Zum 70. Geburtstag von Werner Frotscher haben 40 Autoren öffentlich-rechtliche Beiträge zu Staat, Wirtschaft und Gemeind
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German Pages 851 Year 2007
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1069
Staat – Wirtschaft – Gemeinde Festschrift für Werner Frotscher zum 70. Geburtstag Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Urs Kramer Uwe Volkmann
a Duncker & Humblot · Berlin
Staat - Wirtschaft -
Gemeinde
Festschrift für Werner Frotscher zum 70. Geburtstag
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1069
Staat - Wirtschaft Gemeinde Festschrift für Werner Frotscher zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Urs Kramer Uwe Volkmann
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-12565-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: http://www.duncker-humblot.de
Geleitwort Das wissenschaftliche Werk Werner Frotschers, zu dessen 70. Geburtstag am 20.9.2007 Autoren und Herausgeber diese Festschrift überreichen, ist von zwei Grundmotiven geprägt, die nur auf den ersten Blick in einem gewissen Widerspruch zueinander zu stehen scheinen, sich in Wahrheit aber zu einem Gesamtbild runden, in dem das intellektuelle Credo einer ganzen Generation von Rechtswissenschaftlern aufbewahrt ist. Da ist zum einen die Erkenntnis, dass die Institutionen des heutigen Staates nur in ihrer real- und ideengeschichtlichen Bedingtheit angemessen begriffen werden können und auch über das Recht dieses Staates sinnvoll nur reden kann, wer weiß, wie es zu dem geworden ist, was es ist. Ihr ist die Beschäftigung mit der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte zu verdanken, die von Anfang an einen Schwerpunkt im Wirken Werner Frotschers bildete und als solcher in den letzten Jahren und Jahrzehnten an Bedeutung ständig gewann. Dem steht auf der anderen Seite die Einsicht gegenüber, dass das Recht seine Legitimation statt aus einer mehr oder weniger glorreichen Vergangenheit vornehmlich aus seiner Leistungsfähigkeit für die Lösung der Gegenwartsprobleme einer Gesellschaft bezieht. Es muss sich dann vor allem in seiner praktischen Anwendung bewähren, so wie auch die Rechtswissenschaft insgesamt eine praktische, dem je und je vorhandenen, demokratisch erzeugten Recht verpflichtete Wissenschaft ist. In der Aufnahme dieser Erkenntnis erweist sich Werner Frotscher als, wie er einmal selbst von sich sagte, „gemäßigter Positivist", der die Lösung der alltäglichen Probleme einer Rechtsordnung nicht im geschichtlich-philosophischen Himmel sucht, sondern in den ganz profanen Gefilden einer traditionellen, unaufgeregten Dogmatik. Den sichtbaren Beleg liefern die anderen Bereiche und Themen, denen sich der Wissenschaftler Werner Frotscher zugewandt hat. Es sind dies vor allem das klassische Staats- und Verfassungsrecht, das öffentliche Wirtschaftsrecht und das Kommunalrecht, die je für sich in ihrer konkreten Nutzanwendung in zahlreichen Veröffentlichungen entfaltet werden. Sie bilden neben der Verfassungsgeschichte die weiteren Schwerpunkte seiner Tätigkeit, die darum auch in dieser Festschrift mit je einem eigenen Abschnitt gewürdigt werden. Werner Frotscher wurde in Kiel als Sohn des Studiendirektors Dr. Walter Frotscher und dessen Ehefrau Annelies geboren. In Kiel absolvierte er auch seine Schulzeit und einen Großteil seines Studiums, das er im Jahre 1957 aufnahm und - nach einem einsemestrigen Intermezzo in Freiburg - im Februar 1962 mit der Ersten juristischen Staatsprüfung abschloss. Von hier aus ging es unmittelbar hinüber in den Referendardienst, der neben Stationsaufenthalten in Berlin, Liverpool und Marseille zur Erstellung und Anfertigung der Dissertation bei Christian-Friedrich Menger genutzt wurde. 1964 promovierte Werner Frotscher
6
Geleitwort
an der Universität Kiel mit einer Arbeit über die Abgrenzung der Zuständigkeit der Großen Senate der oberen Bundesgerichte von der Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG; 1967 schloss er das Referendariat mit der Zweiten juristischen Staatsprüfung ab. Es folgte - erneut in Kiel die Assistenzzeit bei Georg-Christoph von Unruh, mit der auch die Habilitation erfolgreich in Angriff genommen wurde. 1974 erhielt Werner Frotscher aufgrund der Habilitationsschrift „Regierung als Rechtsbegriff' und einer Probevorlesung über die Ausgestaltung kommunaler Nutzungsverhältnisse bei Anschluss- und Benutzungszwang von der Universität Kiel die Lehrbefugnis für das Gebiet des Öffentlichen Rechts. Nach Lehrstuhlvertretungen in Kiel und Heidelberg wurde er 1976 zum ordentlichen Professor an der Universität Hohenheim berufen, deren Institut für Rechtswissenschaft er mehrere Jahre als geschäftsftihrender Direktor leitete. 1983 nahm er den Ruf auf die ordentliche Professur für öffentliches Recht an der Philipps-Universität Marburg an, der er bis zu seiner Emeritierung treu blieb. Gastprofessuren führten ihn zwischenzeitlich nach Kent, Jena und Poitiers, im zweiten Hauptamt war er von 1987 bis 1994 als Richter am Hessischen VGH in Kassel tätig. Für die Ausbildung der Studierenden engagierte er sich neben der aktiven Lehre als ständiger Mitarbeiter des „JuS-Lernbogens" der „Juristischen Schulung". Lebensmittelpunkt aber war und blieb nun Marburg, das ihm nach Kiel zur zweiten Heimat geworden ist. 2005, im Alter von 68 Jahren, wurde Werner Frotscher emeritiert und schied, nicht ohne Wehmut, aus dem Amt. Die beiden Leitmotive des Wissenschaftlers Werner Frotscher, die für das spätere Wirken bestimmend sein sollten, klingen bereits in der Kieler Habilitationsschrift markant an: einerseits der Versuch, ein vertieftes Verständnis des geltenden Rechts von der Erschließung seiner politisch-historischen Grundlagen her zu erreichen, andererseits das Beharren auf jenem Selbststand des Rechts, der aus dem Akt seiner autonomen Setzung resultiert. Im Begriff der Regierung, dem sich die Arbeit widmet, treffen nicht zufällig beide Seiten aufeinander, und es ist das bis heute bleibende Verdienst der Arbeit, sie in einer Zeit, in der gerade solche Begriffe für ideologische Vereinnahmungen anfällig waren, in ihrer wechselseitigen Bezogenheit wie auch ihrer prinzipiellen Unabhängigkeit und unverwechselbaren Eigenart sichtbar gemacht zu haben. Zugleich ist mit der Habilitation ein Fundament gelegt, auf dem vor allem die späteren Arbeiten zur Verfassungsgeschichte aufbauen können. Selbstverständnis und Funktion des Beamten im Wechsel der politischen Systeme (Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat, 1975), die geschichtliche Entwicklung der Verwaltungsorganisation (in der von Kurt Jeserich, Hans Pohl und Georg-Christoph von Unruh herausgegebenen Deutschen Verwaltungsgeschichte), die Erfahrungen mit der direkten Demokratie in Weimar (etwa in DVB1. 1989, 541 ff.) oder die kurhessische Verfassungsdiskussion als deutscher Präzedenzfall (etwa in der Festschrift 50 Jahre Hessische Verfassung) bilden nun und in den folgenden Jahren die Themen. Daneben und im Wechsel damit wird auch das öffentliche Wirt-
Geleitwort
schaftsrecht als Themengebiet entdeckt und literarisch erschlossen: in verschiedenen Veröffentlichungen zur Berufsfreiheit, in dem großen Artikel zum Gewerberecht im von Reiner Schmidt herausgegebenen Handbuch zum Öffentlichen Wirtschaftsrecht, in den von 1981 an in loser Folge in der Juristischen Schulung erscheinenden Grundfällen zum Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, aus denen schließlich das nunmehr in 4. Auflage erschienene Lehrbuch hervorgeht. Im Kommunal- im Staatsrecht sind es dann neben zahlreichen Veröffentlichungen zu Einzelfragen - vor allem das demokratische Prinzip und die Möglichkeiten unmittelbarer Bürgerbeteiligung, denen Werner Frotschers Augenmerk gilt und die zugleich die verbindende Klammer zwischen den beiden Materien bilden. Der stete Ausbau der plebiszitären Elemente in den Kommunalverfassungen, die Möglichkeiten der Volksgesetzgebung auf Bundes- und Landesebene, die Spannungen zum repräsentativen Prinzip, die Rolle von Parteien und staatlichen Funktionsträgern werden in zahlreichen, das Thema von verschiedenen Seiten umkreisenden Arbeiten ausgelotet: in dem Beitrag „Selbstverwaltung und Demokratie" in der Festgabe für Georg Christoph von Unruh (1983), in der Abhandlung zur direkten Demokratie in Weimar, in verschiedenen Beiträgen zu den Rechtsfragen kommunaler Bürgerbegehren. Der direkten Demokratie steht Werner Frotscher dabei aufgeschlossen, aber in der für ihn charakteristischen Mischung aus Nüchternheit und Skepsis gegenüber; die überzogenen und geradezu euphorischen Hoffnungen, die manche ihrer Befürworter in sie setzen, sind ihm fremd. Dass er gleichwohl, wenn es Not tut, klare Worte nicht scheut, bewies er in seiner Marburger Antrittsvorlesung über Krisenzeichen und Zukunftsperspektiven des Parteienstaats, in der er die Allmachtsansprüche der Parteien ebenso scharf zurückwies wie ihre zunehmend zu beobachtende Selbstabschottung (DVB1. 1985, 917 ff). Überhaupt beharrt er stets auf der Notwendigkeit eines eigenen, beständig einer kritischen Prüfung zu unterwerfenden Standpunktes. Geistige und damit notwendig auch politische Unabhängigkeit ist ihm wichtig, Gesinnungsjurisprudenz jeder Couleur verdächtig. Das Gutachten zum Verhältnis von Reality-TV und Menschenwürde („Big Brother" und das deutsche Rundfunkrecht, 2000), an das sich verschiedene Folgeveröffentlichungen zu verwandten Themen knüpften, war in der Nüchternheit der juristischen Analyse wohl auch seinen Auftraggebern unbequem. Hervorgetreten ist Werner Frotscher in seinen Veröffentlichungen aber nicht zuletzt und, wie die vielen Beiträge in Ausbildungszeitschriften belegen, vielleicht sogar in erster Linie als Lehrer und Didaktiker: Examens- und Übungsklausuren, an den Notwendigkeiten studentischer Fallbearbeitung orientierte Urteilsbesprechungen, die an den studentischen Bedürfhissen orientierte Aufarbeitung abstrakter Themen wie der Grundrechtsfunktionen oder der juristischen Personen des öffentlichen Rechts - all dies bildet über die Jahre hinweg ein keineswegs geheimes, immer wieder aufgesuchtes Zentrum seines Schaffens. Im zusammen mit Bodo Pieroth geschriebenen Lehrbuch zur Verfassungsgeschichte, einem späten Erfolg, hat diese Seite seines Wirkens ihren Lohn und - vorläufigen - Abschluss erhalten; mittlerweile bereits in der 6. Auf-
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Geleitwort
läge erschienen, erfreut es sich in der Übersichtlichkeit seiner Struktur, in der Anschaulichkeit seiner Darstellung, in der gelungenen Verbindung von Erläuterung und Quellentexten sowohl bei Lehrenden als auch unter Studierenden einer außerordentlichen Beliebtheit. Werner Frotscher war, wie sich darin zeigt, wesentlich nicht nur Forscher, sondern auch Lehrer. Dass zwischen Forschung und Lehre ein Gleichgewicht herrschen soll, hat er stets wörtlich genommen. Den spöttischen, auf die Gepflogenheiten des heutigen Wissenschaftsbetriebs gemünzten Satz Niklas Luhmanns: Nur wer nicht lehrt, fällt auf, würde er für sich nicht akzeptieren, jedenfalls nicht, wenn man ihn zum Vorwand nähme, die Lehre zu vernachlässigen. Ihm ist sie nicht äußere Verpflichtung oder Last, sondern innerer Auftrag und Berufung. Dem entspricht die Art und Weise, in der er unterrichtet. Seine Veranstaltungen waren, was man zu der Zeit, als er nach Marburg kam, so nicht von allen sagen konnte, lehrreich, strukturiert, lebendig. In den Vorlesungen las er nicht vor, sondern erklärte und vermittelte. Viele eingestreute, klausurgerecht gelöste Fälle trugen zur Veranschaulichung bei und bereiteten auf die nachfolgenden Übungen so vor, dass man sie bestehen konnte. Dass sich der Stoff mit Hilfe von Overheadfolien, Merkblättern und Übersichten präsentieren lässt, war man seinerzeit als Student nicht unbedingt gewohnt. In seinen Seminaren - zu aktuellen Problemen des Staatsrechts, zur Verfassungsgeschichte, zum Wirtschaftsverwaltungsrecht - ging es lebhaft und kontrovers zu; die Diskussionsfreude, die ihn selbst bis heute auszeichnet, erwartet er auch von seinen Studenten und Mitarbeitern. Am Lehrstuhl entsprach dem neben einer unaufgeregten Betriebsamkeit ein Klima von Liberalität, Offenheit, menschlicher Wärme. Man arbeitete miteinander, aber man sprach auch viel miteinander: über Literatur, über Politik, über Persönliches. Mit dieser Festschrift wollen Kollegen, Weggefährten, Mitarbeiter und Schüler den Wissenschaftler und Menschen Werner Frotscher ehren. Sie ist daher auch ein Anlass, Dank zu sagen für die über die Jahre hinweg immer angenehme Zusammenarbeit, für vielfaltige persönliche Begegnungen, angeregte Gespräche und aufrichtige Gastfreundschaft. Die Mitwirkenden an dieser Festschrift verbinden dies mit den herzlichsten Glückwünschen zum Geburtstag und hoffen, dass dem Jubilar zusammen mit seiner Ehefrau noch viele produktive, erfüllte Jahre beschieden sein mögen. Zugleich danken die Herausgeber dem Verlag Duncker & Humblot für die Möglichkeit, diese Festschrift zu realisieren, und dem Hessischen Justizministerium für einen Druckkostenzuschuss. Dank gebührt ferner in Marburg Herrn stud. iur. Tobias André und Frau stud. iur. Kristin Schäfer sowie in Mainz Frau Stephanie Averbeck-Rauch für die Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlagen. Gilbert Gornig, Urs Kramer,
Uwe Volkmann
Inhaltsverzeichnis Α. Verfassungsgeschichte Michael Stolleis, „Respublica mixta". Zur Verfassung des Alten Reichs Dieter Werkmüller,
23
Weistümer als Quellen zur Verfassungsgeschichte
35
Hartmut Maurer, Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit
45
Rainer Störmer, Auslegungsverbote und authentische Interpretation. Exemplarische Betrachtungen unter besonderer Berücksichtigung der obligatorischen Richtervorlage an die Gesetzeskommission im Preußen des ausgehenden 18. Jahrhunderts 67 Stephan Buchholz/Rüdiger Harn, Ludwig Hassenpflug - Religiöser Konservativismus und die Frage der Judenemanzipation im Kurfürstentum Hessen 93 Klaus-Peter Schroeder, Hermann von Schulze-Gaevernitz (1824- 1888) - Preußischer Kronsyndikus und Heidelberger Staatsrechtslehrer 111 Hans Peter Bull, „Freiheit der Arbeit" als Unterdrückung der Koalitionsfreiheit - Die loi Le Chapelier von 1791 und ihre Folgen 129 Dominique Breillat, siècle après
Dix réfléxions autour d'une centenaire - La loi du 9. 12. 1905 un 145
Gilbert Gornig, Schleswig-Holstein als Kondominium und Koimperium Uwe Volkmann, Die Neuordnung des Bundesstaates im Spiegel seiner Geschichte
165 183
B. Verfassungsrecht und Verfassungspolitik Winfried
Brugger, Gerechtigkeit, streitige Rechtsfälle und unstreitige Unrechtsfälle
Klaus Lange, Staatsverschuldung als Verfassungskrise? Armin Dittmann, Art. 84 Abs. 1 GG nach der Föderalismusreform
205 237 253
Hans Herbert von Arnim, Die deutsche Krankheit. Organisierte politische Un Verantwortlichkeit? 267 Jörg Müller-Volbehr, verfassungsgerichts
Die Religionsfreiheit in der neueren Rechtsprechung des Bundes285
Theo Schiller, Volksinitiativrechte in Europa - ein vergleichender Überblick
301
10
nsverzeichnis
Murad Erdemir, Vom Schutz der Menschenwürde vor Gewaltdarstellungen in Rundfunk und Telemedien - Eine medienrechtliche und medienethische Betrachtung 317 Konrad Scori, Begriff, System und Grenzen deutscher und europäischer Wirtschaftsverfassung 335 Norbert Walter,
Die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik
365
C. Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht Hans-Detlef Horn, Die Regulierung im Ordnungswerk des Wirtschaftsverwaltungsrechts 379 Steffen Detterbeck, Rechtswegprobleme im Wirtschaftsverwaltungsrecht Wolfgang Rüfner, päischen Union
399
Daseinsvorsorge in Deutschland vor den Anforderungen der Euro423
Hans D. Jarass, Die Enteignung bei der Errichtung und Änderung von Flughäfen
435
Christian Koenig, Werner Frotschers Lehren zur Gewerbefreiheit und Marktplatzvergabe helfen auch bei der Auswahl des richtigen Insolvenzverwalters 449 Ulrich Spies, Gewerbeuntersagung, Insolvenz und verwaltungsprozessuale Vertretung der GmbH 467 Hans-Werner Laubinger, Reisehandwerk
497
Urs Kramer, Die Betriebspflicht im Eisenbahnrecht und ihre Grenzen. Ein allgemeines Problem netzgebundener Infrastrukturen lösbar mit Hilfe der Widmung? 529 Christian Flämig, Die Erbschaftsteuer auf dem Prüfstand
557
Franc Pernek/Uros Rozic, Änderungen des Steuersystems im Rahmen der Wirtschaftsreformen Sloweniens 593 Joachim Scherer, Vom staatlichen zum staatlich regulierten Maßregelvollzug
617
Olaf Werner, Unselbstständige Stiftungen in hoheitlicher Trägerschaft - dargestellt am Beispiel der Altstiftungen 635 D. Kommunalrecht Sebastian Müller-Franken, Bürgerentscheid und kommunale Finanzhoheit - Vorgaben aus dem Demokratieprinzip sowie der Selbstverwaltungsgarantie für das Plebiszit auf der Ebene der Gemeinden 657 Thomas Schäfer, „Checks and Balances" im Verhältnis von Bürgermeister, Gemeindevorstand und Gemeindevertretung - nach der Kommunalverfassungsnovelle durch das Gesetz zur Stärkung der Bürgerbeteiligung und kommunalen Selbstverwaltung 685 Christian Wefelmeier, Bürgerbegehren
Der Kostendeckungsvorschlag - eine (zu) hohe Hürde für das 705
nsverzeichnis
11
Wilhelm Nassauer, Die Anfechtung kommunaler Wahlen nach hessischem Landesrecht
729
Martin Thormann, PPP/ÖPP als Mittel zur Konsolidierung kommunaler Haushalte? Das Beispiel Schwimmbäder 747 Wolf-Rüdiger Schenke, Der Rechtsschutz von Nachbargemeinden in Verbindung mit Bauleitplänen 765 E. Ausbildung und Hochschulrecht Bodo Pieroth, Literarische Streifzüge durch die Geschichte der Juristenausbildung in Deutschland 795 Reinhard Hendler, Universitäten im Reformprozess - Zu einigen Aspekten der Neuordnung des Hochschulwesens 811 Hermann Stephan, Rechtsstaat ohne Menschlichkeit? - Der Zufallsfaktor Angst bei den juristischen Examina 823
Schriftenverzeichnis Werner Frotscher
841
Abkürzungsverzeichnis a.A.
anderer Ansicht
a.a.O.
am angegebenen Ort
a.E.
am Ende
a.F.
alter Fassung
Abi.EG
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft
Anm.
Anmerkung
Abs.
Absatz
AfK
Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung
AG
Amtsgericht
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift)
APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte (Zeitschrift)
Art.
Artikel
AS RP-SL
Amtliche Sammlung Rheinland-Pfalz-Saarland
Aufl.
Auflage
Az.
Aktenzeichen
BA
Beschlussabdruck
Bay
Bayern, bayerisch
BayVBl.
Bayerische Verwaltungsblätter (Zeitschrift)
BB
Betriebsberater (Zeitschrift)
Bbg
Brandenburg, brandenburgisch
ber.
bereinigt, berichtigt
Beri
Berlin, berlinisch
BezVerwG
Bezirksverwaltungsgesetz
BFH
Bundesfinanzhof
BFH/NV
Bundesfinanzhof Nichtveröffentlichte Entscheidungen
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl.
Bundesgesetzblatt
14
Abkürzungsverzeichnis
BGH
Bundesgerichtshof
BGHSt
Amtliche Entscheidungssammlung des BGH (Strafsachen)
BGHZ
Amtliche Entscheidungssammlung des BGH (Zivilsachen)
BHO
Bundeshaushaltsordnung
BR-Drs.
Bundesrats-Drucksache
Brem
Bremen, bremisch
BSG
Bundessozialgericht
BSGE
Amtliche Entscheidungssammlung des BSG
BStBl.
Bundessteuerblatt
BT-Drs.
Bundestags-Drucksache
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Amtliche Entscheidungssammlung des BVerfG
BVerfGG
Bundesverfassungsgerichtsgesetz
BVerwG
Bundesverwaltungsgericht
BVerwGE
Amtliche Entscheidungssammlung des BVerwG
BW
Baden-Württemberg, baden-württembergisch
BWGZ
Baden-Württembergische Gemeindezeitung (Zeitschrift)
bzw.
beziehungsweise
ca.
circa
CR
Computer und Recht (Zeitschritt)
DB
Der Betrieb (Zeitschrift)
ders.
derselbe
dies.
dieselbe(n)
DIHK
Deutscher Industrie- und Handelskammertag
DJT
Deutscher Juristentag
DJZ
Deutsche Juristenzeitung (Zeitschrift)
DNotZ
Deutsche Notarzeitung (Zeitschrift)
DÖV
Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift)
DStR
Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift)
DStRE
Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst (Zeitschrift)
DStZ
Deutsche Steuerzeitung (Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis DV
Deutsche Verwaltung (Zeitschrift)
DVB1.
Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift)
DVP
Deutsche Verwaltungspraxis (Zeitschrift)
DZWIR
Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht
ebd.
ebenda, ebendort
EG
Europäische Gemeinschaft, Vertrag über die EG
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention
ErbStB
Erbschafts-Steuer-Berater (Zeitschrift)
ErbStR
Erbschaftssteuer-Richtlinien
Erl.
Erläuterung
ESVGH
Entscheidungssammlung der VGH Mannheim und Kassel
etc.
et cetera
EU
Europäische Union
EuGH
Europäischer Gerichtshof
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
EuZW
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
EWiR
Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht (Zeitschrift)
EWS
Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift)
EzGewR
Entscheidungssammlung zum Gewerberecht
f., ff.
folgende
FamRZ
Familienrechtszeitung (Zeitschrift)
FG
Finanzgericht
Fn.
Fußnote
fol.
Foliant (Band)
FR
Finanzrundschau (Zeitschrift)
FS
Festschrift
GewArch
Gewerbe-Archiv (Zeitschrift)
GG
Grundgesetz
GO
Gemeindeordnung
15
16
Abkürzungsverzeichnis
GRUR
Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift)
GV/GVBI.
Gesetz- und Verordnungsblatt
GVG
Gerichtsverfassungsgesetz
GWB
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
h.M.
herrschende Meinung
Hbg
Hamburg, hamburgisch
Hess
Hessen, hessisch
Hrsg.
Herausgeber(in)
Hs.
Halbsatz
HSGZ
Hessische Städte- und Gemeindezeitung (Zeitschrift)
i.d.F.
in der Fassung
i.E.
im Ergebnis
i.S.d.
im Sinne des, im Sinne der
i.S.v.
im Sinne von
i.V.m.
in Verbindung mit
InsbürO
Zeitschrift fur das Insolvenzbüro
IStR
Internationales Steuerrecht (Zeitschrift)
JAG
Juristenausbildungsgesetz
JB1.
Juristische Blätter (Zeitschrift)
JöR
Jahrbuch fur öffentliches Recht (Zeitschrift)
JuS
Juristische Schulung (Zeitschrift)
JuSchG
Jugendschutzgesetz
JZ
Juristen-Zeitung (Zeitschrift)
K&R
Kommunikation & Recht (Zeitschrift)
Kap.
Kapitel
KO
Kreisordnung
KOM
Mitteilungen der EU-Kommission (Zeitschrift)
KommJuR
Kommunaljurist (Zeitschrift)
KOSDI
Kölner Steuerdialog (Zeitschrift)
KSVG
Kommunalselbstverwaltungsgesetz
KTS
Konkurs Treuhand Sanierung - Zeitschrift für Insolvenzrecht
Abkürzungsverzeichnis KV
Kommunalverfassung
LG
Landgericht
LHO
Landeshaushaltsordnung
lit.
Litera (Buchstabe)
LKO
Landkreisordnung
LKV
Landes- und Kommunalverwaltung (Zeitschrift)
m.
mit
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
MDR
Monatsschrift des Deutschen Rechts (Zeitschrift)
MV
Mecklenburg-Vorpommern, mecklenburg-vorpommerisch
n.F.
neuer Fassung
Nds
Niedersachsen, niedersächsisch
NJ
Neue Justiz (Zeitschrift)
NJOZ
Neue Juristische Online Zeitschrift
NJW
Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)
NJW-RR
Neue Juristische Wochenschrift Rechtsprechungs-Report
NordÖR
Zeitschrift für Öffentliches Recht in Norddeutschland
Nr.
Nummer(n)
NRW
Nordrhein-Westfalen, nordrhein-westfälisch
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht
NStZ-RR
Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungs-Report
NuR
Natur und Recht (Zeitschrift)
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
NVwZ-RR
NVwZ-Rechtsprechungs-Report (Zeitschrift)
NWVB1.
Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter (Zeitschrift)
NZBau
Neue Zeitschrift für Baurecht
NZI
Neue Zeitschrift fur Insolvenz und Sanierung
NZM
Neue Zeitschrift fur Miet- und Wohnungsrecht
OLG
Oberlandesgericht
OVG
Oberverwaltungsgericht
OVGE
Amtliche Entscheidungssammlung des OVG
17
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Abkürzungsverzeichnis
R&P
Recht und Psychiatrie (Zeitschrift)
RdE
Recht der Energiewirtschaft (Zeitschrift)
RdJB
Recht der Jugend und des Bildungswesens (Zeitschrift)
RGBl.
Reichsgesetzblatt
RGSt
Amtliche Entscheidungssammlung d. Reichsgericht (Strafsachen)
RhPf
Rheinland-Pfalz, rheinland-pfälzisch
Rn.
Randnummer
RPfleger
Der Rechtspfleger (Zeitschrift)
RStBl.
Reichssteuerblatt
Rz.
Randziffer
S.
Satz, Seite
Saarl
Saarland, saarländisch
Sächs
Sachsen, sächsisch
SachsAnh
Sachsen-Anhalt, sachsen-anhaltinisch
SächsVBl.
Sächsische Verwaltungsblätter (Zeitschrift)
SchlH
Schleswig-Holstein, schleswig-holsteinisch
Slg.
Sammlung
StAnz.
Staatsanzeiger (Zeitschrift)
Stbg.
Die Steuerberatung (Zeitschrift)
StGB
Strafgesetzbuch
StGH
Staatsgerichtshof
StuW
Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift)
SZ
Süddeutsche Zeitung
Thür
Thüringen, thüringisch
ThürVBl.
Thüringer Verwaltungsblätter (Zeitschrift)
u.a.
unter anderem, und andere
UA
Urteilsabdruck
UPR
Umwelt- und Planungsrecht (Zeitschrift)
usf.
und so fort
usw.
und so weiter
UVR
Umsatzsteuer- und Verkehrssteuer-Recht (Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis
19
VBIBW
Verwaltungsblätter Baden-Württemberg (Zeitschrift)
Verf.
Verfassung
VerfGH
Verfassungsgerichtshof
VerfGHE
Amtliche Entscheidungssammlung des VerfGH
VergabeR
Vergaberecht (Zeitschrift)
VerwArch.
Verwaltungsarchiv (Zeitschrift)
VG
Verwaltungsgericht
VGH
Verwaltungsgerichtshof
VGHE
Amtliche Entscheidungssammlung des VGH
VGRspr.
Rechtsprechung der hessischen Verwaltungsgerichte (Zeitschrift)
VgV
Vergabeverordnung
VK
Vergabekammer
VOB
Verdingungsordnung für Bauleistungen
vol.
volume (Band)
VR
Versicherungsrundschau (Zeitschrift)
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Zeitschrift)
VwRR Ν
Verwaltungsrechtsreport Ausgabe Nord (Zeitschrift)
VwVfG
Verwaltungsverfahrensgesetz
WissR
Wissenschaftsrecht (Zeitschrift)
WiVerw.
Wirtschaft und Verwaltung (Zeitschrift)
WM
Wertpapier-Mitteilungen (Zeitschrift)
WRP
Wettbewerb in Recht und Praxis (Zeitschrift)
WRV
Weimarer Reichsverfassung
WuW
Wirtschaft und Wettbewerb (Zeitschrift)
z.B.
zum Beispiel
ZBR
Zeitschrift für Beamtenrecht
ZER
Zeitschrift für Europarecht
ZErbR
Zeitschrift fur Erbrecht
ZEuS
Zeitschrift für Europarechtliche Studien
ZEV
Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge
ZevKR
Zeitschrift fur evangelisches Kirchenrecht
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Abkürzungsverzeichnis
ZfBR
Zeitschrift für Baurecht
ZG
Zeitschrift für Gesetzgebung
Ziff.
Ziffer
ZinsO
Zeitschrift für das gesamte Insolventecht
ZIP
Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
ZNER
Zeitschrift für Neues Energierecht
ZNR
Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte
ZögU
Zeitschrift für öffentliche und gemeinnützige Unternehmen
ZParl.
Zeitschrift für Parlamentsfragen
ZPO
Zivilprozessordnung
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
ZSt
Zeitschrift zum Stiftungswesen
ZUM
Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht
ZWeR
Zeitschrift fur Wettbewerbsrecht
ZZP
Zeitschrift für Zivilprozess
Α. Verfassungsgeschichte
Respublica mixta". Zur Verfassung des Alten Reichs Von Michael Stolleis I. Wenn wir unter dem 17. Jahrhundert in Deutschland das Jahrhundert der Krise des Reichs und des großen Dreißigjährigen Kriegs verstehen, dann beginnt es in der Mitte des 16. Jahrhunderts mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, und es endet 1648. Dieser Krieg bestand aus vier aufeinander folgenden Kriegen. 1 Es war ein europäischer Krieg mit drei Machtzentren: Schweden, Frankreich und Habsburg. Mit ihm endet mehr oder weniger das „konfessionelle Zeitalter". 2 Gleichzeitig beginnt eine Epoche der neueren Völkerrechtsgeschichte.3 In diesem „konfessionellen Zeitalter" zerfiel Deutschland schrittweise in ein katholisches und ein evangelisches Deutschland. Die Hoffhungen, die man noch mit dem Konzil von Trient verbunden hatte, wurden langsam aufgegeben. Neben der alten römischen Kirche entstanden in jedem Territorium eigene protestantische Landeskirchen. Die Landesherren, meist Lutheraner, fungierten als „Notbischöfe", sie erlangten den Summepiskopat. Mit dem Calvinismus kam noch eine dritte, von den beiden anderen mit besonderem Misstrauen betrachtete Konfession hinzu. Erst 1648 wurden die Reformierten auf der Ebene der Reichsverfassung anerkannt. Andere „Sekten" (Schwärmer, Wiedertäufer) blieben ausgeschlossen. Im Jahr 1555 schien es noch einmal gelungen zu sein, die religiösen Konflikte, die zugleich Konflikte des Sacrum Imperium wurden, mit Formelkompromissen zu schlichten. Im Augsburger Religionsfrieden löste man die Religionsfrage zwar nicht, ließ sie aber „in der Schwebe". Beide Konfessionen garantierten einander ihren status quo, beide blieben unter dem Dach der Reichs Verfassung. Die einzelnen weltlichen Territorien hatten damit das Recht, über die Religion ihrer Untertanen zu entscheiden (ius reformandi). Die geistlichen Territorialherren durften dies nicht, sondern sie mussten katholisch bleiben.4 Wechsel1
Böhmisch-Pfälzischer Krieg 1618-1623; Dänisch-Niedersächsischer Krieg 16251629; Schwedischer Krieg 1630-1635; Schwedisch-Französischer Krieg 1635-1648. 2
Grundlegend Heckel, Das konfessionelle Zeitalter, 1983. Grewe, The Epochs of International Law, 2000, S. 279 ff. 4 So der Fall des evangelischen Administrators des Erzstifts Magdeburg, der Sitz und Stimme auf dem Reichstag (zu Augsburg 1582) erlangen wollte und dies nicht erreichte· Gebhard Truchseß von Waldburg (1547-1601), Erzbischof von Köln und Kurfürst, der 3
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Michael Stolleis
ten sie aus privater Überzeugung die Konfession, verloren sie ihr Amt (so genannter Geistlicher Vorbehalt). Der Augsburger Religionsfriede von 1555 bildete also gewissermaßen das Eingangsportal in das konfessionelle Zeitalter. Er formte die Reichsverfassung in einer Weise, die für die Verwendung der Formel respublica mixta im 17. Jahrhundert wichtig werden sollte. Wie sah diese Reichsverfassung aus? Der Kaiser wurde „von den Kurfürsten nach den Regeln der Goldenen Bulle von 1356" durch Mehrheitsentscheidung der Kurfürsten in Frankfurt gewählt und ebendort gekrönt, ebenso der römische König. 5 In Zeiten von Vakanz regierten die Reichsvikare (Kurpfalz, Kursachsen und Savoyen für Reichsitalien). Die kaiserlichen Rechte blieben ein Bündel verschiedener Titel aus dem Reichslehenrecht und aus den Reichsregalien, sie enthielten das Recht, Standeserhöhungen vorzunehmen und bestimmte Titel zu verleihen. Bedeutender waren verschiedene ungeschriebene Zuständigkeiten (Reichsherkommen) und politische Vermittlungsmöglichkeiten, die vor allem von schwächeren Gliedern des Reichs genutzt wurden. Immerhin: Das Reich hatte ein monarchisches Oberhaupt. Der Reichstag6 war die Versammlung der großen und kleinen Reichsstände. Er tagte in dieser Zeit noch nicht regelmäßig, sondern wurde von Fall zu Fall einberufen. Er war das Forum, auf dem die Reichsangelegenheiten verhandelt und beschlossen wurden. Die dort verabschiedeten „Gesetze" (Reichsabschiede) hatten eher Vertragscharakter. Reichsstände waren diejenigen Fürsten bzw. Territorien, die in einer Reichsmatrikel zugelassen waren. Diese Matrikel änderte sich natürlich im Laufe der Zeit entsprechend den dynastischen Entwicklungen, aber sie gab dem Reichstag den Charakter einer geschlossenen Notablenversammlung. Nicht die Bauern und Bürger waren vertreten, sondern die Stände. Sie waren cives imperii. Von einer Repräsentation des Volkes konnte keine Rede sein. Insofern hatte der Reichstag nicht demokratischen, sondern aristokratischen Charakter. Die Gewichte zwischen der monarchischen Spitze des Reichs und dem „aristokratischen" Reichstag waren durch den Augsburger Religionsfrieden zugunsten der Fürsten verschoben worden. Die protestantischen weltlichen Fürsten waren nun in der Frage der Konfession unabhängig vom Kaiser. Sie konnten über die Religion ihrer Untertanen bestimmen (cuius regio, eius religio). Auch die Garantien des säkularisierten Kirchenguts kamen den protestantischen Fürsten entgegen. Damit war das Kaisertum in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stark entwertet. Sieben Zehntel des Reichs sollen zehn Jahre nach dem
evangelisch werden sollte, löste 1583 den Kölner Krieg aus. Er wurde von Kaiser und Papst abgesetzt. Seither besetzte das Haus Wittelsbach bis 1761 den Erzstuhl. 5 Frotscher/Pieroth , Verfassungsgeschichte, 5. Aufl., 2005, Rn. 96. 6 Frotscher/Pieroth (Fn. 5), Rn. 97.
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Augsburger Religionsfrieden schon lutherisch gewesen sein. Alle Gedanken an eine Reform der Reichsverfassung waren um 1576 (Reichstag von Regensburg) blockiert. Unter der Regierung des primär an Wissenschaft, Kunst und Astrologie interessierten und unter Depressionen leidenden Kaisers Rudolph II. (15521612) trat fast politischer Stillstand der Reichsorgane ein.7 Der Streit um die Auslegung des Augsburger Religionsfriedens beherrschte die Szene. Die Konflikte häuften sich. Seit dem Konzil von Trient hatte sich die römische Kirche erneuert und versuchte Terrain zurück zu gewinnen. Der Jesuitenorden breitete sich aus, sowohl im Schulwesen als auch in der politischen Welt. Es gab zahlreiche Konversionen, die politischen Alarm auslösten, so der fast gleichzeitige Übertritt des Hauses Brandenburg zum Calvinismus und der Übergang der Kurpfalz zum Katholizismus (1609). Immer häufig gerieten die Protestanten unter Druck. Sie suchten nach Hilfe, und zwar auf drei Wegen: Zunächst lag es nahe, die Reichsjustiz anzurufen. Das geschah auch bis etwa 1600, aber von da an war das Reichskammergericht, das für die Protestanten allein in Frage kam, durch konfessionelle Auseinandersetzungen gelähmt.8 Der zweite Weg war der militärische Zusammenschluss der protestantischen Reichsstände. Dies geschah 1608 in der so genannten Union. Ein Jahr später, 1609, organisierten sich die katholischen Stände unter der Führung Bayerns als „Liga". Zehn Jahre später führte dieser zweite Weg in den Krieg. Der dritte Weg war der, die öffentliche Meinung von der Rechtswidrigkeit des Handelns der Gegenseite zu überzeugen. Seit der Reformation gab es eine solche „öffentliche Meinung", vor allem durch die Erfindung des Buchdrucks. Wer sich rechtlich durchsetzen wollte, pflegte den Gegner durch eine gedruckte Deduktion ins Unrecht setzen. Dazu musste man die Rechtswissenschaft mobilisieren und auf diese Weise die Semantik der Reichsverfassung bestimmen. Es ging also nicht um die „richtige" oder „falsche" Interpretation der Reichsverfassung, sondern um die politisch gesteuerte InterpretationsherrschafL Wem es gelang, die Streitigkeiten um die Auslegung des Augsburger Religionsfriedens zum Diskurs
7 Evans, Rudolf II and his World. A Study in Intellectual History 1576-1612, 1973 (corr.ed. 1983), S. 43 ff. Die reichsständische Visitationskommission beim Reichskammergericht stellte ihre Arbeit ein, weil die katholische Seite den (evangelischen) Administrator von Magdeburg beim periodischen Wechsel der Mitglieder nicht als Stellvertreter akzeptieren wollte. 8 Der Reichstag hatte 1594 den Reichsdeputationstag mit der Visitation des Reichskammergerichts beauftragt und 1597/98 zur Revisionsinstanz erhoben. Die Kurpfalz wehrte sich dagegen, weil nur der Reichstag über die Auslegung des Religionsfriedens entscheiden könne. Kurbrandenburg, Braunschweig-Wolfenbüttel und Kurpfalz traten aus dem Gremium aus. Hintergrund war der Vierklosterstreit. Hierzu Kratsch, Justiz Religion - Politik. Das Reichskammergericht und die Klosterprozesse im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert, 1990; Heckel, Die Religionsprozesse des Reichskammergerichts im konfessionell gespaltenen Reichskirchenrecht, in: ders., Gesammelte Schriften Band 3, 1997, S. 382-440.
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über die „Reichsverfassung" generell auszuweiten und die „herrschende Meinung" der Rechtsgelehrten zu bestimmen, hatte erhebliche taktische Vorteile. 9 Die protestantische Seite war für diesen dritten Weg besser gerüstet als die katholische. Die protestantischen Universitäten hatten sich im 16. Jahrhundert durch die Förderung ihrer Landesherren rasch entwickelt. Sie blühten auf und wurden international attraktiv. Die katholischen Universitäten dagegen waren seit der Reformation, und vor allem seit der Gegenreformation zurückgefallen. In der Juristenausbildung hatten sie ihren Rang dadurch verloren, dass die ratio studiorum der Jesuiten von 1599 auf das Recht keinen Wert legte. In protestantischen Ländern gab es dagegen einen Überfluss an Büchern, es entwickelte sich eine „Wortkultur" und vor allem die juristische Debatte um die Reichsverfassung setzte in der Krise dieser Verfassung intensiv ein. Unter den katholischen Juristen Deutschlands herrschte weitgehend Schweigen. Es gab weder profilierte Autoren noch einen freien Austausch der Argumente. Man hat Mühe, an den Universitäten von Ingolstadt, Trier, Würzburg, Mainz, Köln und Salzburg einen Gelehrten zu finden, der sich vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Reichsverfassung äußerte. Das ist der Grund, dass sich das ius publicum als Universitätsfach und die Debatte um die forma imperii fast ausschließlich an protestantischen Universitäten findet. Die ersten Vorlesungen gibt es an den Universitäten in Altdorf, Jena, Straßburg, Gießen und Marburg. Von dort aus verbreitete sich ein Strom juristischer disputationes und dissertationes, in denen sich die Diskussion entfaltete. Wie breit dieser Strom ist, sieht man daran, dass die größte Sammlung derartiger Kleinschriften, die etwa 80.000 umfasst, Dutzende von ihnen enthält, die sich mit der forma imperii , mit der respublica mixta oder der monarchia moderata beschäftigen. 10
II. Diese Vorbemerkungen zur konfessionellen Situation und zur Reichsverfassung waren notwendig, um zu erklären, warum sich die Rezeption des antiken Topos von der „gemischten Verfassung" im Deutschland des 17. Jahrhunderts in einem ganz speziellen Milieu entfaltete und warum sie zu bestimmten Ergebnissen kam. Das Jahrhundert zwischen 1550 und 1650 war für das protestantische gelehrte Deutschland das Jahrhundert des Neo-Aristotelismus. In den Territorien, die 9
Heckel, Die Wiedervereinigung der Konfessionen als Ziel und Auftrag der Reichsverfassung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: ders. (Fn. 8), S. 179 ff. 10 Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte (Frankfurt a.M.). Der Katalog der Dissertationen ist zugänglich über die homepage: www.mpier.uni-frankfurt.de .
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zur Reformation übergegangen waren, kam die Tradition des „Aristoteles latinus" zunächst für einige Jahre zum Erliegen. Auch der junge Melanchthon war zwischen 1518 und 1522 überzeugt, dies sei kein Verlust, weil alle wirklich wichtigen Fragen, zu denen auch die weltliche Herrschaft gehörte, nun durch das neu entdeckte Evangelium zu beantworten seien. Aber diese Haltung änderte sich durch die Erfahrung des Bauernkriegs von 1525. Nun wurde ein starker Staat gefordert. Melanchthon hielt Vorlesungen über die Nikomachische Ethik von 1527 an, und er gab 1529 eine kommentierte Ausgabe heraus. Die Erkenntnis, dass die Welt nicht mit den Regeln der Bergpredigt zu regieren sei, brachte ihn zurück zum alten Text der „Politik" des Aristoteles. Die auf das Jenseits konzentrierte Theologie des Protestantismus ließ auf der weltlichen Seite eine Lücke, die offenbar nur durch die aristotelische Ethik und Politik geschlossen werden konnte. Luther und Melanchthon betonten nun, das Evangelium enthalte keine Lehre der Politik. Diese sei vielmehr eine Angelegenheit des Diesseits, des Reichs der Welt. So entstand die alte Lehre von den „Zwei Reichen" neu und es wurde nötig, das „Reich der Welt" neu zu ordnen. In Deutschland waren es die Fragen der Reichsverfassung, die von der Mitte des 16. Jahrhunderts an immer dringender wurden. Sie konnten am besten mit Hilfe der vertrauten Kategorien des Aristoteles diskutiert werden. Gestützt von der Autorität Melanchthons verbreitete sich der neue Aristotelismus an den protestantischen Universitäten. Überall erschienen neue „Politiken" nach dem Vorbild von Melanchthons Commentarli in aliquot politicos libros Aristotelis von 1530-1531. Die junge Universität Wittenberg, die erst 1502 gegründet worden war, übte einen großen Einfluss auf alle protestantischen Länder aus. 1536 wurde in Wittenberg der erste Lehrstuhl für Ethik und Politik geschaffen. Fast alle protestantischen Universitäten folgten in den nächsten Jahrzehnten. Der Aristotelismus wurde eine große geistige Macht, er wurde die offizielle Philosophie des Protestantismus. Auch für die Juristen war sie verbindlich. Sie lieferte die Basis des Wissens über die menschliche Gesellschaft und sie zeigte einen „mittleren Weg", wie man guter Christ sein und gleichzeitig die weltlichen Probleme bewältigen konnte. Geht man also davon aus, dass die protestantische Welt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit der aristotelischen Lehre von den Staatsformen völlig vertraut war, dann lag es nahe, die immer deutlicher werdende Krise der Reichsverfassung mit den Mitteln dieser Lehre zu durchdenken. Die provozierende These Jean Bodins von 1576, das Deutsche Reich sei eine Aristokratie, mobilisierte durch die erst etwa zwanzig Jahre später in Deutschland gedruckten lateinischen Ausgaben des Werks und vielleicht auch durch die erste deutsche Übersetzung um 1600 intellektuelle Energien, wie man die Disharmonien erklären könne. 1591 erscheint die erste lateinische Ausgabe in Frankfurt, 1592 die erste deutsche Ausgabe, 1594 die zweite lateinische, 1601 die dritte, 1609 die vierte, 1611 die zweite deutsche Ausgabe.
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Bodins These, Deutschland sei eine Aristokratie, war deshalb provozierend, weil vor allem die Lutheraner an der alten Lehre vom Kaisertum festhielten. Für sie war das römische Reich die letzte der vier Universalmonarchien nach der Prophetie Daniels. 11 Sie glaubten an die Fortsetzung des mittelalterlichen Reiches. Für sie stand nur die monarchische Staatsform mit dem göttlichen Rechtswillen in Einklang. Bodins These erschien ihnen als Verstoß gegen das jus divinum, geradezu als Sakrileg. 12 Deshalb versuchten sie nachzuweisen, dass die potestas legislatoria, die Gesetzgebungsmacht, dem Kaiser zustehe. Für die orthodoxen Lutheraner wie Dietrich Reinkingk (1590-1664) ist der Kaiser „legibus solutus", aber dafür ist er, wie bei Bodin, gebunden an göttliches Recht, Naturrecht und leges fundamentales. Das ist nicht nur frommes Denken, sondern hat einen juristischen Sinn: Der Kaiser, der an die leges fundamentales gebunden ist, muss auch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 beachten. Insofern war diese Position praktisch sehr bedeutsam. „Hier liegt", so Christoph Link, „der Schlüssel zum Verständnis jener komplizierten Dialektik von konfessioneller Standortgebundenheit und imperialem Engagement, das diese einflussreiche Richtung protestantischer Publizistik kennzeichnet".13 Aber trotz ihres Einflusses war diese konservative Richtung nicht die herrschende. Vielmehr neigten die meisten protestantischen Autoren der Lehre vom status mixtus zu, wenn sie die Reichsverfassung erklären wollten. Der Gedankengang war einfach: Das Reich war auf jeden Fall keine Demokratie. Das Volk hatte keine eigenen Rechte, es wählte keine Repräsentanten, es war nicht auf der Reichsebene präsent. Die „Stände" vertraten zwar ideell das „Land", aber sie hatten keine demokratische Legitimation. 14 Bis zu einem gewissen Grad plausibel war daher die Interpretation des Reichs als Monarchie, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Es ließ sich nicht leugnen, dass dem Kaiser wesentliche Elemente der Souveränitätstheorie Bodins fehlten. Er konnte nicht jedermann befehlen, er konnte nicht ohne Konsens der Reichsstände Krieg erklären und Frieden schließen, es gab keine einheitlichen Münzen, und vor allem: von ei-
11 Lübbe-Wolff Die Bedeutung der Lehre von den vier Weltreichen für das Staatsrecht des römisch-deutschen Reiches, in: Der Staat 23 (1984) 369-389. - Zum Hauptvertreter Dietrich Reinkingk siehe Link, in: Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, 3. Aufl., 1995, S. 82 f. n
Link {Fn. 11), S. 83.
13
Link (Fn. 11), S. 84.
14
Beiseite bleiben soll hier die Auseinandersetzung mit der Volkssouveränitätslehre des Althusius sowie ihrer Varianten in der reformierten Staatslehre (Danaeus, Keckermann und andere); denn dort ist das Volk, aus dem die Obrigkeit hervorgeht, das alttestamentarisch verstandene Gottesvolk, mit dem Gott den fundamentalen Grundvertrag schließt. Ebenso muss hier eine Auseinandersetzung mit Conrings These (De Germanici Imperii civibus, 1641) unterbleiben, der die Reichsstände als cives ansah, weil er den Bürgerstatus mit dem Stimmrecht verband, für einen Aristoteliker wie Coning ganz folgerichtig. Hierzu auch Pufendorf{Monzambano), Caput VI, § 3.
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nem Territorium des Reichs konnte man kaum sprechen. Die Position des Kaisers war eine wesentlich sakrale. Seine reale Macht beruhte darauf, dass er habsburgische Politik betrieb. Gleichzeitig waren auch die Stände des Reichs nichts ohne den Kaiser. Vor allem viele hunderte von kleinen und sehr kleinen Herrschaften konnten ihre Identität nur erhalten, wenn der Kaiser sie schützte. Die Juristen, die gerade in den Diensten dieser kleineren Fürsten standen und ihre Bücher schrieben, kamen also zu dem Ergebnis, der status imperii sei mixtus, weil er Elemente der Monarchie mit Elementen der Aristokratie verbinde. Insofern konnte man den status imperii als eine monarchia mixta sive moderata interpretieren. Damit blieb man noch relativ nahe an der orthodoxen lutherischen Position, wie wir sie etwa bei Dietrich Reinkingk finden. Man konnte sogar noch weiter gehen und sagen, der status imperii enthalte Elemente aller drei Hauptformen: Die Demokratie erschien ihnen in den Reichsständen auf dem Reichstag, die Aristokratie in den Fürsten und Kurfürsten, die Monarchie im Kaiser. Diese Position hatte den Vorteil, dass sie die gesamte antike Debatte als Rechtfertigung aufnehmen konnte. War das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das Sacrum Imperium Romano-Germanicum wirklich die legitime Fortsetzung des antiken römischen Reichs, dann war es auch plausibel, dort die Vorzüge der alten römischen Verfassung wiederzufinden. Man konnte neben dem Kaiser die Konsuln und den Senat erkennen. Das alles war durch die mythische translatio imperii auf Karl den Großen und von ihm auf seine legitimen Nachfolger übergegangen. Das stimmte mit dem Propheten Daniel zusammen, aber es war auch eine praktisch nützliche Position. Sie stützte den Kaiser und band ihn an den Augsburger Religionsfrieden. Sie gab den Reichsständen legitime Rechte der Mitbestimmung auf den Reichstagen. Ohne die Reichstage konnte der Kaiser kein Gesetz beschließen, keine Steuer erheben, keinen Krieg gegen die Türken führen. Seine Stellung war moderata, also abhängig von den Protestanten. Die Lehre vom status mixtus oder von der monarchia moderata war für die Mehrheit also fast die einzige, die wirklich akzeptabel war. Sie sicherte den Protestanten ihren Einfluss im Reich, sie gab aber auch dem Kaiser seine Position als Monarch. Es war eine flexible und realistische Theorie. Sie hatte weiter den Vorteil, dass alle wichtigen Autoren der Antike sie als besonders glückliche Verfassung gepriesen hatten.15 Vor allem die Bezugnahme auf „Rom" stützte den Gedanken. Noch immer strahlte das Urbild des politisch meisterhaft organisierten „Rom" über Europa. Was sich durch eine „Referenz Rom" legitimieren konnte, war gewissermaßen geadelt durch die Verbindung zum eigentlichen Zentrum der abendländischen Welt. Nippel, Mischverfassungstheorie und Verlassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, 1980.
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So wurden die alten Argumente im Kontext des Reichs wiederholt. Wenn eine perfekte Verfassung von allen guten Staatsformen die besten Elemente enthalte, summierten sich diese Elemente und bildeten eine Sicherung vor der Denaturierung der reinen guten Formen in ihre schlechten. Gerade die Mischung war so der entscheidende positive Punkt: Es ist eine Theorie der Mäßigung der verschiedenen Kräfte durch Mischung, so das zentrale Argument seit Polybios, Buch V I . 1 6 Schließlich war die Lehre vom status mixtus deshalb vorteilhaft, weil die Autoren fast ausnahmslos für die Landesfürsten schrieben. Sie erlaubte eine vielfältige Modulation nach den deren konkreten politischen Interessen. Man konnte sowohl kaiserfreundlich als auch reichsfreundlich argumentieren. Die Nachteile der Lehre vom status mixtus lagen allerdings in ihrer theoretischen Unklarheit sowie in dem latenten Widerspruch zum klaren Schema des Aristoteles. Aber diese Nachteile wogen nicht schwer. Man konnte sagen, dass auch Aristoteles die Verfassung Roms, wenn er sie gekannt hätte, als „gemischt" angesehen und positiv bewertet hätte. Man konnte auch (ein beliebter Ausweg) den Kanon des Aristoteles erweitern und den status mixtus zu einer eigenen vierten Kategorie machen.17 Der schwierigste theoretische Punkt war die Frage, wo im status mixtus oder in der monarchia mixta der Sitz der Souveränität sei. Folgte man Bodin, dann konnte der Kaiser auf keinen Fall souverän sein, weil er nicht die für Bodin entscheidende potestas legislatoria besaß. Das konnte man nur behaupten, wenn man den Schlusspunkt des komplizierten Prozesses der Gesetzgebung, die sanctio imperialis, als entscheidend ansah. In Wirklichkeit wussten alle Beteiligten, dass ein Reichsgesetz faktisch ein Vertrag war, ein pactum, cum sigillo Imperator is. Wenn also die Souveränität nicht beim Kaiser lag, wo lag sie dann? Hätte man sie dem Reichstag übertragen, dann wäre man in gefährliche Nähe zur These Bodins von der Aristokratie gekommen. Das wollte man keinesfalls. Also musste man erklären, die Souveränität komme dem Reich als Ganzem zu und sie werde von Kaiser und Reichstag gemeinsam gehalten. Aber auch dies war ein unklarer Ausweg; denn was bedeutete „gemeinsam"? Das Sacrum Imperium war keine juristische Person, keine persona moralis, kein Staat.18 Niemand hatte ein großes Interesse daran, diese theoretischen Probleme der Lehre vom status mixtus zu stark zu vertiefen oder zu verschärfen. Dann wären ihre Vorteile verloren gegangen, die gerade in ihrer Unschärfe lagen. Die Rezeption der Formel der „gemischten Verfassung" war in Deutschland also nicht
16
Nippel (Fn. 15), S. 142 ff. mit allen Nachweisen. Nippel (Fn. 15), Einleitung. 18 Die Lehre von der persona moralis (juristische Person), die durch Organe (Kaiser, Reichstag) handle, ist erst durch Pufendorf formuliert und vor allem erst im Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts auf das Staatsrecht umgesetzt worden. Es wäre anachronistisch, diese Gedanken in das 17. Jahrhundert zurückzuspiegeln. ]1
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das Ergebnis einer theoretischen Neigung, sondern ruhte auf politischen Interessen. Auch katholische Autoren außerhalb Habsburgs neigten ihr zu, weil sie ihnen ein bequemes Mittel an die Hand gab, die Interessen ihrer Landesherren gegen Habsburg zu verteidigen, ohne die Stellung des Kaisers zu gefährden. Nur wer wirklich feindlich gegen Habsburg eingestellt war, nahm Bodins Aristokratiethese auf. Das waren sehr wenige Autoren, und nur einer von ihnen ist berühmt geworden: Hippolithus a Lapide, der unter Pseudonym schreibende Bogislaw Philipp von Chemnitz, der am Ende seiner leidenschaftlichen Schrift über die Staatsräson des Deutschen Reiches von 1640 oder 1647 die Ausrottung, die exstirpatio der domus Austriae forderte. 19 Die Schrift wurde deshalb auch in Wien vom Henker öffentlich verbrannt. Der Verfasser argumentierte mit Bodin gegen den Kaiser und lehnte die Theorie der respublica mixta ab. Wegen seiner Aggressivität gegen Habsburg war er bis zum Ende des 18. Jahrhunderts „un des auteurs les plus estimés par la diplomatie fran^aise". 20 Das Buch wurde deshalb auch unter dem Titel „L'interet des princes allemands" ins Französische übersetzt. Diese Position blieb jedoch, wie gesagt, singulär. Die große Mehrheit der Autoren des öffentlichen Rechts favorisierte die Lehre vom status mixtus, von der respublica mixta oder jedenfalls der monarchia moderata. Diese Formeln werden mehr oder weniger synonym verwendet. Die Übergänge sind unscharf. 21 Die Formel vom status mixtus gehörte in der Mitte des 17. Jahrhunderts zum Basiswissen. Sie erschien in jedem Lehrbuch und vor allem in zahlreichen Dissertationen, die sich mit der Reichsverfassung beschäftigten. Die Debatte hatte sich damit im mittleren Feld beruhigt; denn die status mixtus-Lehre war auch ausgesprochen bequem. Sie wich dogmatischen Festlegungen aus und ließ politisch alles wie es war. Eine Generation später, 1667, machte sich allerdings ein junger Autor mit sehr prägnanter Diktion an die Aufgabe, die Staatsform des Reichs noch einmal fundamental zu behandeln. Es war der Heidelberger Professor für Naturrecht, Samuel Pufendorf (1632-1694), der unter dem Pseudonym „Severinus de Monzambano" eine berühmte Kritik an der bisherigen Debatte veröffentlichte. Auch er lehnte es ab, das Reich als Demokratie oder als Aristokratie zu verstehen. Bei der Monarchie unterschied er die absolute, die für Deutschland nicht denkbar war, von der monarchia limitata. Nur die beschränkte Monarchie kommt als
19
Hoke, Hippolithus a Lapide, in: Stolleis (Fn. 11), S. 118 ff. m.w.N. Schnur, Diskussionsbemerkung, in: ders. (Hrsg.), Staatsräson, Berlin 1975, S. 479, mit dem Hinweis, seine Bücher seien in der Nationalbibliothek in Paris vorhanden, wohin sie durch den französischen Botschafter Gravel in Mainz gekommen seien. 21 Nippel (Fn. 15), S. 27: „ I n der deutschen Reichsstaatslehre des 17. Jahrhundert finden sich Formulierungen wie status mixtus (rei publicae) oder forma mixta, aber auch hier scheint keine Verfestigung der Terminologie eingetreten zu sein." 20
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diskutabel in Frage. Aber auch bei ihr sieht Pufendorf theoretische und praktische Schwierigkeiten: Die deutschen Territori al fürsten sind nahezu souverän, praktizieren sogar das Recht, mit Auswärtigen Kriege zu führen und Bündnisse zu schließen. Der Kaiser hat keine Einkünfte vom Reich, er hat kein Heer. Eine Teilung der Souveränität zwischen Kaiser und Ständen existiert nicht. In der edit io postuma fügt Pufendorf noch hinzu: Sunt denique non pauci, qui inter mixtas respublicas Germaniam referunt, qui quantumcunque se torqueant, nullo modo expedire se possunt. Quae Aristoteles, mixturae istius autor, super imiscendis auf invicem temperandis civitatum aristocraticarum et popularium formis tradit, ad rempublicam Germanicam haud quadrant, quod quilibet, cui ipsum Aristotelem inspicere vacarit, agnoscet. Tum et quas mixturae species recentiores commenti sunt, earum nulla ad hancce quadrat, in qua neque universa potestas summa est penes plures in divis im neque eiusdem potestatis partes inter diversas personas auf collegia sunt distributae. Qui autem Germaniam ideo es monarchia et aristocratia mixtam statuunt, quod jura maiestatis potiora cum Ordinibus communicata sunt, in eo falluntur, quod Ordines Imperii indolem veri senatus aristocratici habere praesupponant, id quod res ipsa aliter demonstrate
Nach diesen prägnanten Argumenten folgen die berühmten Worte Pufendorfs: „Nihil ergo aliud restat, quam ut dicamus, Germaniam esse irreguläre aliquod corpus, et monstro simile, siquidem ad regulas scientiae civilis exigatur...".
Das Reich ist also weder Demokratie noch Aristokratie noch monarchia limitata, sondern irregulär und einem Monstrum ähnlich. Vor allem dieser kleine Zusatz monstro simile führte zu einer publizistischen Explosion. Eine große Zahl von Flugschriften setzte sich damit auseinander.22 Die Aufregung war so groß, dass Pufendorf in der editio postuma (Berlin, 1706) das schlimme Monstrum beiseite ließ, weil es ihm nicht auf die Metapher ankam, sondern auf die Irregularität. Die Diskussion drehte sich um die Frage der Form des Reichs und seiner Souveränität. Viele Autoren konzentrierten sich auf das skandalöse Wort monstrum, vergaßen aber dabei, dass es um eine grundsätzliche und wichtigere Frage ging, nämlich um die Emanzipation des Verfassungsrechts von den Denkformen des Aristotelismus und um die Installierung eines neuen Bildes der Reichsverfassung, das enger mit der Realität verbunden sein sollte. Die heftige Reaktion auf Pufendorfs Buch von 1667 hat mehrere Gründe. Der Patriotismus protestierte gegen die Idee, an ein Monstrum gebunden zu sein. Die beißende Ironie des Lutheraners Pufendorf verletzte die Katholiken. Die Aristoteliker fühlten sich in arroganter Weise als Dummköpfe behandelt. Und alle zusammen fürchteten sie, die neue Lehre von einem „Staatenbund" (systema, foedus) würde destabilisierend wirken, weil der Ort der Souveränität nicht mehr bestimmbar war. Man wollte also an der Souveränität festhalten, 22 Palladini, 1700, 1978.
Discussioni seicentesche su Samuel Pufendorf. Scritti latini: 1663-
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aber an der Reichsverfassung und ihrer Interpretation nichts ändern. Doch allmählich erschöpfte sich der Streit um die „forma imperii" und wurde zum Gelehrtenstreit „in pulvere scholastico". Man gewöhnte sich auch theoretisch an die Irregularität. Was Pufendorf diagnostizierte, war ein corpus aliquod seu systema sociorum inaequali foedere nexorum oder ein systema p/urium civitatum, in qua unus velut Princeps aut Dux foederis emineat. 2j Auch dies war nur eine vage Formel, etwas realistischer als die Lehre vom status-mixtus, weil der Friede von 1648 den einzelnen Territorien nun auch die volle Landeshoheit gegeben hatte. Der französische Text des Friedens spricht sogar von „souveraineté". 24 Zwanzig Jahre nach dem Friedensschluss war es für einen politischen Realisten wie Pufendorf also klar, dass das Reich nur noch ein Körper voller politischer Krankheiten war. Auf seine Klassifizierung nach dem aristotelischen Schema konnte man inzwischen verzichten. In der Tat verschwindet die Debatte um die forma imperii in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sukzessive. Es scheint so, als ob mit dem Frieden von 1648 und mit dem Jüngsten Reichsabschied von 1654 die Energien zur Erklärung der Staatsform nachgelassen hätten. Innenpolitisch hatten sich die Gewichte nach Wien verschoben. Das protestantische Deutschland, das nur durch die Intervention von Schweden überleben konnte, war in jeder Hinsicht erschöpft und musste seine Kräfte auf den territorialen Wiederaufbau konzentrieren. Außenpolitisch war nun Frankreich die dominante Macht, Spanien hatte 1621-1628 die Niederlande verloren; seit 1648 waren diese auch formell unabhängig, ebenso wie die Schweizer Kantone. Mit dem Pyrenäenfrieden von 1659 war Spaniens Goldenes Zeitalter zu Ende. Im Norden dominierte Schweden, wurde aber im ersten (1655-1660) und zweiten Nordischen Krieg (1700-1720) wieder auf den Rang einer Mittelmacht gedrückt. Der Spanische Erbfolgekrieg (1701-1714), der mit dem Frieden von Utrecht endete (1713), zeigte nochmals, dass das Reich als politische Größe nicht mehr zählte. Die Auseinandersetzungen wurden zwischen dem Frankreich von Ludwig XIV., dem Russland Peters des Großen, dem Schweden Karls XII., den Niederlanden und dem Haus Habsburg geführt. Bald sollte die neue aufsteigende Macht Preußen dazukommen. Dass das Haus Habsburg neben seiner eigenen Titulatur auch den Kaisertitel trug, spielte politisch nur noch eine geringe Rolle. Damit war die Debatte um die forma imperii beendet. In den Lehrbüchern wurde die Frage noch behandelt, aber doch mehr aus Gewohnheit. Der größte Kenner der Reichsverfassung im 18. Jahrhundert, der Jurist Johann Jakob Mo23
Pufendorf-Monzambanö, VI, § 9. Grundlegend hierzu Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, 1984. 24
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ser, schrieb 1766: „Teutschland wird auf teutsch regiert' 4.25 Das war nicht nur eine geistreiche oder eine resignierte Formel, sondern im Grunde die Kapitulation der Staatstheorie vor einer Wirklichkeit, die nicht zu ändern war.
III. Nach dem Ende des Ancien Régime im Jahr 1806 gab es keine Diskussion um die forma imperii mehr. Das Reich war verschwunden. Man diskutierte nach dem Wiener Kongress die Rechtsform des Deutschen Bundes, aber da war nicht viel zu diskutieren, weil er sich selbst ausdrücklich als „völkerrechtlichen Verein" bezeichnete.26 Souverän waren nun die Einzelstaaten.27 Eine neue Debatte begann erst wieder 1871, als die neue Verfassung des Deutschen Reichs einen Bundesstaat errichtete. Seither ist viel darüber geschrieben worden, um zu klären, wer in einem Bundesstaat Träger der Souveränität sein könne.28 Aber das ist eine andere Debatte. Die alten Argumente der „respublica mixta" von Aristoteles, Cicero, Tacitus, Polybios, Thomas von Aquin, Machiavelli, Bodin und vielen anderen tauchen im 19. und 20. Jahrhundert nicht mehr auf. Der wesentliche Grund dafür ist die einfache Tatsache, dass es nichts mehr zu klassifizieren gibt. Die Frage der „gemischten Verfassung" ist sinnlos geworden, weil sie ein Schema von „Ungemischtheit" voraussetzt. Ein solches Schema gibt es in der Moderne jedoch nicht mehr. Von den Staatsformen des Aristoteles sind nur noch zwei übrig geblieben, die Demokratie und die Diktatur. Sogar die Diktatur nennt sich heute Demokratie, aber sie hat gute Gründe, eine theoretische Debatte nicht zuzulassen, sondern sie zu erdrücken. So bleibt nur die Demokratie, wenn auch in Alteuropa noch mit einigen monarchischen Spitzen. Aber die heute beherrschende Debatte um Funktionsteilung und verfassungsgerichtliche Kontrolle läuft wohl am Ende doch wieder auf eine Art „Mischung" der Funktionen und Machtzentren hinaus, und zwar nicht nur im Nationalstaat, sondern auch im „Mehrebenenmodell" Europa.
25
Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, torn. I, 1766, p. 550. Wiener Schlussakte vom 15.5.1820, Art. 1: Der deutsche Bund ist ein völkerrechtlicher Verein der deutschen souveränen Fürsten und freien Städte, zur Bewahrung der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit ihrer im Bund begriffenen Staaten und zur Erhaltung der innern und äußern Sicherheit Deutschlands. 26
27
Stolleis, Souveränität um 1814, in: Müßig (Hrsg.), Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt, 2006, S. 101-115. 28
Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Band 2, 1992, S. 365 ff.
Weistümer als Quellen zur Verfassungsgeschichte Von Dieter Werkmüller Jacob Grimm, der „Jurist" unter den Brüdern Grimm, schrieb 1828 in der Vorrede zu seiner Sammlung „Deutsche Rechtsalterthümer" mit Bezug auf die Weistümer: „Diese rechtsweisungen durch den mund des landvolks machen eine höchst eigenthümliche erscheinung in unsrer alten verfaßung, wie sie sich bei keinem anderen volk wiederholt, und sind ein herrliches Zeugnis der freien und edlen art unseres eingebornen Rechts".1 Anderen Forschern der deutschen Geschichte galten die Weistümer freilich weniger. Für diejenigen, die sich gegen Ende des 19. Jh. und danach vornehmlich mit der Reichsverfassung, mit Kaiser und Königen beschäftigten, waren die Weistümer nur herrschaftliche Erzeugnisse, die nicht mehr enthielten als eine Regelung der Verhältnisse der Huber und der Meier. 2 Die Gegensätzlichkeit des Urteils gibt Anlass zu der Frage nach dem heutigen Standpunkt. Sie wirft zugleich die Frage auf, ob und in welchem Umfang die Weistümer als Quellen zur Verfassungsgeschichte herangezogen werden können.
I. Zum Begriff der Weistümer Die Bezeichnung „Weistümer" ist erst durch die Arbeiten von Jacob Grimm üblich geworden. Das Wort selbst ist jedoch keine Kunstschöpfiing der Wissenschaft, sondern entstammt den Quellen, vor allem des Mittelrheingebietes und des Mosellandes. Andere Landschaften haben andere Bezeichnungen für diese Quellengruppe, wie „Ehaft" und „Ehafttaiding" in Bayern,3 „Jahrding" und „Landrodel" in der Schweiz, „Dingrodel" im Eisass, „Rüge" in Sachsen und andere mehr. 4 Das Wort Weistümer bezeichnet heute eine Gruppe von Rechtsquellen. Diese können einen durchaus unterschiedlichen Inhalt haben. Ihnen ist aber die äu1
Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer I, 1828, S. IX. Wiessner, Sachinhalt und wirtschaftliche Bedeutung der Weistümer im deutschen Kulturgebiet, 1934, S. 305. 3 Werkmüller, Über Aufkommen und Verbreitung der Weistümer nach der Sammlung von Jacob Grimm, 1972, S. 66 ff. 4 Werkmüller, Artikel Weistümer, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, V, Spalte 1239 ff. 2
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ßere Form ihrer Entstehung gemeinsam: Sie sind durch eine „Weisung" zustande gekommen. Dabei wird Weisung verstanden als die Auskunft rechtskundiger Personen über einen bestehenden Rechtszustand oder über geltendes Gewohnheitsrecht in einer hierzu einberufenen und auf Beratung eingestellten, meist auch feierlichen Versammlung. 5 Die Weisung dient also zunächst nicht der Festlegung neuen Rechts, sondern der Feststellung des geltenden (Gewohnheits) Rechts. In der neueren Forschung hat sich die Unterscheidung von Weistümern im weiteren Sinne und Weistümern im engeren Sinne durchgesetzt, die auf den unterschiedlichen Sachinhalt dieser Rechtsquellen abstellt. Die Weistümer im weiteren Sinn sind nur durch die Form ihres Zustandekommens „durch Weisung" gekennzeichnet. Sie treten uns in den Quellen verschiedener und zeitlich weit auseinander liegender Epochen entgegen. Ihr Inhalt reicht von den Bußsätzen der Lex Salica und den Weisungen anderer Stammesrechte des 6. bis 9. Jahrhunderts über die Reichsweistümer des Reichshofgerichts und über die Kurftirstenweistümer (z.B. Weistum von Rhens aus dem Jahre 1338) - und damit von den Grundlagen der Verfassung des Alten Reichs6 - bis hin zu solchen Weistümern, die einer Bestandsaufnahme des in einem bestimmten Gebiet geltenden Rechts zur Vorbereitung herrschaftlicher Ordnungen und Gesetze dienten. Weistümer im engeren Sinne sind dagegen in erster Linie ländliche Rechtsquellen, die ihrem Inhalt nach vor allem das Verhältnis des Grundherrn zu seinen Bauern betreffen. In „mehrherrigen" Dörfern ist meist auch das Verhältnis der Grund- oder Gerichtsherren zueinander und zu den Bauern geregelt. Dagegen finden sich Regelungen der Verhältnisse der Bauern untereinander seltener in den Weistümern. Diese waren in den meisten Gegenden eher Gegenstand herrschaftlicher Dorfordnungen. Dorfordnungen und Weistümer sind wegen ihrer unterschiedlichen Entstehung scharf zu trennen. Die Frage des Weistums-Begriffs hat zeitweise zu heftigen Kontroversen gefuhrt. Zutreffend hat Michael Prosser 1991 festgestellt, dass bis heute keine einschlägige Studie ohne ein Kapitel zur Begriffsproblematik auskomme.7 Nach Karl-Heinz Spieß, dem Mitbearbeiter des Ländlichen Rechtsquellen aus dem kurtrierischen Amt Cochem,8 hat die neuere Forschung zu der folgenden (etwas umständlichen) Definition gefunden: „Weisung ist die gemeinschaftsbezogene
5 Spieß , Die Weistümer und Gemeindeordnungen des Amtes Cochem im Spiegel der Forschung, in: Krämer/Spieß (Hrsg.), Ländliche Rechtsquellen aus dem kurtrierischen Amt Cochem, 1986, S. 2. 6 Dazu Diestelkamp , Reichs-Weistümer als normative Quellen? Vorträge und Forschungen 23, 1977, S. 281 ff. 7 Prosser , Spätmittelalterliche ländliche Rechtsaufzeichnungen am Oberrhein zwischen Gedächtniskultur und Schriftlichkeit. 1991. S. 187.
* Spieß ( Fn. 5). S. 2.
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Feststellung von wechselweise wirkenden Rechten und Pflichten der Herrschaft und der Genossenschaft in verfassungsmäßiger, das heißt in einer durch die Förmlichkeit des Fragens, des Weisens und des Versammelns bestimmten Weise, gültig fur einen bestimmten räumlich abgegrenzten Bezirk, die auf Veranlassung der Herrschaft zustande gekommen ist". 9 Hinzuweisen ist ferner noch auf die Unterscheidung von Gerichtsweistümern, Hofvveistümern und Sendweistümern. Die Gerichtsweistümer betreffen vor allem Materien, die wir heute dem öffentlichen Recht zuordnen, wie Gebot und Verbot, Vogtei, Hochgerichtsbarkeit und Landesherrschaft. Die Hofweistümer haben vor allem die Pflichten und Rechte der grundherrschaftlich gebundenen bäuerlichen Genossenschaft zum Gegenstand. Die Sendweistümer sind Beschlüsse der kirchlichen Sendgerichte, die in der Zeit vor der Reformation über den konkret entschiedenen Fall hinaus allgemeine Beachtung ihrer Artikel forderten. Begrifflich von den Weistümern abzusetzen sind die von der Obrigkeit einseitig gesetzten und in der Regel von geschulten Verwaltungsbeamten formulierten Polizei-, Dorf- oder Gemeindeordnungen. 10
II. Zur Geschichte der Weistumsforschung Die Geschichte der Weistumsforschung zeigt exemplarisch die Zeitgebundenheit von Fragestellungen und Leitbildern. Für Jacob Grimm waren die Weistümer noch „ein herrliches zeugnis der freien und edlen art unseres eingebornen rechts". Die in diesem Satz liegende Hinwendung zu den Rechtsquellen einer vergangenen Epoche ist getragen von dem Gegensatz: eingeborenes Recht fremdes Recht, oder anders ausgedrückt: germanisch-deutsches Recht und römisches Recht. Entsprechend Grimms Überzeugung vom gemeinsamen Ursprung von Sprache, Glauben, Sitte und Recht war für ihn das „eingeborne recht" das gefährdete und zugleich wertvollere, das es zu heben galt. Nach einer bewegten Klage über die Volksfremdheit des zeitgenössischen Rechts, das aus römischem, kanonischem und „ärmlichen brocken" deutschen Rechts zusammengemischt sei, fuhr er in der Selbstanzeige des vierten Bandes seiner „Weisthümer" (1863) fort: „die weisthümer aber, sie sind noch ungehemmte ausflüsse des frischen und freien rechts, das unter dem volke selbst als brauch entsprungen, in seinen gerichten zum recht geweiht worden war, nicht wich noch wankte und keiner gesetzgebung von Seiten des herrschers bedurfte". 11
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Spieß (Fn. 5), S. 3*. Bader, Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes I, 1957. 11 Grimm, Göttingische gelehrte Anzeigen 1863, Stück 27. 10
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Für Jacob Grimm waren die Weistümer der Ausdruck eines unmittelbar aus dem Volke kommenden und vom Volke selbst gesetzten Rechts, oder anders ausgedrückt: ein Ausdruck des Volksgeistes. Andere Forscher haben diese Linie verstärkend fortgeführt. Sie glaubten dann, in den Weistümern Belege für eine germanische Urdemokratie entdecken zu können, vor allem im Bereich von Mark und Allmende. Sie zogen kühne Verbindungslinien über die Jahrhunderte hinweg von der „Germania" des Tacitus bis zu den ländlichen Rechtsquellen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, freilich auch angeregt von Jacob Grimm, der mit Bezug auf die Weistümer schrieb: „Kein zweifei, dass sie schon vor dem mittelalter im schwang giengen".12 Über Georg Ludwig von Maurers Untersuchungen zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtverfassung (1854) haben die Vorstellungen einer demokratischen Urzeit dann Eingang in die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels gefunden. Durch spätere Forscher wurde das Dogma vom hohen Alter der Weistümer dann jedoch erschüttert. Diese wiesen vor dem Hintergrund der Auffassung eines alles beherrschenden Gegensatzes von Herrschaft und Genossenschaft nachdrücklich auf den herrschaftlichen Anteil bei der Weistumsbildung hin. Diese im Grundsatz heute allgemein gebilligte Auffassung führte dann aber auch wieder zu Übertreibungen, wie etwa zu der Meinung, die Weistümer seien rein herrschaftliche Erzeugnisse, die ausschließlich zur Disziplinierung der Untertanen produziert worden seien. Inzwischen ist die Forschung aber wieder etwas von dem Gegensatz Herrscher und Beherrschte abgerückt und hat einer stärker auf den Inhalt dieser Quellen gerichteten Betrachtungsweise Platz gemacht (vgl. unten IV). 1 3
III. Zum Stand der Editionen Die frühesten Arbeiten über die Weistümer stammen vom Ende des 18. Jahrhunderts, wie z.B. die Abhandlung des Marburger Juristen Johann Andreas Hofmann „De scabinorum demonstrationibus aliorumque placitis sermone patrio Von Schoeffen und anderen Weistümern" von 1792. Diese behandeln die Weistümer als Quellen des im lokalen Bereich noch geltenden Rechts. Überhaupt haben sich im ländlichen Bereich mit den Haingerichten und anderen Erscheinungen die alten Strukturen noch erstaunlich lang gegen das Vordringen des römischen Rechts gehalten. Sieht man von diesen Arbeiten ab, so steht am Anfang der eigentlichen Weistumsforschung die Sammlertätigkeit von Jacob Grimm. Von ihm stammt die erste umfassende und ausschließlich diesem Quel-
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Grimm (Fn. 1), S. X. Werkmüller , Artikel Weistümer, in: Hoops Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Band 33, 2. Aufl., 2006, S. 429. 13
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lenkreis gewidmete Sammlung, die er mit zahlreichen Helfern angelegt und 1840-1869 veröffentlicht hat. 14 Auch wenn er viele Sätze der Weistümer als Belege für seine in erster Auflage 1828 erschienenen „Deutschen Rechtsalterthümer" herangezogen hat, so wird man von einer systematischen Auswertung durch ihn kaum sprechen können Das Sammeln der Weistümer aus verschiedenen Ländern des deutschen Sprachgebiets war für Grimm eine „vaterländische Arbeit". 15 In der Zeit des Vormärz wollte er durch die Erhellung der gemeinsamen Wurzeln die Einheit des Volkes betonen und zugleich befördern. Die Weistümersammlung Jacob Grimms war von vornherein nicht darauf angelegt, sämtliche in Deutschland erhaltenen Stücke zu erfassen und zu publizieren. Grimms Hauptinteresse galt dem Inhalt der Rechtssätze. Aus diesem Grund hat er Urkunden häufig nur im Auszug wiedergegeben. Auch ist die Anzahl der aus einem bestimmten Gebiet beigebrachten Stücke nicht repräsentativ. Sie richtete sich nicht nur nach dem archivalischen Befund, sondern auch nach dem persönlichen Einsatz, nach der Eignung der Helfer und danach, wie diese den Weistumsbegriff fassten. Deshalb genügt die Sammlung Grimm heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen nur noch bedingt. Weitere Weistümersammlungen sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnen worden. Von den größeren diese Art ist bisher nur die Sammlung der Österreichischen Weistümer zu einem gewissen Abschluss gekommen und das auch erst 120 Jahre nach den ersten Anstößen. Noch immer erscheinen Nachtragsbände mit neu gefundenem Material. 16 Die groß angelegte Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, die schon vor einiger Zeit ihr 100-jähriges Gründungsjubiläum feiern konnte,17 sammelt nicht nur Weistümer, sondern möchte alle Rechtsquellen - also auch die städtischen - erfassen und edieren. Diese umfassende Zielsetzung steht einem baldigen Abschluss freilich im Weg. Für Deutschland hat sich der 1976 von dem Schweizer Rechtshistoriker Peter Blickle entworfene Plan einer Gesamtedition „Deutsche Ländliche Rechtsquellen" schon wegen der Kosten, aber auch wegen der Schwierigkeit genügend qualifizierte Mitarbeiter für ein solchen Projekt kurzfristig zu gewinnen, nicht verwirklichen lassen.18 So bleibt eine wissenschaftliche Gesamtausgabe der deutschen Weistümer ein in absehbarer Zeit kaum erfüllbares Desiderat.
14 Weisthümer. Gesammelt von Jacob Grimm, 1840-1878, 6 Bände und Register, Nachdruck, herausgegeben von Werkmüller, 2000. 15
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Grimm (Fn. 14), I, S. I V .
Österreichische Weistümer, 1870-1994. Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, 1903-2001. 18 Blickle, Deutsche ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistums-Forschung, 1977. 17
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Dagegen haben regionale Sammlungen ländlicher Rechtsquellen in den letzten Jahren gute Fortschritte gemacht. Das gilt für Bayerisch-Schwaben, 19 das Saarland, 20 den Moselraum 21 und das Mittelrheingebiet. Auch die Reihe der „Kurmainzischen Weistümer und Dorfordnungen ist gut vorangekommen. Vor einiger Zeit konnte der dritte Band vorgestellt werden. 22 Der Titel der Reihe zeigt an, dass in der Weistumsforschung heute Einigkeit darüber besteht, dass die zunehmende Ausdifferenzierung des Weistumsbegriffs nicht dazu führen darf, alle nicht diesem Begriff unterfallenden Quellen aus den Weistümersammlungen auszuschließen, sondern dass es nur darum gehen kann, die zum Verständnis und zur Ergänzung notwendigen Quellen mit aufzunehmen. Das fuhrt dann allerdings zu recht umfangreichen Quellenpublikationen, aufwändig in personeller wie in finanzieller Hinsicht. Deshalb ist in neuerer Zeit öfters die Frage aufgeworfen worden, ob im Zeitalter anderer elektronischer Darstellungsmöglichkeiten eine herkömmliche Volltext-Edition spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Quellen noch angebracht ist. Die Frage ist jedoch im Interesse eines weiteren Benutzerkreises, der über die Allgemeinhistoriker, Verfassungsund Rechtshistoriker hinaus auch Wirtschafts- und Sozialhistoriker, Sprachforscher, Volkskundler und Heimatforscher mit einbezieht, eindeutig zu bejahen. Versucht man einen Überblick über die räumliche Verteilung der Weistümer zu gewinnen, so zeigt sich zunächst, dass die Landkarte der deutschen Weistümer noch erhebliche weiße Flächen aufweist. Wegen dieser weißen Flecken ist eine genaue Aussage über die Weistumsdichte in den einzelnen deutschen Herrschaftsgebieten schwierig. Dass die Sammlung von Jacob Grimm nur einen Bruchteil des erhaltenen Materials enthält, ist bekannt. Dennoch ist sie die einzige dem gesamten deutschen Sprachraum gewidmete Sammlung trotz der erwähnten Ungleichheiten doch einigermaßen repräsentativ. Nach ihr ist die Weistumsdichte in den geistlichen Kurfürstentümern Mainz, Trier und Köln am größten. 23 Ob unter dem Krummstab gut leben war, ist hier nicht zu erörtern. Jedenfalls war die geistliche Landesherrschaft der Weistumsbildung günstig.
19 Fried (Hrsg.), Die ländlichen Rechtsquellen aus den pfalz-neuburgischen Ämtern Höchstädt, Neuburg, Monheim und Reichertshofen vom Jahre 1585, 1983; von Trauchburg , Ehehaften und Dorfordnungen, Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwabens Band 23, 1995. 20
Eder , Die saarländischen Weistümer - Dokumente der Territorialpolitik, 1978. Hinsberger , Die Weistümer des Klosters St. Matthias in Trier, 1989. 22 Schmidt (Hrsg.), Ländliche Rechtsquellen aus den kurmainzischen Ämtern Olm und Algesheim, 1996; Lohmann (Hrsg.), Die Weistümer und Dorfordnungen der Herrschaft Hirschhorn, 2001; Weistümer und Dorfordnungen aus den kurmainzer Ämtern in der Region Starkenburg, 2004, unter Mitwirkung von Werkmüller bearbeitet von Lohmann. 21
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(Fn. 3), S. 166 f f
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Die zeitliche Verteilung der Texte reicht vom 12. Jahrhundert bis 1800 mit einer deutlichen Massierung auf den Zeitraum von 1400 bis 1550.24
IV. Zum Sachinhalt der Weistümer Die neuere Forschung sieht in den Weistümern nicht mehr Zeugnisse eines still wirkenden Volksgeistes. Das Dogma vom hohen Alter der Weistümer ist überwunden. Die Forschung betrachtet die Weistümer auch nicht mehr als geschlossene Quellengattung, sondern versucht, sie unter Heranziehung anderen Urkundenmaterials in ihr historisches und geographisches Umfeld hineinzustellen, um durch Vergleich und Betrachtung der Unterschiede neue Erkenntnisse zu gewinnen. Versucht man eine vergleichende Betrachtung der Bedeutung der Weistümer als Quellen fur die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, so steht heute wohl ihre Rolle als Quellen für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sicher im Vordergrund. In einer langen Reihe von Untersuchungen für einzelne Regionen werden die Weistümer als Quellen bereits herangezogen. Von einer annähernd erschöpfenden Auswertung des gesamten Weistümerstoffes kann man im Hinblick auf den Umfang und auf die Differenziertheit des Materials aber nicht sprechen. Eine einseitige Betonung des wirtschaftlichen Sachinhalts der Weistümer würde aber an wesentlichen Gesichtspunkten vorbeigehen. Seinen Schwerpunkt hat der Quellenwert der Weistümer vor allem für das Verhältnis Grundherr Bauer. Dies ist vergleichsweise früh erkannt worden. Schon bald nach Erscheinen der ersten Bände der Grimmschen Sammlung erschienen grundlegende Arbeiten zur deutschen Rechtsgeschichte, welche den Weistumsstoff zum ersten Mal heranzogen und auswerteten. Seitdem sind die Weistümer in einer großen Zahl von Werken zur Rechtsgeschichte, zur Verfassungsgeschichte und zur kirchlichen Rechtsgeschichte ausschließlich oder neben anderen Quellen verwertet worden. 25 Wenden wir uns der Einschätzung des Quellenwertes der Weistümer für die Verfassungsgeschichte zu. Hier ist mit dem Lauf der Zeit ein deutlicher Wandel festzustellen. Während manche der älteren Arbeiten die Weistümer uneingeschränkt heranzogen, sieht die neuere Forschung in ihnen nur bedingt verwertbare Quellen. Diese Zurückhaltung wuchs in dem Maße, indem die Weistumsforschung und damit die Weistumskritik Fortschritte machten. Während in der Frühzeit der Weistumsforschung die Mehrzahl der Forscher vom hohen Alter
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(Fn. 3), S. 181 ff.
(Fn. 4), Spalte 1239 ff.
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des Weistumsinhalts überzeugt war und in den Sätzen Äußerungen eines autonomen Bauernrechts erblickte, bestritt die so genannte „Wiener Schule" um Alfons Dopsch nachdrücklich das hohe Alter der in den Weistümern aufgezeichneten Rechtssätze und damit den hohen Überlieferungswert überhaupt. Die Wiener Schule betonte demgegenüber den herrschaftlichen Charakter der erhaltenen Weistumsaufzeichnungen, geschaffen zur Begründung und Sicherung der Herrenrechte und zur Abwehr und Minderung der Rechte der bäuerlichen Untertanen. 26 Helmut Stahleder hat einmal bei einer Auszählung von 36 fränkischen Weistümern festgestellt, dass 501 Artikel Herrenrechte zum Inhalt haben und nur 40 Artikel bäuerliche Rechte.27 Auch in den zuletzt erschienenen Quellenbänden ist das Verhältnis ähnlich. Dennoch sieht wie erwähnt die gegenwärtige Forschung in den Weistümern nicht mehr einseitig herrschaftliche Erzeugnisse, die ausschließlich zur Disziplinierung der Untertannen produziert worden sind, sondern Festlegungen, die im Interesse beider Seiten getroffen wurden. Die schriftliche Fixierung von Abgaben und Leistungen schafft Klarheit und Beständigkeit - für beide Seiten. Sie verhindert heimliche Erhöhung oder Minderung gleichermaßen. Der Spruch der örtlichen Schöffen führt zu einer Bindung der durch sie vertretenen Gemeinde. Diese Bindung hat eine andere Qualität als ein obrigkeitlicher Befehl in einer einseitig erlassenen Dorfordnung. Neuere Arbeiten haben die staatliche Funktion der Gemeinde und damit die politische Funktion der Bauern - auch für die Zeit nach der katastrophalen Niederlage im Bauernkrieg von 1525 - wieder in ein helleres Licht gerückt. So sind heute bei der Beschreibung spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Staatlichkeit die Weistümer als „Verfassungsgrundlage dieser Staatlichkeitsform auf unterster Ebene" gebührend heranzuziehen, so Peter Blickle 1989, der auch davon spricht, dass die Betrachtung der Weistümer eine Darstellung der Geschichte „von unten"erlaube. 28 Weiterhin ist zu bedenken, dass für den Historiker der Entwicklungsgedanke im Vordergrund steht. Demgegenüber enthalten die Weistümer mit ihrer Aussage über den Rechtszustand in einer bestimmten historischen Situation ein stark statisches Moment. Sofern nicht eine Weistümerkette für den gleichen Ort aus verschiedenen Jahren bis Jahrhunderten überliefert ist, die eine innere Entwick-
26 Patzelt , Entstehung und Charakter der Weistümer in Österreich, 1924; Wiessner , Sachinhalt und wirtschaftliche Bedeutung der Weistümer im deutschen Kulturgebiet, 1934. 27 Stahleder , Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 32 (1969), S. 525-605, 850-885. 28 Blickle , Studien zur geschichtlichen Bedeutung des Bauernstandes, 1989.
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lung erkennen lässt,29 kann die Nachzeichnung von Entwicklungslinien nur unter Heranziehung aller verfügbaren Quellen erfolgen. In der Regel lässt sich aus einem Weistum nicht erschließen, wie weit ein Rechtssatz in die Zeit vor seiner Aufzeichnung zurückreicht. Man wird auch nicht generell voraussetzen können, dass ein Weistumssatz vor seiner schriftlichen Fixierung über längere Zeit bereits gleichlautend verkündet worden ist. Dies ist für jeden Fall einzeln zu untersuchen. Damit rückt der Anlass der Weisung stärker ins Blickfeld. Es ergibt sich, dass die Weistumsaufzeichnungen vielfach Instrumente für eine bestimmte politische Situation sind. In Einzelfällen werden sie sogar zu Mitteln der Territorialpolitik (Eder). 30 Auch hat die fast abgeschlossene systematische Verzeichnung der an verschiedenen Orten lagernden Akten des Reichskammergerichts ergeben, dass eine größere Zahl von Weistümern eigens zur Feststellung des an einem bestimmten Ort geltenden Rechts gewiesen worden ist („Kundschaft"). Auch deshalb verbietet sich die generelle Annahme einer längeren Geltung des Weistumssatzes vor seiner erstmaligen Fixierung. Wie auch sonst bei der Arbeit mit älteren Urkunden ist immer mit Fälschungen und Umfälschungen, das heißt Übernahmen von an sich echten Weisungen fur einen anderen Ort, und mit bewussten Zurückdatierungen zu rechnen. Totalfalschungen sind heute in der Regel erkannt und in die kritischen Quelleneditionen gar nicht erst aufgenommen. 31 Aber auch die gebrauchten Begriffe sind nicht immer zum Nennwert zu nehmen. Vielfach findet sich in den Weistümern eine Berufung auf „gutes altes Recht" oder auf „alt recht und herkommen". Diese Wendungen werden oft formelhaft gebraucht und zeigen vielfach bei genauerer Betrachtung der Situation, dass den weisenden Schöffen eine bessere Begründung nicht zur Verfügung stand. Trotz eines konservativen Grundzugs des älteren deutschen Rechts kann man von einer generellen Gleichsetzung von altem Recht und gutem Recht heute nicht mehr ausgehen.32 Die quellenkritische Arbeit ist für die Fülle des Weistümermaterials noch nicht geleistet. Diese Gründe machen die Zurückhaltung der neueren Forschung gegenüber dem Weistümerstoff verständlich. So sind die Weistümer bis heute eine nicht voll ausgeschöpfte Quelle der Verfassungs- und der Rechtsgeschichte geblieben.33
29 Wie z.B. für die Herrschaft Hirschhorn am Neckar, vgl. Lohmann (Hrsg.), Die Weistümer und Dorfordnungen der Herrschaft Hirschhorn, 2001. 30 Eder (Fn. 20). 31 Baiti , Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 59 (1951), S. 406; Werkmüller (Fn. 3), S. 161-164. 32 Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte I (bis 1250), 1999, Kapitel 13 III. 33 Ebel, Jacob Grimm und die deutsche Rechtswissenschaft, 1963, S. 25.
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Versteht man die Überschrift dieses Beitrags als Frage, so lässt sich als Antwort kurz Folgendes zusammenfassen: Die Weistümer weisen zunächst nicht über ihre eigentliche Textaussage hinaus. Eine längere Geltung der in dem aufgezeichneten Text enthaltenen Rechtssätze kann fur die Zeit vor der Aufzeichnung nicht generell vorausgesetzt werden und muss im Einzelfall durch andere Quellen belegt werden. Ebenso ist die Fortgeltung eines aufgezeichneten Rechtssatzes über längere Zeit in der Regel auch nur durch andere außerhalb des Weistums liegende Quellen zu belegen. In vielen Fällen lässt sich jedoch durch Vermerke auf dem Weistum selbst eine regelmäßige - meist jährliche Verlesung belegen, z.B. durch eine längere Reihe von Jahreszahlen auf dem Deckblatt. Auch Anmerkungen zu einzelnen Sätzen („wird nicht gehalten") können dafür sprechen, dass die übrigen Rechtssätze weiterhin in Geltung standen. Eine andere Frage ist die der Glaubwürdigkeit der Weistums-Aufzeichnungen. Wie nahe an der Realität ist der Inhalt der Sätze? Hier führt die genauere Betrachtung der Quellen zu dem Ergebnis, dass im Gegensatz zu normativen Quellen wie Gesetzen oder Dorfordnungen, deren Befolgung und Durchsetzung stets zweifelhaft war, bei den Weistümern von einem höheren Realitätsgehalt auszugehen ist. Das Gremium der Weisenden, das den Rechtssatz ausgibt, ist in der Regel das örtliche Schöffenkollegium, also das dörfliche Gericht, bestehend aus den Honoratioren des Dorfes. Dieses Schöffenkollegium hätte nach dem Verständnis der Zeit seine Würde und sein gesellschaftliches Ansehen verloren, wenn es die von ihm ausgesprochenen Sätze nicht als für sie selbst bindend angesehen hätte.34 So ergibt sich, dass die Weistümer durchaus als Quellen zur Verfassungsgeschichte herangezogen werden können, wenn man ihre Eigenheiten im Blick behält. Während die Geltungsdauer der Rechtssätze jeweils einzeln festzustellen ist, ist der Realitätsgehalt der Sätze ist vergleichsweise hoch. Durch Auswertung des Sachinhalts der Weistümer lässt sich ein differenziertes Bild von den tatsächlichen Belastungen und von den politischen Mitwirkungsrechten der bäuerlichen Gemeinde in der frühen Neuzeit gewinnen.
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Willoweit , Deutsche Verfassungsgeschichte, 5. Aufl., 2005, Kapitel 14 und 24.
Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit Von Hartmut Maurer I. Einleitung Die folgenden Ausführungen betreffen die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Erlass des Grundgesetzes. Die Verfassungsgerichtsbarkeit, die der Entscheidung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten und der Sicherung und dem Vorrang der Verfassung dienen soll, ist ein wesentliches Element des modernen Verfassungsstaates.1 Es war jedoch, wie die Geschichte zeigt, ein langer, wechselhafter und komplizierter Weg, bis die Verfassungsgerichtsbarkeit den Stand erreicht hat, den sie heute mit dem BVerfG einnimmt. Dieser Weg kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. 2 Ziel dieses Beitrags ist aber, die verschiedenen Entwicklungsstufen zu beschreiben und dabei vor allem das historisch bedingte Ineinandergreifen der einzelnen Entwicklungsphasen zu zeigen. Die Zuständigkeiten der Verfassungsgerichte orientieren sich an den leitenden Verfassungsprinzipien und ihren Konkretisierungen. Die Verfassungsorganstreitigkeiten wurzeln im Gewaltenteilungsprinzip, das zur Verteilung der staatlichen Aufgaben auf verschiedene, sich ergänzende Verfassungsorgane führt. Die föderativen Streitigkeiten gründen im Bundesstaatsprinzip, das Bund und Länder als jeweils eigenständige Organisationen miteinander verbindet. Die Verfassungsbeschwerde dient dem Schutz und der Entfaltung der Grundrechte, die das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Bürger und weitgehend auch den gesellschaftlichen Bereich determinieren. Jedem Verfassungsgrundsatz (Gewaltenteilung, Bundesstaatsprinzip, Grundrechtsbindung) entspricht eine typische verfassungsgerichtliche Zuständigkeit (Organstreitverfahren, föderatives Streitverfahren, Verfassungsbeschwerde). Quer dazu liegt die Normenkontrolle; sie dient dem Rechtsstaatsprinzip und soll die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsnormen und damit der Rechtsordnung gewährleisten. Insofern kann die Normenkontrolle gegebenenfalls auch die Ziele 1 Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit ist im Rahmen der Verfassungsgeschichte zu sehen, vgl. dazu die gelungene Darstellung von Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 6. Aufl., 2007. 2
Vgl. dazu Scheuner, Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Starck (Hrsg.), FS BVerfG, 1976, Band 1, S. 1 ff.; Hoke, in: Starck/Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, 1983, Band 1, S. 25, 42 ff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bände I—VII, 1967 ff. (jeweils zitiert nach Band und Seitenzahl); Eisenhardt, Zu den historischen Wurzeln der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, FS Distelkamp, 1994, S. 17 ff.
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der anderen verfassungsgerichtlichen Verfahren sichern. So kann z.B. - nach derzeitigem Recht - ein Bundesgesetz, das verfassungswidrig in die Kompetenz der Länder eingreift, sowohl als Gesetzgebungsakt im Wege des Bund-LänderStreitverfahrens gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG als auch als Rechtsnorm im Wege der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG angegriffen werden.
II. Die Landesverfassungen des 19. Jahrhunderts Die rechtliche Bindung der Staatsgewalt und ihre gerichtliche Sicherung reichen bis in das Mittelalter zurück. Es sei nur auf die Judikatur der Reichsgerichte (Reichskammergericht und Reichshofrat) und der entsprechenden Landesgerichte hingewiesen. Die Geschichte der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland beginnt jedoch erst mit den (konstitutionellen) Landesverfassungen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts erlassen wurden. Trotz entstehungsgeschichtlicher und inhaltlicher Unterschiede im Einzelnen stimmten diese Landesverfassungen in der Grundstruktur überein. Sie nahmen den damals bestehenden Dualismus zwischen dem Landesfürsten, der traditionell die gesamte Staatsgewalt flir sich beanspruchte, und den Landständen, die als Repräsentanten des aufstrebenden Bürgertums Anteil an der Staatsgewalt forderten, auf und versuchten zwischen beiden einen Ausgleich zu schaffen. Sie legten die gegenseitigen Rechte und Pflichten fest und erhielten dadurch gleichsam einen vertraglichen Charakter. Damit stellte sich auch die Frage, wer entscheiden soll, wenn über die jeweiligen Rechte und Pflichten Streit zwischen dem Landesherrn und den Landständen entstehen sollte. Fehlte dafür eine rechtliche Regelung, dann war die Entscheidung letztlich eine Machtfrage, die - wie der preußische Verfassungskonflikt von 1862 zeigt - meistens zugunsten des Monarchen ausging, der über die Regierung, die Beamtenschaft und die Armee verfügte. Daher musste vor allem den Landständen an einer rechtlichen bzw. gerichtlichen Absicherung ihrer Rechtspositionen gelegen sein. Die Landesverfassungen tasteten sich nur allmählich, unsicher und vorsichtig an eine gerichtliche Lösung heran. Zunächst führten mehrere Verfassungen die Ministeranklage ein; später - insbesondere nach 1830 - entschieden sich einige Verfassungen zusätzlich für die Zulässigkeit unmittelbarer verfassungsrechtlicher Streitigkeiten zwischen den Landständen und der Landesregierung bei Zweifeln und Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung der Verfassung; vereinzelt kam es auch zu einer besonderen Art der Verfassungsbeschwerde.
/. Minister anklage Die aus England und Frankreich bekannte Ministeranklage knüpfte an die Ministerverantwortlichkeit an, die nicht nur das eigene Verhalten des Ministers,
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sondern über die Gegenzeichnung auch das Verhalten des Landesherrn erfasste. Sie zielte auf die Verurteilung des Ministers wegen (schuldhafter) Verletzung der Verfassung durch einen eigens dazu bestellten Staatsgerichtshof oder ein allgemeines oberstes Gericht des Landes, wobei im Falle der Verurteilung unterschiedliche Sanktionen bis hin zur Absetzung oder kriminalrechtlichen Bestrafung in Betracht kamen.3 Gegenstand dieser Verfahren war zwar das gerügte Verhalten des Ministers; seine Beurteilung erforderte aber meistens eine Auslegung der angeblich verletzten Verfassungsnormen, so dass man von einem mittelbaren Organstreitverfahren zwischen den Landständen und der Landesregierung sprechen kann. In der Praxis spielte die Ministeranklage kaum eine Rolle; es kam nur zu wenigen Verfahren und zu keiner Verurteilung. 4 Das hatte verschiedene Gründe. Zum einen fehlte in einigen Ländern das erforderliche Ausführungsgesetz, so dass die verfassungsrechtliche Regelung leer lief. 5 Zum anderen waren auch die Zulässigkeitsvoraussetzungen ziemlich hoch (zum Teil war die Zustimmung beider Kammern, also auch der ersten Kammer, die mit Vertretern des Adels oder vom Monarchen berufenen Personen besetzt war, erforderlich oder ein höheres Quorum vorgeschrieben). Drittens erschwerte die Schuldfrage und damit die Verknüpfung von objektiven und subjektiven Elementen eine Verurteilung. Hinzu kam, dass die Ministeranklage als nachträgliche Reaktion allenfalls mittelbar eine verfassungsrechtliche Entscheidung brachte. Immerhin bildete die Ministeranklage erste Ansätze einer gerichtlichen Sicherung und Durchsetzung der Verfassung. 6
2. Verfassungsorganstreitigkeiten Näher zur Sache kamen die echten oder unmittelbaren Verfassungsorganstreitverfahren (im Gegensatz zum mittelbaren Organstreitverfahren der Mini-
3
Vgl. Scheuner (Fn. 2), S. 31 ff.; Hoke (Fn. 2), S. 56 ff.; Huber (Fn. 2), Band. I, S.
623; Band III, S. 65 f. und öfter; Kühne, Verfassungsanklagen gegen Gubernativspitzen - rechtstatsächliche und vergleichende Brauchbarkeitserwägungen, FS Tsatsos, 2003, S. 279 ff.; Maurer, Die Verfassungsgewähr im konstitutionellen Staatsrecht des 19. Jahrhunderts, FS Link, 2003, S. 725, 741 ff. 4
Großes Aufsehen erregten allerdings mehrere Ministeranklagen gegen Minister Hassenpflug während des hessischen Verfassungskonflikts 1830/37, die jedoch durchweg mit einem Freispruch endeten, vgl. dazu Frotscher, JuS 2000, 943 ff. 5 In Preußen ist das Ausführungsgesetz überhaupt nie, in Bayern erst 1850 - nach 30 Jahren und nach einer Revolution - erlassen worden. 6 Später wurde sie durch die parlamentarische Kontrolle der Minister einschließlich Abberufung durch ein parlamentarisches Misstrauensvotum weiterentwickelt und abgelöst.
48
Hartmut Maurer
steranklage), die vereinzelt schon früh, 7 dann etwas vermehrt nach 18308 eingeführt wurden. Parteifähig waren nur die Landstände (nicht Teile der Landstände, etwa einzelne Abgeordnete, Ausschüsse, Fraktionen und dergleichen) und die Landesregierung; Gegenstand der Verfahren waren Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung einzelner VerfassungsVorschriften; zuständig waren - landesrechtlich unterschiedlich - der Staatsgerichtshof, ein allgemeines oberstes Gericht des Landes, ein Schiedsgericht oder sonst eine höhere Instanz (Bundesversammlung, ein Bundesgericht, später auch das Reichsgericht). Indessen spielte auch diese Verfahrensart in der Praxis kaum eine Rolle.9 In grundsätzlicher Hinsicht wurde damit aber ein wesentlicher Durchbruch zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit erreicht.
3. Verfassungsbeschwerde? Eine Verfassungsbeschwerde im heutigen Sinn, die dem Bürger das Recht gewährt, die Verletzung seiner Grundrechte unmittelbar, wenn auch erst nach Erschöpfung des Rechtswegs, vor dem BVerfG zu rügen, bestand im 19. Jahrhundert noch nicht. Zwei Verfassungen, nämlich die Bayerische Verfassung von 1818 und die Sächsische Verfassung von 1831,10 gaben jedoch dem Bürger das Recht, bei Verletzung seiner konstitutionellen Rechte, die Landstände anzurufen, die, wenn sie die Beschwerde für begründet hielten, die Angelegenheit an den Monarchen weitergeben konnten, der dann entweder selbst entschied oder die Sache an die oberste Staatsbehörde oder das oberste Landesgericht zur Begutachtung bzw. zur Entscheidung weiterreichte. Hier finden sich Ansätze einer Verfassungsbeschwerde, zugleich aber im Blick auf die Vermittlung der Stände auch einer rudimentären Verfassungsorganklage. Von diesen Bürgerbeschwerden sind die Ständebeschwerden zu unterscheiden, die von den Ständen selbst ausgingen und vom Monarchen an das zuständige Gericht weitergegeben wurden. Auch sie bildeten Ansätze einer Verfassungsgerichtsbarkeit.
7 So in Sachsen-Hildburghausen (§ 57 Verf. vom 19.3.1818); Mecklenburg (Patent vom 23.11.1817), jeweils abgedruckt bei Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit 1889, 2. Aufl., 1832, Band I 2, S. 783 bzw. 1020. 8 Vgl. die Nachweise bei Hoke (Fn. 2), S. 67; Maurer (Fn. 3), S. 749. 9 In der Literatur wird nur eine Entscheidung genannt, nämlich die Entscheidung des in Mecklenburg eingesetzten Schiedsgerichts vom 12.9.1850, durch die die neue Verfassung für nichtig erklärt wurde, so dass Mecklenburg (Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz) bis 1918 ohne eine konstitutionelle Verfassung blieb. Vgl. Hoke (Fn. 2), S. 68 f.; Robbers, JuS 1990, 257 (261). 10 Vgl. Titel VII § 21 und X § 5 BayVerf.; 36, 111,114 SächsVerf.; Hoke (Fn. 2), S. 65; Huber (Fn. 2), Band I, S. 623.
Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit
49
III. Der Deutsche Bund Ging es bei den Ländern um Streitigkeiten zwischen den Landständen und der Landesregierung und damit um Verfassungsorganstreitigkeiten, so stellte sich beim Deutschen Bund, dem staatenbündischen Zusammenschluss der deutschen Einzelstaaten, die Frage, ob und wie föderative Streitigkeiten gerichtlich verfolgt und entschieden werden können. Die diesbezüglichen Regelungen sind auf mehrere Verträge und Gesetze verstreut 11 und nicht immer eindeutig, so dass verschiedentlich Zweifel offen blieben und bleiben.12 Auf dem Wiener Kongress 1815 forderten Preußen und Österreich die Errichtung eines deutschen Bundesgerichts, das für föderative Streitigkeiten und darüber hinaus auch für Grundrechtsverletzungen zuständig sein sollte, konnten sich damit aber nicht durchsetzen. Die Gegenseite hielt das mit dem staatenbündischen Charakter des Deutschen Bundes nicht für vereinbar. Stattdessen sollte die Beurteilung föderativer Streitigkeiten durch und über die Bundesversammlung, das einzige Organ des Deutschen Bundes, erfolgen. Die maßgeblichen Regelungen orientierten sich an den drei verschiedenen Konfliktsituationen im föderativen Bereich, nämlich erstens Streitigkeiten zwischen den Gliedstaaten, zweitens Streitigkeiten zwischen dem Bund und den Gliedstaaten und drittens Streitigkeiten innerhalb eines Gliedstaates, wenn und soweit sie über den jeweiligen Gliedstaat hinauswirken und damit den Bundesfrieden beeinträchtigen konnten. Streitigkeiten zwischen Bundesorganen schieden schon deshalb aus, weil es nur die Bundesversammlung gab. Streitigkeiten innerhalb der Bundesversammlung gingen wegen des staatenbündischen Charakters des Deutschen Bundes in eine Bund-Länder oder eine Länder-Länder-Streitigkeit über. 13
/. Streitigkeiten
zwischen den Gliedstaaten
Art. 11 IV Deutsche Bundesakte verpflichtete die Gliedstaaten, ihre Streitigkeiten nicht durch Krieg oder sonstige Gewaltmaßnahmen zu verfolgen, sondern bei der Bundesversammlung „anzubringen". Diese sollte zunächst durch einen Ausschuss eine Vermittlung versuchen und, wenn diese erfolglos blieb, 11 Vgl. Art. 11 IV Deutsche Bundesakte vom 8.6.1815; Art. 21-24 Wiener Schlussakte vom 15.5.1820; Austrägal-Ordnung vom 16.6.1817; abgedruckt bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, 1961 f f , Band I, Nr. 29, 30, 36; ferner Bundesbeschluss, Das Austrägal-Verfahren betreffend, vom 3.8.1820, abgedruckt in Emminghaus, Corpus juris germanici, 2. Aufl., 1844, S. 673. 12 Vgl. Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, 3. Aufl., 1831, S. 197 ff.; Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, 3. Aufl., 1867, 2. Teil, S. 725 ff.; Huber (Fn. 2), Band I, S. 621 ff.; Hoke (Fn. 2), S. 44 ff.; Stern, Staatsrecht, Band V, 2000, S. 200 ff. 13 Vgl. Huber (Fn. 2), Band I, S. 630 f.
Hartmut Maurer
50
die notwendige gerichtliche Entscheidung „durch eine wohlgeordnete Austrägal-Instanz bewirken". Die Einleitung und Durchfuhrung des Austrägal-Verfahrens wurde durch die Austrägal-Ordnung von 1817 eingehend geregelt. 14 Austrägal-Instanz war ein oberstes Gericht eines an dem Streit nicht beteiligten Gliedstaates. Sie wurde ad hoc bestellt, und zwar dadurch, dass der beklagte Gliedstaat drei oberste Landesgerichte benannte und der Kläger aus dieser Dreier-Liste ein Landesgericht auswählte. Machte der Beklagte keinen Vorschlag innerhalb einer bestimmten Frist, dann ging das Vorschlagsrecht auf die Bundesversammlung und das Auswahlrecht auf den Kläger über. Das Austrägal-Gericht hatte verfahrensrechtlich nach seinem Prozessrecht und materiell-rechtlich „nach den in Deutschland hergebrachten gemeinen Rechten" zu entscheiden. Das Urteil, das „ausdrücklich im Namen und aus Auftrag des Bundes" verkündet wurde, war für die Beteiligten verbindlich. 15 Man könnte also - modern ausgedrückt - von einer Organleihe sprechen. 16 Das Austrägal-Verfahren ist ein traditionelles Rechtsinstitut, das bis in das 13. oder 14. Jahrhundert zurückgeht und verschiedentlich sogar reichsrechtlich geregelt war (so vor allem in §§ 28 - 30 Reichskammergerichtsordnung von 1495). Danach hatten bestimmte Personen, vor allem Mitglieder des Adels, das auf Gesetz, Privileg oder Vertrag beruhende Recht, dass ihr Rechtsstreit nicht von dem an sich zuständigen Gericht, sondern einem Sondergericht (AusträgalGericht) entschieden wird. 17 Die Besonderheit dieser Austrägal-Gerichte lag darin, dass entweder die Beteiligten Einfluss auf die Auswahl und die Besetzung des Gerichts hatten oder dass es sich um ein Standesgericht handelte. Das Austrägal-Gericht des Deutschen Bundes knüpfte sicherlich an diese traditionellen Austrägal-Instanzen an, deckte sich aber damit nicht, da es nicht - wie jene - ein bestehendes Gericht ausschloss, sondern ein fehlendes Gericht ersetzte. Missverständlich ist auch, wenn das Austrägal-Gericht des Deutschen Bundes als Schiedsgericht bezeichnet wird. Jedenfalls sollte es nicht primär einen vermittelnden Schiedsspruch erlassen (das wurde ja bereits vom Ausschuss der Bundesversammlung versucht), sondern eine verbindliche Entscheidung nach
14
Vgl. oben Fn. 11. Vgl. Art. 3 Nr. 5 - 9 der Austrägal-Verordnung (Fn. 9). Für einige besondere Fälle war das Austrägal-Verfahren nicht vorgesehen, so dass die Bundesversammlung entscheiden konnte und musste, vgl. Hoke (Fn. 2) S. 44 ff. 16 Vgl. zu dieser Einrichtung (im Verwaltungsrecht) Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl., 2006, § 21 Rn. 54. 17 Im Einzelnen bestanden im Laufe der Jahrhunderte durchaus unterschiedliche Ausprägungen und Wandlungen, vgl. dazu von Leonhardi, Das Austrägalverfahren des Deutschen Bundes, 2 Bände, 1838/45; Aegidi, Austräge, in: Bluntschli/Brater (Hrsg.), Deutsches Staats-Wörterbuch, Band 1, 1857, S. 533 ff. (m.w.N. S. 560 f.); Leist, Lehrbuch des Teutschen Staatsrechts, 1803, S. 395 ff.; Zachariä (Fn. 12), S. 740 f.; Bornhak, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1934, S. 12 f.; Kotulla, Austrägal-Instanz, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl., 2006, S. 387. 15
Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit
51
geltendem Recht treffen. Tatsächlich wurde diese Gerichtsbarkeit auch praktiziert. 18 Diese Lösung war unter den damals gegebenen Voraussetzungen durchaus originell und sinnvoll. Die Bundesversammlung war als einziges Organ des Deutschen Bundes auch für die Erledigung von Rechtsstreitigkeiten verantwortlich. Da sie aber mangels Gerichtscharakter nicht selbst rechtsprechend tätig werden konnte oder sollte, übertrug sie die Entscheidung einem echten Gericht (Landesgericht), sorgte aber zugleich dafür, dass das Verfahren ordnungsgemäß eingeleitet wurde und effektiv ablief.
2. Streitigkeiten
zwischen Bund und Gliedstaaten
Das Austrägal-Verfahren bestand nur für Streitigkeiten zwischen den Gliedstaaten, nicht zwischen den Gliedstaaten und dem Bund. Auch sonst findet sich dazu keine Regelung. Nach Huber hatte jedoch der Gliedstaat, der einen Bundesbeschluss für bundesrechtswidrig hielt, die Möglichkeit, gegen die für den Bundesbeschluss stimmenden Gliedstaaten vorzugehen und eine Entscheidung der Bundesversammlung bzw. eines Austrägal-Gerichts zu verlangen. 19 In der zeitgenössischen Literatur ist das, soweit ersichtlich, nicht diskutiert und in der Praxis nicht aktuell geworden.
3. Streitigkeiten
innerhalb eines Gliedstaates
Die gerichtliche Entscheidung landesinterner Verfassungsstreitigkeiten (zwischen Landständen und Landesregierung) war an sich Sache der Länder selbst. Die meisten Länder hatten jedoch keine oder nur eine sachlich beschränkte Staatsgerichtsbarkeit. Das erwies sich als misslich, da die landesinternen Verfassungskonflikte auch negative Auswirkungen fur den Bund selbst haben konnten, indem sie den Bundesfrieden störten oder die bundesstaatliche Ordnung beeinträchtigten. Der Bund wurde jedoch erst relativ spät tätig; erst durch Bundesbeschluss von 1834 wurde eine fakultative Schiedsgerichtsbarkeit auf der Bundesebene zur Entscheidung landesinterner Verfassungsstreitigkeiten geschaffen. 20 Die Bildung des Bundesschiedsgerichtes erfolgte in einem zweistufigen (allgemeinen und konkreten) Verfahren: Zunächst wählte der Engere Rat 18 In der Literatur werden für die Jahre 1820-1845 insgesamt 25 Austrägal-Verfahren erwähnt, vgl. Huber (Fn. 2), Band I, S. 628 Fn. 1. 19 Huber (Fn. 2), Band I, S. 630 f. 20 Art. 3-14 Bundesbeschluss vom 12.6.1834/30.10.1834, abgedruckt bei Huber (Fn. 11), Nr. 45; vgl. dazu Zachariä (Fn. 12), S. 780 ff.; Huber (Fn. 2), Band I, S. 623 ff.;
Hoke (Fn. 2), S. 50 f.
52
Hartmut Maurer
der Bundesversammlung allgemein 34 Spruchmänner (je zwei von den 17 Stimmen dieses Rates), sodann wählten die beiden Streitparteien für das konkrete Verfahren aus diesem Kreis je drei Richter, die ihrerseits den Obmann (Vorsitzenden) aus dem Kreis der Spruchmänner wählten. Der Aktionsradius des Bundesschiedsgerichts war gleichwohl von vornherein beschränkt, da er nur von der Landesregierung angerufen werden konnte und dazu auch noch der Zustimmung der Landstände bedurfte. Die abschließende Entscheidung hatte - wie Art. 11 der Bundesschiedsgerichtsordnung bestimmte - „die Kraft und Wirkung eines austrägalgerichtliehen Erkenntnisses", sie war also fur die Beteiligten verbindlich und grundsätzlich endgültig. Das Bundesschiedsgericht ist allerdings in der Sache nie tätig geworden. 21 Dem Bund blieb somit nur die Möglichkeit, im Wege der Bundesintervention gemäß Art. 25 Wiener Schlussakte oder der Bundesexekution gemäß Art. 31 Wiener Schlussakte in den landesinternen Bereich einzugreifen, wenn die dafür erforderlichen Voraussetzungen vorlagen.
IV. Die Frankfurter Reichsverfassung von 1849 Die erste gesamtdeutsche Verfassung, die in Frankfurt verabschiedete Reichsverfassung vom 28.3.1849, sollte einen Bundesstaat auf demokratischer Grundlage mit Volksvertretung, monarchischer Spitze und Verfassungsgerichtsbarkeit begründen. Sie ist bekanntlich nicht rechtswirksam geworden, hat aber wegen ihrer liberalen und rechtsstaatlichen Ausrichtung die künftige Verfassungsentwicklung, insbesondere die Weimarer Reichsverfassung und das Grundgesetz, nachhaltig beeinflusst. 22 Die Verfassungsgerichtsbarkeit lag beim „Reichsgericht", das zur Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten und Staatsschutzsachen berufen war, während die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit auch in der letzten Instanz - bei den Ländern verblieb. 23 Das Reichsgericht war ein eigenständiges und unabhängiges Gericht und zugleich ein Verfassungsorgan. 24 Die Organisation und das Verfahren des Reichsgerichts waren allerdings 21 Vgl. dazu Huber (Fn. 2), Band I, S. 624 f.: In einem Fall verweigerten die Landstände ihre Zustimmung, in einem anderen Fall lehnte die Bundesversammlung die Einleitung des Verfahrens ab. 22 Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, 2. Aufl., 1998. 23 Faller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit der Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März 1849, FS Geiger, 1974, S. 827, 841 ff.; Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 70. 24 Das lässt sich daraus folgern, dass dem Reichsgericht im Verfassungsaufbau neben dem Reichsoberhaupt und dem Reichstag ein eigener Abschnitt in der Verfassung eingeräumt wurde (Abschnitte III—V). Die gerichtsverfassungsrechtlichen Regelungen für alle Gerichte erscheinen erst im Grundrechtsteil (§§ 174-183). Der Organcharakter ist allerdings nicht zweifelsfrei, weil die Verfassung keinerlei Organisations- und Besetzungsregelungen enthält. Das mag jedoch auf sich beruhen, wenngleich sich hier eine Parallele
Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit
53
nicht in der Verfassung geregelt, sondern wurden dem Reichsgesetzgeber überlassen, obwohl in der verfassunggebenden Nationalversammlung auch darüber diskutiert wurde. 25 Dagegen wurde die Zuständigkeit durch die Verfassung selbst bestimmt. Es bestand zwar keine Generalklausel, aber ein umfassender Zuständigkeitskatalog, der weit über die bisherigen Zuständigkeiten der Landesstaatsgerichte und der Bundesgerichtsbarkeit hinausreichte und im Wesentlichen bereits den Zuständigkeiten der heutigen Verfassungsgerichtsbarkeit entsprach. Nach § 126 Frankfurter Reichsverfassung war das Reichsgericht zuständig für -
Streitigkeiten zwischen dem Reich und den Ländern und den Ländern untereinander,
-
Streitigkeiten zwischen den obersten Verfassungsorganen des Reiches (Staatenhaus, Volkshaus und Reichsregierung),
-
Streitigkeiten über die Thronfolge und die Regentschaft in den Ländern,
-
Klagen von landesangehörigen Staatsbürgern gegen die Landesregierung wegen Aufhebung oder Verletzung der Landesverfassung,
-
Klagen deutscher Staatsbürger wegen Verletzung ihrer durch die Reichsverfassung gewährleisteten Rechte,
-
Beschwerden wegen Justizverweigerung,
-
Anklagen gegen Reichsminister oder Landesminister. 26
Die Zuständigkeit des Reichsgerichts erstreckte sich also auf Verfassungsorganstreitigkeiten im Reich und in den Ländern, auf föderative Streitigkeiten in den drei Varianten (Reich-Länder-Streitigkeiten, Länder-Länder-Streitigkeiten und landesinterne Streitigkeiten) und auf Verfassungsbeschwerden des Bürgers. Trotz dieser Weite und Großzügigkeit bestanden aber doch noch gewisse Einschränkungen und Vorbehalte. So beschränkten sich die Verfassungsorganstreitigkeiten sowohl auf der Reichsebene als auch auf der Landesebene auf Streitigkeiten zwischen der Regierung und der Volksvertretung; einzelne Teile oder Glieder dieser Organe, etwa Abgeordnete, Fraktionen oder Ausschüsse, besaßen keine Aktiv- und Passivlegitimation. Dasselbe galt für politische Parteien. Verzur früheren Diskussion über den Status des BVerfG zeigt, vgl. die so genannte StatusDenkschrift vom 27.6.1952 (JöR Band 6, 1957, S. 109 ff.). 25
26
V g l . Faller
(Fn. 23), S. 828 ff.
Hinzu kamen noch strafgerichtliche Anklagen wegen Hoch- und Landesverrats gegen das Reich (§ 1261 Frankfurter Reichsverfassung), Klagen gegen den Reichsfiskus (§ 126m Frankfurter Reichsverfassung) und Klagen bei Zweifel oder Streit darüber, welcher von mehreren beteiligten Staaten zur Erfüllung eines Anspruchs verpflichtet war (§ 126n Frankfurter Reichsverfassung).
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Hartmut Maurer
fassungsorganstreitigkeiten auf der Reichsebene waren zudem nur zulässig, „wenn die streitenden Teile sich vereinigen", 27 das heißt wenn der potenzielle Beklagte zustimmte; die Reichsregierung konnte somit einer Klage der Volksvertretung ausweichen. Die Gerichtsbarkeit war daher insoweit nur fakultativ, nicht obligatorisch. 28 Die Normenkontrolle wurde nicht eigens geregelt; sie konnte aber gegebenenfalls über die anderen Streitigkeiten erreicht werden, die vor allem die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen betrafen (so sogar ausdrücklich § 126a Frankfurter Reichsverfassung). Lediglich die abstrakte Normenkontrolle wurde nicht geregelt. Dagegen war die Zuständigkeit des Reichsgerichts für landesinterne Verfassungsstreitigkeiten obligatorisch. Sie bestand ohne Rücksicht darauf, ob und inwieweit die Länder bereits eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit besaßen oder später eine solche einrichten wollten. Widersprechende verfassungsgerichtliche Regelungen der Länder wurden nach dem Grundsatz des Vorrangs des Reichsrechts aufgehoben bzw. gesperrt. Damit griff die Frankfurter Reichsverfassung tief in den Landesbereich ein. Mit dem Bundesstaatsprinzip, das von der Eigenständigkeit der Gliedstaaten und damit der Verfassungshoheit ausgeht, die wiederum eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit involviert, war das schwerlich zu vereinbaren. Die Reichsverfassung zeigte hier einen stark zentralistischen Zug. Das ist um so erstaunlicher, als zwar alle, früher und später erlassenen Bundesverfassungen eine bundesverfassungsgerichtliche Zuständigkeit fur landesinterne Verfassungsstreitigkeiten vorsahen, 29 die aber nur dann (subsidiär) eingreifen sollte, wenn und soweit eine landesverfassungsgerichtliche Zuständigkeit fehlte. 30 Da die Frankfurter Reichsverfassung nicht rechtswirksam wurde, muss ihre Beschreibung abstrakt bleiben. Das gilt vor allem für die Reichsgerichtsbarkeit, die noch der organisatorischen und verfahrensrechtlichen Ausgestaltung durch den Reichsgesetzgeber bedurfte. Das gilt aber selbst noch für den an sich subtil geregelten Zuständigkeitskatalog, der nicht nur verschiedentlich gesetzliche Ergänzungen erforderte, 31 sondern wohl auch noch erhebliche Probleme aufgeworfen hätte, so etwa hinsichtlich der Thronfolgestreitigkeiten, der „politischen und privatrechtlichen Streitigkeiten aller Art" zwischen den Ländern oder der landesinternen Zuständigkeit. Das und alles Weitere bleibt jedoch Spekulation.
27
§ 126a Frankfurter Reichsverfassung. Vgl. Huber (Fn. 2), Band II, S. 834. 29 Eine Ausnahme galt lediglich für Landesverfassungsbeschwerden, vgl. § 126f und h Frankfurter Reichsverfassung. 30 Vgl. die Bundesschiedsordnung des Deutschen Bundes von 1835, Art. 76 Abs. 2 RVerf. 1871, Art. 19 Abs. 1 WRV, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 3 GG. 31 So vor allem die Verfassungsbeschwerden gemäß §§ 126f-h Frankfurter Reichsverfassung. 28
Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit
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Jedenfalls hat diese Regelung als Entwurf Beachtung gefunden und Erfolg erlangt - nicht in der Reichsverfassung von 1871, nur beschränkt in der Weimarer Reichsverfassung von 1919, aber dann - 100 Jahre später - weitgehend im Grundgesetz von 1949, ja man kann sagen, dass sie über dieses sogar international Interesse und Nachahmung gefunden hat.
V. Die Reichsverfassung von 1871 Das Deutsche Reich von 1871 war keine Neugründung, sondern eine Fortsetzung und Erweiterung des Norddeutschen Bundes von 1867.32 Dementsprechend deckten sich auch die Verfassungen des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches fast vollständig, so dass die Materialien und die Literatur gleichermaßen für beide herangezogen werden können. Die Reichsverfassung von 1871, die im Folgenden ausschließlich genannt wird, enthielt nur einen Artikel über die Entscheidung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten. Art. 76 Ab. 1 RVerf. betraf öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesländern und bestimmte, dass sie „auf Anrufen des einen Teils von dem Bundesrate erledigt" werden. Art. 76 Abs. 2 RVerf. bezog sich auf Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Bundeslandes und bestimmte, dass sie auf Anrufen eines Teils vom Bundesrat „gütlich auszugleichen oder, wenn das nicht gelingt, im Wege der Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen" sind. Das war alles. Streitigkeiten zwischen den obersten Reichsorganen (Bundesrat, Reichstag, Reichskanzler) wurden nicht erwähnt und geregelt. Streitigkeiten zwischen dem Reich und den Bundesländern wurden ebenfalls in diesem Zusammenhang nicht erwähnt; sie konnten allenfalls im Wege der Reichsaufsicht einseitig durch den Bundesrat beseitigt werden (Art. 7 Abs. 1 Nr. 3 RVerf.). 33 Eine Verfassungsbeschwerde kam schon deshalb nicht in Betracht, weil die Reichsverfassung keine Grundrechte enthielt. Immerhin gewährte Art. 77 RVerf. - gleichsam als Ersatz - für den Fall der Justizverweigerung eine subsidiäre Beschwerde zum Bundesrat. Diese deutliche Zurückhaltung entsprach der bekannten Abneigung Bismarcks gegen eine echte Verfassungsgerichtsbarkeit; er meinte, dass verfassungsrechtliche Fragen wegen ihres hochpolitischen Charakters überhaupt nicht durch ein Gericht entschieden werden könnten.34
32
Streitig; vgl. dazu Maurer, Entstehung und Grundlagen der Reichsverfassung von 1871, FS Stern, 1997, S. 29, 46 f. 33 Vgl. Triepel, Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, FS Kahl, 1923, S. 4 f. 34 Vgl. die viel zitierte Äußerung von Bismarck aus dem Jahre 1863: „So hoch ich auch den preußischen Richter als juristische Autorität stelle, so hat doch die Regierung nicht geglaubt, dass von dem einzelnen Urteilsspruch eines Gerichts, wie er sich nach der subjektiven Ansicht der Mehrheit der Stimmenden herausstellen wird, die politische
56
Hartmut Maurer
1. Streitigkeiten
zwischen den Bundesländern
Art. 76 Abs. 1 RVerf. schloss sich offensichtlich Art. 11 Abs. 4 Deutsche Bundesakte an. 35 In der damaligen Literatur wurde sogar die Auffassung vertreten, die früheren Vorschriften über das Austrägalverfahren könnten analog herangezogen werden. 36 Die äußerst knappe Regelung des Art. 76 RVerf. war gleichwohl noch fraglich. Der Schlüssel zum Verständnis des Art. 76 Abs. 1 RVerf liegt in dem Wort „erledigen". Der Verfassunggeber hat, wie sich eindeutig aus den Verfassungsberatungen des konstituierenden Reichstags 1867 ergibt, 37 bewusst das Wort „erledigen" - an Stelle des Wortes: „entscheiden" verwendet, um dem Bundesrat einen größeren Spielraum zur Bereinigung des Streites zu geben. So erklärte der Regierungsvertreter von Savigny gegenüber Einwendungen und der Forderung nach einem Bundesgericht: „Unter dem Worte ,erledigt' ist nur im allgemeinen angedeutet worden, dass der Bundesrat seinerseits bestrebt sein wird, falls es ihm nicht gelingt, innerhalb seines Schooßes - ich möchte sagen, im Familienrate - eine solche Angelegenheit zu befriedigender Lösung zu bringen, diejenigen Rechtswege selbst zu bezeichnen, auf denen die Sache zum Austrag kommen kann. Vorzugsweise ist dabei auch der Fall einer Verweisung auf Austrägalinstanz vorausgesehen. Das verstehen wir unter dem Wort,erledigen 4 ". 38 Weitere Erklärungen bestätigen dies. 39 Durch Art. 76 Abs. 1 RVerf. sollte dem Bundesrat nicht speziell eine Rechtsprechungsaufgabe zugewiesen, sondern allgemein die Verpflichtung auferlegt werden, für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Bundesländern zu sorgen. Dementsprechend vertrat die damalige Literatur überwiegend die Auffassung, dass der Bundesrat zwar selbst eine richterliche Entscheidung treffen könne, die einem gerichtlichen Urteil gleichkommt, dass er aber dazu nicht verpflichtet sei, sondern die Streitigkeit auch dadurch zur Erledigung bringen könne, dass er sie einem Gericht, einer Juristenfakultät, einem Sachverständigengremium oder sogar einer Einzelperson zur Klärung und Entscheidung zu-
Zukunft des Landes, die Machtverteilung zwischen der Krone und dem Landtag sowie zwischen den Häusern des Landtags abhängig gemacht werden dürfe"; vgl. Kohl (Hrsg.), Politische Reden des Fürsten Bismarck, Band. II, 1892, S. 172. 35 Vgl. dazu Schulze, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, 1886, S. 60 f.; Haenel, Deutsches Staatsrecht, 1892, S. 573 f f ; von Seydel, Commentar zur Verfassungs-Urkunde für das Deutsche Reich, 2. Aufl., 1897, S. 405 ff.; Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 1, 5. Aufl., 1911, S. 669 f. 36 Vgl. die Nachweise in Fn. 35. 37
Vgl. dazu von Seydel (Fn. 35), S. 405 f.; Arndt, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1904, S. 111. 38 Zitiert bei von Seydel (Fn. 35) und Arndt (Fn. 37). 39 Vgl. die Stellungnahmen der Bevollmächtigten von Hessen und Hamburg, zitiert bei von Seydel (Fn. 35), S. 405 f.
Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit
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weist. 40 Lediglich in Randbereichen bestanden noch unterschiedliche Meinungen; strittig war einerseits, ob der Bundesrat - entsprechend dem Austrägalverfahren des Deutschen Bundes - stets zur Weitergabe an ein Gericht verpflichtet ist, 41 und andererseits, ob das Votum der beauftragten Instanz nur gutachtlichen Charakter hat und noch der Bestätigung und Publikation durch den Bundesrat bedarf 4 2 Auf diese Streitfragen braucht hier j edoch nicht weiter eingegangen zu werden, da sie sich durch die Praxis erledigten. Der Bundesrat hat nämlich, soweit bekannt, in allen Fällen, in denen eine gütliche Einigung nicht erreicht wurde, ein Gericht zur Entscheidung ersucht und die Streitparteien verpflichtet, sich dem Spruch zu unterwerfen. 43 Als „Schiedsgerichte" wurde das Reichsoberhandelsgericht (vor der Errichtung des Reichsgerichts), das Oberappellationsgericht in Lübeck (das gemäß Art. 75 RVerf. vorläufig auch für Staatsschutzsachen zuständig war), das Hanseatische Oberlandesgericht in Hamburg und vor allem - nach seiner Errichtung 1879 - das Reichsgericht in Leipzig herangezogen. Der Bundesrat entschied nicht, sondern ließ entscheiden, bestimmte aber die zur Entscheidung berufene Instanz, wobei er sich, wie die Praxis zeigt, an allgemein anerkannte und qualifizierte Gerichte hielt. Sachlich ging es bei diesen (föderativen) Länder-LänderStreitigkeiten sicherlich nur um relativ unbedeutende Angelegenheiten.44 Wie sich der Bundesrat bei hochpolitischen Streitfragen verhalten und entschieden hätte, bleibt Spekulation. Sie waren in diesem Bereich auch kaum zu erwarten. Der tatsächlich gehandhabte Art. 76 Abs. 1 RVerf. führte das frühere Austrägalverfahren weiter. Es bestanden freilich auch Unterschiede zu Art. 11 Abs. 4 Deutsche Bundesakte. Zum einen musste der Bundesrat die Sache nicht an ein Gericht weitergeben, sondern konnte auch andere Wege wählen; und zum anderen hatten die Streitparteien keinen rechtlich gesicherten Einfluss auf die Auswahl des Gerichts. 45 Aber diese Unterschiede fielen offenbar nicht ins Gewicht. Im Vordergrund stand nicht die sachliche Entscheidungsfunktion, sondern die verfahrensrechtliche Vermittlungs- und Steuerungsfunktion des Bundesrates. Der dem Bundesrat eingeräumte Ermessenspielraum ließ allerdings auch politische Erwägungen zu und stellte somit eine spezifische Variante der political-
40 Vgl. die Nachweise Fn. 35 und 37; ferner Meyer/Anschütz, schen Staatsrechts, 7. Aufl., 1919, S. 932 f. 41
So von Seydel (Fn. 35), S. 405 f.; Arndt (Fn. 37), S. 111.
42
So Laband
43
V g l . dazu von Seydel (Fn. 35), S. 406 f.; Laband
Lehrbuch des deut-
(Fn. 35), S. 269 f. (Fn. 35), S. 270 A n m . 1; Mey-
er/Anschütz (Fn. 40) S. 933 Anm. 8; ferner eingehend Björner, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Norddeutschen Bund und Deutschen Reich (1867-1918), 2000, S. 51 ff. 44
Björner
45
Vgl. Huber (Fn. 2), Band III, S. 1067.
(Fn. 43), S. 51 ff.
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question-Doktrin dar, die vom Supreme Court der USA praktiziert, für das BVerfG aber abgelehnt wird. 46
2. Streitigkeiten
innerhalb eines Bundeslandes
Nach Art. 76 Abs. 2 RVerf. war der Bundesrat auch fur landesinterne Verfassungsstreitigkeiten zuständig, jedoch nur subsidiär, nur wenn keine landesrechtliche Entscheidungsinstanz bestand. Verfassungsstreitigkeiten waren nach damaliger Auffassung lediglich Streitigkeiten zwischen den obersten Landesorganen, zwischen den Landständen (später vorwiegend als Landtag bezeichnet) und der Landesregierung, über die Auslegung und Anwendung der Landesverfassung. Der Bundesrat hatte, wenn der Versuch eines gütlichen Ausgleichs nicht gelang, den Streit zur Erledigung zu bringen, allerdings nicht allein, sondern im Wege der Reichsgesetzgebung, das heißt aber zusammen mit dem Reichstag. Reichsgesetze kamen nach Art. 5 Abs. 1 RVerf. durch übereinstimmende Beschlüsse des Bundesrates und des Reichstages zustande. Kam es zu keiner Übereinstimmung, dann war das nach Art. 76 Abs. 2 RVerf. erforderliche Gesetz und damit die Entscheidung der Verfassungsstreitigkeiten ausweglos gescheitert. 47 Fraglich und strittig war die dogmatische und praktische Bedeutung dieser Gesetze. Die überwiegende Meinung nahm einen Richterspruch in Form eines Gesetzes an. 48 Einige Autoren gingen jedoch weiter und bejahten ein materiellrechtliches Gesetz mit der Folge, dass die Verfassungsstreitigkeit auch durch Erlass neuen Rechts erledigt werden konnte. Sie kamen jedoch über knappe, kaum weiterführende Andeutungen nicht hinaus. So meinte Laband, die Erledigung der Verfassungsstreitigkeit könne auch „durch Veränderung der Verfassung oder durch Außerkraftsetzung des bestehenden Verfassungsrechts fiir den einzelnen Fall" erfolgen; der Vorrang des Reichsrechts gegenüber dem Landesrecht gelte auch für ein auf Grund des Art. 76 Abs. 2 RVerf. erlassenes Reichsgesetz, welches das bisherige Staatsrecht eines Gliedstaates abändere.49 Dagegen meinte von Seydel, dass das „im Wege der Reichsgesetzgebung" geschaffene Recht nicht Reichsrecht, sondern Landesrecht sei und daher jederzeit durch Landesgesetz beseitigt oder abgeändert werden könne.50 Der Meinungsstreit 46
Vgl. dazu Stern, Staatsrecht II, 1980, S. 961 f.; Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 2. Aufl., 2002, S. 19 ff. 47 Deshalb war die Literatur auch gegenüber dieser Lösung sehr skeptisch, vgl. etwa Schulze (Fn. 35), S. 63; Laband (Fn. 35), S. 272. 48 So Schulze (Fn. 35), S. 62; Haenel (Fn. 35), S. 571; Meyer/.Anschütz (Fn. 40), S. 936; Huber (Fn. 2), Band III, S. 1069. 49 Laband (Fsn. 35), S. 272 f.; vgl. auch dens., Das Budgetrecht, 1871, S. 49. 50 Von Seydel (Fn. 35), S. 407.
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wurde nicht ausgetragen, was wohl vor allem daran lag, dass Art. 76 Abs. 2 RVerf. sachlich so gut wie nie zur Anwendung kam. 51 Es wurden zwar einige Anträge auf eine Entscheidung nach Art. 76 Abs. 2 RVerf. gestellt; sie scheiterten aber wegen formeller Unzulässigkeit oder erledigten sich durch Vergleich oder ein anderweitiges Schiedsurteil. Zunehmend wurde das Reichsgericht unmittelbar oder mittelbar über den Bundesrat einbezogen. Die Frage, ob und auf welchem Weg die relativ häufigen Thronstreitigkeiten entschieden werden konnten, war - im Gegensatz zur Frankfurter Reichsverfassung - verfassungsrechtlich nicht eindeutig geregelt (Art. 76 Abs. 1 oder Art. 76 Abs. 2 RVerf. oder weder noch?) und führte daher zu erheblichen Auseinandersetzungen in der Staatsrechtslehre 52 und in der Praxis. 53 Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden. Jedenfalls ist festzustellen, dass auch damit zunehmend das Reichsgericht befasst wurde. Auch bei der Anwendung des Art. 76 Abs. 2 RVerf. war der Begriff der Erledigung maßgebend, der eben nicht nur im Sinne der richterlichen Entscheidung, sondern vornehmlich im weiteren Sinne der Vermittlung einer gerichtlichen Instanz zu verstehen war.
3. Kritik Die Regelungen des Art. 76 RVerf. sind in der zeitgenössischen Literatur fast durchweg auf Kritik und Ablehnung gestoßen.54 Es wurde immer wieder betont, dass der Bundesrat - allein und vor allem zusammen mit dem Reichstag - nicht geeignet sei, verfassungsrechtliche Streitigkeiten zu entscheiden. Dabei wurde insbesondere auf die Besetzung des Bundesrates mit instruierten Vertretern der verschiedenen Landesregierungen, das unterschiedliche Stimmengewicht der Bundesländer, die Mitwirkung auch der am Streit beteiligten Bundesländer, die Arbeitsweise des Bundesrates als politischem Organ verwiesen und statt der Entscheidungskompetenz des Bundesrates die Errichtung eines Bundesgerichtes gefordert. Der Bundesrat selbst hat offenbar diese Problematik gesehen und daraus die Konsequenzen gezogen, indem er die Entscheidung der Verfassungs51
Von Seydel (Fn. 35), S. 409, nennt einen Fall, der aber nicht zur Anwendung des Art. 76 Abs. 2 RVerf., sondern zu dem Vorschlag des Bundesrates führte, die streitenden Parteien (Landesherr und Landstände) sollten die „obwaltende Differenz der schiedsrichterlichen Entscheidung des Reichsgerichts unterbreiten". Die Sache wurde dann aber ohne Schiedsgericht durch Vergleich erledigt. 52 Vgl. etwa Laband (Fn. 35), S. 273 ff.; Schulze (Fn. 35), S. 61 ff.; von Seydel, Staatsrechtliche und politische Abhandlungen, NF. 1902, S. 158 ff.; Meyer/Anschütz (Fn. 40), S. 935 Anm. 12 m.w.N. 53
Vgl. dazu die Nachweise bei Björner (Fn 43), S. 105. Vgl. die Nachweise oben Fn. 35; ferner etwa von Mohl, Das deutsche Reichsstaatsrecht, 1873, S. 270 ff.; Arndt, DJZ 1898, 497 ff.; Binding, DJZ 1999, 67 ff.; vgl. auch Laband, DJZ 1901, 1 ff. 54
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Streitigkeit einem Gericht zuwies. Die literarische Kritik an der Konstruktion des Art. 76 RVerf. war theoretisch berechtigt, griff aber zu kurz, weil sie die durch Art. 76 RVerf. gedeckte Praxis nicht hinreichend beachtete. Dasselbe gilt ebenso für die spätere verfassungsgeschichtliche Betrachtung und Beurteilung. Jedenfalls ist die gängige These, der Bundesrat sei damals als „Reichsverfassungsgericht" tätig geworden, 55 missverständlich, wenn nicht sogar unzutreffend. Tatsächlich ist eher das Reichsgericht in diese Rolle hineingewachsen.56 Damit soll nicht bestritten werden, dass die durch Art. 76 RVerf. begründete Auswahl- und Zuweisungsgerichtsbarkeit an Stelle einer institutionalisierten Staatsgerichtsbarkeit in rechtsstaatlicher Hinsicht defizitär war. Sie verstieß nicht nur gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters, sondern ließ auch keine dauerhafte und damit echte Verfassungsgerichtsbarkeit aufkommen. Immerhin ist aber mit dem Reichsgericht im Laufe der Zeit eine Art Ersatzverfassungsgericht entstanden. Daraus ist dann in der Weimarer Zeit der Staatsgerichtshof „bei dem Reichsgericht" geworden. 57
VI. Die Weimarer Reichsverfassung 1. Überblick Die Weimarer Reichsverfassung regelte die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht in einem Absatz oder einem Komplex, sondern verstreut über die gesamte Verfassungsurkunde. 58 Die zentrale Vorschrift war Art. 108 WRV, der die Errichtung eines Staatsgerichtshofs fiir das Deutsche Reich nach Maßgabe eines Reichsgesetzes vorsah. Die Zuständigkeiten ergaben sich aus Art. 19 WRV sowie aus einigen weiteren Bestimmungen. Im Übrigen war die nähere Regelung, insbesondere der Organisation, dem Reichsgesetzgeber vorbehalten. Das erinnert an § 128 Frankfurter Reichsverfassung. Dem Verfassunggeber war jedoch eine sofort aktionsfahige Staatsgerichtsbarkeit so wichtig, dass er selbst einen vorläufigen Staatsgerichtshof einsetzte, der bis zur Errichtung des endgültigen Staatsgerichtshofs dessen Befugnisse ausüben sollte (Art. 172 WRV). Damit
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So Huber (Fn. 2), Band III, S. 1064 ff.; kritisch dazu Stern (Fn. 12), S. 381 f. Vgl. dazu zutreffend Björner (Fn. 43), S. 131 f. 57 Vgl. dazu die Formulierung des § 1 Gesetz über den Staatsgerichtshof (RStGHG) vom 9.7.1921 (RGBl. S. 905), auch abgedruckt bei Huber (Fn. 11), Band III, Nr. 189. 58 Vgl. dazu und zum Folgenden - neben den Kommentaren zur Weimarer Reichsverfassung - Friesenhahn, Die Staatsgerichtsbarkeit, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, S. 523 ff.; Thoma, Die Staatsgerichtsbarkeit des Deutschen Reiches, in: Schreiber (Hrsg.), Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, 1929, S. 179 ff.; Huber (Fn. 2), Band VI, S. 542 ff.; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 209 ff. m.w.N. 56
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sollte der Gefahr vorgebeugt werden, dass - wie verschiedentlich im 19. Jahrhundert in den Ländern - zwar verfassungsrechtlich ein Staatsgerichtshof vorgesehen wird, das erforderliche Ausflihrungsgesetz aber unterbleibt und damit die Verfassungsregelung leer läuft. 59 Der vorläufige Staatsgerichtshof, der aus sieben Mitgliedern (vier Mitglieder des Reichstages und drei Richter des Reichsgerichts) bestand, wurde Ende 1920 eingesetzt, aber bald durch das Gesetz über den Staatsgerichtshof vom 9.7.1921 (RGBl. S. 905) abgelöst.60 Neben dem Staatsgerichtshof gab es noch zwei weitere Gerichte, die zur Entscheidung verfassungsrechtlicher Fragen berufen waren. Nach Art. 13 Abs. 2 WRV hatte das Reichsgericht auf Antrag der Reichsregierung oder einer Landesregierung zu entscheiden, wenn Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten über die Vereinbarkeit einer landesrechtlichen Vorschrift mit dem Reichsrecht bestanden.61 Es handelte sich also um eine gegenständlich begrenzte abstrakte Normenkontrolle entsprechend dem späteren, allerdings weiterreichenden Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Schließlich wurde noch ein Wahlprüfungsgericht beim Reichstag gebildet, das über die Gültigkeit der Wahl und den Verlust des Mandats eines Abgeordneten zu entscheiden hatte (Art. 31 WRV). Es wurde in der Besetzung von drei, vom Reichstag aus seiner Mitte fur die Dauer der Wahlperiode gewählten Mitgliedern und zwei auf Vorschlag des Präsidenten des Reichstags vom Reichspräsidenten bestellten Mitgliedern des Reichsgerichts tätig.
2. Die Organisation des Staatsgerichtshofs Die Organisation des Reichsstaatsgerichtshofs war im Gesetz ziemlich umständlich geregelt. Das Gericht sollte nach der ursprünglichen Fassung aus zwei Senaten bestehen, nämlich einen dem Reichsgericht angegliederten Senat für die Präsidenten- und Ministeranklage und einen dem Reichsverwaltungsgericht angegliederten Senat für die übrigen Zuständigkeiten.62 Da es in der Weimarer Zeit nicht zur Bildung des Reichsverwaltungsgerichts kam, wurde der Reichsstaatsgerichtshof insgesamt dem Reichsgericht zugeordnet, wodurch sich seine
59
Vgl. dazu den Hinweis von Preuß im Verfassungsausschuss, in: Die verfassunggebende Nationalversammlung, Band 336, S. 363 f.. Zur früheren Situation (in Preußen, Bayern und anderen) oben Fn. 5. 60 Vgl. dazu bereits oben Fn. 57. 61 Vgl. auch das Gesetz zur Ausführung des Art. 13 Abs. 2 der Reichsverfassung vom 8.4.1920 (RGBl. S. 510), das die Zuständigkeit des Reichsgerichts (§ 1) und in Steuersachen die des Reichsfinanzhofs (§ 6) begründete; abgedruckt bei Huber (Fn. 11), Band III, Nr. 188. 62 Vgl. §§ 1 ff. RStGHG.
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Organisation und Besetzung wieder vereinfachte. 63 Die Besetzung des Spruchkörpers war nicht einheitlich, sondern je nach Art der Zuständigkeit unterschiedlich geregelt. 64 Vorsitzender war stets der Präsident des Reichsgerichts, Beisitzer waren - je nachdem - Richter des Reichsgerichts, Richter oberster Landesverwaltungsgerichte sowie vom Reichstag und Reichsrat gewählte Politiker. In den wichtigsten Fällen des Art. 19 Abs. 1 WRV setzte sich der Staatsgerichtshof aus dem Reichsgerichtspräsidenten, drei Reichsgerichtsräten und je einem Rat des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts zusammen.65
3. Die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs Der Schwerpunkt der Zuständigkeit lag bei föderativen Streitigkeiten. Das Gericht war nach Art. 19 Abs. 1 WRV zuständig fur (1.) Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, soweit keine landesverfassungsgerichtliche Zuständigkeit bestand, (2.) öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen verschiedenen Ländern und (3.) öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen dem Reich und einem Land. Dazu kamen noch als weitere Zuständigkeiten die traditionelle Ministeranklage, die nun auf den Reichspräsidenten erstreckt wurde (Art. 59 WRV), Streitigkeiten über die Zulässigkeit und den Umfang der Reichsaufsicht (Art. 15 Abs. 3 S. 2 WRV), Vermögensauseinandersetzungen bei einer Länderneugliederung (Art. 18 Abs. 7 WRV) und Streitigkeiten, die sich aus der Übernahme von Verkehrswegen und von Einrichtungen der Post und der Eisenbahn durch das Reich ergaben (Art. 90 S. 2, 170 Abs. 2 und 171 Abs. 2 WRV) 6 6 - alles Streitigkeiten, die zumindest in grundsätzlicher Hinsicht keine Bedeutung hatten und auch meistens praktisch kaum bedeutsam wurden und daher hier nicht weiter behandelt werden sollen. Die Aufzählung dieser Zuständigkeiten führt zur Frage, was nicht erfasst wurde und damit der gerichtlichen Entscheidung entzogen war. Die Beantwortung dieser Frage hängt natürlich davon ab, was man zur Verfassungsgerichts63 Das Gesetz verwendet die Formel, „bei dem Reichsgericht gebildet". Das bedeutet nicht, dass der Reichsstaatsgerichtshof Teil des Reichsgerichts war, sondern dass er organisatorisch beim Reichsgericht residierte, was allerdings auch zu personellen Querverbindungen führte Dagegen war für die Normenkontrolle nach Art. 13 Abs. 2 WRV das Reichsgericht (ein vom Präsidenten des Reichsgerichts bestimmter Senat) selbst zuständig. 64 Eine solche Differenzierung findet sich heute nur noch in Bayern (vgl. Art. 68 BayVerf.). 65 Vgl. §31 RStGHG. 66 Vgl. auch die enumerative Aufzählung in §§ 16, 17 RStGHG.
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barkeit zählt. Geht man von den heutigen Maßstäben aus, dann fehlten Verfassungsorganstreitigkeiten auf der Reichsebene, die abstrakte und die konkrete Normenkontrolle (mit Ausnahme des Art. 13 Abs. 2 WRV, der aber auch das Bund-Länder-Verhältnis betraf und damit föderativen Charakter hatte) und die Verfassungsbeschwerde. Vergleicht man Art. 19 Abs. 1 WRV mit der Reichsverfassung von 1871, dann ist festzustellen, dass die ersten beiden Zuständigkeiten genau dem Art. 76 Abs. 1 und 2 RVerf. entsprachen, die ihrerseits an den Regelungen des Deutschen Bundes (Art. 11 Abs. 4 Deutsche Bundesakte und Bundesschiedsordnung von 1834) anknüpften, während die dritte Zuständigkeit (Reich-Länder-Streitigkeit) im früher geltenden Recht kein Vorbild besaß, sondern lediglich in der Frankfurter Reichsverfassung eine erste Regelung fand. Verfassungsorganstreitigkeiten auf der Reichsebene waren dagegen im 19. Jahrhundert ausgeschlossen. Selbst die sonst großzügige Frankfurter Reichsverfassung gewährte sie nur unter dem Vorbehalt der Zustimmung beider Streitparteien. Das war freilich auch gerade der Bereich, in dem die besondere Problematik des Verhältnisses von Verfassungsrecht und Politik aktuell werden konnte und aktuell wurde. Diese Problematik wurde schon im Kaiserreich und dann vor allem in der Weimarer Republik kontrovers und zum Teil leidenschaftlich diskutiert. 67 Die konkrete Normenkontrolle entwickelte sich als so genanntes richterliches Prüfungsrecht (besser: gerichtliche Inzidentkontrolle) außerhalb der institutionalisierten Staatsgerichtsbarkeit. Erste Ansätze finden sich bereits im 19. Jahrhundert. Mit der Entscheidung des Reichsgerichts vom 4.11.1925 (RGZ 111, 320 ff.) hatte es sich auch in der Rechtsprechung endgültig durchgesetzt, blieb aber in der Literatur noch umstritten. Die Reichsregierung legte 1926 dem Reichstag den Entwurf eines Gesetzes über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reichsrechts vor, der die abstrakte und konkrete Normenkontrolle - so wie sie heute im Grundgesetz geregelt sind - einfuhren sollte. 68 Der Entwurf kam aber über die Anfänge der parlamentarischen Beratung nicht hinaus, dasselbe Schicksal erlitt ein entsprechender Entwurf in der nächsten Wahlperiode. 69
67 Vgl. Anschütz/ Mende, Empfiehlt es sich, die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs auf andere als die im Art. 19 Abs. 1 RVerf. bezeichneten Verfassungsstreitigkeiten auszudehnen?, Referate mit Diskussion, Verhandlungen des 34. DJT 1926, Band 2, 1927, S. 193 ff.; Triepel/Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, Referate mit Diskussion, VVDStRL 5 (1929), S. 2 ff.; Schmitt, AöR 55 (1929), S. 161 ff.; Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, 1984. 68 Verhandlungen des Reichstags, III. Wahlperiode, Drs. Nr. 2855; dazu Maurer, DÖV 1963,683 (687). 69 Verhandlungen des Reichstags, IV. Wahlperiode, Drs. Nr. 382.
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Wenn die Verfassungsbeschwerde nur in der Frankfurter Reichsverfassung und dann erst wieder im Grundgesetz gewährt wurde, so liegt das daran, dass einige der früheren Verfassungen (aus verschiedenen Gründen) überhaupt keinen Grundrechtskatalog kannten, die Grundrechte selbst dogmatisch und praktisch noch wenig ausgestaltet waren und vor allem der Schutz der Grundrechte als Angelegenheit der Verwaltungsgerichtsbarkeit betrachtet wurde.
4. Die Entscheidung landesinterner
Verfassungsstreitigkeiten
insbesondere
Die Zuständigkeit zur Entscheidung landesinterner Verfassungsstreitigkeiten entsprach, wie sich gezeigt hat, einer längeren Tradition und ist auch durch das bundesstaatliche Interesse an einer länderübergreifenden Friedensordnung gerechtfertigt. Andererseits fuhrt sie zur Einwirkung eines Reichsorgans auf den verfassungsautonomen Landesbereich. Es ist daher nur folgerichtig, dass sie nur subsidiär bei Fehlen einer ausreichenden Landesgerichtsbarkeit zuständig ist. Überblickt man die Landesverfassungen der Weimarer Zeit, dann lässt sich feststellen, dass mehrere Länder überhaupt keine eigene Staatsgerichtsbarkeit und weitere Länder nur eine auf die Ministeranklage und gegebenenfalls die Wahlprüfung beschränkte Staatsgerichtsbarkeit besaßen, so dass der Reichsstaatsgerichtshof letztlich nur in vier Ländern ausgeschlossen wurde (Bayern, Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg und Thüringen). 70 Für die Rechtsprechung des Reichsstaatsgerichtshofs eröffnete sich somit ein weites Anwendungsfeld, das nicht nur die meisten, sondern auch die wichtigsten Entscheidungen des Gerichts erfasste. 71 Sie verdienen über den konkreten Anlass und die rechtliche Argumentation hinaus auch deshalb Beachtung, weil sie dem Reichsstaatsgerichtshof, der ja in Verfassungsorganstreitigkeiten auf der Reichsebene nicht zuständig war, Gelegenheit gaben, die Konturen der bislang vernachlässigten Organstreitigkeiten näher zu bestimmen. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen dieser Verfahrensart waren jedoch so allgemein und unbestimmt formuliert, dass dies ohnehin notwendig war. Danach hatte der Reichsstaatsgerichtshof zu entscheiden (1.) über Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes (2.) auf Antrag eines der streitenden Teile. Die frühere Beschränkung der Verfassungsstreitigkeiten auf Streitigkeiten zwischen dem Landtag und der Landesregierung über
70 Vgl. die Angaben bei Huber (Fn. 2), Band VI, S. 548; Wittreck, Weimarer Landesverfassungen, 2004, S. 18 f f , 51 f. - Lippe (§ 4 Verf.) und Mecklenburg-Strelitz (Art. 22 Verf.) nahmen den Reichsstaatsgerichtshof direkt in Anspruch, Preußen hatte zwar eine verfassungsrechtliche Regelung (Art. 87 Verf.), die aber wieder mangels Ausfuhrungsgesetz lex imperfecta blieb. 71 Die Rechtsprechung findet sich vollständig in: Lammers/Simons, Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich, Band I—VI, 1929 ff. (zitiert: LS sowie Band und Seitenzahl).
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die Auslegung der Landesverfassung ließ sich damit schwerlich halten, obwohl dies bei den Verfassungsberatungen von der Regierungsseite vertreten wurde. 72 Der Reichsstaatsgerichtshof ging jedenfalls darüber hinaus und legte diese Voraussetzungen - den Streitgegenstand und die Parteifähigkeit - extensiv aus. Zu den Landesverfassungsstreitigkeiten sollten auch die Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung solcher reichsrechtlicher Verfassungsvorschriften gehören, die auf das Landesverfassungsrecht einwirken und es ergänzen.73 Noch folgenschwerer war die Ausdehnung des Parteibegriffs („streitende Teile"). Der Reichsstaatsgerichtshof rechnete dazu nicht nur den Landtag und die Landesregierung, sondern auch Teile dieser Organe, etwa die Landtagsminderheit, die Fraktionen, einzelne Abgeordnete, ferner politische Parteien bezüglich des Wahlrechts, Gemeinden, körperschaftlich verfasste Landeskirchen und sonstige Körperschaften des öffentliches Rechts, soweit sie von der Landesverfassung anerkannt und mit eigenen Rechten ausgestattet waren. 74 Diese weite Ausdehnung des Art. 19 Abs. 1 Alt. 1 WRV ist in der Literatur auf Zustimmung, aber auch auf Kritik und Ablehnung gestoßen.75 Sie hatte aber gleichwohl gewisse Auswirkungen bis zur Rechtsprechung des BVerfG und der Landesverfassungsgerichte nach 1945/49, es sei nur auf die Rechtsprechung des BVerfG zur Beteiligtenfähigkeit der politischen Parteien im Organstreitverfahren hingewiesen.76
VII. Grundgesetz Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit findet im Grundgesetz ihren Abschluss und ihre Vollendung. Die Regelungen des Grundgesetzes (Art. 93, 94, 100 GG) und des BVerfGG knüpfen - teilweise sogar wörtlich - an frühere Verfassungen und Gesetze an und beseitigen frühere Lücken und Mängel. Die Verfassungsorganstreitigkeiten auf der Bundesebene, die abstrakte und konkrete Normenkontrolle sowie die Verfassungsbeschwerde sind heute selbstverständliche Bestandteile der Verfassungsgerichtsbarkeit, was freilich nicht ausschließt, die manchmal zu komplizierten Zulässigkeitsvoraussetzungen zu vereinfachen
72
Zweigert im Verfassungsausschuss (Fn. 59), S. 114. So erstmals die Entscheidung vom 15.10.1927, LS I S. 292, 294 ff.; seitdem ständige Rechtsprechung. 74 Vgl. die Zusammenstellung und Abgrenzung in RStGH, LS IV S. 183,187 ff.; ferner die Nachweise bei Huber (Fn. 2), Band VI, S. 551 f f ; Maurer, Der verfassungsgerichtliche Rechtsschutz der Gemeinden, politischen Parteien und Kirchen, FS Starck, 2007, S. 335, 336 f. 75 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., 1933, Art. 19 73
A n m . 3 ff.; Friesenhahn 76
(Fn. 58), S. 534 ff.
BVerfGE 1, 208 (226); vgl. ferner allgemein Hoffmann, Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich in der verfassungsgerichtlichen Rezeption nach 1945, 2005, S. 10 ff. (speziell zu den Parteien S.38 ff.).
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und zu begradigen. Die früher im Kaiserreich und auch noch in der Weimarer Republik bestehende Aversion gegen eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die dem politischen Bereich nicht angemessen sei, hat sich gelegt. Die Problematik „Verfassungsgericht und Politik" besteht, ist aber beherrschbar.
Auslegungsverbote und authentische Interpretation Exemplarische Betrachtungen unter besonderer Berücksichtigung der obligatorischen Richtervorlage an die Gesetzeskommission im Preußen des ausgehenden 18. Jahrhunderts
Von Rainer Störmer I. Begriff, Inhalt und aktuelle Fragen der authentischen (Gesetzes-)Interpretation Nach dem historisch gewachsenen und bis heute verbreiteten Sprachgebrauch wird unter authentischer Interpretation die spätere Auslegung eines Gesetzes durch seinen Urheber - den Gesetzgeber - verstanden.1 Tauchen im Rahmen der Gesetzesanwendung Zweifel oder Streitfragen auf, so stellt dieser den rechtlichen Inhalt des Gesetzes entweder selbst oder durch eine von ihm bestimmte Stelle oder Kommission, der er die entsprechende Interpretationskompetenz verliehen hat, durch eine allgemeinverbindliche Erklärung fest. Erfolgt die authentische Interpretation durch ein späteres gleichstufiges Gesetz, ohne dass der Wortlaut des Ausgangsgesetzes geändert wird, spricht man auch von Legalinterpretation. 2 Die Rechtsfigur der authentischen Interpretation beruht dabei auf der Vorstellung, dass der authentisch interpretierende Rechtssetzer der Sache nach wie ein Rechtsanwender tätig wird, der den Sinn des auszulegenden Rechtssatzes ermittelt und feststellt. Er beendet die Diskussion um die zutreffende Auslegung des Gesetzes, indem er seinem Auslegungsergebnis die Wirkung dadurch sichert, dass er es mit Allgemeinverbindlichkeit ausstattet, also regelmäßig in einen Rechtssatz kleidet.3 Ein anderer Sprachgebrauch liegt demgegenüber zugrunde, wenn davon die Rede ist, dass die Verfassungsgerichte zur letztverbindlichen authentischen Interpretation der Verfassung 4 oder der EuGH zur authentischen Interpretation 1
Vgl. Droste-Lehnen, Die authentische Interpretation. Dogmengeschichtliche Entwicklung und aktuelle Bedeutung, 1990, S. 282 ff.; Grabau, Der Gesetzgeber als Norminterpret, Rechtstheorie 23 (1992), 343 (354); Jenny, Zur Lehre und Praxis der authentischen Interpretation, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht, 106 (1987), 213 (218); Meyer, Authentische Interpretation oder Rückbefolgung von Rechtsfolgen?, in: von Wulffen/Krasney (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 221, 224 m.w.N. 2
Vgl. Meyer (Fn. 1), S. 224. Grabau, Rechtstheorie 23 (1992), 343 (354); Jenny, Zeitschrift für Schweizerisches Recht, 106(1987), 213 (218). 3
4
Zum BVerfG: Böckenförde, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 39 (1981), 172 f.; Schneider, Zur authentischen Interpretation von Gesetzen, in: Bernhardt/Geck/
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des Gemeinschaftsrechts 5 befugt seien. Ob dieser Sprachgebrauch sachlich gerechtfertigt ist, erscheint zweifelhaft, 6 bedarf hier jedoch keiner vertieften Betrachtung. Denn im Folgenden soll es allein um die legale authentische Interpretation gehen sowie um weitere Maßnahmen des Gesetzgebers, die mit ihr im Zusammenhang stehen. Außer Betracht bleibt daher auch die so genannte authentische Interpretation von Verträgen durch die Vertragsparteien, wie sie etwa im Völkerrecht oder im Tarifvertragsrecht zugelassen wird, soweit die Dispositionsbefugnis der jeweiligen Parteien reicht. 7 Im Hinblick auf die hier in Rede stehende authentische Interpretation durch den Gesetzgeber sprachen renommierte Staatsrechtler allerdings schon gegen Ende der Weimarer Republik davon, dass sie „in der Staatspraxis nicht mehr gebräuchlich" sei.8 Auch von der zeitgenössischen Literatur wird diese Rechtsfigur mitunter nur noch als „interessante historische Reminiszenz" bezeichnet: „Die legale oder authentische Interpretation ist heutzutage ein Fremdkörper im herkömmlichen System der Funktionsteilung auf die verschiedenen Staatsorgane. Die ihr zugrundeliegende Zielsetzung, nämlich die verbindliche Klärung von Unsicherheiten bei der Auslegung einer Norm und die Einflussnahme des Urhebers auf das weitere Schicksal seines Erlasses, sind noch immer aktuell, werden heute aber ganz anders gelöst".9 Diese Einschätzung mag zwar eine Tendenz richtig umschreiben. Allerdings finden sich auch in der deutschen Staatspraxis des ausgehenden 20. Jahrhunderts noch genügend Beispiele, in denen sich der Gesetzgeber dieser Rechtsfigur bedient hat. Ein besonders markanter Versuch, die authentische Interpretation gesetzestechnisch fruchtbar zu machen, wurde mit dem Gesetz zur Ände-
Jaenicke/Steinberger (Hrsg.), FS Mosler, 1983, S. 849, 854. Zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit: Sodan, DVB1 2002, 645 (649): Der VerfGH sei „als Hüter der Landesverfassung zur authentischen Interpretation und Fortentwicklung des objektiven Landesverfassungsrechts berufen." 5 Vgl. etwa Doehring , DVB1 1997, 1133. 6 Kritisch zu diesem eher missverständlichen Begriffsgebrauch: Jenny , Zeitschrift für Schweizerisches Recht, 106 (1987), 213 (216); Droste-Lehnen (Fn. 1), S. 294 ff. m.w.N. Dort wird unter Hinweis auf die herrschende Rechtslehre dargelegt, dass die Verwendung des Begriffs für Gerichtsentscheidungen auch inhaltlich verfehlt sei. Diese Kritik erscheint insoweit berechtigt, als selbst mit Gesetzeskraft ausgestattete Richtersprüche (vgl. § 31 BVerfGG) Rechtsprechungsakte bleiben und daher nicht als „authentische", das heißt vom Wortsinn her „von ihrem Verfasser stammende", Interpretationen des Gesetzes bezeichnet werden sollten. 7 Vgl. zum Völkervertragsrecht: BVerfG , DVB1 2002, 116 f f , zur „authentischen Interpretation des Ν ΑΤΟ-Vertrages durch die Vertragsparteien". Weitere Nachweise hierzu sowie zum Zivil- und Arbeitsrecht bei Meyer (Fn. 1 ), S 221 f. m.w.N. 8 Thoma , in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1932, S. 222. 9 Grabau , Rechtstheorie 23 (1992), 343 (354); ähnlich Jenny , Zeitschrift für Schweizerisches Recht, 106 (1987), 213.
Auslegungsverbote und authentische Interpretation
rung des Kommunalabgabengesetzes für das Land Sachsen-Anhalt (SachsAnhKAG) vom 15.8.2000 unternommen. In dem mit diesem Änderungsgesetz neu eingefügten § 6 Abs. 6a SachsAnhKAG stellt der sachsen-anhaltische Gesetzgeber „im Wege der authentischen Gesetzesinterpretation" klar, wie eine bestimmte Stelle des SachsAnhKAG vom 15.6.1991 (§ 6 Abs. 6 SachsAnhKAG) von Anfang an gemeint und zu verstehen war. 10 Die Gründe für dieses gesetzgeberische Vorgehen lagen in der Unzufriedenheit mit der Rechtsprechung des OVG Magdeburg und der Suche nach einer Möglichkeit, die „richtige" Gesetzesinterpretation rückwirkend zur Geltung zu bringen. In Sachsen-Anhalt wie auch in anderen neuen Bundesländern waren in den neunziger Jahren zahlreiche Ausbaumaßnahmen ohne oder lediglich mit einer unwirksamen Satzung vorgenommen worden. Das OVG Magdeburg hatte unter anderem mit Beschluss vom 4.11.1999 zur Regelung des § 6 Abs. 6 SachsAnhKAG entschieden, dass Straßenausbaubeiträge für Maßnahmen vor dem 22.4.1999 auch dann erhoben werden könnten, wenn bis zum Zeitpunkt der Beendigung der beitragsfähigen Maßnahme eine Beitragssatzung noch nicht vorlag. 11 Praktisch führte dies dazu, dass die Kommunen die betroffenen Grundstückseigentümer für die in den neunziger Jahren verwirklichten Baumaßnahmen noch heranziehen konnten, wenn sie eine wirksame Satzung nachschoben. Der dies gestattenden Rechtsprechung des OVG wurde vorgeworfen, sie habe in der Bevölkerung „große Bestürzung und Unruhe verursacht" und in den Verwaltungen eine Diskussion um die richtige Auslegung des Gesetzes hervorgerufen. 12
10 Die Vorschrift des § 6 Abs. 6a SachsAnhKAG vom 15.8.2000 hatte folgenden Wortlaut: „Im Wege der authentischen Interpretation stellt der Gesetzgeber klar, dass bereits seit In-Kraft-Treten des Kommunalabgabengesetzes am 15.6.1991 eine Beitragspflicht immer nur dann entstand, wenn spätestens zum Zeitpunkt der Beendigung der beitragsauslösenden Maßnahme eine Beitragssatzung in Kraft getreten war. Seit dem 22.4.1999 muss für Verkehrsanlagen schon vor der Entscheidung über die beitragsauslösende Maßnahme eine Satzung vorliegen. In bewusster Abgrenzung auf leitungsgebundene Einrichtungen traf der Gesetzgeber mit der Novellierung des Gesetzes über die kommunale Gemeinschaftsarbeit sowie des Kommunalabgabengesetzes vom 6.10.1997 eine nicht als allgemeiner Grundsatz zu verstehende Ausnahmeregelung, die nur im leitungsgebundenen Bereich die sachliche Beitragspflicht frühestens mit In-Kraft-Treten der Beitragssatzung entstehen ließ." 11 OVG Magdeburg, L K V 2000, 314, m.w.N. zu seiner und der Rechtsprechung anderer Obergerichte. 12 Zu diesem und weiteren Motiven des „Gesetzgebers" für die authentische Interpretation vgl. Mietzner, L K V 2001, 20. Dabei bliebe allerdings noch zu klären, welcher Wille und welche Motivation sich hier als solche des „Gesetzgebers" im Einzelnen durchgesetzt haben. Oft verbirgt sich hinter der Bezeichnung „Gesetzgeber" eine Verquickung der die gesetzliche Regelung vorbereitenden Ministerialverwaltung mit einer zum jeweiligen Zeitpunkt am Gesetzgebungsverfahren beteiligten (politischen) Mehrheit oder einzelner ihrer mit der Thematik besonders befassten Abgeordneten.
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Zur „Bereinigung" der Rechtsprechung erschien jedoch eine materiell-rechtliche Gesetzesänderung mit Rückwirkung zu risikobehaftet. Eine solche wäre so wurde befurchtet - als rückwirkende Änderung der bisherigen Rechtslage mit Beitragserlass aufgefasst worden und hätte gegebenenfalls Ersatzansprüche der Kommunen gegen das Land nach sich ziehen können. Deshalb sei der Weg einer „gesetzlichen Klarstellung" durch authentische Interpretation des Gesetzgebers gewählt und sowohl im Gesetzestext als auch in der Begründung eine klarstellende Auslegung zu der strittigen Vorschrift nachgeschoben worden. 13 Der sachsen-anhaltische Gesetzgeber ließ sich bei der Schaffung des § 6 Abs. 6a SachsAnhKAG offenbar von der Vorstellung leiten, dass es im Wege der authentischen Interpretation ohne Einschränkungen möglich sei, auch für in der Vergangenheit liegende, abgeschlossene Sachverhalte die Rechtslage abschließend und allgemeinverbindlich festzustellen, um eine ihm missliebige und fur unzutreffend gehaltene Gesetzesauslegung durch das OVG wirkungs- und gegenstandslos zu machen.14 Das Motiv des Gesetzgebers, die Rechtsprechung rückwirkend zu korrigieren, ist nicht untypisch für die historische Entwicklung der authentischen Interpretation. 15 Geschichte und Gegenwart sind durch das Spannungsverhältnis des Gesetzgebers als des Normerzeugers zum Anwender der Rechtsnorm und dabei insbesondere zur Rechtsprechung gekennzeichnet. Die authentische Interpretation ist dabei eine Form der Beschränkung richterlicher Macht. Die Auslegung wird nicht den Richtern überlassen, sondern in bestimmten Fällen vom Gesetzgeber selbst vorgenommen. Methodisch eng verbunden mit der authentischen Interpretation sind die noch weiter in die richterliche Sphäre eingreifenden Auslegungs- und Interpretationsverbote, von denen die Geschichte ebenfalls viele Formen hervorgebracht hat. Offenbar war es ein Misstrauen gegenüber Richtern und Juristen, das im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Gesetzgeber dazu bewog, Gesetzen Bestimmungen beizufügen, die es untersagten, das jeweilige Gesetz auszulegen und zu kommentieren. Derartige, zum Teil auch mit Sanktionen verbundene Kommentier· und Auslegungsverbote stellten den Versuch dar, die Juristen - insbeson-
13
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Mietzner , L K V 2001, 20.
Die Vorschrift des § 6 Abs. 6a SachsAnhKAG war allerdings später Gegenstand einer konkreten Normenkontrolle vor dem SachsAnhLVerfG und wurde von diesem fiir nichtig erklärt: SachsAnhLVerfG, Urteil vom 15.1.2002 - Az.: LVG 3/01, LVG 5/01 - , LVGE 13, 343 ff. Siehe dazu im Einzelnen noch unten IV. 15 So heißt es bereits bei Dernburg , Pandekten, Band 1, Allgemeiner Teil und Sachenrecht, 7. Aufl., 1902, S. 81 f., dass die legale authentische Interpretation in der Regel erlassen werde, um einer Rechtsprechung gegenüber, welche dem Gesetzgeber missfallt, eine andere Auffassung zur Geltung zu bringen, sie in die Bahnen zu zwingen, die er fiir die richtigen erachtet oder wenigstens Streitigkeiten in der Rechtsprechung zu schlichten.
Auslegungsverbote und authentische Interpretation
dere die Richter - möglichst eng an die positive Rechtsordnung zu binden. Vielfach wurde es dabei den Gerichten auch zur Pflicht gemacht, im Falle von Unklarheiten den Gesetzgeber oder eine von ihm beauftragte Kommission selbst zu befragen, also gewissermaßen um eine authentische Interpretation nachzusuchen.
II. Herausragende historische Beispiele der authentischen Interpretation und der Auslegungsverbote Vorschriften im zuletzt genannten Sinne, die sich als historische Vorbilder für spätere Auslegungs- und Kommentierungsverbote erweisen sollten, erließ bereits der oströmische Kaiser Justinian (527-565). Im Anschluss an die auf sein Geheiß geschaffene große Kodifikation des römischen Rechts im Corpus Juris Civilis versuchte er, die Einheitlichkeit und Klarheit seiner Gesetzgebung sicherzustellen. Zunächst ordnete er an, dass das Juristenrecht künftig nur noch in der von der Gesetzeskommission angenommenen Fassung Geltung haben solle, und untersagte, Vergleiche mit dem alten Recht anzustellen.16 Insbesondere verbot er im Jahre 533 unter Androhung von strenger Strafe die Abfassung von Kommentaren und Kritiken zu dem Gesetzeswerk und ließ lediglich Übersetzungen ins Griechische sowie die Erstellung von Indices (Inhaltsangaben) zu. Bei Verstößen gegen das Kommentierverbot sollten die jeweiligen Schriften eingezogen und vernichtet sowie die Verfasser wegen crimen falsi mit Deportation und Beschlagnahme ihres Vermögens bestraft werden. 17 Zugleich behielt sich der Kaiser vor, etwaige Auslegungszweifel selbst zu beantworten, und ordnete an, dass die Richter bei Zweifeln über die Bedeutung des Gesetzestextes die Streitfrage bei Hofe vorzulegen hätten.18 Das Recht der Interpretation sollte
16 Becker, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, 1978, S. 963, unter teilweiser Zitierung des lateinischen Wortlauts der Regelungen. 17
Vgl. Becker (Fn. 16), S. 963 f., unter Hinweis darauf, dass sich das Verbot nur auf die Digesten bezog und verhindern sollte, dass „die knappe Klarheit des Gesetzestextes durch wortreiche Kommentare verwirrt werde". 18 Codex Just. 1, 17, 21 ( § 2 1 = so genannte Constitutio Tanta , das Einfuhrungsgesetz zu den Digesten, das mit dem Wort Tanta beginnt), zitiert nach Liebs, Römisches Recht, 1975, S. 101 f.: „Si quid vero, ut supra dictum est, ambiguum fuerit visum, hoc ad imperiale culmen per iudices referatur et ex auctoritate Augusta manifestetur, cui soli concessum est leges et condere et interpretari...". In der deutschen Übersetzung bei Liebs, a.a.O., S. 102: „Sollte jedoch etwas, wie oben gesagt, als zweideutig erachtet werden, dann soll es durch die Richter der kaiserlichen Majestät vorgetragen und durch die allerhöchste Autorität offenbart werden, der es allein gestattet ist, die Gesetze zu erlassen und auszulegen
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damit den Juristen (prudentes) genommen und ausschließlich der „imperialis podestas" zugewiesen werden. 19 Als Gründe für das justinianische Kommentier- und Interpretationsverbot, das aus heutiger Sicht auch als Verbot einer freien, praktisch orientierten Rechtswissenschaft und zugespitzt als „geistige Diktatur" bezeichnet wird, 20 werden auch der Stolz auf das Gesetzgebungswerk genannt und die Sorge davor, das Erreichte könnte verwässert werden. Da sich Justinian als alleiniger Gesetzgeber und Gesetzesausleger sah, gestaltete er neben dem Kommentierund Interpretationsverbot die authentische Interpretation aus und verordnete, dass seine Gesetzesauslegung zugleich Gesetzesgeltung habe und unbezweifelbare Richtigkeit beanspruche. In einer Verordnung aus dem Jahre 536 legte er zudem die rückwirkende Kraft einer bereits ergangenen authentischen Interpretation ausdrücklich fest. 21 Während sich die Pflicht des Richters, Zweifel über den Inhalt und die Auslegung einer Vorschrift durch Anfrage beim Herrscher lösen zu lassen, als zu schwerfallig erwies und abgeschafft wurde, blieb die kaiserliche Befugnis, von sich aus authentische Interpretationen vorzunehmen, als feststehende Lehre des Römischen Rechts bestehen.22 Änderungs- und Interpretationsvorbehalte finden sich später auch in verschiedenen, wenn auch abgeschwächteren Formen in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte.23 Besonders starke Ausprägungen erlangen sie jedoch im Zeitalter des (aufgeklärten) Absolutismus, und zwar in so unterschiedlichen Staaten wie dem revolutionären Frankreich, dem Josefinischen Österreich und dem Preußen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Mit Vorlagever-
19 Vgl. Müller, Archiv für Katholisches Kirchenrecht 164 (1995), 353 (356), der darauf hinweist, dass man erst von diesem Zeitpunkt von einer „authentischen" Interpretation sprechen kann, das heißt von einer Interpretation, die vom Urheber des Gesetzes selbst ausgeht. Hintergrund ist, dass man zuvor der Interpretation (interpretatio legum) im römischen Recht - anders als heute - die Funktion einer Rechtsquelle beimaß, die man als „Juristenrecht" charakterisieren kann. Sie bezeichnete eine Art Rechtsfindung, die von den ursprünglich nur zu einem geringen Teil als Gesetzen fixierten Quellen des römischen Rechts insgesamt ausging und mit der (etwa im Wege der Analogie) neues Recht geschaffen werden konnte. 20
Liebs (Fn. 18), S. 102 f., der hinzufügt, dass Justinians (Kommentierungs-)Verbot nicht verhindern konnte, dass im Rechtsunterricht auf der Grundlage der neuen Gesetzesbücher abgehaltene Lehrvorträge nachgeschrieben und verbreitet wurden, so dass mehrere griechische Kommentare gerade aus der Zeit Justinians erhalten sind. 21 Zu den Einzelheiten sowie zum Wortlaut der Verordnungen vgl. Droste-Lehnen (Fn. 1), S. 36 f. m.w.N. 22 Droste-Lehnen (Fn. 1), S. 39, mit weiteren Literatur- und Quellennachweisen. 23 Vgl. Becker (Fn. 16), S. 964 f.; Grabau, Rechtstheorie 23 (1992), 343 (344 f.), jeweils m.w.N. und einem Überblick über die mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesetzgebungsgeschichte. Ferner Droste-Lehnen (Fn. 1), S. 38 ff., zur Entwicklung und zu den Rechtsquellen der authentischen Interpretation vom Römischen Recht bis zur Neuzeit.
Auslegungsverbote und authentische Interpretation
pflichtungen behalten sich die absoluten Herrscher für Zweifelsfälle das Recht vor, als oberste Gesetzgeber und zugleich oberste Richter selbst oder durch von ihnen Beauftragte im Wege der authentischen Interpretation einzugreifen. Die Lücke, die durch Einschränkungen oder Verbote der Gesetzesinterpretation entsteht, soll durch das Gebot, in Zweifelsfällen eine authentische Interpretation des Gesetzes durch den Herrscher herbeizuführen, ausgeglichen werden. In Österreich heißt es dementsprechend in § 437 der Allgemeinen Gerichtsordnung vom 1.5.1781: „Sollte ... über den Verstand des Gesetzes ein gegründeter Zweifel vorfallen, so wird solcher nach Hof anzuzeigen und die Entschließung darüber einzuholen sein." 24 Ebenso enthielten die §§24 und 26 des (Josefinischen) Allgemeinen Österreichischen Gesetzbuchs vom 1.11.1786 Vorschriften, welche die Möglichkeiten richterlicher Tätigkeit einschränkten und eine Verpflichtung zur Vorlage in Zweifelsfällen vorsahen. So heißt es in § 26 dieses Gesetzbuchs: „Wenn dem Richter ein Zweifel vorfiele: ob ein vorkommender Fall in dem Gesetze begriffen sey, oder nicht? wenn ihm das Gesetz dunkel schiene, oder falls besondere, und sehr erhebliche Bedenken der Beobachtung desselben entgegenstünden, soll die Belehrung allezeit von dem Landesfursten gesuchet werden." 25 Allerdings wurde die Anfrageverpflichtung des Richters bei Hofe bereits nach einigen Jahren wieder abgeschafft und die Zuständigkeit der Gerichte für die Auslegung der Gesetze anerkannt. 26
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Zitiert bei Droste-Lehnen (Fn. 1), S. 51 Fn. 3, unter Hinweis auf den Text in: Joseph des Zweyten Römischen Kaisers Gesetze und Verfassungen im Justiz-Fache (JGS), Jahrgang 1780-1784, S. 78. 25 Vgl. dazu Schumann, Das Rechtsverweigerungsverbot, ZZP 81 (1968), 79 (83); sowie Droste-Lehnen (Fn. 1), S. 51 Fn. 3, unter Hinweis auf den Text in: Joseph des Zweyten Römischen Kaisers Gesetze und Verfassungen im Justiz-Fache (JGS), Jahrgang 1785-1786, S. 77. 26 Schumann (Fn. 25), S. 83, weist darauf hin, dass die bezeichnete Regelung im Josefinischen Allgemeinen Österreichischen Gesetzbuch von 1786 bereits durch Verordnung vom 22.2.1791 mit der Begründung aufgehoben wurde, dass „die wohlgemeinten Absichten der Gesetzgebung ... in der Ausübung nicht durchaus erreicht, und über einige Punkte dieser Gesetze ... in vielfältiger Weise Klage angebracht worden" sei. DrosteLehnen (Fn. 1), S. 60 f., verweist auf die vollständige Beseitigung der richterlichen Anfragepflicht durch das so genannte Westgalizische Gesetzbuch, das mit Patent vom 13.2.1797 erlassen worden ist. Dieses Gesetzbuch, das mit kleinen Abweichungen dem Urentwurf des Österreichischen ABGB entsprach, legte in § 19 fest, dass die Gerichte an Stelle der Anfrage bei Hof die Gesetze selbst auszulegen haben: „Findet aber der Richter einen Rechtsfall durch die Worte des Gesetzes nicht geradezu entschieden, so muss er in seinem Urteile auf den natürlichen Sinn des Gesetzes, er muss ferner auf die Gründe anderer damit verwandten Gesetze, und auf ähnliche im Gesetze bestimmt entschiedene Fälle Rücksicht nehmen: bleibt ihm der Rechtsfall nach allem diesem noch zweifelhaft, so muss er ihn mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten, und reiflich erwogenen Sachumstände nach allgemeinen und natürlichen Rechtgrundsätzen entscheiden" (Text
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Für das beschriebene Verfahren, das zur Ermittlung des gesetzgeberischen Willens angewandt wird, das heißt für die Verpflichtung der Gerichte zur Einholung einer verbindlichen Auskunft des Gesetzgebers, bildete sich in Frankreich eine bis heute weithin bekannte Bezeichnung heraus: der référé législatif. In diesem Sinne hatte bereits Ludwig XIV. in einer Ordonnance von 1667 angeordnet, dass sich die Richter bei Zweifelsfragen jeder Interpretation zu enthalten und, da dieses Recht allein dem König zustehe, diesem die Sache vorzulegen hätten.27 Während die theoretische Grundlage des référé législatif im Absolutismus noch die so genannte Willenstheorie war, das heißt die Überzeugung, dass es einen dem Gesetz zugrunde liegenden Willen des Gesetzgebers - in Gestalt des tatsächlichen Willens des Monarchen - gäbe und die Gerichte diesen Willen bei der Entscheidung des konkreten Falles umzusetzen hätten, änderte sich dies während der französischen Revolution. 28 Im revolutionären Frankreich wollte man unter Rekurs auf den Gedanken der Gewaltenteilung die Befugnisse des Gesetzgebers scharf von denen der Gerichte, die sich auf die reine Rechtsanwendung beschränken sollten, scheiden. Die verbindliche Auslegung zweifelhafter Gesetzesstellen wurde genauso als Eingriff in die legislativen Kompetenzen begriffen wie die richterliche Lückenergänzung. Das absolutistische Verbot der Auslegung und Ergänzung von Gesetzen durch die Gerichte wurde auf dieser neuen Grundlage wiederhergestellt und das Rechtsinstitut des référé législatif im August 1790 gesetzlich eingeführt. 29
in: Seiner Majestät Kaisers Franz Gesetze und Verfassungen im Justiz-Fache Nr. 337, S.
261).
27 Die „ ordonnance civile touchant la reformation de la justice' 4 von 1667, die sich nicht nur auf das konkrete Gesetz bezog, sondern für alle staatlichen Rechtsakte (Edikte, Deklarationen) galt, lautete: „Si dans les jugements des procès qui seront pendants en nos cours de parlement et autres nos cours, il survient aucun doute ou difficulté sur l'exécution de quelques articles de nos ordonnances, édits, déclarations et lettrespatentes, nous leur défendons de les interpreter, mais voulons qu'en ce cas elles aient à se rétirer par devers nous, pour apprendre ce qui sera notre intention" (Tit. I. art. 7). Vgl. Mohnhaupt , Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime, in : Ius Commune 4 (1973), 188 (221); Droste-Lehnen (Fn. 1), S. 50 Fn. 3; Grabau , Rechtstheorie 23 (1992), 343 (345). 28 Lukas , Zur Lehre vom Willen des Gesetzgebers, in: Festgabe fur Laband, 1908, S. 399,414. 29 So durch die Loi sur l'organisation judicaire vom 16./24.8.1790, tit. II, art. 12. Vgl. Becker (Fn. 16), S. 970; Schumann (Fn. 25), S. 81 f., der auf die zwei Arten des référé législatif hinweist: So war bei zweifelhaftem Wortlaut der référé facultatif und bei offensichtlichen, durch divergierenden Gerichtsgebrauch verursachten Widersprüchen in der Anwendung des Gesetzes der référé obligatoire gegeben. Siehe dazu im Einzelnen: Lukas (Fn. 28), S. 416 m.w.N.
Auslegungsverbote und authentische Interpretation
Auch der référé législatif erwies sich jedoch in der Praxis schon recht bald als nicht durchführbar. 30 Er wurde durch den im März 1803 wirksam werdenden Code Civil (Code Napoléon) in der Sache beseitigt. Dessen Art. 4 lautete: „Le juge qui refuserà de juger sous prétexte du silence, de l'obscurité ou de l'insuffisance de la loi, pourra ètre poursuivi comme coupable de déni de justice." Diese Vorschrift wies den Richter an, auch bei Schweigen oder Unklarheit des Gesetzes zu entscheiden und enthielt damit zugleich das Rechtsverweigerungsverbot fur die Gerichte. 31 Das Schicksal des Scheiterns sollte schließlich auch die obligatorische Richtervorlage an die Gesetzeskommission in Preußen erleiden. Da ihre Entwicklung sowohl für die deutsche Rechtsgeschichte bedeutsam ist als auch einen der herausragenden neuzeitlichen Versuche darstellt, Kommentier- und Auslegungsverbote sowie die authentische Interpretation gesetzlich zu normieren, soll sie im Folgenden einer genaueren Betrachtung unterworfen werden.
III. Entwicklung und Scheitern der obligatorischen Richtervorlage im Preußen des ausgehenden 18. Jahrhunderts Im Jahre 1748 erschien das große aufklärerische Werk Montesquieus „De l'esprit des Lois". Von diesem Werk angeregt und inspiriert verfasste Friedrich II. von Preußen ein Jahr später seine Abhandlung über die philosophischen Grundlagen der Gesetzgebung: die „Dissertation sur les raisons d'établir ou d'abroger les lois" vom 1.12.1749. In diesen Gedanken über die Gründe zum Erlassen oder Ändern von Gesetzen übernahm er viele Forderungen Montesquieus und zeichnete das Idealbild eines Gesetzbuchs. Er betrachtete es als ein Meisterstück des menschlichen Verstandes im Bereich der Regierungskunst, ein vollkommenes Gesetzbuch zu schaffen. Es ging ihm dabei nicht nur um das Gesetzeswerk als solches, sondern um die Gesetzgebungskunst schlechthin.32 Ein solches Gesetzbuch sollte alles voraussehen, alles in Einklang bringen können und alle Unzuträglichkeiten verhindern. 33 Es sollte dem Richter fur jeden von
30
Schumann (Fn. 25), S. 82.
31
Vgl. dazu Lukas (Fn. 28), S. 418; Droste-Lehnen (Fn. 1), S. 61. Hattenhauer, Das A L R im Widerstreit der Politik, in: Merten/Schreckenberger (Hrsg.), Kodifikation gestern und heute. Zum 200. Geburtstag des A L R für die Preußischen Staaten, 1995, S. 31. 32
33 Vgl. Hattenhauer:; Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, Berlin 1970, S. 11 f.; Volz, Friedrich II. von Preußen, Dissertation sur les raisons d'établir ou d'abroger les lois, in: Die Werke Friedrich des Großen, 8. Band, 1913, S. 32.
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ihm zu entscheidenden Fall eine konkrete Entscheidungsanweisung geben und ihm keinen Spielraum für eine Auslegung einräumen. 34 Als tatsächlicher Hintergrund ist zu berücksichtigen, dass es um die Verhältnisse in der preußischen Justiz zur damaligen Zeit nicht eben gut bestellt war und sich das Richtertum alles andere als unabhängig und tüchtig darstellte. Die Umstände werden dahin beschrieben, dass eine Zahlung in die Rekrutenkasse oft die fachliche Ausbildung ersetzt habe. Umfangreiche Nebentätigkeiten sollten die mäßige Besoldung des Richteramts bessern. Den Gerichten hätten Zuständigkeits- und Verfahrensregeln sowie ein einheitlicher Instanzenzug gefehlt und die Prozessverschleppung habe zur Tagesordnung gehört. 35 Zudem mangelte es an einheitlichen Gesetzeswerken, da in den preußischen Provinzen wie auch in anderen deutschen (Klein-)Staaten seit alters her Provinzialrechte, Stadtrechte, Observanzen und Gerichtsgebrauch nebeneinander existierten und ergänzend das Kanonische und insbesondere das Römische Recht herangezogen und etwa zur Ausfüllung von Gesetzeslücken genutzt wurden. Darüber hinaus wurde die Rechtsanwendung durch zahlreiche landesherrliche Verfügungen erschwert. 36 Im Hinblick auf die Rechtspraxis wurde beklagt, es habe „ein jeder Richter, ja ein jeder Privat-Doctor sich die Freyheit genommen, die in lauter Excerptis bestehenden Gesetze nach ihrem Gefallen unter dem Praetext eines oftmals bey den Haaren hergezogenen argumenti legis, zu expliciren, zu limitiren oder zu amplificiren: So ist fast kein Gesetz in dem Corpore iuris Romani vorhanden, welches nicht pro et contra disputiret und durch dergleichen eigenmächtige Interpretationen der Rechtslehrer auf Schrauben" gesetzt worden sei. Das habe dazu geführt, dass „die Richter selbst nicht sowol nach den Gesetzen und rationibus legis, die Urthel abzufassen, sondern nach ihrem Gefallen diesem oder jenem Rechtsgelahrten beyzupflichten, und zu dem Ende eine Menge von diesen Doctoren zu citiren" pflegen. 37
34 Allerdings war Friedrich II. wohl weniger zuversichtlich als Montesquieu, dass sich sein Ideal in der Rechtspraxis umsetzen ließe. Denn in seiner Dissertation heißt es in diesem Zusammenhang, dass das Vollkommene außerhalb der menschlichen Sphäre liege. Hierauf weist Hattenhauer (Fn. 32), S. 32, unter Zitierung des Originaltextes („... mais les choses parfaites ne sont pas du ressort de l'humanité") zu Recht hin und bezweifelt, dass eine große vernunftrechtliche Kodifikation je in der rechtspolitischen Absicht des Preußenkönigs gelegen habe. Diesem sei es auf dem Gebiet der Rechtspflege um den Kampf gegen die Prozessverschleppung der Advokaten und - so ein oft von ihm bemühtes Wort - den „Subtilitätenkram" der Richter gegangen. 35 Droste-Lehnen (Fn. 1), S. 46, unter Verweis auf den Bericht des Etat-Ministers Samuel von Cocceji vom 9.5.1746, nebst einem unvorgreiflichen Plan wegen Verbesserung der Justiz und der Erläuterung dieses Plans, in: Kamptz, Jahrbuch Band 59 (1842), 73 (75). 36 Droste-Lehnen (Fn. 1), S. 46 unter Hinweis auf von Cocceji (Fn. 35), S. 73, 83. 37 So der spätere § 4 d des Eingangs zum Preußischen Allgemeinen Landrecht, wiedergegeben bei Droste-Lehnen (Fn. 1), S. 46 f.
Auslegungsverbote und authentische Interpretation
Alsbald nach seinem Regierungsantritt im Jahre 1746 hatte Friedrich II. die Schaffung eines Gesetzbuchs in Auftrag gegeben. Sein damaliger Justizchef, Freiherr Samuel von Cocceji, erarbeitete in den Jahren 1749 bis 1753 den Enwurf eines deutschen allgemeinen Landrechts (Codex Iuris Fridericiani). 38 Nachdem von Cocceji bereits 1746 die Akten Versendung der Gerichte an die Fakultäten verboten hatte, schlug er 1749 verschiedene Maßregeln vor, wie das neue Gesetzbuch vor gewohnheits- oder richterrechtlicher Fortbildung zu schützen sei und verlangte, dass künftig nur das Landrecht als Gesetz gelten dürfe; römisches Recht oder die „Autorität eines oder des anderen Rechtsgelahrten" sollte weder von den Advokaten noch von den Gerichten herangezogen werden dürfen. 39 Den Intentionen Friedrichs II. entsprechend knüpfte er damit sinngemäß an das justinianische Kommentierungsverbot an und untersagte ausdrücklich auch die wissenschaftliche Bearbeitung des Gesetzes. Wörtlich heißt es dazu in der Vorrede des Projekts: „... und damit die privati, insonderheit aber die professores keine Gelegenheit haben mögen, dieses Land-Recht durch eigenmächtige Interpretation zu corrumpiren, so haben Se. Kgl. Majestät bei schwerer Strafe verboten, dass niemand, wer er auch sey, sich unterstellen solle, einen Commentarium über das ganze Land-Recht oder einen Theil desselben zu schreiben. Daher die professore bloß der Jugend das systema bekannt machen und derselben die prinzipia generalia deutlich vortragen sollen." 40
Von Cocceji starb jedoch noch vor der Vollendung seines Werkes, dessen dritter Teil zudem bei einer Versendung der Handschrift verloren gegangen war. 41 Sein schon weit gediehener Entwurf wurde nur teilweise (bezüglich des Ehe- und Vormundschaftsrechts) in einigen Provinzen Preußens Gesetz und erlangte ansonsten keine Rechtsgeltung.42 Die vorgesehene strenge richterliche Bindung an das Gesetz zeitigte in den Folgejahren kaum Wirkung. Nachdem die Bemühungen um eine Reformierung des Justizwesens während und als Folge des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) ins Stocken geraten waren, wandte sich Friedrich II. ihnen ab dem Jahre 1779 wieder entschiedener zu. Auslöser hierfür und zugleich Anlass für das spätere Entstehen der preußischen Kodifika-
38
Vgl. Fischer, Lehrbuch des preussischen Privatrechts, 1887, S. 26; Hattenhauer (Fn. 32), S. 32. 39 Projekt des Corp. Juris Fridericiani, I. 1.2 § 5, wiedergegeben bei Becker (Fn. 16), S. 967. 40 Zitiert bei Fischer (Fn. 38), S. 26, der hierzu treffend bemerkt: „Die Auslegung und wissenschaftliche Befassung des Rechts in Theorie und Praxis hielt man für ein Übel, weil man sie als die Ursache der Zweifel und Unklarheiten ansah, welche durch ihre Tätigkeit aufgedeckt wurden." Dass das Kommentierverbot auf die eigene Meinung von Coccejis zurückging, beweifelt Schneider (Fn. 4), S. 850, weil von Cocceji (vor seinem Eintritt in die Justiz) selbst Professor der Rechte war. 41 Conrad, Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates, 1965, S. 1. 42
Hattenhauer
(Fn. 33), S. 13.
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tionen war der in diesem Jahr sich ereignende Müller-Arnold-Prozess. 43 Im Verlauf dieses Prozesses meinte der König, einen Fall von richterlicher Willkür erkannt zu haben und intervenierte deshalb mit einem Machtspruch. 44 Er selbst verfasste dem Müller ein für diesen günstiges Urteil und ordnete die Inhaftierung und Amtsenthebung mehrerer hoher Richter und die Entlassung seines Großkanzlers Freiherr von Fürst und Kupferberg an. An dessen Stelle trat der damalige schlesische Justizminister Graf von Carmer, der sich bereits als erfolgreicher Reformer einen Namen gemacht hatte.45 In Zusammenarbeit mit Carl Gottlieb Svarez und Ernst Ferdinand Klein, zwei hervorragenden juristischen Köpfen ihrer Zeit, die von Carmer als Mitarbeiter herangezogen hatte, wurden die Reformarbeiten im Jahre 1780 wieder aufgenommen 4 6 Einen Grundstein der Reform und die Grundlage der späteren Kodifikation bildete die von Svarez entworfene „Allerhöchste Königliche Cabinetts=Ordre die Verbesserung des Justiz=Wesens betreffend" vom 14.4.1780.47 Hinzu kam die „Cabinetts=Ordre" vom 27.7.1780.48 In diesen Anweisungen des Königs kehrten Formulierungen von Zielen wieder, die er bereits 1749 in seiner Dissertation verfolgt hatte. Insbesondere sollte das zu schaffende Gesetzbuch aus sich selbst sprechen. Diese Forderung wurde wiederum durch ein Kommentierungsverbot begleitet. Als Vorbild diente diesmal ausdrücklich das Corpus Iuris Kaiser Justinians. Die Reformer waren sich indes bewusst, dass es ein vollkomme-
43
Siehe zu diesem rechtsgeschichtlich berühmten Prozess des Wassermüllers Arnold gegen seinen Grundherrn, den Grafen von Schmettau, der den Müller wegen rückständiger Mühlenpachtzinsen von der Mühle vertrieben hatte, informativ: Frotscher/Pieroth , Verfassungsgeschichte, 1997, Rn. 131 ff. 44
Vgl. hierzu Frotscher/Pieroth (Fn. 43), Rn. 129, welche den Machtspruch treffend erläutern als die Befugnis des Monarchen, krafi der ihm zustehenden höchsten Gewalt in jedes Gerichtsverfahren einzugreifen, den Richtern Anweisungen zu erteilen oder selbst die Entscheidung zu fällen. Diese Befugnis ergibt sich daraus, dass im absolutistischen Staat dem Landesherrn die umfassende höchste Gewalt zugesprochen wurde. Diese beinhaltete „neben dem Majestätsrecht der Gesetzgebung auch das Majestätsrecht der höchsten Gerichtsbarkeit" (Conrad , Richter und Gesetz im Übergang vom Absolutismus zum Verfassungsstaat, 1971, S. 24). Vgl. zur Praxis der Rechts- und Machtsprüche ferner Merten , DVB1 1981, 701 (702 f.): der Landesherr als „oberster Gesetzgeber, oberster Administrator und oberster Gerichtsherr in einer Person". 45
Hattenhauer
(Fn. 33), S. 13 f.
46
Frotscher/Pieroth (Fn. 43), Rn. 140, die daraufhinweisen, dass die Genannten in langjähriger intensiver Kooperation zunächst das Allgemeine Gesetzbuch für die Preußischen Staaten und, nachdem dies nicht in Kraft treten konnte, das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) schufen. 47
Abgedruckt bei Rabe, Sammlung Preussischer Gesetze und Verordnungen, 1816, Band 1, Abteilung 6, S. 436 ff. 48
32).
Abgedruckt bei Rabe (Fn. 47), S. 506 ff., sowie als Anhang bei Hattenhauer (Fn.
Auslegungsverbote und authentische Interpretation
nes Gesetzbuch praktisch nicht geben konnte. 49 Die Beschränkung des Richters auf die Rolle eines reinen Gesetzesanwenders versuchte man hingegen mit neuen Instrumenten, namentlich der Einrichtung einer Gesetzeskommission, zu erreichen. Am Ende der genannten Kabinettsordre Friedrichs II. vom 14.4.1780 heißt es dazu: „Ich werde nicht gestatten, daß irgend ein Richter, Kollegium oder Etatsminister die Gesetze zu interpretiren, auzudehnen oder einzuschränken, viel weniger neue Gesetze zu geben sich einfallen lasse, sondern es muß, wenn sich in der Folge Zweifel oder Mängel an den Gesetzen oder in der Prozessordnung finden, der Gesetzeskommission davon Nachricht gegeben, von dieser die Sache mit Rücksicht auf den Sinn und Absicht der übrigen Gesetze, genau in Erwägung gezogen, und wenn eine wirkliche Veränderung oder Zusatz erforderlich wäre, Mir gutachterlicher Bericht darüber erstattet werden."
Durch königliches Patent vom 28.5.178150 erhielt die Gesetzeskommission ihre rechtliche Grundlage. 51 Ihre Aufgabe war es einerseits, neue Gesetze vorzubereiten, und andererseits, in streitigen Rechtsfragen eine authentische Interpretation zu geben. Dabei bestimmte das Patent, dass Entscheidungen der Gesetzeskommission bezüglich solcher Rechtsanfragen, die nach bereits bestehenden Gesetzen oder einer unzweifelhaften Analogie derselben entschieden werden konnten, ohne weitere königliche Sanktion Gesetzeskraft erlangten (§ 11 des Patents). Sobald es aber darum ging, den Sinn eines „dunklen Gesetzes" zu erläutern, oder es auf den Erlass eines neuen oder um die Abänderung eines bestehenden Gesetzes ankam, hatte die Gesetzeskommission kein verbindliches Entscheidungsrecht, sondern nur die Pflicht, dem König gutachterlich und beratend zur Seite zu stehen (§ 12 des Patents). Der Inhalt dieses Patents findet sich teilweise auch in dem ersten Entwurf zum Allgemeinen Gesetzbuch (AGB) wieder, welcher in den Jahren 1784-1788 erschien und der Öffentlichkeit zur Begutachtung vorgestellt wurde. Die §§ 34-35 der Einleitung des Entwurfs zum AGB lauteten:52 (§ 34) „Der Richter darf bei Entscheidung streitiger Fälle den Gesetzen keinen Sinn beilegen, der nicht durch die Worte, den Zusammenhang und den Gegenstand des Gesetzes deutlich bestimmt ist."
49 So wird Klein bei Hattenhauer (Fn. 33), S. 36, mit den Worten zitiert: „Ein Gesetzbuch kann nie so beschaffen sein, dass es auch nur ein Menschenalter hindurch unverändert bleiben könnte." 50 Text in der so genannten Edictensammlung (insgesamt 13 Bände von 1731-1806): Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium, 7. Band, Spalte 1606. 51 Siehe dazu: Conrad, Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates, 1965, S. 3; von Rönne, Ergänzungen und Erläuterungen des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten, 7. Aufl., 1885, S. 69. 52 Wiedergegeben bei von Rönne (Fn. 51), S. 69, sowie bei Hübner, Kodifikation und Entscheidungsfreiheit des Richters in der Geschichte des Privatrechts, 1980, S. 31 Fn. 131.
80
Rainer S t r e r (§ 35) „Findet der Richter den Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so muss er vor Abfassung des Urteils die Erklärung der Gesetzcommission einholen."
In den folgenden Jahren fand eine von den Schöpfern des AGB angestoßene umfangreiche öffentliche Debatte über das Gesetzeswerk statt, die von den Reformern in Zusammenarbeit mit der Gesetzeskommission und anderen staatlichen Instanzen in den Jahren 1789 bis 1791 ausgewertet wurde. 53 So erklärt sich, dass nach der letzten Überarbeitung des AGB den Entscheidungen der Gesetzeskommission im Falle der Richtervorlage eine nicht so weitgehende Bindungswirkung beigemessen wurde, wie sie noch im Entwurf vorgesehen war. Nach den nunmehr einschlägigen §§ 50-54 der Einleitung zum AGB war lediglich der anrufende Richter (bzw. das Kollegialgericht) an den Spruch der Gesetzeskommission gebunden. Zudem waren die Gerichte berechtigt und verpflichtet, ohne Anfrage zu entscheiden, wenn kein einschlägiges Gesetz vorhanden war. Das AGB wurde am 20.3.1791 von König Friedrich Wilhelm II., der seit dem Tode Friedrichs II. im Jahre 1786 regierte, durch Publikationspatent vollzogen,54 mittels Circularrescripts vom 20.6.1791 verkündet 55 und sollte am 1.6.1792 in Kraft treten. Friedrich Wilhelm II. fühlte sich jedoch der Aufklärung, von deren Ideen das AGB stark beeinflusst war, nicht verpflichtet und hatte nach seiner Inthronisierung einen dezidierten Gegner der Aufklärung, Johann Christoph von Wöllner, zum Justizminister gemacht.56 So gelang es den Gegnern des AGB, eine auf unbestimmte Zeit angesetzte Suspension des Gesetzbuchs zu erreichen. 57 Obgleich dieser unbefristete Aufschub durch Friedrich Wilhelm II. das „Todesurteil" des Kodifikationsentwurfs zu sein schien,58 gaben tatsächliche Umstände den Anstoß dazu, dass das Gesetzeswerk doch noch in abgeänderter Form Wirksamkeit erlangen sollte. 59 So entschied man sich dafür, das AGB nochmals überarbeiten zu lassen,60 um es dann in Gestalt des Allgemeinen Landrechts (ALR) für ganz Preußen zu verkünden. Die Reformer waren 53
Vgl. dazu Hattenhauer (Fn. 33), S. 21 f.
54
Vgl. Königliches Patent wegen Publication des neuen allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten vom 20.3.1791, 1791, S. 3 ff., Frotscher/Pieroth (Fn. 43), Rn. 142, die einen Auszug aus der Einleitung des AGB wiedergeben. 55
Koch , Lehrbuch des Preußischen gemeinen Privatrechts, 1. Band, 1857, § 8 S. 35. Vgl. dazu etwa Frotscher/Pieroth (Fn. 43), Rn. 143. 57 Kabinettsordres vom 18.4.1792 und vom 5.5.1792 (Letztere abgedruckt in: Novum Corpus Constitutionum, 9. Band, Spalte 977). 56
58
Hattenhauer
(Fn. 32), S. 31, 44 f.
59
Vgl. dazu im Einzelnen Hattenhauer (Fn. 33), S. 28; Frotscher/Pieroth (Fn. 43), Rn. 143: Zum einen wurde das Gesetzesbuch trotz seiner Suspension im Gerichtsgebrauch herangezogen. Zum anderen bereitete der Gebietsgewinn durch die Zweite Teilung Polens im Jahre 1793 die Schwierigkeit, eine klare Regelung für das dort anzuwendende Recht zu finden. 60
Kabinettsordre vom 17.11.1793, vgl. Koch (Fn. 55), S. 35.
Auslegungsverbote und authentische Interpretation
aber nunmehr gezwungen, in einer so genannten „Schlussrevision" die reformerische Tendenz des Gesetzeswerkes abzuschwächen und zum Teil wesentliche Veränderungen vorzunehmen. 61 Das Allgemeine Landrecht fiir die Preußischen Staaten (ALR) wurde mittels Patents vom 5.2.1794 publiziert und trat am 1.6.1794 in Kraft. 62 Die Regelungen über die Beschränkungen der richterlichen Macht, wie sie bereits im AGB enthalten waren, wurden jedoch nahezu vollständig in das ALR übernommen. Die im Zeitalter der Aufklärung verbreitete Auffassung, dass der Richter nicht zur Auslegung von Gesetzen befugt sei, weil er nicht Gesetzgeber sei, 63 und der damit verbundene Versuch, die richterliche Gesetzesauslegung möglichst zu unterbinden, fand auch im ALR ihren Niederschlag. In der Bestimmung Nr. X V I I I des Publikationspatents vom 5.2.1794 hatte der König bereits deutlich verfugt: „... und es soll von dem bestimmten Zeitpunkte an, kein Collegium, Gericht oder Justizbedienter sich unterfangen ... am allerwenigsten aber von klaren und deutlichen Vorschriften der Gesetze, auf den Grund eines vermeinten philosophischen Raisonnements, oder unter dem Vorwande einer aus dem Zwecke und der Absicht des Gesetzes abzuleitenden Auslegung, die geringste eigenmächtige Abweichung, bey Vermeidung Unserer höchsten Ungnade und schwerer Ahndung, sich zu erlauben". 64
Ferner wurden die §§ 50-54 der Einleitung des AGB im Wortlaut unverändert in den §§ 46-50 der Einleitung zum ALR übernommen. Hervorzuheben sind folgende Regelungen: „§ 46. Bey Entscheidungen streitiger Rechtsialle darf der Richter den Gesetzen keinen anderen Sinn beilegen, als welcher aus den Worten, und dem Zusammenhange derselben, in Beziehung auf den streitigen Gegenstand, oder aus dem nächsten unzweifelhaften Grunde des Gesetzes, deutlich erhellet. § 47. Findet der Richter den eigentlichen Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so muß er ... sein Zweifel der Gesetzcommission anzeigen, und auf deren Beurtheilung antragen".
Seit dem Inkrafttreten des ALR waren damit die Gerichte bei zweifelhafter Rechtslage stets verpflichtet, eine verbindliche Erklärung der Gesetzeskommission herbeizufuhren, damit der streitige Fall entschieden werden konnte. Den 61
So fehlte im ALR etwa das Verbot der Machtsprüche, das im AGB noch vorgesehen war. Zu sonstigen Veränderungen vgl. Hattenhauer (Fn. 33), S. 28; ders. (Fn. 32), S. 31, 45; Frotscher/Pieroth (Fn. 43), Rn. 144, welche auch daraufhinweisen, dass die Änderung des Gesetzestitels (Landrecht statt Gesetzbuch) deutlich machen sollte, dass das Gesetzeswerk nicht (mehr) das gesamte Volk, sondern nur den Juristenstand zum Adressaten haben sollte. 62 Text bei Hattenhauer (Fn. 33), passim, sowie in Auszügen mit einer Zusammenfassung der bedeutendsten Regelungen bei Frotscher/Pieroth (Fn. 43), Rn. 145 ff. 63 Vgl. etwa Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl., 1983, S. 106 ff.; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 26 m.w.N. 64 Text insoweit auch wiedergegeben bei Looschelders/Roth (Fn. 63), S. 26 Fn. 27.
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Beschluss der Kommission musste das Gericht nämlich berücksichtigen: „Der anfragende Richter ist ... schuldig, den Beschluß der Gesetzcommission bei seiner folgenden Erkenntnis in dieser Sache zu Grunde zu legen." (§ 48). 65 Damit sollte die Erläuterung der Gesetzkommission auf bereits in der Vergangenheit begründete Sachverhalte Anwendung finden. Im Falle einer Gesetzeslücke sollte der Richter aber „nach den in dem Landrechte angenommenen allgemeinen Grundsätzen und nach den wegen ähnlicher Fälle vorhandenen Verordnungen seiner besten Einsicht gemäß erkennen" (§ 49). Eine vermeintliche Lücke im Gesetz musste das Gericht lediglich dem „Chef der Justiz sofort anzeigen" (§ 50). Wurde auf eine solche Anzeige hin ein neues Gesetz erlassen, so sollte dies jedoch „auf die vorher schon gültig vollzogenen Handlungen keinen Einfluß" haben (§ 51). Während also neue Gesetze entsprechend der gemeinrechtlichen Lehre jener Zeit grundsätzlich nur für die Zukunft gelten sollten, wurde der authentischen Interpretation rückwirkende Kraft beigemessen.66 Die Auslegungsbeschränkungen fur die Gerichte wie auch die damit korrespondierende Anfrage bei der Gesetzeskommission ließen sich jedoch nicht allzu lange halten. Den wesentlichen Schritt hierzu machte Friedrich Wilhelm III., der im Jahre 1797 die Thronnachfolge Friedrich Wilhelms II. angetreten hatte,67 bereits mit seiner Kabinettsordre vom 8.3.1798.68 Damit wurden die Rechtsanfragen bei der Kommission, das heißt die Verpflichtung der Gerichte, in Zweifelsfragen während des Prozesses bei der Gesetzeskommission anzufragen, abgeschafft. Eine Verpflichtung wurde nur noch insoweit beibehalten, als die Gerichte die Unklarheit des Gesetzes nach rechtskräftig ergangener Entscheidung in der Sache der Gesetzeskommission zur Klärung künftiger Fälle anzuzeigen hatten. Das auf die Kabinettsordre vom 8.3.1798 ergangene Rescript des Großkanzlers von Goldbeck an das Kammergericht vom 21.3.1798 setzte die königliche Order um. 69 Aus diesem Rescript wiederum wurde der Inhalt für den spä65
Den Parteien blieben jedoch nach § 48 der Einleitung zum ALR die gewöhnlichen Rechtsmittel gegen die auf dieser Erkenntnis des Gerichts beruhende Entscheidung unbenommen. 66 Droste-Lehnen (Fn. 1), S. 55, m.w.N. dazu, dass dies auch in weiteren großen Gesetzbüchern der damaligen Zeit einen vergleichbaren Niederschlag gefunden hat. 67 Hattenhauer (Fn. 32), S. 31, 47, umschreibt dies mit den Worten: „Das Ärgernis der Gesetzkommission war fur die Justiz schon vier Jahre nach Inkrafttreten des ALR gegenstandslos geworden. Der König zögerte nicht lang und versetzte der allseits unbeliebten Einrichtung den Todesstoß." 68 Kabinettsordre vom 8.3.1798 an den Großkanzler von Goldbeck, abgedruckt in: Novum Corpus Constitutionum, 10. Band, Spalte 1612 ad No. XXIII. 69 Abgedruckt in: Novum Corpus Constitutionum, 10. Band, Spalte 1610 f. Der wörtliche Text zu No. X X I I I lautet: „Rescript an das Kammer-Gericht: wegen der zu unterlassenden Anfragen bey der Gesetz=Commission im Laufe der Prozesse, nebst Extract der Königlichen Cabinettsordre vom 8ten März. De Dato Berlin, den 21 sten März 1798. Friedrich Wilhelm, König .... Unsere allerhöchste Person hat in einer über verschiedene Gegenstände der Justiz=Verfassung an den Großkanzler erlassenen Cabinettsordre
Auslegungsverbote und authentische Interpretation
teren § 2 des Anhangs zum ALR entnommen.70 Diese Vorschrift wurde durch Publikationspatent vom 11.4.1803 zum Bestandteil des ALR. 7 1 Damit waren die §§ 47, 48 der Einleitung zum ALR auch durch Gesetz aufgehoben. Der wesentliche Aufgabenbereich der Gesetzeskommission war entfallen, wenn auch ihre Befugnis zur authentischen Interpretation und gutachterlichen Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren zunächst noch weiter bestehen blieb. 72 Noch im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stellte sie jedoch auch diese Tätigkeit ein und löste sich damit faktisch auf. 73 Mit dem Scheitern der Gesetzes-
vom 8. huj. auch über die Anfragen bey der Gesetz=Commission, worin es auf Erklärung eines dunkeln Gesetzes ankommt, Sich so geäussert, wie Ihr solches aus dem abschriftlich beyliegenden Extracte besagter Cabinetts=Ordre mit mehrern ersehen werdet. Ihr werdet Euch also nach dieser Unserer Allerhöchsten Willensmeinung, wodurch der Vorschrift des Landrechts in der Einleitung §. 47. 48. und der Gerichtsordnung Th. I, Tit. 13. §. 32-35. derogirt wird, von nun an gebührend zu achten haben. Damit aber auch ein Streit über den Sinn eines vermeintlichen dunkeln Gesetzes höchstens nur einmal durch die Instanzen getrieben werden könne, und denselben für alle folgende Fälle durch authentische Declarationen sogleich vorgebeugt werde; so muß zu jedem Falle dieser Art, wo bey Aburteilung einer Sache über den Sinn eines Gesetzes, Verschiedenheit der Meinungen im Collegio eintritt, also, dass nach den bisherigen Vorschriften eine Anfrage darüber statt gefunden haben würde, zwar für diesen Fall nach der Mehrheit der Stimmen concluditi, zugleich aber von dem Referenten, in dem er das Urteil absetzt, auch der Bericht an den Chef der Justiz entworfen, und darin alles das was die Gerichtsordnung am angeführten Orte §.33. bey der Anfrage vorschreibt, aufgenommen werden. Wir werden alle dergleichen Anzeigen hier sammeln lassen, und sobald ein solcher Fall durch die Instanzen entschieden ist, auf verfassungsmäßigen Wege eine authentische Declaration des angeblich dunkeln oder zweifelhaften Gesetzes bewirken, auch diese Declarationen entweder in der Edictensammlung, oder nach Befinden der Umstände auch auf andere Art, wodurch sie noch allgemeiner zur Kenntniß des Publici gelangen können, bekannt machen lassen. Sind ... Berlin, den 21 sten März 1798. Auf Sr. Königl. Majestät allergnädigsten Special=Befehl. Goldbeck." 70 Dieser § 2 lautet: „Findet der Richter den Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so liegt es ihm zwar ob, den vorliegenden Fall nach den allgemeinen Regeln wegen Auslegung der Gesetze zu entscheiden, und findet die Anfrage an die Gesetz=Commission während des Laufs des Processes nicht mehr Statt; er muß aber die vermeinte Dunkelheit des Gesetzes dem Chef der Justiz zum Behuf der künftigen Legislation anzeigen". 71 Vgl. Hattenhauer (Fn. 32), S. 47, der daraufhinweist, dass im Rahmen der Revision des ALR im Jahre 1803 in dem neuen „Anhang" eine Fülle zwischenzeitlich ergangener Rechtsänderungen verarbeitet werden musste. 72
Droste-Lehnen
(Fn. 1), S. 59; vgl. auch Hattenhauer
(Fn. 32), S. 64, der i m H i n -
blick auf die verbleibende gutachterliche Tätigkeit der Kommission auf die Vorschrift des § 10 ALR hinweist, wonach jeder neue Entwurf einer Verordnung, welche die Rechte und Pflichten der Bürger bestimme, der Gesetzeskommission zur Prüfung vorzulegen war. Auch die gutachterliche Tätigkeit der Gesetzeskommission war jedoch - auch wenn das genaue Datum nicht mehr bekannt ist - bald zum Erliegen gekommen. 73 Im Jahre 1849 wurde hierzu festgestellt: „Die .... Gesetzkommission ...ist eingegangen. Wann dies geschehen, ist nicht bekannt. Sie scheint aber nach 1806 bei der allgemeinen Stockung der Staatsverwaltung außer Tätigkeit gekommen ... zu sein" (Gräff,
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kommission war einer der historisch bedeutsamsten Versuche misslungen, die richterliche Auslegungskompetenz zu beschneiden.74 Die obligatorische Anfrage bei der Gesetzeskommission hatte sich in recht kurzer Zeit als praktisch nicht durchführbar erwiesen. 75 Die Abschaffung der Anfrage ist bereits von der Literatur des 19. Jahrhunderts mit den Worten begrüßt worden, dass der Richter nun wieder emanzipiert und ihm „sein wesentliches Recht, das der Interpretation der Gesetze, zurückgegeben" worden sei. 76 Die zurückgewonnene Interpretationsbefugnis der Gerichte böte eine Möglichkeit, „belebend" auf das anzuwendende Gesetzbuch einzuwirken. 77 In der neueren Literatur wird als Grund für das Scheitern der Gesetzeskommission herausgestellt, dass die wachsende Zahl der Anfragen zu einer Prozessverschleppung geführt habe und mit steigenden Kosten einher gegangen sei. 78 Dies trifft jedoch nicht exakt jene Vorstellungen, die den Preußenkönig nach eigenem Bekunden zur Abschaffung der Gesetzesanfrage bewogen hatten. In seiner Kabinettsordre vom 8.3.1798 hat Friedrich Wilhelm III. im Wesentlichen fünf Gründe für die Abschaffung angeführt: Zum einen würden durch die Entscheidung der Gesetzkommission während des Prozesses die Betroffenen nach einem Gesetz gerichtet, das sie vorher so nicht kennen konnten. Zum Zweiten werde dadurch die Dauer der Prozesse weder verkürzt noch würden Kosten gespart. Drittens könne sich die Gesetzeskommission bei der Auslegung der Gesetze ebenso irren, wie die zuständigen Gerichte bei ihrer Entscheidung. Viertens könne im Falle des Irrtums der Gesetzeskommission selbst dann keine gerichtliche Abhilfe erfolgen, wenn der Irrtum offensichtlich und der den Untertanen entstandene Schaden groß sei. Und schließlich (fünftens) sei nicht einzusehen, warum die Gerichte nicht in der Lage sein sollten, zweifelhafte Gesetze auszulegen, obgleich sie in solchen Fällen zu entscheiden hätten, in denen sich überhaupt kein Gesetz finde. 79
Ergänzungen und Erläuterungen der Preussichen Rechtsbücher durch Gesetzgebung und Wissenschaft, 1849 ff., 1. Abteilung S. 60). 74 Ähnlich Looschelders/Roth (Fn. 63), S. 27. 75 Dies entspricht sowohl der Ansicht der älteren als auch der jüngeren Literatur. Vgl. Dernburg , Lehrbuch des Preussichen Privatrechts, 1875 ff., § 9 S. 15; von Rönne (Fn. 51), S. 69; Gmür , Grundriss der deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl., 1980, S. 84; Hattenhauer
(Fn. 33), S. 36.
76
Von Rönne (Fn. 51), S. 69.
77
Bornemann , Die Rechtsentwicklung in Deutschland und deren Zukunft, 1856, S.
58. 78
79
Droste-Lehnen
(Fn. 1), S. 58.
Wörtlich lautete die Kabinettsordre vom 8.3.1798 (o. Fn. 68): „Mein lieber Großkanzler von Goldbeck. In der ersten Überzeugung und Außerdem habe ich bey meiner von jeher auf den Gang der Rechtspflege verwendeten Aufmerksamkeit I) darin einen Uebelstand gefunden, dass dunkle oder zweifelhafte Gesetze im Laufe eines Prozesses, von der Gesetz=Commission erklärt, und diese Erklärungen auf ergan-
Auslegungsverbote und authentische Interpretation I V . Bedeutung und Bewertung der Auslegungsverbote und der authentischen Interpretation in der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart Auch im 19. und bis in das 20. Jahrhundert hinein spielte die Rechtsfigur der authentischen Interpretation zwar sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion als auch in der gesetzgeberischen Praxis noch eine Rolle. 8 0 Sie verlor jedoch zunehmend an Bedeutung. Bereits im Jahre 1908 stellte Josef Lukas zu Recht fest, dass die Lehre vom Willen des Gesetzgebers, auf welcher sowohl die authentische Interpretation als auch die Verpflichtung der Gerichte, Zweifel über den Inhalt eines Gesetzes durch den Monarchen lösen zu lassen („référé législat i f ) , beruhten, im Wesentlichen eine „absolutistische Doktrin" sei: „ I n der Ära des Konstitutionalismus muss ihre Bedeutung notwendig schwinden, da bei der Vielheit von Gesetzgebungsfaktoren der fiktive Charakter des Willens des Gesetzgebers sich allzu deutlich offenbart." 8 1 Im Absolutismus diente die authentische Interpretation zur nötigenfalls rückwirkenden Durchsetzung des monarchischen Willens, der als Ursache und Geltungsgrund der Rechtsnorm angesehen
gene Fälle angewendet werden. Durch solche Entscheidungen können manche meiner Unterthanen, ohne das allergeringst Verschulden, indem sie im Grund nach einem neuen Gesetze, das sie vorhin nicht kennen konnten, gerichtet werden, in großen Schaden und Nachtheil versetzt werden, und sie gewinnen dadurch nicht einmal, an kürzerer Dauer, oder mindern Kosten, indem die Erfahrung bewiesen hat, daß oft erst in der letzten Instanz bey der Gesetz=Commission angefragt worden, aber wenn solches auch in den ersten Instanzen geschehen, dennoch von den Erkenntnissen, die sich auf solche Entscheidungen der Gesetz=Commission gebunden, Rechtsmittel welche die Prozessordnung zulässt, ergriffen worden. Die Gesetz=Commission ist in Auslegung der Gesetze eben so gut dem Irrthum unterworfen, als es die Gerichtshöfe bey ihren Entscheidungen sind. Demohngeachtet aber findet gegen die ersten gar keine Remedur statt, wenn der Irrthum auch noch so klar dargethan, und der daraus entstehende Schade auch noch so groß seyn sollte. Alle diese Gründe bewegen mich um so mehr, die Anfragen der Gerichtshöfe bey der Gesetz=Commission im Laufe der Prozesse gänzlich abzuschaffen, als ich nicht einsehe, warum die Richter nicht eben so gut zweifelhafte Gesetze sollten erklären können, wie sie Fälle entscheiden müssen, worüber es an einem Gesetze ganz ermangelt. Dagegen ist es nothwendig, daß die Gerichtshöfe, angewiesen und angehalten werden, die Dunkelheiten und Zweifel, welche ihnen bey Ausübung der Rechtspflege, in Ansehung des richtigen Verstandes der Gesetze aufstoßen, nach rechtskräftig entschiedener Sache, eben so der Gesetz=Commission anzeigen müssen, als ihnen solches in den Fällen obliegt, wo sie eine Lücke in dem Gesetzbuche angetroffen haben. Endlich aber finde ich es durchaus nothwendig, daß alle Decisa der Gesetz=Commission nicht ferner wie bisher, durch bloße Privat-Sammlungen; sondern vollständig durch die öffentliche Edicten=Sammlungen, allenfalls in einem besondern Anhange derselben bekannt gemacht werden, weil sie ohnehin entweder gar nicht, oder nicht zuverlässig dem Publico bekannt werden ..." 80 Vgl. dazu Droste-Lehnen (Fn. 1), S. 155 ff., 242 ff.; Grabau, Rechtstheorie 23 (1992), 343 (349 f.). 81
Lukas (Fn. 28), S. 426.
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wurde. Sie wurde als ein aus dem „Majestätsrecht" des Herrschers fließendes Mittel begriffen, das es ihm ermöglichte, ein aus seiner Sicht „fehlerhaftes" Verständnis seines in den Normen ausgedrückten persönlichen Willens auszuräumen. 82 Diese Grundlage des persönlichen Willens änderte sich in der konstitutionellen Monarchie, die (in Deutschland mit Bundesrat und Reichstag) mindestens zwei Sphären politischer Willensbildung mit jeweils einer Mehrzahl von Personen und damit nur noch einen „Gesetzgeber zur gesamten Hand" vorwies. 83 Als Geltungsgrund des Gesetzes trat das verfassungsgemäße Zustandekommen durch entsprechende Organbeschlüsse in den Vordergrund. 84 Mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust im weltlichen Bereich steht es nicht im Widerspruch, dass die authentische Interpretation bis heute zum geltenden Recht der römisch-katholischen Kirche gehört und in Canon 16 § 1 Codex Iuris Canonici (CIC) vom 25.1.1983 verankert ist. 85 Das Festhalten an dieser Rechtfigur erklärt sich daraus, dass die Verfassung der römisch-katholischen Kirche in staatsrechtlichen Kategorien ausgedrückt als „absolute (Wahl-)Monarchie" ausgestaltet ist, 86 in welcher eine Person als oberster Gesetzgeber und Richter fungiert und daher Einfluss auf die Interpretation des von ihr erlassenen positiven Rechts nehmen können soll. 87 Das bundesdeutsche Recht kennt heute weder gesetzliche Auslegungsregeln noch Kommentierungs- oder Interpretationsverbote, wie sie die Rechtsgeschichte - nach einer Bezeichnung Engischs - als „Denkmäler gesetzgeberischer Nai82
Meyer (Fn. 1), S. 241.
83
Meyer (Fn. 1), S. 241 f.
84 Damit korrespondierte bereits im 19. Jahrhundert ein formelles Prüfungsrecht der Gerichte. Hierzu sowie zur Entwicklung des materiellen Prüfungsrechts, das heißt der Befugnis der Gerichte, die inhaltliche Übereinstimmung von Gesetzen und Verordnungen mit dem höherrangigem Verfassungsrecht zu überprüfen, vgl. Frotscher, Die ersten Auseinandersetzungen um die richterliche Normenkontrolle in Deutschland, Der Staat 1971,383 ff. 85 Canon 16 § 1 CJC lautet: „Gesetze interpretiert authentisch der Gesetzgeber und derjenige, dem von diesem die Vollmacht zur authentischen Auslegung übertragen worden ist." In Canon 16 § 2 CJC heißt es: „Die nach Art eines Gesetzes erfolgte authentische Interpretation hat dieselbe Rechtskraft wie das Gesetz selbst und muss promulgiert werden; wenn sie ein Gesetz einschränkt oder erweitert oder ein zweifelhaftes Gesetz erklärt, gilt sie nicht rückwirkend." Vgl. ausführlich zur langen Entwicklungsgeschichte und zum Stand der authentischen Interpretation im kanonischen Recht: Müller , Archiv fur Katholisches Kirchenrecht 164 (1995), 353 (356 ff.) m.w.N. 86
87
Meyer (Fn. 1), S. 227.
Papst Johannes Paul II. hat dazu 1984 die „Päpstliche Kommission zur authentischen Interpretation des CIC" eingerichtet, deren Name im Jahre 1988 in „Päpstlichen Rat zur Interpretation von Gesetzestexten" („Pontificium consilium de legum textibus interpretandis") geändert wurde. Dieser Rat ist als (Mit-)Inhaber der gesetzgebenden Gewalt anzusehen. Vgl. dazu Müller , Archiv für Katholisches Kirchenrecht 164 (1995), 353 (357, 365) m.w.N. Seine Entscheidungen bedürfen aber der Bestätigung durch den Papst.
Auslegungsverbote und authentische Interpretation
vität" hervorgebracht hat. 88 Ebenso fehlt es an normativen Verankerungen der Rechtsfigur der authentischen Interpretation. Dennoch lässt sie die höchstrichterliche Rechtsprechung bis heute grundsätzlich zu. Das BVerfG hat sich dahingehend geäußert, dass die Auslegung einer Norm auch durch den Gesetzgeber verfassungsrechtlich zulässig sein kann, soweit sie lediglich klarstellende Funktion haben soll. 89 Eine den Einzelnen belastende unzulässige Rückwirkung läge nicht vor, wenn die neugefasste Norm lediglich deklaratorischer Art sei, das heißt, lediglich das bestätige, was schon vordem aus der verkündeten Norm ursprünglich folgte. 90 Der Gesetzgeber dürfe aber ein von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zutreffend angewandtes Gesetz nicht rückwirkend ändern, um die Rechtsprechung für die Vergangenheit ins Unrecht zu setzen.91 Die Möglichkeit einer gesetzgeberischen Klarstellung im Wege des Gesetzes erkennt auch das BVerwG an. Der Ergänzung eines im Übrigen unverändert gebliebenen Gesetzestextes könne unter bestimmten Umständen die Bedeutung einer klarstellenden, authentischen Interpretation zukommen, auch wenn die Ergänzung selbst keine ausdrückliche Rückwirkung auf das Inkrafttreten des Gesetzes enthalte.92 Auch das BSG hält eine die Gerichte bindende authentische Interpretation des Gesetzgebers fur möglich und will diese grundsätzlich zulassen, soweit der Gesetzgeber durch eine Klarstellung, also durch eine eigene nachträgliche Interpretation seiner selbst, anordnet, wie die schon bisher bestehenden gesetzlichen Bestimmungen von Anfang an zu verstehen waren. 93 Eine solche Klarstellung sei, wenn ihr in den Übergangsvorschriften Rückwirkung beigemessen werde, von den Gerichten in den verfassungsrechtlichen Grenzen einer rückwirkenden Gesetzesänderung zu beachten. Bei auftretenden Auslegungsschwierigkeiten sei der Gesetzgeber grundsätzlich befugt, der seine ursprüngliche Absicht klarstellenden Neufassung entweder nur Wirkung für die Zukunft beizumessen und für die Vergangenheit die Auslegung der ursprünglichen Fassung den Gerichten zu überlassen, oder in den verfassungsrechtlichen Grenzen einer rückwirkenden Rechtsänderung die Neufassung rückwirkend im Sinne einer authentischen Interpretation in Kraft zu setzen.94 Soweit die Rechtsprechung der Bundesgerichte die authentische Interpretation durch den Gesetzgeber zugelassen und ihr auch ohne Rückwirkungsanordnung Bedeutung für die Vergangenheit zugebilligt hat, betraf dies jedoch praktisch durchweg Fälle,
88
89
Engisch (Fn. 63), S. 93.
BVerfGE 18, 429 (438). BVerfGE 50, 177(193). 91 BVerfGE 18, 429 (438). 92 BVerwG, Buchholz 235 § 20 BBesG Nr. 1. 93 BSG, Urteil vom 27.9.1989 - Az.: 11 Rar 53/88 - , Juris, Rn. 17; ähnlich bereits BSGE 58, 243 (246). 94 BSG (Fn. 93), Rn. 18. 90
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in denen auch eine Gesetzesänderung mit Rückwirkung verfassungsrechtlich gerechtfertigt gewesen wäre. 95 An dem grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Verbot einer (echten) Rückwirkung ist die eingangs dargelegte authentische Interpretation des sachsen-anhaltischen Gesetzgebers in § 6 Abs. 6a SachsAnhKAG gescheitert. Auf Vorlagebeschlüsse des VG Dessau96 erklärte das SachsAnhLVerfG das sich der „authentischen Interpretation" bedienende Gesetz für nichtig. 97 Das Gericht kam zu dem berechtigten Schluss, dass eine durch einen Interpretationskonflikt zwischen Gesetzgeber und Rechtsprechung ausgelöste Normsetzung nicht anders zu beurteilen sei als eine durch sonstige Gründe veranlasste rückwirkende Gesetzesänderung. Indem der Gesetzgeber für die authentische Interpretation die Form des Parlamentsgesetzes und nicht die des schlichten Parlamentsbeschlusses gewählt habe, habe er zum Ausdruck gebracht, dass er seiner Erklärung die mit dieser Form verbundene Bindungswirkung habe verleihen wollen. Das SachsAnhLVerfG erklärte § 6 Abs. 6a SachsAnhKAG für verfassungswidrig, weil die Vorschrift die kommunale Selbstverwaltungsgarantie in Gestalt der gemeindlichen Rechtssetzungs- und Finanzhoheit verletzte, indem sie rückwirkend die Möglichkeiten der Gemeinden zur Erhebung von Straßenausbaubeiträgen einschränkte, obwohl die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für den Erlass eines rückwirkenden Gesetzes nicht vorlagen. Die Rechtslage sei zuvor nämlich nicht unklar, sondern durch die Rechtsprechung des OVG in methodisch vertretbarer Weise geklärt gewesen.98 Nicht zuletzt dieser Fall lehrt, dass die authentische Interpretation unter den Bedingungen des Grundgesetzes und der Landesverfassungen zu Recht zu einem stumpfen Schwert geworden ist. Eine rückwirkende Änderung der durch die Rechtsprechung herausgebildeten Rechtslage ist durch eine in ein förmliches Gesetz gekleidete authentische Interpretation nur unter den Voraussetzun-
95
Vgl. BSGE 74, 112 (114 f.); BVerwG (Fn. 92). VG Dessau, Beschlüsse vom 15.3.2001 - Az.: 2 A 413/99 - und vom 14.5.2001 Az.: 2 A 225/00 - , BA S. 12. Das Gericht ging zwar in Anlehnung an die verbreitete Rechtsprechung (unter anderem unter Hinweis auf BSG [Fn. 93]) davon aus, dass eine authentische Interpretation nicht per se unzulässig sei. Wolle der Gesetzgeber jedoch auf diesem Wege eine ihm missliebige Rechtsprechung korrigieren, so könne dies nur in den verfassungsrechtlichen Grenzen einer rückwirkenden Gesetzesänderung rechtmäßig sein. Daran fehle es hier. 96
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SachsAnhLVerfG (Fn. 14), LVGE 13, 343 (351 ff.). Interessanterweise hatte es eine ähnliche Fallgestaltung bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben. Mit dem im Jahre 1906 erlassenen preußischen „Gesetz zur Deklarierung des Kommunalabgabengesetzes" von 1893 hatte der damalige Gesetzgeber versucht, eine ihm missliebige Auslegung des Gesetzes durch die Rechtsprechung des Preußischen OVG rückwirkend zu korrigieren. Tatsächlich führte die „authentische Interpretation" aber nur zu neuen Streitfragen und verfehlte letztlich ihr Ziel. Vgl. dazu Schneider (Fn. 4), S. 851 m.w.N. 98
Auslegungsverbote und authentische Interpretation
gen verfassungsgemäß, unter denen ein Änderungsgesetz mit gleichem rechtlichen Inhalt eine bislang „unklare und verworrene Rechtslage"99 rückwirkend beseitigen dürfte. 100 Der Gesetzgeber kann, sofern er sich des formellen Gesetzes bedient, die verfassungsrechtlichen Anforderungen des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbotes nicht dadurch umgehen, dass er sich darauf beruft, das vorangegangene Gesetz lediglich klar- und richtigstellend „interpretieren" zu wollen. Auch soweit in Rechtsprechung und Literatur die authentische Interpretation noch zugelassen und als grundsätzlich verfassungskonform angesehen wird, stellt sich die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit. Für den als zulässig erachteten Fall, dass der Gesetzgeber die Auslegung eines früheren Gesetzes durch ein weiteres Gesetz konkretisieren und damit die Gerichte nicht rückwirkend, sondern nur fiir künftige Fälle binden will, kann er sich unschwer eines herkömmlichen Änderungsgesetzes bedienen.101 Soweit die Auslegung des Gesetzes zwar in rückwirkender Form, aber - wie vom BVerfG zugelassen - nur deklaratorisch das klarstellen soll, was bereits vorher schon galt, 102 macht dies wenig Sinn, wenn die Rechtslage schon zuvor hinreichend klar war. Stellte sie sich hingegen vordem als (höchst-)richterlich nicht geklärt und verworren dar, so dürfte der Gesetzgeber darauf grundsätzlich auch mit einem sich Rückwirkung beimessenden Änderungsgesetz reagieren. Letztlich kann es aber bei genauer Betrachtung eine „authentische" Interpretation des heutigen Gesetzgebers, die rückwirkend klarstellt, wie ein anderes Gesetz bereits vorher „richtigerweise" zu verstehen war, aus tatsächlichen Gründen kaum geben. Weil der Interpretation nicht nur ein Wissens-, sondern auch ein Willensmoment eigen ist, würde das richtige Verständnis des Gesetzes einen realen Willen ein- und desselben Gesetzgebers voraussetzen, den es im parlamentarischen System des Grundgesetzes so nicht gibt. Die abstrakten Gesetzgebungsorgane (Bundestag und Bundesrat) verfügen als solche nicht über einen realen Willen, sondern lediglich ihre einzelnen Mitglieder, die als Organwalter bestimmte Organfiinktionen auf Zeit wahrnehmen. Der „Wille des Gesetzgebers" ist angesichts der Komplexität des Gesetzgebungsapparates und des konkreten Zustandekommens der Gesetze lediglich eine Fiktion 103 bzw. eine
99 Im Sinne der (Rückwirkungs-)Rechtsprechung des BVerfG. Vgl. dazu etwa BVerfGE 24, 75 (101); Pieroth, Jura 1983, 122 (132). w o
Meyer (Fn. 1), S. 244.
101
Vgl. Herz, JB1. 1966, 344 (351): „Wenn der Gesetzgeber die Auslegung oder Anwendung eines Gesetzes für abänderungsbedürftig hält, hat er das Gesetz nicht zu deuten, das heißt umzudeuten, sondern zu ändern." 102 BVerfG E 18, 429 (438). 103 Vgl. bereits Lukas (Fn. 28), S. 401, der auch vom „Popanz des gesetzgeberischen Willens" spricht (S. 427).
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„anthromorphe Hilfsvorstellung" 104 zur Veranschaulichung einer abstrakten Verfassungslage. 105 Selbst eine Personifizierung oder Gleichsetzung des gesetzgeberischen Willens mit dem der Abgeordneten fuhrt nicht weiter. Denn abgesehen davon, ob überhaupt jeder einzelne Abgeordnete (der Mehrheitsfraktion) bei der Fülle der Normen, welche die heutigen Parlamente erlassen, noch in der Lage ist, Inhalt und Folgen einer gesetzlichen Bestimmung im Einzelnen zu durchdringen, werden diese Mitglieder des Parlaments als solche noch nicht zum Gesetzgeber, auf dessen Willen es bei der Gesetzesauslegung ankommen müsste.106 Die persönlichen Vorstellungen der einem Gesetz zustimmenden Abgeordneten werden weder jemals völlig übereinstimmen, noch werden sie sich überhaupt zuverlässig feststellen lassen. Auch die in den Gesetzesentwürfen zum Ausdruck gekommenen Motive, die heute zudem regelmäßig in den Ministerien formuliert werden, können nicht kurzerhand jenen Personen untergeschoben werden, welche das Gesetz beschlossen haben. 107 Das BVerfG hat wiederholt ausgesprochen, dass die Gesetzesmaterialien mit Vorsicht, nur unterstützend und insgesamt nur insofern herangezogen werden sollen, als sie auf einen „objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen".108 Der „so genannte Wille des Gesetzgebers" bzw. der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten soll danach bei der Interpretation nur insoweit berücksichtigt werden, als er auch im Text Niederschlag gefunden hat. Die Materialien dürfen - so warnt das BVerfG zu Recht - nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen.109 Vor diesem gesamten Hintergrund erweist sich die Rechtsfigur einer „authentischen" Interpretation eines früheren Gesetzes durch den Gesetzgeber sowohl aus methodischer als auch aus verfassungsrechtlicher Sicht als äußerst fragwürdig. Mit Hassemer ist davon auszugehen, dass ein Gesetz die Entwicklung der Rechtsprechung nicht im Einzelnen determinieren kann, sondern nach seinem Erlass der grundgesetzlich gewährleisteten Unabhängigkeit der Gerichte 104
Meyer (Fn. 1), S. 243.
105
Vgl. Otte , in: Grimm (Hrsg.), Einführung in das Recht, 1985, S. 171 (186 f.), der darauf hinweist, dass bereits die Ermittlung des in ein Gesetz eingeflossenen „Mehrheitswillens" kaum überwindbare Schwierigkeiten bereitet: „Wird ein Gesetz verabschiedet, so steht in bezug auf den Willen der Abgeordneten nur eines wirklich fest, nämlich dass nach der Meinung der Mehrheit ein Text dieses Wortlauts Gesetz werden sollte. Welcher gedankliche Inhalt mit diesem Wortlaut zu verbinden sei, wird nicht als Gesetz beschlossen." 106
Otte (Fn. 105), S. 187.
107
Zippelius, Juristische Methodenlehre, 5. Aufl., 1990, S. 21. Vgl. BVerfGE 1, 299 (312); 6, 55 (75); 10, 234 (244); 36, 342 (367); 41, 291 (309); 62, 1 (45). 108
109
BVerfGE 62, 1 (45) m.w.N.
Auslegungsverbote und authentische Interpretation
(Art. 97 Abs. 1 GG) überantwortet wird: „Sobald das Gesetz erlassen ist, stehen seine Anweisungen dem richterlichen Handeln zur Disposition." 110 Dies hat seinen Grund auch darin, dass - wie Larenz es formuliert hat - das Gesetz, sobald es angewandt wird, „eine ihm eigene Wirksamkeit entfaltet", die über die ursprünglich mit ihm verknüpften Intentionen hinausgeht: „Das Gesetz greift in mannigfache und sich wandelnde Lebensverhältnisse ein, die der Gesetzgeber nicht alle zu übersehen vermochte; es gibt Antwort auf Fragen, die der Gesetzgeber sich noch nicht gestellt hat. Es gewinnt mit der Länge der Zeit mehr und mehr gleichsam ein eigenes Leben und entfernt sich damit von den Vorstellungen seiner Urheber." 111 Bei alledem ist der Richter entgegen dem Verständnis der frühen Staatstheoretiker der Gewaltenteilung 112 kein „Rechtsprechungsautomat". Auch dies hat das BVerfG ausdrücklich festgestellt und methodisch treffend ergänzt: „Das Recht steht nicht derart fest, dass jeder mit dem Einzelfall befasste Richter nur zu ein und demselben (richtigen) Ergebnis gelangen kann. Gesetze müssen vielfach mit offenen Begriffen arbeiten, die einer wertenden Ausfüllung bedürfen. Die Konkretisierung des Rechts im Einzelfall wird wegen der damit einhergehenden rechtlichen Wertungen, aber auch der Würdigung des zur Subsumtion benötigten Sachverhalts, von der Persönlichkeit des Richters (seinem Vorverständnis) mehr oder weniger bewusst mitgeprägt." 1 1 3 Wenn aber die Interpretation durch einen einzelnen Richter oder ein Gericht bereits in diesem Sinne variabel ist, wie soll dann die spätere Interpretation eines unklaren Gesetzes durch vielschichtige Gesetzgebungsorgane, die in ihrer Gesamtheit als „Gesetzgeber" bezeichnet werden, noch den „wahren Willen" dieser Organe in einer früheren Zusammensetzung „authentisch" ermitteln und festlegen können? Die Antwort lautet: Aus heutiger staats- und verfassungsrechtlicher wie auch aus methodologischer Sicht kann es fiir das Rechtsinstitut
110
Hassemer, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einfuhrung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 5. Aufl., 1989, S. 212, 224. 111 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., 1983, S. 302 f. 112 Vgl. die Aussage Montesquieus (De l'esprit des lois, 1748, Buch X I Kapitel 6), wonach das Urteil nichts anderes sei als eine „genaue Formulierung des Gesetzes" („Un texte précis de la loi"). 1,3 BVerfG, NJW 1995, 2703 (2704). Zur Berücksichtigung der (normativen) Tatsachen bei der Konkretisierung vgl. grundlegend Müller, Juristische Methodik, 5. Aufl., 1993, S. 26 ff. Dieser unterscheidet zwischen dem über die Textauslegung zu entwikkelnden Normprogramm einerseits und dem ebenfalls für die Konkretisierung in gleicher Weise bedeutsamen Normbereich, das heißt der Menge derjenigen Realdaten, die zur Grundlage der Entscheidung gemacht werden. Normprogramm und Normbereich setzen nach Müller (a.a.O., S. 27) die abstrakt-generell zu formulierende „Rechtsnorm" zusammen.
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der authentischen Interpretation durch den Gesetzgeber, das sich „so recht als ein Kind des Absolutismus" 114 darstellt, keinen Raum mehr geben.
1,4
Lukas (Fn. 28), S. 406.
Ludwig Hassenpflug - Religiöser Konservativismus und die Frage der Judenemanzipation im Kurfürstentum Hessen Von Stephan Buchholz/Rüdiger Harn I. Zur Person Ludwig Hassenpflugs Ludwig Hassenpflug gilt bis heute zu recht als der bedeutendste, aber auch als der wohl umstrittenste kurhessische Staatsmann des 19. Jahrhunderts. Trotz seiner herausragenden Stellung in der Geschichte des Kurfürstentums Hessen hat die historische Forschung seinem Leben und Wirken lange Zeit eine nur vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit gewidmet.1 In der rechtswissenschaftlichen Forschungsliteratur ist hingegen schon in den letzten Jahrzehnten eine geringere Distanz zu dem politisch brisanten „Thema" Hassenpflug zu beobachten. Vor allem die zahlreichen juristischen Streitfragen, in die er während seiner ersten und zweiten Ministerzeit verwickelt war, bildeten wiederholt den Gegenstand verfassungshistorischer Arbeiten. 2 Zum heutigen Forschungsstand hat auch der Jubilar eine Reihe richtungsweisender Beiträge geliefert. 3 1794 als viertes von fünf Geschwistern in Hanau geboren, wuchs Ludwig Hassenpflug seit dem Umzug der Familie nach Kassel 1798/99 in der Hauptstadt der Landgrafschaft Hessen-Kassel auf. Über seine Schwestern fand auch er bald Kontakt zu den Brüdern Grimm, deren Schwester Lotte er 1822 heirate1
In der älteren Literatur zu Ludwig Hassenpflug finden sich meist nur kurze, vom jeweiligen politischen Standpunkt aus tendenziös eingefärbte biographische Skizzen. In erster Linie ist hier die apologetische Schrift von Losch, Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, 1940, 59-159, zu nennen. Weitere ältere Darstellungen stammen von Friderici, in: Lebensbilder aus Kurhessen und Waldeck, Band 5, S. 101-121; Nass, Vom deutschen zum kurhessischen Verfassungskampf, S. 84-98; Sybel, Historische Zeitschrift 1893, 48-67; Wippermann, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 11, 1880, Neudruck 1969, S. 1-9. Neuere Darstellungen liefern Franz, in: Biographisches Wörterbuch, Band 1, 2. Aufl., 1974, Sp. 3034 f.; Franz, in: Neue Deutsche Biographie, Band 8, 1969, S. 46 f.; Höffner, Kurhessens Ministerialvorstände der Verfassungszeit 1831-1866, 1981, S. 156-163; aktuell und ausgewogen: Nathusius, Kurfürst, Regierung und Landtag im Dauerkonflikt, S. 121-143; Grothe, in: Staat, Gesellschaft, Wissenschaft. Beiträge zur modernen hessischen Geschichte, 1994, S. 53-72. 2
Popp, Ministerverantwortlichkeit und Ministeranklage im Spannungsfeld von Verfassungsgebung und Verfassungswirklichkeit, 1996; Hermann, Entstehung, Legitimation und Zukunft der konkreten Normenkontrolle im modernen Verfassungsstaat, 2001; Harn, Bundesintervention und Verfassungsrevision, 2004. 3
Frotscher, JuS 2000, 943-947; ders., Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, 2002, 203-221; ders./Volkmann, in: 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, S. 17-37.
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te. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits seit etwa einem Jahr als Assessor am Oberappellationsgericht Kassel tätig - für den damals 27-Jährigen vorläufiger Höhepunkt eines raschen Aufstiegs zu einem der jüngsten Richter am obersten Gerichtshof des Landes überhaupt. Schon als Schüler zeichnete sich Hassenpflug durch „vorzügliche Fassungskraft und richtiges Urtheil" 4 aus und erfüllte seine Lehrer wie seinen Vater durch sein Interesse und seine Wissbegierde mit großer Freude.5 Auch traten bereits zu Schulzeiten prägende Charaktermerkmale Hassenpflugs zu Tage, die ihm auch später immer wieder nachgesagt wurden. So bescheinigt ihm nicht zuletzt das Abschlusszeugnis der Klosterschule Ilfeld vom 10.3.1812 auch seinen Lehrern gegenüber einen gewissen Hochmut.6 Nicht zuletzt aufgrund seiner im menschlichen Umgang schwierigen Persönlichkeit schuf Hassenpflug sich bis zu seinem Tod - im Zusammenwirken mit seinen religiös-politischen Überzeugungen - durch sein oft rücksichtsloses und herrisches Auftreten 7 zahlreiche Feinde. 1812 nahm Hassenpflug das Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen auf, das er Ende 1813 zur Teilnahme am Feldzug gegen Frankreich unterbrach. Obgleich sich Hassenpflugs Beteiligung am Krieg gegen Napoleon im Wesentlichen auf die Mitwirkung an der Belagerung der Festung Luxemburg beschränkte, blieb die infolge der Befreiungskriege angefachte national-liberale Begeisterung naturgemäß nicht ohne Einfluss auf den jungen Studenten. 1814 an die Universität Göttingen zurückgekehrt, wurde Hassenpflug zum Senior der hessischen Landsmannschaft gewählt, die er jedoch im Wintersemester 1815/16 zur Vorbereitung auf das Examen - und gerade rechtzeitig vor den beginnenden Untersuchungen gegen die Burschenschaften - wieder verließ. Nach bestandenem Examen wurde er noch 1816 - mit tatkräftiger Hilfe seines Vaters - zum Regierungsassessor in Kassel ernannt. Mit der Berufung zum Assessor am Oberappellationsgericht geriet Hassenpflugs bis dato steil verlaufende Karriere jedoch zunächst ins Stocken. Grund hierfür war weniger die mangelnde fachliche Eignung Hassenpflugs als vielmehr dessen Zugehörigkeit zum einflussreichen Oppositionskreis gegen den neuen Kurfürsten Wilhelm II. Gemeinsam mit seinem Freund Radowitz und anderen Gleichgesinnten stellte sich Hassenpflug im kurfürstlichen Familienzwist auf die Seite der Kurflirstin und des Kurprinzen Friedrich Wilhelm. Hatte dies für Hassenpflug in den 18204
Vgl. das Abschlusszeugnis der Klosterschule Ilfeld vom 10.3.1812, Staatsarchiv Marburg, 340/Hassenpflug/l. 5 So ein Brief des Schuldirektors Brohm an Hassenpflugs Vater vom 20.10.1811, Staatsarchiv Marburg, 340/Hassenpflug/l. 6 Staatsarchiv Marburg, 340/Hassenpflug/l. 7 Vgl. Sybel (Fn. 1), S. 49 und 52; Friderici (Fn. 1), S. 118; Klauhold , Kurhessen unter dem Vater, dem Sohne und dem Enkel, 1860, S. 31.
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er Jahren das Ausbleiben weiterer Beförderungen zur Folge, so setzte sich sein Aufstieg nach der Übernahme der Regentschaft durch Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1831 allerdings umso zügiger fort. Unmittelbar nach seinem Regierungsantritt zog Friedrich Wilhelm I. Hassenpflug als Ratgeber ins Vertrauen, nur wenig später, am 20.3.1832, ernannte er ihn zum Ministerialrat und Mitglied des Gesamt-Staats-Ministeriums. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde Hassenpflug auch als künftiger Minister gehandelt. Nach mehreren Ministerrevirements war es dann am 16.5.1832 endlich soweit: Der Kurprinz-Regent ernannte Hassenpflug zum provisorischen Vorstand des Justizministeriums. 8 Nur kurze Zeit später, am 23.5.1832 übertrug ihm Friedrich Wilhelm I. auch das Innenministerium. 9 Als Vorstand des Innen- und Justizministeriums fungierte Hassenpflug in den nächsten fünf Jahren als eine Art „Superminister" und damit als eigentlicher Kopf des kurhessischen Gesamt-Staats-Ministeriums, der dem Kurprinz-Regenten bald unentbehrlich zu werden schien. In der Tat sah sich Friedrich Wilhelm I. in seiner Auseinandersetzung mit der liberalen Opposition in und außerhalb des Landtages in entscheidendem Maße auf den unnachgiebigen und durchsetzungsfähigen Hassenpflug angewiesen. Nachdem es diesem jedoch gelungen war, sich nach jahrelangen heftigen politischen und juristischen Auseinandersetzungen gegen die Opposition durchzusetzen, traten die politischen und persönlichen Differenzen zwischen Kurprinz und Minister immer offener zutage. Am 11.7.1837 stellte Friedrich Wilhelm 1. das Entlassungsreskript für Hassenpflug aus,10 der sich so unversehens ohne bezahlte Beschäftigung sah. Nach schwieriger Arbeitssuche, die ihn über das kleine Fürstentum Hohenzollern-Sigmaringen und das Großherzogtum Luxemburg führte, fand Hassenpflug 1840 schließlich Aufnahme in den preußischen Staatsdienst. Hier war er zunächst in Berlin als Richter am preußischen Obertribunal tätig, bevor der König ihn 1844 zum Präsidenten des Oberappellationsgerichts in Greifswald ernannte. Die richterliche Tätigkeit verschaffte Hassenpflug zwar Ansehen und ein sicheres Einkommen, vermochte allerdings seinen politischen Tatendrang nicht zu befriedigen. Es verwundert daher nicht, dass er gern bereit war, in seine alte Heimat zurückzukehren, als ihn im Winter 1849/50 das Angebot Friedrich Wilhelms I. erreichte, wieder in seine einstige Stellung als Innen- und Justizminister des Kurfürstentums einzutreten.
8
Die Ernennungsurkunde findet sich in Staatsarchiv Marburg, 340/Hassenpflug/l. Die weitere Ernennungsurkunde findet sich ebenfalls in Staatsarchiv Marburg, 340/ Hassenpflug/1. 10 Entlassungsreskript in Staatsarchiv Marburg, 340/Hassenpflug/l. 9
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Wie ungern der nunmehrige Kurfürst den ehemaligen Minister zurückrief, belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass zuvor zahlreiche Versuche zur Bildung eines reaktionären Kabinetts gescheitert waren und Hassenpflug dem Kurfürsten als letzter Rettungsanker in der Auseinandersetzung mit der liberal-demokratischen Opposition erschien. Ganz im Sinne des Kurfürsten nahm Hassenpflug nach seiner Ernennung am 22.2.1850 den Kampf gegen die revolutionären Kräfte umgehend auf. Im Sommer 1850 eskalierte der Konflikt, als die Stände die Steuerforterhebung verweigerten und die Regierung daraufhin zu verfassungswidrigen Notverordnungen griff. Durch die Intervention der beiden deutschen Großmächte zog der Budgetkonflikt bald über Kurhessen hinausgehende Kreise: Während sich Österreich auf die Seite der Regierung stellte und dem Kurfürsten mit Hilfe des restaurierten Deutschen Bundes militärische Unterstützung bot, stellte sich Preußen mit seinen Verbündeten auf die Seite der renitenten Staatsdiener. Erst die zwischen Schwarzenberg und Manteuffel ausgehandelte Olmützer Punktation vom 29.11.1850 verhinderte - als Hassenpflug die Zügel des politischen Agierens längst entglitten waren - einen deutschen Krieg auf kurhessischem Boden. Die nunmehr von den deutschen Großmächten gemeinsam verfolgte reaktionäre Politik eröffnete jedoch auch Hassenpflug neuen Spielraum zu innenpolitischen Veränderungen. Mit Hilfe der Bundesversammlung gelang es ihm 1852, die liberale Verfassung vom 5.1.1831 durch eine deutlich reaktionärere Verfassung zu ersetzen und damit die liberal-demokratische Opposition entscheidend zu schwächen. Nach neuerlichen Differenzen mit Friedrich Wilhelm I., die wiederum vorwiegend in persönlichen Animositäten wurzelten, erfolgte am 16.10.1855 die zweite Entlassung Hassenpflugs aus dem kurhessischen Ministerium. Seinen Ruhestand verbrachte er in Marburg, wo er am 10.10.1862 starb.
II. Religiöse und politische Überzeugungen Hassenpflugs Bis heute herrscht allgemein die Einschätzung vor, Hassenpflug sei ein steter Vorkämpfer für Konservativismus und Reaktion gewesen.11 Schon Bismarck lobte Hassenpflugs „Antibonapartismus" 12 und bezeichnete ihn anerkennend als „großen Konservativen". 13 Auf der anderen Seite wurde Hassenpflug immer wieder - unter anderem von seinem einstigen Freund Wilhelm Grimm - der
11 Vgl. Grothe, Briefwechsel mit Ludwig Hassenpflug, 2000, S. 43; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 2, 3. Aufl., 1988, S. 331 - 338; Seier, in: Die Geschichte Hessens, 1983, S. 160-170; Franz, Neue Deutsche Biographie (Fn. 1), S. 47. 12 Bismarck an Leopold von Gerlach vom 23.2.1853 und 16.3.1853, Bismarck, Gesammelte Werke, Band 14, 1933, S. 292 und 295. 13 Bismarck an Leopold von Gerlach vom 19.4.1854, Bismarck (Fn. 12), S. 355.
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Vorwurf gemacht, kein eigenes politisches Konzept zu besitzen. Am 4.2.1836 schrieb Wilhelm Grimm an Hassenpflug: „Was willst du in Hessen dafür einfuhren? Etwa das ancien régime? ganz ehrlich, glaubst du, dass dann auch nur das erreicht würde, was gegenwärtig gutes da ist? Ich weiß überhaupt recht gut was du nicht willst [...], aber was du positiv willst, ich meine welcher gegenwärtig irgendwo bestehende Zustand dir wünschenswerth sey weiß ich in der That nicht." 1 4
Nur selten werden allerdings bei solchen politischen Standortbestimmungen die Fundamente der Weltanschauung Hassenpflugs in den Blick genommen, die sich nicht in bloßem „Antibonapartismus" und in der Ablehnung „fortschrittlicher Ideen" erschöpften. Schon im Elternhaus wurde Hassenpflugs Weltbild entscheidend geprägt durch die Hinneigung seiner Mutter zu Mystizismus und Magnetismus - einer zu Beginn des 19. Jahrhunderts ebenso populären wie umstrittenen Art hypnotischer Heilbehandlung - sowie durch die Abneigung seines Vaters gegen Rationalismus und die Ideale der französischen Revolution. Verstärkt wurde die Antipathie gegen alles Französische durch die Erfahrungen Hassenpflugs in der Zeit des Königreichs Westphalen. Noch in seinen im Ruhestand verfassten „Denkwürdigkeiten" führt er die Grundideen der von ihm so vehement bekämpften Verfassung von 1831 in erster Linie auf den französischen Einfluss der Jahre 1807 bis 1813 zurück: Die Verfassung gleiche der Anschauungsweise und der Bildung, „die die dabei thätigen Männer, hauptsächlich Staatsdiener, besaßen, welche in der Zeit des ephemeren Königreichs Westphalen ihre erste Ausbildung erhalten hatten, so daß jene Urkunde mehr diesem Ideenkreise, welche die napoleonische Zeit zum Ausdruck brachte, und dem Staatsrechte zu vergleichen war, was Sylvester Jordan in Marburg lehrte." 15
Die so „ererbten" antifranzösischen Ressentiments schlugen, wie bei vielen von Hassenpflugs Kommilitonen, infolge der Teilnahme am Feldzug gegen Napoleon auch bei ihm in ein gesteigertes Nationalbewusstsein um. Den mit der Forderung nach nationaler Einheit einhergehenden freiheitlichen Idealen stand Hassenpflug indes schon als Student reserviert gegenüber. Nicht zuletzt aus dem engen Kontakt mit den Grimms resultierte Hassenpflugs Hinwendung zur Romantik und zur historischen Rechtsschule und - vice versa - seine Ablehnung gegenüber den Idealen von Aufklärung und Naturrechtslehre. Dementsprechend zweifelte Hassenpflug Zeit seines Lebens nie an der Monarchie - trotz der offenkundigen Missstände, die ihm die tägliche Arbeit mit Friedrich Wilhelm I. vor Augen führte. Betonte er allerdings zu Beginn der 30er 14
Abgedruckt bei Grothe (Fn. 11), S. 262 f. Hassenpflug, Denkwürdigkeiten aus der Zeit des zweiten Ministeriums, Staatsarchiv Marburg, 340/Hassenpflug/76, fol. 2. 15
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Jahren noch die Einheit von privatem und öffentlichem Interesse des Fürsten, 16 so führten die Erfahrungen mit Friedrich Wilhelm I. doch zu einem vorsichtigen Wandel seiner Auffassungen. Während seines Aufenthaltes in Preußen machte Hassenpflug Bekanntschaft mit Friedrich Julius Stahl, dessen richtungsweisendes Werk der „Rechts- und Staatslehre" er - gemäß seinen eigenen Bekundungen in seinen „Denkwürdigkeiten" - als Leitfaden seiner Regierungstätigkeit nutzte. Insbesondere orientierte sich Hassenpflug fortan an dem Grundsatz, dass der Fürst zwar Haupt und Mittelpunkt des Staates sei, er aber „die Gewalt nicht als in seiner Person, sondern als im Wesen der Anstalt entsprungen und daher auch nicht nach seinem Privatwillen und zu seinem Privatzweck zu üben hat." 17
Doch Hassenpflug ging in seiner Konfrontation mit Friedrich Wilhelm I. und der sich daraus ergebenden Opposition gegen alle absolutistischen Tendenzen des Kurfürsten noch weiter: Aufgabe der Regierung war es nach seiner Ansicht nicht nur, den fürstlichen Willen zu vollziehen; vielmehr kam ihr eine „moralische Verantwortlichkeit" für die Regierungshandlungen und damit gegenüber dem Fürsten eine Diener- und Wächterstellung zu. Daraus ergab sich nach Ansicht Hassenpflugs für die Regierung die Notwendigkeit, „sich das Feld der freien Thätigkeit da offen zu halten, wohin einzugreifen die fürstliche Persönlichkeit am meisten inclinirt. Wenn diese nun wie es bei meinem Herrn der Fall war, dahin gerichtet ist, die Staatszwecke zu ignoriren, ja solchen entgegen zu wirken, so mußte sich die Nothwendigkeit ergeben, die Mitwirkung desselben auf die möglichst engen Gränzen einzuschränken." 18
Angesichts seiner eigenen Stellung als Minister verwundert es nicht, dass Hassenpflug ein ausgesprochen gouvernementalistisches Regierungssystem verfocht. Von selbst verstand sich die Ablehnung von Volkssouveränität und politischer Mitbestimmung des Landtages. Aber auch dem Anspruch des Fürsten auf Selbstregierung erteilte Hassenpflug eine entschiedene Absage. Dies führte im Verhältnis zu Friedrich Wilhelm I. allerdings geradezu zwangsläufig zu fortdauernden Auseinandersetzungen um die Frage, wer die eigentliche Regierung des Landes führte. In dem von vornherein angelegten Machtkampf zwischen Kurfürst und Minister musste Hassenpflug, solange das monarchische Prinzip galt, jedoch ebenso unausweichlich unterliegen.
16
So in einem Schreiben an den Kurprinzen vom 24.1.1831, in dem Hassenpflug Friedrich Wilhelm I. auf die Unmöglichkeit einer Trennung zwischen seinem öffentlichen und privaten Leben hinweist, weshalb auch privaten Familienentscheidungen in der Regel eine den Staatshandlungen gleichkommende Bedeutung zugemessen werden müsse, Staatsarchiv Marburg, 340/Hassenpflug/219, fol. 50, Konzept in Staatsarchiv Marburg, 340/Hassenpflug/99. 17 Staatsarchiv Marburg, 340/Hassenpflug/76, fol. 122. 18 Staatsarchiv Marburg, 340/Hassenpflug/76, fol. 123.
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Hassenpflugs Staatsvorstellungen waren indes keineswegs rein machtpolitisch motiviert. Von ganz entscheidendem Einfluss waren vielmehr seine religiösen Ansichten, die nicht nur sein Privatleben, sondern auch sein politisches Handeln prägten. Hassenpflug entstammte zwar einem protestantischen, allerdings keineswegs einem betont religiösen Elternhaus. In der Rückschau auf sein Leben kritisierte er vielmehr, dass man in seiner Familie nur mit „verschlossenem Ernst" und sich daran unmittelbar anknüpfendem „äußerlichen Ergötzen" am Abendmahl und den kirchlichen Feiertagen teilgenommen habe.19 Mit ebenso scharfen Worten tadelt Hassenpflug den von rationalistischen Ideen durchdrungenen Religions- und Konfirmationsunterricht: Der schulische Religionsunterricht sei als „völlig dem Evangelium entfremdete Lehre" auf ihn ohne jeglichen Eindruck geblieben, da er sich allein am „herrschenden Rationalismus der glaubenslosen Zeitrichtung" orientiert habe.20 Den von einem „ganz rationalistischen Geistlichen" erteilten Konfirmationsunterricht beanstandet er in seinen „Lebenserinnerungen" als trocken, langweilig und gedankenlos, ohne dass von dem Kern des Evangeliums, von Jesus Christus als dem Erlöser der Welt und der göttlichen Offenbarung die Rede gewesen wäre. 21 Erste bleibende religiöse Impulse empfing Hassenpflug während seiner Studienzeit. Hier wandte er sich erstmals der schon im 18. Jahrhundert aufkommenden Erweckungsbewegung 22 zu, als er im Herbst 1815 eine Predigt der Brüder Sack in Göttingen verfolgte: „Zuerst", so die spätere Schilderung Hassenpflugs in seinen „Lebenserinnerungen", „hielt der ältere, dann wohl am Nachmittag der jüngere Predigten, die von Gottes Wort vom Trost des Evangeliums erfüllt waren und jeden Falls ganz anders klagen als alles, was sich bisher dort in der Kirche hatte vernehmen lassen."23
In den 20er Jahren bestärkten vor allem seine Berliner Kontakte Hassenpflugs religiöse Erweckung. War er bereits durch seine Mutter mit den okkulten und mystischen Erscheinungen des Magnetismus vertraut, so vertieften mehrere Aufenthalte in der preußischen Hauptstadt Hassenpflugs magnetische Erfahrungen. Bei seinem Vetter Wolfart begab er sich zur Behandlung eines nervösen
19 Hassenpflug, Mein Leben bis zum Regierungsantritt des Kurfürsten Wilhelm II. (in Familienbesitz), fol. 202. 20 Hassenpflug (Fn. 19), fol. 132. 21 Hassenpflug (Fn. 19), fol. 201. 22 Vgl. hierzu Kantzenbach, Die Erweckungsbewegung, 1957; Beyreuther, Die Erweckungsbewegung, 2. Aufl., 1977. 23 Hassenpflug (Fn. 19), fol. 485.
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Nervenleidens in magnetische Behandlung, die Hassenpflugs eigenen Bekundungen zufolge, sehr zufriedenstellend verlief 2 4 Aus der Bekanntschaft mit Schleiermacher und dem Prediger Grell ergab sich für Hassenpflug zudem mehr und mehr eine Verquickung von Magnetismus und Christentum. In seinen „Lebenserinnerungen" beschreibt er seine religiöse Entwicklung: „Wie stark die Vermischung der geoffenbarten Wahrheit mit der magnetischen Erscheinung war, erhellt daraus, daß ich mir das Segnen des Brods und des Weins beim heiligen Abendmahl als auf eine Art magnetischer Einwirkung erfolgt, vorstellte und mir ferner die Lehre im Brief Jacobs Cap. 5 ν. 14 u. 15 vom Salben mit Oel und dem Gebet der Heiligen in derselben Weise erklärte, so daß wie ich einmal mit der Frau des Prof. Schleiermacher auf einer Spatzierfahrt im Wagen saß, ich zu ihr äußerte, daß was in dem Brief Jacobs vom Salben mit Oel und dem Gebet der Heiligen stehe, doch eigentlich nur Magnetisieren sei." 25
Über seinen Freund Radowitz hatte Hassenpflug in den 20er Jahren zudem Bekanntschaft mit der Familie Schwertzell gemacht, auf deren Familiensitz in Willingshausen er nun häufig zu Gast war. Mit den Schwertzells verband Hassenpflug bald die leidenschaftliche Hinwendung zum lebendigen evangelischen Christentum und zu religiöser Erweckung. Insbesondere der intensive Briefwechsel mit Wilhelmine von Schwertzell gibt einen aufschlussreichen Einblick in die rigorose Frömmigkeit auf beiden Seiten: So schrieb beispielsweise Wilhelmine am 6.8.1824 an Hassenpflug: „Geliebter Freund, Sie sorgen dafür daß mein Glaube wachse, mein Glück im Herrn sich mehre, was Sie mir geben, worum Sie mich bitten, wie Sie zu mir reden, alles ist Frucht der Christusliebe und nährt auf dem Spruch: Baue einer den andern. [...] Daß Sie so geringe von sich denken, lieber Bruder, täglich Buße thun möchten ist ja der sicherste Beweis dass der heilige Geist geschäftig ist an Seinem Werke [...]. Wann ist uns wohler als in der freudvollen Ausübung dessen was der Herr selbst befehlen?" 26
Schon hier klingt an, dass Hassenpflugs religiöse Erweckung nicht ohne Einfluss auch auf sein politisches Handeln bleiben konnte und aus der freudvollen Unterwerfung des Einzelnen unter den Befehl des Herrn ein tief empfundenes Sendungsbewusstsein entsprang. Dass die Religion nicht nur die Grundlage seiner politischen Überzeugung, sondern auch einen Leitfaden zum konkreten Handeln darstellen sollte, betonte auch Hassenpflugs spirituelle Freundin Wilhelmine von Schwertzell. Am 13.1.1840 schrieb sie an Hassenpflug, sie habe die feste Zuversicht, „daß Jesus Ihr Mittelpunkt, Seine Ehre Ihr Ziel, Sein Wohlgefallen Ihr Lohn, Sein Wort Ihre Richtschnur ist, daß Sein Wille Sie treibt oder zurückhält, daß Sie theures
24
Hassenpflug
(Fn. 19), fol. 598.
25
Hassenpflug
(Fn. 19), fol. 596.
26
Staatsarchiv Marburg, 340/Hassenpflug/61d.
Ludwig Hassenpflug - Religiöser Konservativismus im Kurfürstentum Hessen 101 und vollausgerüstetes Werkzeug im Großen fördern, was wir im kleinen zur Absicht haben, und daß hierdurch Sein Reich gefordert wird." 2 7
Mit den Worten Wilhelmines von Schwertzell verstand Hassenpflug sich demnach als Diener und Werkzeug Christi, an dessen Wohlgefallen er auch sein politisches Agieren orientierte. Vom Glauben an einen sich persönlich offenbarenden Gott waren Hassenpflugs Staats- und Verfassungsvorstellungen demnach nicht zu trennen. Zwar schwebte ihm wohl kaum die Errichtung einer Theokratie, wohl aber ein festes christliches Fundament des Staates vor. Dementsprechend war er auch ein entschiedener Gegner der Zivilehe, was er nicht zuletzt in seiner Denkschrift über die Rechtsstellung der Juden vom 10.5.183328 zum Ausdruck brachte. Darin machte er deutlich, dass eine Eheschließung zwischen Christen und Juden unvereinbar mit dem in der Verfassungsurkunde 29 verbürgten christlichen Charakter des Staates sein sollte. Mit seinen religiösen Überzeugungen verband sich für Hassenpflug daher geradezu selbstverständlich die Vorstellung, die Monarchie von Gottes Gnaden stelle die von Gott gewollte Staatsform dar, in der ein von Gott eingesetzter Monarch als Herrscher eines christlichen Staates fungierte. 30 Problemlos gelang es Hassenpflug, dieses christliche Fundament seiner Staatsvorstellung mit der schon aus dem Elternhaus gewohnten Bekämpfung aller revolutionärer Ideen und seiner Ablehnung von Naturrecht und Liberalismus zu verbinden. Doch nicht nur Demokratie und Volkssouveränität waren Hasenpflug daher fremd; auch die theoretisch-rationalistische Begründung des Absolutismus durch Hobbes und Bodin und deren praktische Umsetzung durch Friedrich Wilhelm I. war mit der wahrhaft gottgewollten Staatsordnung, wie Hassenpflug sie sah, nicht vereinbar. Im Wesentlichen folgte Hassenpflug damit der Staatstheorie Hallers und der Forderung nach Rückkehr zu einem vorabsolutistischen Ständestaat.31 Die religiös fundierte Idee eines „christlich-germanischen Staates" und einer monarchisch-patriarchalischen Staatsftihrung wurde so für Hassenpflug zum fundamentalen Leitbild seiner politischen Anschauung und Tätigkeit. War die Ablehnung von Rationalismus, Aufklärung und Revolution auch Ausgangspunkt seiner Weltanschauung, so hatte dies auf der anderen Seite aber
27
Staatsarchiv Marburg, 340/Hassenpflug/61d. Staatsarchiv Marburg, 16 Rep. XIV/11988, fol. 343-349; abgedruckt bei Seier/ Grothe, Akten und Briefe 1830-1837, 1992, S. 240-245. 29 Der zehnter Abschnitt der kurhessischen Verfassung vom 5.1.1831 trägt den Titel „ V o n den Kirchen, den Unterrichts-Anstalten und den milden Stiftungen", abgedruckt bei Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Band 1,3. Aufl., 1978, S. 238-262. 28
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So auch Grothe {Fn. 1), S. 72. So auch Friderici (Fn. 1), S. 103.
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auch ein positives Eintreten für eine monarchische Ordnung und einen christlichen Staat zur Folge. Dass Hassenpflug kein eigenes politisches Programm verfolgt hätte, lässt sich nach alledem nicht behaupten. Als Vorkämpfer fur Gottesgnadentum und Fürstensouveränität waren seine Ansichten allerdings auch damals schon rückwärtsgewandt und damit im wahrsten Wortsinne „reaktionär".
III. Juden und Judenemanzipation im Kurfürstentum Hessen Zu den Reformaufgaben des Verfassungsstaats, die eine ausgeprägt weltanschauliche Komponente aufwiesen, gehört die bürgerliche Gleichstellung der Juden.32 Für einen prinzipiengebundenen Verteidiger des christlichen Staats wie Ludwig Hassenpflug stellten die gesellschaftliche Integration und kulturelle Assimilation der landsässigen Judenschaft eine besondere Herausforderung dar. Ansatzpunkt war die auch in Kurhessen betriebene Emanzipationsgesetzgebung, wobei im Folgenden ein besonderes Augenmerk der Mischehenproblematik, dem Connubium zwischen Juden und Christen, gelten soll. Der Status der Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte dadurch einen radikalen Umbruch erfahren, dass der Kurstaat Teil des neu errichteten Königreichs Westphalen wurde: Aus den tolerierten und konzessionierten Schutzjuden wurden mit Dekret vom 27.1.1808 gleichberechtigte Untertanen, die, wie in Frankreich seit 1791, alle bürgerlichen Freiheitsrechte genießen sollten.33 Zu diesen Freiheiten zählten die freie wirtschaftliche Betätigung der bisher zunftunfähigen Juden ebenso wie die durch das französische Zivileheprinzip verbürgte Eheschließungsfreiheit. Nach dem Zerfall des Königreichs Westphalen und der Rückkehr des Kurfürsten Wilhelm leitete das Regierungsausschreiben, „die Wiederherstellung der vaterländischen Rechtsverfassung betreffend", vom 10.1.1814 die Restauration der „in Kurhessen vor dem 1. November 1806 bestandenen Rechte" 34 ein. Aber dieser einfache Rückgriff auf das vorrevolutionäre Recht war nicht ohne Einschränkungen möglich. Die Franzosenzeit hatte Spuren hinterlassen, die sich nicht einfach tilgen ließen. So blieb die Einsicht erhalten, dass die Juden nicht mehr auf den Status einer außerhalb der christlichen Standesordnung befindlichen Minderheit zurückverwiesen werden konnten - das Judenrecht des ancien régime war nicht mehr restaurierbar. In diesem Sinne hatte auch das preußische Emanzipationsedikt vom 1 1.3.181235 neue
32 Für Kurhessen wesentlich: Hentsch, Gewerbeordnung und Emanzipation der Juden im Kurfürstentum Hessen, 1979. 33 Berding , Archiv fur Sozialgeschichte, 1983, S. 23-50. 34 Sammlung von Gesetzen, Verordnungen, Ausschreiben und sonstigen allgemeinen Verfügungen für die kurhessischen Staaten I, 1813-1816, S. 8. 35 Huber (Fn. 29), S. 45-47.
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Maßstäbe gesetzt. Demzufolge forderte der Kurfürst bereits im Juni 1814 die Regierung in Kassel dazu auf, Bericht darüber zu erstatten, wie „die Juden bessere Menschen und nützliche Mitglieder des Staates werden" können; der Kurfürst zeigte sich geneigt, den Juden bürgerliche Rechte zu gewähren, und zwar „nach Vorgang anderer Souverains". Das von der Regierung am 28.12.1814 abgefasste Gutachten ist ein bemerkenswertes Dokument.36 Es stellt einen Kontrast zu den späteren Stellungnahmen Hassenpflugs dar und soll daher näher beleuchtet werden. Dass der Neubeginn der Emanzipationsgesetzgebung in Kurhessen noch einem aufklärerischen Befreiungsgedanken verpflichtet blieb, zeigen die einleitenden historischen Betrachtungen zu den Ursachen des Judenproblems: „Die drückende Verfassung, in der die Juden noch gegenwärtig in den meisten Staaten leben, ist ein Überbleibsel der unpolitischen und unmenschlichen Vorurteile der finstersten Jahrhunderte, und aus der unglücklichen Geschichte der Israeliten folgt, wie sie nur deshalb als Menschen und Bürger so verderbt gewesen sind, weil man ihnen die Rechte beider versagt hat. ... Diese Unglücklichen, die kein Vaterland haben, deren Tätigkeit allenthalben beschränkt ist, die nirgends ihre Talente frei äußern können, an deren Tugend nicht geglaubt wird, für die es fast keine Ehre gibt, fanden in Hessen bereits im 16. Jahrhundert an Philipp dem Großmütigen, besonders aber an Wilhelm dem Weisen einen Beschützer...".
Wenn auch die Bedeutung der Judenordnung Philipps des Großmütigen von 153937 und der landgräflichen Judenpolitik überhaupt aus patriotischen Gründen idealisiert wird, bleibt doch die Erkenntnis, dass die „bürgerliche Verbesserung der Juden" - so ein geläufiges Schlagwort seit dem späten 18. Jahrhundert 38 - nicht nur eine Aufgabe des an Freiheit und Gleichheit orientierten konstitutionellen Gesetzgebers ist, sondern dass es auch um die Bereinigung historischer Schuld geht. So berichtete das Regierungsgutachten ganz offen von Gewaltmaßnahmen, von „Verfolgungen ohne Gränzen", von Diskriminierungen durch „Unterscheidungen an der Judenkleidung" etc. Andererseits ist von der „Verderbtheit der Juden an Charakter und Geist" die Rede, aber solche Mängel sind die Folge einer allenthalben praktizierten Rechtsungleichheit: „Allein die Meinung, das Verfahren mit den Juden sei eine notwendige Folge ihres Charakters, ruht auf einer unrichtigen Logik, denn die politische Herabwürdigung derselben hat erst ihre sittliche bewirkt, und nun wechselt man die Wirkung mit der Ursache und führt das Übel, welches die bisherige fehlerhafte Politik hervorgebracht hat, zur Rechtfertigung derselben an. Man kann zugeben, daß die Israeliten sittlich verdorbener sind als andere Nationen, daß sie sich einer verhältnismäßig größern Zahl von Vergehungen schuldig machen als die Christen, daß ihr Charakter mehr zu Wucher und Hintergehung im Handel gestimmt, ihr Religionsvorurteil trennender
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Staatsarchiv Marburg, 16 Rep. XIV/11984; auch Hentsch (Fn. 32), Anhang A.
Dazu Buchholz, in: Recht, Idee, Geschichte, Beiträge zur Rechts- und Ideengeschichte, 2000, S. 201-227. 38 Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, 1781/83.
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und ungeselliger ist, aber dieses alles ist eine notwendige Folge der drückenden Verfassung, in welcher diese unglücklichen Menschen leben. Muß der Verachtete nicht verächtlich, der Unterdrückte nicht ungerecht werden? Enthält die Ehre nicht den Keim zu allem Guten? Kann der der Tugend huldigen, dem alle Welt sie abspricht? Kann der ein guter Mensch und guter Bürger sein, welchen der Staat nur insoweit duldet, als er Abgaben gibt, der sein bloßes Dasein erkaufen muß, dem auf der einen Seite Geld alles und dem alles Übrige nichts ist, und der zugleich auf der anderen Seite meist nur durch Vergehungen zu dem Gelde, zu dem gelangen kann, was er zur Stillung des Hungers für sich, für Weib und Kind bedarf? Jede andere Menschengattung, in dieselben Umstände versetzt, würde sicher dieselben Vorwürfe auf sich laden."
Wenn es nun gilt, „die Mittel aufzufinden, die Juden zu besseren Menschen und nützlichen Bürgern zu bilden", dann geht es um die bürgerliche Gleichheit, Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, freie Berufswahl, Religionsfreiheit und die Wahrnehmung staatsbürgerlicher Aufgaben. Gerade an der Frage, ob „den Juden gleiche Rechte mit den übrigen Staatsbürgern zu erteilen" seien, schieden sich die Geister. Eine Minderheit ging davon aus, dass die Juden „durch den Genuß der bürgerlichen Rechte um nichts gebessert" würden. Denn gerade die sechs Jahre, in denen die französischen Freiheiten in Geltung standen, und die Juden „völlige Gleichheit der Rechte mit anderen Untertanen genossen", hätten gezeigt, dass die Juden umso „ungebundener ihr betrügerisches Wesen" und den „Schächerhandel" betrieben. Kein Jude würde durch diese Freiheiten veranlasst, in ein Handwerk oder den Ackerbau zu wechseln. Die Mehrheit sah dies anders und wollte den Juden die staatsbürgerlichen Rechte zubilligen, jedoch mit Einschränkungen. Stein des Anstoßes war der jüdische „Nothandel" - der Leih-, Trödel-, Hausierhandel und die Viehmäklerei - also die niederen Handelsformen, die das Bild des unruhigen, umherschweifenden, schachernden Juden geprägt hatten. Dieses traditionelle Rollenbild aufzulösen, die Juden vom „so verderblichen Wuchergeiste" abzuziehen, wurde zur Erziehungsaufgabe: „Der Handel raubt den Sitten ihre Reinheit. Wo der merkantilistische Geist der herrschende ist, da werden alle moralischen Handlungen und Tugenden ein Gegenstand des Handels und die kleinsten Gefälligkeiten, selbst Pflichten der Menschlichkeit, werden um Geld verkauft. Um der nachteiligen Richtung, welcher dieser beinahe ausschließliche Erwerbszweig der Juden ihrer sittlichen Kultur gegeben hat, möglichst bald Einhalt zu tun, wird es nicht hinreichen, ihnen den Weg zu allen übrigen bürgerlichen Beschäftigungen zu öffnen, sondern eine gewisse Leitung hierin wird sicherer zum Ziel führen. Man wird daher suchen müssen, die Juden vorerst von der Beschäftigung des Handels abzuziehen und die Einwirkungen desselben dadurch zu schwächen, daß man ihnen Veranlassung gibt, diejenige Art des Erwerbes vorzuziehen, welche am meisten einen entgegengesetzten Geist und Gesinnungen einzuflößen fähig ist. Dieses werden die Handwerke sein."
Diese Zielsetzung, die Juden von „Schacher und Wucher" abzuhalten und sie dem redlichen Handwerk zuzuführen, sollte dergestalt durchgesetzt werden, dass den Nothändlern („Schacherjuden") die staatsbürgerlichen Rechte verweigert wurden, mit der Konsequenz, dass eine gewerbliche Betätigung dieser Ju-
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den weiterhin nur mit staatlicher Duldung und Schutzbrieferteilung möglich war. Dass dieses Erziehungsziel, das die Juden- und Gewerbepolitik des Kurstaates bis zu seinem Ende (1866) bestimmte, letztlich an ihre ökonomischen Grenzen stieß, zeigt sich schon darin, dass auch in den Folgejahrzehnten keine bemerkenswerte Änderung beim Vorrang des Handels in den gewerblichen Verhältnissen der Juden eintrat. 39 Erörtert wurde ferner die Zulassung der Juden zu akademischen Berufen. Die grundsätzlich bejahende Haltung wurde in einem Punkt modifiziert: „Nach der Meinung des gedachten Kollegii (Oberrentkammer) wäre ihnen aber die Advokatur vorerst am wenigsten zu gestatten, weil in diesem Fache ihre Rabulisterei sehr nachteilig wirken könne." Ein Jahrhundert später wird die freie Advokatur zu den klassischen jüdischen Berufen gehören. Bedenken tauchten auf, ob der Fortfall der typischen , judenschaftlichen Abgaben" nicht den Staatshaushalt unverhältnismäßig belasten würde. Aber der fiskalische Charakter des Judenschutzes gehörte der Vergangenheit an. So konnte bereits am 16.5.1816 das erste kurhessische Emanzipationsedikt in Kraft treten, die „Verordnung, die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen als Staatsbürger betreffend", 40 eine Regelung, deren Verabschiedung von den jüdischen Gemeinden in Kurhessen durch die Zahlung von 75.000 Reichstalern gefordert wurde. Gemäß § 1 der Verordnung wurde die Rechtsgleichheit, die Gleichstellung mit den „christlichen Unterthanen", hergestellt. Damit hatten die Juden freien Zugang zum Landbau, Handwerk, zu den Fabriken, Manufakturen, kurzum zum „ordentlichen Handel" wie alle übrigen Untertanen. Ausgeschlossen von den bürgerlichen Rechten blieben lediglich die jüdischen Nothändler (§ 15). Die „fortschrittliche" 41 Verfassung Kurhessens vom 5.1.183142 garantierte allen Einwohnern die Gleichheit vor dem Gesetz (§ 26), gewährte Gewissens- und Kultusfreiheit (§ 30) und erklärte, dass die Konfessionsunterschiede keinen Einfluss auf die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte haben (§ 29 Abs. 1) sollten. Zu den Juden hieß es in § 29 Abs. 2: „Die den Israeliten bereits zustehenden Rechte sollen unter den Schutz der Verfassung gestellt seyn, und die besonderen Verhältnisse derselben gleichförmig für alle Gebietstheile durch ein Gesetz geordnet werden."
Der konstitutionelle Wandel zog damit ein zweites Emanzipationsgesetz nach sich. Die Rechte der Juden sollten im Lichte der neuen Freiheiten verstärkt werden. In den Jahren 1831/32 wurden zwei Entwürfe vorgelegt und beraten. 39 40 41 42
Dazu im Einzelnen Hentsch (Fn. 32). Sammlung von Gesetzen (Fn. 34), S. 57-60. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 5. Aufl., 2005, Rn. 337. Sammlung von Gesetzen (Fn. 34), V I 1831-1833, Nr. 1.
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Die judenfreundliche Tendenz des geplanten Gesetzes widersprach zutiefst den Vorstellungen des 1832 neu ernannten Regierungschefs Hassenpflug. Einen besonderen Angriffspunkt bildete der Zugang von Juden zu öffentlichen Ämtern. Am 10.5.1833 legte Hassenpflug dem Kurprinzen und Mitregenten Friedrich Wilhelm seine Stellungnahme vor. 43 Darin vertrat Hassenpflug die Ansicht, dass der fragliche § 29 nur die vorkonstitutionellen Rechte garantieren, aber keine neuen schaffen wollte. Daran ändere auch § 22 der Verfassung - Zugang zu öffentlichen Ämtern für alle Staatsbürger - nichts. Mithin sollten für Juden weiterhin nur die Rechte gelten, die in der Verordnung von 1816 enthalten waren. Und 1816 gab es überhaupt keinen Anspruch auf Zugang zu öffentlichen Ämtern oder Teilnahme an der Landstandschafit. Hassenpflug war ein befähigter Jurist. Seine Argumentation widersprach zwar dem Geiste der Verfassung, war aber mit dem Verfassungstext durchaus vereinbar. Er konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Der § 1 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Israeliten vom 29.10.1833 erklärte die Juden zu gleichberechtigten Staatsbürgern, denen alle staatsbürgerlichen Befugnisse - mithin auch die Teilhabe an öffentlichen Ämtern im Sinne des § 22 der Verfassung - dem Grundsatz nach zustehen sollten. Wo weltanschauliche Grundsatzfragen angesprochen werden, verdient ein anderer Aspekt eine weitergehende Beachtung. Kurhessen zählte zu den Gebieten des gemeinen Rechts, so dass dort das Verbot der christlich-jüdischen Mischehe, das im römischen (C. 1. 9. 6) und kanonischen Recht (C. 28 q. 1 c. 15) begründet war, 44 seine Geltung mangels abweichender partikularrechtlicher Vorschriften behalten hatte. Diese Geltung war aber durch die Verfassung von 1831 (§ 30: „Jedem Einwohner stehet vollkommene Freiheit des Gewissens und der Religions-Übung zu") in Frage gestellt. Es lag in der Konsequenz des § 30 der Verfassung, wenn der Entwurf des Emanzipationsgesetzes45 folgende Regelung enthielt: „Die Ehen zwischen Christen und Juden werden von Seiten des Staates nicht gehindert" (§ 7 bzw. § 8). Bei der Beratung im Landtag (Mai 1832) bestand Einigkeit darüber, 46 dass diese Vorschrift im Falle einer geplanten christlich-jüdischen Mischehe folgenlos bleiben würde, solange die Eheschließungsform als kirchlicher Akt von den kirchlichen Eheschließungsnormen abhängig war. Und kirchenrechtlich blieb das kanonische Eheverbot verbindlich. Man erkannte durchaus, dass sich dieses Problem nur durch die gesetzliche
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Staatsarchiv Marburg (Fn. 28). Hierzu Buchholz, in: Perspektiven des Familienrechts, FS Schwab, 2005, S. 287-
304. 45 Verhandlungen des kurhessischen Landtages vom Jahre 1831, 9. Abteilung 104. Beilage (Mai 1832). 46 Verhandlungen des kurhessischen Landtages (Fn. 45), Nr. 139, S. 2075 ff.
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Einführung der Zivilehe lösen ließ - und zu einer solchen Lösung war die Mehrheit der Landstände noch nicht bereit. Hassenpflug sieht in seiner Demarche vom 10.5.1833 das Problem weitaus pointierter. Nicht der Konflikt zwischen zwei Rechtsordnungen steht in Frage, sondern die Unvereinbarkeit eines jüdisch-christlichen Connubiums mit den kulturellen Normen und Traditionen des christlichen Staats. Seine Begründung überrascht zunächst. Der Jurist Hassenpflug geht gerade nicht von den Rechtsquellen aus - mit denen sich de lege lata ein Eheverbot begründen ließ. Vielmehr spricht er unter den Gegebenheiten des bürgerlichen Staats die Befindlichkeiten und sozialen Standards des arrivierten Bürgertums an: „Allein auch der weitere, die Ehe zwischen Christen und Juden als gesetzlich zulässig aussprechende Satz kann wohl nicht bleiben, weil ... der Staat in seinen Gesetzen nicht Erscheinungen möglich machen darf, welche den Einzelnen folgeweise in die kränkendste Lage versetzen, Juden in seiner Verwandtschaft haben zu müssen, wovor im Gegenteil ein Schutz in den Gesetzen bereitet sein muß."
Die Forschung zur Geschichte des Judentums unterscheidet gemeinhin zwischen einem religiös begründeten Antijudaismus und einem rassistisch ausgerichteten Antisemitismus. 47 Die Zeit der groben Polemiken eines Johann Pfefferkorn, Anton Margaritha, Georg Nigrinus und auch eines Martin Luther war vorüber, die Zeit des biologisch-völkischen Rassismus hatte noch nicht begonnen. Ludwig Hassenpflug fugt ein Neues hinzu. Die Gesellschafitsfahigkeit des Juden wird verneint, und zwar in einer Zeit, in der die wohlgeordnete Welt des vormärzlichen Bürgertums durch das Bild des unsteten, umherziehenden Nothändlers, des betrügerischen Hausierers und Schacherjuden, gestört wurde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die soziale Wirklichkeit der Juden im Kurstaat noch durch zahlreiche Bedrückungen und Beschränkungen gekennzeichnet war, bevor die Emanzipationsgesetzgebung zu nachhaltigen Statusverbesserungen fuhren konnte. Hassenpflug, der religiöse Mystiker und Vertreter einer restaurativen Staatsidee, vergisst den christlichen Ausgangspunkt des Mischehenverbots nicht. So meinte er, dass die Zulassung einer Ehe zwischen Christen und Juden der „christlichen Grundlage der Staatsverfassung 4' zuwiderlaufen würde. Kurhessen bleibe, auch aufgrund der Verfassung von 1831, dem Gedanken des christlichen Staates verpflichtet. Mit seinem Antrag, die Mischehenregelung zu streichen, hatte Hassenpflug Erfolg. Im Emanzipationsgesetz vom 29.10.183348 fehlt diese Vorschrift. Die Stände waren zu der Überzeugung gelangt, dass eine positive Regelung der christlich-jüdischen Mischehe erst eine Regulierung des Verhältnisses von Staat und Kirche in Kurhessen voraussetzen würde.
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Dazu näher Buchholz, in: FS Kleinheyer, 2001, S. 51-66 m.w.N. Sammlung von Gesetzen (Fn. 34), V I 1831-1833, S. 144-149.
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Trotz dieser abweisenden Haltung gab es bereits im Vormärz einzelne Fälle, 49 in denen Juden und Christinnen, die bisher im „Konkubinat" gelebt hatten, um die Legalisierung ihrer Verbindung durch eine förmliche Eheschließung baten. 50 Diese Verbindungen bedurften eines landesherrlichen Dispenses, da das gemeinrechtliche Mischehenrecht - das römisch-rechtliche Eheverbot und das kanonische Ehehindernis - zu keiner Zeit förmlich aufgehoben worden war. Das zunächst zuständige Konsistorium in Kassel war verunsichert und zwar aufgrund des § 1 S. 2 des Judengesetzes von 1833, wonach „alle nur auf das Glaubensbekenntniß gegründeten Verschiedenheiten, welche aus früheren Gesetzen, Verordnungen, Vorschriften, Observanzen und sonstigen Rechtsquellen sich ergeben", erloschen sein sollten. Die Kirchenbehörde ging davon aus, dass zu den erloschenen Vorschriften auch das gemeinrechtliche Eheverbot gehöre. Sie richtete an die Regierung den Antrag, eine gesetzliche Regelung über die nunmehr zulässige Trauungsform zu erlassen. Der Innenminister Hassenpflug gab der Behörde eine harsche Antwort. Dem Konsistorium wurde auf seine Anfrage eröffnet, „daß der darin enthaltene Antrag unstatthaft erschien, da das Verbot der Ehen zwischen Christen und Juden nicht auf einer auf das Glaubensbekenntniß gegründeten Verschiedenheit, sondern einer Gleichheit beruhte, indem nicht nur den Christen, sondern auch den Juden die fragliche Ehe durch Glaubenslehren verboten war, und der § 1 d. u. Ges. keineswegs alles erlaubt hat, was beiden vorher untersagt war."
Der Jurist Hassenpflug hatte den Gleichheitssatz der Verfassung konsequent als Gleichheit vor dem Gesetz und nicht als Gleichstellung aller Untertanen durch Beseitigung glaubensbedingter Rechtsungleichheiten interpretiert und damit den eigentlichen Reformgedanken überspielt. In der weiteren Amtszeit Hassenpflugs blieben alle Bemühungen, Mischehen zwischen Juden und Christen zu schließen, erfolglos. Hassenpflug ließ nicht nur alle Anträge abschlägig bescheiden, sondern wies darüber hinaus auch die Polizeibehörde an, die in unzulässigem Konkubinat lebenden Paare ausweisen zu lassen. Nach 1837 bildete sich eine merkwürdige Kompromisslösung heraus. Auch der Nachfolger Hassenpflugs, Hanstein, verweigerte den Dispens. Aber den jüdisch-christlichen Paaren wurde ein Ausweg eröffnet, denn im benachbarten Eisenach konnte die Trauung vollzogen werden, da die Großherzoglich SachsenWeimarische Judenordnung vom 20.6.182351 ausdrücklich eine christlich-jüdische Mischehe gestattete und zudem noch die Trauungsform regelte. Dass der Weg zur Trauung im benachbarten „Ausland" mit ausdrücklicher Duldung der
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Staatsarchiv Marburg, 16 Rep. XIV/12017. Hierzu und zum Folgenden Buchholz , Anfänge christlich-jüdischer Mischehen in Kurhessen, in: FS Huber, 2006, S. 3-26. 51 Sammlung Großherzoglich Sachsen-Weimar-Eisenachischer Gesetze, Verordnungen und Circularbefehle, 3. Band II/2, S. 1120-1133. 50
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kurhessischen Regierung erfolgte, war schon deswegen wichtig, weil die nunmehr getrauten Paare in ihre Heimat zurückkehren konnten, ohne wegen eines unzüchtigen Zusammenlebens (Konkubinat) verfolgt zu werden. 1848 kam es kurzfristig zur Einfuhrung der Zivilehe in Kurhessen (Gesetz vom 29.10.1848 52 ), so dass alle Hindernisse für gemischtreligiöse Eheschließungen entfallen wären. Aber diese Episode blieb ohne bemerkenswerte Folgen - die Zivilehe wurde als revolutionäres Überbleibsel gestrichen. Weitaus folgenreicher war der Umstand, dass 1850 das zweite Ministerium Hassenpflug begann. Denn Hassenpflug ging sofort daran, den Weg nach Eisenach zu verstellen. Die Duldungspraxis wurde unterbunden. Mit Weisung vom 15.3.1851 bekräftigte Hassenpflug, „daß die kirchliche Einsegnung einer Ehe zwischen Christen und Juden, als mit den Grundlagen der christlichen Kirche unvereinbar, den Geistlichen unbedingt untersagt sei." Und mit Beschluss des Innenministeriums vom 24.9.1853 wurde angefügt, „daß ... eine im Auslande geschloßene, den Gesetzen des Kurstaates widersprechende Ehe aber in letzterem Anerkennung nicht finden könne." Hassenpflug hatte erreicht, dass die Eheschließung nur dann möglich war, wenn der christliche Partner zum Judentum konvertierte, was seit 1848 zulässig war. Gegen Ehen unter Anhängern des mosaischen Glaubens war nichts einzuwenden, wesentlich war nur, dass die christliche Ehe den Christen vorbehalten blieb.
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Sammlung von Gesetzen (Fn. 34), X I 1846-1848 Nr. 27, S. 133-139.
Hermann von Schulze-Gaevernitz (1824-1888) - Preußischer Kronsyndikus und Heidelberger Staatsrechtslehrer Von Klaus-Peter Schroeder Einen bemerkenswerten Erfolg konnte die Heidelberger rechtswissenschaftliche Fakultät mit der Berufung Hermann Schulzes verbuchen, welcher als Nachfolger Heinrich Zöpfls am 14.11.1877 für die Fächer „der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte und des deutschen Reichs- und Landesstaatsrechts einschließlich Verwaltungsrecht und Policeiwissenschaft" zum ordentlichen Professor und Geheimen Rat 2. Klasse vom badischen Großherzog Friedrich I. ernannt wurde. 1 Am 1.4.1878 trat er sein Amt an. Obwohl er als Gehalt das Doppelte dessen verlangte, was Zöpfl erhalten hatte, entschied man sich in Karlsruhe fiir Hermann Schulze.2 Schon seit langen Jahren zählte er zu den „fruchtbarsten, bedeutendsten und wirksamsten neuesten deutschen Staatsrechtslehrern" 3 und gereichte damit auch der altberühmten Heidelberger Hochschule zur Ehre und weiteren Attraktivität. 4 Gleichzeitig gewann der badische Staat mit ihm einen Rechtsgelehrten, der auf dem umkämpften Gebiet der Kirchenpolitik im Rahmen seiner Tätigkeit im preußischen Herrenhaus bereits vielfältige Erfahrungen hatte sammeln können. Gerade während jener spannungsreichen Epoche des erbittert geführten Kirchenkampfes im Großherzogtum und den damit verbundenen Auseinandersetzungen um die Gemeinschaftsschule, an der das Kabinett Julius Jolly gescheitert war, suchte man den Rat eines im Reich hoch angesehenen Staatsrechtslehrers. 5 Sicher bildete auch dieser Gesichtspunkt ein nicht zu unterschätzendes Moment bei der Berufung Schulzes. Ohne weitere Diskussionen stimmte man im badischen Innenministerium daher zu, ihm eine „wesentliche Gehaltsverbesserung" einzuräumen. Lediglich das Salär des Seni1 Generallandesarchiv (GLA) Karlsruhe, 76/10060; Universitätsarchiv Heidelberg (UAH), PA 2266; Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803-1932, 1986, S. 249 f. 2 Festgesetzt wurde die jährliche Dotierung auf 9.400 Mark (neben dem gesetzlichen Wohnungszuschuss); ohne weiteres Zögern nahm Hermann Schulze den Ruf zu diesen Konditionen mit Schreiben vom 8.11.1877 an; am 29.4.1878 erfolgte seine Vereidigung (vgl. GLA Karlsruhe, 235/3117 fol. 413 ff.). - Zu Zöpfl vgl. Schroeder, in: Kern/Wadle/Schroeder/Katzenmeier (Hrsg.), FS Laufs, 2006, S. 287 ff. 3 Landsberg, in: ADB 33, S. 1; Heimburger, in: von Weech (Hrsg.), Badische Biographien, 4. Teil, 1891, S. 417 ff.; Weigle, Die Staatsrechtslehrer an der Universität Heidelberg im 19. Jahrhundert - Lebensbilder und Forschungsbeiträge, 1986, S. 91 ff. 4 An zweiter Stelle der von der Fakultät erstellten Vorschlagsliste folgte Otto Franklin aus Tübingen, die dritte Position nahm Paul Laband (Straßburg) ein. 5 Vgl. Fenske, in: Schwarzmaier (Hrsg.), Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte, Band 3, 1992, S. 172 ff.
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ors und „spiritus rector" der Juristenfakultät, Ernst Immanuel Bekker, übertraf noch das von Hermann Schulze.6 Aber auch fur Hermann Schulze erfüllte sich mit dem Ruf nach Heidelberg der langte gehegte, aber nur selten offen ausgesprochene Wunsch, „nicht sein ganzes zukünftiges Leben in diesen östlichen Regionen zuzubringen, wo der Mangel einer schönen Natur und die große Entfernung vom übrigen Deutschland einem doch manchmal recht schwer zu tragen wird." 7 Bereis seit geraumer Zeit stand er gleichfalls mit dem Karlsruher Hof in Verbindung, bei dem sein Name aufgrund der Vielzahl an Publikationen auf dem Gebiet des Privatfürstenrechts einen guten Klang besaß.8 Nahezu unentbehrlich wurde für den badischgroßherzoglichen Hofstaat seine Publikation über die „Hausgesetze des Durchlauchtigsten Hause Baden". Neben der Pandektistik lag ein weiterer Schwerpunkt der Juristenfakultät an der Ruperto-Carola auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts. Johann Ludwig Klüber und Karl Salomo Zachariae von Lingenthal waren es, welche Forschung und Lehre des deutschen Staatsrechts zu einem neuen Höhepunkt nach der Wiederbegründung der Universität führten. Sowohl als Gelehrter wie auch als Diplomat gleichermaßen erfolgreich, galt Klüber als der „erste Staatsgelehrte in der öffentlichen Meinung Deutschlands" (R. von Mohl). 9 Sein Nachfolger, Karl Theodor Welcker, gab nur ein kurzes Gastspiel an der Heidelberger Universität, die er bereits 1819 wieder verließ, um einem Ruf nach Bonn zu folgen. Weitaus dauerhafter war das Engagement Zachariaes, welcher der Juristenfakultät über einen Zeitraum von 36 Jahren angehörte. Mit stupendem Fleiß bemühte er sich nicht nur um die Gebiete seines engeren öffentlichrechtlichen Faches, sondern verfasste ebenso ein viel gerühmtes „Handbuch des französischen Zivilrechts", das unzählige Neuauflagen erlebte. 10
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Gelegentlich der Berufungsverhandlungen gab Hermann Schulze zu bedenken, „daß er in Breslau im Winter wie im Sommer gleichmäßig zahlreiche Auditorien habe, während in Heidelberg bekanntlich nur das Sommersemester gleiche Einnahmen bieten würde ... Dennoch ist mir der Gedanke, einer so berühmten Universität, wie Heidelberg, anzugehören und auf dem schönsten Punkte deutscher Erde mir ein Daheim zu gründen, so verlockend, daß ich unter Umständen bereit bin, trotz aller Bedenken, einem so ehrenvollen Rufe Folge zu leisten." (Brief vom 3.11.1877, GLA Karlsruhe, 235/3117 fol. 407 v.). 7 Brief an den Historiker Ludwig Häusser vom 17.12.1865, Universitätsbibliothek Heidelberg (UBH), Heid. Hs. 3741. 8 Vergebens bemühte er sich allerdings darum, dem Großherzog gelegentlich einer „Ferienreise nach Süddeutschland" im Jahr 1861 seine Aufwartung zu machen. 9 Zu Klüber vgl. Schroeder, in: Köbler/Nehlsen (Hrsg.), FS Kroeschell, 1999, S. 1107 ff. 10 Zu Zachariae von Lingenthal vgl. Schroeder, in: Mansel/Pfeiffer/Kronke/Kohler/ Hausmann (Hrsg.), FS Jayme, Band 2, 2004, S. 1735 ff.
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Nahezu ein halbes Jahrhundert gehörte Heinrich Zöpfl der Ruperto-Carola an, wo er seit 1828 Staatsrecht und Rechtsgeschichte lehrte. Aber erst 1843 konnte er nach misslichen Querelen die Nachfolge Zachariaes antreten. Gleichzeitig mit Zöpfl war auch Karl Eduard Mörstadt, ein Schüler Klübers, zum Ordinarius ernannt worden. Sein theatralisch-exzentrisches Wesen fand zwar bei dem studentischen Publikum großen Anklang, aber seine sarkastischen Bemerkungen und gehässige Kollegenschelte vom Katheder herab brachten ihm bald den Ruf des „enfant terrible" der Fakultät ein; nach herausragenden wissenschaftlichen Leistungen sucht man bei ihm vergeblich. 11 Aber mit Robert Mohl, der 1847 Heidelberg gegen Tübingen eingetauscht hatte, besaß die Juristische Fakultät endlich wieder eine gelehrte Persönlichkeit von Rang auf dem Lehrstuhl für Öffentliches Recht. Vorläufig jedoch mussten die Studenten auf Mohls Vorlesungen verzichten: 1848/49 nahm er an der Frankfurter Nationalversammlung teil und wurde zum ersten Reichsjustizminister Deutschlands ernannt. Erst nach dem Scheitern des Paulskirchenparlaments fand Mohl die notwendige Muße zur ruhigeren akademischen Tätigkeit. Zwei seiner bedeutendsten Werke entstanden in den Heidelberger Jahren: die „Enzyklopädie der Staatswissenschaften" und die umfängliche „Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften". 12 1861 verließ er die Universität, um als badischer Bundestagsgesandter und späterhin als Reichstagsabgeordneter seinem politischen Temperament Tribut zu zollen. 13 Nachfolger Mohls auf dem Lehrstuhl fiir Staatsrecht und Staatswissenschaft wurde Johann Caspar Bluntschli, der sich in seiner Schweizer Heimat wie auch an der Münchener Universität längst einen ausgezeichneten Namen erworben hatte.14 Eine weitere Steigerung des hervorragenden Rufs der Heidelberger Juristenfakultät bedeutete nunmehr der Gewinn Hermann Schulzes, welcher schon 1867 auf die Vorreiterrolle der Ruperto-Carola auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts hingewiesen hatte.15 Noch Jahre später führte in Marburg Franz von Liszt beredte Klage über die
11 Zu Mörstadt vgl. Küper, in: ders. (Hrsg.), Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. und 20. Jahrhundert, 1986, S. 117 ff.; Schroeder, in: Saar/Roth/Hattenhauer (Hrsg.), FS Holzhauer, 2005, S. 216 ff. 12
S. insbesondere Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2, 1992, S. 176. 13 Grundlegend zu Robert von Mohl die Studie von Angermann, Robert von Mohl 1799-1875. Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten, 1962. 14 Vgl. die im Heidelberger Universitätsarchiv verwahrte Personalakte Bluntschlis (PA 1331); Schroeder, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), FS Mußgnug, 2005, S. 377 ff. 15 „Allerdings fällt die Erörterung dieser Probleme ex professo der Wissenschaft des allgemeinen Staatsrechts anheim. Dieselbe hat sich aber bis jetzt fast nirgends als eine akademische Disciplin Bürgerrecht verschafft, abgesehen von den Vorlesungen über Rechtsphilosophie überhaupt, werden meines Wissens nur in Heidelberg besondere Vorlesungen über allgemeines Staatsrecht gehalten." (in: Zeitschrift für Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte 1 [1867], 435 f.).
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„souveräne Mißachtung des öffentlichen, also auch des Strafrechts in der Staatsprüfung." 16 Über zwei Dezennien hinweg hatte Hermann Schulze höchst erfolgreich an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau - deren Rektorat er 1873 bekleidete - über Staatsrecht, Privatrecht und Internationales Recht gelesen und geforscht. Besonders verbunden wusste er sich aufgrund seiner zahlreichen Werke mit dem preußischen Staat, der ihn 1869 „durch Allerhöchstes Vertrauen" zum Kronsyndikus und lebenslänglichen Mitglied des Herrenhauses ernannte. Nur ein Jahr später ehrte man ihn mit der Verleihung des Titels eines „Königlich Preußischen Geheimen Justizrathes". 17 In dieser Eigenschaft nahm er lebhaften Anteil an den Gesetzgebungsarbeiten auf dem Gebiet der kommunalen Selbstverwaltung und den Diskussionen um die kirchenpolitischen Gesetzesinitiativen. Trotz all dieser Auszeichnungen verließ Hermann Schulze Schlesien, um im badischen Heidelberg eine neue wissenschaftliche Wirkungsstätte zu finden; ausschlaggebend für seine Entscheidung war sicherlich, dass seit der Wiederbegründung der Universität 1803 die Pflege des Öffentlichen Rechts, seinem Hauptarbeitsgebiet, zu den „Ruhmestiteln der Ruperto Carola" zählte.18 Ebenso hatte er sich, gleich seinem Amtsvorgänger Heinrich Zöpfl, zum herausragenden Spezialisten für das Recht des Hochadels entwickelt. Geboren wurde Hermann Johann Friedrich Schulze am 23.9.1824 in Jena, an dessen Hoher Schule sein Vater, Friedrich Gottlob Schulze, als weit bekannter Professor für Nationalökonomie lehrte. 19 Im Alter von 17 Jahren bezog er als Student der Rechtswissenschaften zunächst die Jenaer Salana, engagierte sich am virulenten burschenschaftliehen Treiben der Stadt, wechselte aber dann an die Universitäten Leipzig und Berlin, deren Juristenfakultäten zu den angesehensten im deutschsprachigen Raum zählten. Gleichzeitig beschäftigte er sich während seiner gesamten achtsemestrigen Studienzeit - väterlicher Anregung
16 Liszt „zog sich dadurch manche Unannehmlichkeiten zu, hatte aber doch schließlich den Erfolg, daß zu der ersten Staatsprüfung ... die Mitglieder der Marburger Fakultät in stärkerem Maße zur Mitwirkung herangezogen wurden. Das war unter Umständen eine ziemliche Belastung, hatte aber für mich den Vorteil, daß ich, da mein Prüfungsgebiet das öffentliche Recht umfaßte, mich auch in stärkerem Maße mit den Fragen des Staatsrechts beschäftigen mußte." (zitiert nach Küper [Fn. 11], S. 157). 17 UAH, PA III, 3b Nr. 137 (nur magere Angaben); Weisert, Ruperto Carola 85 (1992), 106 18 So trefflich Jellinek, in: Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert - FS der Universität zur Zentenarfeier ihrer Erneuerung durch Karl Friedrich, Band 1, 1903, S. 255. 19 Das Leben seines Vaters schildert Schulze in einer 1867 erschienenen Biographie „Friedrich Gottlob Schulze-Gaevernitz. Ein Lebensbild, dargebracht zur Enthüllung des Schulze-Denkmals zu Jena am 10. Aug. 1867" (neue Ausgabe 1888).
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folgend - mit volkswirtschaftlichen Fragestellungen. 20 Im Mittelpunkt einer seiner ersten Schriften stehen denn auch „Nationalökonomische Bilder aus Englands Volksleben, mit besonderer Berücksichtigung der landwirtschaftlichen und industriellen Verhältnisse", welche die Erfahrungen einer größeren Bildungsreise nach Britannien reflektierten. 21 Konfrontiert wurde er in dem damals industriell fortschrittlichsten Land Europas mit der katastrophalen Situation der Arbeiterschaft, des „Vierten Standes", welche in der oft gestellten „sozialen Frage" kumulierte. Schulze sieht aber die damit verbundene Problematik nicht, wenn er ausfuhrt: „Die wahrhafte Lösung der sozialen Probleme liegt doch zuletzt in der stillschaffenden Kraft des christlichen Glaubens, unangetastet bleiben die ehrwürdigen Formen, in welchen sich das Leben der europäischen Völker seit Jahrhunderten bewegt, das Eigenthum, das Erbrecht, die Arbeitstheilung, die Familie, die Gemeinde, der Staat mit seinen manchfachen Gliederungen; aber diese Formen müssen durchdrungen und veredelt werden durch ein höheres Pflichtgefühl, Nächstenliebe und wahren Gemeingeist. Wo diese Kräfte in einem Volkskörper wirken und schaffen, da ist, trotz aller sozialen Gebrechen, von keinem Verfalle die Rede und die frische Lebenskraft pulsirt in allen Adern."
An seiner Heimatuniversität Jena wurde er nach bestandenem Staatsexamen 1846 mit einer Schrift promoviert, deren Thematik mit der früheren Kurpfalz und damit seiner späteren Heimat - in einem mittelbaren Zusammenhang steht; ihr Titel lautet: „Diss, de jurisdictione principum, praesertim comitis palatini in imperatorem exercita". 22 Gewidmet ist die Studie seinem gelehrten Vater, dem er „die ehrfurchtvollste Achtung für die Sitten und Einrichtungen unserer Altvorderen verdankt und diejenige Vaterlandsliebe, die das Heil unseres Volkes nicht in den leeren Wahngebilden einer falschen Freiheit erblickt, sondern sich auf Gerechtigkeit und das feste Fundament der geschichtlichen Entwicklung stützt." Zwei Jahre später erfolgte die Habilitation mit einer bemerkenswerten, die Zeitenwende von 1848 aufgreifenden Abhandlung „Der Staatshaushalt des neuen deutschen Reiches".23 Ablehnend stand man im Schulzeschen Hause den sich mit Verbrüderungsfesten und Sturmpetitionen revolutionär gebärdenden Volksversammlungen gegenüber. Überzeugt zeigte sich Hermann Schulze davon, dass das auch von ihm ersehnte Ziel eines einheitlichen deutschen Nationalstaats nicht über den Weg des Umsturzes, sondern allein - „gegen den brutalen Unverstand der Massen und den engherzigen Egoismus der Dynasten"24 unter Preußens Führung zu verwirklichen ist. Notwendige Voraussetzung einer
20 Vgl. nur den reichhaltigen Briefwechsel mit dem Chefredakteur der in Leipzig erscheinenden „Aegronomischen Zeitung" (UBH, Heid. Hs. 3723, 20-26). 21 1853. 22 1847. 23 Gleichfalls in Jena veröffentlicht. 24 Schreiben an Mittermaier vom 23.3.1850 (UBH, Heid. Hs. 2528).
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dauerhaften Staatsbildung waren für ihn ein starkes Heer, eine nationale Flotte, uniforme diplomatische Vertretung und ein einheitliches Finanzwesen. Enttäuscht über den unglücklichen Verlauf der 1848er-Bewegung, suchte er neuen Mut und Kraft in der Gestalt Freiherr von Steins; sein beispielgebendes Leben sollte „das Erbauungsbuch des deutschen Volkes werden, sein unerschütterlicher Glaube an eine große Zukunft unserer Nation das siegreiche Panier, um welches sich die Patrioten schaaren." 25 Nur von kurzer Dauer war für Hermann Schulze das Purgatorium des Privatdozentendaseins: Schon 1850 wird er zum Professor extraordinarius an der Universität Jena ernannt; nahezu sieben Jahre las er in den Hörsälen seiner ihm heimatlich vertrauten Hohen Schule über deutsches Staats- und Privatrecht, deutsche Rechtsgeschichte, Verwaltungsrecht und juristische Enzyklopädie. Eines überaus regen Zuspruchs erfreuten sich auch seine Kollegs über Landwirtschaftsrecht in dem vom Vater begründeten und geleiteten, damals einzigartigen Landwirtschaftlichen Institut. 1857 erreichte ihn dann der Ruf als ordentlicher Professor für deutsches Privatrecht und deutsches Staatsrecht sowie für internationales Recht an die Universität Breslau, wo er zwei Jahrzehnte lehrte und forschte. Aufmerksam geworden waren die tonangebenden politischen Kreise in Berlin auf Hermann Schulze durch seine, den Standpunkt des Hohenzollernhauses wohlwollend berücksichtigenden Studien zur staats- und völkerrechtlichen Stellung des damals zur preußischen Krone zählenden Fürstentums Neuenburg. 26 Die ursprüngliche Reichsgrafschaft Neuenburg gehörte seit dem Jahr 1504 den Herzögen von Orléans-Longueville. Nach ihrem Aussterben 1707 wird der preußische König Friedrich I. Fürst von Neuenburg; den Erbanspruch leitete er über sein Herzogtum Nassau und von dort über das gleichfalls ausgestorbene Haus Chalon ab. 1805 überlässt Friedrich Wilhelm III. von Preußen Neuenburg Napoleon, obgleich die preußischen Könige die Unveräußerlichkeit der zum Fürstentum erhobenen Grafschaft beschworen hatten. Auf Bitten Neuenbürgs hin meldet er 1814 wieder seinen Anspruch auf das Territorium an. Vom Wiener Kongress wird Neuenburg 1815 als „Schweizer Kanton und preußisches Fürstentum" anerkannt, nachdem zuvor in Verhandlungen mit der eidgenössischen Tagsatzung festgelegt worden war, dass Neuenburg im Inneren ein Fürstentum der preußischen Krone bilden, nach außen hin aber als souveräner Staat zusammen mit den weiteren Kantonen der Eidgenossenschaft auftreten sollte: ein staatsrechtliches und politisches Kuriosum, dem Hermann Schulze in seiner historischen Ent- und Verwicklung in mehreren Abhandlungen nachspürte. Er-
25 Aus der 1850 zu Jena publizierten Schrift „Der Freiherr von Stein und seine Bedeutung für Deutschlands Wiedergeburt". 26 „Die staatsrechtliche Stellung des Fürstenthums Neuenburg in ihrer geschichtlichen Entwickelung und gegenwärtigen Bedeutung", 1854, 3. Aufl., 1857.
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hebliche Brisanz gewann die von Schulze erörterte Problematik durch die jüngsten Zeitereignisse, die beinahe an den Rand eines Krieges zwischen Preußen und der Schweiz 1856 führten: Anfang März 1848 hatte sich die Neuenburger Bevölkerung gegen den preußischen Monarchen erhoben, der durch die deutsche Revolutionsbewegung aber anderweitig beschäftigt war. Man erließ eine demokratische Verfassung und bezeichnete sich fortan als „République et Canton de Neuchätel". Dagegen opponierte 1856 die preußentreue Royalistenpartei und versuchte, die alte Ordnung wieder herzustellen; durch Schweizer Bundestruppen wird der Putsch jedoch niedergeschlagen und die Anführer arretiert. Friedrich Wilhelm IV. verlangte deren Freilassung, der Schweizer Bundesrat fand sich zu diesem Schritt aber nur dann bereit, wenn der König für immer auf seine Rechte in Neuenburg verzichtete. Schulze kommentierte im Auftrag des königlich-preußischen Staatsministeriums jenes Memorandum, das die Schweiz zur rechtlichen Lage Neuchateis veröffentlicht hatte und ergänzte es noch durch eine geschichtliche Studie, die sämtliche staatsrechtlichen Aspekte der überaus vetrackten Problematik durchleuchtete. 27 Im so genannten „Neuenburger Handel" konnte der Konflikt schließlich friedlich beigelegt werden. Zwar gab Friedrich Wilhelm IV. die Souveränität über das von seinen Stammlanden weit entfernte Territorium auf, behielt aber den Titel eines Fürsten von Neuenburg und Valangin bei; ebenso entließ man die gelegentlich der Erhebung in den Kerker geworfenen Gefangenen aus der Haft. Anerkannt wurden die Verdienste, die sich Schulze um die Wahrung der preußischen Rechte erworben hatte, durch die Verleihung des Roten Adler-Ordens. Neben den schon an der Jenaer Salana gelehrten Fächern bot Hermann Schulze fur Juristen so außergewöhnliche, freilich dem Zeitgeist huldigende patriotische Kollegs über die Einheitsbestrebungen der Deutschen und zur „Germania" des Tacitus an. Die Breslauer Burschenschaften verpflichteten ihre Aktiven zum Besuch jener „vaterländischen Vorträge". Eine große Hörerzahl verfolgte gleichfalls seine völkerrechtlichen Vorlesungen, die damals nur vereinzelt im Kollegprogramm der Universitäten des deutschsprachigen Raums zu finden waren. Auch auf diesem Gebiet kam, wie Hermann Schulze wusste, der Heidelberger Hochschule eine bedeutsame Pionierrolle zu; seit den Tagen Klübers und Zachariaes wies ihr Lektionskatalog mit berechnender Rücksicht auf die zahlreiche adlige Klientel regelmäßig Kollegs zum allgemeinen und europäischen Völkerrecht aus.28
27 „Kurze Beleuchtung der Denkschrift des schweizerischen Bundesraths vom 7. Dezember 1856", 1857, und „Neuenburg, eine geschichtlich-staatsrechtliche Skizze", 1857. In einem an den badischen Großherzog gerichteten Brief vom 17.1.1857 fuhrt Hermann Schulze aus, dass seine Denkschrift „das Treiben des Radicalismus in seiner ganzen Nacktheit und Schamlosigkeit im Jahr 1848" aufzeigt. - Vgl. in diesem Zusammenhang Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte III, 2. Aufl., 1978, S. 247 ff. 28
V g l . Weigle (Fn. 3), S. 91 f.
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In Breslau jedoch entstanden seine grundlegenden Schriften, die ihn in die erste Garde der deutschen Staatsrechtslehrer führten. 1865 publizierte er die „meisterhafte" (Landsberg) „Einleitung in das Deutsche Staatsrecht", das mit der überaus gründlichen Darstellung des Staatsrechts als Disziplin, seiner geschichtlichen und staatsphilosophischen Entwicklung den ersten Teil eines umfassend geplanten Systems des deutschen Staatsrechts und Staatswesens vor 1866 bilden sollte; verglichen werden kann es nur mit der 1855 bis 1858 publizierten „Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften" Robert Mohls. 29 Nachdrücklich betonte Schulze den Wert „einer philosophischen und geschichtlichen Begründung" des positiven Rechts mit dem Ziel der „Vergeistigung des positiven Stoffes durch Darlegung des innigen Zusammenhanges zwischen dem positiv Gewordenen und den höhern, allgemeinmenschlichen Ideen und Aufgaben." 30 Während der allgemeine staatsrechtliche Teil die Lehren vom Wesen, Rechtsgrund und Zweck des Staates erörterte, stellte der historische Part die deutsche Staatsentwicklung von den Zeiten des Alten Reiches bis zur Gegenwart dar. Gerühmt wurden von den Fachkollegen das umsichtige und klare politische Urteil wie auch die zuverlässige Methode und die treffliche Form. Vorbehaltlos begeisterte sich Schulze - gleich seinem Fachkollegen Bluntschli - in seinen wissenschaftlichen Publikationen und universitären Kollegs fur das Ziel der nationalen Einheit der Deutschen. Enttäuscht reagierte er auf den Verlauf des Frankfurter Fürstentags 1863, von dem er sich wesentliche Fortschritte in Richtung einer nationalen Einigung versprochen hatte. Zwar vordergründig resignierend, doch hoffnungsvoll weitsichtig notierte er: „Der Ausgang dieses Unternehmens bestätigt von neuem, dass in dem Dualismus der beiden Großmächte und der anerkannten vollen Souveränität der Einzelstaaten jeder durchgreifenden Umgestaltung des deutschen Bundes Schwierigkeiten entgegenstehen, welche die Gegenwart zu überwinden nicht im Stande ist. Erst grössere Staatsmänner und grössere Zeiten, als die unklar ringende Gegenwart, werden, dereinst gestützt auf eine geläuterte öffentliche Meinung, das unvergängliche Recht des deutschen Volkes auf eine wahre nationale Gesammtverfassung zur vollen, ungeschmälerten Geltung bringen." 31
Jenes annus mirabilis 1866 war für Schulze vor dem Hintergrund der Begründung des Norddeutschen Bundes Anlass, das schon mehrfach erwähnte Vorhaben eines Lehrbuchs zum deutschen Staatsrecht zunächst einmal aufzuschieben. Zu unsicher erschien ihm angesichts der politischen Situation die künftige staatsrechtliche Gestaltung Deutschlands, nachdem durch die Katastrophe des Jahres 1866 der bis dahin noch bestehende Rahmen einer Gesamtver-
29
Vgl. Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 195. Einleitung, 1865, Vorwort, S. V I I f. 31 Einleitung in das deutsche Staatsrecht mit besonderer Berücksichtigung der Krisis des Jahres 1866 und der Gründung des Norddeutschen Bundes, 1867, S. 341. 30
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fassung in Trümmern lag. 32 Nüchtern konstatierte er, dass die Etablierung des Norddeutschen Bundes nur eine Zwischenstation, ein Provisorium auf dem Weg zur nationalen Einigung und staatlichen Neugestaltung sein kann. Dabei äußerte Hermann Schulze die Ansicht, dass die Verfassung dieses Bundes fiir ein Menschenalter Grundlage der weiteren staatlichen Entwicklung bilden werde: „Wenn sich diese Verfassung praktisch eingelebt ..., wenn der Bund seinen natürlichen Umfang durch Hinzutritt der süddeutschen Staaten gewonnen haben wird, dann ist die Zeit gekommen, wo es lohnt, ein , System des deutschen Staatsrechts' zu veröffentlichen." 33 Zu spät war es für ein Staats- oder Bundesrecht des Deutschen Bundes und zu früh fiir ein solches des Norddeutschen Bundes und des neuen Deutschen Reichs.34 Daher entschloss er sich, während der Übergangsperiode zunächst auf eine Fortführung seines „Staatsrechts" zu verzichten und die weitere Entwicklung abzuwarten. Stellung zu den Zeitverhältnissen mit ihren raschen verfassungsrechtlichen Änderungen bezog er aber in der zweiten Auflage seiner „Einleitung ins deutsche Staatsrecht", das im Titel bezeichnenderweise ergänzt wurde um den Zusatz „Mit besonderer Berücksichtigung der Krisis des Jahres 1866 und der Gründung des norddeutschen Bundes". Klar erkannte Schulze die Bedeutung des Jahres 1866 für die deutsche Verfassungs- und Wissenschaftsgeschichte: „Das Jahr 1866 hat für die Praxis wie für die Theorie des deutschen Staatsrechts dieselbe tief einschneidende Bedeutung wie das Jahr 1806." 35 Zu erwarten stand eine neue Epoche des Staatsrechts, in der aber Schulze den „reiche(n) und lebendige^) Inhalt der Staatsrechtswissenschaft" erhalten wissen wollte. Für dieses Petitum trat er uneingeschränkt in seinem grundlegenden, 1867 erschienenen Aufsatz „Ueber Princip, Methode und System des deutschen Staatsrechts" 36 ein. Vehement verteidigte Schulze unmittelbar nach dem Untergang des Deutschen Bundes, mit dem der gesamte bisherige positivrechtliche Stoff unterging, noch einmal das „gemeine deutsche Staatsrecht" als Disziplin und betonte den geistigen Zusammenhang von Staatslehre, Rechtsgeschichte und positivem Staatsrecht. 37 Scharf wandte er sich damit gegen die Forderung Carl Friedrich von Gerbers, der das Staatsrecht „von allen nichtjuristischen, bloß der ethischen
32
Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 5. Aufl., 2005, S. 193. Vorwort zur Einleitung (Fn. 31), S. X. 34 Vgl. nur Stintzing/Lands ber g, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt. 2. Halbband (Text), 1910, S. 975 f. 35 Vorwort zur Einleitung (Fn. 31), S. X. 33
36 Zeitschrift für Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte 1 (1867), 417 ff. 37 „Nur auf der Grundlage einer ächt historischen Behandlung wird eine wissenschaftliche-dogmatische Darstellung der Rechtsinstitute des heutigen Staatsrechts möglich." (in: Zeitschrift für Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte 1 [1867], 442); vgl. insbesondere Stolleis (Fn. 12), S. 330.
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und politischen Betrachtung angehörenden Stoffen gereinigt" wissen wollte. 38 Ganz in der Tradition der alten Reichspublizistik lehnte er entschieden die von Gerber und Paul Laband propagierte, streng auf juristische Schlüssigkeit abstellende Methode einer formal-juristischen Interpretation des positiven Rechts ab. Unbeirrt hielt er fest an allgemeinen philosophischen, historischen und politischen Erwägungen innerhalb der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht. Grundsätzlich offen stellte sich für Hermann Schulze die zukünftige Entwicklung des Verwaltungsrechts dar: „Bei weiterer gedanklichen Ausbildung unserer StaatsVerwaltung und bei größerer Berücksichtigung des öffentlichen Rechtes im akademischen Unterricht kann es indessen dahin kommen, daß neben die Verwaltungslehre ein Verwaltungsrecht, neben die Polizeiwissenschaft ein Polizeirecht, neben die Finanzwissenschaft ein Finanzrecht als juristische Disziplinen treten." 39 Auf den Deutschen Bund und den Norddeutschen Bund folgte 1870 das Deutsche Reich, innerhalb dessen Preußen die stärkste Position unter den Bundesländern einnahm. Wenn er auch die Begründung des so genannten Bismarckreiches vorbehaltlos begrüßte, so gab er sich keinerlei Illusionen hinsichtlich einer wirksamen Befestigung des neuen Staatsgebildes hin: „Während einst Stein in deutscher Art, von unten auf, von der Gemeinde, vom Kreise, von der Provinz hatte aufbauen können und all diese kleinen, freiheitlich gegliederten Organismen durch die abschließende Kuppel einer Reichs Verfassung überwölben wollen, hatte man jetzt in französischer Weise das Gebäude zuerst gekrönt, aber die sichere Fundamentierung unterlassen." 40 Mit dem Staatsrecht des ausgeprägt „bürokratischen Anstaltsstaates" Preußen befasste sich Schulze im Rahmen von zwei schwergewichtigen Folianten: „Das Preußische Staatsrecht aufgrundlage des Deutschen Staatsrechts". 41 Wie der Titel bereits andeutet, ging es Schulze nicht etwa um das Recht des größten aller Einzelstaaten, sondern vielmehr um dessen systematische Gesamtdarstellung als Erscheinungsform allgemein deutsch-staatsrechtlicher Grundsätze. 42 In der Folgezeit wurde das Lehrbuch Schulzes zu einem „unentbehrlichen Hülfsmittel für die Erkenntniß des deutschen Staastrechts überhaupt, wie des neuen Reichsstaatsrechts, dessen
38
Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 3. Aufl., 1880, S. 237 f. Zeitschrift für Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte 1 (1867), 420. 40 Schulze, Der Rechtsschutz auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts, 1873, S. 8. 41 1872-1877; 2. Aufl. 1888-1890. - Übersetzt wurde das Werk in das Japanische und Italienische. 39
42
V g l . Stolleis (Fn. 12), S. 301 f., 331 ff.
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Institutionen mit denen des preußischen Staats in unlöslicher Weise verknüpft sind." 43 Nach der Konsolidierung des Zweiten deutschen Kaiserreichs erschien dann 1883 das lange geplante, programmatisch mit seinem Aufsatz „Ueber Princip, Methode und System des Deutschen Staatsrechtes" vorbereitete, 44 durch die zerrissenen Zeitläufte aber immer wieder aufgeschobene „Lehrbuch des deutschen Staatsrechts"; 45 übertroffen wurde es nur von Paul Labands monumentalen, vierbändigen „Staatsrecht des Deutschen Reiches" 4 6 Seine Aufgabe sah er darin, ein allgemeines Staatsrecht der Gegenwart zu bearbeiten, welches das Reichs- und Landesstaatsrecht „als sich ergänzende Glieder unseres bundesstaatlichen Organismus in möglichst enger Verbindung darstellen soll." 47 Ergänzt wurde es ein Jahr später mit der Abhandlung „Das Staatsrecht des Königreichs Preußen" 4 8 Im letzten Teil jenes gleichfalls epochalen Werkes gelingt es ihm in methodisch brillanter Weise, die Verwaltungspraxis in Verwaltungsrecht mit festen juristischen Grund- und Einzelsätzen umzuwandeln. Auch in diesem Bereich realisierte Hermann Schulze Entwicklungen, die er bereits in seinem wegweisenden Beitrag aus dem Jahr 1867 vorhergesehen hatte.49 Vor allem kam es ihm als bedingungslosem Vertreter des Rechtsstaatsgedankens nach der Konsolidierung des Reiches darauf an, den Rechtsschutz des Einzelnen gegenüber der Allmacht des Staates mit der Möglichkeit einer richterlichen Entscheidung durchzusetzen. Er entwickelte diese Forderung in dem 1873 publizierten Traktat „Rechtsschutz auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts" aus der von ihm gehegten, die 1848er-Ideen bewahrenden Vorstellung eines durch Selbstverwaltung, Rechtsstaat und konstitutionell gebundenen Königtums geprägten deutschen Verfassungsstaats, der in der Tat eine „Option auf die Zukunft" (Stolleis) hätte bilden können.50 Die Verwirklichung des Postulats des Rechtsstaates setze „nicht nur ein gesetzlich ausgebildetes Verwaltungsrecht (sc. voraus), sondern auch einen Inbegriff von Rechtsmitteln, wodurch alle Verwaltungsbehörden zur Beobachtung und Innehaltung der Gesetze genöthigt
43
Heimburger , in: Weech (Fn. 3), S. 427. - Kritisch hingegen Landsberg/Stintzing (Fn. 34), S. 977: „Man wird es überhaupt nicht als eine geistige Großtat behandeln dürfen ..." 44 In: Zeitschrift fur Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte 1 (1867), 420 ff. 45 Zwei Bände 1883-1886. 46 1876-1882. 47 Schreiben vom 29.4.1880, GLA Karlsruhe, 76/100/60. 48 Freiburg und Tübingen 1884. 49 In: Zeitschrift für Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte 1 (1867), 420. 50
Stolleis (Fn. 12), S. 355.
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werden können." 51 Nachdrücklich hebt er hervor, dass „vor allem unsere viel bewunderten Grundrechtsartikel nichts als schön klingende Phrasen (sc. bleiben), so lange gegen ihre Verletzung nicht ein wirksamer Rechtsschutz zu finden ist." 52 Bezug nahm Hermann Schulze damit nicht etwa auf die Reichsverfassung, die keinen Grundrechtskatalog - im bezeichnenden Gegensatz zur Paulskirchenverfassung - kannte, sondern auf die jeweiligen Regelungen in den einzelnen Länderverfassungen, wie z.B. der preußischen revidierten Verfassung von 1850.53 Ablehnend steht er einer Übertragung öffentlichrechtlicher Streitigkeiten auf die Zivilgerichte gegenüber. Vielmehr plädiert Schulze für die Einrichtung einer besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeit, welche den Rechtsweg in einer „nie da gewesenen Weise" erweitern würde; als Beispiel fuhrt er das wesentlich auf den Heidelberger Staatsrechtslehrer Bluntschli zurückgehende badische Gesetz über die Organisation der inneren Verwaltung aus dem Jahr 1863 an. 54 Es legte fest, dass die Rechtspflege auf bestimmten Gebieten des Öffentlichen Rechts in erster Instanz regelmäßig von den Bezirksräten und in letzter Instanz durch den Verwaltungsgerichtshof ausgeübt wird. Während die Bezirksräte aber lediglich ehrenamtlich besetzte Kollegialgremien darstellten, war der Verwaltungsgerichtshof dagegen ein unabhängiges, von den Verwaltungsbehörden getrenntes Gericht, das seine schriftlich begründeten Entscheidungen nach einer öffentlichen und mündlichen Verhandlung zu treffen hatte.55 Nicht mehr und nicht weniger war beabsichtigt, als dass „die öffentlichen Rechte der Staatsbürger eines ebenso wirksamen Schutzes genießen müssten wie die Privatrechte." 56 Unter dem maßgeblichen Einfluss Rudolf von Gneists, Otto Bährs und der Monographie Hermann Schulzes kam es dann auch in Preußen nach einer gehaltvoll geführten „Rechtsschutzdiskussion"57 mit dem Gesetz vom 3.7.1875, die Verfassung der Verwaltungsgerichte und Verwaltung und das Verwaltungsstreitverfahren betreffend, zur Etablierung eines Oberverwaltungsgerichts, das
51 52 53
So in: Rechtsschutz (Fn. 40), S. 9. Rechtsschutz (Fn. 40), S. 17 ff. Vgl. Frotscher/Pieroth (Fn. 32), S. 168 f.; Huber (Fn. 27), S. 100 ff.
54 Vgl. insbesondere Weizel, Das badische Gesetz vom 5. October 1863 über die innere Organisation der Verwaltung, 1864, S. 120 f.; Gall , Der Liberalismus als regierende Partei - Das Grossherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, 1968, S. 189 ff. 55 Im Einzelnen zur Ausformung der badischen Verwaltungsgerichtsbarkeit Trostel, VB1BW 1988, 365 f f ; dem Beispiel des Großherzogtums Baden folgten Preußen in den Jahren 1872/75, Hessen 1874/75, Württemberg 1876 und Bayern 1878; in den darauf folgenden Dezennien schlossen sich weitere Länder an (vgl. insbesondere Frotscher/ Pieroth [Fn. 32], S. 222 f.; Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht, 1991, S. 25 ff.). 56 57
Zit. nach von Unruh, Jura 1982, 119. Vgl. Kohl (Fn. 55), S. 16 ff.
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ausschließlich mit beamteten Richtern besetzt war. 58 Während aber nach dem preußischen System die Verwaltungsgerichtsbarkeit in erster Linie die objektive Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns bezweckte, stand in Baden der Schutz der individuellen Rechte durch die Verwaltungsgerichte im Vordergrund; 59 einer solchen Ausrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit galt die Sympathie Hermann Schulzes. Öffentliche Rechtssicherheit sollte den Bürgern durch die Verwandlung der Verwaltungspraxis in wirkliches Verwaltungsrecht mit festen juristischen Grund- und Einzelsätzen sowie mit der Möglichkeit richterlicher Entscheidung gewährt werden. Auf der Ebene des Reiches blieb hingegen die Etablierung einer eigenständigen Reichsverwaltungsgerichtsbarkeit Illusion. 60 Nach Eintritt als gewählter Vertreter der Universität Heidelberg in die Erste Kammer der badischen Ständeversammlung, plädierte er insbesondere für eine weitere gesetzliche Ausgestaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit; 61 bemerkenswert ist sein gleichzeitiges Engagement für eine Reform des bäuerlichen Erbrechts. Mit dem bereits genannten methodischen Rüstzeug des historisch geschulten Juristen untersuchte er das Gebiet des Privatfurstenrechts in zahlreichen Einzelstudien und Rechtsgutachten. Sein erster, viel beachteter Versuch erschien 1851 zu Leipzig: „Das Recht der Erstgeburt in den deutschen Fürstenhäusern für die deutsche Staatsentwicklung".62 Bis auf die heutigen Tage verdienstvoll ist die dreibändige Sammlung der „Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstenhäuser mit geschichtlich-staatsrechtlichen Einleitungen",63 gerühmt als ein wahres „corpus juris illustrium". Als intimer Kenner jenes höchst verwickelten Rechtsgebietes, das für ihn ein integrierender Bestandteil der staatsrechtlichen Ordnung bildete, war Hermann Schulze ein gesuchter Gutachter und Ratgeber. Er galt in Deutschland - wie schon sein Vorgänger auf dem Heidelberger Lehrstuhl, Heinrich Zöpfl - als die unbestrittene Autorität auf dem Gebiet des Fürstenrechts; insbesondere bei der Abfassung neuer Hausgesetze wurde er gerne herangezogen. Selbst für Kaiser Wilhelm I. erstattete Hermann Schulze 1879 auf dessen Wunsch hin ein umfängliches Gutachten über die Ebenbürtigkeit des
58
Näher von Unruh , Jura 1982, 113 ff.; Schmidt-Aßmann , in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Kommentar zur VwGO, Band I, 2005, Einleitung Rn. 76 ff. 59 Vgl. Schenke , in: Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung, 1982, Art. 19 Abs. 4 Rn. 11. 60 So war auch die Diskussion um die Errichtung eines Reichsverwaltungsgerichts in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts letztlich folgenlos, vgl. Kohl (Fn. 55), S. 41 ff. 61
Vgl. den Bericht an die Justizkommission vom 20.2.1882. Nach Stintzing/Landsberg (Fn. 34), S. 976, „sein ..., streng wissenschaftlich genommen, vielleicht bedeutendstes wissenschaftliches Werk". - Vgl. zu dieser Abhandlung ebenso Schulzes Brief vom 30.9.1850 (UBH, Heid. Hs. 3723, 21). 63 1862, 1878, 1883. 62
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Hauses Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, das aber unveröffentlicht blieb. Für den rechtshistorisch geschulten Juristen ist auch heute noch wertvoll die von Schulze herausgegebene Sammlung ausgewählter Rechtsgutachten und Einzeluntersuchungen, die aufschlussreiche Einblicke in die wundersamen „Geheimnisse" des zwar abseits gelegenen, aber höchst praxisrelevanten und lukrativen Rechtsgebiets vermitteln. 64 In seiner Heidelberger Zeit verfasste er 1882 noch eine weitere Studie über „Das deutsche Fürstenrecht in seiner geschichtlichen Entwicklung und gegenwärtigen Bedeutung". Bereits in der 1871 zu Halle publizierten Abhandlung „Das Erb- und Familienrecht der deutschen Dynastien des Mittelalters: Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Fürstenrechts" und in seiner Abhandlung über die „Geschichtliche Entwickelung der fürstlichen Hausverfassung im deutschen Mittelalter" hatte er zur Bedeutung dieses Rechtsgebiets für die damalige Zeit notiert: „Überall, wo die erbliche Herrscherberechtigung eines Geschlechtes anerkannt ist, erscheint das Erb- und Familienrecht in der gesammten staatlichen Entwicklung, das Hausrecht der Dynastie als ein Theil der Staatsordnung". 65 Aufgrund seiner „Sammlertätigkeit" wusste er sich eng verbunden mit dem „Vater des deutschen Reichsstaatsrechts", Johann Jakob Moser, dem er eine bescheidene Studie widmete.66 Nicht unerwähnt bleiben dürfen die anschaulichen Lebensbilder von A.W. Heffter 67 , Robert von Mohl 6 8 und von Johann Caspar Bluntschli aus seiner Feder. Mit den beiden letztgenannten ehemaligen Heidelberger Fakultätskollegen verband ihn dieselbe nationalliberale politische Gesinnung, die er als Vertreter der Ruperto-Carola in der badischen Ersten Kammer der Stände Versammlung in den Jahren 1883-1887 verfochten hatte.70 Dies hinderte ihn aber keineswegs daran, auch kritisch zu verschiedenen Positionen des nationalliberalen Lagers Stellung zu beziehen, zu dessen konservativem Flügel Schulze zählte: „Könnten sich die Nationalliberalen nur entschließen, das Joch des ehrenwerthen, aber durchaus doktrinären Lasker abzuschütteln. Er ist entschieden jetzt der größte
64 „Aus der Praxis des Staats- und Privatrechts. Ausgewählte Rechtsgutachten und Denkschriften", erschienen zu Leipzig 1876. 65 In: Zeitschrift für Rechtsgeschichte V I I (1868), 323 ff. 66 „Johann Jakob Moser, der Vater des deutschen Staatsrechts", 1869.
67 68 69
1882. 1886.
1883. Bemerkenswert ist sein „Bericht der Kommission für Justiz und Verwaltung der ersten Kammer, den Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Zwangserziehung jugendlicher Personen" (Beilage Nr. 543 zum Protokoll der 15. Sitzung am 20.3.1886). 70
Hermann von Schulze-Gaevernitz (1824-1888)
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Stein des Anstoßes. Wie klar und staatsmännisch faßt dagegen unser prachtvoller Treitschke die Dinge auf!" 71 Zeit seines Lebens begeisterte er sich fiir die nationale Einheit Deutschlands, fiir die er in vielen kleineren Zeitungsartikeln stritt; späterhin gab er die in der „Schlesischen Zeitung" publizierten Traktätchen als Sonderdruck unter dem Titel „Die Friedensbestimmungen von Nikolsburg und Prag, in ihrem Verhältniß zur Neugestaltung Deutschlands, geschichtlich und politisch erörtert". 72 Ebenso geradlinig setzte er sich auf dem Gebiet des Völkerrechts fiir die, von manchen Staatsregierungen nicht immer geteilten Ziele des „Institut de droit international" ein, dessen Mitglied er seit 1880 war. Eine zahlreiche Hörerschaft vermochte Hermann Schulze in seinen Vorlesungen um sich zu scharen. 73 Begeistert berichtete er unmittelbar nach Aufnahme des Kollegbetriebs an der Ruperto-Carola: „... bin ich sogleich in die volle akademische Thätigkeit eingetreten und habe meine drei Vorlesungen vor einem reich besetzten Auditorium begonnen; das Semester scheint sich, wenigstens fiir die juristische Fakultät, sehr günstig zu gestalten und meine Thätigkeit hat sich in jeder Beziehung unter den glücklichsten Auspicien eröffnet. Das Zuhörerpublikum gefällt mir ausnehmend und auch mir ist die Freude zu Theil geworden, durchweg sehr sympathisch begrüßt worden zu sein." 74 Ebenso wie in Breslau führte er in Heidelberg neben seinen Pflichtvorlesungen gleichfalls Veranstaltungen zum Völkerrecht durch, aus denen der „Grundriss zu Vorlesungen über Völkerrecht" erwuchs. 75 Im Lektionskatalog finden sich darüber hinaus Kollegs zum allgemeinen Staatsrecht und zum Landesstaatsrecht. Großen Wert hatte man in Karlsruhe auf die Berücksichtigung des Fachs „Polizeiwissenschaft" im Rahmen des Lektionskollegs gelegt, das mit Rücksicht auf die erhebliche Zahl ausländischer Studierender mindestens jedes zweite Semester angeboten werden sollte. Schulze bot an, diesen Wunsch nach seiner Berufung mit der Vorlesung „Verwaltungsrecht mit Einschluß der sog. Polizeiwissenschaft" zu erfüllen und damit eine seit Längerem bestehende Lücke im Lehrangebot zur 71 Schreiben vom 14.3.1879, GLA Karlsruhe, 60/335. - Hierbei ging es um die Bismarcksche Zollvorlage, die Lasker in einer großen Reichstagsrede vehement abgelehnt hatte (vgl. Laufs, Eduard Lasker - Ein Leben für den Rechtsstaat, 1984, S. 111 ff).
72
1866.
73
Bereits in der Vorschlagsliste der Fakultät heißt es: „Als Dozent hat Geh.Rath Schulze, wie der Fakultät bekannt, gleichfalls ungewöhnliche Erfolge gehabt" (unter dem 27.10.1877, GLA Karlsruhe, 235/3117 fol. 405). 74
Brief vom 6.5.1878, GLA Karlsruhe, 60/335. - Ein Jahr später (18.2.1879) notiert er: „Ich bin nun in Heidelberg mit den Meinigen eingelebt und mit den hiesigen Verhältnissen zufrieden, wenn auch das Wintersemester sich an Frequenz und geistigem Schwünge mit dem Sommersemester nicht vergleichen kann. Wir sind leider, seit etwa einem Decennium, immer mehr zur Säsonuniversität geworden und daran wird sich schwer wieder etwas ändern lassen." (GLA Karlsruhe, 60/335) 75
1880.
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Zufriedenheit des Karlsruher Ministeriums zu schließen.76 Den ersten Lehrstuhl fur Verwaltungsrecht hatte in Baden Schulzes Fakultätskollege Johann Caspar Bluntschli seit 1864 inne; als eigenständiges Fach etablierte sich dieses Gebiet nach der Einfuhrung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Großherzogtum als eine sinnvolle Ergänzung für die Verwaltungspraxis. 77 Wenig Erfolg war jedoch seiner im Sommersemester 1878 „ l m a l wöchentlich publice" angebotenen Vorlesung „Ueber die geschichtlichen und politischen Grundlagen der gegenwärtigen deutschen Reichs Verfassung" beschieden, die in den späteren Halbjahren von ihm nicht mehr angeboten wurde. 78 Hermann Schulze war ein begeisterter und begeisternder akademischer Lehrer. 79 Schon gelegentlich der Berufungsverhandlungen äußerte er sich enthusiastisch: „Ja, es wird mein Bestreben in Heidelberg sein, unter Aufgabe jeder zersplitternder Nebenthätigkeit ganz und mit vollem Herzen wieder akademischer Lehrer zu sein und wo möglich eine publicistische Schule zu gründen, welche ein Mittelpunkt hoher staatsmännischer Ausbildung werden könne." 80 In späteren Jahren äußerte er oft im persönlichen Gespräch, dass er seinen akademischen Beruf mit keiner anderen, noch so glänzenden Position eintauschen wolle; mit großem Stolz bekannte und betonte er, ein „deutscher Professor" zu sein. Aus gesundheitlichen Gründen vermochte Hermann Schulze nicht mehr an der Tagung des „Institut de droit international" in Lausanne teilzunehmen, dessen Sitzungen er in Brüssel, Turin und Heidelberg während der vergangenen Jahre regelmäßig besucht hatte. Im Alter von 64 Jahren verstarb Hermann von
76
Vgl. Schreiben an die Juristenfakultät vom 28.10.1878, UAH, H-II, 111/85, fol.
77
Vgl. nur Feist, Die Entstehung des Verwaltungsrechts als Rechtsdisziplin, 1968.
15. 78
Vgl. „Anzeige der Vorlesungen, welche im Sommer-Halbjahr 1878 auf der Großherzoglich Badischen Ruprecht-Carolinischen Universität Heidelberg gehalten werden sollen", 1878, S. 5. 79 M i t beträchtlichem Aufwand gestaltete er seine Kollegs aus: „Gerade weil ich die Absicht habe, für die erste Zeit die ganze Schwerkraft meiner Thätigkeit in die neue Ausarbeitung meiner Vorlesungen zu legen, spreche ich zwei Wünsche aus, deren Erfüllung sehr leicht sein wird; sollte in Heidelberg, wie etwa früher in Breslau, Habilitationsverpflichtungen z.B. zum Halten einer Antrittsrede, bestehen, so wünsche ich davon dispensili zu werden. Auch wünsche ich aus dem gleichen Grunde solange von den Sitzungen und Arbeiten des Spruchkollegiums dispensili zu sein, bis ich mich selbst zum Eintritt in dasselbe melde. Ich habe mich hier und früher in Jena an dergleichen Arbeiten lebhaft beteiligt, weiß aber aus Erfahrung, wie viel Zeit dieselben kosten können." (Unter dem 8.11.1877, G L A Karlsruhe, 235/3117 fol. 413 v.). 1878 wurde Hermann Schulze als letztes Mitglied in das Spruchkollegium aufgenommen; er verfasste lediglich noch ein einziges Urteil für das Kollegium, das mit dem 1.10.1879 seine Tätigkeit einstellte (vgl. Jammers, Die Heidelberger Juristenfakultät im neunzehnten Jahrhundert als Spruchkollegium, 1964, S. 67 f.). 80
Unter dem 3.11.1877, G L A Karlsruhe, 233/3117 fol. 407 f.
Hermann von Schulze-Gaevernitz (1824-1888)
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Schulze-Gaevernitz am 27.10.1887 überraschend in Heidelberg. 81 Nur wenige Monate zuvor war er unter Beilegung des Namens des väterlichen Landgutes Gaevernitz am 25.7. vom badischen Großherzog in den Adelsstand erhoben worden. 82 Enge Kontakte pflegte er mit der großherzoglichen Familie als geschätzter Lehrer des früh verstorbenen Prinzen Ludwig Wilhelm, den er während seines Studiums an der Ruperto-Carola in das Gebiet der Staatswissenschaften eingeführt hatte. In einem an den Großherzog gerichteten Kondolenzschreiben notierte Hermann von Schulze-Gaevernitz: „In meiner vierzigjährigen akademischen Wirksamkeit rechne ich die Stunden zu meinen besten, die ich zwei Semester lang mit Ihm (sc. Prinz Ludwig Wilhelm) im persönlichen Verkehr, im anregenden Zwiegespräch zu verleben, das Glück hatte." 83 Welche Wertschätzung Hermann von Schulze-Gaevernitz auch außerhalb der gelehrten Welt besaß, bewies augenfällig die überwältigende Anteilnahme der Heidelberger Bevölkerung an seiner Beisetzung auf dem Bergfriedhof. Als Ausdruck seiner harmonischen Ehe mit Luise Milde, Tochter eines preußischen Staatsrats, zeigt das doppelstelenartige Rotsandsteingrabmal die im Profil zugewandten Bronzebildnisse beider Ehepartner. 84 Ihr ältester, 1864 in Breslau geborener Sohn Gerhart - dem noch vier Töchter nachfolgten - setzte die akademische Familientradition als gleichfalls hoch angesehener, wenn auch nicht unumstrittener Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg i.Br. fort. 85
81 Über die näheren Umstände seines „raschen Todes" bat der Großherzog um persönliche Unterrichtung (UAH, PA 2266). 82 GLA Karlsruhe, 76/10060. 83 Unter dem 12.6.1888, GLA Karlsruhe, 60/335. 84 Die Grabstätte ist heute noch erhalten, vgl. Ruuskanen, Der Heidelberger Bergfriedhof- Kulturgeschichte und Grabkultur, 1992, S. 84. 85 GLA Karlsruhe, 235/9028.
„Freiheit der Arbeit" als Unterdrückung der Koalitionsfreiheit Die loi Le Chapelier von 1791 und ihre Folgen Von Hans Peter Bull I. Politische Krise und staatstheoretische Argumentation Die Koalitionsfreiheit ist ein junges Grundrecht. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts war sie in den meisten Ländern umstritten. Den Protagonisten der französischen Revolution war sie so suspekt, dass sie ein ausdrückliches Koalitionsverbot aussprachen. Sie schafften nicht nur alle Zünfte, Innungen und sonstigen Berufs- und Gewerbevereinigungen ab, sondern untersagten auch alle Vereinigungen und kollektiven Aktionen der Arbeiter. Das Gesetz, das dieses Verbot enthält, trägt den Namen von Isaac René Guy Le Chapelier, eines Anwalts aus Rennes, der in der Nationalversammlung als Deputierter des Dritten Standes eine wichtige Rolle spielte.1 Le Chapelier war zeitweise Präsident der Versammlung. Später wurde er als zu moderat verfolgt und im Terrorjahr 1794 hingerichtet. Sein Gesetz galt fast hundert Jahre lang. Es ist mit Recht als eines der wichtigsten Gesetze der Revolution bezeichnet worden. 2 Anlass des Verbotes waren Unruhen in der Arbeiterschaft, insbesondere im Bauhandwerk, 3 und der Zusammenschluss der Drucker. 4 Aber begründet wurde
1 Zur Biographie von Le Chapelier vgl. Plessis , Presentation du colloque, in: Naissance des libertés économiques. Liberté du travail et liberté d'entreprendre: le décret d'Allarde et la loi Le Chapelier, leurs conséquences, 1791 - fin XlXe siècle. Sous la direction d'Alain Plessis, 1993 (Histoire industrielle), S. 5. Es handelt sich um die Dokumentation eines internationalen Kolloquiums, das am 28. und 29.11.1991 vom Institut d'Etudes Politiques unter der Schirmherrschaft des Ministers für Industrie und Außenhandel in Paris veranstaltet wurde. Zu Le Chapelier s. auch Grand Larousse universell 1997, Band 9; Furet/Richet , Die Französische Revolution, 1981, S. 89 und 92. - Dass Le Chapelier kein Hinterbänkler war, lässt sich schon mit der Statistik der Wortmeldungen im „Moniteur" belegen, so Simitis , Die Loi le Chapelier: Bemerkungen zur Geschichte und möglichen Wiederentdeckung des Individualismus, in: Kritische Justiz 1989, 157 (159). 2 Ibarrola , Mouvement ouvrier francais, loi Le Chapelier et luttes de classes, 17911869, in: Naissance des libertés économiques (Fn. 1), S. 253. 3
4
Plessis (Fn. 1), S. 5.
Gibaud , La loi Le Chapelier et la spécificité du mutualisme francais, 1791-1864, in: Naissance des libertés économiques (Fn. 1), S. 245 (246).
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Hans Peter Bull
das „schreckliche" Gesetz5 grundsätzlicher: Versammlungen von Bürgern gleichen Standes oder Berufes seien ein Verstoß gegen wesentliche Prinzipien der Revolution - „ein Verstoß, aus dem große Gefahren für die öffentliche Ordnung entstehen".6 So wie die ständische Ordnung des Ancien Regime als unerträgliche Schranke individueller Freiheit und Gleichheit galt, so erschien auch die Einbindung der Arbeiter in kollektive Organisationen als ein Hindernis für die freiheitliche Entwicklung des Gemeinwesens. Unternehmergeist und die Vertragsfreiheit sollten umfassend wirksam werden, auch jeder Arbeiter sollte frei sein, Verträge nach seinem freien Willen abzuschließen. So wurde der Gewerbefreiheit die „Freiheit der Arbeit" hinzugesellt. Die staatstheoretische Begründung geht darüber noch hinaus: Zwischen Individuum und Nation sollte keine intermediäre Organisation mehr bestehen. Darin wird ein wesentliches Merkmal der neuen Verfassung gesehen, und in den verschiedenen Stadien der Diskussion wird immer wieder betont, wie schwer die Verletzung dieses Verfassungsprinzips wiege. Der offensichtliche Gegensatz zwischen dem unmittelbaren Ziel des Gesetzes, einen politischen und sozialen Konflikt durch ein rigoroses Verbot auszuräumen, und der theoretischen Begründung aus dem Geist der Revolution reizt zu näherer Untersuchung. Zunächst jedoch soll auf die Entstehung des Gesetzes eingegangen werden (II.), bevor sodann das historische Umfeld des Koalitionsverbots (III.) und seine spätere Aufhebung (IV.) dargestellt werden. Die Bewertung folgt in Abschnitt V.
II. Entstehung und Inhalt des Koalitionsverbots /. Die Befreiung von alten Bindungen Das Le Chapelier-Gesetz wurde im Juni 1791 beschlossen. Vorangegangen war ihm am 17.3.1791 das nach Pierre Gilbert, Baron d'Allarde benannte Dekret, 7 durch welches im Zeichen der allgemeinen Gewerbefreiheit alle Berufsund Gewerbevereinigungen („les corps et communautés d'artisans et marchands") verboten und die Vorrechte und Privilegien bestimmter Berufsgruppen 5
Jean Jaurès sprach von einer „loi terrible", vgl. seine Histoire socialiste de la Révolution fran^aise, Band 1, S. 903. 6 Bericht über die Beratung in der Assemblée Nationale am 14.6.1791, in: Archives Parlementaires de 1787 à 1860, I. Serie, Band 27, 1887, Nachdruck 1969, S. 210 (Le Chapelier als Berichterstatter des Verfassungsausschusses: „Rapport du comité de Constitution sur les assemblées de Citoyens de mème état ou profession"). S. auch Soreau, La loi Le Chapelier, in: Annales historiques de la Révolution Fran9aise, 8. Band, 1931, S. 287-314, auch abgedruckt in: Naissance des libertés économiques (Fn. 1), Annexe V. 7 Décret d'Allarde, abgedruckt in: Naissance des libertés économiques (Fn. 1 ), S. 333 ff. (nach Duvergier, Collection des Lois, f. II, S. 281-285).
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abgeschafft wurden. Dementsprechend wurde die Freiheit der Berufswahl eingeführt: „ A compter du 1 e r avril prochain, il sera libre à toute personne de faire tei négoce, ou d'exercer telle profession, art ou métier qu'elle trouvera bon" (Art. 7).
In den 28 Artikeln dieses Dekrets spiegelt sich konkret und lebensnah das bunte Bild der Berufe und Gewerbezweige, die im Frankreich des 18. Jahrhunderts existierten, und die Vielfalt der damit verbundenen Rechte und Vorteile wie auch der darauf bezogenen Einschränkungen. Die neue individuelle Berufsfreiheit ist nur noch davon abhängig, dass zuvor eine Urkunde (une patente) ausgestellt wird und die polizeilichen Reglements beachtet werden. Der Kern des Décret d'Allarde - dass es keine Zünfte und keine Körperschaften von Berufen, Künsten oder Handwerken mehr geben soll - wurde in die Präambel der Verfassung vom 3.9.1791 aufgenommen: „II n'y a plus ni jurandes, ni corporations de professions, arts et métiers."
2. Die neue Freiheit als Verbot gemeinschaftlichen Handelns In der loi Le Chapelier 8 wird anschließend verfügt: Art. 1: „L'anéantissement de toutes les espèces de corporations des citoyens du mème état et profession, étant unes des bases fondamentales de la constitution franose, il est défendue de les rétablir de fait, sous quelque prétexte et quelques formes ce soit." Art. 2: „Les citoyens d'un mème etat ou profession, les entrepreneurs, ceux qui ont boutique ou verte, les ouvriers et compagnons d'un art quelconque, ne pourront lorsqu'ils se trouveront ensemble, se nommer ni présidens, ni secretaires, ni syndics, tenir des registres, prendre des arretés ou délibération, former des réglemens sur leurs prétendues intérèts communs."
Das ist wahrlich ein revolutionäres Gesetz! „Die Zerschlagung aller Arten von Zusammenschlüssen der Bürger gleichen Standes und gleichen Berufs" wird als ein fundamentaler Bestandteil der Verfassung bezeichnet, ihre Wiederherstellung wird verboten. Die Kühnheit dieser Entscheidung muss den Abgeordneten bewusst gewesen sein. Sie entschieden, nachdem Le Chapelier von Versuchen berichtet hatte, die verbotenen Korporationen auf diese oder jene Weise wiederherzustellen: durch Versammlungen von Handwerkern und Arbeitern, in denen Vorsitzende und Sekretäre gewählt worden seien und deren Ziel es gewesen sei, die Unternehmer und Meister zur Erhöhung des Tagelohns zu zwingen und diese höheren Löhne durchzusetzen:
8 Abdruck in: Naissance des libertés économiques (Fn. 1), S. 341 (nach Duvergier , Collection des Lois, f. III, S. 25-26).
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„On emploie mème la violence pour faire exécuter ces règlements; on force les ouvriers de quitter leurs boutiques, lors mème qu'ils sont contents du salaire qu'ils recoivent."
Es sei ein Fehler der Pariser Stadtverwaltung gewesen, die Versammlungen der Arbeiter zunächst zu erlauben. Le Chapelier räumt ein, dass die Löhne etwas höher sein könnten - was in der Versammlung Gemurmel („murmure") auslöst - , versucht das generelle Vereinigungsverbot aber damit zu rechtfertigen, dass auch die Arbeitgeber gehindert werden sollten, die Löhne zu senken. Für die Arbeitslosen und Kranken zu sorgen, sei Sache des Staates.9 Das Gesetz wurde einstimmig angenommen. Als Opponent wird einzig JeanPaul Marat 10 genannt, der in seinem Journal ein Protestschreiben von vierzig Arbeitern veröffentlichte und die Interessenvertretung der verschiedenen Schichten des Volkes für legitim erklärte. 11
3. Die Widersprüchlichkeit
des Verbotsgesetzes
Dass dieses Verbot der Wahrnehmung eigener Angelegenheiten mit der Vereinigungsfreiheit unvereinbar war, wie sie in der seinerzeit bereits weitgehend vorbereiteten und am 3.9. beschlossenen Verfassung statuiert wurde, 12 hat die Nationalversammlung zwar erkannt, aber offensichtlich bewusst verdrängt. Le Chapelier selbst hatte es angesprochen: „ I I doit sans doute ètre permis à tous les citoyens de s'assembler; mais il ne doit pas ètre permis aux citoyens de certaines professions de s'assembler pour leurs prétendus intérèts communs." 13
In der Verfassung (I. Titel, 4. Abs.) wird die Versammlungsfreiheit ohne solche Einschränkung garantiert; es heißt dort nur: „La Constitution garantii, comme droits naturels et civils: [...] - La Liberté aux citoyens de s'assembler paisiblement et sans armes, en satisfaisant aux lois de police."
Ist es „unfriedlich", wenn eine Versammlung sich für ihre gemeinsamen Interessen einsetzt? Oder sollte das Koalitionsverbot als „polizeigesetzliche" Ein9 Archives Parlementaires (Fn. 6), S. 210. Dazu vertiefend Gibaud (Fn. 4), S. 247. Ein Bericht und Kommentar zu den Beratungen in der Assemblée Nationale findet sich auch bei Soreau (Fn. 6). 10
Furet/Richet
(Fn. 1), S. 176; Ibarrola
11
(Fn. 2), S. 256.
Ibarrola (Fn. 2), S. 256. Zu Marats Position s. auch Simitis (Fn. 1), S. 170 f. 12 So auch Soreau (Fn. 6), S. 296, unter Hinweis auf ein Gesetz vom 21.8.1791, in dem das Versammlungs- und Vereinigungsrecht (unter dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze) mit einer Ausnahme für Meister und Arbeiter gewährleistet wurde. 13
Soreau (Fn. 6), S. 296.
„Freiheit der Arbeit" als Unterdrückung der Koalitionsfreiheit
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schränkung der Versammlungsfreiheit anzusehen sein? In seiner Begründung beruft sich Le Chapelier nicht auf diese Vorbehalte in dem wenige Wochen später beschlossenen Verfassungstext, sondern auf die staatstheoretische Argumentation, es gebe nur einerseits das besondere Interesse des Einzelnen und andererseits das Allgemeininteresse, und: „II n'est permis à personne d'inspirer aux citoyens un intérét intermediaire, de les séparer de la chose publique par un esprit de corporations." 14
Die Nationalversammlung scheint dieser Theorie zugestimmt zu haben; sie stimmte über die einzelnen Artikel sofort ab und lehnte einen Antrag ab, erst am folgenden Tage, nach sorgfältiger Prüfung zu beschließen.15 Allerdings provozierten Deputierte der Rechten die Befürworter des Gesetzes mit deren eigener Begründung: Erst fragte jemand schlicht: „Et les clubs?", später wurde ein förmlicher Änderungsantrag gestellt, den entscheidenden Art. 2 auf alle Vereinigungen auszudehnen, womit eben auch die politischen Clubs gemeint waren, die im Vorfeld der parlamentarischen Beratungen bereits eine zentrale Rolle spielten.16 Nach der Verabschiedung fiel jemandem ein, dass damit auch die Handelskammern verboten seien - was offenbar nicht im Sinne der Initiatoren war. Le Chapelier erklärte daraufhin, er habe gehört, dass man eine Ausnahme für die Handelskammern machen müsse, und versicherte, niemand habe beabsichtigt, die Kaufleute daran zu hindern, über ihre Angelegenheiten zu sprechen. Er beantragte, den folgenden Beschluss ins Protokoll aufzunehmen: „L'Assemblée Nationale, considérant que le décret qu'elle vient de rendre ne concerne point les chambres de commerce a passé à l'ordre du jour."
Diese „Panne" war durch Annahme des Antrages halbwegs überwunden, 17 da schlug ein Kleriker auf der Rechten vor, einen Zusatzartikel einzufügen, durch den die Clubs ebenso verboten werden sollten wie die Arbeitervereinigungen. 18 Das Protokoll verzeichnet hier Beifall rechts für den Zwischenruf „Laissez, laissez-les faire; il sont à l'agonie". 19 Von Agonie der Clubs konnte freilich in
14
Soreau (Fn. 6), S. 296.
15
Antrag von Gaultier-Biauzat, Archives Parlementaires (Fn. 6), Band 27, S. 211. Archives Parlementaires (Fn. 6), S. 212 („un mernbre"). 17 Der Protokollbeschluss ist dem Abdruck des Gesetzes bei Duvergier (Fn. 8) als Fußnote beigefügt (s. auch Naissance des libertés économiques [Fn. 1], S. 342). Die Handelskammern waren damit zunächst gerettet, wurden aber wenig später (durch ein Dekret vom 27.9.1791) aufgelöst und unter dem Konsulat wieder ins Leben gerufen, vgl. Plessis, in: Naissance des libertés économiques [Fn. 1], S. 3. Zur Bedeutung der Ausnahme zugunsten der Handelskammern s. auch Hirsch, in: Naissance des libertés économiques (Fn. 1), S. 160 ff. 16
18 19
Soreau (Fn. 6), S. 298, charakterisiert diesen Einwurf als „malicieux" Zwischenruf von Mahnet, Archives Parlementaires (Fn. 6), S. 212.
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Wahrheit nicht die Rede sein, und auf der Linken gab es wieder „murmures". Die politische Polarisierung kam dann auch zum Ausdruck in dem Antrag des Abbé Jallet, einen Zusatzartikel gegen die „Zusammenrottung" der Landarbeiter während der Erntezeit einzufügen - eine andere Front der sozialen Auseinandersetzung, an der ständig Unruhe herrschte.
4. Die umfassende Absicherung des Vereinigungsverbots Das Koalitionsverbot ist in der loi Le Chapelier vielfach abgesichert. Auf die zitierten Art. 1 und 2 folgen Vorschriften, die sich mit speziellen Erscheinungsformen des gemeinschaftlichen Auftretens befassen. So verbietet Art. 3 den Organen des Staates und der Kommunen, Aufrufe und Petitionen unter dem Namen eines Standes oder eines Berufes auch nur entgegenzunehmen, geschweige denn zu beantworten; vielmehr wird ihnen befohlen, Beschlüsse für nichtig zu erklären, die auf diese Weise zustande gekommen sein können, und sorgfältig darauf zu achten, dass sie nicht befolgt oder ausgeführt werden. Als Zuwiderhandlungen - „Verstöße gegen die Grundsätze der Freiheit und der Verfassung" - werden sodann in Art. 4 die Beschlüsse und Vereinbarungen genannt, die sich auf die Arbeitsbereitschaft beziehen („délibérations" bzw. „conventions tendant à refuser de concert ou à n'accorder qu'à un prix déterminé le secours de leur industrie ou de leurs travaux"). Sie werden als verfassungswidrig und nichtig erklärt; die Behörden und Gemeindeverwaltungen sind gehalten, dies ausdrücklich festzustellen. Die „Urheber, Anführer und Aufwiegler" machen sich strafbar; sie sind vor das Polizeigericht zu zitieren und jeder einzeln zu einer Geldstrafe von 500 Livres zu verurteilen; außerdem verlieren sie alle aktiven Bürgerrechte für ein Jahr. Bei öffentlichen Arbeiten dürfen keine Unternehmer, Arbeiter und Gesellen beschäftigt, zugelassen oder geduldet werden, die solche Beschlüsse oder Vereinbarungen angeregt oder unterschrieben haben - es sei denn, sie erklären aus eigenem Antrieb förmlich vor dem Gerichtsschreiber einen Widerruf (Art. 5). Wenn in den besagten Beschlüssen oder Vereinbarungen, Plakaten oder Rundbriefen fremde Unternehmer, Handwerker, Arbeiter oder Tagelöhner, die ihre Leistung anbieten wollen, oder Personen, die sich mit einem niedrigeren Lohn zufrieden geben wollen, bedroht werden, sollen die Anstifter und Gehilfen solcher Drohungen mit einer Geldstrafe von 1.000 Livres und drei Monaten Gefängnis bestraft werden (Art. 6). Art. 7 bekräftigt die Strafbarkeit dieser und ähnlicher Handlungsweisen; danach sollen diejenigen, welche die Arbeitswilligen („les ouvriers usant de la liberté accordée par les lois constitutionelles au travail et à l'industrie") bedrohen oder Gewalt gegen sie ausüben, wie Störer der öffentlichen Ruhe „mit der Härte der Gesetze" bestraft werden. Der Schlussartikel des Gesetzes bezeichnet „attroupements" von Handwerkern, Arbeitern, Gesellen und Tagelöhnern, die sich gegen die so verstandene Gewerbe- und Arbeitsfreiheit und die ihnen auferlegten Beschränkungen
„Freiheit der Arbeit" als Unterdrückung der Koalitionsfreiheit
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richten, als „aufrührerisch" - mit den entsprechenden Rechtsfolgen der Auflösung und der Bestrafung der Urheber und Anfuhrer (Art. 8). Am 20.7.1791 wurde das Gesetz auf die ländlichen Gebiete erweitert; Gutsbesitzer und Bauern, Knechte und Hauspersonal wurden denselben Bindungen unterworfen wie die städtischen Unternehmer und Arbeiter. 20 Das Koalitionsverbot wurde unter verschiedenen Regimen immer wieder bestätigt, so z.B. vom Wohlfahrtsausschuss, 21 vom Empire im Code pénal und von der Juli-Monarchie durch ein Gesetz vom 10.4.1834.22 Insgesamt enthält die loi Le Chapelier also ein umfassendes Paket repressiver Vorschriften gegen die kollektive Interessenwahrnehmung der Arbeiterschaft. An einigen Stellen werden zwar auch den Unternehmern und Meistern Beschränkungen auferlegt. So wird in Art. 2 ganz allgemein allen Angehörigen des gleichen Berufes und speziell auch den Unternehmern und Ladenbesitzern untersagt, sich (wieder) gemeinschaftlich zu organisieren, und in Art. 4 werden Kartellabreden ebenfalls allen Bürgern verboten, „die den gleichen Berufen, Handwerken oder Gewerben angehören"; das Angebot der Unternehmen („leur industrie") wird dem Angebot der eigenen Arbeitskraft („leurs travaux") gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung erklärt sich aus dem immer wieder betonten Zusammenhang mit der Auflösung der Zünfte und Innungen, aber sie kaschiert doch nur die eindeutige Tendenz des Gesetzes. „Zusammenrottungen" (Art. 8) der Unternehmer und Handwerksmeister waren gewiss nicht zu befurchten; denn diese hatten (und haben) es nicht nötig, durch Versammlungen und Demonstrationen Druck auszuüben, und die Umstände, unter denen, wie erwähnt, die Handelskammern aus dem Koalitionsverbot ausgeklammert wurden, sprechen Bände - man hielt es offensichtlich trotz gegenteiliger Bekundungen fur selbstverständlich, dass im Kern nur die eine Seite gemeint war. „Der ursprünglich breit angelegte Anwendungsbereich wurde schon bald nach der Verabschiedung gezielt eingeengt. Von den Korporationen' war kaum noch die Rede, dafür umso mehr von den verschiedenen Versuchen der Arbeitnehmer, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Das in Art. 1 formulierte allgemeine Korporationsverbot verwandelte sich so zunehmend in eine ausschließlich auf die Gewerkschaften anwendbare Regelung".20
20 21 22 23
Soreau (Fn. Soreau (Fn. Spyropoulos Simitis (Fn.
6), S. 300. 6), S. 307. , La liberté syndicale, 1956, S. 12. 1), S. 158.
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III. Das Umfeld des Koalitionsverbots Die Koalitionsfreiheit ist zunächst nicht als Grundrecht anerkannt worden. Die Menschen- und Bürgerrechtserklärung vom 26.8.1789 garantierte zwar den freien Austausch der Gedanken und Meinungen („la libre communication des pensées et des opinions"), aber weder Vereinigungs- noch Versammlungsfreiheit. In der Verfassung von 1791 ist zwar die Freiheit zu friedlicher Versammlung - unter dem Vorbehalt polizeigesetzlicher Regelung - gewährleistet, aber die Vereinigungsfreiheit fehlt auch hier. Auch im historisch-internationalen Vergleich steht das französische Gesetz von 1791 nicht allein. Immer wieder versuchten Regierende und Gesetzgeber, den Zusammenschluss von Arbeitern zu unterbinden. Allgemein gilt: „Vor der Koalitionsfreiheit stand das Koalitionsverbot". 24 Die etwa seit dem 14. Jahrhundert entstehenden Gesellenverbände wurden von Anfang an vielfach unterdrückt und durch die Reichspolizeiordnung 1530 und wieder durch die ReichsZunftordnung 1731 verboten, wenn auch nicht immer mit dem erstrebten Erfolg. 25 Seitdem bestand ein Koalitionsverbot, das später auch durch landesrechtliche Vorschriften bestätigt wurde. 26 Im Jahre 1835 fasste die Bundesversammlung einen Beschluss über „das Verbot des Wanderns, der Versammlungen und Verbindungen der deutschen Handwerksgesellen". 27 Noch im Jahre 1854 beschloss die Bundesversammlung, dass „die etwa noch bestehenden Arbeitervereine und Verbrüderungen, welche politische, socialistische oder communistische Zwecke verfolgen, binnen zwei Monaten aufzuheben und die Neubildung solcher Verbindungen bei Strafe zu verbieten" seien.28 Das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit fehlt auch noch in den meisten Verfassungen des frühen 19. Jahrhunderts; eine Ausnahme machte zunächst nur Belgien (1831). 29
24 Schwerdtfeger, Die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers in der Bundesrepublik Deutschland, in: Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers, 1980, S. 149 (154). 25 Eine höchst anschauliche Darstellung der tatsächlichen und rechtlichen Entwicklung hat Ritscher geliefert: Koalitionen und Koalitionsrecht in Deutschland bis zur Reichsgewerbeordnung, 1917, Neudruck herausgegeben von Schröder, 1992. 26
Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Band II, 1. Halbband, 7. Aufl., 1967, S. 113 ff. (115); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, 1997, S. 82 f. 27 Beschluss vom 15.1.1835, Protokoll der Deutschen Bundesversammlung 1835, 3. Sitzung, § 36, abgedruckt bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band 1, 1961, S. 136. 28 § 8 des Bundesbeschlusses vom 13.7.1854, Protokolle der Bundesversammlung 1854, 2. Sitzung, § 219, abgedruckt bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band 2, 1964, S. 6/7. 29 Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band 1, 2. Aufl., 2004, Art. 9 Rn. 3.
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In Großbritannien und in den USA hatten sich im Zuge der beginnenden Industrialisierung Arbeiterkorporationen schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gebildet, und auch dort wurden sie sogleich unterdrückt. 30 Über England berichtet Hans Hattenhauer, 31 dass im Jahre 1721 ein Gericht hart reagiert habe, als sich einige Schneidergesellen in Cambridge zusammenschlossen, um bei ihren Meistern höhere Löhne durchzusetzen. Das Gericht habe derartige Koalitionen - so wie später die französische Nationalversammlung - als strafbare Verschwörungen (conspiracy) gegen die öffentliche Ordnung angesehen.32 Gegen Ende des Jahrhunderts habe aber der Rückgriff auf überliefertes Recht nicht mehr ausgereicht, um die vielfältigen Arbeiterkoalitionen (combination) zu unterbinden. Das englische Parlament beschloss im Jahre 1799 „in einer Art Überraschungsangriff „nach ungewöhnlich kurzer Debatte"33 - wiederum eine Parallele zur loi Le Chapelier - ein gesetzliches Verbot von combination; ein Jahr später wurde dieses Gesetz nachgebessert.34 Dieser Combination Act von 1799/1800 wurde allerdings nach Überprüfung durch einen Parlamentsausschuss schon im Jahre 1825 wieder aufgehoben. Man habe festgestellt, dass das Gesetz nicht nur ineffektiv sei, sondern auch dem Ansehen des Parlaments geschadet und sozialen Unfrieden geschürt habe.35 Karl Marx schreibt, das Parlament habe „die grausamen Gesetze gegen Koalition" nur widerwillig, wegen der drohenden Haltung des Proletariats aufgegeben und doch noch „einige Überbleibsel der alten Statute" aufrechterhalten. 36
IV. Das Aufkommen der Koalitionsfreiheit Damit setzte sich England an die Spitze der Bewegung, die auf Anerkennung der Koalitionsfreiheit abzielte.37 Andere Länder brauchten dazu sehr viel länger. Im Deutschen Bund wurde das Koalitionsverbot erst seit 1861 (zunächst durch Landesrecht) abgeschafft. Es wurde auf die ersten deutschen Gewerkschaften
30
Spyropoulos
(Fn. 22), S. 10.
31
Europäische Rechtsgeschichte, 2. Aufl., 1994, S. 578. 32 Zur Conspiracy Doctrine und ihrer Übernahme durch US-amerikanische Gerichte vgl. Albig, Die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer im Recht der Vereinigten Staaten von Amerika, 1974, S. 16 ff. 33
34
Hattenhauer
(Fn. 31), S. 578.
Der Text von 1800 ist abgedruckt in: English Historical Documents (EHD), Band V I I I (1783-1832), 1959 ff., Nr. 487, S. 749. Zu dem Gesetz s. auch Spyropoulos (Fn. 22), S. 12. 35 Hattenhauer (Fn. 31), S. 578 m.w.N. S. auch EHD (Fn. 34), Nr. 488, S. 752 ff. 36 Marx, Das Kapital, VII. Abschnitt, 24. Kapitel, Ausgabe 1969, S. 685. Text des Gesetzes von 1825: EHD (Fn. 34), Nr. 491, S. 758 ff. (Verbot von Gewalt und Drohung). 37 So auch Spyropoulos (Fn. 22), S. 13.
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im heutigen Sinne zunächst noch angewendet.38 Die Gewerbeordnung fiir den Norddeutschen Bund gewährte dann zwar den gewerblichen Arbeitern in § 152 Abs. 1 die Freiheit zur Koalition, verweigerte den Koalitionen aber in Abs. 2 den Rechtsschutz und schützte in § 153 die Einzelnen vor den Koalitionen; die Strafgerichte taten durch extensive Anwendung des Erpressungsparagraphen ein Übriges, um Arbeitskämpfe zu erschweren/ 9 Die uneingeschränkte Koalitionsfreiheit brachte erst der Aufruf des Rates der Volksbeauftragten vom 12.11.1918. Beschränkungen der Vereinigungs- und Handlungsfreiheit von Arbeitern galten lange Zeit auch in anderen Staaten fort, selbst wenn sie - wie Belgien und Dänemark - die Vereinigungsfreiheit in ihrer Verfassung verankert hatten.40 Bei der Betrachtung der Rechtsentwicklung in Frankreich selbst muss zwischen „coalition" als dem „groupement temporaire" und „Syndicat" als „groupement permanent" unterschieden werden. 41 Die Handlungsfreiheit der Arbeiter wurde in zwei Schritten hergestellt: Durch Gesetz vom 25.5.1864 wurde die Strafbarkeit der coalition und des Streiks abgeschafft; die betreffenden Artikel des Code pénal wurden aber durch eine Neufassung ersetzt, die das Delikt gegen die Freiheit der Arbeit beschrieb. 42 Die volle Koalitionsfreiheit im heutigen Sinne, das heißt die Freiheit zur Bildung von Gewerkschaften als dauerhaften Arbeitervereinigungen war erst Gegenstand des Gesetzes vom 21.3.1884, dem „Grundgesetz der Berufs Vereinigungen"; die loi Le Chapelier wurde erst damit vollständig aufgehoben. 43
V. Historische und staatstheoretische Bewertung 1. Notwendiges Durchgangsstadium oder bürgerlicher
Staatsstreich?
War die loi Le Chapelier ein „Maßnahmegesetz" aus aktuellem Anlass („loi de ,circonstances'") oder eine Grundsatzentscheidung gegen die Arbeiterklasse,
38
Kittner/Schiek, in: AK-GG, 3. Aufl., 2001, Art. 9 Abs. 3 Rn. 5. Hueck/Nipperdey (Fn. 26) S. 116 f.; s. auch Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band IV, 1969, S. 1134 ff. (Gewerkschaftsbewegung und Koalitionsverbote), S. 1137 ff. (Einführung der Koalitionsfreiheit) sowie S. 1170 f. (zum Sozialistengesetz). 40 Einzelheiten bei Spyropoulos (Fn. 22), S. 12. 41 Spyropoulos (Fn. 22), S. 16; s. auch die Artikel „Coalitions" und „Syndicats" im 39
Grand Larousse (Fn. 1) Band 4 bzw. 14. 42
Spyropoulos (Fn. 22), S. 13; s. auch Burstin, La loi Le Chapelier et la conjoncture révolutionnaire, in: Naissance des libertés économiques (Fn. 1), S. 63. 43 Spyropoulos (Fn. 22), S. 16. Die volle Vereinigungsfreiheit der Gewerkschaften wurde nach Spyropoulos erst durch ein Gesetz vom 1.7.1901 erreicht.
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ein bewusstes Vorhaben zur Unterdrückung jeder gegenwärtigen oder künftigen Arbeiterorganisation, wobei die staatstheoretische Begründung vielleicht nur vorgeschoben wurde? Diese Frage beschäftigt die Literatur seit langem.44 Karl Marx hat sie am entschiedensten beantwortet: Er nennt das Gesetz einen „bürgerlichen Staatsstreich", welches „den Konkurrenzkampf zwischen Kapital und Arbeit staatspolizeilich innerhalb dem Kapital bequemer Schranken einzwängt". 45 Für Dominique Strauss-Kahn 46 ist es - gemeinsam mit dem vorangegangen Décret d'Allarde - Ausdruck des Liberalismus, wie er sich am Ende der Revolution definiert hat; 47 er meint, die französische Gesellschaft bedurfte nach der Epoche der korporatistischen Detailregulierung einer Gegenbewegung auf der Grundlage des Individualismus, bevor sie eine neue Form der Regulierung finden konnte. In der „Presentation" des Pariser Kolloquiums von 1991 heißt es, mit der Trias von „Gewerbefreiheit, Handelsfreiheit und Freiheit zu arbeiten" seien „die Fundamente der industriellen Revolution und der tief greifenden Umwandlung in Wirtschaft und Gesellschaft" gelegt worden, die dann folgen sollte. 48 Dieser Einschätzung widerspricht unter anderem Roger Martin. Die Ansicht, das Le Chapelier-Gesetz sei die Grundlage des Liberalismus, lasse ihn ratlos; Liberalismus und Gewerkschaften seien keineswegs unvereinbar („antinomiques"), wie er unter Hinweis auf den Beitrag der deutschen Gewerkschaftsbewegung zum Erfolg der deutschen Wirtschaft bekräftigt. 49 Gegen seinen Charakter als provisorisches Maßnahmegesetz spricht schon die Tatsache, dass das Gesetz in den folgenden Jahren immer wieder bestätigt wurde. Die Arbeiterunruhen und Streiks jener Zeit waren wohl auch nicht so bedrohlich, die Lage nicht so alarmierend, dass der Gesetzgeber unüberlegt hätte „zuschlagen" müssen.50 So ist wohl anzunehmen, dass es der Nationalversammlung wirklich um die grundsätzliche Weichenstellung gegen die intermediären Gewalten ging. 51 Die Geschichte ist abgeschlossen und irreversibel; unser Urteil darüber ist stets davon beeinflusst, wie wir die Probleme wahrnehmen. Wenn aber gesagt werden sollte, die Entwicklung habe nicht anders verlaufen können, so ist zu 44
Dazu unter anderem Burstin (Fn. 42), S. 63 m.w.N. Marx (Fn. 36) S. 686. 46 In seiner Funktion als Minister für Industrie und Außenhandel (1991, vgl. Fn. 1). 47 Strauss-Kahn , Vies et morts des regulations, in: Naissance des libertés economiques (Fn. 1), S. XIII. 48 In: Naissance des libertés économiques (Fn. 1) S. V I I (vermutlich verfasst von Plessis). Die Bezeichnung als „Basis des wirtschaftlichen Liberalismus" findet sich auch im Grand Larousse (Fn. 1), Artikel „Le Chapelier". 49 Martin , Avant-Propos, in: Naissance des libertés économiques (Fn. 1) S. XXI. 50 So auch die Einschätzung von Simitis (Fn. 1), S. 165. 51 Simitis (Fn. 1), S. 160 f. 45
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widersprechen. Richtig ist vielmehr, dass die französische Revolution, so wie sie verlaufen ist, im Wesentlichen von den bürgerlichen Kräften bestimmt wurde und dass deren Interesse mit dem der Arbeiter und Gesellen kollidierte. So nennt Ibarrola das Le Chapelier-Gesetz „une loi bourgeois, imaginée par des bourgeois, votée par les représentants de la bourgeoisie et mettant en place la domination de celle-ci" 2 .
Dieses Gesetz gilt als Durchbruch des extremen Individualismus und damit des Liberalismus gegen den Korporatismus. 53 Aber der Liberalismus schrieb auch die freie Assoziation auf seine Fahnen54 - nur eben nicht für die Arbeiter. Die List der Geschichte hat sich allerdings auch gegen diese Entscheidung durchgesetzt. So hat Le Chapelier indirekt die Weichen zu einer verstärkten Sozialfürsorge des Staates gestellt. Die verschiedenen Formen von sozialer Selbsthilfe sind nicht verschwunden; vielmehr wurden die genossenschaftlichen Hilfseinrichtungen unter staatlicher Aufsicht weiter ausgebaut; Napoleon III. schuf vor Bismarck - eine erste staatliche Sozialversicherung. 55 Die Gewerkschaften blieben davon ausgeschlossen.
2. Die staatstheoretische Problematik der intermediären
Gewalten
In der wiederholten Verurteilung intermediärer Instanzen wirkt Rousseaus Vorstellung von der Bildung der unverfälschten volonté générale nach, wie sie im „Contrat social" dargestellt ist: „Hätten bei der Beschlussfassung eines hinlänglich unterrichteten Volkes die Staatsbürger keine feste Verbindung untereinander, so würde aus der großen Anzahl kleiner Differenzen stets der allgemeine Wille hervorgehen, und der Beschluss wäre immer gut. Wenn sich indessen Parteien, wenn sich kleine Genossenschaften zum Nachteil der großen bilden, so wird der Wille jeder dieser Gesellschaften in Beziehung auf ihre Mitglieder ein allgemeiner und dem Staate gegenüber ein einzelner; man kann dann sagen, dass nicht mehr so viel Stimmberechtigte wie Menschen vorhanden sind, sondern nur so viele, wie es Vereinigungen gibt. [...] Um eine klare Darlegung des allgemeinen Willens zu erhalten, ist es deshalb von Wichtigkeit, dass es im Staate möglichst keine besonderen Gesellschaften geben und jeder Staatsbürger nur für seine eigene Überzeugung eintreten soll." 5 6
Es liegt auf der Hand, dass diese abstrakte Staatsidee mit der politischen und wirtschaftlichen Realität unvereinbar war. Die darauf gegründete neue Freiheit musste denen, die sie geschenkt bekamen, höchst fragwürdig erscheinen. Die im 52 53
In: Naissance des libertés économiques (Fn. 1), S. 255. Vgl. etwa Rinken, in: AK-GG (Fn. 38), Art. 9 Abs. 1 Rn. 2.
54
Bauer (Fn. 29), Rn. 4.
55
Gibaud{Fn. 4), S. 247 ff. Contrat social, II 3, zitiert in der Übersetzung von Denhardt, 1959.
56
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alten System Benachteiligten konnten wirkliche „Freiheit" nicht durch Befreiung von jeglichem Schutz der gemeinsamen Ordnung erlangen. Tatsächlich wurde die eine Abhängigkeit durch die andere ersetzt, die persönliche Bindung an den Herrn oder Meister wich einer neuen Unterwerfung unter die unpersönliche Macht des Marktes, des Kapitals, der „Verhältnisse". Diese Konsequenz ist aus der preußischen Bauernbefreiung von 1807/1810 bekannt: Die von den alten Bindungen befreiten Bauern wurden wirklich frei nur, wenn sie die Rechte der Gutsherren ablösen konnten.57 Auch wer sich nicht nach dem fürsorglichen Schutz der Stände und Zünfte zurücksehnte, konnte nicht damit rechnen, seine Interessen als Individuum besser durchzusetzen als in der Gemeinschaft mit anderen. Die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft war nach der empiriegestützten Ansicht von Ernst Rudolf Huber von dem theoretischen Modell des radikalen Individualismus „von Anfang an und von Grund auf verschieden". 58 Nicht nur dass sich die vereinsfeindlichen Verbotsgesetze nur zum Teil durchsetzen ließen: „Die reine individualistische Gesellschaft, die organisationsfreie ,atomistische Wirtschaft' hat es in der Realität niemals gegeben. [...] Nicht der Wettbewerb freier Einzelner, sondern das Neben-, Gegen- und Miteinander organisierter Gruppen war schon im 19. Jahrhundert das Bauprinzip der modernen Gesellschaft". 59
Dass intermediäre Gewalten die Bildung des „wahren" Gemeinwillens behindern, ist aber auch theoretisch nicht überzeugend. 60 Rousseau scheint zu meinen, dass der demokratische Wert des Einzelwillens sich verringere, wenn er in eine gemeinsame Organisation eingebracht werde, die dann ihrerseits gegenüber dem Staat einen (veränderten) einheitlichen Willen vertritt. Anscheinend werden in seiner Sicht die Meinungs- und Willensunterschiede zwischen den Einzelnen durch das kollektive Auftreten vergrößert und dadurch die Lösung der Probleme erschwert. Aber diesem Bild liegen keine Anschauung und keine Erfahrung zugrunde. In Wahrheit erleichtern intermediäre Instanzen die Problembewältigung, weil sie die Komplexität der Interessen- und Willensäußerungen reduzieren. Rousseau ignoriert im Grunde die tatsächlich in jedem Volk vorhandenen Meinungs- und Interessenunterschiede; er geht eben von einem konstruierten Modell aus. Vor allem unterscheidet er nicht zwischen Willen und Interessen - aber es ist ja keineswegs ausgemacht, dass die individuellen Willensentscheidungen, die zur Bildung des Gemeinwillens fuhren, wirklich aus der Interessenlage der (al57
Frotscher/Pieroth , Verfassungsgeschichte, 1997, Rn. 196 ff. (200 f.). Huber , Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 39), Band IV, S. 989. 59 Huber , Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 39), Band IV, S. 989. 60 Zum „Dilemma des Liberalismus" in Bezug auf die intermediären Gemeinschaften s. auch Tribe , American Constitutional Law, 1978, S. 898. 58
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ler!) Individuen abgeleitet sind (würde sonst irgendein Volk einen Krieg beginnen?). Rousseau scheint auch zu übersehen, dass es in einem Volk im Allgemeinen nicht eine Vielzahl von Interessen gibt, die sich wenig voneinander unterscheiden, sondern dass sich der politische und soziale Streit regelmäßig auf die Auseinandersetzung zwischen einigen wenigen zentralen Interessen zuspitzen lässt, die in deutlichem Gegensatz zueinander stehen (auch wenn man nicht von einer Trennung in „Klassen" reden will). Indem sich die Anhänger des radikalliberalen Modells auf die Freiheit des individuellen Willens und der individuellen Entscheidung konzentrieren, pflegen sie von den betroffenen Interessen zu abstrahieren. Es ist bezeichnend, dass Le Chapelier in dem oben (zu II. 3.) wiedergegebenen Zitat von den „angeblichen" (prétendus) gemeinsamen Interessen der Berufsangehörigen spricht (die deren Versammlung nicht rechtfertigten). Das Volk ist bei Rousseau hinlänglich unterrichtet, aber die Staatsbürger haben keine feste Verbindung untereinander, wissen also weniger über einander als wenn sie in „Gesellschaften" oder „Genossenschaften" organisiert sind. Ist hier schon der „Schleier der Unwissenheit" erkennbar, den Rawls später als Schlüsselelement seiner Sozialvertragslehre 61 benutzt hat? Eher ist es wohl so, dass Rousseau seine ideale Demokratie nur deshalb so entschieden vom Individuum her entwirft, weil er die seinerzeit - im Ancien Regime - vorhandenen intermediären Instanzen als Gegner ansieht; sie waren ja in der Tat anti-individualistisch, weil sie die Aktivität des Einzelnen einengten, und damit zugleich fortschrittsfeindlich, weil sie die wirtschaftliche Entwicklung hemmten. In dem Augenblick jedoch, in dem die alten Korporationen beseitigt wurden, entstand das Bedürfnis nach neuen Verbindungen - nicht nur der Kaufleute, die ihre Handelskammern behalten durften und in der Folge zahllose starke Verbände bildeten, 62 sondern gerade auch der von der alten Ordnung befreiten Arbeiter, Gesellen und Dienstboten. Deren Verbindungen zu verbieten, hieß zu versuchen, ihnen die Wahrnehmung ihrer gleichgerichteten Interessen zu nehmen. Die gemeinsame Beratung und das gemeinsame Auftreten - also die Repräsentation der Interessen - beseitigt die Unwissenheit der Betroffenen und macht sie stärker, während die Individuen in der unmittelbaren Beziehung zum Staat schwächer sind, der gemeinsame Wille dann also in höherem Maße von denjenigen geprägt werden kann, die sozial und wirtschaftlich schon einen Vorsprung besitzen. Die Zerschlagung aller Zwischeninstanzen kann sogar die Herausbildung autoritärer Regierungen begünstigen. In der deutschen politischen Praxis hat die scharfe Ablehnung solcher vermittelnder Gruppierungen bisweilen einen besonders heiklen Hintergrund - man denke nur daran, dass deutsche Monarchen ihren Unwillen über die politischen
61 62
Rawls , Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, S. 159 ff. S. nochmals Huber , Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 39), Band IV, S. 991 ff.
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Parteien in Reden gegen den „Parteigeist" zum Ausdruck brachten 63 und behaupteten, sie kennten „keine Parteien mehr, nur Deutsche".64 Die heute grassierende „Parteienverdrossenheit" ist ein gewiss extremes Beispiel für übertriebenes Einheitsdenken, aber eben auch ein Beleg für das Weiterleben unrealistischer und letztlich ideologischer Staatsvorstellungen. Das staatstheoretische Problem, das damals wie heute ein Argument für die Idee der strikt unmittelbaren Beziehung von Individuen und Staat liefert, ist die Ungleichheit der Gewichte, mit denen organisierte Interessen auf die Entscheidung über das Gemeinwohl einwirken, und die Vernachlässigung nicht oder unzureichend organisierter Interessen, die tatsächlich eintreten kann und immer wieder eintritt. Die radikale Lösung der „identitären" Demokratie hilft dagegen aber nicht. Es bedarf der vermittelnden Instanzen, schon damit Personen sich exponieren und Programme zustande kommen, die bei Wahlen und Abstimmungen zur Auswahl stehen. Überdies werden die Menschen sich immer wieder aufs Neue zu Vereinigungen zusammenfinden, um gemeinsam zu propagieren, was sie in der Vereinzelung nicht durchsetzen können. Die Verfassung muss darauf mit Regeln reagieren, die auf Gleichbehandlung aller Betroffenen und Interessenten abzielen. Anhörung derer, die etwas beizutragen haben, ist das passendere Verfahren zur Feststellung des Gemeinwohls als die Behinderung von Zwischenmächten. Die Individuen dürfen andererseits auch nicht einer neuen Abhängigkeit ausgesetzt werden, die sich bilden kann, wenn die Zwischengewalten zu mächtig werden. Innerorganisatorische Demokratie ist also ebenso geboten wie im Außenverhältnis die Gleichbehandlung der Verbände. Gerechte Bedingungen für die Arbeitenden herzustellen, ist ohnehin nicht allein Aufgabe des Staates; das ökonomische Gemeinwohl kann und soll auf diesem Felde - jedenfalls „in erster Instanz" - durch die Auseinandersetzung zwischen den Beteiligten gefunden werden. Die Vereinigungsfreiheit und - als ihr speziell geregelter Teilbereich - die Koalitionsfreiheit bilden heute wichtige Elemente der freiheitlichen Verfassung. Dass die Funktion dieser Freiheiten im Lichte neuerer Überlegungen und der Kritik an neokorporatistischen Entwicklungen65 wieder umstritten ist, steht auf einem anderen Blatt.
63
Ein Beispiel: Verordnung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. vom 6.1.1816; bei Huber (Fn. 27), S. 57 f. 64 Wilhelm II. in seiner Thronrede vom 4.8.1914; dazu Büchmann, Geflügelte Worte, 31. Aufl., 1964, S. 749. 65 Vgl. etwa Rinken (Fn. 53), Rn. 11 ff., 32 ff.; Bauer (Fn. 29), Rn. 17 ff.
Dix réflexions autour d'une centenaire La loi du 9.12.1905 un siècle après Par Dominique Breillat Introduction Les Francis ont la passion des commémorations, principalement lorsqu'il s'agit de ce qu'ils considèrent comme leurs monuments juridiques. Rien que depuis le début de ce nouveau siècle nous les avons vus, entre autres, commémorer le centenaire de la loi du 1.7.1901 relative à la liberté d'association, dont le Conseil constitutionnel, dans sa plus célèbre décision, a fait un des principes fondamentaux reconnus par les lois de la République, l'une des sources délicates de notre bloc de la constitutionnalité. En 2004, c'est la gigantesque oeuvre napoléonienne, le Code civil de 1804, qui est célébrée par tout le monde desjuristes. Et en 2005, nous évoquons comme un symbole d'unité, un texte qui avait divisé d'une fa$on dramatique les Fran$ais un siècle plus tòt, la loi du 9.12.2005 concernant la séparation des Eglises et de l'Etat. On parle souvent de ,,1'exception fransaise" dans l'Union européenne, les Frangais pour s'en enorgueillir, nos amis européens pour émettre un grand nombre de réserves qui ont peut-ètre encore été avivées par les résultats du référendum du 29.5.2005. Cette exception apparait déjà au niveau du vocabulaire avec un mot: „laì'cité" qui semble intraduisible, notamment dans les langues germaniques. Les équivalents ne sont que des caiques {laicità en italien, laicismo en espagnol, Laizismus en allemand) ou des équivalents inapplicables à d'autres sociétés (par exemple, l'anglais secularity)} Les dictionnaires nous donnent en allemand soit Trennung von Kirche und Staat , expression un peu longue, soit Laizismus qui nous semble erroné, en fran^ais laì'cisme étant selon l'Académie Fran9aise, la „doctrine tendant à réserver aux laì'ques une certaine part dans le gouvernement de l'Eglise", encore qu'une autre acception, plus proche de la laì'cité soit apparue au XXème siècle définissant ce concept comme la „Doctrine qui tend à donner aux institutions un caractère non religieux" (Académie). En anglais, on tente de traduire ce terme par secularity ou secularism, ce qui conduit à des confusions beaucoup plus profondes. Le sécularisme est la tendance séculière (d'un mouvement religieux) et la sécularité, l'état du prétre séculier. 1 A. Rey (Dir.), Dictionnaire culturel en langue frangaise, V° Laì'cité, (Dictionnaires Le Robert, 2005) pp. 2309-2310.
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Ce mot de laì'cité, apparu en 1871,2 considéré comme „un néologisme utile" selon Ferdinand Buisson, est ainsi défini par Henri Capitani comme la „conception politique impliquant la séparation de la société civile et de la société religieuse, l'Etat n'exersant aucun pouvoir religieux et les Eglises aucun pouvoir politique". 3 C'est cette finalité qui était poursuivie par les auteurs de la loi, mais avec un certain nombre d'arrière-pensées qui s'inscrivaient dans un combat dans lequel les luttes pour l'établissement de la République auquel s'était opposée l'Eglise catholique donnaient un caractère de combat, symbolisé par le Président du Conseil au moment du dépot du projet de loi, Emile Combes, ancien séminariste devenu farouchement anticlérical et par un Pape résolument conservateur, Pie X. Ce projet de loi n'était que la suite de toute une sèrie de dispositions qui se sont égrenées depuis 1880. Cette année-là interviennent la laì'cisation de l'enseignement, la suppression de Γ obligation du repos dominical et les premiers décrets contre les congrégations non autorisées. L'année suivante on laicise les hópitaux, les pompes funèbres et les cimetières et on enlève les crucifix des tribunaux. En 1883 on dissocie les honneurs militaires des cérémonies religieuses. En 1884, le divorce supprimé à la Restauration, est rétabli et une révision constitutionnelle supprime les prières publiques lors de la rentrée du parlement. Parallèlement les grandes réformes en matière d'enseignement portent cette marque de la laì'cité. En 1889, les ministres du eulte sont astreints au service militaire. En 1901 la loi sur les associations s'attaque aux congrégations religieuses et celles-ci se voient refuser le droit d'enseigner en 1904. Mais ce projet échappera dans une certame mesure à ses initiateurs. D'une part, c'est un autre chef de gouvernement, Maurice Rouvier, à la tète d'un gouvernement „exempt de tout caractère de combat"4 qui sera aux affaires, laissant à un rapporteur très consensuel et promis à un bel avenir, Aristide Briand, le soin de guider les débats.5 D'autre part, le ministre de l'intérieur qui devait ensuite devenir chef du gouvernement, Georges Clémenceau, saura faire preuve de pragmatisme pour apaiser les esprits, notamment en suspendant les inventaires qui avaient crée des incidents graves, estimant que „quelques chandeliers ne valent pas une revolution".
2
La Patrie, 11.11.1871. Henri Capitani, Vocabulaire juridique, PUF, 1930, p. 305. 4 Dictionnaire des parlementaires francais (1889-1940), T. V i l i , V°; Rouvier Maurice , Presses universitäres de France, 1977, p. 2919. 5 La loi sera assez largement approuvée, par 341 voix contre 233 le 3.7.1905 à la Chambre des députés et par 179 voix contre 103 au Sénat le 6.12.1905. 3
Dix réflexions autour d'une centenaire - La loi du 9.12.1905 un siècle après
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Un siècle après, l'occasion de la commémoration permet de formuler un certain nombre d'observations. Pour un tei texte on ne pourra céder à la tentation d'en déceler dix mème si, en fait, cela mériterait plus qu'un décalogue.
I. Le consensus Loi de combat, loi de division en 1905, ce texte est devenu une disposition consensuelle, une manifestation d'unité comme marquant une caractéristique à laquelle nous sommes attachés. Le principe de laì'cité est aujourd'hui admis par tous et a pu facilement ètre intégré dans notre constitution en 1946 et repris dès Particle ler de la Constitution du 4 octobre 1958 qui affirme que „la France est une République indivisible, laì'que, démocratique et sociale. Elle assure l'égalité de tous sans distinction d'origine, de race ou de religion. Elle respecte toutes les croyances...". Dans ses caractères, la République fait passer la laì'cité avant la démocratie. La liberté religieuse n'en reste pas moins une liberté solidement établie; elle a été posée en 1789 par l'article 10 de la Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen avec une certaine insistance puisqu'on affirme que „Nul de doit ètre inquiété pour ses opinions, mème religieuses". Cette expression „mème religieuses" montre aussi combien l'idée était neuve en 1789. On remarquera cependant, ce qu'on, oublie bien souvent, que cette Déclaration de 1789 a été rédigée „en présence et sous les auspices de l'Etre Suprème". Il y a done constitutionnalisation de l'Etre Supreme! Pourquoi une telle unité en 2005? C'est que depuis 1905, l'Eglise a évolué et la gauche qui était le fer de lance du combat en 1905 a également évolué. Est-ce à dire que la question de la laì'cité ne pose plus aucun problème? Comme le disait finement Jean Rivero „Laì'cité, le mot sent la poudre; il éveille des résonances passionnelles contradictoires" 6 et de fait les combats peuvent resurgir par des questions périphériques ne touchant pas la liberté religieuse en tant que telle comme celle de l'enseignement - il suffit d'évoquer les manifestations en faveur de l'enseignement privé, en France principalement confessionnel, en 1984, et Celles en faveur de l'enseignement public dix ans plus tard en 1994 lors de la tentative de la révision de la loi Falloux - , ou encore par des questions identitaires comme les signes extérieurs mais qui ne visent plus vraiment l'Eglise catholique.
6
J. Rivero , la Notion juridique de laì'cité, D. 1949 Chr. 137.
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Les adversaires de 1905 ne veulent plus qu'on y touche. On peut penser que c'est tout à fait évident pour ceux qui défendaient la loi il y a un siècle, mais l'Eglise catholique a vu aussi son intérèt dans ce texte. D'une part, il n'y a plus d'utilisation hostile de la loi à son égard et d'autre part, elle y a gagné en indépendance, une indépendance acquise, certes, dans la pauvreté. Comme lors de chaque commémoration de grands textes, des voix s'élèvent pour une adaptation, un „toilettage". Les Eglises, sauf exception, ne le souhaitent pas. C'est le cas avant tout de l'Eglise catholique ou du judaì'sme par la voix du Grand Rabbin de France Joseph Sitruk ou des musulmans à travers le Président du Conseil francais du Culte musulman, Dalil Boubakeur. La Fédération protestante de France fait exception cependant, alors que les protestants avaient été parmi les principaux artisans de la loi en 1905 avec Francis de Pressensé ou Ferdinand Buisson. De son coté, le Comité national d'action laì'que est également très réservé. Il est opposé à une révision et n'admettrait un „toilettage" qu'avec précaution; les partis sont un peu plus divisés. A droite, Nicolas Sarkozy, ministre de l'Intérieur et président de l'UMP (Union pour un Mouvement Populaire), principal parti de la majorité, souhaiterait une révision 7 à laquelle s'opposent le Premier ministre Dominique de Villepin et le Président Jacques Chirac, pour qui la loi est „au coeur du pacte républicain". 8 Au Parti socialiste, Jean Glavany ne veut pas y toucher, mais Manuel Valls, député de la banlieue parisienne, se retrouve sur les positions de Nicolas Sarkozy. Il est vrai que l'un et l'autre ont à l'esprit les problèmes de l'Islam sans lieux de eulte. Mais il n'en reste pas moins que la majorité des Francais souhaite le statu quo. 57 % des Frangais sont opposés à la participation financière de l'Etat ou des collectives locales à la construction des églises, mosquées ou synagogues.9
II. Une loi modifiée de facto ou de jure La loi de 1905 n'est plus la loi adoptée en 1905. Elle a été modifiée de nombreuses fois, parfois de facon substantielle, principalement par la loi du 13.4.
7 8 9
Ν. Sarkozy , La République, les religions, l'espérance (Cerf, 2005). Le 5.1.2005. Sondage IFOP/Le Journal du dimanche, Le Journal du dimanche 30.10.2005.
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1908 pour régler l'attribution des biens suite au refus des inventaires et la loi du 25.12.1942 facilitant les dons et legs en faveur des associations cultuelles.10 Tout d'abord il a fallu faire face à Γ attitude de l'Eglise catholique marquée d'une part par le refiis des associations cultuelles et d'autre part par le refus des inventaires qu'une abondante iconographie de l'époque a gravé dans les esprits. Des solutions ne se dessineront qu'après la Première guerre mondiale pour de multiples raisons. La Première Guerre mondiale a soudé les Frangais, ceux qui croyaient au Ciel et ceux qui n'y croyaient pas. Dès le 2.8.1914 le télégramme Malvy suspendait les mesures prises contre les congrégations. Les successemi de Pie X, qui par l'encyclique Vehementer Nos, puis le 10.8.1906 par l'encyclique Gravissimi Offici , avait rejeté la loi, ont su manifester plus d'ouverture que ce soit Benoit X V et surtout Pie XI. C'est d'ailleurs sous le pontificat de Pie X I que les relations s'amélioreront après des initiatives intervenues avec son prédécesseur. Un accord intervieni entre le Saint-Siège et la France pour confier la gestion des lieux de eulte non plus à des associations de laì'cs élus démocratiquement, mais à des associations diocésaines présidées par l'Evèque. L'Encyclique Maximam Gravissamque de Pie XI, le 18.1.1924 autorise ces nouvelles institutions permettant aux catholiques d'éviter les associations cultuelles. La loi de finances du 29.4.1926 leur confie les biens des ex-fabriques non encore affeetés. Conséquence de l'amélioration des rapports, les relations diplomatiques avec le Vatican sont rétablies. 11 Sans doute cela intervient-il avant l'arrivée au pouvoir du Cartel des Gauches, mais malgré des tensions et une tentative de retour en arrière, les solutions perdureront. Sans doute les dispositions de la loi de 1905 ne disparaissent pas pour autant, mais on connait cinq types de statuts pour les églises: celui prévu expressément par la loi de 1905, c'est-à-dire les associations cultuelles concernant actuellement les cultes protestant, israélite et musulman, les associations quasi cultuelles, inexistantes en fait et prévues par la loi de 1907 (art. 4), les associations de la loi de 1901, les associations diocésaines pour les catholiques et les établissements publics en Alsace-Moselle recouvrée. Le cas des congrégations est encore particulier. Leur régime relève de la loi de 1901 sur les associations.
10 Voir aussi les lois du 28.3.1907 relatives aux réunions publiques, du 31.12.1913 sur les monuments historiques, 98-546 du 2.7.1998, les ordonnances 2005-549 du 15.6. 2000 et 2005-856 du 28.7.2005 et le décret 66-388 du 13.6.1966. 11
Vidal , Louis Canet, Alexandre Millerand et la reprise des relations diplomatiques entre la France et le Saint-siège, in Eglises et pouvoir politique, Université d'Angers, Presses de l'Université, 1987, p. 397 (projet de loi déposé le 11.3.1919).
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I I I . La diversité géographique Sans doute la Constitution de la Vème République affirme-t-elle l'unité de la République et pourtant celle-ci est mise à mal en ce qui concerne les relations entre les Eglises et l'Etat. L'exception la plus visible est certainement l'Alsace-Moselle. Mais on oublie aussi l'outre-mer francais car la loi de 1905 ne s'applique qu'en Martinique, Guadeloupe, Réunion et Mayotte. L'application du Concordat en Alsace-Moselle est liée au particularisme de ces trois départements au moment de leur retour à la France. 12 Iis ont obtenu de pouvoir bénéficier de dispositions législatives particulières issues souvent du droit allemand, ce qu'on dénomme droit local. Ceci résulte des lois des 17.10.1919 et du 1.6.1924. Un avis du Conseil d'Etat du 24.1.1925 a considéré que la loi du 18 germinal an X appliquant le concordat de 1801 était toujours en vigueur. En 1905, Γ Alsace-Moselle était allemande et le Concordat a continué à s'appliquer à la demande des Alsaciens-Mosellans et conformément à la promesse faite par le gouvernement francais. 13 L'une des conséquences flit la reprise des relations diplomatiques en 1920 avec le Vatican. Un décret nommait les évèques de Strasbourg et Metz. 14 Quatre cultes sont reconnus, les ministres du eulte y sont rémunérés, des cours d'enseignement religieux ont lieu dans les écoles publiques. Mais des dérogations, qui sont toujours acceptées, peuvent ètre faites. Pour les catholiques, la paroisse est administrée par un conseil de fabrique avec un prètre nommé par l'évèque. Surtout, les ministres du eulte sont rémunérés. Les protestants restent soumis au régime napoléonien des articles organiques et les israélites relèvent du Statut de 1844. Les grands rabbins et les presidents et membres des Consistoires protestants et israélites sont nommés par le Premier ministre. Pendant le régime allemand des éléments nouveaux s'y ajoutent. Ainsi en 1870 une université est instituée avec quatre facultés dont une de théologie protestante. Un traité du 5.12.1902 crée une faculté de théologie catholique. Lorsque l'université devient francaise en 1918 les deux facultés de théologie sont maintenues. Ce sont les seules facultés de théologie d'Etat en France. On noterà que depuis 1972, l'Université Marc-Bloch de Strasbourg a eu trois présidents issus des facultés de théologie. 12 Cf. principalement Messner/Prélot/Woehrling , Traité de droit francais des religions, Litec, 2003. 13 On remarquera qu'il continue à s'appliquer au Luxembourg. 14 J.O. 24.4.1919.
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Ajoutons que les Alsaciens-Mosellans, ce que peuvent leur envier les Fran9ais „de l'intérieur", ont deux jours fériés supplémentaires: la Saint-Etienne, le lendemain de Noél et le Vendredi Saint. Il n'en reste pas moins que certaines évolutions proposées ont échoué comme la création d'une faculté de théologie musulmane ou un Grand institut des sciences religieuses en raison de l'opposition des catholiques. La communauté musulmane est forte d'environ 100 000 personnes qui se trouvent exclues de ce regime particulier; ce qui peut apparaitre discriminatoire. Il n'en reste pas moins que les musulmans, en vertu du droit local, peuvent recourir au régime dissociations de droit, issues d'une loi allemande de 1908, plus favorable que le régime des associations cultuelles. La situation est empreinte de variété outre-mer peut-ètre parce que Gambetta estimait que „l'anticléricalisme n'est pas un article d'exportation". En Guyane, le régime résulte d'une ordonnance du 27.8.1827 prise par Charles X. 1 5 Seul le eulte catholique y est reconnu A Saint-Pierre-et-Miquelon, la caisse des cultes est alimentée par le conseil général. A Saint-Pierre-et-Miquelon, en NouvelleCalédonie et en Polynésie Fran^aise, le décret Mandel du 16.1.1939 crée des conseils d'administration pour représenter les missions religieuses dans les actes de la vie civile et pour gérer leurs biens.
IV. La reconnaissance du fait religieux La France η'ignore pas complètement, loin de là, le fait religieux. Ceci apparait dans les faits bien sür, mais aussi en droit; il y a eu au XlXème des périodes d'accentuation des liens entre les Eglises et l'Etat, après la période révolutionnaire et la tentative de domestication napoléonienne et plus particulièrement dans le but de favoriser ou protéger l'Eglise catholique. Ce fut la cas sous la Restauration avec la Charte faisant du catholicisme la religion d'Etat, ou avec les lois punissant le sacrilège ou bien relatives aux congrégations de femmes, ou bien encore, exigeant que les instituteurs aient un certificat destruction religieuse. 16 La Monarchie de Juillet, mème si les liens officiels se distendaient, avec la loi Guizot 17 favorisa l'influence de l'Eglise dans l'enseignement primaire et la Deuxième république fit de mème avec la loi Falloux. 18 Mais on aurait pu penser que la Illème République pratiquerait une ignorance totale du
15 16 17 18
Cf. CE 2.10.1981, Beherec, Ree. 358. Loi du 8.4.1824. Loi du 28.6.1838. Loi du 15.3.1850.
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fait religieux. Il n'en pas été ainsi et certaines dispositions ont été conservées par les régimes ultérieurs. Ainsi le Code pénal, en son article 433-21 punit „tout ministre du eulte qui procèderà de manière habituelle, aux cérémonies religieuses de mariage sans que ne lui ait été justifié Γ acte de mariage préalablement re£u par les officiers de l'état civil." Le secret de la confession n'est pas totalement ignoré puisqu'il est considéré comme secret professional. 19 On pourrait aussi évoquer d'autres dispositions touchant les testaments (article 909 Code civil) ou la levée de corps d'une personne décédée (décret du 4 thermidor an XII). N'oublions pas non plus que la loi de 1905 prévoit des infractions particulières pour les ministres du eulte. 20 L'interdiction des fonctions d'enseignant à des ministres du eulte, Γ interdiction par la loi du 7.7.1904 de l'enseignement à toutes les congrégations religieuses sont en mème temps une reconnaissance du fait religieux et la jurisprudence Bouteyre, 21 en refusant à un ecclésiastique de s'inserire au concours d'agrégation prenait en considération le fait religieux au lieu de l'ignorer ce qui a pu soulever des interrogations. Enfin la loi de 1905 reconnait et accepte de financer les aumòneries dans lycées, collèges, écoles, hospices, asiles et prisons. Depuis le 10.3.2006, le premier aumònier militaire musulman a été proposé par le CFCM. Des désignations sont proposés également pour les prisons et les hòpitaux. La situation apparait très ambigue en ce qui concerne les désignations épiscopales. Lors du Concordat de 1801 les évèques durent tous démissionner pour en désigner de nouveaux. Les nouveaux évèques fiirent nommés par Bonaparte avec le Pape. Lors de la reprise des relations entre le Saint-Siège et la France, l'Aide-mémoire de 1921 reconnaissait au gouvernement francais un „droit de regard" 22 mais le „droit de regard" n'est pas un droit de veto. 23 C'est le Secrétaire d'Etat du Vatican qui interroge l'Ambassadeur de France sur le candidai choisi.
19 Cependant on ne distingue pas selon que les révélations faites à un prètre l'aient été à l'occasion d'une confession ou en dehors de ce sacrement (Crim. 4.12.1891, DP 1892 1 139). 20 Art. 34 et 35 sur certains discours, lectures, écrits ou affiches des ministres du eulte. 21 CE 10.5.1912, Abbé Bouteyre, Ree. 553, conci. Helbronner. 22 J. L. Harouel, Les désignations épiscopales dans le droit contemporain, PUF, Travaux et recherches de l'université de droit, d'économie et des sciences sociales de Paris, n° 13, Sèrie Sciences Historiques, 1977, p. 52; cf. aussi J. L. Harouel , Comment on devient évèque, Pouvoirs, n° 17, 1981 p. 111. 23 Harouel (Fn. 22), p. 58. cf. protocole final du Concordat allemand de 1933: „Ein staatliches Vetorecht soll nicht begründet werden."
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Mais également des problèmes ont pu apparaitre dans certaines circonstances. Il y a eu débat non seulement lors des visites de Jean-Paul II en France mais aussi lors de son décès. La mise en berne des drapeaux a suscité des interrogations et quelques polémiques. Il n'en reste pas moins qu'on pouvait toujours arguer que c'était le Chef de Γ Etat du Vatican qui était honoré. Les obsèques des présidents de la République sous la Vème République ont toutes connu une cérémonie à Notre-Dame de Paris en présence des représentants des différents Etats étrangers. Si les obsèques de Georges Pompidou étaient célébrées à Notre-Dame de Paris, Celles du général de Gaulle et de Francois Mitterrand étaient célébrées respectivement à Colombey-les-Deux-Eglise et à Jarnac, la cérémonie à Notre-Dame de Paris apparaissant comme une cérémonie officielle d'hommage de la République.
V. La situation privilégiée de l'Eglise catholique On peut penser que la loi de 1905 était avant tout dirigée contre l'Eglise catholique et c'était ainsi dans l'esprit des auteurs du projet de loi. En réalité l'Eglise catholique, un siècle après, apparati comme bénéficiant d'une rente de situation et cela explique sans aucun doute qu'elle ne souhaite pas une modification de la loi. Ainsi que le déclare l'Archevèque de Poitiers, „l'Eglise est pauvre, mais libre". 24 Sans doute l'un des principaux inconvénients de la loi de 1905 a été la disposition supprimant le traitement des prètres. L'Eglise a dü reconsidérer ses ressources. C'est ainsi qu'est apparu le denier du clergé en 1906, devenu le denier du eulte et aujourd'hui appelé, depuis 1989, le denier de l'Eglise En revanche, ce denier de l'Eglise n'existe pas en Alsace-Moselle où il n'y a qu'une grande quète diocésaine une fois par an. Les ressources de l'Eglise proviennent de quatre sources, essentiellement. Près de la moitié (43,3 %) provient du denier de l'Eglise qui représente 195,22 millions euros et est versé par 1,5 million de foyers avec une moyenne de 130 euros par foyer. Les quètes, lors des messes, représentent 29,5 % soit 133,8 millions euros, puis le casuel (baptèmes, mariages, enterrements) constituent 14,4 % soit 65,13 millions euros et enfin les offrandes représentent 12,8 % soit 57,72 millions euros. 25 Ces dernières années, l'Eglise a dü s'orienter vers une
24 25
Le Courrier de l'Ouest 10.12.2005. La Croix 1.3.2006.
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gestion rigoureuse. De plus une ordonnance du 28.7.200526 oblige toutes les associations qui recoivent plus de 153.000 euros de dons à avoir un commissaire aux comptes. Le décret d'application qui vient d'etre publié atteste que cela concerne aussi les associations diocésaines.27 Certes l'Eglise n'est pas très riche, mais la loi de 1905 dans sa révision, par la loi du 2.1.1907 qui a prononcé la confiscation des biens de l'Eglise, lui a permis de ne pas avoir de charges qui pour les autres cultes plus récents sont très lourdes. II s'agit des bätiments.28 La loi a fait passer églises et presbytères dans le domaine public des communes29 et les cathédrales dans celui de l'Etat à charge pour eux de les laisser à „la disposition des fidèles et des ministres du culte pour la pratique de leur religion". En conséquence, si les églises antérieures à 1905 n'appartiennent pas à l'Eglise, celles - mais elles sont peu nombreuses construites après 1905 lui appartiennent et sont à sa charge. Il n'en reste pas moins que lorsque les catholiques souhaitent construire de nouveaux édifices, ils retrouvent quelques difficultés. On a pu voir cela lors de la construction de la cathédrale d'Evry, première cathédrale construite depuis 1905, afin de la doter de vitraux. Les catholiques comptent 40.000 édifices cultuels ce qui contraste avec les 1.685 mosquées et salles de prière musulmanes, les 957 temples protestants et les 82 synagogues et oratoires. 30 C'est l'un des points qui soulèvent problème. D'une part les autres cultes apparus plus récemment critiquent cette rente de situation. Ce reproche est formulé notamment par les protestants, tout particulièrement en raison du développement des courants évangéliques. Mais la question est encore plus évidente pour le eulte musulman et constitue l'un des problèmes majeurs à propos duquel les autorités souhaiteraient trouver une solution. Le conseil municipal de telle capitale régionale a pu voter une subvention de 150.000 euros à Γ Association des musulmans locale afin de lui permettre d'aménager un lieu de eulte provisoire estimant sans doute qu'il est préférable d'aider les communautés musulmanes plutòt que de les laisser dépendantes des dons de l'Arabie Saoudite ou d'autres pays. Il y a ainsi un patrimoine important à la disposition de l'Eglise catholique qui conduit parfois à des difficultés. Les presbytères ne sont souvent plus habités car il y a de moins en moins de prètres mais les communautés locales ont cependant besoin de locaux.
26
Ordonnance n° 2005-856 du 28.7.2005 portant simplification du régime des libéraités consenties aux associations, fondations et congrégations, de certaines déclarations administratives incombant aux associations et modification des obligations des associations et fondations relatives à leurs comptes annuels, JO 29.7.2005, p. 12 350. 27 La Croix 30.3.2006. 28 Cf; Flores-Lonjou , Les lieux de culte, Cerf 2001. 29 CE 10.6.1921, Commune de Monségur, Ree. 573. 30 www.portail-religions.com.
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L'utilisation des églises suscite parfois quelques envies. Elles peuvent ètre le lieu pour des spectacles dans des communes démunies de salle adéquate, mais ces spectacles ne sont pas, la plupart du temps, en harmonie avec l'affectation du lieu et peuvent mème susciter des conflits. 31 De mème, aujourd'hui, les églises peuvent apparaitre comme le lieu idéal pour installer des antennes de téléphone mobile. Afin de mettre un terme à Γ imprecision juridique qui régnait dans la gestion des lieux de eulte, et de trouver un cadre légal permettant d'aider de facon discrète à la question d'édifices cultuels notamment musulmans, Γ ordonnance du 21.4.200632 a créé un article 1311-2 au code général des collectivités territoriales qui permet de faire bénéficier une association cultuelle d'un bail emphytéotique sur un bien immobilier appartenant à une collectivité territoriale, c'est-àdire un bail de très longue durée pour l'affectation d'un bien immobilier pour un édifice du eulte ouvert au public. Cela était déjà souvent fait par des communes afin d'aider les musulmans à construire une mosquée, mais la base légale était plus que douteuse et le risque était grand d'annulation de ces décisions par les tribunaux. Le rapport remis par la Commission chargée de mener „une réflexion juridique sur les relations des cultes avec les pouvoirs publics", sur la demande du ministre de l'intérieur va encore plus loin et propose d'„autorise formellement l'aide directe à la construction de lieux de eulte" soit en modifiant la loi de 1905, soit en insérant „dans le code général des collectivités territoriales la possibilité pour les communes et leurs groupements, d'accorder des aides à la construction de lieux de eulte". 33
VI. Le changement du paysage religieux Il y a un siècle, le paysage religieux de la France était assez simple. La grande majorité de la population était catholique, la seconde religion était le protestantisme, principalement calviniste surtout dans la France sans Alsace-Moselle, il y avait enfin une petite communauté juive. Les autres confessions n'avaient qu'une importance résiduelle.
31
CE, 2.3.2005, Commune de Massat. Ordonnance 2006-460 du 21.4.2006, art. 3 VII, J.O. 22.4.2006, p. 6024. cf. la Croix 18.3.2006. 33 La commission était présidée par le Professeur Jean-Pierre Machelon , agrégé de droit public, directeur d'études à l'Ecole pratique des Hautes études. Ce rapport a été remis le 23.9.2006 en mème temps que le rapport de la commission sur la laì'cité dans les services publics, en particulier l'éducation nationale et les hòpitaux, présidée par le maire de Nancy André Rossinot , radicai. 32
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Aujourd'hui la situation est radicalement différente. Sans doute est-il difficile d'avoir des données exactes. Les recensements ne permettent pas de questions portant sur la religion. Laì'cité à la francaise oblige. 34 La religion catholique reste toujours la religion de la majorité des Frangais mème si la pratique religieuse a considérablement baissé. On estime à 40 millions le nombre des catholiques - pratiquants ou sociologiques. En revanche des changements sont intervenus pour les autres religions. Du fait de l'immigration la religion musulmane est devenue la seconde religion de France avec 4.500.000 membres. Le protestantisme a perdu son homogénéité et les mouvements évangéliques se sont développés. L'ensemble des protestants est estimé à 700.000 dont 2/3 de calvinistes. La communauté juive est la plus importante d'Europe, après celle de Russie, et la quatrième du monde du fait des conséquences de l'indépendance de l'Algérie et des autres pays du Maghreb. Mais si jusqu'à maintenant les ashkénazes étaient largement majoritaire, les séfarades, majoritaires en Afrique du nord sont devenus plus nombreux. L'ensemble représente 800.000 membres. On ajoutera aussi l'importante communauté bouddhiste, très discrète et estimée à 600.000 membres.
/. L'Islam Les musulmans se présentent aujourd'hui comme la seconde communauté religieuse franchise. L'intégration n'est pas forcément aisée. Le mot laì'cité n'existe pas en arabe. On a forgé un autre mot à partir de séculier. Les collectives territoriales essaient d'apporter des aides en faisant en sorte qu'elle ne heurtent pas de plein front la loi de 1905. Ce n'est pas nouveau. La loi du 19.8.1920 avait accordé une subvention de 500.000 F à la Société des Habous des Lieux saints de l'Islam pour construire l'Institut musulman de Paris. L'aide des collectives publiques s'appuie sur le fait que les lieux de culte sont en mème temps des centres culturels. 35
34 Le Britannica Book of the Year, 2005 indique (p. 574) pour 2000 82,3 % de catholiques, 7,1 % de musulmans, 4,4% d'athées, 3,7% de protestants, 1,1% d'orthodoxes, 1,0 % de juifs et 0,4 % appartenant à d'autres religions. Mais (p. 769) dans sa rubrique Comparative National statistics, il indique 38.690.000 catholiques, 9.230.000 sans religion, 4.180.000 musulmans, 2.380.000 athées, 720.000 protestants, 590.000 juifs et 3.290.000 divers. Ces dernières données semblent plus vraisemblables mais ne correspondent certainement pas à la vérité. 35 Papi , L'insertion des mosquées dans le tissu religieux local en France: approche juridique et politique, RDP 2004.1339.
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2. Le judäisme Le judaì'sme francais a connu de très grandes transformations depuis 1905. La communauté juive comptait un peu moins de 100.000 membres au moment de l'adoption de la loi de 1905. En raison de la situation des juifs en Europe de l'Est victimes de pogroms puis des mesures du régime national socialiste, la communauté atteignait 340.000 membres en 1940 dont près de 20.000 à Paris. 76.000 juifs, surtout les juifs étrangers, furent déportés dont seulement 3 % survécurent. 36 On peut estimer à un peu plus de 200.000 le nombre de juifs en 1945. La communauté juive a connu de profondes transformations du fait des bouleversements intervenus dans certains pays arabes et notamment en Algérie. Déjà en 1956, certains juifs d'Egypte vinrent en France. L'indépendance de ΓΑ1gérie conduira 140.000 juifs à quitter leur pays pour la France. lis avaient obtenu la citoyenneté francaise grace à Napoléon III par un sénatus-consulte de mars 1870, puis par le décret dit Crémieux du 24.10.1871, alors qu'ils étaient 33.000, ce qui en avait fait des citoyens à la différence de la population musulmane. L'arrivée des juifs maghrébins a eu pour conséquence une nouvelle vitalité du judaì'sme mais aussi une confrontation entre ceux se rattachant à la communauté ashkénaze, venus d'Europe de l'Est, aujourd'hui devenus minoritaires (40 %) et ceux se rattachant à la communauté séfarade, venus d'Afrique du Nord aujourd'hui majoritaires (60 %).
3. Les sectes Le développement de ce qu'il est convenu d'appeler les sectes est aussi un phénomène qui a surgi dans les années 1970 et qui a attiré l'attention de l'opinion publique à la suite de certains drames comme les affaires de Guyana ou, en France et au Canada, du Temple solaire. Les pouvoirs publics s'en sont inquiétés d'autant plus que utilisant la forme de l'association de droit commun, elles se trouvent dans une situation plus favorable qu'avec les dispositions de la loi de 1905. Un rapport d'une commission d'enquéte de l'Assemblée nationale en dénombrait 172 regroupant 160.000 membres et 100.000 sympathisants. Mais faute d'une définition, il apparait difficile de les envisager avec précision. Les manipulations psychiques de certaines d'entre elles et les pratiques touchant à l'escroquerie ont inquiété. Une loi a été adoptée en 2001 à l'égard des mouvements qui maintiennent ou exploitent „la sujétion psychologique ou physique
36
Bédarida , Le Nazisme et le génocide, Histoire et enjeux, Nathan, 1989.
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des personnes". 37. L'attitude à l'égard de certains mouvements a pu connaitre des évolutions comme en ce qui concerne les Témoins de Jéhovah. On peut se demander si l'hostilité des pouvoirs publics à leur égard ne tenait pas plus à leur refus d'intégration du fait de leur attitude à l'égard du service national ou de la participation aux élections qu'à certaines pratiques comme le refus des transfusions sanguines.38 La Convention européenne des droits de l'homme a certainement conduit à des évolutions plus favorables vis-à-vis des Témoins de Jéhovah, le Conseil d'Etat finissant par accepter de leur reconnaitre le caractère d'association cultuelle. 39
V I I . La recherche d'un interlocuteur Nos réflexes centralisateurs ou unitaires font que les pouvoirs publics souhaiteraient avoir des rapports semblables avec toutes les religions. Ceci a pu facilement ètre trouvé pour les cultes catholique, Protestant ou israélite. En revanche, le culte musulman a soulevé beaucoup de difficultés. Depuis longtemps, les ministres de l'Intérieur qui se considèrent comme ministres des cultes ont tenté de susciter une organisation des cultes musulmans. C'est finalement avec Nicolas Sarkozy qu'a pu ètre créé un Conseil francais du Culte musulman. Celui-ci comporte un conseil d'administration élu pour deux ans par des délégués des mosquées dont le nombre est déterminé par la surface des édifices. Le Conseil d'administration élit le Bureau exécutif qui à son tour élit le Président pour deux ans. Ce CFCM intervient dans les relations avec le pouvoir politique, la construction des mosquées, le marché de la viande halal, la formation des imams, le développement des aumöneries. Il fixe la date du ramadan. Actuellement, le Président du CFCM est Dalil Boubakeur, élu en 2003, et réélu en 2005. Cardiologue de 64 ans, marié à une Fran^aise, rassurant pour l'opinion publique, il est le fils du Recteur de la Mosquée de Paris de 1957 à 1986 et est devenu lui-mème Recteur en 1992. Sa réélection a été difficile et on a pu voir une intervention du Ministre de l'Intérieur pour favoriser son maintien à la tète du CFCM.
37 Loi n° 2001-504 du 12.6.2001 tendant à renforcer la prévention et la répression des mouvements sectaires portant atteinte aux droits de l'homme et aux libertés fondamentales, JO 13.6.2001, p. 9 337. 38 Le Conseil d'Etat a admis qu'on puisse imposer une transfusion sanguine, cf. CE 26.10.2001, Sananayake, Ree. 514. 39 CE 23.6.2000, Ministre de l'Economie, des Finances et de l'Industrie, Ree. 242.
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V i l i . Le contournement de la loi de 1905 Devant les difficultés que peuvent connaitre les différents cultes, on s'est souvent efforcé de contourner la loi de 1905, notamment pour ce qui est de Faide matérielle. 40 Sans doute les tentatives directes ont pu échouer. 41 En revanche certaines tentatives indirectes ont des résultats très divers. Si le Conseil d'Etat a pu censurer Γ octroi d'une bourse d'études allouée par un conseil municipal à un élève au grand Séminaire d'Angers, 42 en revanche, il a pu admettre qu'une collectivité publique apporte une subvention au fonctionnement d'un eulte, en vue de „satisfaire un objectif d'intérèt général". 43 Le recours à l'idée de centre culturel apparait comme le moyen de contournement idéal pour permettre la construction de mosquées.44 Mais déjà, la loi du 13.4.1908 dans son article 5, avait permis d'atténuer la loi de 1905. En outre diverses dispositions sont intervenues très officiellement; e'est avant tout, dans le domaine de l'enseignement privé, la loi du 31.12.1959 sur l'enseignement privé. 45 En 1948, la loi sur l'assurance vieillesse des non salariés évoque les „ministres du eulte" tandis que la loi du 1.1.1978 sur la généralisation de la sécurité sociale s'applique aux prètres, religieux et religieuses. En 1961, une loi de finances rectificative permettait des garanties d'emprunt. 46 La loi de programme sur le patrimoine monumentai a permis des aides pour la mise en valeur du patrimoine. 47
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Certains ont fait remarquer que Marseille qui abrite une très forte communauté musulmane n'avait pas connu de troubles en novembre 2005, soulignant l'action de la ville dans l'organisation de l'abattage rituel, dans l'instauration de carrés musulmans dans les cimetières, dans les subventions aux associations culturelles officiellement laìques. Les aides vont à toutes les confessions ainsi qu'en témoigne Faide à la fondation d'un grand centre culturel juif (cf. Courrier International 24.11.2005). 41 CE, S, 9.10.1992, Commune de Saint-Louis de la Réunion, Ree. 358, à propos de l'association dite „Société Siva Soupramanien de Saint-Louis" professant le eulte hindouiste. 42 CE, Ass., 13.3.1953, Ville de Saumur, Ree. 131. 43 CAA Paris, 30.12.2003, Haut Commissaire de la République en Polynésie Francese, AJDA 2004.774, conci. B. Folscheid. 44 CE 12.2.1988 Association des résidents des quartiers Portugal Italie, JCP 1989 II 21257. 45 JO 3.1.1960, p.66. 46 Loi du 29.7.1961, JO 30.7.1961, p. 7027. 47 Loi 88-12 du 5.1.1988, JO 6.1.1988 p. 207.
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Des déductions fiscales sont possibles pour certains dons faits à des associations cultuelles par la loi du 23.7.1987 sur le mécénat. Le recours aux baux emphytéotiques est également une technique frequente.
IX. Les signes extérieurs Repli identitaire, depuis 1989 la question des manifestations extérieures de la religion s'est trouvée au premier pian. Cela est apparu avec le port du foulard, mais d'autres aspects ont pu également se manifester.
1. Le „ foulard " Déjà en 1905, certains anticléricaux souhaitaient s'attaquer à certains signes extérieurs, voulant notamment interdire le port de la soutane aux prètres. En 1989 a surgi la question du „foulard" islamique. Face à cette difficulté, le ministre de l'Education nationale, Lionel Jospin a demandé au Conseil d'Etat un avis. 48 Suite à cet avis, le ministre dans une circulaire, reprit les principes posés.49 Cela ne fut certainement pas süffisant puisqu'en 1994, un autre ministre Francois Bayrou, dut reposer une ligne de conduite aux chefs d'établissement.50 Mais les litiges perdurant, certains voulurent une loi. Le Chef de l'Etat créa une commission présidée par Γ ancien médiateur Bernard Stasi, personnalité très respectée qui remit son rapport le 11.12.2003. Quelques jours auparavant une mission d'information dirigée par le président de l'Assemblée nationale avait également remis un rapport. 51 Ces initiatives conduisirent à une loi. 52 Elle était certainement inutile sur le pian juridique n'apportant rien de nouveau par rapport à ce qu'avait exprimé le Conseil d'Etat en 1989. Mais elle a pu sembler utile psychologiquement pour aider les chefs d'établissement. Suite à cette loi, à la rentrée 2004, on enregistra 48 49
Avis du Conseil d'Etat du 27.11.1989, AJDA 1990, p. 39.
Circulaire 12.12.1989, J.O. 15.12.1989. Circ. 20.9.1994. 51 Débré , Rapport au nom de la mission d'information sur la question du port des signes religieux à Fècole, Doc. A N n° 1275, 5.12.2003. 52 Loi 2004-228 du 15.3.2004. cf. Durand-Prinborgne , la loi sur la laì'cité; une volonté politique au centre des débats de société, AJDA 2004.704; Koubi , L'interprétation administrative de la loi du 15.3.2004 sur le port de signes religieux dans les établissements scolaires, commentaires de la circulaire, JCP Adm. 2004.844. 50
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639 cas qui tombèrent à 60 après dialogue. Tous les recours devant les juridictions administratives échouèrent. Il y eut 48 exclusions. Une soixantaine de cas furent réglés par des inscriptions dans l'enseignement privé où la loi ne s'applique pas ou au Centre National d'Enseignement à Distance. Il avait été annoncé qu'une loi visant les établissements de santé interviendrait. On s'est contenté d'une circulaire. 53
2. Alimentation Les questions alimentaires sont souvent difficiles à résoudre. On fait preuve d'un certain pragmatisme. Depuis longtemps, les cantines scolaires essaient de prendre en considération les habitudes alimentaires des élèves musulmans en facilitant le remplacement du pore par d'autres plats. Afin de résoudre des questions d'hygiène, les pouvoirs publics ont dü intervenir en matière d'abattage rituel. „L'abattage rituel ne peut ètre effectué que par des sacrificateurs habilités par les organismes religieux agréés, sur proposition du Ministre de l'Intérieur par le Ministre de Γ Agriculture". Le Conseil d'Etat a admis la licéité de ces dispositions dans la mesure où il considère qu'il ne s'agit pas „d'organisme religieux" car l'association „n'organise pas de célébration et ne dispense aucun enseignement".54 D'autres comportements liés à la religion peuvent poser problème. Il en est ainsi du respect du sabbat par les israélites et de Γ interdiction de toute activité le samedi pour les adventistes. Ces pratiques se concilient mal avec la vie d'une société fa^onnée par une culture chrétienne. Les sectes soulèvent d'autres difficultés comme le refus de la transfusion sanguine par les Témoins de Jéhovah.
X. La loi de 1905 et l'Europe Le débat sur le traité portant constitution pour l'Europe a été 1'occasion à la fois de montrer ce qu'il est convenu d'appeler „l'exception francaise" et de faire resurgir les discussions sur la laì'cité et les signes extérieurs.
53 54
Circulaire du 2.2.2005.
Breillat , Les libertés de l'esprit, in : Guinchard et alLe Grand oral: Protection des libertés et droits fondamentaux, 3ème éd., Montchrestien, 2006, n° 4.103.
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Il est vrai que la situation des relations entre les églises et l'Etat dans l'Union européenne est marquée du sceau de la diversité. 55 On sait que les relations peuvent étre très variées. Jean Foyer a pu déterminer trois grandes families de relations: les rapports d'hostilité qui peuvent conduire à défendre une religion d'Etat face aux autres ou à s'opposer à toute forme religieuse comme ce fut le cas dans l'Empire soviétique, certains Etats comme l'Albanie s'enorgueillissant d'ètre le premier Etat athée du monde; les rapports de synergie pouvant conduire à la subordination des Églises à l'Etat ou bien encore à l'Etat dans l'Eglise qu'on dénomme souvent la théocratie 56 ou encore, forme la plus acceptable, la politique contractuelle qu'illustrent les concordats; enfin les régimes de coexistence conduisant à la formule de Cavour, „l'Eglise libre dans l'Etat libre". 57 On pourrait aussi reprendre la formule d'Aristide Briand „l'Etat n'est ni religieux, ni antireligieux. Il est areligieux". On peut à cet égard faire d'autres analyses en distinguant la confusion ou la fusion, les relations privilégiées, le confessionnalisme, la reconnaissance de plusieurs religions, et enfin l'absence de liens. Il peut alors, dans ce dernier cas s'agir d'une séparation comportant une certaine reconnaissance comme aux Etats-Unis ou une séparation-ignorance qui peut corresponds à la situation francaise. Mais la séparation peut aussi ètre animée d'une volonté de lutte antireligieuse. Lors des débats de la convention chargée d'élaborer le texte, on a vu la France s'opposer à l'insertion de Dieu dans le préambule comme le demandaient l'Espagne et la Pologne. Déjà lors de la convention sur la Charte européenne des droits fondamentaux, la France s'était opposée à toute référence religieuse dans le préambule. A propos du traité sur la Constitution, la France a fini par accepter la mention de l'héritage religieux. Mais certaines dispositions ont pu susciter des craintes des tenants de la laicitè. Cependant, le Conseil constitutionnel a pu considérer que le traité était conforme à notre Constitution sur cette question.
55 Cf. Legoff, La neutralité religieuse de l'Etat et l'école publique en France et en Allemagne (Thèse Paris I, 2003); Rambaud, le principe de séparation des cultes et de l'Etat en droit public comparé: analyse des régimes francais et allemand (LGDJ, 2004); Boudet , Etats et religions en Europe: perspectives Financières, RIDC 2005.993; Deibove , Les relations Eglises-Etat au défi de la reunification allemande (Thèse Poitiers
2000).
56 Foyer , Introduction à Églises et pouvoir politique, Université d'Angers, Presses de l'université, Angers, 1987, ρ 16. 57
Foyer (Fn. 56), pp. 1 Is.
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Bien entendu dix réflexions ne peuvent suffire pour cerner l'état de la loi du 9.12.1905 un siècle après. Mais on peut penser que les problèmes qu'elle a tenté de résoudre seront au coeur de notre nouveau siècle puisque si Ton en croit des propos d'André Malraux souvent d'ailleurs estimés apocryphes, „le XXIème siècle sera religieux ou il ne sera pas".
Schleswig-Holstein als Kondominium und Koimperium Von Gilbert Gornig I. Gebietsgemeinschaft mehrerer Staaten 1. Territoriale
Souveränität und Gebietshoheit
Die Staatenpraxis sowie die völkerrechtliche Judikatur unterscheiden zwischen der territorialen Souveränität und der Gebietshoheit. Die beiden Begriffe sind den Begriffen Eigentum und Besitz im Zivilrecht vergleichbar. In der Regel wird der Staat in dem Gebiet, dessen territorialer Souverän er ist, auch die Gebietshoheit ausüben. Ein Staat kann aber auch territorialer Souverän eines Gebietes sein, ohne Gebietshoheit zu haben. So kann der territoriale Souverän seine Gebietshoheit über ein bestimmtes Gebiet einem anderen Staat übertragen. In diesem Falle wird die Herrschaft in den betroffenen Gebieten nach der Rechtsordnung des die Gebietshoheit erwerbenden Staates ausgeübt.1 Umgekehrt kann ein Staat die Gebietshoheit über ein Gebiet behalten, dessen territoriale Souveränität er einem anderen Staat übertragen hat.
2. Ausübung der territorialen
Souveränität durch mehrere Staaten
Die territoriale Souveränität über ein bestimmtes Gebiet kann mehreren Staaten zusammen zustehen. In einem solchen Fall spricht man in der Regel von einem Kondominium. Kondominium heißt wörtlich Mitherrschaft oder gemeinsame Herrschaft 2. Das Gebiet bezeichnet man als Staatengemeinschaftsgebiet. 3 Man unterwirft am Ende einer kriegerischen Auseinandersetzung häufig ein Gebiet einem Kondominium, bis dessen Schicksal geklärt ist.4 Ein Kondominium hat nicht zwingend auch die Ausübung der Gebietshoheit durch beide terri1 So heißt es in Art. 69 des nicht ratifizierten Vertrags von Sèvres vom 10.8.1920 (Martens/Triepel [éd.], Nouveau recueil général de traités [NRG], 3ième sèrie, tome 12, 1924, S. 664): „La ville de Smyrne et les territoires décrits à l'article 66 restent sous la souveraineté ottomane. Toutefois, la Turquie transfère au Gouvernement hellénique Γ exercice de ses droits de souveraineté sur la ville de Smyrne et lesdits territoires ..." 2 „Herrschaft" aber ist doppeldeutig; es kann bedeuten: Herrschaft über eigenes Gebiet oder Herrschaft über fremdes Gebiet. 3 Vgl. Verdross , Staatsgebiet, Staatengemeinschaftsgebiet und Staatengebiet, in: NZIR, Band 37 (1927), S. 293 ff. 4 Vgl. den Versailler Friedensvertrag vom 28.6.1919 (Text: RGBl. 1919 S. 689 ff.) bezüglich Memel (Art. 99) und den Vertrag von Trianon vom 14.6.1919 (Martens/Triepel [Fn. 1], S. 423 ff.) bezüglich Fiume (Art. 53 und 74).
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toriale Souveräne zur Folge, ein Kondominium kann also ohne Koimperium bestehen.5 Andorra, das als feudaler Überrest seit 1278 unter der ,,Co-Souveraineté" des spanischen Bischofs der katalanischen Stadt Seo de Urgel und der französischen Grafen von Foix (seit 1589 der französischen Krone, später des französischen Präsidenten) stand,6 wurde von der französischen Judikatur bis zur Unabhängigkeit 1993 als Kondominium betrachtet, 7 da Frankreich und Spanien als Co-Souveräne bezeichnet wurden. 8 Im Canas-Jeres-Vertrag zwischen Costa Rica und Nicaragua 1858 wurde die Bucht von Salinas als „common to both Republics" bezeichnet.9 Nach Art. III des österreichisch-preußisch-dänischen Friedensvertrags zu Wien vom 30.10.186410 musste der König von Dänemark auf alle seine Rechte über die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg zugunsten des Königs von Preußen und des Kaisers von Österreich verzichten. Von 1889 bis 1899 stand Samoa unter dem Kondominat der USA, des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland sowie Deutschlands.11 Die britische Regierung und der Khedive von Ägypten einigten sich im Vertrag vom 19.1. 189912 auf ein anglo-ägyptisches Kondominium über den Sudan, das erst durch den britisch-ägyptischen Vertrag vom 12.2.195313 beendet wurde. 14 Die Neuen Hebriden waren seit dem Vertrag vom 6.8.191415 bis zum 29.7.198016 Kondo5 In der Konvention von Gastein vom 14.8.1865 (Text: Strupp, Urkunden zur Geschichte des Völkerrechts, Band 1, 1911, S. 240 ff.) wurde in Art. 1 erklärt, dass die aus dem Kondominium folgenden Rechte in Schleswig von Preußen und in Holstein von Österreich ausgeübt werden. Vgl. unten II. 6 Schindler, Andorra, in: Strupp/Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Band 1, 1960, S. 45 f. m.w.N.; Bélinguier , La condition juridique des vallées d'Andorre, 1970, passim; Crawford , The International Legal Status of the Valleys of Andorra, in: RDI, Band 55 (1977), S. 258 ff.; a.A.: EGMR, Urteil vom 26.6.1992 (Drozd and Janousek versus France and Spain), Series A, Band 240, S. 14 ff. 7
AdG 1993, S. 37669 und 38007. So der Conseil d' Etat am 1.12.1933 im Fall Le Nickel, Annual Digest and Reports of Public International Law Cases 1933/34, Nr. 21, S. 56 f. 8
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Vgl. Oppenheim' s International Law, Band 2, 9. Aufl., 1992, § 170 Fn. 3. Text: Strupp (Fn. 5), Urkunden, Band 1, 1911, S. 236 ff. 11 Dazu Vertrag vom 14.6.1889, Text: Strupp (Fn. 5), Urkunden, Band 2, S. 99 ff. 10
12 Text: British and Foreign State Papers 91 (1898/99), S. 19; RGDIP, Band 6 (1899), S. 169 ff. Vgl. dazu Schneider , Condominium, in: Strupp/Schlochauer (Fn. 6), S. 297 (298). 13 Text: A V R , Band 4 (1953/54), S. 226; Band 6 (1956/57), S. 340. 14 Vgl. Holt , The History o f the Sudan: From the Coming of Islam to the Present Day, 3. Aufl., 1979, S. 115 ff.; Roth , Das Kondominium im Sudan, in: Die Friedenswarte, Band 51 (1951/53), S. 151 ff.; Oppenheim (Fn. 9), § 170 Fn. 4. 15 Text: Martens/Triepel (Fn. 1), S. 198 ff. 16 A m 30.7.1980 wurden die neuen Hebriden unter dem Namen Vanuatu unabhängig, vgl. Charpentier, Pratique francaise du droit international, in: AFDI, Band 26 (1980), S. 870 (942 ff.).
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minium des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland sowie Frankreichs. 1 7 Art. 10 des Bukarester Friedensvertrags vom 7.5.1918 1 8 zwischen Österreich-Ungarn, Deutschland, Bulgarien, der Türkei und Rumänien schuf ein Kondominium über den nördlichen Teil der Dobrudscha für die Vertragspartner außer Rumänien. Dies gilt auch für Danzig nach dem Versailler Friedensvertrag 19 (Art. 100) vom 16.7.1919, bis es Freie Stadt wurde. 2 0 Der Friedensvertrag von St. Germain 2 1 v o m 10.9.1919 (Art. 91) schuf aus Ostgalizien ein Kondominium. Auch das Memelgebiet war unter der Herrschaft der alliierten und assoziierten Mächte, die die territoriale Souveränität seit dem Übereinkommen, betreffend die Abtretung der Gebiete von Memel und Danzig vom 9.1.1920 2 2 ausübten, ein K o n d o m i n i u m . 2 3 Einen besonderen Fall eines Kondominiums regelt der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Luxemburg über den Verlauf der gemeinsamen Staatsgrenze vom 19.2.1984 2 4 . Art. 1 Abs. 1 erklärt die Flüsse Mosel, Sauer und Our in ihrem Grenzverlauf zum gemeinschaftlichen Hoheitsgebiet beider Vertragsstaaten. 25 In Art. I I I Vertrag 2 6
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Vgl. O'ConnelL The Condominium of the New Hebrides, in: BYIL, vol. 43 (1968-69), S. 71 ff.; Schneider (Fn. 12), S. 298. 18 Text: Martens/Triepel (Fn. 1), S. 856. 19 Text: RGBl. 1919 S. 689 ff. 20 Vgl. Böttcher, Die Freie Stadt Danzig, 3. Aufl., 1999, S. 52 ff., 82 ff. So verzichtete gemäß Art. 100 Versailler Friedenvertrag Deutschland zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle Rechte und Ansprüche bezüglich des Danziger Gebiets. Gleichzeitig erwarben gemäß Art. 256 des Versailler Friedensvertrags die „Mächte" - im Falle Danzigs die Hauptmächte - , denen bisherige deutsches Gebiete zufielen, alles Gut und Eigentum des Deutschen Reiches, das in den Gebieten gelegen war. Das zwischen den Alliierten und dem Deutschen Reich am 9.1.1920 in Paris unterzeichnete Übereinkommen betreffend die Abtretung der Gebiete von Memel und Danzig (Text: Gornig, Das Memelland gestern und heute, 1991, S. 152), das die Übergabe des Gebiets und den Übergang der Verwaltung regelte, ging davon aus (Art. 1), dass die Souveränität auf die alliierten und assoziierten Hauptmächte mit dem Inkrafttreten des Versailler Friedensvertrags am 10.1.1920 ipso facto übergegangen ist. 21 Text: Martens/Triepel (Fn. 1), S. 691 ff. 22 Text: Gornig (Fn. 20), S. 152 f. 23 In Art. 99 Versailler Friedensvertrag verzichtete Deutschland zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle Rechte und Ansprüche auf die Gebiete, die im Allgemeinen als Memelland oder Memelgebiet bezeichnet wurden. Zu erwähnen ist auch Art. 256, wonach die Mächte, in deren Besitz deutsches Gebiet überging, gleichzeitig alles Gut und Eigentum des Deutschen Reiches und der deutschen Staaten erwerben, das in diesen Gebieten gelegen war. Art. 377 Versailler Friedensvertrag regelt die Abtretung der Eisenbahnlinien und -einrichtungen. Die Memel wurde gemäß Art. 331 bis 445 Versailler Friedensvertrag internationalisiert. Vgl. Gornig (Fn. 20), S. 36 ff., 66 ff., 74 ff. 24
Text: BGBl. 1988 II S. 415 ff. Vgl. Rudolf Das deutsch-luxemburgische Kondominium, in: AVR, Band 24 (1986), S. 301 ff. 26 Text: UNTS, vol. 923, S. 92 ff. 25
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vom 26.4.1973 zwischen Brasilien und Paraguay kommt zum Ausdruck, dass der Fluss Parana im Kondominium beider Staaten steht. Als am Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Berliner Erklärung vom 5.6.194527 die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion die oberste Regierungsgewalt („supreme authority") in Deutschland übernahmen, lag allerdings kein Fall eines Kondominiums vor, 28 da die vier Siegermächte Deutschland nicht annektieren wollten. 29 Schleswig-Holstein und Lauenburg waren von 1864 bis 1866 ein Kondominium.
3. Ausübung der Gebietshoheit durch mehrere Staaten Bei einem Koimperium teilen sich mehrere Staaten die Gebietshoheit.31 Ein Koimperium kann ohne Kondominium bestehen, es kann also ein Staat territorialer Souverän sein, aber die Gebietshoheit von mehreren Staaten - mit oder ohne eigene Beteiligung - ausüben lassen. Ein Gebiet unter gemeinsamer Verwaltung war Moresnet durch Art. 17 des Vertrags vom 26.6.1816 32 zwischen den Niederlanden und Preußen geworden. Es lag kein Kondominium vor, da Preußen und die Niederlande meinten, das Gebiet gehöre aufgrund der Art. 22 und 66 der Wiener Kongressakte vom 9.6.181533 und Art. 2 des Vertrags vom 31.5.181534 ihnen allein. 35 Dies war auch der Grund, warum man das Gebiet unter die gemeinschaftliche Verwaltung beider Staaten stellte. 36 An die Stelle der Niederlande trat 1839 Belgien. 37 Die 27
Text: Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 7 ff. Vgl. Waitz von Eschen , Die völkerrechtliche Kompetenz der Vier Mächte zur Gestaltung der Rechtslage Deutschlands nach dem Abschluß der Ostvertragspolitik, 1988, S. 19 f f ; Teyssen , Deutschlandtheorien auf der Grundlage der Ostvertragspolitik, 1987, S. 119 ff.; a.A.: Kelsen , The Legal Status of Germany According to the Declaration of Berlin, in: AJIL, vol. 39 (1945), S. 518 (523 f.). 29 Kelsen (Fn. 28), in: AJIL, vol. 39 (1945), S. 518 (523 ff.); vgl. dazu Ratza (Bearbeiter), Die Berliner Erklärung vom 5.6.1945 zu Deutschland, 1985, S. 15 ff. 30 Im Prager Frieden vom 23.8.1866 (Strupp [Fn. 5], Urkunden, Band 1, 1911, S. 245 ff.) musste Österreich sein Einverständnis mit der Einverleibung Schleswig-Holsteins in Preußen erklären. 31 Im Gegensatz dazu steht das Kondominium, bei dem sich mehrere Staaten die territoriale Souveränität teilen. 32 Text: Gesetz-Sammlung fur die Königlichen Preußischen Staaten, 1818, Anhang S. 77. 33 Text: Fleischmann , Völkerrechtsquellen, 1905, S. 5 ff. 34 Text: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1818, Anhang S. 28
22. 35
Anders: Schneider (Fn. 12), S. 297 ff. (298). So auch RGSt 38, 279 (286); es spricht von „gemeinschaftlicher Verwaltung", bezeichnet dann aber das Gebiet wegen anderer Definition des Begriffes als „Kondomi36
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Zone von Tanger war von 1924 bis 1956 ein Koimperium mehrerer Mächte, da der Sultan von Marokko territorialer Souverän des Gebietes blieb. 38 Auf der Londoner Tanger-Konferenz im Juni 1923 und der Pariser Tanger-Konferenz im Oktober 1923 wurde die Konvention 39 vom 18.12.1923 abgeschlossen, die ein Statut fiir Tanger enthielt, das ein internationales Regime vorsah. Die Grundprinzipien des Statuts waren Anerkennung der Souveränität des Sultans sowie eine internationale Verwaltung, deren Stellenbesetzung auf einem besonderen Verteilerschlüssel beruhte. Das Statut ist am 1.7.1924 in Kraft getreten und wurde ab dem 1.6.1925 angewendet und durch das Schlussprotokoll 40 vom 25.7.1928 revidiert. Auf den 1939 von Großbritannien und den USA gemeinsam als Luftstützpunkte besetzten pazifischen Inseln Canton und Enderbury 41 übten Großbritannien und die USA eine Joint control" aus, so dass von einem Koimperium gesprochen werden kann. 42
II. Schleswig Holstein /. Auf dem Weg zum Koimperium und Kondominium a) Dänemarks Bestrebungen Als der Nationalismus auch im Norden Europas Fuß fasste, stritten sich Dänen und Deutsche über Schleswig-Holstein, der späteren Heimat des Jubilars
nat". Vgl. auch RGSt 31, 259 f., dort ist ebenfalls von „gemeinschaftlicher Verwaltung" die Rede, „mag diese Staatshoheit auch durch die konkurrierende an sich gleichwertige Hoheit eines auswärtigen Staates eingeschränkt sein". Vgl. ferner Stier-Somlo, Moresnet („Neutral-Moresnet"), in: Stier-Somlo/Elster (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Band 4, 1927, S. 127 f.; Dollot, Un condominium dans l'Europe centrale Moresnet, in: Annales des sciences politiques, vol. 16 (1901), S. 620 ff. 37 Mit Art. 32 Versailler Vertrag (RGBl. 1919, S. 689 ff.) erkannte Deutschland die volle Souveränität Belgiens an. 38 Vgl. Steiner, Tanger, in: Strupp/Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Band 3, 1962, S. 433 ff. m.w.N. Vgl. auch die Erklärung der internationalen Tangerkonferenz vom 29.10.1956 zur Beendigung diese Regimes, in: EA 1957, S. 9956 ff. 39 Text: Martens/Triepel (Fn. 1), S. 246 ff. 40 Text: LNTS, vol. 87, S. 211 ff. 41 Sie gehören heute zum Staat Kiribati. 42 Reeves , Agreement over Canton and Enderbury Islands, in: AJIL, vol. 33 (1939), S. 521 ff.; Whiteman , Digest of International Law, vol. 2, 1963, S. 1327; vgl. auch Verdross/Simma , Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, S. 662 § 1047, die ebenfalls ein Koimperium bejahen. Wolfrum, in: Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band 1/1,2. Aufl., 1989, S. 343, nimmt ein Kondominium an.
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Werner Frotscher. In Dänemark forderten die Eiderdänen 43 die Ausdehnung Dänemarks bis an die Eider. Die Deutschen verlangten den Eintritt Schleswigs in den Deutschen B u n d , 4 4 dem - wie es im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation der Fall gewesen war - nur Holstein angehörte. Der K ö n i g von Dänemark als Herzog von Schleswig und Holstein vertrat Holstein im Deutschen Bund. A l s das dänische Königshaus im Mannesstamm ausstarb, gab es Zweifel über die Erbfolge in Schleswig und Holstein. Problematisch war, ob eine Personalunion 4 5 es gestattet, den beteiligten Territorien eine Gesamtstaatsverfassung zu geben und sie dadurch in einen Gesamtstaat, zumindest in eine Realunion, 4 6 zu verwandeln. Diese Frage musste verneint werden. Ein natürliches Recht eines Volkes, alle Angehörigen seines Stammes ohne Rücksicht auf entstandene Grenzen in einem Nationalstaat zu vereinigen, existierte ebenfalls nicht. Es entwickelte sich daher ein Streit der Staaten Dänemark einerseits so-
43 In Dänemark, insbesondere in Kopenhagen, gewann die national-liberale Strömung der „Eiderdänen" zunehmend an Einfluss. Dies zeigte sich auch in der 1863 vorgelegten Verfassung. Eiderdänen ist die Bezeichnung für die dänische nationalliberale Bewegung im 19. Jahrhundert, die sich für die Eider als deutsch-dänische Grenze aussprach. Die Eider markierte zusammen mit der Levensau die Südgrenze des Herzogtums Schleswig und damit die Nordgrenze des Deutschen Bundes. Mit der Forderung nach einer vollständigen Eingliederung Schleswigs standen die Eiderdänen in direkter Opposition zu den deutschen Nationalliberalen, die ganz Schleswig eindeutschen wollten. 44 Dazu Frotscher/Pieroth , Verfassungsgeschichte, 5. Aufl., 2005, Rn. 228 ff. 45 Eine Personalunion kann nur zwischen Monarchien bestehen. Falls Republiken den gleichen Präsidenten haben, beruht dies in der Regel auf dem Vorhandensein staatenbündischer Elemente. Die Personalunion lässt die Völkerrechtspersönlichkeit der durch sie verbundenen Staaten unberührt, ohne die Union selbst als juristische Person oder gar als Völkerrechtssubjekt zu konstituieren. Eine Personalunion liegt dann vor, wenn die Tatsache der Gemeinsamkeit der Krone nicht kraft völkerrechtlicher Vereinbarung oder übereinstimmender staatsrechtlicher Regelung von beiden Staaten als solche gewollt ist, sondern wenn ein in einem Staat regierender Fürst kraft der Thronfolgeordnung oder kraft eines in der Thronfolgeordnung bestimmten Paktes in einem anderen Staat als Monarch berufen wird. Aber auch unabhängig von der Thronfolgeordnung kann eine Personalunion entstehen, wenn in zwei Staaten ein und dieselbe Person als Monarch berufen wird. Personalunionen waren Polen-Litauen von 1385 bis 1569, Polen-Sachsen von 1679 bis 1763, Preußen-Neuenburg-Vallendis von 1707 bis 1857, England-Hannover von 1714 bis 1837, Niederlande-Luxemburg von 1815 bis 1890, Belgien-Kongo von 1885 bis 1908, Italien-Albanien von 1939 bis 1943 sowie Dänemark, Schleswig und Holstein von 1416 bis 1863. 46 Eine Realunion ist die verfassungsmäßig festgelegte Vereinigung zweier selbstständiger Staaten, und zwar nicht nur unter demselben Herrscher, sondern auch mit gemeinsamen Einrichtungen. Der rechtliche Hauptunterschied zwischen Realunion und Personalunion wird darin gesehen, dass die Gemeinsamkeit des Monarchen bei der Realunion nicht eine rechtlich zufällige ist, wie bei der Personalunion, sondern durch staats- oder völkerrechtlichen Willensakt geschaffen wurde. Die Realunion wird nicht, wie bei der Personalunion, für die Dauer einer dynastischen Erbfolgeordnung errichtet, sondern für die geschichtliche Dauer, also für unabsehbare Zeit. Während bei der Personalunion die Dynastie die Union überdauern kann, kann umgekehrt bei der Realunion die Union die Dynastie überdauern.
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wie Deutscher Bund, Österreich, Preußen und weiterer Bundesländer andererseits über die Frage der Zugehörigkeit Schleswig-Holsteins. Nach der Übernahme der Regierung verkündete Friedrich VII. von Dänemark (1848-1863) am 21.3.1848 die Einverleibung Schleswigs und berief die Führer der Eiderdänen ins Ministerium. Die Schleswig-Holsteiner hielten am Erbrecht des Herzogs Christian von Sonderburg-Augustenburg fest und bildeten eine provisorische Regierung unter dem ehemaligen Statthalter Friedrich Prinz von Augustenburg-Noer. Das Vorparlament in Frankfurt erkannte diese Regierung als rechtmäßig an und forderte am 4.4.1848 „Schleswig, staatlich und national mit Holstein unzertrennlich verbunden, ... unverzüglich in den deutschen Bund aufzunehmen ...". 4 ? Ferner schickte der Deutsche Bund Truppen unter General Friedrich Graf von Wrangel in den Kampf. Dieser zunächst regionale Konflikt dehnte sich im Jahre 1848 und später durch das Eingreifen Großbritanniens, Russlands und Schwedens zu einem europäischen Konflikt aus. Russland und Großbritannien strebten danach, Dänemarks Machtstellung zu erhalten und zu festigen. Preußen, das die Bundesexekution gegen Dänemark wegen Holstein auf sich genommen hatte, wurde zum Waffenstillstand von Malmö vom 26.8.1848 gezwungen.48
b) Londoner Protokoll Im Jahre 1852 wurden die Streitigkeiten auf der zweiten Londoner Konferenz einstweilen beigelegt. Das dort vereinbarte Protokoll vom 8.5.1852,49 das von den fiinf Großmächten sowie Schweden und Dänemark unterzeichnet wurde, ließ alles beim bisherigen Zustand. Die Nachfolgefrage wurde dahin geordnet, dass zum Nachfolger der in der dänischen Krone vereinigten Rechte Prinz Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg, der Protokollprinz, bestimmt wurde. Das Protokoll bestimmte ferner, dass das Thronfolgerecht des Hauses Glücksburg, 50 dessen Regierungsantritt sich in Dänemark abzeichnete, auch für Schleswig und Holstein gelten solle. Seit dem Londoner Protokoll war 47 Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band I, 3. Aufl., 1978, Nr. 81, S. 334 ff. 48 Das Übereinkommen regelte einen siebenmonatigen Waffenstillstand mit den Bedingungen, dass alle Truppen der verfeindeten Mächte aus Schleswig-Holstein abgezogen werden und eine preußisch-dänische Regierung eingesetzt wird, die unter der Aufsicht Großbritanniens und Russland stehen sollte. 49 Text: Strupp (Fn. 5), Band I, 1911, S. 233 ff. 50 Nach dem Londoner Protokoll vom 8.5.1852 wurde Prinz Christian von Glücksburg endgültig zum Thronfolger in der ganzen Monarchie ernannt. Herzog Christian August von Augustenburg aus der ältesten Nebenlinie des Königshauses wurde des Landes verwiesen, musste seine Güter verkaufen und auf alle Thronansprüche verzichten. Grund war seine Rolle beim Konflikt 1848.
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Schleswig-Holstein also durch eine Personalunion mit Dänemark verbunden. Der eigentlich erbberechtigte Herzog von Augustenburg 51 verzichtete gegen eine Entschädigung auf seine Ansprüche. Dänemark versprach, die Zusammengehörigkeit und Selbstständigkeit der Herzogtümer nicht anzutasten. Es zeigte sich allerdings bald, dass damit nur eine vorläufige Lösung des Problems erreicht wurde, mit der sich der dänische Nationalismus nicht zufrieden geben wollte. Die Dänen setzten ihre Versuche fort, ein einheitliches Groß-Dänemark zu schaffen, ohne dabei auf die Rechte der Herzogtümer Rücksicht zu nehmen.
c) Dänische Verfassung König Friedrich VII. Karl Christian von Dänemark 52 trennte mit Patent vom 30.3.186353 unter dem Druck dänischer Nationalisten und im Widerspruch zum Londoner Protokoll von 1852 Schleswig von Holstein und annektierte Schleswig, indem er es zur dänischen Provinz machte. Die Abgeordneten des Deutschen Bundes verlangten von Friedrich eine Beendigung dieser Politik. 54 Als die dänische Regierung dies ablehnte, entschloss sich der Deutsche Bund zu intervenieren. Zwei zivile Kommissare aus Sachsen und Hannover sollten mit Unterstützung von 6.000 Soldaten aus diesen Ländern sowie Österreich und Preußen die Verwaltung von Holstein und Lauenburg übernehmen.55 Die Dänen kamen dem durch die Annahme einer sowohl für Schleswig als auch für Holstein gültigen Verfassung zuvor, die die Annexion Schleswigs und seine Abtrennung von Holstein bedeutete: Zunächst sanktionierte der dänische Reichsrat am 13.11.1863 mit der Annahme der neuen Verfassung diese Maßnahmen. Friedrich starb allerdings am 15.11.1863, ohne dass er die Verfassung hätte noch unterzeichnen können. Am folgenden Tag wurde daher Prinz Christian von Sonderburg-Glücksburg auf der Basis des Londoner Protokolls zum dänischen König ausgerufen. Der neue König Christian IV. setzte kurz nach sei-
51
Die Herzogsfamilie Christian Augusts ging nach Schlesien und erwarb die Herrschaft Primkenau. Der Herzog musste auf seine Erbansprüche verzichten und akzeptieren, dass der kinderlose Friedrich VII. die jüngere Glücksburger Linie als Nachfolger für den dänischen Thron bestimmt hatte. Die europäischen Mächte hatten das 1852 im Londoner Protokoll anerkannt. 52 Friedrich VII. Karl Christian war der zweite und älteste überlebende Sohn von Christian VIII. von Dänemark und dessen Gemahlin, Prinzessin Charlotte Friederike von Mecklenburg-Schwerin. 53 Text: Holsteinisches Gesetz- und Ministerialblatt 1863 S. 29 ff.; Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band II, 3. Aufl., 1986, Nr. 129, S. 178 ff. 54 Vgl. Bundesbeschluss betreffend das Patent König Friedrich VII. vom 30.3.1863, Text: Huber (Fn. 53), Nr. 130, S. 181 f. 55
Vgl. Bundesbeschluss über die Bundesexekution in Holstein und Lauenburg, Text:
Huber {Fn. 53), N r . 131, S. 182 f.
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ner Thronbesteigung die Verfassung in Kraft. Sie galt fur Dänemark und Schleswig, nicht aber für Holstein. Damit verstieß er gegen das Londoner Protokoll, das unter der Voraussetzung zustande gekommen war, die Herzogtümer nicht voneinander zu trennen. Gleichzeitig kündigte auch Herzog Friedrich von Augustenburg 5 6 seinen Regierungsantritt in den Herzogtümern an. 5 7 Prinz Friedrich von Augustenburg erließ eine Proklamation, 5 8 in der er seine Erbfolge in Schleswig-Holstein als Herzog Friedrich V I I I . verkündete. Friedrich fand in Holstein und in nationalen und liberalen Kreisen Deutschland sofort Unterstützung. 5 9
d) Preußens Bestrebungen Bismarcks Z i e l bestand von Anfang an darin, die Herzogtümer dem preußischen Staat einzuverleiben, sie zumindest politisch und wirtschaftlich eng an
56 Nach der Unterzeichnung der neuen Verfassung, die Dänemark und Schleswig fest verbinden sollte, witterte der inzwischen 65jährige Christian August in Primkenau die Chance, für die Augustenburger Besitz und Macht in den Herzogtümern zurück zu gewinnen. Er verzichtete auf seine Ansprüche zugunsten seines Sohnes, der nunmehr als Herzog Friedrich VIII. der Deutschen Bundesversammlung seine Thronbesteigung anzeigte. Als die Erhebung 1851 gescheitert war, mussten die Augustenburger das Land verlassen. Doch sie gaben nicht auf, 1863 versuchte Herzog Friedrich VIII. ein weiteres Mal und endgültig erfolglos nach der Herrschaft über die Herzogtümer zu greifen. Schleswig-Holstein wurde 1867 eine Provinz Preußens. 57
Vgl. Vogler/Vetter,
Preußen. Von den Anfängen bis zur Reichsgründung 1974, S.
285. 58 Mit der Proklamation „Schleswig-Holsteiner!" wandte sich Herzog Friedrich VIII. (1829-1880) am 16.11.1863 an die Bewohner der Herzogtümer. Er erklärte, als erstgeborener Prinz der nächsten männlichen Linie des Oldenburgischen Hauses die Regierung in den Herzogtümern Schleswig und Holstein antreten zu wollen: „Mein Recht ist eure Rettung" lautete die emphatische Anrede. Als Grundlage seiner Ansprüche war Herzog Friedrich bereit, das Staatsgrundgesetz vom 15.9.1848 anzuerkennen und darauf seinen Eid abzulegen. Mittel, seine Ansprüche durchzusetzen, hatte er allerdings nicht. Vgl. Petersen, Schleswig-Holstein 1864-1867, 2000, S. 15. 59
Die rechtliche Legitimation verweigerte aber vor allem der preußische Kanzler Otto von Bismarck. Sein Ziel war es, das Deutsche Kaiserreich unter preußischer Führung wiedererstehen zu lassen. Friedrich VIII. zog sich später enttäuscht nach Primkenau zurück und bewirtschaftete nach dem Tod seines Vaters 1869 die augustenburgischen Güter Primkenau sowie ein Gut in Schweden und Schloss Gravenstein. Die 1863 kurzfristig entstandene „Augustenburgische Bewegung", eine Schleswig-Holsteinische Landespartei, bestand noch eine Weile, fand sich jedoch spätestens mit der Reichsgründung 1871 mit der preußischen Lösung ab. An Herzog Friedrich VIII. selbst erinnert nicht mehr viel im Lande: Sein Denkmal in Kiel ist zerstört, das Geschlecht der Augustenburger in männlicher Linie 1931 ausgestorben. Nur auf der seit 1920 dänischen Insel Alsen (Als) erinnern noch Name und Schloss an die Herzogsfamilie. Kurz vor seinem Tod 1880 erlebte Friedrich, dass sich die Heirat seiner Tochter mit dem hohenzollernschen Thronfolger Wilhelm (dem späteren Kaiser Wilhelm II.) anbahnte.
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Preußen zu binden. Offiziell bekannte sich allerdings die preußische Regierung zur Rechtsgrundlage des Londoner Protokolls, um auf diese Weise die Einmischung der Großmächte zu verhindern. Kaiser Wilhelm stand einer solchen Annexion zunächst zurückhaltend gegenüber, da er keine Grundlage für den Anspruch Preußens auf diese Herzogtümer sah. Bismarck wies darauf hin, dass Augustenburg sein Anrecht auch nicht besser begründen könne.
2. Schleswig und Holstein als Koimperium a) Bundesexekution In den deutschen Staaten entstand alsbald eine nationale Bewegung fur den Anschluss von Schleswig und Holstein, wobei der als liberal geltende Augustenburger sowohl auf Unterstützung von Seiten der süd- und mitteldeutschen Staaten wie auch im eigenen Land rechnen konnte. Preußen und Österreich lehnten jedoch diese Volksbewegung und Unterstützung Herzog Friedrichs ab. Sie hielten offiziell am Londoner Protokoll vom 8.5.1852 fest, in dem Prinz Christian von Glücksburg die Thronfolge zuerkannt worden war. Sie veranlassten ferner den Deutschen Bund, am 7.12.1863 den Vollzug der Bundesexekution 6 0 gegen Dänemark zur Wahrung der Rechte Holsteins und zur Einhaltung des Londoner Protokolls zu beschließen,61 wofür eine knappe Mehrheit von acht gegen sieben Stimmen zustande kam. Die Bundesexekution in Holstein und Lauenburg wurde von sächsischen und hannoverischen Truppen ausgeführt. Gegen Ende 1863 befand sich nahezu ganz Holstein unter der Kontrolle des Deutschen Bundes. Ein militärischer Einmarsch in Schleswig ließ sich allerdings nicht auf den Rechtstitel der Bundesexekution stützen, da Schleswig kein Mitgliedstaat des Deutschen Bundes war. Nach der Bundesexekution wurde in den deutschen Staaten der Ruf nach Loslösung beider Herzogtümer von Dänemark immer lauter.
60
Die Bundesexekution war das Recht des Deutschen Bundes (1815-1866), gegen die Regierung eines Mitgliedstaates vorzugehen, sofern diese sich Bestimmungen der Deutschen Bundesakte oder anderen Bundesbeschlüssen widersetzte. Grundlage der Bundesexekutive waren Art. 31 Wiener Schlussakte und die Exekutionsordnung von 1820. Um einen Staat zur Einhaltung seiner Verpflichtungen zu zwingen, waren folgende Maßnahmen vorgesehen: die militärische Besetzung des Staatsgebiets; die Übernahme der Regierungsgewalt bis hin zur Absetzung des regierenden Fürsten und die Aufhebung von Verfassungsbestimmungen, die gegen Bundesrecht verstießen. 61 Vgl. Bundesbeschluss über den Vollzug der tur Holstein und Lauenburg angeordneten Bundesexekution, Text: Huber (Fn. 53), Nr. 136, S. 188. Vgl. auch Bundesbeschluss über die Bundesexekution in Holstein und Lauenburg vom 1.10.1863, ebd., Nr. 131, S. 182 f.
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b) Besetzung König Christian IV. war zwar bereit, die neue Verfassung zurückzuziehen, er fand aber bei seinen Ministern keine Unterstützung. Nun verlangten Preußen und Österreich von der Frankfurter Versammlung, den dänischen König vor die Alternative zu stellen, entweder die Verfassung zu widerrufen oder Schleswig werde solange von den Streitkräften des deutschen Bundes besetzt (Pfandbesetzung), bis er die Verfassung zurücknehme. 62 Da der Bundestag dem nicht entsprach, entschlossen sich, trotz britischer Warnungen, Preußen und Österreich zu einem Alleingang 63 und vereinbarten am 16.1.1864 ein Bündnis. 64 Ebenfalls im Januar 1864 richteten Preußen und Österreich ein Ultimatum an die dänische Regierung, in dem sie die Aufhebung der Eiderdänischen Verfassung forderten. Dänemark lehnte dieses Begehren ab, hoffte es doch auf britische Hilfe. Das Londoner Kabinett wünschte zwar ein Verbleiben der umstrittenen Territorien bei Dänemark, verzichtete aber letztendlich auf militärische Maßnahmen, zumal es keine Aktionseinheit mit Frankreich und Russland herstellen konnte. Da Dänemark das Ultimatum verstreichen ließ, ergriffen Österreich und Preußen die Offensive und marschierten am 1.2.1864 in Schleswig ein. Der Bundestag räumte den beiden Mächten trotz seines Widerstandes gegen die Pfandbesetzung das Durchmarschrecht durch Holstein ein. 65 In Schleswig übten damit Österreich und Preußen die Gebietshoheit aus, es lag ein Koimperium beider intervenierenden Mächte vor. Nach langwierigen Verhandlungen einigten sich Preußen und Österreich, einen Hauptangriff gegen die in der Stellung von Düppel und Aalsen konzentrierten dänischen Truppen zu richten. Mit dem hauptsächlich von preußischen Truppen durchgeführten Sturm auf die Düppeler Schanzen verloren die Dänen ihre letzte Stellung im Schleswiger Kernland. Am 18.4. verloren die Dänen das Schleswigsche Festland. Das weitere Vorrücken der preußisch-österreichischen Truppen nach Jütland wurde am 5.5. durch einen bis zum 25.6. befristeten, von den neutralen Großmächten vermittelten Waffenstillstand unterbrochen.
62 Vgl. Österreichisch-preußischer Antrag auf Pfandbesetzung des Herzogtums Schleswig vom 28.12.1863, in: Huber (Fn. 53), Nr. 140, S. 192 f. 63 Vgl. Österreichisch-preußische Erklärung über die Pfandbesetzung des Herzogtums Schleswig vom 14.1.1864, in: Huber (Fn. 53), Nr. 141, S. 193. 64 Vgl. Erste österreichisch-preußische Punktation über das Vorgehen gegen Dänemark vom 16.1.1864, Text: Huber (Fn. 53), Nr. 142, S. 193 ff. 65 Vgl. Instruktion des Bundestags für den Befehlshaber der in Holstein stehenden Bundestruppen vom 22.1.1864, Text: Huber (Fn. 53), Nr. 143, S. 193 ff.
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3. Schleswig und Holstein als Kondominium und Koimperium nach dem Friedensvertrag vom 30.10.1864 Die dänische Regierung suchte zunächst um Waffenstillstand und dann um Frieden nach. Ein vorläufiger Friedensvertrag wurde am 1.8.1864 geschlossen. Der Friede von Wien vom 30.10.186466 besiegelte die Niederlage Dänemarks. Der dänische König verzichtete auf die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, die nun unter die gemeinsame territoriale Souveränität Preußens und Österreichs fielen. Dieses Kondominium bedeutete von Anfang an eine Gefahr ständiger Konflikte zwischen Österreich und Preußen. Die Absicht Preußens, Schleswig und Holstein zu annektieren, war offensichtlich. Auch das Haus Augustenburg gab seine Bemühungen und die Herzogswürde nicht auf. Da Österreich und Preußen das Gebiet auch gemeinsam verwalteten, lag zudem ein Koimperium vor. Der preußische Zivilkommissar von Zedlitz geriet gleich nach der Übernahme der Regierungsgewalt in Holstein in Schwierigkeiten. 67 Besonders kritisiert wurde die Verordnung vom 10.12.1864, nach der die Beamten des Herzogtums Holstein aufgefordert wurden, sich per Eid zu verpflichten, ihre Tätigkeit in einer Form auszuüben, welche der Entscheidung über die Zukunft der Herzogtümer in keiner Weise 68 vorgreife. Die preußische Verwaltung dehnte ihre Kontrolle auf wesentliche Bestandteile der Administration in Holstein aus. Das Post- und Telegraphenwesen wurde dem Geschäftsbereich der bisherigen herzoglich holsteinischen Landesregierung entzogen und Preußen übertragen. Das holsteinische Postwesen wurde in die schleswig-holsteinische Oberpostdirektion überführt. Das holsteinische Telegraphenwesen wurde dem preußischen Inspek-
66 Art. 3. S. M. le Roi de Danemark renonce à tous ses droits sur les duchés de Slesvig-Holstein et Lauenbourg en faveur de LL. MM. le Roi de Prusse et l'Empereur d'Autriche, en s'engageant à reconnaitre les dispositions que Leurs dites Majestés prendront à l'égard de ces duchés. Art. 4. La cession du duché de Slesvig comprend toutes les lies appartenant à ce duché aussi bien que le territoire situé sur la terre ferme. Pour simplifier la délimitation et pour faire cesser les inconvénients qui résultent de la situation des territoires jutlandais enclaves dans le territoire du Slesvig, S. M. le Roi de Danemark cède à LL. MM. le Roi de Prusse et l'Empereur d'Autriche les possessions jutlandaises situées au Sud de la ligne de la frontière méridionale du district de Ribe; telles que le territoire jutlandais de Moegeltondern, l'ile d'Amrom, les parties jutlandaises des lies de Foehr, Sylt et Moemoe, etc. Par outre, LL. MM. le Roi de Prusse et l'Empereur d'Autriche consentent, à ce qu'une portion équivalente du Slesvig et comprenant, outre l'ile d'Aeroe, des territoires servant à former la contiguité du district susmentionné de Ribe avec le reste du Jutland et le Slesvig et à corriger la ligne de frontière entre le Jutland du coté de Kolding, soit détachée du duché de Slesvig et incorporée dans le royaume de Danemark. Text: Strupp (Fn. 5), Band 1, S. 236 ff. 67
Petersen (Fn. 58), S. 76.
68
Petersen (Fn. 58), S. 76.
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tor anvertraut. 69 In anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung war jedoch noch nicht eine umfassende Kontrolle durch Preußen gegeben, aber nach und nach wurden die Kompetenzen der Landesregierung in erheblichem Maße beschnitten. Die Anfang Januar neu konstituierte „Schleswig-Holsteinische Landesregierung" verlor nicht nur den Namenszusatz Herzogliche, der der Behörde unter der Ägide der Bundeskommissare zugebilligt wurde, sondern sah sich darüber hinaus gezwungen, eine Reihe von Kompetenzen an die oberste Zivilbehörde abzutreten. 70 Die Landesregierung besaß von nun an nur noch den Status einer Schreibstube. 71 Der Amtsantritt des österreichischen Zivilkommissars von Halbhuber markiert eine Zäsur für die weitere Entwicklung des nördlichen Deutschland. Sein Amtsantritt bedeutete eine Wende im Verhältnis der Großmächte Preußen und Österreich. Er zeigte auch der bisher fast ungestört agierenden preußischen Verwaltung in den Herzogtümern in der Folge die Grenzen auf. Von Halbhuber war der Ansicht, dass an der Selbstständigkeit der Herzogtümer kein Weg vorbeiführe. Von Halbhuber hielt lediglich dann eine Besserung der Verhältnisse in Schleswig-Holstein fiir möglich, wenn die Herzogtümer als selbstständiger Staat unter dem Augustenburger Friedrich VIII. konstituiert würden. Für den Fall eines Aufgehens in Preußen dagegen malte er das Schreckgespenst einer demokratischen Radikalisierung breiter Bevölkerungsschichten an die Wand. Natürlich war die Einschätzung durch die preußischen Behörden eine völlig andere. 72 Nach wie vor wurde auch auf die Bevölkerung eingewirkt, dass sie eine Einverleibung in den preußischen Staat nicht zu furchten habe und ihr die berechtigten Eigentümlichkeiten nicht genommen würden. Allerdings wurde auch verdeutlicht, dass bei Nichterfüllung der preußischen Forderungen an die Herzogtümer eine komplette Einverleibung der Herzogtümer in den preußischen Staat gewissermaßen von selbst in den Vordergrund träte. Als immer häufiger in der Öffentlichkeit Sympathien für die Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins geäußert wurden und zahlreiche Zusammenstöße mit Mitgliedern der preußischen Besatzungsschichten erfolgten, drohte der preußische Oberbefehlshaber fiir den Fall neuerlicher Demonstrationen mit dem selbstständigen Einschreiten des Militärs. Anlässlich der Feier zum Schleswig-Holsteinischen Erhebungstag griff in der Tat das Militär erstmals selbstständig ein. Anlass war das Zeigen einer Flagge mit der Aufschrift Friedrich VIII., Herzog von Schleswig-Holstein.73 Das eigenmächtige Vorgehen der militärischen Führung führte zu Auseinandersetzun-
69
Petersen (Fn. 58), S. 77.
70
Petersen (Fn. 58), S. 80.
71
Samwer (Hrsg.), Schleswig-Holsteins Befreiung, 1897, S. 420.
72
Petersen (Fn. 58), S. 83.
73
Petersen (Fn. 58), S. 102 ff.
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gen mit der Bevölkerung, der Landesregierung und dem österreichischen Zivilkommissar.
4. Schleswig und Holstein als Kondominium nach dem Gasteiner Vertrag vom 14.8.1865 Die Spannungen zwischen Österreich und Preußen verschärften sich in der Folgezeit bei der gemeinsamen Verwaltung, dem Koimperium, der Elb-Herzogtiimer erheblich, so dass nicht zuletzt wegen der Rivalität der beiden Staaten innerhalb des Deutschen Bundes eine kriegerische Auseinandersetzung nicht mehr auszuschließen war. Die auf Machterweiterung angelegte Politik Preußens strebte nach Vorherrschaft und Ausweitung der territorialen Souveränität nördlich der Mainlinie. Österreich hingegen wollte keine Positionen aufgeben und keiner Koexistenz mit Preußen zu den von Bismarck genannten Bedingungen zustimmen. Auch wenn die Herzogtümer abseits von seiner eigentlichen Interessensphäre lagen, konnte Österreich auf seine Rechte nördlich der Elbe nicht ohne Gesichtsverlust verzichten. 74 Mit dem Gasteiner Vertrag vom 14.8.186575 gelang es, die Spannungen zu mildern: In der Präambel der Gasteiner Konvention heißt es, dass ihre Majestäten, der König von Preußen und der Kaiser von Österreich sich überzeugt hätten, dass das bisher bestehende Kondominium in den von Dänemark durch den Friedensvertrag vom 30.10.1864 abgetretenen Ländern zu „Unzukömmlichkeiten" führe, welche sowohl das gute Einvernehmen zwischen ihren Regierungen und die Interessen der Herzogtümer gefährdeten. Die Rechte werden daher in Hinkunft geographisch geteilt. Art. 1 weist Holstein Österreich, Schleswig aber Preußen zu, unbeschadet der Fortdauer dieser Rechte beider Mächte an der Gesamtheit beider Herzogtümer. Art. 6 drückt die Absicht beider Parteien aus, dass die Herzogtümer dem Zollverein beitreten. Bis zur Herstellung dieses Zustandes bestehe das gegenwärtige, beide Herzogtümer umgreifende Zollsystem fort. Der Kaiser von Österreich überlässt nach Art. 9 Preußen gegen die Zahlung einer Summe von 2.500.000 Dänischen Reichstalern die Rechte auf das Herzogtum Lauenburg. Die „Teilung des Kondominiums" wird nach Art. 10 bis zum 15.9.1865 beendet sein. Das bestehende gemeinsame Oberkommando wird bis spätestens 15.9.1865 aufgelöst, die preußischen Truppen rücken aus Holstein, die österreichischen aus Schleswig ab. Im Gasteiner Vertrag vom 14.8.1865 einigten sich also Preußen und Österreich, dass die Ausübung der gemeinsamen Rechte Holsteins von Österreich und die Ausübung der gemeinsamen Rechte Schleswigs von Preußen wahrge74 75
Bismarck. , Gedanken und Erinnerungen, Band II, 1909, S. 32 ff., 40 ff. Text: Huber (Fn. 53), Nr. 158, S. 212 ff.; Strupp (Fn. 5), Band I, S. 240 ff.
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nommen werden sollten. Preußen erhielt gegen eine Geldabfindung Lauenburg. 76 Die territoriale Souveränität über beide Länder blieb aber bei Preußen und Österreich. Das Kondominium existierte fort. Es lag nun aber kein Koimperium mehr vor, da die Gebietshoheit geteilt wurde. Das fortbestehende Kondominium, in dem Preußen für den Landesteil Schleswig und Österreich für den Landesteil Holstein zuständig sein sollte, war aber nach wie vor ein Provisorium, das von der Bevölkerung als sehr unbefriedigend empfunden wurde. 77 Es kam zu Spannungen zwischen beiden Mächten, die daraus resultierten, dass Bismarck konsequent seine Politik verfolgte, einen Anschluss der Herzogtümer an Preußen vorzubereiten, wogegen Österreich die „Augustenburger Partei" favorisierte, die von der Sympathie der einheimischen Bevölkerung getragen wurde. Sowohl in Wien als auch in Berlin fasste man Ende Februar 1866 den Entschluss, zwar nicht unmittelbar auf eine kriegerische Entscheidung hin zu arbeiten, aber vor dem Gegenspieler nicht mehr zurückzuweichen, auch wenn dies Krieg bedeutete.78
5. Ende des preußisch-österreichischen
Kondominiums
Bismarck war es von Anfang an klar, 79 dass Preußen beherrschende Macht in Deutschland nur dann sein könne, wenn Österreich aus Deutschland hinaus gedrängt werde. Seine Diplomatie war daher darauf gerichtet, dass sich die anderen europäischen Großmächte nicht einmischten, falls es zu einem Bruderkampf mit Österreich kommen sollte. 80 Zum offenen Bruch mit Österreich kam es, als Bismarck den Antrag auf Einberufung eines deutschen Parlaments stellte.81 Da Österreich wegen seiner fremdnationalen Landesteile darin nur gering vertreten wäre, würde seine Stellung im Deutschen Bund erheblich an Einfluss verlieren. Österreich brachte
76
Lauenburg wurde 1876 als Kreis Herzogtum Lauenburg der Provinz SchleswigHolstein angegliedert. 77 Vgl. dazu Petersen (Fn. 58), S. 171 ff. 78
Petersen (Fn. 58), S. 248 ff., 258 ff.
79
Bismarck
80
(Fn. 74), S. 24.
Da Preußen eine freundliche Neutralität gegenüber Russland im Krim-Krieg gezeigt hatte, war Russland Preußen wohlgesonnen. Frankreich stand mit Österreich wegen Italien in Konflikt und hoffte, Preußen gegen Österreich ausspielen zu können. Und England hatte an einer Erstarkung Preußens nichts einzuwenden, da ihm ein starker Mittelstand zwischen Frankreich und Russland nicht unerwünscht war. 81 Vgl. Erklärung Österreichs am Bundestag über die Wahrung des Burgfriedens vom 1.7.1866, Text: Huber (Fn. 53), Nr. 167, S. 227 f.
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daraufhin die schleswig-holsteinische Frage vor den Bundestag.82 Bismarck sah in diesem österreichischen Schritt einen Bruch der Gasteiner Konvention. Daraufhin marschierte Preußen in Holstein ein und forderte den Bundestag auf, den Ausschluss Österreichs aus dem Deutschen Bund zu betreiben. Hierauf beantrage Österreich die Mobilmachung der Bundesstreitkräfte. 83 Der Bundestag beschloss daraufhin die Mobilisierung eines Teils der Bundesarmee,84 woraufhin Preußen die Bundesakte für gebrochen erklärte und aus dem Bund austrat. 85 Preußen kämpfte mit einigen norddeutschen Kleinstaaten und Italien 86 gegen Österreich, das unter anderem mit Bayern, Württemberg, Sachsen, Hannover sowie den Großherzogtümern Baden, Hessen und Kurhessen verbündet war. 87 Die hannoverischen Truppen wurden am 29.6.1866 von den Preußen bei Langensalza besiegt. Die Entscheidung fiel dann aber in drei Wochen nach Kriegsbeginn in der Schlacht bei Königgrätz, wo das zahlenmäßig überlegene österreichische Hauptheer den besser ausgebildeten vereinigten preußischen Armeen unterlag. Im Vorfrieden von Nikolsburg vom 26.7.186688 erhielt Preußen Schleswig und Holstein 89 und Österreichs Zustimmung zur Bildung eines Staatenbundes nördlich der Mainlinie. 90 Im Frieden von Prag vom 23.8.186691 trat Österreich
82 Vgl. Preußischer Antrag auf die Reform der Bundesverfassung vom 9.4.1866, Text: Huber (Fn. 53), Nr. 163, S. 223 ff. 83 Vgl. Antrag des österreichischen Bundestagsgesandten von Kübeck auf Mobilisierung des Bundesheeres gegen Preußen vom 11.7.1866, Text: Huber (Fn. 53), Nr. 174, S. 237 f. 84 Vgl. Bundesbeschluss über die Mobilisierung des Bundesheeres gegen Preußen vom 14.7.1866, Text: Huber (Fn. 53), Nr. 176, S. 239. 85 Vgl. Erklärung des preußischen Bundestagsgesandten von Savigny über den Rücktritt Preußens vom Bundsvertrag vom 14.7.1866, Text: Huber (Fn. 53), Nr. 177, S. 240 f. 86 Preußen hatte mit Italien am 8.4.1866 eine geheime Offensiv- und Defensiv-Allianz mit Italien gegen Österreich geschlossen (Govone-Vertrag), Text: Jäger/Moldenhauer , Auswärtige wichtige Aktenstücke zur Geschichte des 19. Jahrhunderts, 1893, S. 436 f. Gegen Italien blieb Österreich siegreich. 87 A u f der Seite Preußens standen 18 norddeutsche Klein- und Mittelstaaten sowie Italien; Österreich schlossen sich 13 deutsche Bundesstaaten an. 88 Text: Huber (Fn. 53), Nr. 184, S. 247 ff.; Martens/Triepel (éd.), Nouveau Recueil Général de Traité, 3ième sèrie, tome 18, 1928, S. 316; vgl. auch Rönnefarth , VertragsPloetz, Teil II, 3. Band, 2. Aufl., 1958, S. 337 f. 89 Schleswig-Holstein wird ohne das Amt Ahrensböck, das der Großherzog von Oldenburg erhält, einverleibt. 90 Einschließlich der von Preußen formell am 20.9.1866 annektierten Staaten - das Königreich Hannover, das Kurfürstentum Hessen (große Teile werden an das Großherzogtum Hessen abgetreten), das Herzogtum Nassau, die freie Stadt Frankfurt - und zur Gestaltung Deutschlands ohne Beteiligung des österreichischen Kaiserstaates. Schließlich erhielt Preußen die Landgrafschaft Hessen-Homburg einschließlich des Oberamtsbezirks Meisenheim, die vom Großherzogtum Hessen erworbenen Kreise Biedenkopf
Schleswig-Holstein als Kondominium und Koimperium
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seine Rechte an Schleswig und Holstein und Preußen ab (Art. V), mit der von Napoleon III. gewünschten Maßgabe, dass die nördlichen Distrikte von Schleswig an Dänemark abgetreten werden, wenn die Bevölkerungen durch freie Abstimmung den Wunsch zu erkennen geben. Erst etwa ein halbes Jahr später, nachdem am 23.8.1866 im Prager Frieden die Rechte des österreichischen Kaisers, die dieser an den Herzogtümern Schleswig und Holstein hatte, an den preußischen König Wilhelm übergegangen waren, wurde am 24.12.1866 Schleswig-Holstein durch das Gesetz über die Vereinigung der Herzogtümer mit der preußischen Monarchie ein Teil Preußens.92 Das Kondominium war damit endgültig beendet.
I I I . Schluss Kondominien wie das über Schleswig-Holstein, aber auch Koimperien, waren immer nur Notbehelfe, Übergangslösungen oder Verlegenheitslösungen, die in der Regel mehr Probleme aufwarfen als sie lösten. Die die gemeinschaftliche Herrschaft ausübenden Staaten konkurrierten um den Einfluss im Staatengemeinschaftsgebiet, oftmals bis zur kriegerischen Auseinandersetzung, unabhängig davon, ob die Staaten im Falle eines Kondominiums die Gebietsherrschaft gemeinsam ausübten oder regional aufteilten. In der Regel tragen Staatengemeinschaftsgebiete nur kurzfristig zur Befriedung eines Landes bei.
und Vöhl, einen Teil des Kreises Gießen sowie der Ortsbezirke Rödelheim und NiederUrsel, die von Bayern erworbene Enklave Kaulsdorf sowie Gersfeld und Orb. Es wurden hier die Provinzen Schleswig-Holstein, Hannover und Hessen-Nassau gebildet. 91 Text: Huber (Fn. 53), Nr. 185, S. 249 ff. 92 Zur weiteren Entwicklung vgl. Frotscher/Pieroth (Fn. 44), Rn. 363 ff.
Die Neuordnung des Bundesstaates im Spiegel seiner Geschichte Von Uwe Volkmann Am Ursprung moderner Staatlichkeit steht in Deutschland nicht der demokratische, sondern der föderative Gedanke:1 als Postulat des Zusammenschlusses mehr oder weniger selbstständiger Glieder zu einem übergeordneten, größeren Ganzen. Im Bundesstaat erhielt dieser Gedanke seine bis heute noch gültige staatsrechtliche Form. 2 Die Bundesstaatlichkeit bildet damit ohne weiteres ein, wenn nicht sogar das prägende Kontinuum der deutschen Verfassungsgeschichte.3 Zugleich ist kaum ein anderes Form- und Strukturprinzip in seinem sachlichen, über die Summe der verschiedenen Einzelaussagen im Verfassungstext hinausweisenden Gehalt so undeutlich geblieben wie dieses. Insoweit gilt nach wie vor das Wort Scheuners, der Bundesstaat sei dank seiner komplizierten Bauart und seiner Bindung an wandelbare geschichtliche Begebenheiten ein Staatsgebilde, dessen Wesen und Eigenart immer nur am konkreten Einzelfall wirklich erfasst werden könne und dessen Bild viel eher von einer historischpragmatischen Betrachtung als von einer abstrakten Theorie her aufgebaut werden müsse: „Die bewegliche und feine Struktur des Bundesstaates will verstanden und gelebt, nicht so sehr theoretisch konstruiert sein."4 Dem entspricht es, dass es nach wie vor keine Lehre, keine Theorie des Bundesstaates gibt, die seine verschiedenen einzelnen Elemente zu einem Ganzen zusammenzieht und zugleich erklärt, „wieso der Bundesstaat ein sinnvolles politisches System sein kann".5 Gerade darin unterscheidet sich das bundesstaatliche wiederum vom demokratischen Prinzip, dessen Rechtfertigung längst außer Zweifel steht und das heute eher unter einem Zuviel als einem Zuwenig an Theoriebildung leidet. Möglicherweise hängt es mit dieser Unklarheit über seinen legitimierenden 1 Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 5. Aufl., 2005, Rn. 311 f., 385 ff.; der Satz bei Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl., 2004, § 29 Rn. 2. 2 Zu diesem Verhältnis von föderativem Gedanken bzw. Föderalismus und Bundesstaat Hain, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Band 3, 5. Aufl., 2006, Art. 79 Rn. 120; zusammenfassend, aber teilweise abweichend Sarcevic, Das Bundesstaatsprinzip, 2000, S. 6 ff. 3 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 2. Aufl., 1999, § 98 Rn. 10, attestiert der föderativen Tradition sogar „größere historische Tiefe und Kontinuität als der staatlichen Tradition". 4 Scheuner, DÖV 1962, 641. 5 So die Anforderung an eine Bundesstaatstheorie bei Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl., 1994, S. 225; ähnlich Hesse, Ausgewählte Schriften, 1984, S. 116.
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Grund zusammen, dass es kein anderes Form- und Strukturprinzip der Verfassung gibt, das im Laufe seiner Geschichte ähnlichen Wandlungen unterworfen war wie dieses. Allein für das Grundgesetz lässt sich errechnen, dass von den in den ersten fünfzig Jahren seines Bestehens ergangenen 45 Änderungsgesetzen mindestens 35 unmittelbar eine Neuordnung der bundesstaatlichen Beziehungen zum Gegenstand hatten;6 darunter befand sich mit der Reform der Finanzverfassung des Jahres 1969 eine der großen Staatsreformen der Bundesrepublik überhaupt, mit der dem Bundesstaat nicht weniger als ein komplett neues Leitbild untergeschoben werden sollte. Zwar wird, um beim gewählten Referenzobjekt zu bleiben, auch von der demokratischen Ordnung heute niemand mehr sagen wollen, sie sei heute noch dieselbe wie in den Jahren nach 1949. Aber was hier an Veränderungen eingetreten ist, vollzog sich fast vollständig unterhalb und jenseits des Rechts und des Verfassungstextes, der als äußerer Ordnungsrahmen unangetastet blieb; es sind weitgehend Veränderungen in den Verwirklichungsbedingungen und Voraussetzungen von Demokratie, und was - wie etwa die Einführung plebiszitärer Elemente - derzeit an Eingriffen in den Verfassungstext diskutiert wird, hat allenfalls den Charakter einer punktuellen Ergänzung, nicht eines grundsätzlichen Gegenentwurfs. Gewiss lässt sich, geht man nur weiter in die Geschichte zurück, gerade auch für das demokratische Prinzip erkennen, wie es gegen anders gerichtete Kräfte erst durchgesetzt und um seine richtige Gestalt geradezu gerungen wurde. Aber während diese nun bei allen vorhandenen Schwächen und Defiziten in der vom Grundgesetz verfassten Ordnung einigermaßen gefunden zu sein scheint, wirkt der Bundesstaat immer noch wie auf der Suche danach. Mit der nach mehrjährigen Vorarbeiten auf den Weg gebrachten Bundesstaats- oder Föderalismusreform des Jahres 2006 ist nun ein neuer Anlauf in diese Richtung unternommen worden. 7 Die Frage ist indessen, ob der Bundesstaat damit die ihm angemessene Form gefunden hat. Doch was wäre überhaupt die ihm angemessene Form? Die Antwort kann zuletzt doch nur wieder mit Blick auf die sinngebenden Prinzipien gegeben werden, die in ihm wirksam waren und heute noch wirksam sind. In diesem Sinne soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, die Reform des Bundesstaats in seine Geschichte einzuordnen und von ihr aus zu beurteilen - in Aufnahme der programmatischen Erkenntnis, dass einerseits die Institutionen des modernen Verfassungsstaates nur in ihrem geschichtlichen Werden verstanden werden können, andererseits auch Verfassungsgeschichte nur „aus der Perspektive des Jetzt" mit Gewinn betrieben werden kann.8
6 In Fortführung der Berechnung von Bauer/Jestaedt, Das Grundgesetz im Wortlaut, 1997, S. 34. 7 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006, BGBl. I S. 2034. 8 So das Credo des Werkes von Frotscher/Pieroth (Fn. 1), Rn. 1 ff., 5 ff.
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I. Errichtung und Überformung Die bis heute anhaltende föderale Prägung Deutschlands hat ihre Wurzeln im Alten Reich, wie es sich nach dem Westfälischen Frieden und auf seiner Grundlage formierte. 9 Was danach an moderner Staatlichkeit entsteht, entsteht dezentral und von unten, in den souveränen Territorien, den Königs- und Fürstentümern und Reichsstädten, während die Reichsinstitutionen im Vergleich dazu blass und wenig durchsetzungsfähig blieben. Selbst die eigenen Machtzentren des Reiches waren auseinandergerissen und verteilt; der Kaiser saß in Wien, der Reichstag in Regensburg, das Reichskammergericht in Wetzlar. Dezentralität und wechselseitige, sorgsam austarierte Machtbegrenzung waren so die beherrschenden, auf den späteren Bundesstaat vorausdeutenden Prinzipien. Dem entspricht es, dass auch die Anfänge bundesstaatlicher Theoriebildung in diese Zeit fallen: Ludolph Hugos 1661 unternommener und später von Johann Stephan Pütter wieder aufgegriffener Versuch, das Reich als ein Gebilde verdoppelter und zusammengesetzter Staatlichkeit - gelenkt von einer zweifachen Regierung (duplex regimen), mit dem Reich als gemeinsamem Staatswesen und den einzelnen Gebieten mit ihren Fürsten, Magistraten, Gerichten und Ratsversammlungen als besonderen, untergeordneten Staatswesen - zu erfassen, 10 kann als eine der ersten wissenschaftlichen Behandlungen des Bundesstaats gelten,11 wenngleich noch erprobt an einem Gegenstand, auf den sie nicht zutraf; sie blieb zudem in der Folgezeit verdeckt unter Pufendorfs gegensätzlicher Charakterisierung des Reiches als einem „irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper". 12 Als Kategorie eines neuzeitlichen Staatsrechts passt „Bundesstaat" offenbar nicht auf ein in einer bald tausendjährigen Geschichte gewachsenes, von religiösen Mythen durchwehtes und in einem feudalen Geflecht wechselseitiger Treuebeziehungen verankertes Gebilde wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, auch wenn dessen föderale und ihrerseits nach den verschiedenen Reichsgrundgesetzen auch rechtlich geordnete Strukturen unverkennbar sind. Diese sind aber zudem ihrerseits eingebettet in die überkommene altständische Gesellschafts- und Privilegienordnung, deren Befestigung sie dienten; es gab vergleichsweise wenig an freiheitlichem Partikularismus, 13 aber vieles, was sich im späteren Zeitalter staatsbürgerlicher Gleichheit und Freiheit als überholt 14
erwies. 9
Dazu ausfuhrlich Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, 1996. Hugo, De statu regionum Germaniae, 1689, Cap. II; die Anknüpfung bei Pütter, Beyträge zum teutschen Staats- und Fürstenrechte, Theil II, 1777, S. 20 ff. 11 So Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl., 1984, S. 655 f. 12 Pufendorf, Die Verfassung des deutschen Reiches, 1667, neu herausgegeben 1994, S. 106. 13 So aber Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Aufl., 1997, S. 171. 14 Frotscher/Pieroth (Fn. 1), Rn. 177. 10
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Die danach bestehende Verbindung von föderalem und ständischem Prinzip, von dezentraler Staatsorganisation und monarchisch-dynastischer Herrschaft bleibt vorerst auch für die weitere Entwicklung des Bundesstaatsgedankens bestimmend. Der nach dem Ende der napoleonischen Kriege 1815 gegründete Deutsche Bund, im Unterschied zum 1806 untergegangenen Alten Reich als Staatenbund immerhin rechtlich einigermaßen konturiert, erstand als Bündnis der souveränen Fürsten und freien Städte zur Bewahrung der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der in ihm zusammengeschlossenen Staaten15 sowie als Bollwerk gegen die Folgewirkungen der Französischen Revolution. Auch das Deutsche Reich von 1870/1871, das - nach dem vierjährigen Intermezzo des Norddeutschen Bundes - erstmals den Umschlag vom Staatenbund zum Bundesstaat vollzog, war, wie es seine Verfassung in der Präambel bezeugt, als „ewiger Bund" der verschiedenen Majestäten und Hoheiten zum Schutze des Bundesgebietes sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes konzipiert, 16 als Fürstenbund also, in dem nach der seinerzeit herrschenden Auffassung die Gesamtheit der verbündeten Regierungen Trägerin der Souveränität und Inhaberin der Reichsgewalt sein sollte. 17 Paul Laband sollte dies später zu der missverständlichen Bemerkung veranlassen, das Deutsche Reich sei trotz Erbkaisertum keine Monarchie, „sondern - wenn man den Ausdruck auf eine Vielheit juristischer Personen anwenden könnte - eine Demokratie". 18 Vom Begriff der Demokratie her lag das ersichtlich neben der Sache.19 Aber es spiegelt die starke Stellung der Mitgliedstaaten und die Besonderheiten einer Staatsgründung, die von Bismarck bewusst nicht auf national-liberale Einheitsbewegung gestützt war, sondern auf den Willen der deutschen Souveräne und die vermutete Anhänglichkeit der Deutschen an ihre eingewurzelten Dynastien. Im Geftige der Staatsorgane tritt diese Eigenart in der optisch herausgehobenen Positionierung des Bundesrates hervor, von seiner Konstruktion her ein reiner Gesandtschaftskongress, der die Mitwirkung der Mitgliedstaaten an der Reichsgesetzgebung gewährleisten sollte und in dieser Funktion von der Verfassung sowohl in Art. 5 als auch in dem für ihn reservierten Abschnitt jeweils noch vor dem Reichstag rangierte: auch dies ganz offenbar ein Tribut an die jeweiligen Landesherren, die durch die Einwilligung in eine Beschränkung ihrer Souverä15
Vgl. Art. 1 der deutschen Bundesakte vom 8.6.1815 und Art. 1 Wiener Schlussakte vom 15.5.1820, abgedruckt bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band 1, 3. Aufl., 1978, Nr. 30 und 31. 16 Präambel der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.4.1871, abgedruckt bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band 2, 3. Aufl., 1986, Nr.
261.
17 So etwa Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4 Bände, 5. Aufl., 1911/ 1914, Band I, S. 97; ähnlich etwa Meyer/Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl., 1919, S. 473 m.w.N. ™ Laband (Fn. 17), S. 88. 19 Frotscher/Pieroth (Fn. 1), Rn. 413.
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nität den Bundesstaat erst möglich gemacht hatten. Ansonsten und daneben nimmt die Verfassung bereits vieles von dem vorweg, was noch heute zum Hausgut deutscher Bundesstaatlichkeit gehört: Anders als im „dual federalism" amerikanischer Prägung sind die Kompetenzen zwischen Gesamt- und Gliedstaaten nicht nach Sachgebieten, sondern im Wesentlichen nach den Staatsfunktionen aufgeteilt; wichtige Gesetzgebungskompetenzen wie fiir die nationalen Steuern, das bürgerliche Recht 20 oder das Strafrecht werden dabei mit bis heute bleibender Wirkung dem Gesamtstaat zugeschlagen, während den Gliedstaaten weitgehend die Verwaltung belassen wird; für den Fall einer Kollision galt damals wie heute der Grundsatz „Reichsrecht bricht Landesrecht" (Art. 2 S. 1). Manches davon fand sich ganz ähnlich auch bereits in der Entwurf gebliebenen Paulskirchenverfassung von 1848, deren Bundesstaatsmodell sich allerdings in zwei markanten Punkten von dem der späteren Reichsverfassung unterschied: Zum einen suchte die Verfassung der Paulskirche, auch wenn ein ausdrückliches Bekenntnis zum Grundsatz der Volkssouveränität vermieden wurde, doch eine Verbindung von bundesstaatlicher und demokratischer Legitimation; 21 zum anderen zielte sie ganz im Gegensatz zur Reichsverfassung auf einen weitgehenden Ausschluss der Mitgliedstaaten von der Teilhabe an der Reichsgewalt und wies damit weit stärker unitarische Züge auf. Man hat ihr deshalb im nachhinein nicht ohne Berechtigung bescheinigt, das von ihr entworfene Gebilde wirke wie ein nach Einheit strebender Staat, der sich gezwungen sehe, den vorhanden Partikularismen Rechnung zu tragen, ohne sie jedoch als unverrückbare Grundlage seines eigenen Bestehens zu begreifen. 22 Demgegenüber war die Reichsverfassung von 1871 von ihrer äußeren Anlage her ausgesprochen föderal strukturiert und der Souveränität der Gliedstaaten verpflichtet. In der Verfassungswirklichkeit nach der Reichsgründung tritt allerdings gerade dieser Unterschied der Ausgangspunkte alsbald zurück. In Vorgängen der Unitarisierung und Zentralisierung verschiebt sich die Tektonik des Bundesstaates aufgrund verschiedener Wirkfaktoren tatsächlich immer stärker zugunsten des Reiches, während die Gliedstaaten mehr und mehr an Bedeutung verlieren. Schon der Bundesrat, in dem die dynastisch fundierte Souveränität der Gliedstaaten ihren deutlichsten Ausdruck gefunden hatte, hat die ihm zugedachte Rolle auf der Reichsebene nie auszufüllen vermocht. Dazu kam die preußische Hegemonie, die schon in der Verfassung selbst an verschiedenen Stellen - der Personalunion von preußischem König und deutschem Kaiser, von preußischem Ministerpräsidenten und Reichskanzler - festgeschrieben war und sich in der Praxis als Hebel fur eine immer weiter ausgreifende Gesetzgebungstätigkeit des Reiches er-
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Neu gefasst durch Reichsgesetz vom 20.12.1873, RGBl. S. 379. Vgl. Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 1867-1933, 2002, S. 92 ff.; Kühne, NJW 1998, 1513 (1515). 22 So Dippel, Der Staat 38 (1999), 221 (227). 21
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wies. Auf dieser Grundlage wurden auf Reichsebene schließlich die zentralen Projekte zur Rechtseinheit vorangetrieben: Das Bürgerliche Gesetzbuch entstand, das Strafgesetzbuch, die großen Prozessordnungen, die verschiedenen Sozialversicherungsgesetze. Man kann auf diese Weise sagen, dass nahezu alle wichtigen Regelungen, die das politische Leben wie das Leben des Einzelnen bestimmten, Reichssache waren, während auf der anderen Seite selbst klassische Länderdomänen wie die Kultur in verschiedenen Konflikten - dem Kulturkampf, dem Streit um die „lex heinze" - ihrerseits unter Druck gerieten. 23 Unitarisierend wirkten schließlich die politischen Parteien, die sich von ihren Programmen wie von ihrer praktischen Tätigkeit her immer stärker auf den Einfluss und die Mitwirkung im Reich konzentrierten. Die föderale Akzentuierung der Verfassung stand damit, je weiter die Zeit voranschritt, mehr und mehr nur auf dem Papier.
II. Irritation und Diktatur In der Staatsrechtslehre blieb diese Diskrepanz zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit nicht verborgen und wurde spätestens um die Jahrhundertwende verstärkt thematisiert. 24 Weitgehend ausgeklammert blieb dabei aber die grundlegende Frage der Legitimation des Bundesstaats.25 Die Gründe lagen in der Vorherrschaft der positivistischen Methode im Staatsrecht, vielleicht auch in einer darin vorausgesetzten, aber erst später zur Sprache gebrachten „monarchistischen Befangenheit" 26 ihrer Protagonisten, die nur die Arbeit mit dem bestehenden Verfassungswerk zuließ. Im Zentrum der Überlegungen standen dementsprechend Fragen der Konstruktion und die Suche nach dem Sitz der Souveränität, in deren Gespinst sich die Staatsrechtslehre verfangen sollte „wie die Fliege im Gewebe der Spinne", 27 während sich auf der anderen Seite das Vorhandensein der bundesstaatlichen Ordnung als solcher weitgehend von selbst verstand: Sie sei, wie schon früh zu lesen war, den „realen Zuständen und praktischen Bedürfhissen" geschuldet.28 Nicht weniger galt allerdings auch die sorgfältig registrierte Unitarisierung der Mehrheit der Staatsrechtslehre als
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Vgl. Huber, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 1), § 4 Rn. 21. Etwa von Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, 1907; Laband, JöR 1 (1907), 1 ff. .Bornhak, AöR 26 (1910), 373 ff. 25 Vgl.//o/ste(Fn. 21), S. 257 ff. 26 Merkl, Schweizerische Juristenzeitung 1920, Heft 4. 27 So das berühmte Diktum von Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, 1889, S. VI. 28 Von Rönne, Das Verfassungsrecht des Deutschen Reiches, 1872, S. 31. 24
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tiefe geschichtliche Notwendigkeit. 29 Das Legitimitätsproblem blieb so der blinde Fleck der ganzen Debatte: Es stand und fiel mit dem Fortbestand der bisherigen Verfassungsordnung insgesamt; kam diese an ihr Ende, wurde auch das Legitimitätsproblem neu aufgeworfen. Diese Situation trat 1918/19 ein, als nach verlorenem Weltkrieg, Novemberrevolution und Sturz der Monarchie der Übergang zur demokratischen Republik vollzogen werden sollte. Mit ihm stand auch der Bundesstaat zur Disposition. Vor allem die Tradition, aus der er einst entstanden war, wurde mit ihren deutlichen Verbindungen zu Fürstenherrschaft und monarchischem Prinzip nun zu einem wesentlichen Argument gegen ihn. Von den die Revolution tragenden Parteien sprachen sich vor diesem Hintergrund namentlich die Sozialdemokraten, die schon im Kaiserreich betont unitarisch und zentralistisch aufgetreten waren, entschieden fur den Einheitsstaat aus, und auch bei konservativen Politikern wie Stresemann fand der Gedanke durchaus Sympathien.30 Dieses antiföderale Ressentiment speiste sich aus unterschiedlichen Motiven; teils war es die Sorge vor einer weiteren Schwächung der Zentralgewalt nach dem verlorenen Krieg, teils der vermutete und gerade aus der Eigenart des deutschen Bundesstaates erklärte Gegensatz zum demokratischen Prinzip. Dazu passte es, dass auch die viel beschriebene Demokratisierung und Parlamentarisierung des politischen Systems nach dem Ende der Kanzlerschaft Bismarcks fast ausschließlich auf der Reichsebene zu beobachten war, die für das unitarische Element stand, während die das föderale Element verkörpernden Einzelstaaten nach wie vor strikt monarchisch geprägt und von bisweilen gravierender verfassungspolitischer Rückständigkeit waren; das berüchtigte preußische Drei-Klassen-Wahlrecht lieferte dafür nur den sichtbarsten Beleg. Die Befürworter des Bundesstaates argumentierten demgegenüber nicht selten aus einem antipreußischen Affekt, der sich dann auch gegen jede Form von Zentralgewalt wendete.31 Eine Verbindung von Bundesstaat und Demokratie unter Hervorhebung seiner freiheitssichernden Funktion, wie sie für die amerikanische Verfassungstradition typisch ist, wurde demgegenüber kaum hergestellt; wo doch, geschah es eher unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip, also im Geiste der katholischen Soziallehre. 32 Der erste, maßgeblich von Hugo Preuß erarbeitete Entwurf für eine neue Reichsverfassung ging denn auch stark in die Richtung eines dezentralisierten Einheitsstaates mit den Ländern als freilich relativ autonomen Verwaltungsprovinzen; dazu sollte das Reich neu aufgeteilt, das zuvor übermächtige Preußen in
29 Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 50. Besonders markant in diesem Sinne Triepel (Fn. 24), S. 79 f. 30
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V g l . Holste (Fn. 21), S. 266 f., 275 f.
Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 5, 1978, S. 1015; zu weiteren Argumenten ebd., S. 960, 969, 972 f. 32 Vgl.//o/ste(Fn. 21), S. 275 f.
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mehrere Einzelteile zerlegt werden. 33 Auch wenn sich das am Ende nicht durchsetzen konnte, so blieb es doch nicht ohne Folgen. Bei äußerer Beibehaltung der bundesstaatlichen Strukturen mussten die Länder erhebliche Einbußen in ihrer Kompetenzausstattung hinnehmen. Die Gesetzgebungszuständigkeiten des Reiches wurden - unter Aufspaltung in die bis heute geläufigen Kategorien der ausschließlichen und der konkurrierenden Gesetzgebung - noch einmal erheblich ausgeweitet, die Finanzen des Reiches auf eine eigene Steuergrundlage mit eigenem Verwaltungsunterbau gestellt; im Bereich der Verwaltung wurde das Instrumentarium der Reichsaufsicht ausgebaut; die Befugnisse des organisatorisch durchaus nach dem Modell des bisherigen Bundesrates modellierten Reichsrates wurden auf ein suspensives Veto beschränkt, die Einwirkungsmöglichkeiten der Länder auf die Reichsgesetzgebung damit deutlich beschnitten. Das Ganze trägt auf diese Weise einen markant unitarischen Zug, der bereits im Akt der Verfassungsgebung deutlich hervortritt: Anders als der Norddeutsche Bund von 1867 und das Deutsche Reich von 1871 geht der durch die Weimarer Reichsverfassung konstituierte Staat nicht aus dem Zusammenschluss souveräner Einzelstaaten hervor, sondern aus einem souveränen Akt des pouvoir constituant und damit angesichts der revolutionären Gründung zuletzt aus der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Die Selbstständigkeit der Gliedstaaten liegt damit der neuen Verfassung nicht mehr voraus, sondern wird erst durch sie begründet und besteht nur nach ihrer Maßgabe: „Dass diese Republik eben nicht eine Vereinigung, ein Bund der deutschen Staaten ist, vielmehr der deutsche Staat die politische Organisation des einheitlichen deutschen Staatsvolkes ist und sein soll, das ist Grundlage und Leitgedanke der ganzen Reichsverfassung von Weimar." 34 Alles in allem war dieser „Bundesstaat ohne bündische Grundlage", wie Carl Schmitt nicht ohne Wahrheit formulierte, 35 ein eigenartiges Mischgebilde, nicht ganz Einheitsstaat, aber doch nicht weit davon entfernt, mit viel Skepsis jedenfalls gegen alles, was nach Kleinstaaterei und Partikularismus aussah. Dazu kam die Erblast der preußischen Hegemonie, die die Weimarer Reichsverfassung mit nur einigen Abstrichen von ihrer Vorläuferin übernommen hatte. Die Rechtsform des Reiches, sein Charakter als Bundesstaat, der in der Verfassung an keiner Stelle ausdrücklich festgelegt war, blieb deshalb die gesamte Weimarer Republik hindurch nicht unbestritten, 36 wie sich überhaupt der Streit um einen stärker unitarischen oder föderativen Staatsaufbau wie ein roter Faden durch ihre
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Frotscher, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band IV, 1985, S. 111, 113. Preuß, Reich und Länder, 1928, S. 3. 35 Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., 1993, S. 389. 36 Vgl. Thoma, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band I, 1930, S. 169, 170 f f , mit instruktiver Zusammenfassung der Debatte. 34
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gesamte Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte hindurchzieht. 37 Aus der Rückschau drängt sich dabei der Eindruck einer verbreiteten Unzufriedenheit mit den bundesstaatlichen Strukturen auf, zu der auch die häufigen Spannungen zwischen dem Reich und einzelnen Ländern, „pathologisch anarchische Erscheinungen", wie ein Beobachter formulierte, 38 beitrugen. Von „Irrationalitäten und Planlosigkeiten" war die Rede,39 von unnötiger Doppelverwaltung, Verschwendung und einem Übermaß an Parlamenten, Regierungen, Ministerien, Verwaltungsapparaten, 40 von der Notwendigkeit einer Verfassungs- und Reichsreform. 41 Einer Staatsrechtslehre, deren Generalthema in bewegten Zeiten die Einheit des Staates war, 42 konnte der Föderalismus trotz der in der Praxis weiter voranschreitenden Unitarisierung offenbar nur als latente Bedrohung erscheinen. Die meisten literarischen Stellungnahmen der Zeit weisen denn auch eine mehr oder weniger deutliche antiföderale, auf die Sicherheit jener Einheit bezogene Stoßrichtung auf, sei es in der Umfunktionierung des Prinzips der Bundestreue von einem Instrument zur Bewahrung der Länderstaatlichkeit zu einer Pflicht der Länder zur Einordnung in das Verfassungsgefiige des Reiches durch Gerhard Anschütz, 43 sei es in der Betonung der „substanziellen Homogenität" der Glieder des Bundes in der Verfassungslehre Carl Schmitts,44 sei es in der Integrationslehre Rudolf Smends, in der die Länder vorrangig als Objekt und Mittel der gesamtstaatlichen Integration erschienen. 45 Der einzig nennenswerte Versuch, den Ländern die Reste ihrer früheren Souveränität zu erhalten und sie theoretisch wie juristisch auf eine Stufe mit dem Reich zu stellen, datiert demgegenüber bereits aus der Frühphase der Republik; er stammt von Hans Nawiasky, der daraus später im Wechselspiel mit Kelsen die Lehre vom dreigliedrigen Bundesstaat entwickelte. 46 Aber alles in allem herrschte doch, namentlich zum Ende der Republik hin, eine unitarische Grundstimmung vor, in der das Bild eines funktionierenden Föderalismus allenfalls als ferne Utopie aufschim-
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Frotscher (Fn. 33), S. 112. Bilfingen VVDStRL 1 (1924), 35 (47). 39 Thoma (Fn. 36), S. 177, 184 ff. 40 Stier-Somlo, in: Harms (Hrsg.), Recht und Staat im Neuen Deutschland, Band 1, 1929, S. 249 (275). 41 Dazu Frotscher (Fn. 33), S. 130 ff. 42 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 3, 1999, S. 101 ff. 43 Vgl. Anschütz, in: Anschütz/Thoma (Fn. 36), S. 363 (368 f.). 44 Schmitt (Fn. 35), S. 363 ff. 45 Smend (Fn. 6), S. 223 ff. 46 Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, 1920, dort noch tendenziell gegen die Vorstellung eines dreigliedrigen Bundesstaates, ebd., S. 30. Explizit für die Dreigliedrigkeitslehre dann später ders., Allgemeine Staatslehre, Band 3, 1956, S. 159 ff.; ebenso Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 199 f. 38
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merte. 47 In der Realität setzten sich andere Kräfte durch: Mit dem PreußenSchlag vom 20.7.1932, einer auf Art. 48 WRV gestützten Notverordnung und zugleich einer von insgesamt vier Reichsexekutionen, wurde das Ende das Bundesstaates von Weimar eingeläutet, das dann durch die verschiedenen Gleichschaltungsgesetze der Nationalsozialisten und die Errichtung der Diktatur ebenso gewaltsam besiegelt wurde. 48 An dessen Stelle tritt nunmehr der totalitäre Einheitsstaat. Für den einen oder anderen Sympathisanten der Diktatur hatte sich damit bloß eine Entwicklung vollendet. 49
I I I . Erneuerung und Entleerung Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass dem Bundesstaat, überhaupt der Idee des Föderalismus die entscheidenden Sympathien nach 1945 gerade aus dem Gewaltakt der Gleichschaltung erwuchsen. Nach der Zerschlagung des nationalsozialistischen Einheitsstaates schien nun die Errichtung föderaler Strukturen das Gebot der Stunde. Die Motive und Wirkkräfte, die sich darin trafen, waren freilich unterschiedlich: hier das machtpolitische Interesse der Siegermächte, die während des Krieges noch die Aufspaltung („dismemberment") oder zumindest die Dezentralisierung Deutschlands geplant hatten, in jedem Fall aber ein Wiederaufleben der deutschen Bedrohung verhindern wollten; dort und sich damit verbindend das Geschichtsbild mancher zurückgekehrter Emi47
Besonders eindrucksvoll bei Thoma (Fn. 36), S. 177, mit einer eingeschobenen „grundsätzlichen Bemerkung über Unitarismus und Föderalismus": „Sie sind Gegensätze in unserer Zeit. Sie sind es nicht in der Idee! ... Denkt man sich ein Reich, das aus ca. einem Dutzend verständig umgrenzter, an Fläche und Volkszahl unter sich nicht allzu verschiedener Länder besteht; eine Kompetenzverteilung, welche in der Hand des Reiches alles vereinigt, dessen es bedarf, um die Einheit der nationalen Politik, Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung, Wehrkraft und obersten polizeilichen Vollzugsgewalt kraftvoll zu vollenden und zu verwalten, dafür aber diesen Ländern als großen Verwaltungskörpern belässt und zurückgibt, was irgend an Heimat-, Kultur- und Volkspflege, unterer Polizeigewalt und Finanzhoheit ohne Schaden für die nationale Einheit an diese großen Körperschaften (und durch sie an Gemeinden) zur Selbstverwaltung und Selbstverantwortung ausgetan werden kann, dann werden Unitarismus und Föderalismus zu Bundesgenossen. Ein lebendig aktives Staatsgefuhl in diesen Ländern wird dann zu einem reinen Aktivum des nationalen Lebens ..." usf. 48 Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 31.3.1933, RGBl. I S . 153; Zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 7.4.1934, RGBl. I S. 173; Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30.1.1934, RGBl. I S. 75. 49 Markant etwa die Stellungnahme von C. Schmitt: „Die deutsche Revolution hat in wenigen Tagen ein Stück Reichsreform geschaffen, das viele Jahrhunderte innerstaatlicher Zerrissenheit überwindet... Was nach dem Zusammenbruch des November 1918 in der Weimarer Verfassung versäumt und durch die Schwäche eines in diese Verfassung sich einnistenden ,Parteienbundesstaates4 noch weiter verdorben wurde, lässt sich jetzt heilen und wieder gut machen", so ders., Das Reichsstatthaltergesetz, 1933, S. 3.
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granten, die eine direkte Linie von preußisch geprägtem Zentralismus und Autoritarismus zu Hitler zogen; 50 schließlich eine Tradition, die, wiewohl mehrfach gebrochen, doch auf eine tiefsitzende Verankerung des Bundesstaates im kollektiven Gedächtnis der Nation hinzudeuten schien. Faktisch waren die Weichen in Richtung Bundesstaat zudem schon früh dadurch gestellt, dass vor allem in den westlichen Besatzungszonen und unter tatkräftiger Anleitung der Besatzungsmächte die Staatlichkeit insgesamt „von unten nach oben", also von den Kommunal- und Provinzialverwaltungen über die neu formierten Länder, errichtet oder wiedererrichtet wurde. Die Staatlichkeit der Länder lag damit der Staatlichkeit der Bundesrepublik wiederum voraus, so dass diese selbst folgerichtig wieder auf bündischer Grundlage, nämlich durch einen Akt des Zusammenschlusses der beteiligten Länder, errichtet wurde. Den Ministerpräsidenten kam damit im Prozess der Verfassungsgebung automatisch die Rolle einer Schaltstelle zu. Die vielzitierte Direktive des Dokumentes I der Frankfurter Dokumente, die zu installierende verfassungsgebende Versammlung solle „eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft", 51 traf so von vornherein auf geneigte Adressaten. Das Ergebnis war im Vergleich zur Weimarer Republik eine deutlich föderalere Ausrichtung, die schon im Namen des neuen Staates zum Ausdruck kommt. In Art. 20 Abs. 1 GG enthielt das Grundgesetz zudem die programmatische Festlegung der Bundesstaatlichkeit, die der Weimarer Reichsverfassung noch gefehlt hatte, nun aber über Art. 79 Abs. 3 GG zusätzlich noch mit unverbrüchlicher Geltung ausgestattet wurde. Dazu wurden die Mitwirkungsbefugnisse des Bundesrates an der Gesetzgebung des Bundes gegenüber dem Weimarer Reichsrat deutlich gestärkt und um die Kategorie der zustimmungspflichtigen Gesetze erweitert. Demgegenüber bewegten sich die Regelungen über das Verhältnis von Bundes- und Landesrecht (Art. 31 GG) und die Aufteilung der Zuständigkeiten - die Gesetzgebung mit der Erweiterung um die Kategorie der Rahmengesetzgebung überwiegend beim Bund, die Verwaltung überwiegend bei den Ländern - weitgehend in den eingefahrenen Gleisen der deutschen Verfassungstradition; in der Gesetzgebung waren dem Bund sogar noch mehr Materien zugeschlagen als dem Reich unter der Weimarer Verfassung. Allerdings war, nicht zuletzt aufgrund einer entsprechend Intervention der Alliierten, 52 gerade die Inanspruchnahme der besonders viele Materien umfassenden konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit nun in Art. 72 Abs. 2 GG zusätzlich von einem Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung abhängig gemacht: auch das ein zumindest rhetorisches Bekenntnis zum föderalen Prinzip. 50
Vgl. dazu Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, 2. Aufl., 1980, S. 92 ff. Wiedergegeben etwa bei Frotscher/Pieroth (Fn. 1), Rn. 720 f. 52 Vgl. Memorandum vom 2.3.1949, abgedruckt in: Bonner Kommentar, Band 1, Einleitung, S. 106 ff. 51
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Dies alles ließ sich plausibel als Lehre aus der Diktatur, als Zurückschwingen des Pendels nach dem faschistischen Zentralismus, als Kontrapunkt zum NSEinheitsstaat deuten, und so ist es in der Rückschau von der Verfassungsgeschichtsschreibung oft beschrieben worden. 53 Die ideelle Rechtfertigung des Bundesstaates schien sich dann zwanglos aus der durch das zwölQährige Intermezzo von 1933 bis 1945 bloß unterbrochenen historischen Tradition einerseits und den freiheitssichernden Effekten dezentraler Machtverteilung zu ergeben, wie sie schon von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay in den Federalist Papers so brillant beschworen worden waren. Allerdings war die Zustimmung zur bundesstaatlichen Organisation von Anfang an nicht ungeteilt und verbarg sich hinter der äußeren Einigkeit über das Prinzip als solches oft nur eine weitgehende Uneinigkeit über seine konkrete Gestalt.54 Insbesondere die Haltung der politischen Parteien, unter denen sich namentlich die Sozialdemokraten entsprechend den noch in London verfassten „Richtlinien fur eine deutsche Staatsverfassung" vom November 1945 für einen dezentralisierten Einheitsstaat nach französischem Vorbild ausgesprochen hatten,55 war in dieser Frage durchaus ambivalent. Auch nach Inkrafttreten des Grundgesetzes herrscht der Eindruck einer verbreiteten Unzufriedenheit vor: Den Föderalisten, die vor allem in den süddeutschen Ländern und im Lager der CDU/CSU saßen, war es zu unitarisch, den Zentralisten, die sich neben der SPD auch in der FDP fanden, zu föderal. Mit der Zerschlagung Preußens unmittelbar nach Kriegsende und der im wesentlichen den Grenzlinien der verschiedenen Besatzungszonen folgenden Neugliederung des Bundesgebietes hatten sich zudem auch große Teile des klassischen, an regionale und landsmannschaftliche Eigenheiten anknüpfenden Traditionsbestandes verflüchtigt. Schon wenige Jahre später scheint jedenfalls das Gefühl, der Bundesstaat verstehe sich als eine den deutschen Mentalitäten zutiefst angemessene Organisationsform nahezu von selbst, geschwunden und einer erneuten Unsicherheit über seine Berechtigung gewichen. Auch in der Staatsrechtslehre gingen die Bewertungen auseinander, wie sich beispielhaft an der rasch wieder aufflackernden Diskussion um die Staatsqualität der Länder zeigte. Während diese einer von Theodor Maunz angeführten Fraktion ebenso wie später dem BVerfG ganz unproblematisch erschien, 56 kritisierte etwa Nawiasky vom Standpunkt der von ihm vertretenen Dreigliedrigkeitslehre, dass das Grundgesetz schon in der Begrifflichkeit nicht sorgfältig genug zwischen dem
53 Solche und ähnliche Wendungen etwa bei Lange, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 2-3/1974, S. 2 ff.; Schmid , Erinnerungen, 1979, S. 376 ff.; Deuerlein, Föderalismus, 1972, S. 171 ff.; Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., 1987, S. 488 ff. 54 Vgl. etwa Kröger, NJW 1989, 1318 (1322); Oeter (Fn. 29), S. 99 ff., 103 ff. 55 Abgedruckt bei Antoni , Sozialdemokratie und Grundgesetz, Band 1, 1991, S. 303 ff., siehe dort auch S. 69 ff., 106 f., 157 ff.; ferner Schwarz (Fn. 50), S. 542 ff. 56 Vgl. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 1951, S. 116 ff.; die Position des BVerfG bereits in BVerfGE 1,14 (34, 50); seitdem ständige Rechtsprechung.
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Bund als Zentralstaat und dem Gesamtstaat aus Bund und Ländern unterscheide; damit, so meinte er, würden schon terminologisch die Weichen in Richtung auf die Konzeption des dezentralisierten Einheitsstaates gestellt.57 Noch weitergehend sprach Werner Weber vom „bloß fiktiven Charakter des föderativen Aufbaus der Bundesrepublik", innerhalb dessen auch die Staatlichkeit der Länder „eine bloß fiktive Größe" sei; im Grunde handele es sich bei Ihnen um wenn auch relativ autonome - Selbstverwaltungskörperschaften. 58 Auch in der damit verbundenen Frage nach dem Sitz der Souveränität, ebenfalls als Erblast aus der Weimarer Diskussion übernommen, ließ sich auf dieser Grundlage keine Einigkeit erzielen. In der Diskussion um die Zwei- oder Dreigliedrigkeit des Bundesstaates, im Nachhinein oft als Glasperlenspielerei abgetan, setzte sich demgegenüber alsbald und unter neuerlicher Rückendeckung durch das BVerfG auf breiter Front die Zweigliedrigkeitslehre durch, die mit ihrer klaren Hierarchisierung von Bund und Ländern ebenfalls von einem stark unitarischen Affekt geprägt ist. 59 Insgesamt wird auf diese Weise nach einer kurzen Phase des Nachdenkens doch das Kompromisshafte, Halbherzige des Votums fiir den Bundesstaat wahrgenommen, das unter seiner formaljuristischen Bekräftigung in Art. 20 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 3 GG mehr oder weniger deutlich durchschien. Dazu finden sich bereits in der Frühphase Klagen über „das System der Durchdringung, um nicht zu sagen der Verfilzung" zwischen Bundes- und Landesorganen und einer aus ihr resultierenden „Verwischung der klaren Verantwortlichkeiten". 60 Verstärkt wurde diese spürbare Verunsicherung in der Folge durch das ungebrochene Voranschreiten der Unitarisierung, das bereits Anfang der 60er Jahre von Konrad Hesse klug beschrieben und analysiert wurde. 61 Zusammen mit einigen anderen teils bereits in seiner Struktur und Geschichte angelegten, teils neueren Entwicklungstendenzen führte diese Unitarisierung schließlich zu einem grundlegenden Gestaltwandel des Bundesstaats, die seine heutige Wahrnehmung wesentlich bestimmt. 62 Von einem Gesetzgebungsföderalismus, als der anfangs immerhin noch in Grundzügen erkennbar gewesen sein mochte, hat sich dieser danach immer mehr auf einen reinen Verwaltungsföderalismus zu-
57 Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 35 ff. 58 Weber, Spannungen und Kräfte im deutschen Verfassungssystem, 1951, S. 65 (70 ff.). 59 So zutreffend Kisker, in: Probleme des Föderalismus, 1985, S. 23 f.; Oeter (Fn. 29), S. 386 f. Die Wendung zur Zweigliedrigkeitslehre in BVerfGE 13, 54 (78 f.). 60
Nawiasky (Fn. 57), S. 45. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, später abgedruckt in: ders. (Fn. 6), S. 116 ff. 62 Die Entwicklung ist oft beschrieben worden, vgl. etwa Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 348 ff.; Volkmann, DÖV 1998, 615 (616 ff.) m.w.N. 61
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bewegt, in dessen derzeitiger Zuständigkeitsverteilung die eigene Gesetzgebungstätigkeit der Länder auf einige wenige schmale Bereiche zurückgedrängt ist und vor allem die Landesparlamente gegenüber den Exekutiven dramatisch an Bedeutung verloren haben. Parallel dazu und teils als Entschädigung für die erlittenen Verluste ist der ursprünglich zumindest in Ansätzen vorhandene Selbstbestimmungs- zu einem Beteiligungsföderalismus umgebaut geworden, bei dem die Länder ihr politisches Gewicht in erster Linie in der Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung - in der Vergangenheit nicht selten auch ihrer Blockade - in die Waagschale werfen. 63 Auf der anderen Seite ist der separative, durch ein Nebeneinander abgeschotteter Rechts- und Verwaltungsräume gekennzeichnete Föderalismus spätestens mit der Reform der Finanzverfassung aus dem Jahre 1969 zu einem kooperativen Föderalismus umgestaltet worden, innerhalb dessen die einzelnen staatlichen Ebenen stark miteinander verflochten worden sind. 64 Im Windschatten dieser Verflechtung gingen die Länder auch in den ihnen noch zu eigenständiger Ausfüllung verbliebenen Regelungsbereichen zu einer Praxis der Selbstkoordination über, in deren Verlauf sich - vom Polizeiüber das Bau- bis hin zum Kommunalrecht - die verschiedenen Landesrechte sachlich immer mehr anglichen und der ursprünglich als Idee noch vorhandene Vielfaltsföderalismus einem neuen Typus des Homogenitätsföderalismus Platz gemacht hat. Als neuere Problemschicht kommt schließlich die Einbindung in das europäische Mehrebenensystem hinzu, mit der der klassische föderale Gedanke vom nationalen tendenziell in den übernationalen Bereich abwandert. All dies bewirkt eine weitgehende sachliche Entleerung des bundesstaatlichen Prinzips, das mehr und mehr nur noch wie eine äußere Hülle der Staatsorganisation erscheint, der nach innen aber schon keine greifbare Substanz mehr entspricht. Wie ein Spiegelbild dieser Entwicklung mag es insoweit wirken, dass in dem Ringen um eine angemessene Theorie des Bundesstaats bis heute keine nennenswerten Erkenntnisfortschritte erzielt worden sind. 65 Auch die Legitimität der bundesstaatlichen Ordnung gerät darüber wieder grundsätzlich in Zweifel, wie der nach der grundlegenden Schrift von Hesse nicht abreißende Strom von Veröffentlichungen zeigt, die gerade sie zum Thema haben.66 Diese Legitimität wird, wo man sich mit ihr beschäftigt, dann überwiegend in Gesichtspunkten der Funktionalität - einem komplementären Verhältnis zur Demokratie, den Erfordernissen dezentraler Problemlösung, den Möglichkeiten eines leistungsfördernden Wettbewerbs zwischen den Bundesländern - gesucht, ohne dass sich
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Begriff bei Böckenförde, Staat, Nation, Europa, 1999, S. 183 ff. Vgl. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971; ferner Hesse (Fn. 6), S. 148 ff. 65 So das zutreffende Fazit von Jestaedt (Fn. 1 ), Rn. 10. 66 Oeter (Fn. 29), S. 393 ff., dort auch mit dem zutreffenden Hinweis, dass in historisch verwurzelten, traditionsgeprägten Bundesstaaten die Frage in dieser Form überhaupt nicht existiert. 64
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indes im Patchwork der Legitimationen eine klare Linie erkennen lässt.67 Mit der in der Praxis zu beobachtenden Entleerung des bundesstaatlichen Gedankens häuften sich zudem gerade in den letzten Jahren die Klagen über das äußere Erscheinungsbild: über die Blockade von Bund und Ländern bei der Bundesgesetzgebung, über den Bedeutungsverlust der Landesverfassungen, 68 über den Niedergang des politischen Eigenlebens in den Ländern, über die zunehmende Politikverflechtung; 69 sie galten aber meist nicht dem Prinzip an sich, sondern nur seiner mangelhaften Verwirklichung, hinter der von ferne, ähnlich wie schon zum Ende der Weimarer Republik, erneut das Ideal eines kraftvollen, Einheit und Vielfalt glücklich verbindenden Bundesstaates durchschien.
IV. Kontinuität und Reform Es sind allerdings gerade diese sichtbaren Defizite, die etwa ab den 80er Jahren auch innerhalb der Staatsrechtslehre den Ruf nach einer grundlegenden Reform des föderalen Systems laut werden ließen. Gerade dort, wo sie bloß als Verfallserscheinungen, als Verkehrungen einer in ihrem ursprünglichen Gehalt nach wie vor guten Sache, wahrgenommen werden, zielten solche Rufe dann oft auf eine grundlegende Umkehr, auf Reföderalisierung durch Aktivierung politischen Eigenlebens in den Ländern, Rückübertragung substanzieller Gesetzgebungskompetenzen, eigene und verbesserte Steuererhebungsrechte der Länder. 70 Vor allem die Wiedervereinigung im Jahre 1990, die sich juristisch in den organisatorischen Strukturen des Bundesstaates vollzog, führte dem Föderalismus vorübergehend neuen Schub zu, der auch die Hoffnung auf eine durchgreifende Verfassungsreform in diese Richtung nährte. 71 Was die Gemeinsame Verfassungskommission von Bund und Ländern dann allerdings an Reformvorschlägen präsentierte, war von vornherein nur noch ein „minimalistischer Restbestand'4 dessen, was zuvor an möglichen Veränderungen diskutiert worden
67 Überblick und Analyse etwa bei Kisker (Fn. 59), S. 23 ff.; Kimminich, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band I, 1987, § 26 Rn. 22 ff. 68
Stellvertretend insoweit das Diktum von Isensee, VVDStRL 46 (1988), S. 120 f.; siehe ferner Bryde, in: FS 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, S. 434 ff. 69 Grundlegend Scharpf Die Politik-Verflechtungsfalle, 1985. 70 Stellvertretend für diese Richtung von Arnim, Staat ohne Diener, 1993, S. 344 ff.; Arndt/Benda, ZRP 2000, 201 f f ; zusammenfassend etwa von Arnim/Färber/Fisch (Hrsg.), Föderalismus - Hält er noch was er verspricht?, 2000. Im Bereich der Finanzautonomie ist vor allem die Einführung eines Hebesatzrechtes bei der Einkommensteuer in der Diskussion, vgl. in diesem Sinne die Referate von Waldhoff und Hey, VVDStRL 67 (2007). 71
Vgl. Schneider, NJW 1991, 2448 ff.
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war. 72 Von ihnen hat im Grunde nur die Verschärfung der Anforderungen an die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes in Art. 72 Abs. 2 GG einige, freilich erst durch die Rechtsprechung des BVerfG tatkräftig beförderte Bedeutung erlangt. 73 Letzten Endes triumphierte damit auch hier noch einmal die unitarische Logik, die sich, über rund 150 Jahre Verfassungsgeschichte hinweg gesehen, als die prägende Konstante des deutschen Bundesstaats erweist. 74 In der Bilanz ergibt diese Entwicklung damit doch ein recht eindeutiges Bild. Zu ihm gehören auf der einen Seite einige beharrende, die verschiedenen Umbrüche überdauernden Momente: die föderale Prägung als solche, einzelne Elemente wie die vorrangige Ressortierung des Gesetzesvollzugs bei den Ländern und deren gouvernementale Repräsentanz auf Reichs- bzw. Bundesebene, dies alles ergänzt um Homogenitätsklauseln und Bundestreue. Auf der anderen Seite herrscht doch der Eindruck einer permanenten Reformbedürftigkeit vor, einer latenten, aber durch alle, auch die gemäßigten Verfassungsepochen hindurch immer wieder zum Vorschein kommenden Unzufriedenheit mit der konkreten Ausgestaltung, die dann in der Folge beinahe zwangsläufig zu beständigen Korrekturen, Umbauten und Revisionen fuhrt: der Föderalismus als Dauerbaustelle des politischen Systems. In dieser permanenten Reformbedürftigkeit nimmt, bei allem durchaus vorhandenen Wechsel zwischen stärker föderalen und stärker unitarischen Phasen, das Gewicht der Zentrale zu Lasten der Glieder ständig zu, werden die den Ländern verbliebenen Zuständigkeiten vor allem im Bereich der Gesetzgebung immer weiter ausgedünnt, schwinden die Fundamente einer eigenen Staatlichkeit der Länder auf einen immer schmaleren Rest zusammen. Auch die den Bundesstaat tragenden Ideen verlieren sich damit, so wie man überhaupt der Rede von einer eigenen Länderstaatlichkeit kürzlich nicht ohne Wahrheit bescheinigt hat, dass sie in der Verfassungsrealität nun endgültig gar keine Stütze mehr finde und heute im Wesentlichen nur noch symbolische Funktionen erfülle. 75 Blickt man von hier auf die von vornherein mit hohen Erwartungen befrachtete Föderalismusreform des Jahres 2006, so erweist sich ihr Ansatz als ein von vornherein begrenzter: Entsprechend ihrer eingangs der Gesetzesbegründung vorgestellten Prämisse, die bundesstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik habe sich grundsätzlich bewährt, sei jedoch geprägt von langwierigen und komplizierten Entscheidungsprozessen und leide an einer übermäßigen institutionellen Verflechtung von Bund und Ländern, 76 beschränkt sie sich weitgehend auf den
72 Oeter (Fn. 29), S. 370; der Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission in BT-Drs. 12/6000. 73 Vgl. grundlegend BVerfGE 106, 62 ff.; 111, 226 ff.; 112, 226 ff. 74 Siehe dazu zuletzt Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 375. 75 Möllers (Fn. 74), S. 373 ff. 76 BT-Drs. 16/813, S. 7.
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Versuch der Behebung einiger elementarer Missstände oder Funktionsstörungen, ohne indessen den großen Wurf, sei es in die eine, sei es in die andere Richtung zu wagen. In diesem Sinne wird der Hebel vor allem bei der Korrektur des Beteiligungsföderalismus angesetzt, dessen Wucherungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu einer weitgehenden Handlungsunfähigkeit des Bundes auf zentralen Politikfeldern gefuhrt und damit maßgeblich zur Delegitimation der bundesstaatlichen Ordnung beigetragen hatten. Erreicht werden soll dies im wesentlichen durch eine Neufassung des Art. 84 Abs. 1 GG, nach der bundesgesetzliche Regelungen der Behördeneinrichtung und des Verwaltungsverfahrens künftig nicht mehr der Zustimmung des Bundesrates bedürfen; davon erhofft man sich in etwa die Halbierung der Zahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze von derzeit über 60 auf rund 30 %. 7 7 Der Preis dafür liegt in der den Ländern durch Art. 84 Abs. 1 gleichzeitig eingeräumten Abweichungsbefugnis, die in ihrem Anwendungsbereich den herkömmlichen Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht" aufhebt und ihn durch den an sich nur fiir Regelungen desselben Hoheitsträgers geltenden Grundsatz „lex posterior derogat legi priori" ersetzt. 78 Die Einschränkung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder an der Willensbildung des Gesamtstaats wird damit kompensiert durch eine Stärkung ihrer Rolle bei der Ausführung der Gesetze, durch die der Bundesstaat im Ergebnis noch stärker auf das schon bisher prägende Modell eines Verwaltungsbzw. Vollzugsföderalismus hingeordnet wird. In dieselbe Richtung wirkt auch die Aufhebung des bisherigen Art. 74 a GG, mit der die Gesetzgebungskompetenz für die Besoldung der Landesbeamten wieder auf die Länder verlagert wird: Die darin nach außen hin liegende Erweiterung der Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder kommt faktisch ausschließlich wieder ihrer Rolle im Vollzugs· bzw. Verwaltungsbereich zugute. Soweit es um politische Gestaltung im eigentlichen Sinne geht, halten sich die Zugewinne der Länder demgegenüber in doch überschaubaren Grenzen. Die bisherige Rahmengesetzgebung nach Art. 75 GG, mit deren Hilfe der Bund die Gesetzgebungstätigkeit der Länder inhaltlich steuern konnte, wird zwar abgeschafft, der Großteil der von ihr erfassten Materien nun aber der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes zugeschlagen, wobei den Ländern dann wieder ein - in der Sache erneut problematisches - Abweichungsrecht eingeräumt wird (vgl. Art. 72 Abs. 3, 74 Abs. 1 Nr. 2733). 79 Ansonsten ist den Ländern im Bereich der Gesetzgebung nur wenig von 77
Die Gesetzesbegründung gibt einen Anteil von künftig 35 bis 40 % an, vgl. BTDrs. 16/813, S. 14 f.; die Ausarbeitung „Zustimmungsgesetze nach der Föderalismusreform" des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 15.5.2006 kommt zu deutlich geringeren Werten, vgl. dort S. 3. 78 Durch den Verweis auf Art. 72 Abs. 3 S. 2 und 3 in Art. 84 Abs. 1 S. 3 GG, vgl. BT-Drs. 16/813, S. 11 f., 15. 79 Anders liegt es lediglich im Bereich des Hochschulrechts, fiir das dem Bund früher eine allgemeine Rahmengesetzgebungskompetenz zustand; insofern bleibt ihm aber nun die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für die Hochschulzulassung und die
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Gewicht zugeschlagen: ein bisschen Gefahrenabwehrrecht hier, 80 etwas Gewerberecht dort, 81 ansonsten so wenig aufregende Materien wie das landwirtschaftliche Grundstückswesen oder der Freizeit- und Sportstättenlärm. 82 Wie wenig an zusätzlichen Handlungsspielräumen damit gewonnen ist, zeigt beispielhaft die neue Kompetenz für das Versammlungsrecht, bei deren Ausübung sich die Länder angesichts der engen verfassungsgerichtlichen Vorgaben im wesentlichen wohl auf eine Kopie des bisherigen Versammlungsgesetzes des Bundes beschränken werden müssen. Auch in anderen Bereichen dürften die Gestaltungsspielräume der Länder begrenzter sein, als es die aufgeregte Diskussion über ihre jeweilige Zuweisung vermuten lässt.83 Andererseits ist der Bund nunmehr durch die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG für die Mehrzahl der Fälle des Art. 74 GG vom Nachweis eines Erfordernisses bundeseinheitlicher Regelung befreit. Statt einer konkurrierenden Gesetzgebung von Bund und Ländern besteht in diesen Fällen nunmehr endgültig eine nur noch subsidiäre Zuständigkeit der Länder für den Fall, dass der Bund von seinem Zugriffsrecht keinen Gebrauch macht: ein Schritt zurück noch hinter die Reform von 1994. All dies fügt sich, so groß auch der Aplomb gewesen sein mag, mit dem es ins Werk gesetzt wurde, nahtlos ein in die Entwicklung, die der Bundesstaat in Deutschland seit seiner Gründung genommen hat. Die Unitarisierung, der beherrschende Grundzug dieser Entwicklung, wird nicht wesentlich angehalten, geschweige denn rückgängig gemacht, das Übergewicht der Zentrale über die Glieder durch die Zurückdrängung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder bei der Bundesgesetzgebung, das eigentliche Ziel der Reform, sogar noch verstärkt. Die Reduktion des deutschen Föderalismus auf einen reinen Verwaltungsföderalismus, in dem die Länder nur noch als eine Art bessere Regierungspräsidien fungieren, tritt dadurch immer klarer hervor. Wo demgegenüber einzelne Korrekturen vorgenommen worden sind, sind sie, wie schon in der Vergangenheit, ganz unter Gesichtspunkten der Funktionalität vorgenommen, in pragmatischem Zugriff auf die Einzelprobleme, während die größere Frage nach dem Sinn einer bundesstaatlichen Ordnung unter in vieler Hinsicht veränderten Ausgangsbedingungen ausgeblendet bleibt. Im Spiegel der Geschichte wie auch angesichts der zuvor in der Wissenschaft diskutierten Alternativen stellt sich die
Hochschulabschlüsse (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 GG). Ebenfalls den Ländern zugeschlagen ist die bisherige Rahmenzuständigkeit des Bundes für die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse nach Art. 75 Abs. 1 Nr. 2 GG a.F.; von dieser hatte der Bund allerdings auch noch gar keinen Gebrauch gemacht. 80 Versammlungsrecht, vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 a.F. GG. 81 Ladenschlussrecht, Gaststättenrecht etc., vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG. 82 Vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 und 24 GG jeweils in a.F. und n.F. 83 Das gilt etwa für die gegen den Rat aller Experten erfolgte Zuweisung der Gesetzgebungszuständigkeit für den Jugendstrafvollzug an die Länder, siehe dazu nunmehr BVerfG, NJW 2006, 2093 ff.
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Reform damit als eine von vornherein kompromisshafte, kleinere Lösung dar, der voraussichtlich bald weitere Nachbesserungen und weitere Reformen folgen werden. Das gilt etwa von der durch Art. 72 Abs. 3 eröffneten Befugnis der Länder, von bundesgesetzlichen Regelungen in den dort genannten Feldern durch eigene Regelungen abzuweichen, denen der Bund dann seinerseits eine weitere Regelung hinterherschieben kann, von der die Länder dann wiederum abweichen können und so fort. Insoweit ist nicht zu Unrecht im Vorfeld von einem „Ping-Pong-Effekt" gesprochen worden; 84 es ist jedenfalls eine Ermächtigung, die ersichtlich darauf angelegt ist, dass die Beteiligten von den Möglichkeiten, die sie eröffnet, keinen Gebrauch machen. Die Reform der Finanzverfassung, eine weitere Herkulesaufgabe, steht ohnehin noch aus; obwohl bereits als zweite Stufe der Föderalismusreform angekündigt, ist bislang nicht einmal in Ansätzen erkennbar, wie sie konkret aussehen könnte. So wird voraussichtlich auch in der Zukunft die Arbeit auf der Baustelle Bundesstaat nicht ausgehen. Was in alledem aber überhaupt nicht zu sehen ist, ist eine Idee, gar eine Vision davon, wie eine mehr als nur so funktionierende bundesstaatliche Ordnung aussehen könnte. Auch die Legitimitätsfrage, die Frage nach dem Woraufhin und Wozu einer solchen Ordnung, bleibt auf diese Weise ausgeblendet; im Gegenteil kennzeichnet es die Beratungen über die Reform, dass sie kein einziges Mal auch nur ernsthaft gestellt worden wäre. So bleibt die Fortbildung des Bundesstaates weiter ohne Richtung und Ziel. Vielleicht liegt dann gerade darin die wesentliche Erkenntnis der geschichtlichen Betrachtung: dass sie zeigt, wie sehr der bundesstaatlichen Ordnung im Laufe ihrer Entwicklung die Klarheit über diese Richtung und dieses Ziel abhanden gekommen ist.
84 Vgl. Ipsen, NJW 2006, 2801 (2805), für die parallele Regelungstechnik in Art. 84 Abs. 1 GG.
Β. Verfassungsrecht und Verfassungspolitik
Gerechtigkeit, streitige Rechtsfälle und unstreitige Unrechtsfälle Von Winfried Brugger I. Anwendungsbereich und Kriterien von Gerechtigkeit Gerechtigkeitsurteile, die Menschen im Hinblick auf Abtreibung, progressive Besteuerung, Geschlechtergleichbehandlung usw. fällen, teilen bestimmte Merkmale. Sie betreffen nicht das Verhältnis des Menschen zu sich selbst oder das Verhältnis des Menschen zur Natur, sondern beziehen sich entweder direkt auf zwischenmenschliches Verhalten oder aber auf die Normen und Normensysteme, die zwischenmenschliches Verhalten zu leiten beanspruchen,1 also z.B. Rechtsnormen und Rechtssysteme.2 Neben Gerechtigkeitsurteilen können über menschliche Handlungen und Normen bzw. staatliches Verhalten auch noch andersartige Urteile gefällt werden, etwa im Hinblick auf Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte, Wohlfahrts- und Machtaspekte oder ästhetische Kriterien. Was ist demgegenüber das Spezifikum von Gerechtigkeitsurteilen? Gerechtigkeit impliziert einen Maßstab, der im Verhältnis der Menschen zueinander und ihrer Ordnungen auf ein angemessenes Verhältnis von Geben und Nehmen, von Fordern und Verweigern abzielt. Ihr Ziel ist die wohlproportionierte Verteilung der Güter und Lasten, der Vor- und Nachteile innerhalb einer jeweils gegebenen Gemeinschaft. 3 1 Je nach dem das konkrete Gerechtigkeitsurteil leitenden Maßstab und dessen Reichweite handelt es sich dann entweder um eine Tugendlehre (Person - Person) oder eine Rechtslehre (Person - Recht - Person). Bezogen auf die einzelnen Menschen bzw. deren konkrete intersubjektive Taten, ist Gerechthandeln eine Individualtugend, vielleicht sogar die höchste Individualtugend, jedenfalls aber nicht die einzige Tugend. Daneben können (sollen) Tugenden treten wie (etwa) Wohlwollen, Freundschaft, Mitleid, Liebe, Weisheit, Tapferkeit. Vgl. Sauter, Artikel Gerechtigkeit, in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., 1987, Sp. 1074, 1078; Höffe, Artikel Gerechtigkeit, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., 1987, Band II, Sp. 895 f. Noch ausdifferenzierter Tschentscher, Artikel Gerechtigkeit, in: Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe 2006, Sp. 724 ff. 2 Vgl. Dreier, Recht und Gerechtigkeit, in: Grimm (Hrsg.), Einführung in die Rechtswissenschaft, 1985, S. 98. 3 Vgl. Dreier (Fn. 2); Finnis, Natural Law and Natural Rights, 1980, S. 161 ff., spricht von drei Elementen: other-directedness, duty, equality im Sinn der Proportionalität oder Balance. Vgl. auch Höffe (Fn. 1), Sp. 895; Hegel, Rechtsphilosophie, § 244, Zusatz: „gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird"; Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1129 a 1 ff., spricht von „Mitte", „Proportionalität" und „Gleichheit".
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Winfried Brugger
Was aber ist das Kriterium der angemessenen, gerechten, wohlproportionierten Verteilung der Vorteile und Lasten? Nach traditioneller und oft zitierter Auffassung soll jeder das Seine tun und das Seine erhalten. Mit dieser platonischen Formel 4 verbinden sich drei Probleme: Zunächst verweist die Anwendung dieser Formel auf den jeweiligen geschichtlichen Kontext , aus dem in concreto zu bestimmen ist, was das Seine ist: Das dem Bürger Zustehende ist in einem archaischen Gemeinwesen anders zu bestimmen als in einer mittelalterlich-feudalistischen Gesellschaft; die moderne bürgerliche Gesellschaft wird noch einmal andere Akzente setzen.5 Weiterhin ist auch in einer gegebenen Kultur - zumal in der modernen Gesellschaft - mit pluralistischen und konkurrierenden Ausdeutungen der Gerechtigkeitsidee zu rechnen: Es wird etwa zu einem Kampf der Meinungen kommen über das legitime Ausmaß einer progressiven Besteuerung, in dem sich unterschiedliche Parteien gegenüberstehen.6 Schließlich wird Art und Umfang dessen, was eine Gemeinschaft ihren Mitgliedern schuldet, von der jeweiligen Art der Vergemeinschaftung und entsprechend dem spezifischen Rechtsbereich abhängen.7 Als Käufer schulde ich meinem Verkäufer den Kaufpreis, er schuldet mir die Übergabe und Übereignung der Sache; als Vater schulde ich meinen Kindern Fürsorge, sie schulden mir Achtung und Respekt; als Beamter schulde ich dem 4 Vgl. Plato , Politela, IV, 433 a. Plato spricht davon, dass „das Seinige [zu] tun" sei. Weitergedacht gilt diese Formel auch fiir das, was einem als das Seinige zusteht. In diesem beidseitigen Sinn verwendet der spätrömische Jurist Ulpian die Formel: ,justitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi", zitiert nach Sauter (Fn. 1), Sp.
1077, und Tschentscher
(Fn. 1), Sp. 726.
5
Vgl. Aristoteles (Fn. 3) 1131 a 22 ff.: „Daher kommen die Streitigkeiten und Prozesse, dass entweder Gleiche Ungleiches oder Ungleiche Gleiches erhalten. Dies ergibt sich aus dem Moment der Würdigkeit, denn alle stimmen darin überein, dass das Gerechte auf einer bestimmten Würdigkeit beruhen müsse. Doch diese Würdigkeit gilt nicht für alle als dieselbe, sondern die Demokraten sehen sie in der Freiheit, die Oligarchien im Reichtum, andere in der Adligkeit und die Aristokraten in der Tugend." Weitere Beispiele bei Radbruch , Rechtsphilosophie, Studienausgabe, 2. Aufl., 2003, § 9, S. 77; Schmitt , Nehmen, Teilen, Weiden, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 2. Aufl., 1973, S. 489 ff.; Weber , Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., 1972, S. 17 ff., 822, zu den unterschiedlichen Legitimitätsgründen. 6 Das Pluralismusproblem hat schon Aristoteles angesprochen. Siehe die vorige Fn. Zum „Kampf der Meinungen" vgl. meinen gleichnamigen Aufsatz in: Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, 1999, § 19, und zum Parteienpluralismus vgl. Art. 21 GG. 7 Auch diesen Punkt hat schon Aristoteles gesehen: Das, was die politische Gemeinschaft dem Bürger zukommen lässt, kann sich beziehen auf „Ehre, Geld" und die „anderen Dinge" (Fn. 3), 1130 b 31. Siehe auch Selznick , Law, Society, and Industrial Justice, 1969, S. 184: „what is sensed as just depends not only on the broad historical context but also on the specific social setting within which deprivation is experienced and aspiration is quickened. Legitimate expectations differ in the family, in the church, in the corner gang, in the factory, in the army - and within each of these as variations in the requirements of group survival and achievement, and differences in the meaning of the group for the person, are given their proper weight"; Walzer , Spheres of Justice, 1983.
Gerechtigkeit, streitige Rechtsfalle und unstreitige Unrechtsfälle
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Staat den vollen Einsatz meiner Person, er schuldet mir Besoldung und Versorgung; der Staat hat meine grundrechtlichen Freiheiten zu achten, ich schulde ihm Gesetzesgehorsam. Die Konkretisierung der „Jedem das Seine"-Formel muss also über die Schritte einer (1.) geschichtlichen, (2.) kulturellen und (3.) (rechts-)bereichsspezifischen Determinierung geschehen. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung haben schon Aristoteles und Thomas von Aquin gemacht, die die platonische Formel des „Jedem das Seine" fur das Staat-Bürger- und Bürger-Bürger-Verhältnis ausdifferenziert haben.8 Im Verhältnis politische Gemeinschaft-Bürger geht es um die austeilende Gerechtigkeit, die nach Aristoteles noch von der unterschiedlichen Würdigkeit der einzelnen Gesellschaftsmitglieder auszugehen hat; dies ist die Ebene der iustitia distributiva , die insbesondere die Rechte und Pflichten der Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft regelt. Im Verhältnis der Bürger untereinander geht es dagegen um die ausgleichende Gerechtigkeit. Freiwillige, vertragliche, und unfreiwillige - nach heutigem Sprachgebrauch deliktische und strafrechtlich bewehrte - Leistungs- und Güterverschiebungen müssen durch eine gleichrangige Gegenleistung wettgemacht, quasi wieder ins Lot gebracht werden; das ist die Ebene der Austauschgerechtigkeit, der iustitia commutativa bzw. im Verletzensfall: der iustitia restitutiva und iustitia vindicativa. Bei einer Durchsicht der zur Erläuterung der „Jedem das Seine"-Formel ins Spiel gebrachten Gerechtigkeitskriterien begegnet man einer noch größeren Vielfalt von Formeln. Abgehoben wird etwa9 auf „Jedem das Gleiche", „Jedem nach seiner Natur", „Jedem gemäß seinem Rang", „Jedem gemäß seiner Leistung" oder umgekehrt: „seinem Bedürfnis", „Jedem nach freier Wahl" usw. Diese Formeln mögen auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität haben. Ihre konkrete Brauchbarkeit ist allerdings erst zu beurteilen, wenn geklärt ist, für welche Art von Gemeinwesen und welche Vergemeinschaftungsform sie in Anspruch genommen werden. Und selbst wenn wir wissen, von welchem konkreten Bereich wir sprechen und welche Gerechtigkeitskriterien für ihn überhaupt relevant werden können, müssen wir Schwierigkeiten, nämlich unterschiedliche Ausdeutungen und Gewichtungen des oder der einschlägigen Kriterien gewärtigen. Ist es etwa gerecht, dass ein Musikstar pro Tournee Millionen Euro verdienen kann? Die Beantwortung dieser Frage hängt zunächst von dem hier ein8 Vgl. Aristoteles (Fn. 3), 5. Buch, insbesondere 1130 b 30 f f , und von Aquin, Summa theologica, 1 1-11, 57, 58. Aristoteles spricht das Problem der Ausdifferenzierung ausdrücklich als ein solches der „Vieldeutigkeit" des Begriffs an: a.a.O., 1129 a 24 ff. Zu den im Text angesprochenen Rechtsbereichen näher Finnis (Fn. 3), Kap. V I I ; Hart, The Concept of Law, 1961, Kap. V I I I 1; Dreier (Fn. 2), S. 102 ff. 9
Vgl. die Nachweise bei Walzer (Fn. 7), S. 21 ff.; Nozick. , Anarchie, Staat und Utopia, 1976, S. 146 ff.
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schlägigen Rechtsgebiet und, weitergedacht, Gerechtigkeitsprinzip ab. Da wir uns hier im Bereich privatrechtlicher Koordinierung individueller Willen bewegen, ist gegen das über vertragliche Abschlüsse erzielte Einkommen nichts vorzubringen. 10 Vom Standpunkt der formalen Gleichheit der Vertragspartner und der prozeduralen Gerechtigkeit lässt sich, sofern keine Zwangslagen ausgenutzt oder Täuschungen eingesetzt werden oder ähnliche Verzerrungen der privatrechtlichen Austauschebene vorliegen, ebenfalls nichts Illegitimes gegen die fürstliche Belohnung vorbringen. 11 Ist das Entgelt aber der Sache nach gerecht? Steht es in einem ausgewogenen Verhältnis zur gebotenen Leistung? Hat der Musikstar es „verdient", so viel Geld zu bekommen? Das hängt davon ab, ob seine Stimme, diese natürliche, wenn auch trainierte Gabe, als etwas anzusehen ist, das ihm zu Recht Vorteile gegenüber allen anderen musikalisch nicht so Begabten bringt. Das wird streitig sein. Man könnte die Meinung vertreten, alle natürlichen Gaben wie Intelligenz, Schönheit, Charme etc. seien willkürlich und könnten keine ungerechten Ausgangslagen rechtfertigen; deswegen bedürfe es sozialstaatlicher Ausgleichung der natürlichen Unterschiede. 12 Man könnte umgekehrt auch sagen, zwar seien natürliche Talente nicht „verdient", aber deswegen noch lange nicht willkürlich, sondern ein Teil der persönlichen Identität, die sich nicht von vornherein „sozialisieren" lasse; deswegen seien die Einkünfte, die sich mit den Talenten auf dem Markt erzielen lassen, zu Recht erworben. 13 Das hohe Einkommen des Musikstars wird in den meisten Staaten und auch in Deutschland progressiv besteuert. Ist die sozialstaatlich motivierte, progressiv ansteigende Besteuerung der Einkommen gerecht? Soll, muss den besser Verdienenden (mehr) Geld genommen werden, um es den weniger gut Verdienenden zugute kommen zu lassen? Das hängt davon ab, was die staatlich organisierte Gemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland ihren schwächeren Mitgliedern als „das Ihrige" schuldet. Verfassungsrechtlich können und müssen wir uns auf das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs.
10
Vgl. §611 BGB. Vgl. z.B. §§ 123, 138 BGB und zu den Ebenen der formalen, prozeduralen (und substanziellen) Gerechtigkeit näher Unger , Knowledge and Politics, 1975, S. 186 f. 12 Diese Position vertritt Rawls in seinem Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit", 1975, S. 23, 32, 36, 344 ff. - Dieses Argument gilt, falls man es akzeptiert, nicht nur fur die angesprochene „natürliche Lotterie", sondern ebenso für die „familiäre Lotterie" (Aufwachsen in einer der Entwicklung des Kindes förderlichen oder hinderlichen Familie), die „soziale Lotterie" (Aufwachsen in einer Unter-, Mittel-, Oberschichtsfamilie) und die „kulturelle Lotterie" (Aufwachsen in einer Kultur, die das zufällig ererbte Talent belohnt oder nicht belohnt). Zu diesen „Lotterien" näher Pinkard , Democratic Liberalism and Social Union, 1987, S. 39 ff. 11
13
197 ff.
Diese Gegenposition vertritt Nozick (Fn. 9), Kap. 7, Abschnitt 2, insbesondere S.
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1) berufen, das auf soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit abhebt,14 aber das Gerechtigkeitsurteil kann über die Ebene des positiven Rechts hinausgehen. So könnte ein Gegner sozialstaatlicher Besteuerung unter Rekurs auf die Nichtwillkürlichkeit natürlicher Talente die Ansicht vertreten, zum einen komme es bei privatrechtlichen Austauschakten auf den freien Willen der Betroffenen an; zum anderen gebe es fiir den Staat gar nichts zu verteilen, da der jeweilige Verdienst aller Verdiener ja schon „verdient", das heißt gerecht erworben sei - eben über vertragliche, marktmäßig vermittelte Leistungsbeziehungen.15 Der Gerechtigkeitsgedanke erschöpfe sich mit anderen Worten in der historischen, prozessualen, nach hinten auf die konkreten Tauschakte blickenden Fragestellung: Ist der Erwerbsakt rechtmäßig? Falls ja, wäre dann auch die daraus resultierende Güterverteilung gerecht. 16 Weiter gehende, von vorne, vom Ergebnis der (oft ungleichen) Güterverteilung her argumentierende Gerechtigkeitskriterien (die etwa auf Bedürftigkeit abheben) gibt es dann nicht. Ist dies eine abwegige Ausdeutung von Gerechtigkeit? Sicher nicht abwegig, wenn auch bei uns nicht konsensfähig und vom Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes her ausgeschlossen. Genauso wenig konsensfähig und ebenfalls grundgesetzwidrig wäre aber eine Ausdeutung von sozialer Gerechtigkeit, die exklusiv oder primär auf den Gedanken der Bedürftigkeit abstellte und die Kriterien von Einsatz, Leistung und privater Koordination gänzlich oder doch weitgehend vernachlässigte. 17 Was in diesem Bereich und für unser Gemeinwesen offensichtlich die breiteste Zustimmung finden könnte, wäre eine Konzeption von sozialer Gerechtigkeit, die die Elemente von Leistung, Einsatz und freier Wahl auf der einen Seite und Bedürftigkeit auf der anderen Seite berücksichtigt 18 und in ein näher zu bestimmendes Verhältnis setzt; der Streit der Rechtsgenossen wäre damit beschränkt auf das graduelle Gewicht der konkurrierenden Momente.
14 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl., 1984, § 21, insbesondere S. 890, und § 1 Abs. 1 S. 1 SGB-AT: „Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten." 15
Diese These vertritt Nozick (Fn. 9), in Kap. 7 Abschnitt 1. Vgl. neben Nozick (Fn. 9), a.a.O., etwa Hobbes, Leviathan, ed. Fetscher, 1966, Kap. 15, S. 110: „Wurde ... ein Vertrag geschlossen, so ist es ungerecht, ihn zu brechen, und die Definition der Ungerechtigkeit lautet nicht anders als ,die Nichterfüllung eines Vertrages'. Und alles, was nicht ungerecht ist, ist gerecht." 16
17 Verfassungsrechtlich ergibt sich dies aus der negativen Abwehrdimension der Art. 2, 9, 12 und 14 GG, die funktionell dem Leistungs-, Einsatz- und Privatinitiativgedanken einen Handlungsspielraum und eine Belohnungschance eröffnen. 18 Das ist auch die verfassungsrechtlich erforderte Lösung, wie sich aus dem Postulat der Konkordanz der Verfassungswerte von sowohl grundrechtlichen Abwehrrechten wie auch Sozialstaatlichkeit ergibt.
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II. Die Verschränkung von unstreitiger Idee und streitiger Konzeption der Gerechtigkeit und ihre Umsetzung in der Verfassung Was das Beispiel sozialstaatlicher Besteuerung verdeutlichen kann, ist das notwendige Zusammenspiel zweier Komponenten in Gerechtigkeitsauseinandersetzungen: Alle Gerechtigkeitsurteile stehen in der Spannung von konsentierter Idee und mehr oder minder dissensanfälliger Konkretion oder Konzeption der Gerechtigkeit. 19 Auf die Idee von sozialer Gerechtigkeit etwa berufen wir uns gleichermaßen, wir deuten sie aber nicht mit gleichem Maß aus. Vielmehr benutzen wir zumindest zum Teil abweichende Maßstäbe und Gewichtigkeiten, um den Gedanken sozialer Gerechtigkeit zu konkretisieren. Allgemeiner formuliert ist bei den Konzeptionen zur Ausdeutung einhellig in Anspruch genommener Ideen wie Gerechtigkeit in einer pluralistischen Gesellschaft mit unterschiedlichen Dichtegraden von Konsens zu rechnen: Das Spektrum reicht von einhelliger und eindeutiger Akzeptanz eines konkreten Verteilungsmaßstabes von Rechten und Freiheiten bis zu gänzlich dissentierenden Ausdeutungen und Gewichtungen. Dass wir die Gerechtigkeitsidee gleichermaßen in Anspruch nehmen, deutet aber darauf hin, dass wir dem Maßstab Objektivität und Allgemeinverbindlichkeit zusprechen. Wir sehen den Maßstab nicht als partikuläre, manipulative Überrumpelungsstrategie an, wir verstehen ihn vielmehr als Kriterium, das dem anderen den konkret vorgeschlagenen Verteilungsmaßstab als zu Recht ansinnbar erscheinen lassen soll und nicht nur als mit Gewalt aufzwingbar. Dass wir den Maßstab nicht mit gleichem Maß ausdeuten, lässt auf eine Pluralität von Gerechtigkeitskonzeptionen schließen, die in gegenseitiger Konkurrenz zueinander stehen und in Ausgleich gebracht werden müssen. Wie sind diese beiden Gedanken von Objektivität und Allgemeingültigkeit der Gerechtigkeitsurteile auf der einen Seite und Pluralität und Konkurrenz der Gerechtigkeitskonzeptionen auf der anderen Seite in Einklang zu bringen? Hier eröffnen sich zunächst zwei oft beschrittene Irrwege: (1) Aus der Objektivität der Inanspruchnahme von Gerechtigkeitskriterien darf nicht in metaphysischer Überhöhung auf eine Existenz von bestimmten Werten geschlossen werden, die in Erkenntnisakten objektiv, zweifelsfrei erschaut, wahrgenommen werden könnte wie die Existenz eines Autos auf der Straße. Wer diesen Sprung ins Metaphysische macht, kann sich seiner Sache sicher sein, er braucht die Ansicht des anderen nicht mehr zu berücksichtigen, denn dieser irrt offensichtlich, er hat ein „falsches Bewusstsein". Auf diese 19 Vgl. zum Folgenden Dworkin , Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 178, 216 ff., 228 ff., 249, der vom Zusammenspiel von „concept and conception" spricht, und die Darstellung der Dworkinschen Position bei Brugger , Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, 1987, S. 391 ff. Schon Aristoteles hat die Dialektik von concept und conception angesprochen, vgl. das Zitat oben Fn. 5 aus der Nikomachischen Ethik, 1131 a 22 ff.
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Weise wird die Idee der Gerechtigkeit, an der alle durch die gemeinsame Inanspruchnahme partizipieren, durch eine Konzeption derselben exklusiviert, okkupiert und damit ideologisiert. Wer eine andere Konzeption vertritt, muss mit seiner Gerechtigkeitsansicht von vornherein vernachlässigt oder aber auch zur Wahrheit und Freiheit erzogen und notfalls eliminiert werden; 20 der Weg fuhrt so in eine „Tyrannei der Werte". 21 (2) Genauso verfehlt ist aber das Gegenteil dieser metaphysischen Aufladung 22 von Gerechtigkeitsauseinandersetzungen: Wer aus der Pluralität und Konkurrenz von Konzeptionen zur Ausdeutung von Gerechtigkeit deren Intention auf Richtigkeit und Zustimmungsfähigkeit herausnimmt und Gerechtigkeitsargumentationen von vornherein als manipulative Überrumpelungsstrategien zur Befriedigung rein partikulärer Interessen ansieht, landet konsequenterweise nicht mehr bei einer argumentativen Konkurrenz, sondern einem realen Kampf} 2 Letztlich fuhrt diese reduktive Konzeption von Gerechtigkeitsauseinandersetzungen zu einem Kampf auf Leben und Tod, zur bloßen Machtpolitik und zum unverhüllten Freund-Feind-Denken. In dieser reduktiven Sicht muss Urteilen über das Richtige und Gerechte von vornherein die Verallgemeinerungsfähigkeit abgesprochen werden. Dafür besteht aber kein zwingender Grund, wenn wir das Zusammenspiel von Allgemeinheit des Gerechtigkeitsurteils und Konkurrenz von Gerechtigkeitsurteilen als konstitutiv für eine angemessene Behandlung von Gerechtigkeitsfragen ansehen und auf seine institutionelle Verwirklichung hin befragen. Es ist vor allem der Akt der Verfassunggebung, über den die Absicherung und institutionelle Kanalisierung der beiden Komponenten von Gerechtigkeitsauseinandersetzungen vorgenommen werden muss. Der Ausdifferenzierung der Gedanken von Allgemeinheit, Zustimmungsfähigkeit und Objektivität der rechtlichen Maßstäbe dient die Verfassung dadurch, dass sie die einhellig akzeptierten Rechts- und Gerechtigkeitsgrundsätze als materiale Verfassungssubstanz festschreibt. Der Tatsache der Konkurrenz vieler Gerechtigkeitsurteile hat der 20 Vgl. Tenbruck, Wahrheit und Mission, in: Baier (Hrsg.), Freiheit und Sachzwang, FS Schelsky, 1977, S. 49 f f ; Funke, Gutes Gewissen, falsches Bewußtsein, richtende Vernunft, ZphF 25 (1971), 226 ff.; Rüthers, Warum wir nicht genau wissen, was „Gerechtigkeit" ist, in: Fürst und andere (Hrsg.), FS Zeidler, Band 1, 1987, S. 19, 26 ff. Die Folgerung einer „Erziehung zur Freiheit" vertreten Rousseau und der Marxismus. Vgl. zu Rousseau die Darstellung bei Böckerstette, Aporien der Freiheit und ihre Aufklärung durch Kant, 1982, S. 183 ff., und zum Marxismus Brugger, Menschenrechtsethos und Verantwortungspolitik, 1980, S. 135 ff. 21 Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Schmitt in: Säkularisation und Utopie, FS Forsthoff, 1967, S. 37 ff. 22
Man könnte diese Strategie auch als empiristische Reduktion bezeichnen, insofern der Sache nach ideelle Urteile auf empirische Wahrnehmungen (das Auto, das ich sehe = die Gerechtigkeit, die ich erblicke) reduziert werden. 23 Hierzu näher mein Aufsatz „Der Kampf der Meinungen" (Fn. 6), Abschnitt II.
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Verfassunggeber dadurch Rechnung zu tragen, dass er für den Bereich streitiger Ausdeutungen leitender Maßstäbe einen prozessualen Verdeutlichungs- und Determinierungsmechanismus einrichtet, in dem das, was konkret gelten soll, verbindlich festgestellt werden kann. Da im politischen Prozess die Pluralität der konkurrierenden Gerechtigkeitskonzeptionen aller Mitglieder des Gemeinwesens reduziert werden muss, um Handlungsfähigkeit zu gewinnen, wird sich nicht jeder mit seinen Vorstellungen durchsetzen können. Es wird Gewinner und Verlierer geben. Auf jeden Fall aber muss jeder Einzelne mit seinen Gerechtigkeitsvorstellungen gehört werden und mitbestimmen können, da an der Idee der Gerechtigkeit und damit eines friedlichen, geordneten Zusammenlebens alle gerade durch ihre Ausdeutung in gleicher Weise partizipieren. Der Gleichheitsstatus eines jeden ist in der modernen Gesellschaft nicht mehr gekoppelt an über Geburt, Stand, Beruf, Rasse oder Ähnliches bestimmte Würdigkeiten, sondern an die gleiche Menschenwürde in dem Sinn der Fähigkeit und des Willens, sich in das Gemeinschaftsleben als Miturteilender und Mitentscheidender einzubringen. 24 Eine konsensfähige Konzeption von Verfassungsgerechtigkeit 25 muss also auch das Demokratieprinzip enthalten. Die bisher vorgetragene zweischienige Institutionalisierung der Verfassungsgerechtigkeit über (1.) Absicherung der Verfassungssubstanz durch konsensfähige Gerechtigkeitsgrundsätze und (2.) Klärung und Konkretisierung dieser Grundsätze im demokratischen Prozess reicht jedoch noch nicht aus, um ein angemessenes Verhältnis material-prozessualer Bestimmungen in der Verfassung zu sichern. Im politischen Prozess ist die Gefahr nicht auszuschließen, dass die jeweilige Mehrheit bei ihrer Konkretion einer gerechten Lösung von Streitfragen die Ansichten und Interessen der überstimmten Minderheit gänzlich beiseite schiebt und im Sinn der zwei schon angesprochenen Irrwege ihre Legitimierungsstrategien verabsolutiert. Dem ist im Rahmen einer gleiche Freiheit verbürgenden Verfassung zu begegnen durch eine starke Abschottung solcher menschlicher Entfaltungsweisen gegen staatliche Eingriffe, die nach der Rechtserfahrung des Volkes zur Wahrung der Eigenständigkeit der Person gehören und deshalb grundsätzlich der individuellen Selbstbestimmung und nicht der demokratischen Mitbestimmung unterfallen sollen. Charakterisierungen freiheitlicher Staaten als „demokratischer Rechtsstaat" und auch der Dualismus von „Grundrechte und Demokratie" bringen diese Erfordernisse einer gerechten Verfassung zum Ausdruck.
24
Vgl. Schwartländer , Demokratie und Menschenrechte, in: ders. (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 189, 199 ff, sowie unten Fn. 79. Zur These unterschiedlicher Würdigkeiten der Menschen schon oben Fn. 5. 25 Zu diesem Begriff näher Zippelius , Rechtsphilosophie, 4. Aufl., 2003, §§ 29-31. Rawls (Fn. 12), Kap. 1, Nr. 2, S. 23 f f , spricht insoweit von einer „strukturellen" Theorie der Gerechtigkeit.
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Bezogen auf die Verschränkung von unstreitiger Idee und streitiger Konzeption von Gerechtigkeit, lässt sich der „demokratische Rechtsstaat" folgendermaßen verstehen: Der unstreitigen Idee sind die Verfassungsgrundsätze zuzuschlagen, auf die wir uns alle gleichermaßen berufen; soweit sich im Rahmen dieser Rechtsgrundsätze konkrete Rechtsregeln 26 als Gerechtigkeitssubstanz verfestigt haben (wie etwa spezifische grundrechtliche Abwehrrechte als Element des materialen Rechtsstaats- bzw. Gerechtigkeitsgedankens), zählen diese ebenso zum unstreitigen materialen Gehalt von Gerechtigkeit. Den „streitigen Konzeptionen" von Gerechtigkeit unterfallen dagegen alle sonstigen Gerechtigkeitsfragen, bei denen die Gemeinschaftsmitglieder die höchsten Leitideen mit unterschiedlichem Maß ausdeuten; in diesem Bereich ist eine Verdeutlichung und Determinierung über den politischen Prozess notwendig, der von der gleichen Urteils- und Mitentscheidungsfreiheit eines jeden Bürgers auszugehen hat. Diese grobe Skizze der Verfassungsgerechtigkeit bedarf näherer Ausarbeitung. Die eben dargelegte grundlegende verfassungsrechtliche Struktur von Gerechtigkeit soll im Folgenden anhand des Grundgesetzes und seiner Interpretation durch das BVerfG näher untersucht werden. Dabei interessiert nicht so sehr die juristische Ebene der Ausdifferenzierung der einschlägigen Rechtsgrundsätze oder die Frage der soziologischen Rechtsgeltung. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage nach dem ethischen Telos des Grundgesetzes: den Leitideen von Menschenwürde, Menschenrechten, Gerechtigkeit und Frieden (Art. 1 Abs. 1 und 2 GG). Lässt sich von ihnen aus die notwendige Zwangsordnung des Staates im Sinn einer Freiheitsordnung für den Bürger verstehen, in der Gesetzesgehorsam nicht (notwendigerweise, immer, generell) erzwungen werden muss, sondern freiwillig erwartet werden kann und faktisch erbracht wird? Zu diesem Zweck gehen wir zunächst näher auf das Verhältnis „Grundrechte und Demokratie" oder anders gesagt: das Problem der Verdichtung und Herausschälung konkreter Gerechtigkeitsregeln aus abstrakten Gerechtigkeitsprinzipien ein.
III. Die Ausschaltung unstreitiger Unrechtsfalle Zur Beantwortung der Frage, wie im Rahmen von Gerechtigkeitsauseinandersetzungen Konsens zu erzielen ist, lässt sich zunächst an die Tatsache anknüpfen, dass die positiven Erfordernisse von Gerechtigkeit öfter streitig sein werden als diejenigen Verhaltensweisen, die die Gerechtigkeit negativ ausschließt. 21 So wird leichter Übereinstimmung darüber zu erzielen sein, dass in 26
Zur Abgrenzung von Rechtsgrundsätzen (oder Prinzipien) und Rechtsregeln siehe Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, Kap. 3. 27 Vgl. von Hayek , Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, 1981, S. 58 ff.; Brugger (Fn. 20), S. 288 ff., 298, unter Hinweis auf die Kantische Publizitätsformel in der Schrift „Zum ewigen Frieden", Akademieausgabe
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Verteilungsfragen die Elemente von Leistung und Bedürftigkeit nicht gänzlich entfallen dürfen als darüber, welches positive Gewicht ihnen zukommen soll. 28 Es wird eher Konsens in der Abtreibungsfrage erzielbar sein hinsichtlich der Aussage, dass weder die Interessen der Schwangeren noch die des Fötus gänzlich außer Betracht bleiben sollen, als in der Frage, wie genau die Abgrenzung getroffen werden soll. 29 Allgemeiner formuliert lässt sich in jedem Bereich einfacher feststellen, welche Gerechtigkeitsgewichtung gänzlich unvertretbar und willkürlich ist, als dasjenige, was vielleicht umstritten, aber unter vernünftig und gerecht Denkenden noch als überhaupt vertretbares Arrangement von Vor- und Nachteilen gelten kann. Wir bewegen uns so lange noch im Bereich streitiger Rechtsfälle , als für eine bestimmte Rechtsregel Gerechtigkeitsgründe ins Spiel gebracht werden können, die nicht nur von der Parlamentsmehrheit geteilt, sondern von den Unterlegenen auch als zumindest berücksichtigens- und diskutierenswert anzuerkennen sind im Rahmen der in der Öffentlichkeit überhaupt vertretbaren Gerechtigkeitskonzeptionen30. Solches wird insbesondere dann der Fall sein, wenn auf Gewinnerwie Verliererseite anerkannte legitime Gesichtspunkte ins Spiel gebracht werden können, wie etwa Leistung gegen Bedürftigkeit bei sozialstaatlichen Maßnahmen. In manchen Auseinandersetzungen um die (Un-)Gerechtigkeit einer staatlichen Maßnahme kommt es aber im Laufe der geschichtlichen Entwicklung auch zu einer tendenziellen Dissensreduzierung auf Null. 3 1 Verfestigt sich ein solcher Normkonsens, so liegt kein streitiger Rechtsfall mehr vor, sondern ein unstreiti-
Band V I I I , S. 381 f.; Hollerbach , Artikel Gerechtigkeit, in: Staatslexikon der GörresGesellschaft, 7. Aufl., 1987, Band 2, Sp. 899, 903. 28 Vgl. Brugger (Fn. 20), S. 290 f., und in Bezug auf das Existenzminimum zustimmend auch von Hayek (Fn. 27), S. 122. 29 Zu den Komplikationen bei dieser Frage vgl. unten Abschnitt V. 2. 30 Gerechtigkeit ist eine öffentliche Konzeption, da es um die Rechtfertigung jeweiliger Interessenarrangements zwischen mehreren Individuen geht. In einer pluralistischen Gesellschaft kommt es demgemäß zu einem Spektrum von Gerechtigkeitskonzeptionen, das durch den politischen Prozess integriert und letztlich reduziert werden muss. Vgl. zum Öffentlichkeitsprinzip Dicke , Zur Bedeutung der Publizität in den internationalen Beziehungen, in: Bielefeldt/Brugger/Dicke (Hrsg.), FS Schwartländer, 1988, S. 121 ff. 31
Vgl. beispielsweise Mills Bemerkungen in seiner Schrift „Der Utilitarismus" von 1863 im Verhältnis zu Art. 3 Abs. 2 und 3 GG: „Die Geschichte des sozialen Fortschritts war insgesamt eine Folge von Übergängen, in der eine gesellschaftliche Norm und eine Institution nach der anderen von einer vermeintlich grundlegenden Notwendigkeit der gesellschaftlichen Existenz zu einer allseits gebrandmarkten Ungerechtigkeit und Tyrannei wurde. So war es mit der Diskriminierung zwischen Sklaven und Plebejern, und so wird es sein und ist es teilweise schon mit den Aristokratien von Hautfarbe, Rasse und Geschlecht" (Reclam-Ausgabe 1976, S. 109 f.).
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ger Unrechtsfall: 32 Die Verletzung eines defensiven Eingriffsverbots oder die Nichteinhaltung eines positiven Verschafftingsverbots oder auch die Nichtbeachtung eines Gleichheitsgebots würde dann in der Rechtsgemeinschaft einhellig und eindeutig als Unrecht, als Willkür angesehen werden. Eine Rechtsgemeinschaft, die auf die Zustimmungsfähigkeit der staatlichen Akte abstellt, muss aber Vorkehrungen dagegen treffen, dass über bloße politische Mehrheitsentscheidungen und damit einhergehenden staatlichen Zwang willkürliche Regelungen gesetzt und durchgesetzt werden. Hierbei ist ganz im Sinn der schon erwähnten geschichtlichen Kontingenz und der gesellschaftlichen und rechtlichen Ausdifferenziertheit der Gerechtigkeitsfragen zu beachten, dass das Willkürkriterium auf ein jeweils einschlägiges Handlungssystem, einen spezifischen Lebensbereich bezogen ist. Willkürliches Verhalten verletzt die für die Aufrechterhaltung, Integrität und Identität des jeweiligen Bereiches elementaren Organisationsbestimmungen und ist insofern als Unrecht einzustufen. In diesem Sinne wären etwa als Willkürfälle oder unstreitige Unrechtsfälle einzustufen Staatsangehörigkeitsbestimmungen, die bestimmte Rassen benachteiligen, oder ein geschlechtsbenachteiligendes Alleinentscheidungsrecht des Ehemannes im Eherecht. Nach unserem heutigen Verständnis der politischen Gemeinschaft, so hat das BVerfG zu Recht entschieden,33 ist ein Entzug der Staatsangehörigkeit aus rassischen Gründen willkürlich und ungerecht; er verstößt gegen den gleichen Bürgerstatus als legitimierendes und organisierendes Prinzip der Staatsangehörigkeit. Nach unserem jetzigen Verständnis der Ehegemeinschaft, so ist mit dem deutschen Gesetzgeber von 1957 bzw. dem BVerfG von 195934 zu sagen, sind die Ehepartner gleichberechtigt. Eine von vornherein
32 Vgl. zur Unterscheidung von streitigen Rechtsfällen und unstreitigen Unrechtsfällen auch Brugger (Fn. 6), Abschnitt IX. 33 Vgl. den Staatsangehörigkeitsbeschluss des BVerfGE 23, 98 ff., der über eine nationalsozialistische Rechtsverordnung zu befinden hatte. Leitsatz 1 formuliert: „Nationalsozialistischen ,Rechtsvorschriften kann die Geltung als Recht abgesprochen werden, wenn sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, dass der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde." Leitsatz 3 lautet: „Einmal gesetztes Recht, das offenbar gegen konstituierende Grundsätze des Rechts verstößt, wird nicht dadurch zu Recht, dass es angewendet und befolgt wird." Der Sache nach wird hier auf die „Radbruchsche Formel" verwiesen, die eine Nähe zu den hier erörterten „unstreitigen Unrechtsfällen" hat: Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), in: Rechtsphilosophie, Studienausgabe, 2. Aufl., 2003, S. 211, 215 f. 34 Bis zum Gleichberechtigungsgesetz von 1957 gestand § 1354 BGB „dem Mann in allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden Angelegenheiten die Entscheidung zu". Auch nach dem Gleichberechtigungsgesetz hatte der Ehemann in Fragen der Kindererziehung das Recht des Stichentscheides (vgl. § 1628 BGB a.F.). Dieser Stichentscheid wurde 1959 vom BVerfG wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 2 und 3 sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 GG für ungültig erklärt. Vgl. BVerfGE 10, 59 ff., und zu amerikanischen Parallelfällen Brugger (Fn. 19), S. 189 ff.
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getroffene rechtliche Benachteiligung eines der Geschlechter würde gegen elementare Erfordernisse gleicher Freiheit im Ehebereich verstoßen. Der Charakter beider Fälle als Beispiel klarer Unrechtsfälle kommt auch im Bonner Grundgesetz zum Ausdruck, das in Art. 3 Abs. 2 und 3 so genannte Klassifizierungsverbote enthält: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt ... Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden".
IV. Die Entscheidung streitiger Rechtsfälle So viel zum Bereich der klaren Unrechtsfälle wegen Verstoßes gegen die die jeweiligen Sachbereiche verfassenden und legitimierenden Maßstäbe. Welche Lösungsmöglichkeiten ergeben sich aber für den Bereich, in dem lediglich umstrittene Konzeptionen von Gerechtigkeit zur Verteilung der Vorteile und Lasten aufeinanderprallen? Wie weit sollen etwa im sozialstaatlichen Bereich Leistung und Marktglück belohnt werden auf Kosten derjenigen, die sich über den gesellschaftlichen Angebot-Nachfrage-Mechanismus nicht behaupten können? Oder umgekehrt? Wie weit und unter welchen Bedingungen wollen wir Kraftfahrzeugverkehr zulassen, wohl wissend, dass sich jedes Jahr Tausende von schweren Unfällen ereignen werden? In all diesen Fragen werden neben Zweckmäßigkeitsargumenten unterschiedliche, aber nicht von vornherein willkürliche Gerechtigkeits- und Zumutbarkeitsargumente vorgebracht werden können. Wegen der intendierten allgemeinen Ansinnbarkeit der von den Kontrahenten hier einzubringenden Argumente müssen diese Argumente zumindest geäußert werden können; sie müssen auch von den anderen gehört und berücksichtigt werden können. Nicht zu erwarten ist freilich, dass jeder Maßstab anerkannt wird: Hier wird es zu einem Kampf um Anerkennung kommen.35 Ferner wird nicht jedes über einen Gerechtigkeitsmaßstab zu legitimierende Interesse (voll) befriedigt werden können. Hier kommt notwendigerweise das Moment der Pluralität und Konkurrenz der Gerechtigkeitskonzeptionen ins Spiel, das dazu zwingt, eine Entscheidung zwischen den konkurrierenden Konzeptionen herbeizuführen und verbindlich auszugestalten, das heißt in die Form des Gesetzes zu gießen. Damit können wir den Schritt zurück zur politischen Struktur des Grundgesetzes machen. Den Streit darüber, welche Gerechtigkeitskonzeption konkret
35
Hierzu näher Honneth , Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 2003.
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gelten soll, können wir nur dadurch in effektiver und legitimer Weise schlichten, dass wir jeder Stimme und jeder Überzeugung die Möglichkeit geben, das ideale Ansinnen der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit realiter in den Prozess der politischen Argumentation einzubringen: Diesem Ziel dienen im Grundgesetz die individuelle Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1; 8; 9) sowie die Medienfreiheiten (Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit, Art. 5 Abs. 1 S. 2), die eine ausgeglichene Berücksichtigung der Stimme aller zu sichern haben.36 In diesem Prozess kann und muss sich die vorgetragene Gerechtigkeitskonzeption dadurch bewähren, dass sie auf faktische Zustimmung stößt. Da wir notwendigerweise den Streit schlichten und entscheiden müssen, um politische Handlungsfähigkeit, Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu erlangen, müssen wir mangels Eindeutigkeit und Einhelligkeit der gerechten Entscheidung auf eine parlamentarische Entscheidung durch die Mehrheit ausweichen. Die politische Entscheidung muss wegen der Nichteindeutigkeit des Gerechten eine verbindliche Verdeutlichung herbeifuhren. Zusammenfassend: Die parlamentarische Mehrheitsentscheidung ist legitim, sofern sie zwei wesentlichen Bedingungen entspricht: (1.) Der parlamentarischen Letztentscheidungskompetenz sind zum einen die Willkürfälle, also die unstreitigen Unrechtsfalle, zu entziehen: In diesem Bereich reicht die „normale" juristische Legitimation durch Verfahren 37 nicht aus, da eine starke Vermutung dafür spricht, dass sich die parlamentarische Regelung nicht rechtfertigen lässt, der Gerechtigkeitsgedanke in seiner negativen, eliminierenden Funktion betroffen ist. (2.) Der kommunikative und parlamentarische Prozess muss unter Bedingungen ablaufen, die ein Äußern, Gehörtwerden und Berücksichtigen des ganzen gesellschaftlichen Spektrums an Legitimitätsüberzeugungen ermöglichen. - Wenn diese zwei Bedingungen der Eliminierung unstreitiger Unrechtsfälle und der Integrierung möglichst vieler streitiger Rechtsfälle gegeben sind, ist der parlamentarischen Mehrheitsentscheidung, dem staatlichen Gesetz, der Gerechtigkeitsgehalt nicht abzusprechen. Der Staat kann zwar nicht in Anspruch nehmen, die einzige richtige Lösung verrechtlicht zu haben, wohl aber eine unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten vertretbare. 38 Mehr lässt sich in einer
36 Das BVerfG spricht im 3. Fernsehurteil von dem „Gleichgewicht des ,Zu-WortKommens' der gesellschaftlichen Gruppen": BVerfGE 57, 295 (324). 37 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl., 1978, der zu einseitig im „Verfahrensdurchlauf' die einzige noch sinnvolle Legitimitätsstrategie für staatliche Regelungen sieht. 38 Zur Vertretbarkeitsdimension von Meinungen siehe Brugger, EuGRZ 1987, 189 (193 ff.); ders. (Fn. 19), S. 287 ff., und unten Fn. 42, 46. - „Unvertretbare" Meinungen und Interessen lassen sich entweder im input-Stadium (der Einbringung in den kommunikativen Prozess) oder im output-Stadium (der Eliminierung, sprich Kassierung des Ergebnisses des politischen Prozesses durch ein Verfassungsgericht) neutralisieren. Vgl. Brugger, EuGRZ 1987, 189 (196), und Ackerman, Social Justice in the Liberal State, 1980, S. 302 ff. - Eine Parallele zur Vertretbarkeitskategorie findet sich in der Argu-
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pluralistischen Gesellschaft nicht anzielen und erreichen. Gerechtigkeit ist unter Bedingungen der Moderne keine Alles-oder-Nichts-Idee. 39 Gerechtigkeitsargumentationen erlauben und gebieten es, im Sinne der Kategorien „vertretbar unvertretbar" und „mehr oder weniger legitim" behandelt zu werden. Wenn wir unter diesem Blickwinkel noch einmal das Grundgesetz anschauen, so begegnen wir den unstreitigen Unrechtsfällen in den Grundrechten als Abwehrrechten, die wir gegen den politischen Prozess und dessen Legitimierung durch Verfahren in Anspruch nehmen können; daneben finden sie sich, wie schon erwähnt, auch in den Diskriminierungsverboten insbesondere der Art. 3 Abs. 2 und 3. In beiden Fällen meint „Herausnahme aus dem normalen politischen Prozess", dass der Staat, wenn er diese Abwehrrechte beschränken oder grundsätzlich illegitime Klassifikationen benutzen will, einer verstärkten sachlichen Rechtfertigung bedarf, die in den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten und den Schranken-Schranken formuliert ist. 40 Den material unstreitigen Unrechtsfallen entsprechen institutionell die unstreitig unrechtsvermeidenden Staatsstrukturbestimmungen, die uns in der verfassungsänderungsfesten freiheitlich-demokratischen Grundordnung 41 und in den durch Art. 79 Abs. 3 abgesicherten Art. 1 und 20, also der Menschenwürdegarantie und den fünf Staatsstrukturbestimmungen des Grundgesetzes, begegnen. Die schon angesprochene offene kommunikative Struktur des Grundgesetzes mit Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs-, Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit sowie die politische Struktur in den Wahlrechtsvorschriften und dem Parlamentsrecht sollen alle Meinungen über gerechte und sinnvolle Lösungen personell und sachlich integrieren und zu funktionsgerechten und klaren Regelungen fuhren. Soweit kein mentationstheorie, in der von Normen die Rede ist, die „diskursiv möglich" oder „diskursiv unmöglich" sind. Vgl. Alexy , Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 35, 171, 256, 350. Diskursiv unmöglich und verboten wären danach Regeln, die Gemeinschaftsmitglieder vom argumentativen Prozess des - in unserer Terminologie - Äußerns, Gehörtwerdens, Berücksichtigtwerdens ausschlössen. „Diskursiv unmöglich" wären nach hier vertretener Sicht aber auch bestimmte materiale Regelungen: die oben erwähnten unstreitigen Unrechtsfälle. 39
Dieses Zugeständnis zu machen, fällt vielen im Hinblick auf den Gedanken der Gerechtigkeit schwer. Vgl. die Formulierungen oben Fn. 16 zu Hobbes, und Aristoteles (Fn. 3), 1134 a, 31: „Das Recht ist die Scheidung von Gerechtem und Ungerechtem." Leichter zu tun ist der Schritt vermutlich, wenn man von Legitimität statt von Gerechtigkeit spricht (dazu noch näher unten bei Fn. 80). Der Legitimitätsbegriff scheint weniger von der Idee der Eindeutigkeit oder - falls nicht (mehr) gegeben - der Beliebigkeit geprägt zu sein. Vgl. zu den Variationsgraden von Legitimität Selznick (Fn. 7), S. 13 f.; Nonet/Selznick, Law and Society in Transition: Toward Responsive Law, 2. Aufl., 2001, S. 9, 14. 40 In diesem Sinn spricht Dworkin (Fn. 19), S. 14, 145 ff., 160 ff., von den Grundrechten als „trumps", Trümpfen gegenüber der Durchsetzung beliebiger politischer Programme. Der Sache nach ebenso Pieroth/Schlink , Grundrechte, 20. Aufl., 2004, Rn. 43 ff. 41 Vgl. Art. 9 Abs. 2; 10 Abs. 2; 18; 21 Abs. 2 GG und BVerfGE 2, 1(12).
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unstreitiger Unrechtsfall betroffen ist, betreffen diese Auseinandersetzungen zumeist staatliche (Un-)Gleichbehandlungen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG sowie Regelungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik (Art. 2 Abs. 1; 12 und 14 GG). Die dabei konkurrierenden Gemeinwohlgesichtspunkte können sich über die Ausgestaltungs-, Regelungs- und Eingriffsvorbehalte Wirkung verschaffen. Dem Parlament steht dabei ein relativ weiter Spielraum hinsichtlich der Einschätzung der Gewichtigkeit der im Spiel befindlichen öffentlichen Interessen und damit auch der konkurrierenden Gerechtigkeitskonzeptionen zu: Das BVerfG spricht in Bezug auf Art. 3 Abs. 1 GG etwa von der „Freiheit des Gesetzgebers, innerhalb gewisser äußerster Grenzen der Gerechtigkeit die Vergleichspaare zu bestimmen, an denen er die Lösung seiner jeweiligen gesetzgeberischen Aufgabe orientiert". 42 Auch bei den wirtschaftlichen Grundrechten der Art. 12 und 14 GG hält sich das BVerfG im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung von Gesetzen etwas zurück. 43 Da der Gesetzgeber nach der Grundgesetzkonzeption das vom Volk eingesetzte Parlament ist, betont das Gericht fiir diesen Bereich „streitiger Rechtsfälle" zu Recht den prozessualen Aspekt der Mitentscheidung: „Ein Recht zu schaffen, das den Idealen der sozialen Gerechtigkeit, der Freiheit, Gleichheit und Billigkeit entspricht, ist eine ewige Aufgabe des Gesetzgebers, an welcher der einzelne Staatsbürger nur durch die Ausübung des Wahlrechts mittelbar Anteil hat". 44 Dieser dualistische, materialprozessuale Legitimationsansatz,45 dem tendenziell gleichzeitig unterschiedliche institutionelle Kompetenzen entsprechen (BVerfG - Parlament), 46 weist das Grundgesetz als eine differenzierte und ein Höchstmaß an Legitimität anzielende Gemeinschaftsordnung aus.
42
BVerfGE 10, 58 (73). Vgl. schon oben Fn. 38.
43
V g l . Pieroth/Schl ink
44
(Fn. 40), Rn. 855 ff., 929 ff.
BVerfGE 1, 97 (100). Das Gericht erwähnt nicht den dem Wahlakt vorgeschalteten, weiter oben schon diskutierten Kommunikationsprozess. 45 Zu dieser Charakterisierung näher Dreier (Fn. 2), S. 113 f. 46 Vgl. BVerfGE 1, 97 (100 f., 105); 10, 59 (73 f.): „Wollte man dem Gesetzgeber im Wirkungsbereich des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG eine ähnliche Gestaltungsfreiheit zugestehen wie im Bereich des allgemeinen Gleichheitssatzes, so würde dies zu dem unannehmbaren Ergebnis fuhren, dass ,eine einfache gesetzgebende Mehrheit und eine ihre sekundierende der Mitglieder des BVerfG eben doch Diskriminierungen - z.B. der Frauen, der Juden, der Angehörigen irgend einer politischen Partei oder Religionsgesellschaft - einführen' könnte, sofern die Mitglieder jener Verfassungsorgane nur der Meinung sind, ,unter den gegebenen Umständen sei diese Diskriminierung reasonable' und also = gerecht'... Nur soweit verschiedene Wege zur Verwirklichung der Gleichberechtigung gangbar sind, bleibt die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers erhalten."
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V. Vier Problemklärungen Die mit dem zuletzt Angeführten scheinbar in Anspruch genommene wohlwollende Auflösung aller Gerechtigkeitsauseinandersetzungen im Zusammenspiel der (1.) Eliminierung unstreitiger Unrechtsfälle und (2.) Integrierung möglichst vieler streitiger Rechtsfälle erweist sich freilich bei näherem Hinsehen als trügerisch. Der dualistische Ansatz einer material-prozessualen Gerechtigkeitstheorie ist zum einen konkretisierungs- und ergänzungsbedürftig; zum anderen gilt es, nahe liegende Missverständnisse im Hinblick auf bisher schon verwendete Begriffe wie Politik, Prozess, Verfahren, Entscheidung durch eine genauere terminologische Bestimmung auszuschließen. Diesem Ziel dienen die folgenden vier Problemklärungen.
7. Der Streit um die unstreitigen Unrechtsfälle Im Hinblick auf das Erfordernis der Eliminierung unstreitiger Unrechtsfälle aus dem Bereich einer bloßen Legitimierung über die parlamentarische Mehrheitsentscheidung ist öfter streitig, was denn als unstreitiger Unrechtsfall gelten kann, der als der Verfassungsgerechtigkeit widersprechender Akt ausgesondert werden muss. Das Verfassungsrecht vermag insoweit einige Hinweise zu geben. 47 Den unstreitigen Unrechtsfällen begegnen wir in der Verfassung vor allem in den Grundrechten als Abwehrrechten, die streitigen Rechtsfälle gehen wir im kommunikativen und politischen Prozess an, den wir als Bürger mit einer parlamentarischen Mehrheitsentscheidung abschließen, ohne einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unterliegen. In der grundrechtlichen Ebene geht es der Konzeption nach um klare Rechtsfragen, nämlich um generell, wenn auch nicht universell unrechtsausschließende Normen, 48 deren Kontrolle zu Recht den Gerichten und letztlich dem BVerfG aufgegeben ist (Art. 93 GG). Wenn die Grundrechte also tatsächlich nur unstreitige Unrechtsfälle regelten, wäre eine relativ klare Scheidelinie zwischen material-rechtlichen und politisch-prozessualen Fragen getroffen, der im Wesentlichen auch die Abgrenzung der verfassungsgerichtlichen und legislativen Kompetenzen entspräche. Das BVerfG hat jedoch mit weitgehender Unterstützung der Rechtswissenschaft seit Langem den Grundrechten neben der staatsgerichtet-abwehrenden Funktion auch eine objektive, positive, impulsgebende Wirkung für legislatives Tätigwerden in allen
47
Vgl. ergänzend meinen Aufsatz „Der Kampf der Meinungen" (Fn. 6), Abschnitt
IX. 48 Das heißt: In Einzelfällen kann ein Eingriff gerechtfertigt sein. Diesen einzelnen Fällen tragen im Grundgesetz die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte Rechnung.
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Rechtsbereichen zugesprochen. 49 Neben Willkürabwehr sollen die Grundrechte auch positive Gerechtigkeitsimpulse, etwa in Bezug auf die Erfordernisse sozialer Gerechtigkeit, verleihen. Diese Impulse können dem Gesetzgeber und der Verwaltung unter bestimmten Voraussetzungen Sicherungs- und Optimierungsaufgaben im Hinblick auf streitige Gerechtigkeitspostulate vorgeben; das BVerfG hat insbesondere Schutzpflichten gegen Dritte, Organisationspflichten und Leistungsverschaffungspflichten angesprochen und zum Teil bejaht. Diese auf den ersten Blick einnehmende Konstitutionalisierung der materialen Legislativtätigkeit fuhrt der Sache nach zu einer Aufladung jedes legislativen Aktes im Hinblick auf seine Gerechtigkeitsbeurteilung, da die Umsetzung der positiven, meist streitigen Richtung und Gewichtung des Grundrechts in eine Parallele rückt zu der negativen, meist unstreitigen Dimension des Grundrechts als Abwehrrecht. Das kann gefährliche Konsequenzen haben. Es kann dann leicht der Eindruck entstehen, jedes Gesetz, das nach Ansicht eines Bürgers oder mancher Bürger nicht die richtige Balance der grundrechtlichen Impulse getroffen hat, sei willkürlich, im Grunde den klassischen unstreitigen Unrechtsfällen, wie sie in den grundrechtlichen Abwehrrechten verkörpert sind, vergleichbar. Daran kann sich dann die Folgerung anschließen, der Gesetzgeber habe über die betreffende Frage eigentlich nicht entscheiden dürfen, da es hier um Unabstimmbares geht. Solche Folgerungen können verschiedene Ursachen haben. Vermutlich wird hier eine Rolle spielen, dass die Gerechtigkeitsidee nach Ansicht mancher in einer Alles-oder-Nichts-Alternative angesiedelt ist: wenn nicht gänzlich und eindeutig gerecht, dann absolut ungerecht. Wie schon erwähnt, ist diese Denk- und Redeweise in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr möglich: Wenigen unstreitigen Unrechtsfällen steht ein großer Bereich von Entscheidungsfragen gegenüber, in denen einige oder viele unter Gerechtigkeitsaspekten vertretbare Antworten gefunden werden können. Ein Ausweichen auf den weniger belasteten Legitimitätsbegriff kann hierbei Hilfestellung leisten.50 Sofern eine bestimmte Entscheidung in einem offenen kommunikativen und parlamentarischen Prozess zustande gekommen ist, ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering (wenn auch nicht auszuschließen!), dass ein gänzlich ungerechtes Ergebnis zustande gekommen ist. Der Gedanke einer Le49 Ständige Rechtsprechung seit der Lüth-Entscheidung in BVerfGE 7, 198 (204 f.): „Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat ... Ebenso richtig ist aber, dass das Grundgesetz ... in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und dass gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt." Vgl. die Nachweise zur Rechtsprechung bei Pieroth/Schlink (Fn. 40), § 4 II, III; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl., 1988, § 9 11. 50
Vgl. schon oben Fn. 39 zu den Variationsgraden von Legitimität, und unten Abschnitt V. 3.
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gitimation durch Verfahren hat hier seinen legitimen Platz, sofern das Verfahren eine angemessene Erörterung und Berücksichtigung aller relevanten empirischen und normativen Gesichtspunkte ermöglicht hat. Unleugbar ist, dass man den geschilderten Prozess der Aufladung der parlamentarischen Entscheidung durch inhaltliche = grundrechtliche Gerechtigkeitsargumente im Sinne einer zunehmenden Willkürminimierung interpretieren kann; 51 das erweckt den Anschein, als bewege man sich immer noch im Bereich der eliminierenden Funktion der Gerechtigkeitsidee in Bezug auf unstreitige Unrechtsfalle. Doch je mehr man sich von den verfassungsrechtlichen Ausgangspunkten der klaren grundrechtlichen Unrechtsfälle - Nazityrannei, religiöse Unterdrückung, politische Entmündigung und die anderen spezifischen Abwehrrechte und Diskriminierungsverbote - entfernt und per Rechtsanalogie über die objektive Wertdimension der Grundrechte weitere Grundrechtsfunktionen erschließt, desto enger wird rhetorisch für den Bürger 52 der Bereich der Politik im Sinne des Entscheidungsfreiraums für konkurrierende politische Programme mit divergenten Gerechtigkeitskonzeptionen. Desto eher wird für den Bürger auch psychologisch die Grenze erreicht sein, ab der er das Gefühl haben wird, die seinem Gerechtigkeitsempfinden widersprechende politische Entscheidung verfehle den Rahmen des ihm noch verfassungsrechtlich Zumutbaren. Diese Hinweise sind nicht im Sinne eines Plädoyers für eine totale Reduzierung des Grundrechtsschutzes auf die Abwehrdimension zu verstehen, da in der Tat nicht auszuschließen ist, dass über die textlich geregelten klaren Unrechtsfälle hinaus weitere Willkürfälle im geschichtlichen Fortgang hinzutreten, die der Verfassungsgesetzgeber (noch) nicht ausdrücklich in den Verfassungstext inkorporiert hat. Für solche Situationen kann man der Verfassungsgerichtsbarkeit ein eigenes Urteil nicht absprechen, genauso wenig wie man den Bürger endlos auf das Tätigwerden des pouvoir constitué vertrösten kann. Es soll nur auf die Gefahr einer Depotenzierung der Politik als eines Argumentations- und Entscheidungszusammenhangs aufmerksam gemacht werden, die mit einem unserer liberalen Gesellschaft nicht angemessenen voreiligen Zugriff auf per Analogie erschlossene „klare Unrechtsfälle" verbunden ist.
51 Vgl. Selznick (Fn. 7), S. 12: „The effort to see in law a set of standards, an internal basis for criticism and reconstruction, leads us to a true Grundnorm - the idea that a legal order faithful to itself seeks progressively to reduce the degree of arbitrariness in positive law and its administration." 52 Für den juristischen Fachmann, der die Entscheidungen des BVerfG näher liest, wird nicht in jedem Fall der Wertdeutung der Grundrechte eine irreguläre Beschneidung des politischen Spielraums vorliegen, vielleicht sogar nur in wenigen Fällen. Auf jeden Fall aber, scheint mir, reicht die faktische Öffentlichkeitswirkung der allgemeinen Wertdeutung der Grundrechte weit in das politische und rechtliche Bewusstsein der Bürger hinein und erzeugt dort überzogene Vorstellungen einer materialen Bindung des politischen Prozesses.
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Letztlich hängt die Lösung dieser Problematik an der Art und Weise, wie wir als Bürger unser Rechtsgefuhl sowohl kultivieren und effektivieren als auch disziplinieren und limitieren. 53 Jede Unrechtsbehauptung gründet im Widerstand unserer Intuition über gerecht und ungerecht, die einer staatlichen (oder auch privaten) Regelung widerspricht. Für unser jeweiliges Rechtsgefühl ist es evident, dass Abtreibung weitgehend erlaubt oder verboten sein sollte, dass ein Flugplatz oder ein Atomkraftwerk gebaut oder nicht gebaut werden sollte. Und keine Gerechtigkeitskonzeption kann auf eine Berücksichtigung der tiefsten Überzeugungen aller Betroffenen verzichten. Die Intensität und Extensivität eines Rechtsgefühls kann jedoch nicht schon für sich genommen ausreichende Gewähr für die Richtigkeit der jeweils vertretenen Ansichten bieten, sonst hätte unter bestimmten Umständen eine starke Minderheit oder gar Mehrheit von Rassisten oder Ausländerhassern, die ihrerseits von der Legitimität ihrer Auffassungen überzeugt sind, leichtes Spiel mit ihrer Politik. 54 Unsere Gerechtigkeitsüberzeugungen sind selbst noch einmal einer Prüfung zu unterwerfen, die ein subjektives und ein objektives Element umschließt: Das Gerechtigkeitsurteil muss subjektiv wahrhaftig, aufrichtig sein; es muss ferner im Rahmen der fiir unsere Rechtsgemeinschaft prägenden Maßstäbe und Erfahrungen auf gegenseitige Zumutbarkeit hoffen können, darf also kein rein privater Beliebigkeitsvollzug von Rechts-Urteilen sein. 55 Dieser Gedanke ist in vielen Variationen formuliert werden. So spricht Kant 56 von drei Elementen eines Gerechtigkeitsurteils: Der Mensch müsse selbst denken - darin liegt die Anerkennung der individuellen Überzeugung als Ausgangspunkt; der Bürger müsse aber auch mit den anderen denken und sich an die Stelle der anderen denken - also seine eigene Rechtsüberzeugung mit derjenigen der betroffenen Umwelt vermitteln; schließlich müsse der Mensch konsequent denken - also seine Gerechtigkeitsüberzeugungen aufeinander abstimmen. Kant und James Madison, einer der Gründerväter der amerikanischen Verfassung, betonen sprachlich and sachlich übereinstimmend, die individuelle Meinung des Bürgers in politischen Angelegenheiten bedürfe der „Klärung und
53
Vgl. zu diesem Kantischen Motiv die zusammenfassende Darstellung von Funke, Kants Stichwort für unsere Aufgabe: Disziplinieren, Kultivieren, Zivilisieren, Moralisieren, in: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses Mainz, Teil III, 1975, S. 1 ff. Auch im aufgeklärt-utilitaristischen Denken wird die Problematik behandelt, vgl. Mill (Fn. 31), Kap. 5: Über den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Nützlichkeit, S. 72 f f : „Der Begriff der Gerechtigkeit setzt zweierlei voraus: eine Verhaltensregel und ein Gefühl als Sanktion der Regel" (S. 91 f.). 54 Vgl. näher Brugger, EuGRZ 1987, 189 (196). 55 Vgl. schon oben Fn. 27 und 30 zum Publizitätscharakter von Gerechtigkeit. 56 Kant, Kritik der Urteilskraft, Akademie-Ausgabe V, § 40. Zur Kantischen Position siehe Vollrath, Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, 1987, Kap. 9.
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Erweiterung' 4,57 wobei Klärung das Ausscheiden etwa vorhandener, rein negativer, diskriminierender Affekte, Erweiterung die Prüfung einer Meinung im Hinblick auf ihre gegenseitige Zumutbarkeit meint. Diese beiden Elemente müssen nach Auffassung von Kant und Madison nicht nur im individuellen Vollzug von Urteilen, sondern auch in den politischen Institutionen angemessen repräsentiert sein, vor allem durch Gewaltenteilung und Grundrechtssicherung. Der amerikanische Pragmatist John Dewey formuliert die utilitaristische Sicht der Sympathie, also die individualistische Seite des Vollzugs von Gerechtigkeitsurteilen, wie folgt: „ I t is sympathy which saves consideration of consequences from degenerating into mere calculation, by rendering vivid the interests of others and urging us to give them the same weight as those which touch our own honor, purse, and power. To put ourselves in the place of others, to see things from the standpoint of their purposes and values, to humble, contrariwise, our own pretensions and claims till they reach the level they would assume in the eye of an impartial observer, is the surest way to attain objectivity of moral knowledge". 58
Der amerikanische Rechtsphilosoph John Rawls sieht die moralische und rechtliche Argumentation in einem Überlegungsgleichgewicht 59 angesiedelt, das der Mensch finden muss zwischen seinen konkreten, fall- und situationsbezogenen Rechtsgefuhlen und den in diesen implizit zur Geltung gebrachten Rechtsprinzipien. Dieses (auch in dem juristischen Hin- und Herwenden des Blickes bei der Auslegung von Rechtsnormen gebräuchliche) Verfahren ist, da sich auf die leitenden Maßstäbe wie Gerechtigkeit, Gleichheit etc. auch andere Menschen berufen, ferner mit deren Ausdeutung in ein Gleichgewicht zu bringen. Was alle diese Versuche einer Erläuterung moralischer und rechtlicher Argumentation bezwecken, ist eine Klärung, aber nicht Ausschaltung unseres Gerechtigkeitsgefühls. Beabsichtigt ist ein Ins-Lot-Bringen unserer höchstpersönlich als verbindlich angesehenen Gerechtigkeitsgewichtungen mit den Gerechtigkeitsmeinungen anderer, mit denen wir - ob freiwillig oder gezwungenermaßen - einen Lebens-, Argumentations- und Handlungszusammenhang teilen. 60 Wenn wir also zur angemessenen Lösung von Gerechtigkeitskonflikten auf den vernünftig und gerecht denkenden Bürger 61 setzen, so ist damit der das rein private Gerechtigkeitsurteil überschreitende und damit die Gefahr der Selbst- und
57
Vgl. neben der vorigen Fn. vor allem Nr. 10 in den von Madison/Jay/Hamilton geschriebenen „Federalist Papers", ferner die Kants und Madisons Deutung zusammenführende Interpretation bei Haller , Repräsentation, 1987, Kap. III, IV, besprochen von Brugger , Z N R 1988, S. 220 ff. 58
Dewey , Theory of the Moral Life, 1960, S. 130. Rawls { Fn. 12), N r . 5, S. 65 ff.
60 61
Hierzu auch Zippelius (Fn. 25), §§ 19 ff.; Selznick (Fn. 7), S. 183 f. Vgl. näher unten Abschnitt IV. 4.
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Fremdtäuschung reduzierende Bürger gemeint, der seine Meinung auch im Rahmen des Öffentlichen zur Diskussion und Beurteilung anbietet. Was in einem jeweils gegebenen Lebenszusammenhang als willkürlich, als klarer Unrechtsfall anzusehen ist, darüber muss zumindest im Kernbereich Übereinstimmung herrschen, da sonst keine Abgrenzung mehr zur rein prozessualen Legitimationsschiene über die politische Entscheidung möglich wäre. Darüber herrscht aber auch in modernen westlichen Staaten weitgehendes Einverständnis, wie die oftmals vergleichbaren grundrechtlichen und demokratischen Kernbestimmungen der einschlägigen Verfassungen und vor allem der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 zeigen.62 Elementare Schutzbereiche sind insbesondere: der Schutz des Lebens, die Freiheit vor willkürlicher Verhaftung, der Schutz des persönlichen Eigentums - diese Rechte könnte man als Haben-Rechte ansehen. Zu den elementaren Seins-Rechten müssten diejenigen Rechte und Freiheiten gezählt werden, durch die eine Deutung und Darstellung des Menschen in seiner Welt möglich wird, also insbesondere die kommunikativen Rechte und die Religionsfreiheit. Als elementarer Bestandteil politischer Rechte ist das Recht auf Mitwirkung an der Bildung der Staatsgewalt anzusehen. In engem Zusammenhang mit den anfangs angeführten Haben-Rechten stehen die Entfaltungsrechte, die dem Menschen nicht nur das Leben und Überleben sichern sollen, sondern ein menschenwürdiges, wenn auch nicht für sich schon gutes Leben.63
2. Recht auf beiden Seiten Nun zu einer zweiten Komplikation. Gerechtigkeitsprobleme treten, wie dargelegt, im unmittelbaren oder über Rechtsnormen vermittelten Sozialzusammenhang auf. Damit können und werden oft Gerechtigkeitsgesichtspunkte auf mehreren, konkurrierenden Seiten betroffen sein.64 Fragen sozialer Gerechtigkeit etwa werden ausgetragen zwischen Gebenden, die etwas erarbeitet haben, und Nehmenden, die ohne die Abgabe des Stärkeren bestimmte Bedürfhisse nicht befriedigen könnten. Hier lässt sich unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten auf der einen Seite „Leistung", „Investitionsverhalten", „Marktglück" bzw.
62 Vgl. die Darstellung bei Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., 1996. Im Übrigen führt auch die Behauptung eines im Weltmaßstab vorherrschenden moralischen Relativismus nicht so weit, wie manche Skeptiker meinen. Vgl. Brülisauer, Moral und Konvention, 1988, S. 69 ff. 63 Dieser Kernbestand an Rechten und Freiheiten lässt sich selbstverständlich auch anders gliedern. 64 Methodisch lässt sich diese Sachlage meistens als Prinzipienkollision bezeichnen. Vgl. näher Alexy (Fn. 26), S. 78 f f ; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 97 ff.
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„Marktgerechtigkeit" ins Spiel bringen, 65 auf der anderen Seite „Bedürftigkeit". Beide Aspekte sind berücksichtigenswert, wobei im Rahmen unserer Kultur vermutlich ein Konsens darüber vorhanden sein wird, dass keines der beiden Elemente gänzlich wegfallen darf. Es gibt aber auch dramatischere Beispiele. Bei einer Abtreibung konkurrieren auf beiden Seiten schwerwiegende Interessen. Die abtreibungswillige Schwangere sieht ein unerwünschtes Kind nicht nur als leicht zu ertragende vorübergehende Beschränkung ihres Lebensplanes an, sondern als zumindest 18 Jahre dauernde, umfassende, arbeitsaufwendige Verpflichtung für das Wohlergehen eines anderen Menschen, die oft berufliche Pläne beschränkt und manchmal eine Partnerschaft gefährdet. Für den Embryo auf der anderen Seite gibt es nur ein Entweder-Oder, keinen „Ausgleich": Er wird zum Menschsein zugelassen und geboren, oder aber nicht zum Menschsein zugelassen und abgetrieben. Hier konkurrieren auf beiden Seiten legitime Interessen von eminenter Bedeutung. Je nach Sicht und Gewicht der betroffenen Interessen kann die Wahl für die Interessen der Schwangeren oder des Embryos ausfallen. So lässt sich die Ansicht vertreten, das Lebensinteresse des ungeborenen Kindes sei klar gewichtiger als das Persönlichkeitsentfaltungsinteresse der Schwangeren, da es für den Embryo um ein Alles oder Nichts geht, für die Frau dagegen um ein Mehr oder Weniger an Persönlichkeitsentfaltungsfreiheit. Ebenso könnte man aber auch argumentieren, „Rechte" stünden nur geborenen Menschen zu; im Vorstadium der Geburt stünden dem Embryo entweder gar keine oder aber nur allmählich erstarkende Interessen bzw. Rechte zu: Dann könnte das Personlichkeitsentfaltungsinteresse der Frau das Lebensinteresse des ungeborenen Kindes von vornherein oder in der konkreten Abwägung übertrumpfen. Für beide Standpunkte 66 lassen sich also, wie ich meine, gute, zumindest vertretbare Gründe vorbringen. Trotzdem muss sich die einzelne Schwangere zwischen den beiden Interessen entscheiden und muss sich der Staat entscheiden, ob er die Entscheidung der Schwangeren freistellt oder dem Leben des Embryos Schutz garantiert. Wie auch immer die Legislative oder das Verfassungsgericht sich entscheiden wird, ob für weitgehende Freigabe oder weitgehende Beschränkung der Abtreibung, wird es in unserer Gesellschaft Personen und Gruppen geben, die die staatliche Entscheidung als willkürlich und somit als klaren Unrechtsfall 65 Hier stellt sich wieder die schon bei Fn. 12 angesprochene, streitige Frage, ob der Talentierte, dessen Talente vom Markt belohnt werden, diese Vorzüge „verdient" hat oder ob diese „willkürlich" und damit auszugleichen sind. 66 Die erstgenannte, enge Auffassung einer Freiheit zur Abtreibung wird vom BVerfG vertreten. Vgl. BVerfGE 39, 1. Die zweitgenannte, weite Auffassung vertritt der amerikanische Supreme Court. Vgl. Roe versus Wade, 410 U.S. 113 (1973). Ein Vergleich der beiden Urteile bei Brugger, NJW 1986, 896 ff.; ders., JöR N.F. 36 (1987), 49 ff.
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ansehen werden. Bei einer weitgehenden Freigabe der Abtreibung werden etwa einige christliche Gruppen das Gemeinwesen nicht mehr als das „ihre" ansehen. 67 Bei einer weitgehenden Beschränkung der Abtreibung werden viele abtreibungsentschlossene Frauen ihre Existenz bedroht sehen. Ist dieser Konfliktfall mit dem hier vorgeschlagenen dualen Weg über (1.) Eliminierung unstreitiger Unrechtsfälle und (2.) Integrierung möglichst vieler streitiger Rechtsfälle im kommunikativen und politischen Prozess zu lösen? Offensichtlich nicht: Nach hier vertretener Auffassung läge kein unstreitiger Unrechtsfall vor, weil auf beiden Seiten gute, zumindest vertretbare Gründe vorgebracht werden können, so dass eigentlich nach einem offenen politischen Prozess der Gesetzgeber das „letzte Wort" haben dürfte. Vermutlich ist dieser Fall aber nicht repräsentativ für Gerechtigkeitsprobleme, weil er nur in der Alternative von Entweder-Oder entschieden werden kann, während bei den meisten anderen Gerechtigkeitsproblemen ein Mehr-oder-Weniger, ein Ausgleich irgendeiner Art, denkbar ist. 68
3. Das Recht zwischen Politik und Gerechtigkeit Einzugehen ist auf eine weitere Komplikation in Bezug auf den dualistischen material-prozessualen Ansatz zur Behandlung von Gerechtigkeitsfragen. Solange der Bereich unstreitiger Unrechtsfälle nicht erreicht ist, bewegt sich politisches Handeln auf der Ebene der Auseinandersetzung vertretbarer Gerechtigkeitsargumente, in der im Rahmen eines offenen Argumentationsprozesses letztlich per parlamentarischer Mehrheit zu entscheiden ist und die verfassungsgerichtliche Kontrolle sich im Wesentlichen auf Kompetenz- und Verfahrensfragen beschränkt. 69 Daraus darf aber nicht der Schluss gezogen werden, bei jeder politischen Entscheidung gehe es der Sache nach exklusiv oder primär um konkret fassbare Gerechtigkeitsprobleme. Die Gerechtigkeit einer politisch-staatlichen Entscheidung ist das höchste, aber nicht das einzige Wertungskriterium, an dem das
67 Festzuhalten ist immerhin, dass der Staat durch die Freigabe der Abtreibung die Abtreibung nicht erzwingt. Wer an die Unantastbarkeit des Lebens glaubt, kann für den Fall der Schwangerschaft im eigenen Verantwortungskreis dieses Gebot als für sein Verhalten verbindlich anerkennen. Es ist dann nur nicht möglich, dieses Gebot über staatliches Gesetz anderen aufzuzwingen. 68 Für denjenigen, der mit einem seines Erachtens nach gegebenen „unstreitigen Unrechtsfall" konfrontiert wird, stellt sich dann die Frage nach Umfang und Grenze des Gesetzesgehorsams: Wo fängt ein (moralisches, rechtliches) Widerstandsrecht an? Wie könnte, sollte ein solches aussehen? 69 Vgl. oben Abschnitt IV.
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Handeln der politischen Organe zu messen ist. 70 Max Weber hat die Pluralität und Konkurrenz der im öffentlichen Leben anzutreffenden Wertsphären eingängig beschrieben: „Es kann einen Standpunkt geben, für den Kulturwerte ,aufgegeben' sind, auch soweit sie mit jeglicher Ethik in unvermeidlichem, unaustragbarem Konflikt liegen. Und umgekehrt ist eine Ethik, die alle Kulturwerte ablehnt, ohne inneren Widerspruch möglich. Jedenfalls aber sind beide Wertsphären nicht identisch. Ebenso ist es ein schweres (freilich weit verbreitetes) Missverständnis, wenn geglaubt wird: ,formale' Sätze, wie etwa die der Kantischen Ethik, enthielten keine inhaltlichen Anweisungen. Die Möglichkeit einer normativen Ethik wird allerdings dadurch nicht in Frage gestellt, dass es Probleme praktischer Art gibt, fiir welche sie aus sich selbst heraus keine eindeutigen Weisungen geben kann (und dahin gehören, wie ich glaube, in ganz spezifischer Art bestimmte institutionelle, daher gerade sozialpolitische' Probleme), und dass ferner die Ethik nicht das einzige ist, was auf dieser Welt ,gilt', sondern dass neben ihr andere Wertsphären bestehen, deren Werte unter Umständen nur der realisieren kann, welcher ethische ,Schuld' auf sich nimmt. Dahin gehört speziell die Sphäre politischen Handelns. Es wäre m. E. schwächlich, die Spannungen gegen das Ethische, welche gerade sie enthält, leugnen zu wollen". 7 1
Was Weber hier in den Blick nimmt, ist die Tatsache, dass politisch-kulturelle Entscheidungen eine eigene Wertigkeit und Logik entwickeln können, die nicht von vornherein im Hinblick auf das Ziel gerechter Verteilung von Vorteilen und Lasten bezogen sind. Handele es sich um die Förderung von Wissenschaft und Kunst, die Subventionierung des Kohlebergbaus, die kostspielige Finanzierung der europäischen Agrarwirtschaft, Entwicklungshilfe an finanzschwache Länder oder die Zulassung des Kraftfahrzeugverkehrs - immer geht es auch und oft vorrangig um kulturelle und (oder) politische Gemeinwohlziele, die um die Stichworte kulturelle Identität, politischer Machterhalt (bzw. Machtgewinn), ökonomische Effizienz, wirtschaftliche Wohlfahrt, europäische Friedenssicherung und weltpolitische Überlegungen komplexer Art kreisen. Die von Weber angesprochenen Spannungen zwischen der ethischen und politischen Ebene ergeben sich etwa, wenn zur Finanzierung des im Staat zu verteilenden Bruttosozialprodukts unfaire Wettbewerbsbedingungen gegenüber Entwicklungsstaaten aufrechterhalten werden. Nicht zu vergessen sind auch die Abstriche, die im Hinblick auf die Verteilung größtmöglicher Summen zur allgemeinen Wohlfahrtssicherung an kulturellen Exzellenzmaßstäben hinzunehmen sind. 72
70 Vgl. schon oben Fn. 27 zur limitierenden Funktion von Gerechtigkeit, ferner Rawls (Fn. 12), S. 19: „Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen." 71 Weber , Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl., 1973, S. 504. 72 So wenigstens die Ansicht von de Tocqueville , Über die Demokratie in Amerika, in: Mayer (Hrsg.), De Tocqueville, Werke und Briefe, 1959, S. 282.
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Versucht man, den Unterschied zwischen Gerechtigkeitsmaßstäben und politischen Gemeinwohlzielen genauer zu analysieren, so lässt sich ein von einer Parlamentsmehrheit vertretenes und in rechtliche Form gegossenes politisches Programm vorrangig oder zumindest auch unter dem Gesichtspunkt rechtfertigen, „dass die Entscheidung ein bestimmtes kollektives Ziel der Gemeinschaft als ganzer fördert oder schützt".73 „Kollektive Ziele unterstützen eine Koordinierung von Kosten und Nutzen in der Gemeinschaft, die den Zweck hat, einen Gesamtnutzen fur die Gemeinschaft als ganze zu erzeugen". 74 Verteilungsgesichtspunkte spielen in jedem politischen Programm eine Rolle, sie sind aber im Hinblick auf den Wert des Gesamtprogramms legitimiert und nicht (von vornherein) von einem genuinen Recht der betroffenen Individuen her geboten.75 Das heißt nicht, dass politische Programme dem Bürger nicht auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten offeriert und von ihm als solche akzeptiert werden können: In den meisten Fällen liegt dann aber, soweit es nicht um unstreitige Unrechtsfalle oder unstreitige Gerechtigkeitsgebote geht, eine Gemengelage von Legitimitätsstrategien vor, in denen die politische Rechtfertigung (Wohlfahrtssicherung, nationale Sicherheit usw.) sich nur im Rahmen vertretbarer Gerechtigkeitsgesichtspunkte halten muss. Tut sie das, liegt eine unter Gerechtigkeitsaspekten vertretbare Regelung, im Übrigen aber eine politische Entscheidung im ursprünglichen Sinne vor: der verbindlichen Entscheidung von Streitfragen über die Richtung, Gewichtung und Konkurrenz von vielfältigen Gemeinwohlgesichtspunkten, die die Parlamentsmehrheit per Gesetz dekretiert und notfalls mit Zwangsgewalt sanktioniert. Zusammenfassend: Politische Auseinandersetzungen betreffen also nicht nur die (1.) Dialektik von unstreitigen Unrechtsfällen und streitigen Rechtsfällen und deren unaufhebbar fließende Übergänge; sie beziehen sich auch (2.) auf die Konkurrenz unterschiedlicher sonstiger politisch bedeutsamer Werte (Kultur, Wohlstand, Sicherheit usw.) sowie (3.) deren Konkurrenz sowohl zu den unstreitigen Unrechtsfällen als auch den streitigen Gerechtigkeitskonzeptionen. 76 Nimmt man dann noch hinzu, dass die politisch bedeutsamen Gemeinwohlziele
73
Dworkin
(Fn. 19), S. 146.
74
Dworkin
(Fn. 19), S. 160.
75 Demgemäß können vom Prinzip der Gerechtigkeit her gebotene Rechte (wie das Wahlrecht für Bürger) als „individuierte politische Ziele", politische Programme als „nichtindividuierte politische Ziele" angesehen werden: so Dworkin (Fn. 19), S. 159,
160.
76 Eine Parallele zu dieser Problematik im Grundgesetz sind die Schrankenvorbehalte zu den Grundrechten, über die sich die politischen Programme der Parlamentsmehrheit Geltung verschaffen können. Selbst scheinbar vorbehaltlos verankerte Grundrechte wie Art. 4 Abs. 1 und 5 Abs. 3 GG können durch die „immanenten Grundrechtsschranken", das heißt sonstige Verfassungsrechtsgüter von zumindest gleichem Gewicht, etwa Gesichtspunkte nationaler Sicherheit, beschränkt werden.
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(4.) sowohl unter normativen Gesichtspunkten (wie wichtig ist die militärische Sicherheit gegenüber dem Sozialbudget?) als auch (5.) empirischen Rationalitätskriterien (wird die militärische Sicherheit besser durch konventionelle oder atomare Waffen gefördert?) affirmiert oder kritisiert werden können, so verwundert es nicht, dass der Aussagegehalt von Gerechtigkeitsargumenten oft als entweder unschlüssig oder aber, wo schlüssig, als bloße Verbrämung partikulärer Interessen eingeschätzt wird. 77 Trotzdem greift diese Sicht zu kurz: Gerechtigkeit ist in einem Rechtsstaat der höchste, aber nicht der einzige Wert. Mit ihm konkurrieren andere Güter, die ftir das Gemeinschaftsleben ebenfalls wichtig und parteipolitisch bedeutsam sind. Gerechtigkeitsaspekte kommen schlüssig und in einem allgemeiner Zustimmung fähigen Sinn zur Geltung, wo es um die Ausschaltung elementarer Unrechtserfahrungen geht. Diese können und werden trotz der Pluralität von Weltanschauungen zu einem gleichsinnigen und tendenziell eindeutigen (Un-) Rechtsurteil aller Betroffenen führen. 78 Gerechtigkeitsaspekte kommen aber auch dadurch zum Tragen, dass in dem Bereich des Streites um verbindliche Gerechtigkeitskonzeptionen und erstrebenswerte Gemeinwohlziele die Stimme aller gehört, gezählt und, vor der politischen Mehrheitsentscheidung, auch berücksichtigt wird. Hier wird das grundlegende, von der Gerechtigkeit positiv gebotene Bürgerrecht der demokratischen Mitwirkung sichtbar: „Das Recht, als ein Gleicher behandelt zu werden: Dieses Recht betrifft nicht die gleiche Verteilung eines Gutes oder einer Chance, sondern es ist das Recht, in der politischen Entscheidung darüber, wie diese Güter und Chancen zu verteilen sind, auf gleiche Weise berücksichtigt und geachtet zu werden". 79
4. Mensch und Politik zwischen Realismus und Idealismus Damit stoßen wir auf einen vierten Problemkreis. Im Bereich der politisch zu regelnden Entscheidungsprobleme hat das Parlament unterschiedliche Gemeinwohlgesichtspunkte abzuwägen und im Rahmen vertretbarer Gerechtigkeitsar77
Zum letztgenannten Punkt gleich noch in Abschnitt IV. 4. Das übersieht Weber (Fn. 71), S. 505, der zu radikal formuliert: „Zu den von keiner Ethik eindeutig entscheidbaren Fragen gehören die Konsequenzen des Postulates der »Gerechtigkeit 4." Seine These trifft den weiten Bereich der, in unserer Terminologie, „streitigen Rechtsfragen", etwa im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit. Er übersieht aber die Tatsache, dass auch in der modernen Welt bei den „unstreitigen Unrechtsfällen" so etwas wie Eindeutigkeit und Einhelligkeit des Urteils möglich ist. 79 Dworkin (Fn. 19), S. 440. Vgl. auch S. 297 ff., 325 f., 368 ff., ferner das Zitat des BVerfG oben Fn. 44. Dieses grundlegende Recht der gleichen Mitwirkung lässt sich auch anhand der Kantischen Formel der „Freiheit, Gleichheit, Selbstständigkeit" bzw. „Mitwirkung" darlegen. Vgl. Schild und Schwartländer , beide in: Schwartländer (Fn. 24), S. 135 ff., 187 ff. 78
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gumente zu positivieren. Liegt kein unstreitiger Unrechtsfall - also vor allem keine Verletzung von Grund- und Menschenrechten - vor, so ist der parlamentarischen Entscheidung, weil und insofern sie per Mehrheit in einem ordentlichen Verfahren beschlossen worden ist, die Legitimität nicht abzusprechen. Legitimität ist aber, wie schon erwähnt, kein Alles-oder-Nichts-Konzept, sondern lässt sich im Sinne des Mehr-oder-Weniger deuten.80 Dies ist nicht so sehr von Bedeutung für die rechtliche Verbindlichkeit und staatliche Sanktionierungsmöglichkeit eines solchen „legitimen" Gesetzes: Die Rechtssicherheit und die Nöte politischen Handelns verlangen es, dass über streitige Rechtsfragen entschieden, die Vieldeutigkeit der Gerechtigkeitskonzeptionen verdeutlicht und das Recht nicht nur gesetzt, sondern auch durchgesetzt wird. 81 Das Mehr oder Weniger an Legitimität ist aber von erheblichem Belang für die Bereitschaft der unterlegenen Parteien und Bürger, dem ihrem Gerechtigkeitsgefühl widersprechenden Gesetz freiwillig - und nicht nur, wo die Gefahr der staatlichen Sanktionierung droht 82 - Gehorsam zu leisten. Ein wesentlicher Faktor ist hier die Kultur der politischen Auseinandersetzung, und zwar vor allem hinsichtlich der Frage, ob der Idealfaktor des gegenseitigen Berücksichtigens der widerstreitenden Standpunkte tatsächlich zu einem Realfaktor der Ausrichtung und Legitimierung politischer Programme geworden ist. Nur unter dieser Voraussetzung kann der Bürger davon ausgehen, als ein Gleicher, nämlich der gleichen Achtung und Berücksichtigung werter Bürger, im politischen Argumentations- und Entscheidungsprozess anerkannt worden zu sein, auch wenn er bei der parlamentarischen Mehrheitsentscheidung unterlegen ist. 83 Die verfassungsrechtliche Strukturierung des politischen Entscheidungsprozesses durch Kommunikationsrechte, Mehrparteienprinzip und das auf Öffentlichkeit, Argumentation und Begründung angelegte Parlamentsrecht kann dieses Ernstnehmen der konkurrierenden Interessen und Meinungen nur institutionell ermöglichen, nicht aber in den einzelnen Entscheidungsträgern individuell absichern. Natürlich wird jeder Politiker im Wahlkampf und im parlamentarischen Prozess (und wird jedes Individuum im Privatleben) dazu neigen, seine Interessen als auch dem anderen zumutbar darzustellen. Ob er das aber wirklich meint, was er faktisch sagt - eine für das Gegenüber und dessen
80
Vgl. oben Fn. 38 f., 50. Vgl. Zippelius (Fn. 25), § 23, und Rüthers (Fn. 20), S. 23: „Gerechtigkeit ohne Rechtssicherheit kann ... im Chaos widerstreitender Theorien über materiale Gerechtigkeitsbilder enden." 82 Vgl. Höffe (Fn. 1), Sp. 896: Die Gerechtigkeit „bewährt sich dort, wo man trotz größerer Macht und Intelligenz andere nicht zu übervorteilen sucht oder wo man auch dann sein Tun und Lassen an der Gerechtigkeitsidee ausrichtet, wenn das geltende Recht hinter ihren Anforderungen zurückbleibt oder die Durchsetzung unwahrscheinlich wird." 83 Vgl. oben bei Fn. 79. 81
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Gehorsamsbereitschaft bedeutsame Frage! - , lässt sich ohne Einsichtnahme in die letzten Motive des Menschen nicht aufklären. Gerade diese letzten Motive aber sind für die Umwelt oft undurchschaubar. Der Mensch kann eigennützig und (oder) fremdnützig motiviert sein; sein Handeln kann - was immer er sagtauf das Privatinteresse und (oder) auf das Allgemeinwohl bezogen sein; der Mensch kann sich als Nutzen maximierender „rational actor" oder aber (auch) als gemeinsinniger „reasonable man", als „vernünftig und gerecht denkender Bürger" verstehen. Diese Stellung des Menschen und Bürgers in mehreren Welten ist konstitutiv und unaufhebbar. So spricht Kant etwa von zwei Polen des menschlichen Handelns: der Verfolgung der eigenen Glückseligkeit, zu der Macht, Reichtum, Ehre, Gesundheit, Wohlbefinden, Erkenntnis und anderes gehören, und der Achtung fur das moralische und Rechtsgesetz, das gutes und gerechtes Handeln gebietet, was immer die Konsequenzen für das eigene Lust- und Glücksstreben sind. 84 Der erste Pol indiziert einen Hang zur Selbstliebe oder gar zum Bösen im Menschen, der zweite eine Anlage zum Guten. Menschliches Handeln bewegt sich notwendigerweise zwischen diesen beiden Polen, ohne dass die jeweilige Nähe oder Ferne zum Guten und Gerechten bzw. Bösen und Ungerechten für den anderen (oder auch den Handelnden) immer klar feststellbar wäre. Auch der Begriff der Vernunft verändert seinen Charakter nach dem jeweils gewählten Orientierungspunkt. Vernunft als Klugheit kommt zum Vorschein, wenn der Mensch „alle [seine] Absichten zu seinem eigenen dauernden Vortheil zu vereinigen" weiß; sie umfasst dann „die Geschicklichkeit eines Menschen, auf andere Einfluß zu haben, um sie zu seinen Absichten zu gebrauchen". 85 Vernunft als moralische Selbstbestimmung kommt zur Wirklichkeit, wenn der Mensch sich dazu entschließt, aus Achtung für das moralische Gesetz und das Recht zu handeln, also z.B. auch die Selbstentfaltungsinteressen und Gerechtigkeitsmeinungen der anderen ernsthaft zu berücksichtigen: „Die praktische Nothwendigkeit nach diesem Princip zu handeln, das ist die Pflicht, beruht gar nicht auf Gefühlen, Antrieben oder Neigungen, sondern bloß auf dem Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander, in welchem der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muss, weil es sie sonst nicht als Zweck an sich selbst denken könnte. Die Vernunft bezieht also jede Maxime des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen Willen ... und dies zwar nicht um irgendeines andern praktischen Bewegungsgrundes oder künftigen Vortheils
84
Vgl. z.B. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe IV, S. 387 ff., und eine zusammenfassende Interpretation bei Schwartländer , Der Mensch ist Person, 1968, S. 25 ff. 85 Kant (Fn. 84), S. 416 Anmerkung.
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willen, sondern aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht als dem, das es zugleich selbst giebt". 8 6 In Parallele zu dieser Kantischen Sicht charakterisiert Carl von Rotteck in einem Lexikonartikel von 1838 8 7 die Spannung des menschlichen und insbesondere politischen Handelns zwischen Privatnutzen und Gemeinwohl: Unter Gemeingeist versteht er „die von den Mitgliedern eines gemeinen Wesens oder einer Gesamtheit desselben liebend zugewandte Gesinnung, die Richtung des Gemütes auf die Verfolgung allgemeiner oder gemeinsamer, das heißt einer durch irgend ein Band unter sich verbundenen Gesamtheit eigener Interessen, verschieden also von oder entgegengesetzt derjenigen Richtung, welche bloß egoistische oder individuelle, oder denselben mehr oder minder verwandte partikuläre Interessen sich zum Ziele des Handelns und Strebens setzt". 88 In diesem Gemeinsinn sieht von Rotteck „das eigentliche Lebensprinzip und auch die einzige Bürgschaft des Gedeihens der Gemeinwesen. Er ist die wahre Bürgertugend, deren Mangel durch nichts anderes ersetzt werden kann, nicht durch jene des Gehorsams, welcher, wenn nicht durch den Gemeingeist eingeschärft und veredelt, nimmer Großes erzeugt; nicht durch den Schrecken der Gewalt, weil diese - ohnehin stets auf unsicherem Boden ruhend - nur lahmen Knechtsdienst, nicht aber energisches Streben sich zu Gebote stehen hat; nicht endlich durch die künstlichsten Einrichtungen und besterdachten Verfassungen und Gesetze, weil dieselben ohne den Gemeingeist, der ihre Bedeutung erfaßt und liebend ihnen gehorcht, leicht zu leeren Formen oder bloßen Schällen werden, ausgesetzt, je nach den Interessen der einzelnen, der Nichtachtung oder listigen Umgehung, oder auch der mutwilligen Verdrehung und dem schnöden Mißbrauche". 89 Was diese klassischen Texte der Philosophie und Politik als unaufhebbare und oft undurchschaubare Aufstiegs- und Abstiegsmöglichkeiten des politischen Handelns 9 0 charakterisieren, lässt sich auch psychoanalytisch reformulieren. 9 1 Der Mensch steht als instinktentbundenes und auf Außenorientierung angewiesenes Wesen in unterschiedlichen Sphären: Er kann sich selbst als aktueller,
86 Kant (Fn. 84), S. 434. Zur Unterscheidung des instrumentalistischen und des ethischen Vernunftbegriffes siehe auch Brugger (Fn. 6), Abschnitte III-V, VIII. 87 Von Rotteck, Artikel Gemeingeist (1838), in: ders./Welcker (Hrsg.), Staatslexikon oder Enzyklopädie der Staatswissenschaften, Band 6, 1838, zitiert nach Greiffenhagen (Hrsg.), Uber Politik, Deutsche Texte aus zwei Jahrhunderten, 1968, S. 131 ff. 88
Von Rotteck (Fn. 87), S. 131.
89
Von Rotteck (Fn. 87), S. 133.
90
Weitere Nachweise zu den Unterscheidungen von, wie man auch sagen könnte, „normaler Politik" und ethisch geläuterter „Verfassungspolitik" bei Brugger (Fn. 6), Abschnitt IX. 91 Die folgenden Kategorien des (1.) empirischen, aktuellen, (2.) wahren und (3.) idealen Menschen sind Horney, Neurose und menschliches Wachstum, 3. Aufl., 1985, entliehen. Man hätte ebenso gut Freuds Kategorien des Es, Ich, und Über-Ich anführen können.
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empirischer Mensch wahrnehmen und begegnen, der schlicht seine jeweiligen Interessen verfolgt und affirmiert. Er kann sich, als Gegenteil hiervon, auch als idealer Mensch begreifen, der seine empirische Verfasstheit mit ihren Wünschen und Bestrebungen gänzlich dem Ideal etwa von Tugend und Gerechtigkeit unterordnet. Er kann schließlich auch sein wahres Selbst in einem Ausgleich zwischen seinen empirischen Bedürfnissen und deren notwendiger Vermittlung in den Sozialzusammenhang suchen und so sich selbst auch in den anderen finden, die ebenfalls ihr wahres Selbst durch ihn klären und erweitern können.92 Diese wiederholten Hinweise auf die Unaufhebbarkeit und oftmalige Undurchschaubarkeit der möglichen Motivationsebenen des menschlichen Handelns sind politisch und verfassungsrechtlich von eminenter Bedeutung: Gerechtes Handeln im Sinne der ernsthaften Berücksichtigung der Interessen und Meinungen anderer und der Verfolgung der eigenen Ziele im Rahmen einer vertretbaren Gerechtigkeitskonzeption ist eine Möglichkeit des Menschen und eine Chance der Politik, die institutioneller Ermöglichungsbedingungen bedarf. Gerechtes Handeln ist, abgesehen von der Beachtung rechtlicher Vorschriften, keine allgemeine, gar erzwingbare Rechtspflicht, 93 sondern ein moralisches Gebot. Als solche private und öffentliche Tugend 94 ist Gerechtigkeit nicht schlicht als Faktum voraussetzbar, sondern bedarf als Faziendum der Klärung der eigenen Interessen im Hinblick auf ihre allgemeine Ansinnbarkeit im Rahmen der vertretbaren Gerechtigkeitskonzeptionen. Weder ergeben „private vices" automatisch „public benefits", 95 noch kann und soll der Mensch gänzlich von seinen individuellen Bedürfhissen abstrahieren und nur noch tugendhaft sein, wie Rousseau glauben machen wollte. 96 Vielmehr ist und bleibt der Mensch ein We-
92
Zu dieser Analyse Brugger , Das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht, 2005, Abschnitt V. 93 Deswegen verwende ich den Begriff „Ermöglichungsbedingung" und nicht „Verwirklichungsgarantie". Der liberale Staat hat, anders als der Tugendstaat, keine Garantenstellung in Bezug auf die Sicherung der Moralität seiner Bürger. Deshalb haben Grundrechte eine Abwehrfunktion: die Absicherung eines individuellen Freiheitsspielraums, der auch gegen eine überzogene Moralisierung des Rechtssystems wirkt. Andererseits hat der Staat im Rahmen seines Bildungssystems die Aufgabe, das materiale und prozessuale Wertprofil des Gemeinwesens zu vermitteln, um den heranwachsenden Bürgern eine informierte und verantwortliche Stellungnahme zu den Identifikationsangeboten ihres Gemeinwesens zu ermöglichen. 94
Vgl. schon obenFn. 1,30, 55. De Mandeville , Die Bienenfabel oder Der Einzelnen Laster, des Ganzen Gewinn (The Fable of the Bees: or Private Vices, Publick Benefits, 1705), in: Bobertag (Hrsg.), 1913, S. 23: „Von Lastern frei zu sein, wird nie was andres sein als Utopie. Stolz, Luxus und Betrügerei muss sein, damit ein Volk gedeih." 96 Vgl. Rousseau, Du Contrat Social, Buch 2, Kap. III. Zu Rousseau und dem auf Rousseaus Lehren aufbauenden Tugendterror von Robespierre siehe Böckerstette (Fn. 20), S. 170 ff., 187 ff. 95
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sen mit privaten und öffentlichen Interessen, was auch der moderne Staat berücksichtigt: Die Partei ist „Partei", tritt aber mit dem Anspruch auf, als gewählte Regierung auch die Interessen des ganzen Volkes zu repräsentieren. Sie kann dies aber nur, wenn sie nicht bloß per Mehrheit ihre jeweilige Konzeption des Gemeinwohls in Gesetzesform gießt, sondern in Stil, Argumentation, Entscheidung und Begründung die Realien der Politik mit dem Ideal der Gerechtigkeit vermittelt und so größtmögliche Legitimität sichert, um dem politisch unterlegenen Bürger freiwilligen Gesetzesgehorsam zu ermöglichen. Diesem Ziel der Politik zur Ermöglichung von Rechtsfrieden und Rechtsgehorsam entspricht aber die Aufgabe aller Bürger, auch ihr „wahres Selbst" im Gemeinschaftsleben zur Entfaltung zu bringen. Der Bürger soll in einem freiheitlichen Gemeinwesen weder nur größtmögliche Interessenmaximierung anstreben, noch darf er auf einhelliger Anerkennung seiner Gerechtigkeitsideale bestehen. Auch er muss seine Interessen klären und erweitern und Abstriche an seinen Gerechtigkeitsvorstellungen hinnehmen, soweit nicht Unrechtserfahrungen betroffen sind, die im Rahmen der Gemeinschaft als unstreitige Unrechtsfälle einzustufen sind. Nur durch diese gemeinsame Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung der gegenseitigen Interessen und Ideen 97 kann unversöhnlicher Streit zur Versöhnung im Streit, kann der Kampf aller gegen alle zum Austausch aller mit allen werden.
97
Vgl. oben Fn. 53.
Staatsverschuldung als Verfassungskrise? Von Klaus Lange I. Die Verfassungen setzen der Staatsverschuldung Grenzen. Nach Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG und den meisten Landesverfassungen dürfen die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben fiir Investitionen nicht überschreiten. Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Das ist die Fassung, die Art. 115 GG in der Haushaltsreform des Jahres 1969 erhalten hat.1 Die meisten Bundesländer haben sie - teilweise mit Modifikationen - in ihre Landesverfassungen übernommen.2 Die Hessische Verfassung bestimmt demgegenüber in ihrem Art. 141 S. 1: „Im Wege des Kredits dürfen Geldmittel nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur fiir Ausgaben zu werbenden Zwecken beschafft werden". Das ist die sozusagen klassische Formulierung. Sie stand so schon in Art. 87 S. 1 der Weimarer Verfassung von 1919. Als die Hessische Verfassung im Jahre 1946 geschaffen wurde, wurde diese Norm wörtlich übernommen. Auch das Grundgesetz übernahm sie, als es, zweieinhalb Jahre später, im Jahr 1949 in Kraft trat. Erst mit der Haushaltsreform des Jahres 1969 erhielt Art. 115 GG seine heute geltende Fassung. Während die meisten Landesverfassungen diese Änderung des Grundgesetzes nach vollzogen, behielt die Hessische Verfassung, die auch sonst nicht gerade als änderungsanfällig bekannt ist, ebenso wie die der Hansestadt Hamburg 3 die alte Fassung bei. Sowohl Art. 141 S. 1 HessVerf. als auch Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG binden die Krediteinnahmen an die Investitionsausgaben. Denn unter Ausgaben für werbende Zwecke im Sinne der hessischen Verfassungsbestimmung wird nichts an1
20. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 12.5.1969 (BGBl. I S. 357). So Art. 84 S. 2 BWVerf.; Art. 87 Abs. 2 S. 2 BerlVerf. (mit dem Zusatz in Art. 87 Abs. 2 S. 1, dass Kredite nur aufgenommen werden dürfen, wenn andere Mittel zur Deckung nicht vorhanden sind); Art. 103 Abs. 1 S. 2, 3 BbgVerf.; Art. 131a S. 2 BremVerf.; Art. 117 S. 2 RhPfVerf.; Art. 95 S. 2 SächsVerf.; Art. 99 Abs. 2, 3 SachsAnhVerf.. Ähnlich Art. 65 Abs. 2 S. 1,2 Μ W e r f . ; Art. 71 S. 2, 3 NdsVerf.; Art. 83 S. 2 NRW Verf.; Art. 108 Abs. 2 SaarlVerf.; Art. 53 S. 2 SchlHVerf.; Art. 98 Abs. 2 S. 2, 3 ThürVerf. 3 Art. 72 Abs. 2 HmbVerf. Demgegenüber macht Art. 82 S. 1 BayVerf. die Beschaffung von Geldmitteln im Wege des Kredits nur von einem außerordentlichen Bedarf abhängig. 2
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Klaus Lange
deres verstanden als Ausgaben flir Investitionen.4 Doch ist diese Bindung der Krediteinnahmen an die Investitionsausgaben unterschiedlich. Nach dem Wortlaut der Hessischen Verfassung dürfen Krediteinnahmen regelmäßig nur für Investitionen verwendet, also Kredite nur zu diesem Zweck aufgenommen werden. Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG verzichtet auf eine solche ausdrückliche Zweckbindung von Krediteinnahmen und erklärt die im Haushaltsplan veranschlagten Investitionsausgaben lediglich zur grundsätzlichen Obergrenze der zulässigen Krediteinnahmen. Auf die Folgerungen aus diesen unterschiedlichen Formulierungen wird zurückzukommen sein. Ein weiterer Unterschied der Hessischen Verfassung zum Grundgesetz liegt darin, dass die Bindung der Kreditaufnahme an Ausgaben für Investitionen in Hessen nur „in der Regel" gilt, also nicht näher definierte Ausnahmen zulässt. Zu diesen Ausnahmen gehören nach Auffassung des Hessischen StGH auch Kreditaufnahmen zur Abwehr von Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.5 Aber im Gegensatz zum Grundgesetz sind auch andere Sachverhalte denkbar, die eine Ausnahme von der grundsätzlichen Bindung der Kreditaufnahme an die Investitionsausgaben zulassen. Dafür enthält die Hessische Verfassung eine andere, zusätzliche Einschränkung, die das Grundgesetz so nicht mehr kennt. Die Beschaffung von Krediten ist nach ihrem Art. 141 nämlich nicht nur daran gebunden, dass sie in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken erfolgen darf, sondern sie ist nach der ausdrücklichen Vorgabe der Hessischen Verfassung außerdem auch nur dann zulässig, wenn ein außerordentlicher Bedarf besteht. Ein solcher außerordentlicher Bedarf kann nach dem Urteil des StGH vom 12.12.2005 angenommen werden, wenn sich im Verlauf des Haushaltsjahres eine planwidrige Deckungslücke ergibt, die der Haushaltsgesetzgeber bei vertretbarer prognostischer Einschätzung der zu erwartenden Entwicklung im Rahmen der Aufstellung des Haushaltsplans nicht vorhergesehen hat.6 Unter solchen Umständen hält der StGH auch eine Ausnahme von der grundsätzlichen Begrenzung der Krediteinnahmen durch die Investitionsausgaben für gerechtfertigt. So unterschiedlich die genannten und die mit ihnen jeweils übereinstimmenden Verfassungsbestimmungen über die Staats Verschuldung mindestens ihrem Wortlaut nach sind, so gleich sind sie offenbar in der Schwäche ihrer Steuerungskraft. Sie haben jedenfalls die Entstehung einer gigantischen Staatsschuld nicht verhindert. Das wirft die Frage auf, ob die Verfassung hier versagt hat ja, ob sie nicht selbst dadurch in eine krisenhafte Situation geraten ist.
4 5 ö
So HessStGH, StAnz. 2005, 4727 (4738). HessStGH, StAnz. 2005, 4727 (4739). HessStGH, StAnz. 2005, 4727 (4736).
Staatsverschuldung als Verfassungskrise?
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II. Das wichtigste Instrument, mit dem die Verfassungen des Bundes und der Bundesländer die Staatsverschuldung zu bremsen versuchen, ist deren Begrenzung durch die Ausgaben fiir Investitionen. Dahinter steht die Absicht, künftige Generationen davor zu schützen, den Verbrauch vorangegangener Generationen, von dem sie selbst nichts haben, durch Zins- und Tilgungsleistungen finanzieren zu müssen. Nur soweit den Krediteinnahmen Ausgaben für Investitionen gegenüberstehen, soll es eines solchen Schutzes nicht bedürfen, weil von Investitionen positive Zukunftswirkungen erwartet werden. Dieses grundsätzliche Verbot einer Staatsverschuldung - außer bei entsprechend hohen Ausgaben für Investitionen - hat vielfältige Wurzeln. Zunächst soll es die Handlungsfähigkeit des Staates in der Zukunft erhalten.7 Der Staat soll nicht durch eine in der Vergangenheit eingegangene Verschuldung aktionsunfähig werden oder sich die notwendige Aktionsfähigkeit nur um den Preis inflationärer Geldvermehrung 8 verschaffen können. Dieser Gesichtspunkt hat in einem demokratischen Staatswesen9 besondere Bedeutung. Demokratie ist essenziell auf die Möglichkeit eines Wechsels der politischen Macht angelegt, und das bedeutet nicht nur die Möglichkeit eines personellen Wechsels der jeweiligen politischen Führung, sondern auch die Möglichkeit eines Wechsels politischer Inhalte.10 Die Einengung künftiger politischer Handlungsoptionen durch eine verschuldungsbedingte Belastung der Zukunft beeinträchtigt diese Möglichkeit demokratischen Politikwechsels. Überhaupt zielt Demokratie im Kern darauf, dass das Volk über sein politisches
7
Vgl. Fischer-Menshausen, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, 3. Aufl., 1996, Art. 115 Rn. 1; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, 2000, Art. 115 Rn. 7; Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl., 2003, Art. 115 Rn. 11; Wendt, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, 5. Aufl., 2005, Art. 115 Rn. 7. 8 Vgl. Friauf[ Staatskredit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 2. Aufl., 1999, § 91 Rn. 20; Maunz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Stand: August 2005, Art. 115 Rn. 30. 9
Vgl. Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG; Art. 65 HessVerf. Vgl. BVerfGE 79, 311 (343): „... entspricht der Demokratie der Gedanke der Herrschaft auf Zeit und die Achtung der Entscheidungsfreiheit auch künftiger Generationen"; Böckenförde, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 8 f. (26): „Dieses Fundament (gemeint sind die formalen und verfahrensbezogenen Garantien des ,Freiheitsprinzips der Demokratie', der Verfasser) garantiert die dauernde Offenheit des politischen Prozesses; es macht inhaltliche Entscheidungen, mögen sie so oder anders getroffen sein, revidierbar; sie können in Frage gestellt und neu bedacht, abgeändert und bestätigt werden. Nicht schon, wenn inhaltlich ungerechte Entscheidungen ergehen, wohl aber, wenn dieses Fundament in Frage gestellt oder ausgehöhlt wird, hebt Demokratie sich auf." Weitere Nachweise unter anderem bei Ifenseier, AöR 108 (1983), 489 (501). 10
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Schicksal selbst entscheidet. Damit ist im Grundsatz das jeweils existierende Volk gemeint. Mit dieser demokratischen Selbstbestimmung ist es trotz der unvermeidbaren Eingebundenheit des Volkes in eine von früheren Generationen gestaltete Geschichte und der unvermeidbaren Fernwirkungen staatlicher Entscheidungen11 nicht ohne Weiteres kompatibel, wenn die Entscheidungsmöglichkeiten des Volkes durch Vorentscheidungen vorangegangener Generationen geschmälert werden. Hinzu kommen ethische Aspekte, die inzwischen zum Teil, insbesondere durch die Grundrechte, Verfassungsrang erlangt haben. Zunächst drängt sich die Frage auf, inwieweit es mit dem Gleichheitsgrundsatz, wonach alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind (Art. 3 Abs. 1 GG, 1 HessVerf.), vereinbar sein kann, dass der Staat zugunsten der gegenwärtig lebenden Generation Schulden aufnimmt, die eine künftige Generation, die von den Vorteilen der Kreditaufnahme nichts mehr hat, bezahlen muss. Die Anwendung des Gleichheitssatzes in der zeitlichen Dimension ist ein geläufiges Phänomen. Wir kennen es unter anderem von der Selbstbindung der Verwaltung an die von ihr einmal gewählten Maßstäbe für Ermessensentscheidungen, von denen sie bei späteren Ermessensentscheidungen nicht ohne triftigen Grund abweichen darf. Wie sollte dann eine Staats Verschuldung, wenn sie die gegenwärtigen Generationen ohne triftigen Grund zu Lasten künftiger Generationen benachteiligt, mit dem Gleichheitssatz zu vereinbaren sein? Gewiss kann es triftige Gründe für eine Staatsverschuldung geben. Allein der Umstand, dass die gegenwärtige Generation ihren Lebensstandard aufrechterhalten will, dürfte dafür aber nicht ausreichen. Eng mit diesem Verständnis des Gleichheitssatzes verwandt ist der Grundsatz der Generationengerechtigkeit. Er kommt in Art. 20a GG zum Ausdruck. Danach schützt der Staat auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen. Das Ziel, künftigen Generationen intakte Verhältnisse zu hinterlassen, wird hier nur in Bezug auf die natürlichen Lebensgrundlagen ausgesprochen. Aber es wäre wenig sinnvoll, die verfassungsrechtlich eingeforderte Verantwortung für die künftigen Generationen nicht auch auf sonstige Existenzbedingungen zu beziehen, die für künftige Generationen kein geringeres Gewicht haben.12 Art. 20a GG wird daher als verfassungsrechtliche 11 Deshalb lehnt Henseler , AöR 108 (1983), 507, es ab, dem Demokratieprinzip ein Gebot zu entnehmen, um des Entscheidungsspielraums künftiger Parlamente willen auf politisch für wünschenswert erachtete, aber Folgelasten verursachende Maßnahmen zu verzichten. Im gleichen Sinne BVerfGE 79, 311 (343). 12 Vgl. Borchert , Zeitschrift für Sozialreform 1994, 1 (5 ff., 20); Isensee, in: Wendt/Höfling/Karpen/Oldiges (Hrsg.), FS Friauf, 1996, S. 705 (706); Waechtei\ NuR 1996, 321 (325 f.); Schulze-Fielitz , in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, 2. Aufl., 2006, Art. 20a Rn. 38; Kirchhof, DVB1. 2002, 1569 (1571), der allerdings unter Bezug auf die moralische Seite des Staatskredits ausführt: ..Wer Nachhaltigkeit in der Bewirt-
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Wertentscheidung zugunsten des Schutzes kommender Generationen verstanden werden müssen.
III. Ob die grundsätzliche Bindung staatlicher Kreditaufnahme an die staatlichen Investitionsausgaben dem danach durchaus auch verfassungsrechtlich gewichtigen Ziel des Zukunftsschutzes wirklich dient, ist allerdings zweifelhaft. Der hinter dieser Bindung stehende Grundgedanke ist freilich gut nachvollziehbar. Er geht dahin, dass heute vorgenommene Investitionen in der Zukunft Erträge bringen. Für sie getätigte Ausgaben sind in diesem Sinne werbende Ausgaben. Da künftige Generationen davon profitieren, kann ihnen auch die damit verbundene Kostenlast zugemutet werden. Es wäre eher ungerecht, die investierende, aber aus den Investitionen noch keinen Nutzen ziehende Generation damit zu belasten. So plausibel dieser Grundgedanke ist, so unzureichend ist jedoch seine verfassungsrechtliche Umsetzung. Das liegt zum Teil daran, dass die zukunfitsbegünstigende Wirkung von Investitionen sich mit der zukunftsbelastenden Wirkung von Krediten nicht ohne Weiteres deckt. Die Erträge von Investitionen sind vielfach auf einen wesentlich kürzeren Zeitraum beschränkt als die Laufzeit der vom Staat aufgenommenen Kredite. 13 Solange Kreditbelastung und Investitionserträge nicht auch zeitlich aufeinander abgestimmt sind, ändert die Bindung der Staatsverschuldung an die Investitionsausgaben deshalb nichts daran, dass die Zins- und Tilgungsleistungen weitgehend von denjenigen aufzubringen sind, die nicht Nutznießer der Investitionen sind. Das macht das undifferenzierte Abstellen auf die Investitionsausgaben zu einem Maßstab, der seiner Zielrichtung, dem Zukunftsschutz, nur unvollkommen gerecht wird. Wenn Investitionen als Maßstab der Kreditbegrenzung danach ohnehin nicht sonderlich geeignet sind, könnte man meinen, dass man es mit diesem Maßstab auch sonst nicht allzu genau nehmen müsse. Tatsächlich wird der Investitionsbegriff in diesem Zusammenhang vielfach als ein unbestimmter Rechtsbegriff angesehen, hinsichtlich dessen dem Haushaltsgesetzgeber ein erheblicher Beurteilungsspielraum zustehe. Die Ausfüllung dieses Beurteilungsspielraums durch schaftung von ökologischen Ressourcen zum Schutz der Generationen fordert, muss der Forderung auch bei Finanzressourcen genügen, welche kommende Generationen ebenso benötigen"; Rawls , Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 320 ff.; Leist, Intergenerationelle Gerechtigkeit, in: Bayertz (Hrsg.), Praktische Philosophie, 1994, S. 322 ff.; Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 187 ff. 13
Vgl. Halstenberg, DVB1. 2001, 1405 (1406).
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den Haushaltsgesetzgeber könne verfassungsgerichtlich nur daraufhin überprüft werden, ob der Begriff im Prinzip zutreffend ausgelegt und der dadurch bezeichnete allgemeine Rahmen eingehalten werde. 14 Das führt weitgehend zu einer Orientierung an der Haushaltspraxis. Da der Haushaltsgesetzgeber bei der Kreditveranschlagung von Verfassungs wegen gerade an die Investitionsausgaben gebunden ist, muss der Begriff „Investition" in diesem Zusammenhang aber einen Inhalt haben, der seiner Steuerungsaufgabe gerecht wird. 15 Er verliert seine Begrenzungsfiinktion, wenn seine Auslegung zu weitgehend dem Haushaltsgesetzgeber überlassen wird, dessen Handeln gerade an einen durch diesen Begriff geprägten Maßstab gebunden sein soll. Eine Kontrolle, die dem Kontrollierten die Bestimmung des Kontrollmaßstabs überlässt, ist keine echte Kontrolle mehr. Die Unvollkommenheit der undifferenziert verwendeten Investitionsausgaben als Verschuldungsmaßstab spiegelt sich aber auch in der Interpretation der Begriffe „Einnahmen aus Krediten" (Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG) bzw. „im Wege des Kredits (beschaffte) Geldmittel" (Art. 141 S. 1 Hess Verf.), für welche die im Grundgesetz und in den Landesverfassungen vorgeschriebene Begrenzung durch die Investitionsausgaben gelten soll. Nach herrschender Meinung sollen unter den Einnahmen aus Krediten im Widerspruch zum Wortlaut nicht alle Einnahmen aus Krediten zu verstehen sein. Vielmehr seien davon die Kredite abzuziehen, die zur Tilgung früherer Kredite verwendet werden. Nur für die danach verbleibende Nettokreditaufiiahme gelte die Verschuldungsgrenze der Investitionsausgaben. 1 6 Eine solche Auslegung bietet sich für Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG und die ihm nachgebildeten landesverfassungsrechtlichen Normen in der Tat an. Denn Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG begrenzt die Einnahmen aus Krediten grundsätzlich durch die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen. Würde er für die gesamten Krediteinnahmen im jeweiligen Haushaltsjahr gelten, so dürfte deren Summe die für dasselbe Haushaltsjahr veranschlagten Ausgaben für Investitionen grundsätzlich nicht überschreiten. Damit würde aber au14
So Maunz (Fn. 8), Art. 115 Rn. 39 f.
15
Das BVerfG hat sich, soweit ersichtlich, bislang nicht für einen Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers hinsichtlich des Investitionsbegriffs ausgesprochen. In BVerfGE 79, 311 ff., ist von einer Präzisierung des Investitionsbegriffs lediglich abgesehen worden, weil es ihrer in der konkreten Fallkonstellation nicht bedurfte. Ebenso letztlich BVerfG, Urteil vom 9.7.2007 - Az.: 2 BvF 1/04 - Rn. 140. 16 Vgl. Höfling, in: Eichel/Möller (Hrsg.), FS 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, S. 326, 336; Heun (Fn. 7), Art. 115 Rn. 20; Wendt (Fn. 7), Art. 115 Rn. 35;
Heintzen, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, 5. Aufl., 2003, Art. 115 Rn. 12, jeweils m.w.N. Ähnlich HessStGH, StAnz. 2005, 4727 (4738). wo die Zugrundelegung der Nettokreditaufnahme durch den Gesetzgeber für zulässig erachtet wird, also auch insofern offenbar ein Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers angenommen wird.
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ßer Acht gelassen, dass eine Kreditaufnahme auch für Investitionen früherer Jahre sinnvoll ist, solange den daraus erwachsenden finanziellen Belastungen Erträge der Investitionen gegenüberstehen. Da sich die Erträge von Investitionen nicht auf das Jahr beschränken, in dem die Ausgaben dafür im Haushaltsplan veranschlagt worden sind, ja in diesem zumeist noch gar nicht eintreten, gibt es keinen Grund, Krediteinnahmen in späteren Jahren grundsätzlich zu verbieten, auch wenn ihnen dann keine im Haushaltsplan veranschlagten Investitionsausgaben mehr gegenüberstehen. Dies spricht dafür, Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG und die ihm entsprechenden Bestimmungen in Landesverfassungen nur als Begrenzung der Nettokreditaufiiahme zu verstehen. Dieses Verständnis des Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG und der ihm nachgebildeten landesverfassungsrechtlichen Normen ist aber nichts anderes als die Folge dessen, dass mit der Haushaltsreform des Jahres 1969 die materielle Bindung von Krediteinnahmen, nach der Geldmittel im Wege des Kredits in der Regel nur fiir Ausgaben zu werbenden Zwecken beschafft werden durften, aufgehoben und durch die rein formale zahlenmäßige Begrenzung der Krediteinnahmen durch die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Investitionsausgaben ersetzt wurde. Die formale Präzision des neu gefassten Art. 115 GG erleichtert dessen Anwendung, legt zugleich jedoch eine restriktive Interpretation des Begriffs der Krediteinnahmen nahe, die über eine sinnvolle Koordination von Krediteinnahmen und Investitionserträgen hinausgeht und den Staat geradezu einlädt, alte Kreditschulden, statt sie endgültig zu tilgen, unentwegt durch neue Kredite abzulösen und seine Schuldenlast mindestens im Rahmen der verfassungsrechtlich zugelassenen Nettokreditaufiiahme ständig zu erhöhen. Unter diesen Umständen verwundert der katastrophale und skandalöse Tatbestand, dass die Gesamtverschuldung der Bundesrepublik Deutschland seit deren Entstehung so gut wie stetig gestiegen ist, 17 nur noch begrenzt. Dass dieser Umgang mit den Staatsfinanzen geradewegs in einen fiskalischen Abgrund führt, dessen Erreichen nur eine Frage der Zeit ist, liegt auf der Hand. Mag diese Misere durch die auf die Haushaltsreform des Jahres 1969 zurückzuführende Fassung des Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG und der daran anknüpfenden Landesverfassungsbestimmungen ermöglicht und nur durch eine Änderung dieser Normen aufhaltbar sein, so besteht doch kein Grund, auch die landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen über die staatliche Kreditaufnahme, die wie die Vorgängernorm des Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 87 Weimarer Verfassung lauten, ebenfalls als bloße Begrenzungen der Nettokreditaufiiahme zu interpretieren. Das gilt für die Hessische Verfassung wie für die Verfassung der Hansestadt Hamburg.
17
Nur im Jahr 1969 wurde der Anstieg der Gesamtverschuldung der Bundesrepublik kurzfristig unterbrochen.
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Vordergründig mag auch hier für eine solche Freistellung der Krediteinnahmen, die zur Tilgung älterer Kredite verwendet werden, von der verfassungsrechtlichen Begrenzung durch die Investitionsausgaben angeführt werden, dass einem Kredit, der auf diese Weise faktisch prolongiert wird, grundsätzlich wenigstens bei seiner erstmaligen Aufnahme Investitionsausgaben gegenübergestanden haben müssen, die ihn verfassungsrechtlich rechtfertigten. Gerade in Anbetracht der begrenzten Lebensdauer staatlicher Investitionen reicht diese Überlegung aber nicht aus, um die Zukunftsbelastung durch Kreditverlängerungen mit dem Hinweis auf früher einmal getätigte Investitionsausgaben zu legitimieren. Andernfalls würde die Aufrechterhaltung eines für längst obsolet gewordene Investitionen einmal aufgetürmten staatlichen Schuldenbergs durch immer neue Kredite in eine unbegrenzte Zukunft auch von diesen landesverfassungsrechtlichen Kreditbegrenzungsnormen nicht erfasst werde. Das ist weder mit dem Wortlaut noch mit dem Schutzzweck der an die Weimarer Verfassung und die ursprüngliche Fassung des Art. 115 GG anknüpfenden landesverfassungsrechtlichen Kreditbegrenzungen vereinbar. Ihr Sinn spricht vielmehr dafür, dass die grundsätzliche Begrenzung staatlicher Krediteinnahmen auf Ausgaben für Investitionen nicht nur für die Nettokreditaufnahme gilt, sondern sich in Übereinstimmung mit dem Normtext auf alle in dem jeweiligen Haushaltsjahr veranschlagten Krediteinnahmen bezieht. Dass die verfassungsrechtliche Kreditbegrenzung sich auf alle Einnahmen aus Krediten bezieht, entspricht auch der herrschenden Auslegung des Art. 115 GG a.F.,18 ebenso wie es noch heute den Kommentierungen zur Hessischen Verfassung entspricht. 19 Freilich wäre es sinnvoll, Kreditmittel auch dann als für werbende Zwecke beschafft anzusehen, wenn sie Kredite ablösen, mit denen in früheren Jahren Investitionen finanziert worden sind, soweit diese weiterhin Erträge bringen - nicht aber darüber hinaus. Die Auffassung, dass die verfassungsrechtliche Kreditbegrenzung nur für die Nettokreditaufnahme gelte, kann nach alledem für die an die Weimarer Verfassung und die ursprüngliche Fassung des Art. 115 GG anknüpfenden Landesverfassungen schon de lege lata nicht überzeugen. Wortlaut, Sinn und Entste-
18
Vgl. Viaion, Haushaltsrecht, 2. Aufl., 1959, Art. 115 GG Rn. 4 ff. Auch Art. 87 S. 1 WRV wurde so verstanden, dass die materiellen Voraussetzungen der betriebswirtschaftlichen Mittelbeschaffung ebenso wie der Gesetzesvorbehalt des Art. 87 S. 2 WRV nicht etwa nur für die Nettokreditaufnahme, sondern für die gesamte staatliche Kreditaufnahme galten. Vgl. Saemisch, Das Staatsschuldenwesen, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, 1932, S. 435 (437 f.). 19 Von Zezschwitz, in: Zinn/Stein, Verfassung des Landes Hessen, Stand: Januar 1999, Art. 141 Anm. IV.4; Hecker, Staats- und Verfassungsrecht, 2002, Rn. 514. Anderenfalls müsste dem Begriff der im Wege des Kredits beschafften Geldmittel in Art. 141 S. 1 HessVerf. auch ein anderer Inhalt beigelegt werden als dem unzweifelhaft auf alle Einnahmen aus Krediten zielenden Begriff in Art. 141 S. 2 HessVerf., obwohl dieser sich gerade auf den in Art. 141 S. 1 verwendeten Begriff bezieht.
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hungsgeschichte ihrer einschlägigen Normen legen es vielmehr nahe, die Begrenzung der staatlichen Kreditaufnahme durch die Investitionsausgaben auf die gesamte staatliche Kreditaufnahme zu beziehen. De lege ferenda ist auch für das Grundgesetz und die übrigen Landesverfassungen eine die gesamte staatliche Kreditaufnahme steuernde Regelung unentbehrlich.
IV. Die Bedenken, denen die Verfassungsbegriffe „Einnahmen aus Krediten' 4 und „Ausgaben für Investitionen4'20 und ihre Auslegung danach ausgesetzt sind, setzen sich hinsichtlich der weiteren verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Staatsverschuldung fort. Das gilt zunächst für die Regelung des Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG, wonach Ausnahmen von der Begrenzung der Krediteinnahmen durch die Investitionsausgaben zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zulässig sind. Der Hessische StGH hält diese Regelung wegen der durch Art. 109 Abs. 2 GG begründeten Verpflichtung auch der Länder, bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen, ebenfalls im Rahmen des Art. 141 HessVerf. für anwendbar. 21 Ob die staatliche Kreditaufnahme auch nur zur Abwehr konjunktureller Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geeignet ist, ist inzwischen erheblichen Zweifeln ausgesetzt. Personalausgaben und Sozialleistungen als große Blöcke des Staatsverbrauchs lassen sich aus rechtlichen wie politischen Gründen nur sehr eingeschränkt im Sinne einer antizyklischen Konjunktursteuerung verändern. Selbst in dem am ehesten flexiblen Bereich staatlicher Investitionen besteht beträchtliche Unsicherheit, ob eine über Kreditaufnahmen ermöglichte stärkere staatliche Nachfrage zu hinreichend zeitnahen Reaktionen privater Anbieter wie insbesondere der Bauwirtschaft führt. 22 Damit eröffnet Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG die Möglichkeit einer über die Investitionsausgaben hinausgehenden Kreditaufnahme, für die möglicherweise keine stichhaltigen Gründe bestehen. Gravierender als solche gegen die verfassungsrechtliche Regelung selbst gerichtete Bedenken sind freilich die Bedenken, die sich gegen deren ausufernde Interpretation und Anwendung richten.
20 Nach Art. 141 S. 1 HessVerf. „im Wege des Kredits beschaffte Geldmittel" und „Ausgaben zu werbenden Zwecken". 21 Vgl. Fn. 5. 22 Wendt/Elicker, DVB1. 2001, 497 (503).
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Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG wird vielfach allein für sich gelesen, als ob er eine Kreditaufnahme immer dann gestatte, wenn sie zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geeignet und bestimmt sei. Damit wird aber der systematische Zusammenhang ausgeblendet, in dem Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG mit Art. 109 Abs. 2 GG steht. Nach Art. 109 Abs. 2 GG haben Bund und Länder bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen. Diese Verpflichtung gilt nicht nur für Rezessionsphasen, sondern auch für Phasen guter Konjunktur. In der Rezession kann Art. 109 Abs. 2 GG fordern, dass ein eintretender Steuerausfall durch Kreditaufnahme zu kompensieren ist, um prozyklische Ausgabenkürzungen zu vermeiden. Dem steht aber die Verpflichtung gegenüber, entstandene Defizite in Normallagen und Boomphasen in angemessener Frist zurückzufuhren, um den fiir konjunkturelle Störungslagen erforderlichen finanzpolitischen Handlungsspielraum zurückzugewinnen. Mittelfristig muss hiernach die konjunkturell bedingte Neuverschuldung null sein.23 In diesem Sinne hat das BVerfG schon 1989 ausgeführt, dass Art. 109 Abs. 2 GG unter anderem verhindern soll, dass sich - jeweils unterhalb der Höchstgrenze des Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG ein stetig wachsender Schuldensockel bildet, der schließlich die Fähigkeit des Staatshaushalts, auf die Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu reagieren, in Frage stellt. 24 Im Hinblick auf die Verschuldungsgrenze des Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG bedeutet dies, dass die auf das Investitionsvolumen abstellende Kreditgrenze nur ausgenutzt werden darf, soweit dies mit den Anforderungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vereinbar ist. 25 Generell wird in der Literatur aus Art. 109 Abs. 2 GG - auch für Rezessionsphasen - abgeleitet, dass die Verschuldungsgrenze dann erreicht sein muss, wenn eine weitere Kreditaufnahme zur Unbeweglichkeit der Haushaltspolitik führen würde. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn die Zinslasten die konjunkturpolitische Beweglichkeit des Haushalts zukünftig so einschränken würden, dass die Verpflichtungen aus Art. 109 Abs. 2 GG nicht mehr erfüllt werden könnten. Es spricht einiges dafür, dass diese Grenze inzwischen weit überschritten ist. 26 Die skizzierte Verschränkung des Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG mit Art. 109 Abs. 2 GG und die daraus auch folgende Einschränkung des Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG ist in der Staatspraxis ganz unzureichend beachtet worden. Trotz starken konjunkturellen Wachstums sind in der Vergangenheit Schulden nicht etwa abgetragen worden,
23
Wendt/Elicker,
24
B V e r f G E 79, 311 (355 f.).
25
Friauf
26
Wendt/Elicker,
DVB1. 2001, 500 m.w.N.
(Fn. 8), Rn. 32 m . w . N . ; Wendt/Elicker, DVB1. 2001, 501 m.w.N.
DVB1. 2001, 500.
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vielmehr wurde die Neuverschuldung selbst bei guter Konjunktur sogar noch ausgeweitet.27 Ein anderer Missbrauch der Möglichkeit, Kredite zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts aufzunehmen, kam hinzu. Es besteht in der Rechtswissenschaft Einigkeit darüber, dass das durch Art. 109 Abs. 2 GG ermöglichte deficit spending nur zur Abwehr konjunktureller Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geeignet ist. Strukturell bedingte Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts lassen sich dadurch nicht vermeiden. Deshalb gestattet Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG eine die Investitionsausgaben überschreitende Kreditaufnahme grundsätzlich nur zur Abwehr konjunkturell bedingter Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.28 Seit einer Reihe von Jahren ist man sich aber ziemlich einig darüber, dass die konkreten Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts keine konjunkturellen, sondern strukturelle Ursachen haben, gegen die mit einer kreditfinanzierten Nachfrageerhöhung des Staates nichts auszurichten ist. 29 Das hat die Politik auf Bundes- wie Landesebene aber nicht daran gehindert, Kreditaufnahmen mit der Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu begründen. Solche Fehlentwicklungen hinzunehmen, ist dadurch erleichtert worden, dass das BVerfG bei der Beurteilung, ob eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt oder unmittelbar droht, und bei der Einschätzung, ob eine erhöhte Kreditaufnahme zu ihrer Abwehr geeignet ist, einen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers anerkennt und ihm als Entsprechung zu diesem Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum eine Darlegungslast im Gesetzgebungsverfahren auferlegt, dass, aus welchen Gründen und in welcher Weise er von der Befugnis zu einer die Investitionsausgaben überschreitenden Kreditaufnahme Gebrauch macht/ 0 Dies kann im Ergebnis jedoch keinen Freibrief für den Haushaltsgesetzgeber bedeuten. Es bleibt weiterhin Aufgabe der Verfassungsgerichte, im Streitfall zu prüfen, ob die Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers nachvollziehbar und vertretbar ist. Wenn etwa der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einer solchen Kreditaufnahme die Eignung zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abspricht und keine vertretbaren Gegengründe ersichtlich sind, dann lässt sich die Kreditaufnahme nicht mit der Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts rechtferti-
27 Von Arnim/Weinberg, Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 140 f., 150: Wendt/Elicker, DVB1. 2001, 499. 28 Vgl. Fischer-Menshausen (Fn. 7), Art. 115 Rn. 14a; Heun (Fn. 7), Art. 115 Rn. 24 ff.; Wendt (Fn. 7), Art. 115 Rn. 29 ff. 29 Vgl. Wendt/Elicker, DVB1. 2001, 503 f. 30 So BVerfGE 79, 311 (343 ff.); BVerfG (Fn. 17). Rn. 131.
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gen. 31 Einnahmen aus Krediten, welche die Summe der Investitionsausgaben überschreiten, sind dann auf Bundesebene verfassungswidrig. In Hessen sind sie es nach Art. 141 HessVerf. ebenfalls, wenn nicht sonstige verfassungsrechtlich relevante Ausnahmesachverhalte, die allerdings immer auch einem außerordentlichen Bedarf entspringen müssen, sie zu rechtfertigen vermögen.
V. Die Hessische Verfassung lockert die Bindung der Staatsverschuldung an die Investitionsausgaben dadurch, dass sie sie bloß für den Regelfall fordert. Das ist in Anbetracht dessen, dass Ausgaben für investive Zwecke jedenfalls bei undifferenziertem Verständnis ein nur begrenzt tauglicher Maßstab für die staatliche Kreditaufnahme sind, eine plausible Regelung. Sachgerecht ist aber auch sie nur, wenn die verfassungsrechtlich grundsätzlich vorgesehene Zweckbindung an die Investitionsausgaben ernst genommen wird und Abweichungen wirklich nur ausnahmsweise oder nur insoweit, als höherrangige Normen wie etwa Art. 109 Abs. 2 GG es verlangen, zugelassen werden. Die durch die bloße Regelbindung an die Investitionsausgaben erzeugte Offenheit der Kreditbegrenzung der Hessischen Verfassung wird aber wieder eingeschränkt dadurch, dass Art. 141 HessVerf die Staatsverschuldung über die regelmäßige Begrenzung durch Investitionszwecke hinaus an eine weitere Voraussetzung bindet, nämlich an das Vorliegen eines außerordentlichen Bedarfs. Der Begriff „außerordentlicher Bedarf ist traditionell „objektbezogen4' verstanden worden: Außerordentlich musste danach der Gegenstand des Bedarfs sein mit der Folge, dass laufende, regelmäßig wiederkehrende Ausgaben nicht davon erfasst wurden. 32 Heute gewinnt demgegenüber ein „situationsbezogenes" Verständnis des außerordentlichen Bedarfs an Boden. Danach soll nicht der Charakter der Aufgaben, für welche die Kreditmittel benötigt werden, maßgeblich sein, sondern der Grund für den außerordentlichen Bedarf, die Situation, aus der er entspringt. 33 Zur Begründung wird darauf hingewiesen, dass das Haushaltsrecht inzwischen nicht mehr darauf gerichtet sei, einzelne Einnahmen, also auch Einnahmen aus Krediten, bestimmten Verwendungszwecken zuzuordnen. § 7 Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG) schreibe vielmehr vor, dass alle Einnahmen
31 Vgl. die abweichende Meinung der Mitglieder des StGH Lange und Buchberger zu dem Urteil des HessStGH (Fn. 3), StAnz. 2005, 4742 (4744). 32 Vgl. Schulze/Wagner, Reichshaushaltsordnung, 8. Aufl., 1932, Neudruck 1952, § 3 Anm. 13; Saemisch (Fn. 18), S. 438; von Mangoldt , Das Bonner Grundgesetz, 1953, Art. 115 Erl. 3; Haller, , in: Cansier/Kath (Hrsg.), FS Ehrlicher, 1985, S. 125, 126 ff.; FriaufiFn. 8), Rn. 5. S. auch Viaion (Fn. 18), Art. 115 Anm. 7. 33 Vgl. HessStGH, StAnz. 2005, 4727 (4735 f.).
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als Deckungsmittel fiir alle Ausgaben dienten.34 Dabei wird freilich übersehen, dass § 7 S. 2 HGrG es durchaus zulässt, Einnahmen auf die Verwendung für bestimmte Zwecke zu beschränken, soweit dies durch Gesetz vorgeschrieben oder im Haushaltsplan zugelassen ist. Eine solche gesetzliche Vorschrift stellt Art. 141 S. 1 HessVerf. dar, wonach Geldmittel im Wege des Kredits nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken beschafft werden dürfen. Auf der Grundlage einer gleichwohl vertretenen situationsbezogenen Auslegung des außerordentlichen Bedarfs hat der Hessische StGH in seiner Entscheidung vom 12.12.2005 ein planwidriges Defizit der tatsächlichen gegenüber den erwarteten staatlichen Einnahmen ausreichen lassen, um einen außerordentlichen Bedarf anzunehmen.35 Kredite dürfen unter diesen Umständen auch zur Bestreitung laufender Verwaltungsausgaben aufgenommen werden. Ob das dem Sinn der von der Verfassung intendierten Zukunftsschonung entspricht, erscheint zweifelhaft. In jedem Fall muss dann aber wenigstens ein planwidriges Defizit vorliegen, das auf andere Weise nicht bewältigt werden kann. 36 Dafür reicht nicht schon jedes auch noch so geringfügige Zurückbleiben der tatsächlichen hinter den erwarteten Einnahmen aus.37
VI. Nach alledem lässt sich feststellen, dass die verfassungsrechtlichen Verschuldungsgrenzen aus mehreren Gründen ihre Wirkung verfehlt haben. Wenn Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG und die ihm folgenden Landesverfassungen die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze nur auf die Nettokreditaufiiahme beziehen, so ist mit dieser durch die Haushaltsreform des Jahres 1969 bewirkten Gestaltung der verfassungsrechtlichen Verschuldungsgrenze eine verfassungsrechtliche Steuerung der gesamten staatlichen Kreditaufnahme, welche die Weimarer Verfassung und die ursprüngliche Fassung des Art. 115 GG noch enthielten und über welche die Landesverfassungen von Hamburg und Hessen weiterhin verfügen, mit fatalen Folgen aus der Hand gegeben worden. Darüber hinaus sind die undifferenzierte Bindung an Investitionen und die Gestattung von Ausnahmen von der dadurch vorgegebenen Verschuldungsgrenze zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zweifelhafte Maßstäbe der Staatsverschuldung. Schließlich ist die Auslegung dieser Verfassungsbestim-
34
Vgl. HessStGH, StAnz. 2005, 4727 (S. 4735). HessStGH, StAnz. 2005, 4727 (4736). 36 So grundsätzlich auch HessStGH, StAnz. 2005, 4727 (4740 ff.). 37 Vgl. die abweichende Meinung der Mitglieder des StGH Lange und Buchberger zu dem Urteil des HessStGH (Fn. 4), StAnz. 2005, 4742 (4743). 35
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mungen durch eine sachlich nicht gerechtfertigte Großzügigkeit bestimmt, und selbst die dadurch weit gelockerten Bindungen der staatlichen Kreditaufnahme werden in der Praxis missachtet. Dahinter steht, abgesehen von der Neigung, Landesverfassungen trotz eigenständiger Regelungen nicht anders als das Grundgesetz zu verstehen, 38 neben keynesianischem Steuerungsoptimismus eine weit reichende Bereitschaft zur Anerkennung finanzpolitischer Bewegungsfreiheit als eines Kernbereichs politischer Gestaltung/ 9 So sehr die Rechtsordnung der Politik ihren Raum lassen muss, so wenig geht es indessen an, Verfassungsnormen in erheblichem Umfang zu ignorieren. Die Entwicklung der Staatsverschuldung ist auch nicht gerade ein Beleg dafür, dass diesem Bereich am besten gedient ist, wenn er ohne wirksame verfassungsrechtliche Umgrenzung allein politischer Entscheidung überlassen bleibt. Dass die Politik grundsätzlich bereit ist, sich Bindungen der Staatsverschuldung zu unterwerfen, zeigen die prinzipielle Akzeptanz der Maastricht-Kriterien und die politischen Bemühungen, ihnen Rechnung zu tragen. Die MaastrichtKriterien, die eine Begrenzung der Neuverschuldung der Mitgliedstaaten auf maximal 3 % des Bruttoinlandsprodukts verlangen, sind freilich mit der Drohung bewehrt, dass die Europäische Gemeinschaft bei Nichtbefolgung schmerzhafte finanzielle Sanktionen gegen die Mitgliedstaaten verhängt. Es wäre ein bedauerlicher Verlust an nationaler Eigenverantwortung, wenn die mit keinen vergleichbaren Sanktionen ausgestatteten verfassungsrechtlichen nationalen Selbststeuerungs- und Selbstkorrekturmöglichkeiten mangels Bereitschaft zu ihrer Umsetzung durch solche gemeinschaftsrechtlichen Kontrollen faktisch verdrängt und ersetzt würden. Die skizzierten Defizite und der beschriebene Umgang mit der verfassungsrechtlichen Verschuldungsbegrenzung haben zwar nicht zu dem geführt, was man eine Verfassungskrise nennen könnte, wohl aber zu einer Krise der Verfassungsnormen über die Staatsverschuldung - und das zu einer Zeit, in der es auf sie angekommen wäre. So wie sie gestaltet sind und wie sie gehandhabt werden, stellen sie eine unzulängliche Begrenzung der Staatsverschuldung dar. Zugleich werden sie selbst dadurch entwertet. Das wiederum ist eine tendenzielle Gefährdung der Verfassung selbst. Denn eine Verfassung lebt davon, dass sie wirksam ist, und dazu gehört gerade auch, dass sie respektiert und befolgt wird. Ihre Respektierung und Befolgung ist vor allem eine Aufgabe der Staatsorgane. Verfehlen sie sie, so schädigen sie den Konsens, der diesen Staat trägt. Dieser Konsens hat sich im Zuge der Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft mehr und mehr verengt auf die Übereinstimmung mit den ver-
38 Vgl. die abweichende Meinung der Mitglieder des StGH Lange und Buchberger zu dem Urteil des HessStGH (Fn. 4), StAnz. 2005, 4742 (4743). 39 Vgl. Osterloh , NJW 1990, 151 f.
Staatsverschuldung als Verfassungskrise?
251
fassungsrechtlich geordneten Grundstrukturen unseres Zusammenlebens.40 Zu diesen verfassungsrechtlichen Grundstrukturen gehören das Demokratieprinzip, Gleichheit und generationenübergreifende Gerechtigkeit. Das aber sind die Wurzeln der gebotenen Verschuldungsbegrenzung. Ihre Verletzung gefährdet den künftigen Zusammenhalt der Gesellschaft und damit eine elementare Voraussetzung von Staat und Verfassung.
40
Dazu Volkmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 62 vom 14.3.2006, S. 8.
Art. 84 Abs. 1 GG nach der Föderalismusreform V o n A r m i n Dittmann I. Einleitung M i t dem Gesetz zur Ä n d e r u n g des Grundgesetzes v o m 28.8.2006 1 hat eine langjährige verfassungspolitische Diskussion um die „Modernisierung der bundesstaatlichen O r d n u n g " 2 ihren (vorläufigen) 3 Abschluss gefunden und ist insow e i t als „Föderalismusreform I " nunmehr bereits Geschichte. Dieser neueste 4 Einschnitt in die verfassungsrechtlichen Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes d a r f gewiss m i t dem besonderen Interesse des Jubilars rechnen, gehört doch gerade die Aufbereitung v o n Entwicklungen der bundesstaatlichen (Verwaltungs-)Organisation in historischer Perspektive zu Schwerpunkten seiner wissenschaftlichen A r b e i t . 5 Der nachfolgende, dem Jubilar gewidmete Beitrag greift daher aus den vielfältigen Aspekten 6 der „Föderalismusreform I " m i t dem B l i c k a u f die Neufassung des A r t . 84 Abs. 1 G G denjenigen heraus, der sich in besonderer Weise a u f die künftige Ausgestaltung der Verwaltungsorganisation beim V o l l z u g von Bundesgesetzen auswirken kann und 1
BGBl. I S. 2034.
2
So der programmatische Titel der von Bundestag und Bundesrat eingesetzten gemeinsamen Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung; siehe 66. Sitzung des Bundestages am 16.10.2003, BT-Drs. 15/1685, und 792. Sitzung des Bundesrates am 17.10.2003, BR-Drs. 750/03. 3
Zur (notwendigen) Fortsetzung der „Föderalismusreform I" vom 28.8.2006 durch eine vornehmlich auf die grundgesetzliche Finanzverfassung bezogene „Föderalismusreform I I " siehe bereits die Absichtserklärung im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005, S. 109, sowie die Einsetzung der „Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen" durch Beschlüsse von Bundestag und Bundesrat vom 15.12.2006, BT-Drs. 16/3885 und BR-Drs. 913/06. 4 Siehe zuvor vor allem die umfangreichen Änderungen durch das „Finanzreformgesetz" vom 12.5.1969 (BGBl. I S. 359) sowie die Änderungen durch die Verfassungsreform vom 27.10.1994 (BGBl. I S. 3146). 5 Siehe etwa die Beiträge von Frotscher im Standardwerk „Deutsche Verwaltungsgeschichte", Band III, Das Deutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, 1984, S. 407 ff.: „Überblick über die Verwaltungsorganisation in den Bundesstaaten", sowie in Band IV, Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, 1985, S. 112 ff.: „Organisation der Reichsverwaltung und der Länderverwaltungen einschließlich Vorschläge zur Reichsreform". 6
Siehe etwa die Beiträge von Herzog, Scharpj.\ Reutter und Eppler in: „Föderalismusreform", APuZ (Beilage zu „Das Parlament") 50/2006; Degenhart, N V w Z 2006, 1209 ff.; Ipsen, NJW 2006, 2801 ff.; Knopp, N V w Z 2006, 1216 f f ; Rengeling, DVB1. 2006, 1537 ff.; Scheidler, UPR 2006, 423 ff.
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Armin Dittmann
nach den Intentionen des verfassungsändernden Gesetzgebers7 - neben einer Reduzierung des Anteils zustimmungspflichtiger Gesetze vor allem auch im Sinne einer Stärkung der Organisationshoheit der Länder auswirken soll.
II. Anlass und Ziele der Föderalismusreform In Wissenschaft und Staatspraxis bestand seit Langem weitgehender Konsens, dass sich die bundesstaatliche Ordnung in mehr als fünfzig Jahren und insbesondere auch in der Sondersituation der Wiedervereinigung 8 grundsätzlich bewährt habe,9 in den letzten Jahrzehnten jedoch zugleich in Teilbereichen sowohl normativ wie auf politischer Ebene eine Fehlentwicklung genommen habe, die die Grundlagen und Legitimation des grundgesetzlichen Föderalismus gefährde und daher einer Korrektur bedürfe. 10 Wesentliche Kritikpunkte waren in diesem Zusammenhang -
das Ausmaß und die Dynamik der Unitarisierung , die durch den Ausbau von Bundeskompetenzen und vielfältige Kooperation von Bund und Ländern bzw. zwischen den Ländern zu einem fortschreitenden Prozess der Vereinheitlichung materieller Regelungen gefuhrt und dem Föderalismus dadurch die innovative Kraft der Vielfalt genommen habe;11
-
die Entwicklung eines kooperativen Föderalismus , der neben seiner unitarisierenden Tendenz die Gestaltungsmöglichkeiten einzelner Länder einschränke, politische Verantwortung verwische und zum Bedeutungsverlust der Landesparlamente beitrage (Stichwort: Exekutivföderalismus); 12
7
Siehe BT-Drs. 16/813, S. 14 f. Dazu näher Dittmann , Föderalismus in Gesamtdeutschland, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 1997, § 205 Rn. 38. 8
9
So ausdrücklich auch noch die amtliche Begründung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Grundgesetzes vom 7.3.2006, BT-Drs. 16/813, S. 7. 10 Aus dem umfangreichen verfassungsrechtlichen Schrifttum dazu siehe etwa Bauer , DÖV 2002, 837 ff.; Henne/ce , DVB1. 2003, 854 ff.; Scholz , Zur Reform des bundesstaatlichen Systems, in: Brenner/Huber/Möstl (Hrsg.), FS Badura, 2004, S. 491 f f ; Haug\ DÖV 2004, 190 ff., jeweils m.w.N. zu vorgängigen Diskussionsbeiträgen. - Aus politikwissenschaftlicher Sicht etwa Hrbek/Eppler (Hrsg.), Deutschland vor der Föderalismus-Reform. Eine Dokumentation, 2003. 11
Grundlegend zu diesem Prozess Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962; zusammenfassend etwa Münch , APuZ (Beilage zu „Das Parlament") Β 13/1999, 3 ff. 12 Zu Begriff und Entwicklung des kooperativen Föderalismus unter dem Grundgesetz siehe zusammenfassend etwa Hofmann , Die Entwicklung des Grundgesetzes 1949 bis 1990, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 3. Aufl., 2003, § 9 Rn. 79 ff., und zur Begriffsgeschichte etwa Luthardt , APuZ (Beilage zu „Das Parlament") Β 13/1999, 12 (20 f.).
Art. 84 Abs. 1 GG nach der Föderalismusreform
255
- der Bedeutungszuwachs des Bundesrates als Folge ausgeweiteter Bundeszuständigkeiten und seine damit vor allem im Gesetzgebungsverfahren gestärkte Position als potenzieller „Vetospieler". Vor allem die ausgeprägten Zustimmungsbefugnisse der Länder über den Bundesrat haben bei unterschiedlichen politischen Mehrheitsverhältnissen in Bund und Ländern immer wieder zur Verzögerung oder sogar Verhinderung wichtiger Gesetzgebungsvorhaben oder zu in sich nicht stimmigen Kompromissen gefuhrt, bei denen die jeweilige politische Verantwortlichkeit nicht oder kaum noch zu erkennen war. 13 Der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze ist vor allem auch wegen Regelungen des Bundes über Organisation und Verfahren der Landesverwaltungen im Laufe der Zeit erheblich gestiegen und wurde mit etwa 60 % veranschlagt, wobei insbesondere in der bisherigen Fassung des Art. 84 Abs. 1 GG eine maßgebliche Ursache dieser Ausweitung gesehen wurde. 14 Spiegelbildlich zu diesen Kritikpunkten gingen die Zielvorstellungen in der Reformdebatte, bei unterschiedlichen Akzentuierungen durch Bund und Länder, 15 dahin, - die Zuständigkeiten von Bund und Ländern zu entflechten, insbesondere bestehende Mischfinanzierungen abzubauen, - Gesetzgebungskompetenzen des Bundes zurückzufuhren, - den Umfang zustimmungsbedürftiger Gesetze zu reduzieren, um durch eine derartige „Reföderal is ierung" der Kompetenzordnung - die Transparenz politischer Entscheidungsprozesse zu erhöhen, - politische Verantwortung eindeutig zuzuordnen und damit insgesamt die ordnungspolitischen Potenziale des Föderalismus für die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes neu zu erschließen. 16 13 So die Bewertung in der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Grundgesetzes, BT-Drs. 16/813, S. 7. 14 So die amtliche Begründung BT-Drs. 16/813, S. 14. Ausfuhrliche Nachweise zur Ursächlichkeit bundesgesetzlicher Organisations- und Verfahrensbestimmungen i.S.d. Art. 84 Abs. 1 GG a.F. für die Zustimmungsbedürftigkeit vieler Gesetze bei Georgii/ Borhanian, Zustimmungsgesetze nach der Föderal ismusreform, in: Deutscher Bundestag - Wissenschaftliche Dienste (Hrsg.), 2006, insbesondere S. 11, 16 ff. 15 Überblick über die Positionen von Bund und Ländern etwa bei Henneke, DVB1. 2003, 845 ff.; Haug y DÖV 2004, 190 ff.; Rauber, Artikel 84 und das Ringen um die Verwaltungshoheit der Länder, in: Holtschneider/Schön (Hrsg.), Die Reform des Bundesstaates, 2007, S. 36 (S. 43 ff.). 16 Zur funktionalen Legitimation des Bundesstaates unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten siehe etwa Jestaedt, Bundesstaat als Verfassungsprinzip, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl., 2004, § 29 Rn. 11 f.
Armin Dittmann
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Während fiir den Bund eine Stärkung seiner politischen Handlungsfähigkeit, eine höhere Effizienz und die Sicherung der „Europatauglichkeit" Deutschlands Kernziele der Föderalismusreform waren, 17 strebten die Ministerpräsidenten der Länder vor allem eine RefÖderalisierung der Kompetenzen und damit eine Stärkung der Länderautonomie an, 18 die Landesparlamente daneben eine Aufwertung ihrer Rolle im landesinternen Verhältnis zu den Landesregierungen. 19 Im Hinblick auf die Reformziele einer RefÖderalisierung der Kompetenzordnung, einer Stärkung der Länderautonomie und - vor allem - eines Abbaus zustimmungspflichtiger Bundesgesetze war es folgerichtig, eine Neufassung von Art. 84 Abs. 1GG von vornherein in die Reformüberlegungen einzubeziehen, um dieses schon sehr frühzeitig erkannte „Einfallstor" für die Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen20 den Reformzielen entsprechend zu verengen.
III. Die Neufassung von Art. 84 Abs. 1 GG Nach ausführlicher Erörterung unterschiedlicher Novellierungsvorschläge in der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung wie auch noch im anschließenden Gesetzgebungsverfahren 21 hat Art. 84 Abs. 1 GG durch das Änderungsgesetz vom 28.8.2006 mit der Einführung der Sätze 2 bis 7 nunmehr folgende Fassung erhalten:
17 Siehe das Papier des Bundesministeriums der Justiz „Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung - Position des Bundes" vom 9.4.2003; Text unter anderem bei
Hrbek/Eppler
(Fn. 10), S. 32 ff.
18
Siehe die von der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) am 27.3.2003 beschlossenen „Leitlinien für die Verhandlung mit dem Bund" (MPK-Leitlinien) und schon zuvor die Gemeinsamen Positionen der Ministerpräsidenten der Länder Baden-Württemberg, Bayern und Hessen „Modernisierung des Föderalismus - Stärkung der Eigenverantwortung der Länder" vom 8.7.1999; Text der MPK-Leitlinien unter anderem bei Hrbek/ Eppler
(Fn. 10), S. 26 ff.
19
Siehe dazu die auf dem Föderalismuskonvent der deutschen Landesparlamente am 31.3.2003 angenommene „Lübecker Erklärung der deutschen Landesparlamente: Bekenntnis zum Föderalismus und zur Subsidiarität - Landesparlamente stärken!"; Text unter anderem bei Hrbek/Eppler (Fn. 10), S. 36 ff. - Ein Überblick über die Vielzahl parlamentarischer Reformvorschläge zum Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland seit 1983 findet sich bei Thaysen , APuZ (Beilage zu „Das Parlament") Β 29-30/ 2003, 14 (17 ff.) und Robbers , Entwicklungsperspektiven des Föderalismus, in: Brenner/Huber/Möstl (Hrsg.), FS Badura, 2004, S. 431 ff. 20
21
Schneider , DVB1. 1953, 257.
Siehe dazu die Nachweise in der Dokumentation der Kommission, Deutscher Bundestag/Bundesrat (Hrsg.), Zur Sache 1/2005, S. 53 ff., und insbesondere die Synopse des Bundesministeriums der Justiz zu den Vorschlägen der Sachverständigen zu Art. 84 GG, Arbeitsunterlage 0053 der Kommission. Weiterhin etwa Röttgen/Boehl , Abweichung statt Zustimmung - Die Re-Adjustierung des Verhältnisses von Bundestag und Bundesrat durch Änderung des Artikels 84 GG, in: Holtschneider/Schön (Hrsg.; Fn. 15),
Art. 84 Abs. 1 GG nach der Föderalismusreform
257
„(1) Führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, so regeln sie die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren. Wenn Bundesgesetze etwas anderes bestimmen, können die Länder davon abweichende Regelungen treffen. Hat ein Land eine abweichende Regelung nach Satz 2 getroffen, treten in diesem Land hierauf bezogene spätere bundesgesetzliche Regelungen der Einrichtung der Behörden und des Verwaltungsverfahrens frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft, soweit nicht mit Zustimmung des Bundesrates anderes bestimmt ist. Art. 72 Abs. 3 Satz 3 gilt entsprechend. In Ausnahmefallen kann der Bund wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsmöglichkeit für die Länder regeln. Diese Gesetze bedürfen der Zustimmung des Bundesrates. Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden."
Die Absätze 2 bis 5 sind unverändert geblieben. Die Neufassung des Art. 84 Abs. 1 GG lässt zunächst die Grundkonzeption des landeseigenen Vollzugs von Bundesgesetzen unberührt. Art. 84 Abs. 1 S. 1 GG geht auch weiterhin von einer umfassenden Organisationsgewalt der Länder beim Vollzug von Bundesgesetzen aus, öffnet diese nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG aber auch nach wie vor einer organisationsrechtlichen Einflussnahme des Bundesgesetzgebers fiir die „Einrichtung der Behörden" und das „Verwaltungsverfahren". 22 Deutlich verändert sind hingegen Umfang und - vor allem - Modalitäten der bundesgesetzlichen Eingriffsoption in die Organisationsgewalt der Länder.
/. Das Durchgriffsverbot
auf die kommunale Ebene - Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG
Mit der Verbotsregelung in Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG wird nunmehr ausdrücklich klargestellt, 23 dass eine bundesgesetzliche Übertragung von Aufgaben auf Gemeinden und Gemeindeverbände nicht mehr zulässig ist. Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG wird damit als Kompetenztitel des Bundes zur Regelung der Einrichtung von Behörden und des Verwaltungsverfahrens inhaltlich eingeschränkt und insoweit eine ausschließliche Organisationsgewalt der Länder fiir die kommunale Ebene begründet. Die Erstreckung dieses Durchgriffsverbots auch auf den Vollzugstyp der Bundesauftragsverwaltung durch die entsprechende Einfügung in Art. 85 Abs. 1 S. 2 GG macht zudem deutlich, dass die kommunale Ebene in organisationsrechtlicher Hinsicht nunmehr als „Hausgut" der Länder 24 anzuse-
S. 17 ff. In der öffentlichen Diskussion spielten die Überlegungen zur Neufassung von Art. 84 GG demgegenüber eine eher untergeordnete Rolle, so Benz, ZParl. 2005, 741 (745). 22 Zu dieser Grundkonzeption bei Art. 84 GG a.F. etwa Dittmann, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Aufl., 2003, Art. 84 Rn. 1 ff. 23 24
Zur bisher unklaren Rechtslage etwa Dittmann (Fn. 22), Art. 84 Rn. 12 f. So auch Rauber (Fn. 15), S. 49.
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Armin Dittmann
hen ist. Adressat für Aufgabenübertragungen durch den Bund sind künftig allein die Länder, und es liegt in deren Organisationshoheit, ob und wie eine Übertragung der Aufgaben auf die kommunale Ebene vorgenommen wird. Maßgeblich ist insoweit Landesrecht und damit auch das mittlerweile landesverfassungsrechtlich weitgehend fixierte Konnexitätsprinzip, demzufolge eine kostenträchtige Aufgabenzuweisung an die kommunale Ebene an das Junktim eines finanziellen Ausgleichs gebunden ist. 25 So gesehen ist das Durchgriffsverbot des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG nicht nur Ausdruck eines gesteigerten Respekts vor der Organisationshoheit der Länder, sondern entfaltet zugleich auch Schutzwirkung zugunsten der kommunalen Ebene. Mit der Weigerung des Bundespräsidenten, das von Bundestag und Bundesrat beschlossene Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Verbraucherinformation auszufertigen und zu verkünden, liegt mittlerweile ein erster Anwendungsfall des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG vor. 26
2. Der einfache Regelungsvorbehalt des Bundesgesetzgebers Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG Grundlegende Veränderungen ergeben sich nach der Neufassung von Art. 84 Abs. 1 GG für die Modalitäten, unter denen der Bundesgesetzgeber seine Regelungsbefugnis für die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren beim Vollzugstyp der landeseigenen Ausführung von Bundesgesetzen realisieren kann. Abweichend von der einheitlichen Regelungsbefugnis des Bundes nach Art. 84 Abs.l GG a.F. kennt Art. 84 Abs. 1 GG n.F. nunmehr mit S. 2 Hs. 1 und S. 5 zwei bundesgesetzliche Regelungsvorbehalte, die sich hinsichtlich ihres Umfangs, ihrer Voraussetzungen und ihrer Rechtsfolgen für die Organisationshoheit der Länder grundlegend unterscheiden. Ausgangspunkt der differenzierenden Neuregelung ist der einfache Regelungsvorbehalt des Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG, mit dem der Bund seine Befugnis zur Regelung der Einrichtung der Behörden und des Verwaltungsverfahrens ohne Zustimmung des Bundesrates ausüben kann. Der Verzicht auf das Zustimmungserfordernis ist - ganz im Sinne der Reformziele - ein wesentlicher Beitrag zur politischen 27 Entflechtung von Bund und Ländern und vor allem ein 25
Siehe z.B. Art. 71 Abs. 3 Landesverfassung Baden-Württemberg und zur Thematik insgesamt Henneke, DVBL 2006, 867 ff., sowie Ipsen, NJW 2006, 2801 (2805 f.), insbesondere auch zur Übergangsregelung in Art. 125a Abs. 1 GG. 26 Siehe die Unterrichtung des Präsidenten des Deutschen Bundestages durch den Bundespräsidenten vom 8.12.2006 und den dortigen Hinweis auf das Durchgriffsverbot des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG, BT-Drs. 16/3866. 27 Bei Ausübung seines Zustimmungsrechts wird der Bundesrat zwar formal als Bundesorgan tätig, nimmt jedoch politisch (auch) spezifische Länderinteressen wahr.
Art. 84 Abs. 1 GG nach der Föderalismusreform
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Ansatz, Art. 84 GG als „Einfallstor" für zustimmungsbegründende Regelungen zu verengen. 28 Der einfache Regelungsvorbehalt bezieht sich - abgesehen von der Einschränkung durch das Durchgriffsverbot nach Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG - inhaltlich unverändert auf die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren nach Maßgabe des bisherigen (weiten) Verständnisses beider Begriffe. 29 Mit der Differenzierung zwischen einfachem und qualifiziertem Regelungsvorbehalt nach Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG dürfte nunmehr auch klargestellt sein, dass die Ausübung des einfachen Regelungsvorbehalts - entgegen teilweise zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. vertretener Ansicht 30 - nicht ein Bedürfnis bundesrechtlicher Regelung voraussetzt oder auf Ausnahmen zu beschränken ist. Auch die zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. vertretene Ansicht, dass der Bund nur bundesweit einheitliche Regelungen treffen könne und territoriale Differenzierungen ausgeschlossen seien,31 findet für die Anwendung des einfachen Regelungsvorbehalts nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG keine Grundlage mehr. Der Wortlaut des Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG zwingt - im Gegensatz zur bundesgesetzlichen Regelung des Verwaltungsverfahrens nach Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG - nicht zu dieser Annahme. Auch sein Grundgedanke, einen wirksamen Vollzug der Bundesgesetze sicherzustellen, muss nicht notwendigerweise die Konsequenz einheitlicher Regelungen haben, sondern kann - im Hinblick auf Besonderheiten einzelner Länder - durchaus z.B. unterschiedliche Behördenzuständigkeiten nahe legen und auf diese Weise, ganz im Sinne prinzipieller Länderzuständigkeiten beim Vollzug der Bundesgesetze, Eigenheiten der Länder Rechnung tragen.
3. Insbesondere: Das Abweichungsrecht der Länder — Art. 84 Abs. I S. 2 Hs. 2 GG Wesentliches Element der zustimmungsfreien bundesgesetzlichen Regelungsbefugnis nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG - und sozusagen der „Preis" für den Zustimmungsverzicht - ist das den Ländern durch Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG eingeräumte Recht, die bundesgesetzlichen Regelungen der Einrichtung der Behörden und des Verwaltungsverfahrens durch abweichende landesrechtliche Regelungen zu ersetzen.
28 Die amtliche Begründung zur Neufassung von Art. 84 Abs. 1 GG geht von einer Reduzierung von bisher bis zu ca. 60 % auf ca. 35 bis 40 % zustimmungsbedürftiger Gesetze aus; BT-Drs. 16/813, S. 14. 29 Dazu näher etwa Dittmann (Fn. 22), Art. 84 Rn. 7 ff. 30 Nachweise bei Dittmann (Fn. 22), Art. 84 Rn. 6. 31 So z.B. Lerche, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 84 Rn. 24, und wohl auch Pleyer, Föderative Gleichheit, 2005, S. 176 f.
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Mit diesem Zugriffsrecht der Länder nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG wird der Verlust des bisherigen Zustimmungserfordernisses bei bundesgesetzlichen Eingriffen in ihre Organisationshoheit kompensiert und die Gestaltungsbefugnis jedes einzelnen Landes im Bereich seiner Verwaltung gemäß den Grundsätzen der Art. 83 und 84 Abs. 1 S. 1 GG wieder hergestellt. Gegenüber der Einbindung der Länder in das Zustimmungsrecht des Bundesrates nach Art. 84 Abs. 1 GG a.F. bedeutet dies eine deutliche Aufwertung ihrer Organisationshoheit im „eigenen Hause" und die Entbindung von zumindest faktischen Zwängen zur Kompromissbereitschaft im Bundesrat bei Durchsetzung spezifischer Landesinteressen. Die Abweichungsmöglichkeit bezieht sich auf alle bundesgesetzlichen Normen im Sinne von Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG, mit denen eine Regelung der Einrichtung der Behörden oder des Verwaltungsverfahrens erfolgt. „Doppelgesichtige" Normen, bei denen die materiell-rechtliche Regelung zugleich die zwangsläufige Festlegung eines bestimmten Verwaltungsverfahrens auf Landesebene bewirkt, stehen dem Zugriff nur dann offen, wenn die materiell-rechtliche Regelung des Bundesgesetzes ihrerseits einer abweichenden Regelung gemäß Art. 72 Abs. 3 GG durch Landesrecht zugänglich wäre. Die Inanspruchnahme des Zugriffsrechts durch die Länder ist an keine materiellen Voraussetzungen gebunden, erfordert aber eine von der bundesgesetzlichen Regelung inhaltlich abweichende Regelung; eine bloße Übernahme der bundesgesetzlichen Regelung in Landesrecht ist von Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG nicht gedeckt und vermag insoweit die bundesgesetzliche Regelung nicht zu verdrängen. Der landesrechtliche Zugriff auf bundesgesetzliche Regelungen, die noch auf Grundlage von Art. 84 Abs. 1 GG a.F. erlassen worden sind, unterliegt den besonderen Restriktionen der Übergangsvorschrift in Art. 125b Abs. 2 GG. Die Ausübung des Abweichungsrechts setzt formal nicht zwingend eine landesgesetzliche Regelung voraus. 32 Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG weist das Abweichungsrecht undifferenziert den Ländern zu und trifft insofern - anders als bei Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG, aber gleichlautend mit Art. 84 Abs. 1 S. 1 GG keine ausdrückliche Vorentscheidung allein für eine Zuständigkeit des Landesgesetzgebers. Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG stellt vielmehr für die Ausübung des Abweichungsrechts die Organisationshoheit der Länder i.S.v. Art. 84 Abs. 1 S. 1 GG in vollem Umfange wieder her, so dass sich die Frage der landesinternen Organkompetenz primär nach Maßgabe des Landesrechts beantwortet. Dabei kann sich eine Zuständigkeit des Landesgesetzgebers über die speziellen Vorschriften des Landesrechts hinaus auch aus den Vorgaben des allgemeinen
32
So aber BT-Drs. 16/813, S. 15, ohne nähere Begründung.
Art. 84 Abs. 1 GG nach der Föderalismusreform
261
rechtsstaatlich-demokratischen Gesetzesvorbehalts ergeben, der fiir die konkrete Ausübung der Organisationsgewalt einen institutionellen Gesetzesvorbehalt einschließen und damit auch die Organkompetenz bei Ausübung der Organisationsgewalt auf Landesebene bestimmen kann.33 Eine landesgesetzliche Regelung ist auch nicht im Hinblick auf die vom BVerfG zur näheren Konturierung des rechtsstaatlich-demokratischen Gesetzesvorbehalts entwickelte Wesentlichkeitstheorie in jedem Abweichungsfalle zwingend geboten, denn zum einen kann der Bundesgesetzgeber nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG auch „unwesentliche" Fragen der Verwaltungsorganisation und des Verwaltungsverfahrens regeln und zum anderen bedarf die bereits verfassungsrechtlich durch Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG legitimierte Abweichung von Bundesgesetzesrecht durch Landesrecht nicht einer weiteren demokratischen Legitimation gerade durch den Landesgesetzgeber. Die Abweichungsregelung nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG als solche ist insoweit keine „wesentliche" Entscheidung und steht daher grundsätzlich auch der Exekutive offen. Das Zugriffsrecht der Länder nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG ist jedoch nicht „bundesfest", sondern steht seinerseits unter dem Vorbehalt einer erneuten bundesgesetzlichen Regelung. Diese bundesgesetzliche Option wird von Art. 84 Abs. 1 S. 3 GG mit der Maßgabe zugelassen, dass derartige bundesgesetzliche Regelungen frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft treten, soweit nicht mit Zustimmung des Bundesrates anderes bestimmt ist. Die Vorgabe einer grundsätzlichen Karenzzeit von sechs Monaten soll den Ländern „Bedenkzeit" einräumen und ihnen Gelegenheit geben, durch erneute landesrechtliche Entscheidung festzulegen, ob und in welchem Umfang sie vom Bundesrecht abweichendes Landesrecht über die Einrichtung der Behörden oder das Verwaltungsverfahren beibehalten oder erlassen wollen. Ob diese Karenzzeit allerdings geeignet ist, den mit dem Nacheinander unterschiedlicher landes- und bundesrechtlicher Regelungen latent vorhandenen Eindruck eines verwirrenden „Katzund Maus-Spiels" zwischen Bund und Ländern zu vermeiden, kann fuglich bezweifelt werden. Das mit der nach Art. 84 Abs. 1 S. 1-3 GG möglichen Abfolge von landesrechtlicher Regelung der Einrichtung der Behörden und des Verwaltungsverfahrens (Art. 84 Abs. 1 S. 1 GG), nachfolgender bundesgesetzlicher Regelung (Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG), davon abweichender landesrechtlicher Regelung (Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG), erneuter bundesrechtlicher Regelung (Art. 84 Abs. 1 S. 3 GG) etc. verbundene Kollisionsproblem wird von Art. 84 Abs. 1 S. 4 GG durch den Verweis auf die entsprechende Anwendung von Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG dahingehend gelöst, dass die grundsätzliche bundesstaatliche Kollisionsre33
Zum institutionellen Gesetzesvorbehalt zusammenfassend etwa Krebs, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts III, 1988, § 69 Rn. 58 ff., sowie G. C. Burmeister, Inhalt und Stellung des institutionellen Gesetzesvorbehalt, 1991.
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gel des Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht") durch die lex-posteriorRegel ersetzt wird, gegebenenfalls also auch Landesrecht Bundesrecht im Sinne eines AnwendungsVorranges verdrängen kann.
4. Der qualifizierte
Regelungsvorbehalt des Bundesgesetzgebers Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG
Mit Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG wird dem Bund - ergänzend zum einfachen Regelungsvorbehalt des Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG - die Befugnis eröffnet, das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsmöglichkeit der Länder zu regeln. Die Inanspruchnahme dieser Befugnis ist - neben ihrer ausdrücklichen Beschränkung auf Ausnahmefälle - materiell an ein besonderes Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung gebunden, setzt formell die Zustimmung des Bundesrates voraus und kann sich lediglich auf Regelungen des Verwaltungsverfahrens beziehen. Der in dieser Weise mehrfach qualifizierte Regelungsvorbehalt lässt erkennen, dass die Befugnis des Bundes nach Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG nicht zur offenen Flanke des durch die Neufassung von Art. 84 Abs. 1 GG besonders betonten Grundsatzes landesrechtlicher Organisationshoheit werden soll. Andererseits konnte sich der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht der Einsicht verschließen, dass zur Sicherung des bundeseinheitlichen Vollzuges materiellrechtlicher Vorschriften bundeseinheitliches Verfahrensrecht erforderlich sein kann, Verfahrensrecht also nicht nur ergebnisneutrales Ausfiihrungsrecht ist. 34 Die Regelungsbefugnis des Bundes nach Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG ist von vornherein auf Ausnahmefälle beschränkt, ohne dass die Norm - ähnlich der vergleichbaren Restriktion in Art. 75 Abs. 2 GG a.F. - näheren Aufschluss darüber gibt, wann ein Ausnahmefall gegeben ist. Der Entstehungsgeschichte ist lediglich zu entnehmen, dass Regelungen des wirtschaftsrelevanten Umweltverfahrensrechts regelmäßig einen Ausnahmefall im Sinne des Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG darstellen sollen, 35 da andernfalls wesentliche Grundlagen für die Rechtssicherheit und Freizügigkeit von Unternehmen im Bundesgebiet gefährdet erscheinen.36 Über diesen entstehungsgeschichtlich belegten Grundgedanken einer Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit auch in verwaltungs verfahrensrechtlicher Hinsicht hinaus lässt sich dem quantitativ konnotierten Wortlaut dieser Beschränkung nur die Intention entnehmen, den Normalfall des einfachen Regelungsvorbehaltes mit Abweichungsmöglichkeit nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 34 Zu diesem Aspekt etwa Grimm, Änderung von Art. 84 Abs. 1 GG, Arbeitsunterlage 0060 der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, 2004. 35 BT-Drs. 16/813, S. 15 unter Bezugnahme auf die Koalitionsvereinbarung vom 18.11.2005, Anlage 2. 36
So Frenz, N V w Z 2006, 742 (745).
Art. 84 Abs. 1 GG nach der Föderalismusreform
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GG nicht zu unterlaufen und das von Art. 84 Abs. 1 GG vorausgesetzte RegelAusnahme-Verhältnis nicht durch eine ausgiebige Inanspruchnahme von Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG umzukehren. Die Beschränkung des Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG auf Ausnahmefälle hat vornehmlich appellativen Charakter und vermag allein diese Intention verfassungsrechtlich nicht durchzusetzen. Maßgebliche Bedeutung kommt damit den weiteren Voraussetzungen und Restriktionen des Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG zu. Die Inanspruchnahme der bundesgesetzlichen Regelungsbefugnis setzt ein besonderes Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung des Verwaltungsverfahrens voraus. Inwieweit durch diese Voraussetzung tatsächlich eine restriktive Inanspruchnahme durch den Bundesgesetzgeber gewährleistet werden kann, muss eher skeptisch beurteilt werden. Die praktische Erfahrung mit der einstigen „Bedürfnisklausel" des Art. 72 Abs. 2 GG bis 1994 legt die Vermutung nahe, dass auch das „Bedürfnis" im Sinne des Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG nur in begrenztem Umfange einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich ist, damit keine beschränkende Wirkung entfalten kann und die Frage letztlich dem Ermessen des Gesetzgebers überlassen bleibt. Überprüfbar bleibt insoweit nur, ob der Bundesgesetzgeber die seinem Ermessen gezogene Grenzen verkannt oder das ihm eingeräumte Ermessen eindeutig und evident missbraucht hat. 37 An diesem Befund ändert auch die Voraussetzung eines besonderen Bedürfnisses zunächst nichts. Diese Akzentuierung ist dahingehend zu verstehen, dass den Bundesgesetzgeber bei Inanspruchnahme eine erhöhte Begründungslast trifft, warum ausnahmsweise - von den länderfreundlichen Grundsätzen des Art. 84 Abs. 1, 2 GG abgewichen werden soll. Mit der Voraussetzung eines „besonderen Bedürfnisses" steht der Wortlaut damit in gewisser Weise zwischen der „Bedürfnisklausel" des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. und der „Erforderlichkeitsklausel" des Art. 72 Abs. 2 GG n.F.; er geht zwar auf Distanz zum bloßen und kaum justiziablen „Bedürfnis", vollzieht jedoch nicht - wie Art. 72 Abs. 2 GG n.F. - den weiteren Schritt zur voll überprüfbaren Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung. Der Verzicht des verfassungsändernden Gesetzgebers, die Neufassung des Art. 84 Abs. 1 GG mit einem speziellen Normenkontrollverfahren zu flankieren, wie dies bezüglich Art. 72 Abs. 2 GG n. F. mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG geschehen ist, indiziert eine Zurückhaltung gegenüber einer effektiven verfassungsgerichtlichen Kontrolle und lässt erwarten, dass die Voraussetzung eines „besonderen Bedürfnisses" in Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG die ihm zugedachte begrenzende Funktion nur eingeschränkt erfüllen wird, wenn der politische Wille zu bundeseinheitlichen Regelungen des Verwaltungsverfahrens vorhanden ist. Ein besonderes Bedürfnis nach bundeseinheitlichem Verfahrensrecht wird sich vor allem aus Anforderungen des materiellen Rechts ableiten lassen, fiir das der Bund zwar regelungsbefügt ist, das er - wie regelmäßig - aber nicht 37
Zu den Erfahrungen mit der Bedürfnisklausel BVerfGE 106, 82 (136).
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selber ausführt. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn - vor allem bei determinationsschwachem materiellem Recht - die Anwendung unterschiedlichen Verfahrensrechts zu unerwünscht unterschiedlichen Anwendungen des materiellen Bundesrechts führen kann. 38 Mit der Bindung an die Zustimmung des Bundesrates führt Art. 84 Abs. 1 S. 6 GG den qualifizierten Regelungsvorbehalt insoweit in die Normallage des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. zurück, die sich - unter maßgeblichem Einfluss der Rechtsprechung des BVerfG 39 (Stichwort: Einheitstheorie) - als Einfallstor für Zustimmungsgesetze und in politischer Hinsicht als „Blockadeinstrument" erwiesen hatte. Inwieweit sich die mit der Neufassung des Art. 84 Abs. 1 GG beabsichtigte Reduzierung der Anzahl zustimmungspflichtiger Gesetze tatsächlich erreichen lässt, hängt daher maßgeblich von der politischen Bereitschaft des Bundesgesetzgebers ab, die durch die Neufassung von Art. 84 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gestärkte Organisationshoheit der Länder zu respektieren und den qualifizierten Regelungsvorbehalt des Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG tatsächlich nur in Ausnahmefällen zu nutzen. Die Zurückhaltung des Bundes dürfte dabei umso größer sein, je weniger die Länder ihrerseits von den Abweichungsmöglichkeiten nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG Gebrauch machen und den Bund dadurch zu einheitssichernden Gegenmaßnahmen „provozieren". 40
IV. Fazit Gemessen an den Zielen der Föderalismusreform bietet die Neufassung des Art. 84 Abs. 1 GG mit ihrer Einschränkung der Zustimmungspflicht auf die Fälle des qualifizierten Regelungsvorbehaltes (Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG) die Chance, die angestrebte Reduzierung zustimmungspflichtiger Gesetze zu realisieren. Zugleich wird mit dem Durchgriffsverbot nach Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG, dem Abweichungsrecht der Länder nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG und dem nur ausnahmsweise möglichen und materiell begrenzten Ausschluss des Abweichungsrechts im Rahmen des qualifizierten Regelungsvorbehalts nach Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG die Organisationshoheit der Länder für „ihre" Verwaltung gestärkt und damit ein weiteres Ziel der Reform verfassungsrechtlich umgesetzt.
38 Zu diesem Aspekt bereits mit konkreten Beispielen Grimm (Fn. 34). - Zur Akzeptanz föderativ bedingter Divergenzen beim Vollzug von Bundesgesetzen siehe etwa Boysen, Gleichheit im Bundesstaat, 2005, insbes. S. 128 ff. 39 Siehe dazu zusammenfassend Georgii/Borhanian (Fn. 14), S. 10 ff. 40 So auch die Einschätzung von Georgii/Borhanian (Fn. 14), S. 21 f. Ähnlich Ipsen, NJW2006, 2801 (2805).
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Allerdings bleibt es der Staatspraxis und damit auch (partei-)politisch motivierten Entscheidungen vorbehalten, in welchem Maße von den „Angeboten" des Art. 84 Abs. 1 GG n.F. tatsächlich Gebrauch gemacht wird. Insoweit unterscheidet sich die Neufassung nicht von Art. 84 Abs. 1 GG a.F., denn der Zugriff des Bundesgesetzgebers auf die Länderverwaltung war auch bisher lediglich eine verfassungsrechtliche Option, die - angesichts der grundsätzlichen Ausführungspflicht der Länder nach Art. 83 GG - nicht notwendig zu einer dominierenden Einflussnahme des Bundes auf die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren der Landesverwaltung hätte führen müssen. Es besteht also Anlass und Gelegenheit - auch für den Jubilar - das künftige Verhältnis von verfassungsrechtlicher Intention des Art. 84 Abs. 1 GG und politisch geprägter Verfassungswirklichkeit aufmerksam zu verfolgen, hoffentlich jedoch ohne unter einer etwaigen Dichotomie 41 von Norm und Wirklichkeit des politischen Lebens leiden zu müssen.
41 Nach W. Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, 1968, S. 37 f., ist die Entgegensetzung von Verfassung und Verfassungswirklichkeit und das Leiden an einer etwaigen Diskrepanz ein spezifisch deutsches Problem, das die Praxis als Anwendung von Theorie missversteht.
Die deutsche Krankheit. Organisierte politische Unverantwortlichkeit? Von Hans Herbert von Arnim Werner Frotscher widmete seine Marburger Antrittsvorlesung dem Thema „parteienstaatliche Demokratie". 1 Darin zeigte er Defizite unseres Parteienstaates auf und deutete sie als „Krisenzeichen". In Fortführung dieser Gedanken soll im Folgenden dargelegt werden, wie das Ausgreifen der Parteien auf immer weitere Bereiche fortschreitet. Dadurch wird nicht nur der Einfluss der Bürger zurückgedrängt, sondern auch die politische Verantwortlichkeit und die Handlungsfähigkeit der Politik zunehmend eingeschränkt. Die Politik entscheidet in eigener Sache über die grundlegenden Regeln des Machterwerbs und der Machtausübung, was ein Regieren durch und für das Volk, das die Essenz der Demokratie darstellt, immer nachhaltiger erschwert. Es ist etwas faul im Staate Deutschland. Unbehagen und Verdrossenheit sind verbreitet: Die Beteiligung der Bürger an den Parlamentswahlen geht zurück. Die Parteien verlieren massiv an Mitgliedern. Besonders junge Menschen finden kaum noch den Weg in die Parteien. Über die Hälfte der Deutschen ist mit dem Funktionieren unserer Demokratie nicht mehr zufrieden, wie Umfragen ausweisen. Selbst radikale Parteien sind bei der einen oder anderen Parlamentswahl erfolgreich. Die Verdrossenheit, die sich in diesen Erscheinungen äußert, hängt im Kern, wie ich meine, mit einem zentralen Befund zusammen: Die Anforderungen an unser politisches System und die Leistungen unseres Systems fallen auseinander. Es besteht ein Missverhältnis: Die mangelnde Fähigkeit „der Politik", das Nötige zu tun, steht in Kontrast zu der gleichzeitig eklatant zunehmenden Dringlichkeit entschlossenen politischen Handelns. Zwei Drittel der Menschen trauen den politischen Parteien die Lösung der anstehenden Probleme nicht mehr zu. Vor 35 Jahren waren es noch halb soviel. Weitsichtige Beobachter hatten bereits damals vorausgesagt, bestimmte, schon im Keim vorhandene strukturelle Probleme der Bundesrepublik würden in dem Augenblick aufbrechen, wo das Wirtschaftswachstum nachlässt und der Ost-West-Gegensatz wegfällt. In dieser Lage befinden wir uns seit geraumer Zeit. Nach dem Sieg der westlichen Demokratie und Marktwirtschaft im Ringen der Blöcke ist uns das Gegenüber abhanden gekommen. Jetzt reicht es nicht mehr aus, bloß besser zu sein als das zusammengebrochene kommunistische Regime. Jetzt müssen wir, um eine tragfahige Orientierung zu gewinnen, unser 1
DVB1. 1985,917-927.
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System vielmehr anhand selbst gesetzter Werte beurteilen. Sind die Verhältnisse in unserer real existierenden Demokratie aber so beschaffen, dass man sie sich als aus dem Willen aller Bürger hervorgegangen vorstellen könnte? Oder lässt sich diese Frage, die für Philosophen von Immanuel Kant bis John Rawls das Kriterium für die Beurteilung des demokratischen Staates und seiner Organisation bildet, kaum noch ohne Zynismus auf unsere bundesrepublikanische Wirklichkeit anwenden? Statt am „Ende der Geschichte", wie Francis Fukuyama gemeint hat, stehen wir am Anfang einer grundlegenden Überprüfung der Strukturelemente unserer eigenen Verfassung. In Schul- und Lehrbüchern wird zwar immer noch der Glaube verbreitet, Demokratie orientiere sich gleichsam automatisch am Wohl des Volkes. Doch das vorbehaltlose Vertrauen in unsere derzeit praktizierten demokratischen Verfahren und in die daraus hervorgehenden Ergebnisse ist dahin. Das Grundgesetz, das lange in hohem Ansehen stand, ja geradezu als etwas Heiliges verklärt wurde, kann viele unserer aktuellen Probleme nicht mehr erfassen. Die Väter des Grundgesetzes waren - die nationalsozialistischen Exzesse vor Augen - vor allem von einem Ziel beseelt: Durch den Einbau von möglichst vielen checks and balances sollte die Regierung an Missbräuchen gehindert werden. Heute steht unser Staat aber vor ganz anderen Herausforderungen. Es geht darum, politisches Handeln überhaupt erst möglich zu machen, und genau das wird durch manche gut gemeinte konstitutionelle Fessel verhindert. Oft ist es allerdings nicht das Grundgesetz selbst, das Probleme bereitet, sondern die politische Praxis, die sich unter der Herrschaft des Grundgesetzes entwickelt hat. Wesentliche Teile des Grundgesetzes sind wörtlich aus früheren Verfassungen abgeschrieben, obwohl sich die Verhältnisse inzwischen völlig gewandelt haben und ganz neue Akteure auf den Plan getreten sind. Die Verfassungswirklichkeit wird heute von den politischen Parteien, den Interessenverbänden und den Medien dominiert, ohne dass es wirksame Schranken gegen Machtmissbräuche dieser Kräfte gibt. Das bewirkt eine für unser Gemeinwesen charakteristische Schieflage: Der eigentliche Staat ist zu schwach. Parteien, Verbände, Medien und andere „intermediäre Kräfte" sind dagegen zu stark. Wenn man die theoretischen Klassikern der Republik studiert, so kennen sie gegen solche Art von Desintegration nur ein wirksames Gegengewicht in der Demokratie: die Aktivierung des Volkes selbst. Doch unser Dilemma besteht darin, dass die Väter der Verfassung diesen Ausweg abgeschnitten haben, weil sie dem Volk - in krasser Fehlinterpretation der Weimarer Erfahrungen - die Schuld für die Machtergreifung Hitlers in die Schuhe schoben. Dass es in Wahrheit die politische Parteien waren, die am 24.3.1933 im Reichstag das Ermächtigungsgesetz mit großer Mehrheit beschlossen, wird gern verschwiegen. Dem Volk der Bundesrepublik Deutschland ist es versagt, politische Entscheidungen an sich zu ziehen. In anderen Ländern stimmen die Bürger über existenzielle Fragen ab, etwa über den Beitritt ihres Landes zur Europäischen
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Union oder über die neue europäische Verfassung. Nicht aber bei uns. Hierzulande ist das Volk selbst bei Wahlen derart entmachtet, dass es kaum jemanden zur Verantwortung ziehen, das heißt für politisches Fehlverhalten abwählen kann. Ich werde das noch näher darlegen. Dass mit unserem System etwas nicht stimmt, dafür gibt es Indizien zuhauf. Auf immer mehr Herausforderungen bleiben Politik und Gesellschaft die Antwort schuldig. Ich will hier nur einige dieser Herausforderungen ansprechen: 1. Die niedrige Geburtenrate kehrt die Bevölkerungspyramide um und fuhrt allmählich zu einer Vergreisung unserer ganzen Gesellschaft. Sie hat gewaltige Auswirkungen. Die offensichtlichste besteht darin, dass die Finanzierung aller unserer Sozialsysteme hochgradig gefährdet ist. 2. Die mangelnde Quantität an jungen Menschen wird auch nicht etwa durch umso größere Qualität ausgeglichen. Wie es um die Fähigkeiten unserer Schüler steht, wissen wir spätestens seit den PISA-Studien - und das im ehemaligen „Land der Dichter und Denker", das einst so stolz war auf seine Schulen und Hochschulen. 3. Genau so reformbedürftig ist die verkrustete Arbeitsmarktverfassung, vom Steuer- und Finanzwesen ganz zu schweigen. Die Mängel spiegeln sich in der hohen Arbeitslosigkeit wider, und das geringe Wachstum verschärft die Probleme noch weiter. 4. Öffentliche Investitionen in Modernisierungs- und Wachstumsbereichen leiden Not und werden durch den hohen Schuldendienst und durch 150 Milliarden Euro Subventionen erdrückt, die vornehmlich überalterten Wirtschaftssektoren zu Gute kommen. 5. Hinzu kommen die Langzeitfolgen schwerer wirtschaftspolitischer Fehler bei der deutschen Wiedervereinigung, die dazu beitragen, dass die Produktivitäts- und Beschäftigungsschere zwischen West und Ost sich - trotz der 85 Milliarden Euro, die wir jährlich in den Osten pumpen - nicht schließen will. 6. Die Europäisierung und Globalisierung des Wettbewerbs legen die Strukturmängel unserer Verfassung schonungslos offen. Vor 25 Jahren war Deutschland das reichste Land Europas. Heute liegt das Pro-Kopf-Einkommen unter dem Durchschnitt. Im ehemaligen „Wirtschaftswunderland" müsste das eigentlich wie ein Schock wirken. 7. Das zunehmende Selbstbewusstsein der Bürger und die „partizipatorische Revolution", die durch den so genannten Wertewandel ausgelöst wurden, haben als eine Art Augenöffher gewirkt und dazu geführt, dass die Menschen sich nicht länger ein X für ein U vormachen (und die Mängel sich deshalb auch nicht mehr schönreden) lassen. Das hat zu dem - eingangs erwähnten - Verlust an Vertrauen in das Funktionieren unserer Art von parlamentarischer Demokratie beigetragen, der im Westen Deutschlands schon groß ist, im Osten aber ein geradezu erschreckendes Ausmaß erreicht hat.
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Selbst das Ausland hat den Niedergang Deutschlands - bisweilen nicht ohne Schadenfreude - bemerkt. Vor 30 Jahren sprach alle Welt abfällig von der „englischen Krankheit". Heute sehen Großbritannien und andere Länder auf uns herab und sprechen von der „German disease", der deutschen Krankheit. Manche Missstände, an die wir uns schon längst gewöhnt haben, scheint man von fern viel klarer zu sehen, wie zum Beispiel die Äußerungen unseres Bundespräsidenten Horst Köhler zeigen, der ja vorher lange im Ausland Erfahrungen sammeln konnte. Teil-Reformen sind zwar in mehreren Bereichen im Gange. Einiges wurde ja auch beschlossen. Ich erwähnen nur die Stichworte Föderalismus, Gesundheit und Unternehmensteuer. Schon heute aber ist klar, dass dies allenfalls kurzfristig hilft und wir letztlich um sehr viel weitergehende Reformen nicht herumkommen. Und deren Durchsetzbarkeit wird vielfach bezweifelt. Was also ist falsch an unserem System? Seit der Antike befassen sich Philosophen damit, wie man die „Führer" von Staaten dazu bewegen kann, bei ihren Handlungen dem Wohl des Volkes zu dienen und nicht ihren eigenen Interessen an Posten, Reichtum, Einfluß und Ruhm. Dies ist die Schlüsselfrage. Denn man muss Spitzenpolitikern sehr viel Macht anvertrauen, sonst können sie ihre Aufgaben nicht erfüllen. Andererseits darf diese Macht nicht missbraucht, sondern muss zum Wohl der Bürger eingesetzt werden. Die klassische Lösung dieses Dilemmas besteht darin, an das öffentliche Amt und seine Befugnisse eine besondere Pflicht zu knüpfen, die Pflicht nämlich, die anvertraute Macht nur gemeinnützig zu gebrauchen, also im Sinne des Gemeinwohls. Das war auch der Standpunkt der Väter des Grundgesetzes. Sie waren in der Aufbruchstimmung nach Überwindung der Nazi-Diktatur von Gemeinsinn erfüllt und glaubten, diesen auch bei späteren Politikergenerationen voraussetzen zu können. Das wird zum Beispiel im Amtseid deutlich, den der Bundespräsident, der Bundeskanzler und die Bundesminister bei Amtsantritt schwören. Das ist aber nur die eine Seite, die Schau-Seite. Die andere Seite ist die heutige Wirklichkeit, und die sieht anders aus. Hinter dem offiziellen System hat sich ein inoffizielles Schatten-System entwickelt, in dem nicht Gemeinnutz, sondern Eigennutz vorherrscht. Ab und zu reißt der Schleier auf und gibt den Blick auf die ansonsten wohl gehütete hintergründige Seite der Politik frei. Besonders wenn politische Skandale aufgedeckt werden, etwa Spendenaffären der Parteien. Ich will keineswegs sagen, dass alle Politiker Gesetze brechen. Oft haben sie das ja auch gar nicht nötig, weil sie die Gesetze selbst machen, und zwar in ihrem Sinne. Doch was bei Spendenaffären gelegentlich durchscheint, ist die Intensität, mit der Berufspolitiker ihre eigenen Interessen und die ihrer Parteien durchzusetzen versuchen. Hier scheint dann die Losung zu lauten: „Right or wrong - my party" oder auch: „Right or wrong - my interest."
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Die Dominanz des Eigeninteresses sei an zwei - ziemlich banalen - Beispielen demonstriert: Politiker scheuen sich oft, den Menschen reinen Wein einzuschenken. Aus Gründen des Machterhalts schrecken sie selbst vor vorsätzlichen Lügen nicht zurück. Der ungarische Ministerpräsident gab kürzlich in kleinem Kreis offen zu, dass er die Bevölkerung vor den Wahlen wissentlich über den Zustand der öffentlichen Finanzen belogen hatte. Das kam heraus. Seitdem wird ihm sein Eingeständnis öffentliche um die Ohren gehauen. Sind Politiker bei uns aber etwa ehrlicher? Die Antwort liegt auf der Hand. Nur pflegen unsere Politiker ihre Lügen kaum jemals offen zuzugeben. Hatte sich die regierende SPD nicht vor der letzten Bundestagswahl - in Kenntnis der Haushaltssituation - entschieden gegen jede Mehrwertsteuererhöhung ausgesprochen, und kam es dann nicht sogar zu einer noch stärkeren Erhöhung, als die von der CDU angekündigten zwei Prozent? Die Machtorientierung wird auch in der täglichen Arbeit der derzeitigen großen Koalition deutlich. Vor lauter gegenseitigen Beschuldigungen und andauernden Positionskämpfen der beiden Regierungsparteien droht die Gemeinsamkeit ihrer Projekte fast unterzugehen. Es scheint beiden Seiten primär darum zu gehen, für die nächste Wahl Pluspunkte zu sammeln, und bestimmte Ministerpräsidenten scheinen nur noch die Landtagswahlen im Jahre 2008 im Blick zu haben. (Das wurde exemplarisch deutlich im Vorfeld der so genannten Gesundheitsreform.) Bei der ersten großen Koalition vor 40 Jahren war das noch anders. Die beiden Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt und Rainer Barzel, die Schlüsselpositionen innehatten, waren wirklich noch staatsmännisch eingestellt und primär am Gelingen der Projekte interessierte, um derentwillen man die Koalition eingegangen war. Das Streben nach Macht allein muss allerdings noch nichts Schlimmes sein. Ohne Macht können schließlich auch keine inhaltlichen Ziele verwirklicht werden. Oft ist Macht aber eben nicht Mittel zum Zweck, sondern wird zum Selbstzweck. Es scheint dann wichtiger, den politischen Gegner schlecht aussehen zu lassen als über gute Lösungen nachzudenken. Ideen werden nur deshalb abgelehnt, weil sie von der Gegenseite kommen. Abgeordnete, die eigene Meinungen vertreten, laufen dem machtpolitischen Imperativ der Geschlossenheit zuwider und sehen sich als „Abweichler" diskriminiert. Der Grundsatz des freien Mandats ist, obwohl im Grundgesetz niedergelegt, nur noch Fassade. Neben dem Appell an die Politiker gibt es allerdings noch einen ganz anderen, indirekten Weg, zum Gemeinwohl zu gelangen. Ich meine den Wettbewerb als Steuerungsinstrument. Selbst wenn Berufspolitiker ihren Eigeninteressen bei Kollision mit dem Gemeinwohl - Vorrang geben, kann die Summe der Egoismen durchaus zur allgemeinen Wohlfahrt führen, wenn der Wettbewerb funktioniert. Dieses Konzept liegt bekanntlich der Marktwirtschaft zugrunde. Von dort hat man es auch auf die Politik übertragen. Funktionierenden politischen Wettbewerb aber wirklich zu gewährleisten, ist das Problem. Erforderlich ist ein
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adäquater institutioneller Rahmen - die Politikwissenschaft spricht von den „Regeln des Erwerbs von Macht, Posten und Geld". Doch hier stellt sich das „Odysseus-Problem". Ein solcher Rahmen ist ja keineswegs automatisch vorhanden. Er unterliegt vielmehr der Gestaltung durch die Politiker. Diese sitzen ja selbst mitten im Staat an den Schalthebeln der Macht und befinden damit letztlich selbst über den Inhalt der Verfassung, der Gesetze, der öffentlichen Haushalte und damit eben auch über jene Schlüsselregeln des Machterwerbs. Die Akteure müssten sich also selbst Grenzen setzen. Sie müssten sich wie Odysseus an den Mastbaum binden lassen, um dem Gesang der Sirenen nicht zu verfallen, um den Verfuhrungen der Macht, des Einflusses und des Geldes nicht zu erliegen. Kann man das wirklich erwarten? Aus der Wirtschaft kennen wir das Streben von Unternehmen, wettbewerbsbeschränkende Absprachen zu schließen, also Kartelle zu bilden, um gemeinsam die Marktgegenseite auszubeuten. Das sucht der Staat durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und das Kartellamt zu verhindern. Aber auch die politischen Akteure, die den Staat beherrschen, haben ein starkes gemeinsames Interesse daran, den politischen Wettbewerb außer Funktion zu setzen. Und warum sollten sie ausgerechnet dann nicht ihren Eigeninteressen folgen, wenn es um das in ihren Augen Wichtigste geht, den Machterhalt? Was liegt deshalb fur sie näher, als (auch und gerade) jene Schlüsselregeln zu ihren Gunsten zu gestalten? Und in der Tat, Parteien und Politiker bilden zur Ausschaltung des Wettbewerbs - über die Parteigrenzen hinweg - vielfach politische Kartelle. Am anschaulichsten werden die Probleme bei der Parteienfinanzierung und bei der Versorgung von Abgeordneten und Ministern. Geht es um höhere Bezahlung oder die Sicherung eigener Privilegien, ist die politische Klasse sich meist schnell einig. Hier wird das zentrale Dilemma deutlich. Die politische Klasse, die von den Regelungen profitiert, entscheidet auch selbst darüber. Bei der Selbstbedienung aus der Staatskasse waren die Parteien auch in der Vergangenheit stets besonders erfindungsreich: Die staatliche Parteienfinanzierung wurde in Deutschland im Jahre 1959 eingeführt. Das war eine europäische Premiere und wäre sogar eine Weltpremiere gewesen - hätten nicht Argentinien und Puerto Rico schon vorher eine Staatsfinanzierung gehabt. Die Väter des deutschen Grundgesetzes hatten sich derartiges nicht einmal im Traum vorstellen können. Und es gibt ja auch heute noch Länder ohne staatliche Parteienfinanzierung wie Großbritannien und die Schweiz. Nachdem die Staatsfinanzierung in der Bundesrepublik erst einmal eingeführt war, kannten die Bundestagsparteien kein Halten mehr: In kürzester Zeit vervielfachte sich der Umfang der „Staatsknete". Da hat das Bundesverfassungsgericht endlich die Notbremse gezogen und der staatlichen Parteienfinanzierung 1966 Grenzen gesetzt. Doch diese umgingen die Parteien, indem sie die staatlichen Geldquellen nun auf ihre Hilfsorganisationen umleiteten: Die „Parteistiftungen" und die Fraktionen wur-
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den mit Staatsgeld nur so überhäuft. Sie erhalten inzwischen sehr viel mehr Geld aus der Staatskasse als die eigentlichen Parteien. Das kommt auch in den gewaltigen Steigerungsraten zum Ausdruck: Die staatlichen Subventionen an die Fraktionen und die Parteistiftungen haben sich in den vergangenen 30 Jahren mehr als vervierzigfacht, womit, wie Frotscher früh feststellte, Jedes vernünftige Maß überschritten" wurde. Der immer wieder diskutierte Abbau von Subventionen ist auch deshalb so schwer, weil die Parteien sich damit ins eigene Fleisch schneiden würden. Und was die Öffentlichkeit noch gar nicht gemerkt hat: Seit kurzem werden die Parteien zusätzlich noch aus dem Haushalt der Europäischen Union subventioniert. Es fängt zwar klein an. Schon jetzt sind aber jährlich 100 Millionen Euro im Gespräch. Und das ist keineswegs das Ende der Fahnenstange. Das Geld teilen die etablierten Parteien unter sich auf. Die nationale Parteienfinanzierung wird auch keineswegs entsprechend gekürzt, sondern das EU-Geld kommt noch oben drauf. Die staatliche Parteienfinanzierung war bei ihrer Einführung Ende der Fünfzigerjahre offiziell mit dem Argument begründet worden, dann werde es möglich, Großspenden, die stets „im Dunstkreis der Korruption stehen" zu verbieten. Doch dieses Argument wurde später „vergessen". Tatsächlich bestehen in der Bundesrepublik jetzt beide Übel nebeneinander: Großspenden und üppige Staatsfinanzierung. Mit hohen Spenden kann die Großwirtschaft ihre Macht in politischen Einfluss „ummünzen"; die Staatsfinanzierung gibt den Parlamentsparteien ein gleichheitswidriges Übergewicht gegenüber allen aktuellen und zukünftigen Konkurrenten und macht die politische Klasse zugleich zum Raumschiff Berlin, das von den Bürgern immer unabhängiger und abgehobener wird. Ein problematischer Aspekt der Bezahlung von Parlamentsabgeordneten wird seit einiger Zeit in Deutschland diskutiert: so genannte Nebeneinkommen von Abgeordneten. Mitglieder der Parlamente genießen ja ein besonderes Privileg. Als einzige staatlich vollbezahlte Amtsträger dürfen sie, rechtlich völlig unbegrenzt, noch einen zweiten Beruf ausüben. Gleichwohl sollte man an diesem Privileg festhalten. Die Verankerung im privaten Beruf gibt den Abgeordneten ein gewisses Maß an Unabhängigkeit, auch gegenüber der eigenen Partei, sie speist Lebens- und Berufserfahrung in die politische Arbeit ein und ermöglicht es auch Hochqualifizierten ein Mandat zu übernehmen. Umso energischer aber sollte Abgeordnetenkorruption unterbunden werden. Dass bei uns ein Abgeordneter gleichzeitig hochbezahlter Cheflobbyist eines Verbandes oder eines Großunternehmens sein kann und dies, worauf die Betreffenden sich regelmäßig berufen, „ganz legal" ist, ist nur dadurch zu erklären, dass die Abgeordneten die nötigen Gesetze gegen diesen Missstand selbst beschließen müssten. Der Abgeordnete wird vom Volk „zur Sicherung seiner Unabhängigkeit" bezahlt (wie es
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im Grundgesetz heißt). Dann darf er diese Unabhängigkeit nicht an den Meistbietenden verkaufen. Man kann nun einmal nicht zwei Herren dienen. Ich komme zu einer anderen Form des selbstsüchtigen Missbrauchs der Parteienmacht: der Ämterpatronage, im Volksmund auch „Parteibuchwirtschaft' 4 genannt, einem Phänomen, mit dem Werner Frotscher sich eingehend befasste. Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat ganz offen davon gesprochen, die Parteien würden sich den Staat allmählich zur Beute machen. Das zeigt sich bei der Besetzung wichtiger Posten. Die Parteien stellen ja nicht nur das Parlament und die Regierung im Bund und in den Ländern (was in der parlamentarischen Demokratie völlig in Ordnung ist), sondern nehmen auch da Einfluss, wo sie eigentlich nichts zu suchen hätten. Sie durchsetzen alle möglichen Kontrollinstanzen mit ihren Parteigängern und suchen diese dadurch bis zu einem gewissen Grad gleichzuschalten. Betroffen sind: - hohe Gerichte, insbesondere Verfassungsgerichte, - die Spitzen der Rechnungshöfe, - wichtige Positionen in den öffentlich-rechtlichen Hörfunk- und Fernsehanstalten, - der öffentliche Dienst insgesamt, manchmal bis hinunter zum Pförtner, -
Führungspositionen in öffentlichen Unternehmen,
-
Spitzenpositionen in Schulen und allmählich auch in den Universitäten,
-
Sachverständigenkommissionen und sonstige Einrichtungen der wissenschaftlichen Politikberatung.
Nehmen wir als Beispiel die 16 Richter des Bundesverfassungsgerichts. Dort hat sich folgende Praxis eingespielt: Die eine Hälfte der Richter wird von der CDU/CSU bestimmt, die andere Hälfte von der SPD, wobei - in der Zeit kleiner Koalitionen - die jeweilige Regierungspartei ihrem kleineren Koalitionspartner einen Posten zur Besetzung überlässt. Kandidaten mit Parteibuch werden dabei massiv bevorzugt. Dass dieses Verfahren eigentlich verfassungswidrig ist, haben Staatsrechtler mutig - denn diese Feststellung geht an die Wurzel - herausgearbeitet. Ganz ähnlich parteipolitisiert sind die Spitzen der siebzehn Rechnungshöfe des Bundes und der Länder: Der Präsident gehört regelmäßig der einen und der Vizepräsident der anderen großen Partei an. Würden die Spitzen der Rechnungshöfe dagegen nicht von denen ausgewählt, die sie kontrollieren sollen, sondern würden sie unmittelbar vom Volk gewählt, würden die Kontrolleure mit Sicherheit ganz anderen Druck auf die politische Klasse entfalten. Dann würden sie die Interessen der Bürger sehr viel massiver wahrnehmen und sehr viel nachdrücklicher Rechtmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Verwaltung und der gesamten Politik einfordern, was eigentlich ja auch ihre Aufgabe ist.
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Ein anderes Feld für Parteipatronage ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Fritz Schenk, der legendäre Moderator des ZDF-Magazins, stöhnte schon vor Jahren, es sei nicht zutreffend, dass öffentlich-rechtliche Anstalten von den Parteien dominiert würden, sie gehörten ihnen. Parteitickets entscheiden über Karrieren. Besonders ausgeprägt ist die Patronage auch bei öffentlichen Wirtschaftsunternehmen. Fast kein Elektrizitätswerk, keine öffentliche Sparkasse, kein städtischer Verkehrsbetrieb, kein irgendwie zum öffentlichen Dienstleistungssektor gehöriger Betrieb wird nicht auch als Versorgungsunternehmen für Parteigänger und Parteimitglieder missbraucht. Ein fatales Beispiel bietet das Land Berlin. Dort hat die Unfähigkeit politisch infiltrierter Unternehmensführungen zig Milliarden Verluste verursacht und dazu beigetragen, das Land finanziell zu ruinieren. Dass die öffentliche Hand überhaupt Unternehmen hält, wird regelmäßig mit hehren Zielen gerechtfertigt, die in der Praxis aber kaum je erfüllt, oft nicht einmal formuliert werden. Umso nachhaltiger ist der „Run" so genannter „verdienter" Parteipolitiker auf die lukrativen Posten. Auch Schlüsselstellungen der Bildung sind gezielt Gegenstand parteipolitischer Ämterpatronage wie etwa die Ämterverteilung in den Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung. Selbst in den Schulen reden die Parteien ein gewichtiges Wort mit. Ohne Parteibuch Leiter(in) einer größeren Schule zu werden, ist nur noch schwer möglich. Doch der Gedanke, dass die Parteipolitisierung der Spitzen unserer Schulen etwas mit deren schwachen Leistungen zu tun haben könnte, ist bisher offenbar noch niemandem gekommen. Generell gilt: Wenn das Parteibuch im öffentlichen Dienst immer wichtiger wird, sehen sich immer mehr Beamte aus Karrieregründen genötigt, einer etablierten Partei beizutreten. Umgekehrt liegt darin eine Diskriminierung aller Nicht-Parteimitglieder. Dies ist zwar rechtswidrig. Es verstößt gegen die Verfassungen und die Beamtengesetze. Dennoch hat „die klare Rechtslage die Parteien nicht davon abhalten können, auf dem Wege zur durchgängigen Politisierung des öffentlichen Dienstes fortzuschreiten". Die parteipolitische Ämterpatronage erscheint als „einer der schlimmsten Auswüchse gegenwärtiger Parteienstaatlichkeit" (Frotscher). Mit dem zunehmenden Eintritt von Beamten in die Parteien kommt es auch zu einer immer stärkeren Verbeamtung der Parlamente. In den Parteien haben nämlich Beamte besonders gute Chancen, vorwärts zu kommen und für Parlamentsmandate nominiert zu werden. Das liegt nicht zuletzt an ihrem „Zeitreichtum". Um in den beiden großen Parteien etwas zu werden, muss man nämlich eine langjährige parteiinterne Ochsentour auf sich nehmen. Das verlangt vor allem eines: die Möglichkeit, über die eigene Zeit zu disponieren. Und das können viele Beamte, vor allem Lehrer, die in Deutschland üblicherweise nur am Vormittag Unterricht zu geben haben. Die Folge ist eine Verbeamtung der Parteien und eine noch stärkere Verbeamtung der Parlamente.
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Die Verbeamtung der Parlamente ist ein typisch deutsches Problem. Fast die Hälfte der 2.800 deutschen Parlamentarier des Bundestags, der 16 Landesparlamente und des Europäischen Parlaments kommt aus dem öffentlichen Dienst, darunter eben viele - in Deutschland ja beamtete - Lehrer. Von daher auch der sarkastische Schnack: Die Parlamente sind mal voller und mal leerer, aber immer voller Lehrer. Ursprünglich sollte das Grundgesetz ein Verbot enthalten, wonach Beamte und Richter nicht in die Parlamente gewählt werden dürften. So ist es auch in Großbritannien und in den USA. Doch eine solche Vorschrift war im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz 1949 entwarf, nicht durchzusetzen; die Mitglieder des Parlamentarischen Rats kamen ja selbst zu 60 % aus dem öffentlichen Dienst. Wie aber sollen völlig verbeamtete Parlamente noch die nötige Distanz aufbringen, die Verwaltung und den öffentlichen Dienst grundlegend zu reformieren? Wie sollen Lehrer-Parlamente die Schulen, also quasi sich selbst, reformieren, so notwendig solche Reformen in Deutschland auch wären, wie nach den Pisa-Studien auch dem Letzten klar geworden ist. Ämterpatronage und Politikfinanzierung sind zwei Beispiele für Bereiche, in denen Regierungs- und Oppositionsparteien aus Eigeninteresse den Wettbewerb ausschalten, ein Kartell bilden und so gemeinsam ihre Interessen sichern. Wirken ähnliche Mechanismen aber nicht vielleicht auch sonst? Spiegeln sich hier nicht charakteristische Fehlentwicklungen unseres ganzen politischen Systems wider, die eben nur bei Ämterpatronage und Politikfinanzierung besonders deutlich in Erscheinung treten? Spielen Eigeninteressen der politischen Klasse nicht auch bei anderen Gesetzen und Verfassungsnormen eine zentrale Rolle, bei denen dieser Zusammenhang indirekter und deshalb sehr viel schwerer zu durchschauen ist? Und: Könnten Verformungen des Systems nicht ein Grund dafür sein, dass „die Politik" ihre Aufgaben nicht mehr befriedigend erfüllt? Hier liegt der Kern des Problems, an dem auch alle Reformen auf Dauer ansetzen müssen. Das Problem wird allerdings dadurch verschärft, dass die Mängel des Systems ihrerseits ganz wesentlich auf Eigeninteressen der politischen Klasse beruhen und diese sich deshalb auch wirksamen Systemreformen widersetzt. Deshalb wird die Problematik auch nicht offen diskutiert. Wir haben nicht nur einen Reformstau in Deutschland, sondern auch einen „Wahrheitsstau". Insofern muss Roman Herzogs viel zitierter Ausspruch relativiert werden, wir hätten gar kein Erkenntnisproblem mehr, „nur" noch ein Durchsetzungsproblem. Dass die Eigeninteressen der politischen Klasse zentralen Reformen im Wege stehen, ist noch lange nicht allen klar. Um nicht missverstanden zu werden, lassen Sie mich an dieser Stelle ganz klar stellen: Es geht mir nicht etwa darum, die politische Klasse zu diskreditieren oder gar die politischen Parteien abzuschaffen. Parteien sind und bleiben
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ganz wichtig und unverzichtbar. Aber sie müssen in eine Ordnung eingebunden bleiben, die sie möglichst daran hindert, ihre Macht zu missbrauchen und sich an die Stelle des Volkes zu setzen, statt an der politischen Willensbildung des Volkes nur w/Yzuwirken. An einer solchen Ordnung fehlt es bislang. Der Hauptmangel unseres politischen Systems, so wie es sich über die Jahrzehnte entwickelt hat, besteht im Fehlen offenen, fairen politischen Wettbewerbs und in dem daraus resultierenden Zerfließen von politischer Verantwortung. Wir kennen zwei Grundmodelle zur Sicherung politischer Verantwortung in der Wettbewerbsdemokratie. Das eine Modell ist das der verantwortlichen Parteienregierung („responsible party government"). Hier wählen die Bürger zwischen alternativen Parteien, von denen eine die Mehrheit im Parlament besitzt und die Regierung stellt. Sind die Bürger mit ihren Leistungen unzufrieden, so wählen sie die Mehrheitspartei bei den nächsten Parlamentswahlen ab und bringen die Opposition an die Macht. So hat das Volk die Möglichkeit, schlechte Regierungen ohne Blutvergießen wieder loszuwerden. Das hat Karl Raimund Popper, der große Denker der Freiheit, als Kern der Demokratie erkannt. Doch an einem solchen System, wie es etwa in Großbritannien besteht, fehlt es in Deutschland. Das hat Popper selbst eindrucksvoll dargelegt, in der Festschrift für Helmut Schmidt. Für den Bürger ist es in unserem vielfach geschichteten Gemeinwesen schon ziemlich schwer, überhaupt den Überblick zu behalten. Der Wähler hat es ja mit mindestens fünf verschiedenen Ebenen zu tun: - seiner Gemeinde oder Stadt, - seinem Landkreis, - seinem Land, - dem Bund - und der Europäischen Union. Solange jede Ebene klar umrissene Zuständigkeiten besitzt und die Zuständigkeitsverteilung Sinn macht und einleuchtet, braucht darunter die politische Verantwortlichkeit allerdings nicht zu leiden, im Gegenteil. Das deutsche Problem besteht darin, dass die fünf staatlichen Ebenen untereinander vielfach verflochten sind. Das treibt die Unübersichtlichkeit auf die Spitze und macht dem Wähler die Orientierung praktisch unmöglich. Woher soll er - angesichts des verschachtelten Kompetenzwirrwarrs - noch wissen, welche Ebene für welche Themen zuständig ist? Zudem haben wir auch noch ein Wahlrecht, das die politische Zurechenbarkeit erst recht erschwert. In Deutschland kommen Regierungen - aufgrund des vorherrschenden Verhältniswahlrechts - fast immer nur durch Koalitionen von zwei oder mehr Parteien zustande. Regierungswechsel erfolgen meist nicht
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durch Wahlen, sondern durch neue Koalitionen. (Davon gibt es im Bund nur eine Ausnahme: der Regierungswechsel von 1998.) Koalitionsabsprachen werden aber erst nach der Wahl, hinter dem Rücken der Wähler, getroffen. Hinzu kommt: Nach unserem System muss der Bundesrat den wichtigsten Bundesgesetzen zustimmen, sonst können sie nicht wirksam werden, und der Bundesrat war vor 2005 meist mehrheitlich in der Hand der Opposition. In solchen Situationen ist die Regierung auf die Opposition angewiesen. Die Opposition aber neigt leicht dazu, der Regierung - aus machtpolitischen Gründen - jeden Erfolg zu missgönnen und deshalb im Bundesrat nein zu sagen. So droht ganz Deutschland die Falle mangelnder Handlungs- und Reformfähigkeit. Den Ministerpräsidenten kommt die Macht des Bundesrats zwar entgegen, denn die „Landesfiirsten" gewinnen auf diese Weise die Möglichkeit, sich auf Bundesebene zu profilieren, und dort wird nun mal die politische Musik gespielt. All' das geht aber auf Kosten der LandesParlamente, die dadurch an Einfluss verlieren, und besonders auf Kosten der Bürger, die nicht mehr durchblikken, und damit zu Lasten der Funktionsfähigkeit des ganzen Systems. Die Blockademacht des Bundesrats (und die dadurch mitbewirkte politische Lähmung der Bundesregierung) war einer der Gründe, die letztes Jahr Bundeskanzler Schröder dazu bewogen, Neuwahlen anzustreben. Damals sah es so aus, als käme nun Schwarz/Gelb an die Regierung. Merkel, Stoiber und Westerwelle hatten ja bereits bei der Wahl von Bundespräsident Köhler im Jahre 2004 die Köpfe zusammen gestreckt - und das gerade im Hinblick auf eine künftige Koalition von Union und FDP. Im Frühjahr 2005 sahen sie - nach den damaligen Umfragen - denn auch wie der sichere Sieger aus. Doch es kam anders. Zum Schluss reichte es weder Schwarz/Gelb noch Rot/Grün zur Mehrheit. Da niemand mit der Neuen Linken/PDS koalieren wollte, blieb nur die große Koalition - eine fatale Folge unseres Verhältniswahlrechts. Und wer von der großen Koalition Großes erwartet hatte, wurde bisher enttäuscht. Die Union und die SPD besitzen zwar eine überwältigende Mehrheit im Bundestag, und auch der Bundesrat ist parteipolitisch in ihrer Hand. Bloß nützt das offenbar wenig. Denn beide Parteien fühlen sich in ihrer politischen Handlungsfreiheit massiv gebremst. Die CDU glaubt sich für ihre mutigen früheren Reformbeschlüsse vom Wähler abgestraft und rudert deshalb zurück. Auch die SPD hat der Mut, der die Regierung Schröder in ihrer Spätphase auszeichnete, verlassen. Sie befürchtet, Wähler an die Neue Linke zu verlieren. In der Landespolitik ist die Verflüchtigung der Verantwortung fast noch größer. Denn die 16 Bundesländer stimmen ihre Politik in länderübergreifenden Gremien, wie zum Beispiel der Kultusministerkonferenz, untereinander und häufig zusätzlich auch mit dem Bund ab. Es gibt fast 1.000 derartige Koordinierungsgremien, in denen Gesandte der Regierungen und Verwaltungen der Länder sich absprechen. Das bindet dann faktisch die Regierungen und entmachtet die Landesparlamente noch weiter (von den Landesbürgern ganz zu schweigen).
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Denn die Regierungsfraktionen wollen ihre Regierung, die an den Absprachen mit den anderen Ländern festhält, nicht desavouieren, und der Opposition fehlen meist die nötigen Informationen, um fundiert Kritik zu üben. Zudem sind ihre Parteigenossen in anderen Bundesländern an der Regierung und damit an den länderübergreifenden Absprachen beteiligt. Deshalb ist auch von den zusätzlichen Kompetenzen, welche die Länder durch die kleine Föderalismusreform bekommen haben, nicht viel zu erwarten. Alle diese Formen der „Politikverflechtung" bewirken, „dass am Ende niemand mehr weiß, wer für welche Entscheidung überhaupt verantwortlich zu machen ist" (Warnfried Dettling). Der Wähler kann gute Politik nicht mehr mit dem Stimmzettel belohnen und schlechte Politik nicht bestrafen, wie dies das Konzept der Wettbewerbsdemokratie verlangt. Es herrscht ein Zustand organisierter Unverantwortlichkeit, ein Ausdruck, der nicht etwa von Revoluzzern stammt, sondern sich auch in einem Reform-Papier der beiden CDU-Politiker Roland Koch und Jürgen Rüttgers und in der Abschiedsrede des früheren Bundespräsidenten Johannes Rau findet. Erfolge rechnet sich jeder zu, für Misserfolge sind dagegen immer die anderen verantwortlich. Weil alle beteiligt sind, trägt in Wahrheit niemand Verantwortung. Das ist für die politische Klasse zwar angenehm. Ihr Berufsrisiko wird stark gemindert. Deshalb hat sie die Verantwortungsscheu ja auch zum System gemacht. Umgekehrt werden aber Bürger und Wähler vollends orientierungslos und die Steuerungsfähigkeit des Systems weitgehend aufgehoben. Wird es für den Wähler nun zunehmend unmöglich (und ganz „systematisch" auch unmöglich gemacht), zwischen den einzelnen Parteien zu unterscheiden, ihnen eine bestimmte Politik zuzurechnen und sie dafür verantwortlich zu machen, sollten sie zumindest die Personen bestimmen können, die politische Ämter innehaben. Damit sind wir beim zweiten Modell der Wettbewerbsdemokratie: der Regierung verantwortlicher Personen („responsible persons government"). Hier ist es weniger wichtig, für welches Programm die Partei steht als welche Personen zur Wahl stehen. Doch in Wahrheit kann der deutsche Wähler nicht einmal über die Personen, die ihn in den Parlamenten vertreten sollen, entscheiden. Die meisten Abgeordneten stehen in Deutschland - aufgrund parteiinterner Nominierungen - schon lange vor der Wahl fest. Viele Wahlkreise gelten als „sicher". In anderen Fällen ist der Ausgang im Wahlkreis zwar ungewiss. Doch die Kandidaten sind zusätzlich über die Parteiliste abgesichert, so dass sie in das Parlament kommen, auch wenn sie im Wahlkreis verlieren. Kürzlich war ich mit den beiden Bundestagsabgeordneten Peter Altmaier und Dieter Wiefelspütz in einer Fernseh-Talkrunde. Es ging um unser Wahlsystem. Dabei sind beide Abgeordnete selbst typische Beispiele für die Abschottungstendenz gegenüber dem Wähler. Peter Altmaier von der CDU war zwar bei der Bundestagswahl 2005 im Wahlkreis Saarlouis dem SPD-Kandidaten Ottmar
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Schreiner unterlegen, Altmaier kam aber dennoch ins Parlament, weil die CDU ihn auf der saarländischen Landesliste abgesichert hatte. Dieter Wiefelspütz von der SPD trat im Wahlkreis Hamm-Unna II an, einem sicheren Wahlkreis seiner Partei, den er erwartungsgemäß mit hohem Vorsprung gewann. Im selben Wahlkreis kandidierten auch noch Laurenz Meyer (CDU) und Jörg van Essen (FDP). Ihre Niederlage im Wahlkreis tat ihnen aber nicht im Geringsten weh, weil beide sichere Listenplätze ihrer Parteien innehatten und deshalb von vornherein feststand, dass auch sie in den Bundestag einziehen würden. Der heftige Wahlkampf in Saarlouis, Hamm-Unna II und in vielen anderen Wahlkreisen war nur ein inszeniertes Scheingefecht, das die Wähler darüber hinwegtäuschen sollte, dass sie in Wahrheit nichts zu sagen haben. Damit ist die ganze Konzeption von der repräsentativen Demokratie, wie sie dem Grundgesetz zugrunde liegt, in Wahrheit ohne Fundament. Die Bürger können die Abgeordneten nur dann als ihre Repräsentanten ansehen und die von ihnen beschlossenen Gesetze nur dann als bindend anerkennen, wenn sie ihre Vertreter wirklich gewählt haben, frei und unmittelbar (wie es das Grundgesetz ja auch ausdrücklich vorschreibt). Genau das ist aber gerade nicht der Fall. Wer ins Parlament kommt, wird von den Parteien bestimmt. Das Parteienmonopol ließe sich nur aufbrechen, wenn man die starren Parteilisten beseitigen würde. Zugleich müsste man Vorwahlen einfuhren, damit den Wählern auch in sicheren Wahlkreisen eine Auswahlmöglichkeit verbleibt. Solange dies nicht geschieht, hat der Bürger trotz der vielen Wahlkämpfe zum Europaparlament, zum Bundestag, zu den 16 Landesparlamenten und den rund 15.000 kommunalen Volksvertretungen - jedenfalls auf den oberen Ebenen - wenig zu sagen. Das könnte man ja, äußerstenfalls, vielleicht noch hinnehmen, wenn dadurch die Handlungsfähigkeit der Regierungsmehrheit gestärkt würde. Doch auch hier ist, wie gesagt, Fehlanzeige zu vermelden. Die Regierung ist auf alle und jeden angewiesen, und das schwächt ungemein. Nicht politische Handlungsfähigkeit, sondern Blockademacht ist charakteristisch für unser System. Die Schwäche der Regierungen verschafft anderen - extrakonstitutionellen - politischen Akteuren umso größeres Gewicht. Zuletzt bleibt die Frage, ob die geschilderten Fehlentwicklungen unabänderlich sind oder wir etwas dagegen tun können. Längerfristig kommt nur eine grundlegende Änderung unseres Systems in Betracht. Der größte Hemmschuh für Systemänderungen besteht nun aber in den Eigeninteressen der politischen Klasse. So hat, um nur ein Beispiel aufzugreifen, die politische Klasse selbst unser Wahlsystem samt Ochsentour und Absicherung der Wahlkreiskandidaten auf starren Listen hervorgebracht. So haben, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die Ministerpräsidenten ihre Starrolle im Bundesrat vor 56 Jahren selbst im Grundgesetz verankert und über die Jahrzehnte immer weiter ausgebaut. Dass die zweite Bundeskammer aus Landesregierungen besteht, ist eine verrückte Regelung, die es nirgendwo sonst in der westlichen Welt gibt. Doch darauf verzichten werden die Ministerpräsidenten kaum. Genau das wäre aber erforder-
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lieh. Der Bundesrat müsste einer entsprechenden Grundgesetzänderung ja zustimmen. Da wir nicht an der Klagemauer verharren wollen, stellt sich nun die Gretchenfrage mit aller Macht: Wie lassen sich Systemreformen dennoch durchsetzen? Welches sind die „tragenden Kräfte" solcher Reformen? Ich möchte zwei mögliche „ordnende Potenzen" zur Diskussion stellen: die Verfassungsgerichte und den Common Sense des Volkes selbst. Das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte hätten die Mittel, viele der geschilderten Missstände zu beseitigen. Ich nenne nur drei Beispiele: 1. Ämterpatronage ist regelmäßig verfassungswidrig - Verstoß gegen Art. 33 GG. Die Gerichte könnten deshalb organisatorisch-verfahrensmäßige Vorkehrungen vorschreiben, die die fatale Praxis eindämmen. Manche halten das zwar nicht für realistisch, sitzen die Gerichte - in Sachen parteipolitische Berufung doch selbst im Glashaus. Doch dieser Einwand braucht nicht unbedingt das letzte Wort zu sein. Es gibt ja doch so etwas wie den „Becket-Effekt" - ein Bild, das ich aus Anouills Drama „Becket oder die Ehre Gottes" entnommen habe. Erst einmal berufen, neigen nämlich gerade Richter dazu, die Treue zu ihrem Amt und seinen Anforderungen über die Loyalität zu denen zu stellen, die sie berufen haben. Die zwölfjährige Amtsperiode von Bundesverfassungsrichtern unter Ausschluss der Wiederwahl untermauert die grundgesetzlich gewährleistete Unabhängigkeit und erleichtert eine echt gemeinwohlorientierte Haltung. 2. Die Verfassungsgerichte könnten auch gegen die Verbeamtung der Parlamente einschreiten. Der Widerspruch zum Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung liegt ja auf der Hand. 3. Die Gerichte könnten die Wahlgesetze zum Bundestag, zu den Landtagen und zum Europaparlament wegen fehlender Unmittelbarkeit der Wahl der Abgeordneten kassieren und auf diese Weise grundlegende Verbesserungen an der Infrastruktur unserer Demokratie erzwingen. Dass wir unsere Abgeordneten in Wahrheit nicht mehr unmittelbar wählen, habe ich in einer Abhandlung in der „Juristenzeitung" lege artis nachzuweisen versucht. Dies alles - und noch manches mehr - könnten die Gerichte tun. Voraussetzung ist natürlich, dass sie diese Aufgabe erkennen und entschlossen wahrnehmen. In Sachen Parteienfinanzierung und Selbstversorgung von Politikern hat das Bundesverfassungsgericht bereits vielfach eingegriffen und eine Art Ersatzgesetzgebung vorgenommen. Doch die Probleme gehen weit darüber hinaus. Daneben muss aber auch das Volk verstärkt zur Sprache kommen. Die Strategie muss deshalb auch dahin gehen, den Common Sense des Volkes zu aktivieren. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Ein Weg liegt in der Gründung einer neuen Partei, die sich Strukturreformen aufs Panier geschrieben hat. Dies ist allerdings ein steiniger Weg. Die etablierten Parteien haben dem Auf-
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kommen neuer Konkurrenten eine Unmasse von Steinen in den Weg gelegt. Aber soll man die parteilich organisierte Kritik an Mängeln des politischen Systems wirklich solchen Rattenfängern wie der NPD und der DVU überlassen? Ein anderer Weg liegt in der Direktwahl von Amtsträgern, etwa des Bundespräsidenten, und in der Einführung und Nutzung von Volksbegehren und Volksentscheid. Volksentscheide sollten sich allerdings nicht auf alles und jedes beziehen, sondern auf Bereiche, die erstens grundlegend wichtig, zweitens auch für die Bürger nachvollziehbar sind und bei denen, drittens, die Politik, wenn sie in eigener Sache entscheidet, zum Missbrauch neigt. Ich meine die konstitutiven Elemente des Systems, etwa das Wahlrecht, die Bezahlung der Parteien und Politiker und die föderalistischen Strukturen. Mit dieser Beschränkung auf die Regeln des Erwerbs und der Ausübung der Macht erledigen sich möglicherweise auch die Bedenken Frotschers gegen eine umfassende (auf alle möglichen Gegenstände bezogene) direkte Demokratie, zumal sie den einzigen Erfolg versprechenden Weg zur Änderung der genannten Regeln darstellt. Was direkte Demokratie hier bewirken kann, zeigt die einzige wirkliche Reform der Regeln des Machterwerbs und der Machtausübung in Deutschland im letzten Jahrzehnt: die Reform der Gemeindeverfassungen nach baden-württembergischem Vorbild. Sie wurde in Hessen und Bayern direkt durch Referendum und Volksentscheid verwirklicht, in anderen Bundesländern indirekt dadurch, dass die Parlamente durch glaubwürdiges Drohen mit Volksbegehren zum Handeln gezwungen wurden. Die Reform begann 1991 mit einem Referendum in Hessen, wo sich 82 % der Abstimmenden für die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten aussprachen. 1995 wurden in Bayern durch Volksbegehren und anschließenden Volksentscheid Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auf lokaler Ebene eingeführt. Die Folge war, dass in Nordrhein-Westfalen und in vielen anderen Bundesländern direktdemokratische Initiativen in dieser Richtung nur noch begonnen werden mussten, um selbst den widerstrebendsten Landesparlamenten Beine zu machen. Jetzt werden in allen 13 Flächenländern die Bürgermeister nicht mehr von den Räten, sondern direkt von den Gemeindebürgern gewählt, die auch Bürgerbegehren und Bürgerentscheide auf der lokalen Ebene durchführen können. Bei den Kommunalwahlen sind die Bürger in den meisten Ländern nicht mehr an starre Parteilisten gebunden, sondern können ihre Stimmen - im Wege des Kumulierens und Panaschierens - den von ihnen bevorzugten Kandidaten geben. Dadurch sind Gemeindeverfassungen entstanden, die mehr politische Handlungsfähigkeit und mehr Bürgernähe versprechen. Der übermäßige Zugriff der Parteien auf die Kommunen wird gelockert. Die Parteien werden auf ihre eigentliche grundgesetzliche Rolle zurückgedrängt, bei der politischen Willensbildung nur w/'/zuwirken, statt sie völlig zu beherrschen. Aus Parteiverfassungen sind eher Bürgerverfassungen geworden.
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Die Entwicklung von der Partei- zur Bürgerverfassung in den Gemeinden könnte zum Vorbild werden auch für die Länder. Man sollte deshalb auch eine Reform der Landesverfassungen ins Auge fassen. Eine solche Reform kann in vielen Ländern auch gegen den Widerstand der politischen Klasse durchgesetzt werden. Während im Bund nämlich direktdemokratische Elemente immer noch fehlen, gibt es inzwischen in allen 16 Ländern - wenn auch unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen - die Möglichkeit, Gesetze mittels Volksbegehren und Volksentscheid, also am Parlament vorbei, durchzubringen. Und in den meisten Ländern kann man auf diesem Wege auch die Verfassung ändern. Auf diese Weise wäre also eine Art „legale Revolution" möglich, die beides verbessern würde: die Handlungsfähigkeit der Politik und ihre Bürgernähe. Die Hauptelemente einer solchen Reform wären - die Direktwahl des Regierungschefs durch das Volk und - die Verbesserung des Landtags Wahlrechts. Die Direktwahl des Regierungschefs würde seine demokratische Legitimation erhöhen und Koalitionsbildungen überflüssig machen. Für wacklige Koalitionsregierungen wäre kein Raum mehr. Ein direktgewählter Regierungschef hätte auch gegenüber seiner Partei eine stärkere Stellung und ließe sich im Bundesrat nicht mehr so leicht parteilich einbinden. Dann hätten plötzlich auch andere Kandidaten eine Chance, und die großen Parteien müssten - im eigenen Interesse - attraktive Kandidaten aufstellen - unabhängig davon, ob diese die Ochsentour durchlaufen haben oder nicht. Der Kreis, der für politische Spitzenämter in Frage kommenden Persönlichkeiten würde ausgeweitet. Gelänge es, eine solche Reform auch nur in einem Lande durchzusetzen, könnte dies eine Aufbruchstimmung erzeugen, die auf andere Länder und den Bund überschwappen und auch dort die Reformbereitschaft sprunghaft erhöhen würde. Von allein kommen solche Reformen gegen den geballten Widerstand der politischen Klasse allerdings nicht zustande. Es gilt deshalb, aus der Bürgerperspektive eine Strategie zur Durchsetzung der Reform zu entwickeln. Wie wir uns auch drehen und wenden: Wir kommen an der Erkenntnis nicht vorbei, dass dies „unsere Aufgabe ist und wir nicht darauf warten dürfen, dass auf wunderbare Weise von selbst eine neue Welt geschaffen werde" (Karl Raimund Popper). Politik ist nun mal zu wichtig, als dass man sie allein den Berufspolitikern überlassen sollte.
Die Religionsfreiheit in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Von Jörg Müller-Volbehr Neuere Entscheidungen des BVerfG zum Religions verfassungsrecht belegen eindrucksvoll die große praktische Bedeutung des in Art. 4 Abs.l und 2 GG umfassend gewährleisteten Grundrechts der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Dieses, im Zentrum der Diskussion über nahezu alle Kernprobleme der Grundrechtstheorie und -praxis stehend, hat durch die Judikatur des BVerfG in den letzten Jahren eine Ausformung erfahren, die in der Literatur auf zum Teil heftige Kritik gestoßen ist. So war seit Langem nicht mehr so leidenschaftlich und kontrovers über die Grundlagen des geltenden Religionsverfassungsrechts diskutiert worden wie im Anschluss an den Kruzifix-Beschluss vom 16.5.1995.1 Im Zeugen-Jehovas-Urteil vom 19.12.20002 ging es um die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Verleihung der Körperschaftsrechte gemäß Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV. Auch in dieser Entscheidung steht das Grundrecht der Religionsfreiheit im Vordergrund, weil nach der Sicht des Gerichts die Gewährleistungen der Weimarer Kirchenartikel ein bedeutsames Mittel zu seiner Entfaltung darstellen. Das Schächt-Urteil vom 15.1.20023 sowie der Osho-Beschluss vom 26.6.20024 führten zu mancherlei grundrechtsdogmatischen Irritationen, lenkten aber auch das Augenmerk auf das weite Feld des von den Verfassungsprinzipien der Neutralität, Toleranz und der Kooperation geprägten Verhältnisses von Staat, Kirchen und bei uns neuen Religionsgemeinschaften. Das Kopftuch-Urteil vom 24.9.20035 schließlich ließ die Emotionen bei der konträren Beurteilung des Streitstandes in ähnlicher Weise hochgehen wie zuvor der Kruzifix-Beschluss. Die nachfolgenden Ausführungen können die Entwicklungslinien der Verfassungsgericht!ichen Rechtsprechung und die Kritikpunkte nur in den Grundzügen wiedergeben.
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BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
93, 1 ff. 102, 370 ff. 104, 337 ff. 105, 279 ff. 108, 282 ff.
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I. Kruzifix-Beschluss Ganz überwiegend stieß der Beschluss auf heftige Kritik. 6 Moniert wurde vor allem, dass es schon fraglich sei, ob überhaupt von einem Eingriff in den Schutzbereich der Religionsfreiheit ausgegangen werden dürfe. Einen Verstoß gegen die negative Religionsfreiheit hält das Gericht in Gestalt des § 13 Abs. 1 S. 3 BayVolksschulO für gegeben. Zur negativen Religionsfreiheit gehöre unter anderem, wie die Entscheidung zutreffend betont, das Recht, nicht zur Teilnahme an religiösen Handlungen gezwungen zu werden, und dieses Recht erstrecke sich grundsätzlich auch auf religiöse Symbole. Die Fünf-zu-drei-Mehrheit des Senats charakterisiert nun aber das Schulkreuz im staatlichen Schulbereich als „spezifisches Glaubenssymbol des Christentums schlechthin", als Sinnbild für „die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen", für „den Sieg Christi über Satan und Tod". Gerade umgekehrt versteht das Minderheitenvotum das Kreuz primär als Ausdruck der „Werte und Normen", die „zum Gemeingut des abendländischen Kulturkreises" geworden sind und die als „Kulturund Bildungsfaktor" das Erziehungsziel christlicher Gemeinschaftsschulen bilden.7 Beide Interpretationen 8 verkennen, dass es sich um ein sinnvariierendes Symbol handelt.9 Einerseits stellt das Kreuz das zentrale Zeichen für den christlichen Glauben dar. Zugleich ist es aber auch überkonfessioneller Ausdruck der vom Christentum maßgeblich geprägten Werte in der abendländischen Kulturordnung. Die im Beschluss besonders hervorgehobene „überragende Prägekraft" der christlichen Tradition für die „kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen"10 hätte das Gericht bei der rechtlichen Qualifizierung des Kreuzes eigentlich in die Richtung eines überkonfessionellen Sinnbildes der abendländischen Kultur und ihrer Werte leiten müssen. Nur in diesem Sinne fungiert das Kreuz als Symbol einer christlichen Gemeinschaftsschule. Überzogen wirkt insbesondere die Annahme eines Eingriffs in den Schutzbereich insofern, als durch den bloßen Anblick des Kreuzes die Schüler generell dem Zwang, „unter dem Kreuz zu lernen", und seinem „appellativen Charakter" 6 Unter anderem Badura, BayVBl. 1996, 33; von Campenhausen, AöR 121 (1996), 448; Meckel DVB1. 1996, 453; Isensee, ZRP 1996, 10; Kästner, ZevKR 41 (1996), 241; Link, NJW 1995, 3353; Müller-Volbehr, JZ 1995, 996; Pirson, BayVBl. 1995, 752. Dem BVerfG zustimmend CzermaK NJW 1995, 3348; Korioth, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 140 GG/Art. 136 WRV Rn. 120; Neumann, ZRP 1995, 381; Renck, ZRP 1996, 16; Rozek., BayVBl. 1996, 22. 7
BVerfGE 93, 1 (19, 27). Zur Fülle theologischer Kritik eingehend Meckel DVB1. 1996, 453 (469) m.w.N. 9 Näher Müller-Volbehr, JZ 1995, 996 (997); Meckel DVB1. 1996, 453 (467). 10 BVerfGE 93, 1 (22). 8
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„ohne Ausweichmöglichkeit" ausgesetzt sein sollen.11 Die eigenartige Vorstellung, Schüler lernten in profanen Fächern wie Englisch oder Mathematik „unter dem Kreuz" anders als ohne dieses, erscheint absurd. Das Kreuz ist weder integrierender Teil des Unterrichts noch zwingt es anders als beim Religionsunterricht und dem Schulgebet zu einer individuellen Bekenntnisübung. Für das durch die subjektive Beschwer indizierte Gewicht des Eingriffs, ob einzelne Schüler wirklich „ohne Ausweichmöglichkeit" während des Unterrichts mit dem Kreuz konfrontiert sind, kommt es bei der Deutung durch die Senatsmehrheit zudem auf seine Anbringung an einer auffälligen oder weniger auffälligen Stelle an. Eine Ausweichmöglichkeit muss umso mehr bejaht werden, je unauffälliger es im Klassenraum platziert ist und je weniger es im Blickfeld des Schülers liegt. 12 Diesen für die praktische Wertung wichtigen Gesichtspunkt hat das Gericht vollends vernachlässigt. Des Weiteren setzt sich der Beschluss nur unzureichend mit den spezifisch bundesstaatlichen Aspekten der Kulturhoheit der Länder und des Schulrechts auseinander. Aus ihnen können sich - die Grundsätze sind im Landesverfassungsrecht geregelt - sehr wohl verfassungsunmittelbare Grundrechtsschranken für das Bundesverfassungsrecht ergeben, unter anderem über das in Art. 20 Abs. 1 GG enthaltene Bundesstaatsprinzip, einem der obersten Verfassungsrechtsleitsätze des GG, zumal der Bund auf dem Gebiet des Schulrechts keinerlei Kompetenz besitzt.13 Zwar betont das Gericht, der staatliche Erziehungsauftrag in der Schule, von dem Art. 7 Abs. 1 GG ausgeht, sei in seinem Bereich „von den Eltern unabhängig".14 Das Gericht bestätigt auch grundsätzlich unter Bezugnahme auf seine früheren Entscheidungen die Verfassungsmäßigkeit der christlichen Gemeinschaftsschule, wie sie im Verfassungsrecht einzelner Bundesländer ausgestaltet ist. 15 Eingebettet ist sie in die bundesverfassungsrechtlichen Garantien der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, der positiven wie negativen Religionsfreiheit, die allerdings unter Schrankenvorbehalt stehen. Demzufolge darf die staatliche Schule, wie es im Beschluss an sich zutreffend heißt, „ihre Aufgabe im religiös-weltanschaulichen Bereich nicht missionarisch auffassen und keine Verbindlichkeit für christliche Glaubensinhalte beanspruchen". 16 Das gilt aber primär für die konfessionell zu verstehenden christlichen Bezüge im Religionsunterricht, in Schulgottesdiensten, bei Andach-
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BVerfGE 93, 1 (18, 20). Zweifelnd, ob in der optischen Konfrontation überhaupt ein Grundrechtseingriff liegen kann, auch Link., NJW 1995, 3353 (3356). 13 Vgl. Müller-Volbehr, ZevKR 44 (1999), 385 (402). 14 BVerfGE 93, 1 (21). 15 BVerfGE 41, 29 und 65. 16 BVerfGE 93, 1 (23). 12
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ten und Schulgebeten. Bei diesen Veranstaltungen muss für die Schüler die Möglichkeit des Fernbleibens bestehen. Abgesehen davon gehört aber in einer christlichen Gemeinschaftsschule das Christliche im Sinne der christlich geprägten Bildungs- und Kulturwerte zum eigenständigen, verfassungsrechtlich auch in Art. 7 Abs. 1 GG geschützten Erziehungsauftrag. Dieses in der Schule zu vermittelnde Gemeingut des abendländischen Kulturkreises bildet die Grundlage der für Schüler wie Eltern verpflichtenden Unterrichtsmaßstäbe, was das Kreuz ohne jeden Absolutheitscharakter auch nur symbolisieren möchte. Es fragt sich, wie eine Schule christliche Gemeinschaftsschule sein und bleiben soll, wenn sie nicht einmal mehr das Kreuzsymbol als eingängiges Zeichen ihres Schulprogramms verwenden darf. Schließlich hat man - nicht zu Unrecht - dem BVerfG entgegengehalten, sein Ausgleich zwischen den konträren Verfassungsgütern, vor allem der positiven und negativen Religionsfreiheit, sei misslungen. Treffen gegensätzliche Positionen bei Inanspruchnahme des Grundrechts aus Art. 4 Abs.l und 2 GG aufeinander, ist vornehmlich unter Beachtung des Verfassungsgebots der Toleranz ein für alle zumutbarer Kompromiss durch Ausgleich nach Maßgabe des Prinzips praktischer Konkordanz zu suchen. Dem gebotenen Erfordernis einer sorgsamen Abwägung zwischen der aus dem Landesverfassungsrecht über das Bundesstaatsprinzip folgenden Zulässigkeit religiöser Bezüge in einer christlichen Gemeinschaftsschule, der positiven Religionsfreiheit der christlichen Schüler und Eltern wie auch der negativen Religionsfreiheit nicht christlicher bzw. atheistischer Schüler und Eltern wird das BVerfG jedoch in keiner Weise gerecht. 17 Eine Ausgleichslösung muss selbstverständlich die Religionsfreiheit der Andersdenkenden respektieren. Doch darf das Grundrecht der negativen Religionsfreiheit keinesfalls so weit reichen, dass in einer christlichen Gemeinschaftsschule auf die Verwendung des Kreuzes als Sinnbild des christlich-abendländischen Kulturkreises verzichtet werden muss. Zur verengenden Bedeutung des Kreuzessymbols kommt somit hinzu, dass das BVerfG nicht durch eine sorgsame Abwägung, sondern durch eine einseitig akzentuierende und privilegierende Überordnung der negativen Religionsfreiheit seine Entscheidung getroffen hat.
II. Zeugen-Jehovas-Urteil Zu den im Kontext der Religionsfreiheit bemerkenswerten Entscheidungen gehört auch das Zeugen-Jehovas-Urteil. Obwohl in ihm die tatbestandliehen Voraussetzungen für eine Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas im Vorder17 Näher Badura, BayVBl. 1996, 33 (37); Meckel DVB1. 1996, 453 (479 ff.); MüllerVolbehr., JZ 1995, 996 (999 f.).
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grund stehen, liegt die besondere Bedeutung dieser Entscheidung doch darin, dass das Gericht erstmals näher auf das Verhältnis des Art. 137 Abs. 5 WRV zum Grundrecht der Religionsfreiheit eingegangen ist. In dem die gegenwärtige Diskussion beherrschenden Richtungsstreit hat sich das BVerfG nicht auf die Seite eines institutionellen, sondern eines grundrechtlichen Verständnisses der über Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporierten Weimarer Kirchenartikel gestellt. Es betont allgemein, deren „Gewährleistungen ... sind funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt". So sei der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts „ein Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit". 18 Diese „grundrechtsakzessorische Deutung" 19 der Weimarer Kirchenartikel und damit der Versuch, maßgebliche Gewährleistungen des Staatskirchenrechts als Ausformung des Grundrechts der Religionsfreiheit zu qualifizieren, blieben nicht unwidersprochen. 20 Jedenfalls in dieser Allgemeinheit, ohne zwischen den einzelnen Weimarer Artikeln zu differenzieren, erscheint eine derartige Sicht auch sehr fraglich. Zu Art. 4 GG gehört systematisch noch am ehesten Art. 136 WRV. 2 1 Ein gewisser Konnex besteht ferner zwischen der Religionsfreiheit und dem in Art. 137 Abs. 3 WRV den Religionsgemeinschaften gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht. Die Schutzbereiche beider Normen sind zwar nicht identisch, jedoch weitgehend deckungsgleich. Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG umfasst zum einen die korporative Komponente. Sein Schutzbereich wird zudem in der Rechtsprechung des BVerfG extensiv ausgelegt. Dennoch gibt es kirchliche Tätigkeitsfelder wie die Grundstücksverwaltung oder die Buchführung, die selbst bei einem weiten Tatbestandsverständnis mit Mühe als Religionsausübung zu interpretieren wären. 22 Demgegenüber eröffnen die anderen Bestimmungen der Weimarer Kirchenartikel den Religionsgemeinschaften als bloße Organisationsnormen weitere Rechte und ergänzen insoweit die grundrechtlichen Freiheiten aus Art. 4 GG, ohne jedoch funktional auf sie angelegt zu sein. Etwa der Körperschaftsstatus sowie das Recht zur Erhebung von Kirchensteuern werden nicht vom Schutzbereich des Grundrechts der Religionsfreiheit mit umfasst. Lässt sich Art. 4 Abs. 1 und 2 GG somit nicht zur Grundnorm des gesamten Religionsverfassungsrechts deklarieren, sind einer grundrechtlichen Subjektivierung der institutionell angelegten Weimarer Kirchenartikel Grenzen gesetzt.
18
BVerfGE 102,370 (387). Weber, N V w Z 2002, 1443 (1447). 20 Korioth, FS Badura, 2004, S. 727 ff.; Muckel, Stimmen der Zeit, 2001, S. 463 ff.; Tillmanns, FS Rüfner, Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 42, 2003, S. 919 ff. 21 Korioth (Fn. 6), Rn. 4. 22 Im Einzelnen von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Aufl., 1996, S. 106 f. 19
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Zu Missverständnissen führt auch die Feststellung des Gerichts, 23 der Körperschafitsstatus „beziehe seine Rechtfertigung" aus der „Religionsfreiheit". Dieser uneingeschränkte Befund klingt schon fast so, als sei die Religionsfreiheit das primär maßgebliche Kriterium. Der Status müsste dann viel weitergehend als bisher im Prinzip jeder Gemeinschaft offen stehen, die die Religionsfreiheit für sich in Anspruch nimmt. Dem hat man zu Recht entgegengehalten, für ein solchermaßen abgestütztes Verständnis des Körperschaftsstatus gebe es keine verfassungsrechtlich überzeugenden Gründe. 24 Ein gewisser Zusammenhang mit den grundrechtlichen Bezügen der Religionsfreiheit lässt sich freilich insofern kaum leugnen, als die Zuerkennung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts auch die Art und Weise der einer Religionsgemeinschaft möglichen Religionsausübung betrifft. Nach den Feststellungen des Gerichts 25 unterliegt der Anspruch auf Verleihung der Körperschaftsrechte über den Wortlaut des Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV hinaus weiteren Einschränkungen. Da sich für sie im Verfassungstext selber keinerlei Anhaltspunkte finden, kommt nur die Rechtsfigur der ungeschriebenen Schranken in Betracht. Ungeschriebenes Verfassungsrecht darf es indes wegen seiner ergänzenden Funktion immer nur als Entfaltung, Vervollständigung oder Fortbildung der Prinzipien der geschriebenen Verfassung und stets im Einklang mit diesen Prinzipien geben.26 Insbesondere muss nach ganz herrschender Meinung 27 bei der Verleihung der Körperschaftsrechte die Rechtstreue der antragstellenden Gemeinschaft gewährleistet sein. Das BVerfG rechtfertigt dieses ungeschriebene Merkmal allgemein mit den „Grundwerten der Verfassung" bzw. „aus dem Zusammenhang des Grundgesetzes". 28 Offen bleibt die nähere dogmatische Verortung einer solchen Schranke, mag sie vom Ergebnis her gesehen selbstverständlich sein. Aber auch im Ergebnis Selbstverständliches sollte exakter zugeordnet werden. Die Ausfuhrungen geben nicht eindeutig zu erkennen, ob das Gericht allein einer systematisch-teleologischen Auslegung des Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV folgend zu den tatbestandlichen Einschränkungen gelangt oder ob es nicht vielmehr schlicht auf die Grundrechtsschranken der Religionsfreiheit zurückgreift. Ersterenfalls wäre eine sorgsamere Begründung zur Zulässigkeit ungeschriebenen Verfassungsrechts angezeigt gewesen. Für den zweiten Weg erscheint es fraglich, ob die Intensität des Zusammenhangs mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ausreicht, um die Verleihungsvoraussetzungen generell den für das Grundrecht der 23
BVerfGE 102,370 (390).
24
Muckel (Fn. 20), S. 476.
25
BVerfGE 102,370 (389). BVerfGE 2,380 (403). Vgl. BVerfGE 102, 370 (390) m.w.N. BVerfGE 102, 370 (386, 389).
26 27 28
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Religionsfreiheit entwickelten verfassungsimmanenten Schranken zu unterwerfen. Die Argumentation des BVerfG scheint in diese Richtung zu gehen. Anderenfalls würden die umfassenden Ausfuhrungen zur engen Verknüpfung des Körperschaftsstatus mit dem Grundrecht keinen Sinn machen, sollten sie diesem Procedere nicht den Weg ebnen. Auch das BVerwG hatte bereits in der Vorinstanz den engen Konnex mit den Grenzen betont, die der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG vorbehaltlos gewährleisteten Religionsfreiheit gezogen sind. 29 An diese verfassungsimmanenten Schranken müsse sich die antragstellende Religionsgemeinschaft in ihrem Handeln und Wirken halten. Mag eine solche Verknüpfung nach dem vom BVerfG entwickelten grundrechtlichen Ansatz auch nahe liegen, so haben die bei Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV zu fordernden Einschränkungen doch über die allgemeinen Schranken des Grundrechts der Religionsfreiheit hinauszureichen. Etwa an die Rechtstreue einer beliebigen Religionsgemeinschaft sind bei der Frage nach ihrem Grundrechtsschutz nicht dieselben strengen Maßstäbe anzulegen wie bei einer Gemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden möchte. In Anbetracht der großen praktischen Bedeutung der Schranken fur die antragstellende Gemeinschaft hätte man sich eine tiefer greifende Begründung ihrer Zulässigkeit gewünscht. Allein mit dem knappen Rekurs auf die Grundwerte der Verfassung und den Zusammenhang des Grundgesetzes ist es nicht getan, ließen sich doch mit einer derart vage gehaltenen Argumentation nahezu nach Gutdünken weitere Erfordernisse statuieren. Das BVerwG war in der Vorinstanz bereits zu der weitergehenden Verleihungsvoraussetzung einer grundsätzlichen Treue und Loyalität gegenüber dem Staat gelangt, die das BVerfG aber als „zum Schutz der verfassungsrechtlichen Grundwerte nicht notwendig und mit ihnen im Übrigen auch nicht vereinbar" zurückgewiesen hat. 30 Konkreter wird das Gericht bei der inhaltlichen Definition des Merkmals der Rechtstreue. 31 Zu Recht fordert es unter anderem ein Bekenntnis zu den Grundrechten der Menschenwürde, des Schutzes menschlichen Lebens und der körperlichen Unversehrtheit, der Achtung konkurrierender Religionsgruppen, zu den in Art. 20 GG niedergelegten Staatsstrukturprinzipien. Demgegenüber stellt der mehrfache Bezug auf Art. 79 Abs. 3 GG eine bloße Wiederholung dar. Wichtig ist auch der Hinweis auf Art. 9 Abs. 2 GG, dass keine Voraussetzungen gegeben sein dürfen, unter denen eine private Vereinigung zu verbieten wäre. Diese Kriterien werden in Zukunft bei der möglichen Verleihung der Körperschaftsrechte an muslimische Gemeinschaften den entscheidenden Ausschlag geben. Insofern ist das Urteil hoch aktuell und richtungweisend.
29 30 31
BVerwGE 105, 117 (121 f.). BVerfGE 102,370 (395). BVerfGE 102, 370 (390 ff.).
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III. Schächturteil Das Urteil zum Schächten lenkt den Blick auf den Widerstreit zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz. Die Ausführungen des BVerfG zeigen paradigmatisch, welche Schwierigkeiten die Fixierung von Schutzbereich und Schranken der Religionsfreiheit vor dem Hintergrund der sich bei uns ausbreitenden Praktiken des Islams bereitet. Die Entscheidung stieß durchweg auf nachhaltige Kritik. Als gravierenden Schwachpunkt hat man hauptsächlich moniert, dass es dem Gericht nicht gelungen ist, das religiös motivierte Schächten eindeutig einem grundrechtlichen Schutzbereich und den dazu korrespondierenden verfassungsrechtlichen Schranken zuzuordnen. 32 Bei der Bildung des grundrechtlichen Prüfungsmaßstabs gerät das Gericht in eine „grundrechtsdogmatische Gemengelage".Für die Berufsfreiheit des Beschwerdeführers als Ausländer legt es an sich zutreffend Art. 2 Abs. 1 GG zugrunde. Das Schächten sei darüber hinaus „Ausdruck einer religiösen Grundhaltung, die für den Beschwerdeführer als gläubigen sunnitischen Muslim die Verpflichtung einschließt, die Schächtung nach den von ihm als bindend empfundenen Regeln seiner Religion vorzunehmen", „auch wenn das Schächten selbst nicht als Akt der Religionsausübung" zu verstehen sei. Deshalb sieht das Gericht den Schutz der Berufsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG als „durch den speziellen Freiheitsgehalt des Grundrechts der Religionsfreiheit verstärkt" an. 34 Bei dieser Wertung geht manches durcheinander. Zunächst befremdet die Rechtsfigur der Schutzbereichsverstärkung. Dieses Konstrukt gibt nicht klar zu erkennen, welche Grundrechtsbestimmung unter welchen Voraussetzungen letztendlich den abwehrrechtlichen Schutz gewährleisten soll. Entsprechend vage bleibt die tatbestandliche Zuordnung des Schächtens. Obwohl es sich dabei nicht um einen Akt der Religionsausübung handele, wird doch auf das Grundrecht der Religionsfreiheit „zur Verstärkung" zurückgegriffen. Diese Zusammenschau mehrerer Grundrechtstatbestände begegnet schon allein deswegen großen Bedenken, weil es zu einer unzulässigen Kombination divergierender Grundrechtsschranken kommt. Art. 2 Abs. 1 GG unterliegt im weiten Sinne der verfassungsmäßigen Ordnung, bei Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geben die in Rechtsprechung und Lehre sehr viel enger gefassten verfassungsunmittelbaren Schranken den Ausschlag. Nicht ganz zu Unrecht hat man dem BVerfG daher eine „Nebulosität freischwebender Grundrechtslyrik" attestiert. 35
32 Kästner, JZ 2002, 491; Volkmann, DVB1. 2002, 332; Höfling., FS Rüfner, Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 42, 2003, S. 329; Wittreck, Der Staat 42 (2003), 519. 33 Wittreck, Der Staat 42 (2003), 519 (531 ). 34 BVerfGE 104,337(346). 35 Höfling (Fn. 32), S. 331.
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Art. 4 Abs. 1 und 2 GG kommt als Maßstabsnorm überhaupt nur in Betracht, sofern sich das vom Beschwerdeführer praktizierte Schächten als Religionsausübung qualifizieren lässt. Zu dieser zentralen Frage fehlt jedoch jegliche präzise Subsumtion. Das BVerfG unterlässt es insbesondere, sich unter Anknüpfung an seine frühere Rechtsprechung mit dem Schutzbereich des Grundrechts der Religionsfreiheit näher auseinanderzusetzen, der ein breites Spektrum religiös bzw. weltanschaulich motivierter Verhaltensweisen einschließt. Zwar stellt das Schächten keine kultische Handlung dar. Der Grundrechtstatbestand umfasst aber auch das Recht jedes Einzelnen, über den engeren Bereich rein kultischer Akte hinaus sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens oder seiner Weltanschauung auszurichten und seiner inneren Überzeugung gemäß zu handeln. 36 Das Schächten und der Verzehr geschächteten Fleisches stehen in engem Zusammenhang mit der religiös motivierten Lebensführung. Insofern erstrecken sich die Imperative des religiösen Glaubens für das Gesamtverhalten einer Person sehr wohl auf die konsequente Beachtung eines von der Religion vorgeschriebenen Nahrungsmittelverbotes. 37 Ist somit der Grundrechtstatbestand der Religionsfreiheit einschlägig, verbleibt daneben kein Raum für eine Anwendung des Art. 2 Abs. 1 GG, auch nicht im Wege einer Schutzbereichsverstärkung. Grundsätzlich tritt Art. 2 Abs. 1 GG als subsidiäres Auffanggrundrecht hinter anderen Grundrechten zurück, sofern deren Schutzbereiche betroffen sind. Anderenfalls würde, wie schon gesagt, die bei den einzelnen Grundrechten differierende Schutzbereichs- und Schrankendogmatik ausgehebelt.38 Das BVerfG hätte daher seine Prüfung zur Rechtfertigung des Eingriffs nicht auf die verfassungsmäßige Ordnung, sondern allein auf die zu Art. 4 Abs. 1 und 2 GG entwickelten Schrankenkriterien stützen dürfen. Zu einer Idealkonkurrenz zwischen Art. 2 Abs. 1 GG und dem Freiheitsrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG kann es schon deshalb nicht kommen, weil dieses, als lex specialis partiell ebenso auf den Schutz der Persönlichkeit bezogen, die mit der religiösen Lebensführung verbundene Berufsausübung beim rituellen Schächten einschließt.39 Im Ergebnis kann man der verfassungskonformen Auslegung des § 4a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 Tierschutzgesetz zustimmen. Insbesondere legt das BVerfG den Begriff der Religionsgemeinschaft zutreffend aus im Sinne einer bloßen Gruppe von Menschen innerhalb des Islams, deren Glaubensrichtung sich von derjenigen anderer islamischer Gemeinschaften unterscheidet. 40 „Zwingende 36
Vgl. BVerfGE 32, 98 (106); 35, 366 (374). Dazu Müller-Volbehr, JuS 1997, 223 (224). 38 Vgl. Di Fabio , in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 Rn. 21. 39 Di Fabio (Fn. 38), Art. 2 Abs. 1 Rn. 25. 40 Zu den für eine Religionsgemeinschaft konstitutiven Merkmalen Müller-Volbehr, JuS 1997, 223 (226). 37
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Vorschriften" müssen den Angehörigen dieser Gruppe den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen. Das Vorliegen dieser Voraussetzung ist für eine Ausnahmegenehmigung substantiiert und nachvollziehbar darzulegen.
IV. Osho-Beschluss Auch dieser Entscheidung mangelt es an einer sauberen Grundrechtsdogmatik. 4 1 Fünf Meditations vereine der Osho-Bewegung hatten Klage auf Unterlassung belastender Äußerungen durch die Bundesregierung erhoben. Gegen die abweisenden Urteile der vorinstanzlichen Gerichte wandte sich die Verfassungsbeschwerde. Das BVerfG folgt insbesondere nicht dem klassischen Aufbauschema einer Grundrechtsprüfung. Vielmehr verwischen die Ausführungen die klaren Konturen zwischen dem vom Schutzbereich grundsätzlich erfassten Wirkungsfeld einer Religionsgemeinschaft und der Prüfung einer möglichen Rechtfertigung des Eingriffs. 42 Das Gericht legt zunächst, die Untersuchung des Schutzbereichs und der Rechtfertigung des Eingriffs vermengend, dar, welches staatliche Handeln mit dem Grundrecht abgewehrt werden kann. Der Staat habe sich „in Fragen des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses neutral zu verhalten und nicht seinerseits den religiösen Frieden in der Gesellschaft zu gefährden". Art. 4 Abs. 1 und 2 GG schütze „daher gegen diffamierende, diskriminierende oder verfälschende Darstellungen", aber „nicht dagegen, dass sich staatliche Organe mit den Trägern des Grundrechts öffentlich - auch kritisch - auseinandersetzen".43 Anhand dieses Grundrechtsmaßstabs werden sodann die Äußerungen der Bundesregierung im Einzelnen einer Prüfung unterzogen. Die bloße Bezeichnung der Osho-Bewegung als „Sekte", „Jugendreligion", „Jugendsekte" und „Psychosekte" soll „keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen", „diese Äußerungen" würden „schon nicht den Schutzbereich des Grundrechts ... berühren". 44 Lässt sich diesen Feststellungen im Ergebnis auch zustimmen, so hätte es doch zuallererst eines näheren Eingehens auf die Frage bedurft, inwieweit der Schutzbereich thematisch einschlägig ist. Auf der Tatbestandsebene unterfällt es nicht der verfassungsjuristischen Definitionskompetenz des Staates, den Gehalt der jeweiligen Religion oder Weltanschauung näher zu beurteilen. 45 Dass dif41
Kritisch auch Höfling (Fn. 32), S. 332 f.; Cremer, JuS 2003, 747 f. Wie im Glykolweinbeschluss vom gleichen Tage, BVerfGE 105, 252 ff. 43 BVerfGE 105,279 (294). 44 BVerfGE 105, 279 (295). 45 Zur formellen und qualifizierenden Definitionskompetenz des Staates Müller-Volbehr, DÖV 1995, 301 (302 f.). 42
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famierende, diskriminierende und verfälschende Darstellungen von Seiten der Bundesregierung den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG tangieren, ist an sich nicht weiter problematisch. Wenig zu überzeugen vermag hingegen die Annahme, die Bezeichnung als „Sekte'4, „Jugendreligion 44, „Jugendsekte44 und „Psychosekte44 berühre nicht einmal den Schutzbereich. Immerhin verbindet sich mit diesen Benennungen in der Öffentlichkeit weithin ein negatives Bild, nachdem die Medien schon seit Langem einschlägig gewarnt und aufgeklärt haben (Scientology). Wollte das Gericht eine Verletzung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch die Verwendung solcher Bezeichnungen ausschließen, hätte es den ohne Zweifel vorliegenden Eingriff in den Schutzbereich nach entsprechender Prüfung flir gerechtfertigt erklären müssen. Judikatur und Literatur haben den Schutzbereich bislang grundsätzlich extensiv interpretiert. Eine Abkehr von der bislang auch vom BVerfG praktizierten weiten Tatbestandstheorie 46 hätte doch einer näheren dogmatischen Auseinandersetzung bedurft. Das Procedere eines einengenden Schutzbereichsverständnisses birgt bei allen Unwägbarkeiten einer Definition die Gefahr einer erheblichen Verkürzung des Grundrechtsschutzes in sich. Die zugunsten der Grundrechtsadressaten entwickelten rechtsstaatlichen Sicherungen, unter anderem des Verhältnismäßigkeitsprinzips und der Rechtsgüterabwägung, an denen sich jeder Eingriff messen zu lassen hat, können keine Wirkung mehr entfalten. Bedenken begegnen des Weiteren die Ausführungen zum Begriff des Eingriffs. Das Gericht spricht von Eingriffen im herkömmlichen Sinne, möchte den Grundrechtsschutz aber auch auf faktische und mittelbare Beeinträchtigungen ausgedehnt wissen. Schon seit Langem ist es jedoch allgemein anerkannt, dass Grundrechte ebenso vor faktischen Beeinträchtigungen schützen,47 so dass die Unterscheidung zwischen klassischen, das heißt: finalen Eingriffen und bloß faktischen, mittelbaren Beeinträchtigungen nicht weiterhilft. Auch die Letzteren greifen gleichermaßen in den Schutzbereich ein. Ganz abgesehen davon bleibt es unverständlich, warum gezielt diffamierende, diskriminierende und verfälschende Behauptungen, selbst wenn sie gegenüber Dritten geäußert werden, keine unmittelbaren Eingriffe beinhalten sollen. Fragwürdig sind ferner die Ausfuhrungen zur Zuständigkeit der Bundesregierung für das Informationshandeln. Die Informationskompetenz werde „von der der Regierung durch das Grundgesetz zugewiesenen Aufgabe der Staatsleitung44 auch dann gedeckt, „wenn mit dem Informationshandeln mittelbar-faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen verbunden44 seien.48 Problematisch bei dieser Begründung ist schon, dass von der Aufgabe auf eine Eingriffsbefügnis ge-
46
V g l . Höfling
47
Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, 1970. BVerfGE 105, 279 (303).
48
(Fn. 32), S. 337.
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schlossen wird. 4 9 Darüber hinaus sind die Darlegungen, die Informationskompetenz der Bundesregierung unterliege nicht dem Vorbehalt des Gesetzes, nur schwer verständlich. Der Gesetzgeber könne zwar „die Voraussetzungen gezielter und unmittelbarer Eingriffe normieren, für die faktisch-mittelbaren Wirkungen staatlichen Handelns" gelte „dies regelmäßig nicht". 50 Offen bleibt, warum bei einer Warnung vor Psycho- und Jugendsekten die - auch in deren Sphäre wegen der zu erwartenden Rufschädigung eingreifenden - Wirkungen kaum vorhersehbar und damit nicht gesetzlich regelbar sein sollen. Die bundesstaatliche Kompetenzordnung hält das Gericht für gewahrt. Der Bund sei „zur Staatsleitung insbesondere berechtigt, wenn Vorgänge wegen ... ihrer länderübergreifenden Bedeutung überregionalen Charakter haben und eine bundesweite Informationsarbeit der Regierung die Effektivität der Problembewältigung fördert". 51 Die Annahme einer solchen ungeschriebenen Kompetenz hätte allerdings vor dem Hintergrund der in der Rechtsprechung früher entwikkelten strengen Kriterien, 52 die kraft Natur der Sache für den Bund erfüllt sein müssen, doch eingehender problematisiert werden sollen, vor allem insofern, ob nicht die Länder die Aufgabe ebenso effektiv - gegebenenfalls mit gemeinsamen Aktionen - hätten bewerkstelligen können.
V. Kopftuch-Urteil Der Rechtsstreit der Kopftuch tragenden Lehramtsanwärterin Fereshta Ludin fand ähnlich wie seinerzeit der Kruzifix-Beschluss in der Medienöffentlichkeit große Aufmerksamkeit. Das BVerfG lässt in seiner nicht nur religionsverfassungsrechtlich, sondern ebenso gesellschaftspolitisch umstrittenen Entscheidung einige für die Klärung der Rechtslage grundrechtsdogmatisch wesentliche Fragen offen. 53 Vor allem aber ist der an sechzehn Bundesländer erteilte Gesetzgebungsauftrag, „das zulässige Maß religiöser Bezüge in der Schule neu zu bestimmen",54 in Anbetracht der der Judikatur von Verfassungs wegen zugewiesenen genuinen Aufgabe zur Entscheidung solcher Einzelfalle nur schwer verständlich. Es kann hier nicht auf alle Facetten der langatmig abgesetzten Urteilsbegründung, insbesondere nicht auf die unterschiedlichen Deutungen des islamischen Kopftuchs, näher eingegangen werden. Die Ausführungen des BVerfG zu diesen Kernproblemen wirken recht unentschlossen. Dass das Kopf-
49 50 51 52 53 54
Vgl. Bethge, V V D S t R L 57 (1998), 7 (48); Gusy, NJW 2000, 977 (984 f.). BVerfGE 105, 279 (304). BVerfGE 105,279 (306). Unter anderem BVerfGE 12, 205 (251 f.). Kritisch unter anderem Ipsen, N V w Z 2003, 1210; Kästner, JZ 2003, 1178. BVerfGE 108, 282 (309).
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tuch unter anderem auch ein „Zeichen für sexuelle NichtVerfügbarkeit" sein könne,55 ist doch angesichts des Vorbringens der Beschwerdeführerin, nach den Vorschriften des Islams sei das Kopftuchtragen verpflichtend und gehöre zu ihrer islamischen Identität, 56 ziemlich irrelevant. Vor dem Hintergrund von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hat verfassungsrechtlich allein Maß zu geben das religiöse Selbstverständnis der Grundrechtsträgerin, das eine individuelle Deutung des Kopftuchs gebietet und ein überpersönliches, objektives Verständnis ausschließt. Der kardinale Schwachpunkt des Urteils liegt in dem Wertungswiderspruch, in den sich der Zweite Senat in seiner erstaunlich dünnen Auseinandersetzung mit dem Kruzifix-Beschluss des Ersten Senates begibt. Das BVerfG meint mehrheitlich, die staatliche Duldung einer religiösen Bekleidung einzelner Lehrkräfte dürfe mit einer staatlichen Anordnung, „religiöse Symbole in der Schule anzubringen, nicht gleichgesetzt werden". 57 Diese Unterscheidung zwischen einer staatlichen Anordnung des Kruzifixes und einer bloßen Duldung der religiös intendierten Bekleidung ist kaum mehr nachvollziehbar. Im vorhergehenden Absatz der Begründung verweist die Senatsmehrheit selber auf den objektiven Empfängerhorizont der Schüler als Betrachter, der bei der Prüfung eines möglichen Grundrechtsverstoßes den Ausschlag zu geben hat. Auf diesem Hintergrund bleiben die weiteren Ausführungen schlicht unverständlich: „Der Staat, der eine mit dem Tragen des Kopftuchs verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Lehrerin hinnimmt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen".58 Das BVerfG nennt indes keinen einzigen plausiblen Grund, warum dem Staat das Agieren seiner beamteten Lehrer als seiner Funktionsträger bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben im Unterricht nicht voll als von ihm zu verantwortendes Handeln zuzurechnen sein soll. Zu Recht verweisen die dissentierenden Richter darauf, dass von einem islamischen Kopftuch - in der öffentlichen Diskussion inzwischen aufgeladen als Symbol eines fundamentalistischen und politischen Islamismus - eine stärkere grundrechtliche Beeinträchtigung auszugehen droht als von einem über der Schultür hängenden Kreuz in einem christlich geprägten Umfeld. Zu sehr sei „das Kreuz - über seine religiöse Bedeutung hinaus - ein allgemeines Kulturzeichen". 59 Jedenfalls muss die Schlussfolgerung befremden, der grundrechtlich gebotene Schutz der Schüler bzw. ihrer Eltern erfordere es zwingend, ein „Ler-
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BVerfGE 108, 282 (304 f.). BVerfGE 108, 282 (284). BVerfGE 108, 282 (305). BVerfGE 108, 282 (306). Sondervotum in BVerfGE 108, 282 (330, 332).
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nen unter dem Kreuz" zu verhindern, 60 während ein obligatorisches Lernen im Angesicht eines religiös motivierten und damit in seiner Wirkung eindeutig appellativen Kopftuchs nicht imstande sein soll, einen Konflikt mit der negativen Religionsfreiheit auszulösen. Zutreffend verweist dagegen das Sondervotum auf die Verletzung der religiösen und weltanschaulichen Neutralität von Seiten der Lehrkraft und damit des Staates, mit der „das beständige Tragen eines Kopftuchs im Schulunterricht... unvereinbar ist". 61 Schließlich unterliegt die im Urteil vorgenommene Ausdeutung der spezifisch beamtenrechtlichen Pflichten grundlegenden Bedenken. Das BVerfG vertritt mehrheitlich, von Art. 33 Abs. 3 GG ausgehend, den Standpunkt, das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gelte per se auch im Beamten Verhältnis. 62 Damit stellt das Gericht die in einem so genannten Sonderstatusverhältnis stehenden staatlich Bediensteten als gleichberechtigte Grundrechtsträger mit den im allgemeinen Statusverhältnis befindlichen Bürgern auf eine Ebene. Bisher entsprach es aber ganz herrschender Meinung, dass in Sonderstatusverhältnissen Grundrechte - auch ohne einzelgesetzliche Regelungen - Beschränkungen unterworfen werden können, die die Natur des Verhältnisses erfordert und rechtfertigt. 63 Die danach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zufolge gebotene verfassungsrechtliche Zuordnung zwischen den dienstlichen Pflichten einerseits und den Grundrechten der staatlich Beschäftigten andererseits lässt die Senatsmehrheit außer Acht. Sie geht vielmehr pauschal davon aus, aus „allgemeinen beamtenrechtlichen Pflichten" lasse „sich ein grundrechtsbeschränkendes Verbot ... nicht herleiten". Die einschlägigen beamtenrechtlichen Bestimmungen enthielten „keine Regelung, aufgrund derer sich die allgemeinen beamtenrechtlichen Pflichten zu Mäßigung und Zurückhaltung für Lehrer zweifelsfrei konkretisieren ließen". 64
VI. Fazit Nicht erst in jüngerer Zeit ist das Vertrauen in die Rechtsprechung des BVerfG in eine ernste Krise geraten. 65 Die heftige Kritik, mit der sich das Gericht schon seit Längerem konfrontiert sieht, zielt auf die vielen irritierenden und umstritten gebliebenen Entscheidungen (z.B.: Soldaten - potenzielle Mörder, Cannabis, Sitzblockaden, Schwangerschaftsabbruch, Homo-Ehe). Wegen
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BVerfGE 93, 1 (18, 20). BVerfGE 108, 282 (332). BVerfGE 108, 282 (298). Vgl. Sondervotum in BVerfGE 108, 282 (315 f.). BVerfGE 108, 282 (308). Vgl. Isensee, JZ 1996, 1085; Schulze-Fielitz, AöR 122 (1997), 1 (3).
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ihrer mangelnden Überzeugungskraft haben sie nicht mehr die für die Autorität des obersten Verfassungsgerichts an sich wünschenswerte Akzeptanz gefunden. Die besprochene Judikatur zur Religionsfreiheit fugt sich in die Reihe der von einer breiteren Öffentlichkeit zum Teil sogar als skandalös empfundenen Entscheidungen ein. Das gilt für den Kruzifix-Beschluss und das Kopftuch-Urteil. Bei den anderen, nicht ganz so emotionsbeladenen Judikaten (Zeugen Jehovas, Schächten, Osho) sind es die handwerklichen Schwächen, die sich in unklaren Argumentationsstrukturen bei der Ausgestaltung der Grundrechtsdogmatik manifestieren. Das Problem liegt zum einen darin, dass das BVerfG in vielen Fragen des gesamten staatlichen Lebens das letzte Wort hat, aber oftmals über große gesellschaftliche Konflikte entscheiden muss, bevor sie im politischen Dialog auch nur halbwegs - sofern überhaupt möglich - bewerkstelligt sind. Zum anderen präsentiert sich die neuere Verfassungsrechtsprechung nur zu merklich als Spiegel des Zeitgeistes. Die zur Entscheidung anstehenden Themen sind in der Öffentlichkeit meist hochgradig umstritten. Durchweg verlaufen die Bruchlinien der Kontroversen entlang den Parteigrenzen. Wegen der parteipolitischen Durchdringung der Richterämter treten diese Gräben auch in der Rechtsprechung des BVerfG deutlich zutage. So hat man oftmals den Eindruck, dass bei der Entscheidungsfindung das politisch gewünschte Ergebnis und nicht immer die stringente verfassungsrechtliche Argumentation den Ausschlag gibt. Die tiefe Spaltung des Gerichts zeigt sich in den Sondervoten. Gelegentlich erweisen sich die politisch gefügten Stimmenverhältnisse jedoch als fragil. Diese Situation macht paradigmatisch das Kopftuch-Urteil sichtbar. Ein von der konservativen Seite benannter Richter im Zweiten Senat stimmte - wie schon seit Längerem - mit der Gegenseite. Anderenfalls wäre die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen worden. Allerdings wird das Grundrecht der Religionsfreiheit, in Wortsinn, begrifflicher Anknüpfung und normativem Regelungsgehalt vager und vieldeutiger als die meisten anderen Grundrechte, bei seiner Handhabung immer wieder große Schwierigkeiten bereiten. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG füngiert als wesentliche verfassungsrechtliche Stütze für die stark wachsenden religiösen und weltanschaulichen Parallelgesellschaften und den so genannten Multikulturalismus unserer Zeit und wird schon allein deswegen auch in Zukunft im Mittelpunkt gesellschaftspolitisch umstrittener Entscheidungen stehen.
Volksinitiativrechte in Europa - ein vergleichender Überblick Von Theo Schiller Direkte Demokratie hat in der letzten Zeit wachsende Aufmerksamkeit erfahren. Eine demokratische Beteiligungs- und Entscheidungsform, die lange Zeit primär in der Schweiz relevant erschien, erlangte insbesondere seit etwa 1990 auch Bedeutung in anderen Ländern. Das gilt für Deutschland, als nach 1990 die ostdeutschen Bundesländer diese Verfahren in ihre neuen Landesverfassungen aufnahmen und mit der Verfassungsreform in Schleswig-Holstein 1990 auch in den alten Bundesländern einige Reformschritte in Gang kamen. Außerdem wurden seitdem in allen deutschen Ländern auf Kommunalebene Bürgergehren und Bürgerentscheide eingeführt (zuvor nur in Baden-Württemberg). Aber auch in anderen europäischen Ländern fanden vermehrt Referendumsentscheidungen zu Sachfragen statt, nicht zuletzt zu Themen der europäischen Integrationspolitik wie dem Beitritt zur Europäischen Union, Änderungen des EU-Vertrags oder zur Europäischen Verfassung. Diese Entwicklungen haben nicht nur eine erweiterte Diskussion im politischen Raum angeregt, sondern auch vielfältige juristische, politikwissenschaftliche, historische und ökonomische Beiträge, auch in vergleichender Perspektive, ausgelöst. Gegenüber einer früher verbreiteten Skepsis oder Ablehnung zeigt sich dabei zunehmend eine positive oder zumindest offene Beurteilung direktdemokratischer Verfahren als einer potentiell fruchtbaren institutionellen Ergänzung der repräsentativen Demokratie. Begünstigt wurde diese Entwicklung sicherlich durch verstärkt wahrgenommene Funktionsschwächen der Parteiendemokratie und kritischen Einstellungen von Bürgerinnen und Bürgern gegenüber den Erscheinungsformen repräsentativer Politik auf dem Hintergrund wachsender Probleme der Regierungsfähigkeit und zunehmender Belastungen der Bürger. 1 Direkte Demokratie unterscheidet sich von der Repräsentativdemokratie vorrangig durch zwei Merkmale, nämlich die Themenzentrierung auf Sachfragen und den Übergang der Entscheidungsbefugnis von gewählten Repräsentanten auf die Bürgerinnen und Bürger selbst. Damit sind jedoch die institutionellen Formen noch nicht hinreichend klar definiert. Denn die Sammelbezeichnung di1
Als Überblick vgl. Schiller, Direkte Demokratie. Eine Einführung, 2002: Schiller/ Mittendorf, Direkte Demokratie - Forschungen und Perspektiven, 2002; Jung, in: Schiller/Mittendorf, a.a.O., S. 22 ff.; Luthardt, Direkte Demokratie. Ein Vergleich in Westeuropa, 1994; Möckli, Direkte Demokratie. Ein Vergleich der Einrichtungen und Verfahren in der Schweiz und Kalifornien, unter Berücksichtigung von Frankreich, Italien, Dänemark, Irland, Österreich, Liechtenstein und Australien, 1994; Kaufmann/Marxer/P allinger/Schiller, Direct Democracy in Europe, 2007.
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rekte Demokratie umschließt eine Reihe unterschiedlicher Verfahrensformen, die Besonderheiten im politischen Prozess und in der institutionellen Gesamtverankerung aufweisen und auch spezifische rechtliche Probleme mit sich bringen. Der folgende Überblick wird zwar das Spektrum dieser Verfahrensformen kurz abstecken, sich in der Hauptsache jedoch auf diejenigen Verfahren konzentrieren, die durch Initiativen aus der Bürgerschaft heraus in Gang gesetzt werden können (Initiativverfahren; dazu I.). Für diese Verfahren wird dargelegt, in welchen europäischen Ländern sie vorhanden und wie sie ausgestaltet sind (II.), welchen Entstehungsprozessen sie sich verdanken (III.) und welche Trends in der praktischen Anwendung sich abzeichnen (IV.). Schließlich werden einige aktuelle Probleme und Entwicklungsperspektiven zusammengefasst (V.). I. Initiativverfahren im Spektrum der direkten Demokratie Direktdemokratische Verfahren werden in der Regel danach unterschieden, wo die Auslösungskompetenz liegt. Beim obligatorischen Referendum ist die Automatik zur Durchfuhrung einer Volksabstimmung durch Rechtsnormen für bestimmte Entscheidungsgegenstände festgelegt (z.B. fur Verfassungsänderungen oder die Abtretung von Gebieten oder Souveränitätsrechten). Bei einem zweiten Typus ist bestimmten Staatsorganen (Regierung, Präsident, Parlamentsmehrheit, evtl. Parlamentsminderheit) die Option eingeräumt, zu bestimmten Themen einen Volksentscheid herbeizuführen (optionales Referendum von oben). Beim dritten Typus, den (Volks-)Initiativverfahren, kann ein bestimmter Anteil der Bürgerschaft von unten das Verfahren einleiten, das zu einer Volksabstimmung führt. Damit gewinnen die Bürger, über die Wahl von Repräsentanten hinaus, eine zusätzliche politische Ausdrucks- und Entscheidungsmöglichkeit, die auch zwischen den Wahlterminen eine Beteiligung am Entscheidungsprozess zu Sachfragen erlaubt. Sie können so einerseits eine Artikulationsfunktion wahrnehmen und Themen und Lösungsrichtungen forcieren, andererseits auch eine Kontrollfunktion von unten erfüllen und Korrekturen von Einzelentscheidungen oder der politischen Richtung verlangen.2 Bei den Initiativverfahren kommen zwei Varianten in Frage. Variante 1 zielt auf die Ablehnung oder die Streichung eines Gesetzes;3 dabei ermöglicht Variante la, ein vom Parlament beschlossenes Gesetz vor dem Inkrafttreten zu verwerfen (Gesetzesreferendum), während bei Variante lb das Referendum darauf abzielt, ein bereits bestehendes Gesetz ganz oder teilweise zu beseitigen („ab2
Schiller, in: Schiller/Mittendorf (Fn. 1), S. 13 ff., 157 ff. Wenn dieses Verfahren häufig, vor allem im englischen Sprachgebrauch, nur als „Referendum" bezeichnet wird, bleibt unklar, ob die Auslösung von Staatsorganen oder von Bürgern ausgeht. Die hier vorgenommene Zuordnung zu den Initiativverfahren soll dies explizit klarstellen. Im Englischen eignet sich dafür die Bezeichnung „popular referendum". 3
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rogatives Referendum"). In Variante 2 bringen die Initianten einen eigenen Vorschlag für ein Gesetz oder eine sonstige politische Entscheidung in das Verfahren ein, das in die Volksabstimmung mündet (Volksbegehren und Volksentscheid). Eine unvollständige Variante („Agenda-Initiative") erlaubt nur, einen Gesetzes- oder Entscheidungsvorschlag dem Parlament zur verpflichtenden Befassung zu präsentieren (in einigen Bundesländern „Volksinitiative"); zum Teil können Staatsorgane nach politischem Ermessen zu solchen Vorschlägen eine Volksabstimmung ansetzen. Diese Grundtypen können in der Verfahrensgestaltung variieren, vor allem bezüglich der Zulässigkeit von Gegenständen, Verfahrensbeteiligung von Staatsorganen, Unterstützungsquoren, Gültigkeitsquoren für Abstimmungen, Terminregelungen, Kontrollmechanismen, Durchführungsregelungen für Information, Werbung usw., bis hin zur Frage, ob das Ergebnis der Volksabstimmung verbindlich ist oder nur Empfehlungscharakter hat. Hier können nur die wichtigsten Verfahrensregelungen mit Schwerpunkt auf den Initiativrechten skizziert werden (vgl. unten II.). Die zwei Hauptvarianten, das bürgerinitiierte Gesetzesreferendum und die Initiative (Volksbegehren) für einen Gesetzgebungsvorschlag, haben zum Teil ähnlichen Regelungsbedarf, können aber unterschiedlich ausgestaltet sein. Es wird sich zeigen, wieweit bestimmte Länder beide Verfahren vorsehen, andere hingegen nur eines von beiden. Zulässige Themen: Grundlegend ist die Festlegung, ob Verfassungsänderungen Gegenstand dieser Verfahren sein dürfen, oder ob bestimmte Inhalte der Verfassung ausgeschlossen sind; insbesondere ist die Zulässigkeit einer Verfassungsinitiative zu beachten. Ein zweiter möglicherweise unzulässiger Themenbereich betrifft Haushalts- und Steuerfragen. Zum dritten sind weitere Themenausschlüsse anzutreffen, z.B. staatspolitische Regelungen unterhalb der Verfassungsebene und solche der Verwaltungsorganisation. Solche Themenausschlüsse können auch das Gesetzesreferendum betreffen, auch wenn hier ansonsten der Gegenstand politisch vorab definiert ist. Unterstützungsquorum für die Verfahrenseinleitung: Nach einer formalen Antragsphase wird in beiden Verfahren ein Quorum an Unterstützungsunterschriften verlangt. Oft bilden alle wahlberechtigten Stimmbürger die Bezugsgröße, zum Teil wird ein Anteil an der Gesamtwählerzahl der letzten Wahl definiert. Diese Unterschriftenquoren weisen eine große Variationsbreite auf. Gültigkeitsquorum der Volksabstimmung: In manchen Ländern genügt die einfache (oder eine qualifizierte) Mehrheit der Abstimmenden für einen gültigen Beschluss. Zum Teil wird zusätzlich verlangt, dass ein bestimmter Anteil der Stimmbürgerschaft an der Abstimmung teilgenommen haben muss (Beteiligungsquorum). Zum Teil ist die Gültigkeit des Entscheids davon abhängig, dass die Abstimmungsmehrheit zugleich einen bestimmten Anteil aller Stimmberech-
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tigten ausmacht (Zustimmungsquorum) und/oder einer regionalen Verteilung entsprechen muss. Auch diese Regelungen variieren sehr stark. Weitere Regelungsaspekten beziehen sich darauf, ob die verfugbare Zeit die Verfahren praktikabel macht und eine angemessene öffentliche Diskussion zulässt; ob bei der Initiative für Gesetzgebungsvorschläge eine rechtliche Vorprüfung (etwa durch Regierung, Gerichte, Wahlkommission oder Parlament) stattfindet; ob eine Interaktion mit dem Parlament stattfindet und gegebenenfalls eine eigene Parlamentsvorlage zur Abstimmung gestellt werden kann. Betrachtet man diese Verfahrensregeln im Zusammenhang, ergeben sich spezifische Verfahrensprofile, bei denen man offene und restriktive Profile, aber auch gemischte Varianten unterscheiden kann. Offene Profile werden die Nutzung der Verfahren erleichtern und auch kleineren, weniger ressourcenstarken Gruppen oder Organisationen die Initiative zu direktdemokratischer Aktivität ermöglichen. Restriktive Profile bauen hohe Hürden auf, die selten, nur bei stark kontroversen Themen und nur mit großer Organisationskraft überwunden werden können. Das dürfte die praktische Bedeutung der Verfahren erheblich beeinflussen.
II. Initiativverfahren und ihre Ausformung in Europa Dieser Abschnitt wird primär darüber informieren, welche Initiativverfahren in den europäischen Ländern vorgesehen und wie sie ausgestaltet sind. Für die anderen Verfahrensarten seien vorab wenigsten einige exemplarische Hinweise gegeben.4 Das obligatorische Referendum gibt es z.B. in der Schweiz für alle Verfassungsänderungen und den Beitritt zu internationalen Organisationen; fur Verfassungsänderungen und damit die Abgabe von Souveränitätsrechten in Irland, für letzteres (meist) auch in Dänemark; für Gebietsveränderungen in Deutschland nach Art. 29 GG; für Verfassungsänderungen in deutschen Bundesländern in Bayern und Hessen. Optionale Referenden im Ermessen von Staatsorganen kennen z.B. Frankreich explizit als Recht des Präsidenten bei grundlegenden staatspolitischen Fragen oder Österreich als Entscheidungsbefugnis des Bundesparlaments (Nationalrat). Auch soweit Verfassungen keine ausdrücklichen Verfahrensvorgaben 4
Als Überblicksliteratur Möckli., in: Schiller/Mittendorf (Fn. 1), 1994; Auer/Bützer, Direct Democracy. The Eastern and Central European Experience, 2001; Gallagher/ Vieri, The Referendum Experience in Europe, 1996; Ismayr , Die politischen Systeme Osteuropas, 2. Aufl., 2004; Kaufmann/Initiative and Referendum Institut (IRI) Europe , Guidebook to Direct Democracy in Switzerland and Beyond, 2005 (mit detailliertem Regelungs- und Datenmaterial).
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machen, besteht in vielen Ländern die Möglichkeit fiir das Parlament, durch Adhoc-Gesetz eine Volksabstimmung (verbindlich oder unverbindlich) herbeizufuhren. Das haben z.B. Großbritannien, Länder wie Norwegen, Schweden, Finnland oder die mittel-osteuropäischen Länder zur Frage des Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft bzw. EU, gegebenenfalls zur Euro-Einfuhrung usw. praktiziert. Die Referenden über die EU-Verfassung Luxemburg, den Niederlanden und Spanien beruhten ebenfalls auf Ad-hoc-Entscheidungen. Portugal führte z.B. Volksentscheide über den Schwangerschaftsabbruch auf diesem Wege durch. Für diese und zahlreiche andere Fälle lassen sich natürlich keine standardisierten Verfahrensregeln angeben. Für die Initiativverfahren ist zuallererst die Schweiz als Stammland hervorzuheben, die auf der Bundesebene beide Verfahrensvarianten kennt: Das „fakultative Referendum" als Gesetzesreferendum kann von 50.000 Stimmberechtigten (ca. 1 %) zu den meisten Themen, mit Ausnahme von Finanzfragen, beantragt werden; der Volksentscheid wird ohne besonderes Quorum mit der Mehrheit der Abstimmenden gültig. Die „Volksinitiative" ist nicht für Gesetzesvorschläge, sondern ausschließlich für Verfassungsänderungen zulässig und erfordert 100.000 Unterschriften. In diesem Fall hängt die Gültigkeit von der Stimmenmehrheit und zusätzlich von einer Mehrheit in der Mehrzahl der Kantone („Ständemehr") ab. In das Verfahren der Verfassungsinitiative sind also zwei zusätzliche Hürden eingebaut. Seit 2002 können die Schweizer auch mehrheitlich eine allgemeine politische Anregung beschließen, die dann von den Verfassungsorganen ausgearbeitet werden muss. Auf der Kantonsebene und in den Gemeinden gibt es ähnliche Volksrechte, die häufig auch Finanzthemen explizit einschließen. Liechtenstein kennt insgesamt ähnliche Regelungen, die auch das Gesetzesreferendum über Finanzgesetze umfassen und bei der Volksinitiative über Verfassungsänderungen hinaus auch Vorschläge für neue Gesetze, für Gesetzesänderungen und für die Beseitigung von Gesetzen zulassen. Entsprechend der kleinen Bevölkerungszahl reichen hier jeweils 1.000 Unterstützungsunterschriften, nur bei Verfassungsinitiativen sind 1.500 erforderlich. Im übrigen Europa sind die beiden Hauptvarianten der Initiativverfahren erstaunlich selten vertreten. Auf nationaler Ebene kommen sie im früheren Westen nur in Italien vor, in den Transformationsländern Mittel-Osteuropas immerhin in sieben Ländern: Kroatien, Lettland, Litauen, Mazedonien, Slowakei, Slowenien und Ungarn (vgl. Anhang/Übersicht). Die Bundesrepublik Deutschland kennt auf Bundesebene keines der Verfahren, jedoch sind sie inzwischen in allen Bundesländern (auch auf Kommunalebene) verfügbar. In Italien besteht nur der Weg des Gesetzes- oder Verfassungsreferendums: 500.000 Bürger oder fünf Regionalräte können ein „abrogatives" Referendum zur Beseitigung von Gesetzesvorschriften initiieren. Dieselbe Anzahl kann das Referendum über eine Verfassungsänderung verlangen, soweit diese keine
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Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammern erreicht hat. Eine Gesetzes- oder Verfassungsinitiative mit Referendum ist nicht möglich.5 In Mittel-Osteuropa sehen vier Länder, nämlich Kroatien, Litauen, die Slowakei und Ungarn beide Typen von Initiativverfahren vor, während Lettland nur die Volksinitiative kennt und Mazedonien und Slowenien nur die Initiierung des Gesetzesreferendums zulassen.6 Eine Verfassungsinitiative ist (neben der Schweiz und Liechtenstein) in Lettland, Litauen, der Slowakei und Ungarn, nicht jedoch in Kroatien möglich; Mazedonien und Slowenien kommen wegen Beschränkung auf das Gesetzesreferendum hierfür ohnehin nicht in Frage. Thematische Beschränkungen bestehen in Ungarn für die Verfassungsnormen über Referendums- und Initiativrechte, in Litauen fur die Staatsform gemäß Art. 1 der Verfassung, deren Änderung einem obligatorischen Referendum mit 3/4-Mehrheit aller Stimmberechtigten vorbehalten bleibt. Die Slowakei schließt eine Verfassungsinitiative mit Referendum über die Grundrechte aus und normiert damit deren erhöhten Bestandsschutz. Die Unterstützungsquoren liegen zum Teil recht hoch: Litauen, das wie die Schweiz nur die Verfassungsinitiative zulässt, verlangt 300.000 Unterschriften (ca. 11,5 % der Stimmberechtigten), Lettland 10 % der Stimmberechtigten, die Slowakei 350.000 (ca. 8,5 %), Ungarn allerdings nur 200.000 Unterschriften (ca. 2,5 %). Ebenfalls hoch sind die Quoren für die Gültigkeit des Referendumsergebnisses angesetzt, nämlich 50 % Zustimmung aller Stimmberechtigten in Lettland und Litauen, 50 % Beteiligung aller Stimmberechtigten in der Slowakei. In Ungarn wurde das ursprüngliche Beteiligungsquorum von 50 % der Stimmberechtigten 1997 in ein Zustimmungsquorum von 25 % verändert. Für die einfache Gesetzgebung sind die In itiati ν verfahren einigen Themenbeschränkungen unterworfen, in den meisten Ländern für Haushalts- und Steuerfragen, in Italien weiterhin z.B. für Amnestien und die Ratifizierung internationaler Verträge; in Lettland Entscheidungen über Krieg und Frieden, Wehrpflicht, militärische Mobilisierung, Erklärung des Notstands, Zölle, Eisenbahntarife. In der Slowakei ist eine Volksinitiative nur zulässig für „wichtige Fragen des öffentlichen Interesses4', was freilich einige Interpretationsprobleme und Ermessensspielräume öffnet. Als Verfahrensquoren verlangen Länder mit beiden Verfahren (Slowakei und Ungarn) für Unterschriften und für Entscheidgültigkeit Quoren in derselben
5
Uleri, in: Gallagher/Uleri (Fn. 4), S. 106 ff.; Capretti , Öffnung der Machtstrukturen durch Referenden in Italien, 2001. 6 Vgl. Beiträge in: Auer/Bützer (Fn. 4): Bàràny/Brhlikovà/Colotka, S. 170 ff., zur Slowakei; Deszö/Bragyova, S. 63 ff., zu Ungarn; Krupavicius/Zvaliauskas, S. 109 f f , zu Litauen; Luksic/Kurnik S. 192 ff., zu Slowenien; Rodin, S. 29 f f , zu Kroatien; Usacka, S. 94 ff., zu Lettland.
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Höhe wie bei Verfassungsinitiativen, auch ohne Differenzierung zwischen Volksinitiative und Gesetzesreferendum. Auch Litauen stellt fiir das Gesetzesreferendum dieselben Anforderungen wie bei der Verfassungsinitiative. In Lettland beträgt das Unterschriftenquorum für die Gesetzesinitiative ebenfalls 10 %, für die Abstimmungsgültigkeit ist ein Beteiligungsquorum von 50 % nur der Wähler bei der letzten Parlamentswahl erforderlich. In Mazedonien gilt für das Gesetzesreferendum bei 150.000 Unterschriften (ca. 8,7 %) ein Beteiligungsquorum von 50 % der Stimmberechtigten, Am niedrigsten sind die Anforderungen in Slowenien, wo (nur) das Gesetzesreferendum mit 40.000 Unterschriften (ca. 2,5 %) beantragt werden kann und der Volksentscheid mit einfacher Mehrheit gültig wird. Insgesamt liegen also die Anforderungen für die Einleitung der Initiativverfahren in der Schweiz, in Liechtenstein, Italien, Slowenien und Ungarn am niedrigsten. Für die Abstimmungsgültigkeit gilt das ebenfalls für drei dieser Länder, während Italien eine hohe Beteiligungshürde und Ungarn ein relativ hohes Zustimmungsquorum kennen. Litauen, Lettland, Mazedonien und die Slowakei haben für beide Quoren die höchsten Anforderungen und daher insgesamt restriktive Profile festgelegt. Die Bundesrepublik Deutschland kann zwar auf nationaler Ebene mit diesen Ländern nicht verglichen werden, aber ein kurzer Blick auf die Bundesländer ist gleichwohl illustrativ. Grundsätzlich besteht hier keine förmliche Differenzierung der Typen von Initiativverfahren, denn Volksbegehren und Volksentscheid können zur Initiierung eines neuen Gesetzesvorschlags, zur Änderung eines bestehenden Gesetzes oder faktisch auch zur Blockierung oder Verwerfung eines neuen Parlamentsgesetzes eingesetzt werden. In den meisten Bundesländern kann ein Volksbegehren auch auf eine Verfassungsänderung gerichtet sein (für Hessen umstritten); in der Regel werden dann höhere Einleitungsquoren und höhere Zustimmungsquoren verlangt. Bei einfacher Gesetzgebung besteht mehrheitlich ein Unterschriftenquorum von 10 % (nur Brandenburg und SchleswigHolstein 4-5 % deutlich darunter, einige Länder mit 12-17 % noch darüber) und ein Zustimmungsquorum von 25 % aller Stimmberechtigten. Die Mehrheit der deutschen Länder gehört demnach zu der Gruppe der europäischen Länder mit den höchsten Verfahrensanforderungen. Ein ähnliches Bild ergibt sich auch für Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auf kommunaler Ebene.7 Schließlich noch ein kurzer Blick auf die Agenda-Initiative, also diejenige Initiativvariante, die nicht zu einem Volksentscheid führt, sondern nur zu einer verpflichtenden parlamentarischen Behandlung eines Vorschlags. In Europa kennen dieses Verfahren die Mehrheit der bisher genannten Länder (Italien, Li7 Schiller (Fn. 1 ); Kost, Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. Eine Einführung, 2005; Weixner, Direkte Demokratie in den Bundesländern. Verfassungsrechtlicher und empirischer Befund aus politikwissenschaftlicher Sicht, 2002.
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tauen, Schweiz, Slowenien, Ungarn), darüber hinaus Albanien, Österreich („Volksbegehren" genannt), Polen, Portugal, Rumänien und Spanien. Auch die meisten deutschen Bundesländer haben eine solche Verfahrensform, oft als „Volksinitiative" bezeichnet, die zum Teil als Vorstufe zum Volksbegehren ausgestaltet ist.8 Das Unterschriftenquorum liegt in aller Regel deutlich unter den Anforderungen für die beiden Initiativverfahren, die auf eine Referendumsabstimmung ausgerichtet sind. Damit wird den wesentlich geringeren Einflussmöglichkeiten dieses Verfahren Rechnung getragen. Verfahrensregeln und Verfahrensprofile zeigen insgesamt eine große Bandbreite, die nicht ohne Auswirkung auf die praktischen Anwendungsmöglichkeiten bleiben wird.
III. Entstehungsprozesse Die Initiativverfahren in den genannten europäischen Ländern wurden in historisch verschiedenen Zeiträumen eingerichtet und dürften entsprechend geprägt sein. Der erste Blick gilt wiederum der Schweiz, wo bereits 1848 zur Sicherung der Kantonsrechte gegenüber dem neu errichteten Bundesstaat das obligatorische Referendum für Verfassungsänderungen und das Initiativrecht für eine Totalrevision der Verfassung eingeführt wurde. Das fakultative Gesetzesreferendum, das von Bürgern initiiert werden kann, wurde 1874 zugestanden, um schwere Konflikte zwischen dem großbürgerlich-liberalen Establishment und den Mittel- und Unterschichten zu entschärfen. Das Recht der Volksinitiative für Verfassungsänderungen ging 1891 aus Konflikten mit der konservativ-katholischen Opposition hervor. Beide Initiativverfahren wurden also zur Bearbeitung spezifischer sozio-politischer Konfliktkonstellationen institutionalisiert, wobei die Volksinitiative auch darauf abzielte, das Blockadepotential des fakultativen Gesetzesreferendums zu relativieren. 9 Italien ist ein erster Beispielsfall dafür, dass direktdemokratische Verfahren nach einer Diktaturperiode eingeführt wurden. Schon die postfaschistische Verfassung von 1948 hatte die Volksbeteiligung durch Referendum festgelegt, jedoch trat ein Ausführungsgesetz erst 1970 in Kraft. Die frühen 1970er Jahre waren durch wachsende kulturelle Spannungen über moralische Fragen wie Ehescheidung und Abtreibung geprägt. Im polarisierten Parteiensystem zwi8
Weixner{Fn. 7), S. 101 ff. Möckli, in: Schiller/Mittendorf (Fn. 1), S. 60 ff.; Köbach, Switzerland, in: Butler/ Ranney, Referendums around the World. The growing use of direct democracy, 1994, S. 98 ff.; Linder, Schweizerische Demokratie. Institutionen - Prozesse - Perspektiven, 1999. 9
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sehen Christdemokraten und Kommunisten sah sich die Democrazia Christiana bei der Scheidungsgesetzgebung zu Zugeständnissen gegenüber den kleineren laizistischen Mittelparteien genötigt und glaubte, diese durch eine konservative Volksmehrheit im abrogativen Referendum wieder rückgängig machen zu können. Diese riskante Strategie schlug freilich fehl, öffnete jedoch die Tür zu weiteren zahlreichen Referendumsinitiativen. In einer sozio-kulturellen Konfliktphase konnte also die angestrebte Stabilisierungsfunktion des abrogativen Referendums fur das parteipolitische Establishment nicht realisiert werden; vielmehr bot es politische Artikulationswege für politische Strömungen werden, die im blockierten Parteiensystem keine Zugangswege gefunden hatten.10 Gegenüber diesen verschiedenartigen Entstehungsbedingungen weisen die übrigen sieben Länder mit Initiativverfahren grundsätzlich ähnliche Rahmenbedingungen auf. Lettland, Litauen, Slowakei, Slowenien und Ungarn sowie Kroatien und Mazedonien durchliefen um 1990 den Transformationsprozess vom kommunistischen Regime zur liberalen Demokratie, und dabei legte das neue Prinzip von Volkssouveränität durchaus die Idee nahe, dem Volk über Wahlen hinaus weitere Beteiligungsformen zu eröffnen. Allerdings führten nicht alle mittel-osteuropäischen Staaten im Zuge dieser Umwälzung auch Initiativverfahren ein (wobei zum Teil für Einzelentscheidungen durchaus Referenden von oben angesetzt wurden). Die Transformation zur Demokratie kann daher die Einführung von Initiativverfahren nicht allein erklären. Ein zweiter Blick zeigt, dass sechs der sieben Länder (alle außer Ungarn) gleichzeitig ihre staatliche Unabhängigkeit errungen haben, ein Prozess, der mit einer hohen politischen Mobilisierung der Bevölkerung und einer starken Mobilisierung ethnischer Identität einherging. Daraus resultierte freilich für mehrere Länder ein gravierendes Dilemma, weil ihre Bevölkerungen große ethnische Minderheiten umfasst (z.B. Russen in Lettland; Russen und Polen in Litauen; Ungarn in der Slowakei; mehrere kleinere Gruppen in Slowenien). Vieles spricht dafür, dass die Initiativverfahren (und andere Formen direkter Demokratie) diese Unabhängigkeitsmobilisierung reflektieren. Die hohen Quoren könnten dann darauf zurückgehen, dass die Verfahren möglichst den jeweiligen ethnischen Mehrheiten und nicht den Minderheiteninteressen dienlich sein sollten. Für Slowenien scheint diese Problematik in weit geringerem Maße virulent, so dass das Quorum für die Referendumsgültigkeit niedrig angesetzt werden konnte. Als Sonderfall stellt sich Ungarn dar, da hier kein Unabhängigkeitsproblem bestand. Hier wurden die direktdemokratischen Initiativverfahren nicht vom neuen demokratischen System eingeführt, sondern kamen schon im Lauf des Jahres 1989 kurz vor dem Regimewechsel im Zuge von Reformverhandlungen mit dem alten Regime zustande. Gegen einen mit der CSSR vereinbarten Donaustaudamm war es 1988 zu Protesten gekommen, die die kommunistische 10
Vieri,
in: Gallagher/Uleri (Fn. 4), S. 106 ff.; Capretti
(Fn. 5), S. 71 ff.
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Regierung mit der Zusage fur ein Referendum entschärft hatte. Dementsprechend wurde 1989 das Gesetz über Referenden und Volksinitiativen in die ausgehandelten Reformvereinbarungen aufgenommen. Ein niedriges Einleitungsquorum und ein hohes Beteiligungsquorum von 50 % kamen dabei als Kompromiss mit der Regierung zustande und wurden auch danach nicht in Frage gestellt. Erst später, 1997, wurde das hohe Beteiligungsquorum durch ein Zustimmungsquorum von 25 % ersetzt, das auch für regierungsinitiierte Referenden galt und eine Beitrittsentscheidung zur Europäischen Union erleichtern sollte. Insgesamt gehen die ungarischen Verfahrensregeln also auf eine spezifische Konfliktlage am Anfang des Transformationsprozesses und die Aushandlung begrenzter Machtverschiebungen zurück. 11 Zugespitzte Machtkonflikte und postdiktatorische Demokratisierungen bilden also insgesamt den Entstehungskontext der Initiativverfahren, in einer Reihe von Fällen in Verbindung mit Unabhängigkeit und ethnischer Identität. Für die deutschen Bundesländer gilt der Diktaturhintergrund in unterschiedlichen Zeitstufen ähnlich. Die Mehrheit der westdeutschen Länder etablierten die Verfahren nach der NS-Zeit nach 1945, überwiegend mit hohen Hürden, 12 und die neuen Bundesländer integrierten die Verfahren nach 1990 in ihre neuen demokratischen Verfassungen. Aber auch einige norddeutsche alte Länder nahmen an der Entwicklung ab 1990 teil und führten die Verfahren neu ein oder erleichterten etwas die Anforderungen. 13
IV. Praxis der Initiativverfahren Die rechtlich möglichen Initiativverfahren haben in den europäischen Ländern eine sehr unterschiedliche praktische Anwendung erfahren. Die Vermutung liegt nahe, dass die großen Unterschiede der Verfahrensregelungen dafür einen gewichtigen Faktor darstellen. Denkbar sind aber auch weitere Einflussfaktoren, etwa eine lange Tradition direktdemokratischer Verfahren und damit Verankerung in der politischen Kultur, die Konfliktstrukturen eines Landes oder die Konstellationen des Parteiensystems und weiterer Akteursstrukturen. Eine kurze Skizze soll wenigstens grobe Tendenzen sichtbar machen. Dass die Praxis direkter Demokratie in der Schweiz besonders intensiv ist, versteht sich von selbst, (vgl. Tabelle 1). Hier kommen niedrige Einleitungshür-
11 Deszö/Bragyova, in: Auer/Bützer (Fn. 4); Körösenyi/Fodor, in: Ismayr (Fn. 4), S. 323 ff.; Schiller, Direkte Demokratie im Prozess der Verfassungsgebung, in: Brink/ Wolff (Hrsg.), FS von Arnim, 2004, S. 795 ff., 805 ff. 12 Jung, Grundgesetz und Volksentscheid. Gründe und Reichweite der Entscheidungen des Parlamentarischen Rates gegen Formen der direkten Demokratie, 1994. 13 Kost (Fn. 7).
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den mit langjähriger Tradition und politisch-kultureller Verankerung zusammen, wobei sicherlich verstärkend wirkt, dass die Verfahren auch auf der Gemeinde- und der Kantonsebene mindestens ähnlich intensiv praktiziert werden. Angesichts des konkordanzdemokratischen Parteien- und Regierungssystems der Schweiz dürfte in der Nutzung der Initiativverfahren auch ein Bedürfnis nach zusätzlicher politischer Artikulation und Kontrolle zum Ausdruck kommen. Diese bereits länger bestehenden Faktoren reichen allerdings zur Erklärung der deutlichen Aktivitätszunahme in den 1970er Jahren und erneut in den 1990er Jahren nicht mehr aus (117 der 254 Verfassungsinitiativen wurden zwischen 1981 und 2006 eingerecht); vielmehr müssen zusätzliche Einflüsse wirksam geworden sein, z.B. neue ökonomische, ökologische und soziale Spannungen oder gewachsene Potenziale politischer Beteiligung, die im repräsentativen Parteienwettbewerb nicht zum Zuge kommen. Tabelle 1
Volksentscheide in der Schweiz nach Einleitungsart (1848 bis Ende 2006) Zustandegekommen
Obligatorisches Verfassungsreferendum Volksinitiative (Verfassungsänderung)
Fakultatives Gesetzesreferendum
254
Abgestimmt
Annahme
Ablehnung
221
159
62
161
15
146
158
85
73
Quelle : C2D - Research and Documentation Centre on Direct Democracy, Universität Genf, http://c2d.unige.ch (Basis: Schweizerische Bundeskanzlei, Januar 2007); vgl. auch Kaufmann/IRl Europe , Guidebook (Fn. 4), S. 186-226.
In Italien werden die Initiativverfahren ebenfalls häufig praktiziert, ganz überwiegend das referendum abrogativo 4 zur Streichung von Gesetzen oder gesetzlichen Einzelbestimmungen; die Agenda-Initiative (legislativa popolare) wird daneben kaum genutzt.14 Mit dem Ausführungsgesetz Nr. 352 von 1970 konnten seit 1974 bis 2004 insgesamt 62 solche Gesetzesreferenden stattfinden, sicherlich erleichtert durch das niedrige Einleitungsquorum. Dass davon nur etwa ein Drittel zum Abstimmungserfolg führte, verweist auf die hohe Hürde des
14
Empirisches Material bei Capretti (Fn. 5), S. 94 ff.
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Beteiligungsquorums von 50 % aller Stimmberechtigten (es liegt nahe, dass die Nein-Position zum Abstimmungsboykott aufruft). Die hohe Zahl von Referendumsinitiativen kann zusätzlich durch die Parteienkonstellation beeinflusst sein; denn im polarisierten, von der Democrazia Christiana dominierten Parteiensystem Italiens, das bis zu seiner Transformation in den frühen 1990er Jahren gegen MehrheitsWechsel blockiert war, fehlten offenbar Möglichkeiten der Interessenartikulation. Die Öffnung der Machtstruktur wurde selbst durch Referenden zur Änderung des Wahlrechts (1991) und anderer, zum Teil klientelistischer, Dominanzregelungen wesentlich vorangetrieben. Auch die folgende Polarisierung zwischen dem Berlusconi-Lager und der Linken bot weitere Gründe für Referendumsaktivitäten. In den Ländern Mittel-Ost-Europas geht es um den wesentlich kürzeren Zeitraum seit 1989/90. Den politischen Hintergrund bilden die Transformationsprozesse vom kommunistischen Regime zu demokratischen Systemen und Marktwirtschaften, die auch die Nutzung der neuen direktdemokratischen Instrumente prägen. Für die Nutzungshäufigkeit könnte man deutliche Unterschiede zwischen den Ländern mit restriktivem Regelungsprofil (unter anderem Lettland, Litauen, Slowakei) und denen mit offeneren Verfahren (Slowenien, Ungarn) vermuten. Dies ist jedoch nur schwach erkennbar. In Ungarn kam es zwar schon 1989 zu vier im Referendum erfolgreichen Initiativen, die unmittelbar zum Prozess der Verfassungstransformation gehörten. Danach ist jedoch nur die Zahl der am Unterschriftenquorum gescheiterten Initiativen (12) höher als in Litauen (5) und Lettland (2). Danach wurden bis 2005 in Ungarn zwei und in Slowenien drei qualifizierte Initiativen von den Verfassungsgerichten nicht zugelassen. In der Mehrheit der Länder fanden Initiativverfahren mit Referendumsabstimmungen in ähnlicher Anzahl statt, nämlich vier in Litauen, drei in Lettland, fünf in der Slowakei, vier in Slowenien und zwei in Ungarn; Mazedonien weist nur ein Gesetzesreferendum auf, Kroatien gar kein Verfahren. Ein gültiger Volksentscheid kam wegen der Zustimmungs- bzw. Beteiligungsquoren in den meisten Fällen nicht zustande. Nur in Slowenien waren drei Referenden im Jahr 2003 im Sinne der Initiativen erfolgreich, und insofern wird hier ein Verfahrenseffekt der einfachen Mehrheitsentscheidung ohne Zusatzquorum sichtbar. 15 Die Themen zeigen klar den politischen Kontext der Transformationsperiode: Verfassungs- und Wahlrechtsfragen, Staatsbürgerschaft, Privatisierungskonflikte, Ressourcenverteilung und soziale Sicherung standen überall im Vordergrund. Damit verbanden sich Machtkonflikte in polarisierten und zugleich noch ungefestigten Parteiensystemen, die erst in den letzten Jahren stabilere Strukturmuster ausbildeten. Insofern ist die Nutzung der direktdemokratischen Initiativverfahren mit den Institutionalisierungsprozessen der neuen demokratischen Systeme im Ganzen verschränkt und bildet ein Element der neuen, vorher 15
Vgl. die Länderberichte in: Auer/Bützer (Fn. 6) und in: Ismayr (Fn. 4).
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blockierten Möglichkeiten politischer Artikulation und Mobilisierung. Relativ häufig machten die neuen und noch um Machtanteile ringenden Parteien in der Opposition auch von diesen institutionellen Möglichkeiten Gebrauch und trugen grundsätzliche Streitfragen der politischen Ausrichtung in dieser Form aus. Auch wenn die Bürgerschaften auf diese Weise intensiv in diese Auseinandersetzungen involviert wurden, wurden die besonderen ergänzenden Potenziale direkter Demokratie dadurch sicher auch teilweise verdeckt. Eine weitere Konsolidierung der neuen Parteiensysteme wird auch für die praktischen Möglichkeiten der direktdemokratischen Initiativverfahren eine gewisse Normalisierung mit sich bringen.
V. Ausblick Die Initiativverfahren und andere Formen direkter Demokratie haben neuerdings vor allem im Rahmen der Demokratisierungsprozesse der Transformationsländer Mittel-Osteuropas eine starke Ausweitung erfahren. Die praktische Nutzung erreichte allerdings bisher nicht die Häufigkeit wie in der Schweiz oder in Italien. Kleinere Reformschritte zur Verfahrenserleichterung deuten jedoch an, dass der große Kontext der Transformation allmählich in einen Normalisierungspfad übergehen könnte. Die westlichen Länder mit Initiativverfahren auf nationaler Ebene haben nur wenig bedeutsamen Verfahrensänderung vorgenommen, z.B. die Schweiz 2002 mit der Einführung eines Verfahrens zur Initiierung einer allgemeinen politischen Anregung (ohne bereits ausgearbeiteten Gesetzentwurf). Für die Bundesrepublik Deutschland können auf der Landesebene als Tendenz die Neueinführung von Initiativverfahren und Verfahrenserleichterung in einigen Ländern festgehalten werden. Auch sind vermehrt Vorschläge zur Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf der Bundesebene zu hören, zumal im Jahr 2002 ein verfassungsändernder Gesetzentwurf der rot-grünen Koalition in den Bundestag eingebracht worden war. 16 Während die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit hierfür nicht zustande kam und weiterhin unwahrscheinlich bleibt, scheint die Einführung einer „Volksinitiative" als Agenda-Initiative eher denkbar. Auf der europäischen Ebene ist beachtenswert, dass der Entwurf einer Europäischen Verfassung von 2004 das Verfahren einer Europäische Bürger-Initiative (European Citizens' Initiative, Art. 47) enthält, das es einer Million Unionsbürgern erlaubt, der Europäischen Kommission einen Gesetzentwurf vorzuschlagen (entsprechend dem Verfahrenstyp der Agenda-Initiative). Die Initiativverfahren eignen sich grundsätzlich gut dafür, bei Problemen der politischen Artikulation, Kontrolle, Legitimation und Akzeptanz zu Qualitäts16
BT-Drs. 14/8503.
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Theo Schiller
Verbesserungen des demokratischen Prozesses zu kommen. In Zeiten zunehmender Funktionsdefizite und Legitimationsschwächen demokratischer Politik, die von Politikdistanz, Wahlenthaltung und populistischen Versuchungen begleitet werden, können direkte Beteiligungsverfahren bei Sachfragen die demokratische Rückkopplung verbessern. Gegenüber seltenen, von oben mit strategischem Interesse ausgelösten Ad-hoc-Referenden wären etwas häufigere Initiativen von unten vorzuziehen, aus denen sich im Lauf der Zeit eine Initiativ- und Beteiligungskultur entwickeln kann. Erst mit einer gewissen Praxiserfahrung kann sich eine Normalität im Umgang mit den Verfahren und mit den qualitativen Anforderungen an ihren spezifischen politischen Prozess ausbilden, der zur Institutionalisierung auch dieser Beteiligungsform gehört. Die Erfahrungen der Länder mit länger etablierten direktdemokratischen Ergänzungen der repräsentativen Demokratie zeigen, dass durch diese bürgerschaftlichen Initiativen wichtige Beiträge zur Demokratie und ihrer Entwicklung erbracht werden können.
^
„ Gesetzesreferenduin (burgenmtiiert)
300.000
dto.
300.000 (-11.5%)
Zustimmungsquorum: 50 % der Stimmberechtigten (+Variation nach Themen)
Litauen 2.6 Mio
1.500
dto.
x
Gesetzesinitiative
1.000
Zustimmungsquorum: Zustimmungsquorum: 50 % der Stimmberechtigten 50 % der Wähler der letzten Parlamamentswahl
10 % der Stimmberechtigten
1.000
χ
Verfassungsinitiative
Liechtenstein
Lettland 1.35 Mio
Kroatien
Beteiligungsquorum: 50 % der Stimmberechtigten
Italien 500.000 (-1%) 49.1 Mio refer, abrogativo
Stimmberechtigte
LAND
Volks-Initiativverfahren auf nationaler Ebene
Übersicht
Anhang
50.000 Gesetzesvorschlag
50.000
Initiative
Α η τ ? **'
Volksinitiativrechte in Europa - ein vergleichender Überblick 315
Übersicht:
350.000 (-8.3%)
Slowakei
dto.
Beteiligungsquorum: dto. 50 % der Stimmberechtigten
Zustimmungsquorum 25 %
Seit 1997:
350.000
χ
Gesetzesinitiative
Beteiligungsquorum: 50 % der Stimmberechtigten
dto.
Verfassungsinitiative
200.000 Unterschriften (-2.5%) dto. (100.000: nach Ermessen des Parlaments)
Mehrheit der gültigen Stimmen
40.000 (-2.5%)
Eigene Zusammenstellung.
Ungarn 8.1 Mio
1.62 Mio
Slowenien
100.000 (ca. 2 %)
Beteiligungsquorum: 50 % der Stimmberechtigten
50.000 (ca. 1 %)
Schweiz 5 Mio.
4.2 Mio
150.000 (ca. 8,7%)
Gesetzesreferendum ese zesre eren um (burgennitnert)
Mazedonien (1.7 mio)
Stimmberechtigte
LAND
Fortsetung
50.000 Unterschriften
30.000
Verfassunsänderung:
5.000
Initiative
316 Theo Schiller
Vom Schutz der Menschenwürde vor Gewaltdarstellungen in Rundfunk und Telemedien Eine medienrechtliche und medienethische Betrachtung Von Murad Erdemir I. Themensuche Wenn man als ehemaliger Schüler, Doktorand und Mitarbeiter von Werner Frotscher um einen Beitrag zu dessen Festschrift gebeten wird, so darf sich die Frage nach dem „Ob" nicht stellen. Die persönliche, über die Marburger Zeit hinaus bis heute fortbestehende Verbundenheit mit dem geehrten Lehrer und Doktorvater machen die Beteiligung an diesem ehrgeizigen Projekt zu einer Selbstverständlichkeit. Anders verhält es sich mit der Frage nach dem „Wie". Schließlich sollen sich die Beiträge einer Festschrift idealerweise um die Forschungs- und Interessengebiete des Jubilars ranken. Eine Themenbegrenzung für einen Praktiker des Medienrechts auf Beiträge zum „Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht einschließlich des Kommunalrechts sowie der Verfassungsgeschichte" also? Nur auf den ersten Blick. Denn Werner Frotscher hat mit seinem, von der Hessischen Landesanstalt für privaten Rundfunk (LPR Hessen) in Auftrag gegebenen Gutachten zur rundfunkrechtlichen Zulässigkeit des TV-Formats „Big Brother" 1 wie auch mit seinem Aufsatz zu den Freiheits- und Persönlichkeitsrechten von „Zlatko und Caroline" 2 selbst Ausflüge in die Gefilde des Medienrechts unternommen, die im Gedächtnis geblieben sind. Die Container-Bewohner und solche, die es werden wollten, fanden in ihm einen Anwalt, der deren legitimen Anspruch auf Erlangung von wenn auch befristetem - Ruhm und Reichtum anmahnte. Die Medienaufsicht wiederum musste konstatieren, dass allein die legitime Sorge vor der schleichenden Untergrabung der Fundamente für Menschenwürde durch eine fortgesetzte Ausstrahlung so genannter Extrem-Formate noch kein Verbot im Einzelfall zu rechtfertigen vermag. So war der Schulterschluss von der praktischen Arbeit des Justiziars einer Landesmedienanstalt zum wissenschaftlichen CEuvre Werner Frotschers mit einem Beitrag zum Schutz der Menschenwürde in den elektronischen Medien doch schnell gefunden. Zumal auch die vom Jubilar betreute Doktorarbeit des Verfassers, angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Verfassungsrecht und Medienstrafrecht, schwerpunktmäßig mediale Gewaltdarstellungen zum Gegenstand hat. 1 2
Frotscher, „Big Brother" und das deutsche Rundfunkrecht, 2000. Frotscher, Z U M 2001, 555 ff.
318
Murad Erdemir
II. Rechtliche Grundlagen Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar. Sie zu achten und zu schützen wird zur vornehmsten Pflicht aller staatlichen Gewalt erhoben. Auf die (einen eigenen Beitrag erfordernde) Frage, was „Menschenwürde" ist, kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Immerhin handelt es sich um einen unbestimmten, aber gerichtlich voll nachprüfbaren Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum, der nicht absolut, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles bestimmt werden kann.3 Die Auslegung hat hierbei stets zurückhaltend zu erfolgen. So kann die Menschenwürde nicht als allseits verwendbare Norm gegen schlechten Geschmack, Niveauloses oder menschliche Rohheiten eingesetzt werden. Anderenfalls müsste der Staat eine paternalistische Gestalt annehmen, die mit dem Freiheitskonzept unserer Verfassung nur schwerlich in Einklang zu bringen wäre. 4 Der Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (Jugendmedienschutz-Staatsvertrag JMStV) 5 schützt nun - wie bereits sein Name besagt - nicht nur Kinder und Jugendliche vor Angeboten, die deren Entwicklung oder Erziehung beeinträchtigen oder gefährden können, sondern ausdrücklich auch die Allgemeinheit vor Angeboten, welche die Menschenwürde oder sonstige durch das StGB geschützte Rechtsgüter verletzen. Ungeachtet der insoweit irreführenden Kurzfassung („Jugendmedienschutz") wird der Schutz der Menschenwürde - dies ausdrücklich auch in der präambelgleichen Bestimmung des § 1 JMStV - als zentrales, selbständig neben dem Jugendschutz stehendes Regelungsziel ausgewiesen. Der JMStV versteht sich daher auch als einfachgesetzliche Umsetzung des verfassungsrechtlichen Auftrags an den Staat, die Menschenwürde nicht nur zu achten, sondern erforderlichenfalls auch aktiv zu schützen. Unmittelbar dem Schutz der Menschenwürde verschrieben hat sich hierbei § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV. Generalklauselartig werden alle Menschenwürdeverstöße erfasst, wobei der Fokus im Besonderen auf Menschenwürdeverletzungen durch reale Gewaltdarstellungen gerichtet ist. Ergänzt wird die Bestimmung durch die Vorschriften der §§ 3, 41 Rundfunkstaatsvertrag (RStV), welche in Gestalt allgemeiner Programmgrundsätze qualitativ-inhaltliche Mindestanforderungen an die Rundfunkprogramme stellen. Der zentrale Verbotskatalog des § 4 Abs. 1 JMStV, welcher auch Erwachsene von der Rezeption ausschließt, greift zudem die für das Medienstrafrecht 3
Vgl. BVerfGE 30, 1 (25). Di Fabio , Der Schutz der Menschenwürde durch allgemeine Programmgrundsätze, 2000, S. 26. 4
5 Zur Funktionsweise und praktischen Handhabung des am 1.4.2003 in Kraft getretenen neuen Schutzsystems siehe Erdemir, RdJB 2006, 285 ff.
Vom Schutz der Menschenwürde vor Gewaltdarstellungen im Rundfunk
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zentralen Bestimmungen der §§ 130, 131 und 184 ff. StGB auf. Der Staatsvertrag erklärt damit neben volksverhetzenden und qualifiziert pornografischen Angeboten auch so genannte gewaltverherrlichende Angebote in Rundfunk und Telemedien fiir absolut unzulässig. Zwar wird die multimediale Distribution dieser Inhalte ohne Weiteres auch bereits vom Strafrecht erfasst. Es wäre aber verfehlt, würde man dem JMStV insoweit allein deklaratorische Bedeutung beimessen. Denn die Länder haben den Katalog unzulässiger Angebote in § 4 JMStV bewusst ohne pauschalen Verweis auf das StGB formuliert. Stattdessen werden diese Angebote „unbeschadet strafrechtlicher Verantwortlichkeit" aufgelistet. Dies hat zur Folge, dass deren Verbreitung in Rundfunk und Telemedien auch ohne Vorliegen subjektiver oder ggf. weiterer spezifisch strafrechtlicher objektiver Tatbestandsvoraussetzungen unzulässig ist und mit einer Geldbuße von bis zu 500.000 Euro geahndet werden kann.6 Die Sanktionen nach dem JMStV greifen daher im Unterschied zum Kernstrafrecht bereits bei Fahrlässigkeit, wodurch das materielle Strafrecht im Anwendungsbereich des Staatsvertrags in gewisser Weise sogar eine Verschärfung erfährt.
III. Menschenwürdeverletzung durch fiktionale Gewaltdarstellungen 1. Allgemeines, Zielsetzung § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 JMStV erklärt nun solche Angebote fiir absolut unzulässig, die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen in einer Art schildern, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder die das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt. Hierdurch findet - mit Ausnahme der strafrechtlichen Tatbestandserweiterung auf „menschenähnliche Wesen" - der wesentliche materielle Gehalt des § 131 StGB im JMStV seine wörtliche Entsprechung. Insoweit teilt der Staatsvertrag mit der ihm zugrunde liegenden Strafrechtsnorm das Schicksal evidenter Unbestimmtheit.7 Das Gewaltdarstellungsverbot des §131 StGB, ursprünglich nur aus den Tatbeständen der Gewaltverherrlichung bzw. Gewaltverharmlosung bestehend, 6
Vgl. hierzu die amtliche Begründung zu § 4 Abs. 1 JMStV. Eingehend zur gravierenden Unbestimmtheit des Gewaltdarstellungsverbots Erdemir, Filmzensur und Filmverbot, 2000, S. 109 ff.; ders., Z U M 2000, 699 (703 ff.); auch in der einschlägigen Kommentarliteratur finden sich zunehmend kritische Stimmen: vgl. Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 25. Aufl., 2004, § 131 Rn. 1; Lenckner/SternbergLieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl., 2006, § 131 Rn. 2 und 9; Ostendorf, in Nomos-Kommentar StGB, 2. Aufl., 2005, § 131 Rn. 5; Miebach/Schäfer, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2005, § 131 Rn. 6 („Grenzbereich noch zulässiger Beschreibung tatbestandlichen Unrechts erreicht"). 7
320
Murad Erdemir
wurde im Zuge der so genannten Video-Novelle im Jahre 19858 zur Schließung vermuteter Lücken um die Alternative der Menschenwürdeverletzung ergänzt. Es ist primär zur Bekämpfung fiktionaler Gewaltdarstellungen angetreten. Ausgehend von einem lerntheoretischen Ansatz, wonach zwischen konsumierter Mediengewalt und aggressivem Verhalten ein Zusammenhang besteht, versucht der Gesetzgeber mit dieser Bestimmung, die - soweit ersichtlich - geschichtslos ist und ohne Parallelen dasteht,9 sozialschädliche, weil Gewaltbereitschaft fördernde Darstellungen mit den Mitteln des Strafrechts zu unterbinden. 10 In der Sache geht es damit um nichts anderes als um den vorbeugenden Schutz der Allgemeinheit und des Einzelnen vor Gewalttätigkeiten. Übergeordnetes geschütztes Rechtsgut ist letztlich der öffentliche Frieden, das heißt der Zustand allgemeiner Rechtssicherheit wie auch das Bewusstsein der Bevölkerung, in Ruhe und Frieden zu leben.11 § 131 StGB ist dagegen nicht als gleichermaßen jugendschützende Strafhorm einzuordnen. Zwar können die Abgabeverbote der Nr. 3 sowie das Erzieherprivileg des Abs. 4 auch als Ausprägungen des Jugendschutzes verstanden werden. 12 In Anbetracht der ganz überwiegenden Tatbestandshandlungen, die ein allumfassendes Herstellungs- und Vertriebsverbot fur tatbestandliche Gewaltdarstellungen begründen, kann der Gedanke des Jugendschutzes aber allenfalls als untergeordneter Nebenzweck eine Rolle spielen.13 Auch die Implementierung des Gewaltdarstellungsverbots in § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 JMStV macht hieraus keine primär jugendschützende Norm. Schließlich schützt der JMStV nicht nur Minderjährige, sondern ausdrücklich auch die Allgemeinheit vor Angeboten, welche die Menschenwürde oder sonstige durch das StGB geschützte Rechtsgüter verletzen. Insoweit wären Abweichungen in der Beurteilung gegenüber dem im Zusammenhang mit § 131 StGB geschilderten Verständnis allenfalls dann angezeigt, würde § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 JMStV Gewaltdarstellungen umfassen, welche jenseits der Bezugnahme auf § 131 StGB und des dort beschriebenen Gewaltbegriffs angesiedelt sind. Dies ist jedoch offenkundig nicht der Fall. Darüber hinaus hat der Staatsvertragsgeber den Verbotskatalog des § 4 Abs. 1 JMStV auch dadurch, dass er keinen Ausnahmevorbehalt für so
8
BGBl. I S. 425. Siehe auch Ostendorf (Fn. 7), § 131 Rn. 2. 10 BT-Drs. 6/3521, S. 6. 11 Vgl. Erdemir, Z U M 2000, 699 (700 f.); Kühl (Fn. 7), § 131 Rn. 1; Miebach/Schäferin. 7), § 131 Rn. 1; Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 7), § 131 Rn. 1. 12 Vgl. Erdemir (Fn. 7), S. 70, 113 f.; Miebach/Schäfer (Fn. 7), § 131 Rn. 2. 13 Den Aspekt des Jugendschutzes gänzlich ausklammernd Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 7), § 131 Rn. 1; Fischer, in: Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl., 2006, § 131 Rn. 2 f.; i.E. wohl auch Kühl (Fn. 7), § 131 Rn. 1; Ostendorf {Fn. 7), § 131 Rn. 3; a.A. Hörnle, FS Schwind, 2006, S. 337, 346 f f , unter Anerkennung eines „weichen moralistischen Paternalismus". 9
Vom Schutz der Menschenwürde vor Gewaltdarstellungen im Rundfunk
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genannte geschlossene Benutzergruppen 14 vorgesehen hat, als eine Vorschrift des Erwachsenen- und nicht (allein) des Jugendschutzes ausgestaltet. § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 JMStV schützt mithin ebenfalls zuförderst den öffentlichen Frieden und nicht etwa potenzielle jugendliche Gewalttäter vor Fehlentwicklungen. Hieraus lässt sich nun aber nicht eine Schwächung des Jugendschutzes ableiten. Vielmehr gilt: Wenn bereits das Zugänglichmachen der in § 4 Abs. 1 JMStV aufgelisteten Inhalte an Erwachsene generell verboten ist, so erstreckt sich dies erst recht auch auf Kinder und Jugendliche. Letztere sind damit schon aus der Natur der Sache heraus in den Schutz einbezogen. Das Gewaltdarstellungsverbot des § 131 StGB enthält abstrakte Gefährdungstatbestände, so dass bei Vorliegen der Tatbestandvoraussetzungen die Rechtsgutbeeinträchtigung „prognostiziert" und damit der zum Tatbestand gehörende Erfolg festgestellt werden kann. 15 Entsprechend handelt es sich auch bei § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 JMStV um eine Bestimmung im Vorfeld der eigentlichen Rechtsgutverletzung. Sie nimmt die verfassungsrechtliche Hürde der Geeignetheit folglich nur unter Berufung auf einen - wenn auch nahe liegenden Gefahrenverdacht. Gesicherte Erkenntnisse der Wirkungsforschung im Hinblick auf einen nachweisbaren Zusammenhang zwischen medialem Gewaltkonsum und der Entstehung realer Gewaltkriminalität braucht der Gesetzgeber im Hinblick auf seine Einschätzungsprärogative nicht abzuwarten. 16 Hieraus ergibt sich gleichwohl keine Blankovollmacht fur rigorose Beschränkungen verfassungsrechtlich verbürgter Freiheitsrechte. Vielmehr muss sich ein nur unter Berufimg auf die Einschätzungsprärogative zu legitimierendes Totalverbot erhöhten Anforderungen im Hinblick vor allem auf seine Verhältnismäßigkeit stellen. 17 Das Gewaltdarstellungsverbot gliedert sich im Wesentlichen in zwei Alternativen. Erfasst wird die grausame oder sonst unmenschliche Schilderung von Gewalttätigkeiten gegen Menschen in einer Art, die (1.) eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder (2.) das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt. Gewissermaßen „vor die Klammer gezogen" muss also zunächst einmal eine Schilderung grausamer oder sonst unmenschlicher Gewalttätigkeiten gegen Menschen vorliegen, womit nicht nur Vandalismus, sondern vielmehr auch jede Form von Tierquälerei tatbestandlich von vornherein ausscheidet. Nur angemerkt sei, dass die damit einhergehende Unterstellung, der
14
Eingehend zu geschlossenen Benutzergruppen i.S.d. § 4 Abs. 2 S. 2 JMStV Erdemir, CR 2005, 275 ff. 15
16
V g l . Kühl (Fn. 7), § 131 Rn. 1 ; Miebach/Schäfer
(Fn. 7), § 131 Rn. 7.
Ebenso deutlich Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 7), § 131 Rn. 1. 17 Näher hierzu Erdemir, in: Spindler/Wiebe (Hrsg.), Internet-Auktionen und Elektronische Marktplätze, 2. Aufl., 2005, Kap. 14 Rn. 6 ff.
322
Murad Erdemir
öffentliche Friede sei durch die Darstellung von Gewalt gegen Tiere oder Sachen deutlich weniger gefährdet als durch die Darstellung von Gewalt gegen Menschen, nicht trivialerweise wahr sein muss. Entsprechendes gilt für den Umstand, dass nach wohl einhelliger Meinung 18 auch jede Form psychischer Gewalt ausscheidet. Die Ahndung von Gewaltdarstellungen gegen „menschenähnliche Wesen" ist nach aktueller Rechtslage allein nach dem StGB möglich. Damit sollen fiktive Wesen erfasst sein, die nach objektiven Maßstäben ihrer äußeren Gestalt nach Ähnlichkeit mit Menschen aufweisen (Außerirdische, Vampire, Zombies etc.). 19 Die tatbestandliehe Erweiterung stimmt mit Blick auf den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz bedenklich. Zwar sollte hierdurch gerade die Lücke geschlossen werden, welche die Rechtsprechung wegen des vom BVerfG in seinem wegweisenden „ Tanz der Teufel "-Beschluss vom 20.10.199220 hoch gehaltenen Analogieverbots nicht schließen durfte. 21 Das StGB lässt aber gerade offen, wann der strafrechtsrelevante Bereich der „Menschenähnlichkeit" erreicht ist. Nimmt man die Tatbestandserweiterung beim Wort, so wäre ein nicht unerheblicher Teil der im phantastischen Genre angesiedelten Filme unverzüglich vom Markt zu nehmen.22 Auch dürften die Tatbestandsmerkmale „unmenschlich" sowie „in einer die Menschenwürde verletzenden Weise" in der Kombination mit „menschenähnlichen Wesen" im Einzelfall rational kaum lösbare Interpretationsfragen aufwerfen. 23 Wollte man unter Außerachtlassung der tradierten Motive einschlägiger Filmgenres - Phantasiewesen eine „ Vampir- oder Zombiewürde" zubilligen, so liefe das Strafrecht in der Tat Gefahr, sich lächerlich zu machen.24 Die Tatbestandserweiterung dürfte daher im Wege verfassungskonformer restriktiver Auslegung in der Praxis überwiegend leer laufen.
2. Gewaltverherrlichung
und Gewaltverharmlosung
Die mediale Gewaltdarstellung ist zum einen dann unzulässig, wenn sich in ihr „eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten aus18
Vgl. statt vieler Kühl (Fn. 7), § 131 Rn. 4. BT-Drs. 15/1311, S. 22. 20 BVerfGE 87, 209 ff. 21 Näher hierzu Erdemir (Fn. 7), S. 72 ff. 22 Vgl. hierzu die Nachweise bei Erdemir (Fn. 17), Kap. 14, Rn. 30 (Fn. 62). 23 So ausdrücklich auch Duttge/Hörnle/Renzikowski, NJW 2004, 1065 (1070). 24 Vgl. Ostendorf {Fn. 7), § 131 Rn. 9; kritisch auch Kühl (Fn. 7), § 131 Rn. 4; Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 7), § 131 Rn. 6 („Strafbarkeit nur bei evidenter Menschenähnlichkeit"). Auch der Bundesrat hatte verfassungsrechtliche Bedenken mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot erhoben, siehe BT-Drs. 15/1642, S. 1. 19
Vom Schutz der Menschenwürde vor Gewaltdarstellungen im Rundfunk
323
drückt". Eine Gewaltverherrlichung liegt dann vor, wenn eine unverhohlene, direkte Glorifizierung der einschlägigen Gewalttätigkeiten vorliegt, die erkennbar über den Grad hinaus geht, der bestimmten Filmtypen allein schon genrebedingt immanent ist. 25 Deshalb reicht es nicht aus, dass die fraglichen Gewalthandlungen in einem positiven Bewertungszusammenhang als reizvolles Abenteuer oder als Kennzeichen für Heldentum und kraftvolle Männlichkeit dargestellt werden. Denn insoweit handelt es sich um unverzichtbare dramaturgische Stilmittel bestimmter Genres des Unterhaltungsfilms. 26 Vielmehr muss die betreffende Darstellung aufgrund ihres grausamen oder unmenschlichen Inhalts und des Kontextes, in dem sie erfolgt, eindeutig und fiir jedermann erkennbar fiir die konkret ausgeübte Gewalttätigkeit - gerade auch in ihrer Grausamkeit oder sonstigen Unmenschlichkeit - werben. 27 Versuche, den Begriff der Gewaltverharmlosung einer handhabbaren Konkretisierung zuzuführen, müssen dagegen scheitern. So wohnt auch der häufig anzutreffenden Wendung, wonach eine „Verharmlosung" dann vorliegen soll, wenn die dargestellten Gewalttätigkeiten als nicht verwerfliches Mittel zur Lösung zwischenmenschlicher Konflikte bagatellisiert werden, 28 die Tendenz zur Uferlosigkeit inne. Mehr noch als bei einer unreflektierten Auslegung der Gewaltverherrlichungs-Alternative wäre bei einer solchen Interpretation nahezu jede Form actiongeladener Unterhaltungsfilme zu untersa-
3. Menschenwürdeverletzung Schließlich sind die einschlägigen Gewaltdarstellungen auch dann unzulässig, wenn sie „das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise" darstellen. Durch diese Tatbestandsalternative, die das Kernstück der so genannten Video-Novelle darstellt, sollte vor allem der Flut von Horror- und Splatterfilmen Rechnung getragen werden, die
25 So ausdrücklich bereits Erdemir (Fn. 7), S. 84 ff.; ders., Z U M 2000, 699 (702 f.); siehe nunmehr auch Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 7), § 131 Rn. 9 („Tatbestandsrestriktion infolge sozialer Adäquanz bei Einhaltung der im jeweiligen Filmgenre allgemein anerkannten Grenzen"). 26 Bereits in den regelmäßig zur Primetime ausgestrahlten James Bond-Filmen sind in der Regel die ausgeklügeltsten Tötungsmethoden zu sehen. 27 Vgl. hierzu Erdemir (Fn. 7), S. 83 ff., 108 f.; ders., Z U M 2000, 699 (702 f.); ähnlich deutlich Ostendorf (Fn. 7), § 131 Rn. 10. 28 Vgl. BT-Drs. 6/3521, S. 7; OLG Koblenz, NJW 1986, 1700 f.; Miebach/Schäfer
(Fn. 7), § 131 Rn. 29; Fischer 29
(Fn. 13), § 131 Rn. 10.
Eingehend hierzu Erdemir (Fn. 7), S. 87 ff., 109 f.; ders., Z U M 2000, 699 (703 f.); ähnlich deutlich Ostendorf (Fη. 7), § 131 Rn. 10 (anders noch in: AK-StGB, 1986, §131 Rn. 11); in der Tendenz kritisch auch Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 7), § 131 Rn. 9.
324
Murad Erdemir
Anfang bis Mitte der 80er Jahre insbesondere den Videomarkt überschwemmten und nach Auffassung des Gesetzgebers vom bisherigen Strafrecht nicht erfasst wurden. 30
a) Souveränität und Rezeptionsautonomie Erwachsener Prüfstein der Menschenwürde-Alternative kann allein ein abstrahierter, objektiver Begriff der Menschenwürdeverletzung sein.31 Dagegen besteht kein Opfer- bzw. Rezipientenschutz. Dass sich die Verletzung der Menschenwürde nicht am Opfer der geschilderten Gewalt messen lässt, ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Bestimmung, wonach sich die Verletzung nicht aus der geschilderten grausamen oder sonst unmenschlichen Gewalttätigkeit als solchen, sondern vielmehr aus der Art und Weise seiner Darstellung ergeben muss. Anderenfalls wäre die Menschenwürde-Alternative schon deshalb obsolet, weil jede „grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeit gegen Menschen" per se auch eine Verletzung der Menschenwürde (des Opfers) beinhaltet.32 Hier kommt zum Tragen, dass die primären Anwendungsfälle des Gewaltdarstel lungs Verbots fiktionale Darstellungen betreffen. Sofern die Schauspieler autonom-freiwillig an den einschlägigen Szenen teilnehmen, kommt eine Verletzung ihrer Würde kaum in Betracht. Zwar könnte ein Menschenwürdeverstoß auch darin liegen, dass sich der Rezipient, in dem er sich mit dem gezeigten Opfer identifiziert, in seiner eigenen Selbstachtung verletzt sieht. Schutzbedürftig kann er aber allein insoweit sein, als er nicht autonom-freiwillig die Darstellung rezipiert. In der Regel hat es der Zuschauer jedoch in der Hand, ob er sich die Darbietung ansieht und anhört, passagenweise wegblickt oder weghört oder aber ganz von der Rezeption Abstand nimmt. Auch würde sich das Gewaltdarstellungsverbot bei Anerkennung eines so genannten Konfrontationsschutzes als Regelungszweck letztlich im Subjektiven auflösen. Wer immer - so z.B. auch die erkennenden Gerichte - die konkrete Darstellung als grobe Zumutung empfindet, wäre zugleich auch in seiner Menschenwürde verletzt. 33 Hinzu kommt, dass es sich insoweit - im Unterschied etwa zu den Distributionsbeschränkungen einfacher Pornografie - um einen absoluten Konfrontationsschutz handeln würde, der vor 30 31
Vgl. BT-Drs. 10/2546, S. 23. Vgl. Erdemir (Fn. 7), S. 92 f.; ders., Z U M 2000, 699 (704); Fischer (Fn. 13),
§ 1 3 1 Rn. 13; Hörnle (Fn. 13), S. 350 ff.; Kühl (Fn. 7), § 131 Rn. 7; Miebach/Schäfer (Fn. 7), § 131 Rn. 35; Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 7), § 131 Rn. 11. 32 V g l . Erdemir (Fn. 7), S. 92 f.; ders., Z U M 2000, 699 (704); Fischer (Fn. 13), § 1 3 1 Rn. 12; Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 7), § 131 Rn. 11; Miebach/Schäfer (Fn.
7), § 131 Rn. 35. 33 Vgl. bereits Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, 1993, S. 332, der auch auf die Gefahr eines Missbrauchs des Gewaltdarstel lungs Verbots zur „Geschmackszensur" aufmerksam macht.
Vom Schutz der Menschenwürde vor Gewaltdarstellungen im Rundfunk
325
dem Hintergrund möglicher Belästigungen Einzelner jedem Erwachsenen den Zugang zu solchen Inhalten verwehrt. Dies allerdings würde die Souveränität und Rezeptionsautonomie Erwachsener in verfassungsrechtlich kaum hinnehmbarer Art und Weise untergraben.
b) Kriterium der Selbstzweckhaftigkeit Es bleibt also dabei, dass im fiktionalen Bereich von Gewaltdarstellungen nicht die Würde eines bestimmten Individuums, sondern allein die Menschenwürde als abstrakter Rechtswert angesprochen sein kann. Daher stellt sich nahezu zwangsläufig die Frage nach tatbestandlichem Ertrag und Reichweite der Menschenwürde-Alternati ve. In der Kommentar literatur wird zuweilen das Selbstzweckhafte der Gewaltdarstellung zum entscheidenden Kriterium erhoben. So sei die Menschenwürde dann verletzt, wenn die Gewaltdarstellung um ihrer selbst Willen, also unter Ausklammerung aller sonstigen menschlichen Bezüge und ohne jegliche sozial sinnhafte Motivation „die geschundene Menschenkreatur in widerwärtiger Weise in den Vordergrund rückt". 34 Diese Meinung übersieht, dass eine selbstzweckhafte Inszenierung von Gewalt kaum möglich ist, steht doch jede Gewaltszene in einem internen filmischen Kontext und erhält unvermeidbar daraus eine spezifische Bedeutung. Die insbesondere dem Horrorgenre oft vorgeworfene Simplizität ist gerade ein integraler Bestandteil dieser Filme, um das dort allein interessierende Wechselspiel zwischen Mensch und Ungeheurem so intensiv wie möglich ausloten zu können. Lässt man diesen Aspekt außer Betracht, so erwächst allein aus dem Stilmittel der detailgenauen Simplifizierung zur Erzeugung von Reiz, Nervenkitzel und innerlichem Aufgewühltsein des Publikums nahezu zwangsläufig der Vorwurf der Selbstzweckhaftigkeit. 35 Auch dürfte es in unserer modernen, aufgeklärten Mediengesellschaft kaum noch statthaft sein, einen Film allein nach seinem Bildwert zu beurteilen und nicht nach seinem Zeichenwert bzw. seiner kontextuellen Verweisstruktur. Die Gefahr einer solchen Engführung ist besonders groß, wenn die Prüfung durch „Fremde", also mit dem einschlägigen Filmgenre nicht vertraute oder dieses von vornherein ablehnende Personen vollzogen wird. Wer, wie im besonders prominenten Fall „Tanz der Teufel", die intertextuellen Verweise auf die Geschichte des Horrorfilms nicht entschlüsseln kann, dem wird sich auch die kognitiv-me-
34
So ausdrücklich Lenckner/Sternberg-Lieben
bach/Schäfer 35
(Fn. 7), § 131 Rn. 11; ähnlich Mie-
(Fn. 7), § 131 Rn. 36.
So bereits Erdemir (Fn. 7), S. 94 ff.; ders., ZUM 2000, 699 (705); beipflichtend Liesching, Jugendmedienschutz in Deutschland und Europa, 2002, S. 101 f.; nunmehr auch Ostendorf {Fn. 7), § 131 Rn. 11.
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Murad Erdemir
tatextuelle „ Vergnügungsebene " nicht erschließen. 36 Daher finden sich in der Liste verbotener Gewaltfilme auch Werke, die noch der Kategorie des legitimen Tabubruchs zuzurechnen sind. 37
c) Sadismusaffirmation Gerne übersehen wird zudem, dass bereits das BVerfG in seinem „ Tanz der Teufel "-Beschluss38 dem Kriterium der Selbstzweckhaftigkeit eine unmissverständliche Absage erteilt hat. Das Gericht weist ausdrücklich darauf hin, dass bei einem Abstellen auf das Selbstzweckhafte der Gewaltdarstellung die Menschenwürde-Alternative in einer Weise ausgelegt wird, die keine hinreichend bestimmten Konturen mehr erkennen lässt. Vor dem Hintergrund des Normzwecks sollen vielmehr solche Fälle erfasst sein, in welchen die entsprechende Schilderung darauf angelegt ist, „beim Betrachter eine Einstellung zu erzeugen oder zu verstärken, die den fundamentalen Wert- und Achtungsanspruch leugnet, der jedem Menschen zukommt". Erforderlich ist damit eine Anregung des Betrachters zur bejahenden Anteilnahme an den Schreckensszenen.39 Dies dürfte allein bei einer unverhohlenen, nicht durch bestehende Genrevereinbarungen abgesicherten Ansprache an den Sadismus der Fall sein (Sadismusaffirmation)" Bei konsequenter Beachtung dieses allein verfassungskonformen, weil restriktiven Interpretationsansatzes dürfte der Menschenwürde-Alternative ein eigenständiger Anwendungsbereich abzusprechen sein.41 Denn bei verständiger Würdigung bedeutet das Anregen zur bejahenden Anteilnahme an den grausamen Darstellungen im Ergebnis nichts anderes als das Werben für die konkret ausgeübte Gewalttätigkeit gerade auch in ihrer Grausamkeit oder sonstigen Unmenschlichkeit, wie es bereits bei einer Gewaltverherrlichung zu verlangen ist. Jede gewaltverherrlichende Schilderung ist schließlich darauf angelegt, beim 36 Instruktiv zur Ästhetik des Splattergenres, das die letzten Tabus im Kino radikal in Frage stellt, Köhne/Kuschke/Meteling (Hrsg.), Splatter-Movies - Essays zum modernen Horrorfilm, 2005; siehe auch Stresau, Der Horror-Film, 1987, S. 156 ff. 37 Siehe hierzu Erdemir (Fn. 7), S. 127 ff. 38 BVerfGE 87, 209 ff. 39 BVerfGE 87, 209 (228 ff.); ähnlich deutlich OLG Koblenz, NStZ 1998, 40 (41); siehe auch Di Fabio (Fn. 4), S. 24 f.; Ostendorf (Fn. 7), § 131 Rn. 11. Eingehend zum Kriterium der bejahenden Anteilnahme Erdemir (Fn. 7), S. 96 f.; ders., Z U M 2000, 699 (706 f.). 40
Ä h n l i c h Kühl (Fn. 7), § 131 Rn. 7; Ostendorf
(Fn. 7), § 131 Rn. 11.
41
So bereits Erdemir (Fn. 7), S. 96 ff.; ders., Z U M 2000, 699 (706 f.); Zweifel an der praktischen Bedeutung der Menschenwürde-Alternative äußern auch Miebach/Schäfer (Fn. 7), § 131 Rn. 6; Ostendorf
7), § 131 Rn. 2.
(Fn. 7), § 131 Rn. 5; Lenckner/Sternberg-Lieben
(Fn.
Vom Schutz der Menschenwürde vor Gewaltdarstellungen im Rundfunk
327
Rezipienten eine Einstellung zu erzeugen oder zu verstärken, die den fundamentalen Wert- und Achtungsanspruch eines jeden Menschen leugnet, da sie zwangsläufig auch seinen Gesundheits- bzw. Lebensanspruch missachtet. Oder einfach gesprochen: Die Ansprache an den Sadismus ist nichts anderes als eine spezielle Form der Verherrlichung von (hier: abscheulicher) Gewalt. Zwischen Gewaliverherrlichung und Sadismusaffirmation besteht mithin kein Verhältnis tatbestandlicher Exklusivität. 42
d) Paternalistischer Ansatz Will man der Menschenwürde-Alternative dennoch eine eigenständige Bedeutung zubilligen, so gelingt dies nur unter vorbehaltloser Anerkennung eines wertschützenden Medienstrafrechts. Insoweit wäre nicht auf den originären Regelungszweck des Gewaltdarstellungsverbots abzustellen. Vielmehr wäre zu fragen, ob und inwieweit Gewaltdarstellungen ungeachtet des Vorliegens einer die Gewaltbereitschaft fördernden, tendenzbejahenden Anteilnahme die objektive grundgesetzliche Wertordnung verletzen können, soweit diese als Ausprägung der Menschenwürde verstanden werden muss. Ein solches wertschützendes, in gewisser Weise paternalistisch anmutendes Menschenwürdeverständnis - wie es jüngst Hörnle 43 proklamiert - birgt jedoch unbeherrschbare Risiken. Schließlich wird hier einem Totalverbot eine metajuristische Kategorie implantiert. Diese dürfte sich mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot und dem damit korrespondierenden Verbot strafbegründender Analogie, welches neben dem Kriminalstrafrecht auch das Ordnungswidrigkeitenrecht erfasst, nur schwerlich in Einklang bringen lassen. Darüber hinaus gelten im Bereich der Kommunikationsgrundrechte und der Kunstfreiheit besonders hohe Anforderungen an die Feststellung einer Verletzung der Art. 1 Abs. 1 GG konkretisierenden Wertordnung. Im Rundfunksektor etwa müssten Sendungen - auch dies eine zentrale Lehre aus „Big Brother" - nachhaltig, wiederholt, systematisch und wirksam das mit Art. 1 Abs. 1 GG verbundene Menschenbild als Teil der Wertordnung des Grundgesetzes missachten und im Ergebnis geradezu untergraben. 44 Dies dürfte einem einzelnen Film bzw. einzelnen Szenen eines Filmes wohl kaum gelingen. Zumal es sich bei den durch die MenschenwürdeAlternative vornehmlich ins Visier genommenen so genannten Splatterfilmen um ein wenig mainstreamtaugliches Subgenre handelt.
42
Dieser Aspekt tritt besonders deutlich zu Tage im „Nekromantik 2"-Urteil des AG München, JMS-Report 6/1993, 10 ff., ausfuhrlich besprochen von Erdemir (Fn. 7), S. 97 ff.; ders., Z U M 2000, 699 (706 f.). 43
44
Hörnle
(Fn. 13), S. 305 ff.
Di Fabio (Fn. 4), S. 94; siehe auch Dörr, „ B i g Brother" und die Menschenwürde, 2000, S. 84.
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Murad Erdemir
Zu guter Letzt müsste bei Anerkennung eines wertschützenden Gewaltdarstellungsverbots die Konzeption dieses Tatbestands neu überdacht werden. Schließlich ist das Verbot nach hergebrachtem Verständnis im Vorfeld der eigentlichen Rechtsgutverletzungen angesiedelt. Bei Anerkennung einer wertschützenden Komponente handelte es sich hierbei jedoch keineswegs mehr um ein (allein) abstraktes Gefährdungsdelikt. Vielmehr wäre mit jedem tatbestandlichen Vorliegen der Menschenwürde-Alternati ve zugleich auch eine Menschenwürdeverletzung konkret zu verzeichnen. Dagegen erwähnt bis heute kein Kommentator des Gewaltdarstellungsverbots den Schutz der Menschenwürde als unmittelbares Regelungsziel.45 Festzuhalten bleibt, dass nach der hier vertretenen Konzeption fiktionale Gewaltdarstellungen grundsätzlich aus dem Bereich des Menschenwürdeschutzes herausfallen. Zwar knüpft das Gewaltdarstellungsverbot mit dem Begriff der Menschenwürde erkennbar an den Gehalt des Art. 1 Abs. 1 GG an. Dieser braucht aber nicht notwendig den gleichen Inhalt zu haben. Vielmehr hat sich die Auslegung des Menschenwürdebegriffs am anerkannten Regelungszweck des Gewaltdarstellungsverbots (Schutz des öffentlichen Friedens) zu orientieren. Die Freiheit des Einzelnen endet mithin erst dort, wo Gefahren fur Rechtsgüter anderer erwachsen, nicht aber am Dogma der Prinzipien bzw. dort, wo Würde und Anstand als Selbstzweck in Rede stehen.
IV. Menschenwürdeverletzung durch reale Gewaltdarstellungen 1. Allgemeines, Zielsetzung Hinsichtlich potentieller Menschenwürdeverletzungen durch reale Gewaltdarstellungen in Rundfunk und Telemedien wiederum ist vornehmlich auf § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV zu fokussieren. Hiernach sind generell unzulässig solche Angebote, die gegen die Menschenwürde verstoßen. Dies gilt insbesondere fur einen Verstoß gegen die Menschenwürde durch die Darstellung von Menschen, die sterben oder schweren körperlichen oder seelischen Leiden ausgesetzt sind oder waren, wobei ein tatsächliches Geschehen wiedergegeben wird, ohne dass ein berechtigtes Interesse gerade für diese Form der Darstellung oder Berichterstattung vorliegt. Im Unterschied zum Gewaltdarstellungsverbot des § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 JMStV trägt der Staatsvertragsgeber mit der vorliegenden Bestimmung unmittelbar einer aus Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitenden Schutz-
45 Nur am Rande sei bemerkt, dass die Menschenwürde selbst fiir den Tatbestand der Volksverhetzung des § 130 StGB nicht als unmittelbares Schutzobjekt benannt wird. Vgl. statt vieler Lenckner/Stemberg-Lieben (Fn. 7), § 130 Rn. la; Fischer (Fn. 13), § 130 Rn. 2.
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329
pflicht Rechnung.46 Der Bestimmung kommt damit im Systemgefüge des JMStV eine herausragende Funktion zu, zumal der Staatsvertrag bereits in seiner Übertitelung wie auch in seinem präambelgleichen § 1 den Schutz der Menschenwürde als zentrales, selbständig neben dem Jugendschutz stehendes Regelungsziel ausweist. Damit ist der Staat nicht nur gehalten, selbst Eingriffe in die Menschenwürde zu unterlassen, sondern darüber hinaus den Bürger und die Allgemeinheit vor Beeinträchtigungen der Menschenwürde zu schützen, die von privater Seite drohen. Es liegt auf der Hand, dass im Unterschied zum Gewaltdarstellungsverbot die Verletzung der Menschenwürde hier in erster Linie am Opfer der geschilderten Gewalt zu messen ist. Darüber hinaus kann vorliegend auch der Rezipientenschutz eine Rolle spielen, wenn dieser in Nachrichten und Dokumentationssendungen bzw. beim Surfen im Internet ungewollt mit entsprechenden Darstellungen konfrontiert wird. Schließlich und endlich ist hier neben der individuellen Würde der jeweiligen Person auch die Würde des Menschen als Gattungswesen angesprochen. Der Wortlaut des § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV verlangt auch nicht etwa, dass die Gewalt von Menschen ausgehen und als solche dargestellt werden muss. Ausreichend ist vielmehr bereits die Darstellung der Folgen bzw. Wirkungen von Gewalt (z.B. bildliche Darstellung der verheerenden Folgen einer Naturkatastrophe).
2. Berichterstattungsfreiheit
versus Menschenwürde?
Die gesetzgeberische Formulierung indiziert einen Abwägungsvorgang zwischen den Interessen (nicht: der Menschenwürde!) des Betroffenen einerseits und der Berichterstattungs- und Informationsfreiheit andererseits. Ein überwiegendes berechtigtes Interesse gerade an einer bestimmten Form der Darstellung dürfte insbesondere dann anzunehmen sein, wenn Geschehnisse im Hinblick auf deren Hintergründe und menschliche Auswirkungen dem Zuschauer verdeutlicht, gegebenenfalls dadurch auch drastisch vor Augen gefuhrt werden und hierdurch der Bagatellisierung menschlichen Leids gerade vorgebeugt wird. 47 Denn das nach § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV geforderte „berechtigte Interesse" kann nur ein Kriterium dafür sein, ob eine Menschenwürdeverletzung vorliegt oder nicht. Keinesfalls handelt es sich hierbei um einen Rechtfertigungsgrund, da eine Verletzung der Menschenwürde als höchstrangigem Verfassungsgut in jedem Falle unzulässig ist. 48
46
Vgl. Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner, JMStV, Stand: Januar 2006, § 4 Rn. 35. Vgl. Hertel, in: Hahn/Vesting, RStV, 2003, § 3 Rn. 67 ff. 48 Ebenso deutlich Bornemann, NJW 2003, 787 (788); Hopf Jugendschutz im Fernsehen, 2005, S. 264 f. 47
330
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Dem Vorgenannten zufolge besteht ein „ berechtigtes Interesse " vor allem dann, wenn die gegebenenfalls drastische Darstellung zur Verständlichmachung der menschlichen Dimension des Ereignisses unverzichtbar erscheint. Die Regelung des § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV berührt hierbei den gesamten Berichterstattungs- und Informationsbereich, so dass sich insbesondere auch Kriegsbilder und -reportagen über Opfer in der (Zivil-)Bevölkerung an ihr messen müssen. Das Informationsinteresse des Einzelnen erfährt zweifelsohne größere Beachtung, wenn und soweit sich die mediale Kriegsberichterstattung nicht auf polierte Bilder von Flugzeugträgern und Hubschraubern im Abendrot beschränkt. Diesen romantisch verklärten Darstellungen ist vielmehr das blutige und grausame Elend der Realität entgegenzusetzen. Die Grenze des Zulässigen überschritten wird zum einen allerdings dann, wenn offenkundig nur ein voyeuristisches Unterhaltungsinteresse des Rezipienten befriedigt werden soll. 49 Zum anderen sind auch für den Fall, dass allein ein zutreffendes Bild des Krieges bzw. der Gewalttätigkeiten vermittelt werden soll, letzte Grenzen zu beachten, die den Kern der Menschenwürde tangieren. Dieser Grenzbereich dürfte z.B. bei der detaillierten Darstellung einer Hinrichtung - wie sie im Fall des von Terroristen im Irak enthaupteten US-Amerikaners Nick Berg im Internet auftauchte überschritten sein. In jedem Falle nach deutschem Recht unzulässig ist daher das jüngst unter anderem auch auf der Video-Community YouTube eingestellte Handy-Video der Hinrichtung des ehemaligen irakischen Diktators Saddam Hussein. Beim deutschen YouTube-Konkurrenten My Video wurde das Hinrichtungsvideo daher bereits am Neujahrstag 2007 entfernt. In mindestens medienethischer Hinsicht problematisch sind aber auch Katastrophenbilder und -reportagen, z.B. über die Tsunami-Flutopfer zur Jahreswende 2004/2005. Wie bei Krieg und Terror gehen die Medien auch bei solch verheerenden Naturkatastrophen auf einem schmalen Grat. Die Achtung der Würde der Opfer und ihrer Angehörigen bedeutet hier zwar nicht zwangsläufig eine im engeren Sinne rechtliche, aber immer doch mindestens eine ethische und journalistische Herausforderung. Medien haben die Schäden eines solchen Geschehens zu zeigen, die Bilder müssen Belegcharakter haben, dürfen aber nicht voyeuristisch sein. Nicht zu beanstanden waren daher Bilder von zertrümmerten Häusern, toten Körpern und aufgereihten Särgen, die einen (ersten) authentischen Eindruck von dem Ausmaß der Katastrophe vermittelten. Anders verhielt es sich jedoch bei der - insbesondere fortgesetzten - Veröffentlichung verzweifelter Menschen im Todeskampf, zerfetzter Körperteile und aufgeschwemmter Leichen in verkrümmter Körperhaltung, die wie Treibgut am Strand lagen. Die zwischen Müll und Holz treibenden Körper illustrierten zwar auf schockierende Weise die Auswirkungen der Katastrophe, trugen aber zu keiner neuen Erkenntnis bei. Das Bild eines an einem Leichnam zerrenden Hun-
49
Vgl. Altenhain, in: Löffler, Presserecht, 5. Aufl., 2006, § 15 JuSchG Rn. 20.
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331
des hat nichts mit Aufklärung zu tun. Die Bewahrung der Intimsphäre vor ungefragter Entblößung in der Öffentlichkeit gehört vielmehr zu den natürlichen Schutzfunktionen des - lebenden wie auch toten - Menschen. Sie zu missachten bedeutet ausliefernde Entwürdigung und legt damit einen Verstoß gegen die Menschenwürde nahe. Von der Unerträglichkeit solcher Bilder für Kinder und Angehörige noch vermisster Opfer ganz zu schweigen. Zwar besteht kein Zweifel daran, dass es ohne die Kraft der Fernsehbilder diese enorme Hilfsbereitschaft nicht gegeben hätte, die sich anhand der Spendenrekorde zumindest vordergründig an nüchternen Zahlen ablesen ließ. Angst und Mitleid stimulieren die Spendenbereitschaft. 50 Aber der Zweck heiligt nun mal nicht jedes Mittel. So sollte über aufdringliche TV-Spenden-Galas, in welchen die Bilder der Verzweiflung als „Tapete im Hintergrund" ständig präsent waren, besser der Deckmantel des Schweigens gelegt werden. Misstrauisch musste auch machen, dass die TV-Medien die Spenden-Stimmung anheizten, obwohl längst genügend gespendet wurde. 51 Aber es geht hier nicht allein um die fragwürdige „Dekadenz" des Hinstarrens, Betroffenseins und Wettspendens, nicht allein um die Auswüchse des Wettstreits um die drastischsten Bilder. Vielmehr muss auch die Rollenverteilung klar bleiben: Hilfsorganisationen helfen, Medien berichten. Auch bei so mancher Nachrichtensendung war dieser Grundsatz des Journalismus offenkundig in Vergessenheit geraten. Dass zwischen dem Postulat einer möglichst authentischen Berichterstattung und dem Menschenwürdeverstoß ein nur schmaler Grat besteht, demonstrierten schließlich auch die Bilder des 11.9.2001. Ob z.B. die schier endlose Wiederholung der Fernsehaufnahmen von einem in Todesangst um Hilfe rufenden Menschen an einem Fenster des World Trade Center noch Berichterstattung über eine die Menschenwürde verletzende Gewalt oder vielmehr bereits ihrerseits eine die Menschenwürde verletzende Darstellung war, darf gefragt werden. Vieles spricht dafür, dass hier die Person vor dem Hintergrund einer möglichst sensationellen Berichterstattung zum Objekt degradiert worden ist. Der vorgenannten Beispielsfällen ungeachtet ist dem Verfasser seit In-KraftTreten des JMStV - von einer Ausnahme abgesehen52 - kein Fall bekannt geworden, in welchem konkrete Menschenwürdeverletzungen durch reale Gewaltdarstellungen in den Fokus der Medienaufsicht geraten oder gar medienrecht-
50
Siehe hierzu Grimm/Sellz, tv diskurs 1/2006, 46 ff. So bat z.B. die Organisation „Ärzte ohne Grenzen" schon frühzeitig darum, keine für Flutopfer zweckgebundenen Gelder mehr zu spenden, da der Bedarf für die kurzfristige Hilfe längst gedeckt sei. 52 So hatte die KJM in verschiedenen Magazin- und Nachrichtensendungen von RTL aus dem Jahre 2004 eine Menschenwürdeverletzung darin erblickt, dass Misshandlungen eines hilflosen alten Mannes durch eine Pflegerin auf „voyeuristische und reißerische Weise" gezeigt worden seien. Vgl. hierzu epd medien 10/11/2007, 15 f. 51
332
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lieh beanstandet worden sind. Dagegen hat sich der Deutsche Presserat in den vergangenen Jahren zunehmend mit Beschwerden befasst, die Fotos von Toten oder Verletzten zeigen - ob nach einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder aus Kriegsgebieten. Hier wurde verschiedentlich eine Missbilligung, gelegentlich auch eine öffentliche Rüge ausgesprochen.53
V. Resümee Nach der hier vertretenen Konzeption fallen fiktionale Gewaltdarstellungen insbesondere Gewaltdarstellungen in Spielfilmen - von vornherein aus dem Bereich des Menschenwürdeschutzes heraus. Denn es verbietet sich, die Menschenwürdegarantie als Transmissionsriemen für die Verwirklichung paternalistischer Vorstellungen wirksam werden zu lassen. Im Gegensatz hierzu sind Menschenwürdeverletzungen durch reale Gewaltdarstellungen zwar jederzeit möglich, waren seit In-Kraft-Treten des JMStV aber nur selten Gegenstand intensiverer Befassung durch die Medienaufsicht. Hieraus nun ein Vollzugsdefizit abzuleiten, wäre zu kurz gegriffen. Vielmehr wird auch zu konstatieren sein, dass Recht nur begrenzt als ethische Steuerungsressource funktioniert. Dagegen liefert die Medienethik ohne Weiteres die Grundlagen für eine angewandte Selbstkontrolle. Letztere funktioniert im Idealfall als moralisches Gewissen, indem sie - wie im Bereich der Printmedien zuweilen der Deutsche Presserat - ethische Missstände anprangert und öffentlich macht. Bundespräsident Horst Köhler ist daher uneingeschränkt beizupflichten, wenn er auf den besonderen Mehrwert des Presserats aufmerksam macht. So nütze dieser nicht nur den Interessen der Presse und der darin tätigen Journalisten. Indem der Presserat die Fehlbarkeit des Journalismus anerkenne und die Folgen zu begrenzen suche, mache er sich nicht nur zum Anwalt der offenen Gesellschaft, sondern vielmehr auch zum Anwalt derer, die zu Opfern der freien Presse werden. 54 Die Idee einer ethischen und damit im Vorfeld rechtlicher Sanktionen anzusiedelnden Medienselbstkontrolle dürfte mindestens auch im Rundfunksektor funktionieren. So wird sich für Fernsehveranstalter das Image innerhalb der sozialen Gemeinschaft auch in der Zahl der Werbebuchungen widerspiegeln. Insoweit ist im Bereich des Leitmediums Rundfunk regelmäßig nicht (allein) das Damoklesschwert der medienrechtlichen Sanktion maßgebliche Triebfeder einsichtigen Verhaltens, sondern vielmehr drohender Imageverlust und die daraus resultierenden monetären Konsequenzen. Zu guter Letzt wäre im Bereich der 53
Vgl. insbesondere die Nachweise im Jahrbuch 2005 des Deutschen Presserats (Schwerpunkt: Gewaltfotos). 54 Vgl. hierzu die Rede Köhlers zum 50. Jahrestag der Gründung des Deutschen Presserats, abgedruckt in epd medien 92/2006, 23 ff.
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elektronischen Massenmedien auch die Idee eines Ombudsmannes in Angelegenheiten von Ethik und Menschenwürde zu erwägen. Dieser könnte - gewissermaßen in Analogie zum Presse-Ombudsmann in den USA - Beschwerden aus der Bevölkerung entgegennehmen, auf den Anbieter einwirken und die Beschwerden gegebenenfalls auch öffentlich machen. Als Alternative hierzu könnte die Funktion des Jugendschutzbeauftragten in § 7 JMStV entsprechend präzisiert werden. 55 Die fur das Jahr 2008 in Aussicht genommene Novellierung des JMStV böte hierfür den geeigneten Rahmen, soll der Menschenwürdeschutz vor medialen Gewaltdarstellungen kein unentdeckt gebliebenes Regelungsziel bleiben.
55 Zur Ombudsfunktion des Jugendschutzbeauftragten siehe auch Erdemir, K&R 2006, 500 (502 f.).
Begriff, System und Grenzen deutscher und europäischer Wirtschaftsverfassung Von Konrad Scori I. Einleitung 1. Aktualität des Themas Für eine Vielzahl der Wähler ist der Standort ihres Gemeinwesens (Staat, EG/EU) im Wirtschaftsprozess bedeutsamer und bestimmender als das Verhältnis zur jeweiligen politischen Gemeinschaft. 1 Es verwundert daher nicht, dass kaum ein Bereich Missverständnissen, aber auch Polemik so ausgesetzt ist wie die politisch sensible Gratwanderung zwischen Politik und Wirtschaft. Zudem wissen viele Bürger nicht genau, wer denn nun eigentlich fur die fur sie so wichtigen wirtschaftspolitisch zentralen Entscheidungen zuständig ist. Zwar haben sie verstanden, dass die Gestaltungsmacht ihres Staates durch Europa erheblich beschnitten ist, unverstanden bleibt fiir sie allerdings, wer „eigentlich das Sagen hat?"2 Das Zusammenwirken bei dem Erbringen von Dienstleistungen und bei der Erzeugung der Güter, die Funktionsweise eines marktwirtschaftlichen Wettbewerbs sowie die gerechte Verteilung des erwirtschafteten Erfolges sind auf Bedingungen angewiesen, die von der Rechtsordnung des Staates aufgrund seiner öffentlichen Gewalt geschaffen und garantiert werden müssen.3 In diesem Zusammenhang wird auf deutscher wie parallel auf europäischer Ebene die Frage nach einer rechtlich verbindlich zu erachtenden Systemvorgabe nicht selten (immer noch und immer wieder) überwiegend auf die wirtschaftspolitische Mo-
1 Bereits Thiele, Wirtschaftsverfassungsrecht, 2. Aufl., 1974, S. 21 m.w.N.; siehe auch Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2. Aufl., 2005, S. 13; Frotscher, Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, 4. Aufl., 2004, Rn. 12, zeichnet das Bild von der Begrenzung des staatlichen „wirtschaftspolitischen Tatendranges' 4. 2
Di Fabio , Die politische Gestalt Europas, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.7.2006. 3 Vgl. dazu Badura, (Fn. 1), S. 1; allgemein zu Umfang und Grenzen der staatlichen Wirtschaft im Laufe der Geschichte und den Grundpositionen des Absolutismus und Merkantilismus einerseits und dem liberalen Rechtsstaat und dem Wirtschaftsliberalismus andererseits Frotscher (Fn. 1), Rn. 14 ff.
336
Konrad Scori
dellvorstellung der „sozialen Marktwirtschaft" als Markenzeichen der deutschen Wirtschaftsordnung fokussiert. 4 Dass dieses M o d e l l für Deutschland und/oder die E G / E U rechtlich und tatsächlich bereits existiere, jedenfalls aber rechtlich und wirtschaftspolitisch anzustreben sei, w i r d nicht selten vereinfachend und ohne rechtliche Begründung festgestellt. So w i r d die „soziale Marktwirtschaft" von den allgemeinen Medien und ihren Redakteuren, aber auch in der Argumentation namhafter politischer Persönlichkeiten der Gegenwart als real existierendes Standardvokabular gefuhrt. Aber auch i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum w i r d die „soziale Marktwirtschaft" als gesetzgeberisches Postulat auf der Grundlage geltenden deutschen wie europäischen Rechts interpretiert. 5 Nicht zuletzt w i r d dabei über4 Zur sozialen Marktwirtschaft als einer politisch verantworteten und in das soziale Ganze eingeordneten Marktwirtschaft und den abzugrenzenden Wirtschaftssystemen (unter anderem „reine" Marktwirtschaft, „verantwortete" Marktwirtschaft, „staatlich kontrollierte" Marktwirtschaft, „gelenkte" Marktwirtschaft, „soziale" Marktwirtschaft, „gemischte" Marktwirtschaft, französische „Planification", „zentrale Verwaltungswirtschaft") vgl. aus der umfassenden Literatur beispielhaft Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2. Aufl., 2003, Rn. 203 ff.; Pichle/% Europäische Identitätsfindung, in: Hödl (Hrsg.), Europäische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, 2005, S. 38 ff.; Scherer, Die Wirtschaftsverfassung der EWG, 1970, S. 53 ff., 199 ff.; Stadler, Verantwortete Marktwirtschaft, in Hödl, a.a.O., S. 44 ff.; zu den hier abzugrenzenden Begriff „Wirtschaftspolitik" und „Wirtschaftsunion" näher Schulze-Steinen, Rechtsfragen zur Wirtschaftsunion, 1997/1998, S. 35 ff., 45 ff. 5 Nur beispielhaft: „Die soziale Marktwirtschaft beschreibt die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland"; populärwissenschaftlich ohne Begründung als selbstverständlich angenommen in: www.wirtschaftundschule.de-/Lexikon/S/-Soziale_Marktwirtschafit (5.1.2007); der deutsche liberale Politiker Westerwelle hingegen sieht in der Wirtschaftspolitik der derzeitigen Bundesregierung abzuwehrende planwirtschaftliche Tendenzen („Das erinnert an Planwirtschaft"), Westerwelle, in Sonntag Aktuell, Stuttgart Zeitung vom 1.10.2006. Die französischen Sozialisten fordern eine „Sozialdemokratisierung der EU", vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. sowie 16.2.2006. Dazu kommt, dass das Wirtschaftssystem der „sozialen Marktwirtschaft" für Deutschland offenbar expressis verbis in Art. 1 Abs. 3 Vertrag über die Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion vom 18.5.1990 postuliert wird. EWG-Gründungsvater Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 2. Aufl., 1974, S. 108, sieht allein die „soziale Marktwirtschaft als grundsätzliche Lösung" für die Gemeinschaft. „Der moderne Verfassungsgeber sollte die soziale Marktwirtschaft textlich auf die Verfassungsstufe heben"; fordert Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl., 2006, S. 538, für die wirtschaftspolitische Zukunft der EG/EU; Bleckmann, DVB1. 1992, 335 (341), ist überzeugt, dass bereits „auch im Europäischen Gemeinschaftsrecht der Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft gilt". An anderer Stelle geht Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl., 1997, Rn. 754, davon aus, dass jedenfalls mit dem EU-Vertrag von dem Gebot einer „sozial-ökonomischen Marktwirtschaft" auszugehen sei. Auch die vom Europäischen Parlament im Jahre 1994 angenommene Entschließung zur Verfassung der Europäischen Union nennt als Ziel der Union unter anderem „die Entwicklung eines Rechts- und Wirtschaftsraumes ohne Binnengrenzen, für den der Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft gilt", vgl. Art. 2 Verfassungsentwurf, BT-Drs. 12/7074, dazu näher Kilian (Fn. 4), Rn. 208.). Vollmer, DB 1993, 25, allerdings betont hingegen die Gefahr eines „Eurosozialismus" und „Eurozentralismus".
Begriff, System, Grenzen deutscher und europäischer Wirtschaftsverfassung
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sehen, dass die Formel von der „sozialen" Marktwirtschaft und ihre schwierige Konturfindung zwar ein der deutschsprachigen Welt äußerst vertrauter Begriff ist. Eine Ordnungspolitik und die hierzu geschöpften Begrifflichkeiten, wie sie etwa in Gestalt der „Freiburger Schule" und in ihrer Kölner Fortentwicklung durch Müller-Armack nach 1949 in der deutschen Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards eben als „soziale Marktwirtschat" eine entscheidende Rolle spielte, sowie ein entsprechendes „Modelldenken" gibt es allerdings auf europäischer Ebene nur sehr begrenzt. Vielmehr kennen wirtschaftspolitische Traditionen anderer Mitgliedstaaten ein solches Modelldenken überhaupt nicht. 6 Dazu kommt, dass die Frage nach der vertikalen Dimension einer europäischen Wirtschaftsverfassung infolge der Erweiterung zunächst auf 25 und nunmehr 27 Staaten auf Volkswirtschaften trifft, die sich teilweise noch im Prozess der Transformation vom planwirtschaftlichen zu marktwirtschaftlichen System befinden. Aus der Perspektive dieser Länder ist es von erheblichem Interesse, welche rechtlichen Zwänge und politischen Spielräume bei der Anpassung an den verschärften Wettbewerb im Binnenmarkt bestehen.7 Die vorstehend rechtlich implizierten Fragen nach den Grenzen und der juristischen Bedeutung wirtschaftspolitisch steuernder Maßnahmen des nationalen Gesetzgebers und/oder des wirtschaftspolitischen Handlungsrahmens der Organe der EG/EU sind nicht neu. Dennoch sind hier Probleme offen oder neu zu beantworten. Insbesondere ist die Problematik zunehmend nicht auf den nationalen wirtschaftsrechtlichen Normenbestand beschränkt, denn heute werden alle Bereiche des Wirtschaftsrechts unmittelbar oder mittelbar mehr und mehr durch supranationale Normen des Europarechts konstituiert. So erscheint eine klare Trennung der Zuständigkeiten von Gemeinschaft und Regierungen als kaum mehr möglich. Nicht zuletzt sind viele nationale Gesetze aufgrund von EGRichtlinien entstanden, ohne dass dieser Ursprung immer deutlich wird. 8
6 Zu dieser besonderen Problematik näher etwa Oppermann, Europäische Wirtschaftsverfassung nach der Einheitlichen Europäischen Akte, in: Müller-Graff/Zuleeg (Hrsg.), Staat und Wirtschaft in der EG, S. 55 f. m.w.N.; Stadler (Fn. 4). Die von Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozial Wissenschaften, Band 9, 1956, S. 390 ff.; ders., Die Wirtschaftsordnung des Gemeinsamen Marktes, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Ausgewählte Werke, 1966, S. 401, 415, formulierte Leitidee, „ ... das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden'', war ursprünglich auf die für Deutschland charakteristischen Denk- und Wirtschaftsstile zugeschnitten. 7 Vgl. dazu etwa Hatje, Wirtschaftsverfassung, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 283 f. 8 Beispielhaft Badura, Staatsrecht, 3. Aufl., 2003, S. 290; Frotscher (Fn. 1) Rn. 6, 36 ff.; näher zu Begriff und Systematik des Wirtschaftsrechts beispielhaft a.a.O., Rn. 3 ff. Kaum ein Thema ist in der Literatur so intensiv behandelt worden wie die EG als Wirtschaftsgemeinschaft, Häberle (Fn. 5), S. 550 m.w.N. Ca. 80 bis 90 % des in Deutschland geltenden Wirtschaftsrecht ist europarechtlich bestimmt. So ging bereits im Jahre
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Es ist noch gar nicht so lange her, dass das deutsche Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL im Zusammenhang mit der Diskussion über den Vertrag von Maastricht polemisierte: „Seit Jahrzehnten ist ein Ermächtigungsgesetz in Kraft. Es heißt EWG-Vertrag" mit „Folterwerkzeugen zur Entmachtung des deutschen Parlaments". 9 Gewiss unterwirft die fortschreitende Integration Europas die deutsche Rechts- und Wirtschaftsordnung zunehmend unter gemeinschaftsrechtliche Rahmenbedingungen. Wer aber bestimmt letztlich die wirtschaftspolitische Gestaltungsfreiheit: der nationale Souverän der Mitgliedstaaten oder die EG? An dieser Stelle spätestens stellt sich die Problematik danach, welche Rechtsgrundsätze als Eckwerte zusammen gesehen das wirtschaftsrechtlich relevante Leitbild der EG ergeben, ein gemeinsames und einheitliches wirtschaftspolitisches Vorgehen der Mitgliedstaaten rechtlich verbindlich koordinieren und den wirtschaftspolitischen Handlungsrahmen der EG-Organe determinieren? Dies deckt sich mit der Frage nach Begriff, System und Grenzen deutscher und europäischer Wirtschaftsverfassung. Was eine Wirtschaftsverfassung rechtlich ausmacht, welche Grenzen sie Hoheitsträgern und Privaten zieht, ob sie ein bestimmtes Wirtschaftsmodell (auch) rechtlich zwingend vorgibt, lässt sich nur aus dem jeweils konkreten Normenbestand ableiten. Die rechtlich zwingende Affinität der europäischen und der nationalen Rechtsordnungen (Art. 23 Abs. 1 GG) erfasst hauptsächlich die Wirtschaftsordnung und die auf das Wirtschaftsleben bezogenen Entscheidungsregeln. Die Frage nach dem Verständnis und der mitgliedstaatlichen Bedeutung einer europäischen Wirtschaftsverfassung (dazu unten III.) hat wegen ihrer integrationspolitischen Verklammerung somit zunächst grundlegend die Frage nach der Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes und ihrer Bedeutung für den deutschen Gesetzgeber zu beantworten (dazu II.). Wie stehen die mitgliedstaatlichen und die europarechtlichen Vorgaben zueinander? Welchen Spielraum lässt die
1988 der seinerzeitige Kommissionspräsident Delors in seiner viel beachteten „berühmten44 Rede vor dem Europäischen Parlament davon aus, dass nahezu 80 % des Wirtschafts- und Wirtschaftsverwaltungsrechtes gemeinschaftsrechtlich determiniert seien (BullEG 1988, Nr. 7/8, S. 124); zu Begriff, Systematik und Anwendungsvorrang des Europarechts näher unten Fn. 42; siehe auch Leipold/Ludwig, Soziale Marktwirtschaft und europäische Wirtschaftsordnung, in: Andersen und andere (Hrsg.), Soziale Marktwirtschaft. Stagnation, Umbau oder Neubeginn?, Politische Bildung, H . l , 2004, 43 ff. 9 Immerhin wird die Überschrift „Das Ende des Grundgesetzes 44 mit einem Fragezeichen versehen, Ausgabe DER SPIEGEL vom 23.3.1992; näher dazu Rabe, in Sitzungsbericht 59. Juristentag, 1992, S. Τ 8. Dahrendorf (seinerzeit Rektor des St. Anthony's College in Oxford), DER SPIEGEL 1/1994 S. 28 f., ging noch weiter: „... der Vertrag von Maastricht markiert ein Ende, nicht einen Neubeginn. Der Vertrag hat Europa nicht nur gespalten, sondern auch in die Irre gefuhrt. Verlangt die EU gemeinsames Handeln, oder kann jeder Staat seine eigenen Wege gehen?" (etwa auch wirtschaftspolitisch?).
Begriff, System, Grenzen deutscher und europäischer Wirtschaftsverfassung
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gemeinschaftsrechtliche Wirtschaftsverfassung fiir wirtschaftspolitische Maßnahmen des deutschen Gesetzgebers (dazu unten IV.)?
2. Der Begriff,,
Wirtschaftverfassimg"
Der Begriff „Wirtschaftsverfassung 44 liegt im Schnittfeld von Ökonomie und Jurisprudenz. Er ist mehrdeutig, unter Umständen missverständlich und wird dem jeweiligen disziplinären Verwendungszusammenhang entsprechend mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. An sich stammt er aus der Terminologie der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und wurde ursprünglich von diesen entwickelt. Dort wird er in einem weiten Sinne als „Gesamtentscheidung über die Ordnung des Wirtschaftslebens eines Gemeinwesens4' verstanden. 10 Zu den rechtlich geregelten Grundfragen des Staates gehören aber auch die Wirtschaftsordnung 11 und die Wirtschaftspolitik. Daher wurde der im Spannungsfeld zwischen Rechts- und Wirtschaftswissenschaft angesiedelte Begriff „Wirtschaftsverfassung 44 bald von der deutschen Rechtswissenschaft übernommen und zu einem juristischen Terminus umgeformt und sofort mit verschiedenen Inhalten versehen. Dass es lange Zeit zu keinen exakten Definitionsversuchen gekommen ist, könnte darauf zurückzuführen sein, dass es sich hier um ein Grenzgebiet zwischen Jurisprudenz und Nationalökonomie handelt, gewissermaßen um eine „Art Niemandsland44, fiir das sich keine Disziplin so recht ver-
10 Im weitesten Sinne auch als „politische Gesamtentscheidung über die Ordnung des nationalen Wirtschaftslebens", dazu etwa Hatje (Fn. 7), S. 685 m.w.N. Zunächst wurde er teils wirtschaftswissenschaftlich, teils historisch-soziologisch in verschiedenen Bedeutungen verwendet; vgl. Thiele (Fn. 1 ), S. 9; ebenso bereits Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 7; eine gute Übersicht zum Diskussionsstand dieser Zeit bei Seherer (Fn. 4J, S. 42, sowie Badura, JuS 1976, 205 (206 ff.). Zur Unvermeidbarkeit der Relativität aller Rechtsbegriffe je nach Verwendungszusammenhang näher Scori , Der Bauherr als Rechtsbegriff, 1988,*S. 31 ff. 11 Wirtschaftsordnung, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftssystem werden in den Wirtschaftswissenschaften oft synonym gebraucht. Teilweise wird „Wirtschaftsordnung" auch als Oberbegriff zu Wirtschaftssystem und Wirtschaftsverfassung aufgefasst; näher Mussler , Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft im Wandel, 1998, S. 18. Der Begriff „Wirtschaftsordnung" geht jedoch weiter. Unter „Wirtschaftsordnung" wird hier die Gesamtheit aller grundlegenden Regeln für Aufbau und Ablauf des wirtschaftlichen Geschehens verstanden. Sie ist das tatsächliche Ordnungsgefüge einer Wirtschaft, wie es in einer bestimmten Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit besteht. Gemeint sind damit allerdings weder die tatsächlichen Formen, in denen der Wirtschafitsprozess in concreto abläuft, noch die Wirtschaftssysteme, die sich auf konstitutive Grundformen der Wirtschaft, wie reine Marktwirtschaft oder reine Planwirtschaft, beziehen; vgl. bereits den Wirtschaftsordnungsbegriff von Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 1952, S. 23; vgl. statt vieler Scherer (Fn. 4), S. 41 f.
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antwortlich fühlen wollte. 12 Dennoch entwickelte sich ein hinreichendes Maß an Übereinstimmung. So bezeichnet „Wirtschaftsverfassung" in der juristischen Diskussion zunächst allgemein die rechtliche Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung durch die Verfassung, Gesetze und Verordnungen als einen die Handlungsformen und Handlungsmöglichkeiten des Staates begrenzender Normenkomplex. 13 Wirtschaftsverfassung in diesem juristischen Sinn gibt es nicht seit jeher und überall, sondern nur dort, wo das Wirtschaftsleben durch ein Normensystem verbindlich geregelt ist. Dann unternimmt das Wirtschaftsverfassungs-„Recht" die rechtliche Festlegung des Wirtschaftssystems in seinen allgemeinen Strukturen und Funktionen, wobei als Typen der Rationalität zur Erfassung wirtschaftlicher Vorgänge hierbei die Modelle „Markt" und „Plan" gelten. Dies entspricht wiederum den gegensätzlichen Instrumenten von „Wettbewerb" und „Intervention". 14 Uneinigkeit besteht aber über den Rang und den Umfang dieser Normen. So kommt es in der juristischen Diskussion zu einer Trennung von „Wirtschaftsverfassung im engeren Sinne" bezogen ausschließlich auf Normen im Text der formellen Verfassungsurkunde und „Wirtschaftsverfassung im weiteren Sinne", welche sich zusätzlich auf alle anderen wirtschaftlich relevanten in sonstigen Gesetzen und Verordnungen fixierten Regelungen erstreckt. 15
12 Mutmaßung von Thiele (Fn. 1), S. 10. So wurde der Begriff anfangs für den juristischen Bereich als genauso „vielfältig wie unsauber und somit unbrauchbar" abgelehnt; dazu Mussler (Fn. 11), S. 16 m.w.N. So bereits seinerzeit Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 96 ff.; Ehmke (Fn. 10), S. 7 ff.; dagegen zutreffend Mestmäcker, DÖV 1964, 608 ff. 13 Etwa Badura (Fn. 1), S. 9 f.; Schäffer, FS Winkler, 1997, S. 933; Scherer (Fn. 4), S. 43 m.w.N. Einen Überblick über die unterschiedlichsten Definitionen und Abgrenzungen geben zudem Mussler (Fn. 11), S. 17, und Thiele (Fn. 1), S. 10 ff. 14 Treffend Kilian (Fn. 4), Rn. 202; näher Mestmäcker, Die Wirtschaftsverfassung der EG zwischen Wettbewerb und Intervention, in: Bruha/Hesse/Nowack (Hrsg.), Welche Verfassung für Europa? 2001, S. 163 ff. Die Dimensionen des Begriffs erfasst Assmann, Die Transformationsprobleme des Privatrechts und die Ökonomische Analyse des Rechts, in: Assmann/Kirchner/Schanze (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Rechts, 2 Aufl., 1993, S. 17, 23: „Wirtschaftsverfassung intendiert ...die Koppelung der Zonen von Politik und Ökonomie durch die Sicherung ihrer Autonomie über die rechtliche Vermittlung"; näher zu Staatsformen und Wirtschaftsformen in ihrer geschichtlichen Entsprechung Frotscher (Fn. 1), Rn. 13 ff. 15
Zur Differenzierung näher Badura (Fn. 10), S. 26 ff.; Gabler, Lexikon Recht in der Wirtschaft, 1998, S. 1098; Scherer (Fn. 3), S. 42 m.w.N. Weitgehend zu Recht wird die Verwendung des Wirtschaftsverfassungsrechtsbegriffs in den Bereichen nationalen Rechts ausschließlich in einem engeren Sinne favorisiert, so dass auch in dieser Untersuchung nur Teile des geschriebenen Verfassungsrechts als (deutsche) Wirtschaftsverfassung gelten sollen; dazu statt vieler Mussler (Fn. 11), S. 19, und Thiele (Fn. 11), S. 13; abweichend etwa Vollmer (Fn. 5), S. 25, mit dem Hinweis, dass die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik auch auf einfachgesetzlicher Ebene, namentlich auf der Grundlage des StabG und des GWB organisiert wurde. Zu weiteren Differenzierungen
Begriff, System, Grenzen deutscher und europäischer Wirtschaftsverfassung
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II. Die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes /. Die Kompromiss-Struktur
der Weimarer Reichsverfassung
Das Grundgesetz widmet der Wirtschaftsordnung kein eigenes Kapitel. Im Unterschied hierzu enthielten die Weimarer Reichsverfassung vom 11.8.1919 und verschiedene Länderverfassungen der deutschen Nachkriegszeit selbstständige Abschnitte über das Arbeits- und Wirtschaftsleben. 16 Mit dem „begrifflichen Zutagetreten'4 dieser Normen der Weimarer Reichsverfassung wurde die Feststellung begründet, dass Deutschland seit dem Jahr 1919 eine „Wirtschaftsverfassung 44 besitzt. Somit war der Gedanke einer Wirtschaftsverfassung „namhaft 44 geworden. 17 15 teilweise sehr umfangreiche Vorschriften des 5. Abschnittes (Art. 151Art. 165 WRV) spiegelten sowohl deutlich sozialistisches wie aber auch individualistisch-liberales Gedankengut wider. So war es seinerzeit nicht gelungen, mit einer „Gesamtentscheidung44 fur eine bestimmte Wirtschaftsform die Grundlinien einer neuen und in sich geschlossenen Wirtschaftsverfassung zu entwikkeln. Die „Kompromissstruktur 4418 der Weimarer Republik zeigte sich somit auch hier in der Fülle gegenseitiger Zugeständnisse und dem Nebeneinander individualistischer und sozialistischer Forderungen, die von einem „Gewirr von Wettbewerb, Konzentration und Planung44 beherrscht wurden. Die eigentliche und rechtspraktisch gravierende Schwäche bestand jedoch darin, dass die Weimarer Reichsverfassung zwar Grundrechte der Bürger kannte, diese aber als Rechte verstand, die von Seiten des Staates lediglich gewährt werden. Die Vorschriften über das Wirtschaftsleben waren daher kein aktuelles, die Staatsgewalt unmittelbar verpflichtendes Recht, sondern wurden als bloße Richtlinien, etwa als an den Gesetzgeber gerichtete Programmsätze und als Auslegungsregel, nicht aber als Maßstab für das richterliche Prüfungsrecht, betrachtet. Hieraus hat der Grundgesetzgeber 1949 die Konsequenz gezogen und in Art. 1 Abs. 3
in Abgrenzung unter anderem zum „Wirtschaftsverwaltungsrecht im weiteren und engeren Sinne" näher Frotscher (Fn. 1), Rn. 8. 16 Etwa Art. 151 ff. BayVerf., 27 ff. HessVerf., 38 ThürVerf., die insoweit der Verfassung des Deutschen Reiches gefolgt waren; vgl. hierzu die Zusammenstellung bei Frotscher (Fn. 1), Rn. 23 Fn. 30; Badura (Fn. 10), S. 205, spricht von einem „Regelungsdefizir. 17
Im Sinne einer umfassenden Verfassungsregelung ist der Abschnitt „Das Wirtschaftsleben" in der Weimarer Reichsverfassung eine erstmalige höchstrechtliche Zusammenstellung; zum „begrifflichen Zu-Tage-Treten" plastisch Thiele (Fn. 1) S. 89 f. 18 Formel bei Thiele (Fn. 10), S. 87, 90; ausführlich zur Weimarer Reichsverfassung Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 1997, Rn. 478 f f , sowie Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 272 f f , 342 ff. Abdruck aller 15 Vorschriften bei Frotscher (Fn.l), Rn. 23, sowie Thiele (Fn. 1), S. 91 ff.
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GG ausdrücklich die Bindung der staatlichen Gewalten an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht angeordnet. 19
2. Wirtschaftsverfassungsrechtliche
Befunde im Text des Grundgesetzes
Der bundesdeutsche Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht ist nicht neu und liegt weit zurück. Er schlug sich vor allem in den 1950er Jahren im so genannten nahezu „klassischen" Streit um die „Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes" nieder. 20 Zu den verfassungsrechtlich geregelten Grundfragen des Staates gehören auch die Wirtschaftsordnung und die Wirtschaftspolitik. Ausdrücklich oder implizit, das heißt durch Auslegung, sind dem Text des Grundgesetzes somit die Grundprinzipien der Wirtschaftsordnung sowie die Zuständigkeiten und Verfahren der deutschen Wirtschaftspolitik zu entnehmen. Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt einer ersten Bestandsaufnahme und nachvollziehbar Auslöser der anhaltenden rechts-wissenschaftlichen Diskussionen ist, dass das Grundgesetz kein bestimmtes Wirtschaftssystem etwa ausdrücklich in Form eines Verfassungsprinzips festlegt. Jedenfalls in diesem Sinne ist die Bundesrepublik kein Wirtschaftsstaat und die Wirtschaftsverfassung keine Staatszielbestimmung. Dies entspricht - im Unterschied zu einigen jüngeren Verfassungen wie der spanischen und der portugiesischen, die beispielsweise Bekenntnisse zum Staatsziel Marktwirtschaft bestimmen - ebenso der Verfassungslage in der Schweiz und in Österreich. 21 Normativ zugespitzt lautet die Frage, ob gleichwohl von einer Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes in dem Sinne gesprochen werden kann, dass das Grundgesetz eine ganz bestimmte und prinzipielle wirtschaftsordnende Entscheidung getroffen hat und die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und der
19 Treffend Frotscher (Fn. 1), Rn. 28 m.w.N.; Badura (Fn. 1), S. 8 f.; Thiele (Fn. 10), S. 99; zur Bindung an die Grundrechte des Grundgesetzes vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschlands, 20. Aufl., 1999, Rn. 345 ff. 20
Zur Gesamtproblematik vgl. aus der umfangreichen älteren und neueren Literatur etwa Badura, FS Stern, 1997, S. 409, 414 f f ; ders. (Fn. 1), S. 9 ff., ders. (Fn. 10), S. 205 ff.; Bäumler, D Ö V 1979, 325 ff.; Ehmke (Fn. 12), S. 7 ff., 18 ff.; Frotscher (Fn. 1), Rn. 28 ff.; Huber, D Ö V 1956, 97 ff., 135 ff., 172 ff., 200 ff.; Karpen, Wirtschaftsordnung und Grundgesetz, 1979, S. 29 ff.; Mussler (Fn. 11), S. 51 ff.; Häberle (Fn. 5), S. 538 f.; Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 15. Aufl., 2006, S. 38 ff.; Tettingen DVB1. 1999, 679 ff.; Thiele (Fn. 1), S. 127 ff. 21 Darauf verweist Stober (Fn. 20), S. 38 f. m.w.N. Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied der Bundesverfassung zur europarechtlichen Rechtslage, da der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in Art. 4 Abs. 1 EG die Verpflichtung auf den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" expressis verbis verkündet; näher dazu unten III. 3. 1.
Begriff, System Grenzen deutscher und europäischer Wirtschaftsverfassung
343
normative Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers auf diesen prinzipiellen Rahmen zwingend festgelegt wären. Dies veranlasste und veranlasst zu der Frage, ob das Grundgesetz (Wirtschaftsverfassung im engeren Sinne) dennoch aufgrund grammatikalischer, verfassungssystematischer und rechtshistorischer Verfassungsanalyse zwingend normiert, nach welchen rechtlichen Grundsätzen das Wirtschaftsleben zu gestalten ist, welche Einwirkungsmöglichkeiten auf die Wirtschaft der Staat hat und „welche Grenzen seinem wirtschaftlichen Tatendrang" 22 zu ziehen sind. Die Suche nach einer rechtsmethodisch gesicherten Antwort hierauf hat in einer Art staatstheoretischen und verfassungsrechtlichen „Gesamtschau" bei dem Text des Grundgesetzes anzusetzen: Neben der zentralen Kompetenzvorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG finden sich in dem Grundrechtekatalog des Grundgesetzes allerdings vergleichsweise wenige wirtschaftspolitische Vorgaben bzw. aussagekräftige Hinweise auf wirtschaftliche Freiheiten und Schranken. Hier zeigt sich das Grundgesetz eher zurückhaltend. Gleichwohl sind insbesondere die Art. 2, 9, 12, 14 und 15 GG für die Analyse eines wirtschaftsverfassungsrechtlichen Befundes von ausschlaggebender Bedeutung. Denn Grundrechte schaffen Voraussetzungen für die Realisierung von Wirtschaftssystemen. Sie signalisieren vom Staat zu beachtende Wertvorstellungen, die auch im Wirtschaftsbereich relevant werden können. Art. 15 GG beispielsweise gestattet die Überfuhrung von Produktionsmitteln in Formen der „Gemeinwirtschaft" und Art. 9 Abs. 3 GG spricht von „Wirtschaftsbedingungen". Aber auch die in den in Art. 20, 20a, 23, 28, 91a Abs. 1 Nr. 2 und 109 Abs. 2 GG verankerten Zielvorgaben bzw. Staatsprinzipien sind nicht ohne wirtschaftspolitischen Interpretationsgehalt. 23
3. Die rechtswissenschaftliche
Diskussion
Der Überblick zeigt, dass wenige wirtschaftsrechtlich relevante Vorschriften über das ganze Grundgesetz verstreut sind. Zwar werden punktuell wichtige
22 Begriffsbildung bei Frotscher (Fn. 1), Rn. 12; zur Methodik der Feststellbarkeit bzw. zur Methode der Nachweisbarkeit einer Wirtschaftsverfassung näher Badura (Fn. 1), S. 8, 10 ff, sowie ausführlich Thiele (Fn. 10), S. 21 ff. Maßgeblich ist die Frage nach der Wirtschaftsverfassung im engeren Sinne, dazu oben Fn. 15. 23 Treffend Stober (Fn. 20), S. 39 f.; vgl. zudem die Zusammenstellung bei Frotscher (Fn. 1), Rn. 28 f f ; Karpen (Fn. 20) Wirtschaftsordnung und Grundgesetz, 1979, S. 35 ff, sowie Thiele (Fn. 10), S. 127, 134 f f , der zudem auch die Art. 1, 5, 6, 10, 11 GG für die wirtschaftsverfassungsrechtliche Befundsuche für bedeutsam erachtet, was „häufig übersehen" würde. Zur Terminologie kritisch seinerzeit Euchen (Fn. 11), S. 23: „Die häufig benutzte Bezeichnung Wirtschaftsverfassung erscheint jedoch missverständlich; sie suggeriert, dass das Grundgesetz eine Wirtschaftsverfassung im materiellen Sinne vorgibt; in Wahrheit enthält es nur Einzelbestimmungen, die auch, in wenigen Fällen in erster Linie, fur die Wirtschaft gelten".
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Fragen des Wirtschaftslebens geregelt, allerdings bleiben wesentliche Aspekte auch unerwähnt. Beispielsweise ist ausdrücklich weder von Wirtschaftsverbänden, von Arbeitskampf, Mitbestimmung und anderen Kernfragen der Wirtschaftsordnung die Rede. Die soziale Marktwirtschaft kommt im Grundgesetz nicht vor, und die marktwirtschaftliche Ordnung wird lediglich in den unterverfassungsrechtlichen Bestimmungen des § 1 Stabilitätsgesetz und in § 24 Abs. 3 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen erwähnt. Welche nicht lediglich akademisch phantasievolle, sondern rechtspraktisch bedeutsame Aussage lässt sich daher aus der vorstehenden Skizze wirtschaftsbezogener Grundgesetztextstellen belegen? Grob gegliedert lassen sich an sich drei Standpunkte einnehmen: Erstens: das Grundgesetz hat sich fiir eine bestimmte Wirtschaftsordnung entschieden, zweitens: es hat sich bewusst nicht entschieden und verpflichtet die Staatsorgane damit zur Neutralität, und drittens: das Grundgesetz hat Einzelfragen geregelt, ist aber, wenn diese beachtet werden für die Gestaltung verschiedener Wirtschaftsordnungen offen. 24 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung wurde ursprünglich nicht von drei, sondern von zwei Extrempositionen bestimmt. Auf der einen Seite, wurde gewissermaßen paradigmatisch von Nipperdey von Anfang an die Auffassung vertreten, dass nur die „Wirtschaftsverfassung der sozialen Marktwirtschaft durch das Grundgesetz als einzig zulässige Wirtschaftsordnung gewährleistet" sei. Nipperdey orientierte seine Rechtsauffassung an einer objektiv-rechtlichen (überstrapazierten) Auslegung der Grundrechte der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Freiheit der Berufswahl (Art. 12 GG). 25 Auf der anderen Seite steht die insbesondere seinerzeit von Krüger vertretene Extremposition, dass „es eindeutig feststeht, dass das Grundgesetz eine positive Entscheidung über die Wirtschaftsverfassung nicht enthält", woraus sich zwingend eine bewusste wirtschaftsverfassungsrechtliche Nichtentscheidung ergäbe. 24 Zu den grundsätzlich denkbaren Standpunkten vgl. Karpen (Fn. 20), S. 42 f. Alle Standpunkte sind vertreten worden und werden es noch. Hier können nicht, etwa mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, alle Facetten der jahrzehntelangen Diskussion wiedergegeben werden. Die Darstellung beschränkt sich vielmehr auf eine Übersicht der unterschiedlichen Interpretationslinien und Modellannahmen, soweit diese für das rechtsvergleichende Verständnis der europarechtlichen Bestandsaufnahme notwendig sind. 25 Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, Kartellrundschau, Heft 2, 2. Aufl., 1961, S. 251; im Ergebnis wie Nipperdey in neuerer Zeit Schmidt-Preuß, DVB1. 1993, 236 (239 ff.); Bleckmann, JuS 1991, 536 (539); Folz, Die Soziale Marktwirtschaft als Staatsziel?, 1994, S. 5, und mit der strikten Forderung, die „soziale Marktwirtschaft auf Verfassungsstufe zu heben" neuerdings Häberle (Fn. 5), S. 538. Zur gesamten Problematik instruktiv Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung, 1992, S. 19 f f ; Frotscher (Fn. 1), Rn. 28 ff. m.w.N., sowie Thiele (Fn. 10), S. 148; vgl. umfassend zu Nipperdey und der Problematik der rechtlichen Verankerung der sozialen Marktwirtschaft und ihrer Vor- und Nachteile Bleckmann, 55. DJT Gutachten, 1984, S. D 2 3 f f .
Begriff, System, Grenzen deutscher und europäischer Wirtschaftsverfassung
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Denn das Grundgesetz habe grundsätzlich und bewusst Abstinenz geübt. Dies veranlasste Krüger zu dem Schluss, dass die Nichtentscheidung als Verfassungsgrundsatz anzusehen sei. 26 Diese Position der „Nicht-Entscheidung" fur ein bestimmtes Modell übersieht, dass das Grundgesetz gleichwohl bestimmte wirtschaftspolitische Grundentscheidungen vorgenommen hat. Insbesondere setzen sämtliche wirtschaftlichen Freiheitsrechte, die nachweisbar positiv gewährt werden und somit keine „Nichtentscheidungen" sein können, eine marktwirtschaftliche Ordnung nicht nur voraus, um überhaupt entfaltet werden zu können, sondern sie konstituieren „umgekehrt eine solche Ordnung geradezu". 27 Neben und/oder in Abwandlung dieser Extrempositionen werden im rechtswissenschaftlichen Schrifttum weitere Modelle grundgesetzlich geforderter Wirtschaftsordnungen herausdestilliert: Beispielsweise sieht Huber eine „gemischte Wirtschaftsverfassung" als garantiert, die durch das „Neben- und Gegeneinander von grundrechtlichen Wirtschaftsfreiheiten und Sozialbindungen konstituiert würde. 28 Abendroth wiederum stellte die These auf, das Grundgesetz lasse nicht nur jede Wirtschaftsordnung zu, sondern würde in Konsequenz des Art. 15 GG als einer „Art Alternativ-Wirtschaftsverfassung" eine „sozialistische Umgestaltung" ohne Verfassungsänderung ermöglichen. Eine derartige Überbetonung des Art. 15 GG wird jedoch den grundgesetzlichen Freiheitsverbürgungen nicht gerecht. 29 Bleckmann äußert pauschalisierend, das marktwirtschaftliche System sei „in irgendeiner Form im Grundgesetz verankert", während Rupp die bestehende marktwirtschaftliche Ordnung ausdrücklich in Verfassungsrang erheben will. 3 0 Diesen Ansatz konkretisierend werden insbesondere von Vollmer, Basedow sowie Sodan aus den Grundrechten eine Entscheidung fur eine „Wettbewerbsordnung", eine „Funktionsgarantie der Marktwirtschaft" oder ein „Vorrang der Privatheit" als tragende Prinzipien des Grundgesetzes herausgearbeitet. 31 Zuck schließlich vertritt in (überschätzender) Interpretation des Erfordernisses des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" (Art. 109 Abs. 2 und 4 GG und die Stabilitätsgesetzgebung des Jahres 1967) die Auffassung, fur die Bundesrepu26 Krüger, DVB1. 1951, 361 f f ; ähnlich Burmeister, Vom staatsbegrenzenden Grundrechtsverständnis zum Gundrechtsschutz für Staatsfunktionen, 1971, Einleitung S. I, der in das Grundgesetz das gezeichnete Bild eines „Staates ohne Konzepte" deuten möchte. 27 Überzeugend Mussler (Fn. 11), S. 51 f. m.w.N.; vgl. auch Thiele (Fn. 1), S. 137 f. 28 Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, 2. Aufl., 1953, S. 30; ders., DB 1969, 144; näher Badura (Fn. 1), S. 206. 29
Zutreffend Frotscher (Fn. 1), Rn. 32, zu Abendroth, Das Grundgesetz, 7. Aufl., 1978, S. 65 ff., 69. 30 Bleckmann (Fn. 25), S. 42; Rupp, Grundgesetz und Wirtschaftsverfassung, 1974, S. 20. 31
Vollmer
(Fn. 5), S. 25 f f ; Basedow (Fn. 25); weitere Nachweise bei Stober (Fn.
20), S. 39 f.; ähnlich auch Sodan, DÖV 2000, 361 ff.
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blik Deutschland sei „eine globalgesteuerte Marktwirtschaft" zwingend vorgegeben.32
4. Die „wirtschaftspolitische
Neutralität"
des Grundgesetzes
Aufgrund der dargestellten Verfassungs läge ist zweifelhaft, ob das Grundgesetz zwingend vorgibt, nach welchen rechtlichen Grundsätzen das Wirtschaftsleben zu gestalten ist und es daher eine bestimmte Wirtschaftsverfassung vorschreibt. Auch sei daran erinnert, dass die Väter des Grundgesetzes von dem Gedanken getragen waren, aus der Erfahrung von Weimar zu lernen, denn dem Übermaß an Staat sollte Einhalt geboten werden. Die Summe des Wortlautes der denkbar als wirtschaftsverfassungsrechtlichem Befund dienenden Vorschriften erlaubt keinen sicheren Schluss in die eine oder andere Richtung. Zudem ist verfassungssystematisch zu berücksichtigen, dass sich im Grundgesetz nebeneinander Vorschriften mit liberalwirtschaftlichem Gehalt (z.B. Vertragsfreiheit und Eigentumsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 und 14 GG) und Bestimmungen mit zentralwirtschaftlichem Inhalt (z.B. Vergesellschaftung von Grund und Boden nach Art. 15 und 74 Abs. 1 Nr. 15 GG) finden. Daher legt die Verfassung allenfalls das Gerüst fiir die Voraussetzungen eines Marktes. Wobei die Grundrechte zwar die völlige Aufhebung eines Marktes verhindern, jedoch ist der Staat nicht auf marktkonforme Steuerung beschränkt. 33 Das BVerfG argumentiert daher zutreffend, dass das Grundgesetz in der Frage der Wirtschaftsordnung sehr zurückhaltend sei. Denn das Grundgesetz enthält keine systematische Zusammenfassung, sondern spricht in verschiedenen Vorschriften nur einzelne Aspekte gesondert an. Es lasse daher die Frage der Wirtschaftsverfassung bewusst offen, um freier Auseinandersetzung, Entscheidung und Gestaltung Raum zu lassen. Insbesondere binde es den Gesetzgeber nicht an eine bestimmte wirtschaftspolitische Auffassung. So schreibe es vor allem nicht etwa die soziale Marktwirtschaft oder die Beibehaltung einer bestimmten anderen Wirtschaftspolitik zwingend vor, wobei die „wirtschaftspolitische Neutralität" des Grundgesetzes lediglich darin bestehe, dass sich der Verfassungsgeber eben nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden habe. Die jeweils gegenwärtige Wirtschaftsordnung sei lediglich eine nach dem Grundgesetz mögliche, nicht aber die allein mögliche. Sie beruhe auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen Wirtschaft- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbro32 Zuck, NJW 1967, 1301 ff.; ders., BB 1967, 805 (809). Zu den vorstehend skizzierten verschiedenen Standpunkten im Schrifttum vgl. näher Frotscher (Fn. 1), Rn. 28 f f ; Stober (Fn. 20), S. 39 f., und die Kurzübersicht bei Alpmann, Brockhaus Fachlexikon Recht, 2004, S. 1571. 33 Vgl. dazu Stober (Fn. 20), S. 40; BVerfGE 4, 7 (17); Siems, ZRP 2002, 170 ff.
Begriff, System, Grenzen deutscher und europäischer Wirtschaftsverfassung
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chen werden könnte. So trage das in der Verfassungsurkunde zutage tretende Element relativer Offenheit dem geschichtlichen Wandel Rechnung, der in besonderem Maße das wirtschaftliche Leben kennzeichne.34 Der Meinung des BVerfG ist zu folgen, denn sie entspricht der vorstehend vorgenommenen verfassungsrechtlichen Analyse und den allgemeinen Maßstäben juristischer Methodenlehre bzw. der Verfassungsinterpretation. Diese Auffassung findet zudem ihre Rechtfertigung in dem Grundgedanken, dass die Gesetzgebung der parlamentarischen Demokratie das wesentliche Verfahren der Gestaltung und Veränderung der Sozialordnung ist.
5. Thesen •
Das Grundgesetz enthält keine Systementscheidung, die in ihrer Tragweite über die besonderen wirtschaftsrechtlichen Garantien einzelner Grundrechtsartikel hinausgeht. Einzelstücke wirtschaftsverfassungsrechtlicher Textstücke des Grundgesetzes können nicht zu einer geschlossenen Wirtschafitsverfassung im Sinne eines konkreten Wirtschaftsordnungsmodells zusammengetragen werden. Der Gesichtspunkt der „Wirtschaftsverfassung" scheidet somit als eigenständige verfassungsrechtliche Prüfkategorie aus.
•
Vielmehr hat der Verfassungsgeber sich nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden.
•
Das Grundgesetz schließt jedoch solche marktwirtschaftlichen Ordnungen aus, welche als System reiner marktwirtschaftlichen Freiheit die sozialen und sozialrechtlichen Ziele der Verfassung (Art. 14, 15, 20, 28 GG) nicht zu realisieren erlauben (totaler wirtschaftlicher Liberalismus, „Manchester").
•
Es schließt zudem auch verwaltungswirtschaftliche Ordnungen aus, die die individuellen Freiheitsverbürgungen des Grundgesetzes (Art. 2, 9, 11, 12, 14 GG) inhaltslos machen würden (etwa totale staatliche Planwirtschaft, Staatssozialismus, eine staatliche Kommandowirtschaft oder eine totale staatswirtschaftliche Eigenbetätigung).
•
Von diesen extremen Positionen abgesehen kann der demokratisch legitimierte Gesetzgeber die ihm jeweils sachgemäß erscheinende Wirtschafts-
34
Ausdrücklich BVerfGE 4, 7 (18), weiterführend BVerfGE 50, 290 (366 ff); vgl auch OVG Münster, DÖV 1986, 339; Badura (Fn. 1), S. 10 f.; Frotscher (Fn. 1), Rn. 34 f.; Stober (Fn. 20), S. 40 f.; Hesse (Fn. 19), Rn. 22. Die wirtschaftspolitische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers betonen zudem BVerfGE 21, 73 (78); 25, 1 (19 f.); 30, 292 (317 ff.).
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politik verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die bundesstaatliche Kompetenzverteilung, den sozialstaatlichen Auftrag, die rechtsstaatlichen Verfassungsgrundsätze und die grundrechtlichen Freiheiten und Garantien beachtet. Wenn der Bundestag wirtschaftspolitische Gesetze erlässt, kann er also nicht davon ausgehen, dass in diesem Bereich eine Art „verfassungsfreier Raum" vorgegeben ist. In diesem Sinne ist das Grundgesetz „relativ offen" und „wirtschaftspolitisch neutral". 35 Diese Position fuhrt auch zu justiziablen und damit rechtspraktisch eindeutigen Ergebnissen, wie beispielsweise die bei Frotscher entwickelte Lösung seines „Fall 1 Investitionshilfe fiir die Energiewirtschaft" überzeugend belegt.36 Es darf auch nicht übersehen werden, dass jede Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen einer verfassungsmäßigen Ordnung der Wirtschaft in der Bundesrepublik (und auch in Europa) von dem Gegensatz zwischen dem Primat der Politik und seiner Bindung an ökonomisch begründete Prinzipien geprägt ist. In diesem interdisziplinären Spannungsfeld erscheint es fraglich, ob in gleicher Fallgestaltung eine wirtschaftsverfassungsrechtliche Überprüfung, also eine Subsumtion unter typisierte wirtschaftspolitische Modellvorstellungen eindeutige Ergebnisse zugelassen hätte. So kann im wirtschaftswissenschaftlichen Schrifttum zwar offen bleiben, wie diese ein Wirtschaftssystem prägenden Prinzipien (Modelle, soziale Marktwirtschaft und anderes) rechtlich normiert werden. Rechtswissenschaftlich muss jedoch die Frage der Justiziabilität im Vordergrund stehen, inwieweit solche Prinzipien überhaupt normierbar und insbesondere wieweit sie justiziabel sind. 37
6. Wirtschaftsverfassungspolitik
und Wiedervereinigung
Durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik nach Art. 23 GG a.F. hat die Teilung Deutschlands am 3.10.1990 ihr Ende gefunden. Es könnte
35
Stober (Fn. 20), S. 41, spricht überzeugend von der Offenheit des Grundgesetzes im wirtschaftlichen Bereich als einer „großen Chance", gestatte sie es doch, „flexibel auf neue Aufgabenstellungen, wechselnde Anforderungen sowie gesellschaftlichen Wandel zu reagieren." 36 „..es ist rechtlich ohne Bedeutung, ob das umstrittene Investitionshilfegesetz mit der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialordnung im Einklang steht und ob das zur Investitionslenkung eingesetzte Mittel marktkonform ist oder nicht. Nur der Verstoß gegen konkrete einzelne Verfassungssätze könnte den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit rechtfertigen." Vgl. Frotscher (Fn. 1), Rn. 38, so auch ausdrücklich BVerfGE 4, 7(18). 37 Näher dazu Mestmäcker, Zur Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union, in: Hasse/Molsberger/Watrin (Hrsg.), Ordnung in Freiheit, 1974, S. 263, 268; näher zum verfassungshistorischen Hintergrund der deutlichen Zurückhaltung und Skepsis des Grundgesetzes in den Fragen der Wirtschaftsordnung bei Badura (Fn. 1), Rn. 15; Stober (Fn. 20), S. 40 f. m.w.N.
Begriff, System, Grenzen deutscher und europäischer Wirtschaftsverfassung
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fraglich sein, ob sich die wirtschaftsverfassungsrechtliche Ausgangslage dadurch geändert hat, dass das Wirtschaftssystem der „sozialen Marktwirtschaft" in Art. 1 Abs. 3 Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18.5.199038 ausdrücklich festgeschrieben wurde. Damit wurde erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte in einem grundlegenden, von allen wesentlichen politischen Kräften getragenen Regelungswerk ein ausdrückliches Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft abgelegt und möglicherweise die deutsche Wirtschaftsverfassung vorgegeben. Teilweise wird in dieser Aussage eine verfassungsgestaltende Entscheidung über die Wirtschaftsordnung gesehen. Der Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18.5.1990 und somit sein Art. 1 Abs. 3 haben jedoch keinen Verfassungsrang. Keinesfalls handelt es sich um eine Verfassungsänderung des Grundgesetzes. Denn das Erfordernis der ausdrücklichen Verfassungstextänderung in Art. 79 Abs. 3 GG lässt eine Art „stillschweigende" Modifikation des Grundgesetzes nicht zu. 39 Art. 1 Abs. 3 des Vertrages kann daher nicht zur „authentischen Interpretation" des höherrangigen Grundgesetzes herangezogen werden. Der Vertrag ist gewissermaßen lediglich Ausdruck der praktizierten Wirtschaftsordnung. 40 Dazu kommt, dass die gemäß Art. 5 E in igungs vertrag eingesetzte Gemeinsame Verfassungskommission die Problematik wirtschaftspolitischer Klauseln zwar diskutiert hat, eine Festschreibung expressis verbis hat sie jedoch weder in ihrem Bericht benannt noch eine Empfehlung an den Gesetzgeber ausgesprochen. Folgerichtig enthielt die Grundgesetznovelle vom 27.10.1994 auch keine entsprechende wirtschaftsverfassungsrechtliche Aussage und beließ hier gewissermaßen „alles beim Alten". 41
38 BGBl. II S. 537; näher zu den rechtlichen Grundlagen der deutschen Vereinigung etwa Hesse (Fn. 19), Rn. 95 ff., und Badura (Fn. 20), S. 411, 419 f. Zur Wirtschaftsverfassung der ehemaligen DDR vgl. statt vieler Thalheim, Ideologische und politische Grundlagen des Wirtschaftssystems der DDR, sowie Zieger, Die Wirtschaftsverfassung der DDR, in: Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftspolitik der DDR, Reihe Studien zur Deutschlandfrage Band 8, 1984. 39 Diesen erheblichen Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung betont Frotscher (Fn. 1), Rn. 35. 40 Etwa Frotscher (Fn. 1), Rn. 35; Schmidt- Ρreuß, DVB1. 1993, 236 ff. m.w.N., sowie Stober (Fn. 20), S. 41 f.; anders insoweit Badura (Fn. 20), S. 409, 419 f., der in der Aussage des Art. 1 Abs. 3 eine verfassungsgestaltende Entscheidung über die Wirtschaftsordnung sehen will. Zwei „neue" Bundesländer haben die „ökologisch-soziale" Marktwirtschaft verfassungsrechtlich als Staatsziel abgesichert. Art. 38 ThürVerf. formuliert: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens hat den Grundsätzen einer sozialen und der Ökologie verpflichtenden Marktwirtschaft zu entsprechen"; siehe auch Art. 42 Abs. 2 S. 1 BbgVerf. Wegen des Vorranges bundesrechtlicher, insbesondere höherrangiger grundgesetzlicher Wirtschaftsaussagen sind diese Bestimmungen jedoch allenfalls von einer Art deklaratorischen Bedeutung. 41
Vgl. BT-Drs. 12/6000; dazu näher Stober (Fn. 20), S. 41.
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III. Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft 1. Grundgesetzliche und gemeinschaftsrechtliche
Wirtschaftsverfassung
Die wirtschaftspolitische Gestaltungsfreiheit des deutschen und aller übrigen Gesetzgeber der europäischen EG/EU-Mitgliedstaaten könnte jedoch durch den europäischen Integrationsprozess eingeschränkt sein. Das folgt bereits aus dem Anwendungsvorrang 42 des Europarechts im Verhältnis zum nationalen Recht der Mitgliedstaaten. Daher ist die Frage nach einer deutschen Wirtschaftsverfassung ganz wesentlich aus der Blickrichtung des Europarechts und hier der unter anderem in Art. 23 GG verankerten ökonomischen und rechtlichen Einbindung in die Europäische Gemeinschaft zu problematisieren. Aus dieser Perspektive könnte das grundgesetzlich immanente Konzept der relativen Offenheit in Frage zu stellen sein. Denn Art. 4 Abs. 1 EG 4 3 bestimmt ausdrücklich, dass die Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft „dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist". Möglicherweise scheint daher der Streit um die deutsche Wirtschaftsverfassung zumindest partiell überholt zu sein. Erinnert sei auch an eine Entschließung des Europäischen Parlaments zur Verfassung der Europäischen Union aus dem Jahre 1994, die seinerzeit betonte, Ziel der Union sei unter anderem „die Entwicklung eines Rechts- und Wirtschaftsraumes ohne Binnengrenzen, fur den der Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft gelte". 44 Ob diese Wertungen zutreffen, ist anhand einer Textanalyse des EG-Vertrages zu prüfen. Denn, was eine Wirtschaftsverfassung rechtlich ausmacht, welche Grenzen sie Hoheitsträgern und Privaten zieht, lässt sich nicht vorrangig aus einem bestimmten Wirtschaftsmodell, sondern nur aus
42 Zum Anwendungsvorrang des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts und der „Normenpyramide" vgl. statt vieler Herdegen, Europarecht, 8. Aufl., 2006, § 9 Rn. 1 f f ; Frotscher (Fn. 1 ), Rn. 36; Oppermann, Europarecht, 3. Aufl., 2005, § 7 Rn. 12; Stober (Fn. 20), S. 65; vgl. insoweit auch die bekannte „Solange"-Rechtsprechung des BVerfG mit den Beschlüssen in „Solange I" (BVerfGE 37, 371 ff.) sowie in „Solange Ι Γ (BVerfGE 89, 339 ff.). 43 Neue Zitierweise der europäischen Verträge: Insbesondere aufgrund der Umnummerierung der Artikel des Vertrages über eine Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft wendet der EuGH seit dem 1.5.1999 eine neue Zitierweise fur die Bestimmungen insbesondere des EU- und EG-Vertrages an. Wird auf eine Vorschrift in der ab dem Amsterdamer Vertrag (aktuell) geltenden Fassung verwiesen, werden der Zahl des Artikels jeweils nur zwei Buchstaben angefügt, die den jeweiligen Vertrag bezeichnen: EU für E*UV, EG für EGV, KS für EGKS und EA für EAGV; daher beispielsweise Art 4 „EG" statt veraltet Art. 4 „EGV"; dazu ausfuhrlich NJW 2000, 52. 44 Art. 2 Verfassungsentwurf, BT-Drs. 12/7074; zum Verfassungsvertrag näher unten Fn. 76.
Begriff, System, Grenzen deutscher und europäischer Wirtschaftsverfassung
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dem jeweils konkreten Normenbestand ableiten, ob hierdurch die Modellvorstellung eine Bestätigung findet. 45
2. Der Begriff,,
Verfassung"
im europäischen Kontext
Die Begrifflichkeit „Verfassung" als Bestandteil von „Wirtschaftsverfassung" bezieht sich herkömmlich auf einen Staat,46 wobei es bei den nationalen Verfassungen um die Beschränkung und Rationalisierung der Macht und Gewährleistung eines freien politischen Lebens geht. Dies stellte oben bei der Frage nach der Wirtschaftsverfassung im engeren Sinne des Grundgesetztes a priori kein Problem dar. Vorab ist jedoch begrifflich zu klären, ob im Vergleich zur deutschen verfassungsrechtlichen Terminologie auf europarechtlicher EG/EUEbene rechtsbegrifflich korrekt überhaupt von einer Wirtschafts-,,Verfassung" gesprochen werden kann. Denn bislang ist der Ausdruck „Europäische Union" völkerrechtlich lediglich die Funktionsbezeichnung für bestimmte institutionalisierte Formen der politischen Kooperation nach Maßgabe des so genannten Vertrages von Maastricht. 47 Grundlage des europäischen Einigungsprozesses waren und sind die ihrerseits rechtsfähigen Völkerrechtssubjekte der drei (heute noch zwei) „Europäischen Gemeinschaften". 48 Die „EU" ist ein auf den Bauelementen dieser völkerrechtlichen Gründungsverträge fußendes, im EU-Vertrag 45 Diese Untersuchung beschränkt sich nachstehend im Wesentlichen auf eine juristische Analyse der einzelnen Vertragsbestimmungen der primärrechtlichen Verträge (hauptsächlich des EG-Vertrages) und der Frage nach den konkreten rechtspraktischen Konsequenzen für das Handeln der EG und der Mitgliedstaaten. Eine notwendigerweise korrelativ umfassende ökonomische Analyse der gesamten institutionellen Veränderungen über die gleitende Entwicklung von 1957, dem Jahr des Abschlusses des EWGVertrages, bis 1986, dem Jahr des Inkrafttretens der Einheitlichen Europäischen Akte (Phase 1), die Entwicklung von 1986 bis zum Inkrafttreten des Unionsvertrages von Maastricht zum 1.11.1993 (Phase 2) und schließlich die wirtschaftspolitischen Koordinations- und Gestaltungsprobleme der Entwicklung danach bis heute (Phase 3) kann in dieser Untersuchung keinen Raum finden, hierzu vgl. insbesondere Clapham, APuZ
2004, 21 ff.; Mussler (Fn. 11 ), S. 91 ff.; Vollmer (Fn. 5), S. 25 ff. 46 Etwa Häberle (Fn. 5), S. 187; zum Staatsbegriff statt vieler bereits Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 101 ff., und zum Korrelat Staat und Verfassung grundlegend Hesse (Fn. 19), Rn. 6 ff. Mit dem Charakter einer rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens bestimmt eine treffend im staatsrechtlichen Sinne verstandene „Verfassung" als „Strukturplan für die Rechtsgestalt eines Staates" die Leitprinzipien, nach denen politische Einheit sich bildet und staatliche Aufgaben wahrgenommen werden sollen; vgl. Hesse, a.a.O., Rn. 17 ff. 47 Richtig „Vertrag über die Europäische Union" vom 7.2.1992, in Kraft seit dem 1.11.1993. 48 1951 der „Pariser Vertrag" mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl („Montanunion", kurz: „EGKS"), beendet 2002; 1957 die zeitlich unbegrenzten „Römischen Verträge" mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft, der „ E W G " und der „ E A G " (auch „Euratom").
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(Art. 1 Abs. 3) durch die Absprache politischer Zusammenarbeit (gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik: die „GASP", polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit: die „PJZS") erweitertes, nichtrechtsfähiges Gebilde eigener Art, das vom BVerfG begriffsschöpferisch als (nichtsrechtsfähiger) „Staatenverbünd" charakterisiert wurde. 49 Die EU selbst besitzt gegenwärtig weder Völkerrechtsfähigkeit noch Privatrechtsfähigkeit. Sie stellt auch keine eigenständige internationale Organisation, wie beispielsweise die „UNO" oder der „Europarat", dar. Insbesondere besitzen weder die fur die hiesige Fragestellung vorrangig maßgebliche rechtsfähige EG noch die nicht rechtsfähige EU Staatscharakter. Daher scheint es möglicherweise bereits ihr völkervertraglicher Charakter zu verbieten, von einer „Wirtschafitsverfassung der Europäischen Gemeinschaft" zu problematisieren? Denn die Terminologie „Verfassung" suggeriere zu Unrecht einen Staatscharakter der EG/EU. Somit könnte es terminologisch unzulässig sein, den Begriff Wirtschaftsverfassung, wie er für die Erörterung von Wirtschaft und Verfassung in einem Mitgliedstaat der Bundesrepublik Deutschland gewonnen wurde, an die EG (vormals „EWG") heranzutragen. Denn grundsätzlich wird der Begriff der Wirtschaftsverfassung als im engeren Sinne auf in einer Verfassungsurkunde niedergelegtes Wirtschaftsrecht verstanden. Daher wird die Begründung einer Wirtschaftsverfassung der europäischen Gemeinschaft verschiedentlich ganz in Abrede gestellt. 50 49 BVerfGE 89, 155 ff. Häufig wird zur plastischen Darstellung dieser für den Rechtslaien völlig unverständlichen Struktur der EU das Bild einer Art Tempelkonstruktion verwendet. Das Dach, das aus den „Gemeinsamen Bestimmungen" und den „Schlussbestimmungen" des EU-Vertrages besteht, wird von drei Säulen getragen. Die erste Säule umfasst die zwei Europäischen Gemeinschaften mit ihrem supranationalen „Gemeinschaftsrecht", insbesondere die „ E G " (frühere „EWG", Bezeichnung in „EG" geändert ab 1.11.1993) mit dem Binnenmarktkonzept und den „begehrten" Marktfreiheiten der Wohlstandsunion (Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit) des Art. 14 Abs. 2 EG; 2. Säule: Die Regierungszusammenarbeit im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik („GASP"; Art. 11 ff. EU) und 3. Säule: Die polizeiliche und justizielle Regierungszusammenarbeit in Strafsachen („PJZS"; Art. 29 ff. EU). Die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen EU-Organe in den drei Säulen sind unterschiedlich ausgeprägt. Während beispielsweise die Kommission in der „ersten supranationalen Säule" das alleinige Initiativrecht besitzt, hat sie in den anderen beiden Säulen - neben den Mitgliedstaaten - lediglich ein gleichberechtigtes Vorschlagsrecht; vgl. statt vieler Haratsch/König/Pechstein, Europarecht, 5. Aufl., 2006, S. 2; Scori , in: Sander/Scheel/Scorl (Hrsg.), FS Dittmann, 2005, S. 197 f.; Streinz, Europarecht, 7. Aufl., 2005, Rn. 86 ff. 50 So Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Gemeinschaft - Rechtsordnung und Politik, 3. Aufl., 1987, S. 61; Nicolaysen, Europarecht II, 1996, S. 320; van Themaat, FS von der Groeben, 1987, S. 425 ff.; kritisch fragend auch Scherer (Fn. 4), 1970, S. 69 m.w.N.; siehe zum Diskussionsstand die Zusammenstellungen bei Basedow (Fn. 25), S. 26 f f , und fragend Oppermann (Fn. 6), S. 53, 55 f f , sowie ausfuhrlich Mussler (Fn. 11), S. 48 f., 113 f.; m.w.N.; zum Verfassungsbegriff im formellen Sinne näher Ba-
dura (Fn. 1), S. 7 ff.
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Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. Denn der Verfassungsbegriff bringt in Bezug auf das EG- bzw. EU-Primärrecht den „Mehrwert" zum Ausdruck, der in der vorrangigen institutionellen und der entsprechend intensiven Einbindung ihrer Mitgliedstaaten liegt und bei einer rein völker(vertrags)rechtlichen Wertung nicht zutreffend, sondern nur verkürzt erfasst wäre. 51 Dazu kommt, dass Staat und Wirtschaft nicht mehr wie zu Zeiten des Liberalismus und des bürgerlichen Rechtsstaates einander entgegenzusetzen sind. Der demokratische Staat der Gegenwart ist vielmehr, um glückliche Formulierungen Frotschers und Hesses aufnehmen zu dürfen, ebenso wie die Wirtschaft, als ein „gesellschaftliches Teilsystem" als „ein Stück Selbstorganisation der modernen Industriegesellschaft" zu begreifen. 52 Hierzu entstand mit dem Beitritt Deutschlands zu den europäischen Gemeinschaften ein übergeordnetes Reverenzsystem. Verfassungstypisch grundlegende Fragen, ob die soziale Marktwirtschaft oder andere Formen der Marktwirtschaft festgeschrieben seien, ob eine Zentralverwaltungswirtschaft oder Vorformen derselben zulässig sind, richten sich nach den Gründungsverträgen der drei Gemeinschaften und heute weitgehend nach dem EG-Vertrag in der Fassung von Nizza. Dessen primärrechtlichen Grundentscheidungen sind in vertikaler Dimension für alle Mitgliedstaaten, nach der Osterweiterung zum 1.5.2004 insbesondere aber für die Wirtschaftspolitiken der Oststaaten, die sich teilweise noch im Prozess der Transformation von planwirtschaftlichen zu marktwirtschaftlichen Systemen befinden, von erheblichem Interesse.53 So begründet der vorrangige supranationale Staaten-Rechtsverbund der EG/ EU Hoheitsgewalt, legitimiert die unmittelbar verbindlichen durchsetzbaren Rechtsakte der Organe (Art. 5, 7, 249 EG), schafft eine Unionsbürgerschaft (Art. 17 ff. EG), regelt das Verhältnis von Hoheitsgewalt und Wirtschaft und von Recht und Politik. Sein „Verfassungscharakter" kann daher nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Rechtlich maßgeblich ist die Frage nach der „Wirtschaftsverfassung" der Gemeinschaft, diejenige nach den vertraglichen Grundlagen im primären Gemeinschaftsrecht (als „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft") sowie allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die „als Eckwerte das wirtschaftsrechtliche Leitbild der EG ergeben". 54
51 Näher zur terminologischen Ablösung der Verwendung des Verfassungsbegriffes von dem des Staates und seine Übertragung in den Bereich zwischenstaatlicher Beziehungen Langer, Grundlagen einer internationalen Wirtschaftsverfassung, 1995, S. 43 f. 52
Frotscher
53
V g l . Hatje (Fn. 7), S. 683 ff.
(Fn. 1), Rn. 17; Hesse (Fn. 19), Rn. 9.
54 Etwa Oppermann (Fn. 42), § 14 Rn. 1; ebenso Badura (Fn. 20), S. 409, 411; auch das BVerfG und der EuGH sprachen bereits vom EWG-Vertrag als der „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft": BVerfGE 22, 293 (296); EuGH, Slg. 1986, 1339 (1365); wie Oppermann so die wohl überwiegende Meinung vgl. insbesondere Bieber, Verfassungsfrage und institutionelle Reform, in: Bruha/Hesse/Nowack (Hrsg.), Welche Verfassung
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Es schadet somit keineswegs terminologischer Klarheit und ist keine unsaubere Verwendung des (Wirtschafts-)Verfassungsbegriffes, von einer mit staatlichen Verfassungen vergleichbaren EG-Wirtschaftsverfassung zu sprechen, um Antworten auf theoretische und rechtspraktische Fragen zu strukturieren und die systematischen Bezüge zwischen europäischer Wirtschaftsordnung und europäischer wie mitgliedstaatlicher Rechtsordnung zu klären. Ihre Erkenntnis trägt wesentlich zum Verständnis der supranationalen Eigenart der Gemeinschaft und ihrer Aktionsmöglichkeiten bei.
3. Wirtschaftsverfassungsrechtliche
Befunde im EG-Vertrag
a) Verpflichtung auf eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb? Die EG/EU stellt den Versuch dar, ihre Mitgliedstaaten in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum („Binnenmarkt" im Sinne des Art. 14 Abs. 2 EG) zusammenzubinden. Bereits der Gründungsvertrag, der so genannte EWG-Vertrag, verwirklichte in seiner Zielrichtung, seiner ursprünglichen Beschränkung auf das Wirtschaftsleben, seiner schrittweisen Integration der Volkswirtschaften und seiner zentralen Ausrichtung auf einen Binnenmarkt sowie seiner Wirtschafts- und Währungsunion (vgl. Art. 2, 3, 4, 14) eine Rechtsordnung, die in der Summe ihrer Normen eine klare und bis ins einzelne gehende Wirtschaftsverfassung aufweist. Diesen auf den zentralen Tätigkeitsfeldern der EG (Art. 2 bis 4 EG) fußenden Charakter einer „Wirtschaftsgemeinschaft" hat die EG auch nach dem Inkrafttreten des politisch weiter gehenden Unionsvertrages und trotz des Wegfalls des prägenden Wortes „Wirtschaft" im nunmehr so bezeichneten „EG-Vertrag" (Wechsel von der „EWG" zur „EG" zum 1.1 1.1993) nicht verlo-
fur Europa, 2001, S. 111 f f ; Borchard, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 2. Aufl., 2002, Rn. 542; Frotscher (Fn. 1), Rn 36 ff.; Hatje (Fn. 7), S. 688; Mussler (Fn. 11), S. 48 f.; Oppermann (Fn. 6) sowie ders. (Fn. 42), S. 284; Petermann, EuZW 1993, 593; Scherer (Fn. 4), S. 199; bereits Zacher, FS Böhm, 1965, S. 63; Zwleeg, BB 1994, 581. Gelegentlich findet sich unter Bezug auf die Zielvorgaben des Art. 2 EGV auch die Bezeichnung „Planverfassung"; etwa Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 2 EGV Rn. 7. Zur Streitfrage der Bedeutung der Eigentumsordnung als angeblich konstitutiven Elements einer europäischen Wirtschaftsverfassung zu Recht ablehnend Mestmäcker, Zur Wirtschaftsverfassung in der Europäischen Union, in: Hasse/Molsberger/ Watrin (Hrsg.), Ordnung in Freiheit, 1994, S. 271. 55 Vgl. insbesondere Frotscher (Fn. 1), Rn. 36; Oppermann (Fn. 42), S. 393; Stober (Fn. 20 ), S. 42. Im Maastricht-Urteil vom 12.10.1993 hat das BVerfG hervorgehoben, dass die EG auch nach Maastricht im Kern eine Wirtschaftsgemeinschaft bleibe (BVerfGE 89, 155 [181]). Gemeinschaftsrechtlich relevant folgte hieraus, dass der EGVertrag auch nach Maastricht und Amsterdam die Grundlage der Union bildete (Art. 1
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Hierzu nun mit gewisser Konsequenz legt Art. 4 Abs. 1 EG ausdrücklich fest, dass die Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft seit dem Vertrag über eine Europäische Union offenbar dem Grundsatz einer „ offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb " verpflichtet ist. Denn deutlicher als das Grundgesetz haben die Parteien des EU-Vertrages in Art. 4 Abs. 1 EG ein deutliches Bekenntnis zur vom Wettbewerb geprägten Marktwirtschaft abgelegt.56 Aber welche Rechtswirkungen folgen aus der Systemvorgabe „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb "? Im Schrifttum wird weitgehend mehr oder weniger pauschal auf die Forderung des Art. 4 Abs. 1 EG gewissermaßen als vorgegebenes wirtschaftspolitisches Leitbild verwiesen. Darstellungen zur Problematik einer justiziablen Begriffsstruktur und/oder der rechtspraktischen Konsequenzen für die Rechtmäßigkeit des Handelns der Gemeinschaftsorgane fehlen jedoch weitgehend.57 Darstellungen bzw. rechtspraktisch konkrete Hinterfragungen der juristischen Konsequenzen für die Rechtfertigung des Handelns der EG und die Folgen für die Wirtschaftsverfassungen der Mitgliedstaaten finden sich nur ausnahmsweise. Hinterfragt werden müssen jedoch die tatsächliche rechtspraktische Funktion, die Geeignetheit als Rechtmäßigkeitsmaßstab für das Handeln der Gemeinschaftsorgane sowie insbesondere die Justiziabilität und erforderliche Spezialität der Forderung der Verpflichtung auf einen offenen Markt mit freiem Wettbewerb. An sich ist der Grundsatz einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" ein Rechtsbegriff und prinzipiell justiziabel, und gewiss ließen sich den Begriffsteilen durchaus bestimmte rechtliche Merkmale zuordnen, die ihm normative Substanz verleihen könnten. Sie mögen jedoch sehr allgemein Abs. 3 EU); Geiger, EUV/EGV, 4. Aufl., 2004, EGV Präambel Rn. 2, spricht vom „Zusammenschluss der Wirtschaftskräfte". 56 So expressis verbis in Art. 4 Abs. 1 EG, zudem wiederholt und auf diese Weise hervorgehoben in Art. 98, 105, 154 und 157 EG; sowie in Art. 2 S. 3 ESZB-Satzung und Art. 4.2 S. 1 EWI-Satzung; treffend Häde, in: Calliess/Ruffert, Kommentar zu EUVertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 4 EG Rn. 8; Kempen, in: Streinz (Fn. 54), Art. 98 Rn. 6. Der Begriff kommt auch in den Rechtsakten der Gemeinschaft sowie in der Rechtsprechung des EuGH vor, ohne dort je eine Definition gefunden oder auch in der Marktwirtschaft eines bestimmten Mitgliedstaates ein Vorbild zu haben, vgl insbesondere Art. 2 Abs. 7 Antidumping-Verordnung, V O (EG) 3283/94, ABl. 1994 L 349/1; EuGH, Slg 2000 I, 8207. Diese Orientierung verstärkt sich möglicherweise noch durch die Einbindung in die Welthandelsorganisation WTO (Art. 11 Abs. 1 WTO-Übereinkommen), deren vorrangiges Ziel ebenfalls im Abbau von Handelsschranken besteht, wenn auch fur die einzelnen Wirtschaftssubjekte aus dem WTO-Recht keine Individualberechtigungen abgeleitet werden können; dazu Ruffert in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl., 2005, S. 445. 57 Vgl. statt vieler Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, 6. Aufl., 2005, S. 96; Bitterich, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag Kommentar, 2. Aufl., 1999, Art. 4 Rn. 1 ff.; Clapham (Fn. 45), S. 21, 22; Doerfert, Europarecht, 2. Aufl., 2004, S. 121; Geiger (Fn. 55), Art. 4 E G V Rn. 5; Haratsch/König/Pechstein
§ 7 Rn. 15; §25 Rn. 5.
(Fn. 49), Rn. 944; Herdegen
(Fn. 42),
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und unbestimmt sein, so dass die juristische Bedeutung der Systementscheidung des Art. 4 Abs. 1 EG wegen ihrer geringen Direktionskraft als eher gering anzusehen ist. Daher beschränkt sich die Kontrolle des EuGH von EG-Vertragszielen auf die Einhaltung hinreichend bestimmter Zielvorgaben unter Berücksichtigung des dabei den Organen der EG eingeräumten weiten politischen Gestaltungsspielraums. 58 Angesichts dessen und der generellen, zudem aus Gründen der Gewaltenteilung an sich gebotenen, Zurückhaltung des EuGH gegenüber Maßnahmen des Gemeinschaftsgesetzgebers wird sich die Rechtswidrigkeit sekundären Gemeinschaftsrechts (Art. 7, 249 EG) kaum allein auf einen Verstoß gegen die wirtschaftspolitische Modellvorstellung (als solche) des Grundsatzes des offenen Marktes mit freiem Wettbewerb stützen lassen.59 Die somit hier befürwortete Interpretation der Begrifflichkeit „offener Markt mit freiem Wettbewerb" als eines offenen, weite Interpretationsspielräume zulassenden Rechtsbegriffs ist jedoch nicht ohne jegliche rechtliche Funktion. Vielmehr verbietet sie das Einschwenken der Organe der EG auf eine evident nicht-marktwirtschaftliche Politik, wobei es im Hinblick auf diese Funktion ausreicht, sich das Merkmal jeder marktwirtschaftlichen Ordnung als „eine auf die Freiheit der privaten Wirtschaftssubjekte gegründete Ordnung" als Grenze zu vergegenwärtigen. 60
58 Dazu grundlegend EuGH, Slg. 1985, 1513 Rn. 33. Mit den Verpflichtungen, „Vertragsziele in die Tat umzusetzen, geht eine Justiziabilität der Vertragsziele nicht notwendig einher", so zu den begrenzten Rechtswirkungen der Vertragsziele der Art. 2 und 4 EG und deren „Justiziabilitätsschwäche"; vgl. Blanke, in: Calliess/Ruffert (Fn. 56), Art. 2 EGV Rn. 29, im Ergebnis ähnlich Frenz, Handbuch Europarecht, Band 2, Europäisches Kartellrecht, 2006, S. 12. 59 Ähnlich Streinz, in: ders. (Fn. 54), Art. 2 Rn. 10, unter Bezug auf Art. 2 EG, der in untrennbarem systematischen Zusammenhang zu Art. 4 EG steht. Grundsätzlich zur Problematik der geringen rechtspraktischen Bedeutung des Art. 4 Abs. 1 EG näher Hatje (Fn. 7), S. 683, 692; zum Charakter des Art. 4 EG als eine „nur wirtschaftspolitische Rahmenbedingung" etwa Hackenberg, Grundzüge des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2003, S. 165. 60 Insbesondere folgt der EG-Vertrag nicht der Ideologie der sozialen Marktwirtschaft. Als Leitentscheidung sei (im Sinne von „zumindest") Jedenfalls eine marktwirtschaftliche Verfassung herauslesbar", so treffend Mestmäcker (Fn. 54), S. 270; zu den Grenzen modellorientierter Rechtfertigungsbedürftigkeit hoheitlicher Eingriffe vgl. etwa Nowak, in: Heselhauss/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 30 Rn. 4 f., und Wilms , in: Heilbronner/Wilms, Recht der Europäischen Union Band II, 2005, Art. 4 Rn. 19 f.; im Ergebnis ähnlich wie hier Hatje (Fn. 7), S. 683, 692 f.; Kempen, in: Streinz (Fn. 54), Art. 4 Rn. 13; deutlich abweichend Bleckmann (Fn. 5), der aus einer Rechtsanalogie aus der Gesamtheit der Vorschriften des EWG-Vertrages ableiten will, dass bereits rechtlich „auch im Europäischen Gemeinschaftsrecht der Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft gilt".
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b) Weitere Strukturen der EG-Wirtschaftsverfassung Ob die bisherigen Wertungen zutreffen oder modifiziert werden müssen, ist anhand einer Textanalyse des EG-Vertrages zu prüfen. Denn was eine Wirtschaftsverfassung rechtlich ausmacht, welchen Grenzen sie Hoheitsträgern und Privaten zieht, lässt sich nicht vorrangig aus einem bestimmten Wirtschaftsmodell oder (wie hier) aus der ambivalenten Systemzielvorgabe des Art. 4 Abs. 1 EG, sondern nur aus dem jeweils konkreten Normenbestand ableiten. Die Antwort auf die Strukturen der EG-Wirtschaftsverfassung ergibt sich somit aus dem Überblick zahlreicher Bestimmungen des EG-Vertrages, denen unterschiedliche und teilweise gegenläufige ökonomische Aufgaben, Ziele, Prinzipien und Politiken zugrunde liegen. Das herausragende Grundziel der Verträge ist die Herstellung eines gemeinsamen Marktes im Sinn eines im Kern freien und nach innen offenen Wirtschaftsraumes (Art. 2 EG). Damit geht die Gemeinschaft in wirtschaftspolitisch wichtigen Sektoren von der Vorstellung der Liberalisierung in der Form eines vom redlichen Wettbewerb beherrschten Wirtschaftsaustausches aus. 61 Insoweit wichtigster Ausgangspunkt und gleichzeitig Mittelpunkt einer liberalen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Bestandsaufnahme ist der Binnenmarkt (Art. 14 Abs. 2 EG), in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist (Art. 39 ff., 43 ff., 49 ff., 56 ff. EG). Dessen Mobilität setzt eine den gesamten Warenaustausch umfassenden Zollunion als Mittel seiner Verwirklichung zwingend voraus (Art. 23 ff. EG). Diese Grund- bzw. „Markt"-Freiheiten sind von den Organen der EG bei ihren Rechtshandlungen (Art. 7, 249 EG) und von den Parlamenten der 27 Mitgliedstaaten sowohl bei ihren „eigenen" gesetzgeberischen Entscheidungen wie ihren nationalen europarechtlich bedingten Rechtsangleichungen zwingend zu respektieren. Als liberaler Befund bezwecken und erreichen sie die Herstellung grenzüberschreitenden Privatautonomie im gesamten Gemeinschaftsgebiet aller Mitgliedstaaten der EG/EU. Hierdurch erfährt die europäische Wirtschaftsverfassung eine normativ-funktionelle Absicherung einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung. Durch die unmittelbar anwendbaren Grundfreiheiten erhalten die einzelnen Marktteilnehmer (natürliche und juristische Personen) subjektive, einklagbare Rechte auf Teilnahme am grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr
61
Statt vieler Petersmann
(Fn. 54), S. 593 ff; Stober (Fn. 20), S. 42;
Oppermann
(Fn. 42), § 13 Rn. 4; siehe auch die entsprechenden Zielvorgaben der Präambel zum EG-Vertrag. Von Anfang an war der EG-Vertrag (und ist es bis heute) im Kern darauf gerichtet, den „Wirtschaftsegoismus der Mitgliedstaaten" und die nicht selten damit parallelen „Monopolisierungsinteressen der nationalen Industrien" zugunsten des Gemeinschaftsinteresses zu brechen; anschaulich Mestmäcker (Fn. 14), S. 166; näher zur „Binnenmarktphilosophie" etwa Haratsch/König/Pechstein (Fn. 49j Rn. 289 f.
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Konrad Scori
im gesamten geographischen Raum der nunmehr 27 Mitgliedstaaten der EG/ EU. 6 2 Daraus folgt zwingend, dass alle mitgliedstaatsrechtlichen oder sekundärrechtlichen Regelungen des Gemeinschaftsrechts, die zu einer Beschränkung grenzüberschreitender wirtschaftlicher Aktivität, sei es Warenhandel, unselbstständige oder selbstständige Tätigkeit, Dienstleistung, Niederlassung, Kapitalfluss fuhren, einem strengen Rechtfertigungszwang unterliegen, der durch Diskriminierungsverbote (insbesondere Art. 12, 81 ff., 141 EG) und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung einschlägiger Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten als Rahmenbedingungen justiziabel abgesichert ist. 63 Bezwecken die Grundfreiheiten die freie ökonomische Entfaltung der Wirtschaftssubjekte in der Gemeinschaft soll die gemeinschaftsrechtliche Wettbewerbspolitik Störungen der Wirtschaftsfreiheit durch private Übermacht auf dem Markt vereiteln (Grundsatz der Liberalisierung und des Schutzes vor Wettbewerbsverfälschungen). Denn die Verwirklichung der Grundfreiheiten erfordert einen Markt, in dem Regeln eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des redlichen Wettbewerbes (Art. 3 lit. g EG) verhindern. So sollen insbesondere Wettbewerbsregeln, ein prinzipielles Kartellverbot, das Institut der Fusionskontrolle, aber auch die weit reichende Ablehnung von Beihilfen, das Prinzip der Steuerharmonisierung sowie die auf das Funktionieren des Binnenmarktes zielende Rechtsangleichung (Art. 81 ff., 87 f f , 90 ff. und 94 ff. EG) die gemeinschaftsrechtlich gebotene Marktfreiheit flankierend schützen und damit gewährleisten.64
62 Aus der nahezu unüberschaubaren Literatur zu der Ausgestaltung, Einschränkbarkeit und rechtspraktischen Bedeutung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages beispielhaft
Clapham (Fn. 45), S. 21 ff.; Frotscher (Fn. 1), Rn. 145 ff.; Haratsch/König/Pechstein, (Fn. 49), S. 281 ff.; Mestmäcker (Fn. 14), S. 164 ff.; Mussler (Fn. 11), S. 97 ff.; Oppermann (Fn. 42), § 19 Rn. 2 ff.; Scherer (Fn. 4), S. 121 ff.; Walter, in: Ehlers (Fn. 56), S.
15 ff.; Zuleeg (Fn. 54), S. 586 ff. Zu den zentralen Zielen der EWG bereits „Gründungsvater" Hallstein (Fn. 5), S. 24. Im Schrifttum werden die Grundfreiheiten mitunter in Analogie zu Grundrechten auch als „Konstitutionsnormen", „Europäische Grundfreiheiten" oder „Marktfreiheitsrechte" tituliert, siehe die Zusammenstellung bei Mestmäcker (Fn. 54), S. 275. 63 Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung bedeutet, das die in einem Mitgliedstaat nach dem dort gültigen Recht produzierten und verkauften Güter im gesamten Binnenmarkt angeboten werden können; das so genannte „Ursprungslandprinzip", das entsprechend auch für die gegenseitige Anerkennung beruflicher Qualifikationen gilt; dazu Clapham (Fn. 45), S. 22 m.w.N. 64
V g l . insbesondere Frenz (Fn. 58), S. 11 f.; Frotscher
(Fn. 1), Rn. 36 f.; Opper-
mann (Fn. 42), § 13 Rn. 4; Stober (Fn. 20), S. 42 f. In der Rechtsprechung des EuGH findet sich eine Reihe von bestätigenden Urteilen dieser Sicht; vgl. dazu die Zusammenstellung bei Ukrow, in: Lenz (Fn. 57), Art. 2 Rn. 2 ff; ausführlich bereits Scherer (Fn. 4), S. 139 ff.
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Allerdings finden sich zum liberalen Konzept wettbewerbsorientierter Märkte im EG-Vertrag eine Reihe gegenläufiger Interventionsbereiche von teilweise planwirtschaftlich-dirigistischem Charakter. So ist die liberale Seite der EG/EUWirtschaftsverfassung mit vielfältigen Möglichkeiten staatlichen Eingriffes verwoben. Die Verpflichtung auf Marktwirtschaft und Wettbewerb begründet kein generelles Verbot nicht marktkonformer Eingriffe. Das belegen auch die typisch interventionistischen Tendenzen im EGKSV und EAGV. 6 5 Bereits in der allgemeinen Wirtschaftspolitik (Konjunkturpolitik, Währungspolitik), in der die Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, zeigt sich der Grundsatz staatlicher Globalsteuerung des Wirtschaftsgeschehens (Art. 98-102, 105 ff. EG). 66 Insbesondere die Bereiche der Agrarmarkt- und Industriepolitik (Art. 32, 157 EG) unterliegen in starkem Maße hoheitlicher Lenkungsmöglichkeiten und sind von vornherein einem weitgehenden Dirigismus unterworfen. Vorgaben staatlicher Lenkungsberechtigungen finden sich hierbei auch in den Maßnahmen der EG-Forschungs- und Regionalpolitik. In sensiblen Sektoren, wie etwa der Kernenergie sowie dem Verkehr enthalten die Verträge als selbstverständlich vorausgesetzte Vorgaben öffentlicher Intervention (Art. 2 EAG, Art. 33, 71 EG). 67
IV. Die „relative Offenheit" der Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft Angesichts dieser teilweisen gegenläufigen zwiespältigen „Gemengelage" und verschiedenen wirtschaftspolitischen Grundentscheidungen, die sich bisweilen kaum miteinander vereinbaren lassen, weisen die Strukturen der wirtschaftsverfassungsrechtlich aussagefähigen Bestimmungen des EG-Vertrages neben den angeführten liberalen Freiheitsgarantien auch umfangreiche Steuerungs- und Interventionsmöglichkeiten auf. Auch der EG-Vertrag ist also „nicht
65 Beispiele dazu etwa bei Häde, in: Calliess/Ruffert (Fn. 56), Art. 4 Rn. 9 m.w.N.; Oppermann (Fn. 6), S. 56. M i t dem EUV wurden diese Tendenzen trotz des Bekenntnisses der verankerten Marktwirtschaft möglicherweise sogar noch verstärkt; so Vollmer (Fn. 59), S. 25. 66 Vgl. Oppermann (Fn. 6), S. 56. Nicht zuletzt haben die Änderungen durch den Vertrag über die Einheitliche Europäische Akte sowie der EU-Vertrag von Maastricht die europäische Wirtschaftsverfassung weiter zugunsten weiterer Steuerungs- und Interventionsmöglichkeiten ausgebaut. An mehreren Stellen schließlich werden die umweltrechtlichen und verbraucherrechtlichen Komponenten angesprochen; näher Stober (Fn. 20), S. 43. 67
Zu diesen und weiteren primärrechtlich vorgegebenen Bereichen der Intervention
insbesondere Frotscher
(Fn. 1), Rn. 36; Kilian
(Fn. 4), S. 103 f.; Oppermann
(Fn. 42),
§ 13 Rn. 5; Zideeg (Fn. 54), S. 587; kritisch zur Ausweitung der direkten und indirekten Regelungskompetenzen der Gemeinschaft und der Gefahr der Einschränkung des Systemwettbewerbs der Mitgliedstaaten Clapham (Fn. 45), S. 28.
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aus einem wirtschaftstheoretischen Guss." 68 Vielmehr ergibt die Analyse des Textes des EG-Vertrages ein Spannungsfeld verschiedener wirtschaftspolitischer Grundentscheidungen, die eine effektive Orientierung fur die Organe der EG wie die der Mitgliedstaaten erschweren. Verkehrsfreiheiten und Marktlenkungen stehen nebeneinander. Eine klare rechtliche Festlegung auf ein bestimmtes Wirtschaftsmodell ist auch in der überblickartigen Gesamtschau der wirtschaftsverfassungsrechtlich relevanten Bestimmungen des EG-Vertrages nicht ersichtlich. Es handelt sich um eine „mixed economy", in der das Verhältnis der markt- und planwirtschaftlichen Komponenten zueinander sich nicht quantifizieren lässt und sich in der Praxis ständig verändert. 69 Dies wohl auch deshalb, weil die Ordnungsvorstellungen der Mitgliedstaaten zu unterschiedlich waren und sind. Etwa in Frankreich sind traditionell starke, in Griechenland und Italien erhebliche Formen der staatlichen Intervention in den Bereichen Wirtschaft üblich. Es wird allerdings deutlich, dass das EG-Primärrecht eine prinzipiell marktgesteuerte Wirtschaft vorgibt, die auch planwirtschaftliche Elemente nicht ausschließt.70 Im Kern zeigen sich somit systemkonvergente Parallelen zum Grundgesetz auf Daher ist es juristisch sachgerecht, auch fur die Gemeinschaft von einer relativ offenen Wirtschaftsverfassung auszugehen wie sie schon für das Grundgesetz konstatiert wurde. Diese Bewertung stimmt auch mit der oben dargestellten offenen Selbstqualifizierung des EGVertrages in Art. 4 Abs. 1 EG überein.
68 So Frotscher (Fn. 1) Rn. 13 m.w.N.; die Charakteristik als „Gemengelage" findet sich bei Stober (Fn. 20), S. 43; ähnlich auch Kilian (Fn. 4), Rn. 202 ff., und Oppermann (Fn. 6), S. 56 f. Dies entspricht den gegensätzlichen Instrumenten von „Wettbewerb" und „Intervention"; dazu Mestmäcker (Fn. 14), S. 163, 166 f f ; einschränkend dagegen Dickersbach, N V w Z 1996, 962. 69
70
Kilian
(Fn. 4), Rn. 202 ff., 211.
Beispielsweise Mussler (Fn. 11), S. 192, und Vollmer (Fn. 5), S. 30, skizzieren den „ambivalenten Charakter der Wirtschaftsverfassung nach Maastricht". Eine Ordnungspolitik, wie sie etwa in Gestalt der „Freiburger Schule" und in ihrer Kölner Fortentwicklung durch Müller-Armack nach 1949 in der deutschen Wirtschaftspolitik als „soziale Marktwirtschaft" eine entscheidende Rolle spielte, sowie ein entsprechendes „Modelldenken" gibt es auf europäischer Ebene in den anderen Mitgliedstaaten nur sehr begrenzt, teilweise ist es unbekannt; zu den Unterschieden näher Pielow, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Europäische Grundrechtscharta, 2006, Art. 36 Rn. 16. Nicht zuletzt mussten im europäischen Vertragssystem Kompromisse zwischen den nationalen Wirtschaftsordnungen der Mitgliedstaaten gefunden werden; dazu näher Oppermann (Fn. 6), S. 54 ff.; ders. (Fn. 42), § 13 Rn. 3. Auch die Formulierung „mit freiem Wettbewerb" lässt sowohl Spielraum für die Interpretation, dass der Wettbewerb ein konstituierendes Element offener Marktpolitik sei, als auch für die Auslegung, ein offener Markt sei auch ohne Wettbewerb denkbar; treffend Kilian (Fn. 4), Rn. 212.
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V . Thesen •
Eine klare zwingend rechtliche Festlegung a u f ein bestimmtes Wirtschaftsm o d e l l ist i m E G - V e r t r a g nicht ersichtlich.
•
Für die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft ist v o n einer ähnlichen „relativen Offenheit" auszugehen w i e fur die bundesdeutsche Verfassungsrechtslage.
•
D i e Interpretation der Begrifflichkeit „offener M a r k t m i t freiem Wettbew e r b " in A r t . 4 Abs. 1 E G als einen offenen, weite Interpretationsspielräume zulassenden Rechtsbegriff ist j e d o c h nicht ohne jegliche rechtliche Funktion. V i e l m e h r verbietet er das Einschwenken der Organe der E G a u f eine evident nicht-marktwirtschaftliche Politik. Denn die EG-Wirtschafitsverfassung fußt i m K e r n a u f marktwirtschaftlichen Grundlagen. 7 1
•
Unter Berücksichtigung dieser Prämisse ist eine wirtschaftsverfassungsrechtlich flexible, marktwirtschaftlich ausgerichtete Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft zulässig.
•
Weitere Rechtfertigungszwänge des an sich weiten Gestaltungsspielraumes der E G ergeben sich nach „Maßgabe des Vertrages" (vgl. etwa A r t . 4 Abs. 1, 98 ff. E G ) unter Berücksichtigung des Prinzips der enumerativen Einzelermächtigung, des Subsidiaritätsgrundsatzes sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Kompetenzausübungsschranken des A r t . 5 E G ) . 7 2
71 Zur gemeinschaftsrechtlichen Unzulässigkeit der Extremformen „reine Marktwirtschaft" sowie „Zentralverwaltungswirtschaft" und zur Abstufung zulässiger Mischformen näher unter Bezug zur EWG bereits Scherer (Fn. 4), S. 201 f. Weiter gehende inhaltliche Anforderungen sind mit dem Begriff „Marktwirtschaft" nicht verbunden (vgl. ähnlich Wilms [Fn. 60]), denn es gibt nicht ein einziges europarechtlich zulässiges Modell; zu den zulässigen Mischformen unter Bezug auf die EG Stadler (Fn. 4). 72 Das sekundäre Gemeinschaftsrecht darf nicht den Kollektivwillen der Mitgliedstaaten bei der Übertragung von Hoheitsbefugnissen an das EG-Primärrecht relativieren (Problem deutlicher Machtbegrenzung). Die wirtschaftsverfassungsrechtliche Regelungskompetenz der Gemeinschaft hat somit (selbstverständlich), wie grundsätzlich alle Handlungen der Organe, die Grenzen der Kompetenzausübungsvorschrift des Art. 5 EG zu beachten. Insbesondere gilt, dass allein aus der Bezeichnung „Gemeinsamer Markt" oder „Binnenmarkt" keine wirtschaftspolitisch umsetzbare Kompetenzzuweisung an die Gemeinschaftsorgane abgeleitet werden kann, denn die Organe sind nur insoweit zur wirtschaftspolitischen Rechtsetzung befugt, als der Vertrag ihnen durch spezielle Aufgabennormen ausdrücklich Rechtsetzungsbefugnisse zuweist. Im Konfliktfall soll nicht die Macht, sondern das Recht entscheiden („nach Maßgabe der Verträge"). So soll auf diese Weise der Umfang des Verzichts der Mitgliedstaaten auf Hoheitsrechte unter Kontrolle bleiben; ähnlich Kilian (Fn. 4), Rn. 207. Insbesondere ist der Schluss allein von der Festlegung eines Gemeinschaftszieles im EG-Vertrag auf eine Befugnis grundsätzlich nicht möglich, dazu etwa Jarass, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft und die Folgen für die Mitgliedstaaten, 1997, S. 7 f f ; ausfuhrlich zu den Grenzen europäischer Sekundärrechtsetzung Härte, Handbuch Europäischer Rechtsetzung, 2006, § 4
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•
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Für wirtschaftspolitische Maßnahmen des deutschen Gesetzgebers bleibt daher genügend Spielraum, wobei er neben dem verfassungsrechtlichen Rahmen des Grundgesetzes auch konkrete Begrenzungen durch das Gemeinschaftsrecht zu beachten hat. 73
Diese Wertungen entsprechen auch der grundsätzlich bestehenden Trennung zwischen den Wirtschaftspolitiken der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten. Denn mit der Wendung „ihre Wirtschaftspolitik" in Art. 98 S. 1 EG und der Formulierung „die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft" in Art. 98 S. 2 EG stellt der EG-Vertrag unmissverständlich klar, dass eine ausschließliche und einheitliche Wirtschaftspolitik (noch) nicht vorgesehen ist. Heute sind vielmehr (noch immer) zweierlei Wirtschaftspolitiken zu unterscheiden: Zum einen die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und zum anderen die der Gemeinschaft. In der Zuständigkeit und Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten verbleibt als ureigener wirtschaftspolitischer Bereich die Domäne der allgemeinen, in sämtliche Spezialbereiche übergreifende Wirtschaftspolitik, die naturgemäß eng mit der Finanzpolitik verzahnt ist. 7 4 Eine Wirtschaftsunion in dem Sinne, dass eine einheitliche Wirtschaftspolitik von dafür ausschließlich zuständigen Organen der EG wahrgenommen würde, gibt es somit nicht und kann auch in absehbarer Zeit nicht gewollt sein. Während das Währungswesen in einer echten Union zusammengeschlossen ist, bewegt sich die Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft gewissermaßen noch auf einer Vorstufe eines unionsmäßigen Zusammenschlusses.75
Rn. 3 ff. Vehement gegen die Versuche eigenmächtiger Kompetenzausweitung der Organe Vollmer (Fn. 5), S. 26, sowie Dittmann, in: Bareis/Ohr (Hrsg.), Hohenheimer Europa Colloquium, Europäische Integration auf Abwegen, S. 65. 73 Ein instruktives Beispiel zur Überprüfung deutschen Rechts an wirtschaftsverfassungsrechtlichen EG-Vorgaben (EG-Beihilfenkontrolle) gibt der Fall 26 Investitionszulagen für die „Kipp und Most KG" bei Frotscher (Fn. 1), Rn. 478 f f ; zur „Systemkonvergenz" deutscher und europäischer Wirtschaftsverfassung und im Konfliktfall zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts vgl. Basedow (Fn. 25), S. 53 ff. 74 Dazu näher die „Empfehlung der Kommission für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft", Dokumente der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 217, endgültig vom 1.6.1994, S. 12 ff.; Doerfert (Fn. 57), S. 129 f.; Schill, in: Lenz (Fn. 57), Vorbemerkungen Titel V I I Rn. 2; Oppermann (Fn. 42), § 13 Rn. 7 f.; Schulze/Steinen (Fn. 4), S. 90 f. Die Mitgliedstaaten entwerfen, gestalten und vollziehen die Wirtschaftspolitik nach wie vor in ihrer eigenen Zuständigkeit („ihre Wirtschaftspolitik"), sind aber rechtlich verpflichtet, sich in den gemeinschaftlichen Rahmen einer verfahrensmäßig und inhaltlich zu koordinierenden „Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft" (in dem oben dargestellten Umfang) einzuordnen. 75 Dies wird nicht zuletzt darin sichtbar, dass selbst die schärfste Sanktion im Zuge der Wirtschaftsüberwachung nur in einer Rüge besteht, die als Empfehlung nach Art. 249 Abs. 5 EG rechtlich unverbindlich ist; vgl. insbesondere Kempen, in: Streinz (Fn. 54), Art. 98 Rn. 2; Art. 99 Rn. 1 m.w.N.; Seidel, FS Börner, S. 417, 422. Allerdings würde (visionär) die völlige Überführung der allgemeinen Wirtschaftspolitik einschließ-
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N a c h dem vorläufigen Scheitern einer „Verfassung fur Europa" vereinbarte der Europäische Rat eine „Reflexionspause". Das Projekt eines Verfassungsvertrages für die E U würde das primäre Gemeinschaftsrecht grundlegend verändern. O b und i n w i e w e i t es bezüglich der Problematik einer begrifflich eindeutigen und justiziablen Wirtschaftsverfassung dann zu einem w i r k l i c h e n Qualitätssprung k o m m e n würde oder vielmehr das wirtschaftsverfassungsrechtliche K o n zept eines, wann auch immer realisierten Verfassungsvertrages, an den bisherigen Regeln festhält, ist k a u m p r o g n o s t i z i e r b a r . 7 6
lieh der Finanz- und Haushaltspolitik zusätzlich zur Währungspolitik den Mitgliedstaaten so elementare Staatsfunktionen nehmen, dass sie zu Gliedern eines europäischen Bundesstaates würden; dazu Häde, in: Calliess/Ruffert (Fn. 56), Art. 4 EG Rn. 19; Kempen, in: Streinz (Fn. 54), Art. 98 Rn. 3. 76 Ähnlich Hatje (Fn. 7), S. 744; ebenso noch Stober (Fn. 20) in der 14. Aufl., 2004, S. 55, offen gelassen in der 15. Aufl., S. 43; abweichend Kilian (Fn. 4), Rn. 208. Teilweise wird aus dem Entwurf des Verfassungsvertrages (Art. 1-3, III) die Verpflichtung der Union auf eine „soziale Marktwirtschaft" entnommen, etwa Bieber/Epiney/Haag (Fn. 57), § 3 Rn. 14; relativierend Calliess/Ruffert, Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. 1-3 Rn. 25; allgemein zur „Verfassung für Europa" aus der umfassenden Literatur beispielhaft Herdegen (Fn. 42), § 33; Hesse, Die Diskussion um eine europäische Verfassung, in: Bruha/Hesse/Nowack (Hrsg.), Welche Verfassung fur Europa, 2001, S. 63 ff.; Oppermann (Fn. 42), § 1 Rn. 18 f f ; Scori, Die unverstandene Verfassung: in dubio pro consitutione, in: Sander/Vlad (Hrsg.), Quo Vadis Europa?, 2006, S. 29 ff; näher zu den wirtschaftsverfassungsrechtlichen Garantien der Grundrechtscharta der Europäischen Union, wie sie als Teil des Verfassungsvertrages vorgesehen war, etwa Brensdorff in: Meyer (Hrsg.), Charta der europäischen Grundrechte, 2. Aufl., 2006, Art. 16 Rn. 1, 9. Weiterführende Gedanken zur Wirtschaftsverfassung einer Weltwirtschaft finden sich z.B. bei Stober (Fn. 20), S. 43 f.; zur Vision einer „Welt-Marktwirtschaft" vgl. bereits bei Hallstein (Fn. 5), S. 400.
Die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Von Norbert Walter I. Heterogene Einflüsse auf die Wirtschaftsverfassung Die Vielfalt von Institutionen und Denkrichtungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die die Gebilde Wirtschaft und Wirtschaftspolitik ausmachen, hat in Deutschland zum Teil alte und tiefe Wurzeln. Vieles davon ist nicht typisch deutsch, manches abendländisch, manches kontinentaleuropäisch. Zu den prägenden Elementen zählt der Einfluss religiöser Bewegungen. Nicht nur die Verbindung von Staat und Kirche über viele Jahrhunderte bestimmte diesen Einfluss; er wirkte tief und unmittelbar über einzelne gesellschaftliche Gruppen. Die Einstellung zum Zweck und Ziel des Lebens, die Beurteilung von Leistung und Eigentum sind zwar weithin christlich orientiert, innerhalb dieser Grundorientierung haben sich aber deutliche Differenzierungen entwickelt: von der katholischen Soziallehre, dominiert von der Hintanstellung individueller, irdischer Wünsche, über protestantische Ethik mit der Betonung individueller Verantwortung bis hin zu diesseits gemessener Erfolgsorientierung im Calvinismus. Wie außerordentlich bedeutend solche Einflüsse sind, zeigt sich im Grundgesetz, wenn etwa von der Sozialbindung des Eigentums die Rede ist. Das Attribut sozial für die deutsche Form der Marktwirtschaft reflektiert den ausgeprägt christlich bestimmten Gestaltungswillen. Dass der Wirtschaftsstil über die rein wirtschaftlichen, rein funktionalen Zwecke hinausreichen sollte, war ausdrückliche Absicht jener Männer, die als Väter der Sozialen Marktwirtschaft zu betrachten sind. Einige von ihnen, so Alfred Müller-Armack, rieten eindeutig von einer offenen Austragung sachlich unvermeidbarer Konflikte ab. In idealisierender Weise wird im Konfliktfall das Kollektiv in die Verantwortung gebracht. Dieses Harmoniebedürfnis scheint den Deutschen besonders eigen zu sein. Die Konsequenz, dass damit Probleme möglicherweise verschleiert oder verschoben werden, ziehen die Deutschen vor zu verdrängen. Wenn die Wirtschaftskultur in Deutschland charakterisiert werden soll, kommt man nicht umhin, sie als außerordentlich heterogen und im historischen Ablauf als außerordentlich anpassungsfähig zu bezeichnen. Es ist freilich leichter zu sagen, was die deutsche Wirtschaftkultur nicht ausmacht, als sie positiv zu beschreiben. Es fehlt ihr die Ausrichtung auf ein politisches, auf ein geistiges Zentrum. Weder ist sie durch einen dominanten Zentralstaat noch durch eine dominante Wirtschaftsphilosophie - Merkantilismus, Freihandel, Zentralver-
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waltungswirtschaft - bestimmt. Seinen Grund hat dies in der Art der staatlichen (Un-) Ordnung in der deutschen Geschichte. Die Vielfalt und der ständige Wechsel der Regimes, nicht nur nach Zahl, sondern auch nach Bedeutung und Charakter, haben - in historischer Perspektive - prägend gewirkt. Der heutige Föderalismus ist eine konsequente Fortsetzung dieser Tradition. Anders als etwa in Frankreich oder England, wo die staatliche Einheit eine lange und feste Tradition hat, bestand Deutschland (fast) immer aus mehreren, recht unterschiedlichen und meist weitgehend autonomen Einzelteilen. Anhand der Geschichte ist auch zu erklären, warum es keine wirklich vorherrschende Wirtschaftsphilosophie gibt. Das Fehlen einer dauerhaften politischen Führungsmacht - stattdessen kämpften Fürstenhäuser ständig gegeneinander - , der Mangel an Wirtschaftsdynastien, anders als etwa in England oder Japan - im historischen Kontext blieben die Fugger, Krupps oder Grundigs Episoden - und die Nichtexistenz dominanter wissenschaftlicher Zentren - anders als in Frankreich - gaben der Vielfalt wirtschaftlicher Ideen Raum, zogen ihrer Durchsetzung jedoch immer enge Grenzen. So war Deutschland mehr ein Ort für die Entwicklung von Ideen als ein Ort ihrer konsequenten Verwirklichung. Die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland besitzt unverkennbar Merkmale, die mit den geschichtlichen Erfahrungen der Deutschen in den ersten viereinhalb Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu erklären sind. Es sind die deutschen Traumata zweier großer Inflationen in der Folge zweier Weltkriege. Es ist die Angst vor den politischen Folgen des wirtschaftlichen Ruins wie am Ende der Weimarer Republik, und es ist schließlich die Erfahrung mit der totalitären Zwangswirtschaft des „Dritten Reiches". Neben diesen historischen Erfahrungen, aus denen die Deutschen beim Aufbau der Bundesrepublik offensichtlich lernen wollten, gab es zur Zeit des wirtschaftlichen Wiederaufbaus Zwänge, die das Handeln (mit-) bestimmten: die Zerstörung nach einem verlorenen Krieg und die politische Hoheit der Besatzungsmächte. Nicht nur die Deutschen lernten aus historischen Erfahrungen, auch die - westlichen - Besatzungsmächte vermieden inkonsistente und überzogene Reparationsforderungen, ein Fehler, den sie nach dem Ersten Weltkrieg begangen hatten: Statt des Morgenthau-Plans wurde der Marschall-Plan realisiert. Im Wohlstand für alle Westeuropäer sahen die westlichen Besatzungsmächte den Erfolg versprechenden wirtschaftlichen und politischen Weg aus der Krise und darin wiederum die beste Basis für eine politisch potente Machtstruktur als Bollwerk gegenüber der Sowjetunion. Die föderale Struktur der Bundesrepublik ist ein Glücksfall. Der Wille der Besatzungsmächte, einen starken deutschen Zentralstaat zu verhindern, führte zu der modernsten und flexibelsten Form einer Demokratie, nämlich einem Bundesstaat mit relativ viel Dezentralisierung. Dies ist die beste Grundlage für Lernen im Wettbewerb zwischen staatlichen Stellen. Gleichwohl entwickelte
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die konkrete Ausgestaltung des deutschen Föderalismus nach dem zweiten Weltkrieg auch Lähmendes. So ist der Finanzverbund eine wichtige Ursache für den jahrelangen Reformstau in der Bundesrepublik. Der Wettbewerbsföderalismus wurde mehr und mehr durch einen Korporativen Föderalismus verdrängt. II. Die Geburt der Sozialen Marktwirtschaft und ihre zentralen Elemente Das Grundgesetz und das Gesetz für die Bank deutscher Länder (später Bundesbankgesetz) markieren am auffälligsten den Weg in eine neue wirtschaftliche Ordnung, die unter dem Begriff „Soziale Marktwirtschaft" bekannt wurde. In ihr fanden neben den historischen Erfahrungen die Ideen der neoliberalen Schule - der Freiburger Schule - ihren Niederschlag. Der Name Ludwig Erhard wurde zum Synonym für einen grundlegenden marktwirtschaftlichen Neubeginn. In seiner Funktion als Wirtschaftsminister überwand er die Ideen von Sozialisten, verdrängte die Ängste von Konservativen und wies die Interessenverbände in ihre Schranken. Erhards Wirken für das deutsche Wirtschaftswunder begann bereits, bevor sich das demokratische Nachkriegsdeutschland konstituierte. So war er maßgeblich an der Ausarbeitung der Währungsreform und der Etablierung des Geldund Währungssystems beteiligt. Gleichzeitig mit der Währungsreform im Juni 1948 hob er eine Vielzahl von Bewirtschaftungs- und Preisvorschriften auf Widerstand der Besatzungsmächte zerstreute Erhard ebenso, wie er Angriffe der politischen Opposition zurückschlug und Widerstand aus den eigenen Reihen, insbesondere dem Arbeitnehmerflügel der CDU, abwehrte. Erhards Kämpfe um die marktwirtschaftliche Ordnung hielten auch nach der Währungsreform an. Als Wirtschaftsminister wurde er von der Opposition und den Gewerkschaften für eine Politik, die dem Menschen das Lebensnotwendige vorenthalte, angefeindet. Waren die Kritiker in der ersten Zeit vor allem die Arbeitnehmer und ihre Funktionäre, die die hohen Preise nach dem Ende der Bewirtschaftungsvorschriften beklagten, so stammten die Kritiker an Erhards Kurs alsbald - das heißt schon 1949/50, als sich das Güterangebot erweiterte, die Preise für viele Gebrauchswaren sanken - aus dem Lager der Unternehmen, die von ihm forderten, der ruinösen Konkurrenz, forciert auch durch die unternehmerische Betätigung einer Vielzahl von Flüchtlingen, ein Ende zu setzen. Erhard widerstand nicht nur diesen Anfeindungen und verwies auf die nachhaltige Kraft der Marktwirtschaft beim Ausgleich der Interessen, sondern er zwang Deutschland auch in den internationalen Wettbewerb durch weitgehende Öffnung der Grenzen für den Handel. Zentrale Elemente in Erhards Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft waren die Stabilität des Geldwerts als Garant für Effizienz und Gerechtigkeit, eine am Ideal offener Märkte ausgerichtete Wettbewerbsordnung, die unabdingbar
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für eine freie Preisbildung ist, eine liberale Wirtschaftspolitik, die auf Eingriffe in Märkte verzichtet, sowie das Vertrauen auf private Initiative und Selbstvorsorge im Bereich der Sozialpolitik. Nach der Entflechtung der im „Dritten Reich" zu Großkonzernen gewordenen Wirtschaftseinheiten, nach der Befreiung von Zwangsverordnungen, das heißt der Entlassung in die Eigenverantwortung, gewann im Rahmen einer föderalen, staatlichen Verfassung die Wirtschaft rasch an Kraft. Die aus Rationierung und Kontrolle befreite Wirtschaft, erhielt mit der Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 GG) und einer Reihe staatlicher Eingriffe (Struktur-, Wohnungsbau- und Sozialpolitik) die von den politischen Parteien und den meisten Institutionen (z.B. den Kirchen) befürwortete „soziale" Korrektur. Das Kartellgesetz sorgte für die staatliche Begrenzung privater Machtkonzentration, um auf diese Weise - soweit möglich - die notwendige Chancengerechtigkeit für unternehmerische Betätigung zu garantieren. Um die Stabilität des Geldsystems sicherzustellen, wurde - nach der Währungsreform - der Zentralbank ein von der Politik weitgehend autonomer Status gewährt. Geldpolitik ist seither nicht wieder zur inflationären Finanzierung staatlicher Ausgaben missbraucht worden. Die Bundesbank hatte als wirtschaftspolitische Autorität einen weit über die Geldpolitik hinausgehenden Einfluss gewonnen; ihr Rang war im In- und Ausland unbestritten. Das erfolgreiche deutsche Modell einer föderativ strukturierten, von Weisungen der Regierung unabhängigen Zentralbank hat so sehr überzeugt, dass es zum Paten für die Europäische Zentralbank wurde. Die neue Wirtschaftsordnung wurde angenommen: Die von ihr ausgehende Motivationsförderung war so stark, dass große Probleme trotz ungünstiger Startbedingungen rasch überwunden werden konnten. Die neue Wirtschaftsverfassung erwies sich vor allem deshalb als so erfolgreich, weil ein Großteil der Bevölkerung gut ausgebildet und ein beträchtlicher Teil geistig und räumlich außergewöhnlich mobil war. Angesichts des Ausmaßes der Flüchtlingsbewegung und der Auslöschung alter sozialer Strukturen wurden Klassengegensätze weitgehend ausgeräumt: Jeder konnte etwas werden. Mit der Überwindung der unmittelbaren Not und dem Wiederaufbau einer Wirtschaft, die auch international wettbewerbsfähig wurde, war der Stolz verbunden, weltweit wieder als Nation anerkannt zu sein. Trotz früher Mitgliedschaft in Westeuropäischer Union und NATO blieb das „deutsche Wirtschaftswunder" lange Zeit der entscheidende Faktor für die zunehmende internationale Anerkennung. Auch durch die Römischen Verträge, die Mitbegründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durch die Bundesrepublik im Jahr 1957, hat sich daran wenig geändert. Deutschland blieb auch als wirtschaftlicher Riese ein politischer Zwerg. Die wirtschaftliche Wiedereingliederung in die westliche Welt fand ihre Vervollkommnung in der Einführung der freien Konvertibilität der D-Mark im Jahr 1958, jener Zeit, in der Gastarbeiter in die Bundesrepublik
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kamen und in der sich die Welt fur die deutschen Touristen öffnete. Der Slogan „Neckermann macht's möglich" war mehr als ein Werbespruch: Er signalisierte die materiell orientierte, individualistische und vorwärts drängende Haltung jener Jahre.
I I I . Keine Experimente - die wahre deutsche Mentalität? Das Wirtschaftswunder war nicht Ergebnis nimmersatten Abenteurertums und dynamischen Vorwärtsdrangs der Deutschen; es war das Ergebnis der Anstrengung nahezu aller Deutschen, Not und Elend hinter sich zu lassen. Wie so vieles wurde auch diese Bemühung mit einer nicht untypischen Perfektion zu Ende gebracht. Nach dieser Phase manifestierte sich eher wieder die grundsätzliche Haltung der Deutschen: „Keine Experimente" avancierte zum Wahlslogan. Bürgerliche Bewahrung, technokratische Haltung dominierten immer mehr. Grundsatzentscheidungen waren getroffen, die Zukunft erschien als eine problemlose Verlängerung der Vergangenheit. Der Wunsch der Deutschen nach Harmonie, nach Konsens wurde ebenfalls deutlich. Der angelsächsische Stil, nach einer offenen Debatte der kontroversen Standpunkte einen erträglichen Kompromiss zu finden, wurde durch organisierte Übereinstimmung im Klausurstil ersetzt. Hinweise auf solche Grundauffassungen sind die Etablierung der „Konzertierten Aktien" und die Mitbestimmung. Deutsche, die Partikularinteressen vertreten, betonen immer, dass ihre Entscheidungen am Gesamtwohl orientiert seien. Offensichtlich steht ein solcher Anspruch jedoch stark im Konflikt mit jenen Verpflichtungen, die man der jeweils eigenen Gruppe gegenüber hat. Deshalb fühlt sich auch der Staat aufgerufen, zwischen den rivalisierenden Interessen der einzelnen Gruppen zu vermitteln. Diese Aufgabe einem System der Marktwirtschaft zu überlassen, die daflir sorgt, dass individueller Eigennutz auch zu optimalen gesamtwirtschaftlichen Ergebnissen führt, erscheint vielen Deutschen unverantwortlich. Inmitten einer prosperierenden und von Technokraten beherrschten Bundesrepublik stellten immer mehr Menschen, vor allem jene, die nie etwas anderes als Wohlstand und Demokratie erfahren hatten, die bis dahin weitgehend akzeptierten Werte in Frage. Leistungsorientierung, Anerkennung staatlicher, ja gesellschaftlicher Autorität gerieten in die Kritik. Alte Wert- und Moralvorstellungen wurden abgeschüttelt. Dies bezog sich auf die Haltung gegenüber Ehe und Familie ebenso wie auf die Kindererziehung. Die Kritik erfolgte in militanter Weise in der Studentenrevolte der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, in der APO, sie manifestierte sich aber auch in der Hippie-Bewegung. Die Abwendung von den Institutionen der Gesellschaft fand einen schrecklichen Höhepunkt in der Entwicklung des schließlich selbstzerstörerischen Terrorismus der frühen siebziger Jahre.
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IV. Verwässerung der Marktwirtschaft Die neue ökonomische Zeitrechnung begann mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, das 1967 von der ein Jahr zuvor ins Amt gekommenen CDU/SPDRegierung erlassen wurde. Diesem Gesetz zufolge hat die Wirtschafts- und Finanzpolitik dafür zu sorgen, dass in Deutschland gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, ein hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum herrschen. Damit wurde ein weites Betätigungsfeld für eine interventionistische Wirtschaftspolitik geschaffen. Das Stabilitätsgesetz ist noch heute in Kraft und dient den Vertretern einer solchen Politik als wichtige Rechtfertigung. Besonders fatal war, dass viele das Gesetz als eine Art staatlicher Beschäftigungsgarantie missverstanden. Die Verantwortung der Tarifparteien für die Lage am Arbeitsmarkt fand hingegen lange Zeit keine hinreichende Beachtung. Die Löhne entwickeln sich in Deutschland nicht nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, sondern werden von den Tarifparteien, einem von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gebildeten Kartell, festgelegt. Dieses Kartell vertritt aber - wie andere auch - nur seine eigenen Anliegen. Für die Gewerkschaften geht es darum, ihren Mitgliedern hohe Lohnzuwächse und einen möglichst umfangreichen Schutz vor Kündigungen zu sichern. Davon profitieren zwar die Beschäftigten, die Arbeitsuchenden bleiben jedoch auf der Strecke, wenn der Faktor Arbeit immer teurer und Neueinstellungen fur Unternehmen zu irreversiblen Maßnahmen werden. Die Arbeitgeber auf der anderen Seite neigen bei zentralisierten Lohnverhandlungen dazu, die Interessen von Unternehmen zu übersehen, die in ihrer Existenz gefährdet sind und keine so hohen Lohnsteigerungen verkraften können wie Betriebe mit durchschnittlichem Ertrag. So sind im deutschen System der Tarifverhandlungen tendenziell Ergebnisse angelegt, die zu Lasten der Beschäftigung gehen. Diese Tendenz wurde durch das Stabilitätsgesetz - freilich unbeabsichtigt - noch verstärkt. Waren die Wirtschaftswunderjahre durch maßvolle Tarifabschlüsse gekennzeichnet, die sich an der Produktivitätsentwicklung orientierten, so kam es in der Folgezeit zu teilweise massiven Lohnsteigerungen. Auch gelang es den Gewerkschaften, erhebliche Arbeitszeitverkürzungen durchzusetzen. Darüber hinaus wurden vor allem in den siebziger Jahren die Kündigungs- und Arbeitsschutzbestimmungen ausgebaut. Die Folge der aggressiven Tarifpolitik war ein rasanter Anstieg der Arbeitskosten, die von 1970 bis 1986 um nahezu das Zweieinhalbfache stiegen. Dadurch verschlechterte sich die Position der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb erheblich - vor allem gegenüber den Hauptkonkurrenten USA und Japan.
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V. Die Siebziger: Grundstein für die Probleme der Gegenwart Der Mentalitätswandel der späten sechziger und der siebziger Jahre hinterließ deutliche wirtschafts- und finanzpolitische Spuren, die noch heute sichtbar sind. Um es zuzuspitzen: Die finanzpolitischen Probleme der Gegenwart sind das Erbe der siebziger Jahre. So stieg die Staatsquote, die 1960 noch bei gut 30 % lag, bis Ende der siebziger Jahre auf fast 50 %. Von diesem hohen Niveau ist die Staatsquote nicht mehr nachhaltig heruntergekommen. Erstaunliches bietet ein Blick auf die Zusammensetzung der Staatsquote: Während die Gebietskörperschaften im Zeitablauf immer mehr an Bedeutung verloren haben, haben die Sozialversicherungen an Bedeutung gewonnen - ein Spiegel der gesellschaftlichen Fokussierung auf Soziales. Da die Sozialversicherungen nach dem Umlageverfahren konzipiert sind, haben demographische Veränderungen direkte Auswirkungen auf deren Finanzierung. Wenn die Bevölkerung - wie es in Deutschland der Fall ist - altert, dann sind Kostenexplosionen im System angelegt. Auch der Weg in die Staatsverschuldung findet seinen Ursprung in den Siebzigern. Lag die Staatsverschuldung gemessen am BIP 1960 noch bei knapp 19 %, erreichte sie Mitte der achtziger Jahre bereits gut 40 % und verharrte bis zur Wiedervereinigung auf diesem Niveau. Durch die deutsche Einigung erfuhr die Staatsverschuldung erneute Dynamik und gipfelte unter anderem wegen der jahrelangen Wachstumsschwäche zu Beginn des neuen Jahrtausends bei gut 65 % im Jahr 2005. Der Glaube an die wirtschaftlichen Steuerungsmöglichkeiten des Staates und an die Möglichkeiten, die ökonomischen Errungenschaften „gerecht" auf die Bevölkerung zu verteilen, hat Deutschland um einen erheblichen Teil seiner Dynamik und Wachstumschancen gebracht. Die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass es ungleich leichter war, dieses Missverständnis aufzubauen, als es wieder aufzuklären. Zu viele ökonomische Interessen haben sich manifestiert und organisiert, als dass das Umsteuern leicht möglich wäre.
VI. Deutsche Einigung: Die marktwirtschaftliche Erneuerung verpasst Als sich abzeichnete, dass sich die Ära der DDR dem Ende zuneigt, begannen die Diskussionen darüber, welche Wirtschaftsordnung fur den Osten erstrebenswert ist. Fraglich war, ob die DDR den radikalen Umbruch wagen, oder einen dritten Weg zwischen Sozialismus oder Kapitalismus beschreiten sollte. Im Grunde ging es aber um eine andere Frage, nämlich ob die DDR das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik, das als soziale Marktwirtschaft bereits „gezähmter Kapitalismus" ist, übernehmen sollte. Es zeigte sich recht schnell, dass mit der Wiedervereinigung auch ein einheitlicher Wirtschaftsraum entstehen
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würde, in dem es keinen Platz für parasozialistische Experimente jenseits der sozialen Marktwirtschaft westdeutscher Prägung gab. Dass im Rahmen der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion dem Osten das gesamte westdeutsche Regulierungsnetz, das sich schon im Westen als Bremsklotz erwiesen hatte, übergestülpt wurde, war ein großer Fehler. Die nachhaltige Wachstumsschwäche Deutschlands ist auch heute noch zum Teil auf diese falsche Weichenstellung zurückzuführen. Die Wiedervereinigung wäre eine gute Gelegenheit gewesen, die Sklerose der deutschen Wirtschaft aufzulösen. Stattdessen wurden die zweifellos gut gemeinten, im Ergebnis aber höchst ineffizienten wirtschafts- und sozialpolitischen Regelungen in die neuen Bundesländer exportiert. Was sich eine reife Volkswirtschaft wie die alte Bundesrepublik gerade noch als Luxus leisten konnte, musste ein marodes Wirtschaftssystem, das die ehemalige DDR nun einmal war, überfordern. Es kann deshalb kaum verwundern, dass in unregelmäßigen Abständen die Forderungen nach einer „Sonderwirtschaftszone Ost" erhoben wird, um die besonders gravierende Wachstumsschwäche in den ostdeutschen Bundesländern zu überwinden. Ziel einer Sonderwirtschaftszone wäre es, bundeseinheitliche Regulierungen in einzelnen Regionen auszusetzen und die Märkte dort zu liberalisieren. Einzelne Bundesländer würden also die Möglichkeit bekommen, durch eine Änderung des Ordnungsrahmens wirtschaftlich bessere Ergebnisse zu erzielen. Gleichwohl wäre eine solche Sonderwirtschaftszone nicht zielfuhrend. Was für den Ostteil Deutschlands gut wäre, kann für den Rest der Republik nicht schlecht sein. Konsequent wäre es deshalb, jedes Bundesland zur Sonderwirtschaftszone zu machen - damit würde die eigentliche Idee des (Wettbewerbs-)Föderalismus in die Praxis umgesetzt. VII. Der bundesstaatliche Finanzausgleich Wettbewerblicher Föderalismus mit umfassender Einnahme-, Ausgaben- und Aufgabenautonomie der Bundesländer würde - ohne Finanzausgleich - zu einer größeren Unterschiedlichkeit der Länder führen. Dies ist zwar im Grundsatz beabsichtigt, führt aber bei den Steuereinnahmen zu Verwerfungen, die möglicherweise mit verfassungsmäßigen Vorgaben kollidieren. In den Art. 72 und 106 GG wird Bezug genommen auf die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" im Bundesgebiet, die durch eine entsprechende Verteilung des Steueraufkommens auf die Gebietskörperschaften gewährleistet werden soll. Um die Unterschiede bei der Finanzkraft der verschiedenen Bundesländer insbesondere mit Blick auf die ostdeutschen Länder - nicht ausufern zu lassen, ist ein Finanzausgleich unausweichlich. Fraglich ist allerdings, ob zur Wahrung der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" eine Quasi-Nivellierung der Finanzkräfte notwenig ist, die die Leistungsanreize eines Steuerwettbewerbs „durch die Hintertür" zunichte macht. So ist es im gegenwärtig geltenden Fi-
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nanzausgleich. Sollte also das Nivellierungsniveau nicht deutlich gesenkt werden, wird ein höheres Maß an Steuerautonomie für die Länder weitgehend wirkungslos bleiben. Es ist also umso dringlicher, eine Diskussion über die geeignete Interpretation der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" zu führen. Allein auf die Finanzkraft zu schauen, scheint jedenfalls zu kurz zu greifen. Die Lebensverhältnisse werden auch von nicht-monetären Faktoren wie z.B. Sicherheit und Umweltqualität bestimmt. Die vollständige Angleichung der Finanzkraft aller Bundesländer würde folglich gerade nicht zur „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" fuhren, sondern lediglich zur Pro-Kopf-Vereinheitlichung des öffentlichen Güter- und Dienstleistungsangebotes. V I I I . Länderfusion Eine weitere Möglichkeit, die staatlichen Strukturen effizienter zu gestalten, besteht in Länderfusionen. Die wichtigsten Kriterien für die optimale Gliederung des Staatsgebietes sind zusammengefasst: 1. Homogenität der Bürgerpräferenzen: Die Landesgrenzen sollten so gezogen werden, dass die Bevölkerung möglichst homogen ist. 2. Vermeidung externer Effekte: Interregionale externe Effekte (z.B. Umweltverschmutzung) sollten minimiert werden. 3. Kosten der Länderverwaltungen: Die Kosten für die Erstellung öffentlicher Leistungen sinken typischerweise mit zunehmender Ländergröße. Punkt 1 spricht tendenziell für kleinere, die Punkte 2 und 3 dagegen für größere Ländereinheiten. Gemessen an der tatsächlichen Gliederung des Bundesgebietes scheinen einige Länder eher zu klein als zu groß zu sein. Die Unterschiedlichkeit der Bevölkerung benachbarter Länder ist oft so gering, dass eine Fusion kaum aus Gründen der fehlenden Homogenität abgelehnt werden kann. Die Möglichkeit zur Länderneugliederung ist in Art. 29 GG geregelt. Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes ergehen demnach durch Bundesgesetz, das der Bestätigung durch einen Volksentscheid bedarf. Die betroffenen Länder sind anzuhören. Als „betroffene Länder" werden nur die Fusionskandidaten gewertet, was in einem Bundesstaat mit umfassendem Finanzausgleich zur Zementierung des Status quo führt, denn die „Kosten der Kleinheit" werden über das Finanzausgleichssystem auf die Allgemeinheit abgewälzt. Das heißt, es gibt eine Inkongruenz von Entscheidern (Bevölkerung der potenziellen Fusionsländer) und Finanziers des Status Quo (Bund und alle Länder), eine effiziente Neugliederung des Staates wird dadurch sehr unwahrscheinlich. Es zeigt sich, dass das hohe Maß an Nivellierung der Länderfinanzen ein Haupthindernis für mehr föderalen Wettbewerb darstellt. Dass es ein Mindest-
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maß an Finanzausgleich zwischen den Ländern geben muss, steht außer Frage, denn die originäre Finanzkraft der Länder differiert - spätestens seit der Wiedervereinigung - zu stark, um den Finanzausgleich gänzlich abschaffen zu können. Wem es aber ernst ist um ein Mehr an Wettbewerbsföderalismus, wird nicht um größere Unterschiede bei den Länderfinanzen herumkommen.
IX. Föderalismusreform Im Sommer 2006 haben Bundestag und Bundesrat im Rahmen der Föderalismusreform umfangreiche Änderungen des Grundgesetzes vorgenommen. Ein wichtiger Bestandteil dieser Reform war unter anderem die Reduzierung der zustimmungspflichtigen Gesetze von knapp 60 auf 35 bis 40 %. Manches wird sich durch die Beschlüsse positiv entwickeln. Problematisch ist jedoch, dass fast der gesamte Bereich der Staatsfinanzen von Anfang an nicht Gegenstand dieser Föderalismusreform sein sollte und deshalb - abgesehen von der Konkretisierung des „National