinflußt hatten. Die für Groningens Figuren so charakteristische, plastisch empfundene Körperbildung, ihre Isolierung und symmetrische Verteilung vor dem jetzt wirklich ,leeren' Reliefgrund, sind einer Ordnung unterworfen, die allgemein als typisch italienisch gelten kann und sich damit grundlegend von der Mehrzahl spätromanischer Werke Frank27 28

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Wilhelm Pinder, Die Kunst der deutschen Kaiserzeit. Leipzig 1940, S. 242. Vgl. Joseph Ganttier, Romanische Plastik. Inhalt und Form in der Kunst des 1 1 . u. 12. Jahrhunderts. Wien 1948, S. 85 ff. Zumal außer Petrus und Paulus, welche ihren Sitz in dieser Szenenfolge immer zu Seiten Christi haben, für die übrigen Apostel eine ikonographisch feststehende Anordnung nicht existiert. Hierzu u. a.: Johannes Taubert, Studien zur Fassung romanischer Skulpturen, in: Festschrift W. Schubert, a. a. O., S. 2j8f., Abb. 9 — u. Hans Karlinger, Die romanische Steinplastik in Altbayern und Salzburg. Augsburg 1924. So im Nachwort von Walter Paatz zur Abhandlung von E . Kluckhohn, Die Bedeutung Italiens für die romanische Baukunst und Bauornamentik in Deutschland, a. a. O., S. 103.

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reichs unterscheidet. Anregungen durch italienische Vorbilder dürften also, wenn auch gewiß nur indirekt, für Entstehung und Stil der Gröninger Figuren nicht bedeutungslos gewesen sein. Auch erinnert die Form des emporenbekrönten Einbaus mit vorgewölbtem Mittelstück und gerade verlaufenden Seitenpartien an italienische Ambonen. Ihrem Standort (allerdings frei) oft in der Mittelachse der Kirche entspräche der Einbau in Groningen, der sich hier, übertragen in monumentale Maße, im Westen des Mittelschiffs befindet. Als Vorbild könnte beispielsweise der (rekonstruierte) Ambo des Magdeburger romanischen Domes gedient haben, ein Ausstattungsstück, das in seiner Art gewiß auch in Deutschland nicht selten vorkam 32 . Mit der Form des Ambos wurde seine vermutliche Funktion als Sängerkanzel kombiniert. Vielleicht geschah dies in persönlicher Erinnerung an italienische Kircheninterieurs, etwa als Idee eines Geistlichen, denn der Künstler sollte einzig für die künstlerische Ausführung verantwortlich sein, „Anordnung und Disposition dagegen waren Sache der patres" 33 .

Abb. 4. Christus mit der Wurfschaufel Werkstatt des Roger von Helmarshausen. 1. Viertel des 12. Jahrhunderts Köln, Schnütgen-Museum

Naheliegend muß für Groningen zugleich die Übernahme von Anregungen aus dem westfälischniedersächsischen Kunstkreis gewesen sein, auf Grund seiner Bindungen zum Mutterkloster Corvey. Kenntnis und Nachwirkung so berühmter Werke, wie die eines Roger von Helmarshausen und seiner Schule, sind auch am Gröninger Fries noch zu spüren. So zeigen die schweren, untersetzten und bereits stark plastisch empfundenen Apostel des Godehardschreines im Hildesheimer Dom im Detail Vergleichbares, beispielsweise in der Körperhaltung, im Umfassen ihrer meist aufgeklappten Bücher oder der kappenartig vereinfachten Haarangabe 34 . Eine Figur, wie die des ,Christus mit der Wurfschaufel' 32

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Vgl. zum Magdeburger A m b o : Hilde Meyer, Die Marmorreliefs der Seligpreisungefl in der Marienkapelle des Magdeburger Domes. Phil. Dipl. Berlin 1956 (maschinenschriftl. Exempl. im K H I der Humboldt-Universität Berlin). Hier wurde auch der Gedanke der von Groningen vielleicht übernommenen Ambo-Form geäußert, S. 44.

J. Gantner, a. a. G., S. 45.

Gute Abbildung bei: Erich Meyer, Neue Beiträge zur Kenntnis der Kunst des Roger von Helmarshausen und seines Kreises, in: Westfalen, 25. Bd. 1940, H. 1 - 6 , S. 6ff., Abb. Taf. 5.

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Abb. 5. Halberstadt, Dom Apostelteppich, um 1 1 7 0

Abb. 6. Halberstadt, Dom Apostelteppich, rechte Seite

aus der Werkstatt Rogers im Kölner Schnütgen-Museum, ist dem Gröninger Christus sehr ähnlich. (Abb. 4). Für diese ikonographisch seltene Vorlage des Richters wurde hier ebenso der,ältere' Typus des frontal Thronenden in symmetrischer Haltung verwendet. Gewanddrapierung und Faltenzeichnung sind unmittelbar zu vergleichen, zumal die Verfestigung der Formen bereits weitgehend fortgeschritten ist 35 . So dürfte die Bedeutung kleinplastischer Werke als Vorlage auch für die Gröninger .Bauplastik' nicht unterschätzt werden, denn besonders aus jenem Bereich sind uns Apostelreihen des 12. Jahrhunderts überliefert, die häufig den Schmuck von Reliquienschreinen und Tragaltären bilden36. Anstelle nicht mehr erhaltener Wandmalereien aus der Umgebung Groningens bietet der Apostelteppich im Halberstädter Dom einen vollwertigen Ersatz (Abb. 5 und 6). Seine Entstehung wurde mit überzeugenden Vergleichen zur lokalen Buchmalerei um 1170 angesetzt37. E r wird an hervorragender Stelle, vermutlich im Presbyterium, gehangen haben, das im 12. Jahrhundert noch zum ottonischen Bau gehörte. Zweifellos ist ein so qualitätvolles Werk, das in unmittelbarer Nähe, schon auf Grund 35

I n : Das Schnütgen-Museum. Katalog, Köln 1961, S. 24, Abb. 20. *• Beispiele hierzu u. a. im Katalog: Kunst und Kultur im Weserraum. Münster 1966, Abb. 224/25. " Zum Apostelteppich zuletzt: Leonis von Wilckens, Der Michaels- und Apostelteppich in Halberstadt, in: Festschrift W. Schubert, a. a. O., S. 285 ff. H. L. Nickel, Deutsche romanische Bildteppiche aus den Domschätzen zu Halberstadt und Quedlinburg, Leipzig 1970. Johanna Flemming, E. Lehmann und E. Schubert, Dom und Domschatz zu Häverstädt. Berlin 1973. Die letzte Publikation erschien nach Fertigstellung meines Manuskriptes. E s werden von J . Flemming in sehr ausführlichen Angaben zum Apostelteppich u. a. auch die „engen Beziehungen" zu den Gröninger Skulpturen festgestellt (S. 231).

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Abb. 9. Kloster-Groningen, Wcstcmporc Ausschnitt. Petrus Zeichnung der Fundstellen ursprünglicher Fassung

«truktion der originalen Farbgebung auf Grund der Befunde

Abb. 10. Klostcr-Gröningcn, Wcstempore Ausschnitt. Christus als Weltenrichtcr Zeichnung der Fundstellen ursprünglicher Fassung

seiner Maße in einem längeren Zeitraum entstanden sein muß, Auftraggebern und Künstlern Groningens nicht nur bekannt gewesen, es bot gewiß auch Anregungen zum Umsetzen in die Reüefskulptur. Wir finden viel Vergleichbares, aber auch deutliche Hinweise auf die ,Nachfolge' Groningens und damit für eine genauere Datierung seines Skulpturenfrieses. Komponiert nach dem,Dreifigurenschema' thront Christus als Weltenrichter und Lehrender auf dem Regenbogen 38 . Die ihn umschließende Mandorla halten seine Begleitfiguren, die Erzengel Michael und Gabriel. Ihnen folgen die Apostel, angeführt von Petrus und Paulus. Auf der rechten Seite finden wir wie in Groningen eine durchgehende

Abb. 7. Briefsendender Paulus Miniatur aus Kloster Huysburg, um 1180 Berlin-West, Staatsbibliothek

Bankreihe, links werden die Apostel mit turmähnlichen Phantasiearchitekturen zu Zweiergruppen getrennt. Die Figuren heben sich in klaren Umrißlinien von einem einfarbig blau-grünen Hintergrund ab. Dies, und die großflächige Farbgebung ihrer Mäntel — hier im Wechsel von Rot, Blau und Ocker (in einer kleinen, für die polychrome Wirkung aber völlig überzeugenden Auswahl) — war auch für die ursprüngliche Fassung der Gröninger Empore typisch. Mit Haltung und Gebärden sowie in der bevorzugten Darstellung imDreiviertelpröfil gleichen die Apostel des Halberstädter Teppichs unseren Reliefskulpturen auffallend. Gegensätzlich und damit älteren Vorbildern folgend ist die betonte Isolierung jeder einzelnen Figur des Teppichs durch beigefügte Bänder mit Aufschriften ihrer Namen. Außerdem wirken sie zierlicher und weniger plastisch empfunden als die Gröninger. Der Versuch, die Körperformen und ihre Wölbungen mit Hilfe von modellierenden Zeichnungen hervorzuheben, verbleibt im Flächig-Linearen. Die noch geringe Beherrschung des Anatomischen zeigt sich besonders im Bemühen, die Figuren als Sitzende wiederzugeben. Das Erreichte gleicht eher einem , Schweben' 38

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Auf die technisch bedingte Verschiebung der Hauptgruppe aus der Mittelachse wurde mehrfach hingewiesen. Dazu auch die in Anm. 37 genannten Publikationen.

Forsch, u. Ber. Bd. 17

im Raum vor .hochgeklappten' Bankflächen. Völlig gelöst sind diese Formprobleme bei einer Miniatur aus Kloster Huysburg mit der Darstellung des briefsendenden Apostels Paulus (Abb. 7). Auf dem Thron sitzend, hat er seine Füße, wie die Gröninger Figuren, fest aufgestellt. In zahlreichen kleinteiligen Faltenzügen umhüllen Gewand und Mantel den massigen Körper. Um 1180, etwas später als in Groningen, ist jetzt das einheitlich harmonische Zusammenspiel von Körper und Gewand erreicht39. Unabhängig vom ikonographisch feststehenden Paulustyp erscheint. hier die Ähnlichkeit zur entsprechenden Figur Groningens besonders groß. Dies gilt auch für einen Vergleich der im Hintergrund Wartenden mit den Apostelköpfen. Mit einfachen Mitteln, im formalen und farbigen Variieren der Haarangabe wurde jeder Einzelne mit individuellen Zügen versehen. Beispielsweise könnte der Gröninger Petrus mit der rechts im Hintergrund stehenden Figur verglichen werden. Beiden gemeinsam ist die stilisierte Haarbildung mit großen, vereinzelt stehenden Locken. Die etwas derben, gerundeten Köpfe mit großflächigen Gesichtsformen und vereinfacht klarer Binnenzeichnung scheinen charakteristisch für den Halberstädter Kunstkreis der zweiten Jahrhunderthälfte zu sein. Wir finden diese Merkmale auch bei der Titelminiatur der Hamerslebener Bibel (um 1170) oder an Werken der Textilkunst40. Aus diesem Bereich sei auf das Fragment eines Wandteppichs der gleichen Zeit aus Halberstadt verwiesen, auf dem u. a. Szenen aus dem Leben Christi und das Pfingstwunder geschildert werden. Ihm schließt sich ein gleichfalls nur fragmentarisch erhaltenes Antependium an, das vermutlich aus Huysburg stammte und die Figuren von Christus und Paulus unter Arkaden mit einer bekrönenden Wellenranke zeigt 41 . In Anlehnung an die genannten Beispiele wäre wohl auch weiterhin die seit A . Goldschmidt bestehende Datierung, etwa um 1170, für die Gröninger Empore zu vertreten42. Wie bereits erwähnt wurde, glaubte Bode an ihre Entstehung ,noch' im 12. Jahrhundert, vielleicht sogar um die Jahrhundertmitte, ein etwas zu großzügiger Spielraum, den man doch auf die Zeit um 1 1 7 0 begrenzen sollte. Entscheidend für die Wirkung der Figuren waren die großen wechselnden Farbflächen, die den kubischen Formen der Körper ,auflagen', sie gliederten, aber zugleich optisch in die Fläche zurückdrängten. Von der ursprünglichen Farbigkeit war schon seit langem nichts mehr zu erkennen. Berichte über Farbfunde im 19. und frühen 20. Jahrhundert stützten sich zweifellos nur auf Übermalungsschichten oder deren Reste 43 . Einen Beweis bietet die Bemalung des Gipsabgusses in Groningen, die 1902 „nach alten Farbspuren des Originals" ausgeführt sein soll und von der inzwischen identifizierten ursprünglichen Polychromie entschieden abweicht. Das Interesse für eventuell vorhandene Bemalungshinweise war gerade im 19. Jahrhundert, in Verbindung mit der regen denkmalpflegerischen Tätigkeit im Harzgebiet, groß. So beschreibt bereits Franz Kugler 1838 an Gesimsen und Kapitellen Groningens 44 „die fast fingerdicke Tünche, welche dieselben gegenwärtig bedeckt und ihre Bildung noch unförmiger erscheinen läßt, als sie es schon an sich ist. Wenn man die Tünche wegschabt, so bemerkt man allenthalben die, ohne Zweifel ursprünglichen Farben, mit denen diese Ornamente bemalt waren: Roth, Blau, Grün u.s.w." 45 . An den Emporenfiguren sah er „unter der Tünche womit sie gegenwärtig 39 40

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Farbige Abbildung bei J . Ch. Hampe, Paulus-Bilder aus dem 9. bis 13. Jahrhundert. Hamburg i960, Abb. 8. Abb. der Titelminiatur von der Hamerslebener Bibel u. a. bei L. v. Wilckens, a. a. O., Anm. 37, Abb. 16. Zum Teppichfragment aus Halberstadt vgl.: Ausgewählte Werke. Katalog des Kunstgewerbe-Museums Berlin, Schloß Charlottenburg. Bd. 1, 1963, Kat.-Nr. 11. Hierzu: Renate Kroos, Niedersächsische figürliche Leinen- und Seidenstickereien des 12. bis 14. Jahrhunderts. Phil. Diss. Göttingen 1957, S. 20, Abb. 1. Bis zu dieser Zeitbestimmung durch Adolf Goldschmidt (der man sich auch später weiterhin anschloß, Die Stilentwicklung der romanischen Skulptur in Sachsen, in: Jahrbuch d. Preuß. Kunstsammlungen 21, 1900, S. 228L) wurden im 19. Jahrhundert wesentlich frühere Datierungen angeführt, so z. B. durch F. Kugler und G. Sommer, a. a. O. Beide legen die Entstehung der Empore in den Beginn des 12. Jahrhunderts. Ausführliche Angaben von Farbresten (der Ubermalung) auch bei: Erich Meyer, Die sächsische monumentale Steinplastik von ihren Anfängen bis zum Ende des XII. Jahrhunderts. Phil. Diss. Berlin 1924, S. 95 ff. F. Kugler, Beschreibung einiger alter Kirchen an der Nordseite des Harzes. I. Die Kirche von Kloster- oder WesterGröningen, in: Museum, Blätter für bild. Kunst, Berlin, Jg. 5, 1837, Nr. 16, S. 122. Farbuntersuchungen an Kapitellen und Friesen wären als Vergleich zur Emporenbemalung von Interesse, sie wurden bisher noch nicht durchgeführt.

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überstrichen sind . . . auch die deutlichsten Farbspuren". Vielleicht wäre damals noch einiges von der originalen Farbsubstanz zu retten gewesen, aber diverse ,Freilegungsversuche' werden zur Beschleunigung des Verfalls mit beigetragen haben. In einem Artikel zur Gröninger Emporenbrüstung berichtet G . Sommer 1889: „Nach vorsichtiger Entfernung der starken Übertünchung trat eine gewisse Feinheit der Stuckarbeiten hervor. In wieweit hierbei mit einer Färbung der Flächen, mit Vergoldung und dergl. nachgeholfen sein wird, hat mit völliger Sicherheit nicht festgestellt werden können. Die Reliefs treten so deutlich und kräftig vor, daß wohl kaum ein Bedürfnis zur Bemalung vorliegen konnte, jede Farben-Aufsetzung erhöht nur das Starre und Leblose des Aussehens der Skulpturen." Diese Ansicht zur Polychromie ist der Kuglers völlig entgegengesetzt und wurde auch vom Herausgeber der ,Zeitschrift für christliche Kunst' Alexander Schnütgen ebenda berichtigt (Anm. 4, S. 346): „ A n der ursprünglichen Bemalung gerade dieser Figuren dürfte bei der Gepflogenheit besonders dieser Periode sämtliche Wände (sogar die Möbel) der Kirche farbig zu behandeln, kaum zu zweifeln sein. Die Verwendung des Goldes dürfte bei ihnen, wie bei den gleichzeitigen Wandgemälden auf die Nimben, Attribute, Säume beschränkt gewesen sein." 46 Gleichzeitig mit den Farbuntersuchungen von 1970 konnten einige Übermalungsschichten in Resten belegt und auch vereinzelt zeitlich begrenzt werden. Es war jedoch nahezu unmöglich, diese zahllosen verstreuten Farbfunde durchgehend zu einheitlichen Fassungsbildern zu ordnen. Auch ist fraglich, ob man die Empore bei jeder Erneuerung vollständig oder nur teilweise übermalte. Nur aus den Resten des Hintergrundes konnte abgelesen werden, daß Neufassungen hier mindestens 5 mal vorgenommen wurden. Ihre Abfolge ist zugleich für die Farbgebung bestimmter Zeitabschnitte charakteristisch. Auf die originale Lapislazuli-Bemalung folgte eine zweite Blauschicht mit Azurit, die schon wenig später aufgetragen sein könnte, wenn wir an die Hintergrundbemalungen (mit Azurit) der Halberstädter Chorschrankenreliefs in der Liebfrauenkirche denken. Danach wechselte der Farbton mit einem roten Anstrich (Eisenoxidrot). Aus dem 16. oder 17. Jahrhundert wird die darüberüegende blaue Schicht von Smalte stammen. Später folgte ein gelber Überzug im Ockerton und zuletzt eine steingraue Tünche. Sie war, wie wir sahen, schon zur Zeit Kuglers vorhanden und vermutlich im frühen 19. Jahrhundert (vielleicht 1819 im Zusammenhang mit Bauarbeiten, vgl. O. Leopold, a. a. O., Anm. 4, S. 63) aufgetragen worden. In diesem Farbton erfolgte eine Ergänzung und Erneuerung dann noch einmal, anläßlich der Neuaufstellung der Empore im Deutschen Museum, im Jahre 1930. Z u r u r s p r ü n g l i c h e n F a r b g e b u n g der E m p o r e Als Ergebnis detaillierter Untersuchungen des Fassungsaufbaues konnte die ursprüngliche Polychromie und Vergoldung annähernd rekonstruiert werden (Abb. 8)47. Die im Laufe von Jahrhunderten häufig erneuerten Bemalungsschichten wurden wie das Original in späterer Zeit fast vollständig entfernt. Meist boten nur noch Fassungsreste, allgemein an tiefer liegenden Stellen (in Falten oder an Rändern und Übergängen zu Flächen Abb. 9 u. 10), das nötige Material für die Untersuchungen (im einzelnen zu vergleichen an der beigefügten Aufzeichnung vom Fassungsaufbau). Im Mittelpunkt des Figurenfrieses wurde auf die Bedeutung und Funktion Christi als Herrschender und Weltenrichter zusätzlich durch die purpurne Farbe seines togaähnlich geschlungenen Mantelpalliums verwiesen. In hellem Violett unterschied sich davon die Tunika. Stark kontrastierend muß das blasse Inkarnat mit schwarzer Augenzeichnung und vermutlich auch schwarzer Haar- und Bartangabe gewirkt haben. Ein Vergleich mit den gut erhaltenen Inkarnatfassungen romanischer Christusbilder liegt nahe48. Obwohl am Nimbus nur noch Reste der Mennige-Untermalung und Zinnober 44

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G. Sommer, Die alten Stuckreliefs in der Klosterkirche zu Westgröningen bei Halberstadt, in: Zeitschrift f. christl. Kunst 1 1 , 1889, S. 349. Die sehr umfangreichen farbtechnischen Untersuchungen zur Ubermalung und zur originalen Polychromie wurden von Herrn Restaurator Wolf-Dieter Kunze während seiner Tätigkeit an den Staatlichen Museen erarbeitet. Die Analysen waren für den 1972 erschienenen Katalog der Skulpturensammlung (a. a. O. S. 9) bestimmt. Ihre Ergebnisse wurden in einer kurzen Zusammenfassung mit ausgewertet von K. Riemann, Polychromierte Bildwerke aus Stein und Stuck, a. a. O., S. 18 f. Beispielsweise am Kruzifixus aus der Pfarrkirche zu Frauenberg. Farbige Abbildung u.a. bei: Rudolf Wesenberg, Der Frauenberger Kruzifixus, in: Jahrbuch d. Rheinischen Denkmalpflege, Bd. X X I V , 1962, S. gff., Abb. I.

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erhalten sind, ist eine Vergoldung gerade hier als sicher anzunehmen. Die Goldfläche wurde von einer roten Umrandung begrenzt. Sowohl die trapezförmigen Kreuzarme wie ihr Gemmendekor waren gewiß in der Fassung voneinander unterschieden (eine Vergoldung der Schmuckdetails auf hellroter Unterlage, im Vergleich mit ähnlichen Farbfunden an den Bankstützen, wäre möglich). Das Gleiche muß von der farblichen Gestaltung des Regenbogen-Thrones angenommen werden. Hier waren lediglich an einem Profil rote Bemalungsreste zu erkennen. Grün haben wir uns den Grund der Spruchbänder vorzustellen, während für die Farbe der Beschriftung keine Anhaltspunkte gefunden werden konnten. Als Hintergrund und Darstellung der Himmelszone diente sämtlichen Figuren eine blaue Fläche. Verwendet wurde zur Bemalung Lapislazuli, das grobkörnig und kristallin eine stumpfe Schicht bildete. Es wurde verteilt über der ganzen Empore an zahlreichen Stellen in Resten gefunden. Eine schwarze Untermalung (mit Holzkohleanteilen) gab dem blauen Farbton größere Tiefe und Intensität. Die übliche weiße Grundierungsschicht (sie war der Fassung aller Skulpturen und den Ornamenten unterlegt) fehlte meist am zweischichtigen Aufbau des Hintergrundes. Mantelpallium und Tunika, die beiden Teile der Apostelkleidung, waren auch durch ihre zweifache Farbgebung voneinander unterschieden. Dabei konnte an den meisten Figuren die K o m bination von Rot und Grün festgestellt werden. Bei Petrus und Paulus wurde die Symmetrie der Formen mit Hilfe einer gleichen Bemalung der Gewänder betont (jeder von ihnen trug einen roten Mantel und die grüne Tunika). Anschließend finden wir in der Apostelreihe, mit wenigen Ausnahmen, beide Farben in wechselnder Abfolge. Unterbrochen wird dieses Schema verständlicherweise bei den Figuren 8 und 9 der rechten Reliefseite. Hier müssen wir uns die ehemals dazwischen sitzende (heute zerstörte Skulptur) vorstellen mit einem wahrscheinlich grünen Mantel und rotem Untergewand. Die beiden letzten Apostel dieser Seite wurden für den Aufbau im Museum den vorangehenden Figuren angeschlossen. Unterbrochen wird der Farbrhythmus durch die zweimalige Verwendung von Rot für die Mäntel der nebeneinander sitzenden Apostel 3 und 4. Beim letzteren sei in diesem Zusammenhang noch einmal auf die besondere Manteldrapierung mit der Schmuckborte und auf die verzierten Sandalen verwiesen. Keinerlei Hinweise auf die ursprüngliche Bemalung ergaben die Untersuchungen an der Tunika des 3. und 8. Apostels sowie am Mantelpallium der 5. Figur. Die Verwendung eines anderen Farbtones ist zwar nicht auszuschließen, aber schwer vorstellbar, da ja, wie wir sahen, für die meisten Figuren eine relativ gleichmäßige Folge der Farbverbindungen charakteristisch war. Eine farbliche Änderung von vorgebildeten Formen durch den Faßmaler konnte an der Petrusfigur nachgewiesen werden. O b dies im Nichtverstehen der Faltenzeichnung oder bewußt geschah, muß dahingestellt bleiben. Für eine deutlich begrenzte Stoffbahn des Mantelpalliums über dem linken Bein wurde die Gegenfarbe, das Grün der Tunika, verwendet. Wir dürfen mit Sicherheit annehmen, daß sämtliche Nimben vergoldet waren. Zahlreiche Reste v o n Goldfolie konnten (bis auf den Nimbus des 9. Apostels, hier und am Nimbus der Christusfigur war nur die Untermalung erhalten) durchgehend gefunden werden. Das Gold lag auf einer stark ölhaltigen, bräunlich-gelben Schicht mit einer Mennige-Untermalung. Vereinzelt waren unter dem Mennige-Anstrich Reste v o n Zinnober zu erkennen, oft über die ganze Fläche eines Nimbus verteilt, meist jedoch in Randnähe. Anzunehmen ist daher eine Rotbemalung der auch formal abgegrenzten Nimbusränder 49 . Die gleiche Abfolge von Vergoldungsschichten liegt in den ausgearbeiteten Teilen der Gemmenbandverzierungen, beispielsweise an der Mantelborte des 4. Apostels oder an verschiedenen Stellen der Bankstützen. Hier waren die Vergoldungen vermutlich von hellroten Flächen umgeben. Reste davon, in einer zuunterst liegenden Schicht, wurden rechts v o m 3. Apostel gefunden, ebenso am Profil der Bank. Erstaunlicherweise fehlte jeder Hinweis auf eine ehemalige Blaubemalung am Hintergrund unter den Bänken. A n mehreren Stellen lagen Inseln von sehr farbkräftigem Eisenoxidrot, das vielleicht als Original gelten könnte, aber auch an Übermalungsresten vorkam. Allerdings wäre eine farbig abweichende Flächengestaltung hinter den Bänken durchaus 48

Farbig begrenzte Randbemalungen sind häufig in der Buch- und Monumentalmalerei zu finden, sehr gut zu vergleichen aber auch in der Textilkunst, beispielsweise an den Nimben der Apostelfiguren des Halberstädter Teppichs.

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denkbar und dem Formempfinden dieser Zeit naheliegend (bei der Farbrekonstruktion wurde deshalb am Sitz der 10. Figur in einer Probe das Rot mit eingezeichnet). Ein durchgehend blauer Hintergrund ließ die Bänke zart und zerbrechlich erscheinen, während eine Rotbemalung den Eindruck von massiven, kastenförmigen Sitzgelegenheiten hervorrufen würde, die den schweren Apostelgestalten eher angepaßt wären. An der Wellenranke des oberen Profils lagen unter den Resten meist roter Übermalungsschichten bräunlich-gelbe ölhaltige Überzüge -auf roter Farbe. Sie waren mit der üblichen Unterlage von vorgefundenen Vergoldungen identisch. Es ist naheliegend, für dieses abschließende Schmuckelement eine ursprüngliche Goldfassung anzunehmen. Über der weißen, fast durchgehend verwendeten Grundierung war der farbtechnische Aufbau meist zweischichtig. Die grünen Partien hatten eine gedeckt gelblich-grüne Oberschicht von nicht ganz einheitlicher Zusammensetzung, mit stark ölhaltigem Bindemittel und weitgehend ohne körperhafte Pigmente (neben Kupfergrün enthielt sie Bleiweiß oder Bleigelb und wahrscheinlich einen organischen Farblack). Mitbestimmend für den Farbton war eine hellgrüne Untermalung (die vorwiegend aus Malachit bestand, mit Zusätzen von Bleiweiß und Holzkohleteilchen). Das Rot lag in zwei verschiedenen Arten vor: Eine krappähnliche Farbe mit zweischichtigem Aufbau bestand aus einer dünneren oberen Lage mit Lasurcharakter, die glatt und gleichmäßig aufgetragen war (sie enthielt außer dem wohl organischen Farblack Bleianteile und stark ölhaltiges Bindemittel). Ihre untere Schicht war ungleichmäßig vermischt und setzte sich aus den roten Pigmenten des Farblackes sowie aus Bleiweiß und Mennige zusammen50. Das zweite Rot zeigte einfachen Zinnober (wahrscheinlich mit einem Temperabindemittel) auf hellroter Mennige-Untermalung. Der nachfolgenden Farbtabelle ist zu entnehmen, daß am Mantelpallium Christi sowohl das Krapprot als auch Zinnober mit ihren entsprechenden Unterlagen Verwendung fanden. Dabei muß auf die Möglichkeit von farblich dunkleren Nachzeichnungen der Falten oder auf Schattierungen verwiesen werden. Stellenweise schwarze Unterlagen an den Zinnoberpartien könnten dieselbe kalligraphische Bedeutung haben. Analog zur gleichzeitigen Buch- und Monumentalmalerei gehörten betonende Überzeichnungen bekanntlich meist mit zum Bild intakter Fassungen des n . und 12. Jahrhunderts, wenn man beispielsweise an die Bemalung der Skulpturengruppe des Freudenstädter Lesepults (um 1150) denkt 51 oder an die in neuerer Zeit freigelegte ursprüngliche Fassung der Paderborner Imad-Madonna 52 . Eine Bemalung mit modellierender Wirkung in der Zinnober-Mennige-Kombination zeigt der Kruzifixus aus Forstenried (um 1200). Hier wurde „Mennige durch partielle Abdeckung mit Zinnober in Richtlinien' ausgespart. Der kühlere Zinnober deckte die Tiefen, wogegen die warme Mennige in den Höhen verwendet wurde" 53 . Daß bereits in so früher Zeit lasurähnliche Farblacke auch an Skulpturenfassungen verarbeitet wurden, beweisen uns die Krapp-

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Beispiele ölhaltiger Bindemittel für Farben an romanischen Skulpturen nennt Thomas Brachert, Die Techniken der polychromierten Holzskulpturen, Teil II, a. a. O., S. 256. Ergänzend wäre auf die Verwendung gleichfalls ölhaltiger Bindemittel an den Chorschrankenreliefs der Halberstädter Liebfrauenkirche hinzuweisen, vgl. K. K. Riemann, a. a. O., Polychromierte Bildwerke, S. 20. Gute farbige Abbildung bei: Erich Steingräber, Deutsche Plastik der Frühzeit, Königstein i. T., 1961, S. 5, Text S. 14. Z u r Farbgebung mit modellierender Schattenangabe vgl. auch Johannes Taubert, Studien zur Fassung romanischer Skulpturen, in: Kunst des Mittelalters in Sachsen, Festschrift W. Schubert, Weimar 1967, S. 252. Bereits Wilhelm Pinder hatte für diese Figur mit erstaunlicher Voraussicht auf Grund ihrer Gestaltung „mit echt plastischem Gefühl" den bisher vermuteten Metallüberzug „kaum vermißt" (Pinder, W., Die Kunst der deutschen Kaiserzeit, Leipzig 1940, S. I9}f.). Über ihre sicher ursprüngliche Farbgebung konnte in den letzten Jahren berichtet werden (H. Claussen u. K . Endemann, Zur Restaurierung der Paderborner Imad-Madonna, a. a. O., S. 79 ff.). Mit roten Linien waren plastisch vorgebildete Teile nachgezeichnet. Vergleichbar sind die roten Linien an den Skulpturen des Heiligen Grabes in Gernrode (um 1070) auf monochromer Unterlage, deren Farbangaben von K . Riemann identifiziert werden konnten, in: Polychrom. Bildwerke, a. a. O., S. 1 7 f . Der Hinweis auf vergleichbare Bemalungsformen am Beispiel der karolingischen Stuckköpfe von Disentis zeigt die Tradition des graphischen Anteils für Skulpturenbemalungen. Th. Brachert, a. a. O., Teil II, S. 2 5 1 ; davor: / . Taubert u. F. Buchenrieder, Der Forstenrieder Kruzifixus, in: Deutsche Kunst u. Denkmalpflege, J g . 1962, S. 83 ff. 21

färben und gelblich-grünen, gleichfalls mit organischem Farblack angereicherten Mischungen an der Gröninger Empore. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man an die gleichzeitig hochentwickelte Farbtechnik und beispielsweise an die Rezepturen mit vorrangig verwendeten organischen Farblacken in der Miniaturmalerei denkt. Ihre Herstellung geschah oft in unmittelbarer Nähe einer ,Klosterbauhütte'. Verbindungen und Austausch v o n Erfahrungen sind gewiß nicht auszuschließen und der Einfluß, wenn auch natürlich begrenzt, für die Faßmalerei auch in farbtechnischer Hinsicht anzunehmen 64 . Vorlagen für die Farbkompositionen lieferte nachweisbar die Flächenmalerei und hier besonders Miniaturen. Als Beispiel soll noch einmal, stellvertretend für andere, auf die Huysburger Miniatur mit dem Bild des briefsendenden Apostels Paulus verwiesen werden. Sein Mantelpallium und die Tunika sind wie die Gewänder der Begleitpersonen zweifarbig. Im Unterschied zu Groningen ist die Farbpalette differenzierter. Neben Blau, Rot und Grün finden wir Ockertöne, in einer K o m bination, die der Polychromie des Halberstädter Apostelteppichs ähnlich ist. Mäntel und Untergewänder haben andersfarbige Innenseiten. Auch dies ist bei den Gröninger Aposteln vereinfacht. Die ,Stoffe' ihrer Kleidung sind, vergleichbar denen der Halberstädter Chorschrankenfiguren, durchgehend einfarbig und ohne abgesetzte Innenseite. Auf dem grünen Mantelpallium der i . Apostelfigur Groningens wurden gelb-braune Bemalungsreste mit kleinen Goldteilchen gefunden, die auf eine Dekorierung des Mantels deuten. Sie könnten als verstreute Muster und in ähnlicher Form die Apostelmäntöl geziert haben, wie sie vergleichsweise am Mantel der gemalten Paulusfigur zu finden sind. Goldspuren lagen außerdem an zahlreichen Stellen unmittelbar über der originalen Fassung. In der Nähe eindeutig identifizierter, ehemals vergoldeter Partien könnten sie als »verwehte oder überschüssige' Partikelchen erklärt werden. Ihre Fundstellen an den Gewändern sind jedoch eher mit einem Dekor des Stoffes in Verbindung zu bringen. Ein Vergleich mit den Halberstädter Figuren zeigt auch bei ihnen, allerdings meist in bestem Erhaltungszustand, sehr zarte Muster, die wie gestickt erscheinen und somit an gleichzeitige textile Vorlagen erinnern 55 . O b der plastisch vorgebildeten Borte am Mantel des 4. Apostels der Gröninger Empore, in deren Vertiefungen Goldreste gefunden wurden, auch an den übrigen Mänteln vergoldete Einfassungen entsprachen, ist sehr zweifelhaft. Auch können eventuell vorhandene Goldmuster über dem blauen Hintergrund lediglich vermutet werden. Goldteilchen waren auch hier verstreut, und die Vorstellung eines sternförmigen Dekors ist verlockend. A m Stuckaltar mit der thronenden Muttergottes im Erfurter D o m (um 1160) weisen zum Beispiel plastische Sterne in der oberen Zone der Lünette auf den Himmelsbereich. Ergebnisse der Fassungsuntersuchungen am Erfurter Altar konnten im Rahmen dieses Aufsatzes noch nicht mit berücksichtigt und zum Vergleich herangezogen werden 56 . Außer der stilistisch ähnlichen Farbgebung der Halberstädter Chorschrankenreliefs wäre als spätes Beispiel für die Verwendung der charakteristisch großen Farbflächen die Figur einer trauernden Maria aus Mönchengladbach (Slg. Schwarz) zu nennen. Hier werden noch einmal, um 1230, in einer Zweifarbenkombination Rot und Blau gegenübergestellt. Vorherrschend ist das Zinnoberrot des Mantels, dem sich ein blaues Untergewand anschließt 57 . Außer Gold und rötlichen Mischtönen wurde die erstaunlich polychrome Wirkung der Gröninger Emporenfassung nur mit den Farben Blau, Rot und Grün erreicht. Besonders diese Farben waren für die mittelalterliche Kunst von hoher symbolischer Bedeutung. Ihre umfangreichen Auslegungen können verständlicherweise hier nur informativ angeführt werden 58 . Der Purpurmantel Christi als

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Hierzu: Heinz Roosen-Runge, Farbgebung und Technik frühmittelalterlicher Buchmalerei, München/Berlin 1967, S. 156. Historische Malanweisungen für Buchmalerei, Holzdecken und Wandmalerei unterscheiden sich oft lediglich in der Verwendung des Bindemittels und der mit den Farben zu vermischenden Weißpigmente. K. Riemann, Polychromierte Bildwerke, a. a. O . , S. 19ff. zur Farbe der Chorschrankenreliefs. Diese Untersuchungen zur ursprünglichen Farbigkeit werden im Zusammenhang mit der Restaurierung des Altares zur Zeit v o n den Mitarbeitern des Institutes für Denkmalpflege in Erfurt durchgeführt. Farbige A b b i l d u n g bei: H. P. Hilger u. E. Willemsen, Farbige Bildwerke des Mittelalters im Rheinland, Düsseldorf 1967, S. 30, 62f., A b b . 3. Hierzu: Gottfried Haupt, D i e Farbensymbolik in der sakralen Kunst des abendländischen Mittelalters, Phil. Diss., Leipzig 1941.

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Ausdruck seiner königlichen Macht (hier im Zusammenhang mit seiner Aufgabe als Weltenrichter) ist bekanntlich auf die weltlich-antiken Herrscherbilder zurückzuführen. Zugleich wird aber schon früh in der kirchlichen Literatur des Mittelalters Blutopfer und Passion Christi mit der Purpurfarbe in Verbindung gebracht. Ähnlich kann das Violett am Untergewand Christi gedeutet werden. Es galt als Farbe der Demut und damit des Märtyrertums (vergleichbar dem Rosa, welches in Resten an den Bankstützen der Gröninger Empore zu finden war); so trägt Christus auf Passionsbildern in späterer Zeit oft den violetten Mantel: Die roten Farbreste an einem Profil des Regenbogens haben wir uns ergänzt durch Grün und Blau oder nur zweifarbig, in Verbindung mit Grün, vorzustellen, als Hinweis auf Sintflut und Jüngstes Gericht. Die Bedeutung des Rots für die Apostelgewänder ist analog zum Märtyrertum Christi zu sehen. Sie sind damit sichtbar ihrem Vorbild und Lehrer verbunden. Christus selbst übermittelt seine Botschaft auf grünen Spruchbändern, mit einer Farbe, die der Erde, der Welt nahe lag und zugleich als ewiges, unvergängliches Grün des Jenseits angesehen wurde, als Symbol für Unsterblichkeit und standhaften Glauben. Es war die Farbe der Bekenner und damit der Apostel, die sie als zweite, dem Rot in seiner Bedeutung ebenbürtige Farbe tragen. Auf die hervorragende Stellung des Goldes als beständigstes und somit kostbarstes Material soll nur kurz verwiesen werden. Es wurde hier, an der Gröninger Empore, in relativ sparsamer Verwendung nur an Nimben und Schmuckdetails gebraucht. Auffallend ist die große Fläche in Lapislazuli-Bemalung. Lapislazuli, das in der romanischen Faßmalerei häufiger zu finden ist, muß besonders auf Grund seiner symbolischen Bedeutung für diese Zeit als blaue Farbe vorbildlich gewesen sein. Es wurde dem Saphir, einem der zwölf apokalyptischen Steine, gleichgesetzt, der als Symbol des Himmels galt und die Ausstrahlung göttlicher Weisheit besaß59. Eine,naturalistisch blaue' Lapislazulifläche war demnach in ihrer Bedeutung transzendenten goldenen Hintergründen gleichzusetzen. A u f b a u der o r i g i n a l e n F a s s u n g s r e s t e , die u n t e r den Ü b e r m a l u n g e n f e s t g e s t e l l t u n d anal y s i e r t w e r d e n k o n n t e n . Hier wurde auf eine Darstellung der zahlreichen Ubermalungsschichten verzichtet (die vollständige Dokumentation mit detaillierter Aufzeichnung entsprechender Farbschnitte befindet sich im Archiv der Skulpturensammlung). Christus Inkarnat: An verschiedenen Stellen des Gesichtes konnte die Originalfassung als gedeckter grau-gelber bis bräunlicher Farbton identifiziert werden. Am Körper und an den Händen ist die ursprüngliche Bemalung nicht mehr erhalten. Bemalung des Mundes: Dunkelrot in Resten

Augen: Umrandung schwarz

Vgl. auch Th. Brachert,

dunkelviolett in dünner Lasur (enthält Lapislazuli) hellrot (Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen) schwarz dunkelgrau weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

Vermutliche Farbgebung der Iris: Vom Augenwinkel und Schwarz der Umrandung allmählich in einen bräunlichen Ton übergehend 59

grau-gelb bis bräunlich (rötliche, schwarze Pigmente u. Bleiweiß) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

schwarz bis bräunlich weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

a. a. O., Teil II, S. 253.

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Mantelpallium: Ursprünglich rot. Es konnten zwei unterschiedliche Rottöne festgestellt werden: eine dunkelrote, krappähnliche Schicht und Zinnober. Funktion und Anordnung dieser beiden Arten waren nicht mehr zu klären. Vielleicht wurde das Krapprot zur Umrißund Faltennachzeichnung oder zur Angabe von Schatten verwendet. Tunika: Reste von hellviolett in den Faltentiefen. Eine vollständige Bemalung in diesem Farbton ist anzunehmen.

Nimbus: Reste der Mennige-Untermalung einer ursprünglichen Vergoldung und Zinnober von der Randbemalung. Spruchbänder: Ehemals grün, in Resten am unteren Teil zur Rechten der Christusfigur. Regenbogen mit Gemmenbanddekor: Rote Farbreste am Profil.

dunkelrot (krappähnlich, vermutl. organ. Farblack) oder Zinnober auf weißer Unterlage (Gips mit Bleiweiß anteilen)

hellviolett (Bleiweiß u. dunkelrote Pigmente — wohl organ. Farblack wie am Mantelpallium) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

grün weiß (Gips mit Bleiweißanteilen) rot (Eisenoxidrot und Zinnober) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

A p o s t e l der l i n k e n R e l i e f s e i t e (in der Reihenfolge von rechts nach links) i. P e t r u s Inkarnat: Geringe hellrosa Bemalungsreste mit Mennige-Pigmenten (wohl ursprünglich). Die weiße Grundierung entspricht der üblichen. A n den Augen Spuren von schwarzer Zeichnung. Mantelpallium: Rot in zahlreichen Resten vorhanden, doch nicht immer einheitlich im Aufbau. Meist liegt die Zinnoberschicht über einer Mennige-Untermalung. Schwarze Farbe unter der ZinnoberSchicht weist wieder auf dunklere Faltenangaben hin (zumal sie auch an derartigen Stellen gefunden wurde).

Tunika: Grün in Resten an der Beugung des rechten Armes und über dem rechten Fuß. Eigenartigerweise ist das Grün auch am Mantelpallium zu finden, in einer größeren begrenzten Fläche bedeckte es das linke Bein vollständig. Die Fassung änderte damit die vom Bildhauer vorgezeichnete Form.

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Varianten der ursprünglichen Rotbemalung: i. rot (Zinnober) schwarz weiß (Gips m. Bleiweißanteilen) 2. rot (Zinnober) schwarz hellrot (Mennige) weiß (Gips m. Bleiweißanteilen) 3. rot (Zinnober) hellrot (Mennige) weiß (Gips m. Bleiweißanteilen) gelbliches Grün (weitgehend ohne körperhafte Pigmente mit stark ölhaltigem Bindemittel. Kupfergrün, Bleiweiß oder Bleigelb und vermutl. organ. Farblack) hellgrün (Malachit, Bleiweiß und Holzkohle) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

Nimbus: Ursprünglich vergoldet. Links vom Kopf in der Vertiefung zum Nacken in größeren Resten meist auf zweifacher Rotuntermalung. Das unterste Rot (Zinnober) ist an verschiedenen Stellen zu finden, besonders in der Vertiefung des Außenkreises. Vermutlich wurde der Nimbus von einem roten Rand begrenzt. Reste einer weißen Zwischenschicht an der rechten Schulter gehörten wohl ehemals zur Halsborte der Tunika. 2. A p o s t e l , d e s s e n r e c h t e H a n d auf dem K n i e r u h t Mantelpallium: Grün an verschiedenen Stellen erhalten (über dem linken Handgelenk, neben der rechten Hand, in Gewandfalten). ~ Braun-gelbe Bemalungsreste mit kleinen Goldteilchen am Mantel, über der linken Hand, könnten von einer Ornamentierung stammen.

Tunika: Rot in kleinsten Resten am Ärmel und an der rechten Schulter. A n dieser Stelle mit Farbüberlagerungen zeigen sich Arbeitsvorgang und Reihenfolge des Farbauftrages deutlich. Zuerst erfolgte wohl durchgehend der Auftrag der Untermalungsschichten. Die Mennige-Untermalung liegt neben dem grauschwarzen Grund der Lapislazuli-Schicht. Später wurde Zinnober aufgemalt. Vermutlich war die Tunika mit einer weißen Halsborte besetzt. Reste von Bleiweiß als isolierte Schicht liegen in Schulterhöhe unmittelbar über der Zinnoberbemalung. Nimbus: Reste von Gold in der Tiefe zum Nackenansatz. Es liegt wie üblich über einer Mennige-Untermalung, zuunterst eine rote Farbschicht (Mischfarbe), die wohl zur Bemalung des Randes bestimmt war und gleichzeitig über die ganze Fläche des Nimbus gezogen wurde (sie wurde an mehreren Stellen gefunden).

3. A p o s t e l mit e r h o b e n e r l i n k e r H a n d Inkarnat: Keine Originalfassung festzustellen, nur an den Augen Reste einer schwarzen Umrandung Mantelpallium: Ursprünglich dunkelrot an mehreren Stellen an Falten und in Vertiefungen (beispielsweise über dem linken Knie, in der Beugung des linken Armes, über dem rechten Handgelenk, an den Beinen, auf der linken Schulter und in den Tiefen zum Nimbus).

Gold auf bräunlich-gelber (ölhaltiger) Unterlage weiß (Bleiweiß) hellrot (Mennige) rot (Zinnober) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

gelbliches Grün (weitgehend ohne körperhafte Pigmente mit stark ölhaltigem Bindemittel. Kupfergrün, Bleiweiß oder Bleigelb u. vermutl. organ. Farblack) hellgrün (Malachit, Bleiweiß und Holzkohle) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen) rot (Zinnober) hellrot (Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

Gold auf bräunlich-gelber (ölhaltiger) Unterlage weiß (vermutl. von der Halsborte der Tunika) hellrot (Mennige) rot (Mischung von Zinnober, Eisenoxidrot und Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

dunkelrot (krappähnlich, vermutl. organ. Farblack mit Bleianteil) helleres Rot (Mischung von Pigmenten des roten Lackes und Bleiweiß oder Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

Tunika: Hier fehlen Farbspuren der originalen Fassung völlig. 25

Nimbus : A m Rand Reste des ursprünglichen Goldes.

Gold auf bräunlich-gelber (ölhaltiger) Unterlage hellrot (Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

•4. A p o s t e l ( ? ) , das B u c h u m f a s s e n d Mantel: Ursprünglich rot. In Resten an der rechten Schulter neben der Mantelschließe, über dem rechten Knie, in Faltentiefen des herabhängenden Mantelendes. Besonders an der letztgenannten Stelle war der Aufbau sehr klar zu erkennen. An der Borte mit Gemmenband-Dekor in den größeren Vertiefungen Reste von Gold. Es liegt wie üblich auf einer stark ölhaltigen, bräunlich-gelben Unterlage. Tunika: In der Originalfassung grün, das an einigen Partien festgestellt werden konnte (in der Beugung des rechten Armes, unter dem rechten Arm, in Kniehöhe).

Nimbus: Goldreste in den Vertiefungen am Hals, unter dem Mennigeanstrich Spuren einer rotbraunen Schicht, die als Haarfarbe angesehen werden könnte.

rot (Zinnober) hellrot (Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen) Gold auf bräunlich-gelber (ölhaltiger) Unterlage hellrot (Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen) gelbliches Grün (weitgehend ohne körperhafte Pigmente mit ölhaltigem Bindemittel. Kupfergrün, Bleiweiß oder Bleigelb und vermutl. organ. Farblack) hellgrün (Malachit, Bleiweiß und Holzkohle) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen) Gold auf bräunlich-gelber (ölhaltiger) Unterlage hellrot (Mennige) rotbraun weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

5. B ä r t i g e r A p o s t e l , n a c h r e c h t s b l i c k e n d Inkarnat: Ohne originale Farbe. An den Haaren bräunliche Ockertöne, in den Tiefen der Bartsträhnen dunkle, braunrote Bemalungsreste. Mantelpallium: Ursprüngliche Farbreste waren hier nicht mehr festzustellen. An der Kante des Überwurfes und an der Halsborte schwarze Bemalungsdetails. Tunika: Ursprünglich dunkelrot, zahlreich in Resten erhalten (am rechten Ärmel und in den Falten der Knie- und Fußzone).

Nimbus: Über den Schultern und am Rand vereinzelt Reste von Gold.

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dunkelrot (krappähnlich, vermutl. organ. Farblack mit Bleirot gemischt. weiß (Gips mit Bleiweißanteilen) Gold auf bräunlich-gelber Unterlage (ölhaltig) hellrot (Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

A p o s t e l der r e c h t e n R e l i e f s e i t e (in der Reihenfolge von links nach rechts) 6. P a u l u s Inkarnat: Verschiedene Farbspuren, die nicht identifiziert werden konnten. In den Vertiefungen der Pupillen schwarze Bemalungsreste. Haare: Größere Reste im Farbton von Caput-mortuum, darunter teilweise noch Schwarz (vermutl. original). Mantelpallium: Ursprüngliches Rot am linken Ärmel, rechts über dem Buch, in den Falten an der Seite des linken Beines.

Tunika: Grün: In der Beugung des rechten Armes am Übergang zur quergelegten Faltenbahn des Palliums. In den Tiefen neben dem Bart eingeritztes Zackenmuster mit roten Farbspuren (Mennige), die wahrscheinlich zur Halsborte gehörten.

Nimbus: Goldreste in den Tiefen rings um den Kopf. Eine zweite Rotschicht (Zinnober) verweist wieder auf das Rot der ursprünglichen Randbemalung. Die darunter liegenden schwarzen Farbreste gehörten eventuell mit zur Haarbemalung.

rot (Zinnober) hellrot (Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen) an einigen Stellen fehlt die Mennigeuntermalung gelbliches Grün (weitgehend ohne körperhafte Pigmente, mit stark ölhaltigem Bindemittel. Kupferhaltig, Bleiweiß u. wohl organ. Farblack) hellgrün (Malachit, Bleiweiß) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen) Gold auf bräunlich-gelber (ölhaltiger) Unterlage hellrot (Mennige) rot (Zinnober) Reste von Schwarz weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

7. A p o s t e l , mit ü b e r k r e u z t e n A r m e n das B u c h h a l t e n d Mantelpallium: Ehemals grün. In der Vertiefung zwischen dem linken Arm und Buch noch in originalem Aufbau vorhanden. Sonst nur Reste der Untermalung an verschiedenen Stellen nachweisbar. Tunika: Ursprünglich rot. Reste davon zwischen Buch und rechtem Arm, auf der rechten Schulter und über dem rechten Fuß.

Nimbus: Reste von Gold in der Tiefe zur rechten Schulter und am Außenkreis.

Der zweischichtige Farbaufbau ist den vorhergehenden Beispielen vergleichbar. dunkelrot (krappähnlich, vermutl. organ. Farblack mit Bleianteil) helleres Rot (Mischung von Farblack, Bleiweiß oder Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen) Gold auf bräunlich-gelber (ölhaltiger) Unterlage hellrot (Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

8. A p o s t e l mit e r h o b e n e r r e c h t e r H a n d Mantelpallium: A n verschiedenen Stellen Reste der originalen Rotbemalung

dunkelrot (krappähnlich mit einer 27

erhalten (in den Falten über dem rechten Knie, an Faltenbahnen zwischen den Beinen, in den Tiefen neben dem Buch).

Tunika: An einigen Stellen lagen Farbreste, die jedoch nicht als originale identifiziert werden konnten. Nur an der Kante zum gürtelförmig geschlungenen Mantelbausch war eine der ursprünglichen Grünschichten zu erkennen, dabei handelte es sich um die hellere grüne Unter malung. Nimbus: In den Vertiefungen zur rechten Schulter liegen Reste der originalen Vergoldung. Nur vereinzelt ist die Mennige-Untermalung nachzuweisen. Unter der Mennige-Schicht liegen stellenweise noch Reste von Zinnober, die wohl wieder zur Randbemalung gehörten.

Bleifarbe vermischt) helleres Rot (aus roten Pigmenten des Farblackes und Bleiweiß oder Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

Gold auf bräunlich-gelber (ölhaltiger) Unterlage hellrot (Mennige) rot (Zinnober) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

9. A p o s t e l , das B u c h im S c h o ß mit b e i d e n H ä n d e n h a l t e n d Mantelpallium: Das ursprüngliche Rot war an mehreren Stellen zu finden: An der linken Schulter, in der Tiefe zum Nimbus, an der Innenseite des rechten Armes, unter dem linken Ärmel der Tunika,

dunkelrot (krappähnlich mit Bleianteil) helleres Rot (Mischung vom Farblack, Bleiweiß oder Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

Tunika: Die originale Farbgebung konnte hier nicht mehr nachgewiesen werden. Nimbus: Außer Spuren der Mennige-Untermalung war vom Original nichts erhalten. 10. A p o s t e l mit s e g n e n d e r h o b e n e n H ä n d e n Mantelpallium: Reste der originalen Grünbemalung waren mehrfach festzustellen (in. der Beugung des linken Armes, in der Vertiefung zum Hintergrund und zur Bank, am rechten Oberschenkel und Knie). Tunika: Das originale Rot ist nur in der Tiefe des rechten Ärmelfutters erhalten. Nimbus: In den Vertiefungen am Hals Spuren der Vergoldung im üblichen Fassungsaufbau.

Bänke In den Vertiefungen des Gemmenband-Dekors, an den Bankstützen, befinden sich Reste von ursprünglicher Vergoldung, die im Fassungsaufbau mit den Nimben zu vergleichen sind. 28

gelbliches Grün (Malachit, Bleiweiß oder Bleigelb und organ. Farblack) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen) rot (Zinnober) hellrot (Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen) Gold auf bräunlich-gelber (ölhaltiger) Unterlage hellrot (Mennige) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen) Gold auf bräunlich-gelber (ölhaltiger) Unterlage hellrot (Mennige)

(Zu finden an den Bankstützen z. B. rechts vom 2., 3., 4. und 10. Apostel.) Die Flächen der Gemmenfelder waren vermutlich farblich hellrot gehalten. Reste davon liegen unter der Mennigeschicht an einer Stelle der Bankstütze rechts vom 3. Apostel (Zinnober und Bleiweiß). Eine ähnlich rosa-gelbe Bemalung befindet sich am Profil der Sitzfläche rechts neben dem 2. Apostel. Am Hintergrund unter den Bänken fanden sich keinerlei Reste der üblichen Lapislazuli-Bemalung. Vermutlich waren diese Partien farbig anders gestaltet. Zuunterst liegendes Eisenoxidrot in Resten könnte als Original angesehen werden (z. B. an den Bankstützen bei den Apostelfiguren 1, 2, 3, 4, 9). Hintergrund Zahlreiche Reste der ehemals blauen Bemalung (mit Lapislazuli) waren verstreut an der Fläche und in Vertiefungen zu finden. Aus der Fülle dieser blauen Farbstellen sollen hier nur zwei begrenzte Partien genannt werden: In der Umgebung der Christusfigur — zwischen den Fingern der rechten Hand, in der Nähe seines Nimbus, des Regenbogens und der Spruchbänder; besonders gut erhalten auch am Hintergrund zwischen Nimbus und Gesimsrand, über der zweiten Apostelfigur der linken Reliefseite. Unter der Lapislazuli-Bemalung liegt eine schwarze Schicht (mit Anteilen von Holzkohle, stellenweise auch schwarzgrau in einer Mischung aus Holzkohle, Bleiweiß und eisenoxidhaltigen Pigmenten). Die übliche weiße Grundierung war in der Nähe der figürlichen Teile zu finden, fehlte jedoch unter glatten Flächen.

weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

blau (Lapislazuli) grau-schwarz untermalt (Anteile von Holzkohle) weiß (Gips mit Bleiweißanteilen)

O b e r e s P r o f i l mit W e l l e n r a n k e Unter meist roten Übermalungsresten lagen an verschiedenen Stellen bräunlich-gelbe, ölhaltige Überzüge auf roter Untermalung, die auf eine ehemalige Goldfassung weisen. Z u r E r w e r b u n g der G r ö n i n g e r E m p o r e Im Zusammenhang mit einer geplanten Restaurierung der Kirche von Kloster Groningen wurden 1898 Vorschläge zur Erhaltung der Empore und zur Wiederherstellung der Kirche von Seiten der Regierung und des Konservators Persius erbracht, die schließlich zur Übernahme der Reliefs in den Museumsbesitz führen sollten60. Persius zitiert im folgenden Gutachten zur Kircheninstandsetzung vom 4. Juli 1899 unter anderem Stellen eines vorangegangenen Regierungsberichtes 61 : „Nachdem im vergangenen Jahre von der Meßbildanstalt photographische Aufnahmen der Kirche und namentlich der Stuckreliefs an der Brüstung der Westempore angefertigt worden sind, wird vor weiterer Entscheidung über die geplante Instandsetzung folgende Frage zu erörtern sein. Die Regierung geht in ihrem Bericht vom 25. Januar vorigen Jahres G III A. 185 davon aus, daß ,die Stuckreliefs durch sachverständige gewandte Künstler zu vervollständigen und durch einen hervorragenden geübten Kunstmaler in ihrem noch erkennbaren Schmuck in pietätvollster Weise wiederherzustellen'

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Bereits in den achtziger und frühen neunziger Jahren wurden Hinweise auf den schlechten Erhaltungszustand der Reliefs und Vorschläge für ihre Rettung gegeben. So bei G. Sommer, Die alten Stuckreliefs in der Klosterkirche zu Westgröningen, a. a. O., Sp. 348., sowie bei G. Schmidt in seiner Darstellung der Bau- und Kunstdenkmäler, 1891, S. 96: „Bei der Seltenheit so alter Stuckarbeiten und der Gefahr weiterer Zerstörung wäre es wünschenswerth, wenigstens die Mittelgruppe baldigst in das Provinzial-Museum zu retten." Archiv der Staatlichen Museen Berlin. Akten zur Erwerbung, Bd. 13, S K S 32. 1899 — 1901. Nr. 2646/1899.

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seien. Weiter heißt es:, Wollte man die Brüstung in ihrem Torso freilegen, dann würden die wohlberechtigten Klagen der Kirchengemeinde über eine Verunzierung ihres Gotteshauses kein Ende nehmen'. Nach den heute geltenden Grundsätzen der Denkmalpflege ist es unzulässig, so bedeutsame, kunstgeschichtlich merkwürdige Bildwerke zu ergänzen. E s würde also nur der Ausweg übrigbleiben, daß die Stuckreliefs in ein Museum überführt und nach sorgfältiger Reinigung Abgüsse angefertigt werden, welche dann, wie es die Gemeinde wünscht, zu ergänzen und statt der Originale der Kirche zu überweisen wären. Es kommt nun zunächst darauf an, festzustellen, ob eine Entfernung der Reliefs von ihrem Platze möglich ist, ohne Gefahr zu laufen, daß sie beschädigt oder wohl gar zerstört werden. Ich befürworte, daß die Generalverwaltung der Königlichen Museen ersucht wird, durch einen Sachverständigen (vielleicht den Professor und Lehrer am Kunstgewerbemuseum, Herrn Behrendt) eine örtliche Besichtigung vornehmen und ein Gutachten abgeben zu lassen. Ist hierüber ein Urteil gewonnen, so kommt weiter in Frage, ob nicht die ursprünglich vorhanden gewesene farbige Dekoration des Innern der Kirche, wovon sich, wie die Photographien zeigen, sehr deutliche Reste erhalten haben, gleichzeitig mit den sonst geplanten Instandsetzungsarbeiten wiederhergestellt werden soll. Gegen die Ergänzung eines solchen ornamentalen Schmuckes sind vom Standpunkt der Denkmalpflege keine Bedenken zu erheben. Die Ausführung müßte aber durch einen bewährten Künstler erfolgen, welcher zunächst einen Anschlag anzufertigen hätte, damit wegen Aufbringung der Kosten das Weitere in die Wege geleitet werden kann." gez. P e r s i u s Bode erbat auf Grund dieses Berichtes die genannten Fotos mit folgender Bemerkung: „zumal sich hier vielleicht die Gelegenheit bietet, die Originale für unsere Königlichen Museen zu erwerben und im Neubau passend aufzustellen". Ähnlich äußert er sich wenig später: „ S o derb ja wohl die Arbeit noch ist, so würde sie doch einen interessanten Mittelpunkt für unsere leider sehr kleine Sammlung frühmittelalterlicher deutscher Skulpturen abgeben" 62 . Im Hinblick auf die Erwerbung der Reliefs fuhr im Frühjahr 1900 der technische Inspektor Siescke von der Gipsformerei Berlin-Charlottenburg zur Besichtigung nach Groningen. Sein Bericht über diese Dienstreise vom 30. 4. 1900 lautet wie folgt: „Die Figuren befinden sich an einer fünf Meter hohen Wand, deren oberer Teil, die Balustrade, durch den Vorbau der Orgel ganz verdeckt ist. Sie sind circa 90 cm hoch und 1 — 8 cm vorstehend. An und für sich bietet das Abschneiden derselben keine Schwierigkeiten, jedoch würde ich unmaßgeblich diese Art der Entfernung nicht vorschlagen, da zu befürchten ist, daß die weit von den Körpern abstehenden Hände, Spruchbänder und namentlich die Bank, Teile, welche nur 1 cm hervortreten, nicht immer Festigkeit genug besitzen, um den Transport auszuhalten. Dahingegen bietet das Entfernen der ganzen Balustrade, welche ca. 1,20 m hoch und 15 cm stark ist, ebenfalls keine Schwierigkeiten und den Vorteil, daß die Figuren vor jeder Beschädigung geschützt sind. E s braucht bei dieser Art nur der 5,20 Meter lange Teil in 4— 5 Stücke zerlegt werden. Etwaige Eisen lassen sich von der Rückseite sehr leicht freilegen. Wenn es sich nur um den Schutz und°nicht auch um den Besitz der Balustrade handelt, so kann ich nicht recht begreifen, weshalb die Orgel vor derselben auf ein ganz primitives Holzgerüst aufgestellt und hier durch die Balustrade den Kirchengängern zugänglich gemacht ist. Es war und ist noch jetzt sehr leicht, die Orgel in dem Raum hinter der Balustrade aufzustellen; hierdurch wird die Kirche um den Orgelraum größer, die Balustrade mit den Reliefs 4 Meter hoch gestellt und der ziemlich unschöne Zustand des jetzt durch eine Wand abgeschlossenen Raumes beseitigt. Hinter der Balustradenwand befindet sich eine Krypta, in deren Schutt sich nach Auskunft des Herrn Pastors Heine viele Teile des Reliefs finden dürften, vielleicht auch die beiden fehlenden Apostel. Die Kosten für das Entfernen der Balustrade, das Formen der Reliefs und Wiederanbringen neuer Gipsabgüsse an Ort und Stelle habe ich auf rund 1000 Mark berechnet. Für diesen Preis läßt sich auch das Verlagern der Orgel nach dem hinteren Räume ausführen." 63 Durch den Vorbau eines Orgelraumes, der über eine kleine Holztreppe an der Südseite zu erreichen war, wurde die Empore mit ihren Skulpturen also fast verdeckt und war seit langer Zeit kaum 62 63

Erwerbung, Bd. 13, Nr. 3530/1900. Erwerbung, Bd. 13, Nr. 1623/1900.

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sichtbar. Zeichnungen des Grund- und Aufrisses der Anlage fügte Siescke seinem Bericht bei. Noch im gleichen Jahr konnte eine Einigung zwischen Kirchengemeinde und dem Berliner Museum erzielt werden. Der Verkauf der Emporenreliefs wurde beschlossen: „Die Originale der den Heiland und 10 Apostel darstellenden Stuckfiguren werden unter der Bedingung an die Königlichen Museen abgegeben, daß sie (die Kirchengemeinde) statt dieser Originale sachgemäß ergänzte Nachbildungen zurückerhält. Die Generalverwaltung glaubt, diese Bedingungen dahin auffassen zu sollen, daß die Gemeinde von den betr. Figuren Gipsabgüsse wünscht, die in diesem Material in bezug auf die fehlenden Gliedmaßen zu ergänzen und außerdem eventuell mit einem Farbton zu versehen sein würden. Damit die Loslösung der Figuren und der Transport sachgemäß erfolgen, dürfte es sich anbieten, die betr. Arbeiten durch Beamte und Arbeiter der Gipsformerei des Königlichen Museums ausführen zu lassen." 64 Im März 1901 begann der Ausbau. Zur Erleichterung des Transportes wurde, wie Siescke vorgeschlagen hatte, der Figurenfries in Platten zerlegt, so daß die ganze Brüstung aus sieben einzelnen Teilen wieder zusammengesetzt werden konnte65. Zunächst wurden die Reliefplatten nach BerlinCharlottenburg in die Gipsformerei überführt und vorläufig unter Nr. 1070 inventarisiert. Hier, in der Gipsformerei, blieben sie bis zur Aufstellung, 1904, im Neubau am Kupfergraben. Bodes sicheres Urteil zu den Ergänzungen der gewünschten Gipsabgüsse ist bezeichnend für sein stilistisches Einfühlungsvermögen, und seine diesbezüglichen Äußerungen sind modern für die damalige Zeit. Auf Grund von Berichten im Berliner Museumsarchiv soll in diesem Rahmen kurz darauf eingegangen werden. Für die Ergänzungsarbeiten wurde zunächst der Bildhauer Paul Mehnert vorgeschlagen, so von Direktor Ewald und Professor Behrendt (von der Kunstgewerbeschule). Doch wie es im Bericht heißt: „fürchtet Herr Geh. Rat Bode, daß ein Bildhauer, wie Herr Mehnert, die Ergänzungen der primitiven Bildwerke nicht in geeigneter Weise ausführen würde". Sein Vorschlag, den Restaurator der Antikenabteilung, Freres, für diese Arbeiten heranzuziehen, scheiterte an dessen Gesundheitszustand und sonstiger Überlastung. Als noch günstiger für diese Ergänzungsarbeiten nennt Bode wenig später den „Hausarbeiter und Museumsdiener" Reibs: „er hat ähnliche Arbeiten bei uns sehr zur Befriedigung gemacht, die Restauration würde dadurch vielmehr im Charakter der Zeit ausfallen, als wenn ein Bildhauer die Restauration machen würde." Als Vorlagen für die Ergänzungen sollten romanische Bildwerke, etwa „die ganz ähnlichen, fast gleichgroßen Reliefs der Apostel an den Schranken des Domes zu Hildesheim", dienen66. Schließlich wurde durch Vermittlung R. Borrmanns der Bildhauer Prof. Riegelmann für die Arbeiten gewonnen und während Bodes Abwesenheit von Berlin der Vertrag abgeschlossen. Darauf folgte sein Einwand: „weshalb der Abschluß des Vertrages gar nicht erst einmal zur Kenntnis gebracht worden ist. Es lag mir daran, daß n i c h t ein moderner Bildhauer die Restaurierung in die Hände bekäme, sondern daß sie unter u n s e r e r d i r e k t e n L e i t u n g , und zwar nach alten Modellen gemacht wird. Deshalb hatte ich Freres vorgeschlagen und Dr. Haseloff gebeten, die Vorlagen zu liefern. Eine ähnliche Reparatur, die vor langer Zeit an solchen romanischen und ähnlichen Skulpturen bei uns durch Künstler aufgeführt worden sind, habe ich schließlich beseitigen lassen müssen, weil sie zu . . . stilwidrig ausgeführt waren 67 . Im Kreise der Kollegen von Denkmalpflege und Museum scheint man sich, entgegen Bodes Vorschlägen, über die vollständige Ergänzung des Figurenfrieses durch einen Bildhauer einig gewesen zu sein. Borrmanns Bericht zum Kostenanschlag an die Generalverwaltung der Museen beweist es: „ D a die ergänzten Gipse in der Kirche die Stelle des Originals einnehmen sollen, handelt es sich bei der Arbeit nicht bloß um Ergänzung der beschädigten Teile und fehlenden Köpfe, sondern um Modellierung zweier ganzer jetzt fehlender Figuren. Ich würde Bedenken tragen, die Arbeit jemand anzuvertrauen, der nicht mit der romanischen Formensprache durchaus vertraut ist. In dem Vor-

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Erwerbung, Bd. 13, zu Nr. 3550/1900. Hierzu auch Erich Meyer, a. a. O., S. 91. 6 ® Erwerbung, Bd. 14, Nr. 940/1902. 67 Ein Wort der handschriftlichen Notiz Bodes konnte nicht entziffert werden. 65

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schlag, Prof. Riegelmann mit der Ergänzung zu beauftragen, befinde ich mich im Einvernehmen mit dem Geh. Baurat Hassfeld, der die Erneuerung und den Aufbau der Kirche Groningen leitet." Gleichfalls erinnert Generaldirektor Schöne auf Bodes Einwendungen daran, daß „der Bildhauer Riegelmann in der romanischen Formensprache ganz besonders bewandert ist. E r hat die zahlreichen Bildwerke an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und den sogenannten romanischen Häusern ausgeführt und dadurch eine Übung in der Behandlung seiner Stilformen, die man in Berlin schwerlich bei einem anderen Bildhauer antreffen wird. In der Erwägung dieser Gründe und nach der Lage der Umstände (die Empore sollte möglichst vor der endgültigen Restaurierung des Kirchenraumes wiederhergestellt sein) möchte ich doch bitten, sich mit dem Vorschlage des Herrn Prof. Riegelmann einverstanden zu erklären." Die Bemalung des Gipsabgusses mit seinen Ergänzungen führte in Groningen der Berliner Maler August Oetken aus ,nach den alten Farbspuren des in Berlin befindlichen Originals'. Der für damalige Verhältnisse hohe Preis von 495,— Mark wurde von Baurat Hagemann von der Kreisbauinspektion Oschersleben unter anderem begründet: „weil zunächst Studien und Farbskizzen von den Originalen zu machen waren und auch sonst die Arbeit sehr mühsam und zeitraubend war." Oetken richtete sich bei den Studien der Farbreste gleichfalls nach der Übermalung, die, wie oben erwähnt, vorher mehrfach vermerkt wurde. Nach Aufstellung der Gröninger Emporenbrüstung im ehemaligen Kaiser-Friedrich-Museum wurde sie 1930 als Mittelpunkt der deutschen Plastik des 12. und 13. Jahrhunderts in den Neubau des Deutschen Museums überführt. Hier blieb sie auch noch in den ersten Jahren des Krieges. Als .schwer bewegliches Kunstgut' wurde zunächst von einer Verlagerung abgesehen, zumal ein nunmehr dritter Transport in rund 40 Jahren den Erhaltungszustand der Empore auf Grund ihres ohnehin anfälligen Materials gefährdet hätte. 1941 wurde sie eingerüstet und verschalt, im folgenden Jahr eingemauert. Erst im Oktober 1943 entschloß man sich endgültig für den Ausbau und die Verlagerung in den Bunker am Berliner Zoologischen Garten. Hier konnten die Reliefplatten nach Kriegsende, im Mai 1945, von Angehörigen der sowjetischen Armee sichergestellt werden. Sie wurden zuerst nach BerlinKarlshorst, später in die Sowjetunion überführt. 1958 kehrten sie mit den übrigen Kunstwerken zurück68. Da im Bau des heutigen Bode-Museums die Kriegsbeschädigungen noch nicht wieder völlig beseitigt werden konnten, sind auch die Ausstellungsmöglichkeiten für die Skulpturensammlung derartig begrenzt, daß sich zunächst nur Platz für eine Reliefplatte des Gröninger Figurenfrieses fand. In dem kleinen sogenannten ,Trierer Raum' für mittelalterliche Kunst wurde sie gemeinsam mit dem Kruzifixus der Naumburger Moritzkirche und den Prophetenfiguren der Liebfrauenkirche zu Trier gezeigt (S. 13, Abb. 1 in der 1962 erschienenen Wegleitung: „Kunstwerke der Skulpturen-Sammlung im Bode-Museum"). Wiederholte Anfragen aus dem Kreis interessierter Besucher waren schließlich der Anlaß zum Aufbau der Empore in einem Raum der ersten Etage, der bisher noch die Studiensammlung beherbergt. Künftig wird hier die gesamte deutsche Plastik des 12. und 13. Jahrhunderts ausgestellt. Bis dahin können die Gröninger Reliefs auf Wunsch wenigstens wieder im Ensemble an der Emporenbrüstung besichtigt werden. 68

S K S Bergungslisten 1 — 3, 7, 9, 10/128, 129, 130, 134, 136, 137.

Abbildungsnachweis: Abb. Abb. Abb. Abb.

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1, 2, 7: 4:

5 und 6: Institut für Denkmalpflege Halle 3, 8, 9 und 10: Staatliche Museen Berlin Repro aus: J . Ch. Hampe, Paulus-Bilder aus dem 9. —13. Jahrhundert. Hamburg i960, Nr. 8 Repro aus: Kunst und Kultur im Weserraum, Katalog Münster/Westf., 1966, Abb. 220

D E R M I H R A B D E R B E Y H A K I M M O S C H E E IN K O N Y A

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EIN D E N K M A L U N D SEINE GESCHICHTE (mit Tafel 1 — 3)

Volkmar Enderlein I In Konya, der einstigen Residenz der Rüm-Seldschuken, steht noch heute eine äußerlich bescheidene Moschee. Sie wird Bey Hakim Moschee genannt, da sie nach der lokalen, mündlichen Überlieferung das Grab eines Leibarztes der Seldschuken-Sultane beherbergt1. Noch um die Jahrhundertwende war die reiche Innenausstattung des Baues erhalten. Der kostbarste Schmuck bestand in der monumentalen Gebetsnische, dem Mihräb, der seit 1967 nach mehrjährigen Restaurierungsarbeiten in der Ausstellung des Islamischen Museums gezeigt wird (Abb. 2). Da eine Untersuchung des Ornamentschatzes und der Schriftfriese der Gebetsnische zu ihrem besseren Verständnis eine Einbeziehung der Ausstattung des ganzen Baues erfordert, soll diese geschildert werden, soweit das nach alten Fotoaufnahmen und den in verschiedenen Museen erhaltenen Fragmenten möglich ist. Gegenwärtig ist die Bey Hakim Moschee bis auf unbedeutende Reste ihrer originalen Ausstattung beraubt. Dem eigentlichen Gebetsraum ist ein Vorbau vorgelagert, der aus einer mittleren Eingangshalle und zwei seitlichen Nebenräumen besteht2 (Abb. 3). 1899 war die Vorhalle noch vollständig erhalten3. Ihre Wände waren bis zum oberen Abschluß der Türumrahmungen, also bis zu einer Höhe von 2,70 m, mit einfarbigen, türkisgrünen Sechseckfliesen verkleidet. Gegen diese monochrome Wandverkleidung hoben sich die rechteckigen Türumrahmungen mit eingestellter Spitzbogenöffnung durch ihr unverputztes Ziegelmauerwerk wirkungsvoll ab. In den Türumrahmungen war die Fläche zwischen dem Spitzbogen und dem horizontalen oberen Abschluß mit Fayence-Mosaik bedeckt. Es bestand aus zwei Zwickelfeldern, die auf türkisgrünem Grund manganschwarzes Arabeskenwerk zeigten, das um eine diagonal stehende Achse geordnet war4. Ähnlich komponierte Zwickelfelder finden sich noch heute an dem 1283 datierten Mausoleum des Sahib Ata in Konya 5 . Über den Zwickelfeldern befand sich eine rechteckige Inschriftplatte. Sie ist nur von der linken Seitentür erhalten und bietet in großzügigem Nashi vor hellblauen Spiralranken auf weißem Mörtelgrund nach der Lesung von Eugen Mittwoch 6 den koranischen Text (Sure 39, Vers 12): „Sind denn gleich diejenigen, die wissend sind, und diejenigen, die nicht wissen?" Erhalten geblieben und mit Sicherheit lokalisierbar sind aus dem Vorraum der Moschee vier Türflügel, die zum Haupteingang in den Moscheeraum und zu dem linken Seitenraum gehörten. Beide Türen sind reich geschnitzt und geben auf den Hauptfeldern mit Arabesken gefülltes Kassettenwerk

1

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3

F. Sarre, Konia — Seldschukische Baudenkmäler (Denkmäler persischer Baukunst Teil 1), unter Mitwirkung von Baurat G. Krecker u. Dr. M. Deri, Berlin (1921), S. 14. Süheyl A. Ünver, Sel$uk Tababeti, Ankara 1940, Abb. S. 191. F. Sarre, Seldschukische Kleinkunst, Erzeugnisse islamischer Kunst, Teil II, Leipzig 1909, S. 32, Abb. 28. Die erhaltenen Fragmente im Victoria and Albert Museum, London, und im Islamischen Museum, Berlin, wurden beschrieben und lokalisiert von M. Metnecke, Fayencedekorationen seldschukischer Sakralbauten in Kleinasien, Diss., Hamburg (1968), S. 465—466. Oktay Aslanapa, Turkish Art and Architecture, London 1971, S. 273, Abb. 212. Sarre (wie Anm. 3), S. 33. Das Original stark zerstört erhalten im Museum in Konya, Inv.-Nr. 918. F o r s c h , u. B e r . B d . 17

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wieder. Auf Schrifttafeln, die den oberen Abschluß bilden, liest man koreanische Texte. Das Arabeskenwerk in den Kassetten war ursprünglich vergoldet und wurde durch rote Rahmenleisten eingefaßt. Die Schriftzeichen standen ebenfalls golden vor einem blauen Grund. Der Vorraum wurde daher in seiner Farbigkeit vor allem durch diese Türen bestimmt, deren Kostbarkeit zu den schlichten Türumrahmungen kontrastierte. Die festliche Ausstattung des Vorraumes bereitete den Besucher auf den eigentlichen Moscheeraum vor, wie die innere Sammlung dem islamischen Gebet vorangehen soll. Die mittlere Tür (Tafel 2), die den Moscheeraum verschloß, wurde 1913 für das Islamische Museum aus Privatbesitz erworben. Sie war vorher schon mehrfach veröffentlicht worden 7 . Kleinteilige Sechsund Fünfecke, Rauten und Dreiecke bilden auf den bis zum Boden reichenden Hauptfeldern eine fortlaufende Musterung. Die Hauptfelder und die Schrifttafeln werden von schmalen Borten, die aus sich durchdringenden Arabeskranken bestehen, eingefaßt. Die beiden Schrifttafeln geben nach der Lesung von Löytved 8 den koranischen Text (Sure 9, Vers 18): „Besuchen nur soll die Moscheen Allahs, wer da glaubt an Allah und an den Jüngsten T a g . " Es ist eigentümlich und bisher nicht bemerkt worden, daß der Text auf der links folgenden Tür 9 (Tafel 1), die in den südlichen Nebenraum führte, fortgesetzt wird. E r lautet: „und das Gebet verrichtet und die Armensteuer zahlt." (Sure 9, Vers 18.)

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Beide Türen sind in ihren Texten, die mit Glaubensbekenntnis, Gebet und Armensteuer die wichtigsten islamischen Pflichten nennen, bewußt zueinander geordnet, wohingegen sie sich in ihrer Komposition und dem Stil des Kassettenwerks deutlich unterscheiden. Die Türflügel des linken Seitenraumes sind in drei Zonen gegliedert. Sie zeigen Sockelfelder, in denen eine Arabeskstaude steht, größeres Kassettenwerk in den Hauptfeldern, die symmetrisch zueinander komponiert sind, und oben die abschließenden Schrifttafeln. Sarre hat die Tür, wie auch die beiden anderen, 1899 noch in situ gesehen und vermerkt, daß der reich verzierte Riegelbalken vorhanden war. Die Tür befindet sich inzwischen im Museum in Konya (Inv.-Nr. 330) und ist nicht mehr so vollständig erhalten. Die Tür zum rechten Seitenraum, dem Grabraum mit dem Sarkophag, wird.in der Literatur nicht beschrieben. Aus Gründen der Symmetrie, die bei islamischen Denkmälern meist eingehalten wird, war sie vermutlich ähnlich gegliedert wie die gegenüberliegende. Diese Bedingung trifft für eine Tür aus Konya zu, die das Islamische Museum 1910 auf der „Ausstellung muhammedanischer Kunst" in München zeigte 10 (Tafel 3). Die Türflächen bestehen auch hier aus Sockelfeldern mit symmetrisch geordnetem Arabeskenwerk und aus Hauptfeldern, auf denen Polygone um einen vielzackigen Stern kreisen, der durch die Rahmenborten und den erhaltenen Riegelbalken geteilt wird. Die Schriftfelder enthalten folgenden arabischen Text:

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J. H. Löytved, Konia — Inschriften der seldschukischen Bauten, Berlin 1907, S. 87; Sarre (wie Anm. 3), S. 32, Taf. XII. vgl. Anm. 7. 9 Sarre (wie Anm. 3), S. 33, Abb. 28; D. T. Rice, Islamic Art, London 1965, Fig. 176. Rice bildet die Tür ohne Herkunftsangabe ab und datiert sie ins 12. Jahrhundert. Der arabische Text hier sehr gut lesbar. 10 F. Sarre u. F. R. Martin, Die Ausstellung von Meisterwerken muhammedanischer Kunst in München 1910, München 1912, Bd. 3, Taf. 246;H. Glück u. E. Die%, Die Kunst des Islam, Propyläen-Kunstgeschichte V, Berlin 1925, S. 472; B. Brentjes, Die Söhne Ismaels, Leipzig 1971, Abb. 121. Diese Türflügel werden von Eisenbändern zusammengehalten, die auf dieselbe Weise dekoriert sind, wie man es nach alten Aufnahmen (vgl. Anm. 7 u. 9) auch auf der mittleren und der linken Tür feststellen kann. Heute sind die Eisenbänder auf den beiden letzteren entfernt. Auch dieses technische Detail spricht für die Zusammengehörigkeit der drei Türpaare. 8

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der in deutscher Übersetzung lautet: „Wahrlich, des Menschen eigentliche Bestimmung ist das Erreichen dessen, dem zu entgehen er nicht imstande ist. Und seine Fähigkeit, vergessen zu können, ist ein Ausweichen, solange es ihn nicht ereilt hat." 1 1 Es wird sich mit Sicherheit kaum mehr beweisen lassen, daß die Tür zum Grabraum der Bey Hakim Moschee gehörte, da alle Angaben über ihre Herkunft fehlen, wobei die Umstände der Erwerbung aber für unsere Vermutung sprechen. Der auf ihr angebrachte Text ist als umschreibender Hinweis auf den T o d in diesem Zusammenhang sehr wohl vorstellbar. Sollte die Tür zu den zwei sicher zuzuweisenden gehört haben, so können wir feststellen, daß die Texte bewußt ausgewählt wurden und auf die dahinterliegenden Räume Bezug nahmen. Im eigentlichen Moscheeraum, einem rechteckigen Raum, den eine Kuppel bekrönt, ist von der ursprünglichen Ausstattung in Fayence-Mosaik nur ein Medaillon im Scheitel der Kuppel erhalten12. Es zeigt auf türkisgrünem Grund eine kalligraphische Figur, die von einer Borte aus Arabesken und stilisierten Blütenformen auf hellem Mörtelgrund eingefaßt wird. Diese Borte ist der äußeren Kante des Mihräb (Abb. 2) verwandt, jedoch nicht völlig identisch. Die kalligraphische Figur (Abb. 1) besteht aus kufischen Schriftzeichen, deren Grundlinien einen fünfstrahligen Stern bilden. Die auf

Abb. 1. Kalligraphische Figur aus der Kuppel der Bey Hakim Moschee in Koriya

den Grundlinien ruhenden Buchstabenteile füllen den Stern zum Rund auf. Im Innern ist ein Fünfeck ausgespart, in dem der Name Allahs steht. Genau darüber befindet sich der Name Muhammads. Es folgen links der Name seines Nachfolgers Abü Bakr, dann die Namen der rechtgeleiteten Chalifen 'Umar, 'Utmän und 'Ali. Die Schrift ist ein kräftiges, gedrungenes Küfi, das nur wenige Zierformen verwendet. Es entspricht in seinem Stil der kufischen Inschrift auf dem Mihräb. Die genannten Namen werden vom Muslim religiös verehrt und in kalligraphischer Schreibung häufig zum Schmuck von Moscheen verwendet. Die zentrale Stellung des Medaillons a m B a u und die Bedeutung der an dieser Stelle angebrachten Namen entsprechen einander. II Der Mihräb (Abb. 2) war neben dem Kuppelmedaillon der einzige Teil des Moscheeraumes, der in Fayence-Mosaik ausgeführt war. E r sprang etwa 30 cm aus der Südwand, der Qibla-Mauer, hervor und hob sich außerdem durch seine kräftige Farbigkeit von den gemalten Dekorationen der übrigen Wände ab 13 . Mit seinen Inschriften wandte er sich direkt an den Beter. Die große Rechteck-

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Lesung und Übersetzung verdanke ich H. Schäfer, Berlin. Erstmals veröffentlicht von Meinecke (wie Anm. 4), S. 460, Abb. 572. Meinecke (wie Anm. 4), S. 471. Die Malereien wurden 1965 freigelegt.

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Abb. 2. Mihräb aus der Bey Hakim Moschee in Konya. Islamisches Museum, Inv.-Nr. I. 7193

platte über der Stalaktitennische bietet in großformatigem Nashi einen koranischen Text, der in deutscher Übersetzung lautet: „Und verrichte das Gebet. Siehe das Gebet hütet vor Schandbarem und Verbotenem." (Sure 29, Vers 44) Die Nashi-Inschrift in der untersten Nischenreihe des Gewölbes gibt eine Anweisung über die Haltung beim Gebet. Gelesen wurde die Inschrift von Löytved 1 4 , und er übersetzte sie: „ E s sprach der Prophet — ihm sei Gruß — wenn der Betende weiß, an wen er sich wendet, wird er nicht nach beiden Seiten blicken." Während diese beiden Inschriften durch ihren geläufigen Duktus für den Beter leicht lesbar waren, ist die Inschrift auf der umlaufenden Borte in K ü f l geschrieben. Sie gibt — ebenfalls nach der Lesung von Löytved — den Thronvers aus dem Koran (Sure 2, Vers 256) wieder: „ I m Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen! Allah! E s gibt keinen Gott außer ihm, dem Lebendigen, dem Ewigen! Nicht ergreift ihn Schlummer und nicht Schlaf. Sein ist, was in den Himmeln und was auf Erden. Wer ist's, der da Fürsprache einlegt bei ihm ohne seine Erlaubnis? E r weiß, was zwischen ihren Händen ist und was hinter ihnen, und nicht begreifen sie etwas von seinem Wissen, außer was er will. Weit reicht sein Thron über die Himmel und die Erde, und nicht beschwert ihn beider Hut. Denn er ist der Hohe, der Erhabene." Auf der linken Hälfte des horizontalen Teils des Schriftbandes haben sich einige Fehler in die Inschrift eingeschlichen, was ihre stärker dekorative Bedeutung beweist. Für den Muslim, dem dieser Text besonders heilig ist und den er aus dem Gedächtnis rezitiert, war das vermutlich unwesentlich. Der Thronvers wird häufig während des Gebetes zitiert 15 . Wir dürfen auch für diese Inschrift, wie für die beiden anderen auf dem Mihräb, eine unmittelbare Beziehung zum Gebet feststellen. Der Stil der verwendeten Dukten läßt sich auf zahlreichen Denkmälern der Seldschukenzeit in Kleinasien nachweisen. Für das Nash! bietet die Inschrift auf dem Mihräb der Sirgali Moschee in Konya 1 6 die nächste Parallele. Die kufischen Inschriften in Konya sind meist etwas zierlicher geschrieben und die Oberlängen der Buchstaben zu kunstvollen Knoten verschlungen. Von diesen Flechtknoten abgesehen, ist aber eine Inschrift von der Inge Minareli Medrese in Konya 1 7 , datiert 1258, sehr verwandt. In die Küfi-Inschrift des Mihräbes sind in die beiden oberen Ecken quadratische Felder mit Flechtbandrosetten eingeschoben. Sie sind von T. T. Rice als Beispiele des seldschukischen Flechtbandstils mehrmals abgebildet worden 18 . An dieser Stelle haben sie die Funktion, das Aufeinandertreffen der vertikal und horizontal laufenden Schriftzeilen zu verhindern, bieten also eine Ecklösung. Dieses Problem ist auf demoben erwähnten Mihräb der Sirgali Moschee auf dieselbe Weise bewältigt worden. Die Frage einer gelungenen Ecklösung bei Inschriften scheint im 13. Jahrhundert auf Konya beschränkt gewesen zu sein. So begegnet sie noch einmal auf einer Inschrift eines Brunnens in der Laranda Moschee, datiert 1258, hier allerdings als Relief in Stein 19 . Auf dem Mihräb der Arslan Hane Moschee in Ankara aus dem 13. Jahrhundert laufen die Schriftzeilen an den Ecken ineinander20, so wie es auch auf persischen Gebetsnischen dieser Zeit beobachtet werden kann 21 . Der Gegensatz 14 15

16 17 18

Löytved (wie Anm. 7), S. 88. Der Koran, aus dem Arabischen, Übersetzung von Max Henning, Einleitung von Ernst Werner und Kurt Rudolph, Leipzig 1970, S. 68. Alle Koranzitate des Aufsatzes folgen dieser Ausgabe. Sarre (wie Anm. 3), S. 43, Abb. 34. A. Schimmel, Islamic Calligraphy, Iconography of Religions, Section X X I I : Islam, Fascicle 1, Leiden 1970, S. 18. T. T. Rice, Decorations in the Seljukid Style in the Church of Saint Sophia of Trebizond, in: Beiträge zur Kunstgeschichte Asiens — In Memoriam Ernst Diez, Istanbul 1963, S. 108, Abb. 26; dieselbe, Die Seldschuken, Köln 1963, S. 134, A b b . 39.

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Löytved (wie Anm. 7), S. 52. K. Otto-Dom, Türkische Keramik, Veröffentl. d. Philos. Fakultät d. Univ. Ankara, Nr. 1 1 9 , Schriften des Kunsthist. Inst. d. Univ. Nr. i, Ankara 1957, Abb. 7. 21 A. U. Pope, A Survey of Persian Art, London — N e w York 1938, Vol. I V , PI. 322, PI. 396, Vol. V , PI. 704.

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der beiden Schriftdukten auf dem Mihräb ist eine Erscheinung, die auch auf anderen Gebetsnischen der Seldschukenzeit vorkommt. Die Verteilung von K ü f i und Nashx ist auf den bekannten Beispielen aber gerade entgegengesetzt. So zeigen die Mihräbe der Alaeddin Moschee in Konya 2 2 und der Külük Moschee in Kayseri 23 — beide stammen etwa aus der Mitte des 13. Jahrhunderts — auf dem Feld über der Stalaktitennische reiches Flechtküfi und in den umlaufenden Schriftborten einen Nashi-Text. Dieser Gegensatz von kursiven und steifen Schriftformen darf als ein bewußt eingesetztes künstlerisches Mittel betrachtet werden, das in ähnlicher Form auch den sonstigen Ornamentschatz beherrscht. Den Sockel der Nische, die etwa 60 cm tief ist, bilden vier rechteckige Platten, auf denen Flechtbandwerk so geführt wird, daß in der Mittelachse drei vielstrahlige Sterne entstehen, um die polygonale Felder kreisen. Das Flechtband, das von den äußeren Spitzen der Polygone ausgeht, wird zu zwei parallelen manganschwarzen Streifen verdoppelt, die ein türkisgrünes Band einschließen. Diese breiten Bänder werden im Flechtwerk als Einheit behandelt. Nicht ein einziges Mal .wird das Gesetz des Flechtwerkes durchbrochen, wobei diese Wirkung mit einem zeichnerischen Mittel durch die Schnittkanten des Fayence-Mosaiks erreicht wird. Das Band wird immer über eines hinweg- und unter dem folgenden hindurchgeführt. Es entstehen dabei Fünfecke, in denen Sterne auf goldbraunem Grund stehen. Auch die Keilformen, die zwischen den Polygonen sitzen, sind von goldbrauner Farbe. In diesem Punkt ist die farbige Rekonstruktion von G . Krecker nicht korrekt 24 . Flechtbandwerk kommt an seldschukischen Bauten häufig vor. Als ein Beispiel unter vielen sei der Mihräb der Laranda Moschee 25 erwähnt. In allen Beispielen wird das Flechtband aber einfach und nicht parallellaufend verwendet. Diese Besonderheit gibt der Sockelpartie des Mihräbes aus der Bey Hakim Moschee optisch ein größeres Gewicht und unterstreicht die tragende Funktion im Gesamtaufbau. Über den Sockelplatten erheben sich in sechs horizontalen Stufen die Stalaktitnischen des Gewölbes. Ihr Dekor besteht aus feinteiligen geometrischen Mustern, deren Anordnung von Nische zu Nische vielfältig variiert wird. Innerhalb der Nischenzonen besteht jedoch insofern eine strenge Regelmäßigkeit, als die Nischen den Dekor symmetrisch wiederholen. Dieses Prinzip wird nur in der untersten Nischenreihe durch die Inschriftfelder unterbrochen. Eine verwandte Musterung der Stalaktitnischen, die aus kleinen Sternen, Dreiecken, Rauten und Lanzettformen gebildet wird, findet sich an der eben erwähnten Gebetsnische der Laranda Moschee, aber auch noch am Mihräb der Esref Oglu Moschee in Bey§ehir, datiert 1297/9826. Identisch gemustert sind hier aber auch die das Gewölbe tragenden Säulchen, auf deren zehnkantigem Schaft eine reziproke Zinnenmusterung wiedergegeben ist. Basen und Kapitelle der Säulen haben eine stereometrische Form, die aus dem Würfel entwickelt ist und als Dekosaeder bezeichnet wird. Auf den beiden Ansichtsseiten ist jeweils ein Flechtbandknoten dargestellt, dessen geschwungene Linien an die Knotenformen in den Eckfeldern der Küf¡-Inschrift erinnern. Auf den Säulen, dem vielstufigen Kontur des Gewölbes folgend, sitzen die Zwickelfelder. Auf ihnen breitet sich von einem plastisch aufgesetzten Stern her Arabeskenwerk aus. E s dringt in spiralig geführten Ranken bis in die letzten Ecken der Felder, die symmetrisch zueinander gemustert sind. Als Zentrum der Zwickelfelder auf Gebetsnischen werden häufiger flache runde Scheiben angebracht27. Die nächste Parallele für das Arabeskenwerk findet sich auf dem großen Mittelfeld im Stalaktitengewölbe des Mihräbs der Laranda Moschee28. Die Küfl-Inschrift wird von drei Begleitborten, einer inneren und zwei äußeren, eingefaßt. Auf der inneren Borte bewegen sich eine goldbraune und eine manganschwarze Ranke in weiten Schwün-

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Löytved (wie Anm. 7), S. 25. A. Gabriel, Monuments turcs d'Anatolie, Tome I, Paris 1931, S. 38, PI. X , 2; Otto-Dom (wie Anm. 20), S. 21/22. Sarre (wie Anm. 1), Taf. X . Sarre (wie Anm. 3), S. 42, Abb. 33. Otto-Dorn (wie Anm. 20), S. 49, Abb. 14. vgl. Anm. 26 u. Anm. 16. vgl. Anm. 25.

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gen auf türkisgrünem Grund. Die beiden äußeren Borten sind aus nach auswärts gerichteten Blütenund Arabeskformen gebildet und fassen den Mihräb fest ein. Wie schon für die Inschriften festgestellt, verbinden sich auch im ornamentalen Dekor des Mihräbes das streng geometrische Flechtbandwerk mit den vegetabil bewegten Arabesken zu einer harmonischen Einheit, die auf diesem spannungsvollen Gegensatz beruht. Farbig wird der Mihräb vom Türkisgrün des Grundes und vom Manganschwarz der Dekoration beherrscht. Aufgelockert wird diese Wirkung durch die sparsam verwendeten goldbraunen Ornamentteile, deren Vorkommen auf den Mittelteil der Nische beschränkt ist. Sarre vermutete, daß die goldbraunen Partien ursprünglich vergoldet waren 29 . Es haben sich für diese Vermutung an den Originalen keine Anhaltspunkte gefunden. Der harmonische Eindruck, den der Mihräb vermittelt, beruht weiterhin auf seinen ausgewogenen Proportionen 30 . Die Sockelnische und das Gewölbe mit den Zwickelfeldern sind etwa gleich hoch, und die rahmenden Friese besitzen zusammen die halbe Breite des Mittelteils. Eine Datierung des Werkes ist nur mit Hilfe der angeführten Parallelen möglich. Sie wird vermutlich um die Mitte des 13. Jahrhunderts anzusetzen sein, wie es erst vor kurzem auch Otto-Dom ausführte 31 . Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, daß ein Werk wie der Mihräb der Bey Hakim Moschee in seiner Dekoration rationalen Gesetzmäßigkeiten folgte und daß ein Verständnis seiner Inschriften seine Funktion im Bauwerk als Orientierungspunkt für den Beter erkennen läßt. Innerhalb der Moschee, deren Ausstattung als Gesamtkunstwerk betrachtet werden muß, war er nur ein Teil, wenn auch der wichtigste. III Im Sommer 1895 unternahm Friedrich Sarre eine Reise durch Kleinasien, die ihn auch nach Konya führte. In seiner Reisebeschreibung 32 erwähnt er zahlreiche seldschukische Bauten, jedoch nicht die Bey Hakim Moschee. Auf sie ist er vermutlich erst auf einer späteren Reise 1899/1900 aufmerksam geworden 33 . Damals nämlich entstand ein Foto, das er 1909 veröffentlichte 34 . Nach dem Foto Sarres fertigte G . Krecker 1899/1900 eine farbige Rekonstruktionszeichnung an, die 1910 und noch einmal 1921 veröffentlicht wurde 35 . Diese Zeichnung diente bis heute trotz der Fehlerhaftigkeit bei der Wiedergabe der Inschriften als Vorlage für alle Reproduktionen 36 . Inzwischen hatte Löytved die Inschriften Konyas veröffentlicht. Der Bearbeitung der Inschriften am Mihräb der Bey Hakim Moschee legte er eine Aufnahme zugrunde, die den Mihräb etwa 1906 schon in weit zerstörtem Zustande zeigte37. So ist es auch zu erklären, daß Löytved die Inschrift über der Stalaktitennische nicht berücksichtigte. In dieser Zeit war damit begonnen worden, den Mihräb abzubrechen. Einzelne Bruchstücke gelangten über den Kunsthandel in die Museen von Paris38 und London 39 . 1906 erwarb das Victoria and Albert Museum Bruchstücke von Fayence-Mosaik aus der Vorhalle und vom Mihräb der Bey Hakim Moschee. Den Hauptteil des Mihräbes konnten jedoch die Berliner Museen von 1908 bis 1909 über den Kunsthandel in Istanbul erwerben. Noch 1909 wurden weitere Fragmente in Paris angekauft, so daß sich 1928 in Berlin 141 zum Mihräb gehörende Teile befanden. In den Jahren bis zum Ausbruch des 29

Sarre (wie Anm. 1), S. 14. Maße: 3,95 m hoch, 2,80 m breit. 31 Otto-Dom (wie Anm. 20), S. 21. 32 F. Sarre, Reise in Kleinasien, Sommer 1895, Forschungen zur seldschukischen Kunst und Geographie des Landes, Berlin 1896. 33 J. H. Schmidt, Friedrich Sarre — Schriften, Berlin 1935, S. 21. 34 Sarre (wie Anm. 3), Abb. 35. 35 F. Sarre, Denkmäler persischer Baukunst, Berlin 1901 —1910, Taf. 105/108; ders. (wie Anm. 1), Taf. X. 36 Otto-Dom (wie Anm. 20), Taf. 2. 37 Löytved (wie Anm. 7), S. 88. 38 R. Köchlin, L'art de l'islam, La céramique, Musée des Arts Décoratifs, Paris (1928), PI. 10, No. 56. 39 A. Laue, A Guide to the Collection of Tiles, Victoria and Albert Museum, London i9602, PI. 8 A & B. 30

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2. W e l t k r i e g e s w u r d e nicht ernstlich mit d e m W i e d e r a u f b a u b e g o n n e n . E i n u n g l ü c k l i c h e r

Zufall

trennte b e i K r i e g s a u s b r u c h auch n o c h das v o r h a n d e n e Material, da eine K i s t e mit F r a g m e n t e n v o m M i h r ä b nach e i n e m O r t i n der h e u t i g e n B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d ausgelagert w u r d e . D u r c h T r a n s p o r t e n a c h d e m K r i e g e w a r ein T e i l der F r a g m e n t e weiter b e s c h ä d i g t oder a u c h g e b r o c h e n , s o d a ß v o r d e m W i e d e r a u f b a u fast 200 S t ü c k e g e z ä h l t w u r d e n . A u f jeden F a l l stellte die L a g e r u n g

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Mihräb

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Abb. 3. Planskizze der Bey Hakim Moschee in Konya (nach Siiheyl A. Unver, Sel$uk Tababeti, Ankara 1940)

einer s o l c h e n M e n g e e m p f i n d l i c h e n Materials ein M u s e u m v o r eine s c h w i e r i g e A u f g a b e . D e r W i e d e r a u f b a u schien daher s c h o n aus k o n s e r v a t o r i s c h e n G r ü n d e n d r i n g e n d erforderlich. F ü r die E r g ä n z u n g der I n s c h r i f t e n u n d der O r n a m e n t i k standen F o t o s der Westberliner S t ü c k e z u r V e r f ü g u n g . D i e F r a g m e n t e in Paris u n d L o n d o n 4 0 w a r e n d u r c h P u b l i k a t i o n e n bekannt. D u r c h private V e r m i t t l u n g k o n n t e n a u c h F o t o s der F r a g m e n t e in Istanbul b e s c h a f f t w e r d e n . N i c h t gesichert w a r nur der nicht erhaltene B e g i n n der k u f i s c h e n Inschrift, der auf allen älteren A u f n a h m e n d u r c h einen H o l z s o c k e l mit einem L e u c h t e r v e r d e c k t w i r d . E r w u r d e in A n l e h n u n g an die v o r h a n d e n e Inschrift nach e i n e m E n t w u r f des V e r f a s s e r s ergänzt. E s ist ein u n g l ü c k l i c h e r Z u f a l l , d a ß g e r a d e dieser A b s c h n i t t der Inschrift "unlängst als ein W e r k des 13. Jahrhunderts v e r ö f f e n t l i c h t w u r d e 4 1 . D e r W i e d e r a u f b a u w u r d e in d e n Jahresberichten des Islamischen M u s e u m s 1 9 6 4 — 1 9 6 7 geschildert. 1967 w u r d e der M i h r ä b der B e y H a k i m M o s c h e e i m Islamischen M u s e u m der Ö f f e n t l i c h k e i t überg e b e n . E r ist seitdem in unserer A u s s t e l l u n g das bedeutendste D e n k m a l seldschukischer K u n s t aus Kleinasien. Abbildungsnachweis: Abb. 1 V . Enderlein, Abb. 2 u. Tafeln 2 u. 3 Statliche Museen zu Berlin. Tafel 1 D. T. Rice. 40

vgl. Anm. 38 u. Anra. 39.

41

Schimmel (wie A n m . 17), S. 18, II e.

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E I N SPÄTGOTISCHES R E L I E F AUS D E M U M K R E I S D E R PACHER-WERKSTATT UND SEINE RESTAURIERUNG Eva Mühlbächer

Theodor Demmler konnte 1955 ein Relief mit der Darstellung des Marientodes aus der Sammlung Figdor erw;erben (Abb. 1). Im Versteigerungskatalog aus dem Jahr 1930 werden die „alte Bemalung und Vergoldung mit Fehlstellen" benannt und auf Anobienbefall hingewiesen, die Abbildung macht den äußerst schlechten Erhaltungszustand der Fassung deutlich1. Abblätternde Schichten und große Teile bedeckende dunkle Übermalungstöne beeinträchtigten damals zweifellos das Urteil über die eigentliche hohe Qualität des Stückes. Dies mag schließlich mit zur Begründung eines bereits 1937 geplanten Wiederverkaufs beigetragen haben2. Glücklicherweise jedoch blieb das Relief der Berliner Sammlung erhalten. Restaurierungsmaßnahmen, die wohl in diesen Jahren vorgenommen wurden, beschränkten sich auf eine Sicherung der Fassung, auf Retuschen sowie auf einen erneuten Lacküberzug an vergoldeten Partien und freiliegenden Holzstellen. Unter der tristen dunklen Bemalung des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche, noch originale Farbreste entdeckt, als für die Aufnahme in den Katalog der Skulpturensammlung (,Bildwerke aus sieben Jahrhunderten', Bd. II, Berlin 1972) mikrochemische Untersuchungen erforderlich waren. Zu einer bereits seit langem notwendigen Restaurierung, die hauptsächlich eine Stabilisierung der Holzsubstanz vorsah, kam nun, nach gründlichsten Proben mit positiven Ergebnissen, der Entschluß zur Freilegung der originalen Farbpartien und zur Abnahme des störenden nachgedunkelten Lacküberzuges. Mit der erstmaligen Ausstellung des restaurierten Reliefs 1971 konnte der relativ geringe Bestand von spätgotischen Skulpturen Tirols in der Berliner Sammlung bereichert werden. Als Werk aus dem Umkreis Michael Pachers ist es zugleich eine Ergänzung zum ,Brixener Altar', der mit Arbeiten des Pacher-Schülers Hans Klocker in Verbindung gebracht wird. Auch ist die Darstellung des,Marientodes' für die Berliner Sammlung in dieser Form einmalig. Analog zur Geschichte Christi wird bekanntlich seit dem 12. Jahrhundert, basierend auf den legendären Erzählungen der Apokryphen, immer ausführlicher auch über Leben, Tod, Auferstehung und Krönung der Maria in bestimmten Szenenfolgen der bildenden Kunst berichtet. In der Gotik wird die Gestaltung des Marientodes „zu einem Stück Heiligenvita mit ausgesprochen berichtender Tendenz" 3 . Bürgerliche Wohnräume bilden am häufigsten den Rahmen für das Geschehen, hier versammeln sich die herbeigeeilten Apostel um das Bett der sterbenden Maria. Oft wird im 14. und 15. Jahrhundert auf die Gestalt Christi verzichtet, welche vordem als ständige Begleiterscheinung die Seele Marias in Empfang nahm. Das Berliner Relief zeigt einen Bildtypus, der seltener und fast ausschließlich im südosteuropäischen Raum verbreitet war. Es ist die-im Kreise der Apostel kniende oder zusammengesunkene Maria. Das wohl allgemein bekannteste Beispiel dieser Art zeigt die Darstellung im Mittelschrein des Krakauer Altares von Veit Stoß. Vorläufer zum ,Krakauer Bildtypus' finden sich vor allem in der böhmischen Malerei, 1 2

s

Versteigerungskatalog der Sammlung Figdor. Berlin — Wien 1930. 1. Teil, I V . Bd., Nr. 233, A b b . Tafel X I V . Versteigerungskatalog: Kunstwerke aus dem Besitz der Staatlichen Museen Berlin, bei Julius Böhler. München 1937, Nr. 31, S. 6. Hans-Rudolf Peters, Die Ikonographie des Marientodes (bis um 1300). Phil. Diss., Bonn 1950, S. i3off.

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Abb. i. Relief mit der Darstellung des Marientodes (Umkreis der Pacher-Werkstatt). Berlin, Staatliche Museen, Skulpturen-Sammlung Erhaltungszustand vor der Restaurierung

die vermutlich, analog zu den ,Schönen Madonnen', auch für dieses ikonographische Schema des Marientodes Anregungen lieferte. Im Vordergrund des Berliner Reliefs wird Maria vom jugendlichen Johannes gestützt. Das Zusammensinken und Sichneigen der Sterbenden vollzieht sich in einer Gegenbewegung zur Haltung des aufrechtstehenden, durch die Last etwas nach hinten gebeugten Johannes. Links neben Maria, ihr zugewandt, erkennen wir Petrus. Durch Haar und Barttracht ist gerade diese Figur leicht zu 42

identifizieren. Er ist in zweifacher Weise beschäftigt. Das Buch zum Verlesen der Sterbegebete hält er im linken Arm, mit der Rechten taucht er das Aspergill in ein Gefäß, welches vom seitlich hinter ihm stehenden Apostel mit langem, dichtem Bart entgegengehalten wird. In dieser Gestalt könnte eine Darstellung des Paulus gegeben sein. Alle weiteren Apostel sind namentlich nicht zu deuten. Als Gegenstück zur ,Paulusfigur' ist der rechts vom Bildrand ,hineinschreitende' lesende Apostel aufzufassen. Auch sein Standort auf dem unebenen Terrain liegt höher als der von Maria, Johannes und Petrus. Beide Seitenfiguren rahmen das Geschehen und leiten zugleich über zur folgenden Reliefzone. Hier werden für den Betrachter die Apostel nur in Schulter- oder Kopfhöhe sichtbar. Die alles überragenden Köpfe könnten an altertümliche Darstellungen mit .umgekehrter Perspektive' erinnern, wenn, wie wir sahen, der Künstler nicht bewußt auf ein Ansteigen des Geländes verwiesen hätte. Auffallend ist die Individualisierung jedes einzelnen Apostelkopfes, das Bestreben, auf so engem Raum verschiedenste Typen mit porträthaften Zügen wiederzugeben. Zwei gemeinsam trauernde Apostel, im Dreiviertelprofil, wirken an der rechten Seite des Reliefs fast isoliert. Formal wird dieses Absondern der beiden durch eine hohe Kerze betont, die hinter dem kahlköpfigen Apostel mit schützend emporgezogenem Mantel ein Gegenstück zur rahmenden Säule bildet. Kontrastierend zur einfachen Mantelkapuze des Älteren, trägt der bartlose Jüngere ein modisch-weltliches Barett mit Sendelbinde. Die Gesichter von fünf weiteren Aposteln sind in Vorderansicht gegeben. Zwischen ihnen sehen wir einen Apostel, welcher sich mit der linken Hand in auffälliger Geste an die Nase greift. Dies erinnert an die vergleichbar unmißverständliche Gebärdensprache der Zuschauer bei Darstellungen von Auferweckungswundern. Beispielsweise zeigt eine Bildtafel des St.-WolfgangAltares mit der ,Auferweckung des Lazarus' von Michael Pacher deutlichst jenen Vorgang des ,Sichabwendens' mit zugehaltener Nase. Allerdings ist zu bemerken, daß nur ,weltliche' Zuschauer ihren Abscheu auf diese Art kundtun, während die Apostel das Wunder im überirdischen Sinn zu erleben scheinen. Im Zusammenhang mit dem Marientod ist eine derartige ikonographische Zutat unwahrscheinlich4. Eher soll wohl hier in deutlichster Formensprache durch intensives Weinen auf die Trauer des Apostels hingewiesen werden 5 . Auch der ältere Apostel der Zweiergruppe verleiht seinem Schmerz Ausdruck, indem er einen Mantelbausch zum Gesicht führt. Allgemein wurde die Trauer der Apostel zusätzlich mit Hilfe der Faßmalerei durch aufgemalte Tränen gesteigert. Die gleichzeitige Angabe von Außen- und Innenraum erschwert dem Betrachter ein genaueres Bestimmen der Umgebung des Ereignisses. Ein Stück Landschaft ist die hügelig ansteigende Bodenzone. Mit einem Baldachin, der, auf dünnen Säulchen ruhend, die Figuren schützend überspannt, wird eine Art Raum geschaffen. In bescheidenem Maße zeigt diese Kombination ähnliche Tendenzen einer Phantasie-Architektur, wie wir sie an den gemalten Architekturen des St.-Wolfgang-Altares bewundern können. Der zierliche Vorbau mit Kielbogenbekrönung und Maßwerk einer Kirche auf dem Bild mit der ,Versuchung Christi' zeigt große Ähnlichkeit 6 . Hinzu kommt eine an Pachers Architekturdarstellungen auffallend häufig verwendete Mauerzeichnung. Meist sind es hellgrau gestrichene Wände mit genauester weißer Fugenangabe. Es ist anzunehmen, daß dem Faßmaler des Berliner Reliefs derartige Vorbilder vertraut waren. Auch der Schnitzer wurde vom Stil der Skulpturen Pachers beeinflußt. Nicht genau zu bestimmen ist die Herkunft des Stückes. Laut mündlicher Überlieferung stammt es aus der Franziskaner-Kirche in Salzburg 7 . Sollte dies den Tatsachen ent4

Bisher wurde diese Geste wohl raeist im Sinne der Auferweckungsszene gesehen. Vgl. Versteigerungskatalog Slg. Figdor, a. a. O. 5 Auf einem Tafelbild des frühen 15. Jahrhunderts vom „Meister der Mondsichelmadonna" (Wien) findet man beispielsweise einen vor der Lagerstatt sitzenden Apostel mit vergleichbarer Trauergebärde. Abbildung bei: Alfred Stange, Deutsche Malerei der Gotik. Bd. 11. Österreich. München/Berlin 1961, Abb. 26. 6 Farbige Abbildung bei: Karl Scheffler, Michael Pachers Altar von St. Wolfgang. Königstein i. T., o. J. (Langewiesche-Bücherei), Abb. Nr. 22. ' Eine direkte Zugehörigkeit zum Marienaltar Pachers, der 1484 für die Salzburger Franziskanerkirche bestellt wurde, ist fraglich. Vgl.: Rudolf Verres, EinmußmaßlichesFlügelrelief von Pachers Salzburger Altar. In: Zs. f. bild. Kunst, 1930, S. 22. Die Maße unseres Reliefs sollten nach Verres der Große des Pacherschen Marienaltars entsprechen. Auch wäre das Material (Lindenholz) mit dem einzig erhaltenen Stück des zerstörten Altares, der Marienfigur, identisch, dagegen lehnt Otto Demus diese Zuschreibung „abgesehen von stilistischen Überlegungen, aus Gründen des

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sprechen, so wäre für unseren Meister das letzte große Werk Michael Pachers, sein Marienaltar in der gleichen Kirche, unmittelbares Vorbild gewesen. Die ausdrucksvollen, scharf geschnittenen Gesichter mit breiten Backenknochen und schweren Augenlidern erinnern an so qualitätvolle Bildwerke Pachers, wie die beiden Heiligenfiguren Wolfgang und Benedikt vom St.-Wolfgang-Altar. Im Johannes mit der jugendlich weicheren, ovalen Gesichtsform, umgeben von langem Haar, das in dicken spiralig gedrehten Locken fällt, mit seiner länglichen geschwungenen Nase und kleinem Mund, vereinen sich typische Züge, die wir auch an den Darstellungen Jugendlicher durchgehend im Werk Michael Pachers verfolgen können. Als Beispiele seien der heilige Michael vom Grieser Altar oder

Abb. 2. Relief aus Vyssi Brod (Hohenfurt), um 1500, heute Prag, Narodni-Galerie

Florian und Georg vom St.-Wolfgang-Altar genannt. Allgemein vergleichbar ist ferner die Gewandzeichnung, der Wechsel von langen, gebogenen Stegen und kleinteilig geknickten Faltenballungen. Im Unterschied zur Gestaltung der Figuren Pachers überspielen die Gewänder dominierend die nur leicht angedeuteten Körperformen. So verschwindet die zerbrechliche Gestalt der Maria förmlich unter der Fülle des Mantels. Auch der Marientyp ist abweichend von den Frauenbildern Pachers. Ihr zartes ovales Gesicht mit verhältnismäßig großer Nase, hochgeschwungenen Jochbögen, vollen Lippen und leichtgespitztem Mund erinnert an einige südböhmische Werke des frühen 16. Jahrhunderts. Verwandt erscheint eine Madonna aus Tfebotivice (um x 500), ferner die weiblichen Figuren der ,Beweinung Christi' aus Zvihov (Burg Zvihov) oder eine Madonna aus Maisin (heute Prag, Narodni-Galerie). Im südböhmischen Gebiet haben sich auch einige Reliefs mit Darstellungen des Marientodes erhalten, die in ihrer Komposition dem Berliner Relief ähnlich sind. Neben dem Relief Maßstabes" ab. Nach seinen Berechnungen müßten die Flügel des Salzburger Altares doppelt so groß sein. V g l . O. Demus, Studien zu Pachers Salzburger Hochaltar, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte. Bd. X V I , Wien 1954, S. 90.

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aus Käjov (Gorau, röm.-kath. Pfarrkirche) sei besonders auf den ,Marientod' aus Vyssi Brod (Hohenfurt, heute Prag, Närodni-Galerie), verwiesen (Abb. 2)®. Die abwechslungsreich charakterisierten Apostelköpfe wirken hier noch volkstümlicher und derber (durch die fehlende Fassung wird dieser Eindruck verstärkt). Für den Typ des Apostels mit Weihwassergefäß des Reliefs von Vyssi Brod und Berlin könnte eine gemeinsame graphische Darstellung als Vorlage gedient haben. Auch findet sich in seitenverkehrter Anordnung an der oberen Ecke des linken Bildrandes am böhmischen Beispiel ein hagerer Apostelkopf mit rundgeschnittenem, halblangem Haar, der dem Berliner so intensiv

Abb. 3. Hans Klocker. Relief vom Marienaltar aus dem Franziskanerkloster Bozen, um 1500

trauernden in der Bildmitte auffallend verwandt ist9. Das Vorhandensein einer Vorlage als Graphik oder Tafelbild für die Komposition des Berliner Reliefs bestätigt die gleiche Auffassung des Themas am Marienaltar im Franziskanerkloster Bozen von Hans Klocker, um 1500 (Abb. 3). Maria, als Mittelpunkt, wird von Johannes gestützt. Ihr zur Seite stehen Petrus mit dem Buch, schräg hinter ihm ein Assistierender mit dem Weihwassergefäß, rechts ein zweiter Apostel mit einem Buch. Die Apostel in der folgenden Reihe überragen wie beim Berliner Relief die Vorderszene 10 . 8

9

10

Beispiele u. a. abgebildet bei: V. Denkstein und F. MatouS, Südböhmische Gotik, Prag 1955. — Madonna aus Trebotovice, Abb. 103; Relief der Beweinung Christi aus Zvikov, Abb. 1 1 7 ; Marientod aus Vyssi Brod, Abb. 1 1 2 . Auf die Verbindung südböhmischer Plastik zur schwäbischen und österreichischen Kunst wurde zuletzt hingewiesen von: Jaromir Homolka, Die südböhmische Plastik der Spätgotik, in: Werden und Wandlung. Studien zur Kunst der Donauschule. Linz 1967, S. 1 7 6 f f . Hier auch Abb. 9: Madonna aus Maisin. Z u vergleichen Gisela Scheffler, Hans Klocker, Beobachtungen zum Schnitzaltar der Pacherzeit in Südtirol. SchlerrtSchriften 248. Innsbruck 1967, S. 2 3 ff. und 47, Abb. 6.

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Eine Gestaltung der Altarflügel an ihren Innenseiten mit reliefierten Bildfolgen ist in Tirol bis zum frühen 15. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Bekanntlich erhielt Pacher für seinen Grieser Altar Anregungen durch den Altar Hans von Judenburgs (nach 1421) in der Bozener Pfarrkirche 11 . Sowohl für Klockers Altar als auch für das Berliner Relief könnte wiederum der Altar von Griesen als Vorbild gedient haben. E s ist anzunehmen, daß unser Relief ursprünglich im Altarverband als unterer Teil an der Innenseite des rechten Flügels angebracht war. Damit gehörte es zur ,Feiertagsseite' eines Altares, dessen Figuren im Mittelschrein von Flügelreliefs mit Szenen aus dem Marienleben begleitet wurden. Zur Restaurierung Das Relief (Inv.-Nr. 8616) besteht aus Lindenholz. Es ist aus fünf verleimten Teilen zusammengefügt. Eine Parkettierung erfolgte vermutlich gemeinsam mit der Neufassung im 19. Jahrhundert. Ergänzt sind drei Finger der linken Hand des Apostels mit Weihwassergefäß; es fehlen ein Stück vom Aspergili und vom Henkel des Weihwassergefäßes. Die Maße des Reliefs betragen: H. 1 1 6 cm, Br. 95 cm, größte Tiefe 4 cm. Das Material wurde bis zur äußersten Feingratigkeit und Tiefe ausgearbeitet. Dabei entstanden an zwei Stellen Durchbrüche, denen Leinwand zur Verstärkung hinterlegt war (zwischen Hintergrund und Kinn des Apostelkopfes mit Barett und zwischen Haar und Hals der Johannesfigur). Leinwandüberbrückungen sind ferner am unteren Drittel des Reliefs als Sicherung der Fugen zu finden (am Marienmantel und Gewand, am Untergewand des Petrus, am Gewand des rechts stehenden Apostels, an der Säulenbasis links am Bildrand). Mit kaum markierten Schnitzspuren ist die Holzoberfläche, soweit ersichtlich, allgemein glatt und sehr sauber bearbeitet. Die Grundierung wurde außergewöhnlich dünn aufgetragen und selbst in den Vertiefungen (beispielsweise an den Haaren) sehr fein verschliffen. E r h a l t u n g s z u s t a n d v o r der R e s t a u r i e r u n g Die Übermalung der originalen Fassung ist auf Restaurierungsmaßnahmen verschiedenster Zeiträume zurückzuführen. Bereits im 16. oder 17. Jahrhundert wurden stellenweise Erneuerungen vorgenommen. So waren die Inkarnatpartien und die Haare mit einer zweiten Fassung überzogen. Diese im Vergleich zur Originalbemalung farbkräftigere Temperaschicht entstand offensichtlich zur selben Zeit wie die Übermalung der blau gefaßten Teile unter Verwendung von Smalte, dessen Reste unmittelbar über dem ursprünglichen Azurit lagen. Im 19. Jahrhundert wurde das Relief vollständig überholt. Die erneuerte Fassung mit relativ aufwendigen Details, wie Farblasuren über Silber, in Anlehnung an das ursprüngliche Vorbild, ist m. E . dem zweiten Jahrhundertdrittel zuzuordnen 12 . Am Gewand des lesenden Apostels an der rechten Bildseite war auf schwarzer Unterlage ein Blumenmuster aufgemalt, das sich an vergleichbarem Stoffdekor des Biedermeiers orientierte. Den vorherrschend dunklen Farbtönen der Übermalung waren die Inkarnatteile, die Haare und die ursprünglich vergoldeten Partien durch einen starken Lacküberzug bewußt kontrastierend gegenübergestellt. Diese Wirkung wurde mit dem allmählichen Vergilben und Nachdunkeln des Lackes völlig aufgehoben. Anläßlich der oben erwähnten Restaurierung nach Erwerbung des Reliefs 1935 wurden außer Sicherungsmaßnahmen größere Fehlstellen am Hintergrund (meist unmittelbar auf dem Holz) angleichend schwarz retuschiert. Zum Auffrischen der gesamten Oberfläche erfolgte ein erneuter Firnis11 12

Weitere Beispiele hierzu bei G. Scheffler, a. a. O., Anm. 189, S. 70. Zu vergleichen wären Fassungen an Figuren, die in den vierziger Jahren des ig. Jahrhunderts in Köln entstanden „in romantischer Rezeption altdeutscher kölnischer Bildnerei". Hierzu: Peter Bloch, Die Pietà Schnütgefl, in: Studien aus Kunst und Geschichte für Otto H. Förster, Köln i960, S. 212, Abb. 223, 224 sowie ders., Kölner Madonnen, Mönchengladbach 1961, S. z6L, Abb. 40/41. Eine trauernde Maria (Statuette, niederländisch um 1500, überarbeitet, H. 29, 4 cm, Inv.-Nr. 8728) aus dem Besitz der Skulpturensammlung zeigt über Resten der originalen Fassung eine zweite, vollständig erhaltene, die bewußt den gotischen Stil imitiert, Farblasuren über Silber und vergoldete Teile gegenüberstellt.

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oder Lacküberzug 13 . Die starke Spannung dieser Lackschichten beschleunigte den Zerfall der darunterliegenden ursprünglichen Fassung. Ähnlich wirkte die Temperaübermalung an den übrigen Teilen. Unabhängig vom ästhetisch unbefriedigenden Eindruck waren diese Schäden mit ausschlaggebend für die Abnahme der Übermalungen. Die Zersetzung der Holzsubstanz, durch Anobienbefall hervorgerufen, hatte man bereits bei der Restaurierung im 19. Jahrhundert durch partielle Leimtränkungen und Kittungen versucht zu beheben. Dabei konnte nur eine geringe Festigung der Oberfläche erreicht werden. Die Kittungen (es wurde Öl-Kreide-Kitt verwendet) waren inzwischen geschrumpft und gelockert. In unsauberem Auftrag bedeckten sie neben den Fehlstellen die angrenzenden Teile und ihre originalen Farbreste. Die Anobienschäden sind hauptsächlich am unteren Drittel des Reliefs konzentriert. In diesem Bereich war die Figur des rechts stehenden lesenden Apostels besonders stark befallen und das Holz an mehreren Stellen durchgehend bis zur Rückseite des Reliefs zerstört. Abgesehen von den verbreiterten Fugen, die sich deutlich markieren, sind vereinzelt Rißbildungen zu finden (so in Kniehöhe des Apostels mit dem Weihwassergefäß; am Hintergrund neben dem Apostel mit Barett und am Baldachin). R e s t au ri er u n g s m a ß n a h m e n 1 4 Die gelockerten Fassungsteile konnten mit Hilfe einer Kasein-Lösung gesichert werden. Danach erfolgte die Stabilisierung der stellenweise unter der Oberfläche pulverisierten Holzsubstanz mit Piaflex (gelöst in Toluol), das in zeitlichen Abständen mit mehreren Injektionen von der Rückseite des Reliefs eingeführt wurde. Eine Beschädigung der Fassung konnte somit verhindert werden. Die brüchigen Kittungen wurden nach erfolgter Holzfestigung beseitigt und die größten Fehlstellen (besonders am Mantel des rechts stehenden Apostels) mit Kreide-Leim-Kitt geschlossen. Mit einer Temperauntermalung und Aquarellasuren erfolgte die Retusche dieser Ergänzungen. Da es sich, abgesehen von den Lacküberzügen, bei der Übermalung ausschließlich um Temperamalerei handelte, war das Freilegen der originalen Fassung entsprechend kompliziert und langwierig. Die Ubermalungsschichten mußten stufenweise, ,mechanisch', mit dem Skalpell abgetragen werden. Details dieses Arbeitsprozesses zeigen die Abbildungen 4a—d. Eine sehr harte graue (bleiweißhaltige) Temperafarbe diente der Fassung des 19. Jahrhunderts als Untermalung. Sie war besonders schwer von den originalen farblasierten Silberpartien zu entfernen. Nur mit größter Vorsicht konnten beispielsweise die gut erhaltenen grünen Lasuren über der glatten Metallunterlage freigelegt werden. Für ihren dichten Farbauftrag mit glänzender Oberfläche muß als Bindemittel Harz oder Öl vermutet werden 15 . Die Zweitfassung an Inkarnatteilen und Haaren lag in dünner, aber stabiler Schicht ohne Zwischengrundierung direkt auf dem Original und war deshalb schwer davon zu trennen. Der starke Lacküberzug an den vergoldeten Fassungsresten und den freiliegenden Holzteilen wurde mit einem Abbeizmittel gelöst und danach mechanisch entfernt. Anschließend mußten diese Stellen von Wachsund Schmutzresten gesäubert werden, die vereinzelt in dicker Schicht unter dem Lack lagen. Nach der Freilegung wurde noch einmal die gesamte Fassung mit Kasein und mit einem Wachs-HarzGemisch gefestigt. Letzteres diente zugleich auch als Mittel für leichte Anböschungen, zum Schutz scharfkantiger Bruchstellen und Ränder von Fassungsinseln. Bis auf die erwähnten Kittungen von auffällig beschädigten Holzteilen wurde auf Ergänzungen innerhalb der Fassung weitgehend verzichtet. An Vergoldung und Malschicht konnte schon mit geringfügigen Aquarellretuschen die Wirkung von relativ geschlossenen Flächen erzielt werden. Freiliegende Holzstellen an den Inkarnaten wurden mit Aquarellasuren der Fassung angeglichen. Ein leichter, schützender Wachsüberzug sollte zum Abschluß der Restaurierung (unter Aussparung der Azuritflächen) den glatten Farbteilen, dem Gold, lasiertem Silber und freiliegendem Holz, nach dem Polieren einen gemeinsamen matten Glanz verleihen. 13

Dieser zweite, dünnere Uberzug w a r besonders auf den retuschierten Stellen zu erkennen.

14

Restaurierung und mikrochemische Farbanalysen wurden v o m V e r f . u. a. als Arbeitsbeleg zur Skulpturenrestaurierung für die 1 9 7 1 erfolgte A u f n a h m e in den Fachbereich der Restauratoren des Verbandes Bildender Künstler der D D R ausgeführt.

15

Bindemittel-Untersuchungen konnten in diesem Rahmen nicht durchgeführt werden.

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a) Rechts am Hintergrund schwarze Übermalung ( 1 ) ; links Teile der freigelegten originalen Farbschicht — eine hellgraue Wand mit weißer Fugenzeichnung (2); dazwischen ubermalte Fehlstellen über dem Holz (3); am Baldachin Reste des nachgedunkelten Lacküberzuges an vergoldeten und freiliegenden Holzteilen sowie Übermalung des Azurits im Maßwerk (4)

b) Freigelegte Silberfassung einzelner Stellen der schwarz ubermalten Säulen. A n der K o p f b e d e c k u n g des Apostels v o n links nach rechts: dunkelgrüne Lackschicht über Silber, hellgraue Temperauntermalung, originale Silberfassung mit gebräuntem Lack (ehemals Farblack als Lasur)

c) Schichtabfolge von Übermalung und ursprünglicher Fassung am G e w a n d der Johannesfigur (am linken Bein): 1) dunkelgrüner L a c k über Silber; 2) hellgraue Temperauntermalung; 3) originale grüne Lasur über Silber

d) Dichte grüne Lasur auf Silber, am G e w a n d des Apostels mit Weihwassergefäß (i), neben einem Rest der schwarzen Übermalungsschicht (2)

A b b . 4 a —d. Details des Berliner Reliefs während der Restaurierung

Obgleich einige Partien, wie beispielsweise die vergoldeten, nur noch fragmentarisch erhalten sind, ergaben die Freilegungsarbeiten doch deutlich ablesbar wieder ein Bild vom ursprünglichen Zustand. Die farbige Fassung ist fast durchgehend und wie üblich in der Gotik zweischichtig aufgebaut (im einzelnen zu vergleichen an der beigefügten schematischen Darstellung des Fassungsaufbaues). Zum Vertiefen des Farbtones liegt das stumpfe, kristalline Azurit über schwarzer Untermalung. Bei den Rot-Tönen ist die helle, leuchtende Mennige-Untermalung für die endgültige Wirkung mit ausschlaggebend. Den formal abwechslungsreich gestalteten Apostelköpfen entsprechen ihre Bemalungen. In feinster Nuancierung sind die Figuren durch ihre Inkarnate und Haarfarben voneinander unterschieden. Sämtlichen Fleischtönen liegt ein sehr farbkräftiges gelbliches Rosa zugrunde. Ein derartiger Aufbau von Inkarnatpartien ist an Skulpturen seltener zu finden. Rote Untermalungen sind 48

A b b . 5. R e s t a u r i e r t e s Relief mit der f r e i g e l e g t e n u r s p r ü n g l i c h e n F a s s u n g

für einige österreichische Beispiele des frühen 16. Jahrhunderts bekannt geworden 1 6 . Die Oberfläche der Inkarnatfarben ist glatt und leicht glänzend, bis zur Tilgung der Pinselspurcn vermalt. A n den Gesichtern sind die Bartschatten der noch feuchten Fleischfarbe lasierend aufgetragen und verrieben. In der gleichen Technik wurden Adern und Knöchel an den Händen ausgeführt. In feinster Zeichnung der Haare liegen Augenbrauen und Wimpern pastos über der Inkarnatfläche. Zarte braunrote K o n 16

V g l . Thomas Bracbert,

D i e T e c h n i k e n der p o l y c h r o m i e r t e n I l o l z s k u l p t u r , i n : M a l t c c h n i k , R e s t a u r o . M ü n c h e n 1 9 7 2 ,

N r . 3, S. 1 6 6 . R o t e U n t e r m a l u n g e n stellte T h . B r a c h e r t an d e n I n k a r n a t e n des A b t e n a u e r A l t a r e s v o n A n d r e a s L a c k n e r fest, f e r n e r bei W e r k e n I v o Strigels. W e i t e r e U n t e r s u c h u n g e n d ü r f t e n zur K l ä r u n g b e i t r a g e n , o b diese Inkarnatuntcrmalungen

speziell im österreichischen R a u m V e r w e n d u n g f a n d e n . D i e z w a r nicht rein rote, aber

i n t e n s i v d u n k e l r o s a U n t e r m a l u n g des B e r l i n e r R e l i e f s w ä r e danach diesem K r e i s anzuschließen.

4

Forsch, u. Ber. Bd. 17

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turen finden wir an den Oberlidrändern. Die Augäpfel sind weiß, die Iris allgemein hellbraun mit aufgesetzten Lichtern, und die Farbe der Pupillen ist in dunkelbraun-schwarzen Tönen gehalten. Die Mundbemalungen wechseln vom hellen bis kräftigen Rosa (gut zu erkennen ist die Krapplasur am Mund des Johannes). Das Gold liegt über hellrotem Poliment, welches.sehr dünn, beinahe lasierend aufgetragen ist. Im Gegensatz dazu sind sämtliche Silberflächen farblos unterlegt (das vermutlich weiße Poliment konnte hier nicht analysiert werden). Bedeutend für die Gesamterscheinung der Bemalung war die Verwendung von Lasuren. Leider existiert der ehemals rote organische Farblack über dem Silber des Mariengewandes nur noch in vergilbten oder gebräunten Resten. Seine Farbe ist vereinzelt in Vertiefungen zu erkennen. Er stand im Kontrast zum prächtig erhaltenen satten Grün des Johannesgewandes, das gleichfalls über Silber liegt und durch einen metallischen Glanz ausgezeichnet ist. Wir finden es auch schräg darüber am Barett des Apostelkopfes im Profil und am Gewand der Figur mit dem Weihwassergefäß. Die haubenähnliche Kopfbedeckung dieses Apostels war ursprünglich gleichfalls farbig lasiert. Am jetzt gebräunten Lacküberzug konnte die Farbe (rot oder grün) nicht mehr identifiziert werden. Das Gegenüber von Farbflächen, Gold und Silber ist bis ins Detail ausgewogen komponiert. Wie ein Faden ziehen beispielsweise die wenigen rein roten Farbstellen durch das Bild: vom Aspergill über das Buch Petri bis zum Buch des rechts stehenden bärtigen Jüngers. Die Schuhe der Maria, das Gewandfutter sowie die Saumkante am weißen Gewand des Petrus bilden noch einmal rote Farbflecke im unteren Relief drittel; sie stellen damit die Verbindung zu den roten Profilen des Sockels her. Dem glänzenden Grün der Gewandteile ist das stumpfe der Standfläche gegenübergestellt. Besonders an der Kleidung zeigt sich dieser gewollte Kontrast deutlich. Stumpfe Innenseiten mit Tiefenwirkung in Azurit-Bemalung liegen neben glänzenden, ehemals prächtig vergoldeten Außenpartien. Vom Gold des Baldachins mit seinen versilberten, goldverzierten Säulen und Kapitellen hebt sich der blaue Grund des Maßwerkes ab. Beides, Figurengruppe und Baldachin stehen in farblichem Einklang. Fremd hingegen wirkt der hellgraue, gelblich lasierte Hintergrund mit seiner Fugenzeichnung. Auf die Parallelerscheinung in der Tafelmalerei wurde bereits hingewiesen. Wie dort entwickelt sich vor dem kühlen Ton der Architektur die Szene in farbiger Vielfalt. Diese abwechslungsreiche und ausgewogene Farbordnung ist um so bewundernswürdiger, da sich ihre Wirkung lediglich auf die wenigen Hauptfarben spätmittelalterlicher Polychromie — Rot, Grün, Blau, Gold, Weiß und Rosa — beschränkt 17 . Schematische Darstellung von Ubermalungsschichten und originaler Fassung. (Nach der Aufzeichnung von Farbschnitten, enthalten im Restaurierungsbericht für das Archiv der Skulpturensammlung)

Übermalung des 19. Jahrhunderts

Übermalung vermutl. Frühbarock

Freigelegte originale Fassung

Maria Inkarnat :

Lacküberzug

braun-rosa (bleiweißhaltig)

blaßrosa (bleiweißhaltig) gelblich-rosa untermalt (Mischung von Bleiweiß und Eisenoxidrot) Kreide

Kopftuch:

Lacküberzug

weiß-grau (bleiweißhaltig)

weiß (Bleiweiß) Kreide

Gewand:

braunrot (gebrannte Erdfarbe) rot (organ. Farblack) auf Silber grau (stark bieiweißhaltig) als Untermalung

Reste einer bräunlichen Lasur (vergilbter, ehemals roter organ. Farblack) auf Silber Poliment (wie unter den meisten Silberpartien nicht sichtbar, vermutlich weiß; nur am rechten Ärmel hellrot) Kreide

17 Hierzu: Ernst Willemsen, Farbige Bildwerke des Mittelalters im Rheinland. Katalog Düsseldorf 1967. Die Kunstdenkmale des Rheinlandes, Beiheft 1 1 , S. 41.

50

Übermalung des i¡>. Jahrhunderts

Übermalung vermut!. Frühbarock

Freigelegte originale Fassung

Gewandfutter :

dunkelbraun

dunkelrote Lasur in Resten auf Rot (Mischung von Zinnober, Eisenoxidrot, Mennige) Kreide

Gürtel:

hellgrau

poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide

Mantel:

Lacküberzug

poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide

Mantelfutter :

grau-schwarz grau untermalt

Schuhe:

Lacküberzug braun-schwarz

Reste von Smalte

blau (Azurit) schwarz untermalt Kreide Spuren dunkelroter Lasur rot (Mischung von Zinnober, Eisenoxidrot, Mennige)

Johannes Inkarnat :

Lacküberzug

gelblich-grau

blaßrosa (bieiweißhaltig) auf gelblich-rosa Untermalung (Mischung von Bleiweiß und Eisenoxidrot) Kreide

Haare:

Lacküberzug

hellbraun (Bleiweiß und gebr. Erdfarbe)

Spuren von Gold (matt) Poliment, rot Kreide

Gewand:

dichte, grün-schwarze Lasur (nachgedunkeltes Kupfergrün) Silber auf grauer Untermalung

grün als dichte Lasur (Kupfergrün mit Bleiweißanteilen) über Silber Poliment vermutl. weiß Kreide

Gewandfutter :

grau-violett (bieiweißhaltig)

rot, wohl ursprünglich lasiert (Mischung von Zinnober, Eisenoxidrot und Mennige) Kreide

Gürtel:

Lacküberzug

poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide

Mantel:

Lacküberzug

poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide

Mantelfutter :

grau-irosa in starker Schicht (Bleiweiß mit roten Pigmentanteilen)

Reste von Smalte

blau (Azurit) schwarz untermalt Kreide

Petrus Inkarnat:

Lacküberzug

gelb-grau

blaßrosa (bleiweißhaltig) gelblich-rosa untermalt Mischung von Bleiweiß und Eisenoxidrot) Kreide

Haare und Bart:

Lacküberzug

dunkelgrau

hellgrau Kreide

4*

(bieiweißhaltig)

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Übermalung des ip. Jahrhunderts Gewand :

Übermalung vermutl. Frühbarock

Freigelegte originale Fassung

weiß (Bleiweiß) Kreide

Lacküberzug erau-weiß

Gewandsaum :

Reste von Rot (Mischung von Zinnober, Eisenoxidrot, Mennige) Kreide

Gewandfutter:

weiß (Bleiweiß) Kreide

Mantel:

Lacküberzug

poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide

Rückseite der Mantelschließe :

Lacküberzug

rot (Mischung von Zinnober, Eisenoxidrot, Mennige)

Mantelfutter :

grau

Buch:

Lacküberzug

dunkelrote Lasur rot (Zinnober, Eisenoxidrot, Mennige) an den Rändern der verlorenen Beschläge Spuren von G r ü n (Kupfergrün)

Buchschnitt:

Lacküberzug

grün-gelb (Neapelgelb) Kreide

Aspergili :

schwarz

mit Knauf :

poliertes Gold in geringen Resten

grau

Poliment Kreide

Griff:

Lackuberzug

dunkelrote Lasur rot (Zinnober, Eisenoxidrot, Mennige) Kreide

Apostel mit

Reste von Smalte

blau (Azurit) schwarz untermalt Kreide

Weihwassergefäß

Inkarnat:

Lacküberzug

bräunlich-rosa

helles Violett-Rosa (bleiweißhaltig) gelblich-rosa Untermalung (Mischung von Bleiweiß und Eisenoxidrot) Kreide

Bart:

Lacküberzug

dunkelbraun

braun (gebrannte Erdfarbe) Kreide

Gewand :

schwarz dunkelgrün (Kupfergrün u n d organ. Pigmente) grau

dichte grüne Lasur (Kupfergrün, gemischt mit Bleiweiß) Silber Poliment vermutlich weiß Kreide

Gewandfutter :

grau-rosa (bleiweißhaltig)

blau (Azurit) schwarz untermalt Kreide

Mantel:

Lacküberzug

poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide

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Übermalung des ip. Jahrhunderts Mantelfutter:

grau-rosa (Bleiweiß mit roten Pigmentanteilen)

Kopfbedeckung:

dunkelgrüner lackartiger Uberzug (kupferhaltig) Silber

Übermalung vermut!. Frühbarock

blau (Azurit) schwarz untermalt Kreide bräunlicher Lack (gebräunter Farblack, grün?) Silber Poliment vermutlich weiß Kreide

grau (bieiweißhaltig) '

schwarz-braun (organ. Pigmente) Kreide Silber in Resten Poliment, hellrot Kreide

Innenseite: gleiche Obermalung Weihwassergefäß :

Freigelegte originale Fassung

schwarz grau

B ä r t i g e r A p o s t e l mit l a n g e m Haar u n d B u c h

kräftig rosa (bieiweißhaltig) gelblich-rosa untermalt (Mischung von Bleiweiß und Eisenoxidrot) Kreide nachgedunkeltes Gelb-Braun dunkelbraun (gebr. Erdfarbe) (Bleiweiß und Erdfarbe) Kreide

Inkarnat:

Lacküberzug

dunkles Braun-Rosa

Haare und Bart:

Lacküberzug

Gewand:

schwarz mit weißem Blumendekor (organ. Schwarz und Bleiweiß) grau (bleiweißhaltig)

Silber Poliment vermutlich weiß Kreide

Gewandfutter:

hellgrau (bieiweißhaltig)

Mantel:

Lacküberzug

Mantelfutter:

teilweise schwarz übermalt grau-rosa (bieiweißhaltig)

Buch:

Lacküberzug

Buchschnitt:

Lacküberzug

Buchseiten:

Lacküberzug

blau (Azurit) schwarz untermalt Kreide poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide blau (Azurit) schwarz untermalt Kreide Reste einer dunkelroten Lasur rot (Zinnober, Eisenoxidrot auf Mennige) Kreide gelb-grün (enthält Neapelgelb) Kreide weiß (Bleiweiß) mit Resten von schwarzen Schriftzeichen

A p o s t e l im H i n t e r g r u n d (von l i n k s nach rechts) i. Apostel Inkarnat:

Lacküberzug

grau-rosa

Haare:

Lacküberzug

dunkelbraun

Gewand:

Lacküberzug

hellrosa (bieiweißhaltig) gelblich-rosa untermalt Mischung von Bleiweiß und Eisenoxidrot) Kreide gelb (Ocker) Kreide poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide

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Übermalung des 19. Jahrhunderts

Übermalung vermut!. Frühbarock

Freigelegte originale Fassung

Inkarnat:

Lacküberzug

bräunlich-rosa

kräftig rosa (bleiweißhaltig gelblich-rosa untermalt (Mischung von Bleiweiß und Eisenoxidrot) Kreide

Haare ufld Bart:

Lacküberzug

dunkelbraun

braun, mit violettem Ton (gebr. Erdfarbe) Kreide

Mantel:

Lacküberzug

2. A p o s t e l

poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide

3. A p o s t e l Inkarnat:

Lacküberzug

braun-rosa

blaßrosa (bleiweißhaltig) gelblich-rosa untermalt (Mischung von Bleiweiß und Eisenoxidrot) Kreide

Haare und Bart:

Lacküberzug

grau-braun (stark bleiweißhaltig und eisenoxidhaltig mit schwarzen Pigmenten)

weiß (Bleiweiß) Kreide

Inkarnat:

Lacküberzug

braun-rosa

blaßrosa (bleiweißhaltig) gelblich-rosa untermalt (Mischung von Bleiweiß und Eisenoxidrot) Kreide

Haare :

Lacküberzug

dunkelbraun

gelb (Ocker und Bleiweiß) Kreide

Gewand :

Lacküberzug

4. A p o s t e l :

Gewandfutter :

grau (bieiweißhaltig)

poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide Spuren von Smalte

blau (Azurit) Reste von überschüssigem Gold Kreide

braun-rosa

blaßrosa (bleiweißhaltig) gelblich-rosa untermalt (Mischung von Bleiweiß und Eiweißoxidrot) Kreide

braun (gebr. Erdfarbe)

helles Rotbraun (Eisenoxidrot und Bleiweiß) Kreide

5. A p o s t e l Inkarnat:

Lacküberzug

Haare:

Lacküberzug

Gewand:

Lacküberzug

poliertes Gold Poliment Kreide

6. A p o s t e l Inkarnat:

54

Lacküberzug

braun-rosa

kräftig rosa (bleiweißhaltig) gelblich-rosa untermalt (Mischung von Bleiweiß und Eisenoxidrot) Kreide

Übermalung des 19. Jahrhunderts

Übermalung vermutl. Frühbarock

Freigelegte originale Fassung

Haare und Bart:

Lacküberzug

grau-schwarz (organ. Schwarz und Bleiweiß)

dunkelbraun mit violettem Ton (gebr. Erdfarbe) Kreide

Gewand:

grau (bleiweißhaltig)

Silber Poliment vermutlich weiß Kreide

Mantel:

grau (bleiweißhaltig)

grün (Kupfergrün mit Bleiweißanteilen) Kreide

7. A p o s t e l Inkarnat:

Lacküberzug

hellbraun

blaßrosa (bleiweißhaltig) gelblich-rosa untermalt (Mischung von Bleiweiß und Eisenoxidrot) Kreide

Haare und Bart:

Lacküberzug

dunkelgrau

hellgrau (bleiweißhaltig mit schwarzen Pigmenten) Kreide

Mantel:

Lacküberzug

Mantelfutter :

grau (bleiweißhaltig)

Reste von Smalte

blau (Azurit) schwarz untermalt Kreide

8. A p o s t e l Inkarnat:

Lacküberzug

gelblich-rosa

blaßrosa (bleiweißhaltig) gelblich-rosa untermalt (Mischung von Bleiweiß und Eisenoxidrot) Kreide

Haare:

Lacküberzug

dunkelbraun

gelb (Ocker und Bleiweiß) Kreide

Gewand:

grau

grün (Kupfergrün mit Bleiweißanteilen) = offensichtlich als Änderung der originalen Fassung anzusehen. Darunter rot (Zinnober und Mennige) Kreide

Mantel :

Lacküberzug

poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide

Barett :

braun-schwarz rote Lasur über Silber

dichte grüne Lasur (Kupfergrün mit Bleiweißanteilen) Silber Poliment vermutlich weiß Kreide

Hintergrund

schwarz (organ. Schwarz und gebr. Erdfarbe) grau (bleiweißhaltig und schwarze Pigmente)

weiße Fugenzeichnung gelbliche Lasur (organ. Farblack) über hellgrau (Bleiweiß und schwarze Pigmente) Kreide

Kreuz:

schwarz grau (vergleichbar mit dem Hintergrund)

Reste von poliertem Gold Poliment, hellrot Kreide

poliertes Gold ,Poliment, hellrot Kreide

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Übermalung des 19. Jahrhunderts

Übermalung vermutl. Frühbarock

Freigelegte originale Fassung

Silber Poliment, hellrot Kreide

Kreuzstab:

dgl.

Kerze:

schwarz grau

Flamme:

schwarz grau

rot in Spuren (nicht analysiert) Kreide

Lacküberzug

poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide

Baldachin und Maßwerk: Schlußsteine:

Bänder:

weiß (Bleiweiß)

Spuren von Gold Poliment, rot in stärkerem Auftrag Kreide

poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide Silber Poliment vermutlich weiß Kreide

Lacküberzug dunkelrot lasiert Silber grau

blau (Azurit) schwarz untermalt Kreide

Hintergrund des M a ß w e r k e s

schwarz

Säulen:

schwarz grau

Silber Poliment vermutlich weiß Kreide

Bandauflagen :

Lacküberzug

poliertes Gold Poliment hellrot Kreide

Kapitelle:

Lacküberzug

Bänder :

dunkelrot lasiert Silber grau

poliertes Gold Poliment, hellrot Kreide Silber Poliment vermutlich weiß Kreide

Säulenbasis:

Lacküberzug

poliertes Gold Poliment hellrot Kreide

Standfläche:

Lacküberzug verschmutzt und stark nachgedunkelt

braune Lasur (vermutlich ver-" gilbter, ehemals grüner Farblack) grün (Malachit) Kreide

Hohlkehle :

grau

blau (Azurit) schwarz untermalt Kreide

Profile:

schwarz grau

rot (Zinnober auf Mennige) Kreide

grau

Reste von Smalte

Profilierter Sockel

Abbildungsnachweis: Abb. 1, 4a—d, 5 Staatliche Museen Berlin Abb. 2 Repro. aus: V. Denkstein und F. Matous, Südböhmische Gotik, Prag 1955, Abb. 1 1 2 Abb. 3 Repro. aus: G. Scheffler, Hans Klocker, Schlern-Schriften 248, Innsbruck 1967, Abb. 6

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BERICHT ÜBER H O L Z K O N S E R V A T O R I S C H E P R O B L E M E D E S G E M Ä L D E S K A T . - N R . 191, PARIS B O R D O N E , DIE ZU EINER N E U E N M E T H O D E DER R A H M U N G FÜHRTEN Gerhard Priebe

Das Gemälde, von dem hier aus konservatorischer Sicht berichtet werden soll, ist kaum wie ein anderes mit der Geschichte der Staatlichen Museen verwachsen, mit dem Ruhm, aber auch mit den Belastungen, denen die Bestände im Verlaufe des Bestehens der Gemäldegalerie ausgesetzt waren. 1821 aus der Sammlung Solly erworben, gehörte es von Anbeginn zu den erlesensten Exponaten der venezianischen Hochrenaissance-Malerei, noch zumal seine Zuschreibung unumstritten ist. Bereits Giorgio Vasari rühmte das ursprünglich in der Kirche Santa Maria de Battuti in Belluno befindliche Gemälde (Abb. 1), das von dem Tizianschüler Paris Bordone zwischen 1530 und 1540 gemalt sein dürfte. Daß diese Tafel zugleich ein äußerst empfindliches Gemälde ist, beweisen bereits Urkunden aus dem 19. Jahrhundert. So finden sich in der „Registratur der Königlichen Museen, Acta betreffs die Restauration der Gemälde und Kunstgegenstände" folgende Eintragungen: 1. „Prof. Xeller berichtet über die im Jahre 1865 ausgeführten Restaurationen:. . . 191 Paris Bordone, Maria mit dem Kinde, Blasen niedergelegt." 2. „der Restaurator Schmidt berichtet über die im Jahre 1876 für die Königliche Gemälde Galerie ausgeführten Restaurationen: . . . 191 Paris Bordone. Maria mit dem Kinde. Blasen niedergelegt und abgeblätterte Stellen gedeckt." Konkreter berichtet Wilhelm Bode über den Zustand der Bilder der Gemälde-Galerie. In einem Schreiben, das Bezug nimmt auf eine Kritik von Paul Nohlswein in der Kunstchronik Nr. 29, Jahrgang 1885/6 („Aus der Bilder Galerie des Berliner Museums"), spricht er von „nicht alten Schäden", vom „Reißen der Holztafeln", von „im letzten Winter ausgesprungenen Stellen", die „auf Anordnung von Geh. Reg. Rath Meyer nur provisorisch mit Farbe ausgefüllt wurden". Der Zustand scheint so bedenklich gewesen zu sein, daß man in Erwägung zog, das hier besprochene Gemälde auf Leinwand übertragen zu lassen. Die Trockenheit der Luft wird als Urheber der Blasenbildung erkannt. Insbesondere, so betont der Geh. Reg. Rath Meyer in einem Bericht vom 15. 5. 1886, seien venezianische Holztafeln betroffen. Auch hier wird das Gemälde 191 ausdrücklich als ein „im letzten Winter provisorisch behandeltes" genannt. Das System der „früher bestehenden Luftheizung" wird kritisiert, sowie die Unzulänglichkeit der neuen Heizungsanlage zugegeben, wenn es heißt: „Gerade diese Heizung, welche eine allzugroße Hitze stromweise nur in ungeregelt zufließender Menge durch weite Öffnungen in die Räume führte und eine besonders trockene Luft erzeugte ... war die Veranlassung zu einer neuen Heizungsanlage. Letztere, welche eine immer gleichmäßige und gleich verteilte gemäßigte (12—13 Grad Reaumur) Wärme erzeugt, hat sich denn auch in den ersten Jahren vortrefflich bewährt; erst in diesem Winter trat bei der langanhaltenden abnormen Trockenheit das Uebel wieder hervor, das bei dem alten Heizungssystem jedes Jahr und in mindestens gleicher Stärke wiederkehrte." (Erwähnt sei, daß diese neue Heizungsanlage am 1. Okt. 1881 in Betrieb genommen wurde, wie dem amtlichen Bericht aus den Königlichen Kunstsammlungen vom 1. April 1882, veröffentlicht im „Jahrbuch der Königlich-Preußischen Kunstsammlungen" Bd. 3, zu entnehmen ist.)

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All diese Zitate zeigen, daß speziell die Holztafclgemälde in den letzten hundert Jahren erheblichen Belastungen ausgesetzt waren. Daß ungünstige äußere Einflüsse bis in die Gegenwart wirkten, besonders aber im 2. Weltkrieg den Bestand der Gemäldegalerie gefährdeten, soll an zwei Beispielen dokumentiert werden. In einem Schreiben des Direktors der Gemäldegalerie vom 7. März 1942 heißt

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„In der Werkstatt des Hilfsrestaurators Teichler im K F M herrscht während der Heizungsperiode eine solche Trockenheit (20—25%), daß die dort zur Behandlung oder Beobachtung befindlichen Holztafelbilder fast regelmäßig Blasen werfen. Um diesem Übelstand abzuhelfen, hat Herr Teichler jun. in der Werkstatt seines Vaters versuchsweise eine Einrichtung geschaffen, mit deren Hilfe es gelungen ist, die Feuchtigkeit von 25 % auf 45 % zu steigern. Aus einem an die Wasserleitung angeschlossenen Schlauch wird ein dünner Strahl auf einen Heizkörper gespritzt. Das ist ein Provisorium, das auf die Dauer nicht bestehen kann. Ich bitte aber, daß die Bauverwaltung untersucht, ob nicht mit geringem Aufwand eine ähnliche, besser arbeitende Einrichtung geschaffen werden kann." Schließlich sei noch ein Brief an den 1. Restaurator, vermutlich aus der Hand von Geheimrat Zimmermann (nur Kurzzeichen, d. Verf.), vom 25. 8. 1942 erwähnt, der in besonderem Maße zu einem Zeitdokument wurde, da er auf anschauliche Art und Weise ahnen läßt, welchem Schicksal die Kunstwerke der Staatlichen Museen im Verlauf des Krieges ausgeliefert waren: „Sehr geehrter Herr von Danzas, da ich Ende der Woche voraussichtlich einige Tage verreise, muß ich Ihnen leider brieflich von unserer Durchsicht des italienischen Depots Mitteilung machen. Wir haben hier leider zwei Dutzend Bilder gefunden, die nicht nur furchtbar viel Blasen, sondern auch Abblätterungen haben, so daß Teichler sofort nach seinem Eintreffen an die Arbeit gehen müßte. Die großen Bilder sind auf Böcke dort in den Kabinetten gelegt worden, um weiteres Abfallen der Blasen zu verhindern. Teichler allein wird es gar nicht schaffen können, so daß auch Sie hierbei helfen müssen. Um Sie zu entlasten, werde ich die Umstellungen in den Luftschutzkellern übernehmen." Diesen dargestellten ungünstigen äußeren Einflüssen unterlag also auch die hier besprochene Pappelholztafel, noch zumal der Bildträger selbst eine ungünstige Konstellation aufweist, die die Restauratoren der Holzwerkstatt der Gemäldegalerie veranlaßten, eine neue Methode des Einrahmens zu entwickeln, als das Gemälde im Jahre 1971 der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht werden sollte. Diese ungünstige Konstellation liegt in der Struktur der Tafel begründet. Es handelt sich um einen Bildträger, der aus quergefügten Brettern besteht. Parallel zu der von dem Feuchtigkeitsgehalt der Luft abhängigen Schwundbewegung des Holzes, die ja letztlich die Ursache für die immer wieder geschilderten Blasenbildungen des Gemäldes ist, vollzieht sich eine Bewegung, die ihre Ursache in der mechanischen Belastung der hochformatigen und gewichtigen Tafel hat, wenn diese nach althergebrachter Art in den Falz des Rahmens gestellt würde. Die horizontal gelagerten weichen Frühholzzonen der einzelnen Bretter würden durch das Eigengewicht der Tafel unter Druck gesetzt, so daß etwaige Schwundbewegungen forciert würden. Diese Erkenntnis war auch der Grund dafür, daß die Tafel, nachdem sie nach den Wirren des 2. Weltkrieges zunächst in der Sowjetunion sichergestellt war und von dort im Jahre 1958 zurückkehrte, querstehend deponiert wurde, d. h. also auf die Hirnholzkanten der gefügten Bretter gelagert wurde. Ob diese Maßnahme während der Evakuierung und der diversen Transporte getroffen wurde, läßt sich mit Sicherheit nicht sagen. Feststeht, daß die vielen Jahre der Magazinierung sowie die klimatischen Umstellungen bei Transporten die empfindliche Tafel in Unruhe versetzt hatten, so daß erhebliche Schädigungen an der Malfläche herbeigeführt wurden, noch zumal die Tafel so sensibel ist, daß selbst Umstellungen im Hause (Depot — Werkstatt — Ausstellung) mehrere Jahre nötig machten, um das Gemälde den neuen klimatischen Bedingungen seines jetzigen Standortes anzupassen. Ein Grund mehr, von einem Einstellen des Gemäldes in den Rahmen Abstand zu nehmen. Herkömmliche Rahmungsmethoden sind das feste Fügen und das Einnageln des Bildes in den Rahmen (eine Unsitte, die auch heute noch weit verbreitet ist), während es wohl dem 20. Jahrhundert vorbehalten blieb, Gemälde mittels Stahlklammern flexibel im Rahmen zu halten. Letztere Methode versagt ihre Vorzüge aber schweren Holztafeln, da dieselben durch ihr Eigengewicht im Falz des unteren Rahmenschenkels stehen. Solange es sich um vertikal gefügte Tafeln handelt, geht es an, besonders, wenn man die Hirnholzkante auf Korkeinlagen bettet. In dem hier geschilderten Fall mußte ein neuer Weg beschritten werden. Das Gemälde wurde in den Rahmen eingehängt (Abb. 2). Ein Flacheisen, das in Höhe des zweiten Brettes von oben auf der Rückseite des Bildträgers befestigt wurde, überlappt die beiden vertikalen Schenkel des Rahmens, wo es angeschraubt ist. So kommt das 59

Bild im Rahmen zum Hängen, d. h.' auch der untere Bildrand schwebt im Falz. Eine mechanische Belastung der unteren Bildpartien durch das Eigengewicht der Tafel ist ausgeschlossen! Das hat aber auch den Vorteil, daß etwaige leichte Schwundbewegungen nach wie vor möglich sind, ohne daß das Bild Spannungen unterworfen wird, wenn diese Schwundbewegung mit Verwerfungen sog. Außenbretter einhergeht. In der Tat beinhaltet die Tafel leider auch diese unheilvolle Neigung zur Verwerfung. Sicher aus diesem Grund waren auf die Rückseite der Tafel drei vertikal angeordnete Kanthölzer gegeben, die dieser unerwünschten Bewegung entgegenwirken sollten. Ursprünglich waren die Kanthölzer flexibel gelagert, indem sie von Eisenbügeln gehalten wurden, die auf die Tafel geschraubt waren. Mittlerweile muß sich die Tafel aber dergestalt verworfen haben, daß zwei der Hölzer in den Bügeln eingekeilt waren. Die Tafel war „windschief". Eine Abnahme der durchgehenden Kanthölzer ergab, daß zwei von ihnen selber so verzogen waren, daß sie ihrerseits der Tafel die Ver60

werfung aufzwangen. Exakte Messungen bewiesen, daß sich die Tafel nach der Abnahme der Hölzer eher begradigte als stärker verzog. So konnte auf die offensichtlich spätere Zutat verzichtet werden. Dadurch wurde die Tafel weniger schwer. Die bewährten Stahlklammern am Rahmen gewährleisten die erwünschte Begradigung wesentlich schonender. Abschließend sei bemerkt, daß die Anwendung der „Einhängemethode" insofern erleichtert wurde, als die einzelnen Fugen der Holztafel von altersher durch sog. „Schwalbenschwänze" gesichert waren, so daß auch die Gefahr des Auseinanderklaffens der einzelnen Fugen durch das Gewicht der • Tafel nicht besteht. Selbstverständlich müssen solche Überlegungen mit einer strengen Beaufsichtigung der klimatischen Bedingungen in den Ausstellungsräumen, Depots und Werkstätten verknüpft sein, inklusive ihrer Regulierung, unter Berücksichtigung aller im Zusammenhang stehenden Komponenten, damit konservatorische Tätigkeit sinnvoll wird. Die allgemein als günstig anerkannten Werte von 5 5 —60% Luftfeuchtigkeit werden seit 1956 mit modernen Klimawagen angestrebt, die auf physikalischem Weg die Feuchtigkeit der Luft anreichern. Mit der Feststellung, daß das Gemälde 191, Paris Bordone, seit zwei Jahren „zur Ruhe" gekommen ist, möchte ich diesen Bericht schließen.

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ZU E I N I G E N SPÄTMANIERISTISCHEN N I E D E R L Ä N D I S C H E N L A N D S C H A F T E N DER BERLINER GALERIE (Mit Farb-Tafel)

Irene Geismeier Eine der interessantesten stilistischen Erscheinungen in der Geschichte der niederländischen Malerei ist jene sowohl als Höhe- und Endpunkt als auch als Beginn und Vorstufe zu definierende Landschaftsmalerei um die Wende zwischen 16. und 17. Jahrhundert. Das ist jene Richtung, die in dem stark philosophisch ambitionierten Weltbild des Manierismus wurzelt, aber bereits Züge realistisch freier Naturbeobachtung aufweist. Das Entstehungsbild, die Problematik und die Kausalitäten dieser Richtung vor allem retrospektiv dargelegt und interpretiert zu haben ist das Verdienst von Ed. Plietzsch, J . A. Raczinsky, H. Wellensieck und in jüngster Zeit von H. G. Franz 1 . Einzeluntersuchungen können darüber hinaus wohl kaum noch völlig neue Aspekte liefern, sicher aber immer neues, bisher unbekanntes Bildmaterial erschließen und an den bisher gewonnenen Ergebnissen messen. Die überaus reiche künstlerische Produktivität dieser Zeitphase hat zur Folge, daß sich um wenige markante Künstlernamen eine Fülle von anonymen, obwohl qualitätvollen Bildern gruppiert, die der Forschung schon deshalb entgangen sind, weil das Interesse an dem gesamten Bereich erst relativ spät erwacht ist. Auch die Gemäldegalerie im Berliner Bode-Museum (ehemals Kaiser-Friedrich-Museum) besitzt trotz großer Beschneidungen, die der letzte Weltkrieg mit sich brachte, eine Reihe solcher Landschaftsbilder flämisch-holländischer Maler, die ihre stilistische Herkunft von Namen wie Jan Brueghel d. Ä. oder Gilüs van Coninxloo ableiten und die in ihrer Zusammenstellung einen informativen Einblick in die diversen Spielarten dieser Landschaftsauffassung geben. Einige davon, wie Jacob van Geels „Landschaft mit Elias und der Witwe von Zarpath" oder C. Molenaers „Landschaft mit barmherzigem Samariter" sind in der Fachliteratur wohlbekannt und ihrerseits für Attributionen als prägnante Bezugspunkte herangezogen worden. Der Bestand enthält aber auch Werke von so selten vertretenen Landschaftern wie Willem van den Bündel oder Jan Tilens. Schließlich bewahrt der Fundus der Gemäldegalerie im Berliner Bode-Museum einige sehr allgemein als flämisch deklarierte Waldlandschaften, die bisher nicht publiziert worden sind, zumal sie sich entweder an entlegenen Ausleihorten befanden oder — in einem Falle — erst nach 1945 erworben wurden. Das früheste unter diesen Bildern ist jene „Waldlandschaft mit der Wanderung des jungen Tobias mit dem Engel", die G. Fr. Waagen bei der Erwerbung aus der Sammlung Solly 1821 David Vinckeboons zuschrieb. Im Vorratsverzeichnis späterer Berliner Kataloge rangierte das Werk wieder vorsichtiger unter „Flämisch um 1620" 2 . Vergleiche werden zeigen, daß diese Landschaft ganz direkt 1

2

Eduard Plietzsch, Die Frankeflthaler Maler. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der niederländischen Landschaftsmalerei. Beiträge zur Kunstgeschichte N. F. 36, Leipzig 1910. — Joseph Alex. Graf Rac^ynski, Die flämische Landschaft vor Rubens, Veröff. zur Kunstgeschichte Bd. I, Frankfurt/Main 1937. — H. Wellensieck, Ein Beitrag zur Entwicklung der niederländischen Landschaftsmalerei, Diss. Bonn 1954. — Heinrich Gerhard Franz, Niederländische Landschaftsmalerei im Zeitalter des Manierismus, Graz 1969 (hier sämtliche einschlagige Literatur zum Thema). Flämisch um 1620, Kat. Nr. 720, Holz 72 x 1 2 6 cm. G.F.Waagen, Beschreibendes Verzeichnis der Gemäldesammlung des Königl. Museums zu Berlin, Berlin 1830 S. 189 Nr. 251; Beschreibendes Verzeichnis der Gemälde im Kaiser-Friedrich-Museum und Deutschen Museum, Neunte Aufl. Berlin 1931, Vorratsverzeichnis Nr. 720 —

63

auf einen Bildtypus des Gillis van Coninxloo zurückgeht, den der bereits reife Künstler nach seiner Rückkehr aus dem pfälzischen Frankenthal in der Auseinandersetzung mit Bildprinzipien der älteren Antwerpener Landschaftsmalerei gefunden hatte. Die Entwicklungslinie von Coninxloos Waldbildern geht dabei von der weiten übersichtlichen Panoramalandschaft zum geschlossenen, nahsichtigen Waldbild. Eine frühe Stufe verkörpern jene Bilder, die beide Elemente noch miteinander verbinden. Der Waldkomplex nimmt in ihnen nahezu die eine Bildhälfte ein, ist durch'Wege zwischen den Bäumen und Durchblicke jedoch noch locker gefügt. Die andere Bildhälfte bietet dann den weiten Fernblick über ein Gewässer hin, mit reichen Details gestalteter, erdachter und gewachsener Natur. Die Gegensätze wiederholen sich in der farblichen Wiedergabe von dunklen, schweren Tönen in den Waldpartien und von zartblauen und gelblich-grünen Panoramatönen. Dieser Bildform, die bei Coninxloo seit etwa 1590 auftritt, gehört auch die Berliner Tobias-Landschaft an. Das unmittelbare Vorbild scheint das nur in einer Replik nach einem verlorenen Original Coninxloos erhaltene Bild des Städtischen Reiss-Museums Mannheim zu sein, das ebenfalls die Wanderung des Tobias mit dem Engel in einer zwar bildseitig gegensätzlichen, aber sonst nahezu übereinstimmenden Landschaft wiedergibt. Alle Bildelemente sind bei genauer Aufzählung von einem Bildrand zum anderen mit nur wenigen Abweichungen in beiden Gemälden nachzuweisen, wobei jedoch das Berliner Bild in der bewegteren und volleren Wiedergabe der Baumgruppen, der weniger schematischen Zeichnung der Stämme und Laubmassen eine höhere und offensichtlich spätere Qualitätsstufe einnimmt. Sehr dicht bei diesem Kompositionsschema steht bekanntlich auch die Waldlandschaft Coninxloos von 1595 — 1600, im Herzog-Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig 3 . In dieselbe Zeit gehört sicher auch jene bislang nicht publizierte „Waldlandschaft mit Jagdgesellschaft", Coninxloo zugeschrieben, in Schwerin 4 , in der, ähnlich wie bei dem Berliner und dem Mannheimer Bild, das Waldthema an dem dem eigentlichen Waldkomplex gegenüberliegenden Bildrand noch einmal mit einem einzelnen vom Rand stark angeschnittenen Baum aufgenommen wird. So entsteht die sogenannte Kartuschenlandschaft, bei der die Fernblicke fast dekorativ von Baummassen, wie ein Bild im Bilde, eingerahmt werden. Auch die 1603 nach einem älteren Bilde Coninxloos von Nicolaes de Bruyn radierte „Landschaft mit Simson als Löwenkämpfer" und die 1608 nach Coninxloo von Claes Jansz. Visscher gestochene „Landschaft mit Tobias und dem Engel" 5 belegen deutlich die Zugehörigkeit des Berliner Bildes zu diesem Coninxloo-Bildtyp. Eine Zuschreibung an Gillis van Coninxloo selbst ist damit jedoch für das Berliner Bild noch nicht erwiesen. Die Schüler und Nachahmer des Meisters in Antwerpen, Frankenthal und Amsterdam sind zahlreich gewesen und haben Anregungen durch Coninxloo häufig recht eigenständig verarbeitet. Wenn auch H. Wellensieck (briefl. 1971) nach dem Foto fragweise eine Zuschreibung an Coninxloo für möglich hielt, weil das Bild eine vorzügliche Qualität aufweist, so scheint uns jedoch eher ein Nachfolger als Autor in Frage zu kommen. In vieler Hinsicht dem Berliner Tobias-Bild ähnlich ist jene reizvolle Wald- und Flußlandschaft mit Tobias und dem Engel, die sich in der Sammlung Mr. J . A . C. Bierenbroodspot in- Amsterdam befindet, wo sie wie beim Yorbesitzer, dem CentraalMuseum Utrecht, zunächst als ein Jugendwerk des Abraham Govaerts (1589—1926) unter Mitarbeit von van der Laemen angesprochen wurde, neuerdings aber D. Vinckeboons zugeschrieben ist6. Dieses

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6

Parthey, Deutscher Bildersaal, Verzeichnis der in Deutschland vorhandenen Oelbilder verstorbener Maler aller Schulen, II 1864 S. 727 Nr. 3 (als Vinckeboons). Abb. 8 bei H. G. Franz, De boslandschappen van Gillis van Coninxloo en hun voorbeelden, in: Bulletin Mus. Boymans-van Beuningen, X I V Nr. 3 1963. Staatliches Museum Schwerin, Inv. Nr. G 10. Abb. 19 bei H. G. Frans,*, Das niederländische Waldbild und seine Entstehung im 16. Jh., in: Bulletin Musées Royaux des Beaux ^Vrts de Belgique, 1968, 1 — 2, S. 32. — Abb. 6 bei W. Wegner, Zeichnungen von Gillis van Coninxloo und seiner Nachfolger, in: Oud Holland 82, 1967, S. 209. Ausgestellt: Nederlandse Landschappefl uit de zeventiende eeuw, Juli/August 1963, Dordrechts Museum, Kat.Nr. 30, Abb. 17. — Nach einer Reinigung 1968 sind u. a. auf diesem Bild Finkenvögel im Geäst der Bäume sichtbar geworden, auf Grund deren der Besitzer lt. freundlicher Mitteilung, sowie die holländische Versteigerungsfirma Nijstad der Meinung sind, daß es sich doch um ein Werk des Vinckeboons handelt. — V g l . dazu auch W. Wegner, Zeichnungen von Gillis van Coninxloo und seiner Nachfolger, in: Oud Holland 82, 1967, S. 220, Anm. 40.

64

Abb. 3. David Vinckeboons (?), Tobias mit dem Engel, Amsterdam Sammlung Mr. J . A . C. Bierenbroodspot

A b b . i.

F l a m i s c h u m 1(120 , , D e r j u n g e T o b i a s m i t d e m I i n g e l in e i n e r L a n d s c h a f t " , B e r l i n , G e m ä l d e g a l e r i e , K a t . - N r . 7 2 0

A b b . 2 . G i l l i s v a n C o n i n x l o o ( R e p l i k n a c h v e r l o r e n e m O r i g i n a l ) „ T o b i a s m i t d e m E n g e l in L a n d s c h a f t " , Städtisches

5

lursch. u. Her. BJ. 17

Mannheim,

Reissmuseum

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Bild ist in Details und im Grundschema ohne Coninxloo-Vorbilder ebenfalls nicht denkbar, baut sie aber schöpferisch so aus, daß eine Raumstaffelung mit drei gesonderten Durchblicken entsteht, ohne das Prinzip der die eine Bildhälfte einnehmenden Panoramalandschaft aufzugeben. In der Behandlung der Baumstämme, die einen welligen Kontur haben und deren glatte Rundung malerisch stark betont ist, in der Art, wie Äste ansetzen und sich gabeln und ebenso in der Wiedergabe der Laub- und Blättermassen und der zarten Wasserspiegelungen zeigt diese Landschaft große Übereinstimmung mit dem Berliner Bild. Völlige Entsprechung letztlich herrscht in der Motiv-Staffage. Der Engel ist im gleichen hellen, wehenden Gewand mit blauer flatternder Schärpe gegeben. Sein Kopf wird von dem großen Flügelpaar hinterfangen. Auch der Tobias tritt im gleichen Gewand mit geschultertem Wanderstab auf. In demselben schwungvollen Schritt, die Köpfe einander zugewandt, schreitet das Paar auf beiden Bildern aus. Das alles spricht dafür, daß das Berliner Bild von der gleichen Hand gemalt und staffiert wurde wie das Bild in Amsterdamer Privatbesitz. Bei genauer Betrachtung der Staffagefiguren kommt übrigens sofort der Figurenstil Frans Franckens II in Erinnerung. Von A. Govaerts ist bekannt, daß er mit diesem Meister der vielfigurigen Kompositionen zusammengearbeitet hat und daß Francken ihm Staffage in seine Bilder malte. Das „Göttermahl" des Warschauer National-Museums (Inv.-Nr. 131491) ist beispielsweise von Govaerts und Francken laut Signatur gemeinsam gemalt worden. Wenn in der Berliner und Amsterdamer Landschaft Francken nicht selbst Hand angelegt hat, so muß doch ein Stich nach einer Franckenschen Figurengruppe als Vorlage gedient haben. Sollte aber D. Vinckeboons der Urheber beider Landschaften gewesen sein, so wäre es wiederum verwunderlich, daß er, ein talentierter, perfekter Figurenmaler, einen anderen Fachkollegen seine Landschaften staffieren ließ oder selbst nach fremden Vorbildern Staffagefiguren eingesetzt haben soll. Mit dem Tobiasthema hat sich Vinckeboons allerdings in einem signierten und 1608 datierten Bild auseinandergesetzt und gezeigt, daß er eine völlig andere Lösung für die Staffagefiguren anzubieten hatte, als es in den beiden hier betrachteten Tobiasbildern der Fall ist7. Auch jene „Waldige Berglandschaft mit dem Heimweg des Tobias", die in Dresden als David Vinckeboons gilt (Kat.-Nr. 939), was von Goossens abgelehnt wird, zeigt eine reichere Figurengruppierung und gibt die Hauptfiguren in besser durchgearbeiteter, zeichnerisch feinerer Weise wieder. Ein anderes Waldbild mit der Staffage eines Jägers und eines Bauernfuhrwerkes, 1958 aus Magdeburger Privatbesitz für die Berliner Galerie erworben, kann unseres Erachtens wirklich mit David Vinckeboons in Zusammenhang gebracht werden8. Von Vinckeboons ist bekannt, daß er von Mecheln aus nach Amsterdam übersiedelte und in seinen Landschaftsbildern Stilelemente der Landschafter Hans Bol, Gillis van Coninxloo und Jan Brueghel d. Ä. in sehr eigener Weise aufnahm. Den Hauptteil seines Œuvres allerdings machen ländliche Genrestücke aus. Die Landschaft ist nicht seine eigentliche Domäne, wenngleich seine Waldbilder in der Entwicklung dieses Sujets einen bedeutenden Platz haben. Das Berliner Bild nahm bei der Erwerbung die Zuschreibung wohl nach traditioneller Manier von dem im Laubgeäst auftretenden Finken her. Nähere Stilvergleiche machen die Einordnung des Bildes als ein frühes Werk glaubhaft. In der Gesamtanlage, dem nahezu geschlossenen Waldkomplex, der einen Fernblick so umschließt, daß am oberen Bildrand die Laubmassen sich fast be7

Abb. 22 bei K. Goossens, David Vinckeboons, Antwerpen/'sGravenhage, 1954, S. 42. Londoner Privatbesitz, im Kriege zerstört. Goossens leitet die Idee Vinckeboons' gerade zu diesem Zeitpunkt, 1608, das Tobiasthema aufzugreifen, von der Bekanntschaft mit dem ebenfalls 1608 hergestellten Nachstich des Hendrik Goudt nach dem sog. „Kleinen Tobias" von Adam Elsheimer her und begründet, „dat Vinckboons onder invloed van deze gravure het zeit de onderwerp koos, te meer daar dit in de Nederlanden vrijwel onbekend w a s " (a. a. O., S. 43). Merkwürdigerweise zeigt sich aber, daß Vinckeboons bei dem Londoner Tobiasbild viel wçniger von Elsheimers als von Coninxloos Auffassung übernommen hat. Dies trifft sowohl auf die Landschaftskomposition als auf die Figurengruppe zu. Mit Coninxloo war das Tobiasthema, wie wir sehen konnten, bereits vor 1608 in der niederländischen Malerei bekanntgeworden. Ein weiteres, Vinckeboons zugeschriebenes Waldbild mit dem Tobiasthema, im Kriege zerstört, befand sich seit 1 8 2 1 als Kat.-Nr. 754 in Berlin, Gemäldegalerie. Landschaftsauffassung und Figurenstil haben jedoch weder mit Vinckeboons noch mit dem Coninxloo-Schema etwas zu tun.

8

Nicht bez. Holz 67,6 X 104,5 c m > Kat.-Nr. 2198. Bisher unpubliziert, ausgestellt 1967/68 im Bode-Museum, Ausstellungsverzeichnis (bearb. v. I. Geismeier) Nr. 46.

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rühren, geht es wiederum auf Vorbilder Coninxloos zurück. Auch Versatzstücke, wie das Gewässer und die in ihrem grafischen Liniament so reizvoll zu dem unruhigen Wurzel- und Laubwerk kontrastierenden Wasserlilien rühren von Coninxloo her. Besonders der rechte Bildteil ist in der malerischen und gedanklichen Qualität, mit der jene romantische Dichte und Tiefe des Waldes, die hügelige Bodenbeschaffenheit und die lebendige Verästelung der Baumwurzeln erreicht werden, eigenhändigen Werken Coninxloos sehr nahestehend. Man ziehe etwa die „Waldlandschaft" im Kunsthistorischen Museum Wien oder jene um 1605 datierte .„Waldlandschaft mit Reiher jagd" im Historischen Museum Speyer zum Vergleich heran9. Daß diese Qualitätsstufe auch im Œuvre Vinckeboons durchaus nicht

Abb. 4. David Vinckeboons „Waldlandschaft mit Jäger und Fuhrwerk", Berlin, Gemäldegalerie, Kat.-Nr. 2198

vereinzelt steht, beweist das signierte und 1601 datierte Bild „Festliche Gesellschaft am Waldrand" in Pommersfelden, ehemals Gräflich Schönbornsche Galerie10, das unter den Bildern des Malers dem Berliner Bild von der Komposition her am ehesten vergleichbar ist und das als das früheste von Vinckeboons Landschaften gilt. Die linke Bildhälfte unserer Tafel und der durch die auf einem Berg aufgebaute Burg weitgehend zugestellte Fernblick wirken gegen den rechten Teil überraschend leer, weniger durchgearbeitet und etwas fade. Man sucht in den bekannten Waldbildern des Künstlers vergeblich nach derartig großflächigen freien Partien, nach einer so konsequenten Absetzung dichten hügeligen Laubwaldes gegen eine offene Ebene, in der sich Wiesenwege zu einem Gehöft schlängeln und aus der heraus ein breiterer Fahrweg am Gewässer entlang zum Bildvordergrund führt. Dies sind zweifellos Reminiszenzen der flämischen Landschaftsauffassung der 80er Jahre des 16. Jahrhunderts, man denke an die klaren, weitsichtigen Dorflandschaften des Antwerpeners Jacob Grimmer oder des Hans Bol. Auch wie der am 9 10

6*

Abb. 1 1 bei H. G. Franz, a. a. O., vgl. Anm. 3. — Abb. 437 bei H. G . Franz, a. a. O., vgl. Anm. 1. Abb. 3 bei K. Goossens, in: Bulletin Musées Royaux des Beaux-Arts 1 , März 1954, S. 39.

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linken Bildrand stehende massige Baum platt aus dem Boden wächst, das steht in merkwürdigem Gegensatz zur Baumwiedergabe im rechten Bildteil. Ausgeglichen wird diese „Ereignislosigkeit" allein durch die den Weg entlangziehenden Staffagefiguren, wobei das Pferdefuhrwerk formal ebenfalls auf Anregungen von Hans Bol oder Jan Brueghel zurückgehen mag. Bei letzterem denkt man beispielsweise an den „Weg zum Markt" von 1603, Wien, Kunsthistorisches Museum, wo ein Bauer in gleicher Weise ein Pferd anschirrt. Die Verwendung solch erzählender, genrehafter Staffage, bei der sogar ein anekdotisches Motiv ins Bild kommt, das allerdings läßt wieder David Vinckeboons Idee

Abb. 5. Flämisch (Art des Paul Bril) „Landschaft mit Hirschjagd", Berlin, Gemäldegaleric, Kat.-Nr. II/266

von der Landschaft erkennen. Denn bereits das genannte Waldbild in Pommersfelden enthält überaus vielfältige Figurengruppen und auch die späteren Waldbilder Vinckeboons' führen gern größere Gruppen von Jägern, biblische Szenen oder Raubüberfälle vor, ein Moment, das einerseits die Entwicklung des Künstlers zum Genremaler andeutet, das ihn aber auch als einen realistischen Vertreter des Landschaftsthemas ausweist. Für ihn ist die Natur Stätte menschlicher Betätigung. Der Reiz der Coninxlooschen Waldbilder beruht dagegen gerade auf ihrer Stille und tiefen Einsamkeit. Man findet hier K . Goossens bestätigt, der in seiner Vinckeboons-Monographie (S. 22, Anm. 7) von Coninxloo sagt, er philosophiere über das Wesen der Natur, Vinckeboons hingegen erzähle, was sich in der Natur ereigne. Zieht man also das Fazit unserer Analyse, so ist zu sagen, daß das Berliner Bild als ein Frühwerk des D. Vinckeboons anzusprechen ist. * Um einen ganz anderen Landschaftstypus handelt es sich bei der „Landschaft mit Hirschjagd". Das Bild kam ebenfalls 1821 mit dem großen Konvolut der Sammlung Solly nach Berlin, das damals 68

im Hinblick auf die Museumsgründung für den preußischen Staat erworben wurde. Die unklare Einordnung „Vlämisch um 1600", um die eingrenzende Bemerkung „ A r t des Paul Bril" erweitert, geht wiederum auf Waagen zurück und wurde bis heute beibehalten. Immerhin war die Tafel ja fast 60 Jahre seit 1884 an den Münsterschen Kunstverein ausgeliehen 11 . In Berlin war sie nur am Anfang, zu Zeiten G . F. Waagens in der Ausstellung. Wiedergegeben ist eine weite Flachlandschaft, die in phantastischer Regellosigkeit von gewundenen Fluß- und Bachläufen durchzogen wird, durch die sich Wege schlängeln und deren Bodenstruktur durch eine Abfolge und Hintereinanderstaffelung von kleinen hügeligen Bodenwellen gekennzeichnet

Abb. 6. David Vinckeboons(?) „Waldlandschaft mit Hirschjagd", Rom, Galleria Pallavicini Nr. 521

ist. All diese Erdhügelchen sind mit Laubbäumen oder Strauchwerk besetzt; die Baumstämme ihrerseits winden sich kurvig in die Höhe. Dieser unruhvollen Bewegtheit des Erdreiches, der Bäume und des Pflanzenwuchses entspricht eine wimmelnde Geschäftigkeit in den Staffagefigürchen. Vorn spielt sich eine Jagdszene ab, bei der sechs Figuren zu Fuß und zu Pferde mit Lanzen, Hunden und Jagdhorn einen bereits gestellten Hirsch einkreisen. Im Mittelgrund wandern Bauern einzeln oder paarweise auf Wegen, die zu einem großen Gehöft führen, vor dem Frauen stehen. Wildgänse und andere Vögel flattern am wolkenreichen Himmel. Trotz dieser bilderbuchhaften Vielgestaltigkeit hat der Maler darauf Bedacht genommen, einen großen diagonalen Zug in der Komposition zu wahren, der von rechts unten sacht nach links oben ansteigt. Die Bewegungsrichtung 11

Flämisch um 1600. Art des Paul Bril. Kat.-Nr. II/266. Nicht bez. Holz 69 X 99 cm. G . F. Waagen, Beschreibendes Verzeichnis 1830, S. 192t., Nr. 266 als „Niederländische Schule, dem Paul Bril verwandt". Beschreibendes Verzeichnis 1 9 3 1 , S. 652 als „Vlämisch um 1600".

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der Figürchen paßt sich diesem Diagonalzug ebenso an wie vor allem die Licht- und Schattenverteilung und die Farben. Der linke Bildrand mit dem sich verdichtenden hohen Laubwald ist demzufolge in zunehmendes Dunkel gehüllt, während der Flußlauf am rechten Bildrand die lichte Zone des Bildes verkörpert. Dieses Bild mit dem Namen des Paul Bril in Verbindung zu bringen, kann lediglich im Motivischen begründet liegen. Zweifellos hat man die Jagdszenen Brils im Pariser Louvre, darunter vor allem die „Hirschjagd" — Inv.-Nr. 1109, zugeschrieben und datiert 1610—12 —, bei dieser fragweisen Einordnung unseres Bildes im Auge gehabt. Die Brilschen Jagdszenen, wozu u. a. auch die auf das 1609 entstandene Hirschjagdfresko im Palazzo Rospigliosi, Rom, zurückgehende „chasse au daim" in Paris, Inv.-Nr. 1 1 1 0 und die „Ziegenjagd", ca. 1606, in Berlin, ehem. KaiserFriedrich-Museum, Kat.-Nr. 714, gehören, weisen eine völlig andere Auffassung der Landschaft auf. In Anlehnung an A. Elsheimer hat Bril einen spannungsreichen kompakten Massenaufbau gefunden, der eine von Farbe und Licht gestützte Raumtiefe erzeugt. Die Laubmassen der Bäume wirken natürlich, sind rund und voll, und die Staffage fügt sich zu einem lebhaften Handlungszentrum in die Landschaft. Von der Berliner „Hirschjagd" ist dagegen zu sagen, daß die landschaftlichen Elemente und die Staffage-Details nach einem mehr additiven Prinzip zusammengestellt sind. Dem entspricht schließlich die harte und schematisierte Laubbehandlung, bei der bis zum Mittelgrund die Blättchen einzeln erkennbar bleiben. So entsteht im ganzen ein stark grafischer Gesamteindruck, der unser Bild mehr der altertümlichen flämischen Landschaftsmanier der 80er und 90er Jahre eines Hans Bol, Pieter van der Borcht, Jacob Grimmer u. a. verwandt erscheinen läßt; jenem Typus der flachen lichten Baumlandschaften, die häufig nur in Nachzeichnungen oder Stichen erhalten sind12. Damit ist jedoch nichts zur Datierung gesagt; diese Stichvorlagen wirken auch ins 17. Jahrhundert hinein. Anton Mayer hat in seiner Monografie über Matthäus und Paulus Bril nachgewiesen, daß der Landschaftsstil des letzteren, den er in der oben beschriebenen Weise im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts vorzüglich entwickelt hatte, zwischen etwa 1613 und 1620 zu langweiliger Manier und serienmäßigem Schematismus herabgesunken ist. Da es sich bei diesen Landschaften sehr oft um solche mit Jagdstaffage handelt, lag es nahe, mittelmäßige Werke dieser Thematik, die auch nur entfernt die Bril-Manier ahnen ließen, seinem Wirkungskreis, meist sogar ihm selbst oder zumindest seinem Bruder Matthäus zuzuschreiben. Mayer führt eine ganze Reihe dieser Pseudo-Brils als Beispiele auf, ohne jedoch Vollständigkeit anzustreben13. So veröffentlicht F. Zeri 1959 in seinem Katalog der römischen Galleria Pallavicini eine Serie von Waldlandschaften, die sich ohne weiteres in diese Reihe der Pseudo-Brils einpassen lassen und die zu unserer besprochenen Tafel die engste Verwandtschaft zeigen14. Von den sieben römischen Tafeln sind vier mit Jagdszenen ausgestattet. Sie alle haben den gleichen Landschaftscharakter wie die Berliner „Hirschjagd"; die Ebene mit lichten Fernblicken, den hügelig gewellten Waldboden, aus dem in lockerer Gruppierung Laubbäume aufwachsen, dieselbe Licht- und Schattenwirkung, die grafisch aufgefaßten Blättermassen. Die Schilfbüschel an den Bächen wachsen ebenso steif hervor, und selbst solche stereotypen Requisiten wie ein splitternd abgebrochener Baum kehren wieder. Auch in der Staffage finden sich bei Mensch und Tier gleiche Typen in hölzerne Bewegungen gebannt wie in unserem Bild. Die Serie war, wie zu vermuten, ehemals teilweise oder geschlossen „alla scuola di Paolo Bril" oder „maniera del Brilli" benannt. 1952 sprach sich Max J . Friedländer für David Vinckeboons aus, 12

13

11

Vgl. u. a. H. Bol, „Waldlandschaft", sign., dat. 1588, Zeichnung, Rotterdam Museum Boymans-vafl Beuningen (Abb. 2, H. G. Franz, De boslandschappen van Gillis Coninxloo en hun voorbeelden, in: Bulletin Museum Boymans-van Beuningen, X I V , Nr. 3, Rotterdam 1963); P. v. d. Borcht „Waldlandschaft", Stich aus einer Illustrationsfolge zum Neuen Testament (Abb. 9 bei H. G. Franz, Das niederländische Waldbild und seine Entstehung im 16. Jahrhundert, Bulletin Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique, 1968, 1—2); Jacob Grimmer, „Lichter Wald", Pinsel- und Federzeichnung, dat. 1589, Wien, National-Bibliothek (Abb. 11 bei H. G. Franz, 1968, a. a. O.). Anton Mayer, Das Leben und die Werke der Brüder Matthäus und Paul Bril, Kunstgeschichtl. Monographien X I V , Leipzig 1910. Ftderigo Zeri, La Galleria Pallavicini in Roma, Catalogo dei dipinti, Firenze 1959, Nrn. 521 — 527, S. 277t., Abb. 521 bis 527.

70

Abb. 7. Ders.(?) „Waldlandschaft mit Wildschweinjagd", Rom, Galleria Pallavicini, Nr. 527

und 1954 beobachtete Charles Sterling gewisse Beziehungen zu Bildern des Abraham Govaerts. Zeri katalogisiert alle sieben Bilder unter David Vinckeboons, schließt jedoch im Text nicht völlig aus, daß Teile der Serie vielleicht nur aus dem Umkreis Vinckeboons' stammen. Auch Zeri konstatiert bei der Analyse der Serie die enge Beziehung zu jenem altertümlichen flämischen Stil, wie wir sie für das Berliner Bild ebenfalls feststellten. Auf Grund der allgemeinen Unsicherheit bei der Zuschreibung dieser anonymen Jagd- und Waldbilder wäre es leichtfertig, das Berliner Bild wegen des erkannten Zusammenhanges mit der RomSerie nun ebenfalls David Vinckeboons selbst zuzuschreiben. Es in den Umkreis des Vinckeboons und in die Zeit um 1610 zu verweisen, dafür' sprechen Qualität und Stilmerkmale allerdings.

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ZU EINIGEN ZEICHNUNGEN DES „REMBRANDT-SCHÜLERS" L A M B E R T DOOMER IN D E N STAATLICHEN M U S E E N ZU B E R L I N Wolfgang

Schuld

i.

Die kategorisierenden Arbeitsvorgänge in der Kunstgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts — erinnert sei vor allem an die Versuche, erste praktikable Handbücher und Sammlungskataloge herauszugeben — ordneten in nutzbringender Weise die damaligen Kenntnisse über Künstler und Kunstproduzenten vergangener Jahrhunderte. Einteilungen in historische Stile und geographisch bestimmte Schulen öffneten die Augen der Kunstwissenschaftler für Abhängigkeitsverhältnisse zeitlicher, lokaler und personaler Art unter den Künstlern; Lehrer-Schüler-Beziehungen wurden erstmals präzisiert. Dieses richtungweisende Denken stützte sich auf das Material der Versteigerungskataloge des 18. Jahrhunderts, die oft als einziges Schrifttum Namen und Werke bestimmter Künstler überliefert hatten und die Objekte in „Schulen" klassifizierten. Wenn C. F. v. Rumohr, Sammler und Kunsthistoriker, eine Methode entwickelte, die jeglicher Arbeit in Sammlungen von Kunstobjekten eine neue Basis gab, sollte an die Hintergründe gedacht werden. Eine von G . F. Waagen und W. Bode in Berlin geprägte Methodik wissenschaftlichen Ordnens, die z. B. auch den neuen Typ von GalerieKatalogen fand, konnte auf Jahrzehnte hinaus vorbildlich sein, ehe sie — dann in der Ungunst der Verhältnisse — abgelöst wurde durch den Anspruch wissenschaftlich vervollkommneter Arbeitsapparate etwa der Londoner Museen und daraus resultierender richtungweisender Publikationen. Einordnendes Denken in „Stilen" und „Schulen" vernachlässigte allerdings Fragen nach der Motivation und den kausalen Entstehungsvorgängen eines Kunstwerkes und verbreitete innerhalb der angewandten Methodik wissenschaftliche Assoziationsreihen, die in der zugleich ergründenden und deutenden Kunstwissenschaft der Gegenwart sich eher als Belastung, jedenfalls kaum als Hilfe erwiesen. Ein Beispiel hierfür scheint der Terminus „Rembrandt-Schule" zu sein, der sich bis in die französische Aufklärung zurückverfolgen läßt und vor allem durch die Arbeiten W. Bodes zum Standardbegriff in der Erforschung niederländischer Kunst des 17. Jahrhunderts wurde. Als Belastung wird dieser Begriff empfunden, weil er in der kunstwissenschaftlichen Darstellung weder zu Präzisierung der Sachverhalte führen kann noch die Darstellung selbst erleichtert. Rembrandts Ausbildungsbetrieb 1 darf — unter einem modernen Blickwinkel betrachtet — als kommerzielles Mal- und Zeicheninstitut angesehen werden. Aber nicht nur Söhne des Amsterdamer Großbürgertums durften sich hier — weil dies in einer bürgerlich-kapitalistischen Erziehung ä la mode 1

Z u den Schülern Rembrandts vgl. die Erwähnungen von A.rnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche Konstschilders en Schilderessen. 1. Aufl. Amsterdam 1 7 1 8 — 2 1 ; bes. Band 2, S. 53, 57, 100, 153, 155, 273 und Band 3, S. 61, 78ff., 392. — Zusammenstellungen finden sich in den Katalogen der Ausstellungen in London, Galerie Matthiesen 1953, Leiden 1956, Montreal 1969 und Leiden 1969; ferner u. a. in den Arbeiten von A. Laurie: The Brush-work of Rembrandt and his school. London 1932, S. 4 2 — 4 3 ; O. Benesch: Rembrandt. Wien 1 9 3 5 , S. 7 0 — 7 1 ; W. Martin-. Rembrandt en zijn tijd. Amsterdam 1936, S. 502 — 505; S. Slive: Rembrandt and his Critics. Den Haag 1953, S. 192. — Z u m Unterricht Rembrandts vgl. O. Benesch\ Rembrandt's artistic Heritage, in: Gaz. des Beaux-Arts Per. 6, Band 33. Paris 1948, S. 283; C. Hofstede de Groot: Rembrandt's onderwijs aan zijne leerlingen, in: Feest-Bundel Bredius. Amsterdam 1 9 1 5 , S. 79—94; E . Haverkamp-Begemann: Rembrandt as Teacher, in: Ausstellungskatalog Chicago 1969, S. 21—30.

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war — im Malen und Zeichnen, vielleicht auch im Radieren versuchen, sondern es waren auch als Lehrling oder Geselle ernsthafte Kunststudenten tätig, die später Bedeutendes leisteten. Indessen rechtfertigt die Existenz eines derartigen Kunstinstitutes nicht den Begriff „Rembrandt-Schule". Auch die pädagogische Methode, die Rembrandt beim Unterricht anwandte, wird durch den Terminus nicht charakterisiert. Individuelle Talente innerhalb der Schülerschaft konnten sich entfalten, keine gleichförmige Manier wurde aufgezwungen. Es scheint eher gerade Methode gewesen zu sein, daß jeder Schüler sich in seiner ganz persönlichen Sprache ausdrücken sollte und wohl auch — nach den uns heute bekannten, bestimmten Lehrlingen zuweisbaren Kopien zu urteilen — jeder seinen Fortschritten in der Ausbildung und seinen Anlagen und Fähigkeiten nach Aufgaben gestellt bekam. Insbesondere scheint dies für Rembrandts Malstudio zuzutreffen. Weder technisch noch stilistisch wurde während der jeweiligen Ausbildungszeit bzw. des Aufenthaltes in Rembrandts Werkstatt ein Zustand angestrebt, der — analog zu Rubens in Antwerpen — Lehrlinge und Gesellen zu Vollstrekkungsgehilfen des Meisters werden ließ. Gerade der Vergleich mit Methoden der Rubens-Werkstatt und — in anderer Ebene — der Gedanke an die Assoziationen des Kunstwissenschaftlers unserer Zeit beim Wort „Rubens-Schule" offenbart die Nutzlosigkeit einer ähnlichen Begriffsbildung, Rembrandt betreffend. Nur wenige Maler-Schüler Rembrandts gaben nicht irgendwann nach ihrer Ausbildungszeit die Prinzipien des Lehrers mehr oder weniger deutlich auf oder schwenkten nicht wenigstens in populärere, damit ertragreichere Möglichkeiten der Malerei ein. Die Ausstrahlung des Frans Hals-Kreises, der Werke A. Hannemans und der Hofkünstler in Den Haag sowie von Van der Heist sollte nicht unterschätzt werden, abgesehen von flämischen Einflüssen und dem zunehmenden französischen Kulturimperialismus. Rembrandts Malweise bestimmte keineswegs die holländische Malerei der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, obwohl er auch — zwischen 1630 und 1650 in recht starkem Maße — Maler beeinflussen konnte, die nicht in einer direkten persönlichen Verbindung zu ihm standen und meist seiner eigenen Generation angehörten. „Schulbildend" wirkte Rembrandt hier nicht, und von einer nationalen, holländischen „Rembrandt-Schule" kann nicht gesprochen werden. Eine Bezeichnung wie „Rembrandt-Kreis", die Schüler, Beeinflußte und zeitgenössische Nachahmer zusammenfaßt, wäre also vorzuziehen. Indessen: eine weitreichende Übereinstimmung in künstlerischen Mitteln und im Ausdrucksgehalt ist festzustellen im Z e i c h e n w e r k Rembrandts und seiner Schüler, so daß sich hier tatsächlich eine „Rembrandt-Schule" bildete mit Gemeinsamkeiten in Themenwahl, technischen Mitteln, Komposition und Ausdrucksverlangen; nicht nur während der Zeit unmittelbarer Beeinflussung, sondern bei den Beeinflußten meist ein Leben lang. Nur hier könnte also vernünftigerweise weiterhin bei der Betrachtung eigenständiger Kunstprodukte des niederländischen 17. Jahrhunderts mit dem Begriff „Rembrandt-Schule" gearbeitet werden, nicht ohne ihn vorher wissenschaftlich zu definieren. Verschwommen wie Begriff und Definierung der „Rembrandt-Schule" sind die Vorstellungen vom Umfang des Kreises der von Rembrandt beeinflußten Künstler. Nach den Erfahrungen des Verfassers scheint trotz bewunderswerter Leistungen vornehmlich niederländischer Kunstwissenschaftler die Durchdringung der heimatlichen Archive noch nicht in genügender Weise geschehen zu sein; nur selten können so die Ausbildungsverhältnisse exakt nach Jahren bemessen werden. Vereinzelt nur sind „Schüler" in den Quellen ausdrücklich als solche erwähnt. Dabei muß unterschieden werden zwischen Kunststudenten und auch weiter fortgeschrittenen, mitunter fertigen Künstlern einerseits, die im Hause Rembrandts oder in der Nachbarschaft in Kost und Logis lebten, und andererseits solchen, die nur zu den Mal- und Zeichenstunden in die Werkstatt kamen. Zur zweiten Gruppe von in Amsterdam Ansässigen zählten z. B. die jungen Angehörigen der Amsterdamer privilegierten Oberschicht. Auch Lambert Doomer aus der Hartenstraat, Sohn von Rembrandts Rahmenmacher Härmen Doomer, stand in einem derartigen Ausbildungsverhältnis, ohne daß wir ihn als „Schüler Rembrandts" kategorisieren dürfen. Das Werk einiger bedeutender Maler und Zeichner, die vor allem oder ausschließlich im Landschaftsfach Höchstleistungen erzielten, ist ohne Rembrandts direkten Einfluß nicht vorstellbar. Es seien Philips Köninck und Roelant Roghman als wichtigste Künstler genannt, Jacob Köninck, An74

thonie van Borssum, Johannes Leupenius, Abraham Furnerius, Jacob Esselens, Abraham Rutgers. Nur weil die Zeitgenossen und deren unmittelbare Nachfahren sowie die einschlägigen Urkunden diese Künstler nicht als Schüler nennen, dürfen wir nicht einen direkten Einfluß Rembrandts ausklammern, den der stilistische Befund ergibt. 2. Über Leben und Werke eines dieser von Rembrandt abhängigen Amsterdamer Künstler sind wir neuerdings durch eine Monografie besser informiert: L a m b e r t Doomer 2 . Als Sohn eines deutschen Emigranten ist der 1624 in Amsterdam Geborene für uns auf Grund fast lückenlos vorhandenen Archivmaterials besonders interessant. Nach einer handwerklichen Kunsttischler-Lehre, die mit einem Prüfungsstück für die Zimmermannsgilde endete, besuchte Doomer 1644, wahrscheinlich auch noch 1645, Rembrandts Kunstunterricht und bildete sich im Zeichnen aus. Dies geschah teilweise auch

Abb. 1. Lambert Doomer Nantes, Musée Dobrée Loireufer bei Nantes

durch Kopieren Rembrandtscher Zeichnungen und anschließendes Verwenden des dabei Gelernten in eigenständigen Zeichnungen. Da bereits im Jahre 1644 Gemälde von der Hand Doomers entstanden sein können, wie das heute in Chatsworth bewahrte „Bildnis der Mutter" 3 — wiederum in Anlehnung an eine Originalarbeit Rembrandts4 —, muß Doomer die technischen Grundlagen der Malerei in dieser Zeit beherrscht haben. 1646 unternahm er eine Fahrt durch Frankreich, die Loire aufwärts von Nantes bis Orléans, dann über Paris nach Dieppe. Diese Fahrt sollte für seine Entwicklung und spätere künstlerische Produktion ebenso entscheidend werden wie eine 1663 durchgeführte Rheinreise bis Bingen. Von beiden Unternehmungen brachte Doomer Reiseskizzen mit, die er dann in der Heimat für Sammler wiederholte. Diese topographischen Federzeichnungen, meist sehr effektvoll laviert, 2 3 4

Wolfgang Schuld, Lambert Doomer. 1624—1700. Leben und Werke. Dissertation Berlin 1972. Bd. 1. 2. Chatsworth, Devonshire Collections Inv.-Nr. 145. — W. Schulz 1972, Nr. G 14. Leningrad, Ermitage Nnv.-Nr. 729. — A. Bredius 1935, Nr. 357.

75

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o e$0B J l e r a e r o Asopija IleTpa I h Bojihiuoro üeTeproijicKoro KacKa3a, CöopHHK Haynirax PAFIOT 1948 r . JleTHHü ,n;Dopeu; — M y a e Ä IleTpa I , Ha npaBax pyKonncji) gibt an, der Sommerpalast, die erste Residenz Peters I., sei von Trezzini in den Jahren 1710 —12 erbaut. Später erfolgten noch Arbeiten am Innenausbau und an der Fassade. Trezzini nenne den Palast in einer Liste der von ihm errichteten Bauten (U,rA,n,A KaÖHHeT IleTpa, pa3p. I X OTR. I I , K H . 7 6 JI. 404. « E K A S P T 1 7 2 6 r . ) . Kusne^pwa, Sementowskaja, Schteiman 1957 (op. cit.), S. 10, geben den Baubeginn nach dem Journal Peters I. mit dem 18. August 1710 an („Ha JleTHeM ßBope ero BejmqecTBa aanaaii 611Tb cßan nofl, KaMeHHoe scanne"). Der Sommerpalast entstand auf dem Grundstück des Schweden Könau an Stelle eines kleinen Hauses. Bereits 1704 wurde mit der Anlage des Gartens begonnen (S. 5). Peter I. forderte im Dezember 1705, den vorhandenen Hafen im kommenden Jahr zu vertiefen (S. 8). I m 5. Bd. der Ü C T o p H H PyccKoro HcKyccTBa, MoCKBa i960, der 1970 in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Geschichte der russischen K u n s t " , Bd. 5, in Dresden erschien, äußerten sich 7. E. Grabar, W. F. Schilkow und G. M. Presnow zur Baugeschichte des Sommerpalais.

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das perpetuum mobile verfolgte, das Schlüter nach Aussagen seines Zeichners Bruce „ehe er starb, noch dahin gebracht, daß es gieng" 6 . Obwohl das Palais schon bezogen war, liefen die Ausbau- und Verschönerungsarbeiten weiter. Davon gibt eine eigenhändige Notiz Peters I. für den Baukommissar General Sinjawin7 vom 2. Mai 1714 Kunde, in der er anordnete, „Figuren" zwischen den oberen und unteren Fenstern nach Angaben des Baudirektors machen zu lassen8. Da Schlüter das Amt des Baudirektors bekleidete, muß das

S. 59 Grabar: Die Baugeschichte des Sommerpalais ist heute noch ungenügend geklärt. Aus den Archivdokumenten geht hervor, daß der Bau von Iwan Matwejew begonnen wurde, Trezzini führte ihn weiter, und Schlüter vergrößerte das Bauwerk um das Zweifache. Ungefähr in dieser Gestalt ist uns das Palais heute überliefert (Abb. 47). — Das Palais ist ein zweigeschossiger Bau mit Walmdach. Es hat neun Achsen an der Nordseite, acht an der Südseite und je sechs an der Ost- und Westseite. I. Matwejew verstarb vor dem j . 8 . 1 7 0 7 (siehe Geschichte der russischen Kunst, Bd. 5, S. 4 2 8 , Anm. 46). Nach A. N. Petrow, Neue Ermittlungen über Iwan Matwejew, in: Wissenschaftliche Mitteilungen, Leningrad 1959, S. 15—21 (A.H.ÜeTpoB, HoBBie «aHHue 06 IlßaHe MaTBeeße, HayiHtie cooßmeHHH.roc. HHCneKijHH no oxpaHe naMHTHHKOB JIcHimrpaAa 1959, CTJ. 15—21) war er im Sommergarten mit den technischen Anlagen der Fontänen beschäftigt. S. 69 Schilkow. Die erste bedeutende Arbeit von Trezzini war nach dem Tode des Architekten Iwan Matwejew der Abschluß des Baues vom Sommerpalais Peters I. . . . Der Bau des Palais war im wesentlichen 1711 abgeschlossen. Später wurden seine Fassaden und die Inneneinrichtung noch prunkvoller. S. 561 Presnow: . . . und er (Schlüter) machte sich auch sofort an die Erweiterung des Sommerpalais. Schlüter behielt den einfachen Stil von Trezzini bei, er konnte sich aber in seinem Tatendrang nicht mit den glatten, schmucklosen Palastwänden abfinden, deshalb verdoppelte er die Größe des Palastes. . . . O. N. Kusne^owa, A. K. Sementowskaja u. Sch. I. Schteiman, Sommergarten, Sommerpalast, Blockhaus Peters I., Leningrad 1968, S. 55 (O. H. Ky3HCL(0Ba, A . K. CeMeHTOBCKaa, III. H. IIlTeüMaH, JleTHHit can, JleTiiMft ¿popeii, JJOMHHK IleTpa I, JleHHHrpafl 1 9 6 8 ) : Der Sommerpalast wurde erbaut in den Jahren 1 7 1 0 — 1 7 1 2 nach dem Entwurf Domenico Trezzinis. Nina Wladimirowna Semennikowa, Der Sommergarten, Leningrad 1 9 7 0 , S. 1 6 (IIiiHa BjiasiiMiipoBHa CeMGHHHKOBä, JleTHHü cap;, JleHHHrpan 1970) gibt den Baubeginn des Sommerpalastes wie Tichomirowa mit 1710 an und nennt Domenico Trezzini als den Architekten. Architekturdenkmäler Leningrads, Leningrad 1972, S. 105 (üaMHTHHKH apxiiTeKTypti JlemrarpaAa, JleHHHrpan 1 9 7 2 ) : Im Jahre 1 7 1 0 wurde begonnen, die Fundamentgräben auszuheben. Im Frühjahr 1 7 1 2 war der Außenbau fertig. Das Projekt des Palastes wurde anscheinend von D. Trezzini ausgearbeitet. 1713 —14 wurde an seiner Innenausstattung gearbeitet, eventuell unter Mitarbeit des Architekten Schlüter. Ebenso Woronichina (op. cit.), S. i6f. 8 Des Herrn Peter Heinrich Bruce, eines ehemaligen Officiers in Preußischen, Russischen und Großbritannischen Diensten, Nachrichten von seinen Reisen in Deutschland, Rußland, die Tartarey, Türkey, Westindien u. s. f. . . Aus dem Englischen übersetzt, Leipzig, bey Johann Friedrich Junius 1784, S. 165. 7 1709 erfolgte die Gründung der Stadtkanzlei, die die Bautätigkeit leitete. Ihr stand bis 1715 Generalmajor Sinjawin vor (vgl. Geschichte der russischen Kunst, Bd. 5, S. 64). 8 „HfO RejiaTh HHHeillHHM JieTOM? Ha neTHeM RBope B n a n a i a x iirryKaTypHOK) paßoToro HeaaTb BHOBB, Memjjy oKHaMH BepxHHMH H HHIKHHMH $ n r y p i i (nan Boy-JlnpeKTop wacT); $peRJKH nenaTb Tau, Kau HaiaTa; necTHimy, KOTopan B CGHHX, cne-naTb CTOJIHPHOM paßoTOK) H3 nyßy, KaK m a $ ; Kpyrnyio jiecTHimy (wo H3 nepexoflOB) c^ejiaTb ro.iJiaHflCKHM MaHepoM c nepraaMH H3 s y 6 y » e ; B NOBAPHE BbiKJiacTb iuiHTnaMH CTGHH, H naBepxy cßejiaTb a p y r y w noBapHio, H Taume njiiiTKaMH BHCJiaTb; Htejie30, iwropoe B nop;cTaBKax, Me^bio noKpbiTb. B oropop,e cflejiaTb rpoT c norpeoaMM H BaTep-KyHiHTOM, 0 ieM npenopijHio naHTb y Boy-flnpeKTopa, 0 KOTopoft eMy yme n0Ka3aH0. ApaHwepen OTAenaTb no TeKeHy (o6pa3uy), naKOB nacT Boy-^npeKTop; B üeTeproifie CRenaTb najiaTitn MajieHbKHe no «aHHOMy TeKeHy". (3anncKa, nocuaHHanK KoMHecapy OT crpoeHnn CHHHBHHY B üeTepßypr. ^onojiHeHHH K fleHHMM IleTpa BenaKoro, T . X , CTp. 177—178, MoCKBa 1 7 9 2 p . ) . Verf. dankt Frau C. G. Nesselstrauß, Leningrad, für die Mitteilung des Textes. „Was ist in diesem Sommer zu tun? Im Sommerpalast sind in den Gemächern die Stuckarbeiten zu erneuern, zwischen den oberen und unteren Fenstern sind die Figuren nach der Angabe des Baudirektors zu machen, die Friese sind fortzuführen wie begonnen; die Treppe im Flur ist durch Tischlerarbeit aus Eiche wie ein Schrank zu verkleiden; die Wendeltreppe in den Gängen ist mit einem Geländer in holländischer Art ebenfalls aus Eiche anzufertigen; in der Küche sind die Wände mit Fliesen zu verkleiden und oben ist eine weitere Küche einzurichten und ebenfalls mit Fliesen zu belegen; die eisernen Stützen sind mit Kupfer zu verdecken. Im Garten ist eine Grotte mit Keller und Wasserkunst zu bauen nach den bereits vom Baudirektor angegebenen 8»

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Programm der Darstellungen auf ihn zurückgehen. Manche Forscher wollen sogar seine Hand in einigen Reliefs erkennen. Als erster schrieb Igor Grabar 1 9 1 2 Schlüter Entwurf und Ausführung der Supraporte des Haupteinganges zu9. 1936 räumte H. Ladendorj ein, daß als ein Zeugnis von Schlüters kurzer Tätigkeit in Petersburg vielleicht einige Reliefs am Außenbau des Sommerpalais anzusehen seien und Entwürfe für einen Teil der erhaltenen Innenausstattung desselben 10 . In neuerer Zeit äußerten sich dazu: Presnow i960 1 1 : „ E s ist unbekannt, welche Basreliefs Schlüter selbst geschaffen und für welche er lediglich die Zeichnungen und Skizzen angefertigt hat. . . . Wahrscheinlich sind die Basreliefs, die gebrannt werden mußten, zu Lebzeiten Schlüters nicht alle fertig geworden und erhielten erst nach seinem Tode ihre endgültige F o r m . . . . Von den erhalten gebliebenen Basreliefs Schlüters sind zwei unbestreitbar in ihrer ursprünglichen Form überliefert: „ A m o r auf einem Meereslöwen" 1 2 und „ A m o r auf einer Meeresziege" 1 3 . Beide Reliefs sind meisterhaft ausgeführt. Verschiedene Basreliefs haben Ähnlichkeit mit Schlüters Stil („Perseus erschlägt Medusa", „ D i e Entführung der Persephone", „Minerva") . . . " B.H. Hallström 1962 1 4 : „ D i e Mehrzahl der Reliefs ist in einem platten, vereinfachten Stil ausgeführt, und vor allem sind es die drei linken Reliefs der Fontanka-Fassade sowie möglicherweise einige an der Newa-Seite, die mit Schlüters Schaffen in Berlin und in Polen verglichen werden können. Die Übereinstimmungen sind hier recht bedeutend; einige der Amorinen weisen sogar Porträtähnlichkeit mit ihren Gegenstücken im Berliner Schloß auf." Gerhard Hallmann 1967 1 5 : „ V o n Andreas Schlüter stammen vier Reliefs an der Seite nach der Fontanka." Goerd Peschken 1967 1 6 : „ . . . Drei Tafeln sind Werke allerersten Ranges, zwei weitere erstrangige Maßen. Die Orangerie ist nach der Skizze auszuführen die der Baudirektor geben wird; in Peterhof sind die kleinen Gemächer nach der gegebenen Skizze auszuführen." (Schreiben an den Baukommissar Sinjawin in Petersburg. Ergänzung zu den „Taten Peters des Großen", Bd. 10, S. 1 7 7 — 1 7 8 , Moskau 1 7 9 2 ) . Iwan Iwanowitsch Golikow, Die Taten Peters des Großen, Moskau 1 7 8 8 — 9 7 . Die Notiz Peters I. wurde schon von Cornelius Gurlitt 1891 (zit. Anm. 3), S. 219 zitiert, aber in Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse auf Schlüter als Stukkateur bezogen, der unter Oberleitung Bruce's stehend gedacht wurde. Bei Wallé 1901 (zit. Anm. 2), S. 28, XI wurde bereits der russische Wortlaut der Notiz nach Golikow abgedruckt. Die Notiz stammt Puschkarew zufolge vom 2. Mai 1714 (vgl. Iwan Puschkarew, Beschreibung von St. Petersburg und der Kreisstädte des St. Petersburger Gouvernements, St. Petersburg 1839, Bd. 1, S. 308 — MßaH IlyiiiKapeB, OiiHcaHHe CaHKTneTepöypra h yeaAHux r o p o ^ o B C. IleTepSyprcKOíí ryGepmiu, C. üefepöypr 1 8 3 9 ) , so auch datiert bei Gurlitt, Wallé und Ma^ulewitsch (zit. Anm. 5), S. 38, ferner bei G. M. Presnow, Die Bildhauerkunst in der ersten Hälfte des 1 8 . Jh., in: Geschichte der russischen Kunst, Bd. 5 , Dresden 1 9 7 0 , S. 3 4 9 — 4 0 2 , Anm. 4 6 1 . Den Sommerpalast mit leeren Blendfeldern zwischen den Fenstern des Erd- und Obergeschosses zeigt eine Bauzeichnung im Nationalmuseum Stockholm THC 146 (Björn H. Hallström, Russian architectural drawings in the Nationalmuseum, Stockholm 1963, Nationalmusei Skriftserie 9, Nr. 146). 8 Grabar 1912 (zit. Anm. 5), S. 70 u. 72. So auch Baron N. N. Wrangel in der Geschichte der russischen Kunst, Bd. V : Geschichte der Skulptur, 1 9 1 4 , S. 5 4 , Abb. S. 59 (BapoH H. H. BpaHrenb, HCTOPHH pyccKoro HCKYCCTBA. TOM 5: HcTopHH cKyjibnTypu, MocKBa [ 1 9 1 4 ] ) . 10H. Ladendorf, Andreas Schlüter, in: Thieme-Becker 30, 1936, S. 118 — 123, bes. S. 120. 11 Presnow (zit. Anm. 8), S. 361. Schon in dem Buch „Monumental- und Bauplastik des 18. und 19. Jh. in Leningrad", Moskau—Leningrad 1951, S. 329, Abb. 97 — 100 (JleHjrarpafl. MonyMeHTaJiLHaH H HeicopaTHBHafl CKyjibirrypa XVIII—XIX BeKOB, MocKBa—JI. 1 9 5 1 ) werden wie Behrens (zit. Anm. 3), S. 4 3 9 T . , mitteilt, die Supraporte des Haupteinganges und einige der Reliefs für Schlüter selbst in Anspruch genommen. Ein großer Teil der Reliefs sei allerdings erst nach des Meisters Tode nach seinen Entwürfen entstanden. Einige Reliefs, z. B. „Amor auf dem Seelöwen" oder „Amor auf dem Delphin" atmen deutlich Schlüters Geist. 12 Ostfassade, 1. Relief (Geschichte der russischen Kunst, Bd. 5, Abb. 261). 13 Ostfassade, 2. Relief. 14 Björn Henrik Hallström, Eine neue russische Kunstgeschichte, in: Konsthistorisk tidskrift 31, 1962, S. 105— m , bes. S. 1 1 0 . 15 Gerhard Hallmann, Leningrad, Leipzig 1967, S. 24. 16 Goerd Peschken, Neue Literatur über Andreas Schlüter, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 1 9 6 7 , S. 2 2 9 — 2 4 6 , bes. S. 2 4 5 .

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Stücke sind mehr oder weniger nur angelegt und unvollendet eingebaut. Auch die übrigen sind vor2üglich komponiert, aber äußerst ungeschickt modelliert, einige haben neben ganz ungeschickten meisterhafte Partien. Der Ref. erklärt sich diese Beobachtungen so, daß Schlüter hier angefangen hat, sich eine Bildhauerschule zu bilden, einige Tafeln als Vorbild selbst modelliert, andere korrigiert, die übrigen den Schülern nur skizziert hat, und daß er gestorben ist, ehe seine Schüler auch nur ein Durchschnittsniveau erreicht hatten." Zuletzt Edith Friindt 1969 17 : „Schlüter war hier bis zu seinem Tode mit dem Bau und der Ausstattung des kaiserlichen Sommerpalais an der Fontanka beschäftigt. An den Schauseiten dieses Schlosses befinden sich zwischen den Fenstern der beiden Geschosse achtundzwanzig Reliefs aus Terrakotta, von denen drei ungewöhnlich qualitätvoll sind und daher von Schlüter selbst modelliert sein müssen. Mit leichter Hand sind die von allerlei Seefabeltieren umgebenen Putten gestaltet. Die weich quellenden Leiber verbinden sich mit den phantasievoll wuchernden Formen der Delphine und Meeresungeheuer zu spielerischen Ornamenten." Obwohl in der Anweisung Zar Peters für General Sinjawin die Reliefs in einem Zuge mit der Erneuerung der Stuckarbeiten in den Gemächern des Palastes und der Fortführung des Frieses am Außenbau genannt sind, wurden sie bislang als Terrakotten angesehen. Erst bei der Restaurierung des Sommerpalais 1 9 6 1 — 6 4 stellte sich heraus, daß sie tatsächlich Stuckarbeiten aus Kalkstuck mit einer Beimischung von Ziegelmehl sind 18 .

Die 28 Reliefs und die Supraporte des Haupteinganges sind wie folgt verteilt: Auf der Südseite, der zum ehem. Bootshafen gelegenen Eingangsseite19 sieben Reliefs und die Supraporte, von links nach rechts 1. Raub der Proserpina 2. Wettlauf zwischen Hippomenes und Atalanta 3. Perseus und Medusa 4. Jupiter (Peter I.) und Petersburg Supraporte: Minerva (Abb. Taf. 8,4) 5. Neptun und Amphitrite 6. Diana am Strand 7. Venus und Adonis Auf der Ostseite, der Fontankaseite, sechs Reliefs, von links nach rechts 1. Toter Putto auf einem Delphin (Abb. Taf. 7,1) 2. Putto mit einer Meeresziege (Abb. Taf. 7,2) 3. Putto auf einem Delphin liegend (Abb. Taf. 7,3) 4. Putto ein Seepferd reitend (Abb. Taf. 7,4) 5. Jupiter und Europa am Meeresufer 6. Aktäon und seine Hunde Auf der Nordseite des Palais, der ehem. Newaseite20, neun Reliefs, von links nach rechts 1. Putto mit einem Meereslöwen (Abb. Taf. 8,1) 2. Putto einen Löwen fütternd (?) (Abb. Taf. 8,2) 3. Putto mit einem Meereselefanten (Abb. Taf. 8,3) 4. Pan und Syrinx 5. Jupiter und Lykaon 17 18

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Edith Fründt, Der Bildhauer Andreas Schlüter, Leipzig 196g (Insel-Bücherei Nr. 925), S. 65. Freundliche Mitteilung von Frau M. A . Tichomirowa, Leningrad. Vgl. auch Olga Nikalajewna Kusne^owa, Der Sommergarten und das Sommerpalais Peters I., Leningrad 1973, S. 45 (Om>ra HHKOJiaeBHa Ky3HeiiOBa, JleTHHft caa H JleTHHä ßBopeij IleTpa I , JleHHHrpaA 1973). Semmnikowa (zit. Anm. 5), S. 1 7 ; Architekturdenkmäler Leningrads (zit. Anm. 5), S. 107; Woronicbina (zit. A m 5), S. 17. Als im späteren 18. Jh. das Newa-Ufer mit Granit verkleidet wurde, wurde am Palais ein Geländestreifen aufgeschüttet, die heutige Uferstraße angelegt und der Sommergarten durch das von J . M. Velten entworfene, 1 7 7 1 — 84 in Tula hergestellte Gitter abgeschlossen. V g l . dazu Hallmann (zit. Anm. 15), S. 25 und Ewald Bebrens, Kunst in Rußland. Ein Reiseführer zu russischen Kunststätten, Köln 1969, S. 134.

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6. 7. 8. 9.

Latona und die lykischen Bauern Amor und Venus Minerva und Invidia Najade auf einem Seepferd

Auf der Westseite, der zum Park gelegenen Schmalseite, sechs Reliefs, von links nach rechts 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Diana und Aktäon Arion Apollo und Daphne Triumph der Amphitrite Europa auf dem Stier Perseus und Andromeda

Unterzieht man das Darstellungsprogramm einer genauen Durchsicht, so fällt dessen Uneinheitlichkeit auf. An der Nord- und Ostseite stellen die jeweils ersten Reliefs von links Putten auf Meerestieren dar, die restlichen Szenen aus Ovids Metamorphosen. Es durchdringen sich hier ganz offensichtlich zwei Programme, das eine auf die Lage am Wasser sich beziehende und das mythologische. Beide wurden zu ihrer Zeit zweifellos nicht nur als bloßer Schmuck, sondern zugleich als Hinweis auf den im Nordischen Krieg errungenen Anschluß Rußlands an das Meer verstanden. Bei den Putten auf Meerestieren ist zwar der Bezug auf das Wasser offenkundig, aber ihre alte aus der antiken Sarkophagkunst stammende Bedeutung als Unsterblichkeitssymbol war wahrscheinlich kaum noch in breitem Bewußtsein21. Die Ovidszenen im 17. und 18. Jahrhundert in Westeuropa ein geläufiger Stoff, wurden im Rußland Peters als politische Allegorien benutzt, die zunächst auf den Triumphbögen und deren Beschreibungen popularisiert, in Theateräufführungen und Gelegenheitsdichtungen verwendet, schließlich einen Platz im Skulpturenschmuck einnehmen. Die Gestalten von Jupiter, Apollo, Herkules und Perseus sind Sinnbilder Peters des Großen. Minerva und Mars verkörpern die militärischen Kräfte Rußlands, Neptun und Amphitrite verherrlichen die von Rußland eroberte Herrschaft über das Meer22. Es fragt sich nun, welches der beiden Schmuckprogramme am Sommerpalast das ursprüngliche ist, das von dem zweiten abgelöst wurde. Das Puttenprogramm umfaßt nur sieben Reliefs, drei an der Newaseite und vier an der Fontanka, davon ist das eine an der Newa mit dem löwenfütternden Putto unvollendet geblieben und das vierte Relief an der Fontanka mit dem ein Seepferd reitenden Putto

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Der Delphinreiter war das Sinnbild der Todesüberwindung. Im 4. Jh. ging diese Bedeutung auf Eros über (vgl. Lexikon der antiken Welt, Zürich u. Stuttgart 1965, S. 707). Semennikowa (zit. Anm. 5), S. i 8 f . , weist demgegenüber auf die Charaktereigenschaften der Delphine, die die V e r haltensforschung entdeckte, hin. Ihre Deutung, nach der Delphine für die Alten ein Symbol des ruhigen Meeres und wahrer Freundschaft waren, verführt sie zu der viel zu modernen Frage, ob die Reliefs vielleicht eine V e r körperung des Traumes von einer ruhigen, friedlichen Ostsee darstellen. Nach N. E. Lansere, Der Sommerpalast Peters I., Leningrad 192g, S. 27 — 28 (H. E . JlaHcepe, JleTHHÖ «BOpeii IleTpa I, JleHHHrpaa 1929) verkörpern die Reliefs mit Amoretten und Meerestieren die junge russische Flotte. Das Relief mit dem Meereselefanten verknüpfte er mit Zar Peters Kanonenboot „Olifant" bzw. mit der 1714 eroberten schwedischen Fregatte „Elefant". Sh.A. Ma^ulemtsch hatte schon 1936 (zit. Anm. 5), S. 44, die Unrichtigkeit dieser Theorien dargelegt, in dem sie auf thematisch gleiche Darstellungen in der italienischen Kunst des 16. bis 17. Jh. hinwies. A u s demselben Grunde zog sie auch die von Lansere vorgeschlagene Autorschaft L e Blonds für die Reliefs in Zweifel.

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Lansere 1929 (zit. Anm. 21), S. 22 f., erkannte als erster den allegorischen Charakter der Reliefs und Ma^ulewitsch 1936 (zit. Anm. 5), S. 38, vermutete eine propagandistisch verherrlichende Bedeutung, die Tichomirowa 1948 (zit. Anm. 5) nachwies, vgl. auch M. Tichomirowa, Denkmäler, Menschen, Ereignisse. Leningrad 1970, Kap. V , S. 151 bis 164 ( M . THXOMHpOBa, üaMHTHHKH, JHOflH, COßtlTHH. JleHHHrpafl I970).

Kusne^owa, Sementowskaja, Schteiman 1957 (zit. Anm. 5), S. 19 — 28; Presnow (zit. Anm. 8), S. 361 u. Anm. 462; Hallmann (zit. Anm. 15), S. 24; Kusne^owa, Sementowskaja, Schteiman 1968 (zit. Anm. 5), S. 56 —60; Semennikowa (zit. Anm. 5), S. 1 7 t . ; Kusne^owa (zit. Anm. 18), S. 46—48.

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durch dessen Proportionen deutlich von den anderen unterschieden. Den Putten an der Fassade gesellt sich ein auf einem Delphin reitender Putto am Rauchfang des Kamins im Schlafzimmer Peters I. zu. E r gehört offensichtlich zu den auf Anordnung Peters I.8 in den Gemächern erneuerten Stuckarbeiten. Dem mythologisch-allegorischen Programm gehören 21 Reliefs und die Supraporte des Haupteinganges an. Anstelle der Supraporte zeigt die Stockholmer Bauzeichnung ein einfaches Blendfeld wie über allen Erdgeschoßfenstern. Dieses und das Vorkommen ähnlicher allegorischer Szenen an der großen Kaskade von Peterhof, deren Reliefs zwischen 1720 und 1722 nach Zeichnungen des Architekten Braunstein23 geschaffen wurden, kennzeichnen das mythologisch-allegorische Programm als das spätere. Die Annahme, daß die Reliefs zwei verschiedenen Schmuckprogrammen angehören, die sich ablösen, wird unterstützt durch die Mitteilung Presnows, daß es Unterlagen darüber gäbe, daß einige Basreliefs in späterer Zeit nach Zeichnungen von Semzow, Le Blond und Michetti gestaltet worden wären24. Vermutlich verhinderte der frühe Tod Schlüters die Vollendung des Puttenschmuckes. Schlüter verstarb schon Mitte Mai/Anfang Juni 1714, nicht wie Schilkow angibt am 4. Juli 25 . Seine Witwe spricht in einem Bittgesuch, das sie am 23. 6. 1714 von Berlin aus, wo Schlüter seine Familie zurückgelassen hatte, an den Zaren richtete, von Schlüter als dem „bisherigen Oberbaudirektor, mein im Leben liebgewesener Ehemann .. ," 26 . Starb Schlüter schon so kurze Zeit nach Beginn der Arbeiten am Reliefschmuck, so könnten bestenfalls die Entwürfe dazu von ihm stammen. Diese Ansicht vertrat schon P. Wallè 1901, nach dem sich die Mitwirkung des Künstlers in der Hauptsache auf Modelle für die figürlichen und ornamentalen Teile des Palastes erstreckte 27 .1. Grabar hielt dann auch 1912 alle Reliefs mit Ausnahme der Supraporte für Arbeiten von Schlüters Gehilfen Morberg, die jedoch auf des Meisters Skizzen fußen28. N. E. Lansere teilte die Reliefs 1929 in drei große Gruppen: Vor der Ankunft Schlüters gearbeitete naive Reliefs — nach Schlüters Entwürfen ausgeführte Reliefs — Reliefs mit französischem Charakter. Bei den nach Schlüters Entwürfen gearbeiteten Reliefs unterschied er die Hände zweier Meister, von denen die geschicktere dem Modelleur Morberg gehört haben soll. Als Reliefs mit französischem Charakter sah er die Putten auf Meerestieren an, von denen er annahm, sie seien nach Zeichnungen Le Blonds gearbeitet29. Nach O. Wuljj 193230 hat Schlüters kurzes Schaffen in den mythologischen Reliefs des kleinen Sommerpalais Peters des Großen und einigen allegorischen Reliefgruppen über dessen Türen nur unbedeutende Spuren hinterlassen. Sh. A. Ma^uleivitsch teilte 1936 die Reliefs wiederum in drei Gruppen ein31. Die erste Gruppe, die 5 Reliefs mit Amoretten auf Meeresungeheuern 23 24

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Tichomirowa 1948 (zit. Anm. 5), S. 2. Presnow (zit. A n m . 8), S. 3 6 1 ; Tichomirowa 1948 (zit. Anm. j), S. 2: L e Blonds Name konnte entgegen Lanseres Vermutung bis jetzt in den Dokumenten, die die Namen der Meister überliefern, die nach Schlüters T o d an den Reliefs arbeiteten, nicht gefunden werden. W. F. Schilkow in: Russische Architektur in der ersten Hälfte des 18. Jh., Moskau 1954, S. 134 (PyccKan apxHxeKTypa nepBOft nojiOBHHbi X V I I I BeKa, MocKBa 1954). Ihm folgte Björn Henrik Hallström in seiner Besprechung des Buches „Peterhof" von N . I. Archipow und A . G . Raskin, Moskau/Leningrad 1961, in: Konsthistorisk tidskrift 33, 1964, S. 50 — 54, bes. S. 51. Grabar 1 9 1 2 (zit. Anm. 5), S. 70 und Tichomirowa 1948 (zit. Anm. 5), S. 2, geben als Schlüters Todesdatum Mitte des Monats Mai an. Nach Semennikowa (zit. Anm. 5), S. 19, ist Schlüter ca. 2 Wochen nach der Anordnung Peters I. gestorben; ebenso Kusne^owa (zit. Anm. 18), S. 45. Gurlitt (zit. Anm. 3), S. 225. Wortlaut des Bittgesuches bei Walle 1883 (zit. Anm. 3), S. 8. V o m selben Tage ist ein weiteres Bittgesuch an die Zariza Katharina datiert, vgl. Peter Wallé, Eine Bittschrift der Witwe Schlüters an die Kaiserin Katharina von Rußland, in: Der Bär 9, 1883, S. 4 4 i f . ; ders., Nachrichten aus Schlüters Leben, in: Centraiblatt der Bauverwaltung 18, 1898, S. 15 — 17 (Nr. 2), 27t. (Nr. 3) u. 4 1 t . (Nr. 4), bes.S. 4 2 ; Walle 1901 (zit. Anm. 2), S. 24, III. Die Nachricht von Schlüters T o d meldete auch die Berliner geschriebene Zeitung am 23. 6. 1 7 1 4 (siehe: Friedlaender, zit. A n m . 2, S. 147 und Ladendorf 1935, zit. Anm. 2, Kap. I V , Anm. 61). Wallè 1901 (zit. Anm. 2), S. 9. Grabar 1 9 1 2 (zit. Anm. 5), S. 70. Lansere 1929 (zit. Anm. 21), S. 23 f. u. S. 26. O. Wulff, Die neurussische Kunst im Rahmen der Kulturentwicklung Rußlands von Peter dem Großen bis zur Revolution, Augsburg 1932, S. 25. Ma^ulewitsch (zit. Anm. 5), S. 39f. Gruppe 1 : N 1, N 3 ; O 1 — 3. Gruppe 3: W 1 — 3; N 5 — 9 ; O 5.

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umfaßt, wurde ihr zufolge wahrscheinlich nach Modellen Schlüters gearbeitet, nicht, wie Lansere annahm, nach Skizzen Le Blonds. Der zweiten Gruppe gehört die Mehrzahl der mythologischen Reliefs an, die sie nach Skizzen Schlüters von P. Morberg oder K . Ossner ausgeführt denkt. Die dritte Gruppe vereinigt rein handwerkliche Arbeiten von schlechter Qualität, die die Skizzen Schlüters nur unvollkommen wiedergeben. Vgl. ferner M. Tichomirowa 194832: Der Tod Schlüters zwingt anzunehmen, daß nicht alle Arbeiten an den Reliefs von ihm ausgeführt werden konnten, sondern er selbst auch kaum für alle 29 Zeichnungen geben konnte. Dieser Annahme entspricht die Unregelmäßigkeit der künstlerischen Qualität der Reliefs und die unterschiedliche Manier ihrer Ausführung. Ähnlich urteilt N. Semennikoiva 1970 33 : Daher können nur einige Reliefs nach seinen Zeichnungen und Entwürfen geschaffen sein, andere sind von mehr oder weniger begabten und erfahrenen Meistern gefertigt, die dritten von nicht sehr talentierten und befähigten. Doch unter ein bedeutendes Thema gestellt und künstlerisch mit der übrigen dekorativen Gestaltung des Palastes verbunden, dienen sie als prächtiger Schmuck des Gebäudes. Nach O. N. Kusne^owa 1973 hat Schlüter nur noch einen Teil der Skizzen ausführen können34. Entwurfszeichnungen Schlüters für Plastiken sind nicht bekannt35. In Berlin hatte Schlüter für seinen Skulpturenschmuck des Zeughaushofes von den Masken der Sterbenden Krieger Modelle angefertigt, die seine Werkstatt ausführte. Beim Kurfürstendenkmal bediente er sich, nachdem sein kleines Gipsmodell genehmigt war, zur Herstellung des großen Tonmodells eines lebensgroßen Pferdeporträts, das Merck von einem Schimmel des Markgrafen von Brandenburg-Schwedt für diesen Zweck malen mußte36. Anders verfuhr Schlüter bei großen dekorativen Programmen, z. B. der Stuckierung des Rittersaales im Berliner Schloß. Das Medaillon mit der Schindung des Marsias stellt eine seitenverkehrte Wiederholung der Szene aus Carraccis Freskenschmuck der Galleria Farnese dar37. Schlüter könnte zwar die Fresken aus eigener Anschauung auf einer seiner beiden ItalienReisen kennengelernt haben, trotzdem ist kaum nach einer Skizze von ihm stuckiert worden. Diese wäre nicht seitenverkehrt gewesen. Vielmehr wurde nach einem der zahlreichen Stiche gearbeitet, 32 33 34 35

38

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Tichomirowa 1948 (zit. A n m . 5), S. 2. Ebenso Kusne^owa, Sementowskaja, Schteiman 1957 (zit. Anm. 5), S. 18. Semennikowa (zit. Anm. 5), S. 19. Kusne^owa (zit. A n m . 18), S. 45. Außer Architekturentwürfen Schlüters für die Parochialkirche und den Münzturm in Berlin (Sächsische Landesbibliothek Dresden, Archit. 263. Der Münzturmentwurf im Brandenburg-preußischen Hausarchiv Rep. X I V F Kriegsverlust) ist nur eine Schlüter von Charles F. Foerster in den Sitzungsberichten der Kunstgeschichtlichen Gesellschaft Berlin, Okt. 1935/Mai 1936, S. 3f. zugeschriebene Rötclskizzc für ein Transparent anläßlich der Taufe eines preußischen Prinzen erhalten geblieben (Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, K. d. Z. 16232. Abb. in den Ausstellungskatalogen „Barock in Deutschland. Residenzen", Berlin 1966, Nr. 142, S. 102 u n d „Europäische Barockplastik am Niederrhein. Grupello und seine Zeit", Düsseldorf 1971, Nr. 156, Taf. 102 b). Die von Boeck im Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 54, 1933, S. 61—66, Schlüter zugeschriebenen Zeichnungen haben nach Ladendorfs Schlüterartikel im Thieme-Becker (zit. A n m . 10) nichts mit Schlüter zu tun. Vgl. Paul Seidel, Der Große Kurfürst in der Plastik seiner Zeit, in: Hohenzollern-Jahrbuch 2, 1898, S. 93 — 106, bes. S. 102f.; Wilhelm Boeck, Neue Beiträge zu Schlüter als Bildhauer, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 55, 1934, S. 241—258, bes. S. 246; Ladendorf 1935 (zit. Anm. 2), S. 25. Freundliche Mitteilungen von Frau Prof. Dr. Margarethe Kühn, Berlin. Abb. des Reliefs bei Hein% Ladendorf, Andreas Schlüter, Berlin 1937, Abb. 88; Abb. des Freskos bei John Rupert Martin, The Farnese Gallery, Princeton, N.J. 1965, Fig. 47Wie Ernst Benkard, Andreas Schlüter, Frankfurt am Main 1925 (Meister der Plastik), S. 7 (Abb. 10), im Anschluß an Gurlitt 1891 (zit. A n m . 3), S. 84 — 87, nachwies, wurde für den als Schlußstein des Hauptportales angebrachten Helm am Berliner Zeughaus eine Radierung von Galestruzzi nach Polidoro da Caravaggio benutzt. Dieselbe Radierung, das 2. Blatt der Folge „Opere di Polidoro da Caravaggio. Disegnate et intagliate da G i o : Baptista Galestruzzi apresse l'autore in Roma 1658. Si stampano ad Vincenzo Billy in R o m a " (Bartsch 43), diente auch für die Helme über den Fenstern der ersten und letzten Achse der Langseiten des Zeughauses als Vorlage (Verf. ist H e r r n Dr. Christian Theuerkauff, Berlin, für die Fotos der Ornamentstichserie Zu Dank verbunden). Die Schlußsteine sind Werkstattarbeiten, die nach Wilhelm Boeck, Studien über Schlüter als Bildhauer, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 54, 1933, S. 38—67, bes. S. 48 „mehr oder weniger schematisch nach Modellen Schlüters ausgeführt" wurden. Verf. glaubt für die genannten 5 Schlußsteine nicht an Modelle. Ihre Stelle vertrat die Radierung.

120

den der Baudirektor als Medaillonschmuck-Vorlage bestimmte und der lediglich aus dem Tondo in das stehende Oval abzuwandeln war. A u c h beim Sommerpalast bediente sich Schlüter der Stichvorlagen. E r wählte eine Serie von Kopien nach Blättern des italienischen Stechers Andrea Maglioli, der zwischen 1580 und 1 6 1 0 in Rom tätig war, als Muster aus. V o n Andrea Maglioli sind mehrere Folgen von Kupferstichen bekannt, die entweder Meerwesen 38 , Flußgötter, Tritonen und Najaden 39 oder Putten aui Meerwesen zeigen 40 , ferner zwei Kompositionen aus Köpfen. Die Meerwesen sind keineswegs eigene Erfindungen des Künstlers, sondern von den antiken Sarkophagen Roms übernommene Motive 4 1 , die allerdings dadurch, jetzt alleiniger Darstellungsgegenstand zu sein, eine neue Bedeutung gewinnen. Maglioli steht durchaus in der großen römischen Traditionslinie, die von Raffael bis ins 18. Jh. reicht und die im rinascimento der Antike ihre Aufgabe erblickte. Maglioli hat in diesem Sinne mit seinen Stichen den gewünschten Erfolg gehabt, wie die Kopienserien von seinen Blättern beweisen. Der deutsche Stecher Adam Fuchs 42 stach die 13 Blätter umfassende Folge der Meerwesen (Andresen 8—20; Hollstein 29—41) nach 43 und 9 Blätter der Folge der Flußgötter, Tritonen und Najaden (Andresen 21 — 3 2 ; Hollstein 55— Ö3)44, ferner 1 2 Blätter aus der Folge der Putten auf Meerwesen (Hollstein 42—53) 4 5 . Letztere enthalten die vom Sommerpalast bekannten Darstellungen. Das Blatt mit der Nummer 2 zeigt einen auf dem Delphin liegenden Putto, das Blatt 3 einen Putto mit einem Meereselefanten, das Blatt 7 einen toten Putto auf einem Delphin 46 , das Blatt 9 einen Putto, der eine Meeres2iege am Bart gepackt hält47 und das Blatt 1 1 einen Putto mit einem Meereslöwen. Für die Darstellung des toten Puttos auf dem Delphin konnte Verf. bisher keine Vorlage von Maglioli'finden.

38

Folge von 13 Blättern. Sie befindet sich vollständig in Stockholm, Kungliga Biblioteket, Collijn 87, Nr. 515—526 u. 532. Die Staatliche Ermitage Leningrad besitzt 6 Blätter: Inv. Nr. 148502 Geflügeltes Seeungeheuer mit Ochsenkopf = Nr. 518 Inv. Nr. 148503 Geflügeltes Seeungeheuer mit Löwenkopf = Nr. 520 Inv. Nr. 148504 Seepferd mit Bart = Nr. 516 Inv. Nr. 148505 Putto auf Seepferd = Nr. 526 Inv. Nr. 148506 Geflügeltes Seepferd = Nr. 515 Inv. Nr. 148507 Zwei Seeungeheuer = Nr. 532 39 Folge von 12 Blättern.^ Blätter dieser Folge befinden sich in Stockholm, Kungliga Biblioteket, Collijn 84, Nr. 490 bis 495 u. Collijn 94, Nr. 531 und 2 weitere in Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek, Ornamentstichkat. Nr. 4350. 40 Folge von 16 Blättern. 13 Blätter dieser Folge befinden sich in Stockholm, Kungliga Biblioteket, Collijn 85 u. 86, Nr. 498 —510 und 2 weitere in Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek, Ornamentstichkat. 4350. 41 Vgl. Andreas Rumpf, Die Meerwesen auf den antiken Sarkophagreliefs, Berlin 1939 (Die antiken Sarkophagreliefs, Bd. 5). 42 Nach Thieme-Becker 12, 1916, S. 544: Sebald Fuchsens nachgelassener Sohn, begraben am 30. 9. 1606 in Nürnberg. 43 Die vollständige Folge in Kopenhagen, Kunstindustrimuseum; die Blätter 1—3, 5, 7 u. 8 auch in Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett. 44 Die Blätter 1 —7 u. 9 in Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Kupferstichkabinett; die Blätter 1, 2, 4—9 in Leipzig, Grassimuseum. D.Guilmard, Le Maitres Ornemanistes, Paris 1880—81, Nr. 405,72 nahm irrtümlicherweise an, die Folge gehe auf Polidoro da Caravaggio zurück. Die Folge erschien erstmals 1605, nochmals 1642 bei Paulus Fürst, ferner 1687. 45 Die vollständige Folge befindet sich laut Hollstein in Coburg und in London, British Museum — die Folge im Victoria and Albert Museum ist unvollständig. Blatt 7 (Hollstein 48) besitzt das Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, Blatt 9 (Hollstein 50) die Kungliga Biblioteket in Stockholm (Collijn 85, Nr. 496), die Blätter 10 (Hollstein 51) und 12 (Hollstein 53) das Germanische Nationalmuseum, Nürnberg. 46 Das Blatt im Victoria and Albert Museum, London (Inv. Nr. 25 676.7) verkörpert einen früheren Zustand als das Exemplar des Berliner Kupferstichkabinettes. Es fehlen z. B. noch die Konturlinien an der unteren Flossenfeder des Delphinkopfes und an dem links oben am Schwanz sitzenden Blatt. 47 Die Ziege ist bestrebt, die an den Ohren des Puttos hängenden Weintrauben abzufressen, aber der Putto sucht sich ihrer zu erwehren, indem er sie am Bart packt. Auf dem Relief fehlen die Trauben. 121

Der Italiener Laurentius Vaccarius48 gab 1608 in Rom eine die beliebtesten Darstellungen aus den verschiedenen Folgen Magliolis umfassende Kopienserie von 16 Blättern heraus49. Die Folge enthält die Darstellung des toten Puttos auf dem Delphin als Blatt 3. Sie ist seitengleich mit der Fuchsschen Darstellung. Da die Folge von Vaccarius Magliolis Stiche seitenverkehrt wiederholt, muß auch für den toten Putto auf dem Delphin eine seitenverkehrte Vorlage von Maglioli angenommen werden. Johann Theodor de Bry 50 verwendete für'seine Friese mit phantastischen Meerwesen Magliolis Folgen der Meerwesen und Putten auf Meerwesen51. Von Magliolis Bacchant auf einem Seepferd (Collijn 84, Nr. 492) gibt es in der Ermitage zu Leningrad eine seitenrichtige radierte Kopie. Vermutlich ist diese Radierung kein Einzelblatt. Da alle erwähnten Blätter sehr zerstreut sind, erleichtert eine vergleichende Tabelle der Stiche Magliolis und deren Kopien das Verständnis52. 48

49 50 51

Nach Thieme-Becker 34, 1940, S. 24, ist der Kupferstecher und Stichverleger Lorenzo Vaccari (Vaccario), latinisiert Laurentius Vaccarius, in Rom ab 1575 tätig gewesen. Die vollständige Folge befindet sich in Leipzig, Grassimuseum. Johann Theodor de Bry 1561 — 1623. Vgl. Thieme-Becker 5, 1 9 1 1 , S. 162. Folge von 6 Blättern in Leningrad, Ermitage: Inv. Nr. 768 Weibliches Seeungeheuer; Putto auf Seepferd; Putto auf Seeungeheuer mit Greifenkopf; Geflügeltes Seepferd Inv. Nr. 769 köpf; Meereselefant; Geflügeltes Seeungeheuer mit Qphsenkopf Inv. Nr. 77° Seeungeheuer einen Wasservogel fressend; Putto mit Füllhorn auf geflügeltem Seeungeheuer; Putto auf Delphin; Putto mit Dreizack auf geflügeltem Seepferd. Bez. unterhalb der Darstellung, auf Mitte gestellt: de Brij Exud. Inv. Nr. 771 Putto auf einem Delphin, dem ein zweiter, kleinerer folgt; Putto mit Dreizack auf Seeungeheuer mit 3 Hundeköpfen; Putto mit einem Meereselefanten; Putto mit Rohrkolben auf einem Delphin. Bez. unterhalb der Darstellung, auf Mitte gestellt: de Brij Excud. Inv. Nr. 772 Geflügeltes Seeungeheuer mit gewendetem K o p f ; Zwei Seeungeheuer; Geflügeltes Seeungeheuer mit Hundekopf; Seepferd mit Bart. Inv. Nr. 773 Putto von hinten gesehen und Seepferd; Putto mit einem Meereslöwen; Putto ein Seeungeheuer an die Hörner fassend; Putto auf einem Delphin liegend. Bez. unterhalb der Darstellung, auf Mitte gestellt: de Brij Excud.

52

Die gleiche Folge zerschnitten in Leipzig, Grassimuseum. Die linke Hälfte von Nr. 769 fehlt dort. Diese Stiche erfreuten sich einst größter Beliebtheit. Von den verschiedensten Handwerken als Vorlagen benutzt, unterlagen sie einem starken Verschleiß. Die Staatliche Ermitage Leningrad gab 1969 ein von L. I. Faenson verfaßtes Heft über ihren Besitz an italienischen Truhen heraus (IlTaJitHHCKne CBaAeÖHBie cyHRynn, rocyflapcTBeHHMft BpMHTaw, JleHHHrpan 1969). Abb. 8 zeigt die linke Schmalseite einer römischen Truhe mit dem Relief eines toten Puttos auf einem Delphin. Die Darstellung auf dem Truhenrelief und die auf dem ihm entsprechenden Relief am Sommerpalast sind beide eng verwandt. Sie wiederholen die Komposition des Maglioli-Stiches seitenverkehrt. Truhenrelief und Maglioli-Stich dürften auf einer gemeinsamen Vorlage fußen. Abweichend von Magliolis Stich und vom Relief am Sommerpalast erscheint die Schwanzquaste des Delphins auf dem Truhenrelief nicht über dem Oberkörper des Puttos, sondern ganz links. 1970 veröffentlichte Faenson in der von der Ermitage herausgegebenen Artikelsammlung zur westeuropäischen Kunst einen Beitrag über italienische Truhen der 2. Hälfte des 16. Jh. (3ana/iHoeBponeftcKoe ucKyccTBo, CßopHHK cTaTeit, JleHHHrpa/; 1970, cTp. 52: JI. H. aeHC0H, ÜTantHHCKHe KaccoHbi BTopoil nojiOBHHH X V I Berta), worin sie die erwähnte Truhe ausführlich bespricht. An ihrer rechten Schmalseite befindet sich von einem anderen Meister gearbeitet als der tote Putto auf dem Delphin ein Putto mit einem Meereselefanten (vgl. Abb. bei Faenson 1970, S. 58). Das Relief wiederholt die von Magliolis Stich bekannte Komposition seitenverkehrt. Der Putto hält allerdings seinen Kopf nicht gesenkt. Nach Frida Schottmüller, Wohnungskultur und Möbel der italienischen Renaissance, Stuttgart 1921, S. X X X I , sind die Truhen mit figürlichen Reliefs vermutlich nach Zeichnungen berühmter Künstler geschaffen worden, wobei die antike Sarkophagplastik oft Pate stand. Putten auf Meerestieren sind dabei keine Seltenheit (vgl. Schottmüller, Abb. 29, 126, 128, 1 3 1 u. 134). Die Schmalseiten der besprochenen Truhe aus der Ermitage hat vielleicht Andrea Maglioli entworfen. Das Berliner Kupferstichkabinett besitzt ein Blatt mit zwei lavierten Federzeichnungen, K . d. Z. 13069: oben ein Putto mit Dreizack und Seeungeheuer mit 3 Hundeköpfen; unten ein von hinten gesehener Putto mit Seepferd. Beide Darstellungen sind seitengleich zu den Kupferstichen Magliolis C. 85, Nr. 503 und C. 85, Nr. 504. Es handelt sich offenbar um die Entwurfszeichnungen, wie kleine Abweichungen zur Kupferstichausführung zeigen. Die seiten-

122

A. Maglioli

A. Fuchs

4. Flußgott mit Gans, nach links

C. 84 Nr. 493

5. Triton und Najade mit Seepferd • nach rechts

C. 84 Nr. 490

6. Triton mit Ruder zwei Seepferde nach links treibend

C. 84 Nr. 491

H.550 (1) nach rechts H.620 (8) nach links H- 58° (4) nach rechts H. 57° (3) seitenverkehrt H.6i° (7) seitenverkehrt H. 60 0 (6) seitenverkehrt

7. Bacchant auf Seepferd nach rechts

C. 84 Nr. 492

8. Zwei Putten auf Seeungeheuern

C. 84 Nr. 4940

9. Zwei nach rechts gewandte Seeungeheuer

C. 84 Nr. 495

Thema I

i. Flußgott mit Ruder 2. Flußgott mit Löwe 3. Flußgott mit Schiffsschnabel

II

10. Putto mit Seepferd nach rechts

OS 4350

11. Amor mit Köcher und Bogen auf Delphin nach rechts 12. Alter Triton mit Muschel und junger Triton nach rechts

OS 4350

1. Putto auf Seepferd nach rechts 2. Putto ein Seeungeheuer an die Hörner fassend, links Delphinkopf 3. Putto mit Füllhorn auf geflügeltem Seeungeheuer 4. Putto mit Dreizack auf Seeungeheuer mit Hundekopf nach links 5. Putto mit Dreizack und Ungeheuer mit drei Hundeköpfen nach rechts 6. Putto von hinten gesehen und Seepferd nach links * j . Putto mit einem Meereselefanten nach rechts *8. Putto mit einem Meereslöwen nach rechts *9- Putto mit Trauben an den Ohren und Meeresziege nach rechts 10. Putto mit Dreizack auf gefIiigeltem Seepferd nach rechts 11. Putto auf Seepferd nach rechts begleitet von Delphin *I2. Putto auf Delphin liegend nach rechts 13. Putto auf Delphin nach rechts, zweiter kleiner Delphin folgt 14. Putto mit Rohrkolben auf einem Delphin nach rechts 15. Putto mit Delphin nach links * i 6 . Toter Putto auf einem Delphin

L. Vaccarius

H.J9° (5) seitenverkehrt

C. 94 Nr. 531

H.560 (2) seitenverkehrt H;6}° (9) seitenverkehrt

C. 85 Nr. 498

H.53 0

C. 85 Nr. 499 C. 85 Nr. 501

(")

seitenverkehrt H.5°° (9) seitenverkehrt

H;46° (5) seitenverkehrt

C. 85 Nr. 503

H.450 (4) seitenverkehrt

C. 85 Nr. 504

H. j i ° (10) seitenverkehrt

C. 85 Nr. 508

H.44° (3) seitenverkehrt H.J2° (II) seitenverkehrt H. 47° (6) seitenverkehrt H. 49° (8) seitenverkehrt H.420 (1) seitenverkehrt H.43° (2) seitenverkehrt

C. 85 Nr. 510 OS 4350 OS 4350 C. 86 Nr. 500 C. 86 Nr. 505 C. 86 Nr. 506 C. 86 Nr. 507

(16) seitenverkehrt seitenverkehrt seitenverkehrt

C. 85 Nr. 502

C. 85 Nr. 509

J . Th. de Bry

(o. Nr.) seitenverkehrt H.480 (7) nach links

seitenverkehrt

seitenverkehrt (2)

seitenverkehrt

seitenverkehrt seitenverkehrt

(8) seitenverkehrt

seitenverkehrt

(i?) seitenverkehrt

seitenverkehrt

(neu 1, alt 8) seitenverkehrt

seitenverkehrt seitenverkehrt seitengleich

nach links

(3)

123

Thema Seeungeheuer einen Wasservogel fressend, nach links

A. Maglioli

A. Fuchs

L. Vaccarius

J. Th. de Bry

C. 91 Nr. 513 t seitengleich

Geflügeltes Seeungeheuer mit zurückgewendetem Hundekopf III

nach links

1. Putto auf Seepferd nach rechts

C. 8

Nr. 526

2. Putto auf Seeungeheuer mit Greifenkopf nach links 3- Geflügeltes Seepferd nach rechts

C. 8

Nr. J24

C. 8

Nr. 515

4- Seepferd mit Bart nach rechts

C. 8

Nr. j 16

5- Weibliches Seeungeheuer nach links 6. Meereselefant nach rechts

C. 8

Nr. 5 1 9 t

C. 8

Nr. J22

7- Weibliches Seeungeheuer und Delphin nach rechts 8. Geflügeltes Seepferd nach rechts

C. 8 Nr. 521t

9- Geflügeltes Seeungeheuer mit Hundekopf nach rechts 10. Geflügeltes Seeungeheuer mit Löwenkopf nach rechts 11. Geflügeltes Ungeheuer mit nach links gewendetem Kopf 12. Geflügeltes Seeungeheuer mit Ochsenkopf nach rechts 13- Zwei Seeungeheuer nach rechts, eines geflügelt

C. 8 Nr. 517 C. 8

Nr. 525

C. 8

Nr. 520

C. 8

Nr. 523

C. 8

Nr. 518

C. 8

Nr. 532

Zwei Putten auf Wolken mit dem Haupt Johannes des Täufers

C. 88 Nr. 497

Najade mit Meeresziege nach links

C. 89 Nr. 5 1 1 t

Geflügeltes Seepferd nach rechts ** Putto mit Köcher und Dreizack auf Delphin nach rechts

A. 8 ; H 2 9 ° (i) seitenverkehrt A. 9 ; H 3 o ° (2) seitenverkehrt A. i o ; H 31 0 (3) seitenverkehrt A. I I ; H 3 2 ° (4) seitenverkehrt A. I 2 ; H 3 3 ° (5) seitenverkehrt A. 13 ; H 34° (6) seitenverkehrt A. I 4 ; H 3 5 ° (7) seitenverkehrt A. I 5 ; H 3 6 ° (8) seitenverkehrt A. I 6 ; H 3 7 ° (9) seitenverkehrt A. I7;H38°(IO) seitenverkehrt A. i 8 ; H 3 9 ° ( n ) seitenverkehrt A. i 9 ; H 4 o ° ( i 2 ) seitenverkehrt A. 20 ; H 41 "(13) seitenverkehrt

seitenverkehrt seitenverkehrt

(7) seitenverkehrt (4) seitenverkehrt

seitenverkehrt seitenverkehrt seitenverkehrt

(9) seitenverkehrt seitenverkehrt (6) seitenverkehrt (ij) seitenverkehrt (10) seitenverkehrt (i4)t seitenverkehrt (12) seitenverkehrt

seitenverkehrt
). Walle 1901 (zit. A n m . 2), S. 25, VI.

9 toxsclj. u. Bcr. Bd. 17

12(J

Toter Putto auf einem Delphin A . Fuchs, Kupferstich (7,5 : 1 2 , 0 cm)

Toter Putto auf einem Delphin L . Vaccarius, Kupferstich ( 9 , 6 : 1 3 , 6 cm)

Putto mit einer Meeresziege A . Maglioli, Kupferstich ( 7 , 4 : 1 2 , 5 cm)

Wahrscheinlich haben die aus Berlin nachgeholten Bildhauer mit den Arbeiten an den Puttenreliefs begonnen. Das würde ihre an Berliner Stukkaturen der Schlüterzeit erinnernde Wirkung erklären. Die ersten drei Reliefs an der Fontanka verbindet das gleiche Verhältnis der Figuren zur Fläche (Abb. Taf. 7,1 — 3). Wellenbildung und Laubgestaltung zeigen eine Handschrift. Dagegen hebt sich der Putto mit dem Meereselefanten deutlich ab (Abb. Taf. 8,3). Er füllt die Relieffläche völlig. Um das zu erreichen, wich der Bildhauer von der Vorlage ab und dehnte die Gruppe in die Breite — der Putto hält den Helm mit ausgestrecktem Arm. Gleichzeitig wurden in den Raum stoßende Formen vermieden. Das rechte Bein des Puttos ist von der Seite zu sehen und die Flügel sind in der Fläche ausgebreitet. Das Relief ist flacher und magerer als bei den schon besprochenen. Es wurde von einer anderen Hand ausgeführt. Die Tendenz zur dekorativen Flächenfüllung ist auch bei dem Putto mit einem Meereslöwen deutlich (Abb. Taf. 8,1). Verwandte des Puttos mit dem Meereselefanten tummeln sich auf dem Relief „Pan und Syrinx" und umspielen die Krone der Supraporte67 (Abb. Taf. 8,4). An deren Podest hockt Minerva etwas unglücklich auf einer umgestürzten Trommel. Der Unterkörper ist nach links gewendet, der Oberkörper in Frontalansicht. Mit der Linken präsentiert sie den medusenhauptgeschmückten Schild. Ihr rechter Arm ist abgebrochen. Der Kopf erinnert an denjenigen der Minerva, die Mattarnowi auf einem Dekorationsentwurf für den Paradesaal im 2. Winterpalais Peters I. zeichnete68 (Abb. Taf. 9,2). Minerva sitzt dort zwar nicht so gedrückt, die Haltung des Körpers ist jedoch ähnlich, die der Arme aber nicht so gezwungen, und durch die Wendung des Kopfes wird eine Beziehung zum Relief des Mars hergestellt (Abb. Taf. 9,1). Derartige Sitzfiguren sind typisch für Mattarnowi. An der Kanzeltür zu Königsberg i. d. Neumark brachte er in ovalen Medaillons die sitzenden Gestalten von Glaube und Liebe an69. Die allegorische Figur der Liebe ist nach rechts gerichtet, ihr Kopf jedoch zurückgewendet, so daß das Gesicht frontal erscheint. Die gekünstelte Haltung der Minerva in der Supraporte des Sommerpalastes ergibt sich aus ihrem zentralen Platz, dem eine Figur in Frontalansicht besser entsprochen hätte. Wahrscheinlich hat Mattarnowi nur denEntwurf der Supraporte gezeichnet. Die Ausführung stammt vielleicht von Morberg, der auch die Putten mit dem Meereslöwen und dem Meereselefanten modelliert haben könnte, während die drei Reliefs der Ostfassade eventuell von Braunsteins Hand stammen70. Daß diesem Stuck ein vertrautes Material war, beweist die Tatsache, daß er besondere Stuckarbeiten im zentralen Saal von Monplaisir leitete71 und Lohn für Stuckarbeiten in den Galerien von Monplaisir erhielt72. Nach dem Tode Schlüters führten offenbar seine beiden Mitarbeiter Braunstein und Mattarnowi seine Bauten bis zur Berufung eines neuen Baudirektors weiter, und die Arbeiten an den Reliefs für den Sommerpalast gingen sehr bald in andere Hände über. Als Nachfolger Schlüters wurde 1716 Alexandre Jean-Baptist Le Blond aus Paris verpflichtet73. Semzow, Le Blond und Michetti sollen Zeichnungen für die Reliefs geliefert haben24. Michail Grigorjewitsch Semzow, 1688 in Moskau geboren, war Schüler und Gehilfe von Domenico Trezzini gewesen. 1720—23 arbeitete er als Gehilfe

67

Abgebildet in: Geschichte der russischen Kunst, Bd. 5, Dresden 1970, S. 363, Abb. 262. Nach Scbilkow (zit. Anm. 4), S. 76, ist das Basrelief über dem Haupteingang ganz besonders gekonnt und gelungen, es verbindet die Wand mit der Tiireinfassung zu einer geschlossenen Einheit. Auch Kusnevrpwa (zit. Anm. 18), S. 45, würdigt das Relief als Arbeit eines talentvollen Künsders. • ' L e n i n g r a d , Staatliche Ermitage, Handzeichnungssammlung, Inv. Nr. 3 7 3 3 : Feder, Rötel. 45,0 x 2 6 , 5 cm. Sign, unten rechts: Mattarn. Die Reliefs waren für eine Ausführung in Gips vorgesehen. Ihre Oberfläche sollte bronziert werden, wie die Bemerkungen zeigen. Woronichina (zit. Anm. 5), Nr. 3. 89 Die Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg, Bd. V I I , 1 : Kreis Königsberg/Neumark, Berlin 1928, S. 45, Taf. 4. 70

71 72 73

Kusm^pwa (zit. Anm. 18), S. 45 f., beobachtete dieselbe Sicherheit der Ausführung bei der Supraporte des Haupteingangs wie bei den Puttenreliefs. Scbilkow 1954 (zit. Anm. 25), S. 1 5 4 (... h Ben 0TRen0HHHe iirryKaTypHue paSoTbi b ijeHTpantHOM 3ajie) Scbilkow 1954 (zit. Anm. 25), S. 1 5 5 , Anm. 85. Thieme-Becker 22, 1928, S. 505; Scbilkow (zit. Anm. 4), S. 81 u. 82: Ankunftstag 7. 8. 1716. L e Blond starb am 27. 2. 1719.

9*

131

Michettis an Schloß Katharinenthal bei Tallin 74 . Der Architekt Nicolo Michetti wurde 1718 aus Rom nach St. Petersburg berufen, wohin er 1723 wieder zurückkehrte75. Semzow, Le Blond und Michetti waren alle drei Architekten, keine Bildhauer. Sie können höchstens auf die Entwürfe zum Reliefschmuck, nicht auf dessen Ausführung Einfluß gewonnen haben. ' Einer von ihnen ergänzte das Puttenprogramm durch die Auswahl der Vorlage zum 4. Relief an der Fontankaseite mit dem ein Seepferd reitenden Putto, der Eroten-Darstellungen auf kaiserzeitlichen Gemmen ähnelt76. Der Programmwechsel muß auf Wunsch Zar Peters I. zu Lebzeiten Mattarnowis erfolgt sein wie die Supraporte des Haupteinganges anzeigt — also zwischen Sommer 1714 und November 17x9. Das mythologisch-allegorische Programm am Sommerpalast ist somit älter als das an der großen Kaskade zu Peterhof 77 . Die Verteilung der Reliefs auf einzelne ausführende Hände ist infolge ihrer minderen Qualität und vieler Gemeinsamkeiten, die sich durch ihr Herkommen aus einer Werkstatt erklären, kaum möglich. Sie lassen sich lediglich zu Gruppen zusammenstellen78. Wettlauf zwischen Hippomenes und Atalanta

S

Perseus und Medusa Jupiter und Petersburg Neptun und Amphitrite

S

Diana am Strand Venus und Adonis

2

3 s4 s 5 s 6 s 7

In der 2. Gruppe haben die Figuren weiche Gesichter mit tiefliegenden Augen Triumph der Amphitrite Europa auf dem Stier Perseus und Andromeda Raub der Proserpina

W4 W5 W6 S 1

Diana und Aktäon Arion Apollo und Daphne

Wi W2 Wj

Latona und die lykischen Bauern Aktäon und seine Hunde Jupiter und Europa am Meeresufer

N 6 O6 Oj

74

Thieme-Becker 30, 1 9 3 6 , S. 492.

76

Thieme-Becker 24, 1 9 3 0 , S. 532.

76

Freundlicher Hinweis von Dr. Gerald Heres, Berlin.

77

Verf. ist es bisher nicht gelungen festzustellen, von wem die Vorlagen stammen, glaubt jedoch nicht an die von Grabar 1 9 1 2 (zit. A n m . 5), S. 70, angenommene Autorschaft Schlüters, dem sich Ma^ulewitscb (zit. A n m . 5), S. 3 9 f . , und Presnow (zit. A n m . 8), S. 3 6 1 , anschlössen, ebenso auch Behrens (zit. A n m . 20), S. 1 3 5 .

78

Die Reliefs der 1. Gruppe haben viele gemeinsame Z ü g e mit dem Justitia-Medaillon im Menschikow-Palast an der Decke des Vorzimmers zu den Gemächern des Fürsten, das N.

W. Kaljasina in ihrem Aufsatz „Stuckdekor in

Petersburger Wohnräumen des 1. Viertels des 1 8 . Jahrhunderts" in dem Sammelband „Russische

Kunst

des

1. Viertels des 18. Jahrhunderts, Moskau 1 9 7 4 , S. 1 0 9 — 1 1 8 , bes. S. m f . — A b b . 60, bespricht ( H . B . KajiH3HHa, JlenHoö jjeitop b jkhjiom HHTepbepe üeTepßypra nepBoft l e T B e p ™ X V I I I b . PyccKoe ucKyccTBO nepBoii neTBepra X V I I I Bena, MocuBa 1974). Kaljasina zufolge wurde das Medaillon von einem unbekannten Meister geschaffen. Wenn die Abbildung nicht täuscht, ähnelt die Augengestaltung derjenigen der Atalanta. Die füllige Wangenpartie treffen wir bei Diana wieder, deren Hände ähnlich ungeschickt gebildet sind wie bei Justitia. A m auffälligsten ist aber die Übereinstimmung in der Gestaltung der Gewandpartien. Vermutlich war der unbekannte Meister Braunsteins Nachfolger am Sommerpalast. A l s die Arbeiten am Sommerpalast vollendet waren, wurde er dann offenbar am Menschikow-Palast beschäftigt. Seine Justitia setzt die Reihe der auf Schlüters Medaillons von der Alten Post zu Berlin fußenden allegorischen Sitzfiguren fort. Das hinter Justitia wild flatternde Gewandende erinnert an Matternowis Minerva-Zeichnung für den 2. Winterpalast.

132

Hauptmerkmal für die 3. Gruppe sind die dünnen Arme, III.

IV.

Jupiter und Lykaon Amor und Venus Minerva und Invidia Najade auf Seepferd

N5

Pan und Syrinx

N4

N7

N8 N9

Verlockend erscheint ein Vergleich dieser Reliefs mit denen an der großen Kaskade von Peterhof. Dadurch, daß im 2. Weltkrieg die Reliefs in Peterhof 2erstört wurden und ihren Platz jetzt Nachbildungen einnehmen, können jedoch keine Aussagen bezüglich der Verwendung derselben handwerklichen Kräfte mehr gemacht werden. Diesen hätte auch das unterschiedliche Material — die Peterhofer Reliefs waren nach Tonmodellen gefertigte Bleigüsse, die Reliefs am Sommerpalast sind Stuckarbeiten — Grenzen gesetzt79. Interesse im Zusammenhang mit dem Puttenprogramm des Sommerpalastes beansprucht der Stuckkamin im Schlafzimmer Peters I. (Abb. Taf. 9,4). Seinen Rauchfang ziert das Relief eines im Damensitz auf einem Delphin reitenden Puttos mit Köcher und Dreizack80. Den nach unten verbreiterten Teil des Rauchfangs sowie dessen beide Abseiten schmücken trapezförmige stuckierte Landschaftsdarstellungen81. Für den Delphinreiter diente ein seitenverkehrter Nachstich von Magliolis Stich82 als Vorlage (Abb. Taf. 9,3). Die Landschaften wirkten anregend bei der Gestaltung der Ovidszenen. So wurden die Bodenangaben auf den Reliefs N 6, O 5, O 6, S 6, S 7, W i und W 3 übernommen. Die eigenartige Wiedergabe des Wassers durch senkrecht verlaufende Wellenlinien begegnet nur noch einmal auf dem Relief des Puttos mit einem Meereslöwen (N 1). Bemerkenswert ist die Ausführung der Reliefs an der Fassade in Stuck. In Berlin wurde für diesen 79

Z.Batowski erwähnte in seinem Artikel über Rastrelli in Thieme-Becker 28, 1934, S. 26 — 28, bes. S. 26, daß ein Relief an der großen Kaskade von diesem bezeichnet sei. Nach N. Archipow, Gärten und Springbrunnen des 18. Jh. in Peterhof, Leningrad 1936, S. 91 (H. ApxHnoB, Caj(bi u (JiOiiTaHbi X V I I I Bena Ilereproifie, JleHHHrpan 1936) hatte außer Carlo Bartolomeo Rastrelli der Gießer François Pascal Vassou einige Reliefs angefertigt. M. Tichomirowa 1948 (zit. Anm. 5), S. 2, zufolge wurden die Reliefs von Rastrelli, Vassou und Ossner ausgeführt. Presnow (zit. Anm. 8), S. 360 (1721) u. S. 386 Anm. I, schreibt einen Teil der ehem. Vassou zugeteilten Stücke aus stilistischen Gründen Hans Konrad Ossner zu, so „Nessus und Dejanira", „Neptun am Ufer des Meeres" und „Narziß". Nach Presnow kann man die Reliefs an der großen Kaskade in zwei Gruppen einteilen. Gruppe 1 zeichnet sich durch freie Komposition, malerische Formgebung, großen Einfallsreichtum in der Thematik und ein stark ausgeprägtes Gefühl fur dekorative Wirkung aus. Sie ist mit dem Namen Rastrelli verbunden. Gruppe 2 ist in Vorwurf und Ausführung sehr bescheiden. Die Arbeiten besitzen eine Tendenz zur graphischen Durchzeichnung, die Gestalten sind unbeweglich. Z u dieser Gruppe gehören die Reliefs Ossners. N. I. Archipow u. A. G. Raskin, Peterhof, Leningrad 1961, S. 59t. u. Anm. 107 u. 1 1 4 (H. H. ApxmiOB, A . F . PacKHH, üeTpoRBopeii, JleHHHrpafj — MocKBa 1961) geben Ossner, Rastrelli und Vassou als Schöpfer der Reliefs an. Nach Tichomirowa 1948 (zit. Anm. 5), S. 2f., wurde ein Teil der Reliefs in Petersburg, der andere in England gegossen, so auch Archipow u. Raskin S. 59 Anm. 108 u. S. 60. Letztere teilen S. 59 eine Meldung Braunsteins mit, daß zu den bleiernen Reliefs, welche der Zar zwischen den Kragsteinen anzubringen befahl, Konrad Ossner ein Muster in Ton (rjiHHH pemHK) gemacht habe (U,rHAJI, ® 467, on. 73/187, 1720 r R. 50, JI. 326).

80

Ma^ulewitsch (zit. Anm. 5), S. 39: Ein sechstes Relief (der 1. Gruppe von 5 Reliefs mit Putten auf Meeresungeheuern) befindet sich im Innern des Palastes am Kamin im Schlafzimmer Peters. Semennikowa (zit. Anm. 5), S. 20: . . . Amor mit dem Dreizack des Neptun und einem Köcher voller Pfeile scheint von der Außenwand des Palastes hierher gelangt zu sein. Offensichtlich ist er der schöpferischen Phantasie desselben Meisters entsprungen, wie die Knaben mit den Delphinen auf den Reliefs an der Fassade. Schon Grabar wies 1 9 1 2 (zit. Anm. 5), S. 72, auf den möglichen Zusammenhang mit Schlüters Schaffen hin. So auch Baron Wrangel (zit. Anm. 9), S. 54, Abb. S. 58. Nach Peschken (zit. Anm. 16), S. 246, Abb. 10, sind eine größere Relieftafel mit einer Puttenszene und einige kleinere mit Landschaften an dem (älteren) Kamin-Rauchfang höchst virtuose und wohl eigenhändige Stuckarbeiten Schlüters. Nach Kusnexpwa, Sementowskaja, Schteiman 1957 (zit. Anm. 5), S. 39 und 1968 (zit. Anm. 5), S. 69, ist der Putto auf dem Delphin nach einer Zeichnung Schlüters gearbeitet. So auch nach Kusne^owa (zit. Anm. 18), S. 62. Verf. ist nicht in der Lage, die ausführende Hand der Kaminreliefs eindeutig zu bestimmen, möchte aber die Autorschaft Braunsteins annehmen.

81

82

Collijn 92, Nr. 528. Stockholm, Kungliga Biblioteket.

133

Zweck zu Schlüters Zeiten in der Regel Sandstein verwendet83. Offensichtlich stand in Petersburg kein geeigneter Stein zur Verfügung. Deshalb wurde wohl auch das um 1708 entstandene Holzrelief vom alten Peterstor der Peter-Pauls-Festung, das Konrad Ossner d. Ä. gearbeitet hatte, in das 1717 bis 1718 errichtete steinerne Tor übernommen. Marmorstatuen wurden auf dem Wasserwege aus Westeuropa nach Rußland gebracht84. Wegen des Mangels an Werksteinen dürfte auch der Sommerpalast von Trezzini als Putzbau konzipiert worden sein. Putz trat an Stelle der Rustika, der steinernen Fenstereinfassungen und des skulpierten Frieses, wie dies bereits in Oberitalien seit der Renaissance üblich geworden war. Als es an geeignetem Material für die Reliefs der Fassade fehlte, wurde auch dafür auf Putz zurückgegriffen. Dabei dürften Erinnerungen Schlüters an seine Tätigkeit in polnischen Diensten eine Rolle gespielt haben86. Dort hatte er Bekanntschaft mit Putzarchitektur gemacht. Das Krasinski-Palais, dessen Giebelreliefs er entworfen hatte, war nach Plänen Tylman van Gamerens in Putzbauweise errichtet worden. An seiner Fassade wurden sowohl skulpierte Werksteine wie auch stuckierter Schmuck verwendet. So waren Schlußsteine und Kapitelle, Giebelfiguren und -reliefs Steinmetzarbeiten. Über den kleinen Fenstern unterhalb der Giebel wurden dagegen Blumenvasen in Stuck aufgesetzt86. Zusammenfassend muß bemerkt werden, daß Schlüters Wirken in Rußland anknüpft an seine Berliner Architektenlaufbahn, diese durch ein Schloßbauprojekt wie Peterhof krönend, nicht aber in der Schaffung einer Bildhauerschule gipfelt, die großartige Dekorationsprogramme im Geiste des Meisters hätte ausführen können. Dies lag weder in seinem Wollen, noch in den Erfordernissen der Zeit im damaligen St. Petersburg. Dort war zunächst der Inhalt der Dekorationen wichtiger als ihre künstlerische Qualität. In Rußland vollzog sich erst in diesen Jahren eine allmähliche Hinwendung zu weltlichen Themen. Die Bedeutung der Reliefs am Sommerpalais liegt in ihrer historischen Stellung am Beginn der Auseinandersetzung Rußlands mit der westeuropäischen Kunsttradition. 83

Boeck 1933 (zit. Anm. 37), S. 48 Anm. 6, teilte Nicolais Nachricht mit, daß der ältere Nahl ein Geheimnis besitzen wolle, den Gips so zu bereiten, daß er gleich harten Steinen Regen und Luft aushalten würde {Friedrich Nicolai, Nachrichten von den Baumeistern Bildhauern etc., Berlin u. Stettin 1786, S. 99). Ladendorf 1935 (zit. Anm. 2), S. 101, wies die Quelle Nicolais nach, eine Ordre, nach der Ende Juni 1715 Heinrich Böhme, Johann Simonetti und ein Ingenieur den Auftrag erhielten, Johann Samuel Nahls wetterfesten Gips zu untersuchen (Pr. G. St. A. Rep. 9 E. 16.1. Fase. I). Vielleicht fußt diese Erfindung auf den Versuchen des seit 1687 am Berliner Hofe tätigen Chemikers Gerard Dagly, der wie Ladendorf 1935 (op cit.), S. IOI, mitteilte, schon 1705 von einem besonderen Gips und einem wetterfesten Marmorüberzug für Werkstücke und Statuen sprach (Br. Pr. Haus. A. Rep. 14C). Leibniz interessierte sich für die Herstellung dieses „Zementes", konnte aber durch Johann Theodor Jablonski, den Sekretär der Societät der Wissenschaften, nichts Genaues darüber erfahren. 84 Presnow (zit. Anm. 8), S. 357. Zur Zeit Peters wurden mehr als 300 Statuen eingeführt. Manche waren nach Zeichnungen in Rußland tätiger Architekten gearbeitet worden. 85 Freundlicher Hinweis von Herrn Dr. Goerd Peschken, Berlin. 86 Ignacy Tadernz Baranowski, Inwentarze palacu Krasiñskich pózniej Rzeczypospolitej, Warszawa 1910; fulius Kohte, Ein Werk Schlüters in Warschau, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 36, 1916, S. 477—479; Wilhelm Boeck, Andreas Schlüter in Polen, in: Jomsburg 3, 1939, S. 303 — 3 1 1 ; Schellenberg (zit. Anm. 3), S. 7; Tadeus% Mañkowski, Rzezby Schlütera w palacu Krasiñskich w Warszawie, in: Biuletyn historii sztuki 13, 1951, 2/3, S. 118 — 137; Alfred Schellenberg, Andreas Schlüter in Warschau, in: Zeitschrift für Ostforschung 3, 1954, H. 3, S. 422—431; Stanislaw Mossakowski, Palac Krasiñskich w Warszawie 1677—1699, in: Folia Historiae Artium 2, Krakau 1965, S. 1 1 7 —192; Henryk Kondziela und Wojciech Fijalkomki, Die künstlerische Tätigkeit Andreas Schlüters in Polen, in: Michelangelo heute. Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Sonderband 1965, S. 267—288, bes. S. 281 f. u. 283f. Frau C. G. Nesselstrauß, Frau Ch. A. Mesenzewa, beide Leningrad, und Herrn B. Göres danke ich für Ihre Bemühungen bei der Beschaffung der zitierten russischen Literatur. Frau Dr. M. Fischer, Berlin; Frau Dr. A. Bethe, Leipzig; Herr P. W. Ward — Jackson, London, und Frau U. Ehrensvärd, Stockholm, waren bei der Ermittlung der Stiche A. Magliolis und der Nachstiche von A. Fuchs, L. Vaccarius und J. Th. de Bry behilflich. Ihnen sei an dieser Stelle ebenfalls gedankt. Fotonachweis: Taf. 7 sowie Taf. 8, 1. und 2. Relief: Archiv der Staatlichen Denkmalpflege, Leningrad; Taf. 8, 3. Relief: Verfasser; Taf. 8, Supraporte und Taf. 9,4: Dr. G.Peschken, Berlin; Taf. 9,1 u. 2: Staatliche Ermitage, Leningrad; Taf. 9,3: Kungliga Biblioteket, Stockholm; Abb. S. 126 oben, S. 127 oben, S. 128 oben sowie S. 130 unten: Kungliga Biblioteket, Stockholm; Abb. S. 126 Mitte und S. 128 unten: Victoria and Albert Museum, London; Abb. S. 126 unten, S. 127 Mitte und unten, S. 129 beide und S. 130 Mitte: Grassimuseum, Leipzig; S. 130 oben: Staatliche Museen zu Berlin.

134

CHINESISCHES EXPORTPORZELLAN I M 17. U N D

18.

FÜR

EUROPA

JAHRHUNDERT

(Mit Tafel 10—12)

Yang En-lin

D a s chinesische P o r z e l l a n w a r z u r T a n g - Z e i t ( 6 1 8 — 9 0 7 ) s c h o n als m o d i s c h e W a r e auf d e m internationalen M a r k t a n z u t r e f f e n , d e n n es w u r d e in g r o ß e r M e n g e n a c h Japan, Indien, Persien u n d Ä g y p t e n exportiert. V i e l e arabische K a u f l e u t e hielten sich damals i n G u a n g z h o u ( K a n t o n , arabische B e z e i c h n u n g : H a n f u — Stadt v o n H a n — ) auf u n d b r ä c h t e n chinesische P o r z e l l a n w a r e n n a c h w e s t asiatischen L ä n d e r n u n d N o r d a f r i k a . I n d e n R u i n e n v o n F o s t a t (bei K a i r o ) , Samarra (im Iraq) u n d B r a h m i n a b a d (in Indien) w u r d e n chinesische „ T a n g - s a n - c a i " - K e r a m i k ( K e r a m i k m i t glasierter dreif a r b i g e r B e m a l u n g der T a n g - Z e i t ) , P o r z e l l a n s c h e r b e n v o n „ Y u e - Y a o " u n d „ X i n g - Y a o " mit w e i ß e r , g r ü n l i c h hellblauer o d e r b r a u n e r G l a s u r der T a n g - u n d S o n g - Z e i t ( 9 6 0 — 1 2 7 9 ) a u s g e g r a b e n . D i e starke A u s f u h r des chinesischen Porzellans b e g a n n mit der siebenmaligen Seefahrt ü b e r d e n w e s t l i c h e n O z e a n (d. h . I n d i s c h e n O z e a n ) v o n Z h e n g H e 1 i n der Y o n g l e - E p o c h e (1403 — 1418). D a d u r c h w u r d e n die chinesischen H a n d e l s b e z i e h u n g e n z u Indien, Persien, A r a b i e n u n d d e n ostafrikan i s c h e n L ä n d e r n v e r s t ä r k t , politische u n d kulturelle B e z i e h u n g e n f o l g t e n nach. P o r z e l l a n w a r n i c h t nur eine w i c h t i g e H a n d e l s w a r e , s o n d e r n a u c h e i n erstklassiges diplomatisches G e s c h e n k . J e d o c h erst i m 16. Jh. w u r d e J i n g d e z h e n - P o r z e l l a n m i t B l a u - W e i ß - D e k o r ü b e r A r a b i e n n a c h E u r o p a exportiert. Z u r g l e i c h e n Z e i t k a m das L o n g q u a n - P o r z e l l a n mit hellblauer b z w . g r ü n l i c h e r G l a s u r ( Q i n g y o u ) n a c h E u r o p a u n d w u r d e als „ S e l a d o n " 2 bezeichnet. D i e h e r r s c h e n d e K l a s s e der Q i n g - D y n a s t i e ( 1 6 4 4 — 1 9 1 1 ) w a n d t e zuerst g r u n d s ä t z l i c h eine „ P o l i t i k der g e s c h l o s s e n e n T ü r " f ü r d e n A u ß e n h a n d e l an. E r s t d u r c h die F o r d e r u n g e n der K a u f l e u t e u n d v o r allem d u r c h die A u s d e h n u n g des internationalen K a p i t a l i s m u s k a m das alte feudalistische R e i c h der M i t t e m i t der W e l t w i r t s c h a f t in B e r ü h r u n g , u n d i n der Y o n g z h e n g - P e r i o d e (1723 — 1 7 3 5 ) m u ß t e die „ P o l i t i k der g e s c h l o s s e n e n T ü r " allmählich a u f g e g e b e n w e r d e n 3 . F a n d der W a r e n t r a n s p o r t in der K a n g x i - Ä r a ( 1 6 6 2 — 1 7 2 2 ) n o c h v o r w i e g e n d auf d e m L a n d w e g e statt, so änderte sich das in der Y o n g z h e n g - P e r i o d e , als E u r o p a z u m H a u p t a b s a t z g e b i e t f ü r chinesische E x p o r t w a r e n w u r d e u n d diese auf d e m S e e w e g n a c h E u r o p a g e l a n g t e n .

1

2

3

Zheng He kam aus Kunyang, Provinz Yunnan, und war ein großer Seefahrer in der chinesischen Geschichte. Seine Flotten fuhren über das Südchinesische Meer, den Indischen Ozean bis Indien, Persien, Arabien und zu den ostafrikanischen Ländern. Als er in der Xuande-Ära (1426 — 1435) auf dem Seeweg nach Mekka fuhr, schickte er 3 Dolmetscher zum mohammedanischen Herrscher, um Porzellangegenstände, Atlasseide und Moschus (Shexiang) überreichen zu lassen. Siehe Fu Zhen-lun, „Mingdai Ciqi Gong-yi" (Technologie des Porzellans der Ming-Zeit), Peking 1955, S. 20. Seladon ist der Name eines Schäfers aus dem französischen Theaterstück „L'Aströc" von Honore d'Urfe, der dieses Ende des 16. Jhs. geschrieben hat. Als das chinesische Longquan-Porzellan im 17. Jh. zum ersten Mal nach Frankreich kam, fand man keinen passenden Ausdruck, um dessen wunderschöne Glasurfarbe zu beschreiben. Nur die Farbe des Theaterkostüms des Schäfers Seladon konnte man mit ihr vergleichen. Daher bezeichneten die Franzosen das chinesische Longquan-Porzellan als „Seladon". Institut für Keramik- u. Porzellan-Forschung zu Jingdezhen, „Zhongguode Ciqi" (Chinesisches Porzellan), Peking 1963, S. 88.

135

P o r z e l l a n b e m a l u n g nach europäischem G e s c h m a c k Die chinesischen Porzellankünstler bemühten sich, die Bemalung dem Geschmack der europäischen Kunden anzupassen, so entwarfen sie Motive und Ornamente nach europäischem Stil. Die aus Europa geschickten Modelle wurden nachgeahmt. Die halb chinesische und halb europäische Eigenschaft der Bemalung und die Pracht der Glasurfarben lassen auf den ersten Blick erkennen, daß ein Exportporzellan für Europa bestimmt war. Als Beispiel sei genannt eine Deckel-Dose mit faltiger Wandung und einer plastischen Rose als Griff des Deckels sowie mehrfarbiger Bemalung, ihre Darstellungen sind Rose, Lilie, Vergißmeinnicht und andere kleine Blüten sowie Bienen und Schmetterlinge4 (Tafel 10, i). Erst Mitte des 17. Jhs., also in der Kangxi-Periode, fand man in der chinesischen Produktion rein europäische Dekors und Formen, wie Gefäße mit Wappen-Zeichen5 (Tafel 10, 2) sowie Bierkrüge, Weinkrüge, Trinkbecher, Vasen mit großen Henkeln und hohem Fuß im Neversschen6 Stil, und viereckige nach italienischen Fayencevorlagen gefertigte Fläschchen. Auch bei Krügen und Apothekergefäßen lieferten die europäischen Vorlagen den chinesischen Exporttöpfen viele Muster in der Form und vor allem in der Bemalung7 (Tafel 10, 3). Am Anfang des 18. Jhs., also am Ende der Kangxi-Ära und zu Beginn der Yongzheng-Periode, lieferten die französischen Keramikwerkstätten die Modelle in großer Menge. Die Form und Bemalung der chinesischen Nachahmungen sind fast wie die Originale aus Nevers, Lille und Rouen. Sie unterscheiden sich nur durch die Dekorfarbe: Blau und Rot aus Rouen werden zu Grün und Korallenrot auf weißem Grund. Die getreuen Nachahmungen von kleinen Vorspeisenschalen und Gewürzbehältern in bunter Bemalung kommen oft vor8. Im Verlauf des 18. Jhs.j und zwar in der Qianlong-Periode, verstärkte sich der Handel zwischen China und den verschiedenen europäischen Ländern. In China wurde eine Handelsgesellschaft „Überseeisches Porzellan" gegründet. Die Bemalung ist in der Art des europäischen Dekors. Alle ostindischen Kompanien9 lieferten ihre Modelle. Unter ihnen waren England, Holland und Schweden Hauptlieferanten der zahlreichen Muster. Auch Deutschland sandte seine Modelle aus Meißen, wie z. B. „kleine Porzellanidole aus China" 10 . Diese in Meißen in chinesischem Stil gefertigte Gruppe wurde in China nachgeahmt, aber die bunt bemalten Figuren sehen unchinesisch aus, da sie ganz genau nach der Meißner Vorlage kopiert sind. Ferner bestellte das preußische Königshaus chinesisches Exportporzellan mit dem Wappen der Hohenzollern, z. B. eine Platte in ovaler Form. Unter einem prunkvollen Baldachin 4

Deckel-Dose, H. 12 cm, D. 5,5 cm (Öffnung), 6 cm (Fuß) 18. Jh. Ostasiatische Sammlung der Staatlichen Museen zu Berlin (Abk. O A S d StMBln). Inv. Nr. H. M. 1195

( B ® 3558). Zum Beispiel Teller mit rotem Löwen-Wappen auf goldenem Grund sowie der Aufschrift „ O V E R Y S E L " (Niederlande), D. 21 cm, H. 3,5 cm, 17. Jh. O A S d StMBln. Inv. Nr. Ch K 263/8, beschädigt. • In Nevers, Mittelfrankreich, befand sich im 17. Jh. eine bekannte Keramikwerkstatt, die auch „ N e v e r s " hieß. 7 Siehe Michel Beurdeley, „Porzellan aus China", München 1962, S. 129, Tafel X X I I I , Apothekergefäße mit dem Wappen Peters des Großen, Ende der Kangxi-Periode, H. 24 cm und 19 cm. Zum Beispiel K r u g mit großem Henkel, Dekor: Blumen und Schmetterlinge in Blau, Rotbraun und Gold. H. 17 cm, D. 7 cm (Öffnung), 9,3 cm (Fuß). 18 Jh. O A S dStMBln.

5

8

Inv-. Nr. H. M. 2093 (np 8445, BO 92). Zum Beispiel Vorspeisentellerchen in sechsblätterförmigen Rhombus. Dekor: 7 Europäer am Ufer, vor ihnen stehen ein paar Kiefern auf einem Felsen am Wasser. Im Hintergrund befinden sich Schiffe und europäische Häuser. Fünffarbenmalerei. D. 13 cm, H. 2 cm. 18. Jh. O A S dStMBlfl.' Inv. Nr. H. M. 1 2 7 2 (B 3882). V g l . J. Goldsmith Phillips: „China-Trade Porcelain", London 1956, PI. 88 "Punch bowl with an incident in a fox hunt". Dekor in Unterglasurblau. Das Straßenbild ist im Spiegel des Tellers von einem Doppelring eingefaßt. A m Rand Gittermuster mit vier Feldern, darin Blumen. Auf der Rückseite stilisierte Blumen mit verbundenen Ranken sowie 4 „ « ^ " - Z e i c h e n ( „ W a n " , zehntausendmal Glück). Datierungsmarke: im Doppelring sechs Normalschriftzeichen in Unterglasurblau „ D a Ming Cheng Hua Nien Z h i " (in der Chenghua-Ära, 1465 — 1487, der großen Ming-Dynastie hergestellt). — Das ist aber eine Nachahmung der Chenghua-Marke, die in der Kangxi-Periode (1662 — 1722) um 1690 entstanden ist. D . 19 cm — um 1690. O A S dStMBln. Inv. Nr. Ch K 49/25.

36

Qianlong-Periode ( 1 7 3 6 — 1 7 9 5 ) , Britisch-Museum, unter dem Porträt sieht man in einem Medaillon Christus im Kreise seiner Jünger.

37

Zum Beispiel zwei Teller mit Kupferstichmanier in Schwarzgrau. Auf einem (Inv. Nr. Ch K 97/47, D. 13,5 cm)

140

N a c h b i l d u n g der europäischen K e r a m i k d e k o r a t i o n Nur Stiche und Gemälde nach Kanton an die chinesischen Porzellankünstler zu schicken, begnügten sich die verschiedenen europäischen Ostindischen Kompanien nicht, sondern sie bestellten bei bekannten europäischen Künstlern auch Entwürfe zu Tassen, Tellern, Vasen und Terrinen, um diese von chinesischen Porzellanarbeitern nachahmen zu lassen. Zum Beispiel zwei Entwürfe des holländischen Malers Corneüs Pronck (1691 — 1759), der ein Schüler von Jan van Houten war. Einer heißt „Dame mit dem Sonnenschirm", dieses Bild findet sich häufig in eisenroter, mit Gold verzierter Schmelzmalerei (Falang-cai) auf Tellern der Kangxi-Periode und in der „famille rose" (Fen-cai) der Qianlong-Ära38. Der zweite Entwurf Proncks ist „Die Visite der Ärzte beim Käiser", in dem die Möbel und die Kopfbedeckungen ganz in europäischem Stil gehalten sind39, und die Nachahmung ist sogar eleganter und lebendiger als der Entwurf. Die chinesischen Porzellankünstler ahmten den europäischen Dekor überaus geschickt nach. Man kann bei dem bekannten Teller mit Dekor „Dame mit dem Sonnenschirm" kaum erkennen, daß die chinesischen Emailmaler die europäischen Chinoiserien kopierten. Gewiß gab die europäische Keramik oft Anregungen für die Bemalung der Ränder, das Meißner Pfeilspitzenmuster wurde auch originalgetreu nachgeahmt. Ferner sind die Einflüsse der italienischen „Albarelli"-Fayence des 16. Jhs., von Worcester (England), Marienberg (Schweden) u. a. nachweisbar. Das chinesische Exportporzellan — ein Sondergebiet innerhalb der Erforschung der chinesischen Porzellanherstellung — wurde nicht nur in der Bemalung von europäischer Malerei, vor allem von den Stichen beeinflußt, sondern es hat auch sonst eine starke Beziehung zur europäischen Keramik bzw. zum Porzellan. Das zeigt z. B. der zwischen 1758 und 1766 in Marienberg bei Stockholm als Muster hergestellte Blumentopf, der nach Kanton geschickt wurde, um dort als Chinaporzellan in gleicher Form und mit gleicher Bemalung nachgearbeitet zu werden. Ein anderes Beispiel ist die in der Zeit zwischen 1747—1751 in der Höchst-Manufaktur (Deutschland) von Ignatz Hess hergestellte Schale aus Ton, die ebenfalls als Muster nach China geschickt wurde. Nach ihrer Bemalung wurden die gleichartigen Porzellanschalen für den Export 1760—1770 produziert40. Ein bemerkenswertes Phänomen ist die Nachbildung der europäischen Wappen. Am Ende des 17. Jhs. und Anfang des 18. Jhs. waren Wappen auf Porzellanen eine Mode bei europäischen Aristokraten. So findet sich auf einer Henkeltasse ein Adler-Wappen, von zwei bärtigen Männern (Gottheiten) eingerahmt. Darunter ein Merkur-Stab (caduceus) und ein Dreizack41 (Tafel 12,4). Ferner ein Service mit dem Wappen der Hohenzollern, von dem 16 Teller und 4 Platten in der Ostasiatischen Sammlung der Staatlichen Museen zu Berlin aufbewahrt werden. Unter einem prunkvollen Zelt halten zwei „Wilde Männer" das königliche Wappen der preußischen Herrschaft mit der Devise „Gott mit uns" in Gold. Am fassonierten Rand steht ein schwarzer Adler42 (Tafel 12, 5). Die vor allem in „famille verte" 43 gemalten Wappen nehmen beim Porzellan häufig den ganzen Mittelteil ein, die Randornamente bleiben oft rein chinesisch. steht: „Quis Desiderio sit Pudor aut modus cum cavi capitus" (Wer im Verlangen etwas begehrt, achte darauf, daß das rechte Gefühl oder Maß ihn leite). Auf dem anderen (Inv. Nr. Ch K 98/48, D. 13 cm) heißt es: „Permitías ipsis expendere numinibus quid conveniat nobis" (Du magst es dem göttlichen Walten selbst überlassen, abzuwägen, was uns zukommt). — Die Ubersetzung stammt von Frau Dr. Rohde, der hiermit Dank gesagt sei. Qianlong-Periode ( 1 7 3 6 - 1 7 9 5 ) , O A S dStMBln. 38 39

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V g l . MichelBeurdeley: „Porzellan aus China", München 1962, Abb. 34—35. Ebenda, Kat. 124, Motiv von Pronck, der für die holländische Ostindische Kompanie Modelle schuf, Anfang der Qianlong-Periode (1736 — 1795). Der Rand ist im chinesischen Stil. S. 181. V g l . Chen Wan-lt: „Über Export des chinesischen Porzellans in der Ming- und Qing-Dynastie (Fortsetzung)", in der Zeitschrift „ W e n - W u " , Peking 1964 Nr. 10, S. 36. Dekor in Rot, Grün, Schwarz, Braun und Gold. D . 7 cm, H. 7,2 cm. 18. Jh. O A S dStMBln. Inv. Nr. H. M. 1284. Mehrfarben-Dekor in Rot, Blau, Braun, Grün, Gold und Schwarz. D . 23 cm, 18. Jh. O A S dStMBln. Inv. Nr. H. M . 1 1 9 7 ( B ® 1865). „Grüne Familie", dieser Name wurde von Jacquemart genannt. E s ist ein fünffarbiger Dekor (Wu-cai), in dem Grün überwiegt.

141

Auch in der Yongzheng-Periode (1723 —1735) waren barocke Wappen bei den Exportporzellanen Mode, dagegen wurden typisch chinesische Symbole seltener. Zu Beginn der Qianlong-Ära (1736 bis 1795) ging der Stil der Wappen allmählich von Barock zum Rokoko über. Die chinesischen Porzellankünstler ahmten den sich verändernden europäischen Dekor überaus geschickt nach44. In der Mitte der Qianlong-Periode etwa um 1770 kamen die ersten Service im klassizistischen Stil nach Europa 45 . Die Bemalung des Randes ist weniger überladen als bisher, ein einfaches Monogramm verdrängte das immer mehr an Bedeutung verlierende Wappen. Solche Porzellane beruhten häufig auf einer Sonderbestellung, um eigene Siegelzeichnungen, Bildnisse, Wappen oder Monogramme 46 nachbilden zu lassen (Tafel 12, 6). Man kann aus der Biographie eines Inhabers bzw. Bestellers das genauere Herstellungsdatum dieses Porzellans ersehen. So z. B. bei einem Service: Wasserkanne und Schüssel mit Wappen von James Brydges, Erstem Herzog von Chandos und Willoughby. Dieser Herzog heiratete im Jahre 1 7 1 3 Cassandra Willoughby und starb 1744. Nach dieser Angabe seiner Biographie mußte dieses Service zu jener Zeit (um 1 7 1 3 —1744) hergestellt worden sein47, also am Ende der Kangxi-Ära (1662—1722) und bis zum Anfang der Qianlong-Periode (1736—1795). Wenn der Inhaber eines Wappens oder Monogramms schwer festzustellen ist, kann man auch aus der Form und Art des Wappens oder Monogramms die Entstehungszeit ermitteln. Abbildungsnachweis: Tafeln 7 — 9. Staatliche Museen zu Berlin, Ostasiatische Sammlung. 44

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Zum Beispiel ein Teller mit Darstellung von Blumen, Vögeln, Libellen, Schmetterlingen und geometrischen Ornamenten in Braun, Rot und Gold. Dekor ist in Art der europäischen Keramikbemalung (vgl. R . Rückert: „Meißner Porzellan 1 7 1 0 — 1 8 1 0 " , München 1966, Kat. 269 und 360). D . 13,3 cm. Qianlong-Periode (1736 — 1795). O A S dStMBln. Inv. Nr. Ch K 71/71. Zum Beispiel Teller mit Landschaftsbild „Angeln im Fluß" in Blau-Weiß. Marke: zwei gekreuzte Schwerter wie beim Meißner Porzellan. — (Wahrscheinlich von sächsischem Herrscher bestellt.) D . 13,5 cm, H. 3 cm. 18. J h . Kunstgewerbemuseum (Schloß Köpenick) dStMBln. Inv. Nr. 05, 135. Siehe Kumme mit Initialen. H. 6,4 cm. D. 14,1 cm. 18. Jh. O A S dStMBln. Inv. Nr. Ch K 146/17. Vgl. Chen Wan-li: „Uber Export des chinesischen Porzellans in der Ming- und Qing-Dynastie (Fortsetzung)", in der Zeitschrift „Wen W u " , Peking 1964 Nr. 10, S. 35.

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M Ö B E L VON D A V I D R O E N T G E N -

EINE

AUSSTELLUNG

Burkhardt Göres

Der bevorstehende Abschluß der hervorragenden Restaurierung 1 des großen Berliner Pultschreibschrankes von 1779, des sog. „Neuwieder Kabinetts", im Frühjahr 1969 und seine geplante Übergabe an die Öffentlichkeit am 24. April 1969 im Berliner Kunstgewerbemuseum, gaben den Anstoß für die kurzfristige Vorbereitung der Ausstellung „Möbel von David Roentgen 1743 — 1807", die in fünf Räumen des Schlosses Köpenick aufgebaut wurde. Die Wiedergewinnung eines der berühmtesten Möbel der Roentgen-Werkstatt, das am Ende des 2. Weltkrieges schwere Schäden erlitten hatte, war gegebener Anlaß, das Schaffen dieses hervorragenden Ebenisten des 18. Jahrhunderts durch eine Ausstellung zu ehren und es damit gleichzeitig erneut in das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu bringen. Das war für das Berliner Kunstgewerbemuseum um so mehr Verpflichtung, da die eigene Sammlung, die vor dem 2. Weltkrieg mit 16 Beispielen aus der Werkstatt von Abraham und David Roentgen in der ständigen Ausstellung im Schloß Berlin selbst einen guten Überblick über das Schaffen der Neuwieder Möbelwerkstatt gab, durch Kriegsverluste stark dezimiert worden ist. Zu dieser Ausstellung war nunmehr die Heranziehung von Leihgaben aus Museen und Sammlungen der D D R unumgänglich. Nur so konnte das Gesamtschaffen David Roentgens von ca. 1770 bis 1795 mit markanten Beispielen dokumentiert werden. Im Mittelpunkt stand, den ihm gebührenden Platz einnehmend, das „Neuwieder Kabinett". Glücklicherweise stieß das Anliegen des Berliner Kunstgewerbemuseums bei fast allen Direktionen der um Leihgaben gebetenen Museen, bis auf eine Ausnahme, auf größtes Verständnis und kollegiale Unterstützung, so daß das angestrebte Ziel eines Überblicks verwirklicht werden konnte. Die Vorbereitung der Ausstellung bot gleichzeitig eine Möglichkeit der Sichtung und Erfassung der erhaltenen Bestände in der D D R . Leider müssen auch andere Sammlungen einzelne RoentgenMöbel als Kriegsverluste verzeichnen. David Roentgen hatte seine Ausbildung als Ebenist in der Werkstatt seines Vaters Abraham Roentgen in Neuwied erhalten, nachdem er zuvor, den Satzungen der Herrnhuter Brüdergemeinde entsprechend, eine sorgfältige Erziehung in einem Internat der Gemeinde in Niesky (Schlesien) erhalten hatte. In der Person Davids vereinigten sich hohes handwerkliches Können mit einem gut ausgebildeten künstlerischen Empfinden und Geschäftsgeist. Das befähigte ihn, nach der 1772 erfolgten Übernahme der Werkstatt des Vaters, in der er auch schon vor diesem Zeitpunkt der wichtigste Mitarbeiter war, das von ihm geleitete Unternehmen innerhalb weniger Jahre zu internationalem Erfolg zu führen. Eine 1774 unternommene Reise nach Paris machte den jungen Meister mit den berühmten Schöpfungen der Pariser Ebenisten bekannt und vermittelte ihm wesentliche Anregungen. Hatte schon sein Vater für verschiedene deutsche Fürsten gearbeitet, so liefert David ab 1775 an den Brüsseler Hof. Im Frühjahr 1779 gelingt es ihm, mit einem langfristig vorbereiteten Coup den Pariser Markt für seine Erzeugnisse zu erobern. Ludwig X V I . und Marie Antoinette von Frankreich sind sofort seine 1

V g l . die Aufsätze über die Restaurierung des „Neuwieder Kabinetts", in: Neue Museumskunde Heft 1 / 1 9 7 1 , M. Holzrestaurierung und Heft 3/1972, W. Gummelt, Metallrestaurierung.

ker,

Bek-

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besten Kunden und Roentgen erwirbt 1780 die Pariser Meisterschaft. Noch im Dezember des gleichen Jahres liefert er das „Neuwieder Kabinett" für den preußischen Thronfolger nach Berlin, nachdem im Sommer noch große Wandtäfelungen nach Brüssel versandt worden waren. Die Intarsien der Roentgen-Werkstatt gelten als die bedeutendsten Leistungen in dieser Technik. Sein manufakturähnlich arbeitender Betrieb mit einer Vielzahl von guten spezialisierten Mitarbeitern, war jederzeit imstande, umfangreiche Aufträge zu bewältigen. Das von ihm entwickelte, fast modern anmutende baukastenähnliche Prinzip ermöglichte es, in kürzester Frist immer wieder variierte Möbel aus zum Teil vorgefertigten Einzelteilen zu kombinieren. 1783 machte sich Roentgen mit einem Möbeltransport nach St. Petersburg auf den Weg und Kaiserin Katharina II. und ihr Hof wurden neben Paris und Berlin die besten Kunden. In den achtziger Jahren weilte der Künstler noch mehrere Male längere Zeit in St. Petersburg. Nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm II. von Preußen, 1786, steigerte sich auch der Absatz in Berlin. Durch die französische Revolution von 1789 verliert der Meister seine Pariser Niederlassung und die Zeit der kostbaren, teuren Luxusmöbel geht ihrem Ende entgegen. Beim Heranrücken der französischen Revolutionsheere schließt Roentgen seine Werkstatt und verlagert die vorhandenen Vorräte an Möbeln und Materialien. Die große Ausstrahlung der Roentgen-Werkstatt durch ihre Erzeugnisse und zeitweise dort tätige Mitarbeiter hat weitreichenden Einfluß auf zeitgenössische Kunsttischler ausgeübt. Roentgen selbst hat in Paris, St. Petersburg und Berlin mit ehemaligen Schülern Tochterwerkstätten gegründet bzw. gefördert. Nach der Schließung der Werkstatt haben sich seine Mitarbeiter dann in verschiedenen deutschen Residenzen niedergelassen und den Stil der Werkstatt weitergepflegt, so u. a. in Weimar und Stuttgart. Die beiden, dem Schaffen der ersten Hälfte der siebziger Jahre gewidmeten Räume der Ausstellung nahmen Möbel des späten Rokoko auf. Ein zierliches ovales Tischchen mit Blumenmarketerie aus dem Schloß Wörlitz, um 1770 entstanden, war das früheste gezeigte Beispiel in der Ausstellung (Kat. Nr.i). Ein gleiches Exemplar aus dem Neuen Palais von Sanssouci ist seit 1945 verschollen. Ein Paar „Spielund Schreibtische mit Veränderungen" (Kat. Nr. 3 und 4), eine hochaufragende Standuhr mit einem Uhrkasten nach Vorbildern von Chippendale (Kat. Nr. 2) und ein Rollschreibtisch (Kat. Nr. 5), alle mit figürlichen Chinoiserien in Marketerietechnik, stellte das Museum für Kunsthandwerk Dresden zur Verfügung. Der dritte Raum mit Schöpfungen der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wurde vom „Neuwieder Kabinett" (Kat. Nr. 10) und dem „Antoinette-Sekretär" (Kat. Nr. 9) beherrscht, die auch durch ihre besonders hervorragende Marketeriearbeit verdienten Ruhm genießen. Ein „Spiel- und Schreibtisch mit Veränderungen" in frühklassizistischen Formen (Kat. Nr. 7), ein Polsterstuhl (Kat. Nr. 8) und ein kleines zweitüriges Schränkchen (Kat. Nr. 6), ebenfalls alle mit Marketerie, aus dem Schloß Wörlitz, rundeten das Bild dieser Phase ab. Im Wappensaal hatten neben einer ausführlichen Fotodokumentation zur Restaurierung des „Neuwieder Kabinetts" die Schöpfungen der achtziger und frühen neunziger Jahre Aufstellung gefunden. Unter Verzicht auf jegliche Marketerie, die zu dieser Zeit in der Roentgen-Werkstatt nur noch äußerst selten und dann meist nur im Innern angewendet wurde, wirken die Möbel dieser Schaffensperiode allein durch sorgfältig ausgewählte Furniere und feuervergoldete Bronzebeschläge sowie durch ihre Proportionen. Neben einem Mahagoni-Rollschreibtisch (Kat. Nr. 11) und einer Standuhr (Kat. Nr. 15) aus dem Marmorpalais in Potsdam, wurde diese Schaffensperiode durch einen Schreibtisch mit Aufsatz (Kat. Nr. 13) und eine Standuhr aus dem Weimarer Schloß (Kat. Nr. 14) und einem schlichten Tisch des Berliner Kunstgewerbemuseums (Kat. Nr. 16) belegt. Gleiche Tische befinden sich im Schloßmuseum Gotha und im Wittumspalais Weimar. Den Abschluß bildete eine um 1795 entstandene Standuhr aus dem Weimarer Schloß (Kat. Nr. 17), wie sie in der DDR noch in drei weiteren Exemplaren (Leipzig, Altes Rathaus und Schwerin, Staatliches Museum (zwei Beispiele aus dem Schloß Ludwigslust) vorhanden ist. Leider fehlte in diesem Raum ein vom Typ her besonders wichtiges Beispiel mit ausgeklügelter und raffinierter Inneneinrichtung, der Zeichen- und Toilettentisch aus dem Wittumspalais in Weimar, der nicht zur Verfügung gestellt worden war.

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Ergänzt wurde diese Ausstellung durch einen Raum mit Möbeln des Roentgen-Schülers David Hacker, der sich 1791 durch Vermittlung Roentgens in Berlin niedergelassen hatte. Zwei MahagoniKommoden aus dem Marmorpalais in Potsdam (Kat. Nr. 18 und 19), eine davon mit WedgwoodEinlage und ein kleiner Schreibtisch mit Aufsatz zeigten die enge Bindung an die Schöpfungen der Roentgen-Werkstatt. Eine um 1785 entstandene Kommode von Johann G. Fiedler, einem Berliner Meister, war ein Beispiel für die weitreichende Einflußnahme der Möbel Roentgens (Kat. Nr. 21). Es war das Anliegen der Ausstellung, das Schaffen der berühmtesten deutschen Ebenistenwerkstatt in den verschiedenen Entwicklungsphasen zu belegen. Daher wurde von in DDR-Museen vorhandenen Pendants, Garnituren oder sehr ähnlichen Stücken, nur jeweils ein Beispiel erbeten. Aus diesem Grund blieben ein großer Mahagoni-Rollschreibtisch aus dem Weimarer Schloß, drei Stühle, ein Schränkchen und ein Spieltisch aus dem Schloß Wörlitz, zwei der Kat. Nr. 17 gleichende Standuhren in Schwerin und eine weitere im Alten Rathaus zu Leipzig sowie eine Standuhr in den Städtischen Kunstsammlungen Görlitz und einige andere gleiche Möbel unberücksichtigt. In Anbetracht der kurzfristigen Vorbereitung der Ausstellung beschränkt sich das geplante Katalogverzeichnis 2 nur auf eine detaillierte Beschreibung, einschließlich der inneren Einrichtungen der Möbel. Auf Verweise zu ähnlichen Exemplaren wurde weitgehend verzichtet, da die grundlegende Monographie von Hans Huth 3 noch heute Gültigkeit hat. Ein Teil der in der Ausstellung gezeigten Möbel werden bei Huth als Varianten allerdings nur summarisch erwähnt, einige gar nicht.

Katalog 1

Ovales Tischchen

um 1770

Vier schlanke, leicht geschwungene Beine mit Bandintarsien und Schuhen aus vergoldeter Bronze, Zarge mit eingelegten Blumenbuketts, nach unten ausschwingend, in der unteren Hälfte etwas vorgewölbt;" Beine durch geschwungene Stege verbunden, die in der Mitte in eine ovale Abstellfläche mit Blumenintarsien übergehen. An der oberen Kante der Stege und als Einfassung der vertieften Abstellfläche Messingwülste. Auf dem Blatt „en camaieu" ein an verschlungenen Bändern aufgehangenes Blumenbukett mit Harke und Stäben, an den lose flatternden Enden weitere Blumen. In der Zarge großer Mittelkasten mit Deckplatte, seitlich ausschwingende halbmondförmige Teile mit je zwei kleinen offenen Fächern und zwei Schubkästen. Furnier: Ahorn, Fries: Rosenholz (gestürzt), Intarsien: Ahorn (verschieden gefärbt); Blindholz und innen verwendete massive Hölzer: Eiche, Kirschbaum, Zeder Maße: Höhe 75 cm, Breite 76,5 cm, Tiefe 53 cm Provenienz: Zur ursprünglichen Ausstattung des Schlosses Wörlitz gehörend, vermutlich vom Fürsten Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau bzw. seiner Gemahlin bei Roentgen erworben, jetzt ebenda Besitzer: Staatliche Schlösser und Gärten Wörlitz, Oranienbaum und Luisium Literatur: Schmitz 1923, Bd. III, Abb. S. 6 — Huth 1928, S. 68, Nr. 55 2

Standuhr

um 1770

Rechteckiger Sockel mit breit zurückspringenden Hohlkehlen über den vier ausgeschweiften Brettfüßen und am Übergang zum Pendelkasten, dessen vordere Ecken durch toskanische Viertelsäulen mit bronzenen Lorbeergirlanden, Basen und Kapitellen betont werden. Das Uhrgehäuse, nach Vorbild von Chippendale, sitzt auf einer vorkragenden Hohlkehle und die Vorderfront wird von kleinen toskanischen Säulen flankiert, die das abschließende Hohlkehlgesims mit seinem abgesetzten Segmentgiebel stützen. Ein unten stark geschwungener Aufsatz mit durchbrochenen Feldern (Rhomben2

3

Ursprünglich als Erläuterung zur Ausstellung geplant, konnte das Verzeichnis in der kurzen Vorbereitungszeit nicht mehr gedruckt werden. Huth, Hans, Abraham und David Roentgen und ihre Neuwieder Möbelwerkstatt, Berlin 1928.

10

Forsch, u. Ber. Bd. 17

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muster in Messing) und auf den vorderen Ecken sitzende Sonnenmasken bilden den oberen Abschluß, der von einem Palmwedel bekrönt wird. Die Seitenflächen des Pendelkastens und des Uhrgehäuses haben durchbrochene Messingfüllungen. Die Marketerie mit figürlichen Chinoiserien, Blattwerk und Früchten. Das runde Emailzifferblatt sitzt in quadratischer Bronzefassung, in den vier Zwickeln hält je ein Putto eine Lorbeergirlande. Im Segmentfeld darüber die Mondphasenangabe, eingefaßt von einem Bronzeband mit den Bezeichnungen der Musikstücke des Spielwerkes: „Andante — Menuett — Polonaise — Allegro."

Abb. i. Ovales Tischchen, Kat. Nr. i

Furniere: Ahorn, Rosenholz (Kehlen), Maserahorn (Säulen und Viertelkanten) — Intarsien: Ahorn (verschieden gefärbt), Nußbaum (Splint), Vogelaugenahorn; Blindholz: Eiche Maße: Höhe 517 cm, Breite 53,5 cm, Tiefe 35 cm (Uhrkasten ohne Profile) Provenienz: Aus altem kursächsischem Besitz (?), 1928 in der Sächsischen Gesandtschaft in Berlin erwähnt Besitzer: Museum für Kunsthandwerk der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Schloß Pillnitz, Inv. Nr. 39570 Literatur: Huth 1928, S. 29, Kat. Nr. 57 — Kat. Pillnitz 1973, S. 36, A 28 m. Abb. 3 und 4

Spiel- und S c h r e i b t i s c h mit Veränderungen (2 Exemplare)

1770/75

Als Konsoltisch, Spiel- und Schreibtisch zu benutzen. Auf vier leicht geschwungenen, abschraubbaren Beinen ruht eine leicht nach unten ausschwingende

Abb. 3. Detail des ovalen Tischchens, Platte, Kat. Nr. 1 10*

Abb. 4. Standuhr, Kat. Nr. 2

Zarge, die an den Ecken unterhalb der Tischplatten bis zur Hälfte stark abgefast ist. Die anderen Kanten an Zarge und Füßen leicht abgefast. Auf der Deckplatte Marketerie mit figürlicher Chinoiserie, auf der Zarge kleine Blumenbuketts. Auf Federdruck läßt sich hinten das linke Bein um 90° herausklappen, um die aufklappbaren Tischplattenhälften zu stützen. Nach dem Umlegen der Konsoltischplatte wird eine quadratische, im Umriß geschweifte, mit Fries gezogene Spieltischfläche sichtbar, bei der zweiten „Veränderung" ein

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Schachbrett und bei der dritten eine mit Fries bespannte Schreibfläche und zwei Rolljalousien, unter denen sich Fächer für Spielkarten usw., Streusand und Tintenfaß befinden. Aus der anderen Tischhälfte läßt sich bei der Verwendung als Schreibtisch noch ein Lesepult herausklappen. Auf einen Federdruck kann aus der Schreibfläche ein aufklappbares Trick-Track-Spiel emporgehoben werden. Hinter der herausklappbaren Zarge des vierten Fußes befindet sich noch ein weiterer kleiner Kasten. Furniere: Riegelahorn (Blatt gefärbt), Ahorn (Zargen, gefärbt, radial geschnitten, gefärbt), Rosenholz (Fries des Blattes und Umleimer, gestürzt; — Intarsien: Ahorn (verschieden gefärbt), Nußbaum, Maulbeere, Vogelaugenahorn, finnische Birke; zweite Spieltischplatte: Ahorn (gefärbt), Schachbrett: Weißbuche (natur), Ahorn (gefärbt); Rolljalousien neben der Schreibplatte: Ahorn (gefärbt), Mahagoni

A b b . 5. Spiel- und Schreibtisch, K a t . N r . 3 und 4

Puffbrett: Grund: Maserahorn (gefärbt), Spitzen: Weißbuche (natur und grün gefärbt); Blindholz: Eiche Maße: Höhe 81 cm, Breite 87,5 cm, Tiefe 43 cm (zugeklappt) Provenienz: Aus altem kursächsischen Besitz, 1928 im Schloß Moritzburg erwähnt, z. Z. als Leihgabe ebenda Besitzer: Museum für Kunsthandwerk der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Schloß Pillnitz, Inv. Nr. 37 587 a u. b Literatur: Huth 1928, Kat. Nr. 84 — Kat. Pillnitz 1967, S. 35, A 30 — Kat. Pillnitz 1973, S. 38, A 30 5

Rollschreibtisch

um 1775

Schreibtisch mit breiter gewölbter Zarge, auf vier leicht geschwungenen, abschraubbaren Beinen. A n der Vorderfront seitlich vier schmale, in der Mitte über der im Bogen abgeschlossenen Knie-

149

freiheit ein breiter Kasten. Die herausziehbare Schreibplatte wird durch den geradlinigen Aufsatz und den vorn im Viertelkreis herabschwingenden Rolldeckel verschlossen. Die Kanten der Beine und der Zarge abgefast, die Vorderstücke der Kästen von Messingwülsten eingefaßt. Handhaben der Kästen, Knäufe am Rolldeckel und Schlüssellochbeschläge aus Messing. Auf dem Rolldeckel figürliche Chinoiserie, an den Seitenflächen an Bändern aufgehangene Blumenbuketts und in Ringen sitzende Vögel. Auf der Frontzarge mit den Kästen verstreute Blüten.

Abb. 6. Spiel- und Schreibtisch in aufgeklapptem Zustand, Kar. N r . 3 und 4

Furniere: Ahorn (Grund, gefärbt), Rosenholz (Friese, Kehlen und Kanten, gestürzt), Maserahorn (Bandumrahmung der Seitenintarsien, gefärbt); Intarsien: Ahorn (verschieden gefärbt), Maulbeere, Weißbuche, Nußbaum (Brandtechnik sparsam verwendet); Blindholz und im Innern verwendete massive Hölzer: Eiche, Kiefer, Mahagoni Maße: Höhe 118 cm, Breite 120 cm, Tiefe 75 cm Provenienz: Aus altem kursächsischem Besitz, 1928 im .Schloß Moritzburg erwähnt Besitzer: Museum für Kunsthandwerk der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Schloß Pillnitz, Inv. Nr. 57349 Literatur: Huth 1928, Kat. Nr. 12 — Kossatz, Gert, Die Kunst der Intarsia, Dresden 1954, S. 37, Abb. 39—41 — Kat. Pillnitz 1967, S. 34, A 29 — Kat. Pillnitz 1973, S. 37, A 29 6

Schränkchen (2 Exemplare, ein Stück ausgestellt)

1775/80

Zweitüriges Schränkchen auf vier quadratischen, sich nach unten verjüngenden Beinen. In der auf den Beinen ruhenden Sockelzone ein Schubkasten, darüber zwei von Lisenen, deren Kanneluren mit

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Messingblech ausgelegt sind, eingerahmte Türen. Die gleichen Lisenen an den Vorderkanten der Seitenflächen. Die Türen von Messing Wülsten eingefaßt. Die Intarsien zeigen auf den Türflächen antike Altäre, auf denen Gefäße stehen; auf den Seitenfüllungen antike Postamente mit Vasen, in der Sockelzone Lorbeergirlanden und Rosetten und an den Füßen Lorbeergehänge. In der Mitte des Schubkastens ein Medaillon mit „antikem" Kopf. Auf der Deckplatte eine durch Ringe gezogene und mit Bändern umwundene Lorbeergirlande, an der mit Bandschleifen zwei Medaillons mit „antiken" Köpfen befestigt sind.

Abb. 7. Rollschreibtisch, Kat. Nr. 5

Furniere: Maserahorn (Grund, gefärbt); Intarsien: Ahorn (verschieden gefärbt): Nußbaum (Innenflächen) ; Blindholz: Eiche und Kiefer Maße: Höhe 86 cm, Breite 66 cm, Tiefe 44,5 cm Provenienz: vgl. Kat. Nr. 1 Besitzer: Staatliche Schlösser und Gärten Wörlitz, Oranienbaum und Luisium Literatur: Huth 1928, S. 31 — Kat. Nr. 65, Tafel 65 7

Spiel- und S c h r e i b t i s c h (2 Exemplare, ein Stück ausgestellt)

1775/80

Auf vier quadratischen, sich nach unten verjüngenden Beinen mit eingelegten Lorbeergehängen. Auf der Zarge durch Ringe gezogene und mit Bandschleifen befestigte Lorbeergirlanden in gleicher Technik, an den Ecken in Verlängerung der Beine abgegrenzte Lisene, deren Kanneluren mit Messingblech ausgelegt sind. Die oberste Tischplatte mit Einlagen, in der Mitte an einem Band aufgehangenes Arrangement aus Spielkarten, Briefen, Federballschläger, Federbällen und Schreibfeder, am Rand eine

151

Abb. 8. Schränkchen, Kat. Nr. 6

umlaufende durchbrochene Leiste, durch die sich Lorbeerzweige ranken und an der auch das Band mehrfach verschlungen ist. Auf Federdruck läßt sich hinten das linke Bein um 90° herausklappen, um die aufklappbaren Tischplattenhälften zu stützen. Die erste Veränderung gibt eine mit Fries bezogene Spieltischfläche, die zweite ein Schach- und Damebrett, die dritte eine mit Fries bespannte Schreibfläche und zwei Rolljalousien frei, unter denen Fächer für Spielkarten u. a. liegen. Im rechten Fach auch ein Streusandund ein Tintenfaß. Aus der anderen Tischhälfte läßt sich ein Lesepult herausklappen. Auf einen Federdruck steigt noch ein aufklappbares ,,Docadill"-Brett aus der Zarge (vgl. Kat. Nr.3 und 4). Furniere: Ahorn (Zargen radial geschnitten, gefärbt); Intarsien: Ahorn (verschieden gefärbt); Spieltischplatten und sonstige innere Ausstattung vgl. Kat. Nr. 3 und 4; Blindholz und innen verwendete massive Hölzer: Eiche, Kirschbaum (Jalousiefächer); Jalousie: Ahorn und Mahagoni Maße: Höhe 80,5 cm, Breite 84,3 cm, Tiefe 41,8 cm (zugeklappt) Provenienz: vgl. Kat. Nr. 1 Besitzer: Staatliche Schlösser und Gärten, Wörlitz, Oranienbaum und Luisium Literatur: Huth 1928, S. 31, Kat. Nr. 51

152

A b b . 9. Spiel- und Schreibtisch, K a t . N r . 7

A b b . 10. Spiel- und Schrcibtisch, Detail, Platte, K a t . N r . 7

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Abb. i i . Stuhl, Kat. Nr. 8

8

Stuhl (4 Exemplare, ein Stück ausgestellt)

um 1780

Mit lose aufgelegtem Sitzpolster und hochovaler Polsterfläche in der Lehne. Zwei quadratische sich nach unten verjüngende Vorderfüße mit eingelegten Lorbeergehängen. Die beiden anderen Füße nach hinten leicht ausgestellt. Die Intarsien zeigen auf der Zarge Lorbeergirlanden, vorn in der Mitte ein mit lose flatternden Bändern befestigtes Medaillon mit „antikem" Kopf, an den Ecken Rosetten. Die Rückenlehne mit geschwungenem, kantig gebrochenem Umriß. Die Polsterfläche von einem Lorbeerkranz eingerahmt. In den oberen Ecken Weintrauben und Weinlaub, in den unteren Rosetten. 154

Furniere: Ahorn (gefärbt), Maserahorn (Lehne, gefärbt); Intarsie: Ahorn (verschieden gefärbt); Blindholz: Eiche Maße: Höhe 97 cm, Breite 50 cm, Tiefe 45,5 cm Provenienz: vgl. Kat. Nr. 1 Besitzer: Staatliche Schlösser und Gärten Wörlitz, Oranienbaum und Luisium Literatur: Huth 1928, S. 31 — Kat. Nr. 62, Tafel 62

Abb. 12. Rollschreibtisch, Kat. Nr. 9

9

Rollschreibtisch

1779

Bestehend aus Schreibtisch, Mittelteil mit Rollverschluß und Aufsatz in geradlinigen Formen, auf vier quadratischen, sich nach unten verjüngenden Beinen mit Bronzegirlanden, die in rechteckigen Klötzchen enden. In der hohen Zarge über der im Bogen abgeschlossenen Kniefreiheit ein über die ganze Breite des Möbels gehender Schubkasten mit vier Handhaben, seitlich darunter je ein kleiner Kasten mit einem Griff, der durch Knopfdruck von einer Metallfeder herausgedrückt wird. Die vertikale Gliederung der Zarge wird an den Ecken und an der Vorderfront zu Seiten der Kniefreiheit durch Lisenen betont, deren untere Hälfte von Triglyphen mit Messingkanneluren eingenommen wird, über denen hochrechteckige Felder an Schleifen aufgehängte kurze Bronzegirlanden aufnehmen. Beim Herausziehen der Schreibtischplatte gleitet der Rollverschluß zurück und gibt den Blick auf zahlreiche offene Fächer frei. Die Seiten- und Oberkanten des Mittelteils werden durch breite, von Friesen eingefaßte Profile mit gefüllten Pfeifen betont. Der die ganze Breite des Möbels über 155

dem sich oben zurückwölbendem Rollverschluß einnehmende pavillonähnliche Aufsatz wird von einer etwas vertieft eingesetzten Marmorplatte abgeschlossen. Entsprechend der räumlichen Aufgliederung der Schreibtischzarge übernehmen auch hier mit Lorbeergirlanden versehene Lisenen die vertikale Gliederung. Sie ragen mit ihren Aufsatzstücken bis in den unter dem hölzernen Abschlußprofil umlaufenden Bronzefries. Alle Profile sind mit Messingblech überzogen, die sonstigen Metallteile feuervergoldete ziselierte Bronze. Das von zwei durch Rolljalousien verschlossene Bogenstellungen flankierte Mittelfeld des Aufsatzes läßt sich herabklappen und durch Herausziehen des gesamten Mittelkastens mit seiner kleinteiligen Fächergliederung öffnen sich die Rolljalousien der Bogenstellungen. Im Bronzefries des Aufsatzes drei flache Kästen, die auf Knopfdruck hervorschnellen. Auf dem Rollverschluß, dem Mittelfeld und den Seitenfüllungen des Aufsatzes Marketerie mit figürlichen Chinoiserien z. T. nach graphischen Vorlagen von François Boucher. Auf den Seitenflächen des Rollverschlusses schaukeln Vögel auf Tuchgehängen, die Seitenflächen der Schreibtischzarge zeigen Gartengeräte und die Kastenvorderstücke flatternde Bänder und Früchte. Furniere : Riegelahorn (Grund gefärbt), Rosenholz (gestürzte Kanten) ; Intarsien : Ahorn (verschieden gefärbt), Weißbuche, Maulbeere, Nußbaum, Apfelbaum; Weißbuche, Ahorn (Rolljalousie und Vorleimer der Kästen im Innern); Blindholz und innen verwendete massive Hölzer: Eiche, Mahagoni, Kirschbaum Maße : Höhe 153 cm, Breite 153 cm, Tiefe 67 cm Provenienz: Im Frühjahr 1779 von Königin Marie Antoinette von Frankreich bei Roentgens Pariser Aufenthalt erworben, 1780 an Papst Pius VI. (Braschi) verschenkt, 1910 vom Kunstgewerbemuseum aus dem Besitz des Duca Braschi in Rom erworben Besitzer: Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin, Inv. Nr. 1910,49 Literatur: Amtl. Berichte der Berliner Museen, Nr. 1 , 1 9 1 1 ' , S. 23 — Schmidt 1913, S. 212, Abb. 165 — Huth 1928, S. 19, 20, 31 Kat. Nr. 19 Taf. 19, 85, 86, 88 — Geschichte des Kunstgewerbes 1935, Bd. V I , Abb. S. 228 — Greber 1948, S. 86ff., Abb. 53 — 55 — Schade 1971, S. 75/76, Taf. 55, 56 — Himmelheber 1973, S. 17, Abb. 5 10

Pultschreibschrank

1779

Johann Michael Rummer (Intarsien), Christian Krause (Mechaniken), Peter Kinzing (Uhr und Musikwerke) Der schwere kastenförmige Unterbau des Möbels mit drei Türen und Pilastergliederung, die an den Ecken schräg gestellt, jeweils einen Zopf aus Lorbeerblättern aufnehmen, ruht auf einem geschlossenen Sockel und wird von einem Fries mit Triglyphen und angedeuteten Handhaben in Form von Lorbeergehängen auf den Füllungen abgeschlossen. Darüber springt die herausklappbare Schreibklappe schräg nach hinten zurück, Eckverzierungen wie die Pilaster am Unterbau. Der wieder dreiteilige Aufsatzschrank mit Pilastern und Viertelsäulen besitzt ein verkröpftes Gebälk, über dessen leicht vorgezogenem Mittelteil sich der Uhraufsatz erhebt. Seitlich schließen Balustraden, unterbrochen von Sockeln mit Bronzevasen, das Bebälk ab. Säulen und Pilaster des Aufsatzschrankes auf hohem Postament, die Säulen umrankt von bronzenen Weinlaubgirlanden, auf den Pilasterfüllungen um Rosetten geschlungene Bänder aus vergoldeter Bronze. Der Uhraufsatz hat die Form eines kuppelgekrönten Pavillons, dessen vordere Bogenstellung die Bronzetafel mit dem Zifferblatt füllt, das von Chronos mit dem Nacken gestützt wird und auf dem auch das Datum angezeigt wird. In einem halbkreisförmigen Feld darüber ist der Stand der Mondphasen ablesbar, den Halbkreisbogen schließt ein breites Band mit den Bezeichnungen der Stücke des Flöten- und Klavierwerkes, Andante, Menuett, Polonaise, Allegro, ab. Ein über dem Zifferblatt angebrachter Zeiger weist auf das jeweils eingestellte Stück. Das gleichfalls verkröpfte Gebälk des Uhraufsatzes tragen Bronzehermen und korinthische Pilaster. Auf den vorderen Ecken bilden Vasen den Abschluß, Bronzegirlanden schwingen von den Hermenschäften zur großen Balustrade herab, die Tambourkuppel schließt ein runder Sockel für die bekrönende Plastik ab. Den Schrank zieren an den sieben Außentüren die Darstellungen der Künste und Wissenschaften.

156

Abb. 13. „Neuwieder Kabinett", geschlossen, Kat. N r . 10

A b b . 14. „ N e u w i e d e r K a b i n e t t " , geöffnet, K a t . N r . 1 0

Am Unterbau wird die Architektur von der Malerei und der Astronomie und Geographie flankiert, auf der Schreibplatte die Darstellung der Musik. Die Darstellung der Bildhauerkunst auf der Mitteltür des Aufsatzes ist eine Apotheose auf den Besitzer des Schrankes, die Göttin Athena befestigt das vielleicht von J . F. Darbes in Aquarell auf Elfenbein gemalte Bildnis König Friedrich Wilhelms II. am Schaft eines Säulenpostaments, während der Bildhauer die Initialen des Dargestellten in das Postament einschlägt. Die breitere Mitteltür wird von schmalen hochformatigen Türfüllungen gerahmt, in denen mit fremdländisch anmutenden Kaufleuten die Arithmetik (der Handel) und mit in einer Bibliothek sitzenden Gelehrten die Wissenschaft (Dichtkunst) dargestellt"ist. Auf der Allegorie der Arithmetik auf einem verschnürten Ballen auch die Signatur Roentgens, in diesem Fall der Buchstabe „ R " , gekrönt von einer „ 4 " , die als vierter Buchstabe des Alphabets gedeutet wird. Die Intarsien an den Seitenflächen des Schrankes zeigen ergänzende Attribute der an den Türen dargestellten Allegorien. Am Unterbau sind Palette, Malstock, Meßlatte und Steinmetzhammer an einer pyramidenförmigen Stele befestigt. In Höhe der Schreibplatte Noten und Musikinstrumente und am Aufsatzschrank Gebinde aus Büchern, Federkielen, Tinten- und Streufaß. Bei der Lieferung des 157

Schrankes 1779 waren die Darstellungen der Allegorien auf den Türen anders verteilt, und erst anläßlich der Thronbesteigung des Besit2ers lieferte Roentgen 1786 zwei neue Türen und die Astronomie und Geographie tauschte ihren Platz mit der Bildhauerkunst, wobei durch eine Veränderung der bildlichen Gestaltung die Apotheose eingefügt wurde. Im Innern des Schrankes ein Überreichtum an komplizierten technischen Einrichtungen, die Schübe und Kästen bewegen, Musikwerke ertönen lassen und Geheimfächer öffnen. Die äußeren Türen werden mit einem Schlüssel geöffnet, wobei die seitlichen Türen des Unterbaus und des Schrankaufsatzes von einem zweiten Schlüsselloch in den Mitteltüren aufgeschlossen werden. Die große Mitteltür des Aufsatzes birgt das sogenannte Spiegelkabinett, dessen Intarsien eine frühklassizistische Innendekoration zeigen. Unter dem Fußboden des Spiegelkabinetts befindet sich in einem Schubkasten, hinter einem Bronzerelief mit spielenden Putten, ein sich auf eine Schlüsselumdrehung im Bodenprofil des Aufsatzschrankes herausrollendes und aufklappendes Schreibpult, das die Benutzung des Schrankes auch als Stehpult ermöglicht. Die seitlichen Türen des Aufsatzes bergen offene Fächer, je einen durch Hebeldruck hervorspringenden Kasten und Züge mit Rolljalousieverschluß, die einen doppelten Boden besitzen. Die geöffnete große Schreibklappe gibt den Blick auf eine reiche Innenausstattung frei. An der dreigeteilten Front wird das Briefkabinett in der Mitte von breiten Lisenenfeldern mit Bronzereliefs des Pluto und des Herkules flankiert. Die beiden durch Knopfdruck zu öffnenden drehbaren Brieffächer zeigen auf den Zylindern drei Paare aus der italienischen Komödie. Das gesamte Briefkabinett kann durch Knopfdruck versenkt werden und an seine Stelle tritt das Medaillenkabinett, das seinerseits neben einfachen Schüben auf Federdruck herausspringende viertelkreisförmige Kästen enthält. Nach dem Auftauchen des Medaillenkabinetts ertönt ein Glockenspiel mit Silberglocken im Unterbau des Schrankes, das sechs Melodien spielt, die sich bei jedem Öffnen automatisch abwechseln. Zu Seiten der Bronzereliefs befinden sich offene Ablagefächer und jeweils zwei auf Federdruck vorspringende Kästen, von denen einer das Schreibzeug aus Ebenholz, Elfenbein und Perlmutter enthält. Beim Benutzen eines weiteren Auslösers tritt aus dem hinteren Teil der Schreibfläche die Geldschatulle hervor, die im doppelten Boden zwei Schubkästen enthält, welche bei der zweiten Schlüsselumdrehung aufspringen. Die erste hatte den Deckel aufschnellen lassen. Benutzt man das versteckte Schlüsselloch in der Mitte des Frieses am Unterbau treten zu beiden Seiten geschlossene Kästen hervor, deren vordere Hälfte um 90° nach außen schwenkt. Sie bergen drei Schübe und ein Fach mit Klappdeckel, das sich auf Federdruck öffnet. Hinter den Türen des Unterbaus je drei Züge. Das im Uhraufsatz untergebrachte und mit der Uhr gekoppelte Flöten- und Klavierwerk spielt vier Stücke, von denen jeweils eins stündlich, im Abstand von sechs Stunden oder durch eine Schlüsselumdrehung außer der Reihe ausgelöst werden kann. Furniere: Riegelahorn, Maserahorn (Grund und andere äußere Flächen gefärbt); Intarsien (außen und innen): Ahorn (verschieden gefärbt), Weißbuche, Apfelbaum, Maulbeere, Rosenholz, Paüsander, Nußbaum, Birnbaum, Vogelaugenahorn; Kubamahagoni (Innenflächen); Blindholz und innen verwendete massive Höker: Eiche, Kiefer, Zeder (kleine Kästen), Kirsche (Schübe) Maße: Höhe 359 cm, Breite 152 cm, Tiefe 88 cm Provenienz: A m 20. Dezember 1779 von Roentgen dem Prinzen von Preußen (1786—1797 König Friedrich Wilhelm II.) in Berlin geliefert und für 12000 Rthlr. in Gold von ihm erworben (vgl. Mahnrechnung Roentgens über 6000 Rthlr. von 1786, publiziert von Hans Huth), seit 1793 mit Sicherheit im Schloß Berlin nachweisbar (Inventar des Berliner Schlosses von 1793, S. 25; Plankammer der Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci), nach 1877 im Schloß Monbijou, seit 1930 wieder in den Königskammern des Berliner Schlosses aufgestellt. Besitzer: Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin, Inv. Nr. 62,24 Literatur: F. D. Rumpf, Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, Berlin 1804, S. 182f. — Huth 1928, S. 1 1 , 19L, 30, Kat. Nr. 20, Tafeln: Titelbild, 20, 95—100 — A . Hildebrandt, Schloß Monbijou, Hohenzollernmuseum, Berlin 1930, S. 31, Abb. 51 — Ausstellung Berlin 1930, Nr. 222 — Geschichte des Kunstgewerbes, Berlin 193 5, Bd. I V , Abb. S. 227, 228, 2 3 1 — Himmelheber 1973, S. 17 und S. 29, Abb. 3

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11 Rollschreibtisch 1783 (?) Bestehend aus Schreibtisch, Mittelteil mit Rollverschluß und niedrigem Aufsatz, in geradlinigen Formen, auf acht quadratischen, sich nach unten verjüngenden Beinen. In der hohen Zarge fünf Schubkästen an der Vorderfront, in der Mitte über der Kniefreiheit ein breiter, vorn auf sichtbaren Voluten ruhender Schubkasten. Zu beiden Seiten je zwei übereinander angeordnete schmalere Schubkästen. Beim Herausziehen der Schreibplatte öffnet sich der feststehende Rollverschluß und gibt den Blick auf eine architektonisch gegliederte Schaufront mit drei offenen Fächern frei. Die Gliederung der Bogenstellungen übernehmen gekuppelte toskanische Säulen aus vergoldeter Bronze. An den Sockeln der Säulenstellungen hängen Bronzeplaketten mit antiken Profilköpfen. Im stufenförmigen Podest und im durchlaufenden, mit Triglyphen geschmückten Gesims je drei sich auf Federdruck öffnende Geheimfächer. Die Einlegeböden der offenen Fächer nicht mehr vorhanden. Im flachen Aufsatz ein breiter Schubkasten mit dreiteilig gegliedertem Vorderstück. Die obere Deckplatte wird auf drei Seiten von einer niedrigen, durch Pfeiler gegliederten Attika begrenzt. Die Beine in Bronzeschuhen steckend, mit Einlagen aus geriffelten Messingblech. Vier Lisenen, deren Kanneluren mit Messing ausgelegt und über denen Bronzerosetten angebracht sind, übernehmen die vertikale Gliederung der Vorderfront des Schreibtisches. An den seitlichen Kästen Handhaben in Form von Tuchgehängen aus vergoldeter Bronze und am Mittelkasten zwei an Schleifen aufgehängte Zugringe, die vor Bronzerosetten hängen. Letztere kehren in etwas kleinerer Form an den seitlichen Feldern des Kastens im Aufsatz wieder. Die Schreibplatte ist an der Kante mit einem Eierstabband aus vergoldeter Bronze eingefaßt. Die Füllung des Rollverschlusses ist von einem Rahmen aus geriffeltem Messing, mit Eckknöpfen und einem glatten Messingprofil eingefaßt. In die Vorderkanten der seitlichen Wangen des Rollverschlusses ist ebenfalls geriffeltes Messingblech eingelegt, auf dem zierliche Girlanden aus vergoldeter Bronze montiert sind. Den oberen Abschluß des Mittelteils mit Rollverschluß bildet ein Lorbeerstab. Mittelteil des Aufsatzkastens und Füllungen der rahmenden Attika mit geriffeltem Messingblech. Verschiedene Füllungen von Messingwülsten eingefaßt, Profile ebenfalls teilweise mit Messing verkleidet. Furniere: Pyramidenmahagoni (Kuba, außen und innen); Blindholz und im Innern verwendete massive Hölzer: Eiche, Mahagoni, Kirschbaum Maße: Höhe 139 cm, Breite 146 cm, Tiefe 83,5 cm Provenienz: Von Friedrich Wilhelm II. von Preußen, vielleicht schon 1783 zur Ausstattung seiner Wohnung im Berliner Schloß bei Roentgen erworben, später in den Königskammern des Schlosses, seit Beginn unseres Jahrhunderts bis in die zwanziger Jahre im Marmorpalais in Potsdam nachweisbar, z. Z. Neues Palais von Sanssouci (Depot). Besitzer: Staatliche Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci, als Dauerleihgabe im Kunstgewerbemuseum Berlin ausgestellt Literatur: Schmitz 1920, S. 16, Schmitz 1923, Bd. III, S. 40 (Abb. in geschlossenem und geöffnetem Zustand) — Huth 1928, Kat. Nr. 23 12 S t a n d u h r 1785/90 Kastenförmiger Unterbau mit rechteckigen Feldern, Kanten, Zierleisten und Perlstäbe aus vergoldeter Bronze bzw. Messing. Auf mehreren Stufen schlankeres Oberteil mit Gebälkabschluß, darüber an der Vorder- und Rückseite Giebelfelder. Den Aufsatz bildet ein rechteckiger Kasten mit Balustraden und Eckpostamenten mit Flammenvasen. Im vorderen Giebelfeld ein vergoldetes Bronzerelief. Am Fries des Gebälkes Triglyphen und Masken aus vergoldeter Bronze. Die Türen des Uhrkastens mit Stoff ausgespannt. Die Bronzevorderplatte mit Zifferblatt und Chronos seit 1945 verschollen. Furniere: Maserahorn (außen und innen gefärbt); Blindholz: Eiche Maße: Höhe 191 cm, Breite 66 cm, Tiefe 59 cm Provenienz: Von Friedrich Wilhelm II. von Preußen, vielleicht 1787, zur Ausstattung der Königskammern des Berliner Schlosses erworben, seit 1793 dort nachweisbar. Besitzer: Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin, Inv. Nr. S 603 Literatur: Huth 1928, Kat. Nr. 58 links (Abb.) — Greber 1948, S. 1 1 1 , Abb. 86 159

A b b . 15. Rollschreibtisch, geschlossen, Kat. N r . 1 1

Abb. 16. Rollschreibtisch, geöffnet, Kat. N r . 1 1

160

ij

S c h r e i b t i s c h mit A u f s a t z

um 1790

Mit niedriger Zarge, auf acht sich nach unten verjüngenden Beinen, deren mit Messing ausgelegte Kanneluren mit Stäben und Blüten gefüllt sind und die in Bronzeschuhen enden. In der Zarge drei Schubkästen mit Perlstabeinfassungen, in den Füllungen der Kästen runde Bronzemedaillons mit

Abb. 17. Standuhr, Kat. Nr. 12

männlichen und weiblichen Köpfen. Zwischen den Schubkästen und an den Ecken über den Beinen in der Zarge ovale mit Blattwerk gefüllte Beschlagstücke. Tischplatte und Beine mit Bronzeprofilen eingefaßt. Der Aufsatz mit pavillonähnlichem Mittelteil und flachen Seitenstücken, deren Dachfläche auf drei Seiten von niedriger Bronzegalerie eingefaßt ist. Die seitliche Begrenzung der Schreibtischfläche wird 11

Fortch. u. Bcr. Bd. 17

l 6 l

von Balustraden mit Bronzebalustern gebildet. Die Vorderstücke der Kästen in den Seitenstücken des Aufsatzes, die sich auf Federdruck öffnen, sind von Perlstäben eingefaßt und mit zierlichem Blattwerkornament aus vergoldeter Bronze beschlagen. Der Mittelteil mit einer breiten gedrückten Bogenstellung, die von einer Rolljalousie verschlossen und von gekuppelten Halbsäulen flankiert wird. Die Säulen auf hohem Postament tragen ein schmales, aber vielfach gegliedertes Gebälk mit Triglyphen. Zahnschnitt usw. aus vergoldeter Bronze. Der abgetreppte Aufsatz öffnet sich auf Federdruck als Deckel eines flachen Kastens.

Abb. 18. Schreibtisch mit Aufsatz, Kat. Nr. 13

Furniere: Mahagoni, Macoree (Rolljalousie); Blindholz und im Innern verwendete massive Hölzer: Eiche, Mahagoni Maße: Höhe 76 cm, ohne Aufsatz, Breite 166 cm, Tiefe 90 cm Provenienz: Zur Ausstattung des Schlosses in Weimar gehörend, vermutlich von Herzog Karl August bzw. seiner Gemahlin erworben, jetzt ebenda Besitzer: Kunstsammlungen zu Weimar, Inv. Nr. L 387 14

Standuhr

Auf kastenförmigem, vorn vorspringendem Unterbau, mit rechteckiger Feldergliederung, schlankerer Uhrkasten mit zwei Halbsäulen an der Vorderfront. Schweres, vorn auf den Säulen ruhendes Gebälk, mit Aufsatz. A m Fries Triglyphen und Masken aus vergoldeter Bronze, die Konsolen am Gebälk, Basen, Kapitelle der Halbsäulen sowie das an der Vorderfläche des Unterbaus aufgesetzte Schmuckornament von Musikinstrumenten, aus dem gleichen Material. Zwischen den Säulen das emaillierte unbezeichnete und mit vergoldeter Bronze eingefaßte Zifferblatt, darunter ein durch Ringe gezogenes Tuchgehänge. Die Kanneluren der Säulen mit Messing ausgelegt. Auf dem Aufsatz eine in die Bronzeeinfassung eingeschnittene Fläche, die ursprünglich sicher eine vergoldete Bronzegruppe aufnahm.

162

Furniere: Maserahorn (gefärbt, außen und innen); Blindholz: Eiche Maße: Höhe 180 cm (ohne Aufsatz), Breite 71,5 cm, Tiefe 44 cm Bez. a. d. Uhrwerk: Roentgen & Kinzing ä Neuwied Provenienz: vgl. Kat. Nr. 13 Besitzer: Kunstsammlungen zu Weimar, Inv. Nr. N 937

Abb. 19. Standuhr, Kat. Nr. 14

15

Standuhr

. Abb. 20. Standuhr, Kat. Nr. 15

um 1790

Auf kastenförmigem Sockel ein etwa zurückgesetzter Uhrkasten mit zwei Dreiviertelsäulen an der Vorderfront. Über dem schweren und vielfach gegliederten, vorn auf den Säulen ruhenden Gebälk stufenförmiger Aufsatz. Darauf die bei Roentgen vielfach verwendete Bronzegruppe des sitzenden Apollo mit Leier. Obere Hälfte des Uhrkastens über einem Messingprofil etwas schlanker, in der Interkolumne das emaillierte Zifferblatt mit vergoldeter Bronzeeinfassung, darunter eine durch Ringe gezogene Blumengirlande und zwei Rosetten aus vergoldeter Bronze. Basen und korinthische Kapitelle der Säulen aus dem gleichen Material. Die Kanneluren der Säulen mit Messing ausgelegt. 11«

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Furniere: Maserahorn (außen gefärbt, Ahorn und Riegelahorn innen gefärbt); Blindholz: Eiche Maße: Höhe 187 cm (ohne Apollo), Breite 71 cm, Tiefe 62 cm Bez. a. d. Uhrwerk: Roentgen et Kinzing ä Neuwied Provenienz: Von Friedrich Wilhelm II. von Preußen zur Ausstattung der Königskammern des

Abb. 21. Tisch, Kat. Nr. 16

Berliner Schlosses bei Roentgen erworben, seit 1793 dort nachweisbar, zuletzt bis 1945 im Marmorpalais im Neuen Garten zu Potsdam Besitzer: Staatliche Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci als Dauerleihgabe im Kunstgewerbemuseum Berlin ausgestellt Literatur: Schmitz 1923, S. 39 (Abb.) — Huth, 1928, Kat. Nr. 58 rechts (Abb.) — Kat. d. Ausst. „Meisterwerke aus den preußischen Schlössern, Berlin 1930, Nr. 244 — Poensgen 1937, S. 20 (Abb.) 16

Tisch

um 1785/90

Auf vier schlanken, sich nach unten verjüngenden Beinen, deren Kanneluren mit Messing ausgelegt sind und die in Bronzeschuhen mit Rädern stecken. Die Längsfüllungen der flachen Zarge mit Perlstabeinfassung in der Mitte durch ein mit geriffeltem Messingblech ausgelegtes Rhombenfeld betont. Darüber eine an zwei Bronzeknöpfen herausziehbare Platte, wie sie auch an den Schmalseiten vorhanden ist. Die Ecken der Zarge sind durch Bronzerosetten und kurze Kanneluren betont. Das Tischblatt ist mit einer schmalen Bronzekante eingefaßt. Furnier: Mahagoni (gemasert); Blindholz und andere massive Hölzer: Kiefer, Mahagoni (Beine) Maße: Höhe 74 cm, Breite 99 cm, Tiefe 62,5 cm Provenienz: Von Frau J . Wenk in Neudietendorf 1905 durch das Kunstgewerbemuseum erworben Besitzer: Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin, Inv. Nr. 1905, 175

164

Wiederholungen im Museumsbesitz der D D R : Schloßmuseum Gotha, Schloß Friedenstein — Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur, Weimar, Wittumgspalais Literatur: Schmidt 1913, S. 212, Abb. 166 — Greber 1948, S. 1 3 1 , Abb. 88 — Schade 1966, S. 77, Abb. 57

Abb. 22. Standuhr, Kat. Nr. 17

17

Standuhr

1795

Auf niedrigem, vorn in der Mitte etwas vorspringendem Sockel ein sich an den Seiten nach oben verjüngender Uhr kästen mit rundem Metallzifferblatt in rechteckiger Bronzeeinfassung. In Fortsetzung des Vorsprungs am Sockel durchlaufende, mit Messing ausgelegte Kanneluren. Als Aufsätze vier kleine Stundengläser aus Palisanderholz und vergoldeter Bronze. Von der mittleren Bekrönung nur noch der Sockel vorhanden. Furniere: Maserahorn (gefärbt); Blindholz: Eiche Maße: Höhe 175,5 c m (ohne Sockel), Breite 54 cm, Tiefe 19,7 cm Bez. a. d. Zifferblatt: „Roentgen & Kinzing A N E U W I E D " Provenienz: vgl. Kat. Nr. 13 Besitzer: Kunstsammlungen zu Weimar, Inv. Nr. N 105/60 Wiederholungen im Museumsbesitz der D D R : Museum für Stadtgeschichte Leipzig, Altes Rathaus — Staatliches Museum Schwerin (2 Exemplare a. d. Schloß Ludwigslust)

165

Roentgen-Nachfolgc 18

Kommode

1791/94

D a v i d Hacker, Berlin Geradliniger Kommodenkörper mit zwei großen Schubladen, auf acht, sich nach unten verjüngenden Beinen mit Einlagen aus geriffeltem Messing und Bronzeschuhen. Eckpfosten mit durchlaufenden Kanneluren rahmen die optisch dreigeteilten Kastenvorderstücke, deren Füllungen v o n Perlstäben eingefaßt werden. Das Mittelfeld durch einen rhombenförmigen Rahmen aus geriffeltem Messing betont, in den seitlichen Füllungen der Vorderstücke je eine Handhabe aus vergoldeter Bronze, als Tuchfeston ausgebildet, i m Fries unter einem schmalen Lorbeerblattprofil Triglyphen im Wechsel

Abb. 23. K o m m o d e , Kat. Nr. 18

mit aufgesetzten Blättern aus vergoldeter Bronze. Dahinter drei durch Knopfdruck zu öffnende Fächer. Zwischen diesen Geheimfächern und an den Ecken sitzen im Fries ovale mit Blattwerk gefüllte Beschlagstücke aus vergoldeter Bronze. A n den Seitenflächen besonders tiefe, glatte, v o n schmalem Blattprofil gerahmte Füllungen. Die kostbare Steinplatte seit 1945 verschollen. Furnier: Mahagoni; Blindholz: Eiche, Kiefer, Erle (Kästen), Mahagoni (Geheimfächer) Alaße: Höhe 80 cm, Breite 157 cm, Tiefe 67,5 cm Provenienz: Für das Marmorpalais im Neuen Garten zu Potsdam angefertigt, bis 1945 ebenda, z. Z . Neues Palais von Sanssouci (Depot) Besitzer: Staatliche Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci, Inv.-Nr. I V 580 Ein Pendant ebenfalls z. Z. im Neuen Palais v o n Sanssouci deponiert Literatur: Schmitz 1920, Tafel 1 1 — Hetzer 1 9 2 1 , S. 29 — Poensgen 1937, S. 21 19

Kommode

1791/94

David Hacker, Berlin Vgl. die Beschreibung zu Kat. Nr. 18. — Die Mittelfelder der beiden großen Schubkästen weisen anstelle der rhombenförmigen Rahmen aus geriffeltem Messing rechteckige auf. Der obere ist mit einer Platte aus blau-weißem Wedgwood-Steinzeug gefüllt.

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Furnier und Blindholz: vgl. Kat.-Nr. 18 Maße: Höhe 80,5 cm, Breite 157,5 cm > Tiefe 74,5 cm Provenienz: vgl. Kat. Nr. 18 Besitzer: Staatliche Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci, Inv. Nr. IV 575 Ein Pendant ebenfalls z. Z. im Neuen Palais von Sanssouci deponiert Literatur: Schmitz 1920, Tafel 18 — Hetzer 1921, S. 30 — Ausstellung Berlin 1930, Nr. 239 — Poensgen 1937, S. 19

Abb. 24. Kommode, Kat. Nr. 19

20

S c h r e i b t i s c h mit A u f s a t z

um 1795

David Hacker (?), Berlin Schmale Zarge mit drei Schubkästen auf vier schlanken, sich nach unten verjüngenden Beinen, die in Bronzeschuhen stecken. Die Füllungen der Kastenvorderstücke in der Zarge und den flachen Seitenteilen des Aufsatzes mit Perlstabprofil aus vergoldeter Bronze gerahmt. Der höhere Mittelteil des Aufsatzes mit Jalousieverschluß zwischen Lisenen mit Kanneluren, die mit Messing ausgelegt sind. Den Abschluß der Lisenen bildet je eine Bronzerosette. Äußeres Dachprofil des Aufsatzmittelteils und die Schreibtischplatte mit glattem Bronzeprofil, Deckflächen des Mittelteils und der Seitenteile mit niedrigen Bronzegalerien eingefaßt, auf deren Eckpostamenten Bronzevasen stehen, die größeren am Mittelteil als Flammenvasen ausgebildet. Die seitlichen Kästen des Aufsatzes öffnen sich auf Federdruck. Furnier: Birnbaum; Blindholz: Fichte, Erle (Kästen), Birne und Mahagoni (Jalousie) Maße: Höhe 106,5 c f n ( m it Aufsatz), Breite 105 cm, Tiefe 65,5 cm Provenienz: Vor 1945 im Schlafzimmer der Königin Luise im Schloß Charlottenburg, jetzt Neues Palais von Sanssouci (Depot) Besitzer: Staatliche Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci Literatur: Schmitz 1923, Bd. III, S. 90

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Abb. 25. Schreibtisch mit Aufsatz, Kat, Nr. 20

Abb. 26. Kommode, Kat. Nr. 21

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1785 2i K o m m o d e Johann G. Fiedler, Berlin Schwerer Kommodenkörper auf vier köcherförmigen, kannelierten Füßen in blattkelchähnlichen Bronzeschuhen. Die Eckpfosten werden durch sich nach unten verjüngende Pilasterschäfte mit geriffelten Messingeinlagen, auf die am oberen Ende Bronzeranken aufgelegt sind, betont. Die quadratischen Postamente der Pilaster mit Bronzerosetten belegt, das Mittelbeschlagstück am unteren Querholz besteht aus einer kräftigen, durch eine Schleife zusammengebundenen Bronzegirlande, die über zwei Knäufe gelegt ist. Die Vorderstücke der beiden hohen Schubkästen tragen je ein hochovales, bronzegerahmtes Medaillon mit antiker Gestalt, je zwei Handhaben als Löwenköpfe mit Ringen ausgebildet und Füllungsrahmen aus geriffeltem Messing. Die Kästen werden durch ein Flechtbandprofil aus vergoldeter Bronze getrennt, das als Lorbeerstab ausgebildet auch den dritten, unter dem oberen Abschlußprofil sitzenden Kasten abgrenzt, dessen ganze Füllung mit geriffeltem Messing belegt ist; in der Mitte antikisierende Bronzevase als Schlüssellochbeschlag, flankiert von Blattwerk aus dem gleichen Material. Auf den Eckpfosten in dieser Zone ein Akanthusblattornament mit Perlstab auf geriffeltem Messinggrund. Seitenflächen mit erhabener Füllung mit Bronzerosetten an den ausgesparten Ecken. Die Mitte betont ein etwas größeres hochovales Medaillon. In Höhe des obersten Kastens schmale Füllung, mit geriffeltem Messing ausgelegt. Die Schubkästen laufen auf Bronzerollen in Schienen. Weiß-grau geäderte Marmorplatte. Furniere: Mahagoni, Macoree; Intarsien: Ahorn (verschieden gefärbt); Blindholz: Eiche, Erle (Rückwand) Maße: Höhe 89,5 cm (mit Platte), Breite 100 cm, Tiefe 53,5 cm Provenienz: 1926 aus Privatbesitz (Arnim-Criewen) angekauft Besitzer: Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin, Inv. Nr. 1926, 14 Ähnliche Exemplare in der Wallace-Collection London und im Schloß Loosdorf in Österreich Literatur: Franz Windisch-Graetz, Neues zum Schaffen des Berliner Hoftischlers Johann G. Fiedler, in: Alte und moderne Kunst, Österreichische Zeitschrift für Kunst, Kunsthandwerk und Wohnkultur, 6. Jg., 1961, S. 67—78 — Schade 1966, S. 77, Tafel 58 Für die Unterstützung bei der Identifizierung der Holzarten bin ich Herrn Restaurator Manfred Becker zu Dank verpflichtet. Schmidt 1913 Schmitz 1920 Hetzer 1921 Schmitz 1923 Huth 1928 Ausstellung Berlin 1930 Poensgen 1937 Greber 1948 Kat. Pillnitz 1967 Kat. Pillnitz 1973 Schade 1971 Himmelheber 1973

Abgekürzte Literatur Schmidt, Robert, Möbel, Berlin 1913 Schmitz, Hermann, Das Marmorpalais und das Schlößchen auf der Pfaueninsel, Berlin 1920 Hetzer, Theodor, Das Marmorpalais in Potsdam, Berlin 1921 Schmitz, Hermann, Deutsche Möbel des Klassizismus (Deutsche Möbel Bd. III), Stuttgart 1923 Huth, Hans, Abraham und David Roentgen und ihre Neuwieder Möbelwerkstatt, Berlin 1928 Meisterwerke aus den preußischen Schlössern, Ausstellung in der Preußischen Akademie der Künste, Berlin 1930 Poensgen, Georg, Das Marmorpalais und der Neue Garten in Potsdam, Berlin 1937 Greber, Josef M., David Roentgen, der königliche Kabinettmacher aus Neuwied, Neuwied 1948 Kunsthandwerk des 18. und 19. Jahrhunderts, Museum für Kunsthandwerk Dresden, 1967 erweiterte und veränderte Auflage des Kataloges von 1967 Schade, Günter, Deutsche Möbel, Leipzig 1971 Himmelheber, Georg, Die Kunst des deutschen Möbels Bandlll, Klassizismus/Historismus/Jugendstil, München 1973 169

EIN ROLLSCHREIBTISCH (BUREAU Ä CYLINDRE) VON JEAN-HENRI R I E S E N E R IM BERLINER KUNSTGEWERBEMUSEUM (Mit Tafel 13 — 17)

Burkhardt Gores

Der fortschreitende Ausbau des Schlosses Köpenick für die Sammlungen des Kunstgewerbemuseums ermöglichte es, daß nunmehr erstmals seit dem II. Weltkrieg für das französische Kunsthandwerk des 18. Jahrhunderts zwei eigene Räume zur Verfügung stehen. Wenn es auch nicht möglich ist, diesen Komplex der Sammlungen, entsprechend der Bedeutung des Materials, in der notwendigen Breite zu zeigen, wurde doch versucht, einen repräsentativen Querschnitt darin unterzubringen. Neben einem Bildteppich „Toilette der Psyche", nach einem Karton von François Boucher 1 , holzgeschnitzten Panneaux aus Versailles 2 , Teilen eines in Eichenholz getäfelten Salons im Stil Germain Boffrands 3 und Supraporten von Antoine Pesne 4 können Möbel von Léonard Boudin, Jacques Dubois, Joseph Feuerstein und Jean-Henri Riesener sowie eine Reihe nicht signierter Stücke vom frühen 18. Jahrhundert bis zum Ausgang desselben gezeigt werden. Im Rahmen der Einrichtung der beiden Ausstellungsräume konnte nunmehr auch ein bereits 1927 vom Kunstgewerbemuseum angekaufter Rollschreibtisch Jean-Henri Rieseners erstmals ausgestellt werden 5 . Vor dem II. Weltkrieg war er als „Doublette" in die Studiensammlung verbannt, da das Museum bereits ein ähnliches Stück des Meisters mit reicherem Bronzeschmuck in seinen Ausstellungssälen zeigte". Dieser 1901 aus dem Londoner Kunsthandel erworbene Schreibtisch soll der Überlieferung

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Aus der Folge „ D i e Geschichte der Psyche". Basselisse 500 X 480 cm. — Seidel, Paul, Französische Kunstwerke des 18. Jahrhunderts, im Besitz S. M. des Kaisers, Berlin 1900, Nr. 223 b. — Göbel, Heinrich, Wandteppiche, Leipzig 1928, Bd. II, 1 , S. 226. V o n Afldré-Charlemagne Charron in Beauvais nach 1741 geschaffenen Kartons von François Boucher gewirkt. Die Folge besteht aus fünf Teppichen, deren einzelne Stücke zwischen 1741 und 1770 mehr als siebenmal wiederholt worden sind. Die Berliner Psyche-Folge, die dritte Wiederholung, aus vier Teppichen bestehend, wurde 1764 vom König Friedrich II. von Preußen bestellt und 1766 geliefert. Sie ist seit der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts im Berliner Schloß nachweisbar. Heute drei Teppiche im Kunstgewerbemuseum Berlin, der vierte im Besitz der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Berlin (West). — Kat. Meisterwerke aus den Schlössern Friedrich des Großen, Berlin 1962, Nr. 143 (H. Börsch-Supan) Graul, Riebard, Dekoration und Mobiliar des 18. Jh., Berlin 1905, S. 42, Abb. 3, luv. Nr. 1895, 67 und 68. Zimmertäfelung (Eichenholz, geschnitzt, Spiegelrahmen vergoldet) aus dem Hotel de Silléry Paris, vor 1740, zusammen mit der dazugehörigen Stuckdecke 1903 für das Berliner Kunstgewerbemuseum erworben. Stuckdecke zerstört, Holzwerk im wesentlichen erhalten. Inv. Nr. 1903, 1 2 1 . — Graul, a. a. O., S. 39, Abb. 25, S. 40. Öl/Lwd. 1 1 2 X 124 cm, Grisaille, Inv. Nr. 1882, 1402 und 1403. — Berckenhagen, Ekhardt, Colombier, Pierre, Kühn, Margarete, Poeilsgen, Georg, Antoine Pesrie, Berlin 1958, Ouevre-Kat.-Nr. 465 und 466. Rollschreibtisch, Mahagonifurnier und teilweise Massiv, Blindholz Eiche, Beschläge aus feuervergoldeter Bronze, zwei Schlüssel. H. 140 cm, B. 160 cm, T. 90 cm. Inv. Nr. 1927, 13. Signiert. Ankauf von Hermann Ball, Berlin. — Berichte aus den Preußischen Kunstsammlungen, 48. J g . , Heft 4, 1927, S. 104 (Verzeichnis der Neuerwerbungen). Rollschreibtisch, Mahagonifurnier, Blindholz Eiche, Beschläge aus feuervergoldeter, ziselierter Bronze, vier Schlüssel. H. 132 cm, B. 163 cm, T. 82 cm. Inv. Nr. 1901, 227. Signiert. Ankauf 1901 bei Wertheimer in London. — Molinier, Emile und Migeon, Gaston, E'Exposition rétrospective de l'art décoratif Français, Paris 1900, Taf. 69. — Amtl.

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nach von König Ludwig X V I . von Frankreich bei Riesener gekauft und vor der Flucht nach Varennes 1792 vom König dem Grafen Lezay-Marnesia geschenkt worden sein7, der die Flucht der königlichen Familie vorbereitet hatte. Da das Möbel zu den Kriegsverlusten des Berliner Kunstgewerbemuseums gehört, aber nur einmal 1900 von Moünier und Migeon (vgl. Anm. 6) mit einer kurzen Beschreibung publiziert und von Ricci 1913 nur als Abbildung wiedergegeben wurde, soll es im Zusammenhang mit dem später erworbenen ähnlichen Typ noch einmal vorgestellt werden. Das kompakte Möbel mit Mahagonifurnier und reichen Bf schlagen aus feuervergoldeter, ziselierter Bronze besteht aus einem Schreibtisch und dem Aufsatz mit dem Rollverschluß. Der geradlinige, streng gegliederte Unterbau des Rollschreibtischs steht auf einem niedrigen, am oberen Abschluß profilierten Sockel. Die rechteckig zurückspringende Kniefreiheit nutzt nur die halbe Tiefe, da das Büro als freistehendes Möbel benutzt wurde und an der Rückseite in dieser Zone Kästen angeordnet sind. Das Bild der Vorderfront des Schreibtisches bestimmen je vier Schübe zu Seiten der Kniefreiheit. Die beiden unteren Schübe sind ohne trennenden Steg zusammengefaßt. Die glatten großen Füllungen der Seitenflächen und der Kniefreiheit werden durch einen Steg geteilt. Über der Kniefreiheit ist ein weiterer flacher Kasten angeordnet. Das auf dem rechteckigen Unterbau aufgesetzte Oberteil wird durch ein schmales Aufsatzstück mit eingelassener weißer Marmorplatte abgeschlossen. Die Vorderfront des Oberteils wölbt sich im Viertelkreis nach vorn herab. Sie wird durch die in den seitlichen Wangen laufende Rolljalousie gebildet, die die Schreibfläche abschließt. Diese kann bei Benutzung des Schreibtisches um etwa ein Drittel ihrer Tiefe herausgezogen werden. Im Innern des Oberteils sind unter den vier offenen Ablageflächen schmale Kästen angeordnet. Im zurückspringenden Profil des Aufsatzes ist unter der Deckplatte in der Mitte ein herausziehbares Lese- und Musikpult eingebaut, das von je einer Schublade flankiert wird. An der Rückseite des Büros kann eine Ablagefläche herausgezogen werden. Die rechte obere Schublade des Unterbaus besitzt einen geheimen Schließmechanismus. Bei geöffneter zweiter Schublade läßt sich ein im Querholz zwischen den beiden Kästen eingelassener Federknopf betätigen und die Schublade dann herausziehen. Die Bronzebeschläge des Möbels setzen am Unterbau nur sparsame Akzente: das Profil des niedrigen Sockels und die Einfassung der Deckplatte (Schreibplatte) des Unterteils. Schmale Profile mit Perlstab und Akanthusblattfries rahmen die Schubladen und die glatten Füllungen. An den seitlichen Kästen sind runde profilierte Schließbleche mit davor hängenden Zugringen angebracht. Die Mittelschublade ist mit einem kannelierten und mit Laubwerk gefüllten, von dem gleichen Profil eingefaßten Fries bekleidet. An den vier abgefasten Ecken hängen unterhalb der Schreibtischplatte kurze, gerade Lorbeergirlanden. Die glatten Füllungen der Seitenwangen des Oberteils rahmt außen und innen das gleiche Profil wie am Unterbau, und auf den abgefasten hinteren Ecken hängen Girlanden wie unterhalb der Schreibtischplatte. Die Rolljalousie ist ebenfalls von einem einfachen Bronzeprofil eingefaßt. Seitlich werden die viertelkreisförmigen Wangen von langgezogenem Akanthuslaub begleitet, das auf der Tischplatte in einem Kelch seinen Ursprung hat und aus dem auf beiden Seiten zwei stark geschwungene Leuchterarme mit je einer Tülle emporwachsen. Die Handhaben der Rolljalousie bilden je zwei zusammengebundene Füllhörner, den Schlüssellochbeschlag zwei Amoretten und Laubwerk. Das mit einer tiefen Hohlkehle nach oben zurückspringende Aufsatzstück mit glattem, kaum profilierten Bronzeeinfassungen an der Basis und dem oberen Abschluß zieren in der Kehle leicht geschwungene Lorbeergirlanden, und das Vorderstück des Lesepults trägt einen kannelierten, mit Laubwerk gefüllten Fries

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Berichte aus den Königlichen Kunstsammlungen, 23. Jg., 1901, Nr. 2, S. X X X V I . (Verzeichnis der Neuerwerbungen). — Ricci, Seymour de, Der Stil Louis X V I , Mobiliar und Raumkunst, Stuttgart 1 9 1 3 , Taf. 1 2 1 . 1942 nach Schloß Sophienhof in Mecklenburg evakuiert, seit 1945 verschollen, wahrscheinlich zerstört. Der Schreibtisch wurde 1873 von Strauss in Nancy vom Marquis de Lezay-Marnesiâ gekauft und ging dann durch den Kunsthandel von Léon Gauchet über Dreyfus-Gonzalez (1896 versteigert) und Leuwengard an Wertheimer, London.

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wie der Mittelkasten des Unterbaus. Eine nur nach vorn fast gan2 geöffnete niedrige Bronzegalerie bildet den oberen Abschluß des Möbels. Zum Rollschreibtisch gehören vier Schlüssel. Der Hauptschlüssel, in Eisen geschnitten und vergoldet, zeigt am Griff durchbrochenes Laubwerk, auf der einen Seite die Embleme des Krieges und auf der anderen die des Friedens. E r soll eine eigene Arbeit Ludwig X V I . sein8. Da die Überlieferung des Zusammenhangs dieses Möbels mit Ludwig X V I . doch Wahrscheinlichkeit besitzt, dürfte eine Datierung am ehesten gegen Ende der 8oer Jahre anzusetzen sein. Nach Graul 9 soll allerdings der reiche Bronzebeschlag dem Möbel erst nachträglich appliziert worden sein. Nach dem Übergang des Möbels in den Besitz des Museums hat man versucht, durch vorübergehende Entfernung eines Teils der Bronzen, ihm die vermutete ursprüngliche Schlichtheit für eine fotografische Aufnahme wiederzugeben (vgl. Tafel 13, 2). Folgt man Graul in seinen Überlegungen, könnte das Möbel die Bereicherung der Bronzebeschläge erfahren haben, nachdem der Verkauf an den König feststand. Andererseits kann der Rollschreibtisch auch eine Bestellung des Königs bei Riesener gewesen sein, und der Bronzeschmuck war mit allen Details so vorgesehen, möglicherweise bei den Leuchterarmen in Erinnerung an das „Bureau du R o i " 1 0 sogar vom Auftraggeber speziell gewünscht. Die Wiederverwendung von älteren Beschlagformen läßt sich auch an anderen Möbeln Rieseners nachweisen, besonders bei den verschiedenen abgewandelten Versionen des „Bureau du Roi". Eine ganze Reihe von Beschlagstücken des Berliner Rollschreibtisches tritt bereits an Möbeln seit 1760 auf. Die aus den Akanthusblättern herauswachsenden geschwungenen Leuchterarme finden wir in gleicher Form schon an einem um 1776 wahrscheinlich für Madame Adelaide angefertigten Rollschreibtisch, der eine vereinfachte Abwandlung des „Bureau du R o i " darstellt und an einem für den Comte de Provence geliefertes Zylinderbüro in frühklassizistischen Formen 1 1 . Den gleichen Leuchtern begegnen wir auch an einem Riesener zugeschriebenem Rollschreibtisch, der ebenfalls eine Version des „Bureau du R o i " darstellt und der möglicherweise identisch ist mit einem 1773 vielleicht für Madame Victoire gefertigten Tisch. Hinter dem Mittelteil des schmalen Bronzefrieses unter der Deckplatte sitzt ein herausziehbares Lese- oder Musikpult, wie es am Berliner Rollschreibtisch wiederkehrt 12 . Einige gleiche Bronzen fanden sich auch an einem 1905 im Besitz der Baronin Mathilde von Rothschild in Frankfurt/Main befindlichen Rollschreibtisch Rieseners 13 . Der 1927 aus dem Berliner Kunsthandel erworbene, bisher nicht publizierte Rollschreibtisch mit der Signatur Rieseners (vgl. Tafel 1 5 , 1 ) ist ebenfalls in die späten 80er Jahre zu datieren. Mit seinem hohen Aufsatz und durch kaum noch profilierte Übergänge sowie die glatten Füllungen der Türen und sonstigen Flächen wirkt das Möbel wesentlich strenger und schwerer als das vorher besprochene. Der Unterbau des Rollschreibtisches steht auf glattem geschlossenem Sockel und die Konstruktion wird auch in der äußeren Gliederung durch Betonung der Stützen und Querhölzer sichtbar. Die rechteckig eingeschnittene Kniefreiheit wird von zwei glatten Türen flankiert und von einem flachen Schubkasten abgeschlossen. An der rechten Seitenfront läßt sich eine Platte herausziehen. Die Rückseite birgt anstelle der Kniefreiheit drei nicht sehr tiefe Schubkästen, die ebenfalls von zwei schlanken Türen eingefaßt werden. 8

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Lt. Angabe des Versteigerungskataloges Dreyfus-Gonzalez, der auch die Schenkung des Möbels an den Grafen Lezay-Marnesiâ verzeichnet. Alle Schlüssel seit 1945 ebenfalls verschollen bzw. zerstört. Graul, a. a. O., S. 98. Das „Bureau du R o i " (Versailles) 1760 von Jean François Oeben (gest. 1763) begonnen, wurde von Jean-Henri Riesener vollendet und 1769 Ludwig X V . geliefert. Mit reicher Marketerie und üppigen Beschlägen aus feuervergoldeter ziselierter Bronze stellt es einen Höhepunkt in der Entwicklung des französischen Möbels dar. Beide Waddesdon Manor, Großbritannien, vgl. Les ébénistes du X V I I I e siècle français. Pierre Verlet, Paris 1963, Tafel 184, 2 und 188, 1. London, Buckingham Palast, Eigentum I. M. Königin Elisabeth II. von Großbritannien, vgl. F. J . B. Watson, Louis X V I Furniture, London i960, S. 1 1 6 , Taf. 65, 66. Graul, a. a. O., S. 98.

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Das Oberteil zerfällt in zwei Zonen, die sich nach vorn im Viertelkreis herabwölbende Vorderfront und den Aufsatz mit den numerierten, teilweise lederbezogenen vier Aktenkästen und einem offenen Mittelfach. Den oberen Abschluß über einem hölzernen Profil bildet die weiße graugeäderte Marmorplatte, in die eine niedrige Bronzegalerie eingelassen ist. Die Vorderfront des Oberteils wird von der in den seitlichen Wangen ruhenden Rolljalousie gebildet. Wenn sie geöffnet ist, kann die Schreibtischplatte um etwa ein Drittel ihrer Tiefe herausgezogen werden. Von den zahlreichen Fächern unterhalb der Rolljalousie sind sechs mit Aktenkästen gefüllt, deren Front mit Leder bezogen ist. Die Mitte nimmt ein großes, langgestrecktes offenes Fach ein, über dem sechs kleinere Fächer angeordnet sind. Die Aktenkästen haben sparsame goldgepreßte Bordüren. Der Beschlag des Möbels aus feuervergoldeter, ziselierter Bronze ist sparsam verteilt. Die Füllungen der Türen, der Seitenflächen des Unterbaus und der mittleren Zone sowie der Kästen sind von einem schmalen und flachen, in der Kehle gerippten Profil mit Perlstab an den Innenkanten gerahmt. Die Schublade über der Kniefreiheit trägt in ihrer Füllung einen durchbrochenen Fries mit Akanthuslaub, die Kästen der Rückfront einen Schlüssellochbeschlag, gebildet von Akanthuslaub, Girlanden und Greifenköpfen, wie er auch am Rollverschluß wiederkehrt. In vereinfachter Form, d. h. ohne Greifenköpfe und Girlanden, betont ein ähnlicher Beschlag auch die Mitte der großen Seitenfüllungen des Unterbaus. Beide Handhaben am Rollverschluß werden aus aufgerolltem Akanthuslaub gebildet. Die Schreibplatte ist an zwei Bronzeköpfen herauszuziehen. An den Aktenkästen und der seitlich herausziehbaren Platte finden wir ebenfalls einfache Bronzeknäufe. Die seitlichen und rückwärtigen Füllungen des Aufsatzes sind von Perlstäben eingefaßt. Die aus zierlichen Balustern gebildete, die Marmordeckplatte einfassende Bronzegalerie beschränkt sich an der Vorderfront nur auf zwei kurze Ansatzstücke. Die Handhaben am Rollverschluß kehren in der gleichen Form an einem Mahagonisekretär des Leipziger Museums des Kunsthandwerks wieder14. Beide hier besprochenen Rollschreibtische sind vom Typ keine eleganten Salonmöbel, an die man zunächst bei Nennung des Künstlernamens hätte denken können. Es sind schwer wirkende, kastenförmige Möbel, die als Vorgänger der großen Rollschreibtische in Banken und Geschäftshäusern um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert anzusehen sind. Dieauf Tafel 16,2 wiedergegebenemarketierteKommode mit dem Stempel Rieseners (vgl. Tafel 14,6) befindet sich seit 1895 im Besitz des Berliner Kunstgewerbemuseums und ist häufig publiziert worden15. Zu den seit dem II. Weltkrieg verschollenen Kunstwerken des Kunstgewerbemuseums gehört eine weitere, auf Tafel 17 wiedergegebene Mahagoni-Kommode Rieseners mit kräftigem Bronzebeschlag16. 14 15

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Graul, a. a. O . , A b b . 52, S. 98. K o m m o d e , Blindholz Eiche, Furniere mit Marketerie. H . 89 cm, B. 129,5 c m > T . 60,5 cm. Inv. Nr. 1895, 113. — A m t l . Berichte aus den Königlichen Kunstsammlungen, 17. Jg., 1896, N r . 2, S. X X X I I (Verzeichnis der Neuerwerbungen). — Graul, a. a. O . , S. 101, A b b . 53, S. 100. — Schmidt, Robert, D a s Möbel, Berlin 1913, S. 199, A b b . 152, S. 196. — Schmitz, Hermann, Das Möbelwerk, Berlin, o. J., Taf. 24. — Geschichte des Kunstgewerbes, Berlin 1935, Bd. V I , A b b . 128. — Schmidt, Robert, Das Möbel, Braunschweig 1953 (7. Aufl.), S. 238, A b b . 192. K o m m o d e , Blindholz Eiche, Mahagonifurnier und reicher Bronzebeschlag. Inv. Nr. 517, 1942 nach Schloß Sonnenwalde/Lausitz verlagert, seit 1945 verschollen.

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ÜBER HANS CHRISTIAN G E N E L L I UND S E I N E B E Z I E H U N G E N Z U M B E R L I N E R KULTUR- UND G E I S T E S L E B E N U M 1800 Zum 150. Todestag des Architekten und Gelehrten (Mit Tafel 1 8 - 2 2 )

Hans Ebert

Am 30. Dezember 1973 jährte sich zum 150. Male der Tag, an dem der in der deutschen Kunstund Kulturgeschichte nur wenig bekannte Architekt und Gelehrte Hans Christian Genelli in dem Dorf Alt-Madlitz bei Briesen in der Altmark unweit von Frankfurt a. d. O. verstarb. Als Sohn des Seidenstickers und Zeichners Johann Franz Joseph Genelli am 5. April 1763 in Kopenhagen geboren und Bruder des Landschaftsmalers Janus Genelli, des Kupferstechers Friedrich Genelli und Onkel des spätklassizistischen Zeichners Buonaventura Genelli1, entstammte er einer Künstlerfamilie, die väterlicherseits italienischen Ursprunges war. Mit seinen Eltern kam Hans Christian 1767 nach Wien, wo sein Vater im Dienste der Kaiserin Maria Theresia und als Mitglied der Akademie künstlerisch tätig war, bis er 1774 durch König Friedrich II. nach Berlin und Potsdam berufen wurde. Johann Franz Joseph Genelli starb 1792 in Berlin, als begabter Kunstperlensticker und seit 1786 Ehrenmitglied der Königlich Preußischen Akademie der Künste allgemein geschätzt2. Aus Briefen und Aufzeichnungen Hans Christian Genellis ist bekannt, daß er und seine Brüder Janus (geb. 1761) und Friedrich (geb. 1765) in ihrer Kindheit und frühen Jugend von ihrem Vater wohl mancherlei Anregungen erfahren haben, aber durch mangelnde schulische und künstlerische Ausbildung in ihren speziellen Neigungen kaum gefördert worden sind. Vor allem klagte Hans Christian Genelli später darüber, daß ihm, der von einem starken Drang nach wissenschaftlicher Erkenntnis erfüllt war, keine gelehrte Bildung zuteil geworden ist und er sich seine historischen, philosophischen, archäologischen, kunst- und kulturgeschichtlichen sowie fremdsprachlichen Kenntnisse auf autodidaktischem Wege mühsam aneignen mußte. In einem Brief an den bekannten Philologen Friedrich August Wolf schrieb Hans Christian Genelli am 14. Oktober 1818, als er bereits in Fachkreisen als guter Kenner der Altertumskunde und Verfasser geistvoller wissenschaftlicher Abhandlungen respektiert wurde, in übergroßer Bescheidenheit: „Mein Aufsatz (über die Entstehung des Griechischen Dramas, d. Verf.) ist für Ihre Anatecten nicht geeignet, wie diese überhaupt auf eine Stufe der Gelehrsamkeit gestellt sind, wo ich keinen Platz finden kann so wie ich gerüstet bin: Ohne allen Schulunterricht, also ohne systematische Ordnung in den wenigen Kenntnissen, die ich wie ein Zigeuner oder Hausirer gleichsam auf der Landstraße verstohlenerweise habe aufraffen müssen, unbekümmert, welchen Zusammenhang sie in meinem Kopfe gewinnen möchten, und eben so aller äußeren Hilfsmittel entbehrend"3. Diese schonungslose, seine tatsächlich doch erworbenen Kenntnisse beträchtlich unterbewertende 1

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Vgl. Hans Ebert, Uber Buonaventura Genelli und seinen Zyklus „Das Leben einer Hexe" in der Sammlung der Zeichnungen in: Forschungen und Berichte, Bd. 13, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 1971, S. 87 — 101, 6 Abb., Taf. 1 8 - 2 2 . Mitteilung über das Ableben Johann Franz Joseph Genellis, in: Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, Nr. 84, Sonnabends, den 14. Julius 1792. Vgl. Lionel von Donop, Buonaventura Genelli und die Seinen. Manuskr. in 9 Partien mit Ergänzungen von Werner Teupser. Geordnet, aufgearbeitet u. in Maschinenschrift erfaßt durch Hans Ebert, 1958, Kunsthist. Institut d. KarlMarx-Univers. Leipzig, III, fol. 218.

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Selbsteinschätzung des alten Hans Christian Genelli ist charakteristisch für sein in eigenen Belangen äußerst zurückhaltendes Wesen. Dadurch wurde ihm sein künstlerischer und wissenschaftlicher Werdegang, v o n den äußeren Lebensumständen ohnehin wenig begünstigt, wesentlich erschwert. Hinzu kommt noch die Tatsache, daß er v o n seiner Veranlagung her mehr zum reproduzierenden Schaffen im künstlerischen Bereich und zum theoretischen Analysieren in wissenschaftlichen Fragen neigte. Diese Aspekte müssen v o n vornherein berücksichtigt werden, wenn wir dem Leben und Wirken dieser zwischen Aufklärung und Klassizismus sich entwickelnden Künstler- und Gelehrtenpersönlichkeit gerecht werden wollen. Für Hans Christian und Janus Genelli ist wohl das Eintreffen des dänischen Malers Eriksen aus St. Petersburg um 1780 in Berlin v o n einiger Bedeutung gewesen. Denn er scheint sie mit dem Hofmaler Johann Christoph Frisch und dem Direktor der Akademie der Künste Blaise Nicolas L e Seur bekanntgemacht zu haben. Freilich ist Le Seur bereits 1783 verstorben. D o c h der Maler Frisch eröffnete ihnen Möglichkeiten, sich in Anatomie und Perspektive Grundwissen anzueignen. Janus Genelli hat sich dann bald der Landschaftsmalerei zugewandt und in diesem Genre im Zeitgeschmack anerkennenswerte Leistungen erzielt. Hans Christian Genelli aber, 1782 durch Le Seur in die Akademie aufgenommen, widmete sich mit Fleiß dem Architekturstudium. V o n der Sehnsucht nach dem Land der klassischen Kunst erfaßt, begab er sich mit seinem Bruder Janus und dem Landschaftsmaler Peter Ludwig Lütke, der später Lehrer an der Berliner Akademie wurde, im Jahre 1786 nach Italien. Ein Jahr vor Ihnen war bereits ihr gleichaltriger Freund Gottfried Schadow mit seiner Braut, der Juwelierstochter Marianne Devidels, vor einem Familienskandal flüchtend, in Rom eingetroffen 4 . Die Gebrüder Genelli hatten sich für ihre Reise mühsam 200 Thaler zusammengespart. Auf Antrag ihres Vaters wurde ihnen für die Jahre 1786/87 noch eine Beihilfe in Höhe v o n 100 Thalern durch den Kurator der Akademie, Minister Anton Freiherr von Heinitz, gewährt. Seinem Vorschlag, sich v o n Rom nach Bologna zu begeben, entsprachen sie aber nicht, obwohl sie die hohen Lebenshaltungskosten in der Kunstmetropole ohne eigene Erwerbsmöglichkeiten kaum bestreiten konnten. Denn hier mangelte es nicht an ausgebildeten Künstlern, die beim Verkauf v o n Werken v o r den noch Lernenden den Vorrang hatten. So blieb es nicht aus, daß die Gebrüder Genelli in ihrer mißlichen Lage, wie Asmus Jacob Carstens, den Unwillen des Ministers von Heinitz auf sich zogen. Sie bemühten sich aber, durch eifriges Studium und Einsendung v o n Arbeiten an die Akademie in Berlin, seine Gunst nicht gänzlich zu verlieren. Für Hans Christian Genelli war der römische Aufenthalt, trotz aller Entbehrungen und pekuniären Nöte, zweifellos ein Gewinn. Die Funde v o n Herculanum und Pompeji hatten gerade in jener Zeit die besondere Aufmerksamkeit auf die Kunst des Altertums gelenkt. Dieser gleichsam in der Luft liegende Enthusiasmus für die antike Kunst und Kultur beflügelte auch Hans Christian Genelli in seinem Streben, das Wesen der Architektur und Bildhauerkunst dieser Epoche, aber ebenso der Renaissance an den Quellen zu studieren. Dabei machte er sich die Auffassungen Johann Joachim Winckelmanns weitgehend zu eigen, dessen „Geschichte der Kunst des Altertums" 1764 erschienen war und großen Einfluß auf die sich in Richtung Klassizismus weiterentwickelnden Kunstauffassungen ausübte. Ferner waren für Hans Christians fachliche Meinungsbildung in diesen Jahren weitere Gelehrte und Künstler v o n besonderer Bedeutung. Seit 1784 war der hervorragende dänische Archäologe Zoega 5 , der sich um Thorvaldsen und Carstens in den folgenden Jahren sehr bemühte, in Rom ansässig. Als uneigennütziger Berater war er auch dem jungen Architekturstudenten Genelli behilflich. Johann Wolfgang v o n Goethe weilte v o n Oktober 1786 bis April 1788 in Rom und Sizilien und bewohnte eine Zeitlang mit dem Freund der Genellis, dem Maler Friedrich Bury, ein Haus im Corso gegenüber dem Palazzo Rondanini 6 . Vgl. Lotbar Brauner, Leben — Werk — Umwelt, in: Johann Gottfried Schadow, 1764—1850, Bildwerke und Zeichnungen, Ausstellungskatalog der Nationalgalerie, Berlin 1965, S. 62 u. 63. 6 Zoegas Leben. Sammlung seiner Briefe und Beurteilung seiner Werke durch Friedrich Gottlieb Welcker. 2 Bd. Stuttgart und Tübingen. Cotta 1819. ' Vgl. Hans Ebert (wie Anm. 1), S. 88. 1

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In seinem Entwurf einer Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts fand Goethe anerkennende Worte für den Maler Janus Genelli, und Friedrich Bury, der ihn porträtierte, schätzte er sehr. Natürlich blieben die Ausstrahlungen des Schaffens der Wegbereiter des Klassizismus in der Malerei, Anton Raphael Mengs und Jacques Louis David, nicht ohne Wirkung auf die Genellis. Bekanntlich hatte Davids berühmtes Gemälde „Der Schwur der Horatier" bei seiner ersten Zurschaustellung 1785 in Rom großes Aufsehen erregt und geradezu programmierend für den erwachenden Frühklassizismus gewirkt. Selbst der 1787 verstorbene Nebenbuhler von Anton Raphael Mengs, Pompeo G . Batoni, vermochte sich dem aufkommenden strengen Stil nicht völlig zu entziehen. Die beiden jungen, noch unerfahrenen Genellis standen, unbemittelt und unbekannt wie sie damals waren, freilich nur am Rande der in Rom wirkenden deutschen und ausländischen Künstlergruppen. Der mit Asmus Jacob Carstens 1781 nach Rom gewanderte Bildhauer Busch aus Mecklenburg-Schwerin, ebenfalls in kärglichen Verhältnissen lebend, machte die Genellis mit dem etwas kauzigen, aber begabten Maler und Dichter Friedrich Müller 7 (1749—1825) aus Kreuznach bekannt, der später geraume Zeit auch Hans Christian Genellis Neffen Buonaventura in Rom betreute. Müller, der daheim brave Tier- und Genreszenen gemalt und gezeichnet hatte, entfaltete sein ungestümes Temperament in Rom unter dem Einfluß der Werke des Titanen Michelangelo und drang mit seiner überschwenglichen Phantasie in die Welt des Teufels und der Hölle ein, was ihm den Spitznamen „Teufelsmüller" einbrachte. Seine dichterische Begabung überragte die malerische, so daß er unter den Vertretern der Sturm- und-Drang-Periode eine nicht unwesentliche Rolle spielte. In der Entstehungsgeschichte zu seiner Adonis-Dichtung erwähnt Müller die beiden Genellis mit den Worten: „ D e r erste, ein wackerer Landschafter, der andere ein unterrichteter Architekt, beide gebildete, von der Natur ausgezeichnete Männer . . . " . Über Hans Christian Genelli schreibt Müller weiter: „Das freie und gerade sich Geben von Johannes gewährt für den Umgang umso mehr Vergnügen, da er neben seiner natürlichen Heiterkeit zugleich ein scharf denkender Kopf war. Wir sahen uns daher fast täglich, am meisten aber in der Werkstatt des Bildhauers Busch aus MecklenburgSchwerin, die damals auf dem Barberinischen Platz unter meiner Wohnung sich befand. Da er neben seinen antiquarischen Kenntnissen in der Literatur und Geschichte bewandert war, so kamen wir über dergleichen Gegenstände öfter ins Gespräch und da mir seine Ansichten richtig, wie seine Urteile billig erschienen: so besprachen wir uns mit Nutzen und Vergnügen und fanden hierin die angenehmste Unterhaltung" 8 . Mit Gottfried Schadow waren die Gebrüder Genelli seit ihrer gemeinsamen Studienzeit an der Berliner Akademie befreundet. Schadow nahm zwei Porträtzeichnungen von Hans Christian Genellis Hand aus dem Jahre 1781, ein Selbstbildnis Hans Christians und das Bildnis Janus Genellis, in sein Familienalbum auf, das sich im Besitz der Sammlung der Zeichnungen der Staatlichen Museen zu Berlin befindet9 (Tafel 18). Als im September 1786 die Kunde vom Tode Friedrichs II. nach Rom drang, waren damals der Schweizer Bildhauer Alexander Trippel und der zeitweilig in seinem Atelier arbeitende Gottfried Schadow die ersten Künstler, die Entwürfe zu einem Denkmal Friedrichs I. gestalteten und an den Minister von Heinitz nach Berlin sandten. Von den beiden Entwürfen Schadows aus dem Jahre 1786 (er hat später noch mehrere gestaltet) wurde der zweite gemeinsam mit Hans Christian Genelli ausgeführt. Schadow lieferte die Zeichnung des Monuments, das als Mausoleum gedacht war, und Hans Christian Genelli fertigte hierzu den Grundriß, Aufriß und Durchschnitt an. Diese Zeichnungen wurden im Mai 1787 in der Akademie der 7 8

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Ebenda, S. 88 Vgl. Schreiben über die drei musikalischen ,Dramen: Adonis, die klagende Venus, Venus Urania. Eine Trilogie von Maler Müller in Rom. Mit vier Umrissen. Leipzig; bei Gerhard Fleischer, 1825, S. 161—228. Sammlung der Zeichnungen, Johann Gottfried Schadow, Nr. 72, Familienalbum, Fol. 15, Bl. 45 und 46. Vgl. Hans Mackowsky, Gottfried Schadows Familienalbum, in: Die Graphischen Künste, Wien 1909, X X X I I , S. 1 — 28 und Hans Mackowsky, Katalog der Zeichnungen in Gottfried Schadows Familienalbum, in: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst, Wien 1909, Nr. 1, S. 13 — 19. Das Album wurde 1938 für die Sammlung erworben und war zuletzt im Besitz von Frau Adelhaid Kaibel geb. Schadow.

12 Forsch, u. Ber. Bd. 17

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Künste zu Berlin ausgestellt 10 und fanden auch, wie aus einem Brief des Ministers von Heinitz an Hans Christian Genelli vom 9. Februar 1787 ersichtlich ist, „den einstimmigen Beyfall der Acadcmie" 1 1 . Doch ist allgemein bekannt, daß noch über 80 Entwürfe in den folgenden Jahrzehnten zu einem Denkmal Friedrichs II. vorgelegt wurden, bis schließlich Christian Daniel Rauchs Reitermonument zur Ausführung gelangte (Grundsteinlegung 1840, Enthüllung 1851) 1 2 . Als Asmus Jakob Carstens 1791 in Berlin ein Gipsmodell zu einem Reiterstandbild Friedrichs II. anfertigte, entwarf Hans Christian Genelli hierfür die Sockelgestaltung. In der Akademie-Ausstellung vom Mai 1791 wurde das Modell gezeigt und im Katalog ausdrücklich die Mitarbeit Genellis erwähnt. Außerdem wurde als Nachtrag in diesem Katalog ein Beitrag Hans Christian Genellis veröffentlicht, der die von Carstens und ihm beabsichtigte Art der Ausführung des Denkmals, seine Dimensionen

Abb. 1 . Hans Christian Genelli, Entwurf zu einem Triumphbogen, Oktober 1 8 1 3 . Vorderansicht, Feder, Sepia, laviert. Leipzig, Museum der bildenden Künste. Verz. Ebert, Nr. 16, Tab. B I

und gedachte Placierung unweit des Theaters unter den Linden eingehend erläutert 13 . Später fand das Modell, nachdem es dem Neffen des Architekten, dem künftigen Zeichner Buonaventura Genelli als willkommenes Spielzeug gedient hatte, ein unrühmliches Ende. Es wurde 1806 von im Hause Janus Genellis einquartierten französischen Soldaten schwarz angestrichen und geriet in Verfall 14 . 10

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Vgl. Verzeichniß derjenigen Kunstwerke, welche den 21. May 1787 . . . in den Zimmern der Königl. Preuß. Academie der Künste und mechanischen Wissenschaften, über dem Königl. Marstall, auf der Neustadt, zur öffentlichen Besichtigung ausgestellt sind. Berlin, gedruckt bey Christ. Sigism. Spener, S. 22, Nr. 212 und 213. Vgl. Ministerium der Geistlichen-, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten. Geistliche- und UnterrichtsAbtheilung. Archiv. I I I Abtheilung. 20. 1 9 1 . Ausführliche Darlegungen über die Denkmalsbewegung bieten die Publikationen: Andreas Sommer, Gedenkbuch, enthaltend: die Geschichte und Beschreibung des Friedrichs-Denkmals in Berlin . . . Berlin 1852 und Kurt Merkle, Das Denkmal König Friedrichs des Großen in Berlin. Aktenmäßige Geschichte und Beschreibung des Monuments. Berlin 1894. Vgl. den erwähnten Ausstellungskatalog der Kgl. Akademie der bildenden Künste und mechanischen Wissenschaften, Berlin 1 7 9 1 , S. 61—66. Vgl. Hermann Riegels Nachschriften zu dem von ihm 1867 in Hannover neu herausgegebenen und ergänzten Buch von K . L. Fernow „Carstens, Leben und Werke" (1806), S. 237—239.

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In diesem Zusammenhang möchte der Verfasser nicht unerwähnt lassen, daß er bei der Bearbeitung des Nachlasses Buonaventura Genelli an der Karl-Marx-Universität Leipzig 15 im Jahre 1958 auch 95 Architekturzeichnungen und Risse Hans Christian Genellis zu Gesicht bekam, die von ihm noch im Detail analysiert werden müssen. Es handelt sich um sorgfältig mit Feder ausgeführte, zum Teil auch getönte und mit Kommentaren versehene Entwürfe zu verschiedenen Bauwerken, Denkmalen, Architekturteilen im Stil der Antike oder Renaissance16. Die meisten Blätter sind signiert und datiert und stammen in der überwiegenden Zahl aus den Jahren 1812 bis 1823. Darunter befinden sich u. a. neun Zeichnungen, die sich mit der Gestaltung des „Grabmals einer Königin" beschäftigen und 1823, wenige Monate vor Hans Christian Genellis Tod, entstanden sind. Der im Sockelgeschoß eines Rund-

Abb. 2. Hans Christian Genelli, Entwurf zu einem Triumphbogen, Oktober 1813. Rückansicht. Feder, Sepia, laviert. Leipzig, Museum der bildenden Künste. Verz. Ebert, Nr. 17, Tab. B II

tempels untergebrachte Sarkophag mit der ruhenden Königin ist eindeutig von Christian Daniel Rauchs berühmtem plastischem Werk, das die 1810 verstorbene Königin Luise schlummernd darstellt, weitgehend übernommen worden. Vermutlich ging es Genelli bei diesen, wie bei vielen seiner Entwürfe nur darum, bestimmte Vorstellungen und Ideen, wie eben hier zur Gestaltung eines Rundtempels als Grabmal, zeichnerisch anschaulich zu machen17. Vielleicht wollte Genelli aber auch bewußt demonstrieren, wie er das Mausoleum im Schloßpark Charlottenburg zu Berlin für die Königin Luise ausgeführt hätte. Dieses Grufthaus ist bekanntlich nach Plänen und Rissen von Hofbaumeister Heinrich Gentz in der Art eines griechischen Vorhallentempels errichtet worden, während Karl Friedrich Schinkels romantischer Plan zu einem weihevollen Kapellenbau nicht verwirklicht wurde18. Auch Hans Christian Genellis Entwurf trägt phantasievoll-romantische Züge (Tafel 19, Abb. 1 u. 2). 15 16

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Vgl. Hans Ebert, Buonaventura Genelli, Leben und Werk, Weimar 1971, Vorwort S. 5—7. Diese 95 Architekturzeichnungen von Hans Christian Genelli, die sich beim Genelli-Nachlaß im Kunsthistorischen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig befunden haben, werden seit i960 in der Graphischen Sammlung des Museums der bildenden Künste zu Leipzig aufbewahrt. (Hierzu Abb. 1 — 6 im Text u. Tafel 19 u. 21). Im vorläufigen Verzeichnis des Verfassers Nr. 70—78, Federrißzeichnungen, stellenweise getönt, vom Künstler voll signiert und datiert mit „gezeichnet im Martius 1823 von Hans Christian Genelli" und mit Kommentaren versehen, die Blätter bezeichnet von S Tab. I bis S Tab. VIII. Vgl. Paul Ortwin Rave, Das Mausoleum zu Charlottenburg. Berlin 1971, S. 3—8.

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Abb. 3. Hans Christian Genelli, Hoher Turm mit Rundpavillon, 1814. Feder, Tusche, Wasserfarben. Leipzig, Museum der bildenden Künste. Verz. Ebert, Nr. 20, Tab. C III

Strenger im klassizistischen Stile gehalten sind zwei Sockelentwürfe Hans Christian Genellis zu einem Denkmal Friedrichs II., das höchstwahrscheinlich durch einen Obelisk oder eine Säule gekrönt werden sollte. Die beiden grau lavierten Federrisse zeigen auf der Vorderseite des Denkmalsockels den preußischen Adler, Lorbeerkranz, Zepter und Krone und das königlich-preußische Wappen mit den Schildhalterfiguren, den sogenannten „wilden Männern", auf der Rückseite in der Mitte stehend die Göttin Athene mit Helm, Lanze, Schild und Eule, rechts und links davon Trophäen mit den Wappenschildern Rußlands, Schwedens, Österreichs und Frankreichs (v. 1. n. r.) und darunter zwei sitzende allegorische Männergestalten, Kränze auf den greisenhaften Häuptern tragend. Aus den lateinischen Sockelaufschriften ist ersichtlich, daß der Architekt Hans Christian Genelli die Entwürfe um 1800 für die Errichtung eines Denkmals Friedrichs II., gestiftet von Friedrich Wilhelm III., ge-

zeichnet hat. Der einschlägigen Literatur ist nicht zu entnehmen, ob diese Entwürfe jemals öffentlich zur Diskussion gestellt worden sind 19 (Tafel 19, Abb. 3 u. 4). Ausgehend von dem gemeinsam mit Gottfried Schadow 1786 in Rom gestalteten Entwurf zu einem Denkmal Friedrichs II. sind wir dem weiteren Werdegang Hans Christian Genellis vorausgeeilt. Im Sommer 1789 kehrte der Künstler mit seinem Bruder Janus, der in Rom schwer erkrankt war, über Florenz und Nürnberg nach Berlin zurück. Minister von Heinitz hatte ihnen nur 50 Thaler für die Heimreise als Beihilfe bewilligt, denn er war erbost darüber, daß die Brüder Genelli in Rom Schulden gemacht hatten. Während der erst 24jährige Gottfried Schadow bereits 1788 ordentliches Mitglied der Akademie und Leiter der Hofbildhauerwerkstatt in Berlin wurde, hatte Hans Christian Genelli einen viel weniger günstigen Start in seiner Vaterstadt. E r zeigte im September 1789 in der AkademieAusstellung einige getuschte architektonische Zeichnungen von verschiedenen römischen Gebäuden

Abb. 4. Hans Christian Genelli, Landhaus in Vorderansicht, 1821. Feder, Tuschc, Wasserfarben. Leipzig, Museum der bildenden Künste. Verz. Ebert, Nr. 62, Tab. I V

und wurde daraufhin dem Kgl. Oberhofbauamt als Mitarbeiter empfohlen, fand jedoch keine Anstellung. Schließlich gewährte ihm die Kgl. Porzellan-Manufaktur eine Teilbeschäftigung als Entwerfer von Tafelaufsätzen und anderen Modellen, wofür monatlich 20 Thaler Honorar gezahlt wurden. Da Hans Christian Genelli von den kleinen Einnahmen nicht leben konnte, richtete er am 28. Januar 1792 an Minister von Heinitz ein Gesuch um dauernde Anstellung bei der Porzellan-Manufaktur mit fester Besoldung 20 . Von Heinitz stimmte zu und bewilligte ein Jahresgehalt von 300 Thalern unter der Bedingung, daß Genelli nicht nur Entwürfe zu Porzellanen schaffe, sondern auch die Aufsicht über Bau- und Reparaturarbeiten bei der Manufaktur und bei der Münze übernähme. Am 29. März 1792 legte Genelli seinen Diensteid ab, am 1. April trat er sein Amt an. In der Akademie-Ausstellung von 1800 wurde ein von ihm entworfener Tafelaufsatz gezeigt, der Zeus als Richter über Götter und 19

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A m 2. November 1800 ließ König Friedrich Wilhelm III., drei Jahre nach Friedrich Wilhelms II. Tod ein Rescript an Staatsminister Freiherr von Heinitz und Generalmajor von Tempelhoff ergehen, in dem er sie aufforderte, neue Pläne und Vorschläge für ein Denkmal Friedrichs II. erarbeiten zu lassen. (Vgl. hierzu A . Sommer, a. a. O., S. 39—40 und K . Merckle, a. a. O., S. 76—78.) Möglicherweise wurde Hans Christian Genelli dadurch angeregt, die hier erwähnten Sockelentwürfe zu zeichnen, die ohne Signatur auf einem Blatt ausgeführt worden sind. Im vorläufigen Verzeichnis des Verfassers hat das Blatt die Nummer 83. Vgl. Acta: Die Anstellung des Architecten Christian Genelli bei dem Bau- und Betriebsfach in der Kgl. PorzellanManufactur betreff. 1792, 1793 (wie Anm. 3: III, fol. 20).

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Abb. 5. Hans Christian Genelli, Portal zu einem Gartenhaus, 1822. Feder, Tusche (Riß). Leipzig, Museum der bildenden Künste. Verz. Ebert, Nr. 65, Tab. I I

Menschen darstellte, ausgeführt von Modellmeister Riese 21 . Die Zeichnungen zu einem großen Tafelservice für die Kaiserin Josephine, das 1807 hergestellt wurde, bezeichnete Gottfried Schadow „als das Schönste, was in diesem Fache ist erdacht worden" 22 . An anderer Stelle erging sich aber Schadow in scharfen Äußerungen über die angebliche „Trägheit und böse Zunge" Hans Christian Genellis 23 . Tatsache ist, daß Genelli ein kritischer Geist war, dessen Urteile über Schwächen und schlechte Verhaltensweisen von Zeitgenossen gefürchtet waren. E r hat sich dadurch, ähnlich wie sein Neffe Buonaventura Genelli, vieles im Leben verscherzt. Er hatte auch nicht die Veranlagung, eine administrative Funktion als Staatsbeamter mit Ausdauer wahrzunehmen. So behielt Genelli zwar sein Amt 21

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Beschreibung derjenigen Kunstwerke, welche von der Kgl. Akademie der bildenden Künste und mechanischen Wissenschaften in den Zimmern der Akademie den 15. September ausgestellt sind, Berlin 1800. Gedruckt bei Johann Friedrich Unger, S. 85. Gottfried Schadow, Kunst-Werke und Kunstansichten. Berlin 1849, S. X V I I . Ebenda, S. X I .

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an der Porzellan-Manufaktur von 1791 bis zu seinem Tode, beschränkte sich aber während seines Aufenthaltes in Madlitz, den wir noch zu besprechen haben, ab 1800 auf die Sendung von Entwurfszeichnungen. Hans Christian Genelli wurde am 10. November 1792 zum außerordentlichen Mitglied und am 27. Januar 1795 zum ordentlichen Mitglied der Kgl. Akademie der Künste zu Berlin berufen. In dieser Eigenschaft verfaßte er 1798 eine bemerkenswerte Denkschrift mit Vorschlägen zur Ver-

Abb. 6. Hans Christian Genelli, Seitenansicht des Gartenhauses, 1822. Feder, Tusche, Wasserfarben. Leipzig, Museum der bildenden Künste. Verz. Ebert, Nr. 66, Tab. III

besserung der Arbeit und Wirksamkeit der Akademie unter dem Titel „Idee einer Akademie der bildenden Künste" 2 4 . Genelli verweist auf die Gründung anderer Akademien, die zumeist den Verfall der Künste einleiteten, weil einseitig bestimmte Stilrichtungen gefördert und konventionelle Manieren sanktioniert wurden. E r nennt drei Schwerpunktaufgaben der Akademie: tüchtige Meister hervorzubringen, den Geschmack des Publikums zu bilden, zu läutern und zu pflegen und auch die Kunstindustrie, „die Handwerke, welche auf Schönheit der Form in ihren Produktionen Anspruch erheben" zu unterstützen. Mit diesen fortschrittlichen Ansichten war Genelli vielen seiner Zeitgenossen ein beträchtliches Stück voraus. E r verfaßte ferner als Mitglied des akademischen Senats 1799—1806 mehrere Gutachten, Kritiken und Rezensionen von Büchern, wobei ihm auch die undankbare Aufgabe zufiel, ein von der Jury abgelehntes Gemälde des Akademiedirektors Meil, das das königliche Ehepaar darstellte, zu beurteilen. Genelli hatte den Mut, das Bild als ein Machwerk zu kritisieren, das eines Akademiedirektors nicht 24

Vgl. Idee einer Akademie der bildenden Künste. — Ein akademischer Diskurs von Architekt Hans Christian Genelli vom Senate der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1798. Im Druck erschien die Schrift 1800 bei Vieweg in Braunschweig.

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würdig sei. Man kann sich vorstellen, welche unliebsame Auswirkungen derartige freimütige Äußerungen für den Verfasser hatten. Hans Christian Genelli begann in diesen Jahren, einen spürbaren Einfluß auf das Berliner Kunstleben auszuüben. Als Freund und Förderer des im Herbst 1788 in Berlin eingetroffenen schleswigholsteinischen Künstlers Asmus Jakob Carstens hat Genelli nicht unwesentlich auf die Herausbildung des zeichnerischen Klassizismus eingewirkt. Carstens wurde zu dessem markantesten Vertreter in der deutschen Kunstgeschichte. In seiner Rötelzeichnung von 1791 „Sokrates im Korbe an der Decke schwebend und den Bauer Strepsiades belehrend" (Tafel 20, Abb. 1) nach Aristophanes' Komödie „Die Wolken" hat Carstens dem Kopf des Strepsiades die Züge Hans Christian Geneüis gegeben25. Als Carstens schon in Rom tätig war, schrieb ihm Genelli angesichts der in Berlin ausgestellten Aquarelle von Carstens „Die Überfahrt des Megapenthes", „Die Helden im Zelt des Achill" und „Achill bei Priamos" die verheißungsvollen Worte: „Du hast den Anfang gemacht und dem sicheren Eigendünkel einen so gewaltigen Stoß versetzt, daß ich im Ernst glaube, es sei Dir möglich ... zum Gedeihen der Kunst eine wohltätige Revolution zu bewirken"26. Der mit Carstens in Rom bekannt gewordene Maler Johann Erdmann Hummel trat bald nach seinem Eintreffen in Berlin in freundschaftliche Beziehung zu Hans Christian Genelli und dessen Bruder Janus. In seinem bekannten Gemälde „Die Schachpartie" von 1818/19 stellte er links vorn Hans Christian Genelli stehend dar neben Hirt, Graf Ingenheim, Hummel, Bury und Graf Brandenburg27. Wir zeigen die KonstruktionsStudie zu diesem Bild (Tafel 20, Abb. 2). Wie Erdmann Hummel wurde auch der Maler Friedrich Bury, der bereits Hans Christian und Janus Genelüs Bekanntschaft gemacht hatte, ein treuer Freund und Helfer der Familie Genelli in Berlin. Hummel und Bury förderten später Hans Christians Neffen Buonaventura und standen der Witwe des früh verstorbenen Janus Genelli und ihren drei Söhnen hilfreich bei. Seine besonderen Verdienste erwarb sich Hummel weniger als Maler, sondern durch Ausbildung und Anregung anderer. In dieser Beziehung ähnelte er Hans Christian Genelli, der auch mehr theoretisch wirksam wurde. Eine Zeitlang verkehrte Hans Christian Genelli im Salon der Rahel Varnhagen, wo er mit geistig ebenbürtigen Persönlichkeiten Gedankenaustausch pflegen konnte über Fragen der Philosophie, Kunst und Wissenschaft. In Varnhagen von Enses Buch „Galerie von Bildnissen aus Raheis Umgang und Briefwechsel" wird Hans Christian Genelli ein gebührender Platz eingeräumt. Varnhagen bezeichnete Hans Christian Genelli „genial bis zum Dämonischen, von einer gewaltsamen, in jungen Jahren flotten Liebenswürdigkeit, voll weichster Gutmütigkeit gegen Übereinstimmende, unbarmherzig gegen Eitelkeit, Leerheit und Schwäche"28. Als um 1800 der Bau eines neuen Theatergebäudes in Erwägung gezogen wurde, beteiligte sich Genelli an der Diskussion und reichte auch Vorschläge bei König Friedrich Wilhelm III. ein, die aber abschlägig beschieden wurden. Das Vorhaben kam dann ohnehin wegen der immer bedenklicher werdenden Lage des Staatshaushaltes nicht zustande. Solche negativen Erfahrungen und die beamtenmäßige Angebundenheit in der Porzellan-Manufaktur ließen in Genelli Gefühle des Unbefriedigtseins immer stärker werden. Er fand nicht den ihm adäquaten Wirkungskreis in Berlin und wird deshalb die im Februar 1800 angeknüpften Beziehungen zu dem literarisch interessierten und vielseitig gebildeten Grafen Fink von Finckstein29 nicht ohne Absicht so intensiv gepflegt haben. 25

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Den Bleistiftentwurf (23,8 X 13,2 cm) zu der in den Kunstsammlungen zu Weimar befindlichen Rötelzeichnung bewahrt die Sammlung der Zeichnungen der Staatlichen Museen zu Berlin auf: Nr. 24. Vgl. auch Alfred Kamphausen, Asmus Jakob Carstens. Neumünster in Holstein 1941, S. 1 2 2 — 1 2 3 , Abb. 46 und Tafel 8 sowie Hermann Riegel/K. L . Fernow, a. a. O., S. 361. Vgl. Hermann Riegel/K. L . Fernow, a. a. O., S. 132. Vgl. GeorgHummel, Der Maler Erdmann Hummel, Leben und Werk. Leipzig 1954, S. 38, Abb. 45. Die Sammlung der Zeichnungen der Staatlichen Museen zu Berlin besitzt die Konstruktionsstudie zu dem in Hannover, Landesmuseum befindlichen Gemälde. Vgl. Varnhagen von Ense, Galerie von Bildnissen aus Raheis Umgang und Briefwechsel. Leipzig 1836, S. 185—204. Reichsgraf Friedrich Ludwig Carl Fink von Finckenstein, Sohn des preußischen Kabinettsministers Carl Wilhelm Reichsgrafen Fink von Finckenstein, geboren am 18. Februar 1745 in Stockholm, studierte in Halle Jura, wurde Kammergerichtsrat, danach geh. Justizrat in Berlin, 1775 zweiter Regierungspräsident in Stettin und 1777 Regie-

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Der von König Friedrich II. als Regierungspräsident in Küstrin 1779 abgesetzte Graf Fink von Finckenstein hatte sich auf sein Gut in Alt-Madlitz bei Briesen in der Mark zurückgezogen und beschäftigte sich dort mit literarischen Studien, Übersetzungen und Versuchen an eigener schriftstellerischer Arbeit30. Er verfolgte die kulturelle Entwicklung in Deutschland mit größtem Interesse und zollte Goethes Schaffen seine besondere Hochachtung. Den romantischen Dichter Ludwig Tieck hatte der Graf mehrfach zu Gast in seinem Haus, wo dieser aus Shakespeares Werken rezitierte. Henriette von Finckenstein, eine Tochter des Grafen, wurde später Tiecks Lebensgefährtin und folgte ihm auch nach Dresden. Hans Christian Genelli scheint seit 1801 seinen ständigen Wohnsitz bei der Familie des Grafen von Finckenstein genommen zu haben. Jedenfalls wird er nun in den Jahrgängen des Berliner Wohnungsanzeigers stets als „außerhalb" genannt. Bis 1800 wohnte er Hinter der Katholischen Kirche Nr. 2 31 . In der ländlichen Abgeschiedenheit von Madlitz distanzierte sich der im Grunde seines Herzens enttäuschte und gekränkte Hans Christian Genelli von den Intrigien und lähmenden Reibereien in der Hauptstadt, fand er sein inneres Gleichgewicht wieder zu geistiger und künstlerischer Arbeit nach eigenem Verlangen. Er hatte eingesehen, daß für ihn kein Fortkommen im preußischen Staatsdienst zu erhoffen war. Im Kreise der gebildeten Familie des Grafen fühlte er sich geborgen, qualifizierte er sich fortan auf autodidaktischem Wege zu einem Privatgelehrten von beachtlichem Horizont. Obwohl das Dorf Alt-Madlitz und das Rittergut der Familie von Finckenstein landschaftlich keine allzu vorteilhafte Lage hatte, verstanden es doch die Besitzer, der nächsten Umgebung im Verlaufe von Jahrzehnten eine reizvolle Gestaltung in der Art eines englischen Parks zu geben, der mit Einsiedeleien, tempelartigen Hallen, Winzerhäuschen, Hirtenhütten, Panshermen und einem von Hans Christian Genelli entworfenen Monopteros (Tafel 21, Abb. 1) ausgestattet wurde und jener fast rührseligen Empfindsamkeit des späten 18. Jahrhunderts entsprach. Damals entstanden die Park- und Gartenanlagen in Wörlitz, Ludwigslust, Seifersdorf, Machern und anderswo, von denen Renate Krüger schreibt: „In den großen und kleinen Parkanlagen, mit denen seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Schlösser, Villen, Gutshäuser umgeben und wobei ältere Anlagen oft in starkem Maße umgestaltet wurden, sind die Strömungen der Zeit wohl am klarsten faßbar, prägt sich das neue Natur- und Weltgefühl am stärksten aus. Der Empfindsame betrachtet die Natur als vertrautes, ja heiliges Gegenüber und wollte sie so gestaltet sehen, daß diese Beziehung auch optisch faßbar wurde" 32 . In einem Brief des Dichters Ludwig Tieck vom 25. Mai 1803 an den Grafen von Finckenstein werden diese Feststellungen am Madlitzer Beispiel bestätigt: „Ich und meine Frau sprechen noch immer von dem schönen Aufenthalt in Madlitz, und von den herrlichen Tagen, die wir dort genossen haben ... Das Gemüth muß schon beruhigt sein, um diese liebliche Ruhe zu fühlen und zu verstehen, die jeden Busch und Baum umschwebt. Das eben scheint mir das Erquickliche dieser köstlichen Labyrinthe, daß sie uns einladen, immer weiter zu gehen, daß wir gelockt werden, ohne es zu wissen, daß keine Neugier uns fortzieht, die endlich nur ermüdet: sondern das Ganze ist nur wie eine stille Entfaltung des eigenen Gemüthes, wie ein Traum in einer schönen Gegend, in welchem man diese Gegend noch schöner wiedersieht" 33 . rungspräsident in Küstrin, wo er im Verlaufe des sogenannten Arnoldschen Prozesses bei König Friedrich II. in Ungnade fiel und 1779 entlassen wurde.

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(Vgl. hierzu Hans Christian Genelli über Finckenstein, in: Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen Nr. 55, Donnerstag, den 7. Mai 1 8 1 8 und Allgemeine Deutsche Biographie, 7. Bd., S. 21 — 22.) V g l . Ewald Christian von Kleists Frühling. Kritisch bearbeitet (von dem Herrn Grafen Friedrich Ludwig Karl von Finckenstein). Berlin 1804.

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V g l . Adres-Calender der Königlich-Preußischen Haupt- und Residentz-Stadt Berlin, 1800: Hr. Johann Christ. Genelli, Architect wohnt Hinter der Katholischen Kirche Nr. 2.

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V g l . Renate Krüger, Das Zeitalter der Empfindsamkeit. Kunst und Kultur des späten 18. Jahrhunderts in Deutschland. Leipzig 1973, S. 56. V g l . Verzeichnis der Originalbriefe, Urkunden, Tagebücher und Druckschriften, die sich beim Genelli-Material v. Donop—Teupser befinden, bearbeitet von Hans Ebert 1958, D/77, S. 3 1 , Kunsthistorisches Institut der KarlMarx-Universität Leipzig. (Die Originalbriefe befinden sich jetzt in der Autographensammlung der Karl-MarxUniversität Leipzig — lt. freundlicher Auskunft von Herrn Dipl.-phil. Rainer Behrends.)

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Ludwig Tieck schrieb diesen Brief im Edelhof zu Ziebingen, einem am rechten Oderufer unweit von Kunersdorf gelegenen Herrensitz des Grafen Wilhelm von Burgsdorff, der das Anwesen an seinen Onkel, den Grafen von Finckenstein verkaufte. Burgsdorff war 1797 mit Friedrich Gilly und den beiden Humboldts in Paris. Er beauftragte Hans Christian Genelli mit der Projektierung und Ausführung seines Edelhofes, die wohl noch vor 1800 beendet wurde. Das Bauwerk, eines der wenigen, das nach Plänen Genellis fertiggestellt wurde und später viele ungünstige Veränderungen erfuhr, zeigte des Künstlers Hang zum antikisierenden Stil und sein besonderes Interesse für Villenbauten der Renaissance in Italien. Es hatte im Äußeren eine strenge Gliederung mit Mittelbau und Seiten-' flügeln und gut proportionierte Räume im Innern, wobei eine Rotunde mit Kuppelwölbung den Schwerpunkt bildete. Das Verhältnis Genellis zu dem jungen Bauherrn scheint nicht das beste gewesen zu sein, denn in einem Brief vom Dezember 1798 an Rahel Varnhagen bezeichnet er v. Burgsdorff als einen „armen Teufel", der seine „Leerheit" fühlt und für den er nicht gerne arbeite, weil er sich damit „Zeit und Geld und die gute Laune vergeude" 34 . Desto inniger waren Genellis Bindungen zum Grafen von Finckenstein und vor allem zu seiner für Kunst und Kultur aufgeschlossenen Tochter Caroline (geb. 1776). Varnhagen von Ense glaubte an eine geheime eheliche Verbindung der beiden35. Doch scheint es sich mehr um eine „Seelenehe von Romantikern" gehandelt zu haben, wie Max Jordan sich darüber äußerte, die wegen konventioneller Vorurteile und Standesgrenzen einer Heirat und körperlichen Vereinigung bewußt entsagten. Zweieinhalb Jahrzehnte verbrachte Hans Christian Genelli in dem schlichten Herrenhaus zu Madlitz, das Georg Piltz im Hinblick auf andere Bauten dieser Art folgendermaßen charakterisiert: „Das schönste Haus steht in Alt-Madlitz, einem abgelegenen Dorf nördlich der Autobahn, die Berlin mit Frankfurt a. d. Oder verbindet. Obwohl es im Gegensatz zu anderen Bauten drei Stockwerke besitzt, folgt es im Grundriß dem üblichen Schema. Die Gliederung der beiden Fronten mutet auf den ersten Blick fast langweilig an. Die Formen bleiben in der Fläche, die schmalen Pilaster zu Seiten der Portale wirken beinahe wie Verlegenheitslösungen. Doch je länger man die Gliederung betrachtet, desto deutlicher erkennt man, daß das scheinbar Schwunglose durchaus voll Grazie ist" 36 (Tafel 21, Abb. 2). In diesem Hause entstanden die meisten der bereits erwähnten architektonischen Risse, Entwürfe für Porzellane der Berliner Manufaktur, Gutachten, Rezensionen und vor allem einige umfängliche kulturgeschichtliche Abhandlungen Hans Christian Genellis. Bereits im Jahre 1803 hatte sein Name in Fachkreisen einen so guten Klang, daß im Verzeichnis der zur Mitarbeit an der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung genannten Persönlichkeiten auch der Architekt Genelli mit aufgeführt wurde 37 . Hierzu vermerkte Goethe: „Einzuladen; habe ihn grüßen lassen." Im gleichen Jahre schrieb Friedrich Schlegel an seinen Bruder Wilhelm am 15. Januar: „So wäre es mir unendlich willkommen, wenn Du mir von Genelli irgend etwas von seinen eigenen Ideen über Architektur verschaffen könntest, es sei nun theoretisch oder historisch. — Erscheinen seine Briefe über den Vitruv, so bitte ich wenigstens um eine Anzeige derselben. Aber das erste, ein eigener Aufsatz, wäre mir noch lieber"38. Friedrich Schlegel wußte also schon von Genellis Arbeit am Vitruv, die dann 1801 und 1804 in zwei Heften unter dem Titel „Exegetische Briefe über des Marcus Vitruvius Pollio Baukunst" erschienen sind39. In den „Göttinger Gelehrten Anzeigen" von 1806 wurde diese Publikation als ein Werk beurteilt, das „nicht für den großen Haufen der Landbaumeister und sogenannten Architekten, sondern für 34 35 36 37

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Vgl. v. Donop, Teupser, Ebert, a. a. O., III/10 fol. 107. Vgl. Ludmilla Aising, Aus Raheis Herzensleben, Leipzig 1877, S. 15. Vgl. Georg Piltz, Schlösser und Gärten um Berlin, Leipzig 1968, S. 38, Abb. 71. Vgl. Goethes Briefe an Eichstädt. Mit Erläuterungen herausgegeben von Woldemar Freiherrn v. Biedermann — Berlin, Gustav Hempel, 1872, S. 3 und 222. Vgl. Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm. Herausgegeben von Dr. O. F. Watzel. Berlin 1890, S. 504 und 425. Vgl. Exegetische Briefe über des Marcus Vitruvius Pollio Baukunst. An August Rode von Hans Christian Genelli. Erstes Heft. Mit 21 Kupfern. Braunschweig 1801. Bei Friedrich Vieweg. — Zueignungsschrift an den Königlichen Regierungs-Präsidenten Herrn Reichsgrafen von Finckenstein. — Zweites Heft. Mit 22 Kupfertafeln. Berlin 1804. In der Realschulbuchhandlung.

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Männer bestimmt sei, welche für die Schönheiten der griechischen und römischen Architektur Sinn haben und einen Vitruv verstehen" 40 . Als wissenschaftliches Hauptwerk Genellis ist aber seine 1818 erschienene Arbeit „Über das Theater v o n Athen" 4 1 anzusehen, in der er komplizierte Fragen der Wechselbeziehungen zwischen dramatischer Poesie und antiker Architektur mit außerordentlichem Scharfsinn behandelte und künftigen Forschungen zur szenischen Archäologie den W e g bahnen half. Genelli gestand seinem Freund, dem Grafen v o n Ingenheim, in einem Brief v o m 27. April 1818, daß ihn letztlich Friedrich Schlegel und Friedrich August Wolf veranlaßt haben, sein Manuskript drucken zu lassen42. Auch Ludwig und Caroline von Finckenstein haben mit darauf hingewirkt. Einige Aufsätze Genellis zur Altertumskunde sind Manuskripte geblieben, die v. D o n o p später sichtete, so dramaturgische Abhandlungen über Aristophanes, archäologisch-historische Untersuchungen über öffentliche Bauten und über das Grabmal des Königs Mausolos. In einer sehr eingehenden Besprechung beschäftigt sich Genelli mit der 1808 erschienenen Publikation „Bassorilievi die R o m a " v o n Zoega. Darin bekannte sich Genelli entschieden zur polychromen Behandlung der Architektur und Plastik des klassischen Altertums, die er nicht, wie andere Autoren, als Verfallserscheinung einschätzte, sondern reizvolle Steigerung der Aussagekraft dieser Werke 43 . Mit großem Fleiß bemühte sich Hans Christian Genelli um eine deutschsprachige Bearbeitung und Kommentierung des umfangreichen Werkes „Pictor christianus eruditus" des 1730 verstorbenen spanischen Gelehrten D o n Juan Interian de Ayala, der an der Universität zu Salamanca wirkte. A m ausführlichsten beschäftigte sich Genelli mit dem zehnten Kapitel des zweiten Buches „ V o n den Bildern aus dem Alten Testament". In dem unvollendet gebliebenen Manuskript heißt es unter anderem: „Ebenso wenig kann das in der Bibel Erzählte bloß dadurch Gegenstand der Kunst sein, daß es nun eben einmal erzählt ist, sondern dasselbe wird es durch die durchgreifende geistliche Lehre, die darin enthalten ist, durch die Typri aller menschlichen Anregungen, die es überall darbietet. Ebenso wurden den Griechen ihre mythischen Sagen Gegenstände der Kunst, und sind es auch uns noch, weil sie ebenfalls solche Typri enthalten, weil sie den allgemeinen Glauben ausmachten, und darum auch in allem Denken das Element der Anschauung gaben" 44 . Eine Abhandlung Genellis, die nach Angaben v. Donops fast hundert Manuskriptseiten umfaßte, beschäftigt sich etwas weitschweifig mit der Stiftshütte des Moses. Hierzu benutzte er lateinische und französische Quellen sowie Hirts Veröffentlichung „Tempel Salomons" v o n 1809. Schließlich sei der Vollständigkeit halber erwähnt, daß Genelli speziell für Caroline v o n Finckenstein das spanische Meisterwerk „Celestina — Tragikomödie von Calisto und Melibea" ins Deutsche übersetzte, dessen erste Ausgabe 1499 zu Burgos erschien 45 . Seit 1803 ist Hans Christian Genelli nur selten v o n Madlitz nach Berlin gekommen. Er fand Genüge in der ländlichen Abgeschiedenheit des Madlitzer Asyls und in seiner mehr theoretischen als praktischen Beschäftigung. Dabei blieben ihm Auseinandersetzungen mit aggressiven Rezensenten seiner Publikationen nicht erspart. V o n spitzfindigen Zeitgenossen gereizt, pflegte Genelli mit aller Geistesschärfe und vernichtender Ironie zu antworten. A u c h den Vertretern der aufkommenden romantischen Richtung in Literatur und bildender Kunst scheint er als Verehrer antiker Kultur und Verfechter Winckelmannschen Ideengutes nicht sonderlich gewogen gewesen zu sein. Sehr persönlich gefärbt war Genellis Antagonismus gegenüber Ludwig Tieck, den er 1820 in einem Brief an Graf 40 41

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V g l . Göttinger Gelehrte Anzeigen, 1806, St. 1 5 4 — 1 5 5 , S. 1530. V g l . D a s Theater zu Athen, hinsichtlich auf Architektur, Szenerie und Darstellungskunst überhaupt erläutert durch Hans Christian Genelli. Mit vier großen Kupfertafeln. Berlin und Leipzig in G . D . Naucks Buchhandlung 1818. G e w i d m e t dem Reichsgrafen v o n Finckenstein und Friedrich A u g u s t Wolf. V g l . v. Donop, Teupser, Ebert, a. a. O . , Iii/25, fol. 176 — 179. Ebenda, III/31, fol. 248. Ebenda, III/32, fol. 259. D i e hier angeführten Manuskripte Hans Christian Genellis, die nicht publiziert worden sind, die aber Lionel v o n D o n o p nachweislich besaß, hat der Verfasser im Genelli-Nachlaß v o n v. Donop-Teupser am Kunsthistorischen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig nicht vorgefunden. E s ist anzunehmen, daß die Manuskripte nach v. D o n o p s T o d als Autographen versteigert worden sind.

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Ingenheim „als poetisches Ungeheuer" bezeichnete. Über A. W. Schlegel, früher von ihm geachtet, sagte er sarkastisch, daß diesem das adelige „ v o n " sein „Gemüth verschlagen habe"46. Doch solche kleine Schwächen schmälern in keiner Weise die menschliche Größe und Würde Hans Christian Genelüs, dessen sonderbare Bestimmung es war, in einer Art von „passiver Genialität" (Max Jordan) sein Leben zu vollenden. Niemals hat er nach Ruhm oder Publizität gestrebt, auch materieller Reichtum lockte ihn nicht. Vielmehr gab er von dem wenigen, das er besaß, anderen, die es bedürftig waren, gern etwas ab. Er war edel, hilfreich und gut im Sinne des Goethewortes. Als ihn sein Neffe Christoforo dazu ermuntern wollte, sein Leben und Schaffen in einer Autobiographie darzustellen, wies er diesen wohlgemeinten Vorschlag mit den Worten zurück: „Es ist meine Glorie, aus der Welt zu scheiden wie ein ganz ungezähltes Geschöpf, das niemand in derselben vermissen wird" 47 . Kein Geringerer denn Christian Daniel Rauch hat den durchgeistigten Charakterkopf dieser eigenwilligen Persönlichkeit in einer vorzüglichen Porträtbüste wiedergegeben48. Sie entstand 1819, in der ersten Zeit der Einrichtung von Rauchs Berliner Werkstatt. Fast gleichzeitig porträtierte er auch Genelüs jüngeren Freund Graf Gustav von Ingenheim. Weisheit und Güte sprechen aus Hans Christian Genellis Antlitz, in dem sich eine gewisse Ähnlichkeit mit Goethes Gesichtszügen erkennen läßt. (Tafel 22, Abb. 1) — Ein Jahr später zeichnete der junge Buonaventura Genelli bei einem Ferienaufenthalt in Madlitz das ausdrucksstarke Bildnis seines von ihm hochverehrten Onkels. Das leicht nach vorn geneigte Haupt mit dem nach unten gerichteten tiefsinnigen Blick verrät den Philosophen und Denker49 (Tafel 22, Abb. 2). Mit bewundernswerter Standhaftigkeit ertrug Hans Christian Genelli in seinen letzten Lebensjahren die entsetzlichen Qualen eines Zungenkrebses, bis ihn am 30. Dezember 1823 der Tod erlöste. Seine sterblichen Überreste wurden auf dem am Rande des Dorfes Alt-Madlitz gelegenen Friedhof beigesetzt. Nicht so fern der Heimat, wie sein früh vollendeter Freund Asmus Jacob Carstens, der unweit der Cestius-Pyramide in Rom ruht, doch auch getrennt von Studien- und Zeitgenossen wie Johann Gottfried Schadow, Karl Friedrich Schinkel und Christian Daniel Rauch, hat sich Hans Christian Genelli der Vergessenheit preisgegeben. Ausgestattet mit großen Gaben und von hohen Idealen erfüllt, war seine empfindsame Seele den praktischen Anforderungen des Daseins nicht gewachsen. Wohl aber diente er als Erziehernatur, als uneigennütziger Förderer erkannter Begabungen und geistvoller Interpret richtungsweisender künstlerisch-ästhetischer Erkenntnisse dem kulturellen Fortschritt seiner Zeit. 46 47 48

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Vgl. v. Donop, Teupser, Ebert, a. a. O., III/38, fol. 324. Ebenda, III/37, fol. 317. Vgl. Vera Ruthenberg, Christian Daniel Rauch, Katalog der Gedächtnis-Ausstellung zum xoo. Todestag, NationalGalerie, Berlin 1957, S. 5, 22 und 24. Vgl. Ebert, Buonaventura Genelli, a. a. O., S. 17—22, Abb. 15 und S. 215, Anm. 23 : „Bildnis Hans Christian Genelli", lebensgroßer Kopf von vorn, niederblickend, 1820, Kreidezeichnung, weiß gehöht, 48 X 39,5 cm. Das Blatt wurde bei Norbert Ketterer in Stuttgart am 29. November 1957 in der 29. Auktion aus der Sammlung Heumann, Chemnitz/ Karl-Marx-Stadt stammend, zur Versteigerung angeboten. Hierzu auch: Verzeichnis der Werke Buonaventura Genellis nach Themen geordnet. Bearbeitet von Hans Ebert. Schreibmaschinenmanuskript, 255 Seiten. Kunsthistorisches Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig, 1959, Nr. 1252. Für freundlichst gegebene Hinweise ist der Verfasser Herrn Direktor Dr. Albrecht Dohmann und Herrn Direktor Volkmar Enderlein, Staatliche Museen zu Berlin, zu Dank verbunden. Ferner dankt er dem Direktor des Museums der bildenden Künste in Leipzig, Herrn Dr. Gerhard Winkler, sowie dessen Stellvertreter und Leiter der graphischen Sammlung, Herrn Karl-Heinz Mehnert, für verständnisvolle Unterstützung seiner Arbeit.

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DER T O D DES OSKAR JOSEPH A N T O N K O C H ALS HISTORIENMALER (Mit Tafel 33)

Claude Keisch

Z u künstlerischer Reife hat Joseph Anton K o c h erst nach längeren Umwegen gefunden: sein erstes Hauptwerk, die Karlsruher „Heroische Landschaft mit dem Regenbogen", malte er 1805 im Alter von siebenunddreißig Jahren. Die Zeitgenossen verhielten sich ihm gegenüber lange sehr kritisch. Mehrfach sagte man ihm mangelnde Originalität nach; den Vorwurf des Plagiats suchte er schließlich auf ungewöhnliche Weise zu entkräften, nämlich mit Hilfe eines eigens bestellten Gutachtens der Akademie von San Luca 1 . Wilhelm von Humboldt, der 1809 das Attest nach Deutschland vermittelte und K o c h „Genie, nicht bloß Talent" zuerkannte, schränkte sein Urteil doch auch ein: „ D a er desultorisch hat studiren müssen, da er mehr als einmal von der Landschaft zur Figur u. von dieser zu jener übergegangen ist, so mag er in einzelnen Dingen, die sich mehr durch anhaltendes Studium erzwingen, zurück seyn, auch arbeitet er manchmal ungleich." 2 In Elisa von der Reckes „Tagebuch einer Reise" heißt es unter dem 20. März 1805, K o c h sei „ v o n tiefem Gefühl und glühender Fantasie; doch fehlt es dieser an der gehörigen Haltung, und seinem Geschmack an dem richtigen Takt" 3 . Als Beleg für dieses Urteil dient die Landschaft mit dem Dankopfer Noahs 4 , während eine Dante-Szene mit der Ermordung von Francesca und Paolo 5 den vollen Beifall der Schriftstellerin findet: „Solche Scenen gewaltiger Empfindungen gelingen dem jungen feurigen Geiste vorzüglich." Deshalb wird Koch unter der Rubrik „Geschichtmalerei" zitiert, während Reinhart die deutsch-römische Landschaftskunst vertritt. Ähnlich differenziert, aber von dem genau entgegengesetzten Standpunkt aus bezeichnet in demselben Augenblick Kotzebue, der im Dezember 1804 die römischen Ateliers besucht hat, K o c h als „ein gebohrnes aber nicht ausgebildetes Genie"; Landschaften wie die mit dem Dankopfer Noahs „beurkunden seinen Beruf zu diesem Zweige der Kunst. Eine historische Scene aus Ossian hingegen, hat mir in keiner Rücksicht Genüge geleistet." 6 Abgekürzt zitierte Literatur: Lutterotti = Otto R. von Lutterotti, Joseph Anton Koch 1768 — 1839. Mit Werkverzeichnis und Briefen des Künstlers, Berlin 1940 (Denkmäler deutscher Kunst). Ausst.-Kat. Ossian = Ossian, Ausstellungskatalog, hg. Réunion des Musées nationaux, Paris 1974. Bearb. : Hanna Hohl, Hélène Toussaint. — Deutsche Fassung, erweitert: Ossian und die Kunst um 1800, Hamburger Kunsthalle 1974. Der Verweis auf die Kat. Nr. dient Zugleich als Abbildungshinweis (alle Stücke abgebildet). Da die Nummern nicht immer in beiden Katalogen übereinstimmen, geben wir, wo nötig, beide Nummern bzw. Seitenzahlen. Ernst Jaffé, Joseph Anton Koch. Sein Leben und sein Schaffen, Innsbruck 1905, S. 38, mit Wiedergabe des Gutachtens. 2 Briefe von Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi (hg. Albert Leitzmann), Halle a. S. 1892, S. 80 (Brief vom 18. Februar 1809). 3 Elisa von der Recke, Tagebuch einer Reise durch einen Theil Deutschlands und durch Italien in den Jahren 1804 bis 1806, Bd. 2, Berlin 1815, S. 403. Die weiter unten zitierte Stelle S. 404. i Frankfurt/M., Städelsches Kunstinstitut. Lutterotti G 4, Abb. 7. 5 Verschollen. Lutterotti G 103. 6 August von Kotzebue, Erinnerungen von einer Reise aus Liefland nach Rom und Neapel, Bd. 2, Berlin 1805, S. 424t. 1

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Einige Urteile dieser Art in Kotzebues Reisebericht brachten einen Kreis romdeutscher Maler so sehr auf, daß sie, in Ermangelung des abgereisten Schriftstellers, seinen Cicerone, den Bildhauer Schweickle, in einem Café mit Stöcken verprügelten. Dabei tat sich Koch besonders hervor7. Ob Kotzebue wirklich, wie Gottlieb Schick, einer der Teilnehmer an der Strafexpedition, meinte, „die krasseste Unwissenheit an den Tag gelegt" 8 , ob der qft genug Oberflächliche nicht vielmehr frühzeitig und mit größerer Blicksicherheit als Frau von der Recke, erkannt hatte, worin Koch ganz originell war: diese Frage beantwortet sich im Nachhinein von selbst. Dennoch mag es nützlich sein, das bislang verschollene corpus delicti, jene „historische Szene aus Ossian", kennenzulernen. Im Jahre 1962 erwarb die National-Galerie aus altem Berliner Privatbesitz ein Gemälde von ansehnlichem Format9 (Tafel 33, 1), eine Kriegsszene all' antica darstellend. An der Entstehung um 1800 konnte kein Zweifel sein, Näheres aber ließ sich zunächst nicht bestimmen. Irritierend war namentlich die große und gut leserliche Signatur „A. Carsten", die auf einen bislang ganz unbekannten Künstler verwies und zugleich den Gedanken an einen Großen nahelegte. In einem Bericht über Neuerwerbungen der Galerie wurde das Gemälde als „Antike Kriegerszene (vermutlich die Darstellung des Todes des Antilochos)" von einem „Unbekannten klassizistischen Künstler" bezeichnet10. Die Provenienz läßt sich vorerst nur bis zum Beginn unseres Jahrhunderts zurückverfolgen: damals war das Bild Eigentum des Berliner Fabrikanten Robert Loewe (gestorben 1917). Der Zustand ist gut, ungeachtet einiger Beschädigungen der Farbschicht durch die Rahmenkante und einiger kleinerer Retuschen. Die ungewöhnlich feine Leinwand wurde vor langer Zeit, vielleicht im Zusammenhang mit der Erwerbung durch Robert Loewe, doubliert; dabei wurde die Malfläche nicht beschnitten, denn auf drei Seiten (oben, unten und rechts) sind Stücke der unbemalten alten Kante stehengeblieben. Nur links hat man bis an die Malschicht heran geschnitten, aber auch hier offensichtlich ohne Verlust. Die Signatur „A. Carsten" erweist sich unter Mikroskop und Quarzlampe deutlich als spätere Zutat; denn sie liegt über der bereits durchgetrockneten und von einem feinen Craquelé überzogenen Farbschicht11. Sie könnte hinzugefügt worden sein, als man das Gemälde doublierte und restaurierte. Ob wirklich Jacob Asmus Carstens gemeint — und eine regelrechte Verfälschung beabsichtigt — war, läßt sich angesichts der sehr abweichenden Schreibweise kaum sagen12. Bei einer Restaurierung des Bildes könnte die Bezeichnung ohne Bedenken entfernt werden. Angesichts des gemutmaßten antiken Bildvorwurfs bleiben der keineswegs klassische Typus des greisen Königs und vor allem sein mit Adlerflügeln geschmückter Helm befremdlich. Den gleichen Helm tragen die Helden Fingal, Ossian und Oskar in verschiedenen Darstellungen von Runge, Girodet-Trioson, Ingres und anderen. Bei Gelegenheit der Ossian-Ausstellung 1974 in Paris und Hamburg wurde eine Reihe von Zeichnungen von Joseph Anton Koch veröffentlicht, die bislang zum allergrößten Teil nur dem Titel nach bekannt waren. Eine von ihnen (Abb. S. i92)13entsprichtin allen Einzelheiten unserem Gemälde, das mit ihrer Hilfe als „Der Tod Oskars" identifiziert werden kann.

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Brief von Gottlieb Schick an seine Geschwister, 25. August 1805. In: Ad. Haakb, Beiträge aus Württemberg zur neueren Deutschen Kunstgeschichte, Stuttgart 1863, S. i84f. Wie Anm. 7, S. 184. — Kotzebue hatte auch (S. 425) geschrieben: „Schick, ein Geschichts- und Portraitmahler, ist vielleicht nur zum letzteren gehöhten . . . " . ö l auf Leinwand (doubliert). 117,5 x 1 1 2 c m - Bezeichnet unten rechts: A . Carsten. Inv. Nr. A III 474. Vera Ruthenberg, Neuerwerbungen der Älteren Abteilung der National-Galerie, in: F u B 1 1 (1968), S. 153. Mit dieser und den vorangehenden den materiellen Befund betreffenden Feststellungen unterstützten mich in freundlicher Weise die Gemälderestauratoren der National-Galerie, Dr. Hans-Joachim Gronau und Charlotte Brauner. Es wäre nicht die erste Ossian-Darstellung, die fälschlich als Carstens betrachtet wurde : die Hamburger Fassung der „Geisterbeschwörung Ossians" von Gérard galt, als sie 1910 von der Kunsthalle angekauft wurde, gleichfalls als Carstens. Ausst.-Kat. Ossian Nr. 39. Kopenhagen, Thorvaldsen's Museum, Inv. Nr. D 726.

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Die Episode ist einem jener Gesänge entnommen, die, durch den Schotten Macpherson angeblich aus der altgälischen Sprache ins Englische übersetzt und dem Ossian, einem schottischen Barden des 3. Jahrhunderts zugeschrieben, in den Jahrzehnten der Empfindsamkeit und der Romantik eine schwärmerische Begeisterung auslösten. Das umfangreiche Buch Temora, dessen erstem Gesang die Szene entstammt, schildert einen viertägigen Feldzug, den Fingal, der König von Morven, unternimmt, um den rechtmäßigen irischen König Ferad-Artho in seine Rechte einzusetzen. Der Usurpator Kairbar lockt Fingais Enkel Oskar, den Sohn Ossians, in einen Hinterhalt: er lädt ihn zu einem Fest ein und provoziert ihn dann zu einem Kampf, in dessen Verlauf beide fallen. Was folgt, schildert Kochs Komposition: Auf den Kriegslärm hin sind Fingal und seine Krieger hinzugekommen und haben die Feinde in die Flucht geschlagen. „Wir sahn auf seinen Schild / Oskar gestüzt, wir sahn sein Blut umher; / Auf jedes Antliz dämmerte stiller Harm, / Es wandte sich jeder rückwärts, jeder weinte; / Der König strebte zu hemmen seine Thränen, / Im Hauch des Windes säuselt sein grauer Bart, / Er beugt sich über den Jüngling hin .. ." 1 4 Und dann hebt eine lange, erschütternde Klage an. Kochs Komposition zeigt, der Beschreibung entsprechend, den Gefallenen auf seinen Schild gestützt und mit schon brechenden Augen. Unbeachtet liegt im Hintergrund Kairbars Leichnam. Über den Sterbenden beugt sich links der greise Fingal, rechts unten trauert, einsam und in sich versunken, Ossian. Auch der Hund entspricht einer Zeile der Dichtung 15 . In dem jungen Krieger ganz rechts, dessen Helm durch eine Drachenfigur ausgezeichnet ist, müssen wir wohl Ossians Bruder Fillan erblicken, der im Kampf um Temora fallen wird. Der Waffenlose mit der laubbekränzten roten Mütze, der einen Balken (?) unter dem Arm trägt und bedeutungsvoll hinter vorgehaltener Hand zu flüstern scheint, mag der Barde Ullin sein, den Fingal gleich darauf mit dem Schiff nach Selma zurücksenden wird, um Oskars Leichnam und die Nachricht von seinem Tod zu überbringen 16 . Im Hintergrund erkennt man die Burg Temora, das Meer und die Schiffe, die Fingal und die Seinen aus Kaledonien (Schottland) nach Irin (Irland) gebracht haben. Joseph Anton Kochs erste römische Jahre (ab Frühjahr 1795) wurden durch den nachhaltigen Einfluß von Carstens bestimmt, der drei Jahre lang für ihn eine Art Lehrer war. Zusammen mit Fernow, Wächter und Thorvaldsen bemühte er sich später um Carstens' künstlerische Hinterlassenschaft, radierte 1799 die 24 Blätter der Argonautenfolge und wurde auch in späteren Jahren immer wieder um Kopien nach Carstens gebeten. Bis 1803 (das heißt bis zum Alter von 35 Jahren) schien die Malerei zugunsten der Zeichnung so gut wie ganz vergessen zu sein, es schienen auch die landschaftlichen Eindrücke des Schweizer Aufenthalts von 1793/94 in den Hintergrund zu treten: zwar entstanden einige große Zeichnungen mit „historischen Landschaften", aber den absoluten Vorrang hatten ehrgeizige figurale Kompositionen. Gegen 1803 scheint der Höhepunkt der Euphorie erreicht zu sein: Koch hat vor, alle großen Epen und Dramen der Weltliteratur „in malerischen Kompositionen zu zeichnen" 17 — bei der ehrgeizigen Aufzählung der Projekte glaubt man Gustave Dore zu hören. Um diese Zeit arbeitet er auch schon an seinem großen Thema: Dantes Hölle (seit 1800/01). „ D a ich aber", so berichtet er in einem Brief, „für dieses Unternehmen noch keinen Unternehmer gefunden habe, so machte ich diesen verflossenen Winter die Gesänge Ossians in 37 Blättern ... Piranesi aus Paris ist der Unternehmer dieses Werkes, er läßt es durch Tommaso Piroli in Rom in Kupfer radieren; sobald es fertig ist, kann man es von Rom oder Paris aus haben" 18 . Im Mai 1805 ist das Unternehmen noch nicht weiter gediehen19. Pirolis Radierungen scheinen hergestellt worden, aber dann verschollen 11

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Die Gedichte von Ossian, dem Sohne Fingais (Ubers, von Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg), Bd. 3, Hamburg 1806, S. i 6 f . Wie A n m . 14, S. 1 8 : „ . . . der Greise Seufzer, / Das Heulen meiner Hunde, des Trauersangs / Gebrochne Töne schmerzten Oskar's Herz . . . " . Wie Anm. 14, S. 21. Brief vom 15. April 1803 an Karl Friedrich von Uexküll. In: Arthur von Schneider, Die Briefe Joseph Anton Kochs an den Freiherrn Karl Friedrich von Uexküll, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 59 (1938), S. 186 bis 208, 258 — 280; die zitierte Stelle S. 190. Wie Anm. 1 7 , S. 190. Brief vom 3. Mai 1805 an Friedrich von Fischer. In: E. Jaffe (wie Anm. i), S. 83.

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Abb. i. Joseph Anton Koch: Der Tod des Oskar. 1804. Kopenhagen, Thorvaldsen's Museum

zu sein. 1836 kündigte man in Paris ihre Veröffentlichung (unter anderem Namen) an, aber dabei blieb es20. In der Zwischenzeit, während des Wiener Aufenthalts, hatte Koch noch einmal ernstlich daran gedacht, seinen Ossian auf Subskription herauszugeben 21 . Die Blätter zum Ossian sind in zwei Folgen erhalten: Kochs Freund und zeitweiliger Hausgenosse Thorvaldsen erwarb von ihm 5 3 Entwürfe (und Varianten) zu 3 6 Szenen 22 : Zeichnungen in Feder über Blei, die gegen 1800 bis spätestens 1802/03 datiert werden können. Die 37 endgültigen Vorlagen für den Stecher befinden sich in Wien 23 . Daß sie erst im Frühjahr 1805 fertiggestellt wurden 24 , muß nicht unbedingt angenommen werden. Durch alte Beschriftungen sind die Szenen, die Koch aus der 20

Hanna Hohl, in: Ausst.-Kat. Ossian, S. 49 (Paris), 83 (Hamburg). Briefe vom 20. Oktober und 21. November 1812 an Robert von Langer. In: Lutterotti S. 155 und 158. 22 Kopenhagen, Thorvaldsen's Museum. Lutterotti Z 448 — 500 (nicht einzeln aufgeführt). — Ausst.-Kat. Ossian Nr. 20 bis 47. 23 Bibliothek der Akademie der bildenden Künste, Wien. Lutterotti Z 753 — 789. 24 So Lutterotti unter Z 448 — 500, unter Berufung auf den Brief vom 3. Mai 1805 (vgl. Anm. 19). 21

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unendlichen Fülle der Dichtung ausgewählt hat, genau nachgewiesen. „Der Tod Oskars" ist in beiden Folgen enthalten 25 . Darüber, daß die Oskar-Komposition auch als Gemälde ausgeführt wurde, unterrichtet uns ein Brief von Koch an den Freiherrn von Uexküll, in welchem es heißt: „Den Tod des Oskar mit Ossian, Fingal und die übrigen Helden kennen Sie. Ich habe solches für den Kaffeewirt Carnesechi gemalt. Es ist eine von meinen besseren historischen Kompositionen. Ich gebrauchte ungefähr 18 Tage dazu, um es so zu entwerfen, daß man die Zeichnung und Ausdrucksverteilung der Gruppen sehen konnte. Das ist nun kein Bild für ein Kaffeehaus! Ich werde dem Gastwirt eine Landschaft alla prima dafür malen und das Bild zurücknehmen, um es mit Zeit und Gelegenheit nach allen Teilen der Kunst für mich auszuführen. Einstweilen, bis ich Zeit habe, die versprochene Landschaft herzuhängen, gab ich das Bild dem Kaffeewirt, welcher solches an seinen bestimmten Ort hängte. Mit gleicher Wut und mit gleichem Sturm die Hunde sich aus dem Zwinger losreißen, um den zerlumpten, flehenden Bettler anzufallen, ebenso fielen mehrere über mein armes Bild her. Das erste war, daß man Zehen und Finger durchging und fand: , 0 Jammer, an der Figur des Oskar 6 Zehen!' Da ich beim Entwurf eines Gemäldes, um die Totalität nicht zu verlieren, Kleinigkeiten nur kaum angab, da erkannte ich gleich, wes Geistes Kinder mich bekrittelten, deren Finger- und Zehenkenntnis allen übrigen Eindruck verdrängt. Einige machten sich auch über die Perspektive her. Hierin habe ich nun nicht gefehlt, nur habe ich keinen Gesichtspunkt gewählt, wie ihn gewisse Malerprofessoren wählen. Daß ich die Bekleidung meiner Figuren nicht aus dem Kramladen nahm, war eine große Ketzerei. Überhaupt als Kolorist bestand ich schlecht. Die Verschiedenheit der Fleischtinten muß die weitere Vollendung geben. Die Haupterfordernisse eines entworfenen Kunstwerks habe ich geleistet und habe auch das Urteil fähiger Leute gehört, welche die Sache beurteilten, wie sie zu beurteilen war. Die bestialische Gutherzigkeit von einigen ging so weit, daß sie mir ihre Meinung und Mißfallen hierüber unter die Nase rieben. Ich könnte hierüber weiter nichts als lachen und niesen, sagend: ,Treue Freunde und Gönner, es schadet nichts, ich höre Euer Urteil gerne und bewundere Eure Fähigkeit, jeder spricht, wie er es versteht; übrigens, wenn meine Arbeit jedermann gefiele, so wäre es für mich ein übles Zeichen." 26 Die Identität unseres Gemäldes mit dem hier beschriebenen läßt sich nicht nur daraus ableiten, daß seine Komposition auf Kochs Entwürfe zurückgeht. Einige speziellere Merkmale stimmen ebenfalls überein. Erstens wurde die „Verschiedenheit der Fleischtinten" vermißt: tatsächlich ist auf unserem Gemälde das Inkarnat einheitlich rötlich und undifferenziert. Zum anderen hatte die deutschrömische Künstlerkabale ihre Freude an der sechsten Zehe der Oskarfigur: auch dieser anatomische lapsus findet sich deutlich wieder und macht, wie ein Muttermal einen Menschen, das Gemälde identifizierbar. Die Umstände und der Zeitpunkt seiner Entstehung lassen sich mit Hilfe von Briefen recht genau einkreisen. Ein Brief vom 15. April 1803, wiederum an Uexküll, kündigt an, Koch wolle vier von seinen ossianischen Kompositionen ausführen 27 , an zweiter Stelle darunter auch: „den Tod Oskars, des Sohnes Ossians. Fingal und seine Helden betrauern ihn". Die anderen drei Themen sind: „Der Krieg Cuchullins mit Swaron, dem König von Lochiin. Cuchullin, der Sohn Semos', eine Lanze werfend auf einem Streitwagen, gezogen von Sulin-Siffada und Dusromal 28 . . . Drittens: Boswina, Fingais Tochter, kömmt mit einem Pfeile und einer Muschel zum König Errago von Skandinavien, 25

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Kopenhagen D 726, vgl. Ausst.-Kat. Ossian Nr. 39; Wien Lutterotti Z 778. Zu den Kopenhagener Zeichnungen D 727 und D 728, die wohl doch später entstanden als D 276, siehe unten Anm. 35. Brief vom 9. Februar 1805 an K. F. von Uexküll. In: A. von Schneider (wie Anm. 17), S. 194. Aufgrund dieses Briefes verzeichnet Lutterotti den „Tod des Oskar" als Nr. G 98 unter den verschollenen Werken. (Im Anschluß an die zitierte Stelle folgen 13 Zeilen, die in Schneiders Veröffentlichung weggelassen wurden; sie sind für unseren Zusammenhang ohne Bedeutung. Ich danke Dr. Gode Krämer, der mir eine Photokopie nach dem in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe aufbewahrten Brief sandte.)

A. v. Schneider (wie Anm. 17), S. 191. Identisch mit dem Vorwurf der Kopenhagener Zeichnung D 701 (Ausst.-Kat. Ossian Nr. 28) und der Wiener Zeichnung Lutterotti Z 767.

13 Forsch, u. Ber. Bd. 17

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ihm Krieg oder Frieden anzubieten29. Viertens : Fingal, seiner Taten satt, übergibt Ossian den Speer und begräbt sein Schwert 30 ." So war möglicherweise ein Zyklus geplant. Ob aber außer dem „ T o d des Oskar" weitere Gemälde zustande kamen, darüber gibt es keine Nachrichten. Wahrscheinlich gab doch erst der Auftrag des Caffetiere Giuseppe Carnesecchi, der das damals schon berühmte, von den deutschen Künstlern und Literaten bevorzugte Caffè Greco 3 1 führte, schließlich den Anstoß zur Ausführung. Koch bemerkt ausdrücklich, er habe das Bild „ f ü r den Wirt Carnesecchi gemalt". Und es fällt auf, daß jene Landschaft, die als Ersatz für das zurückgenommene Oskar-Bild gemalt wurde, die Karlsruher „Heroische Landschaft mit Regenbogen" 32 , die gleichen Maße hat 33 : es war demnach für eine bestimmte Stelle — vielleicht gar als Füllung eines Wandfeldes — gedacht. In jenem Brief an Uexküll hieß es: „ D e n Tod des Oskar ... kennen Sie." Diese Bemerkung spielt auf Uexkülls ersten Aufenthalt in Rom im Oktober/November 1804 an34. Da die Aufhängung im Caffè Greco und die Reaktion der Kritiker als Neuigkeiten mitgeteilt werden, scheint das Bild damals noch im Atelier gewesen zu sein. Ein Auftragswerk aber bleibt nach seiner Vollendung nicht lange unverwendet. Das Gemälde wird demnach im Herbst 1804 entstanden sein. Wider Erwarten lösen die Figurenmotive nicht sogleich Erinnerungen an die geläufigen antiken Muster aus. Eigentümlich und auffallend ist die Rolle, die den Lanzen und Rundschilden in Kochs Komposition zugewiesen wird. Die Bildquelle findet sich auf der Titelseite des ersten Bandes von Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Alterthums" (1764): hier ist der sogenannte Stosch'sche Stein abgebildet, ein Karneol der Berliner Antikensammlung (heute in Westberlin), der sechs von den sieben gegen Theben ziehenden Helden beim Rat darstellt (Taf. 3}, II). Man begegnet hier einer ähnlichen Anordnung der Lanzen und Schilder; in der linken Sitzfigur (Polyneikes) erkennt man in etwa — wenn auch spiegelverkehrt — den trauernden Ossian wieder; die seltsam unbequeme Positur des Kriegers, der sich bei Koch rechts über den Sterbenden beugt, ist auf dem Karneol in der Mittelfigur (Amphiaraos) vorgebildet; auch andere Einzelmotive lassen sich vergleichen. Woher, wenn nicht von diesem geschnittenen Stein, könnte Koch derlei übernommen haben? Sein Vorbild Carstens jedenfalls komponierte einen sehr ähnlichen Gegenstand, den Besuch der Griechenfürsten bei Achill, auf völlig andere Weise. Der Karneol war, außer in der „Geschichte der Kunst des Alterthums", noch mehrfach publiziert worden. 3 1 1 Winckelmann schätzte ihn als ein Hauptzeugnis ältester etruskischer Kunst sehr hoch, und Koch mußte an ihm besonders zu einem Zeitpunkt Gefallen finden, da er (1803) in Florenz und Pisa den Eindruck altitalienischer (also gleichfalls „archaischer") Malerei empfangen hatte. Nicht ohne Gewaltsamkeit ist das Geschehen zur Gruppe gefügt. Ganz groß sind die Figuren ins Bild genommen, so daß sie — bis auf einen schmalen oberen Streifen — die ganze Fläche füllen. Kräftig werden die Bildränder rechts und links durch Figuren befestigt. Die vordere Bildebene ist nur unten besetzt: durch den Hund, Oskars Schild und die sitzende Figur des Ossian. Eine zweite Raumschicht wird durch den gebückten Fingal — in strengem Profil —, den liegenden Oskar und 23

Identisch mit dem Vorwurf der Kopenhagener Zeichnung D 729 (Ausst.-Kat. Ossian Nr. 37) und der Wiener Zeichnung Lulterotti Z 776. 30 Identisch mit dem Vorwurf der Kopenhagener Zeichnung D 7 1 3 (Ausst.-Kat. Ossian Nr. 47) und der Wiener Zeichnung Lutterotti Z 787. 31 Vgl. Georg Poemgen, Carl Philipp Fohr und das Café Greco, Heidelberg 1957. 32 Erste Fassung (1805). Lutterotti G io, Abb. 13. Vgl. Johann Eckart von Borries, Joseph Anton Koch, Heroische Landschaft mit Regenbogen, Karlsruhe 1967 (Bildhefte der Staad. Kunsthalle Karlsruhe). 33 Im Bestandskatalog 19. und 20. Jahrhundert der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (1971) wird als Maß 116,5 m a l 112,5 c m angegeben, bei Lutterotti 118 X 113,5 cm. 34 Am 12. 10. 1804 schrieb Gottlieb Schick an seine Geschwister: „Uexkull [u. a.] sind nun etwas über eine Woche hier." Und am 25. 11. kündigte er Uexkülls Abreise für den nächsten Tag an. Vgl. Ad. Haakb, Beiträge aus Württemberg zur neueren Deutschen Kunstgeschichte, Stuttgart 1863, S. 149 und 153. 34a p e t e r Zazoff, Zur Geschichte des Stosch'schen Steines, in: Archäologischer Anzeiger. 89. 1975, S. 466—484, Für diese Literaturangabe habe ich meinem Kollegen Gerald Heres zu danken.

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den Schild des Stehenden am rechten Bildrand definiert. Zwei weitere schmale Figurenschichten entwickeln sich dahinter, wiederum genau parallel 2ur Bildfläche angeordnet; gleich einer Wand schirmt die letzte den Hintergrund ab. Unglücklicherweise öffnet sich der Raum gerade in der Bildmitte, in der Lücke zwischen den gespreizten Beinen zweier Krieger der hinteren Staffel — dort, wo Kairbars Leichnam als einziges Bildelement diagonal in die Tiefe weist. Eine Beziehung zum landschaftlichen Hintergrund läßt sich nicht herstellen; die Erde scheint „hochgeklappt". Das Gemälde ruft einen Eindruck von Enge und Gepreßtheit hervor. Im Vergleich mit den zeichnerischen Entwürfen 35 zeigt sich, daß die Figuren noch knapper eingefaßt worden sind. Sämtliche Randfiguren berühren den Rahmen, meist werden sie sogar angeschnitten. Letzteres war im Entwurf nur links bemerkbar, bei dem auf die Lanze gestützten Krieger hinter Fingal; überall sonst, vor allem aber oben und unten, war Luft um die Körper. Im Gemälde hingegen geraten die Hinterpfoten des Hundes und Ossians Fuß schon unter die Rahmenkante, Ossians Rücken und der Schild des Fillan werden angeschnitten, und die obere Partie ist reduziert: das Takelwerk des Schiffes ist verschwunden, und auch die Burg Temora hat kaum Himmel über sich, was die Raumwirkung sehr mindert. So wird geradezu gewaltsam eine extreme Nahsicht suggeriert. Einzig vergleichbar sind unter diesem Blickpunkt zwei Gemälde von Koch: einmal das 1807 datierte Täfelchen „Abraham bewirtet die drei Engel" 3 6 . Wohl ist es sehr viel kleiner und — sofern die Abbildung nicht trügt — entsprechend feiner gemalt; doch die Kompositionsprinzipien sind die gleichen: die Bildfläche ist ganz und gar mit groß und nah gesehenen Figuren gefüllt, die nur oben einen schmalen Streifen Hintergrund freigeben. Sorgsam, ja ängstlich, werden die vordere Ebene markiert und die Bildränder durch senkrechte Elemente befestigt. Die Entwicklung zur Tiefe hin wird vermieden, alles drängt vielmehr nach vorn; den Hintergrund versperren das Zelt und der Baum so gut wie vollständig. Das Gedränge macht e's den Figuren sichtlich schwer, sich in der Bewegung zu entfalten. Zweitens gehört hierher das Gemälde „Der zwölfjährige Christus im Tempel", das zwar erst von 1821 datiert ist, aber spätestens 1808 in der Untermalung fertig angelegt war 3 7 : eine große Komposition im Geschmack der Renaissance, in deren symmetrischer Ordnung die Figuren sich allerdings etwas lockerer und freier bewegen. Die sehr deutlichen nazarenischen Züge allerdings sind wohl kaum auf die lange Entstehungszeit 38 allein zurückzuführen, sie sind schon in der Anlage, in der Anlehnung an den Bildtypus der Sacra Conversazione gegeben. Damit steht das Bild auf einer grundsätzlich neuen Entwicklungsstufe im Vergleich zu „Oskars T o d " , das noch im Rahmen klassizistischer Vorstellungen blieb. In späterer Zeit lassen sowohl die Neigung zu großen, bildfüllenden Figuren wie die Faszination durch den Bildvordergrund nach. Das Gemälde „Der Tiroler Landsturm im Jahre 1809" (1. Fassung 35

Das hier abgebildete Blatt D 726 weist sich schon durch den zeichnerischen Vortrag als vorbereitende Skizze aus: tastende Strichwiederholungen, bedeutende Abweichungen der Federlinien von der Unterzeichnung mit Blei. D 727 und D 728 sind viel bestimmter ausgeführt. Der Vergleich einzelner Motive mit ihrer Verwirklichung auf dem Gemälde läßt die schrittweisen Korrekturen erkennen: manche Details prägen sich schon in D 727 aus (endgültig der Krieger ganz links, die Burg im Hintergrund), aber mit wesentlichen Schwierigkeiten müht sich Koch bis zuletzt. So überschneidet Oskars rechter Arm die Schnauze (statt den Hals) des Hundes erst in D 728; hier ist auch die Haltung des Fingal wiedergefunden, nachdem D 727 die Figur in die Bildtiefe hinein drehte. Für den sitzenden Ossian gilt Ähnliches: wichtig ist die — zeitweilig aufgegebene — Überschneidung des linken Armes durch das Knie. Sie findet sich erst auf dem Gemälde wieder. Hier ist auch die Disposition der drei Stehenden ganz rechts endgültig geklart, ebenso wie die liegende Figur des Kairbar erst hier von rechts hinten nach links vorn (anstatt umgekehrt, wie in allen Zeichnungen) gerichtet wird; auch stützt sich der sitzende Ossian nunmehr auf ein Schwert statt einer Lanze — eine sehr wichtige Veränderung, durch welche die Figur dem kompositioneilen Gitter der vielen Lanzen entzogen und, in sich selbst zurückkehrend, isoliert wird. Das geblähte Segel im Hintergrund links hingegen entspricht dem ersten Entwurf D 726, während die beiden späteren Federzeichnungen eingeholte Segel zeigen. (Photokopien von D 727 und 728, ebenso wie die hier abgebildete Photographie von D 726, stellte Bjarne J0rnaes, Kustos am Thorvaldsen's Museum, freundlicherweise zur Verfügung. Die Wiener Fassung Lutterotti 778 lag zu einem Vergleich leider nicht vor.)

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Lutterotti G 1 1 , Abb. 5. — Besitzer 1940: Graf Kuno von Hardenberg, Darmstadt. Lutterotti G 14, Abb. 20. — Besitzer 1940: Comm. Ottaviano Koch, Rom. Lutterotti S. 203.

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i8i6— 19)39 stellt ein Gleichgewicht zwischen Figurengruppen und Landschaftsraum her. Ganz fre entfaltet sich Kochs Gestaltungskraft aber erst dort, wo die Landschaft das Übergewicht erhält. „Der Tod des Oskar" gehört zu Kochs frühen Versuchen in der Ölmalerei. Wollte man dieses Bild in das chronologisch geordnete Werkverzeichnis von Lutterotti einordnen, müßte man ihm die Nummer 7 oder 8 geben. Nach drei (bekannten) Versuchen im Jahre 1796 und nach einer siebenjährigen Pause, in der er ausschließlich zeichnet, beginnt Koch 1803, angeblich unter Anleitung von Gottlieb Schick40, wieder zu malen. Unter den 1803—05, ja selbst bis 1812 entstandenen Gemälden gibt es keines, das in Absicht, Format, Malweise ähnlich angelegt wäre. „Der Tod des Oskar" bleibt ein vereinzelter Versuch in großer Historienmalerei. Diesmal auch hat Koch der Feinmalerei entsagt: Der Verlauf seiner breiten Pinselzüge bleibt an vielen Stellen, unverschmolzen, deutlich erkennbar. Die Farbe changiert wie bei manchen italienischen Manieristen, wie bei Füssü: von Grün zu Orange, von Preußischblau oder Hellrot zu Gelb. Die Fleischtöne sind von einem branstigen Rot, das gemeinsam mit den schwärzlich-blauen Tönen des Hintergrundes den Farbeindruck des Gemäldes bestimmt und unerwarteterweise die Erinnerung an Rubens hervorruft. Eine bewußte Reminiszenz41? Auch der Gesichtstypus des Mannes mit der bekränzten Mütze weist in diese Richtung und selbstverständlich die überaus kräftige Modellierung der Körper. Tatsächlich begegnet in Kochs schriftlichen Äußerungen der Name Rubens nicht selten. „Man wirft mir ... Diebereien nach Raffael, Michelangelo, Dürer, Rubens, Poussin ... vor", klagt er 1810 42 . Seine „Gedanken über Malerei" aus demselben Jahr enthalten ein Urteil über Rubens, das wie ein Selbstporträt klingt: „Überhaupt, obgleich sich Rubens in der Ausführung um die Regeln des guten Geschmacks wenig bekümmert, so findet man doch in seinen unendlich vielen Arbeiten einen Menschen von kolossalem Genie, dessen Ausbildung durch die Zeitepoche, in der er lebte, erdrückt worden ist" 43 . So muß man es nicht wörtlich nehmen, wenn er nach Besuchen der Wiener Gemäldegalerie erklärt, nun lerne er Rubens „zum ersten Mal in seiner Pracht" kennen44: solch eine Äußerung bekräftigt eher die Bedeutung einer erneuten Begegnung. In Joseph Anton Kochs Werk tritt der ^nordische Homer" an die Stelle des wirklichen, aus dessen Epen er auffallenderweise keine Anregungen schöpfte — ebensowenig wie seine jüngeren Freunde der Romantikergeneration. Seine Kompositionen sind auf dem Höhepunkt der Ossian-Begeisterung entstanden. Zur gleichen Zeit, 1804/05, entwarf Philipp Otto Runge seine Zeichnungen für die Stolbergsche Ossian-Übersetzung ; die darin unternommene kosmologische Ausdeutung der Dichtungen rief den Unwillen des streng katholischen Übersetzers hervor45. 1805 — 1807 erschienen Johann Christian Ruhls Umrisse zum Ossian46. In Frankreich, dessen erster Konsul diese Themenwelt besonders bevorzugte, war schon 1801 „Ossians Geisterbeschwörung" von Gérard in erster Fassung entstanden, ein Jahr darauf stellte Girodet-Trioson den „Empfang der Helden Frankreichs im Elysium durch Ossian" aus, und zu Ingres' Gemälde „Der Traum Ossians" (1812/13, später verändert) entstanden Vorarbeiten vielleicht schon um 180647. 35

Lutterotti G 48, Abb. 53. Lutterotti S. 3 8 ff. 41 Auf diesen möglichen Zusammenhang lenkte Lothar Brauner meine Aufmerksamkeit. 42 Brief vom 9. Juni 1810 an Robert von Langer. In: Lutterotti S. 143. 43 Joseph Koch's Gedanken über ältere und neuere Malerei, in: David Friedrich Strauß, Kleine Schriften, Leipzig 1862, S. 303—332, Zitat S. 32of. 44 Brief vom 15. September 1812 an Uexküll. In: A.. von Schneider (wie Anm. 17), S. 263. Ganz ähnlich in einem Brief vom 20. August 1812 an Langer. In: Lutterotti S. 154. 45 Philipp Otto Runge, Hinterlassene Schriften (hg. Daniel Runge), Hamburg 1840, Bd. 1, S. 257 — 346. 46 Johann Christian Rubi, Ossians Gedichte in Umrissen, St. Petersburg/Penig/Leipzig 1805 — 1807. 47 Ausst.-Kat. Ossian, Nr. 95 (Paris), 110 (Hamburg). — Es muß auffallen, daß jene feierlich-schwermütige und gequälte Gebärdensprache, die man wohl als spezifisch „ossianisch" bezeichnen kann, bei Joseph Anton Koch — und zumal in dieser Komposition, die ihm besonders am Herzen lag — voll ausgebildet ist. Liegen, im Großen gesehen, ihre Quellen — Füßli, Blake, Sergel etwa — auch ziemlich klar zutage, so bleibt es doch erstaunlich, daß im „Tod des Oskar" einige Formulierungen eher an berühmtere, aber später entstandene Werke erinnern als an die angelsächsisch40

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Wenngleich die 1760—1765 englisch veröffentlichten vorgeblichen Dichtungen des alten Barden — in Wahrheit größtenteils Erdichtungen des jungen Schotten James Macpherson — sofort durch Übersetzungen den Weg nach Deutschland, Frankreich, Italien gefunden und die vorromantische Phantasie tief erregt hatten, so ließ sich in der bildenden Kunst außerhalb Großbritanniens erst kurz vor der Jahrhundertwende ein Echo dazu vernehmen. Hier wirkten namentlich die Künstler in Kochs unmittelbarer Umgebung bahnbrechend. Eines der wenigen Gemälde von Carstens (1796) stellt Fingais Kampf mit dem Geist von Loda dar. Diese Komposition hat Koch in den Zusammenhang seiner Ossian-Folge unverändert übernommen48. Zu demselben Thema malte auch Johann Christian Reinhart ein nur durch schriftliche Überlieferung bekanntes Bild49. Ganz besonders der „Maler aus Schottland", Georg August Wallis, Gottlieb Schicks unbequemer Schwiegervater, galt in Rom als Spezialist für Ossian-Landschaften50. Der Anregungen waren also genug. Und sollte es noch der Autorität eines Gelehrten bedurft haben, um solche Themenwahl zu rechtfertigen, so fand sie sich nicht nur — genau gleichzeitig — bei Schlegel51 oder Jean Paul52, sondern gleichfalls im Freundeskreis: Carstens' erster Biograph Fernow, der die verschiedenen Landschaftstypen nach ihrem „poetischen Charakter" wertet, stuft die schottische Natur gleich nach der „in jeder Hinsicht" poetischen italienischen Landschaft ein: sie sei, heißt es zur Begründung, „durch die ossianischen Dichtungen ein klassischer Boden für die Landschaftsmalerei geworden" 53 . Fernow geht davon aus, daß die Landschaft „eine leere Szene" ist, sofern der Maler nicht durch eine poetische Staffage „der idealischen Landschaft auch einen bedeutenden veredelnden Inhalt gibt" 54 . Das ist und bleibt auch Kochs Auffassung, mag er Fernow sonst auch für ein „gelehrtes Vieh" halten55: „Die Vereinigung mit historischen Vorstellungen gibt der Landschaft größeres Interesse. Die Malerei wird poetischer."56 Letztlich räumt er — und das bestätigen seine Kunsturteile, sein Lob des „architektonischen, allein wahren Kirchenstyls"57 ebenso wie z. B. seine scharfe Ablehnung der Malerei von Turner58 — dem Figurenbild doch den Vorrang innerhalb der von ihm anerkannten Hierarchie der Künste ein. Das drückt sich schon darin aus, daß er den „Tod des Oskar" als „eine meiner besseren historischen Kompositionen", die „nun kein Bild für ein Kaffeehaus" sei, gegen die für unsere Begriffe weit bedeutendere Karlsruher Weltanschauungslandschaft zurücknordischen Stilquellen. Man hat sich angesichts der Ossian-Zeichnungenfolge (um 1816/17) von Girodet gefragt, ob dieser Kochs Kompositionen kannte, und diese Möglichkeit schließlich verworfen. (Hélène Toussaint, in : Ausst.-Kat. Ossian, Einleitung zu Nr. 83 — 90 [Paris], 93 — 106 [Hamburg]). Aber selbst bei Ingres, dessen 1813 vollendetes Gemälde „Der Traum Ossians" während der ersten römischen Jahre (ab 1806) entstand, finden sich Anklänge an Koch. Pauszeichnungen im Musée Ingres in Montauban (Ausst.-Kat. Ossian, Nr. 97/98 [Paris], 112/113 [Hamburg]) zeigen in der Mitte rechts die — im Gemälde völlig anders aufgefaßte — Everallin, Ossians Frau, in einer ganz ähnlichen Haltung sitzend wie Ossian auf Kochs Gemälde: bemerkenswert ist vor allem die Überschneidung des linken Arms durch das Knie. (Der rechte Arm hingegen entspricht dem des Fingal auf Gérards „Heldenbeschwörung Ossians".) Das mehrfach wiederholte Motiv des nachsinnend auf die Lanze gestützten Kriegers entspricht gleichfalls dem „Tod des Oskar"; im einzelnen erinnert die Figur ganz links bei Ingres an den Jüngling ganz rechts bei Koch (in spiegelbildlicher Umkehrung). 48 Kopenhagen: D 730, Wien: Lutterotti Z 756. Ausst.-Kat. Ossian Nr. 20. 49 E. Jaffé (wie Anm. 1), S. 31, Anm. 2. Die Datierung „ 1 7 7 6 " ist selbstverständlich in „1796" zu berichtigen. Zeichnung dazu: Ausst.-Kat. Ossian Nr. 52. 50 Vgl. Klaus Graf v. Baudissin, Georg August Wallis, Heidelberg 1924, S. 12—14. Diese Gemälde scheinen nicht wieder aufgetaucht zu sein. 51 August Wilhelm von Schlegel: Zitat bei Bauclissin (wie Anm. 50), S. 13. 52 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Hamburg 1804, Bd. 3. 63 Carl Ludwig Fernow, Römische Studien, Bd. 2, Zürich 1806, S. 46. 64 Wie Anm. 53, S. 42. Vgl. auch Herbert von Einem, Carl Ludwig Fernow. Eine Studie zum deutschen Klassizismus, Berlin 1935, S. 50 — 55. 65 Brief vom 21. März 1807 an Uexküll. In: A. von Schneider (wie Anm. 17), S. 202. 56 Brief vom 9. März 1813 an Robert von Langer. In: Lutterotti S. 159. 57 Joseph Anton Koch, Moderne Kunstchronik. Briefe zweier Freunde ... oder die Rumfordische Suppe, Karlsruhe 1834, S. 91—92. Vgl. auch die Bemerkung über Landschafts- und Genremaler (darunter Claude Lorrain und Ruysdael): „Ihre Werke erfreuen uns, sie hauchen uns Freude und Leben ein; obschofl sie von dem erhabenem Kirchen- und Tempelstyl ausgeschlossen sind . . . " (S. 78). 58 /. A. Koch (wie Anm. 57), S. 68.

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tauscht. Noch zwanzig Jahre später — er wird bald sechzig — schreibt er, durch den Dante-Auftrag für das Casino Massimo beglückt: „Nun fühle ich, daß ich einmal etwas mache, was die Ehre Werth i s t , . . . womit man sich den Namen eines Künstlers erwerben kann." 59 Auch die Maler, die er besonders schätzt — Carstens, Wächter, Schick — sind reine Figurenmaler. Die Faszination des geborenen Landschaftsmalers durch das Historienfach erklärt vielleicht das Überraschende: daß gerade er, im Gemälde wie in den vielen anderen Ossian-Kompositionen, so wenig auf die Eigenart der Dichtung eingegangen ist. Deren eigenste Schönheit — und zugleich ihr romantischster Zug — liegt darin, daß die Handlungen und Gemütsbewegungen der Menschen ständig von gleichgestimmten Naturvorgängen begleitet werden: sehr häufig in der Form, daß ausführliche Landschafts Schilderungen der eigentlichen Erzählung vorausgehen. Um dieselbe Zeit hat Runge die Historien durchaus mit Landschaftlichem verknüpft — freilich seiner sehr speziellen Auffassung von der Landschaftskunst gemäß — indem er die drei Haupthelden Fingal, Ossian und Oskar mit Gestirnen identifizierte. Und obwohl Koch in Rom zumindest das Beispiel der Ossian-Landschaften von Wallis vor Augen hatte, deuten unter seinen drei Dutzend Entwürfen nur zwei oder drei auf ein gewisses Bestreben hin, zwischen Mensch und Natur eine Beziehung herzustellen: am ehesten der Tod des Hidallan60 und die trauernde Kolma 6 1 . Diese pathetisch bewegte Figur zwischen Felsgestein und Sturmwind, sie entspricht dem Text, in welchem es heißt: „ O von dem Felsen des Hügels, von dem Gipfel des stürmenden Berges, redet, Geister der Toten! Redet! ... In welcher Gruft des Gebürges soll ich euch finden! — Keine schwacheStimme vernehm ich im Wind, keine wehende Antwort im Sturme des Hügels" 62 . In diesen wenigen Blättern bereitet Koch — ebenso wie schon Jahre früher, in der großen, spätestens 1797 entstandenen Komposition „Fingal und der Geist von Loda" 6 3 — die „historischen Landschaften" seiner späteren Zeit vor. Derlei Versuche zu wiederholen, wird ihn vorerst jener Ehrgeiz zurückgehalten haben, der ihn zur rein figuralen Historienmalerei hinlenkte. Viel später aber sollte er mit seinen inzwischen gereiften Möglichkeiten einen Nachtrag liefern: die ossianische Landschaft, groß, finster, wild, von Stürmen zerrissen und von Geistern bewohnt — sie heißt „Macbeth und die Hexen": mit dem 1829 entstandenen Basler Gemälde 64 bekennt sich Koch zu einem Aquarell, das als Gegenstück zu dem ersten „Fingal und der Geist von Loda" entstanden war 65 , und verspannt die beiden Pole seines Strebens unter dem Zeichen der „historischen Landschaft". 59

Brief vom 12. November 1825 an Friedrich von Fischer. In: E. Jaffe (wie Anm. i), S. 89. Kopenhagen D 695 (Ausst.-Kat. Ossian Nr. 23), Wien: Lutterotti Z 761. 61 Kopenhagen D 698 (Ausst.-Kat. Ossian Nr. 26), Wien: Lutterotti Z 765. 62 Goethes Übersetzung (in: Die Leiden des jungen Werthers). 63 Lutterotti Z 69. Früher Berlin, Sammlung der Zeichnungen der National-Galerie, Nr. 43 (Kriegsverlust). Vgl. dagegen Lutterotti Z 756 in Wien und die Kopenhagener Zeichnung D 730 (Ausst.-Kat. Ossian Nr. 20): cjiese halten sich, obgleich später, viel enger an das Vorbild des Carstens-Gemäldes von 1796 im Thorvaldsen's Museum. 64 Basel, Kunstmuseum. Lutterotti G 73, Abb. 72. Später mehrfach wiederholt. 65 Lutterotti Z 541. Mainz, Städtische Gemäldegalerie. 60

DER E L E F A N T ALS SINNBILD AUF MEDAILLEN (Mit Tafeln 23 u. 24)

Lore Börner

Der Elefant, das große, plumpe, exotische Tier, dem im Anschluß an Berichte klassischer Schriftsteller verschiedene Tugenden zugeschrieben wurden und dessen Auftreten als Sinnbildfigur sich durch die abendländische Kunst verfolgen läßt 1 , fand als solche auch Eingang in die Medaillenkunst und soll hier mit einigen Beispielen vorgestellt werden 2 . Die Kenntnis vom Elefanten verbreitete sich in Europa vor allem durch die Kriegszüge Alexanders des Großen. Seit dieser Zeit beschäftigten sich Schriftsteller mit naturwissenschaftlichen Studien über das Tier oder verbreiteten Berichte und Legenden über seinen Charakter, seine Gewohnheiten und Eigenschaften. Aristoteles, Plinius, Aelian schrieben über dieses Thema, durch sie blieb das Wissen um den Elefanten über das Mittelalter bis in die Neuzeit lebendig. Gerühmt wurden des Elefanten Klugheit, Hilfsbereitschaft, Mäßigkeit, seine Langlebigkeit machte ihn zum Sinnbild der Ewigkeit. Die Renaissance mit ihrer Neigung für gelehrsame Emblematik, für aus dem antiken Geistesgut übernommene Allegorien übernahm auch den Elefanten in ihre Bildersprache. Das Tier als Sinnbild hoher menschlicher Tugenden wurde die Impresa der Malatesta, als solche erscheint es auch erstmals auf einer Medaille3 (Taf. 23, 1), die Sigismund Pandulf Malatesta 1446 für seine Geliebte und spätere Gemahlin Isotta Atti durch Matteo de' Pasti gestalten ließ. Der in der Medaillenliteratur geläufigen Interpretation dieses Elefanten 4 als Symbol für Großmut oder Keuschheit oder Demut hat William S. Heckscher in seiner wertvollen Elefantenstudie 5 eine Auslegung gegenübergestellt, die das Tier als Zeichen ehelicher Keuschheit ansieht. Zum Zeitpunkt der Entstehung der Medaille erwartete Isotta ein Kind, und Sigismund Pandulf beabsichtigte, mit dieser Darstellung die Stellung des Kindes und seiner Mutter zu ideeller Legitimität zu erheben. Schon Plinius kannte die Zurückhaltung des Elefanten im sexuellen Leben und seine geringe Nachkommenschaft, hierin liegt der Ruf des Elefanten als keusches Tier begründet6. Auf der Medaille steht unter einer strahlenden Sonne der Elefant, vor und hinter ihm als deutlicher Bildbestandteil eine Blume, die für die Malatestarose angesehen wird, in der Heckscher jedoch eine Mandragora, die Pflanze, deren Wurzel als menschenähnliche Alraune zauberkräftig sein sollte, vermutet. Bei seiner Überlegung knüpft Heckscher an die aus dem Physiologus stammende Überlieferung an7, wonach die sexuellen Wünsche der Elefanten nur durch den Genuß der wunderwirkenden Pflanze Mandragora 1

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Zur Ikonographie des Elefanten: J. Baum u. K. Arndt, Elefant, Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, 4. Bd., Stuttgart 1958, Sp. 1221 ff., hier auch Quellen und Literatur. Die Auswahl wurde bis auf die in Anm. 22 u. 35 genannten Medaillen aus den Beständen des Münzkabinetts getroffen, sie ließe sich sowohl durch Beispiele aus der Sammlung wie aus der Literatur vermehren. G. F. Hill, A Corpus of Italian Medals of the Renaissance, London 1930, Nr. 168. Vs.: Brustbild von rechts. Bronze 83 mm. Die ältere Literatur s. Hill (wie Anm. 3). W. S. Heckscher, Bernini's Elephant and Obelisk, The Art Bulletin 29, New York 1947, S. 155 ff., speziell zu dieser Medaille S. 173. Plinius, Historia naturalis, Buch 8, Kap. 5. Physiologus, hrsg. F. Sbordone, Genua, Rom, Mailand 1936

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geweckt werden können. Die Elefantin hatte nach Osten, der Sonne entgegen, vor das T o r des Paradieses zu gehen, w o sie die Blume finden konnte, die sie gemeinsam mit ihrem Gefährten verspeisen mußte. In dieser Erzählung sah die mittelalterlich-christliche Symbolik die keusche, christliche Ehepflicht, die nur zum Zwecke der Zeugung von Nachkommenschaft ausgeübt werden durfte. Die Form der auf der Medaille wiedergegebenen Pflanze mit ihrem sternartig gebildeten Blütchen und den länglichen, geschlängelten Blättern über einem zum Boden hin wulstigen Stengel lassen den Vergleich mit der Mandragora überzeugender wirken als die Assoziation mit einer Rose. Die Erfassung der Gestalt des Tieres, das sich durch seine großen Ohren und langen Stoßzähne als der afrikanischen Rasse zugehörig zu erkennen gibt, folgt in der Massigkeit des Körpers, den Hautfalten des Rüssels und dem Paßgang wirklichkeitsnaher Vorstellung, die jedoch kaum aus eigener Anschauung entstanden sein kann, sondern auf Vorbildern beruhen dürfte, die vor allem in Italien aus der antiken Kunst lebendig waren. Hier wird ein Gegensatz zu zahlreichen nördlichen mittelalterlichen Darstellungen deutlich, die Charakteristika des fremdländischen mit denen einheimischer Tiere vermischten 8 . Häufiger als die Keuschheitslegende wurde in der bildenden Kunst eine andere Geschichte aufgegriffen, die zur Versinnbildlichung von Frömmigkeit, Andacht und Reinheit herangezogen werden konnte. Plinius berichtet in der Historia naturalis9, daß die Elefanten an die Macht der Gestirne glauben und den Mond anbeten. Die Tiere ziehen bei zunehmendem Mond an einen Strom, mit dessen Wasser sie sich wie in einer feierlichen Reinigung besprengen. Diese nach einer „angeborenen und geheimnisvollen Einsicht" vollzogene Selbstreinigung stellt die italienische Medaille mit dem Bildnis des paduanischen Kardinals Francesco Zabarella (1359—1417) dar (Taf. 23, 2), die postum in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstand10. Grob, mehr handwerklich-dilettantisch als künstlerisch, zudem mit einem wenig einfühlsam überarbeiteten Exemplar vorgestellt, wird der Augenblick der Reinigung erfaßt. Ein Elefant, von links im Profil gezeigt, steht mit den Hinderbeinen auf einem Uferrand, während die Vorderbeine im Wasser versenkt sind und der Körper so die Neigung zum Wasser vollzieht. Der unrealistisch lange Rüssel mit großen Nüstern liegt geschwungen über der Wasserfläche. Ein Palmbaum links, ein Lorbeerbaum rechts sind streng symmetrisch angeordnet, ein Strahlen sendender Mond und sieben dicke Sterne vervollständigen das Bild. S O L I D E O (gloria) deutet es als Allegorie der Frömmigkeit. Noch wörtlicher wird die literarische Vorlage auf einer Medaille des Markgrafen Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth von einem unbekannten Medailleur in der Mitte des 17. Jahrhunderts ins Bildliche übertragen (Taf. 23, 3)11. Wie die deutschen Renaissancemedaillen fast keine figürlichen, auf Allegorie und Emblematik beruhenden Rückseitenbilder kennen, so taucht auf ihnen auch der Elefant nicht auf. Erst als in der deutschen Medaillenkunst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts der italienisch-niederländische, später französische Einfluß wirksam wurde, trat mit der auch im Barock lebendig gebliebenen Vorliebe für Sinnbilder die Allegorie auf den Medaillen in Erscheinung. Das Bild des frommen, reinen Elefanten steht im Zusammenhang mit dem Wahlspruch des Markgrafen Christian Ernst: P I E T A S A D O M N I A UTILIS E S T (Frömmigkeit ist zu allem nütze) 12 , der im Brief des Paulus an Timotheus dem Ausspruch folgt „Übe dich selbst in der Gottesfurcht", mit dem die Verbindung zur Selbstreinigung deutlicher wird. Der mit vier Beinen im Fluß stehende Elefant hat den Rüssel gehoben und zum Körper gerichtet, als wolle er sich gerade besprengen; der Kopf ist aufgerichtet und dem Mond zugewandt. Doch hat mit diesem Bild der Medailleur keine eigene Elefanten mit wolfsähnlichen Körpern in einem englischen Bestiar des 12. Jhs., geschuppt und mit Hufen versehen im sog. Reumer Musterbuch des 13. Jhs., als Paarhufer mit dickem Hals und schlankem Körper in einer deutschen Handschrift des Alexanderromans um 1450 (wie Anm. 1, Abb. 3, 4, 10). 9 Plinius 8. 1. 10 A. Armand, Les Medailleurs Italiens, 2. Bd., Paris 1883, S. 20. 7 und 3. Bd., 1887, S. 159. Vs.: Büste von links. Unbekannter Medailleur. Bronze 37 mm. 11J. Menadier, Schaumünzen des Hauses Hohenzollern, Berlin (1901), Nr. 593. Vs. Brustbild von vorn rechts. Silber 43:34 mm. 12 1. Timotheus Kap. 4, V. 8 u. 7. 8

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Erfindung geliefert, was bei einem Vergleich offenkundig wird mit dem Kupferstich von Hans Sibmacher13 aus der 2. Centuria von „Symbolorum et Emblematum ex animalibus . . d e s Joachim Camerarius 1595 (Taf. 23, 4)14. Hier wird die Szene bereits in der Anlage gezeichnet, wie sie später auf der Medaille erscheint. Beide Male steht der Elefant nach links, auf der Medaille mit geringer Rückansicht, wobei die beiden rechten Beine in Rückstellung gegeben werden und das rechte Vorderbein nicht durchmodelliert, sondern nur durch zwei Striche angedeutet wird. Kupferstecher sowohl wie Medailleur bringen im Hintergrund Palmen, der Kupferstecher zeichnet fünf, der Medailleur, vielleicht bedingt durch die kleinere ihm zur Verfügung stehende Fläche, beschränkt sich auf eine. Auch die Bäume mit ovalen Kronen wiederholt der Medailleur nach dem Vorbild des Kupferstichs ebenso wie das Uferstück mit Pflanzen im Vorder- und Berge im Hintergrund. Im Gegensatz zum Kupferstich, wo ein Mondviertel vom klaren Himmel blickt, läßt die Medaille den zunehmenden Viertelmond mit breitem Strahlenkranz zwischen Haufenwolken stehen. Trotz der geringen Differenzen ist offensichtlich, daß die Medaille nicht nur in der Bildkonzeption, sondern bis in Einzelheiten dem Kupferstich folgt. Anläßlich der Einweihung der Kirche in Schloß Friedenstein ließ Herzog Friedrich II. von SachsenGotha 1697 von Christian Wermutheine Medaille prägen (Taf. 23, 5)15, auf der die PIETAS PRINC (Frömmigkeit der Fürsten) durch das fürstliche Tier symbolisiert wird, das die Sonne anbetet. Der im rechten Medaillenfeld stehende Elefant im Dreiviertelprofil hat den Kopf ein wenig gehoben und den Rüssel hoch aufgerichtet gegen die von oben ihre Strahlen schickende Sonne. Schlapp herabhängende, gelappte Ohren und der geringelte, wie aus einzelnen Gliedern zusammengefügte Rüssel machen deutlich, daß Wermuth nach einer mißverstandenen Vorlage arbeiten mußte. In dieser Vorlage kann ein Nachwirken des auch von Martin Schongauer gestalteten und häufig zu beobachtenden Elefantentyps vermutet werden 16 , der durch seine gerippten Fächerohren und den aus muschelartigen Gebilden bestehenden Rüssel auffällt. Das in der Medaillenkunst nicht eben oft bearbeitete Motiv des Elefanten hat den Gothaer Stempelschneider Wermuth mehrmals beschäftigt, er versuchte sich sogar mit nicht sehr überzeugendem Erfolg an einer Dreiviertelrückansicht wie auf der ebenfalls 1697 datierten kleinen Medaille Friedrichs II. von Gotha 17 . Die in der Perspektive mißlungene Rückansicht eines Kolosses Elefant beherrscht den Revers der Tentzelmedaille von 1700 (Taf. 23, 6)18, auf der das Tier zwar als Symbol der Pietas die Sonne anbetet, doch legen Umschrift N O N C V R A T V V L G I SIBILOS MENS CONSCIARECTI (Wer ein ruhiges Gewissen hat, kümmert sich nicht um -das Zischen des Pöbels) und die den Elefanten umgebenden Gänse eine Deutung nahe, die auf Tentzels wissenschaftliche Händel anspielen könnte 19 : Die Gänse — seine Kontrahenten — gehen mit vorgestreckten Hälsen böse auf den Elefanten los. Seine Hilfsbereitschaft ließ den Elefanten Verirrten den rechten Weg weisen, zu seinen Tugenden zählten Sanftmut und Güte 20 ; als Sinnbild dieser Eigenschaften und für die Milde des Herrschers tritt er auf einer Halblira Emanuel Philipps von Savoyen 15 62 auf (Taf. 23, 7)21. Unbekümmert um den

Maler, Radierer und Gebrauchsgraphiker in Nürnberg, gest. 1611, fertigte 1590 — 1596 die etwa 70 mm großen Medaillondarstellungen in Camerarius' Emblemenbuch an (Thieme-Becker, 30. Bd., 1936, S. 58off.). 14 A. Henkel u. A. Schöne, Emblemata, Stuttgart 1967, Sp. 411. 15 W. E. Tent^el, Medaillen-Cabinett ... Ernestinischer Hauptlinie, Dresden 1705, Taf. 76. IV. Vs.: 13 Zeilen Schrift. Silber 31 mm. 16 M. Winner, Raffael malt einen Elefanten, Mitteilungen des kunsthistorischen Institutes in Florenz, 11, 1965, S. 71 ff., A b b . 6. " Tent?el (wie Anm. 15) Taf. 76. V . 18 Historische Gedächtnuß-Müntzendes gegenwärtigen Seculi, Nürnberg 1707, S. 757. Vs.: Brustbild von rechts des Gothaer und Dresdner Historiographen und Numismatikers (1659—1707). Zinn 32 mm. 19 /. D. Köhler, Historische Münz-Belustigung, 15. Teil, Nürnberg 1743, S. 101. 20 Plinius 8. 7. Camerarius, 2. Centuria, 2. 21 Corpus Nummorum Italicorum I, Rom 1910, S. 199, Nr. 103. Vs.: Fünffeldiger Wappenschild. Die Umschrift der Rs. I N F E S T V S INFESTIS (Feindselig gegenüber dem Feindseligen) scheint darauf anzuspielen, daß der Elefant, nur wenn er selbst bedroht wird, zum Angriff übergeht. Silber 28 mm.

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mächtigen Elefanten grast eine Herde Schafe, von dem sanftmütigen Tier droht keine Gefahr, auch nicht dem Schaf, das direkt vor seinen kraftvollen Beinen steht, denn der Elefant schützt mit seinem Rüssel Wehrlose vor seinem schweren Tritt. Noch eindringlicher schildert dies eine 1703 von dem Hamburger Wermuthschüler Johann Friedrich Hilcken für Friedrich Wilhelm von MecklenburgSchwerin geschaffene Medaille22. Nicht nur, daß die Schafe zwischen des Elefanten Beine herumlaufen, er trägt auch eines sicher und behutsam auf seinem Rüssel, und so hilft der, der nicht schädlich ist, den Unschuldigen (INNOCUOS N O N N O C U I S S E J U V A T ) . Eine größere Zahl der auf Medaillen abgebildeten Elefanten stellt einen Bezug zu Dänemark her. König Christian I. hatte 1464 einen Orden gestiftet, als dessen Zeichen der Elefant als Ausdruck herrscherlicher Würde und Sinnbild von Hochherzigkeit und Frömmigkeit angenommen würde. Das Ordenskleinod lehnt sich an antike Vorbilder des Kriegselefanten an und besteht aus einem im Profil gegebenen Elefanten mit erhobenem Rüssel, der über Schabracke, Bauchriemen und Schweifgurt einen Zinnenturmsattel trägt mit einem Kreuz aus Diamanten; auf dem Nacken sitzt ein mit Turban bekleideter, den Treibstachel haltender Kornak. In dieser Form des Ordenskleinods erscheint der Elefant auf Medaillen, die Fürsten anläßlich ihrer Aufnahme in den dänischen Orden prägen ließen, so 1695 Wilhelm von Anhalt-Harzgerode (Taf. 24, i) 23 , dessen Medaille die Ordensdevse M A G N A N I M I P R E T I U M (Preis des Großmuts) nennt. Ähnlich gestaltete Christian Wermiuth 1698 eine Schaumünze für Heinrich von Sachsen-Römhild 24 . In Dänemark selbst hatte die Medaillenkunst das Symbol des Ordens bereits hundert Jahre früher aufgenommen. 1580 ist es ein gedrungenes, plumpes, hochleibiges Tier ohne jede Beigabe, das auf einem mit den Buchstaben T I W B besetzten Sockel steht und von der Devise M E I N H O F F N V N G Z V G O T A L E I N gerahmt wird (Taf. 23, 8)25. In Anlehnung an das Ordenskleinod erscheint 1582 auf der Medaille Friedrichs II. von Dänemark der turmbewehrte, im Paßgang schreitende Kriegselefant (Taf. 23, 9)26. Ähnlich wie auf der 1596 geprägten Medaille (Taf. 24, 2)27 oder auf der Vierschillingmünze von 1603 (Taf. 24, 3)28 drängen sich im Turm bewaffnete Gestalten, so wie es aus der Überlieferung antiker Kriegselefanten bekannt gewesen sein muß. Auf den Darstellungen von 15 82 und 15 96 ist am Halsriemen eine Glocke befestigt, zu der auf dem früheren Stück noch eine am Bauchgurt befestigte gehört. Dies ist insofern bemerkenswert, als Glocken sonst nicht als Teil der Ausstaffierung zu beobachten und hier vielleicht der Phantasie des Stempelschneiders entsprungen sind. Möglicherweise aber kannte er eine Abbildung des Elefanten Hanno, der 1 5 1 4 als fürstliches Geschenk des portugiesischen Königs an den Papst nach Rom gekommen war und dort als große Attraktion zur Schau gestellt wurde. In verschiedenen Fassungen, 22

wie Anm. 18, 170;, S. 254. Versteigerungskatalog F. Schiessinger, Berlin Dez. 1931 (Sammlung Gaettens), Nr. 358. Vs.: Geharnischtes Brustbild von rechts. Rs.: Nach links gehender Elefant, gefolgt und umgeben von einer großen Zahl Schafe, eins ruht auf seinem nach außen gebogenen Rüssel; im Hintergrund Landschaft. Die Medaille entstand anläßlich der Aufnahme des Herzogs in den Elefantenorden. Ein Original befindet sich im Münzkabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Silber 42 mm. 23 /. Mann, Anhaltische Münzen und Medaillen, Hannover 1907, Nr. 844. Vs.: Brustbild im Harnisch mit Überwurf, am Bande Kleinod des Elefantcnordens. Die Devise Herzog Wilhelms als Ritter des Elefantenordens S E N Z I L L O Y L E A L L (Aufrichtig und treu) im Abschnitt der Rs. Unbekannter Medailleur E. Silber 52 mm. 24 Tent^el (wie Anm. 15), Taf. 90. VIII. Vs.: Geharnischtes Brustbild von rechts mit Uberwurf und Elefantenordenskleinod am Bande. Rs.: G R A T A RECORDATIO (Angenehme Erinnerung), Ordenselefant auf Rasen stehend, oben Stern. Silber 32 mm. 25 Vs.: Geharnischte Büste von links. Die Buchstaben auf dem Sockel sind aufzulösen Treue Ist (selten und kostbar wie) Wild-Bret. Silber 24 mm. 26 Beskrivelse over Danske Mynter og Medailler, Kopenhagen 1791, S. 1 3 1 , Nr. 129. Vs.: Brustbild von vorn links. Unbekannter Medailleur. Silber 34 mm. 27 zu C. Lange, Sammlung schleswig-holsteinischer Münzen und Medaillen, Berlin 1912, 2. Bd., S. 284, Nr. 29E. Vs.: Gekröntes, geharnischtes Brustbild des Königs Christian IV. Geprägt anläßlich seines 20. Geburtstages von Nikolaus Schwabe (Schaube), 1590 —1599 Medailleur, 1602 — 1628 Münzmeister in Kopenhagen. Silber vergoldet 39 mm. 28 Geprägt in Kopenhagen wahrend der Amtszeit von N. Schwabe, die Abhängigkeit dieses Elefanten von der Medaille 1596 ist offensichtlich. Rs.: Wertangabe. Silber 20 mm. 202

die vermutlich alle auf eine Zeichnung Raffaels zurückgehen 29 , wurde sein Bild festgehalten, ob, wie in der Regel, ohne Ausstattung oder als Kriegselefant, immer gehört zum Bilde Hannos die Halsglocke. i Würde und Statuarik, die zum Bild des Elefanten gehören, sind auf dem Doppeldukat von 1673 (Taf. 24, 4)30 durch Bewegung ersetzt. Auf dem munter ausschreitenden Tier, dem der Stempelschneider ein fast lächelndes Gesicht mit sehr kräftigen Stoßzähnen und zu kurzem Rüssel gegeben hat, reitet der Kornak, der bei der flotten Bewegung vom Nacken des Tieres zu fallen droht. Noch weiter von der Wirklichkeit entfernt und zu einem ungetümlichen Fabelwesen umgestaltet, ist der Elefant, auf der anläßlich der Thronbesteigung König Christians V. von Dänemark 1670 geprägten Klippe (Taf. 24, 5) 31 . Die kurze, hohe Figur, der übergroße K o p f , die Füße mit den zu plumpen Hufen umgeformten Zehennägeln lassen erkennen, daß der Medailleur aus gebrochener Überlieferung unter Hinzufügung phantastischer Vorstellungen das Bild eines exotischen Tieres entwarf, dessen fremdländische Herkunft durch den auf dem Platz des Reiters sitzenden Affen betont wird. Über die Verbindung des Elefanten mit dem dänischen Orden hinaus, wurde das Tier allmählich zu einer allgemeinen Personifikation Dänemarks und auch auf Medaillen als Repräsentant des Staates nicht nur von einheimischen, sondern auch von ausländischen Medailleuren dargestellt, wofür zwei Stücke beispielhaft stehen sollen. Von den Tugenden des Elefanten ist auf der schwedischen Schaumünze von 1 7 1 0 (Taf. 24, 6)32 keine Rede, vielmehr wird er in der Umschrift abwertend ein Monstrum genannt: Wer würde glauben, daß die Ungeheuer so aus dem Reiche vertrieben sind. Hiermit wird auf die Schlacht bei Heisingborg angespielt, in der die Schweden unter dem Feldherrn Graf Steenbock — der Steinbock des Medaillenbildes — die dänischen Truppen — den Elefant — besiegten und Schonen von den Dänen geräumt werden mußte. Als sich das Kriegsglück wendete, 1713 Graf Steenbock und seine Armee bei Tönning geschlagen wurde, höhnt die unter Friedrich IV. von Dänemark geprägte Medaille (Taf. 24, 7) 33 : Wie sehr ist er vom vorigen verschieden und läßt den Elefanten als Sieger erscheinen, wie er mit dem Vorderbein den Steinbock tritt und ihn in die Knie zwingt. Daß die Darstellung des Elefanten nicht nur auf Medaillen seiner natürlichen Gestalt oft nicht gerecht werden konnte, ist den Künstlern nicht zur Last zu legen, da ihnen die eigene Anschauung fehlte. Nur äußerst selten waren innerhalb mehrerer Jahrhunderte einige Exemplare nach Europa gekommen 34 , die bei diesen Gelegenheiten entstandenen Beschreibungen und Bilder gaben Anregungen und Vorlagen für viele Künstlergenerationen, wurden aber auch mißverstanden und umgedeutet. Eine Medaille jedoch kann sich rühmen, das nach dem Leben eines Elefanten genommene Konterfei zu bringen. Es ist dies die 1554 datierte, M F signierte und Michael Fuchs zugeschriebene Gußmedaille (Taf. 24, 8)35, die den Elefanten nicht als Sinnbild auffaßt, sondern ihn um seiner selbst, um seiner Außergewöhnlichkeit willen darstellt. Gewissermaßen als Geschichtsmedaille nimmt sie ein für damalige Zeit ganz außerordentliches Ereignis, die Begegnung mit einem lebenden Elefanten zum Anlaß. E s wird sich um das Tier handeln, das im Gefolge Maximilians II. 1552 nach Wien kam. Doch scheint es nicht sicher, ob der Inschrift D I S E R H E L F A N T I S T K V M E N G I E N W I E N I N D I E S T A T D A M A N I N B E I S E I N E M L E B E N A B I C O N T E R F E T H A T Glauben geschenkt werden

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Winner (wie Anm. 16), Abb. 2. Geprägt unter Christian V. von Dänemark. Vs.: C 5 gekrönt. Gold 24 mm. Lange (wie Anm. 27), 1. Bd., S. 48, Nr. 77. Vs.: Im Lorbeerkranz geharnischte Büste von rechts mit Elefantenordenskleinod, oben strahlender Name Jehovas, an den Seiten und unten die dänischen Wappenbilder 3 Löwen und 9 Herzen. Unter dem Elefant Signatur Gottfried Krügers, Stempelschneiders und Münzmeisters in Kopenhagen 1665—1680. Silber 52,5 mm. B. E. Hildebrand, Sveriges och Svenska Konungahusets Minnespenningar, 1. Bd., Stockholm 1874, S. 571, Nr. 158. Vs.: Fliegende Viktoria mit Posaune und Schriftrolle. Geprägt in Hamburg. Silber 32 mm. Lange (wie Anm. 27), 1. Bd., S. 53, Nr. 92. Vs.: Büste von rechts. Unbekannter Medailleur. Silber 35 mm. wie Anm. 1, Sp. 1229. G. Habich, Die deutschen Schaumünzen des 16. Jahrhunderts, Bd. II. 1, München 1932, Nr. 2369. Das einzig bekannte Exemplar befindet sich in einer Privatsammlung. Die Abbildung ist eine Reproduktion, Habich Tafel C C X X X I X . 1.

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kann bei der Gegenüberstellung mit einem Flugblatt des Monogrammisten MM (Taf. 24, y)S6, das sich auf dasselbe Tier bezieht, das K M K I N I G ZV P E H A M HAT AVSS ISPANIA IN DAS TEISHSLAND G E F I E R T und das Z V W A S S E R B V R G A N K H V M E N A V F D E N 24 I A N V A R I I M 1552 IAR, als also Maximilian auf dem Wege von Innsbruck nach Linz und Wien in Wasserburg Station machte37. Das kartuschierte Blatt zeigt einen nach rechts gehenden indischen Elefanten mit etwas erhobenem Rüssel und einen mit Wams und Federbuschmütze bekleideten Kornak, der seine Rechte in die Seite legt und mit der erhobenen Linken den dreizackigen Leitspieß auf den Hals des Tieres stützt. Unter Fortlassung des landschaftlichen Hintergrundes, aber ebenfalls auf Pflanzenboden erscheint auf der Medaille der zwar im reinen Profil gegebene und sich in Ruhestellung befindende Elefant, während der Kupferstich ihn ein klein wenig von rechts vorn sieht und ihn im Paßgang schreiten läßt, doch gehen die Gesamterscheinung des Tieres mit seiner lederartigen Haut und seinem Reiter auf beiden Bildern so weit konform, daß ihre Verwandtschaft angenommen werden muß. Fotonachweis: Staatliche Museen zu Berlin 36 37

Winner (wie Anm. 16), Abb. 7. Allgemeine deutsche Biographie, 20. Bd., Leipzig 1884, S. 737.

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PORTRAITS IN MEHRFACHER ANSICHT Überlieferung und Sinnwandel einer Bildidee (Mit Tafel 25 — 32)

Claude Ketsch

„So wie die Physik sich gänzlich auf Beobachten und Experimente gründet, so giebt es auch eine Experimentalmahlerey, die dem Mahler so wichtig ist, als die Experimentalphysik dem Naturlehrer. Und es ist zu bedauern, daß die Experimentalmahlerey, wozu L. da Vinci vor mehr als 200 Jahren bereits einen so vortrefflichen Grund gelegt hat, nach ihm nicht mit dem gehörigen Eifer ist fortgesetzt worden." J . G. Sul^er1

Mitunter treten die Künste gleichsam über ihre Ufer: sie überschreiten die durch Tradition, Zweckmäßigkeit und relativ stabile Wirkungsgesetze festgelegten Grenzen ihrer Gattungseigentümlichkeit und bringen seltsame Randphänomene hervor. Es gibt deren nicht wenige, und sie sind einer genaueren Betrachtung wert: weit davon entfernt, uns im Banne der Kuriosität festzuhalten, verweisen Ursachen und Zusammenhänge ihrer Entstehung und Entwicklung auf zentrale Begriffe zurück. Eines dieser Randphänomene ist die Darstellung eines und desselben Menschen unter verschiedenen Gesichtswinkeln, also in verschiedenen Ansichten, die auf ein und derselben Bildfläche miteinander konfrontiert werden, und zwar ohne eine Motivierung durch „Bild im Bild" oder Spiegelbild. Die klarste Ausprägung dieses Gedankens ist das sogenannte Tripleportrait, das in mehr oder minder strenger und reiner Form verwirklicht wird und dem sich etliche Misch- und Sonderformen an die Seite stellen lassen. Die Belege verteilen sich über mehrere Jahrhunderte: von der Renaissance bis in unsere Zeit, sporadisch zwar, aber hartnäckig. Während drei oder vier Hauptstücke aus dem 16. und 17. Jahrhundert (und teilweise auch ihre Verbindungen untereinander) recht geläufig sind, hat man bisher noch zu wenig dem Gesamtzusammenhang nachgespürt und das Fortleben des Bildtypus, namentlich im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert beachtet. Es wird sich die Frage erheben: ob wir es wirklich mit einer Überlieferung zu tun haben oder ob mehrmals Gleiches neu „erfunden" worden ist? A priori sollte man annehmen (und es werden sich genügend Anhalte für diese Auffassung finden), daß auch hier das von Ernst H. Gombrich ins Licht gerückte Entwicklungsgesetz waltet, wonach die Erfindung neuer Darstellungsformen nur dort stattfindet, wo die Übernahme oder Umbildung älterer Formen ganz unmöglich ist2. Eine zweite Frage aber geht dahin, ob alle Ausprägungen der einen Bildidee über Jahrhunderte hinweg wirklich die gleiche Bedeutung haben, dasselbe Problem meinen. Zweifellos sind die hier zusammengetragenen Belege nur ein Teil des existierenden weitverstreuten Materials. Sie dürften aber ausreichen, um den Gesamtverlauf der typologischen Entwicklung zu überblicken, ihren Sinn und ihre verschiedenen Aspekte zu beleuchten. Zunächst muß unser Gegenstand von einigen benachbarten Bereichen abgegrenzt werden. 1 2

Johann George Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Dritter Theil, Leip2Íg 1779 a , S. 100/101. ErnstH. Gombrich, Art and Illusion, London i960, S. 82.

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Auf Zeichnungen finden wir selbstverständlich recht oft ein und dasselbe Objekt, ob Mensch oder Ding, studienhalber von mehreren Seiten her betrachtet und die verschiedenen Aufnahmen auf einem Blatt vereinigt. Es ist dies ein praktisches Verfahren, das nicht nur Papier spart, sondern auch bei einer späteren Benutzung der Studien den Vergleich erleichtert. Die Anordnung solcher Studien auf dem Blatt entspricht einem stets wachen Kompositionsinstinkt, aber keinen weitergehenden Absichten. Solche nicht bildmäßig angelegten Zeichnungen, die sich schon im italienischen Quattrocento finden, wollen wir darum unbeachtet lassen. Ebenso dürfen wir nach kurzer Kenntnisnahme die sozusagen wissenschaftlichen Aufnahmen beiseitelegen, wie sie sich in den Illustrationen der bekannten Proportionslehrbücher von Dürer bis auf unsere Tage finden lassen, ebenso in denen physiognomischer Traktate 3 . Hier sind bei Vorder-, Seiten- und Rückansicht einer Figur alle einander entsprechenden Körperpartien streng in gleicher Höhe gehalten, und häufig laufen waagerechte Linien über alle zwei oder drei Ansichten hinweg. In vergleichbarer Weise sind auch Skulpturen veröffentlicht worden, z. B. von G o t t f r i e d S c h a d o w 4 ; in unseren Tagen wird antike Plastik gern, nunmehr mit Hilfe der Photographie, so vor Augen geführt. Schließlich dürfen, da wir uns hier speziell mit Bildnissen befassen, die photographischen Verbrecherkarteien mit ihrer Gegenüberstellung von Vorder- und Seitenansicht nicht ganz mit Schweigen übergangen werden, zumal sie vor einigen Jahren durch A n d y W a r h o l , mit Großformat und Farbe ausgestattet, in die Kunst eingeführt worden sind5. Alle diese Darstellungsformen werden hier nicht deshalb beiseitegelassen, weil sie keine Malerei sind (denn von Druckgraphik und, wenigstens erwähnungsweise, auch von Photographie wird noch die Rede sein), sondern weil bei ihnen der wissenschaftliche Aspekt so gut wie allein maßgebend und formbestimmend ist. Eine dritte, sehr umfangreiche Gruppe bilden die Portraits mit Nebenansicht im Spiegel. Seit die Tafelmalerei als Gattung existiert, ist die Möglichkeit mit Eifer genutzt worden : sei es, um die Raumdarstellung über die durch den Rahmen gesetzten Bildgrenzen hinaus zu erweitern, sei es, um die Dargestellten vollständiger zu erfassen, sei es dem reizvollen Kontrast zweier ungleicher Realitätsgrade zuliebe6. Solche Bilder sind, sofern die Nebenansicht, ihrer Größe und Deutlichkeit und ihrem Platz innerhalb der Komposition nach, gewichtig ist, durchaus eine Vorstufe zum Bildnis in mehrfacher Ansicht 7 . Es kommen dabei auch dreifache Darstellungen vor: den Anlaß dazu gibt das Bild des Malers bei der Arbeit. Schon auf einer französischen Miniatur von 1402 zu Boccaccios „ D e claris mulieribus" 8 sieht man die Malerin Marcia im Profil vor dem Spiegel sitzen, der ihr Gesicht, ebenso groß, in Vorderansicht zurückwirft; daneben kann man die gemalte Fassung dieses Gesichts, eine Miniatur, vergleichen. Ein vorzügliches, 1646 datiertes Selbstbildnis des sonst nicht bekannten Malers J o h a n n e s G u m p p (Tafel 25,4)® zeigt die Hauptfigur vom Rücken her, vor der Staffelei; der Spiegel und das Gemälde, an dem er arbeitet, zeigen dieselbe Ansicht. Beide Frontalköpfe blicken den Betrachter an, aber — beide sind irreal! Ohne diese Hintergründigkeit taucht dasselbe Schema in D a u m i e r s Litho3

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So bei Charles Lebrun, Traité des Passions, Paris 1698 (postum), oder in Gottfried Schadows „National-Physiognomieen", Berlin 1855. Erläuterungen der Abbildungen von den Bildhauer-Arbeiten von Johann Gottfried Schadow, seines Sohnes Ridolfo Schadow und der Transparent-Gemälde des Professors Kolbe, Berlin 1849, Tafel VIII, X X I , X X I V , X X V . Andy Warhol: Most Wanted Men. Gemäldeserie 1963. G. F. Hartlaub, Zauber des Spiegels. Geschichte und Bedeutung des Spiegels in der Kunst, München 1 9 5 1 , bes. S. 87 ff. Einige besonders charakteristische Beispiele des Bildnisses mit Nebenansicht im Spiegel: Hartlaub (wie Anm. 6), Abb. 86 (Meister des Aachener Altars oder der Hardenrath-Kapelle), 1 1 0 (Johann Erdmann Hummel), 1 1 6 (E. VigéeLebrun), 1 1 9 (Lovis Corinth), 120 (Max Beckmann). Man vergleiche auch: Georg Perlez, Bildnis des Goldschmieds Jakob Hofmann, 1544, Landesmuseum Darmstadt; Joh. E v . Holzer, Bildnis Maria Magdalena von K o p f , nach 1735, Barockgalerie Augsburg; Ingres, Bildnisse der Mme de Senonnes um 1814, Comtesse d'Haussonville 1845, Mme Moitessier 1856. Paris, Bibliothèque Nationale: Vgl. Hartlaub (wie Anm. 6), Abb. 85. Florenz, Uffizien. Vgl. Paul Ortwin Rave, Das Selbstbildnis des Johannes Gumpp in den Uffizien, in: Pantheon 18 (i960), S. 28 — 3 1 ; Ausst.-Kat. Deutsche Maler und Zeichner des 17. Jahrhunderts, Staatliche Museen, Stiftung Preußischer Kulturbesitz 1966, Nr. 24; Abb. 24. Das Bild ist bei Wilhelm Waet^oldt, Die Kunst des Porträts, Leipzig 1908, S. 332f., als Werk von Joh. Vernys erwähnt.

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graphie „ U n Français peint par lui-même" (1849) 10 wieder auf, und erst eine merkwürdige PhotoMontage von T o u l o u s e - L a u t r e c , von der noch zu reden sein wird, läßt den Spiegel fort und gelangt zu einer echten Doppel-Darstellung, in welcher beide Erscheinungen des Modells gleichen Wirklichkeitsgrad beanspruchen. Letztlich kennzeichnet der Verzicht auf die Abstufung der Realitätsgrade das echte Doppel- oder Tripleportrait einer Person. Lorenzo Lotto In reiner und klassischer Form führt sich das Tripleportrait in der Kunstgeschichte ein: mit dem „Bildnis eines Goldschmieds" von dem Venezianer L o r e n z o L o t t o im Kunsthistorischen Museum in Wien (Tafel 26,1), einem Werk, das recht einhellig gegen 15 30/3 5, in die reife Zeit des Malers datiert wird 1 1 . Die Identität des Dargestellten ist nicht ganz klar; die Hypothese eines Selbstbildnisses ist mehrmals vorgetragen worden, beruht aber wohl doch auf einem Mißverständnis. Das Modell ist sehr groß ins Bild genommen, so daß die Konturen mehrmals die Bildränder berühren, und tritt dreimal in gleicher Kleidung und Haltung auf. Daß die an die Brust geführte Hand zweimal die Linke, einmal hingegen die Rechte ist, fällt nur bei besonders mißtrauischer Kontrolle auf; offensichtlich sollte dadurch verhindert werdfen, daß zwei Hände einander überschneiden. Das Profil hebt sich von einem gerafften Vorhang ab, sonst bleibt die Räumlichkeit unbestimmt. Dennoch wird ein regelrechter Raumkreis gebildet, wozu die Gestalt rechts mit ihrem verlorenen Profil und ihrer mächtigen Rückenwölbung viel beiträgt. Es ist ein mehr als sonderbarer Gedanke, in einer einzigen Bildwahrnehmung drei Wahrnehmungen zu vereinigen, die in der praktischen Erfahrung streng getrennt sind. Wenn wir nicht drei Männer, sondern einen einzigen in diesem Bilde erblicken sollen, wo ist dann unser Standpunkt gedacht: ihm gegenüber, neben oder hinter ihm? Wie mag ein Raum beschaffen sein, in welchem sich ein Gegenstand an drei verschiedenen Orten zugleich befinden kann? In der Verdreifachung des Modells hat man Lottos „nachdrücklichen Forscherdrang gleichsam materialisiert" gefunden 12 . Tatsächlich wird der in solcher Art Dargestellte zum Gegenstand einer objektivierenden Untersuchung; zugleich aber wird seine so intensive, weil multiplizierte Gegenwärtigkeit irreal. Auf diese Fragen wird noch zurückzukommen sein. Wie konnte aber solch eine Form entstehen? Lotto war auf dem Gebiet des Portraits einfallsreicher als viele seiner Zeitgenossen. Seine sichere Beherrschung der Proportion zwischen Figur und Fläche ließ ihn nicht selten quadratische und sogar Querformate, auch für Einzelfiguren, wählen. E s gibt aber in seinem Werk nichts, was diesen Typus vorbereitet. Auf der Suche nach einem Anlaß hat man vermutet, dieses Bild könne als Hilfe für einen Bildhauer gemalt worden sein, dem der Dargestellte nicht persönlich Modell sitzen konnte 13 . Diese Annahme läßt sich zwar durch einige nachweisbare Fälle dieser Art aus dem 17. Jahrhundert stützen; aber abgesehen davon, daß nichts auf die Existenz einer solchen Büste hinweist, wäre die Wahl der Ansichten einer solchen Bestimmung nicht allzu förderlich: das verlorene Profil hätte für den Bildhauer wenig Nutzen, während ein Dreiviertelprofil ihm weitaus wichtigere Auskünfte geben könnte. Von seiner möglichen praktischen Zweckbestimmung abgesehen, steht aber Lottos Gemälde im Zusammenhang mit jener bedeutenden theoretischen Debatte, deren Gegenstand der Vergleich von Malerei und Bildhauerei war. In eben dem Augenblick, da auf dem „schmalen Grat" der Klassik die Tafelmalerei ihre Gesetze scheinbar endgültig festgelegt hatte, half dieser Vergleich — so viele überflüssige Worte auch über ihn gemacht wurden — diese Gesetze mit größerer Bestimmtheit ins Auge zu fassen. 10

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A u s : Scènes d'Ateliers; Charivari 29. 5. 1849. Delteil V I , 1722. In den vierziger Jahren malte Daumier selbst viel Das Thema des Malers kehrt in seinem Werk immer wieder. Mostra di Lorenzo Lotto (Kat. bearb. von P. Zampetti), Venedig 195}, Nr. 85. — Margot Seidenberg, Die Bildnisse des Lorenzo Lotto (Phil. Diss. Basel 1957), Lörrach 1964, S. 70/71 und Anm. 165. L. Biagi, Lorenzo Lotto, 1942, S. 23, zitiert in: Mostra di Lorenzo Lotto (wie Anm. 1 1 ) : „la sua insistenza indagatrice è come materializzata". Margot Seidenberg (wie Anm. 1 1 ) .

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Der Paragone „Amis quoique rivaux" lautete die Devise einer Medaille, die zu Neujahr 1765 den Officiers der französischen Kunstakademie überreicht wurde. Die miteinander rivalisierenden Freunde waren natürlich Malerei und Bildhauerei, und die milde und versöhnliche Formulierung war das letzte Echo eines längst eingeschlafenen Streits. Auf der Suche nach Argumenten, die den Aufstieg der bildenden Künste zu höherer gesellschaftlicher Geltung und zum Status der „freien" (geistigen) Künste rechtfertigen sollten, hatten sich die italienischen Kunsttheoretiker des 15. Jahrhunderts vor allem um den Vergleich um Malerei und Dichtung bemüht: die Formel des Horaz „ut pictura poesis" trat an Stelle der Auffassung von den Bildern als „biblia pauperum". Als erster leitete Leone Battista Alberti in seinen drei Büchern von der Malerei (1436) die Gleichrangigkeit beider Künste daraus ab, daß beiden die „inventione" zugrunde liege14. Aus der Parallele entwickelte sich aber bald ein Wettstreit, der etwa bei Leonardo da Vinci 15 in aller Ausführlichkeit erörtert und zugunsten der Malerei entschieden wird, weil diese der sinnlichen Erfahrung als der einzigen Quelle wahren Wissens näher bleibt und wissenschaftliche Methoden anwendet. Nach demselben Schema treten die Künste des „disegno", kaum daß sie ihre theoretische Position gesichert haben, untereinander in Konkurrenz. Da die „imitatione della natura" immer als die Hauptleistung der Künste betrachtet wird, kann nun die Vollkommenheit dieser Naturnachahmung als wichtiges Kriterium dienen. Während noch Ghiberti in seinen „Commentarii" (um 1450) die Zeichnung und die Wissenschaften als gemeinsame Grundlagen der Malerei wie der Bildhauerei hervorhebt16, trägt Leonardo den Wettstreit kompromißlos aus: unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit und des Grades der Abstraktion, der Vielfalt zu berücksichtigender Elemente, des Umfangs der Naturnachahmung, der Suggestivkraft, der Unabhängigkeit von äußeren Faktoren (wie der Beleuchtung) und vor allem der unterschiedlichen Proportion zwischen Handwerklichkeit und Wissenschaftlichkeit wird der Skulptur nicht einmal der zweite, sondern sogar (da die Musik dazwischengeschoben wird) der dritte Platz angewiesen17. Damit ist der Streit aber keineswegs entschieden, er wird bis zur Jahrhundertmitte mit wachsender Leidenschaftlichkeit fortgesetzt. Selbst Baldassare Castiglione geht in seinem „Cortegiano" darauf ein. Im Jahre 1546 hält der Florentiner Gelehrte Benedetto Varchi, Konsul der Akademie von Florenz, „Zwei Vorlesungen über Malerei und Bildhauerei" 18 , zu deren zweiter er eine Anzahl von schriftlichen Meinungsäußerungen bedeutender Künstler über den Paragone einholt: selbstverständlich verteidigt jeder die Kunst, die er selbst ausübt. Für uns bemerkenswert ist, unter den Argumenten zugunsten der Plastik, Benventuno Cellinis Feststellung, seine Kunst sei siebenmal besser als die Malerei, weil sie acht Ansichten (statt einer einzigen) zeige. Zwei Jahre später veröffentlicht der venezianische Maler Paolo Pino ein „Dialogo della pittura" 19 , in welchem „zur ewigen Beschämung der Bildhauer" eine Anekdote vorgetragen wird, auf die wir gleich zurückzukommen haben. Wiederum ein Jahr darauf erscheint von dem Florentiner Antonio Francesco Doni eine Schrift über den „Disegno" 20 , in welchem Pino als Dialogpartner eines Florentiner Bildhauers auftritt und von diesem bezwungen wird: die Malerei verhält sich zur Skulptur wie der Schatten der Wahrheit zu diesem selbst. In solcher Weise hätte die Polemik sich endlos hinziehen können, wären nicht, unter dem Einfluß der gegenreformatorischen

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15 16 17 18

Leone Battista Alberti, Kleinere Kunsttheoretische Schriften (hg. H . Janitschek), Wien 1897 ( = Quellenschr. für Kunstgesch. 1 1 ) . Leonardo da Vinci, Traktat von der Malerei (hg. Marie Herzfeld), Jena 190g, Nr. 17 — 31 (S. 13 — 30). Lorenzo Chibertis Denkwürdigkeiten (hg. Julius Schlosser), Berlin 1 9 1 2 , Bd. 1, S. 4—7. Leonardo da Vinci (wie Anm. 15), Nr. 36—46 (S. 34—47). Erschienen 1549. V g l . Julius Schlosser, Die Kunstliteratur. Ein Handbuch Zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte, Wien 1924, S. 200 — 203. Die Künstlerbriefe sind abgedruckt bei: Giov. BottarijStefano Ticosgi, Raccolta di lettere . . ., Milano 1822, Bd. I, S. 9f., 17 — 37, 52 — 59. Deutsch in: Ernst Guhl¡Adolf Rosenberg (hg.), Künstlerbriefe, Berlin 1880 2 , S. 1 5 2 , 243f., 249 — 256, 289 — 293.

19

Erschienen 1548. Neudruck: Paolo Pino, Dialogo di pittura (hg. Max Jordan), Leipzig 1872. Vgl. auch Julius Schlosser (wie Anm. 18), S. 210 — 2 1 3 .

20

V g l . Julius Schlosser (wie Anm. 18), S. 216/217.

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Kunstpolitik und der wachsenden Autorität gelehrter Kunstlaien, abstraktere Fragen (der Schönheit, des Nutzens; die ,,Idea"-Theorie) in den Vordergrund getreten. Solange aber, was bis gegen Mitte des 16. Jahrhunderts der Fall war, ausübende Künstler das Wort führten und in der Hauptsache zu ihresgleichen sprachen, lag es nahe, die Erörterungen durch praktische Experimente zu untermauern. Wenigstens durch leise Nachklänge sind solche Experimente nachweisbar. So berichtet Vasari, Giovanni della Casa, „fiorentino ed uomo dottissimo", der einen Malerei-Traktat plante, habe sich von D a n i e l e da V o l t e r r a einen David modellieren lassen: „e dopo gli fece dipingere, o vero ritrarre in un quadro, il medesimo Davit, ... da tutte due le bande, cioè il dinanzi e il di dietro, che fu cosa capricciosa"21. („Und danach ließ er besagten David malen oder eigentlich abbilden, auf einem Bild von beiden Seiten, das heißt die Vorder- und die Rückseite, was sehr eigenartig war.") Was damit bewiesen werden sollte, ist ganz klar: Auch die Malerei kann zwei Ansichten eines Gegenstandes zueinanderfügen. Das Gemälde ist erhalten: keine Einzelfiguren, wie man dem VasariText entnehmen könnte, sondern eine David-Goliath-Gruppe sehr ansehnlichen Formats (133 mal 172 cm). Vorder- und Rückansicht sind auf beide Seiten einer Schiefertafel verteilt22, stellen also mit den Mitteln der Malerei eine zweidimensionale Skulptur vor. Diese bietet zwei Ansichten, was zumindest der vormanieristischen Theorie der Plastik ausreicht — und hat jeglicher Plastik die Farbigkeit und die Angabe des umgebenden Raumes voraus: genug, um in einem scholastischen Streit Punkte zu gewinnen. So wird auf die Malerei übertragen, was Plato über die „Leute auf den Grabreliefs" aussagt: sie seien „hinter der Nase her durchgesägt, geteilt wie die Würfel" 23 . Auch Leonardo hatte auf das bestimmteste behauptet: „Der Bildhauer, indem er eine runde Figur macht, macht nur zwei Figuren und nicht etwa zahllose ... ; von diesen Figuren ist die eine von vorn gesehen und die andere von hinten. Und daß dem so sei, erweist sich daraus, daß, wenn du eine Figur in halberhabener Arbeit machst..., du nimmer sagen wirst, du habest mehr Arbeit zutage gefördert, als ein Maler in einer Figur in der nämlichen Ansicht ,.." 2 4 Und so stellt die Tafel, auf der Daniele da Volterra malt, jene Ebene dar, die seine Figuren „durchsägt" ; da sie, im Gegensatz zum Reliefblock, theoretisch kein Volumen besitzt, liegt es nahe, hinter ihr die andere Hälfte der Figuren zu suchen. Danieles Werk wurde in der Folge offensichtlich hoch geschätzt, denn als es 1715 in die Hände Ludwigs X I V . überging, galt es als ein Michelangelo, unter dessen Namen es auch durch Nachstiche von B. Audran bekannt wurde. Es blieb aber nicht der einzige Vertreter seiner Gattung. Ein ähnliches Doppelbild, nun wirklich ein Bildnis, ist auch von B r o n z i n o erhalten (Taf. 25, 1/2)25. Es zeigt Cosimos I. Hofzwerg Morgante, nackt und in ganzer Figur, in Vorderansicht vorn, in Rückansicht auf der Rückseite. Die Konturen beider Figuren sind miteinander identisch — von geringen Unterschieden abgesehen, die hauptsächlich formale Gründe haben und den Charakter des Doppelbildes nicht grundsätzlich beeinträchtigen26. Es könnte sogar sein, daß gerade die Möglichkeit solcher Abweichungen, die jede der Ansichten so vorteilhaft wie möglich machen, als besonderer Vorzug der Malerei betrachtet worden ist27. Bronzinos Werk ist vor 1553 entstanden, also ungefähr zu der Zeit, da auch Giovanni della Casa sein Experiment veranstaltet haben müßte28. Der Paragone hat den Maler auch 21 22 25

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27 28

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Giorgio Vasari, Le vite . . . (hg. G . Milanesi), Bd. V I I , Florenz 1881, S. 61. Sejmour de Ricci, Description faisonnée des peintures du Louvre, Bd. I, Paris 1 9 1 3 , S. 1 1 5 (Kat.-Nr. 1462). Rede des Aristophanes im „Symposion". Nach Gert von der Osten, Plato über das Relief, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch X X I V (1962), S. 1 5 - 2 0 . Leonardo da Vinci (wie Anm. 15), S. 37 (Nr. 38). Florenz, Uffizien. V g l . James Holderbaum, A Bronze by Giovanni Bologna and a Painting by Bronzino, in: Burlington Magazine X C V I I I (1956), S. 4 3 9 — 4 4 5 ; A b b . 29/30. Das Gemälde wird bei Vasari (ed. Milanesi Bd. V I I , S. 601) beschrieben und als „in quel genere bella e maravigliosa" gerühmt. Der Maler hat sich nicht entschließen können, in der Rückansicht auch den Kopf abgewendet zu lassen. Ferner ist die Bewegung der linken Hand (aber nicht des Armes) variiert. Die Bacchus-Attribute auf der Vorderseite sind Zufügungen des 17. Jahrhunderts. J. Holderbaum (wie Anm. 23), S. 442. Giovanni della Casa starb 1556, sein Traktatprojekt, das nicht zustande kam, dürfte nicht allzu lange vorher gefaßt worden sein; Daniele da Volterras Gemälde wird gegen 1555 datiert.

Forsch. a. Ber. Bd. 17

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sonst beschäftigt, denn er war unter denen, die zu Benedetto Varchis Umfrage ausführlich Stellung nahmen. Vergleichbar ist das schon 1526 entstandene doppelte Aktbildnis aus der sonderbaren, durch N a r z i ß R e n n e r bebilderten „Kostümbiographie" des Augsburger Patriziers Matthäus Schwarz 29 . Vorder- und Rückansicht, auf recto und verso eines Blattes gezeichnet, sind wiederum in denselben Konturen eingeschlossen. Auch hier ist eine Beziehung zum Paragone denkbar, denn der Auftraggeber hatte Italien besucht und sich unter anderem in Venedig aufgehalten, jener Stadt, in der, wie wir sehen werden, Paragone-Experimente offenbar am ehesten in der Luft lagen. Andererseits wird hier ein nicht unbekanntes Atelierverfahren der Zeichner angewandt worden sein: das Durchpausen der Kontur, die auf der Rückseite des Blattes als Rückansicht vervollständigt wird, kennt zum Beispiel D ü r e r ; auf diesem Prinzip beruht zum Beispiel sein weiblicher Akt von 1495 im Louvre 30 und ebenso manche Proportions Studien. Auch in späterer Zeit trifft man dieses Verfahren gelegentlich an 31 , das für den Zeichner aus praktischen Gründen naheliegt und sicherlich ohne theoretische Nebengedanken angewandt wird. Beim Malen hingegen hat es keinen technischen Sinn mehr, bringt sogar Unbequemlichkeiten mit sich; um so mehr Gewicht erhalten die Demonstrationen des Daniele da Volterra und des Bronzino, denen sich auch ein Kupferstichpaar „Icarus" und „Phaeton" von H e n d r i k G o l t z i u s 3 2 anschließen läßt: wir erblicken hier zweimal dieselbe stürzende Figur, einmal von vorn, einmal von hinten — die geringen Abweichungen in der Haltung des linken Arms und der rechten Hand fallen erst bei genauem Nachrechnen auf. Diese Darstellungsform macht sehr nachdrücklich darauf aufmerksam, daß Icarus und Phaeton nur zwei „Aspekte" eines und desselben mythologischen Typus sind; aber nicht genug damit, daß sie zu einer einzigen Person verschmelzen, auch die zwei Ereignisse fallen in eins. Strudelartig ziehen sich Zeit und Raum zusammen. Ein weiterer Gedankengang führt uns noch näher an das Bildnis in mehrfacher Ansicht heran. E r bezieht sich auf die Vorstellung der Simultaneität, die im Paragone eine Hauptrolle spielt. Leonardos Abwertung der Poesie gegenüber der Malerei beruht nicht zuletzt auf der Überlegung, „daß unsere Seele aus Harmonie zusammengefügt, auf daß Harmonie nur Augenblicken eingeboren ist, innerhalb deren der Gegenstände Gesamtverhältnisse sich sehen oder hören lassen" 33 . Natürlich erfüllt die Wortkunst diese Forderung nicht. Beim Vergleich von Malerei und Skulptur hingegen wird die Untersuchung der Zeitdimension schwieriger. Die Skulptur nämlich schildert ihren Gegenstand vollständig (nämlich von allen Seiten), aber zur vollständigen Wahrnehmung (durch Umschreiten) braucht der Betrachter Zeit. E s wird natürlich vorausgesetzt, daß die Betrachtung einer Flächendarstellung einen gleichsam dimensionslosen Augenblick in Anspruch nimmt. Um also Cellinis oben zitiertes Argument zu entkräften, die Plastik sei um soviel wertvoller als die Malerei, als sie mehr Ansichten biete, braucht man nur die verschiedenen Ansichten auf einer einzigen Bildfläche auszubreiten: so werden sie simultan wahrnehmbar, Leonardos „Harmonie" ist hergestellt, und der ernsthafteste Vorwurf, der unter dem Gesichtspunkt der Nachahmung gegen die Malerei vorgebracht werden kann, wird — wenigstens theoretisch! — gegenstandslos. Die Demonstration des Giovanni della Casa und des Bronzino bringt diese Simultaneität nicht, sie ist auf das Raum-, nicht auf das Zeitproblem orientiert. Anders steht es um ein Unternehmen des G i o r g i o n e , das zwei Gewährsmänner, Paolo Pino und Vasari, ziemlich genau übereinstimmend wiedergeben 34 , beide ausdrücklich im Zusammenhang mit dem Paragone. Obwohl Vasari die bei Donat de Chapeaurouge, Aktporträts des 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Berliner Museen 1 1 (1969), S. 161 — 1 7 6 ; vgl. S. 173 und Abb. S. 1 7 1 . Hier wird auch das Bronzino-Bild erwähnt. V g l . auch A. Fink, Die Schwarzschen Trachtenbücher, Berlin 1963, S. 145/146. 30

Friedrich Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers, Bd. I, Berlin 1936, Nr. 85 und 89 (S. 63 und 66). — Simon Melier (Eine Dürerzeichnung aus dem Besitz Peter Vischers d. J., in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 1925, S. 202) nimmt an, Dürer habe diesen Kunstgriff in Italien erlernt.

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Zum Beispiel eine Entwurfszeichnung von Max Klinger (1901) zum Brahms-Denkmal, Leipzig, Museum der bildenden Künste (ehem. Sammlung Hirzel).

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Bartsch 259, 260. Leonardo da Vinci (wie Anm. 15), S. 28 (Nr. 30). Paolo Pino (wie Anm. 19), S. 28. Vasari, L e vite . . . (hg. G . Milanesi), Proemio di tutta l'opera (Bd. I, 1878, S. 101)

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Pino in seitenlangem Dialog aufgefächerte Streitfrage in einem einzigen Satz zusammenfaßt, bietet er einen differenzierteren Gedanken an. Giorgione, so schreibt er, „war der Ansicht, daß in einer gemalten Darstellung ... sich einem einzigen Blick alle Arten von Ansichten zeigten, die ein Mensch in mehreren Gesten zusammenfaßt"35: hier wird das einzig weiterführende Argument ins Feld geführt, die Vorstellung einer Synthese36. „Und zudem machte er den Vorschlag, er wolle an einer einzigen gemalten Gestalt Vor- und Rückseite und die seitlichen Ansichten zeigen ... Er malte einen nackten Mann37, der dem Beschauer den Rücken zukehrt; an der Erde war ein ganz klarer Wasserquell, in welchem er die Vorderseite sich spiegeln ließ; auf der einen Seite stand ein blankpolierter Harnisch, den er abgelegt hatte und in dem sein linkes Profil zu sehen war, da man in dem Spiegel jener Waffen alles gewahr wurde; drüben ein Spiegel, in dem die andere Seite des Nackten zu sehen war: ein Stück voll schönster Laune und Erfindung, wodurch er tatsächlich beweisen wollte, daß die Malerei mit mehr Kunst und Schwierigkeit arbeitet und an einer einzigen Ansicht ein größeres Stück der Natur zeigt als die Skulptur. Dieses Werk wurde als geistvoll und schön aufs höchste gelobt und bewundert." Vielleicht aber dachte Benvenuto Cellini gerade an dieses Experiment, als er dem philosophierenden Gemeinplatz von der Malerei als Schatten der Dinge die Bemerkung hinzufügte: „Die Malerei ist nicht anders als die Spiegelung eines Baumes oder Menschen oder irgendeines anderen Dinges in dem Wasser eines Brunnens."38 Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, daß dieses Gemälde einmal existiert hat. Um so weniger, als unmittelbare Nachklänge davon erhalten sind. Man nennt in diesem Zusammenhang schon seit längerem das sogenannte Bildnis des Gaston de Foix im Louvre, das dem Giorgione-Nachfolger S a v o l d o — dem Lehrer des Paolo Pino ! — zugeschrieben wird (Taf. 25, })S9. Man sieht einen geharnischten Mann in weiter, den Bildraum durchmessender Bewegung auf sein eigenes Spiegelbild hinweisen, das ihn im verlorenen Profil zeigt, während in einem zweiten Spiegel der Rücken und eine Schulter zu erkennen sind; in einem Harnisch teil ganz vorn spiegelt sich obendrein eine Hand. So deutlich ist die Nähe dieses Gemäldes zu den „ritratti armati" des Giorgione, daß man darin die unmittelbare Nachahmung (oder Kopie?) eines verlorenen Werkes seiner Hand erblicken konnte40 — zumal eine weitere Replik (Hampton Court) von der Beliebtheit des Vorwurfs zeugt. Daß auch unabhängig von solchen Versuchen, ebenso wie von der Freude an Spiegeleffekten schlechthin, das Bedürfnis lebendig wurde, ein Bildnis durch Zweitansichten zu bereichern, beweist das früher dem Giorgione, heute dem T i z i a n zugeschriebene, gegen 1 5 1 1 angesetzte weibliche Bildnis (La Schiavona) in der Londoner National Gallery 41 . Wie die Zuschreibung, so hat auch die Benennung

35

und Vita des Giorgione (Bd. I V , 1879, S. 98). Vasari hat den Bericht erst in die zweite Auflage seines Werkes (1568) aufgenommen. — Ferner wird die Anekdote erwähnt von Raffaelle Borghini, Il Riposo, in cui della pittura e della scultura si favella . . ., Florenz 1584. Deutsch nach: Giorgio Vasari, Die Lebensbeschreibungen der berühmtesten Architekten, Bildhauer und Maler (hg. A . Gottschewski und G . Gronau), Bd. V , Straßburg 1908, S. 64/65. — Im Original nach ed. Milanesi: „ . . . era d'opinione che in una storia di pittura si mostrasse, senze avero a caminare attorno, ma in una sola occhiata tutte le sorti delle vedute che può fare in più gesti un uomo."

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Dieser völlig zutreffende Gedanke entspricht neueren Interpretationen der besonderen Aussagekraft früherer Porträtphotographien. So schreibt Otto Stelzer über die Bildnisse der Julia Margaret Cameron (1815—79), die bewußt mit extrem langen Belichtungszeiten arbeitete: es komme im Gegensatz zur Momentaufnahme ein „gesammelter Ausdruck" zustande, weil das Gesicht des Modells sich nicht mehrere Minuten lang auf einen bestimmten Ausdruck konzentrieren konnte und „sich sozusagen in den dem Dargestellten'eigenen Gesamtausdruck einspielte". {Otto Steider, Kunst und Photographie. Kontakte, Einflüsse, Wirkungen, München 1966, S. 32.)

37

Bei Paolo Pino: einen heiligen Georg. G. F. Hartlaub (wie Anm. 6, S. 101 und 103) schließt die Möglichkeit nicht aus, daß zwei verschiedene Bilder gemeint sind. Vasaris „ignudo" könne ein „Narziß" gewesen sein, und beide Gestalten wären zugleich Selbstbildnisse gewesen, was zu der Seelensymbolik des Spiegelmotivs durchaus passen würde.

38

GuhllRosenberg (wie Anm. 18), S. 244. Musée du Louvre, Paris. V g l . G. F. Hartlaub (wie Anm. 6), S. 102; Abb. 95. Ludwig Justi, Giorgione, Bd. I, Berlin 1908, S. 2 1 4 L , 2 9 2 L V o r 1945 Slg. Sir Herbert Cook. — Cecil Gould, The Sixteenth-century Venetian School ( = National Gallery Catalogues), London 1959, S. 120 — 123 (Nr. 5385). — Harold E. Wethey, The Paintings of Titian, Complete Edition, London/New Y o r k 1 9 7 1 , Bd. 2: The Portraits, Kat.-Nr. 95; Taf. 13 — 16.

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14*

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des Modells zu Hypothesen Anlaß gegeben: die Deutung als Bildnis der Caterina Cornaro wird heute nicht mehr aufrechterhalten. Die Dargestellte sitzt hinter einer jener — typisch venezianischen — gestuften Balustraden, die mit einem Relief geschmückt ist; auf diesem erblickt man noch einmal das medaillenartige Profil derselben Frau. Diese Reliefdarstellung gehört nicht zur ursprünglichen Konzeption, sie wurde während des Malprozesses hinzugefügt42. Ebenso wie die Spiegelbilder ordnet sie sich der Hauptdarstellung unter, ebenso wie jene vertritt sie eine andere Realitätsstufe. Dies wäre aber auch dann der Fall, wenn das „Bild im Bild" als ein gemaltes gedacht wäre. Daß stattdessen die Bildhauerkunst eingeführt wird, bezeugt, daß auch hier ein Seitenblick auf den Paragone geworfen wird. Giorgione, Savoldo, Tizian, Lotto: das ist ein klar umgrenzter Kreis. Daß sich Experimente dieser Art gerade in Venedig konzentrieren, ist kein Zufall. Es entspricht dem bekannten und oft beschriebenen Charakter der venezianischen Malerei, die eine freiere, schwebende Räumlichkeit anstrebt. Sie hat die zentralperspektivische Darstellung recht spät aufgenommen und hat sie niemals für eine gar so „dolce cosa" gehalten. Die rationale Raumkonstruktion wird darum so gern durch die rätselhaften Wirkungen des Spiegels ergänzt; bei Lotto wird sie sogar, wovon noch ausführlicher die Rede sein wird, ad absurdum geführt. Dem entspricht auch das entschiedene Interesse an einem theoretischen Triumph der Malerei im Paragone. Der Schritt von den invenzioni des Giorgione oder Savoldo zum Tripleportrait, jenem Bildtypus, dessen Ausprägung wir wohl dem Lorenzo Lotto werden zuschreiben müssen, ist zwar logisch, aber nicht unproblematisch: er besteht darin, die Spiegel wegzulassen und damit der Wiederholung der Gestalt ihre Motivierung zu entziehen (was schwerwiegende ästhetische Konsequenzen nach sich zieht); und ferner, auf die Abstufung von Hauptmotiv und Nebenmotiven zu verzichten. Van Dyck Bei Lorenzo Lotto hat das Tripleportrait auf Anhieb seine gültige Form erhalten. Dennoch scheinen sich zunächst keine Nachahmer gefunden zu haben. Erst nach hundert Jahren wurde Lottos Bildidee, und zwar in bemerkenswert getreuer Weise, aufgenommen. Ein berühmtes Gemälde von A n t o n van D y c k (Ende 1635 oder Anfang 1636 gemalt) stellt den englischen König Karl I. in Vorder-, in Seiten- und in halber Seitenansicht dar (Tafel 26, z)4S. Die drei Brustbilder sind in gleicher Höhe vor einen Wolkenhintergrund gestellt. Frisur und Spitzenkragen gleichen einander bei allen dreien, in der Kleidung gibt es geringfügige Unterschiede, die sich etwa an den Wamsärmeln der linken und rechten Figur kontrollieren lassen. Die seitlichen Figuren halten eine Hand vor der Brust, doch ist es, um einer gefälligeren Komposition willen, wie bei Lotto, einmal die linke, das andere Mal die rechte Hand, und die Motivierung ist jeweils anders; bei der Mittelfigur ist dieses Motiv, wiederum der Übersichtlichkeit zuliebe, ausgelassen. Ebenso kommt die dekorative Draperie nur bei der Halbprofilfigur vor. Diese Unterschiede lassen sich erst durch eingehendere Betrachtung entdecken und fallen für den Gesamteindruck des Bildes nicht ins Gewicht. Uns ist, als drehte sich langsam vor uns, wie eine Plastik auf dem Modellierbock, die eine einzige Gestalt des Königs mit dem schweren, nach innen gerichteten Blick. Und tatsächlich hat das Gemälde einem Bildhauer als Vorlage gedient, nämlich Bernini; dieser sollte im Auftrag des Vatikans eine Büste schaffen, die der Königin Henrietta Maria als Geschenk zugedacht war44. Die unbeschönigte Wahrhaftigkeit dieses „rapport objectif d'un artiste a l'autre" 45 machte den Bildhauer betroffen. Ein alter Autor berichtet, er habe daraufhin „foretold something of funest and unhappy which the Countenance of that Excellent Prince fore42 43

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Cetil Gould (wie Anm. 41). Windsor, Royal Art Collections. Vgl. Ausst.-Kat. The Age of Charles I, Painting in England 1620—1649 (Bearb. Oliver Miliar), The Täte Gallery London 1972/73, Kat.-Nr. 86. Eric Maclagan, Sculpture by Bernini in England, II: The Bust of Charles I., in: Burlington Magazine X L (1922/I), S. 63. — R. G. Lightbown, The Journey of the Bernini bust of Charles I to England, in: The Connoisseur 169 (1968/ III); S. 217—220 (mit Abb. des Kupferstichs und einer alten Kopie der Büste). Leo van Pujvelde, Van Dyck, Bruxelles 1959, S. 78.

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boded"46. Schon im Juli 1636 konnte Bernini die Arbeit aufnehmen, und im Frühjahr des darauffolgenden Jahres wurde die Büste abgeschickt (sie ging 1698 bei einem Brand unter, nur ihr Aussehen ist überliefert, während das Gemälde selbst bei Bernini verblieb und erst 1822 wieder in den Besitz der englischen Krone gelangte). Daß aber die Verdreifachung der Figur nicht nur ümstandshalber hingenommen wurde, sondern über den Verwendungszweck hinaus ästhetischen Eigenwert behielt, das bezeugen die drei nachweisbaren Kopien, die nach dem Bild hergestellt wurden47: bloße Arbeitsmaterialien werden nicht kopiert. Daß ein Künstler einen Abwesenden zu porträtieren hat, den er niemals sah, kommt zuweilen vor. Wenn es sich um einen Verstorbenen handelt, ist man auf vorhandene Vorlagen angewiesen. Aber bei Lebenden wäre die Herstellung eines Maskenabdruckes in Gips oder Wachs dem Bildhauer gewiß behilflicher: eine Anzahl von plastischen wie gemalten Bildnissen sind zu allen Zeiten nach Masken entstanden, und man kennt die alte Ableitung der Quattrocento-Büsten von den Totenmasken. Noch im 19. Jahrhundert hat der Maler Friedrich Wasmann in Italien das Malen nach solchen Masken zu einer Spezialität entwickelt, die ihm den Beinamen des „Totenmalers" eintrug. Daß man nicht auch im Falle Karls I. eine Maske abnehmen ließ, geschah vielleicht, um ihm die unangenehme Prozedur zu ersparen, sicherlich auch, weil die Maske nur die Züge wiedergibt, den individuellen Ausdruck aber unterdrückt, für welchen gerade ein Bernini sich besonders interessieren mußte. Und schließlich war van Dyck nun einmal am besten mit den Zügen des Königs vertraut. Das Bildschema aber brauchte er nicht neu zu erfinden, denn bei ihm kreuzten sich zwei Traditionslinien. Die erste führt nur um wenige Jahrzehnte zurück in die Werkstatt seines Lehrers Rubens. Dort entstanden, in Anlehnung an einen in flämischen Werkstätten schon früher gelegentlich geübten Brauch, zahlreiche Studienköpfe in Öl, auf Holz oder Leinwand, die dann als modelli in verschiedensten Bildzusammenhängen verwendet wurden. Sie wurden, wie es scheint, nicht so sehr im Hinblick auf eine bestimmte Komposition als vielmehr zu freier Verfügbarkeit gemalt48. Die zu solcher Typisierung auserkorenen Modelle wurden darum von allen Seiten betrachtet und gemalt, und in einigen Fällen vereinigte man mehrere Ansichten auf einer Tafel49. Natürlich kannte van Dyck diese Praxis, ja er hat sie, falls die traditionelle Zuschreibung der Brüsseler „Vier Köpfe eines Negers" richtig ist60, sogar selbst geübt. Vor solchen kompilativen Studien führt zweifellos ein Weg zu dem dreifachen Bildnis Karls I. Aber auf diesem Weg verändert sich das Verfahren und gewinnt bildnismäßige Verbindlichkeit, einen endgültigen, ja beinahe repräsentativen Charakter. Dies geschieht nicht nur, weil der Dargestellte kein Anonymus, sondern ein Hochgeborener ist; auch nicht nur, weil das Bild, statt in der Werkstatt zu bleiben, ins Ausland gehen soll. Entscheidend könnte vielmehr der Eindruck des Gemäldes von Lotto gewesen sein. Es war van Dyck zugänglich: 1627 noch im Palazzo Ducale in Mailand nachweisbar, ist es noch vor Mitte der dreißiger Jahre in die Sammlung Karls I. gelangt, wurde aber in den frühen fünfziger Jahren wieder ins Ausland verkauft. Damals galt es noch als Tizian und wird dem Hofmaler kaum unbekannt geblieben sein. 46

John Evelyn, Numismata, London 1697. Zitiert in: Roy Strong, Charles I. on Horseback, London 1972, S. 32. Vgl. Gustav Glück, Van Dyck, Des Meisters Gemälde ( = Klass. der Kunst 13), Stuttgart/Berlin 193i 2 , S. 562. Heute noch leicht feststellbar ist die Kopie im Prado, die bei etwas abweichenden Maßen alle drei Ansichten wiedergibt. (Museo del Prado, Catalogo de las pinturas, Madrid 1972, Nr. 1500). 48 Justus Müller-Hofstede, Zur Kopfstudie im Werk von Rubens, in : Wallraf-Richartz-Jahrbuch X X X (1968), S. 223—252. — Julius S. Held, Einige Bemerkungen zum Problem der Kopfstudie in der flämischen Malerei, ebenda X X X I I (1970), S. 285—290; Erwiderung von J . Müller-Hofstede S. 291/292. 49 Zwei Ansichten: Alte Frau, Nancy, Musée des Beaux-Arts. Bisher Jordaens zugeschrieben. Zuschreibung an Rubens durch Otto Benesch, Neue Beiträge zum Werk des Rubens, in: Walter Friedlaender zum 90. Geburtstag, Berlin 1965, S. 44 und Tafel 9. — Bärtiger Mann, Brüssel, Slg. Gaston Dulière. J . Müller-Hofstede (wie Anm. 48), Abb. 169 („um 1 6 1 1 " ) . — Vier Ansichten: siehe Anm. 50. 50 Vier Ansichten eines Negers, Brüssel, Musées Royaux. Die Zuschreibungen schwanken zwischen van D y c k und Rubens. Müller-Hofstede, op. cit. S. 223, entscheidet sich für Rubens. Hier wird die Disposition verändert: die Köpfe sind nicht nebeneinander gereiht, sondern wie auf einem Studienblatt, in verschiedener Höhe verteilt. Auch die Mimik ist verschieden. — Ein weiteres, van Dyck zugeschriebenes Bild mit vier Negerköpfen auf einer überbreiten Leinwand wurde im Juli 1971 bei Christies in London versteigert.

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Seht bald danach hatte van D y c k Gelegenheit, wiederum ein Tripleportrait herzustellen — diesmal allerdings in gleichsam aufgelöster Form: als nämlich Karls Gemahlin, Königin Henrietta Maria, Berninis Büste empfangen hatte, wünschte sie sich als Gegenstück das eigene Konterfei. Zur Geschichte der drei Bildnisse, die an Bernini geschickt wurden, sind neue Ergebnisse vor kurzem, jedoch nur andeutungsweise, publiziert worden 51 . Demnach habe die Königin erst nach längerem Widerstreben zugesagt, für ein Bildnis in drei Stellungen zu sitzen. Was dann (erst im August 1638) vollendet wurde, waren dennoch drei getrennte Einzelbildnisse, die mit einem Begleitbrief vom Juni 1639 nach Rom gesandt wurden52, wohin sie übrigens niemals gelangten. Man erkennt sie unschwer in drei Gemälden wieder, von denen sich zwei im Schloß Windsor befinden, das dritte heute in der Brooks Art Gallery in Memphis (Tennessee)53 (Taf. 27, 1 — 3). In der ungewohnten Starre einer reinen Enface- und zwei strengen Profilbildnissen wird die Königin so recht zum Objekt einer „Kunst der Messung" und muß sich — nicht ohne einige Mühe, wie es scheint — in Geduld fassen. Besonders deutlich tritt bei derart objektivierender Darstellung die Ungleichheit der beiden Profile hervor, die vor allem im Verlauf der Brauen und der Lippen erkennbar wird: eine Ungleichheit, die zweifellos sorgfältig erarbeitet ist, denn beide Bilder sind, wenn auch verschiedenen Formats, Gegenstücke (in der Tracht sind keinerlei Unterschiede festzustellen, während die Frontalansicht eine andere Kleidung zeigt). Hier ist also das eigentlich gemeinte Tripleportrait in drei Einzelbilder aufgespalten worden. Ein Einzelfall? Mindestens eine Parallele dazu findet sich im 19. Jahrhundert, im Frühwerk des Münchner Malers H e i n r i c h Maria Hess (1798 —1863)54: zwei kurz vor 1821 entstandene Gemälde von gleichem Format (mit einem oberen Rundbogenabschluß, der daran erinnert, daß Hess ein Maler religiöser Gegenstände werden sollte) zeigen, gleichermaßen streng in Vorder- und in Seitenansicht genommen, ein und dasselbe stickende Mädchen (Taf. 27,4/5). Tracht und Frisur gleichen einander auf beiden Bildern vollkommen; daß der Enface-Kopf von unten aufblickt und daß die Haltung der Finger leicht variiert wird, erklärt sich zwanglos durch den Wunsch nach linearer Klarheit. Ein offenbar schon altes Mißverständnis hat das Modell beider Bilder in zwei Geschwister, zwei Fräulein Gail aufgespalten55. Aber was schon der Anblick der Bilder und die gemeinsame Provenienz vermuten lassen, wird durch die Genealogie bestätigt: Fanny (Franziska) Gail, die spätere Frau des Malers Peter Hess und Schwägerin des Heinrich Maria Hess, hatte keine Schwester56. Die zwei Bilder sind zweifellos nicht als Varianten, sondern als Gegenstücke gedacht und setzen auf ihre Weise, etwas verzagt, die Tradition des Bildnisses in mehrfacher Ansicht fort. Vielleicht gehörte gar ursprünglich eine dritte Tafel mit einem Halbprofil dazu? Jedenfalls legt die Kenntnis dieses eindeutigen Falles die Vermutung nahe, daß sich noch anderweitig scheinbare Geschwisterbildnisse als zusammengehörige Bildnisse einer Person erweisen könnten. Die Frage wird wohl oft ungeklärt bleiben müssen, wie im Falle zweier verschollener kleiner Mädchenportraits im Ballkleid von Waldmüller (1836?, um 1840?)57, die einander sehr ähnlich sehen. Freilich muß man berücksichtigen, daß sich gerade in der Biedermeierzeit Schwestern oder Freundinnen gern in gleicher Frisur und Tracht malen ließen; dafür ist Théodore Chassériaus berühmtes Bild „Les deux sœurs" (1843, Musée du Louvre) das beste Zeugnis. 51 52

53 54

The A g e of Charles I (wie Anm. 43), unter Hinweis auf noch unveröffentlichte Forschungen von R. Lightbown. Der Brief vom 26. 6. 1639 ist abgedruckt in: Filippo Baldinucci, Vita di Gian Lorenzo Bernini (hg. S. Samek Ludovici), Milano 1948. Gustav Glück (wie Anm. 47), Abb. S. 386/387. Sammlung Georg Schäfer, Schweinfurt. Veröffentlicht in dem Katalog: Der frühe Realismus in Deutschland 1800 bis 1850. Gemälde und Zeichnungen aus der Sammlung Georg Schäfer, Schweinfurt. Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg 1967, Kat.-Nr. 1 1 2 und 1 1 3 , Abb. 1 1 2 und Farbtafel 1 1 3 .

55

„Fanny Gail, spätere Frau des Malers Peter Hess" und „Fräulein Gail, Schwägerin des Malers Peter Hess". So bereits in dem Katalog: Bayerische Kunst 1800 — 1850, Münchener Jahresausstellung 1906, Nr. 272 und 2 7 3 ; Abb. 8 (Profilbild) — und noch in dem zitierten Katalog der Sammlung Georg Schäfer.

56

Freundliche Auskunft von Herrn Joachim Freiherr von Crailsheim, Altenschönbach. Für die Vermittlung bin ich Herrn Dr. Peter Schäfer, Obbach über Schweinfurt, zu Dank verpflichtet.

67

Bruno Grimschitz, Ferdinand Georg Waldmüller, Salzburg 1957, Nr. 548 und 549, mit Abb.

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Ein ganz ähnliches Verfahren läßt sich auch in der Landschaftsmalerei nachweisen. Wolfgang Krönig hat auf einige Bildpaare von P h i l i p p H a c k e r t aufmerksam gemacht, die ein und denselben landschaftlichen Gegenstand von zwei einander genau entgegengesetzten Blickpunkten aus wiedergeben: besonderen Beifall scheinen die frühen Ansichten vom Venusteich im Berliner Tiergarten gefunden zu haben (eine bei Krönig nicht erwähnte Fassung dieses Bildpaars im Märkischen Museum Berlin). Daß sich in Piranesis „Vedute di Roma" zwei ähnlich konzipierte Paarbildungen finden ließen, deutet auf die Rolle hin, die das topographische Sachinteresse bei der Erfindung dieser kuriosen und ephemeren Bildgattung spielte58. Philippe de Champaigne und Rigaud Nach dieser Abschweifung knüpfen wir wieder an van Dyck an. Mit dem Bildnis Karls I. hängt Philippe de C h a m p a i g n e s dreifaches Richelieu-Portraitin der Londoner National Gallery (Taf.28, i)59 eng zusammen: nicht nur liegt ihm genau dasselbe Schema zugrunde, auch die Entstehungsdaten liegen sehr nahe beieinander, der Verwendungszweck war der gleiche, und in beiden Fällen stellt man eine Beziehung zu Rom und zu Bernini fest. Der Kardinal präsentiert sich in einer Viertelprofil- und zwei reinen Profilansichten, in der ruhigen Haltung eines Modells, das sich sachlich betrachten und messen läßt. Über dem Kopf rechts ist inschriftlich vermerkt :„De ces deux profilz c(elui) cy est le meilleur"60. Ein auf der Rückseite aufgeklebter Zettel meldet in italienischer Sprache, das Gemälde sei in Paris gemalt und dem römischen Bildhauer Francesco Mocchi zugedacht worden, der ein Standbild nach dieser Vorlage schuf. Die Identifikation dieses Standbildes bereitet Schwierigkeiten, etliche Forscher haben sogar Mocchis Namen ad acta gelegt und angenommen, Champaignes Bild sei vielmehr von Bernini für seine Richelieu-Büsten verwendet worden61. Wie dem auch sei: Berninis Büsten des Kardinals sind, wenn nicht nach diesen Vorlagen, so doch nach ähnlichen entstanden, denn er erhielt im Juli 1640 die „profils de Son Eminence". Was liegt näher, als anzunehmen, er habe nicht nur, nach dem gelungenen Versuch mit Karl I., das Verfahren noch einmal anwenden wollen, sondern es auch weiterempfohlen? Gleichzeitig läßt sich aber auch' wie schon bei van Dyck, die Rubens-Tradition der „Tronien" geltend machen. Denn Champaignes Brüsseler Lehrer, der Gentleman-Maler Fouquières, war ein Mitarbeiter des Rubens, und dem jungen Champaigne war ursprünglich eine Lehre in Antwerpen zugedacht. Als er 1621 nach Paris ging, konnte er dort Rubens und seinen Mitarbeitern begegnen; und ein Gemälde in Dijon mit zwei Studienköpfen nach einem Greis zeigt, daß er die flämischen Tronien in mehrfacher Ansicht nicht nur kannte, sondern solche auch selbst malte62. Wie van Dyck ordnet Champaigne die drei gleichhöhen Brustbilder so an, daß die Schulterlinien einander überschneiden. Diesmal aber ist die Mittelfigur nicht hinter den seitlichen gedacht, sondern zwischen ihnen: eine Hintereinanderstaffeiung von rechts nach links, die aber durch die streng in einer Ebene gehaltenen Köpfe dementiert wird. So gerät bei Champaigne das Verhältnis von Figuren und Raum bei weitem nicht so elegant wie van Dyck, der auch sonst dem Zwei- oder Dreifigurenbildnis formal wie psychologisch viel abzugewinnen wußte. Dafür offenbart sich gerade in der ungelösten Widersprüchlichkeit dieser Disposition der problematische, ja letztlich absurde Charakter des Tripleportraits als Gattung, worauf noch zurückzukommen sein wird.

58

Wolfgang Krönig, Kehrtwendung der Blickrichtung in Veduten-Paaren von Philipp Hackert, in: Wallraf-RichartzJahrbuch X X X (1968), S. 2 5 3 - 2 7 4 . 50 Martin Davis, National Gallery Catalogues, French School, London 1957 2 , S. 25/26, Nr. 798. 60 Diese Notiz hebt Wilhelm Waet^oldt (Die Kunst des Porträts, Leipzig 1908, S. 67) hervor, als einen Beleg für die Bedeutung einer sorgfältigen Wahl der Ansicht beim Bildnis. Tatsächlich ergibt die Asymmetrie des menschlichen Gesichts unter verschiedenen Winkeln immer unterschiedliche Ausdrucksfärbungen. 61 Resumé der unterschiedlichen Ansichten bei Rudolf Wittkower, Gian Lorenzo Bernini, London 1955, S. 202/203 (Kat.-Nr. 42), der die Bernini-Hypothese zurückweist. 62 A. Mabille de Poncheville, Philippe de Champaigne. Savie et son œuvre, Coutrai/Bruxelles o. J. (nach 1952), Tafel II.

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Als letztes Glied dieser Reihe entstand noch 1695 H y a c i n t h e R i g a u d s Bildnis seiner Mutter Marie Serre (Taf. 28, a)63. Der damals schon sehr erfolgreiche Maler Ludwigs XIV. hatte bei Coyzevox eine Büste seiner Mutter bestellt (der Marmor -wurde 1706 ausgeführt und gelangte, ebenso wie das Gemälde, in den Besitz des Louvre). Da die alte Frau weit entfernt in Perpignan lebte, griff Rigaud zu dem schon bewährten Verfahren und malte ein Doppelportrait mit Profil und Dreiviertelprofil und dazu auf einer gesonderten Leinwand, die sich nicht erhalten hat, die Vorderansicht. Hier ist also ein Kompromiß zwischen beiden von van Dyck ausprobierten Möglichkeiten geschlossen worden. Der bereits bestehenden Tradition, aber auch dem Zweck entsprechend, sind die Ansichten sehr streng und klar. Dennoch hat Rigaud noch weniger als seine Vorgänger darauf verzichtet, seinem Werk eine künstlerisch anspruchsvolle Gestalt zu geben. Auffallend ist das Ovalformat, ebenso der recht ausführlich gemalte Landschaftshintergrund, der übrigens nicht unproblematisch ist: denn eine in zwei verschiedene Erscheinungsformen aufgespaltene Figur befindet sich in einem betont einheitlichen Raum! Nicht nur die Sorgfalt der Ausführung macht deutlich, daß der Maler dieses Gemälde als ein vollgültiges Kunstwerk ansah: er stellte es auch, obgleich er bei der enormen Fruchtbarkeit seines Ateliers nicht um ausstellungswürdige Hauptwerke verlegen war, im Salon von 1704 aus und hinterließ es später der Akademie. Auch in diesem Fall also : alles andere als ein bloßes Studienmaterial, das nach erfülltem Zweck die Daseinsberechtigung verliert. Gleiches gilt, wie man gesehen hat, auch für die übrigen Tripleportraits des 17. Jahrhunderts. .Sie alle sind ursprünglich als Bildhauervorlage entstanden, aber über diese Aufgabe hinausgewachsen. Den begrenzten Zweck einer physiognomischen Bestandsaufnahme hätten selbstverständlich auch Skizzen erfüllt. Doch entstanden in sich geschlossene Gemälde. Was, wenn nicht allein die Freude am kuriosen Kunststück, rief den Wunsch danach hervor? Es war schon die Rede davon, daß das praktische Verfahren einer gipsernen Maskenabformung (das in allen diesen Fällen anwendbar gewesen wäre) gerade seines Hauptvorzugs, nämlich seiner Objektivität wegen wenig attraktiv für die Barockbildhauer sein konnte. Gewiß waren ihnen physiognomische Angaben unerläßlich. Außerdem aber brauchten sie, in Ermangelung des unmittelbaren Erlebnisses ihres Modells im Raum, im Licht, in der Bewegung, im Gespräch, eine Art ErlebnisSurrogat, eine suggestive Einheit aus Figur, Raum, Licht in einer dynamischen Bildgestalt. Diese Bedingung aber erfüllten fertige, in allen ihren Elementen verbindliche Gemälde. So tritt der Gedankenkreis des Paragone als treibendes Motiv zurück, aber der Zusammenhang mit der Schwesterkunst hat nur eine andere Form angenommen. Er wird sich auch in späterer Zeit immer wieder, wenn auch sporadischer, bemerkbar machen. Zur Bildgestalt des Tripleportraits Hier seien einige Überlegungen eingeschaltet, die den Ausnahmecharakter des Tripleportraits, die Seltenheit seines Auftretens und zugleich den Reiz, den es ausgeübt haben muß, begreiflicher machen können. Man ist sich seit langer Zeit im Wesentlichen einig über den Begriff der von der Renaissancemalerei begründeten und bis zum 19. Jahrhundert allgemein verbindlichen Vorstellung vom Bildraum64: es ist der — zumindest theoretisch — stereometrisch bestimmte, in seinen drei Dimensionen meßbare Raum, dessen extreme, klarste (darum auch nicht lange beibehaltene) Form der perspektivische Kastenraum ist. Selbst in den kühnsten Illusionen des Barocks hat jeder Gegenstand, jede Figur einen klar zu definierenden Platz, einen „Ort" 65 in Relation zu den anderen Gegenständen. Das Tripleportrait aber ist mit diesem Raum- und Ortsbegriff nicht vereinbar. 63

61

65

Musée National du Louvre, Catalogue des peintures, Bd. I: Ecole Française (bearb. G. Brièri), Paris 1924, Kat. Nr. 784. Vgl. besonders Erwin Panofsky, Die Perspektive als „symbolische" Form, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924/25, Leipzig/Berlin 1927, S. 258 — 330, sowie in: E. P., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1964, S. 99—167. — Hans Jant^en, Uber den kunstgeschichtlichen Raumbegriff, München 1938. Zum „Orts"-Begriff : Kurt Badt, Raumphantasien und Raumillusionen, Köln 1963, S. 91 ff.

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Denn gerade sein Bestreben, das ganze Objekt zu erfassen (wobei „ganz" ein Grenzwert ist, der theoretisch nicht durch drei, sondern nur durch unendlich viele Ansichten erreichbar wäre) gefährdet die Einheit des Bildes, ja, es hebt sie auf. Diese Einheit nämlich, diese „Bildhoheit" (wie Theodor Hetzer formulierte) ist an dem ganzen Objekt gar nicht interessiert, ganz im Gegenteil. Mehr als das glaubwürdige Erscheinungsbild (in der italienischen Kunstliteratur: verasimile, credibile) ist schon zuviel. Man hat oft die Metapher von dem einen unbewegten Auge wiederholt, das wie durch ein Fenster die Erscheinung erfaßt. Damit wird der Platz des Betrachters festgelegt: es ist ein bestimmter, mehr oder weniger präzis berechenbarer und im Falle perspektivischer Konstruktionen ganz unausweichlicher Standpunkt. Aber von solch einem bestimmten Punkt aus ist es natürlich unmöglich, einen Gegenstand in einem Augenblick unter mehreren verschiedenen Winkeln zu erblicken. So wird das anthropozentrische Verhältnis von Bild und Betrachter zweifelhaft — es sei denn, man führte die Zeitdimension ein. Das Modell wird nämlich räumlich nicht fixiert. Dies wäre nur möglich durch klare Bestimmung seines Verhältnisses zu anderen Gegenständen, und sei es nur eine Tischkante oder ein Baum. Wo aber, wie bei Lotto, in van Dycks Bildnis Karls I. oder auch bei Rigaud, Raumelemente angegeben werden (der taktvolle van Dyck läßt es bei fernen Wolken sein Bewenden haben), da stellt sich erst recht dringend die Frage nach dem Ort des Modells. Bei Rigaud etwa: das Dreiviertelportrait steht vor einer Mauer, die man aber hinter dem Profil vermißt. Der Landschaftshintergrund ist für das ganze Bild einheitlich. Demnach wäre zwischen beiden Aufnahmen nicht ein Standpunktwechsel des Malers (und des Betrachters) zu denken, sondern ein Standortwechsel des Modells. (Ein Gemälde mit neutralem Hintergrund, wie das von Champaigne, liefert dagegen weder in diesem noch in jenem Sinne einen Anhaltspunkt.) Aber dieser vorausgesetzte Standortwechsel ist sehr problematisch; denn das „unbewegte Auge" ist selbstverständlich außerhalb der Zeit gedacht, in einem punktartigen Moment oder unter dem Zeichen absoluter Dauer — was auf dasselbe hinausläuft. Gerade darum hat die Renaissancemalerei mit der „kontinuierenden Darstellung" von Historien Schluß gemacht, um die Einheit von Raum und Zeit innerhalb einer Bildeinheit zu sichern. Das Tripleportrait bietet gleichsam eine Variante der kontinuierenden Darstellung, aber eine sehr heikle: die Zeitdimension selbst wird noch einmal aufgespalten. Es mag, wie wir sahen, ein Zeitablauf zwischen den zwei oder (noch viel schwieriger nachzuvollziehen!) drei Stellungen des Modells vorausgesetzt sein. Dabei wird aber Wert darauf gelegt, daß das Modell in allen Stellungen mit sich selbst identisch ist; daß also der Augenblick derselbe ist (daher die Übereinstimmungen in Stellung und Kleidung). So entsteht ein Widerspruch zwischen den unterschiedlichen Zeitmaßen, denen sich die Existenz des Objekts (für sich) und seine Wahrnehmung (durch uns) zuordnen lassen66. Dabei bieten gegenständliche Angaben im Bildhintergrund noch eine gewisse Stütze, an der sich die beunruhigte Phantasie des Betrachters festhalten kann. Wird diese Stütze ihr genommen, wie bei Champaignes Richelieu, stürzt sie haidos in eine Bildwelt, in der Zeit und Raum — und das sind die einzig möglichen Koordinaten für jegliche menschliche Erfahrung — aufgehoben sind und ein Gegenstand drei verschiedene Orte zugleich einnehmen kann. In diesem Zusammenhang ist ein kompositionelles Problem von Bedeutung. Die ästhetische Wahrnehmung mißt jeder Figur im Bilde ein bestimmtes „Ausstrahlungsfeld" zu: ein (durch eine Fläche repräsentiertes) Stück Raum, das sie benötigt, um ihre Existenz glaubhaft zu 66

Selbst im comic strip der Gegenwart wird ein Verfahren angewandt, das, seiner eigentlichen Herkunft vom Film ungeachtet, ein Licht auf die Wirkungsweise des klassischen Tripleportraits wirft. Eine Gruppe von drei Bildern zeigt einen Maschinengewehrschützen, der eine Salve abgibt und sich dabei um die eigene Achse dreht. Wie in einer photographischen Phasendarstellung wird der Schütze dem Betrachter unter drei verschiedenen Gesichtswinkeln vorgestellt. Worauf es aber ankommt: die unvermeidliche Lautmalerei „ T A T A T A T A T A . . . " breitet sich über alle drei Bildfelder ununterbrochen hinweg. Während die optische Wahrnehmung zerlegt wird, bleibt die Einheit der akustischen (und damit auch eine Zeiteinheit) erhalten. (Zack, Nr. 40: „Mick Tangy." 1972. Abb. in: Dietger Pforte hg., Comics im ästhetischen Unterricht, Frankfurt/M. 1974 [Fischer Atheneum Bücher, Literaturwiss.], Abb. S. 118. Freundlicher Hinweis von meinem Kollegen von Paul Thiel.)

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machen, und dessen Ausmaße bestimmt sind durch die Bewegungsimpulse, die von der Figur ausgehen: gestische Impulse, aber ebenso geistige (mimischer Ausdruck) und formale, wie sie der Duktus der Konturen oder die plastische Ausladung mit sich bringen. Bei Einzelfiguren erwartet man normalerweise, daß der Bildausschnitt mit diesem Ausstrahlungsfeld identisch sei. Und die Kunst der Figurengruppierung besteht in nichts anderem als darin, diese Felder ineinanderzuschieben und sie durch Handlung, Blickbeziehungen und ähnliches derart miteinander zu verschmelzen, daß ein Kreislauf der Energien zustande kommt. Ein Tripleportrait aber ist keine Gruppe. Mit gutem Grund wird jede Art von Beziehung zwischen den drei Exemplaren des Ich vermieden (wo dies, in späterer Zeit, nicht mehr der Fall ist, wird Besonderes beabsichtigt). Jeder Kopf ist so arrangiert, als wäre er für sich gemalt; vor allem läßt sich der Blick nicht durch die so nahen Figuren ablenken, er richtet sich in die Ferne oder „nach innen". Da kein Blick von der Nachbarfigur aufgefangen, keine Kopfwendung erwidert wird, entfällt die gewohnte Ponderation der Gruppe — wie wenn Schauspieler einander nicht „den Ton abnehmen". Auch dadurch wird die bildliche Existenz des Dargestellten gefährdet, sie wirkt abstrakt, ja geisterhaft67. England, 18. Jahrhundert Auf die „klassischen" Formulierungen des Tripleportraits im 17. Jahrhundert (sofern man überhaupt das Wort „klassisch" auf eine im Kern so unklassische Bildidee anwenden darf) folgt eine langdauernde Auflösung, eine Abfolge von Variationen, die sich von der ursprünglichen Prägung bald entfernen, bald ihr wieder nähern. Ebenso variabel sind die Absichten, die mit der Simultandarstellung verfolgt werden. Es wird sich jedoch erweisen, daß, wie zu erwarten, innerhalb der nun einsetzenden Diskontinuität bestimmte Leitlinien erkennbar bleiben. Zunächst muß wieder ein Jahrhundert ergebnislos vergehen. Sollte das Tripleportrait dem Rokoko zu problematisch sein? Erst in der englischen Malerei der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts werden wiederum Ansätze erkennbar. Ein vermutlich 1785 entstandenes Gemälde von G e o r g e R o m n e y trägt die Aufschrift „Sidonian Recollections" (Taf. 29, i)68. Es stellt die berühmte und von verschiedenen Malern porträtierte Schauspielerin Sarah Siddons in der Rolle der Medea (oder der Lady Macbeth?) in drei dramatischen Ausdrucksvarianten dar. Trotz eines Wolkenhintergrundes (links oben) heben die Verteilung der Köpfe schräg über die Fläche und die skizzenhafte Auflösung der Schulterpartien die bildmäßige Verbindlichkeit zu einem guten Teil auf. Bezeichnend ist jedenfalls das neue Bestreben, mit dem Tripleportrait nicht mehr so sehr eine vollständige Auskunft über physiognomische Gegebenheiten anzustreben als vielmehr Ausdrucks- und Situationsvarianten zu geben. Damit entfällt ein Teil der inneren Widersprüchlichkeit, die das Rätselhafte in den älteren Formulierungen ausmachte: es wird ganz klar, daß den drei Ansichten auch drei verschiedene Augenblicke entsprechen, die in einem Bild zusammengefaßt worden sind. Noch unproblematischer erscheint ein 1787 ausgestelltes Gemälde von J o s h u a R e y n o l d s , das fünf Bildnisseder kleinenFrartces IsabellaGordonvorführt (Taf. 29,4)69.DieKöpfesinddurchangesetzte 67

Auch unter den „normalen" Gruppenbildnissen trifft man immer wieder solche an, die aus voneinander unabhängig konzipiert scheinenden Einzelportraits zusammengefügt sind und in denen jede Figur sich einen Bildraum ohne Bezug zu den anderen organisiert: sehr deutlich etwa in dem von einem Nachfolger Tizians gemalten Bildnis Tizians, des Andrea dei Franceschi und eines Tizian-Freundes in Hampton Court (FI. E. Wetbey, wie Anm. 41, Bd. II, Kat.-Nr. X - 1 0 3 ; Tafel 275) oder in R u b e n s ' Doppelbildnis Senecas und Neros (Wallraf-Richartz-Jahrbuch X X V I I , 1965, Abb. 201): für Nero, der die Schulter kräftig vorstößt, existiert die Seneca-Figur überhaupt nicht. Jedes'Brustbild würde, für sich genommen, ein Format beanspruchen, das von der Mittelachse des Partnerkopfes begrenzt wäre. Gleiche Beobachtungen lassen sich bei vielen gezeichneten Bildnisgruppen der Deutschrömer im frühen 19. Jahrhundert machen.

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un Slg. Th. McCormick, Poughkeepsie/USA. Vgl. Fritz d Rudolf Wittkowcr, British Art and the Mediterranean, London 1948, S. 82. — Ausst.-Kat. Neo-Classicism, Style and Motif (bearb. H. Harvles und R. Saisselin), The Cleveland Museum of Art 1964, Nr. 80. London, The Täte Gallery.

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Flügel in Engel verwandelt und kranzartig verteilt. Dennoch wird die Individualität des Modells gewahrt, auch fällt (ganz besonders bei der Vorder- und der Seitenansicht) die Beziehungslosigkeit der Köpfe untereinander auf, die in einem gewöhnlichen (anonymen) Engelreigen hätte vermieden werden müssen. Der schottische Maler G a v i n H a m i l t o n (1723 — 1798), der viele Jahrzehnte in Rom lebte und sich durch eine ausgedehnte archäologische Tätigkeit mehr noch als durch seine frühklassizistische Malerei einen Namen machte, faßte in einem Bild (Taf. 29,2)70 drei Posen der Emma Harte zusammen, die unter dem Namen Lady Hamilton berühmt werden sollte. Sie war damals die Geliebte des englischen Botschafters in Neapel, Sir William Hamilton, der sie 1791 heiraten sollte. Unter den Liaisons, die ihren Aufstieg markierten, war auch die mit Romney gewesen, dem sie seit 1782 für eine Anzahl von Bildern Modell stand; er unterwies sie in der neuen Kunst der „lebenden Bilder" und machte aus ihr „The Mistress of the Attitudes". Die Posen, die sie in verschiedener Gewandung vorführte, wurden allgemein bewundert, Goethe beschreibt sie in seiner „Italienischen Reise" 71 . Friedrich Rehberg gab schon vor 1794 eine Folge von Stichen über diese Stellungen heraus, die mehrmals neu aufgelegt und kopiert wurden72. Er ist nicht der einzige und wichtigste unter denen, die Joseph Anton Koch meint, wenn er bissig schreibt, daß „alle an Geist und Kunsttalent bankrotte Künstler nach ihren Stellungen studirten und solche herausgaben, womit dieselben, wie ich höre, ein schönes und schweres Geld machten"73. Der Franzose Vivant-Denon radierte auf einem Blatt zwei ihrer Posen — vielleicht gar zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Bewegungsphasen74. Auch Wilhelm Tischbein, der damals in Neapel ansässig war, wählte sie zu wiederholten Malen zum Modell, wobei er offensichtlich, ebenso wie Romney, die Posen so übernahm wie sie waren. Ebenso hält es Gavin Hamilton : So ähnelt die Stellung und der Kopfputz links auf seinem Bild einem Ovalbildnis der Emma Harte von Romney in der National Portrait Gallery75. In dieser Zeit, und zumal in England, steht die allegorische oder mythologische Verbrämung von Bildnissen76 in hoher Blüte : und so mag Emma nicht nur anonymen Idealfiguren ihre schönen Züge geliehen haben, sondern dem zeitgenössischen Betrachter auch als Person hinter der Allegorie deutlich geblieben sein. Unter diesem Aspekt betrachtet, lassen sich auch mehrfigurige Gemälde, in denen sie gleichsam Doppel- oder gar dreifache Rollen spielt, indem sie zu mehreren Figuren Modell stand, dem Typus des Bildnisses in mehrfacher Ansicht wenigstens obenhin vergleichen77. Gavin Hamilton hatte Emma im Frühjahr 1785 kennengelernt. Aus einem Brief ihres damaligen Tutors Charles Greville erfahren wir, wie er sie mit dem Maler zusammenbrachte, der ankündigte, nicht rasten zu wollen, bis er sie überredet hätte, ihm zu sitzen78. Als die derart Gepriesene im Jahr darauf nach Neapel zu Sir William Hamilton übersiedelte, war Gavin Hamilton ihr Begleiter79, und seinen im Sommer 1786 entstandenen „Rollenbildnissen" der Emma Harte80 läßt sich auch das Gemälde mit den drei Posen vielleicht anreihen. Vielleicht sind Romneys „Sidonian Recollections",• die etwa gleichzeitig entstanden, das Zwischenglied: sollte Hamilton dadurch zu seinem Bild angeregt 70

The Duke of Hamilton, Leflnoxlove, Haddington. Unter dem 16. März 1787. 72 Lady Hamilton in relation to the art of her time. Ausst.-Kat. The Art Council, London 1972 (Bearb. : Patricia Jaffe), Nr. 44, 45. — Abb. bei H. Gamlìn, Emma Lady Hamilton, An old story re-told, Liverpool/London 1891, passim. 73 J.A.Koch, Moderne Kunstchronik oder die Rumfordische Suppe, Karlsruhe 1834, S. 19. 74 Bibliothèque Nationale, Paris: Ef 48 fol., Bl. 15. 75 R. Cleeve, George Romney, London 1901, Tafel bei S. 24. 76 Edgar Wind, Studies in Allegorical Portraiture, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes I (1937), S. 1 3 8 - 1 6 2 . 77 Zum Beispiel Romneys „Tragedy and Comedy nursing the Infant Shakespeare", um 1791 (Maxwell Nr. 360), für Boydell's Shakespeare Gallery; oder J. H. Wilhelm Tischbeins „Iphigenie erkennt Orest", 1787, Schloß Arolsen (vgl. J.H. W. Tischbein, Aus meinem Leben, Bd. II, Braunschweig 1861, S. 104—106: Alle vier Kopfe sind nach Lady Hamilton gemalt). 78 Der Brief (an Sir William Hamilton in Neapel) ist mitgeteilt in: Hilda Gamlin (wie Anm. 72), S. 35 — 37. 79 Ebenda, S. 42. 80 Patricia Jaffé (wie Anm. 72), Nr. 34, 35 ; Tafel II, III. 71

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worden sein, so hat er, bewußt oder unbewußt, doch wieder an die Tradition des 17. Jahrhunderts angeknüpft und die skizzenhafte Auflösung der Gestalten vermieden. Ein entscheidender Unterschied aber (auch gegenüber Romney) ist der Verzicht auf gleiche Frisur und Tracht.

Rosa Triplex Sein Wort zu dieser Tradition spricht D a n t e G a b r i e l R o s s e t t i mit der Komposition „Rosa Triplex", die in drei größeren Fassungen (zwischen 1867 und 1874) ausgeführt wurde (Taf. 29,3) 8 1 . Es sind, wie er selbst in einem Brief bezeugt, „three views of May Morris' lovely face". Rossetti war mit dem Ehepaar William Morris befreundet, und die junge Frau war über Jahre hindurch eines seiner bevorzugten Modelle. Hier tragen drei Gestalten ihre Züge, die, hinter einer Balustrade sitzend gedacht, einander umfassen, mit betont divergierenden Blickachsen gleichsam voneinander wegträumen, während die Hände mit den Rosen sich bedeutungsvoll zur Gruppe zusammenschließen82. Daß die drei Figuren räumlich ineinander verschränkt und seelisch aufeinander bezogen sind, setzt voraus, daß sie wirklich als drei Einzelne gemeint sind. Die Entscheidung für ein einziges gemeinsames Modell wäre demnach nur eine bequeme Lösung, die obendrein den Vorzug hätte, eine symbolische Schwesternschaft zu suggerieren? Diese Deutung liegt nahe, bleibt aber allzu einlinig. Denn bei Rossetti ist, wie überhaupt bei den Präraphaeliten und Symbolisten, die Verdoppelung oder Verdreifachung von Figuren häufig zu beobachten: Rossetti gestaltet die Doppelgänger-Begegnung in „ H o w They Meet Themselves" (1851—6o) 83 ; seine „Astarte Syriaca" (1875—77) 84 zeigt zwei völlig gleiche, antithetisch einander zugewandte Engelfiguren; ja selbst außerhalb dieser sophistizierten Sphäre, auf einem Gegenwarts-Gemälde wie A u g u s t u s L e o p o l d E g g s „The Travelling Companions" (1862) 85 sind zwei gleich aussehende, gleich frisierte und gekleidete Frauen so auffällig antithetisch angeordnet, daß es schwer fällt, an ihre getrennten Identitäten zu glauben. Dieses Verfahren führt, weiterentwickelt, zu den rhythmischen Reigen bei Burne-Jones und Hodler; selbst in der Plastik äußert es sich, etwa in George Minnes Fünfknabenbrunnen (1898/1906), jetzt im Essener FolkwangMuseum. Dieses Werk wird gern und mit guten Gründen als Ausdruck des Narzißmus gedeutet86. Die Fünf sind Einer — freilich zugleich Keiner, weil die Vervielfachung der Abbilder Zweifel an der Identität des Urbildes entstehen läßt. Gleiches mag erst recht für ein Werk wie „Rosa Triplex" gelten. E s ist ein Bildnis, soweit Rossetti irgend imstande war, ein Bildnis zu malen; denn bei aller Abhängigkeit von seinen Modellen hat er sie doch immer im Sinne des hintergründig-vagen, empfindsamen „Symbolporträts" idealisiert87. Immerhin, der Ausdruck „three views", den er im Zusammenhang mit dem Rosenbild benutzt, läßt aufhorchen; denn er ist der terminus technicus, der etwa auch auf 81

Es sind, der Technik nach, Zeichnungen, aber dem Format und dem Anspruch nach Gemälde. Kreidefassung 1867, London, Täte Gallery (Virginia Surtees, The Paintings and Drawings of Dante Gabriel Rossetti. A Catalogue Raisonné, 2 Bände, Oxford 1971, Nr. 238 A , Abb. 349); unvollendete Kreidefassung um 1867, Bart, Sir Brandon Rhys Williams (Surtees Nr. 238 B, ohne Abb.); Aquarell 1874, Mrs. Virginia Surtees (Surtees Nr. 238, Abb. 348). Wir beziehen uns hier auf das Exemplar in der Täte Gallery. Die Fassung Surtees 238 bringt zweifellos Verbesserungen im einzelnen (vor allem ist die Disposition der Hände weitaus bewegter und rhythmischer), aber keine grundsätzliche Veränderung.

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Zur ästhetisierend-mystischen Rosensymbolik der Präraphaeliten vgl. Lothar Hönninghausen, Präraphaeliten und Fin de Siècle. Symbolistische Tendenzen in der englischen Spätromantik, München 1971, S. 359 — 363. Cambridge, Fitzwilliam-Museum. Surtees (wie Anm. 81), Nr. 1 1 8 ; Abb. 182. City of Manchester, Art Galleries. Surtees (wie Anm. 81), Nr. 249; Abb. 371. Birmingham, City Museum and Art Gallery. Graham Reynolds, Victorian Painting, London 1966, Abb. 16. Albert Alhadeff, George Minne: Narcissism and Symbolist Sculpture, in: Actes du X X I I e Congrès international d'h'istoire de l'art, Budapest 1969. Evolution générale et développements régionaux en histoire de l'art, Budapest 1972, Bd. II, S. 401—409, bes. S. 4o6ff. — Vgl. auch den Innenraum des Leipziger Völkerschlachtdenkmals (Franz Metzner 1906 — 1913), Metzners monumentalen Rundraum in der Berliner Secessions-Ausstellung 1904 (eine Figur der „Erde" von vielen Karyatiden umstellt) oder Maillols „Les nymphes de la prâirie".

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Zum Symbolportrait des 19. Jahrhunderts vgl. L. Hönninghausen (wie Anm. 82), S. 97 — 103.

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van Dycks Bildnis Karls I. angewendet wird, und er betont gerade nicht das Idealische, sondern das Anschaulich-Konkrete88. Exkurs: Konfrontation der Altersstufen „Heute Abend ging ich auf den Markusturm. Da ich neulich die Lagunen in ihrer Herrlichkeit, \ur Zeit der Flut, von oben gesehen hatte, wollt ich sie auch %ur Zeit der Ebbe in ihrer Demut sehn. Und es ist notwendig, diese beiden Bilder verbinden, wenn man einen richtigen Begriff haben will." Goethe (Italienische Reise), 9. 10. iyS6m

Bilder, sie sich zu einem Begriff zusammenfügen: Das ist ein wichtiger Aspekt des Bildnisses in mehrfacher Ansicht. Ein Seitenweg seiner Entwicklung führt zur Gegenüberstellung verschiedener Altersstufen einer Person auf einem Bild. So erblickt man auf dem Atelierbild von Pierre S u b l e y r a s (um 1746, Wien, Akademie der Bildenden Künste)90 den alternden Maler selbst, wie er, in ganzer Figur sitzend, dem Betrachter ein Gemälde präsentiert, das sich als jugendliches Selbstbildnis erweist. Beide Köpfe, der „wirkliche" und der „gemalte", sind_ frontal genommen : eine Aufforderung zum Vergleichen. Diese Bildidee ist gleich doppelt motiviert: erstens hängen an der Wand des Ateliers zahlreiche Bilder, das Jugendbild ist nur eines unter ihnen, freilich ein privilegiertes. Außerdem stellen diese Bilder ein abgekürztes Werkverzeichnis dar, dem in den Selbstportraits gleichsam eine Kurzbiographie zur Seite gestellt wird. Man könnte sogar vermuten, daß ein weiteres, zwischen beiden Köpfen erscheinendes und kompositionell sehr auffällig auf sie bezogenes Bildnis ebenfalls den Maler darstellt. — In gleichem Sinne scheint auch, wie kürzlich vermutet wurde, F r a n z A n t o n Maulpertschs Selbstbildnis in der Österreichischen Galerie in Wien konzipiert zu sein; vielleicht gab sogar das Atelierbild des Subleyras die Anregung. Auf seinem Gemälde (das E. A. Maser um 1780 ansetzt) zeigt Maulpertsch eine Rolle mit einem Jünglingsbildnis vor, das ihn selbst als Fünfzehnjährigen darstellen dürfte. Im Sinne der Tradition der Vanitasbildnisse spielt er damit auf seinen leiblichen Verfall an91. Meint auch C a r l o D o l c i mit seinem Selbstbildnis in den Uffizien (1674)92 Ähnliches ? Der Maler hält hier dem Betrachter ein Blatt entgegen, auf dem man ein weiteres Selbstbildnis im Profil erkennen kann: möglicherweise jünger, aber mit dem Kneifer und dem spitzfingrigen Gestus des Feinmalers keinesfalls blühender. Und geradezu als eine Umkehrung des bei Subleyras und Maulpertsch gestalteten Vanitas-Gedankens kann man eine Selbstdarstellung des 1677—91 in Italien nachweisbaren Salomon A d l e r interpretieren93: selbstbewußt lachend steht der Maler, ein Mann in mittleren Jahren, vor der Staffelei, auf der ein Jünglingskopf zu sehen ist, das sich mit dem charakteristischen angestrengten Selbstbildnis-Blick aus dem Halbprofil herauswendet. Dieser Jüngling scheint, dem Gesichts schnitt und besonders den Augen nach zu schließen, kein anderer als der Maler selbst zu sein; sein Kopf ist aber verbunden, sein Ausdruck betrübt. Seht, scheint Adler uns bedeuten zu wollen : so elend und traurig war ich in der Jugend, und so herrlich weit habe ich's gebracht. 88

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Auch Jarno Jessen (Rossetti, Bielefeld/Leipzig 1905, S. 72) formuliert, wohl unabhängig von der Briefstelle: „ein . . . Modell in drei verschiedenen Ansichten". Ähnlich empfiehlt J . G. Sul^er (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 1x9, eine einzige Landschaft studienhalber „bey zwanzigerley Licht und Himmel, aber immer aus demselben Gesichtspunkt" zu zeichnen. Die konsequenteste Verwirklichung dieser Idee ist das Spätwerk von Claude Monet: die in den einzelnen Bildern der Serien festgehaltenen Eindrücke überlagern einander; das Einzelbild neigt dazu, in der Synthese aufzugehen. Gesamtabb. : Robert Eigenberger, Die Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste in Wien, Leipzig 1927, Tafelband, Tafel 2 1 . Edward A. Maser, Franz Anton Maulpertsch as Portraitist: Some Questions about the Vienna Self-Portrait, in: Pantheon 29 (1971), S. 292 — 307, mit Farbabb. S. 303. Hier auch der Vergleich mit Subleyras. — Dagegen hatte Klara Garas (Franz Anton Maulpertsch, Budapest i960, Kat.-Nr. 396) das Gemälde als eines der allerletzten Werke des Künstlers „ u m 1794—1796" angesetzt und glaubte in dem Jünglingsbildnis den Sohn des Malers zu erkennen. Abb. in: Jahrbuch der Kunsthistor. Sammlungen Wien 56 (i960), S. 233. Budapest, Museum der Schönen Künste. Andreas (Andor) Pigler, Orszâgos Szépmûvészeti Müzeum, A régi képtâr katalôgusa, Budapest 1954, Bd. 1 , S. 19/20, Nr. 1986 (775). Das Bildnis auf der Staffelei wird hier nicht als Selbstdarstellung gedeutet.

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