Staat – Staatsräson – Staatsbürger: Studien zur Begriffsgeschichte und zur politischen Theorie [1 ed.] 9783428543762, 9783428143764

Das Buch enthält ausgewählte Forschungsarbeiten des Würzburger Politikwissenschaftlers Paul-Ludwig Weinacht zur politisc

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Staat – Staatsräson – Staatsbürger: Studien zur Begriffsgeschichte und zur politischen Theorie [1 ed.]
 9783428543762, 9783428143764

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 180

Staat – Staatsräson – Staatsbürger Studien zur Begriffsgeschichte und zur politischen Theorie Von Paul-Ludwig Weinacht

Duncker & Humblot · Berlin

PAUL-LUDWIG WEINACHT

Staat – Staatsräson – Staatsbürger

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 180

Staat – Staatsräson – Staatsbürger Studien zur Begriffsgeschichte und zur politischen Theorie

Von Paul-Ludwig Weinacht

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-14376-4 (Print) ISBN 978-3-428-54376-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84376-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Annette und für Friederike, Stefanie, Konrad und Ludwig David

Vorwort Die von Carl Schmitt im Anschluss an Otto Brunners bahnbrechendes Buch „Land und Herrschaft“ (1939, 1942 2. Aufl.) vorgetragene Behauptung, dass auch „der Staat . . . ein konkreter, an eine geschichtliche Ordnung gebundener Begriff“ und kein Universale sei, wurde ein viertel Jahrhundert später erneut diskutiert. Helmut Kuhn gab aus philosophischer Sicht zu bedenken: „Tatsächlich verwirft er [C. S.] den Universalbegriff ,Staat‘ nur, um ihn durch einen anderen zu ersetzen – durch den der ,politischen Organisationsform‘“ (H. Kuhn, Der Staat. München 1967, S. 43). Die Historiker Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck setzten derweil mit ihrem groß angelegten Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“ (1972 ff.) eine Bewegung in Gang, in der Schmitts historische These Wurzeln schlagen konnte. Einer Anregung meines Doktorvaters, Prof. Dr. Hans Maier (München), folgend, versandte ich im Jahr 1967 die maschinenschriftliche Fassung meiner Dissertation über Wort und Begriff des Staates (Phil. Diss. München) an die genannten drei Herausgeber und an weitere Gelehrte. Mein im Jahr darauf bei Duncker & Humblot in Berlin erschienener wissenschaftlicher Erstling erhielt so die erwünschte breite Aufmerksamkeit. Reinhart Koselleck etwa sah 1972 in „Zur Theorie der Begriffsgeschichte und der Sozialgeschichte“ die historische These bestätigt: Man greife „offenkundig zu kurz“, wenn man vom „Gebrauch des Wortes Staat“ auf das „Phänomen des modernen Staates“ schließe, „was kürzlich in einer gründlichen Untersuchung aufgearbeitet wurde“ (wiederabgedruckt in ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1979, S. 127). Zur Methode meiner Begriffsarbeit stellte Herfried Münkler im Historischen Wörterbuch der Philosophie vergleichend fest: „In der neueren begriffsgeschichtlichen Forschung zeichnen A. O. Meyer [1950] wie W. Mager [1968] eine kumulative Entwicklung zum modernen S[taats]-Begriff nach (. . .), während P. L. Weinacht in kritischer Absetzung von teleologischen Konzeptionen der Begriffsgeschichte zwischen dem 14. Jh. und dem Anfang des 19. Jh. zehn verschiedene semantische Felder von ,S[taat]‘ unterscheidet, die ein komplexes Netz gegenseitiger Beeinflussung bilden und keinem einsinnigen Entwicklungsmodell folgen“ (ders. in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter/Karlfried Gründer, Basel 1998, Bd. 10, S. 6). Dass Begriffsgeschichte auch für die Interpretation klassischer Autoren fruchtbar gemacht werden kann, ist heute anerkannt (vgl. G. Scholz, Hg., Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, Hamburg 2000). Es war naheliegend, dass ich in die nachfolgende Sammlung mit Montesquieu und mit Carl Schmitt auch „Klassiker des politischen Denkens“ (Hans Maier) aufnehme.

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Vorwort

Montesquieus Interesse am Staat ist das Interesse eines Lehrers der praktischen Philosophie, es gilt nämlich der Beziehung politischer Institutionen zum guten bürgerlichen Leben. Indem er Staatsformen typisiert, unterscheidet er Verhältnisse, in denen politische Tugend verlangt und möglich ist, von solchen, in denen sie keinen Ort hat. Carl Schmitt hingegen ist an Wort und Begriff des Staates selbst interessiert, die in geschichtlicher Zeit (16./17. Jahrhundert) entstanden und heute dabei sind, ihre Brauchbarkeit einzubüßen. Der Aufsatz „Über Schmitts Arbeit am Staat“ – obgleich zuletzt verfasst – hat alte Wurzeln. In jenem Sommer 1967, als ich Kopien meiner maschinenschriftlichen Dissertation verschickte, sandte ich auch eine nach Plettenberg. Kurz darauf erhielt ich einen handschriftlichen Antwortbrief. Carl Schmitt bekundete aufs freundlichste sein Interesse an meinen Wortfunden und ließ mir als Gegengabe ein Exemplar seines „Nomos der Erde“ zukommen. Er schien besonders angetan von Herzog Eberhards III. Begriffswort „Staatspflichten“ (1645), mit dem der Monarch die württembergischen Stände an gemeinsame Obliegenheiten und angeborene Liebe zum „hochgekränckhten Vatterlandt“ mahnte. Und er zeigte sich „frappiert“, dass schon damals vom „formierten Staat“ die Rede war, was ihn an Altmanns „formierte Gesellschaft“ erinnerte. Mehrere seiner kritischen Anmerkungen und Anregungen in Briefen oder auf Postkarten habe ich in den Fußnoten zum Schmitt-Artikel zitiert. Der genannte Aufsatz entstand für eine Carl-Schmitt-Publikation, die mein Würzburger Doktorand, Hugo Herrera Arellano, heute Forschungsprofessor an der Universidad Diego Portales in Santiago/Chile, für die Universidad de Valparaiso herausgab (2012). Die anderen Aufsätze dieser Sammlung sind während meiner Jahre am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München (1967–1970), an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg (1970– 1979), am Institut für Soziologie und am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Würzburg entstanden (1979–2003). Ich danke dem Verlagsleiter, Herrn Dr. Florian Simon, dass er die vorliegenden Studien in die „Beiträge zur Politischen Wissenschaft“ übernommen hat, in denen meine Dissertation vor 45 Jahren als Band 2 erschienen ist. Für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck der Texte danke ich stellvertretend dem Herausgeber der Ciencias Sociales, Herrn Kollegen Agustin Sqella, von der Universidad de Valparaíso. Guntershausen, im April 2014

Paul-Ludwig Weinacht

Inhaltsverzeichnis Staat – Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes (Anzeige der Dissertation) .

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„Von dem wahren Begrif des Worts Staat“. Academische Lection eines Tübinger Professors des Staatsrechts (1767) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Entdeckung der Staatsräson für die deutsche politische Theorie (1604). Fünf Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„Staatsbürger“ – Geschichte und Kritik des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„Staatsmann“ – Anatomie und Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Montesquieus Interesse am Staat. Staat (Etat) und Regierung (gouvernement) im Esprit des lois . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Über Carl Schmitts Arbeit an Begriffen: Wort und Begriff des Staates . . . . . . . . . . .

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Zwei Typen heutiger Staatstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Staat – Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes (Anzeige der Dissertation*) Die begriffsgeschichtliche Dissertation des Verfassers zu „Staat“ (1968) ist als Beitrag gedacht zur Geschichte der entsprechenden europäischen Schlüsselwörter. Der kulturelle Hintergrund des deutschen Lehnworts war daher zu öffnen – einerseits zum lateinischen Stammwort status, andererseits zu den Lehnwörtern in romanischen (span. estado, ital. stato, franz. état) und germanischen Sprachen (engl. state, niederl. Staaten (Plural), deutsch Staat). Wir verstehen Begriffsgeschichte zunächst philologisch als Wortgeschichte und blicken auf die geistige Spannweite des sprachlichen Gebildes, nicht auf einen bestimmten „Inhalt“, der sich bald in dieser, bald in einer anderen lautlichen Form darstellt (L. Weisgerber). Wir wollten auch nicht eine Vorgeschichte der „modernen Bedeutung“ schreiben (so jedoch A. O. Meyer in seiner Studie zum Wort „Staat“ in: Welt als Geschichte, 10 (1950), S. 229 ff.), sondern planten eine Nachgeschichte älterer Bedeutungsvarianten, insbesondere älterer politisch-rechtlicher Bedeutungen. Zur Verständigung über den jeweiligen begrifflichen Kontext war die philologische Methode durch historische und politische Fragerichtungen zu ergänzen. Der perspektivische Unterschied zwischen Vor- und der Nachgeschichte des im Wort repräsentierten Begriffs kommt in der Darstellung (gleichsam als Lesehilfe) durch die Schreibung zum Ausdruck: Wir schreiben „Staat“ (bekanntlich ist die Schreibung mit doppeltem „a“ die jüngere), wenn wir vom neueren Begriff her zurückblicken, wir schreiben „Stat“ (am lateinischen status mit einfachem „a“ orientiert), wenn wir älteren Bedeutungen ihr Recht lassen und von dort aus nach vorn blicken. Übrigens ist der Wechsel des a-Lauts vom einfachen zum doppelten „a“ durch Rezeption des Niederländischen und zur Absetzung von Stadt oder Stätte im 17. Jahrhundert erfolgt, er hat sich aber erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, und zwar gegen die Schreibung von Veit Ludwig von Seckendorffs einflussreichem und immer wieder aufgelegtem „Teutschen Fürsten-Stat“ (1656 ff. ) durchgesetzt. Der entwickelnden Betrachtung entsprechend gilt dem Wandel, den Anreicherungen und den Verfestigungen des Wortgebrauchs unsere besondere Aufmerk* „Staat – Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert“ (= Beiträge zur Politischen Wissenschaft Bd. 2), Berlin 1968, 263 S., erschienen in: Archiv für Begriffsgeschichte Bd. XIII, Bonn (Bouvier u. Co. Verlag) 1969, S. 109–112.

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Staat – Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes

samkeit. Stellen des Übergangs sind daher reichlicher mit Belegen ausgestattet als der gefestigte Gebrauch selbst. Dass es schwerer ist, einen auslaufenden als einen neu aufkommenden Gebrauch zu dokumentieren, versteht sich von selbst. Dennoch glauben wir innerhalb der Geschichte des Wortes zwei Auslaufphasen unterscheiden zu können: – Die erste liegt in der Mitte des 17. Jahrhunderts; hier enden die Varianten II („Rang, Stand, Amt“) und IV („Fürstenstat“ im älteren Sinn); – die zweite Phase liegt am Anfang des 19. Jahrhunderts; hier enden die Linien V („innerer und äußerer Stat/Staat des Landes“), ein Teil der Varianten III („Stat/ Staat i. S. v. Budget, Bestallungsurkunde u. a.“) und VIII („Gesellschaft“). Als sprachliche Bedingung für dieses Vergessen und Aus-der-Mode-Kommen von Verwendungen findet man jedes Mal Abspaltungen neuer oder Erweiterung und Durchsetzung konkurrierender Varianten. Im 17. Jahrhundert sind es die Herausstellung des neuartigen Stats des Fürsten und der gesellschaftliche Stat; im 19. Jahrhundert ist es der nach dem Niedergang des Reiches und seines Stats allein noch erlebbare moderne Staat, dessen politisches Prinzip in Hegels Verfassungsschrift herausgestellt ist, und dessen Rechtsbegriff festzustellen zur säkularen Aufgabe der Jurisprudenz werden sollte. Wir haben unsere Untersuchung bis zu dieser zweiten Schwelle geführt. Hegels Sprachgebrauch markiert das Ende. Einige Varianten werden andeutungs- oder exkursweise weiter hinauf verfolgt. Die entwickelnde Betrachtung bestimmt auch den Aufbau der Arbeit. Der erste Hauptteil setzt ein mit einem Kapitel über die indogermanische Wortfamilie, zu der status (Stat) gehören und erläutert die wechselvolle Lautgestalt des Wortes in deutschen Texten: Danach werden mit der Wurzel „sta-“ bzw. „ste-“ in allen indogermanischen Sprachen Wörter gebildet, deren Inhalt mit „Stehen“ oder „Stellen“ zusammenhängt. Als ein inhaltsbezogener Schwerpunkt des Interesses am Wort folgt die Skizze eines Wortfeldsektors, in den Stat seit dem 15. Jahrhundert einzudringen beginnt. Das betreffende Kapitel ist überschrieben durch „Begleiter und Vorgänger des Wortes Staat im Deutschen“ und behandelt u. a. „Land“, „Reich“, „Gemeines Wesen“, „Polizey“, „Regiment“. Danach wird die Geschichte des lateinischen Bedeutungsträgers (status) skizziert. Im Vordergrund steht die Frage, welche engeren politischen Gebrauchsweisen das Wort status im Mittelalter und in der frühen Neuzeit von sich her entwickelt hat. Ferner geht es um das Verhältnis der lateinischen zu europäischen Volkssprachen und die Richtung des Bedeutungswandels. Mit dem Aufriss des lateinsprachlichen Hintergrundes, vor dem die deutsche Wortentwicklung bis ins 16. Jahrhundert zu sehen ist, schließt der I. Teil ab. Den zweiten und Hauptteil der Arbeit bildet die Darstellung des Lehnwortes „Stat/Staat“ in deutschen Texten. Die Ergebnisse der Untersuchung werden in

Staat – Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes

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22 Thesen zusammengefasst und der semasiologische Ertrag in einem Schaubild vergegenwärtigt. Das Wort erscheint im Deutschen seit dem ausgehenden Mittelalter, und zwar in den Hansestädten. Wir finden niederdeutsch „staet“ erstmals im Jahr 1338 in Rats- und Kaufmannsbriefen, wo es sich auf einen Rechtszustand, der vertraglich besteht oder kriegsbedingt aufgehoben ist, bezieht (STAT I). Noch im 14. Jahrhundert dringt das Wort in die ständische Sphäre ein (i. S. v. status, dignitas, praeeminentia, conditio). Übergreifender Sinnbezug dieser Varianten ist der Gradualismus der mittelalterlichen Welt, wo jeder Mensch und jedes Ding ihren von Gott angewiesenen Ort haben (STAT II). In der Umgebung des Landesherrn gewinnt der Stat, der „standesgemäßer Aufwand“ ist, politischen Charakter; am Ende des 15. Jahrhundert bildet sich dafür ein eigenes Wort: „hofstat“. Zugleich mit ihm entstehen finanztechnische Varianten, die sich im Gefolge der Maximilianeischen Verwaltungsreformen über Süddeutschland verbreiten (STAT III). Von besonderer Bedeutung ist die Entfaltung des status principis hin zu von Seckendorffs „Teutschem Fürsten-Stat“ (1656). Fürsten-Stat wird zum Kennwort der ständischen Herrschaft unter dem Reich: Das Wort reflektiert den Wandel von der älteren Landesherrschaft zum Fürstenstaat des 17. Jahrhunderts, der sich durch seine wachsende Strenge und die Überhöhung der fürstlichen Reputation auszeichnet. Aber noch ist Stat kein eigenmächtiges politisch-moralisches Subjekt, noch ist er nicht die im Land zusammengeschlossene ,Gesellschaft‘; die territoriale Erstreckung und die Menge der Untertanen bleiben ohne Gewicht (STAT IV). Als nächste Variantengruppe wird der „Stat des Landes“ verfolgt (STAT V). „Stat“ tritt hier deutlich an die Stelle von status, das während des ganzen Mittelalters Disposition eines Landes bedeutete: Leben, Wesen, Wandel, Policey, Regiment, Sitten und Gebräuche sowohl zu Kriegs- als zu Friedenszeiten. Zuerst werden jene Bedeutungen dargestellt, die bei der politischen Beschreibung eines Landes erscheinen (Verfassung, Form zu regieren, Ordnung des bürgerlichen Lebens), dann bei seiner materialischen Beschreibung (Reichtum, Potential eines Landes). Neben diesem inneren Stat gibt es den Stat der äußeren Souveränität, der es beispielsweise den Siegermächten des Dreißigjährigen Krieges nicht verwehrte, sich in den („inneren“) Stat des Reiches einzumischen. Im „Reichsstat“ überlebt diese ältere Variante des Wortes bis ins 19. Jahrhundert, wo sie von Hegel fulminant missverstanden wird und mit der Auflösung des Reiches von selbst verschwindet. Der Raumbegriff Staat ist als Lehnwort aus dem Italienischen ins Deutsche gelangt: Seit 1596 wird stato in Geographica mit „Stat“, stati mit „Staten“ wiedergegeben (STAT VI). Neu zu entdecken war die alte gesellschaftliche Wortbedeutung von Staat; man sieht das Wort gewöhnlich als Vehikel der absolutistisch-

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personalistischen Staatstheorie im Gegensatz zur traditionellen Lehre vom Gemeinwesen als der societas civilis. Unter dem Einfluss der naturrechtlichen Vertragslehre wird „Stat“ jedoch im 17. Jahrhundert Ausdruck für die vertraglich geeinte, unter einem Regiment stehende Gesellschaft (status politicus), dann – durch Vermittlung holländischer Schriften – Ausdruck für die Gesellschaft in ihrer „Menge“ selbst (STAT VIII). Der Hintergrund einer besonders wichtigen Phase des Bedeutungswandels ist die Lehre der „Ragion di stato“, wie sie in Deutschland rezipiert worden ist. Die Geschichte der Formel wird vom Beginn des 17. Jahrhunderts an verfolgt. Mit „Ragion di stato“ konzentriert sich der Inhalt der Wortes Staat auf das Interesse derer, die im Regiment sitzen. Zeugnis für diese engere und schärfere Bedeutung geben die Komposita wie Stats-Rat, Statsachen, Staatsgedanken. Traditionelle Gebrauchsweisen des Wortes: Stat des Fürsten, Stat des Landes, werden jetzt mit neuem Sinn gefüllt, was sich verfolgen lässt an Württembergischen Landtagspropositionen der 30er und 40er Jahre des 17. Jahrhunderts. Schließlich eröffnet „Ragion di stato“ die Reflexion auf das Wort selbst. Und das hat Folgen: Für den Gebrauchswert des deutschen Wortes Staat war es bis ins 18. Jahrhundert hinein kennzeichnend, dass es im Kontext der moralisch diskreditierten „Staatsraison“ seiner selbst bewusst geworden ist (VI). Die positive Bewertung des Wortes ist eine Frucht der Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts. Jenseits des konkreten Mängelstaats entfaltet sich hier das Bild eines idealen („abstrakten“) Staats (STAT X). Der Verfasser will nicht – etwa durch normative Definitionen – die quaestio juris des gültigen, sondern durch Quellenbeobachtung die quaestio facti des tatsächlichen Wortgebrauchs (Begriffsinhalts) klären. Gleichwohl erlaubt quellen-

Erläuterung zum Bedeutungsgefüge Die nebenstehende Tafel kann von oben nach unten gelesen werden: 1

lat. status – „status regis“ – „status regni“ –: Die lateinischen Begriffe stehen als die Ausgangsbedeutungen des Lehnworts (historisch), zugleich orientieren sie das Gefüge (systematisch).

2 a) Während STAT I als Repräsentant der „Einheit des Wortes“ in der Mitte steht, entwickeln sich im Zeichen von „status regis“ die Varianten STAT II, III, IV, VII und im Zeichen von „status regni“ die Gruppe STAT V; STAT VI nimmt seinen Ausgang vom Italienischen und Französischen, wird dann jedoch von STAT V her unterstützt. b) Um die Mitte des 17. Jahrhunderts entsteht quer durch die Varianten von STAT IV, STAT VII und STAT V ein einheitliches Bedeutungsband. 3

Aus dem genannten Bedeutungsband entspringen in neuer Gegensätzlichkeit STAT VIII und STAT IX (und X).

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-Haltung -Gesinde

Amt

Regiment

„status regis“

(=)

STAT IV consuetudines ac vires principis

STAT I zwischenparteilicher Zustand („Vertrag“)

lat. status

BEDEUTUNGSGEFÜGE des Wortes Staat (Stat) idg. *sta-

Form zu regieren

Verfassung

STAT V Disposition des Landes

„status regni“

mhd. stat (f.), state (f.), stand (m.)

Verfassung und Disposition STAT VI STAT VII des Landes Stadssachen Gebiet (Stato) innereäußereStad(-Politik) gemeiner Stat Machtstellung des Machtstellung des Fürsten: („Staatspflichten“) Landes Souveränität/Interesse Gebiet DOMANIUM HERZOGTUM STAT VIII STAT IX GEMEINWESEN HERZOGTUM STATEN UND FÜRSTEN-STAT POTENTATEN Anstalt societas civilis im engeren Sinn im weiteren Sinn (Hof) (Gemeinwesen „als Staat“) souveräne Staatsgesellschaft societas humana STAT X Abstraktum und Zivilisation „volksthümliche“ souveräne Wertbegriff Staatsgesellschaft

-Ordnung -Budget

STAT III Hof

Ausstattung Aufwand

STAT II Stand, Rang

Datum der frühesten Belege Orientierungstafel

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Staat – Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes

orientierte Forschung differenzierte Antworten – etwa auf die berühmte Frage, ob „Staat“ ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff ist (Carl Schmitt) oder ein universeller Begriff, wie ihn politische Philosophen fordern (Helmut Kuhn). Das Wort Staat ist nach Herkunft und Gebrauch an Epochen der neueren Geschichte gebunden: der Aufbau des Bedeutungsgefüges insgesamt (vgl. die Grafik auf S. 15) spiegelt geschichtliche Vorgänge und Zustände seit dem Ausgang des Mittelalters. Insofern ist Staat ein konkreter Begriff. Auf der anderen Seite wuchsen dem Wort Funktionen zu, die es mit den klassischen Universalien (regnum, civitas, respublica) gemein hat: Staat war seit der Mitte des 17. Jahrhundert Wechselwort der genannten Ausdrücke und blieb es im Grund bis heute. Insofern ist Staat auch ein Universale. Freilich: Wer heute „Staat“ unabhängig von seinen historischen Varianten als Universale verwendet, sollte sich klar darüber sein, dass er dies privativ, durch Abscheidungen, tun muss: Er muss bei der Wortverwendung bestimmte Varianten, Kontexte oder Perspektiven bewusst ausschalten. Und dafür sollte er die historische Fracht kennen, mit der das Wort seit seiner Verwendung in politischen Texten aus früher Neuzeit und Moderne beladen ist.

„Von dem wahren Begrif des Worts Staat“. Academische Lection eines Tübinger Professors des Staatsrechts (1767) Das 18. Jahrhundert erlebt mit dem Vordringen der deutschen Sprache in Wissenschaft und Universität den Wechsel des Namens einer Disziplin: Jus publicum wird „Staatsrecht“ (nach „ius status et superioritatis“ 1). Diesem Umstand verdanken wir eine „academische Lection“ über den „wahren Begrif des Worts Staat“, mit der der damalige (Pro-)Rektor der Tübinger Universität, Gottfried Daniel Hoffmann, am 30. Oktober 1767 sein Kolleg über das „teutsche Staatsrecht“ eröffnete. Er ließ seinen Schüler H. Nestel die „Lection“ dann als „academische Streitschrift“ verteidigen.2 Bei der 24seitigen Schrift handelt es sich um die bis dahin umfangreichste Untersuchung zum „Begrif des Worts“. I. Inhalt der Lection Professor Hoffmann geht davon aus, dass die neue Benennung des jus publicum als Staats-Recht, „die noch zu der Zeit, in welcher ich es lernete, fast ganz und gar unbekandt ware“, durch zwei Gründe verzögert worden sei: Einmal habe sich der lateinische Name „gleichsam naturalisieret“, so dass man ihn durch das Wort Staats-Recht „nicht allein übersezte, sondern wohl gar definirte“ (S. 2); zum andern habe von dem Namenswechsel die „verhaßte ratio status, oder die längst sehr übel berüchtigte (falsche) Staatsklugheit, und zwar nicht ganz unbillig, abgehalten“ (S. 7). Indes sei man heute durch die Missverständlichkeit des älteren Wortes berechtigt, dieses fallen zu lassen: Dem Fürstenstaat sei ein jus publicum, dessen republikanischer Ursprung auf populi majestas verweise, nicht mehr angemessen (S. 14 f.).3 1 In Acta pacis Westphalicae III. D.1, 1964, S. 139. Vgl. auch den Doppelausdruck ius publicum et status (1645) in: J. G. von Meiern, Acta pacis Westphalicae publica, Th. 1, Hannover 1734, S. 782. In Die heutige Subtile Staats-Architektur, Leipzig 1687, S. 585 finde ich das Wort „Staatsrecht“ erstmals als Wiedergabe von frz. droits publiques et privées, nämlich „Staats- und Privatrechten“. Bei F. Topoi (1607) wird ius status im Zusammenhang mit ratio status für derogatio verwandt, vgl. dazu R. de Mattei, Il Pensiero politico di Scipione Ammirato, Milano 1963, S. 150. J. M. Babo (1786) erinnert sich noch ausgangs des 18. Jh.’s an diesen Zusammenhang: „Staatsräson (sonst auch Staatsrecht, raison d’état . . . genannt)“. 2 Die Vorlesung wurde gedruckt als „academische Streitschrift“ (Tübingen 1767); sie wurde im November desselben Jahres von F. H. Nestel verteidigt. 3 Hoffmann folgt hier J. P. Lud(e)wig, Oeconomische Anmerkungen über Seckendorffs Fürsten-Staat, ed. C. E. Klotz, Frankfurt/Leipzig 1753. Seit jeher war die Etymo-

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„Von dem wahren Begrif des Worts Staat‘‘

Mit dieser Weichenstellung ist der Untersuchung des „wahren Begrifs“ die Richtung gewiesen. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass Hoffmann seine Lection – wie ihr Titel ausweist – in Gegenwart des regierenden Herzogs Karl Eugen von Württemberg vortrug. Der Staat, dessen Recht an deutschen Universitäten gelehrt werden sollte, war ja „das gemeine bürgerliche Wesen, doch vornehmlich nur in Absicht auf den einen und Haupttheil desselben, den Regierenden“ (S. 16). Hoffmann, der die etymologische Kontroverse zwischen Seckendorff und Kaspar Stieler („Spathen“) kennt4, lässt es dahingestellt, ob das Wort seiner Form nach von „statten“ herrühre (S. 11 f.), doch betont er, dass „von denenjenigen Bedeutungen, die ihme beygelegt werden, offenbarlich mehrers aus dem lateinischen herrühret, oder doch solches deutlich nachahmet“ (S. 13 f.). Als Beleg gelten die klassischen politischen und Rechtsformeln status reipublicae, status urbis, status regni Romanae. Daran schließt er die Folgerung: „Es hat auch würklich diese Übereinkunft des lateinischen Worts status und des teutschen Worts Staat in der Verbindung mit dem Staats-Recht diesen guten Grund vor sich, daß so wenig ein Staat ohne Recht seyn, bestehen oder gedacht werden kann, also auch alles Staats-Recht nothwendiger Dingen einen Staat, das ist eine civitatem jam constitutam supponiret“ (S. 15). Die Staatsklugheit bedürfe demgegenüber der civitas constituta nicht. Der gegründete Staat ist das „gemeine Wesen“ in seinen inneren Verhältnissen; diese jedoch „vornehmlich nur in Absicht auf . . . den Regierenden. Der andere Theil einer bürgerlichen Gesellschaft, der Gehorchende, die Unterthanen, sind zwar auch mit in dem Begrif eines oder des Staats enthalten, so ferne nehmlich ohne sie kein Regente, keine Regierung gedacht werden kann . . . Alldieweil aber jedannoch die Unterthanen, nur in so ferne sie regiert werden, hierher gehören, so bezieht sich gleichwol die Redensart, der Staat, in denen allermeisten darmit verknüpften Worten auf die Regierung und alles dasjenige, was . . . dahin gehörig“ (S. 16 ff.). Die schrittweise Einengung der Wortbedeutung von civitas constituta auf deren regierenden Teil setzt sich fort in der dritten Aussage: „Der Staat begreift ferner alles dasjenige in sich, was in einer bürgerlichen Gesellschaft und deren Lande . . . anzutreffen ist, und leidet keinen anderen in sich“ (S. 19). Es ist das Verbot von status in statu. Nach diesen einschränkenden Bestimmungen des Wortes nennt Hoffmann das Feld der Anwendung und die Varianten: „Der Staat mag eine Gestalt und Form haben, welche er will.“ „Staat“ bedeutet daher „bald eine jede bürgerliche Geselllogie von publicus umstritten, vgl. die vier Ableitungen des Wortes bei Gregorius Tholozanus, De Republica Libri sex et viginti 1597, pag. 7. 4 Nachweise in Weinacht, Staat (1968), S. 170 f. (dort Fn. 175).

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schaft, bald eine freye, unabhängige oder solche bürgerliche Gesellschaft, die ausser ihrem eigenen Oberhaupt weiter keinem menschlichen Befehl unterworfen ist, bald nur eine Republic . . . (Frey-Staat), bald aber überhaupt auch das gantze Regierungs-Wesen eines Reichs oder Republic, als die Staats-Verfassung desselben“ (S. 20). Mit anderen Worten: Souveränität und monarchisches Regiment sind mögliche, aber keine notwendigen Bestimmungen des „Begrifs“ Staat. Als Variante zu „bürgerliche Gesellschaft“ wird „Staats-Verfassung“ genannt. In dieser Variant liegt ein deutlicher Schwerpunkt des Wortes: „Die Verbindung derer Regenten und Unterthanen. Welche auch den eigentlichen Staat eines Reiches ausmachet“ (S. 22). Eine weitere Variante wird bloß angedeutet: Staat als Gegenstand der äußeren Politik („Staats-Interesse“ und äußeres Staatsrecht). Die Grundbedeutung des Wortes, seine Eingrenzung und sein Schwerpunkt werden abschließend bildhaft dargestellt: durch das Doppelmodell eines „Cörpers“, dessen Teile vom Haupt regiert und eines „Gewölbes“, dessen sämtliche Steine von dem Schlussstein zusammengehalten werden: „auf welches zusammenhalten und regieren, sich das Wort, von dem ich bisher geredt, allemahl nothwendig beziehet“ (S. 24).

II. Kritik der Lection Man wird den Versuch Hoffmanns, das Telos des zeitgenössischen Fürstenstaats aus dem Wort heraus zu entwickeln, zunächst als Beitrag eines Publicisten zu verstehen haben: der „Begrif“ ist ihm wichtiger als der „Gebrauch“. Man halte es der Anwesenheit Serenissimi zugute, dass ein württembergischer Magister vom gemeinen Wesen und der bürgerlichen Gesellschaft redet, ohne mit einer Silbe der „Landschaft“ zu gedenken. Es gibt für ihn nur Regierung und Regenten als „den einen und Haupttheil“ und dann die Untertanen. Der Staat ist ganz aus dem Geist fürstlichen Rechts verstanden; für das ständische Recht gibt es keinen Anhaltspunkt als den, dass alles Staatsrecht „einen Staat, das ist eine civitatem iam constitutam supponiret.“ Aber diese civitas ist kein beharrendes Fundament, sondern die bloße Erstreckung des Regiments, das zuhöchst und als „Schlussstein“ dem Ganzen Halt verleihen muss. Die Systematik des Juristen taucht die wirklichen Zustände in das Licht, das dem zu absoluter Regierung neigenden Herzog Karl Eugen gefallen musste, so wie er ja bereits mit Rücksicht auf Serenissimus den einen „republikanischen Ursprung“ erinnernden Namen des Lehrfachs (jus publicum) aufzugeben bereit war. Andererseits ist es die Leistung Hoffmanns, eine beachtliche Reihe von Bedeutungsvarianten des Wortes aufgeführt zu haben. Während die Autoren des 17. Jahrhunderts im Kontext der Ratio status verblieben sind, vergewissert er ein größeres Feld der Anwendbarkeit. Folgende Bedeutungen waren zum damaligen Zeitpunkt in Wörterbüchern ausgewiesen:

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„Von dem wahren Begrif des Worts Staat‘‘

1. Regimentsverfassung, -form: zuerst bei Kramer (1702)5, zuletzt bei Zedler (1744)6; 2. Regiment, Regierung: zuerst Stieler (1691)7, zuletzt Zedler (1744)8; 3. Respublica als Oberbegriff für Regierung und Untertanen: zuerst (?) bei Schottel (1663)9, sicher bei Kramer (1702)10 und dann J. Hübner (1722)11, auf welchen Hoffmann sich ausdrücklich bezieht; 4. Respublica als Oberbegriff für verschiedene species von Gemeinwesen: andeutungsweise bei Kramer (1693)12, dann bei Steinbach (1734)13. Hier hat Hoffmann einen weiterführenden Beitrag geleistet, indem er die Verwendbarkeit des Wortes ausdrücklich für alle bürgerlichen Gesellschaften feststellte, ungeachtet der Verfassungsform oder dem Sitz der Souveränität. Hoffmann lässt aber auch, bewusst oder unbewusst, einige Varianten des Wortes unter den Tisch fallen: etwa den vernunftrechtlichen Stat, d. h. die den Fürsten legitimierende Gesellschaft; den patrimonialen Stat, d. h. die Güter und Länder in des Fürsten Besitz; den kameralistischen Stat, d. h. das System, nach dem ein Land ertragreich gemacht und besteuert wird. Ebenso macht er noch nicht ausdrücklich auf den „abstrakten Staat“ aufmerksam, denn dieser dürfe vom konkreten Staat ebenso wenig getrennt werden wie der Schlussstein vom Gewölbe.14 Erst Adelung bucht im Jahr 1780: „Man braucht es hier theils als ein Abstractum und ohne Plural. Wider den Staat reden . . . Theils aber auch als ein Concretum, eine . . . bürgerliche Gesellschaft mit dem ihr zugehörigen Landesbezirk zu bezeichnen.“15

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Zit. DWb. X, 2. 1, Sp. 280. Zedler, Großes Universal-Lexicon, Bd. 39, 639: „die Regiments-Forme und Verfassung zwischen Obrigkeit und Unterthanen eines Landes“. 7 K. Stieler, Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs, Nürnberg 1691, Sp. 2114: „gubernatio, regimen“. 8 Zedler Bd. 39, 639: „die Regierung“. 9 J. G. Schottel, Teutsche Haubt Sprache, Braunschweig 1663, 1420: „staat m. status. Respublica. Estat“. 10 Zit. DWb X, 2. 1, Sp. 280. Neu angefertigtes Italiänisch-Teutsches Sprach- und Wörterbuch, Nürnberg 1693, s.v. stato: „Länder und Herrschaften grosser Herren“. 11 J. Hübners Reales Staats-Zeitungs- und Conversations-Lexicon, Leipzig 1722, Sp. 1802: „Staat, oder ein gemeines Wesen, ist an sich selbst eine grosse Gesellschafft, darinnen man Obrigkeit und Unterthanen antrifft.“ 12 M. Kramer, Neu angefertigtes Italiänisch-Teutsches Sprach- und Wörterbuch, Nürnberg 1693, s.v. stato: „Länder und Herrschaften grosser Herren“. 13 Ch. E. Steinbach, Dt. Wörterbuch, Bd. 2, Breßlau 1734, S. 686: „Staat . . . 3. Das gemeine Wesen, Reich, Herrschaft.“ 14 Man beachte jedoch an einer Stelle der Lection Hoffmanns die Wendung „Begrif eines oder des Staats“ (S. 16). 15 J. Chr. Adelung, Versuch eines vollständigen gremmatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart, 4. Th., Leipzig 1780, Sp. 636. 6

Die Entdeckung der Staatsräson für die deutsche politische Theorie (1604). Fünf Thesen 1. These: Staatsräson ist kein Universale, sondern ein geschichtlich-konkreter Begriff. 2. These: Der Entwicklungsstand der Institutionen und der politischen Sprache in Deutschland hat die Rezeption der Staatsräson erschwert. 3. These: Staatsräson spaltet sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in eine anerkannte juristische Doktrin (arcana Imperii) und eine befehdete politische Theorie (ratio status). 4. These: Die theoretische Auseinandersetzung zwischen traditioneller Theorie und neuer Staatsräson-Lehre wird 1604 in der Schrift von Jacob Bornitz erstmalig für Deutschland geführt: sie erschein als Missverständnis, beruht aber auf kaum ausgleichbaren Voraussetzungen: hier die societas civilis, in der der fürstliche Staat mitenthalten ist, dort der Staat des Fürsten, der das Gemeinwesen überformt. 5. These: Die geschichtlich-konkrete Profilierung des Begriffs Staatsräson lässt sich entlang der zeittypischen Konflikt-Linien darstellen (Landesfürst versus Stände, Reich, Kirche, auswärtige Mächte).1 1. Staatsräson ist ein geschichtlich-konkreter Begriff, bei dem Konzept und Denomination nicht getrennt werden dürfen. Die Begriffsbestimmung von Staatsräson sollte daher – in welchen Texten immer – Merkmale der politisch-historischen Lage mitbedenken. Und selbstverständlich gilt das von der Entwicklung der Gestalt und des Inhalts der Sprache im Sinnhorizont des Staats (vgl. dazu These 2). Erinnert sei an drei Lagemerkmale: – „Absolutismus“: Neue gesellschaftliche Bedürfnisse begünstigen einen Wandel der politischen Struktur, die den polyzentrisch angelegten älteren Ständestaat zum monozentrisch angelegten Fürstenstaat verschiebt; – „Staats- und Völkerrecht“: Geistige Strömungen und Kräfte sowie die Rolle der sie vertretenden Institutionen und Personengruppen (Klerus, Juristen usw.) 1 Wo nicht anders vermerkt, stützten sich die Belege auf Kapitel VII (S. 135–172) meines Buches Staat (1968).

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verdeutlichen nicht nur Konfliktlinien, sondern tragen auch dazu bei, sie durch neue staatliche und zwischenstaatliche Regelungssysteme überwindbar zu machen; – „Bündnispolitik“: Indem Stände und Staaten ihr jeweiliges Interesse zu wahren suchen, treten sie wechselseitig in Verhältnisse von Neutralität und Assistenz. Die angedeuteten Merkmale sollen verdeutlichen, dass eine nur innenpolitische oder dogmengeschichtliche oder bündnispolitische Interpretation des StaatsräsonBegriffs fehl ginge, vielmehr müssen alle drei Fragerichtungen ins Spiel kommen. Nur so gelangt man zu den Bedingungen, unter denen geschichtlich-konkret das Staatsräson-Konzept entwickelt wurde, Verbreitung fand, in Verruf geriet und immer neu formuliert wurde. 2. In Deutschland eilt der Begriff der Staatsräson (italienisch: raggion di Stato) der politischen Sprache im Sinnbezirk des Staates voraus, mit der Folge, dass er zunächst nur unzureichend rezipiert wurde. Dies hängt mit einer gewissen Verspätung der deutschen Verfassungsverhältnisse zusammen: Während in Frankreich, Italien oder Spanien der „Consiglio di Stato“ die zentrale monarchische Institution war, die ihren unverwechselbaren Sinn nicht nur aus den Materien bezog, die dort traktiert wurden („status, stat, regiment und politische sachen“ bzw. geheime Reichssachen), sondern auch aus der ständischen Kritik, mit der die einseitige Aufkündigung der älteren Ratspflicht quittiert wurde, erscheint in deutscher Übersetzung dafür noch der ambivalente Begriff „Staden oder Stenden Raht“ (1580). In ihm drückt sich wie in ähnlichen Wortbildungen die ungeschiedene fürstenstaatlich-ständisch-reichsständische Gemengelage aus, die – trotz Ausbildung geheimer Räte im 16. Jahrhundert – im damaligen Reich vorbildlich war. Eben diese Gemengelage verhinderte es zunächst, dass Ratio status als ein die fürstliche Gewalt begünstigender Scheidebegriff erkannt wurde. Der Übersetzer von Boteros „Della Ragio di Stato“ interpretierte diesen Begriff im Titel der 1596 erschienenen deutschen Ausgabe so: „Gründlicher Bericht von Anordnung guter Policeyen und Regiments auch Fürsten und Herrn Stands“. Um 1600 wird man dann auch in Deutschland auf den neuen Klang des Wortes Estat, État, stato aufmerksam: Es deutet auf die sich mählich ausweitenden, im Konflikt mit den ehemals beteiligten landständischen Institutionen diesen vorenthaltenen, nach neuartigen Maximen und Prinzipien diskutierten, in alleiniger Zuständigkeit des Fürsten behandelten Materien des Geheimen Rates, deren Diskussion in großem Kreis „dem gemeinen vnd Kriegswesen hinderlich deßwegen einzustellen seye“. Stat, das ist also die Politik der Protagonisten des absoluten Fürstenregiments, und die gelehrte juristische Welt versäumte nicht, den neuen Begriff zu verarbeiten.

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Früheste Varianten der Formel „Staatsräson“: Im Italienischen wurde sie nicht durch Nicolo Machiavelli, sondern durch Giovanni Botero eingeführt: Della Ragion di Stato Libri dieci etc., Venetia 1586. Von dort kam sie mit der Übersetzung des Buchs ins Französische: Raison et gouvernement d’Estat en dix livres, Paris 1599, im Text der Übersetzung variiert die Formel: raison et maniement d’Estat, Raison de l’Estat. Im gelehrten Latein hieß Boteros Buch: De ratione, ut vocant status, hoc est, De rebus Politicis (bei: Possevinus, Apparatus sacer Bd. 1, 1603, S. 827). Man findet auch ratio status boni publici (nachgewiesen bei A. Wandruszka, Reichspatriotismus . . . von 1635, Graz 1955, S. 46.) In deutschsprachigen Texten erscheint die Formel in lateinischer, italienischer und französischer Form, zuweilen auch in Mischformen (raggione di stato 1625, Ratio del Stado 1629, propter status rationes 1643, aus Ursach von Staat, die Raison deines Estats, wider raison ihres Estats 1659, 1663). Interpretierende Übertragungen waren noch in den 40er Jahren geläufig: des Landes und Regiments Richtschnur (1647), Statisterey, Estatisterey (Schuppius 1663), Ursach von Staat (Reinkingk 1663). Für die Abneigung deutscher Autoren gegenüber der welschen Staatsräson ist das Bekennis Reinkings: „und weiß es auch nicht eigentlich auf gut Teutsch zu geben, weil res ipsa auch nicht gut Teutsch ist“ (Biblische Policey 1653, S. 233). Gängige Umschreibungen: Statsachen, Statskunst, Staats-Regul u. a.

3. An dieser Stelle ist der von G. Lenz, vertretenen Auffassung (Archiv des öffentlichen Rechts, NF Bd. 9, 1925, S. 269 f.) zu widersprechen, dass in Deutschland eine Lehre von den arcana Imperii ausgebildet worden sei, in die später der Gedanke der Ratio status hineingewachsen sei. Richtig ist, dass der Gedanke der Ratio status in Deutschland zunächst nur in der Form der ArcanaLehre (Clapmarius 1605, Besoldus 1616 u. a.) wirksam wird2, während er im Gewand der Ratio status angegriffen und abgelehnt wird. Wir haben also in publicistischen Texten für die Dauer einer Generation den Fall, dass die Sache der Staatsräson in zwei Formen zur Geltung kommt: als arcana Imperii, in der sie verarbeitet wird, und als Ratio status, unter welchem „speciosum nomen“ sie abgelehnt wird.3 Das aufsehenerregende Werk des Hip2 Man beachte hier insbesondere die Derogatio-Theorie, die – wie R. De Mattei gezeigt hat – von Ammirato ausgearbeitet wurde (Il pensiero di Sc. Ammirato con discorsi inediti, Milano 1963). 3 Diese dritte These wurde bei dem von Roman Schnur in Tübingen geleiteten internationalen Kolloquium zum Thema Staatsräson, wo sie erstmals vorgetragen wurde, von einem niederländischen und einem englischen Teilnehmer mit kritischen Bemerkungen bedacht, vgl. E. H. Kossmann (S. 75): „The Dutch texts, which I know, bring those two concepts very close together . . . In the Dutch universities both the arcana imperii and the ratio status were taught by professors of philosophy and ethics and politics, not by jurists.“ Ähnlich D. F. Berkowitz (S. 75 f.): „Arcana imperii is also used in England early in the 17th century – before reason of state becam a popular phrase – by philosophers, jurists and by James I himself . . . But as far as I can see the older rhetoric does not differ at all from the meaning we find in ,reason of state‘“.

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polithus a Lapide, Dissertatio de Ratione status in Imperio nostro Romano-Germanico (1640) beendet diese Begriffsspaltung und führt – wenn auch nicht diskussionslos – ein positives Verständnis der Formel in die deutsche Reichspublizistik ein (dazu: A. Wandruszka, Reichspatriotismus . . . von 1635, Graz 1955). 4. Die kritische Rezeption der Formel Ratio status durch die deutsche Publicistik hat mehrere Ursachen: Die ständische Position gegenüber der fürstlichen Zentralgewalt sind noch nicht so weit geschwächt, wie dies am Ende des Dreißigjährigen Krieges der Fall sein wird; die Vereinbarkeit von Recht, Gesetz, Moral und Glaube ist noch nicht preisgegeben und wird uter dem Eindruck des Kampfes zwischen „Machiavellisten“ und „Antimachiavellisten“ – zuweilen mithilfe ständisch-traditioneller, deutsch-patriotischer Argumente gegen „Franzosen wust und unflat“ – immer neu belebt (vgl. etwa die von Michael Kreps 1620 herausgegebenen „Teutsche Politik“). Und nicht zu vergessen: Als das Verständnis des Begriffs in Deutschland erwachte, gab es bereits eine breite spanische, italienische und französische antimachiavellische Literatur, in deren Kontext Ratio status in Deutschland im doppelten Sinne heimisch wurde: fremd nach Herkunft und fremd nach Inhalt und Anspruch. Diese doppelte Fremdheit wird bereits im ersten von mir aufgefundenen Fall ausdrücklicher wissenschaftlicher Behandlung der Ratio status deutlich: in dem vom kaiserlichen Rat Jakob Bornitz stammenden Traktat über Prudentia politica comparanda, der 1604 von Johann Bornitz in Wittenberg ediert wurde. Verglichen wird hier die echte politische Klugheit u. a. mit einem modernen Konzept, „quam (scil. Prudentiam) Pseudo-politici et Machiavelli asseclae specioso nomine Ratione status praetendunt.“ 4 Man kann in Bornitzens Kritik an der Ratio status die Argumente finden, die in der antimachiavellischen Literatur wieder und wieder vorgetragen werden. Wichtiger scheint mir, dass Ratio status hier zum erstmals als verfassungspolitischer Scheidebegriff erkannt wurde, aber nicht um die fürstenstaatlich-ständische Gemengelage zugunsten eines absoluten fürstlichen Regiments aufzulösen, sondern um innerhalb des älteren politischen Theorieverständnisses der prudentia ihren Platz zu sichern. An der älteren politischen Theorie waren inzwischen zwei Schwächen deutlich geworden: sie reflektierte Gesellschaft als eine „iam constituta“ und vernachässigte Bedingungen und Formen der Konstituierung. Und sie 4 Meinecke (Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, hg. v. W. Hofer, München 3. Aufl. 1963, S. 155) erwähnt zwar den Namen Bornitz, will aber „absehen von den Äußerungen . . . über den Unterschied von wahrer und falscher Staatsräson“, um gleich auf Clapmarius zu sprechen zu kommen. Die oben zitierte Stelle zeigt indes klar, dass es bei Bornitz nicht um wahre und falsche Staatsräson geht, sondern um die Reinhaltung der prudentia politica von einem neuen Konzept, das unter dem „besonderen Namen“ der Ratio status gehandelt wird. Meinecke übersah Bornitz als Entdecker des Staatsräson-Konzepts für die deutsche politische Theorie, weil er den besonderen Zusammenhang von dessen „Äußerungen“ übersah.

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reflektierte die societas civilis als eine „bene administranda“, d. h. im Blick auf „gute Policey“ und vernachlässigte sowohl den Bereich des „Auswärtigen“ wie auch die „außergewöhnlichen Umstände“. In diese Lücke sprang unter dem Einfluss der Staatsräson-Literatur in Deutschland die Arcana-Lehre, wenn sie die Ermächtigung des Fürsten von den Grenzen her neu definiert: „pro reditu ad terminos meri Naturalis, Gentium juris et liberae rationis, jure positivo neglecto“.5 Die Kritik des kaiserlichen Rates Bornitz beruhte auf dem tradierten Konzept, außergewöhnliche Vorfälle als gewöhnliche Beratungs- und Entscheidungsgegenstände zu behandeln und so den status des Landes zu schützen, und sie wandte sich dagegen, dass im Falle des Außergewöhnlichen der Status des Landes umgegründet werden müsste, um das Land im neuen status schützen zu können. Die Kritik des kaiserlichen Rates zielte auf drei Punkte: die Voraussetzungen, das Endziel und die Mittel bzw. Strategien politischen Handelns. Voraussetzung eines Handelns aus Staatsräson ist, dass ein Fürst – wie immer dies gelinge – handlungsfähig bleibe, notfalls also ohne Bindung an Sitte und Recht. Aus tradierter Sicht bedeutete das, ihm zu empfehlen, nicht wie ein Fürst, sondern wie ein Räuber zu handeln. Darum erklärt Bornitz: „Iustitiam autem et virtutes caeteras saeparare, quid aliud est, quam fundamentum prudentiae in recta ratione sita destruere“ (ohne Paginierung). Das Endziel des Handelns aus Staatsräson wird sichtbar, wenn von der Doppelaufgabe der Polis, 1. das Überleben der Gemeinschaft zu sichern und 2. das gute Leben der Bürger in ihr zu ermöglichen, der Blick auf das Überleben und notfalls sogar nur auf den Positionserhalt des Fürsten eingeschränkt wird. Hier setzt Bornitius mit seiner Kritik an: „Iisque, qui istam (scil. Rationem Status) venditant, verus societatis civilis finis nondum innotuisse videtur“. Und was rechtliche, sittliche, religiöse Handlungsschranken angeht, so stehen sie für Staatsräson prinzipiell zur Verfügung, rechtlich formalisiert in der Lehre vom Jus dominationis bzw. Jus boni publici. Durch letzteres wird die derogatio, also die Aufhebung positiven Rechts begründet. Moralische und religiöse Beschränkungen hingegen lassen sich als Gewissensfragen des Fürsten verstehen, die als solche nicht mehr in die Zuständigkeit und Mitverantwortung von Ständen fallen.6 Jakob Bornitz entscheidet sich für die societas civilis der älteren

5 C. Besoldus, Synopsis Politicae Deductio, Novimagi 1659 S. 257 f. Der leitende Gesichtspunkt ist das bonum publicum (ebd. S. 50). 6 Die Unterscheidung von „finalem“ und „konditionalem Handlungsprogramm“ erlaubt die folgende Differenzierung: Die politische Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich, in deren polyzentrischer Struktur eine Fülle von Machtpositionen enthalten sind und die sich daher mittels „konditionaler Handlungsprogramme“ des Sinnes ihrer Ordnung als societas civilis vergewissert, wird im Verlauf der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts zur Beute jener „Staaten und Potentaten“, bereit und in der Lage sind, „finale Handlungsprogramme“ – eben nach Ratio status – umzusetzen.

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Theorie und kritisiert, dass die Vertreter von Ratio status nur dem Staatsnutzen huldigten: „mediis quibuscunque malis, an bonis . . . modo Reipubl. prosint“. 5. Das Vordringen des Staat-Denkens in Richtung auf den absoluten Fürstenstaat lässt sich an mehreren Konfliktfronten nachweisen: Ratio status, das politisch-juridische Konzept des neuen Fürsten, hat als Gegner nach innen die Stände, nach außen Kaiser und Reich, in beidem: die Kirchen, und nicht zuletzt die Interessen auswärtiger Konkurrenten und Rivalen. Bei diesen Auseinandersetzungen findet die Staatsräson ihre Anwendungsfelder und ihr Profil: als Rechtslehre des absoluten Regiments nach innen; als politische Klugheitslehre (neue Politik) nach außen. Negativ profiliert sie sich gegenüber ihren Gegnern: das Instrument fürstlicher Machtpolitik erschein in ständischen Schriften als landfremde Maßregel, ungesetzliche, Brauch und Herkommen verletzende Maxime. In kirchlichen Schriften wird der rein diesseitige Handlungsrahmen als unchristlich, ja gottlos hingestellt und Staatsräson als „inversus Decalogus“ verfemt. Im zwischenstaatlichen Bereich waltet eine doppelte Optik: Auf der Ebene der Fürsten geht es um die legitim auf Erfolg zielende Handhabung des Staatsinteresses; auf der Ebene des breiten Publikums verlangen weitere Motive Berücksichtigung: in Deutschland etwa das sittlichpatriotische Motiv, das in der welschen Maxime (ragion di stato, raison d’Etat) etwas wahrnimmt, dem die redlichen Teutschen „keinen Namen gegönnet noch geben können“. Der Begriff entfaltet sich also in konfliktträchtigen Teilkonzepten, die sich einer einheitlichen „Idee der Staatsräson“ (Meinecke) nur schwer fügen.

„Staatsbürger“ – Geschichte und Kritik des Begriffs Unter dem Einfluss des Vernunftrechts und der sich emanzipierenden „bürgerlichen Gesellschaft“ bilden sich am Ende des 18. Jahrhunderts die sozialen und politischen Ordnungsvorstellungen um. Sie erfassen die ständische Gesellschaft als Gesellschaft von Staatsbürgern, die verschieden privilegierten Klassen angehören. Der äußere Rahmen des ständestaatlichen Systems wurde dabei nicht gesprengt1 und doch war eine Sicht der Dinge gewonnen, die – wenigstens in Frankreich – eine Revolution unausweichlich machte und die es einem aufgeklärten Fürsten in Deutschland geraten erscheinen ließ, rechtsstaatlich zu regieren2 und das „mündige Volk“ wie „der Vater seinen erwachsenen Sohn, nach und nach an den Genuß der Freyheit (zu) gewöhnen“.3 Nicht zu Unrecht hat auch die Verfassungs- und Sozialgeschichtsschreibung seit Otto Brunner die Kategorien „altständisch“/„staatsbürgerlich“ als typische Bauformen des Mittelalters und der Neuzeit eingeführt und für die Beschreibung des 18. Jahrhunderts, d.h. zur Kennzeichnung des allmählichen „Auseinandertretens von Staat und Gesellschaft“ (O. Brunner) weiter differenziert.4 Was jedoch nicht gefragt bzw. nicht recht beantwortet wurde, ist dies: Unter welchen konkreten Bedingungen tritt das, wie man zu wissen glaubt, „junge Lehnwort“ Staatsbürger in Deutschland in die politische Sprache ein? Inwieweit ist die historische Kategorie des Staatsbürgerlichen aus den Quellen legitimiert? Inwieweit ist der Begriff, wie wir ihn heute zu gebrauchen pflegen, zur Kennzeichnung moderner Verhältnisse noch geeignet? Was bislang also fehlt, ist eine Geschichte und Kritik des Begriffs Staatsbürger. Sie soll hier in der Weise vorgetragen werden, dass zunächst der Stand der Forschung (zutreffender die „fable convenu“) referiert wird (I.), dass anschließend die vorrevolutionäre Geschichte des Wortes (II.), seine Verwendung im 19. Jahrhundert (III.) und schließlich, unter kritischem Aspekt, sein moderner Gebrauch (IV.) dargestellt und erläutert werden.

1 Vgl. E.-W. Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jh., Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, Berlin 1961, S. 44. 2 Vgl. H. Conrad, Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jh., Köln 1961; ders., Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundlage des Friderizianischen Staates, Berlin 1965. 3 Zit. bei H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft), Neuwied/Berlin 1966, S. 229 Anm. 4 Vgl. E.-W. Böckenförde (s. oben Fn. 1) S. 44: „staatsbürgerliche Ständegesellschaft“, S. 89: „neuständische Gesellschaft“.

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I. Forschungsstand Man hält das Wort Staatsbürger für eine „junge Lehnschöpfung, entstanden in unmittelbarer Auswirkung der großen französischen Revolution von 1789 auf Deutschland“ 5. Als frühesten Beleg bieten die Wörterbücher6 eine Stelle aus Wielands „teutschem Merkur“ vom September 1789, wo „Staatsbürger“ als Äquivalent von franz. „citoyen“ verwendet ist.7 Seitdem Werner Feldmann in der Zeitschrift für deutsche Wortforschung vor einem halben Jahrhundert diese Entdeckung publiziert hat8, gilt allgemein Wieland als der Schöpfer des Wortes. Weniger einhellig ist das Urteil darüber, warum und unter welchen Umständen das Simplex „Bürger“ zum Kompositum „Staatsbürger“ erweitert wurde. Der Kundige, der weiß, dass „Bürger“ bereits seit dem 16. Jahrhundert – frei von ständischen und lokalen Begrenzungen – die deutsche Entsprechung von lat. civis sein konnte9 und als solcher ein allgemeiner politischer Begriff war, gibt sich vorsichtig: Der Klang des Wortes sei zu Ende des 18. Jahrhunderts „nicht mehr ganz rein“ gewesen, es habe „den ehernen Klang des civis romanus“ verloren gehabt.“ 10 Während die einen lediglich eine Auffrischung und Rehabilitierung des Wortes Bürger vermuten, gibt es andere, die mit dem Staatsbürger etwas völlig Neues heraufkommen sehen: „In den deutschen Fürstenstaaten waren die Bürger vollends zu Untertanen geworden, und als es galt, ein neues, aufgeklärtes, republikanisches Staatsgefühl und Rechtsbewusstsein zu begründen, musste man einen neuen ungewohnten Ausdruck finden oder erfinden, um den Bürger aus der Enge von Burg und Stadt herauszuholen und in derr Weite und Würde des Staates anzusiedeln. So entstand das zusammengesetzte Wort ,Staatsbürger‘“.11 Abgesehen davon, dass diese Erklärung sich kaum auf Quellen stützen kann, erscheint sie 5 W. Meschke, Das Wort „Bürger“, Geschichte seiner Wandlungen im Bedeutungsund Wertgehalt, Phil. Diss. Greifswald 1952, S. 181. Das politische Wort Staatsbürger wird von Meschke nur kursorisch behandelt. M. Riedel übersieht den 1969 erschienenen vorliegenden Aufsatz (vgl. „Bürger, Staatsbürger, Bürgertum“ in: Geschichtl. Grundbegriffe, hg. v. O. Brunner u. a., 1. Band (1972). 6 Grimm, DWb., Bd. X, 2.1, Sp. 293; Trübners Deutsches Wb., ed. A. Götze, Bd. 1 (1939) S. 474; F. Kainz, Klassik und Romantik, in: Maurer/Stroh, Deutsche Wortgeschichte, Bd. 2, Berlin 1943, S. 236; F. Kluge, Etymologisches Wb. Der deutschen Sprache, bearbeitet v. W. Mitzka, Berlin 1960 18. Aufl., S. 734; H. Paul, Deutsches Wb., ed. W. Betz, 10. Lieferung, Halle 1965, S. 625. 7 Vgl. unten Fn. 63. 8 W. Feldmann, Geflügelte Worte, Zs. f. deutsche Wortforschung, Bd. 6 (1904/05) S. 229 f. und Bd. 13 (1912) S. 252; vgl. auch W. Pfaff, Zum Kampf um deutsche Ersatzwörter, Gießen 1933, S. 48. 9 Grimm, DWb, Bd. II, S. 537 („bürger 3“); W. Meschke (s. oben Fn. 5) S. 52. 10 Zit. bei W. Meschke (s. oben Fn. 5) S. 184. 11 D. Sternberger, Bürger kommt von Burg – und citoyen von Stadt, in: FAZ vom 7. Sept. 1963 (Nr. 207): „Ereignisse und Gestalten“.

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schon dadurch suspekt, dass ein so gewichtiger Grammatiker wie Klopstock die Wortfügung Staats-Bürger als Haplologie ansieht und für überflüssig hält: „warum denn nicht Wasserfisch?“ 12 Was es im einzelnen mit dem vorgeblich „ungewohnten Ausdruck“, dem „republikanischen Staatsgefühl“ und dem „Erfinden“ auf sich hat, wird im Verlauf unserer Darstellung hinreichend deutlich werden, so dass hier eine Richtigstellung entbehrlich ist. Eine weitere Erklärung für das Kompositum sah man in dem Bedürfnis, die in Frankreich geläufige Gegenüberstellung von bourgeois und citoyen im Deutschen nachzubilden.13 Tatsächlich ist dieser Gegensatz bei uns erst im 19. Jahrhundert, vornehmlich in der juristischen Fachsprache, in Erscheinung getreten, und zur Fokussierung auf den sozialständischen Bürger hat man sich sogar des Fremdworts Bourgeois bedienen müssen.14 So bleibt denn von allen Erklärungen nur die erste bestehen, nach der der Wortklang von Bürger „nicht mehr ganz rein“ gewesen sei und einer Auffrischung bedurfte.15 Zu dieser Auffrischung, so will es die communis opinio, habe französisch citoyen den „Anstoß“ gegeben.16 Was hier zur Entstehung des Wortes Staatsbürger referiert wurde, geht von der Voraussetzung aus, dass der Beleg von 1789 im „Teutschen Merkur“ der erste (oder unter den ersten der bezeichnendste) sei: „Staatsbürger (citoyen)“. Im folgenden kann gezeigt werden, dass das nicht der Fall ist, dass das Wort vielmehr – nach einem machiavellischen Vorspiel in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts – in die deutsche Epoche am Vorabend von 1789 gehört, eine Periode, an die man sich noch erinnern würde, „wenn nicht die Französische Revolution das Andenken daran fast ausgelöscht hätte.“ 17

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Mathisons Werke, Ausgabe letzter Hand, Bd. 3, S. 160 (zit. bei Feldmann (s. oben Fn. 8), Bd. 6, S. 339. 13 So Feldmann (s. oben Fn. 12). 14 Vgl. den Titel eines Aufsatzes von R. Smend: „Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht“, in: ders., Staatsrechtliche Aufsätze und andere Abhandlungen, Berlin, 2. Aufl. 1968; F. Steinbach sagt statt Bourgeois, das durch den Marxismus eine wertmäßig negative Bedeutung bekommen habe, „Gewerbebürger“, vgl. ders., Geburtsstand, Berufsstand und Leistungsgemeinschaft, in: Rheinische Vierteljahresblätter 14 (1949) und: ders., Der geschichtliche Weg des wirtschaftenden Menschen in die soziale Freiheit und politische Verantwortung, Köln 1954 (passim). 15 Meschke (s. oben Fn. 5) S. 184 führt dies darauf zurück, dass das Wort Bürger in der Polemik zwischen Adel und Drittem Stand eine „starke ethische Belastung“ erfahren habe; infolgedessen brauchte man „für den Staatsangehörigen eine neutrale Bezeichnung, die die damit bezeichnete Person nicht wertet, vor allem keiesfalls negativ wertet, sondern in ihrer rechtlichen Stellung sachlich charakterisiert“. Vgl. jedoch das unter III.1., besonders unten Fn. 71 Ausgeführte! 16 Meschke (s. oben Fn. 5) S. 184. 17 Nach einem Wort Seeleys – zitiert bei K. von Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönlich Freiheit, in: Die Entstehung des modernen Staates, ed. H. H. Hofmann, Köln 1967, S. 197.

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II. Staatsbürger in der frühen Neuzeit und im aufgeklärten Absolutismus Der Wortprägung „Staatsbürger“ begegnet man zum ersten Mal im 17. Jahrhundert. Mit ihr wird der italienische Begriff „cittadino della republica“ übersetzt. Letzterer stammt von dem Anti-Machiavellisten Girolamo Frachetta, dessen Schriften 1681 in Frankfurt am Main auf deutsch erschienen sind, und zwar unter dem Titel „Festgesetzter Printzen- Oder Regenten-Staat/Denen Machiavellischen übelgesinnten Maximen . . . entgegengesezt“. Darin ist von „Staatsbürgern“ die Rede, die – im Unterschied zu den bloßen cittadini – solche Bürger einer Stadtrepublik seien, denen die politische Ämterlaufbahn offensteht und die folglich an der Regierung ihrer Stadt teilhaben können. Frachetta diskutiert unter anderem, ob es für eine Republik gut sei, diesen „Staatsbürgern“ auch noch die militärische Chargen zu überlassen oder ob man diese nicht vielmehr an „andere“ geben sollte.18 Da Begriff, der eine antikisierende Note enthält, blieb – soviel ich sehe – lange Zeit auf die Frachetta-Rezeption begrenzt. Erst im 18. Jahrhundert gerat der Begriff wieder in Gebrauch, und zwar in einem Wortfeld, das von Einwohner, Bürger, Mitbürger, Untertan bis zu Staatsgenosse, Staatsglied und Bürger des Staates reicht. Dem Wortfeld zugrunde liegt die Vorstellung der Mitgliedschaft in einer jener menschlichen Hauptgesellschaften, die seit dem 17. Jahrhundert Staat genannt wird.19 Der Fürst und seine adelige Umwelt reden von den übrigen Gliedern der Gesellschaft als von (ihren) Untertanen, der Bürger redet von Mitbürgern. Die rechtliche und ineins damit affektive Unterscheidung zwischen Untertan und Bürger bleibt im strengen Sinn auf den Bezirk der Stadt20 und – speziell in Preußen – auf die Gutsherrschaft bezogen.21 18 Zu den antimachiavellischen Schriften Frachettas, die in Deutschland auf große Resonanz stießen, gehören L’idea del libro (1592); Il Principe (1597) und Della Raggione di Stato (1623). Der genaue Unterschied zwischen dem italienischen (und römischen) Staats-Bürger des 17. Jh. und dem deutschen Staatsbürger des 18. Jh. hängt an der Bedeutung des Bildewortes „Staat“, vgl. dazu vom Verfasser: Staat, Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes (1968), S. 62 f., 154 ff., 183 ff. 19 Weinacht (s. oben Fn. 18) S. 176 ff. 20 Vgl. Zedler, Großes Universal-Lexicon, Bd. 4, Halle/Leipzig 1733, S. 1875 f.: „Bürger . . . differiret proprie loquendo von einem Unterthanen. Denn dieses Wort ist etwas weitläuffiger als ein Bürger, und übertrifft ein Bürger einen Unterthan an der Würde und Freyheiten.“ Dieser Unterschied wird also auch in Deutschland gesehen, aber erst der Flammenschein der Französischen Revolution skandalisiert ihn, vgl. die folgende Fußnote (Schlözer!) 21 Vgl. das Allgemeine Gesetzbuch für die Preußischen Staaten, 7. Titel, 3. Abschnitt: „Von unterthänigen Landbewohnern, und ihrem Verhältnisse gegen ihre Herrschaften.“ Gegen diese vom Gesetzestext gestütze altständische Redeweise ereifert sich im Jahr 1793 Schlözer: „Möchten sich doch die Hrn. Gutsbesitzer das, wenn gleich herkömmliche, aber doch . . . offenbar unmenschliche Wort Eigenbehörde abgewöhnen? – Ebenso unschicklich ist das . . . Wort Untertan. MitUntertan, MitBürger, muß jeder, der nicht der Souverän ist, auch von Bauern sagen.“ StatsAnzeigen, Bd. 18, Heft 71, S. 351.

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Es gibt so einen doppelten Untertan-Begriff: einmal in Bezug auf ein ständisches Gewaltverhältnis (Eigenhöriger, Hintersasse), zum andern in Bezug auf das allgemeine, staatliche Gewaltverhältnis (Staatsuntertan). Dieser zweite Begriff deckt sich – bis auf die Perspektive – mit dem Wort Bürger, weshalb der im 17. und 18. Jahrhundert geläufige Doppelausdruck „Bürger und Untertanen“ 22 ein echter Vorläufer von „Staatsbürger“ genannt werden kann. Am deutlichsten wird die Emanzipation des Untertan oder Bürgers aus ständischen Gewaltverhältnissen oder Funktionen und seine politische und rechtliche Bestimmung aus dem Ganzen der bürgerlichen bzw. „Staatsgesellschaft“.23 Die zwei Bestandteile des Kompositums Staatsbürger hatten sich, längst bevor das Kompositum selbst gängige Münze wurde, vielfältig angenähert, auch in der Weise, dass ein am (Reichs-)Regiment beteiligter Stand oder beteiligte Person im rechtlichen Sinn Bürger hieß.24 So konnte J. C. Spener 1725 germanica civitas durch „das Teutsche Staats-Bürger-Recht“ wiedergeben.25 Seit Mitte des Jahrhunderts wird der Begriff in seiner analytischen Form geläufig, etwa wenn F. C. Moser schreibt: Trotz der Trennung des Reichs in gut kaiserlich und gut ständisch können wir „als Glieder Eines Cörpers, als Stände Eines Reichs, als Bürger Eines Staats . . . leben“ 26. Als Synonym des älteren „Staats-Unterthanen“ 27 tritt 22 So bei Chr. Weickhmann, New-erfundenes Grosses Königs-Spiel . . . Mit angehencktem und darauß gezogenem Staats- und Kriegs-Rath, Ulm 1664: „Quales in Republica Principes sunt, tales reliquos solere esse cives, wie Cicer. Epist. 1.9 auß dem Platone gesagt: Wie der Fürst Regent seye/also seyen aich seine Burger und Underthanen“ (S. 159 u. ö.). Ferner Chr. A. von Beck, Kern des Natur- und Völkerrechts („Von den Pflichten der Bürger und Untertanen“ (§§ 1 ff.) 23 Kaspar Stieler („Der Spaten“) spricht in „Zeitungs Lust und Nutz“, Hamburg 1697, S. 17 davon, Zeitungen seien demjenigen empfohlen, der „in der Stats- Handelsund Bürgerlichen Gesellschaft leben will“ (zit. bei F. Schneider, Pressefreiheit, Neuwied 1966, S. 78); er meint damit aber noch die „Gesellschaft bei Hof“. 1783 werden die Stände im Reichstag in Regensburg als „Staatsgesellschaft“ beschrieben (Anonymus, Nachtrag zu der Frage. Was ist der Staat? Wien, 1783, S. 143). Die vertraglich geeinte allgemeine bürgerliche Gesellschaft findet als „Staatsgesellschaft“ Erwähnung bei Balthasar, De jure Helvetico circa sacra, Zürich 1768, S. 54. Aus der Sekundärliteratur dazu spätere Nachweise bei Gerloff/Neumann, Hg., Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 2, Tübingen 2. Aufl. 1956, S. 241 oder W. Conze, Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz, Stuttgart 1962, S. 226 Fn. 24 Vgl. A. B. Rautner, Anführung zur Teutschen Stats-Kunst, Nürnberg 1672, S. 568: Die Reichsstände seien nichts anderes als „unmittelbare Bürger des H. Röm. Reichs welche . . . Stand und Stimme zu haben/fähig sind.“ 25 J. C. Spener, Teutsches Jus Publicum, 4. Th. 1725, S. 8. 26 Ders., Was ist: gut Kayserlich? 1766, S. 222. J. Iselin in seiner Schrift Über die Erziehungsanstalten (Vermischte Schriften Bd. 2, Zürich 1770, wiederabgedruckt in Bibliothek pädagogischer Klassiker XXI, Langensalza 1882, S. 125) schreibt: „Nach einer gesunden Politik sollten wir eigentlich alle Bürger eines Staates in zwei Klassen einteilen . . . die arbeitende . . . die denkende oder die anordnende.“ 27 Dänemarcks Gegenwärtiger Staat, Köln 1697, Vorrede: Den Vorzug eines freien gegenüber einem unfreien Staat sieht man „an den Gesichtern eines oder des andern Staats-Unterthanen geschrieben“.

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es 1786 im Text des Josephinischen Strafgesetzbuches auf.28 Noch 1791 erscheint „Bürger des Staats“ im Allgemeinen Gesetzbuch für die Preußischen Staaten abwechselnd mit „Einwohner des Staats“, „Mitglied des Staats“, „Unterthanen“ (des Oberhauptes des Staats).29 Insgesamt bleibt festzuhalten, dass zwischen den verschiedenen Begriffen des Wortfeldes, in dem „Staatsbürger“ steht, weniger ein inhaltlich-rechtlicher als ein perspektivischer Unterschied, und auch der nur gelegentlich wahrnehmbar, besteht. Uns interessiert nun, wo ein Stand oder Untertan bewusst als „Staatsbürger“ bezeichnet wird. 2. Unterscheidet man mit Kurt von Raumer das monarchisch-aristokratische Kräfteringen der 2. Hälfte des 18. Jahrhundert als Widerspiel zwischen persönlicher Freiheit und korporativer Libertät, so scheint die Sorge des Landesvaters, seine Untertanen zu „guten und nützlichen Staatsbürgern“ zu bilden, der „persönlichen Freiheit“ Rechnung zu tragen. Allerdings sind solche „Staatsbürger“, wie sie im Generalmandat Maximilians III. Joseph von Bayern vom 3. September 177030 erstmalig erwähnt31 werden, nicht die über ihre verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten belehrten, mit „constitutionellen Einrichtungen“ vertraut gemachten bayerischen Jünglinge von 181932, auch keine vaterländisch erzogenen „Patrioten“, die sich vom Weltbürgertum der Aufklärer und Philanthropen abwenden33, sondern es sind die „in den ersten Gründen des Kristenthums, als Wissenschaften“ erfahrenen und darum „guten und nützlichen“ Absolventen kirchlicher Trivialschulen. „Staatsbürger“, das ist recht eigentlich der Stand oder das Amt künftiger Hausväter, für das sie in der Sittenlehre oder Pflichtenlehre, also jenem Teil des katholischen Religionsunterrichts, der auf Trivialschulen das Fach Ethik vertritt, vorbereitet werden.34 Indem kirchliche Einrichtungen sich der 28 Hier werden die Einwohner Österreichs erstmalig von Gesetzes wegen als „Bürger des Staates“ angesprochen (§ 45), vgl. dazu O. Stolz, Wesen und Zweck des Staates . . ., in: Fs. Zur Feier des 200jährigen Bestandes des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, ed. Santifaller, Bd. 2, Wien 1951, S. 103 sowie O. Brunner, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte, in: ders., Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, S. 27. 29 Einleitung §§ 16, 80, 87. Zu „Unterthan“ und „Staatsbürger“ im ALR vgl. R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1967, S. 660 ff. 30 H. Braun, Plan der neuen Schuleinrichtung in Baiern 1770, ed. A. Bock (= Pädagogische Quellenschriften 1. Heft, ed. A. Bock), München 1916, S. 13. 31 Vgl. jedoch oben Fn. 17. 32 Verhandlungen der zweiten Kammer der Ständeversammlung des Königreichs Baiern, Bd. 4, München 1918, S. 88 33 Lehrplan für die Volksschulen in Baiern 1804/1811, ed. A. Bock (s. oben Fn. 31, 5. Heft), München 1917, S. 38: „die Kinder sollen mehr zu Staatsbürgern (Patrioten) als zu Weltbürgern (Kosmopoliten) gebildet werden. Deswegen lenke der Lehrer immer auf Vaterlandsgeschichte ein.“ 34 Vgl. M. Rieder, Geschichte der politischen Bildung in den Volksschulen Bayerns von der Zeit der Braunschen Reform bis zur Restauration, Diss. München 1969. Herrn Rieder verdanke ich den Hinweis auf den Schulplan H. Brauns (s. oben Fn. 30).

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landesväterlichen Sorge um gute Erziehung bereitwillig öffnen und von beiden Seiten anerkannt ist, dass nicht nur das ewige Heil, sondern auch die irdische Glückseligkeit der Untertanen beeinflusst werden soll, kann der in solchen Bezügen erfasste Untertan und Bürger ohne antikirchliches Ressentiment, aber recht wohl unter Ausklammerung der vom Adel in den Vordergrund gerückten Standesunterschiede „Staatsbürger“ heißen. Diese im Bayern Maximilians III. Joseph und seines Schulkommissärs Heinrich Braun mögliche Verschränkung des Geistlichen und Weltlichen, die den Begriff Staatsbürger zu Anfang bestimmt, hat im Österreich Josefs II. ihr feindliches Gegenbild. Hier gerät das Wort unter den Bedingungen der Kirchengesetze35 in schärfsten Gegensatz zu „Mönch“, „Priester“, z. T. gar „Religion“. Während der Kleriker beansprucht, dem allgemeinen „Bürgerstaat“ enthoben zu sein36, ist der „Staatsbürger“ dem weltlichen Staat voll untertan; er verweigert auch dem „Religionsgespenst“ den Respekt und begehrt nach weltlich-vernünftiger Belehrung und Unterweisung. Beides wird gegen das Erziehungsprivileg der Kirche ins Feld geführt.37 Der Begriff Staatsbürger hat so eine antikirchliche Spitze. Er ist – anders als seine bayerische Variante – durch und durch weltlich, bezeichnet aber noch nicht ein allgemeines gleich berechtigtes und verpflichtetes Glied unter allen sonstigen Staatsgliedern, sondern – wie in Bayern – den immediat dem Staat gegenüberstehenden „Gehorsam leistenden“ Hausvater.38 3. Ein anderer Zusammenhang, in dem das Wort Staatsbürger in Gebrauch kommt, ist die Kameralwissenschaft. Jung-Stilling etwa beschreibt im Jahr 1779 in einem als Vorlesung an der Lauterer Kameralschule konzipierten Werk39 die 35 Die Flugschriftenliteratur der 80er Jahre des 18. Jh. zeigt das im Vorwurf des status in statu, der auf die Kirche gemünzt war; sie stellt auf das staatsbürgerliche Prinzip ab und verhilft den Wort Staatsbürger zur Verbreitung ins nördliche Deutschland (vgl. vom Verfasser, Staat [s. oben Fn. 17] S. 193 Fn. 87). 36 Antwort eines Rechtsgelehrten Publicisten und Statisten vom deutschen Reich auf die Antwort . . . Was ist der Staat? Von H. R. Ruhstein, 1794, S. 43. 37 Die „Neugierden eines Weltbürgers. Oder Zweifel und Anfragen eines Menschenfreundes“ (o. O. 1782) tun sich hier besonders erfolgreich hervor (Nachdrucke der Schrift bei Wieland und Schlözer!); zwei der Anfragen lauten (Frage 9): „Warum wird der Handwerker vom Handwerker gelert, der Kaufmann im Comtoir, der Gelehrte auf dem Katheder, und – der StatsBürger im Kloster vom Mönch, der kein StatsBürger ist; warum künftige Mütter von Klosterfrauen?“ (Frage 21): „Steht zu vermuten, daß dem resp. Gouvernement weniger Gehorsam geleistet werden wird, daß es weniger gute StatsBürger geben wird, wenn den Völkern die Furcht vor dem ReligionsGespenste genommen wird?“ 38 Zur Figur des Hausvaters, die als ökonomische der politischen Rolle inhärent ist und sich erst im Verlauf des 19. Jh. von letzterer löst, vgl. die einschlägigen Arbeiten O. Brunners, insbesondere den Aufsatz „Das ganze Haus“ (in ders., Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956) und den Artikel „Hausväterliteratur“ in HDSW Bd. 5, S. 92 f. 39 J. H. Jung, Versuch einer Grundlehre sämmtlicher Kameralwissenschaften, Lautern 1779.

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bürgerliche Gesellschaft als ein System von Bedürfnissen – freilich nicht im Hegelschen Sinn, denn Staat und Gesellschaft sind hier noch nicht getrennt: „Alle Staatsbürger vom Fürsten bis zum geringsten Glied des Staates haben ein Gewerb“ 40; unter „Gewerb“ werden verstanden „alle Bemühungen . . ., die man anwendet, um Bedürfnisse zu befriedigen“ 41. Die Bedürfnisse des Staates werden befriedigt „aus den Abgaben der erwerbenden Glieder des Staates“: „so gründet sich die Kameralwissenschaft auf die Gewerbwissenschaft der Staatsbürger“ 42. Der Sinn der Wortbildung ist augenfällig: Staatsbürger heißt ein Gewerbetreibender, insofern er „im Staat“, d. h. innerhalb des kameralistischen Systemzusammenhangs43 wirtschaftet und mittelbar „für den Staat“ wirtschaftet, d. h. im Interesse des Fiskus. Die einheitliche Kategorie Staatsbürger rechtfertigt sich aus der Teilnahme aller Glieder „bis zum geringsten Glied des Staates“ am kameralistischen System. In seiner Staats-Polizey-Wissenschaft (1788) schreibt Jung dazu: „Der gesammte Würkungskreys der eigentlichen Staatsbürger besteht in der Production, Fabrication und Handlung“ 44. Gleichwohl wäre es verfehlt, den gewerbetreibenden Staatsbürger im modernen Sinn als bloßes Wirtschaftssubjekt zu verstehen: er ist als Glied der Staatsgesellschaft auch Objekt „polizeylicher“ Wohlfahrtsvorsorge. 4. Ein dritter Zusammenhang, in dem das Wort Staatsbürger schon früh Verwendung findet, ist das patriotisch-philanthropische Schrifttum. Die Bemühungen um die Heraufführung der dummen und darbenden, weil unaufgeklärten Zeitgenossen zur Höhe der Moralität, der Wissenschaften, der Kultur, des Glücks gründen in der Solidarität der Menschheit, näherhin der glücklichen mit den weniger glücklichen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft. Es gilt, sich möglichst vielen nützlich zu machen, nicht nur den Hausgenossen, sondern auch den Mitbürgern im Staat. So gibt im Jahr 1785 der Freiherr von Vischpach auf Schmidmühlen auf eigene Kosten eine zur Verbesserung der Landwirtschaft gedachte Zeitschrift heraus: „Der Staatsbürger. Eine Wochenschrift in Baiern“ (es erscheint nur ein Band). Die Widmung setzt gleich den Akzent: „Wenn ein ädler, redlich gesinnter Staatsbürger sein einziges Glük des Lebens darinnen findet, sich durch seiner Hände Arbeit nähren zu dörfen, seinem Staate und Mitbürgern nützlich seyn zu können . . .“ 45 Im Jahr darauf mahnt Schlettweins Archiv: „Zur Unterstützung der Kultur und der Industrie eines Landes ließe sich viel thun,

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Jung (s. oben Fn. 39) S. 3. Jung (s. oben Fn. 39) S. 176. 42 Jung (s. oben Fn. 39) S. 3. 43 Vgl. zu dieser Variante des Wortes Staat vom Verf. Staat (oben Fn. 17, S. 199 ff.). 44 J. H. Jung, Lehrbuch der Staats-Polizey-Wissenschaft, Leipzig 1788, S. 1. 45 K. H. Freyherr von Vischpach 1785. Das Motto der Zeitschrift lautet: „Omni timore deposito, civem Reipublicae consulere decet. Cicero.“ (Fundstelle: Bayer. Staatsbibliothek Bav. 2509). 41

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wenn die wohlhabenden und vornehmen Staatsbürger mehr Bruderliebe zu ihren geringen und dürftigen Mitbürgern als Egoismus hätten.“ 46 Die Beziehung der Staatsbürger untereinander wird hier nicht vom Staat des Fürsten absorbiert, sondern geschieht unmittelbar: darauf weist die Austauschbarkeit der philanthropischen Begriffe Patriot, Staatsbürger, Weltbürger, Mensch, aber auch die überstaatlichen geheimen Orden und der (ohne staatliches Zutun wirkenden) patriotischen Gesellschaften.47 Stets ist das Glied der Menschheit angesprochen, das in einem der sich weitenden Kreise von Vaterland, Staat, alter und neuer Welt angesiedelt ist und lebt. Staatsbürger ist hier ein hoch moralisches Wort, voll zwischenmenschlicher Verantwortung, mitbürgerlicher Tatbereitschaft; es setzt den Staat als Gesetzes- und Zivilisationsstand voraus und umgeht ihn als Machtanstalt des Fürsten.48 5. Entdeckt die weltbürgerliche Philanthropie im Begriff des Staatsbürgers einen pflichtenethischen Kern gegenüber staatlichen, aber auch jenseits staatlicher Gesetze, so blieb es vernunftrechtlichem Denken vorbehalten, die Anspruchsseite des Begriffs zu verdeutlichen. Hier verbindet sich mit dem Staatsbürger die Idee „natürlicher und angeborener Menschenrechte“ sowie der Gedanke allgemeiner Gleichheit, zunächst in Form der Kritik, dass „andre Bürger sich grössrer Rechte, als ihnen die Natur gab, anmaassen, und bei solcher Anmaassung geschuzt werden.“ 49 Die egalitäre Komponente des Wortes Staatsbürger hat gewiss eine Spitze gegen den Adel, aber auch die erbuntertänigen Bauern werden nicht ganz übergangen: sie sind in gewissen Belangen rechtlich „gleich anderen Bürgern des Staates gestellt und werden dann vom Allgemeinen Gesetzbuch für die Preußischen Staaten (1791) als „freye Bürger des Staates“ angesprochen.50 Deutlicher kommt der egalitäre Sinn des Wortes zum Ausdruck, wenn Adel oder Fürst zum Thema werden. So wagt der Jurist von Großing im Jahr 1784 die vom Autor des Contrat 46 J. Schlettweins neues Archiv für Menschen und Bürger in allen Verhältnissen, zit. in Ephemeriden der Menschheit Bd. 13, 1786 I, S. 322. 47 Eine gute Darstellung der Tätigkeit und der Grundsätze patriotischer Gesellschaften in Deutschland bei H. Hubrig, Die patriotischen Gesellschaften des 18. Jh. Weinheim/B. 1957. R. Koselleck beschreibt in Kritik und Krise, Freiburg 1959, die Problematik der Geheimgesellschaften, die sich bewusst außerhalb des Staates des Fürsten stellen. 48 Oft bleibt die regierende Gewalt hinter den Erwartungen der Philanthropen zurück; Enttäuschung ist unvermeidlich, ein apolitische Haltung die Folge: „unsere meisten Staaten lohnen die Mühe nicht, einen Staatsbürger zu bilden. Aber Gott fordert von uns, Menschen und Christen zu bilden“ (Ephemeriden der Menschheit Bd. 14, 1786, S. 15). Über die Dialektik, die in einem vermeintlich unpolitischen Raum angelegt ist, vgl. Koselleck (s. oben Fn. 47). 49 Über die Neugierden eines Weltbürgers oder Versuch einer Beantwortung, Leipzig/Prag 1784, S. 31. 50 Ebd. 7. Titel, 3. Abschnitt §§ 240, 147.

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social beeinflusste Aussage: „Jeder Fürst ist ein Staatsbürger, wie der geringste Bettler, weil jeder Staat bloß im gemeinschaftlichen Willen derjenigen besteht, durch deren Vereinigung der Staat entstanden ist.“ 51 Der Gedanke förmlicher Beteiligung an der staatlichen Willensbildung ist dem Begriff Staatsbürger im vorrevolutionären Deutschland zwar noch fremd, wenn man jedoch auf die Kant’sche Friedensschrift von 1795 vorausblickt, dann kann man sagen, dass der republikanische (quasi-konstitutionelle) Anspruch an die Regierung schon erkennbar wird, nur solche Gesetze anzuerkennen, denen ein jeder seine Beistimmung habe geben können.52 Sicherlich aber gehört zum Begriff „Staatsbürger“ der Anspruch auf allgemeine, angemessene Verteilung der Lasten: „alle StatsBürger, der Professor, der GutsBesitzer, wie der Bauer, müßten gleiche Lasten tragen, weil sie gleichen Schutz genössen: man predige, sage ich, alles das laut, und sei vor keiner Revolution bange“.53 Schlözer begreift also den Pflichten-gleichen Staatsbürger nicht als Ausgeburt der Revolution, sondern als ein Bollwerk dagegen. „StatsBürger“ ist für Schlözer kein simpler Gegenbegriff zu Untertanen, da auch diesem aufgrund des als frei und vernünftig angesehenen Beitritts zur bürgerlichen Gesellschaft prinzipiell gleiche Rechte wie allen übrigen Staatsgenossen zustehen. Indes bleibt festzuhalten, dass ein Anspruch auf Mitwirkung im Staat fehlt; diese demokratische Komponente auf den Begriff abzustrahlen, war der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vorbehalten. 6. Der vorrevolutionäre Staatsbürger gehört zwar schon zu dem allgemeinen Stand, der „in einem Staate . . . Allen eigen“ ist, doch kommt es entscheidend auf die gesellschaftlichen Unterschiede an.54 Der Begriff deckt noch nicht das abstrakte Individuum, das durch allgemeine Anspruchsrechte und Pflichten hinreichend bestimmt wäre. Das bayerische Generalmandat sowie die oben zitierten Schriften zur Josephinischen Kirchenpolitik kennen den Staatsbürger als den durch besondere Ausbil-

51 F. R. v. Großing, Die Kirche und der Staat, ihre beyderseitige Pflicht, Macht und Gränzen, Berlin 1784, S. 92. 52 Vgl. die Fußnote zum Begriff „republikanisch“ im Ersten Definitivartikel zum ewigen Frieden (I. Kant, Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie usw. (Meiners Philos. Bibliothek Bd. 471) Unveränderter Nachdruck 1973 der Ausgabe von 1913, S. 126. 53 Schlözer, StatsAnzeigen, Bd. 17, S. 253. 54 Codex Theresianus (Civilgesetzgebung für die Gesamtheit der deutschen Erblande, 1770) Cap. II § 3 Nr. 17. Das Wort Staatsbürger kommt hier nicht vor, man beachte den zivilistischen Vorrang der quasi-ständischen „Eigenschaften“ von Staatsangehörigen: „Wann Jemandem der bürgerliche Stand in einem Staat oder in einem Ort, nämlich die Eigenschaft eines Landmanns, städtischen Mibürgers, befreiten oder nicht befreiten Landeseinwohners angestritten wird, so ist anförderist über den Besitz dieser Eigenschaft schleunig zu erkennen” (§ 3 Nr. 55).

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dung „gut und nützlich“ gemachten Hausvater, der auch durch sein Gewerbe (Jung-Stilling) ein vollwertiges Glied der Staatsgesellschaft werden soll. Als Staatsbürger löst er sich nicht von seiner sozialen Existenz, steht vielmehr in ihr fest und wird darin sowohl Adressat von Steuerforderungen wie auch fürstlicher Wohlfahrtsvorsorge. Der zu einem späteren Zeitpunkt suspekt werdende Polizeistaat – ursprünglich zur Stützung der bestehenden Ständeordnung eingerichtet und allmählich zum Selbstzweck geworden55 – hat in der Figur des Staatsbürgers das bürgerliche Leben sich grundsätzlich eingeformt. Anders ausgedrückt: Hausväter werden zu Staatsbürgern, weil an die Stelle älterer ständischer Ordnungen die Polizey des Fürstenstaates tritt. Indes gibt es Mischformen zwischen naturrechtlicher Konstruktion und polizeylicher Sorge. Schlözer etwa spricht vom „rechtmäßigen Anspruch“ des unehelichen „StatsBürgers“ auf Schutz und Fürsorge des Staates.56 Eine Fortsetzung hat diese Begrifflichkeit nicht gefunden – der formale Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts glaubte, auf sie verzichten zu können.57 Der ältere Staatsbürger unterscheidet sich jedenfalls von seinem modernen Begriff durch das Fehlen der demokratischen Komponente, deren Grundlagen allenfalls vernunftrechtlich vorbereitet sind. Positiv unterscheidet er sich durch seine polizeyliche, d. h. sozialstaatliche Komponente, die der Verwaltungspraxis des aufgeklärten Absolutismus Rechnung trägt und zusammen mit diesem verschwindet. In dieser Spannung zwischen „noch nicht“ und „gerade noch“ entfaltet der Begriff jenes Leben, dessen vielgestaltige Manifestationen wir in diesem II. Abschnitt sichtbar zu machen versuchten. III. Staatsbürger unter dem Einfluss der Revolution 1. Das Jahr 1789 verleiht dem Wort mit neuem Inhalt Auffälligkeit. In Texten Immanuel Kants tritt es mit jener fulminanten Bedeutung auf, die frz. citoyen durch Sieyès erhalten hat58 und die niedergelegt sind in der Erklärung der Men55

H. Maier, Verwaltungslehre (s. oben Fn. 3), S. 146. Schlözer, StatsAnzeigen XI (1788), S. 463: „Für den Unterhalt der (unverheirateten) Mutter und ihres Kindes eines StatsBürgers, der den Stat ebenso viel angeht, der eben so rechtmäßigen Anspruch auf seinen Schutz hat, als der . . . rechtmäßig geborene Edelmann – wird nicht gesorgt.“ Vgl. auch Schlözer, Allgemeines Statsrecht und statsverfassungslere, Statsgelartheit Erster Theil, Göttingen 1793, S. 18. 57 Vgl. unten III.4. und III.5. Ferner W. Hennis, Zum Problem der deutschen Staatsanschauung, in: Die Entstehung des souveränen Staates, ed. H. H. Hofmann, Köln 1967, S. 86 f. R. v. Mohl reflektiert über die fehlende politische Gleichberechtigung aller Staatsbürger in seiner Polizeywissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates (Tübingen 1932/37) Bd. 2, S. 15: „Die von der Erwerbung thatsächlich ausgeschlossene große Menge der Staatsbürger sieht sich (darin) eines angebornen Rechtes beraubt.“ 58 Vgl. J. L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln 1961, S. 70, 257. 56

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schen- und Bürgerrechte59 sowie in der Verfassung von 1791.60 Kant stellt die Begriffe Staats- und Stadtbürger nach frz. citoyen und bourgeois einander so gegenüber: „derjenige, welcher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt Bürger, citoyen, Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois“.61 Jetzt werden auch die Matthison und Klopstock auf das „neue“ Wort aufmerksam62, umso mehr, als es auch für jene französischen „Demokraten“ gebräuchlich wird, denen man in Deutschland „die frechste Ungebundenheit“ nachsagt.63 Im Verlauf der revolutionären, dann der konstitutionellen Bewegung festigt sich das Kriterium „Stimmrecht in der Gesetzgebung“, das – wie gezeigt – französischen Ursprungs ist. Campe bucht 1810 als erster das Wort, gibt auch zunächst eine ältere deutsche, dann – in Kants Formulierung – die jüngere französische Bedeutung: „Der Staatsbürger: der Bürger eines Staates, ein Mitglied der Gesellschaft, welche man Staat nennt; besonders ein solches, welches das Stimmrecht in der Gesetzgebung für den Staat hat.“ 64 2. Der neue Wortinhalt bewirkt, dass das dichtgefüllte Wortfeld, in dem „Staatsbürger“ stand (II.1), sich nun in den Gegensatz zwischen „(Staats-)Bürger“ und „Untertan“ spaltet, während sich der bisherige Wertunterschied zwischen Bauer (Gutsherrschaft) und Bürger (Stadt) weniger tiefgreifend erlebt wird. „Staatsbürger“ reflektiert jetzt so sehr den Glanz von Freiheit und Würde, dass ein zeitgenössischer Historiker die Ausbildung der Landstände im Mittelalter, die er als Befreiung der Nation versteht, mit den Worten feiert: die Deutschen würden sich „zu dem Begriffe der Staatsbürgerschaft . . . erheben“ (1808).65 Auf der anderen Seite verfällt – gleichzeitig mit den revolutionären Ereignissen in Frankreich – das Wort Untertan der Verfemung. Wieland bemerkt 1794: „Das Wort fängt unvermerkt an, unter die übelklingenden und unanständigen gerechnet zu werden“ 66, und dementsprechend lautet eine redaktionelle Anmerkung in den Neusten Staatsanzeigen: „Untertan-Untertan! Warum nicht Bürger?“ 67 59 Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, Art. 6: „La loi est l’expression de la volonté générale. Tous les citoyens ont le droit de concourir . . . à sa formation“. In: G. Franz, Staatserfassungen, München 1964, S. 304. 60 Titel III Sektion 2 Art. 1 (s. oben Fn. 59, S. 316). 61 I. Kant, Über den Gemeinspruch, in: Kleine Schriften (s. oben Fn. 52), S. 92. 62 Vgl. Feldmann (oben Fn. 8), Bd. 6, S. 339; Pfaff (s. oben Fn. 8), S. 48. 63 Wielands Mitteilung in der August-Nummer des Teutschen Merkur von 1789 (Ges. Schriften Bd. 15 (1930), S. 295) wird als Beweis für die französische Herkunft des Wortes Staatsbürgers angesehen: „Die frechste Ungebundenheit (la licence) kann im ersten wie im letzten Rang der Staatsbürger (citoyens) beinahe keinen Schritt weitergehen“. 64 Campe, Wörterbuch der deutschen Sprache, 4. Th., Braunschweig 1810, S. 567. 65 K. D. Hüllmann, Geschichte des Ursprungs der Stände in Deutschland, 3. Th., Frankfurt/Oder 1808, S. 233. 66 Wieland im Neuen Teutschen Merkur v. 1794, 1. H., in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 15 (1930), S. 633 f.

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Der Bürger, der seit langem weiß: „Jeder Fürst war eher Staatsbürger als Fürst“ (1784)68 und der im Staat nur seinesgleichen zu sehen vermag, der – auf unverlierbare Rechte gestützt – „Stimmrecht in der Gesetzgebung“ fordert und der – stolz und selbstbewusst geworden – es ablehnt, sich nur als „Untertan“ zu begreifen, dieser Staatsbürger hat in der Tat manches vom revolutionären citoyen in sich aufgenommen. Was Wunder, wenn das Wort – von französischen Bedeutungen überlagert und vor dem Hintergrund französischer Begriffe gebraucht – vielen Zeitgenossen der Revolution für ein „französisches Wort“ gilt? F. M. Klinger etwa weicht, wenn er den älteren, vorrevolutionären Begriff im Sinn hat, dem „undeutschen“ Wort Staatsbürger bewusst aus und sagt „Unterthan“.69 Im Jahr 1800 erscheint Rousseaus „Contrat social“ auf deutsch unter dem Titel: „Ueber den Staatsbürgervertrag oder Grundsätze des öffentlichen Rechtes“. Der Übersetzer macht die gelehrte Anmerkung: Die deutsche Sprache besitze – anders als die lateinische oder französische – „kein Wort, das dem etymologischen Ursprunge nach den Begriff eines Staatsbürgers bezeichne. Dies thut aber dem Wesen der Sache keinen Abbruch.“ 70 Und also wird die bloße Nutzung des einen oder des anderen Begriffs im Zeichen der aristokratischen Reaktion zu einem politischen Bekenntnis: „Männer, die sich der Worte Staatsbürger statt Unterthanen, oder gar des Ausdrucks verletzte Menschenrechte bedient hätten, wurden hart angesehen, denn jene Worte waren Jakobinerfloskeln.“ 71 3. Eine so affektive Wertung, wie sie im letzten Beispiel bezeugt ist, ist nun keineswegs an der Tagesordnung, sondern bezeichnet krisenhafte Zuspitzungen.72 Im literarischen Sprachgebrauch der Klassiker und Romantiker fehlt dem Wort alle polemische Schärfe; es leiht sich sozialphilosophischen Spekulationen, die ein richtige Verhältnis von Staat und Bürger, von König und Beamten bestimmen wollen. Novalis etwa sieht im „Staatsbürger“ den Inhaber eines allgemeinen Staatsamtes, von dessen Pflichten der König ausgenommen sei: „Jeder Staatsbürger ist Staatsbeamter. Seine Einkünfte hat er nur als solcher. Man hat sehr Unrecht, den König den ersten Beamten des Staates zu nennen. Der König ist kein Staatsbürger, mithin auch kein Staatsbeamter . . . Glauben an einen höheren Men67 Die Bemerkung gilt dem Satz: „Nein, so undankbar ist kein wirtembergischer Untertan“ (Neueste Staatsanzeigen II,2 (1797) S. 191). 68 von Großing (oben Fn. 51) S. 92. 69 F. M. Klinger, Betrachtungen und Gedanken, Ausgewählte Werke Bd. 8, Stuttgart 1880, S. 38, Nr. 446: „Wenn die Staatsbürger oder, um es deutsch zu nenne, Unterthanen alle vernünftige, gescheite Leute wären . . .“ 70 J. Schramm (Düsseldorf 1800); die „Anmerkung des Übersetzers“ auf S. 29. 71 Demokritos Bd. 7, Stuttgart o. J. (vor 1830), S. 107 72 C. L. v. Haller drückt diese Zuspitzung im Titel seiner „Restauration der Staatswissenschaft“ so aus: „Theorie des natürlich-geselligen Zustands der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesezt“, was sich auch wiedergeben ließe durch: hier Untertan, hie Staatsbürger! Haller meidet das Wort Staatsbürger. Es findet sich auch nicht in der Bundesakte von 1815 uns nicht in der Wiener Schlussakte von 1820.

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schen.“73 Novalis sagt aber auch, es leuchte „aus jedem echten Staatsbürger . . . der Genius des Staates hervor“. Und: „Aus Ökonomie gibt es nur einen König. Müßten wir nicht haushälterisch zu Werke gehen, so wären wir alle Könige.“74 „Genius des Staates“ – das ist nicht eine Art der Staatsräson, da „Staat“ zu Novalis’ (und Hegels) Zeiten das Reich des Rechts, der Sitte, der Idee bezeichnen kann.75 In einem solchen Staat ist es möglich, dass die „echten Staatsbürger“ „König“ sind. Das Wort Staatsbürger erfreut sich jedenfalls in der hohen literarischen Sprache großer Wertschätzung. Es gehört zur Generation zwischen Aufklärung und Romantik und reicht noch in den Patriotismus der Befreiungskriege hinein.76 Mit dem liberalen Civismus hat es, formaler Ähnlichkeit zum Trotz, wenig zu tun. Staatsbürger im Sinne dieses Civismus steht in Funktion zu einer konkreten Reformpolitik (Pressfreiheit), die ihn bildet oder un(aus)gebildet lässt.77 4. Mit dem Eintritt in die konstitutionelle Epoche gewinnt das Wort Staatsbürger jene Bedeutung, die bis heute sein Grundton ist: der (a) dem Prinzip nach allen anderen gleichgestellte, (b) den Gesetzen verpflichtete, (c) seine konstitutionellen Rechte, speziell Beteiligung an der Staatswillensbildung, beanspruchende (d) Staatsangehörige. (a) Eine erste Bedeutung des auf Indigenat oder auch Naturalisierung beruhenden Staatsangehörigkeits-Begriffs, der bei Spezifizierung zur Staatsbürgerschaft ergänzende Kriterien in sich aufnehmen kann (männliches Geschlecht, Volljährigkeit, lokale Ansässigkeit)78, ist der Gleichheitssatz. Wie er in vormärzlichen 73 Novalis, Glaube und Liebe oder der König und die Königin (1798), in: Die Herdflamme Bd. 8, Jena 1924, ed. Baxa, S. 155. 74 Novalis (oben Fn. 73) S. 179 f. 75 Weinacht (oben Fn. 17) S. 208 ff. 76 F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, München 1918; speziell das oben Fn.33 belegte Zitat aus dem Bayer. Lehrplan von 1804 (s. auch unten Fn. 80). 77 Als Beispiel sei auf den Demokritos Bd. 7, Stuttgart o. J., S. 115 verwiesen: „Wir sprechen viel vom Staatskörper . . . Die Seele ist der Civismus, der ewig unausgebildet bleiben wird, so lange sich der Fürst nur als Edelmann, und dieser sich nicht als Staatsbürger denkt, und der nächste Weg hiezu ist Pressfreiheit.“ Das allgemeine Staatsbürgertum wird hier als konstitutionelle Aufgabe und mögliches Ergebnis politischer Reformen beschrieben. 78 Sehr klar I. Kant in: Über den Gemeinspruch etc. in: ders., Kleinere Schriften (oben Fn. 52), S. 92 f.: „Derjenige, der das Stimmrecht in der Gesetzgebung hat, heißt Bürger (citoyen) . . . Die dazu erforderliche Qualität ist, außer der natürlichen (daß er kein Kind, kein Weib sei) die einzige, daß er sein eigener Herr (sui juris) sei, mithin irgendein Eigentum habe“. Auch die vormärzlichen Konstitutionen – etwa Bayern und Württemberg – kennen Differenzierungen nach Rechten und Pflichten zwischen Staatsbürgern (Königreich Bayern Abschnitt IV „allgemeine Rechte und Pflichten“, Abschnitt V „besondere Rechte und Vorzüge“; Württembergische Verfassung § 21: „Alle Württemberger haben gleiche staatsbürgerliche Rechte, und so sind sie zu gleichen staatsbürgerlichen Pflichten . . . verbunden, soweit nicht die Verfassung eine ausdrückliche Ausnahme enthält“ (vgl. Huber, Dokumente I (oben Fn. 78), S. 173 f.). Außerdem gibt es

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Rechtstexten besitzt er den Charakter eines Gestaltungsrahmens, der Raum für traditionelle und auch neu entstehende Unterscheidungen79. (b) Das Merkmal „gesetzlicher Verpflichtung“, also des bürgerlichen Gesetzesgehorsams kann als etatistische Komponente des Begriffs verstanden werden. Sie gehört der vorrevolutionären Phase und wird angesichts der „frechen Ungebundenheit“ des französischen citoyen, aber auch angesichts der „Gärung“ in den deutschen Staaten80 besonders akzentuiert. Die Verfassungstexte versuchen, den königstreuen Untertanen und den gesetzesgehorsamen Bürger zusammenzubringen81, doch zeigt der hannoversche Verfassungskonflikt, dass diese Pflichtenverschränkung prekär war. Nicht umsonst appelliert Ernst August von Hannover im entscheidenden Augenblick an „Biedersinn und Zuneigung“ seiner „getreuen Unterthanen“.82 (c) Das Begriffsmerkmal Rechtsansprüche gegenüber dem Staat enthält ein strukturelles Problem, insofern es um formelle und materielle, um politische und auch um soziale Rechte Recht. Ohne sich um die Zuordnung im einzelnen zu kümmern, trennt und unterscheidet das 19. Jahrhundert „bürgerliche Rechte“, die – vornehmlich als Pflicht zum Gehorsam und Anspruch auf Schutz – aus dem „Begriff und Wesen des Staates selbst“ fließen, von den „staatsbürgerlichen (politischen) Rechten“, die durch die „Verfassungsform des sog. constitutionellen

bedeutsame Unterschiede zu sonstigen Landesbewohnern: C. v. Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften Bd. 2, Stuttgart 2. Aufl. 1840, S. 134: „nicht alle Staatsangehörigen sind darum auch schon Staatsbürger im vollen Sinn dieses Wortes, d. h. vollberechtigte und aktive Mitglieder der Staatsgesellschaft. Als solche aufgenommen zu werden, können sie nur fordern, wenn und in so fern sie die zur Ausübung der Rechte und Erfüllung der Pflichten des wahren Staatsbürgerthums nöthigen Eigenschaften darlegen.“ Dazu auch H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 156 ff.: „Das Selbstverständnis als ,Allgemeinheit‘ und als ,Allgemeiner‘.“ Allgemeinheit ist ein Aspekt (nicht Inbegriff) des Staatsbürgers. 79 Das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ v. 11. März 1812 (E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd. 1, Stuttgart 1961, S. 45 Nr. 12) bestimmt in § 1: „Die in Unseren Staaten jetzt wohnhaften, mit . . . Konzessionen versehenen Juden und deren Familien sind für Einländer und Preußische Staatsbürger zu achten.“ Und § 12: „Zu der aus dem Staatsbürgerrecht fließenden Gewerbefreiheit gehöret auch der Handel.“ Dazu auch E.-W. Böckenförde, Die Verfolgung der deutschen Juden als Bürgerverrat, in: ders., Staat, Nation, Europa, suhrkamp tbw 1419, Frankfurt a. M. 1999, S. 276 ff. 80 In der preußischen Verordnung wegen der angeblichen geheimen Gesellschaften vom 6. Jan. 1816 (Huber, Dokumente I (oben Fn. 78), S. 20, S. 57 f.) heißt es: „jetzt – wo der Frieden allenthalben hergestellt ist und jeden Staatsbürger nur ein Geist beleben, jeder nur einen Zweck haben muß: durch einträchtiges pflichtmäßiges Bestreben den sich so herrlich bewährten Nationalsinn zu bewahren und den Gesetzen gemäß zu leben . . .“ 81 Vgl. die Formeln der Huldigungseide, in der Bayer. Verfassung z. B. Abschnitt X, § 3 (Huber, Dokumente I (oben Fn. 78), S. 155). 82 Huber, Dokumente I (oben Fn. 78), S. 251.

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Staates“ bedingt sind.83 Die ältere Identität von gesellschaftlicher und staatlicher Verfassungsform ist nur noch dort erkennbar, wo – diskriminierend genug – Erfordernis der Wählbarkeit „Selbständigkeit“ verlangt wird: „Jedes Mitglied der Kammer der Abgeordneten muß ohne Rücksicht auf Standes- oder Dienstverhältnisse ein selbständiger Staatsbürger seyn.“ 84 (d) Von besonderer Bedeutung für den vormärzlichen Konstitutionalismus und nachfolgend die „sociale Frage“ ist der formelle Charakter der „bürgerlichen und staatsbürgerlichen“ Rechte. Jene (d. h. die „bürgerlichen“) beschränken sich auf die Gewährleistung der liberalen Trias Leben, Freiheit, Eigentum, also die Garantie des bürgerlichen status quo gegen staatliche Eingriffe; diese (d. h. die „staatsbürgerlichen“) sind an bestimmte „nöthige Eigenschaften“ 85 geknüpft, beschränken sich so auf die Garantie des politischen status quo gegen soziale Übergriffe.86 Es ist bekannt, wie zunehmende Spannungen zwischen Staat und Gesellschaft – in Preußen besonders seit Friedrich Wilhelm IV. – und die Auflösungserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft selbst einen dauerhaften Waffenstillstand zwischen diesen Sphären unmöglich machten.87 Karl Marx beschrieb die Ursachen im Spiegel der Hegelschen Rechtsphilosophie, bei deren Kritik der eine hervorragende Analyse des vormärzlichen Staatsbürgerbegriffs gab (unten III.5). Was bei dieser Analyse fehlt, ist der Hinweis auf die sozialen Implikationen formeller (staatsbürgerlicher) Rechte, also die Verengung des Begriffs auf bestimmte Teile der Bevölkerung. Diese Verengung ist noch 1848 so virulent, dass der Berliner Arbeiterkongress die mit der Verfassung beschäftigten „Staatsmänner“ daran gemahnt, dass heute wie früher „für die Meisten (Staatsmänner) . . . die Arbeiter eigentlich nicht als Staatsbürger da und sichtbar (sind), sondern nur als Ziffern in den Bevölkerungslisten.“ 88 83

P. Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches Bd. 1, Tübingen 1876, S. 155. Bayr. Verfassung (1818) Abschnitt VI § 12 (Huber, Dokumente I (oben Fn. 78) S. 150). „Selbständigkeit“, d. h. die bürgerliche Existenz „sui juris“ war für Kant das Kriterium für den Stand des Aktivbürgers (citoyen) überhaupt, vgl. Über den Gemeinspruch (oben Fn. 78). 85 Vgl. oben Fn. 78. 86 C. v. Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts Bd. 2, S. 175 f., legt die „Constitutionspolitik“ in das „subjective Ermessen der jeweiligen Urheber einer Constitution“ und lässt als Maßregel für die „Beschränkung oder Erweiterung des politischen Rechts für die verschiedenen Bürgerklassen“ ein „formal gleiches Recht“ gelten: „jedem verhältnismäßig nach seiner evidenten oder anerkannten Qualifikation“. 87 W. Conze, Staat und Gesellschaft in der frührevolutionären Epoche Deutschlands, in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates (s. oben Fn. 57) S. 309 f. 88 Abgedruckt bei Huber, Dokumente I (s. oben Fn. 57) S. 370 f. Der Kongress schien sich bewusst auf die „beschränkte Einsicht“ der Politiker einzustellen und formulierte sein Manifest in einer Sprache, die jenen eingehen sollte: Da die Verfassung nur „Besitz“ schütze und nur „Besitzende“ ordne, sei „vor Allem erforderlich, daß die Arbeiter, um ihr Arbeiten als einen bestimmten besitz in das Grundgesetz des Staates einzuführen, sich selbst als . . . politisch-beseelte Körperschaft, unter die übrigen Bürger hinstellen und den Staatsmännern bemerklich machen.“ 84

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5. Karl Marx erarbeitet und kritisiert den Begriff des Staatsbürgers im Hinblick auf die Frage, wie die „bürgerliche Gesellschaft“ als „Privatstand“ zu „politischer Bedeutung und Wirksamkeit“ kommen könne, jene Frage, die Hegel mit der ständischen Verfassung als „System der Vermittlung“ beantwortet zu haben glaubte.89 Wie vermittelt diese Verfassung in den Augen des Karl Marx den Bourgeois in den Citoyen? Seine Ansicht dazu: durch „eine völlige Transsubstantiation“ 90. „Um . . . als wirklicher Staatsbürger sich zu verhalten, politische Bedeutsamkeit und Wirksamkeit zu erhalten, muß er aus seiner bürgerlichen Wirklichkeit heraustreten, von ihr abstrahieren, von dieser ganzen Organisation in seine Individualität sich zurückziehen.“ Insofern er als „Staatsbürger“ ein „seiner Wirklichkeit . . . entgegengesetztes Wesen“ ist, bildet er an sich selbst und unversöhnlich die Trennung und den Gegensatz von Staat und Gesellschaft ab.91 Die Forderung, zu der Marx gelangt, die politische Emanzipation durch die Emanzipation des Menschen zu vollenden, wird an anderer Stelle so gefasst: Erst wenn der „wirkliche individuelle Mensch“ den „Staatsbürger“ in sich zurücknehme und die „gesellschaftliche Kraft“ nicht mehr in der Gestalt der „politischen Kraft“ von sich trenne, sei die menschliche Emanzipation am Ziel.92 Die Kritik des politisch-gesellschaftlichen Systems führte so konsequent zur Ablehnung der hier verorteten Staatsbürger-Rolle.93 Verschärfend kam hinzu, dass der „abstrakte citoyen“ („Staatsidealist“) den Staatsbürger, der einmal Adressat fürstlicher Wohlfahrtssorge gewesen war, verdrängt hatte. Während Marx also den Begriff des Staatsbürgers fallen ließ und den Ausweg im Ökonomischen suchte, blieb der Begriff in der gesellschaftlichen Kommunikation erhalten und gewann auf Hegels Spuren eine betont ethische Bedeutung. Letzteres gilt vor allem für den Schulunterricht. So trägt ein Hauptkapitel in der Preisschrift zur staatsbürgerlichen Erziehung künftiger Handwerker, die 89 Vgl. zum Problem K. v. Beyme, Repräsentatives und parlamentarisches Regierungssystem. Eine begriffsgeschichtliche Analyse, PVS 6 (1965), S. 145 ff.; zu Hegel noch immer F. Rosenzweigs Standardwerk: Hegel und der Staat, Berlin 1920, sowie die Dissertation von R. K. Hocevar, Stände und Repräsentation beim jungen Hegel, München 1968, S. 183 ff. 90 K. Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: ders., Die Frühschriften, ed. S. Landshut, Kröner Bd. 209, S. 92. 91 K. Marx (s. oben Fn. 90) S. 92 f. Wenig später wird das „Staatsbürgertum“ als „das Luftleben, die ätherische Region der bürgerlichen Gesellschaft“ verspottet (ebd. S. 96). 92 K. Marx, Bruno Bauer, Die Judenfrage (s. oben Fn. 90) S. 199. Die Besprechung des Bauerschen Textes beginnt Marx so: „Die deutschen Juden begehren die Emanzipation. Welche Emanzipation begehren sie? Die staatsbürgerliche, die politische Emanzipation“ (S. 171). 93 Vgl. Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (oben Fn. 90) S. 98: „Der wirkliche Mensch ist der Privatmensch der jetzigen Staatsverfassung“. In der Judenfrage (s. oben Fn. 92) S. 198 heißt es: „Der wirkliche Mensch ist erst in Gestalt des egoistischen Individuums, der wahre Mensch erst in der Gestalt des abstrakten citoyen anerkannt.“

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der Münchner Schulmann Georg Kerschensteiner verfasst hat, den Titel: „Der eigentliche ethische Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung“. (Andere als ethische Definitionen hatte er zuvor als „zu weite“ oder „zu enge Begriffsfassungen“ zurückgewiesen.)94 6. Neben dem allgemeinpolitischen Gebrauch des Wortes, den wir im Vorhergehenden skizziert haben, bildet sich um die Zeit der Gründung des Zweiten Kaiserreichs in der juristischen Fachsprache eine engere Wortbedeutung heraus: „Staatsbürger“ im Unterschied zu „Reichsbürger“.95 Paul Laband erklärte, es bestehe Einigkeit darüber, „daß es neben dem Staatsbürgerrecht ein davon begrifflich verschiedenes Reichsbürgerrecht oder Reichs-Indigenat giebt“, wenn auch eine strikte Trennung von „Reichs“- und „Landesbürgerthum“ sich nicht durchführen lasse.96 Aber auch dieser Sprachgebrauch war vorübergehend akzeptiert, und man tat sich in bestimmten Kreisen etwas darauf zugute, die imperiale Fahne zu schwingen und sich einen „Reichsbürger“ zu nennen.97 7. Bis in die Weimarer Republik hinein galt als Signatur des Wortes und Begriffs Staatsbürger seine Herkunft aus dem Polizeistaat des aufgeklärten Absolutismus, sein Durchgang durch die Französische Revolution und sein Eintritt in den liberalen Rechtsstaat. In der analytischen Sprache eines großen historischen Soziologen finden sich diese Bedeutungsnuancen je für sich genutzt: – unter den Gefolgsleuten und Jüngern des charismatischen Autoritätstypus gebe es „regulär zinsende ,Untertanen‘“ und „gesetzestreue ,Staatsbürger‘“,98 – eine an fürstlicher Verwaltung beteiligte Gesellschaftsschicht, die sich parallel mit dem Zerfall der Privathörigkeit entwickelt, sei als „Staatsbürger“ anzusehen, wenn sie „der faktischen Machtlage nach, nicht Untertanen, sondern freie ,Genossen‘ eines politischen Verbandes, ,Staatsbürger‘ also (sind), durch deren freie Mitwirkung der Fürst seine Gewalt ausübte.“99 – Parteien stellten die weitaus wichtigsten Träger der „von der Bürokratie Beherrschten, der ,Staatsbürger‘“ dar;100 94 G. Kerschensteiner, Der Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung, Leipzig 1910, S. 27 ff., S. 11. 95 Die Reichsverfassung selbst bleibt vage, vgl. Art. 3 (Franz (s. oben Fn. 59) S. 169): „Angehörige (Untertan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaats“. Die Frankfurter Reichsverfassung hatte „Angehörige der Staaten“ (Art. 131), „Reichsbürger“ (§ 132) und „Gemeindebürger“ (§ 133) unterschieden. 96 P. Laband (s. oben Fn. 83) Bd. 1, S. 132. 97 Vgl. den Titel der dreibändigen Aufsatzsammlung des Nationalökonomen Karl Braun, Aus der Mappe eines deutschen Reichsbürgers, Hannover 1874. Natürlich gibt es das Wort im Hl. Römischen Reich, z. B. in einer anonym erschienenen Chronik „Anmerkungen über die Geschichte der Reichsstädte“, Ulm 1775, S. 20: „unmittelbare Reichsbürger“ (in Bezug auf Gerichtsbarkeit und andere Freiheitsrechte). 98 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, Tübingen 1976, S. 662. 99 M. Weber (s. oben Fn. 98), S. 619 f.

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– der politische Betrieb als Interessentenbetrieb spaltet die „wahlberechtigten Staatsbürger in politisch aktive und politisch passive Elemente“ 101. Polemische Funktion102 besaß der Staatsbürger-Begriff nur vorübergehend, nämlich beim Vergleich zwischen getreuen Untertanen und revolutionären citoyens. Weil er am Staat orientiert war, hielt sich der Begriff nämlich – anders als es die soziologischen Exempel vorstehend widergeben – vom Zustand und von den Veränderungen gesellschaftlicher Verhältnisse fern. Insbesondere dem System des sozialen Rechtsstaats gegenüber blieb er beziehungslos. Auch dem Volkstum gegenüber entwickelte das Wort Staatsbürger, so unersetzlich der Begriff selbst für eine moderne Nation ist103, keine rechte Beziehung. Darauf beruhten die Vorbehalte national gesinnter Kreise, in Deutschland nicht nur der Nationalsozialisten. In ihren Erinnerungen an ihre Tätigkeit im Berliner Pestalozzi-Fröbel-Haus hat die national-sozial gesinnte Elly Heuss-Knapp ein Unterrichtsfach „Volksbürgerkunde“ mit der Begründung gutgeheißen: „ich glaube, daß ein Volk zur Einheit wird durch die gemeinsame Geschichte und die seelenbildende Gewalt der Sprache“ (1934104). In einem 1936 erschienenen Geschichtsbuch, dessen Verfasser sich „im Einklang mit den vom Herrn Reichsminister des Innern ausgegebenen ,Richtlinien für Geschichte‘ der nationalpolitischen Volkserziehung“ glaubten, werden Aussagen folgender Art getroffen: Das „zweite Reich“ sei „daran zugrunde gegangen, daß es ein Staat ohne Staatsvolk war . . . Im Dritten Reich soll das Volk den Staat und der Staat das Volk . . . durchdringen, der Staat soll für das Volk, das Volk für den Staat verantwortlich sein . . . Erforderlich bleibt . . . (daher) die opfervolle Mitarbeit jedes einzelnen Volksgenossen.“ 105 Nachdem die Voraussetzung „völkischer“ Zugehörigkeit für die volle Wahrnehmung der Staatsbürgerschaft gefordert war und die Nürnberger Gesetze die Rolle des Staats- und Reichsbürgers an rassischer Zugehörigkeit festmachten, lag es nahe, dass der Begriff „Volksgenosse“ den des Staatsbürgers überflügelte.

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M. Weber (s. oben Fn. 98), S. 839. M. Weber (s. oben Fn. 98), S. 841. 102 Die polemische Funktion politischer Begriffe hat C. Schmitt exemplarisch dargestellt, vgl. ders., Der Begriff des Politischen, 3. Abdruck 1933). Zur moralischen Entwertung politischer Begriffe und zur Politisierung moralischer Kategorien vgl. R. Koselleck, Kritik und Krise, Freiburg 1959. 103 E.-W. Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz sowie ders., Staatsbürgerschaft und Nationalitätskonzept, in: ders., Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, stw 1419, Frankfurt/M. 1999, S. 34 ff. (S. 58), S. 59–67. 104 E. Heuss-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, Erinnerungen, Stuttgart/Leipzig (1934) 2008, S. 149. 105 F. Freiherr v. d. Goltz/Th. Stiefenhofer, Unsterbliches Deutschland, Völkischer Durchbruch in der Geschichte, Hamburg 1936, S. 302 f. 101

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IV. Einige Anmerkungen zur Stellung des Staatsbürger-Begriffs nach 1945 1. Der 8. Mai 1945, der als „Finis Germaniae“106 wahrgenommen wurde, hat mit dem Staat der Deutschen nicht nur die ideologische Figur des „Volksgenossen“ auf Dauer, sondern vorübergehend auch die Rechtsfigur des „Staatsbürgers“ erledigt. Deutsche wurden zu Untertanen unter der Souveränität von Siegermächten. Für die Bevölkerung wurden existenzielle Kategorien wichtig: kriegsbedingter Verlust von Leben, Gesundheit und Eigentum (Kriegerwitwe und Kriegswaise, Kriegsversehrter, Ausgebombter, Flüchtling, Vertriebener), Stufen der Nähe zum Nazi-Regime (Mitläufer, Belasteter, Kriegsverbrecher), Zugehörigkeit zu Ernährungsklassen (Normalverbraucher, Schwerarbeiterzulage), aufenthaltsrechtlich bedeutsame Eingruppierung (Volksdeutscher, Staatenloser) oder auch Freund/FeindZuschreibungen (Faschist/Antifaschist, Christ/Materialist). 2. Der Staatsbürger-Begriff erholte sich im Rahmen der Zonenverfassung des Reiches und einer darin wiederauflebenden partiellen Landesstaatlichkeit (a). Er reagierte auf die deutsche Teilung (b) und am Ende des Jahrhunderts auf die Vertiefung der EU (c) und – teilweise damit verbunden – auf die Migration (d). (a) In den ersten Nachkriegsverfassungen (z. B. Bayern 1946, Baden 1947) taucht der Begriff „Staatsbürger“ im Sinn der Landesstaatsangehörigkeit auf. Die US-Besatzer verhinderten, dass Flüchtlinge und Vertriebene mit deutscher Staatsangehörigkeit von den Rechten „Landesstaatsangehöriger“ ausgeschlossen waren. Im Grundgesetz der Bundesrepublik wird die Landesstaatsbürgerschaft zugunsten der deutschen Staatsbürgerschaft grundsätzlich relativiert: „Jeder Deutsche hat in jedem Lande die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ (Art. 33 I GG). Der Begriff des deutschen Staatsangehörigen wird im Widerspruch zum Volksgenossen der NS-Zeit zum Einbürgerungstatbestand, wenn nämlich früheren deutschen Staatsangehörigen „die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Günden entzogen worden ist“ (Art. 116 II GG). Das Substantiv „Staatsbürger“ fehlt im Verfassungstext ebenso wie der an die Stelle des Reichsbürgers tretende Begriff Bundesbürger. Die älteren Verfassungskommentare halten sich hier zurück.107 106

H. Bernhard, Finis Germaniae, Aufzeichnungen und Betrachtungen, Stuttgart

1947. 107 Man gehe das Sachregister der einschlägigen Staatsrechtslehren durch und wird das bestätigt finden. Das Wort Staatsbürger wird in der Regel nur für den status activus des Bürgers gebraucht (G. Jellinek) bzw. für den Inhaber demokratisch-politischer Rechte (v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz Bd. I, Berlin 2. Aufl. 1966, S. 60. Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, München 15. Aufl. 1966, S. 87 u. a.). Die übrigen bürgerlichen Positionen (status negativus/status positivus) werden Bezeichnungen wie „einzelner“, „Deutscher“ usw. zugeordnet.

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(b) „Staatsbürgerkunde“ wurde in der DDR – in formaler Fortführung der Weimarer Tradition – zur Bezeichnung des politischen Unterrichtsfaches an Schulen. Da das Unterrichtsfach in der Ersten Republik aus Angst vor Parteipolitisierung formalistisch gehalten und das DDR-Unterrichtsfach auf die Staatsideologie des Marxismus-Leninismus ausgerichtet war, mieden westdeutsche Landespolitiker den tradierten Begriff und erfanden neuartige Bezeichnungen (Sozialkunde, Gemeinschaftskunde, Politik u. a.). Und als die DDR im Jahr 1968 für die Deutschen auf ihrem Gebiet eine eigene Staatsangehörigkeit reklamierte (DDRBürger), hielt die Bundesrepublik – gestützt auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – an der einen deutschen Staatsangehörigkeit fest. (c) Heute gibt es ein politisches EU-Bürgerrecht108. Es beruht auf der Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedsstaates und schließt das aktive und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament ein. Ein EU-Bürger kann es in jedem Mitgliedsstaat, in dem er sich auf längere Zeit niederlässt, wahrnehmen; es erstreckt sich auch auf das aktive und passive Kommunalwahlrecht. Das nationale Staatsbürgerrecht wird durch das EU-Bürgerrecht relativiert, aber nicht völlig überlagert: So hat das Karlsruher Verfassungsgericht die der deutschen Staatsangehörigkeit inhärierenden Schutzgarantien dem Europäischen Haftbefehl gegenüber im Grundsatz verteidigt (Schutzbereich des Art. 16 GG). (d) Der Gebrauch des Wortes (Staats-)Bürger unterliegt heute zunehmend ausufernden Geboten „politischer Korrektheit“. So gilt in politischer Rhetorik die geschlechtsbetonte Wortbildung „Bürgerinnen und Bürger“ als ein Muss. Im Verhältnis zu Einwanderern entstand die Redewendung von den „MitbürgerInnen“, mit der sie als Mitglieder der deutschen Zivilgesellschaft erscheinen sollen. Indem jedoch auch Grundrechte des Grundgesetzes, die europäische Menschenrechtscharta und völkerrechtliche Garantien für sie aktiviert wurden, erhielten sie tatsächlich Anteil an einem gewissen staatsbürgerlichen status activus: „Deutschenrechte“, wie die bürgerliche Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG, können sie109 für „Demonstrationen“ zwar nicht in Anspruch nehmen, doch stehen ihnen aus der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 GG) und Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) zu gleichem Zweck Menschenrechte zu. 3. Insgesamt kann man sagen, der Begriff „Staatsbürger“ hat sich – nach seiner „völkischen“ Formung und Verformung – einerseits formalisiert, indem er nunmehr jeden volljährigen Staatsangehörigen im Blick auf sein Recht als Wähler und Kandidat zur gesetzgebenden Versammlung bezeichnet (status activus und 108

Die Absätze 2 c) und d) sind vom Jahr 2013. Anderes gilt für in Deutschland geborene Kinder, deren ausländische Eltern einen legalen Aufenthaltstitel besitzen: für sie hat 2013 eine Große Koalition in Berlin verabredet, dass sie eine „doppelte Staatsangehörigkeit“ haben, sich also wahlweise auf allgemeine Grundrechte („Menschenrechte“) oder auf „Bürgerrechte“ berufen können. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Fußnote ist unklar, ob es dabei bleibt. 109

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passivus), andererseits relativiert, weil er nicht mehr einseitig Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen sichert. Womöglich hat Hans Freyer derlei vorausgesehen, als er erklärte, dass in der modernen Massendemokratie als Schlüsselfigur „an die Stelle des staatsbürgerlichen Engagements auf Grund spezifisch bürgerlicher Interessen der ,Mann auf der Straße‘“ trete.110 Seine Ansprüche und sein Einfluss auf das öffentliche Geschehen ergeben sich aus seinem bloßen Dasein, ggf. verstärkt durch Beteiligung an „open petitions“.111 Der soziale Rechtsstaat mit seinem System von Versicherungen, Lohntarifen, bundesgesetzlich definierten und kommunal ausgereichten Arbeitslosen- und Sozialhilfe zielt nicht mehr auf Staats-, sondern auf „Sozialbürger“. Sie sind praktisch Jedermanns-Rechte geworden. Damit tritt eine schon im 19. Jahrhundert aufgeworfene Frage auf: Tritt der Begriff des Staatsbürgers von der Bühne ab?112 Oder im Anschluss an den Staatsphilosophen Horst Krüger gefragt: Gibt es unter den im und vom Staat lebenden Existenzen („l’homme concret“) noch Fähigkeit und Neigung, sich „für den Staat in das strenge Gewand des Staatsbürgers zu kleiden“?113

110 H. Freyer, Bürgertum, in: HDSW Bd. 2, S. 456. Zur Auseinandersetzung zwischen liberaler (Kant, Rawls) und zivil-republikanischer (Communitarians) Staatsbürgerschaft (citizenship) mit Tendenz zu einer radikal-pluralistisch-demokratischen Begrifflichkeit vgl. Chantal Mouffe: „Demokratische Staatsbürgerschaft und politische Gemeinschaft“, publiziert unter www.episteme.de/download/Mouffe–Citizenship–Ge meinschaft.p.d.f. 111 Vgl. neuerdings das Interesse im Fach Politikwissenschaft für das Internet: M. Kneuer, Hg., Das Internet: Bereicherung oder Stressfaktor für die Demokratie? (= Veröffentlichungen der DGfP Bd. 31), Baden-Baden 2013. 112 O. Kirchheimer stellt seinem Aufsatz „Privatmensch und Gesellschaft“ (ders., Politische Herrschaft, Frankfurt/M. 1967, S. 62 ff.) als Motto den oben Fn. 92 zitierten Satz von Marx aus seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie voran. Auch R. Aron spricht von der Möglichkeit der „Abschaffung des Staatsbürgers“ (Über Freiheiten, Frankfurt 1968, S. 126). 113 H. Krüger sieht im Rückgang des Staatsbürgerlichen eine Entfernung von der klassischen Staatlichkeit: „Allenthalben betritt l’homme concret die Bühne der Politik. Offenbar läßt die Fähigkeit und Neigung nach, sich für den Staat in das strenge Gewand des Staatsbürgers zu kleiden.“ (Allg. Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 167). Krüger hätte sich jedoch kaum eine Gesetzesinitiative vorstellen können, die nach Vollendung der deutschen Einheit darauf ausging, den Begriff des „Deutschen Staatsbürgers“ abzuschaffen, er sollte durch den des „Europäischen Staatsbürgers“ ersetzt werden. („[Claudia] Roth [Grüne] will deutsche Staatsbürgerschaft abschaffen“; sie habe dafür bereits die Zustimmung des Vorsitzenden des Innenausschusses des Bundestages, Sebastian Edaty (SPD), gefunden, vgl. im Netz: DeutscherInfoDienst@2009-04-01).

„Staatsmann“ – Anatomie und Rekonstruktion Begriffsgeschichte als hermeneutische Disziplin versucht, „den scheinbaren Hiatus zwischen gegenwärtiger Verbindlichkeit eines Begriffs, seiner normativen ,Definition‘ und seiner faktischen Genesis zu schließen.“ 1 Sie kann aber auch zur Erkenntnis kommen, dass die ehemalige Verbindlichkeit eines Begriffs seine aktuelle Verwendbarkeit gefährdet. Im letztgenannten Sinn hat Carl Schmitt darauf aufmerksam gemacht, dass der Wirkungszusammenhang des Begriffs Staat abgebrochen und zuende sei.2 „Die bisherige, europa-zentrische Ordnung des Völkerrechts geht heute unter . . . Das Denken der Menschen muß sich wieder auf die elementaren Ordnungen ihres . . . Daseins richten. Wir suchen das Sinnreich der Erde.“ 3 Nicht nur der von Juristen geschaffene Begriff des Staates selbst, auch StaatsKomposita, die eher literarischen Ursprungs4 sind, können außer Kurs geraten, wenn sinntragende Bedingungen ihres ersten Auftretens abhanden kommen. Bei näherem Hinsehen ergeben sich unter Umständen äquivalente Bedeutungsmuster, die es erlauben, historisch gesättigte Begriffe nicht einfach zu meiden, sondern neu zu justieren und so weiter zu verwenden. Ein Versuch zu geschichtlicher Vergewisserung und zur Einfügung in neue Kontexte sei am Begriff „Staatsmann“ gemacht. I. Staatsmann – verfassungs- und politikgeschichtlich verstanden 1. „Staatsmänner“ entstehen in der Epoche, wo das Beratungsgremium des Fürsten – bestehend aus consiliarii sive politici – aus dem älteren Ständestaat heraus in den dualen oder monozentrischen Fürstenstaat hineinwandert. Der nunmehr im geheimen Rat – consilium privatum – den Fürsten beratende und für ihn handelnde Politicus wurde seit Beginn des 17. Jahrhunderts mit einem italienischen Namen Statist (statista) und seit der Mitte des 17. Jahrhunderts mit den

1 H. Lübbe, Säkularisierung, Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg/ München 1965, S. 11. 2 C. Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 123. 3 Ebd. Vorwort. 4 In einem Brief an den Verf. schrieb C. Schmitt, dass Staatsmann im Unterschied zu Staatsbürger „eher literarisch“ sei.

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deutschen Namen Weltmann, Weltling oder auch mit dem Kompositum Staatsmann („Stats-Mann“) bezeichnet.5 2. Die letztgenannte Wortbildung findet sich erstmals in einem politisch-allegorischen Drama des holsteinischen Pfarrers Johann Rist („Das Friedejauchzende Teutschland“, 1653). Die fragliche Figur spielt die Rolle eines geheimen Rates. Der zugehörige Fürst ist der Kriegsgott Mars, der „den leichtfertigen verfluchten Staatsmann, welchen die Lateiner Ratio Status heisen, zu seinem geheimesten Raht . . . bestellet“. Gegenspieler sind die wohlmeinenden und tugendsamen Räte „Wohlrat“ und „Waremund“, die in dem „gott- und gewissenlosen Staatsmann“, nachdem sie sahen, was er „für Practiquen dem Mars an die Hand gebe“, nichts weiter sehen als ein „rechtes Kind des Teuffels“, einen „rechten Weltbetrüger“.6 Im selben Jahr (1653) ließ Theodor Reinkingk seine „Biblische Polizey“ erscheinen, in der er von einem „Stats-Mann“ spricht, der „viel Jahr den Staat für seinen Gott gehalten“.7 „Staatsmann“ hat seinen Ursprung in protestantisch-konservativer Polemik, die sich gegen die „Machiavelli Lehrsätzen folge leistenden“ Vertreter des fürstlichen Absolutismus richtet. Der konkrete Vorwurf, der im Begriff Staatsmann zum Ausdruck kommt, bezieht sich auf die willkürliche Einschränkung der „Politik“ auf das Interesse des fürstlichen „Stats“ (wofür das Wort Statisterey gebräuchlich ist). Ansprüche des Herkommens, der Sitte, der Religion bleiben insoweit unberücksichtigt.8 „Stats-Mann“ erscheint als Schrumpfform eines christlichen Politicus, sozusagen als dessen Verweltlichung.9 3. Im 17. Jahrhundert bildet sich eine Variante des Begriffs aus, die einerseits an der Beratungsfunktion des Politicus festhält und den „Politik-kundigen Biedermann“ (vir civilis) meint, andererseits die Komponente der Geschäftsleitung mit umfasst. Staatsmann ist dann der „wirkende Staatsmann“, der Kenntnisse und Fähigkeiten nicht aus Büchern, d. h. aus akademischen Studien, sondern aus der Erfahrung gewinnt. Die von ihm gehandhabte Politik ist „Staats-Klugheit“ und „Staats-Kunst“, also kein speculatives Besitzstück der gelehrten Welt, sondern 5 Vgl. weitere Belege, auch zum folgenden vom Verf.: Der Politiker als „Staatsmann“. Eine Untersuchung über Entstehung, Steigerung und Krise eines politischen Begriffs, in: Civitas. Jahrbuch für Sozialwissenschaften, hg. von der Görresgesellschaft und dem Heinrich Pesch Haus, Mannheim/Ludwigshafen 1970, S. 65–97. 6 J. Rist, Das Friedewünschende Teutschland, Hg. Schletterer, Augsburg 1864, darin zwei .Bühnenstücke. Im ersten tritt Ratio Status (1647) in der gängigen Vermummung als Medicus auf, der „Giftpillen“ mischt und verabfolgt; im zweiten, aus dem oben zitiert wird, als geheimer Rat. 7 Ders., Biblische Policey, Frankfurt 1663/1. Aufl. ebd. 1653). 8 Vgl. v. Verfasser Fünf Thesen zum Begriff der Staatsräson. Die Entdeckung der Staatsräson für die deutsche politische Theorie, in: Staatsräson, Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, hg. v. R. Schnur, Berlin 1975, S. 65–71. 9 1932 ist dann das Buch „Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus“ erschienen, das eine antiliberale und religiös integralistische Theorie der Politik enthält (W. Stapel, Hamburg).

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das „practische“ Besitzstück des Mannes, „der die Hand selbst ans Regierungswerk legt“. Die klassische Beziehung zwischen König und Philosoph wird – in der dem König zugeordneten Figur des „Philosophen“ – als Dualität von „Staatsmann und Gelehrter“ variiert. Ein Gelehrter, der zum Staatsmann taugen soll, muss Erfahrung in der Welt der Geschäfte mitbringen – dafür muss er sich nicht auf Rat und Beratung des Fürsten beschränken, sondern kann an dessen Stelle auf diplomatischer Bühne als Staatsmann unter Staatsmännern agieren. 4. Einen neuerlichen Angriff gegen den der bürgerlich-sittlichen Welt fremd gegenüberstehenden „Staatsmann“ trägt die Aufklärung vor. Sie unterscheidet die Gesellschaft der Staatsbürger (societas civilis) von der fürstlichen Zwangsanstalt, in der der Staatsmann seine Rolle wahrnimmt.10 Während sich in der bürgerlichen Gesellschaft menschenfreundliche Gesinnung (Philantropismus), Volksglück und Moral einstellen, versammeln sich im Fürstenstaat List, Verschlagenheit, Menschenverachtung. Schiller stellt die zwei Welten schon im Titel seines bürgerlichen Trauerspiels „Kabale und Liebe“ neben- bzw. gegeneinander. Die Kritik des jungen Wieland an den Staatsmännern des Absolutismus nimmt am klassischen Vorbild Maß: „Ich darf behaupten, daß ein Staatsmann, der nicht Philosoph ist, wie Plato im 5. und 6ten B. d. Republik den Philosophen beschreibt, ein elender Tropf, ein Dummkopf, oder wenn sie wollen, ein Richelieu ist“ (1753). Vergleichbare moralische Forderungen stellt Carl Theodor von Dalberg: „Verdient der wohl den Namen eines Staatsmannes, für den Treu und Glauben leere Worte sind? der Bündnisse bricht, wenn der Augenblick ist, seinem Staate zu nützen? der Schwachheiten anderer ausspähet und zu Werkzeugen gebraucht? der Gefühle scheinheuchelt und ihrer im Innern lacht? für den Menschenblut und Verheerungen erlaubte Dinge sind, wenn er Absichten erreicht?“ 11 5. Auf der Grundlage einer idealistischen Geschichtsphilosophie und getragen vom Bedürfnis der Gebildeten nach staatlicher Einheit und nationaler Größe wird der Begriff des Staatsmannes bei Hegel zur Hochform und Krönung des Politikers. Er erscheint als weltgeschichtliches Individuum12 auf der eisigen Höhe der Macht, wo das Gezänk der Parteien verstummt, die „gefühllose Beweglichkeit des berechnenden Verstandes“ (G. Ratzenhofer) einsetzt und die Nähe Gottes bzw. des Schicksals spürbar wird. Bismarck, der „eiserne Kanzler“, sollte viel von diesem Bild auf sich vereinigen. Dies unterschied ihn von englischen Staatsmännern seiner Zeit, die sich, ohne im geringsten Demokraten zu sein, durch parlamentarische Qualitäten auszeichneten. 10 Ausgangs des 18. Jahrhunderts dient der Begriff Staatsmann auch dazu – und das ist seine pragmatische Verwendung –, ein Regierungsmitglied vom Hofrat oder von einer Privatperson von Stand zu unterscheiden. 11 Zit. nach A. Freyh, Dalbergs schriftstellerische Tätigkeit, in: K. M. Färber u. a., Carl v. Dalberg, Erzbischof und Staatsmann (1744–1817), Regensburg 1994, S. 176. 12 Vgl. G. F. W. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Leipzig (Reclam Bd. 4881–4885) S. 79.

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6. Der idealistische Kult um den Staatsmann hat dazu beigetragen, dass das Verhältnis zu demokratischer Autorität in Deutschland schwierig war. Heinrich Brüning empfand verständlicher Weise tiefes Misstrauen gegen ein Volk, wo man den Titel „Staatsmann“ oder gar „Erlöser“ verlieh und entgegennahm und sah darin den Verfall schöpferischen Lebens. Vollends gestört war das Verhältnis der Anti-Versailles-Koalition, für die Hitler in seinem Buch Mein Kampf sarkastisch von „Kurpfuschern und Salbadern“ schreibt, „die das Schicksal der Revolution als ,Staatsmänner‘ über Deutschland losgelassen hat“. Als Gänsefüßchenbegriff gehört Staatsmann zum agitatorischen Vokabular, mit dem die Entfremdung der Öffentlichkeit von den „System-Parteien“ vorbereitet wurde. „Staatsmänner“ (in Anführungszeichen) werden als „tote Autorität eines toten Staates“ behandelt. An ihre Stelle tritt – von Volk und Bewegung getragen und sie formend – der „Führer“. 7. Es scheint zur Gewohnheit geworden, Regierungsmitglieder – ohne dass man auf spezielle politisch-historische Verdienste abstellt – als Staatsmänner zu bezeichnen. Demgegenüber gibt es weiterhin die Möglichkeit, bloße Parteipolitiker, die auf die nächsten Wahlen schauen, von Staatsmännern, denen es um das Gemeinwohl des Volkes und also auch um die kommenden Generationen zu tun ist, zu unterscheiden.13 Es besteht also ein historisch-politischer Qualitätsanspruch, der sich mit dem Begriff „Staatsmann“ verbinden lässt, fort. Das wird schmerzlich deutlich in einem hypothetischen Urteil Golo Manns über Prinz Max von Baden, den letzten Reichskanzler des Bismarckreiches: „Hätte man ihm Zeit und die rechte Zeit dafür gegeben, hätte Prinz Max von Baden ein geschichtlich eingreifender Staatsmann werden können.“ 14 II. „Staatsmann“ und „staatsmännisch“ in der Bundesrepublik: historisierendes Etikett und analytisches Instrument 1. Willy Brandt nutzte in seiner Osloer Dankesrede für den Friedensnobelpreis die Begriffe Politiker und Staatsmann, um zwei verdiente Europäer zu unterscheiden: Er erinnerte „an Charles de Gaulle, den Staatsmann, der oft prophetischen Blick bewies, und auf der deutschen Seite an den konservativen und konstruktiven Politiker Konrad Adenauer“.15 Brandt hat – wie man sieht – durch den Titel Staatsmann für den einen, Politiker für den anderen beide in unterschiedliche Rangklassen eingeordnet.16 13 „Der ist ein Staatsmann, dem es glückt, dass die Staatsbürger und Staatsbewohner sagen: Das ist unser Staat, hier ist gut sein für uns!“ (René Marcic in einem Vortrag vor katholischen schweizerischen Studenten.) 14 Einleitung v. G. Mann zu Prinz Max v. Baden, Erinnerungen und Dokumente, neu hg. v. G. Mann/A. Burckhart, Stuttgart 1968, S. 57. 15 Und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 184 (13.12.1971) 1991. 16 Th. Eschenburg kritisierte die von Franz von Papen in seinen Memoiren für sich selbst beanspruchten Titel Staatsmann, vgl. seine Besprechung von Papens Buch, Der

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Gelegentlich ist es vorteilhafter, dass einer nicht als Staatsmann gilt.17 Der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis hat am Beispiel Willy Brandts die Unangemessenheit des seiner Partei enthobenen, „gedankenschweren Staatsmannes“ für das parlamentarische Regierungssystem gezeigt.18 2. Die Unterscheidung von Politiker und Staatsmann wird in der von amerikanischen Soziologen entwickelten Doppelführungstheorie zu neuem Leben erweckt (dual leadership-theory19). Sie unterscheidet „instrumentelles“ und „expressives“ Handeln, was sich vor allem in komplexen Sozialsystemen bewährt, in denen bestimmte Bedürfnisse zeitweise unterdrückt werden müssen (Aufschiebung der Befriedigung). Dadurch werde, so erklärt Niklas Luhmann, Rationalisierung, in unserem Zusammenhang also Regieren möglich; denn es bestehe aus einer strukturell gewährleisteten „Verbindung von instrumenteller und expressiver Orientierung“.20 Die Doppelführungstheorie unterscheidet – etwa in konstitutionellen Monarchien) – expressive und instrumentelle Führungspersonen (König und Kanzler), kennt aber auch personelle Verschränkungen, wo „große Männer“ beide Funktionen erfüllen müssen und tatsächlich erfüllen, was ersichtlich beim „persönlichen Regiment“ Kaiser Wilhelms II. nicht der Fall war. Im Umkreis der Doppelführungstheorie wurde – von Amerika kommend – der Staatsmann-Begriff wiederentdeckt. III. Organisationssoziologische Entscheidungstheorie Drei Fragen zielen auf die Figur des Staatsmanns: 1. Was leistet der oberste Entscheider („Staatsmann“ 21) in einem ausgearbeiteten rationalen System von Entscheidungsgehilfen. Freiheit eine Gasse in: Eschenburg, Die improvisierte Demokratie, München 1963, S. 286. 17 In Auseinandersetzung mit politischen Gegnern wird der Begriff gelegentlich zur Ridikülisierung verwendet – man denke an Franz-Josef Strauss’ Wort vom „Riesenstaatsmann Möllemann“. 18 Unter der Überschrift „Fragwürdiger Denkmalschutz“ griff der Politologe das Verhalten des Parteivorsitzenden Brandt an: „Brandt geht mit der Selbststilisierung zum gedankenschweren ,Staatsmann‘ einen gefährlichen Weg. In diesem Staat schwebt keiner, der politisch führen will, ungestraft über den ,Niederungen‘ der Richtungs- und Interessenkämpfe. Das Denkmal Brandt steht nur fest, wenn es mit stabilen Stricken im Wurzelwerk der alltäglichen Politik vertäut ist.“ (Süddeutsche Zeitung v. 27./28. November 1971, S. 8) Die aus der Geschichte des Begriffs herrührende Distanz zu Gruppen und Parteien, seine „soziale Schwäche“ also, wird hier zum Ansatzpunkt der Kritik. 19 Zu diesem Konzept vgl. N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (= Soziologische Texte Bd. 66, hg. v. Maus/Fürstenberg), Neuwied 1969 (besonders S. 119–228), hier auch weitere Literaturangaben. 20 N. Luhmann, Legitimation (s. Fn. 14) S. 226 f. 21 Der Begriff taucht in Gänsefüßchen auf bei C. Böhret, Entscheidungshilfen für die Regierung. Modelle, Instrumente, Probleme, Opladen 1970, S. 43–48.

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Damit wird nach der Problemangemessenheit sog. einsamer Entschlüsse gefragt und nach den Phasen und Funktionen im Entscheidungsprozess, in denen „extrarationale“ Faktoren am Platze sind, weil insoweit persönliche Fähigkeiten eines Politikers (wie Intuition, Risikofreude, Ahnungen, Urteilskraft) nicht entbehrlich sind.22 Hier wie dort besitzt der Politiker als „Staatsmann“ Einfluss. 2. Was ist staatsmännisch am Entscheidungsverhalten? Die Frage taucht in der Organisationssoziologie Philip Selzniks ausdrücklich auf. Er unterscheidet einen technischen Organisations- von einem wertbesetzthistorischen Institutionenbegriff und nimmt an, dass Organisationen mit RoutineEntscheidungen zurechtkommen, Institutionen aber auf Dauer damit nicht geführt werden können. Nach Selznik benötigen sie eine Qualität von Entscheidungen, die er „critical decisions“ nennt. Er reklamiert für sie – auch in ökonomischen oder gesellschaftlichen Feldern – den „politischen“ Begriff „statesmanship“ und verortet ihn in allen Machtzentren des gesellschaftlichen Pluralismus: „The executive becomes a statesman as he makes the transition form administrative management to institutional leadership“. 3. Wie tief in die Gesellschaft reicht das Staatsmännische herunter? Gustav Ratzenhofer hat „Staatsmann“ im Jahr 1893 als Spitzentypus in einer Skala politischer – und das meint hier: staatsbezogener – Führungsrollen abgehandelt. Indem er die Qualität von Politikern an Verhaltensmerkmalen gemessen hat, hat er – ohne es direkt zu beabsichtigen – ein Stück des Weges für das spätere „institutional leadership“ gebahnt.23 Dieses Führertum als Moment der Zivilgesellschaft wahrzunehmen und es von der staatlichen auf die nichtstaatliche Sphäre zu projizieren, war amerikanischen Soziologen vorbehalten. Sie hatten keine Vorbehalte, die pluralistischen Machtzentren der Gesellschaft – Journalisten großer Medienkomplexe, Vorsitzende von Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, Vorstände von Konzernen, Sprecher von „non governemental organizations“ und von Kirchen – in den Sinnhorizont „staatsmännischer“ Führung einzubeziehen. Das Staatsmännische als politische Qualität hat damit – endlich – den Talboden des Gesellschaftlichen erreicht, von dem ihn sowohl der ständische wie der liberale Fürstenstaat durch die Spaltung von Staat und Gesellschaft so lange Zeit ferngehalten hatten. 22 Vgl. das Kapitel The extrarational Model bei Yehezkel Dror, Public Policy Reexamined, Chandler Publishing Comp., Scanton/Pennsylvania 1968, S. 149–153, 182 f. 23 Ratzenhofer, Wesen und Zweck der Politik als Teil der Soziologie und Grundlage der Staatswissenschaften, Bd. 1, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1893, Aalen 1967, S. 226–233. In den frühen 70er Jahren konnte es vorkommen, dass der Begriff in einer Arbeit über „Die außenpolitische Führungselite der Bundesrepublik Deutschland“ nicht mehr vorkam (H. Kaack/R. Roth in: aus politik und zeitgeschichte B3/72, 15. Januar 1972).

Montesquieus Interesse am Staat Staat (Etat) und Regierung (gouvernement) im Esprit des lois Wenn man sich auch darin einig ist, dass die Sprache des Autors des Esprit des lois einem Literaten und einem Wissenschaftler gleichermaßen zur Ehre gereicht, so bleiben doch Zweifel, ob die Bemühung um Knappheit oder Wechsel des Ausdrucks nicht hin und wieder zu Lasten strenger Wissenschaftlichkeit geht. Wer seine Leser immer auch vergnügen und entspannen will1, wenn er sie belehrt, der darf nicht zögern, gelegentlich den Ausdruck zu wechseln, den er um der Sache willen beibehalten sollte, oder für unterschiedliche Dinge schon einmal dasselbe Wort zu setzen. Doch Montesquieu verficht „ungeachtet aller künstlerischen Mittel der Formgebung“ – wie Ernst Forsthoff gegen Viktor Klemperer zu Recht festhielt – „ein sachliches, objektives Anliegen“ 2. Wo ein neuer von altgewohnten Gedanken zu unterscheiden war, achtet er durchaus auf semantische Bestimmtheit. So eröffnet er den Esprit des lois interessanterweise mit einer Wort-Unterscheidung, die er für das Verständnis der ersten Bücher für wesentlich hält: „Ich habe neue Gedanken gehabt. Es kam drauf an, neue Worte zu finden oder den alten neue Bedeutung zu geben.“ Was er Tugend („vertu“) in der Republik nenne, sei weder moralisch noch christlich zu verstehen. Der Zusatz „politisch“ („vertu politique“) verweist auf dieses semantische Problem, von dem die richtige Lesart der ersten vier Bücher abhängt. Robert Shackleton hat die Frage, ob es nicht nur bei der Tugend, sondern auch beim Staat derlei Wort- und Bedeutungsprobleme gebe, nicht eigentlich untersucht, sondern durch ein obiter dictum, eine beiläufige Behauptung also, erledigt. In einer Fußnote zum englischen Begriff „mixed State“, der wohl für den polybianischen status mixtus steht, liest man: „The distinction between government and Etat, of cardinal importance in Rousseau’s writings, is not drawn by Montesquieu.“ 3 Hier werden gleich zwei Dinge erledigt: Erstens die Frage, ob Montesquieu das zeitgenössische Wort für Staat mit unverändertem oder verändertem Sinn benutzt und zweitens die Frage, in welchem Verhältnis bei ihm das Wort Staat zum Wort gouvernement steht. Dass beide gelegentlich füreinander ein1 Montesquieu an Vernet, Herbst 1747, zit. in L. Desgraves, Montesquieu, Frankfurt 1992, S. 324. 2 Vom Geist der Gesetze, Zur Einführung, Tübingen 1952. 3 A Critical Biography, 1961, S. 260.

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springen, bedeutet ja nicht, dass Montesquieu Staat und Verfassung nicht unterscheide. Man nehme nur den wichtigen Gedanken Montesquieus, dass europäische Mittelstaaten gesetzlich regiert werden, und dass ihre Verfassung darin bestehe – anders gesagt: dass ihre Verfassungsräson ihre Staatsräson sei. Ein solcher Gedanke könnte gar nicht gedacht werden, wenn Staat und Regierungsform dasselbe wären (Etats d’une étendue médiocre, gouvernement des lois, Edl XVII.64). I. Untersuchung über Wortgebrauch und Begriff Staat (Etat) Indem wir in die Untersuchung des Staates (Etat) im Esprit des lois eintreten, wollen wir beim semantischen Zustand beginnen, den Montesquieu antrifft und in dem er sich bewegt. 1. Von status zu Staat Das Wort Etat hat – wie seine spanischen, italienischen und englischen Entsprechungen – seine Wurzel im lateinischen status rei publicae, status regni bzw. status regis.5 Das Wort steht für Verfassung und für Formen der Regierung, es steht aber auch für den Zustand des Menschen vor dem Sündenfall bzw. vor Eintritt in politische Verhältnisse (status naturalis) und für den postlapsarischen Zustand bzw. für politische Verhältnisse (status civilis). In den jungen Nationalsprachen kommen moderne Sachverhalte hinzu: Der Hofhaushalt wird veranschlagt und abgerechnet (Etat), auswärtige Angelegenheiten des Hofes oder Landes werden in einem geheimen Rat (Conseil d’Etat, Affaires d’Etat) traktiert, hommes d’Etat (statisti) sind Leute am Hof, die sich solcher Aufgaben geschäftsmäßig annehmen. Noch nicht Machiavelli, aber Giovanni Botero, der sich mit Machiavelli in der Sache auseinandersetzt, spricht von Raggion di stato. Das neuartige Wesen des Staats, das gegen den Einspruch Boteros und vieler anderer die prudentia politica der Tradition überformt und ablöst, wird in barocker Symbolik als Auge, das die Welt sieht, wie sie wirklich ist, vorgestellt. Philosophen, Historiker und Juristen, die die Theorie des neuzeitlichen Staates bearbeiten, halten jedoch überwiegend am alten Wortschatz fest. Noch Bodin, noch Althusius sehen keinen Grund, vom Zentralbegriffe der praktischen Philosophie, res publica sive civitas sive societas civilis abzugehen und status nur als Zustands- oder Verfassungsbegriff zu verwenden, der ein Genetivattribut braucht. Was die Bezeichnung für verfassungsbestimmte Gemeinwesen angeht, so bleiben 4 Pl. 2. Bd., S. 529. Das Buch wird hier und nachfolgend in römischer Ziffer, das Kapitel in arabischer Ziffer angegeben. Seitenzahlen werden angegeben nach dem 2. Band der Pléjade-Ausgabe von R. Caillois: Montesquieu, Oeuvres complètes, Paris (Gallimard) 1951. 5 Zum folgenden R. Descimon, Etat, in: Dictionnaire Européen des Lumières, hg. v. M. Delon, Paris (PUF) 1997, S. 433.

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die klassischen Differenzierungen maßgeblich: aristokratisch regierte Stadtstaaten heißen respublicae, monarchisch regierte Staaten regna oder imperia. Seit dem 16. Jahrhundert treten beide – ohne Rücksicht auf die Verfassung – unter die Bezeichnungen von Estado, stato, Etat auf. Und das meint den status selbständiger, ranghöchster Königreiche und Stadtrepubliken einschließlich ihrer territorialen Erstreckung und unter Beachtung des Status des Regenten gegenüber seinen Untertanen und gegenüber fremden Regenten.6 Zu der Zeit, als Montesquieu zu schreiben beginnt, ist Etat als Bezeichnung für politische Gemeinwesen im Hinblick auf ihre institutionellen und territorialen Merkmale geläufig.7 Autoren in Frankreich, England und Deutschland haben sich – auch nach Montesquieus Meinung – in der rechtswissenschaftlichen, politischen und ethnographischen Durcharbeitung dieser Fragen ausgezeichnet. In Pensées Nr. 1537 und 1863 findet man die Namen der „Herren Grotius und Pufendorf “ 8. Der Verfasser des Esprit des lois erklärt, daß er seinerseits nicht ganz ohne neue Ideen sei und ebenfalls zu schreiben verstehe (Vorwort9). 2. Montesquieus Interesse am Staat Was meint Montesquieu mit dem Wort ,Etat‘? Einerseits das abstrakte Muster für jedwede Gesellschaft unter einem Regenten bzw. unter Gesetzen, das typologisch eingesetzt wird als Etat politique, -civil, -despotique etc. Montesquieu meint damit auch die jeweiligen historischen Exemplare dieses Musters, für das er je nach Darstellungszweck auch andere Bezeichnungen angibt: die englische Nation, das türkische Reich, die italienischen Republiken, das spanische Königreich, die deutschen Städte usw. – jedes einzelne und alle zusammen empirischer Beobachtung zugänglich: als Etats européens, -grècques usw. Zwischen dem abstrakten Muster und dem jeweiligen geschichtlichen Exemplar in der Mitte steht Staat (Etat) als konkreter Typen-Begriff: grands Etats, petits Etats, Etat principal, Etats éloignés etc., vor allem aber Etat despotique und Etat libre. Der Esprit des lois rückt nicht den Staat als solchen, sondern – mit Louis Desgraves zu reden – die Gesetze in ein neues Licht, die das Leben der Menschen, 6 In Deutschland taucht „Staat“ übrigens erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts mit diesen noch mehr oder weniger untereinander verbundenen Bedeutungen auf. Schrittmacher unter den gelehrten Schriftstellern wurde bei uns Veit Ludwig von Seckendorff mit seinem „Fürstenstat“ (1651). Er umfasst die Verwaltungs- und gerichtlichen Aufgaben der Landesherrn und fügt diese in die Verfassungsverhältnisse des Heiligen Reiches, was bewirkt, dass Reichsstände für ihre Territorialstaaten Suzeränität, nicht eigentlich Souveränität beanspruchen dürfen. 7 Estat in: Dictionnaire de l’Académie Francaise Bd. 1, Paris 1694, s. H. Münkler, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, S. 12 f. 8 Vgl. Brethe de la Gressaye, Grotius et Montesquieu, in: Revue juridique et économique de sud-ouest, 1963, S. 129. 9 Pl. Bd. 2, S. 231.

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Staaten und Gesellschaften regeln10. Es ist die immer gleiche Frage der PraxisPhilosophen nach dem guten bürgerlichen Leben und wo es zu führen sei. Staaten werden analysiert als Konfigurationen gesetzmäßiger Beziehungen, die den Status von Produkten oder – was positive Gesetze angeht – den Status von Produzenten einnehmen. Die Art und Weise, wie Untertanen regiert werden können oder regiert werden müssen und wie Regierungen gehorcht wird, ist das, was Montesquieu recht eigentlich interessiert und was seiner Analyse nicht nur sozialwissenschaftliches, sondern politisch-moralisches Gewicht gibt.11 Die Unterscheidung von „nature“ und „principe“ geht – wie die ersten Kritiker des Esprit des lois scharf beobachtet haben – an den zivilisatorischen Werten und ihnen zum Ausdruck kommenden politisch-moralischen Differenzen nicht spurlos vorbei, auch wenn die Sorbonne daran Unrecht tat, den laudator reipublicae des odium monarchiae zu zeihen12. Montesquieu hat letztlich nicht der Souveränitätskomplex fasziniert, wie er bei Bodin beschrieben ist13, und er hat den Staat – anders als Hobbes – auch nicht als die einzig legitime Quelle von Recht und Moral angesehen. Souveränität war für ihn kein ausschließliches Kriterium für den Staatsbegriff, und moralische und rechtliche Beziehungen werden ausdrücklich als dem Staat vorausliegend bezeichnet, wie das schon Grotius und Locke gelehrt haben. Indem wir Montesquieus Begriff vom Staat auf solche Weise konkretisieren und typisieren, haben wir doch seinen Wortgebrauch noch nicht berücksichtigt. Die Prüfung des Wortgebrauchs erst kann weitere Aufschlüsse geben und unter anderem zeigen, wie sich „Etat“ und „gouvernement“ zueinander verhalten. Wir beginnen unsere Prüfung im ersten Buch, das eine Metaphysik des Rechts und der Gesetze enthält. 3. Naturgesetze und Gravinas doppelter Gesellschaftszustand Den (positiven) Gesetze voraus liegen mögliche Rechtsbeziehungen (I.1). Montesquieu entwickelt die These anhand der „gedanklichen Hypothese“ (Goyard-Fabres „hypothèse logique“ 14) vom vorstaatlichen Leben (I.2). Dabei unterscheidet er Gesetze, die den Menschen – bevor er in etablierter Gesellschaft lebt – von Natur leiten, von solchen, die ihre Entstehung dem Staat verdanken. Die vorstaatlichen (natürlichen) Sozial-Beziehungen sind – anders als dies Hobbes zugeschrieben wird – nicht von ursprünglicher Feindseligkeit, sondern von der 10

Montesquieu, Frankfurt 1992, S. 315. Vgl. zu den Regierungsformen R. Shackleton: „the mode of its exercise“, S. 266. 12 L. Desgraves, Montesquieu, Frankfurt 1992, S. 378. 13 Vgl. die Trivialisierung der Staatstypologie nach ihrer „Natur“ bzw. dem Inhaber von „puissance souveraine“ II.2, Pl. Bd. 2, S. 239 f. 14 Dies., La Philosophie du Droit de Montesquieu, Paris 1973, S. 103. 11

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Schwäche des Individuums bestimmt, das sich ängstlich am Leben zu halten versucht. Erst institutionalisierte Gesellschaften lassen sog. hobbesianische Beziehungen entstehen: solche, die geprägt sind von Ungleichheit, Machtgefühl, Krieg aller gegen alle. In gegründeten Gesellschaften oder Staaten ist – folgt man Montesquieu – nämlich wenig Raum für individuelle Bedürfnisse; sie werden überlagert oder überformt. Das Individuum muss sich nicht mehr so sehr gegenüber der Natur, sondern innerhalb positiver Gesetze behaupten und mittels ihrer seinen Weg suchen. Als Stichwortgeber für eine weiterführende Unterscheidung wird im 3. Kapitel des 1. Buches Gianvincenzo Gravina (1664–1718) mit betontem Lob („très bien dit“) eingeführt. Während die Alten mit der Trennung von Natur- und Gesellschaftszustand zufrieden waren (Goyard-Fabre verweist hier zu Recht auf Ciceros De legibus15), unterscheide dieser den letzteren in einen status politicus und einen status civilis. Status politicus wird definiert mit Bezug auf die vereinten Kräfte der Glieder der Gesellschaft (La réunion de de toutes les forces particulières), status civilis mit Bezug auf ihren vereinten Willen (la réunion de ces volontés I.316). Diese dem Wortgebrauch der Zeit fremden Unterscheidungen finden sich indes bei Gravina nicht; es handelt sich um Montesquieus Zutat17. Was bringt sie ihm? Die Unterscheidung, die nicht mit „droit politique“ und „droit civil“ zu verwechseln ist (Goyard-Fabre18), erlaubt von der naturrechtlichen Status-Lehre her für die Zwecke geschichtlicher Betrachtung einen abgestuften Staatsbegriff. Schon in den „Reflexionen über die Universalmonarchie“ hatte Montesquieu festgestellt, dass seit Jahren große Veränderungen in Europa eingetreten seien: durch Heiraten, Sukzessionen, Verträge, Edikte, so dass sich Europa mehr durch zivile Vorkehrungen (par des dispositions civiles19) als auf dem Weg von Eroberung (Etat conquérant) verändere. Für die begriffliche Stilisierung dieses im Geschmack der Zeit wahrgenommenen Wandels vom Macht- zum Rechtsstaat beliebte er, sich auf den italienischen Zivilisten Gravina zu berufen. Jedenfalls wird ,Staat‘ als ein Zustand vorgestellt, der das Zusammenleben der Menschen qualifiziert: als ein Zustand frei unter Gesetzen20, der sich z. T. nach einem zielführenden oder nach einem Kreislaufmodell21 weiterentwickeln kann. 15

S. 117 f. Pl. Bd. 2, S. 237. 17 Vgl. dazu vom Verf.: Montesquieus Grundlegung der Lehre vom Staat: Etat Politique und Etat Civil, in: P.-L. Weinacht, Hg., Montesquieu. 250 Jahre Geist der Gesetze, Baden-Baden 1999. 18 La Philosophie (oben Fn. 14) S. 118. 19 Pl. Bd. 2, S. 21. 20 Montesquieu kommt an mehreren Stellen des Edl auf die naturrechtliche StatusLehre zurück. Der äußerste Gleichheitssinn ist dort zuhause, die bürgerliche Gesellschaft kennt nur die gesetzliche Gleichheit – entsprechendes gilt für Freiheit und Gehor16

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a) Etat politique (conquérant) Das breit durchgearbeitete Paradigma des Etat politique22 ist der mit allen militärischen Erfordernissen ausgestattete Etat conquérant Roms. Montesquieu hat ihn unter die Frage nach der Ursache von Größe und von Untergang gestellt. Am Fall Roms wollte er die Gesetzlichkeit des Eroberungsstaats herausarbeiten und darüber hinaus zeigen, was geschichtliche Staaten zu ihrer Erhaltung benötigen, was sie blühen und schließlich untergehen lässt. Prinzip oder inneres Gesetz sind die notwendige, nicht die zureichende Bedingung der Entfaltung eines Staats. Angesichts der Größenunterschiede der zeitgenössischen europäischen Mächte ist eine Karriere, wie Rom sie hinter sich gebracht hat, für heutige Kleinstaaten nicht mehr vorstellbar: „il n’est pas possible qu’un petit Etat sorte, par ses propres forces, de l’abaissement où la la Providence l’a mis.“ (Pl. Bd. 2, S. 80). b) Etat despotique Von allem Anfang an bezeichnet Montesquieu das despotische Regime in ständigem Qui pro quo als despotischen Staat (Etat despotique). Schon in der Überschrift des Kapitels 8 des III. Buches, wo zum ersten Mal auf den Despotismus angespielt wird, liest man von Etats despotiques. Das geschichtliche Material, das der Analyse des despotischen Staats zugrunde liegt, sind die großen Reiche und militärgestützten Gewaltherrschaften Asiens (vgl. VIII.19). Unterstellen wir für einen Augenblick, dass hier keine sprachliche Nachlässigkeit, sondern eine semantische Botschaft vorliegt. Dann wäre es wahrscheinlich, dass der Despotismus, die Ekbasis normaler Regime, zugleich der Rohling des Staates, seine unzivilisierte Natur darstellen soll. Und das Prinzip, das die Despotie funktionsfähig macht, hätte zugleich Bedeutung für den Menschen im Staatsverhältnis. In despotischen Staaten, so erfahren wir, sind die Menschen einander gleich, und zwar als Sklaven (III.823). Der Sklave in diesem Sinn ist derjenige, der die Freiheit der Selbstbestimmung aufgegeben bzw. eingebüßt hat. Die Umstände solcher Einbuße sind – anders als bei Hobbes – nicht ein konstitutiver Vertrag, sam. Im Kapitel, das die Überschrift trägt: De l’Etat politique des peuples qui ne cultivent point les terres heißt es, die Freiheit des Menschen, sich unbequemen Oberhäuptern zu entziehen, sei dort so groß, dass sie die Freiheit des Bürgers notwendig nach ziehe (XVIII.14, Pl. Bd. 2, S. 539). 21 Zum letzteren vgl. Pensée Nr. 19171. 22 Der Begriff „politique“ hält sich auch für andere Unterscheidungen verfügbar: etwa wenn Tugend die Vaterlandsliebe bezeichnen soll und für „vertu dans l’Etat politique“ steht. Der Etat politique ist die Republik; ihr steht die moralische Tugend im vorpolitischen Sinn, gegenüber (V.1, Pl. 2. Bd., S. 274). 23 Pl. Bd. 2, S. 258.

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sondern eine effektive Regierung: Der Machthaber setzt seinen Willen an die Stelle des Willens aller übrigen, weil es ihm gelingt, deren Selbständigkeit und Eigenmacht, Fähigkeit und Neigung zu Widerspruch und Widerstand auszulöschen. Eine despotische Regierung, die gleichzeitig Staat und Fürst darstellt . . . ist sehr real“, beharrt daher Montesquieu zu Recht gegen einen seiner Bewunderer, der diese Identifizierung für etwas Utopisches genommen hatte24. Am einfachsten ist es, die Übermacht des Fürsten, der der Staat ist, zu organisieren, wenn die Gesetze schweigen – das Religionsgesetz vielleicht ausgenommen – denn dann geht die Angst unter den Untertanen um. Im despotischen Staat findet nicht Gesetzesgehorsam, der moralisch zwingende Motive hat, sondern ein instinktiver Gehorsam statt. Er ist der Ausdruck von Überlebensinstinkten, vorweggenommene Wirkung angedrohter Pein, Produkt der Angst. Kant hat in seinem Traktat zum Ewigen Frieden diesen kreatürlichen Gehorsam als den Schlüssel zum Verständnis des formalen Rechtsstaats angesehen: nicht die Achtung vor der Erhabenheit des Gesetzes, sondern die Angst, das Nachteilvermeidungs- bzw. Vorteilssicherungskalkül, das an nichts anderes Anspruch macht als an Instinkt oder moralisch neutrale Intelligenz. „Selbst ein Volk von Teufeln“ sei auf die Weise in den Bahnen des Gesetzes zu halten. (Montesquieu spricht vom Teufel als Symbol der im Despoten verkörperten moralischen Verworfenheit25.) Der Despotismus wird von Montesquieu als Auswurf (Ekbasis) wirklicher politischer Regime und zugleich als Rohling staatlicher Ordnung vorgestellt. Wenn hier Gehorsam geleistet wird, so verdient dessen Qualität jedenfalls keinen Respekt; denn er unterscheidet sich nicht von dem Gehorsam, den Mensch und Tier gemeinsam dem Stock entgegenbringen. Montesquieu spricht von mechanischem, extremem Gehorsam und stellt ihm den Gehorsam gemäßigter Monarchien gegenüber, der Einreden, Fürsprachen, Korrekturen, Abmilderungen kenne. Er weist zugleich darauf hin, dass Führung unter Bedingungen von Widerspruch schwieriger sei als Führung unter Bedingungen von Kadavergehorsam. Darum bedarf ein König gewandterer Minister als ein Despot („les ministres y sont infiniment plus habiles et plus rompus aux affaires que dans l’Etat despotique“ III.1026). Halten wir fest: Der Staat ist bei Montesquieu ein System des Regierens und Gehorchens unter Bedingungen von Freiheit und von Unfreiheit. Es gibt Mäßigungen des einen und des andern und es gibt das Umschlagen des einen ins andere. Freie Staaten, die republikanisch verfasst sind, können ihren Gegenstand verlieren, der sich in der politischen Tugend der Bürger und in der Weisheit ihrer 24 Vgl. Brief an F. Risteau v. 19.5.1751, zit. bei L. Desgraves, Montesquieu, Frankfurt 1992, S. 347 f. 25 Vgl. den bereits zitierten Brief an Risteau, Desgraves (s. oben Fn. 12) S. 348. 26 Pl. Bd. 2, S. 261.

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Institutionen begründet. Der Weg in die Knechtschaft ist der Weg des Verlustes des Sinnes für Verfassungsbalancen und gleichzeitig für politische Tugend. Wenn der Etat civil korrumpiert wird, sich verschiebt, verschwindet, bleibt nichts mehr übrig als die Zusammenfassung der Kräfte: der Etat politique im Sinne von Gravina. Nicht umsonst nennt Montesquieu am wenigsten die alten Republiken mit dem Namen Etat, obwohl auch dieses vorkommt. Mit einiger Regelmäßigkeit aber findet man die Bezeichnung Etats (états) dort, wo es zu keinem kulturell bedeutenden Etat civil oder Verfassungszustand gekommen ist. Ist es Zufall, dass die erste Kapitelüberschrift, die das Wort Etat enthält, dem Etat despotique (I.5) gilt? 4. Etat civil: Tugend-, Humanitäts-, „Rechtsstaat“ Im Buch über die politische Freiheit wird ein Staat als eine Gesellschaft bezeichnet, wo es Gesetze gebe (XI.3 „Dans un Etat, c’est á dire, dans une société où il y a des lois“ Pl. Bd. 2, pag. 395). Des weiteren wird über den normativen Charakter politischer Freiheit ausgeführt: Die Gesetze müssten so beschaffen sein, dass jeder tun dürfe, was sich schickt, und keiner etwas tun müsse, was sich nicht schickt. In Abgrenzung zur falschen Freiheit, die Unabhängigkeit meint und entweder ein missverstandener Naturzustand ist oder etwas, das im Etat politique entlaufene Sklaven erleben – in Abgrenzung dazu also ist wahre Freiheit ein Handeln-Dürfen in Übereinstimmung mit den Gesetzen. In diesem Sinn gilt ihm England als ein besonderer Unterfall eines Etat libre, nämlich eines solchen Staates, der infolge seiner Größe auf das Hilfsmittel von Repräsentivkörperschaften angewiesen ist (XI.6, Pl. Bd. 2, S. 399). Im Bereich der Sitten ist der Etat civil etwas, das den Anspruch der Menschennatur respektiert und bürgerliche als zugleich moralische Tugenden verlangt. Das Prinzip des Etat civil findet Anwendung auf das zeitgenössische Verhältnis der europäischen Kolonisatoren zur autochthonen Bevölkerung. Montesquieu missbilligt mit der Sklaverei zugleich die Härte der Strafen, die „in unseren Kolonien“ gegenüber einem Teil der Menschheit an der Tagesordnung sei und reflektiert über die moralischen Folgen solchen Treibens: Wie sollen Menschen sich von wilden Tieren abheben können, wenn man sie fortwährend gegen ihre Menschennatur („nature de l’homme“) behandelt? Es ist zwar nicht von Menschenrechten die Rede, aber von Menschennatur und Humanität (humanité), die die Herren den Unterworfenen schuldeten und die den Römern zur Zeit des Caligula und Claudius gänzlich unbekannt waren: „Lorsqu’on est cruel dans l’état civil, que peut-on attendre de la douceur et de la justice naturelle?“ 27 Ein ZivilStaat (Etat civil) ist also jene Stufe einer Gesellschaft unter Gesetzen, auf der sich ihre Mitglieder zur Humanität bekennen. 27

Pl. 2. Bd., S. 148.

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5. Bürgerschaft (Gesellschaft) und/oder Staat Wie in den Despotien Fürst und Staat, so sind in den alten Republiken Bürgerschaft und Staat identisch. Hier liebte der rechtschaffene Mann (homme de bien . . . dans un sens politique) den Staat weniger für sich als um des Staates willen („aimer l’Etat moins pour soi que pour lui-même“ III.428). Es ist damit keine Eigenliebe im engeren Sinn gemeint, sondern eine hohe Wertschätzung der grundlegenden Gemeinschaftswerte von Gleichheit und Genügsamkeit; dank ihrer werden Staats- und Vaterlandsliebe gleichermaßen möglich. Montesquieu warnt allerdings den demokratischen Gesetzgeber davor, das Prinzip der Gleichheit, das in Republiken die Seele des Staates sei (l’âme de l’Etat) und die Bürger zur Vaterlandsliebe inspiriere, ohne Mäßigung durchzusetzen. Die semantische Konsequenz der Identität von Bürgerschaft und Staat in Republiken, ist es, dass die Ausdrücke République, citoyenneté, ville oder Etat zumeist ohne begriffliche Unterscheidungsabsicht bleiben. Anders liegen die Verhältnisse unter modernen Vorzeichen, also insbesondere dort, wo völkerrechtliche und ökonomische Gesichtspunkte herrschend werden: – Kolonien lassen sich als staatliche Gebietserweiterungen, aber auch als staatsabhängige Handelsobjekte sehen. Im letzteren Fall können sie von irgendeiner im Heimat-Staat (Etat principal) gebildeten Handelsgesellschaft (compagnie commercante) abhängig sein. Die englische Krone lässt den indischen Staat als einen Etat éloigné – dessen Wirtschaftsmacht diejenige Englands verstärkt – durch Handelsgesellschaften regieren (XXI.2129); – oder der Fiskus: England annektiert Irland, um sich in den Besitz seiner Reichtümer (Steuerquellen, Bodenschätze, Häfen usw.) zu setzen und bringt den Untertanen des eroberten Landes die Segnungen eigener freiheitlicher Gesetze. In diesem Fall wären die Bürger frei, der Staat – Inbegriff öffentlichen Reichtums – wäre versklavt: „L’Etat conquis auroit un très bon gouvernement civil, mais il serait accablé par le droit des gens; et on lui imposeroit des lois de nation à nation“ (XIX. 2730). Die Formulierung, die der Endredaktion des Esprit des lois zum Opfer gefallen ist, hatte zunächst gelautet: „l’Etat est esclave, et les citoyens sont libres“ 31. Ein weiteres fiskalisches Beispiel: Die gesunde Staatswirtschaft (l’économie de l’Etat) folgt aus der Sparsamkeit der einzelnen (particuliers, XX.1132), Staat und Bürgerschaft folgen also verschiedenen Regeln;

28 29 30 31 32

Pl. Bd. Pl. Bd. Pl. Bd. Pl. Bd. Pl. Bd.

2, S. 257. 2, S. 643. 2, S. 579. 2, S. 1002. 2, S. 592.

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– oder die Handelsfreiheit: Nur wenn der Staat sich zwischen seinem Zoll und seinem Handel neutral verhalte und dafür sorge, dass sie sich nicht überkreuzten, könne man sich ihrer erfreuen (XX.1633). Wieder sind das politische System und das ökonomische funktional geschieden; – schließlich die Unterscheidung von politischem und bürgerlichem Rechtsverstoß: Wenn die spanische Krone den Wirtschaftsboykott gegen England mit der Todesstrafe gegen Kaufleute, die ihn brechen, sanktioniert, dann ist das zivilisatorischer Unfug: Sie nehme als ein Staatsverbrechen (crime d’Etat), was eine Ordnungsverletzung sei (violation de police, XX.1434). Die Trennung von Staat und Gesellschaft entspricht nicht nur internen, sondern auch externen Funktionsgesetzen – etwa der Entwicklung des Welthandels. An immobilem und mobilem Eigentum verdeutlicht Montesquieu die aus der Natur der Sache erfließenden verschiedenen politischen Beschränkungen. Grundeigentum gehöre dem Staate, in dem es liege („à chaque Etat en particulier“); mobiles Eigentum – Geld, Wechsel, Aktien, Schiffe, Waren aller Art – gehöre „der ganzen Welt, die in dieser Beziehung, nur einen einzigen Staat darstellt, dessen Mitglieder die Gesellschaften sind“ („au monde entier, qui, dont ce rapport, ne compose qu’un seul Etat, dont toutes les sociétés sont les membres“): Das Volk, das den größten Teil dieses beweglichen Vermögens der Welt kontrolliere, sei das reichste (XX.2335). Als Mitglieder des Einzelstaaten gelten natürliche, bürgerliche Wirtschaftssubjekte, als Mitglieder des Weltwirtschaftssystems, das Montesquieu sich offenbar als Etat civil des Freihandels vorstellt, gelten die einzelnen Staatsökonomien. Die ältere Identität von Bürgerschaft und politischem Gemeinwesen beginnt sich hier aufzulösen. Die relative Autonomie des politischen Systems oder Staates gegenüber dem wirtschaftlichen System oder der Gesellschaft und umgekehrt, die bei Hegel zur Theorie der bürgerlichen Gesellschaft fortentwickelt werden wird, deutet sich an.36 6. Regierungs-Prinzipien, Staatsräson, Staatszwecke Die Regierung eines Einzelstaats muss das Prinzip beachten, das den Antrieb seiner Regierungsform darstellt (Ehre, Tugend usw.), und ein mit seiner geschichtlichen Existenz verbundenes Ziel. Letzteres wird von Montesquieu allge33

Pl. Bd. 2, S. 594. Pl. Bd. 2, S. 594. 35 Pl. Bd. 2, S. 600. 36 Über den Irrtum, dem der Verf. des Artikels „Gesellschaft“ im Wörterbuch historisch-politischer Begriffe unterlegen ist, als er die Definitionen von état politique und état civile auf den Unterschied von „Staat“ und „Gesellschaft“ bezog, vgl. meinen vorgenannten Beitrag Montesquieus Grundlegung (oben Fn. 16). 34

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mein und spezifisch bestimmt: im erstgenannten Sinn ist es die allgemeine Maxime staatlicher Selbsterhaltung, die – trotz der antimachiavellischen Mode des 17. und 18. Jahrhunderts37 – als Staatsräson fixiert werden kann; im letztgenannten Sinn ist das Ziel ein individueller, teils von inneren, teils von äußeren Bedingungen abhängiger Staatszweck: „objet d’Etat“, genauer „objet des Etats divers“ (XI.538). Ihn zu kennen, bedeutet, den Schlüssel zur Erklärung der Rolle eines Staates in der Geschichte zu besitzen. Für den leitenden Staatsmann gilt: er muss in der Lage sein, den Staatszweck zu definieren und zu handhaben, um den ihm anvertrauten Staat zu erhalten. Für Rom ging es um Expansion (l’agrandissement), für den Staat der Juden um Religion, für die Stadt Marseille um Handel, für Rhodos um Schifffahrt. Wenn Montesquieu für die Wilden – also für eine vor- und außerstaatliche Gesellschaftsform – natürliche Freiheit als diesen Zweck ansetzt, dann um zu sagen, dass politische Freiheit gegebenenfalls Staatszweck werde, wenn die Gesellschaftsform eine staatliche geworden ist. Die auf politische Freiheit zielende Staatlichkeit, hat er in England erfasst. Politisches Gegenbild dazu ist das Leben im Etat despotique, das ein Leben der politisch bedingten Furcht ist. Kein Wunder also, dass die englische Regierung und der englische Staat durch Ausschluss der Furcht bestimmt werden: das Land sei so eingerichtet, „dass ein Bürger einen anderen Bürger“ – er begleite ein staatliches Amt, welches er wolle – „nicht zu fürchten braucht“ (ne puisse pas craindre un autre citoyen, XI.639). Indes ist der Grundantrieb des Etat politique, die Furcht vor dem Souverän, nicht schlechthin falsch und etwas zu Überwindendes, denn auch Hüter freiheitlicher Gesetze bedürfen dieses Mechanismus. Er steht jedoch im Dienst der Gesetzesbeachtung und ist der bedrohlichen Alleinverfügung eines Souveräns – und wäre dieser die Bürgerschaft einer Republik – entzogen. England zeigt nach Meinung von Montesquieu, dass dies kein utopisches Projekt ist. Indem dort der die Souveränität symbolisierende Gewaltkomplex funktional unterschieden und aufgeteilt wird, verliert sich die kreatürliche Angst der Bürger vor der politischen Macht. Gemäßigte Regierung geht mit Angstfreiheit einher. Institutionell formuliert: ein Staat ist zivilisiert, wenn seine höchste Amtsmacht (puissance souveraine) so geordnet ist und wahrgenommen wird, dass die Gemütsruhe seiner Bürger (cette tranquillité d’esprit) gewahrt bleibt.

37 Vgl. R. Shackleton, Montesquieu and Machiavelli: A Reappraisal, in: Comparative Literature Studies Bd. 1, 1964, S. 5. 38 Pl. Bd. 2, S. 396. 39 Pl. Bd. 2, S. 397.

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II. Ergebnisse 1. Die semantisch häufigste Verwendung von Staat (Etat) gilt geschichtlichkonkreten Mächten. Sie wechselt mit geläufigen anderen Bezeichnungen: solchen, die von der Staatsform hergenommen sind (Republik, Königreich, Kaiserreich), solche die auf die Würde des Regenten (Herzogtum), auf die Siedlungsform (Stadt), auf die territoriale Größenordnung (Land), auf den gesellschaftlich-kulturellen (Nation) oder gesellschaftlich-politischen Aspekt (Volk) hinweisen. 2. Charakteristisch für Montesquieu ist der typologisierende Staatsbegriff: als das Gehäuse zivilisatorischer Entwicklungsstufen und -ausprägungen. Staatslenker werden auf einige Gesetzmäßigkeiten aufmerksam gemacht, die geeignet sind, den Staat zu erhalten bzw. seinen (geschichtlich unvermeidbaren) Untergang hinauszögern. Momente dieser Gesetzmäßigkeiten sind Natur, Prinzip, Größe, Lage, Objekt des Staates. Rand- oder Eckpunkte des typologisierenden Staatsbegriffs sind der Machtstaat (Etat politique, Etat despotique) und der Gesetzesstaat bzw. (avant la lettre) der Rechtsstaat (Etat civil, Etat libre). In den Machtstaaten wirken Motive bürgerlicher Fügsamkeit ohne humanitären Anspruch: Mensch und Tier kuschen gleichermaßen vor dem Stock. In den Kolonien der europäischen Großmächte setzt sich diese erniedrigende Herrschaftsform fort. Dem gegenüber steht die zivilisatorische Hochform des Staats: der Freistaat (Etat libre). Er existiert in der Form von Republiken und von Monarchien. 3. Wenn Shackleton allzu rasch behauptet hat, dass im Esprit des lois der Unterschied zwischen Etat und gouvernement keine Rolle spiele, so haben wir zu zeigen versucht, dass dieses Qui pro quo nicht einer literarischen Nachlässigkeit entspringt, sondern eine triftige Konsequenz der Montesquieuschen Regierungsformen-Lehre darstellt: – Im despotischen Staat repräsentiert der Fürst den Staat ausschließlich, er verschluckt ihn gewissermaßen in sich hinein. Für die Untertanen bleibt nichts als kreatürliche Angst; – In der Republik ist der Staat die Bürgerschaft selbst. In ihm gelten die Werte, die den Bürgern teuer sind, darum wird er um seiner selbst willen geliebt; – In der gemäßigten Monarchie ist angesichts der Beteiligung der Bürger an der Gesetzgebung ein Staat der Freiheit (Etat libre40) möglich. Dieser ist die Frucht eines spezifischen politischen Regimes (gouvernement politique41). 40 „Dans un tout homme qui est censé avoir une âme libre doit être gouverné par luimême“ (Pl. Bd. 2, S. 399). 41 „C’est d’eux – nämlich aus den germanischen Wäldern – que les Anglois ont tiré l’idée de leur gouvernement politique“ (Pl. Bd. 2, S. 407).

Über Carl Schmitts Arbeit an Begriffen: Wort und Begriff des Staates „Ne simus faciles in verbis!“ (Carl Schmitt)

„Etatist“ und „Politicist“ („politicien1“). In einem gewichtigen Beitrag zur Begriffssprache von Carl Schmitt (C. S.) sagt Christian Meier: „sein Werk verdichtet sich in Begriffsbildungen“.2 Wir fügen hinzu: Sein Werk wurde von wortgeschichtlichen Funden angeregt. Schmitts Leidenschaft galt dem Staat. Dass die Substanz dieses Begriffs in der Weimarer Republik gering geworden war, erscheint ihm als ein Makel, auf den er in seinen politischen und rechtswissenschaftlichen Aufsätzen über Genf – Weimar – Versailles stets aufs Neue hinweist. Er leidet am Verlust des Deutschen Reiches an Selbstherrschaft und höchster Kompetenz und am Verlust der Republik an politischer Einheit und an Fähigkeit, im Konfliktfall die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Als Ursachen nennt er die Verträge von Versailles und die Fortgeltung der Prinzipien des Liberalismus. Noch bevor er sich dazu durchrang, vom Ende der Staatlichkeit zu sprechen, war ihm klar, dass „das Politische“, das sich immer an den Staat anlehnt, seinerseits den Staat stützt. 1932 formulierte er die geschichtliche und systematische These: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“ 3 An anderer Stelle sagt er von der Verfassung, ihr liege der Staat voraus.4 Man kann die Beziehung zwischen den Begriffen Politisch – Staat – Verfassung so schematisieren: 1 Carl Schmitt sagt von Bodin, er habe auf vielen Gebieten einen bedeutenden Namen, sowohl als Jurist wie als ,politicien‘ seiner Zeit“, ders., Staatliche Souveränität und freies Meer, in: Ders., Staat, Großraum, Nomos (1995) S. 402. 2 Und er ergänzt: Schmitt definiere seine Begriffe nicht, sondern belasse sie bei den Sachen, zu denen sie gehörten und mit denen sie für ihn realiter eine Einheit bildeten. So entstehe eine „seltsame Kombination zwischen Festhalten am Ursprünglichen und Offenheit für das Neue.“ Ders., Zu Carl Schmitts Begriffsbildung – Das Politische und der Nomos, in: H. Quaritsch, Hg., Complexio Oppositorum, Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 537, 554 f. 3 C. S., Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 6. Auflage von 1963, Berlin 1996, S. 20. 4 C. S., Verfassungslehre (1928) Berlin 1983, S. 4 f. Mit diesem Wort ist in diesem Zusammenhang die „besondere Art politischer und sozialer Ordnung“ gemeint, nicht die „Verfassung im absoluten Sinn“, die das griechische Wort politeia wiedergibt (= individuelle Existenz des Staates).

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Ursprünglich gegeben: das Politische, daraus gewonnen: der Staat, als dessen konkretes Leben, in dem seine Existenz ruht: die Verfassung, durch sie in Form gebracht: Staat als Monarchie, als Republik usw. Im Blick auf dieses Begriffs-Schema lässt sich C. S. als „Etatist“ verstehen. Helmut Quaritsch, der diese Bezeichnung (neben „Katholik“ und „Nationalist“) für ihn heranzieht, erläutert sie als Vorordnung des Staates vor der Verfassung: „Über die Verfassung des Staats kann erst entschieden werden und die Staatsform erst dann praktiziert werden, wenn und solange der Staat als solcher existiert.“ 5 Man kann für C. S. auch die Bezeichnung Politologe oder besser: „Politicist“ heranziehen. Von dem zuvor angegebenen Begriffs-Schema her wäre sie sogar fundamentaler. Denn als Theoretiker des Politischen (H. Herrera spricht im Titel seines Buches sogar vom „politischen Philosophen“ 6) schafft Schmitt „in einer vorsichtigen, ersten Absteckung eines Begriffsfeldes“ die Voraussetzung, den „ganzen Überbau staatsbezogener Begriffe“ entweder fallweise neu zu justieren oder zum alten Eisen zu werfen.7 I. Eine hermeneutische Vorfrage Begriffsbildung ist für Schmitt keine Frage der Feststellung der Semantik oder der Festlegung einer Definition, sondern Arbeit an Politik und Recht in konkreter geschichtlicher Ordnung. Die Schrift über den „Begriff des Politischen“ scheint insofern eine Ausnahme zu machen, als ihr Autor sie vom geschichtlichen Kontext des Politischen, also von Aufgaben, Handlungen und ideellen Rechtfertigungen weitgehend frei hielt.8 Indes sagt Schmitt 36 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen, sie behandle „wie jede rechtswissenschaftliche Erörterung konkreter Begriffe, einen geschichtlichen Stoff “.9 Diese Mitteilung verliert ihren Überraschungs-Effekt, wenn man das Verfahren beachtet, in dem C. S. Wort und Begriff, konkreten Begriff und geschichtliche Lage aneinander entwickelt.

5 H. Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 2. Aufl. 1991, S. 36 Auch wenn Verfassungen außer Kraft sind, arbeiten staatliche Verwaltungen weiter, so wie es 1918/19 in Deutschland der Fall war. Lebensgeschichtlich fügt Quaritsch an, dass der ganz auf der Seite des Staates stehende Etatist C. S. im Einparteistaat „auf verlorenem Posten“ stehen musste. 6 H. Herrera, Carl Schmitt als politischer Philosoph (2010). 7 C. S., Der Begriff (1963), Vorwort S. 10, 16. 8 V. Gebhardt, Politik als Ausnahme, in: Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, hg. v. R. Mehring, Berlin 2003, S. 209 („IV. Exemtion vom Kontext“). 9 C. S., Der Begriff des Politischen, Vorwort zur Ausgabe von 1963, S. 14.

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Doch schon wieder stoßen wir auf eine Bedenklichkeit. Das Begriffsmerkmal „konkret“ findet in der Schmitt-Rezeption ebenso Zustimmung wie Widerspruch. Hasso Hofmann meint zwar, „Schmitt beherrscht wie kein zweiter Staatsrechtler die Kunst, Situationen, Konfliktslagen [sic] und Entwicklungen zum Begriff zu bringen“ 10. Er bestreitet dann aber, dass „konkrete“ und „polemische“ Begriffe zu „klarer Erkenntnis“ und „klarer Beschreibung“ taugten.11 Die Eignung eines Begriffs für „klare Erkenntnis“ hängt jedoch nicht davon ab, ob man die Theorie von der Praxis absolut getrennt hat – im Gegenteil: derlei Trennung erscheint philosophisch fragwürdig. Zu dieser Frage, die schon den frühen Schmitt beschäftigt hatte12, hat Hugo Herrera gehandelt und Schmitts praktischen Zugriff auf den der Existenz innewohnenden Sinn mit starken Argumenten gerechtfertigt.13 Arbeit am Begriff erscheint von daher als „Rechtsphilosophie“ in der Form der „Entwicklung konkreter Begriffe aus einer konkreten Rechts- und Gesellschaftsordnung.“ 14 Das hermeneutische Problem, das in solcher Begriffsbildung enthalten ist, begegnet nicht von ungefähr auch in der Spannung zwischen „Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift“ 15: „Die Fakten sind gleichsam mit Wort – mit Sinn – angefüllt; und auch umgekehrt: Was bisher nur Wort – oft unverständliches Wort – gewesen war, wird Wirklichkeit, und so erst erschließt es sich“ (Josef Ratzinger16). In den Worten von C. S. geht es also auch bei der Bibelexegese um theologisch „konkrete Begriffsbildung“.

10 H. Hofmann, Legitimität und Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Neuwied u. Berlin 1964, S. 7. 11 H. Hofmann, zitiert und kommentiert bei H. Herrera, Carl Schmitt als politischer Philosoph (2010), S. 71. 12 Mit kritischem Bezug zu Paul Laband („vollständige(n) Feststellung des positiven Rechtsstoffes“) vgl. G. Maschke im Vorwort seiner Ausgabe von Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, Berlin 1995, S. XIV f. 13 H. Herrera, Carl Schmitt (2010), S. 71–74. 14 C. S., Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft (1943/1944), zitiert H. Herrera, Carl Schmitt (2010), S. 115. 15 So der Titel eines Buches von M. Reiser (2007), auf das J. Ratzinger im methodologischen Teil des Vorworts zu seinem eigenen Werk: Jesus von Nazareth, Tl. II, Freiburg u. a. 2011, S. 11 Bezug nimmt. Ratzinger diskutiert hier „Exegese als historische und zugleich auch theologische Disziplin“ unter dem Aspekt, dass die historisch-kritische und die theologische Auslegung wieder zusammenfinden, nachdem die erste sich „in immer neuen Hypothesen“ erschöpft hatte und „theologisch belanglos“ zu werden drohte. 16 J. Ratzinger (2011) S. 226. Ratzinger hatte im Vorwort (vgl. letzte Fußnote) „Exegese als historische und zugleich auch theologische Disziplin“ unter dem Aspekt vorgestellt, dass die historisch-kritische und die theologische Auslegung wieder zusammenfinden, nachdem die erste sich „in immer neuen Hypothesen“ erschöpft hatte und „theologisch belanglos“ zu werden drohte.

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II. Vom Wort zum Begriff In Worten sieht Carl Schmitt (C. S.) das charakteristische Substrat von Begriffen.17 Aus dem Wort arbeitet er den Begriff heraus. Dieser Ansatz bestimmt seine lebenslange Arbeit am Begriff der Politik und am Begriff des Staates. Zu status (im Sinn der historischen und moralischen Verfassung, in der sich ein Volk befindet) führt er ein begriffsgeschichtliches Notizheft.18 Von 1968 stammt eine briefliche Äußerung an den Verfasser, die das bestätigt: „Seit über 50 Jahren begleitet dieses Thema [Wortgeschichte von „Staat“] meine Arbeit; ich habe ganze Haufen von sprachgeschichtlichen Notizen im Laufe der Jahre angesammelt.“ 19 Schmitt, der bis ins hohe Alter Wortfunde macht20 und wortgeschichtliche Reflexionen anzustellen liebt, schrieb 1967 an den Verfasser dieser Zeilen im Rückblick auf die Zusendung seiner Dissertation21: „Ich habe immer ein großes Interesse an solchen wortgeschichtlichen Untersuchungen gehabt und mir Sammlungen zu ,Staat‘, aber auch ,Nomos‘ und ,Feind‘ angelegt.“ 22 Auf den Bedeutungswandel des Wortes „Politik“ greift Schmitt verschiedentlich zurück. Er lässt das Wort Politik in unterscheidbare Varianten auseinander treten oder auch in einer und derselben Variante mehrdeutig werden.23 In dem berühmten, 1963 nachgereichten Vorwort zur Begriffsschrift führt er aus: Das Wort „politisch“ übernahmen von „Aristoteles“ „die mittelalterlichen Scholastiker“ und versetzten es in „das Spannungsverhältnis zweier Ordnungen“, nämlich von kirchlich-geistig und weltlich-politisch – und wieder anders die politiques im 16. Jahrhundert, die bereits in ihrem Namen erkennen lassen, dass sie oberhalb der Religionsparteien für den „Staat als die höhere, neutrale Einheit eintraten“.24 In einem Handbuch-Beitrag (1936), der fast ein Jahrzehnt nach der Be17 Vgl. zu den „Worten“ Souveränität und Einheit vgl. C. S., Der Begriff des Politischen (1932/1963) S. 39. 18 Diese Nachricht findet sich bei R. Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, S. 634 Fn. 38. 19 Brief vom 24. September 1967 an Verf. 20 Vgl. seinen Versuch über den Nomos (1953), in: C. S., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, Berlin 1958, S. 489 ff. 21 Verf., Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes, maschinenschriftlich 1967. 22 Brief v. 24. September 1967. 23 Ein schönes Beispiel für die Vieldeutigkeit eines Wortes unter der Wirkung einer bestimmten Richtung der Philosophie ist das von C. S. untersuchte Wort „Wert“ (erstmals in C. S., Der Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft als Beispiel einer zweigliederigen Unterscheidung usw., in: Estudios Juridico-Sociales, Homenaje al Profesor Luis Legaz y Lacambra, Univ. de Santiago de Compostela 1960, S. 165 ff. (174– 178), später unter dem Titel „Die Tyrannei der Werte“ erweitert publiziert. 24 C. S., Der Begriff des Politischen (1932/1963), S. 9 f. In den „Hinweisen“ am Schluss bringt C. S. zur S. 11 des Textes noch eine auf Leo Strauss bezogene Ergänzung

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griffsschrift verfasst wurde, charakterisiert er den Begriff der Politik anhand der wortgeschichtlichen Verzweigung: „Aus der gemeinsamen sprachlichen Wurzel ,Polis‘ spalten sich aber seit der Ausbildung des modernen Staates die beiden Worte Polizei und Politik ab. Polizei bedeutete in der absoluten Monarchie des 17. und 18. Jahrhunderts eine innerstaatliche, auf die Wohlfahrt der Untertanen und die Aufrechterhaltung der guten Ordnung gerichtete Tätigkeit der inneren Verwaltung; bei dem Wort ,Politik‘ dachte man mehr an Kabinettspolitik, ,hohe Politik‘, also an Außenpolitik . . . mit dem Beginn der liberaldemokratischen Verfassungskämpfe des 19. Jahrhunderts [trat] die Innenpolitik in den Vordergrund des Bewusstseins . . . Der Staat des Weimarer Systems 1919–1933 war in typischer Weise ein . . . pluralistischer Parteienstaat. Infolgedessen wurde hier politisch und parteipolitisch im täglichen Sprachgebrauch nicht unterschieden. Politik ist dann wesentlich ,Ausgleich‘, d. h. die auf die Herbeiführung eines erträglichen Kompromisses gerichtete Tätigkeit. Adolf Hitlers Buch ,Mein Kampf‘ setzt schon mit seinem Titel dieser Denkweise einen andern Begriff des Politischen entgegen.“ 25 Eindeutigkeit entsteht nur dadurch, dass das Wort auf seinen Begriff gebracht wird, was einen festigenden Zugriff erfordert.26 In „Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“ (1912) hat C. S. das bereits gesehen und so ausgesprochen: „Der verwirrende Wirbel von Assoziationen, die sich an ein Wort anknüpfen, kann nicht aus sich selbst heraus das ordnungsschaffende Prinzip gebären, das dem Begriff die nötige Festigkeit verleiht, damit er überhaupt verwendbar werde.“ 27 zur Wortgeschichte von Politik: „die Politesse als ,petite politique‘ des gesellschaftlichen Spiels“ (ein weiterer Bezug auf Strauß auf S. 120 im „Hinweis“ zu S. 54 des Textes. 25 C. S., Politik, in: Ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916– 1969, hg. G. Maschke, Berlin 1995, S. 193 f. 26 Auch durch Unterscheidung und Einfühlung in einen älteren Wortgebrauch kann ein Wort begrifflich gefestigt werden, wie C. S. in einem Brief an den Verf. zu erkennen gibt. C. S. war „frappiert“, als es in meinem Ms las, dass Herzog Eberhard III. von Württemberg (1645) von seiner Territorialherrschaft als einem „formierten Staat“ gesprochen habe. In einem Brief machte er die Anmerkung: „ein sehr schönes Beispiel der territorialen (Raum-)Seite des Staates; ein herrliches Gegen-Beispiel zu dem, was man (R. Altmann) heute die ,formierte Gesellschaft‘ nennt.“ (Brief v. 6. Oktober 1967 an Verf.) Offenbar ist ihm für den Begriff staatlicher Formierung die alte territoriale Funktion geheurer als die gesellschaftlich-ideologische der Gegenwart. Festigung kann auch den Staat selbst betreffen, und zwar durch Anhänglichkeit des leitenden Staatsmannes an ihn. So interpretierte C. S. eine Stelle im Brief Friedrichs des Großen nach der Schlachte bei Kolin an seine Schwester: „dass er sich das Leben nehmen wollte nach dieser Niederlage, aber ,da erwachte meine Anhänglichkeit (attachement) an den Staat (Etat)‘ (September 1757).“ (Gleicher Brief v. 6. Oktober 1967). 27 C. S., Der Wert des Staates (1912), S. 41, zitiert bei Friedrich Balke, Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996, S. 27.

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Und darum hat er auch dem älteren Meinecke wegen dessen „Idee der ,Staatsräson‘ in der neueren Geschichte“ (1924) nicht den Vorwurf erspart, die Arbeit am Begriff versäumt zu haben: „Natürlich wird wiederholt gesagt, was unter dem Wort verstanden sein soll: Staatsräson ist bald dasselbe wie Machiavellismus, bald Machtpolitik, oder Machtund Lebenswille der Staaten. Sogar ,Zwangsläufigkeit im politischen Handeln‘ . . . Aber jede begriffliche Festlegung ist sorgfältig vermieden.“ „Es mag ,Rationalismus‘ sein, mit Begriffsschablonen zu arbeiten; es ist ein auf demselben Niveau verbleibender Irrationalismus, jede Begrifflichkeit zu vermeiden. Der Verzicht auf den Begriff enthält . . . einen Verzicht auf eine strenge Architektur überhaupt.“ „Denn nicht nur das Spezifische des Begriffes geht verloren . . . sondern auch die historische Individualität der Vorstellung . . . So rächt sich der mißachtete Begriff.“ 28 III. Begriffsarbeit an Antithesen („Gegenbegriffe“) Aus Normativismus und geschichtlicher Abstraktion ist ordnungsschaffende Festigkeit nicht zu gewinnen.29 Begriffliche Festlegung hat ihren Grund in existenziellen Erfahrungen, in konkreten Ordnungen, in polemischen Antithesen bzw. Gegenbegriffen. Wenn C. S. – vom eigenem Boden aus der Demokratie zustimmend30 – die Begrifflichkeit des Weltanschauungsgegners kritisiert, dann hat das seinen Grund darin, dass der Liberalismus den (exekutivischen) Staat zu schwächen strebe und „Rechtsstaat“ als „Gegenbegriff“ gegen die Monarchie, ja gegen die politische Einheit des Volkes kultiviere. „Inzwischen aber ist der Gegenspieler, die Monarchie, entfallen, der seine Kräfte aus einer anderen Zeit zog. Schon deshalb muss das ganze System leerlaufen . . . Heute [1927] aber ist die Situation völlig anders geworden. Heute geht es darum, das Proletariat, eine nicht besitzende und nicht gebildete Masse, in eine politische Einheit zu integrieren.“ 31 Nach 1933 glaubte Schmitt eine Zeit lang, dass der vom Nationalsozialismus propagierte „Weltanschauungsstaat“ legitimer Weise den liberalen Rechtsstaat ablöse; viele können solche Hoffnung heute kaum noch nachvollziehen.32 Und 28 C. S.s Rezension in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1926, hier zitiert nach H. Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin (2. Aufl.) 1991, S. 21. 29 Vgl. H. Herrera, Carl Schmitt (2010), S. 90–95. 30 Vgl. C. S., Der Begriff des Politischen (1932/1963) S. 24: „Die Demokratie muß alle für das liberale 19. Jahrhundert typischen Unterscheidungen und Entpolitisierungen aufheben.“ 31 C. S., Der bürgerliche Rechtsstaat (1928), in: Ders., Staat, Großraum, Nomos (1995), S. 47. 32 „Wenn ein anderer, z. B. der Weltanschauungsstaat vollendet ist und die letzten Nachwirkungen des bisherigen Rechtsstaates aufgehört haben, entfällt sowohl das Inte-

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doch bleibt Schmitts Kritik am Liberalismus interessant, wo er dessen wissenschaftliche und gesellschaftliche Bedingtheiten in den Blick nimmt33 oder wo er das „Doppelwort“ Rechts-Staat nach seiner geistesgeschichtlichen Herkunft zu charakterisieren weiß: als „ein[en] typisch liberale[n] Gegenbegriff gegen einen von der ,christlichen Weltansicht‘ getragenen Staat“, aus dem dann ein „,formaler‘ Begriff“ wurde, der – wegen des „Normativismus der formalen Rechtsstaatlichkeit“ – „keinen Inhalt mehr [hat]“.34 C. S. konstruiert ganze Begriffsreihen, in die er Begriffsworte antithetisch einsetzt und auf die Weise substanziell macht. So die für den Liberalismus bedeutsamen Unterscheidungen von „religiös (konfessionell)“, „kulturell“, „wirtschaftlich“, „rechtlich“, „wissenschaftlich . . . als Gegensatz zu politisch und zahlreiche andere, durchaus polemische und deshalb auch selbst wieder politische Antithesen“. 35 Eine andere „charakteristische Gruppierung“ besteht aus: „Freiheit, Fortschritt und Vernunft gegen Feudalismus, Reaktion und Gewalttätigkeit“ beides je für sich verbunden mit „Wirtschaft, Industrie und Technik gegen Staat, Krieg und Politik“ und zwar – je für sich – als „Parlamentarismus gegen Diktatur“.36 Es ist offensichtlich, dass Begriffe, die C. S. besonders schätzt, wie Staat und Politik, im 19. Jahrhundert auf der Feindseite des von den Liberalen betriebenen Fortschrittpfades stehen. Dadurch gelten ihm diese Antithesen als richtig gesetzt, denn sie bilden die liberale Polemik und Politik getreulich ab. Demgegenüber tragen „falsch“ gesetzte Antithesen für eine Festigung von Begriffen nichts bei. C.S wählt als Beispiel das zu seiner Zeit gegenwärtige technische Massenzeitalter mit seinen „Namen“ und „Worten“ aus, die ganz offensichtlich nicht zum Begriff werden: resse, das die Gegner der nationalsozialistischen Bewegung heute noch an diesem Worte haben, auch der auf absehbare Zeit noch sehr bedeutende Wert einer Umdeutung des Rechtsstaates zu einer polemischen Überwindung des liberalistischen Gesetzesstaates. Dann wird man das Wort hoffentlich nur noch als Trophäe eines geistesgeschichtlichen Sieges über den bürgerlichen Individualismus und seine Entstellungen des Rechtsbegriffs betrachten.“ (C. S., Was bedeutet der Streit um den ,Rechtsstaat‘?, in: Ders., Staat, Großraum, Nomos (1995), S. 130 f.). 33 Vgl. C. S., Der bürgerliche Rechtsstaat, in: Ders., Staat, Großraum, Nomos (1995), S. 44 ff., vor allem C. S., Der Rechtsstaat, ebd. S. 108 ff. und: Was bedeutet der Streit um den ,Rechtsstaat‘? Ebd. S. 121 ff. 34 C. S., Was bedeutet der Streit um den ,Rechtsstaat‘?, ebd. S. 124 f. Anschließend heißt es: „Die Verbindung der beiden Worte ,Recht‘ und ,Staat‘ zu einem Doppelwort ,Rechtsstaat‘ ist so zeitgebunden und bleibt so stark in dem höchst problematischen Dualismus dieser beiden Wörter verhaftet, dass hier jeder Gedanke an ein ewiges oder absolutes Wort entfällt“ (ebd. S. 130). 35 C. S., Der Begriff des Politischen (1932/1963), S. 24. 36 C. S., Der Begriff des Politischen (1932/1963), S. 74.

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„Wir durchschauen heute den Nebel der Namen und der Worte, mit denen die psycho-technische Maschinerie der Massensuggestion arbeitet. Wir kennen sogar das geheime Gesetz dieses Vokabulariums und wissen, dass heute der schrecklichste Krieg nur im Namen des Friedens . . . vollzogen wird.“ Es gelte festzuhalten, „dass es falsch ist, ein politisches Problem mit Antithesen von mechanisch und organisch, Tod und Leben zu lösen.“ „Denn das Leben kämpft nicht mit dem Tod und der Geist nicht mit der Geistlosigkeit. Geist kämpft gegen Geist, Leben gegen Leben“.37 Es gibt im Werk Schmitts an mehreren Stellen solche architektonischen Reihungen von Begriffsworten. In der Verfassungslehre kann man Übersichten über Rechte des einzelnen aufgrund unterschiedlicher Status oder über politische Systemvergleiche finden.38 IV. Begriffsarbeit an Substanzen Der Anspruch Schmitts an den Inhalt von Begriffsworten zielt auf Substanzdefinitionen, die ins Metaphysische reichen.39 Begriffstragende Substanzen werden von verschiedenen Ansätzen her abgeleitet. Im Fall des Staatsbegriffs geht es um Wirksames, Maßgebendes, in einem Konfliktfall sich Beweisendes, den Ernstfall Bestimmendes: – vom Politischen Existenzialismus her40. Rechtsbegriffe („Staat“) besitzen ihre Substanz in Prinzipien und Vorstellungen, die eine politische Gemeinschaft und deren Ordnung tragen: eine homogene Einheit, ein einheitlicher politischer Wille, wobei „Wille“ im Gegensatz zur bloßen Norm „existenziell vorhanden [ist], seine Macht oder Autorität liegt in seinem Sein.“ 41 – aus staatssoziologischer Perspektive42. Der Staat ist leistungsfähig gegenüber Defekten in der Sozialnatur der Menschen oder der Struktur gesellschaftlicher Organisationen; – vom politisch-juristischen Sinngehalt einer Staatsverfassung her: im Fall eines Konflikts kann die politische Einheit über den Ernstfall von sich aus bestimmen.43 Tatsächlich aber ist das „Deutsche Reich“ seit Versailles und dem 37

C. S., Das Zeitalter der Neutralisierungen, in: ebd. S. 94 f. C. S., Verfassungslehre (1928), Berlin 1983, Übersichten S. 170, 342. 39 H. Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und ,Der Begriff des Politischen‘, Stuttgart 1988 Kap. VII. 40 In Auseinandersetzung mit Dyzenhaus und Mouffe so bei D. Hitschler, Zwischen Liberalismus und Existenzialismus. Carl Schmitt im englischsprachigen Schrifttum (= Würzburger Universitätsschriften zu Geschichte und Politik, Baden-Baden 2011, S. 137 f.). 41 C. S., Verfassungslehre (1927), Berlin 1983, S. 9. 42 Vgl. unten II.1. Der Sinn des Staates. 43 C. S., Der Begriff des Politischen (1932/1963), S. 39. 38

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Dawes-Plan nicht „im Besitz seiner vollen Souveränität, und der dadurch verursachte Mangel an politischer Substanz würde jede Verfassung in ihrer Bedeutung relativieren“ 44; – vom Völkerrecht her. Ein bestimmtes Volk ist Träger einer „politischen Idee“ und hat einen bestimmten Gegner im Auge, wodurch diese Idee die Qualität des Politischen erhält;45 – vom Naturrecht her, soweit es in konkreten Ordnungen der Geschichte erfasst wird.46 Substanz liegt in der hier verankerten Doppel-Bindung, die ideales und historisch-konkretes Recht einander annähert und – jedenfalls außerhalb ideologischer Beschränkungen – ein Maßstab für die Bewertung aktueller Herausforderungen ist. Eine Substanz kann im Lauf der Geschichte verloren gehen, so dass ein Begriffswort zur „leeren Begriffsshülse“ wird. Schmitt, ein Meister solcher Beobachtung, hat das nicht am Nationalsozialismus, wohl aber – wie schon erwähnt – am Liberalismus demonstriert. Hier zeigte er auch, wie die metaphysische Unterscheidung von Staat und Kirche durch einen beide Institutionen zerspaltenden Pluralismus verloren ging.47 Zu den Ursachen des Substanzverlustes des Staatsbegriffs schrieb er an den Verfasser: „Für die heutige Situation des ,Staates‘ und aller seiner Suffix-Bildungen ist entscheidend, dass Staatlich und Kirchlich (Geistlich), irdisch und jenseitig keine Substanz-Definitionen mehr zu tragen vermögen, weil die beiden Organisationen jetzt beide pluralistisch in die Krise geraten sind.“ 48 Die Methode, die C. S. für eine substantielle Bestimmung juristischer Begriffe empfiehlt, hat er am Begriff der Souveränität, später auch an raumbezogenen Begriffen erläutert.49 Er nannte sie in seiner Politischen Theologie „Soziologie der

44 C. S., Der bürgerliche Rechtsstaat (1928), in: Ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hg. G. Maschke, Berlin 1995, S. 44. 45 C. S., Völkerrechtliche Großraumordnung (1941), in: Ders., Staat, Großraum, Nomos (1995), S. 282. 46 H. Herrera entwickelt diesen Gedanken in Auseinandersetzung mit Alvaro d’Ors und H. Hofmann und versucht zu zeigen, dass C. S. sich hier in der Tradition der Praxis-Philosophie sowie in der Nähe der thomistischen Naturrechtslehre befindet, vgl. ders., Carl Schmitt als politischer Philosoph (2010) S. 28–31. 47 C. S., Hüter der Verfassung (1931) S. 71 f.: „nicht etwa erschöpfende Definitionen . . ., sondern nur Ausgangspunkt für eine Übersicht“. Vgl. auch die Äußerung vom 2. Februar 1971 an Verf., die weiter unten zitiert wird. 48 Briefkarte vom 2. Februar 1971 an Verf. 49 Das gilt speziell auch für Raum-bezogene Begriffe, z. B. „Raumrevolution“. J. Winckelmann hat im Gespräch mit C. S. dieses „Stichwort“ „begeistert“ aufgenommen, das methodologisch die „Austilgung der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung und Denkungsweise“ leiste (berichtet bei R. Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, Eine Biographie, München 2009, S. 402).

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juristischen Begriffe“ und gab ihnen in radikaler Konsequenz einen Geltungsanspruch, der „bis zum Metaphysischen und zum Theologischen“ reicht: „Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet. Die Feststellung einer solchen Identität ist die Soziologie des Souveränitätsbegriffes.“ 50 V. Begriffsworte Wenn ein Wort im konkreten geschichtlichen Kontext „historische Individualität“ hat und ihm durch Arbeit am Begriff „architektonische“ Bedeutung gegeben werden kann, spricht C. S. von „Begriff“. Man könnte verdeutlichend „Begriffswort“ sagen. Begriffsworte eignen sich als Symbole geschichtlicher Konstellationen und als Werkzeuge für die Beurteilung eines möglichen oder nicht herstellbaren Anschlusses an Gegenwart. Möglich ist – so gesehen – ein Anschluss für „Diktatur“, „Absolutismus“ 51, „Gesetz“ und „Nomos“, „Macht“ und „Konsens“52, nicht herstellbar für „Parlament“ und und „Rechtsstaat“ 53. Problematisch ist er für das Begriffswort „Staat“ und dessen Siffixe.54

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Politische Theologie, 2. Auflage, S. 59 f., zit. H. Hofmann (1964) S. 11. Vgl. Schmitts gleichnamigen Artikel im Bd. I des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft, 1926, Sp. 29–34, wiederabgedruckt in Schmitt, Staat, Großraum, Nomos (1995) S. 95 ff. 52 Die Historizität der Begriffssprache überwindet den formalen Begriff des Gesetzes (Legalität) wie den des abstrakten Begriffs Rechtsstaat. So wie an die Stelle des letzteren Erscheinungsformen des Staats im 19. Jahrhundert und in der I. Republik treten, so an die Stelle des ersten der Begriff der Legitimität bzw. des etymologisch deklinierbaren Nomos („Nehmen – Teilen – Weiden“). 53 Vgl. C. S., Der bürgerliche Rechtsstaat (1928), in: Ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hg. G. Maschke, Berlin 1995, S. 44 ff., C. S., Der Rechtsstaat (1935), ebd. S. 108 ff. und: Was bedeutet der Streit um den ,Rechtsstaat‘? (1935), ebd. S. 121 ff. 54 C. S. unterscheidet scharf zwischen Begriffen, die in Rechtstexten eine Rolle spielen und solchen, die in literarischen Texten stehen – etwa im Fall von „Staatsbürger“ und „Staatsmann“. So schrieb er, nachdem er Studien zu beiden genannten Begriffen gelesen hatte, in einem Brief an den Verf.: „,Staatsmann‘ ist aber nicht wie ,Staatsbürger‘ ein Rechtsbegriff . . . daher weniger fassbar und mehr literarisch.“ (C. S. an Verf., 2. Febr. 1971). Schmitt selbst liebte es – auch in rechtswissenschaftlichen Texten –, eine „literarische Sprache“ zu sprechen. Ellen Kennedy erinnert an expressionistische Texte, wie er sie an seinem Dichterfreund Th. Däubler geschätzt hat, durch den „die deutsche Sprache zu dem reinen Wunderinstrument einer neuen Tonalität geworden“ sei. (Vgl. die Beiträge Maschkes und E. Kennedys in Complexio Oppositorum [1988] S. 193 ff., S. 233 ff.). Ferner H. Quaritsch., Positionen und Begriffe Carl Schmitts (1991) S. 23 und Fn. 24. Dass das Mythische bis tief in seine politischen und rechtswissenschaftlichen Arbeiten hineinreiche, ist die These, die W. Palaver verteidigt: Ders., Die mythischen Quellen des Politischen. Carl Schmitts Freund-Feind-Theorie (= Beiträge zur Friedenethik Bd. 27), Stuttgart u. a. 1998. 51

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Schon 1916 hatte C. S. mit einer „staatsrechtlichen Studie“ auf das Gutachten eines Reichsgerichtsrates über „die rechtlichen Schranken der Militärdiktatur“ geantwortet; es erschien ihm notwendig, „die Frage prinzipieller und unter weiteren historischen Aspekten zu behandeln und dadurch den begrifflichen Gegensatz von Belagerungszustand und Diktatur zu bestimmen.“ 55 Einige Jahre später (1921) hat er die Geschichte des Begriffs „Diktatur“ breiter ausgearbeitet und zur ideengeschichtlichen und staatstheoretischen Grundlegung seines Kommentars zum Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung gemacht.56 Der Prinzipien-getragene Essay über „Parlamentarismus“ bietet einen Schlüssel für eine Strömung liberalen Denkens, im Vergleich zu welchem der Weimarer Parlamentarismus „seine Evidenz“ und „seine bisherige Grundlage und seinen Sinn verloren hat“. 57 Die Darstellung des „wirklichen Verhältnisses von Konsens und Macht und Macht und Konsens“ versteht Schmitt (nachträglich) als darauf gerichtet, „einen Ansatz für richtige Fragestellungen und neue Kategorien verfassungstheoretischer Betrachtung zu finden.“ 58 In jedem dieser Fälle wurden Worte zu Begriffen verarbeitet und treten – mit Signalwirkung – als Begriffsworte auf. Daraus, dass seine Begriffsworte für C. S. Symbole und Werkzeuge, ja die Sachen selbst sind („Realitäten“ [Chr. Meier59]), erklärt sich seine wiederholt ausgesprochene Mahnung: „Ne simus faciles in verbis!“ 60 Er stellt sie jener leichtfertigen Floskel entgegen, mit der Bismarck in „Gedanken und Erinnerungen“ das Kapitel über die Indemnitäts-Vorlage abschloss: „Simus faciles in verbis!“ 61 VI. Das Begriffswort „Staat“: Sinn des Staates Als Möglichkeit, den Sinn des Staates zu erkennen, sieht der Autor der Verfassungslehre die „Daseinsweise“ einer existierenden politischen Einheit. Er tadelt Jellinek dafür, dass dieser Verfassung nur normativ („eine Ordnung, der gemäß 55 C. S., Diktatur und Belagerungszustand, in: Ders., Staat, Großraum, Nomos (1995) S. 3 (Fn. 1). 56 Nach Ansicht von H. Heller war der Kommentar nicht ganz widerspruchsfrei, vgl. ders., Die Souveränität. – Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts (= Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, hg. Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin, Heft 4, Berlin u. Leipzig 1927, S. 67 (zit. H. Hofmann (1964) S. 9. 57 C. S., Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), 4. Aufl. Berlin 1969, S. 63. 58 C. S., Machtpositionen des modernen Staates (1933), in: Ders., Verfassungsgeschichtliche Aufsätze (1958), S. 371. 59 Ders., Zu Carl Schmitts Begriffsbildung, in: H. Quaritsch, Hg., Complexio Oppositorum (1988), S. 605. 60 Auch brieflich an Verf. 61 Vgl. dazu H. Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts (1991), S. 19 f.

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der staatliche Wille sich bildet“) begreift, statt sie auch als „eine seinsmäßig vorhandene Ordnung“ anzuerkennen.62 Diese seinsmäßige Ordnung wird in der Begriffsschrift zum eigentlichen Grund der Verfeindung: „Feindschaft . . . ist seinsmäßige Negierung eines anderen Seins.“ 63 Neben der seinsmäßigen Bestimmung staatlichen Sinns kennt Schmitt eine funktionale, nämlich spezifische institutionelle Leistung. In seiner Habilitationsschrift, die der Widerlegung des staatsrechtlichen Individualismus gilt, spricht er angesichts der natürlichen Bosheit der Menschen von der „unerhörte[n] Leistung“ des Staates, „ein Meer zügellosen und bornierten Egoismus und rohester Instinkte wenigstens äußerlich eingedämmt und unschädlich gemacht und selbst den einflussreichen Bösewicht wenigstens zur Heuchelei gezwungen zu haben.“ 64 Es geht hier um offenbar um Verhaltensstandardisierung von Individuen. Einige Jahre später werden staatliche Leistungen politischer definiert: „[D]ie politische Einheit [ist] . . . höchste Einheit, nicht, weil sie allmächtig diktiert oder alle anderen Einheiten nivelliert, sondern weil sie entscheidet und innerhalb ihrer selbst alle anderen gegensätzlichen Gruppierungen daran hindern kann, sich bis zur extremen Feindschaft (d. h. bis zum Bürgerkrieg) zu dissoziieren.“ 65 Das heißt: Der Sinn des Staates liegt darin, dass er in seiner Eigenschaft als höchste (d. h. souveräne) politische Einheit eines Volkes zwischen Freund und Feind unterscheidet, die Kraft zum (negativen) inneren Frieden hat.66 Der Staat ist andererseits „maßgebende politische Einheit“, weil er „eine ungeheure Befugnis bei sich konzentriert: die Möglichkeit Krieg zu führen und damit offen über das Leben von Menschen zu verfügen.“ 67 Noch im Diktaturbuch ist der Staat nicht auf die Epoche beschränkt, für die das Begriffswort später reserviert bleibt.68 Der Staatsbegriff des Diktatur-Buchs

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C. S., Verfassungslehre (1928) ebd. S. 4. C. S., Der Begriff des Politischen (1932/1963), S. 33. 64 C. S., Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914) S. 84, zit. H. Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts (1991), S. 38. 65 C. S., Staatsethik und pluralistischer Staat (1929) = Positionen und Begriffe S. 141, zitiert H. Quaritsch ebd. S. 38 f. 66 Diese Definition gibt so etwas wie den Grundton der Schmitt’schen Bemühungen um den Staatsbegriff ab (vgl. E.-W. Böckenförde in: Complexio Oppositorum (1988) S. 283). Die Ausdifferenzierung und Kritik des vordemokratischen Begriffs Staatswillens bei C. S. führt von diesem Begriffselement ab, vgl. Chr. Schönberger, „Staatlich und Politisch“, in: R. Mehring, Hg., Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, S. 25 ff. 67 C. S., Der Begriff des Politischen (1932/1963) S. 46. 68 „Die päpstliche Souveränität innerhalb der Kirche hat den mittelalterlichen Lehnsstaat bereits im 13. Jahrhundert überwunden.“ (C. S., Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin (1924, 1928) 1964, S. 43. 63

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ist weder historisch noch spezifisch rechtlich gefüllt.69 Andernfalls hätte sich C. S. der in der juristischen Literatur seiner Zeit geläufigen generellen Verwendung des Wortes enthalten müssen, der er auch im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft (1926) folgt. Den Erfolg von Machiavellis Discorsi erklärt C. S. im Diktatur-Buch damit, dass sie „der Staatsauffassung des 16. und 17. Jahrhunderts“ entsprochen hätten. Er beruft sich dafür auf eine technische Orientierung, die bei der Konstruktion eines geeigneten Gemeinwesens „für die Entstehung des modernen Staates . . . von unmittelbarer Bedeutung“ gewesen sei.70 Der Begriff des modernen Staates wird hier kulturgeschichtlich fundiert: „Wo nun prinzipiell ein ausschließlich technisches Interesse an staatlichen und politischen Dingen besteht, können rechtliche Rücksichten . . . sachwidrig sein.“ Denn: „Der moderne Staat ist historisch aus einer politischen Sachtechnik entstanden. Mit ihm beginnt, als sein theoretischer Reflex, die Lehre von der Staatsraison, d.h. einer . . . soziologisch-politischen Maxime.“ 71 Der Legist Bodin kommt in dieser historisierenden Begriffsanalyse des Allgemeinbegriffs Staat als Denker eines spezifisch neuen Rechtstitels ins Spiel: Sein dem Wort Staat (Etat) voraus liegender „Souveränitätsbegriff des Staates“, habe die „Verbindung von höchstem Recht und höchster Macht“ ins Auge gefasst, auch wenn er die Organ- von der Staatssouveränität noch nicht unterschieden habe.72 Er habe den Souveränitätsbegriff auch in ersten Ansätzen auf die Außenpolitik angewandt. Danach habe sich „der Rechtsgedanke der staatlichen Souveränität“ schrittweise vollendet: zur räumlich geschlossenen, in sich zentralisierten und durchrationalisierten Einheit mit einheitlicher, auf Armee, Finanz und Polizei beruhender Staatsgewalt und mit von staatlicher Justiz gehandhabtem Gesetz. Die Kirche habe sich derweil auf die neue potestas indirecta zurückgezogen. Obgleich Bodin das Traditionswort „République“ in den Titel seines berühmten Buches gesetzt habe (1576), sei der Staatsbegriff vermutlich von hier aus ins allgemeine Bewusstsein gewandert.73 69 Beispielsweise lässt er „politische und staatsrechtliche Schriftsteller“ des 16. Jahrhunderts die Diktatur versuchsweise als einen „Begriff der allgemeinen Staatslehre“ entwickeln. Das 16. Jahrhundert kannte jedoch – die französischen Juristen ausgenommen – noch gar kein „Staatsrecht“ und noch keine „Staatslehre“. Diese Disziplinen gehören, vor allem in Deutschland, in spätere Jahrhunderte. Was es gab, waren Regimentstraktate und historische und juristische Kommentare zu Reichsgrundgesetzen. 70 C. S., Die Diktatur (1964) S. 10. 71 Ebd. S. 12 f. 72 „Wer die absolute Macht hat, ist eben der Souverän . . .“ Ebd. S. 27. 73 C. S. schlug dem Verfasser dieser Zeilen vor (Brief vom 24. September 1967), die frühen Übersetzungen von „République“ bei Bodin zu berücksichtigen: „was ich beispielsweise prima vista vermisst habe (auf die Gefahr hin, dass es mir entgangen ist): die Übersetzungen von Bodins Livres de la République (Ende des 16. Jahrhunderts) im Deutschen, Spanischen, Italienischen und Englischen“.

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Die neuzeitlichen Elemente am Begriff des Staats erklären sich für C. S. aus der Mitgift Machiavellis („Staatsräson“) und Bodins („Souveränität“). VII. Historische Reflexion des Begriffswortes Die historische Substanz des Begriffswortes Staat zeigt sich erstmals in vollendeter Klarheit in Schmitts Nürnberger Vortrag aus dem Jahr 1941, den er vor Historikern des Kreises um Theodor Mayer und Gerhard Ritter über ein Thema hält, das ihn damals beschäftigt: das Jus publicum Europaeum. In Anlehnung an Fritz Kern und nach der Lektüre von Brunners „Land und Herrschaft“ findet er jene programmatische Formulierung, die er in die Überschrift des gedruckten ersten Teils seines Vortrags stellt: „Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff“.74 Die damit verbundene These heißt: Die „Erhebung des Staatsbegriffes zum allgemeinen Normalbegriff der politischen Organisationsform aller Zeiten und Völker wird wahrscheinlich mit dem Zeitalter der Staatlichkeit selbst bald ein Ende nehmen.“ 75 Von der „Epoche der Staatlichkeit“ weiß C. S. zu sagen, dass sie im 16. Jahrhundert beginnt und deren Ende im 20. Jahrhundert bevorstehe. Das Wort Staat – angeblich „durch Macchiavelli in das politische Vokabularium der europäischen Völker eingeführt“ – habe „vielfältige Bedeutungen“ gehabt. Auch hätten bei der deutschen Wortbildung sicherlich „Anklänge raumhafter Vorstellungen wie Stadt und Stätte mitgespielt“. Aber noch fehlt der ordnungsstiftende Begriff. Der „neue europäische Maß- und Ordnungsbegriff ,Staat‘“ habe nur in einer spezifischen politischen Situation entstehen können, in welcher die Souveränitätslehre des Franzosen Bodin „ihren existenziell adäquaten Ausdruck“ gefunden hat.76 Diesen historisch reflektierten substanziellen Begriff des Staates benutzt C. S. auch in dem Aufsatz von dem 1945 fertig gestellten Buchmanuskript „Der Nomos der Erde“: Eine „neue Raumordnung“ werde in Europa für das feste Land „durch den Staat geschaffen“: 74 C. S., Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941), in: Ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze (1958), S. 377 f. 75 C. S., Staatliche Souveränität und freies Meer (1941), in: Ders., Staat, Großraum, Nomos (1995), S. 402. 76 Aus den konfessionellen Bürgerkriegen entstand der Gedanke der „souveränen Entscheidung, die alle theologisch-kirchlichen Gegensätze neutralisiert und das Leben säkularisiert, auch wenn die Kirche Staatskirche bleibt.“ Während das deutsche Reich im Mittelalter zurückblieb, trat die spezifische Organisationsform „souveräner Staat“ in europäische Bewusstsein und „macht für die Vorstellungsweise der nächsten Jahrhunderte den Staat zur einzigen normalen Erscheinungsform der politischen Einheit überhaupt.“ (C. S., Staat, in: Ders., Verfassungsrechtl. Aufsätze [1958] S. 375) Die Begriffe Staat und Souveränität fanden ihre erste maßgebende juristische Ausprägung im Juristenstand Frankreichs (vgl. R. Schnur: Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts – ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates, Berlin 1962).

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„Sein geschichtliches Specificum, seine ureigene, geschichtliche Legitimation, besteht . . . in der Säkularisierung des gesamten europäischen Lebens, d. h. in einer dreifachen Leistung. Erstens schafft er in seinem Innern klare Zuständigkeiten . . . Zweitens überwindet er den damaligen europäischen Bürgerkrieg der Kirchen und konfessionellen Parteien . . . Drittens endlich bildet der Staat auf der Grundlage der von ihm bewirkten innerpolitischen Einheit gegenüber anderen politischen Einheiten eine in sich geschlossene Fläche . . . So entstand die räumlich in sich geschlossene, von dem Problem des ständischen, kirchlichen und konfessionellen Bürgerkrieges entlastete, impermeable Flächenordnung ,Staat‘.“ 77 Wieder sind es Leistungen, die den Begriff des Staates mit Substanz füllen, aber nicht Systemleistungen in Bezug auf eine ahistorische pessimistische Anthropologie, sondern Leistungen innerhalb der europäischen Moderne. Dass sie ans Ende gekommen ist, geht aus begleitenden Texten hervor, etwa dem Leviathan-Buch des Jahres 1937, in dem C. S. das „Ende des Staates“ gekommen sieht. Die Interpretation des Staates im Rahmen der geschichtlichen Bedingungen seines Aufkommens und seines Wandels bildet die Grundlage dafür, dass die nach ihm benannte einzigartige politische Organisationsform und ihr Begriff ihren Sinn verlieren können. VIII. Wandel oder Ende der Staatlichkeit? Der Kulturphilosoph Friedrich Balke gibt seiner Studie über „gesellschaftliche Sinnbildungsmechanismen“ den Titel: „Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts.“ Sein Thema ist nicht die Historisierung des Staats, sondern die Funktion des „Aufhalters“ des im Fallen befindlichen Vogels.78 Schmitts Vorstellung vom Ende des Staates und von dem, was nachfolgt, wird von G. Maschke im Vorwort zu seiner großen Edition: Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos (1995) behandelt79, Nachweise geben auch Llanque und Münkler in ihrer Besprechung des Vorworts der Begriffsschrift von 1963 (2003).80 77 C. S., Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Hamburg 1950, S. 98 f. 78 Ders., München 1996. Im Vorwort (S. 9 f.) schreibt Balke: „Der Staat nach seinem Ende ist der Staat, der sich auf der Fallinie bewegt, der Staat im Fall. Wenn Carl Schmitt in der Tat von der Figur des Katechon, des Aufhalters her zu interpretieren ist, dann also in dem Sinne, dass er den Absturz des mythischen Vogels beobachtet und seinen Aufprall durch immer neue Manöver herauszuzögern sucht.“ 79 Ders., Hg., Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916– 1969, Berlin 1995. 80 Dies., „Vorwort“, in: Mehring, Hg., Carl Schmitt, Der Begriff (2003), S. 18–20 sowie Chr. Schönberger, Staatlich und Politisch, ebd. S. 41–44 (das „Ende des Staates“ als objektivierender Begriff ist jedoch etwas anderes als der subjektive „Abschied vom Staat“).

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Die Fanfaren im Vorwort von 1963 zum „Begriff des Politischen“ und von 1971 zur italienischen Ausgabe scheinen tabula rasa zu machen: – „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren.“ 81 Und: – „Das klassische Profil des Staates zerbrach, als sein Politik-Monopol entfiel.“ 82 Die Dinge liegen aber komplizierter. Schmitt beobachtet Übergänge und mehrere Endpunkte. So gibt es ein Epochen-Ende des modernen europäischen Staats, „der mit der Renaissance beginnt und heute aufhört, modern zu sein, der ,absolute‘ Staat des 17. und 18. Jahrhunderts“. Dieser Staat ist aber nicht der Staat schlechthin, sondern eine ursprüngliche, nämlich monarchische Art des Staats, „wesentlich ein Staat der Exekutive“. Indem dieser Staat abgelöst wurde, verschwand „eine Form oder eine Art“ des Staates, nicht der Staat als solcher. Bevor man über das Ende der Staatlichkeit spricht, muss man muss von Arten des Staates sprechen. Diese sind über „Sachgebiete“ und über institutionelle Schwerpunkte („Staatskerne“) konstruiert. Von ihnen wiederum gibt es einige wenige, die Jahrhunderte überdauern und andere, die innerhalb der epochalen Arten als kurzfristige Arten (Unterarten des Staates) auftreten. Die KurzfristAnalyse erfolgt bei C. S. in der Regel am Beispiel der Republik von Weimar. IX. Wandel und Ende von Arten des Staats Drei Sachgebiete bestimmen in der jüngeren europäischen Geschichte die epochalen Arten des Staats: die Religion, die Nation, die Wirtschaft. Im 16. und 17. Jahrhundert galt: cuius regio, eius religio, im 19. Jahrhundert entsprechend cuius regio, eius natio und in der Gegenwart cuius regio, eius oeconomia. Bis zur Entstehung der Sowjetunion konnte der liberale Verfassungsstandard des geschützten Privateigentums bei allen an Gebietswechseln „beteiligten Staaten grundsätzlich anerkannt und vorausgesetzt werden“.83 C. S. geizt nicht mit Lob für Maurice Hauriou, den „Meister unserer Wissenschaft“, der auf dieses nicht-staatsbezogene Element des Völkerrechts aufmerksam gemacht habe, nämlich „dass jedes staatliche Regime, im spezifischen und geschichtlichen Sinne des Wortes Staat, auf einer Trennung von öffentlicher Zentralisierung und privater Wirtschaft beruht“.84

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C. S., Der Begriff des Politischen (1963), S. 10. C. S., Der Begriff des Politischen. Vorwort von 1971 zur italienischen Ausgabe, in: H. Quaritsch, Hg., Complexio Oppositorum (1988), S. 271. 83 C. S., Der Nomos der Erde (1950), S. 170. 84 Ebd. S. 183. 82

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Den Sinn des heutigen „Wirtschaftsstaates“ versteht man aber erst dann, wenn man die partielle Aufhebung des liberalen Verfassungsstandards berücksichtigt. Staaten unterscheiden sich nach 1917 nämlich auch hinsichtlich der gewählten Wirtschaftsordnung (kapitalistisch/kommunistisch), die in ihnen gilt. Am Beispiel der Sowjetunion erläutert C. S.: Das Wesentliche liege darin, „dass ein homogener Wirtschaftsstaat dem ökonomischen Denken entspricht. Ein derartiger Staat will ein moderner, um die eigene Zeit- und Kulturlage wissender Staat sein. Er muß den Anspruch erheben, die geschichtliche Gesamtentwicklung richtig zu erkennen. Darauf beruht sein Recht zu herrschen. Ein Staat, der in einem ökonomischen Zeitalter darauf verzichtet, die ökonomischen Verhältnisse von sich aus richtig zu erkennen und zu leiten, muß sich gegenüber den politischen Fragen und Entscheidungen für neutral erklären und verzichtet damit auf seinen Anspruch zu herrschen.“ 85 Epochale Staatsarten lassen sich auch so unterscheiden, dass man einen „Kern des staatlichen Wesens“ ins Auge nimmt. Mit jedem neuen Kern kommt es zu einer neuen Staatsart.86 So sei der spätmittelalterliche „Jurisdiktionsstaat“ („Rechtsbewahrstaat“ [Fritz Kern]) unter dem Signum der Souveränität zum „Regierungsstaat“ (vulgo „Fürstenstat“ 87) mutiert. In und neben ihm bildete sich (man erinnert sich an Webers Begriff des „Verwaltungsstabs“) der „Verwaltungsstaat“. Beide „Staatsarten“ sind für C. S. Formen des „Exekutivstaates“, den Schmitt als das Spezifische des modernen Staats im Blick auf seine autoritäre Substanz versteht: machtakkumulierend und aktiv. Im 19. Jahrhundert nimmt freilich der liberale „Rechtsstaat“ Fahrt auf und bildet zwei an der Legalität orientierte Unterarten aus: den „Jurisdiktionsstaat“ und den „Gesetzgebungsstaat“, deren Verhältnis bzw. Missverhältnis zueinander C. S. im „Hüter der Verfassung“ behandelt. Eine weitere Staatsart beschreibt C. S. am Beispiel, das die Weimarer Republik in ihrer Endphase bildet: die Verschmelzung des von „totalen Parteien“ bestimmten liberalen Gesetzgebungsstaates mit dem gesellschaftlichen Pluralismus (Wirtschaft, Kommunen etc.). Dieser vergesellschaftete Staat ist „quantitativ total“ oder „total aus Schwäche“.88 Das ließe sich reparieren, wenn der Staat sich seiner Machtmittel89 bewusst wäre: Monopol der Waffen, moderne Verkehrstech85

C. S., Der Begriff des Politischen (1963), S. 87. C. S., Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929), in: Ders., Verfassungsrechtl. Aufsätze (1958), S. 98 f. 87 Veit Ludwig von Seckendorff, Teutscher Fürsten-Stat, Hanau/Frankfurt 1656, dazu vom Verf. „STAT IV: Stat des Fürsten, in: Ders., Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte 1968, S. 87 ff. 88 C. S., Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland (Februar 1933), in: Ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze (1958), S. 360, 362, 364. 89 C. S., Der Begriff des Politischen (1963), S. 90. C. S. spricht hier von „Technizität“ als „Instrument und Waffe“. 86

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nik, Technik und Methoden öffentlicher Meinungs- und Willensbildung. Noch im Februar 1933 denkt C. S. über die institutionellen „Machtpositionen“ für die Republik von Weimar und „die politischen Prämien“ nach, die auf jedem legalen Machtbesitz stehen, „bis zur legalen Macht über die Legalität selbst.“ 90 Instrumentelle Technizität und „plebiszitäre Legitimität“ würde einen Staat „total aus Stärke“ machen. Dass eine solche Empfehlung manchen Liberalen erschreckt, ist ihm klar. Darum beharrt er: Wenn das Volk nicht „degeneriert“ sei und nicht verlernt habe, „Freund und Feind zu unterscheiden“, antworte es auf einen starken Staat mit „echtem Konsens“.91 Es ist interessant, dass C. S. es „normalerweise“ als Wunsch jeden Volkes bezeichnet, „einen eigenen starken und mächtigen Staat“ und als den Wunsch des deutschen Volkes „ein starkes und mächtiges Reich“ 92 zu haben. Der Arten-Wandel, den C. S. hier in der Variante von „Staat“ und „Reich“ andeutet, betrifft in Wirklichkeit den Staat als solchen. Seinem Ende wenden wir uns im nächsten Abschnitt zu. X. Wandel und Ende des Staats als solchen (Staatlichkeit) Französische Syndikalisten haben 1906 und 1907, wie Schmitt kritisch bemerkt, „etwas voreilig den Tod und das Ende des Staates proklamiert.“ 93 C. S. sagt auch 1963 noch nicht, der Staat sei tot, sondern: „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende.“ 94 Die Diagnose vom Ende des Staates spielt auf zwei Ebenen: staatsrechtlich in Auseinandersetzung mit dem Liberalismus, völkerrechtlich in Auseinandersetzung mit dem angelsächsischen Völkerrecht. Staatsrechtliche Ebene: Der zur Selbstorganisation der Gesellschaft deformierte Staat macht die älteren liberalen Antithesen von Staat und Wirtschaft, Staat und Kultur oder auch von Politik und Recht gegenstandslos und sinnlos. Es gibt nichts mehr, „was nicht wenigstens potenziell staatlich und politisch wäre . . . Die gewaltige Wendung lässt sich als Teil einer dialektischen Entwicklung konstruieren, die in drei Stadien verläuft: vom absoluten Staat des 17. und 18. Jahrhunderts über den neutralen Staat des liberalen 19. Jahrhunderts zum totalen Staat der Identität von 90 C. S., Machtpositionen des modernen Staates (1933), in: Ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze (1958), S. 369. 91 C. S., ebd. S. 370. 92 C. S., ebd. S. 370. 93 C. S., Der Begriff des Politischen (1932), Ausgabe v. 1963, S. 40. 94 Ebd. S. 10.

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Staat und Gesellschaft.“ 95 Mit diesen drei großen Arten des Staats ist zugleich die innere Spannungslinie der Epoche der Staatlichkeit nach Beginn und Ende bezeichnet. C. S. nutzt seine Begriffe vom Staat und seinen Arten in doppelter Weisen: als Begriffe im Ausstrahlungsbereich von Substanzen, von Sachgebieten oder institutionellen Kernen und als Begriffe, die dem Ende der Epoche der Staatlichkeit entgegenlaufen. Die Niedergangs-Perspektive des „quantitativ“ totalen Staates, von dem im vorigen Abschnitt die Rede war, richtet sich auf den Verlust substanzieller politischer Einheit. C. S. erkennt darin die Wirkung des Liberalismus (stato neutrale ed agnostico). In seinen kritischen Essays zur Lage der I. Republik liest man darüber und erfährt, Schmitt habe die konkreten Verfassungszustände zum Bewusstsein bringen müssen, wenn die geltende Reichsverfassung bewahrt und gesichert werden sollte. Dafür genüge es nämlich nicht „mit Formeln und Gegenformeln, die für die Situation der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts geprägt sind, von der ,Souveränität des Parlaments‘ zu sprechen, um die schwierigste Frage des heutigen Verfassungsrechts zu beantworten.“ 96 Aus der Analyse des „parlamentarisch-demokratischen Parteienstaats“ entstand der politisch zugespitzte Begriff des „labilen Koalitions-Parteien-Staates“, der als politischer Beschleuniger des Endes der Staatlichkeit gesehen werden kann: „Auch die Parteien, die mit aufrichtiger Staatsgesinnung das Interesse des Ganzen über die Parteiziele stellen wollen, werden teils durch die Rücksicht auf ihre Klientel und ihre Wähler, aber noch mehr durch den immanenten Pluralismus eines solchen Systems gezwungen, entweder den fortwährenden Kompromißhandel mitzutreiben oder aber bedeutungslos beiseite zu stehen“.97 Im Nachwort zum „Begriff des Politischen“ heißt es, dass kein „Zentralgebiet des geistigen Daseins“ des Staates „neutrales Gebiet“ sein könne.98 C. S. hatte im Blick auf den Reichspräsidenten eine substanzielle von einer gehaltlosen Neutralität unterschieden. Die Staatsqualität der Republik sollte sich nämlich an der 95

C. S., Der Hüter der Verfassung (1931), Berlin 1996, S. 79. C. S., Der Hüter der Verfassung (1931), Berlin 1996, S. 91. 97 Ebd. S. 88. In dieser Schrift sind die wirkenden Kräfte und institutionellen Symptome einer zu Ende gehenden Staatlichkeit am deutschen Beispiel benannt als „Pluralismus, Polykratie und Föderalismus“. C. S. bietet dafür nicht Definitionen, sondern „Distinktionen“ an: „Der Pluralismus bezeichnet die Macht mehrerer sozialer Gruppen über die staatliche Willensbildung; die Polykratie ist möglich auf dem Boden einer Herausnahme aus dem Staat und einer Verselbständigung gegenüber dem staatlichen Willen; im Föderalismus kommt beides in der von Carl Bilfinger formulierten Antithese zusammen: Einfluß auf die Willensbildung des Reiches und Freiheit vom Reich in der Sphäre eigener Unabhängigkeit und Selbständigkeit.“ (C. S., Hüter der Verfassung (1931), 4. Aufl. 1996, S. 71. Schon 1923 hatte C. S. das Parlament als „Schauplatz eines pluralistischen Systems“ charakterisiert). 98 Ebd. S. 94. 96

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Frage entscheiden, ob die Notstandsvollmachten nach Artikel 48.2 der Reichsverfassung noch als pouvoir neutre wahrgenommen und anerkannt würden. Eine mutige Dezision des Reichspräsidenten könne, so war Schmitt überzeugt, das drohende Ende der Staatlichkeit vermeiden oder jedenfalls verzögern. Seine Hoffnungen wurden enttäuscht. Der Reichspräsident wagte die rettende Entscheidung nicht, die mit Kurt Schleicher verbunden gewesen wäre, sondern berief sich auf die parlamentarische Verfassung der Republik, indem er auf die Sitzverteilung im Reichstag Rücksicht nahm und den Führer der größten Partei zum Reichskanzler berief.99 Das Abtreten des geschichtsmächtigen Begriffes „Staat“ von der europäischen Geschichtsbühne wird nur scheinbar durch den stato totalitario des Faschismus oder den totalen Staat des Nationalsozialismus aufgehalten.100 Nach dem von ihm ungewünschten Machtantritt Hitlers klammerte er sich an die Hoffnung, dass wenigstens die liberale Ermüdungsgeschichte des Staates überwunden werden könne. Aber sein Versuch, die NS-Bewegung für die Bestandssicherung eines rational arbeitenden (Beamten-)Staates in Dienst zu nehmen, scheiterte. Er hat denn auch seine programmatische „Dreigliederung der politischen Einheit“ nicht weiterverfolgt.101 Nach der Tragödie, die das scheinbar unaufhaltsame Ende der Epoche der Staatlichkeit für den Etatisten Schmitt bedeutet hat, kommt die Komödie eines entre-acte! An den Verfasser dieser Zeilen schrieb er im Jahr 1974 mit schriller Ironie: „Im Augenblick entdeckt alles mal wieder den ,Staat‘. Vielleicht erlebe ich nach dem Bürgerpräsidenten [Heinemann/SPD] und dem Volkskanzler [Erhard/ CSU] einen Staatsmoderator oder Volksansager, denn der Bereich des Rundfunks

99 Zur Stellung Schmitts gegenüber K. Schleicher vgl. E. R. Huber, C. S. in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: H. Quaritsch, Hg., Complexio Oppositorum (1988) S. 33 ff. Vgl. auch H. Quaritsch, Positionen und Begriffe (1991) zur verfassungsrechtlichen Missdeutung der Empfehlungen Schmitts durch Prälat Kaas im Januar 1933, S. 47 ff. 100 Im Jahr 1963, im Vorwort zur Neuauflage der 1932er Fassung des „Begriffs des Politischen“ erinnert C. S. daran, dass nicht der Ausdruck „totaler Staat“, sondern „revolutionäre Partei“ die wirkliche totalitäre Organisation bezeichnet. Denn sie könne die ihr Zugehörigen totaler erfassen als „andere Gruppen und Verbände, insbesondere auch der heutige Staat“: „In der umfangreichen Diskussion über den sogenannten totalen Staat ist noch nicht recht zum Bewusstsein gekommen, dass heute nicht der Staat als solcher, sondern die revolutionäre Partei als solche die eigentliche und im Grund einzige totalitäre Organisation darstellt.“ (Ebd. S. 21 f. mit Fußnotenverweis auf den Aufsatz von 1933, den wir oben zitieren: „Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland“.) 101 C. S., Staat – Bewegung – Volk, Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 1933. Wie H. Quaritsch gezeigt hat, hat ihn diese Überzeugung bei führenden Nationalsozialisten nicht nur nicht empfohlen, sondern ideologisch verdächtig gemacht, ders., Positionen und Begriffe (1991) S. 13–16.

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[sic] liefert die jeweiligen Perrücken. Nicht umsonst ist Charlie Chaplin Ehrendoktor von Oxford geworden und Greta Garbo die First Lady.“ 102 Doch C. S. hielt grimmig an dem fest, was er 1929 aufgeschrieben hatte: „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren. Mit ihr geht der ganze Überbau staatsbezogener Begriffe zu Ende, den eine europazentrische Staats- und Völkerrechtswissenschaft in vierhundertjähriger Gedankenarbeit errichtet hat. Der Staat als das Modell der politischen Einheit, der Staat als Träger des erstaunlichsten aller Monopole, nämlich des Monopols der politischen Entscheidung, dieses Glanzstück europäischer Form und occidentalen Rationalismus wird entthront. Aber seine Begriffe werden beibehalten und sogar noch als klassische Begriffe. Freilich klingt das Wort klassisch heute meistens zweideutig und ambivalent, um nicht zu sagen: ironisch.“ 103 Völkerrechtliche Ebene: Schmitt schreibt von 1938 an vom Raum-Aspekt aus, und von da her erscheint ihm der Staat grundsätzlich als „kleinräumig“.104 Neue Rechtsbegriffe lösen den Staat ab: „Reich“ (Empire)105 und „Großraum“ 106. Der Beobachtungszeitraum, in dem C. S. darüber schreibt, ist die vorübergehende politische und militärische Expansion Deutschlands im Bündnis mit Italien und später mit Japan. Die staatsrechtliche Entthronung der „politischen Einheit“ öffnet den Weg für den Begriff des Reiches und darüber hinaus für den Begriff des Großraums. C. S. sah im Begriff des Raumes eine vom angelsächsischen Völkerrecht übersehene konkrete politische Ordnungsmöglichkeit für unsere Gegenwart. Auf andere Weise würden, so meinte er im Jahr 1941 nicht ohne Stolz, die gestaltenden Größen des Zusammenlebens der Völker nicht erkannt werden könnten: „Diese tragenden und gestaltenden Größen sind heute nicht mehr, wie im 18. und 19. Jahrhundert, Staaten, sondern Reiche. Die richtige Benennung ist dabei von großer Bedeutung. Wort und Name sind nirgends nebensächlich, am wenigsten bei politisch-geschichtlichen Größen, die das Völkerrecht zu tragen bestimmt 102

Brief v. 19. März 1974 an Verf. C. S., Der Begriff des Politischen (1929) S. 10. 104 C. S., Raum und Großraum im Völkerrecht (1940), in: Ders., Staat, Großraum, Nomos (1995) S. 259. 105 C. S. erinnert mehrfach daran, dass „das Reich nicht mit dem Großraum identisch ist“, ders., Raum und Großraum im Völkerrecht (1940), in: Ders., Staat, Großraum, Nomos (1995) S. 260. 106 Ebd. S. 260 f. C. S. schreibt zur Rechtslage des letzteren: Sie würde „durch die unterschiedslose Anwendung des Begriffes ,Staatsgebiet‘ noch schlimmer zentralistisch verfälscht und vergewaltigt, als durch die Verwandlung des Reichsgebiets in bloßes Staatsgebiet . . . Eigentlicher Gegner sind alle universalistischen herrschafts- und Organisationsansprüche.“ 103

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sind. Der Streit um Worte wie ,Staat‘, ,Souveränität‘, ,Unabhängigkeit‘ war das Zeichen tiefer liegender, politischer Auseinandersetzungen, und der Sieger schrieb nicht nur die Geschichte, sondern bestimmte auch das Vokabularium und die Terminologie.“ 107 Wenig später drückt er denselben Gedanken so aus: Unsere „raumhaften Vorstellungen“, von denen her wir „eine neue systematische Grundlegung“ skizziert haben, „macht mit der geschichtlich unvermeidlich gewordenen Relativierung des Staatsbegriffes Ernst, indem sie den Begriff des Staatsgebiets entthront . . . Sie überwindet die staatsbezogene Kleinräumigkeit des völkerrechtlichen Denkens, hebt aber Eigenleben und Selbständigkeit der verschiedenen Völker nicht auf, sondern ist in der Lage, staatlich organisierte Völker auf einer in Großräumen aufgeteilten Erde bestehen zu lassen.“ 108 Die raumbezogenen Überlegungen kreisen nachfolgend um Land und Meer, um die vom Nomos geordnete Einheit der Welt, um den Landkrieg und Seekrieg und um die „tellurische“ Existenz des Partisanen. XI. Was bleibt von Schmitts Arbeit am Begriff des Staats? – Das Werk Carl Schmitts verdichtet sich in Begriffsbildungen (Chr. Meier). Hinzuzufügen ist, dass wortgeschichtliches Interesse die Entstehung des Werkes bis zuletzt begleitet und Schmitt zu seinen Begriffsbildungen angeregt hat. – Auf zweierlei Weise formt C. S. Worte zu Begriffen („Begriffsworten“): zum einen durch Zuschreibung von Substanzen, u. a. durch Verbindung von Naturrecht und konkreter geschichtlicher Ordnung (H. Herrera), zum andern durch polemische Antithesen oder „charakteristische Gruppen“ solcher Begriffe. – Geschichtliche Perspektive gewinnt der Staatsbegriff als konkreter epochengebundener Begriff. Zwei spezifische Leistungen des fürstlichen Absolutismus109 zeichnen ihn dafür aus. Durch Souveränität (Bodin) gewinnt er Kraft zu höchster politischer Entscheidung, die das Feuer des Bürgerkriegs im ganzen Staatsgebiet auszutreten und einen flächendeckenden (negativen) Frieden zu sichern fähig ist. Durch Staatsräson (Machiavelli) vermag er die Führung der zwischenstaatlichen Beziehungen so zu organisieren, wie es für ihn selbst vorteilhaft ist, sei es mit Waffen, sei es durch Verträge. Der so charakterisierte Staat ist eingebunden in das sog. Zeitalter der Staatlichkeit, das im 16. Jahrhundert begann und im 20. Jahrhundert endet. – Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts stellt seine „gesellschaftlichen“ Interessengebiet dem „Staat“ polemisch entgegen. In der Folge der parlamentarischen 107 108 109

C. S., Völkerrechtliche Großraumordnung (1939), ebd. S. 297. C. S., Raum und Großraum im Völkerrecht (1941), in: ebd. S. 261. Vgl. C. S., Absolutismus (1927), in: ebd. S. 95 f.

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Demokratie verschmelzen Staat und Gesellschaft und das Politische ist allgegenwärtig – total aus Schwäche. Dadurch kam der geschichtliche Staat an sein Ende. Die vermeintlichen autoritären Helfer gegen den Liberalismus schufen zwar einen Staat, der total war aus Stärke, doch willenlos als Instrument von Führer und Partei. – Mit dem Ende des „Zeitalters der Staatlichkeit“ verlor das Staatsrecht den substantiellen Begriff des Staates, an dem das Politische sein Maß gefunden hatte. C. S. hat auf zwei Feldern Nachfolge-Begriffe für den Staat geschaffen: Staatsrechtlich mit seinem „Begriff des Politischen“, völkerrechtlich mit den Begriffen von: „Reich“, „Großraum“, „Nomos“ 110). Angesichts des Dekolonisierungs-Geschehens nach dem II. Weltkrieg entwickelte C. S. als „Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen“ seine „Theorie des Partisanen“ (1963). Anders als seine Großraum-Theorie hat man sie breit rezipiert. – Schmitt schätzte den Ertrag seiner Arbeit an staatlicher und nachstaatlicher Begriffsbildung als Verwaltung der Worte in geschichtlichen Kontexten (Wortgeschichte) und als ihre Schärfung zu substantiellen Begriffsworten (Begriffsbildung): „Der Theoretiker kann nicht mehr tun als die Begriffe wahren und die Dinge beim Namen nennen. Die Theorie des Partisanen mündet in den Begriff des Politischen ein, in die Frage nach dem wirklichen Feind und einem neuen Nomos der Erde.“ 111

110 Vgl. G. Maschkes kenntnisreiche Anmerkungen zu „Raum und Großraum im Völkerrecht“ (1941) in dem von ihm herausgegebenen Band: C. S., Staat, Großraum, Nomos (1995). 111 C. S., Theorie des Partisanen, Zwischenbemerkungen zum Begriff des Politischen, 2. Aufl. 1975, S. 96.

Zwei Typen heutiger Staatstheorie Weil der Nominalist Wilhelm von Ockham (1288–1347) die Menschennatur nicht als naturaliter politica et socialis anerkennen konnte, blieb ihm nur die Möglichkeit, ein Verhältnis zur Realität, dem der Aquinate in Ethik und Politik noch gefolgt war, zu bestreiten. Und weil der Mensch, nominalistisch wahrgenommen, keine ursprüngliche Neigung zum Guten hat, gibt es für Ockham auch kein Naturrecht. Der Austritt aus tradierten Ordnungen wird unvermeidlich (U. Matz1). Vor diesem Hintergrund entfalten sich im Pro und Contra zwei Typen gegenwärtigen Denkens über den „Staat“: einer, den man als „formalistisch“ bezeichnen kann, und ein anderer Typus, der in bewusstem Widerspruch dazu sich der platonisch-aristotelischen Tradition einfügt und von der zugehörigen Denkweise praxisphilosophisch, von der Objektivierung „institutionell“ heißen kann. Der formalistische Theorietyp identifiziert den Staat über dessen spezifisches – historisch entstandenes – Mittel oder über die Selbstreferenz des Politikbetriebes; der institutionelle Theorietyp identifiziert den Staat über die Koinzidenz von menschlicher Natur und politischer Ordnung. In beiden Fällen geht es um die Interpretation des vollständigen Staates, nicht um die empirische Analyse von substituierenden oder Verfallsformen (nachstaatliche, denationalisierte, zerfallende Staaten [„failed states“]2). I. „Staat“ formalistisch 1. Staat als Herrschaftsverband (Max Weber) Der soziologische Staatsbegriff lässt sich den Herrschaftsverbänden zurechnen und kann als ein solcher verstanden werden, in dem der Herrscher gegenüber seinem Verwaltungsstab und beide gegenüber den Bürgern aufgrund eines Gel1 Ders., „Staat“, in: H. Krings/H. M. Baumgartner/Chr. Wild, (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1974. 2 Aus institutioneller Perspektive s. H. Kuhn, Staatsverfall und Staatsbehauptung, in: Zeitschrift für Politik 1982, S. 1–32. Für empirische Analysen von weak und failed states s. St. Kasner, Hg., Troubled Societies, Outlaw States and Gradations of Sovereignty, Stanford (CA) 2002, R. J. Rotberg, State Failure and State Weakness in a Time of Terror, Washington (DC) 2003. Für ein pragmatisches Verständnis von „Denationalisierung“ – aus deutscher Sicht – M. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance. Frankfurt/M. 1998, warnend – aus spanischer Perspektive – M. Ayuso, El estado entre signos contradictorios, in: ders., Ocaso o eclipse del estado? Las transformaciones del derecho público en la era de la globalización, Madrid/Barcelona 2005, S. 40 ff.

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tungsglaubens in die Rechtmäßigkeit ihrer Befehle Gehorsam finden. Die Motive der Fügsamkeit des Verwaltungsstabs werden von Max Weber als Legitimitätsglaube bestimmt und typologisch entfaltet. Legale Legitimität fundiert den Gesetzesgehorsam im Rechtsstaat. Was dem Staatsrecht die „Person“ des Staats ist, ist der soziologischen Handlungstheorie die „Chance, dass ein seinem Sinngehalt nach in angebbarer Art aufeinander eingestelltes Handeln stattfand, stattfindet und stattfinden wird.“ 3 Die Absicht von derlei definitorischer Bemühung ist es, dem „spukenden Betrieb“ der „Kollektivbegriffe“ zu entkommen (F. Gottl)4 und jede Hypostasierung sozialer Gebilde zu Entitäten höherer Ordnung zu vermeiden (Weiß)5. Es entsteht die Vorstellung eines graduellen Verstaatungs- und Entstaatungsprozesses, wie er die Entstehung des modernen Staats und krisenhafte Übergangserscheinungen kennzeichnet. Die Praxis-Dimension der griechischen Politik ist angesichts der hier fehlenden sittlichen Begründung des Verhältnisses von Bürgerschaft und Staat nicht in Vergleich zu ziehen. Da Sinn individuell erzeugt, also an sozial handelnde Individuen gebunden wird, gibt es keinen normativen Staatszweck, sondern nur veränderliche empirische Funktionen, die miteinander um Geltung konkurrieren. Daher muss der Staat über die Mittel, die ihm zur Verfolgung jeweiliger Zwecke zur Verfügung stehen, definiert werden: Der moderne Staat ist ein „politischer Anstaltsbetrieb“, dessen „Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“.6 Auch wenn dieses spezifische Mittel ultima ratio ist,7 bleibt die Monopolisierung des „legitimen physischen Zwangs“ als historische Errungenschaft das „wesentlichste“ Merkmal und die notwendige Bedingung für Existenz und Funktionsfähigkeit des modernen Staats. 2. Staat als autonomes Funktionssystem (Niklas Luhmann) Luhmann beschreibt „Staat“ als das politische System der Gesellschaft. Der moderne Staat ist nicht gesellschaftlich stratifiziert, sondern durch funktionale Differenzierung gekennzeichnet; dadurch können das Grundproblem und die Art der Mäßigung bei der Handhabung politischer Macht spezifisch erfasst werden. Einerseits ist der Staat das Ganze, andererseits die Differenz von Regierung und 3 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden Soziologie, Tübingen 51976, 13. 4 Vgl. F. Gottl, Die Herrschaft des Wortes. Untersuchungen zur Kritik des nationalökonomischen Denkens, Jena 1901. 5 Vgl. J. Weiß, Max Webers Grundlegung der Soziologie. Eine Einführung, München 1975, 88. 6 M. Weber (s. Fn. 3), 29. 7 Zu Webers Staatskonzept A. Anter, Max Webers Theorie des modernen Staates. Herkunft, Struktur und Bedeutung, Berlin 1995.

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Regierten, Staatsgewalt und Staatsgebiet. Er übernimmt „in der wachsamen Verwirklichung einer eigenen ratio“ die Aufgabe, für Frieden und Gerechtigkeit, Ruhe und Ordnung zu sorgen – Staatszwecke, die in Mittel der Herrschaftslegitimierung umschlagen.8 Unter dem Einfluss der Staatsräson löst sich Politik im Blick auf die „Zeitlage der Entscheidung“ oder die „Zukunftsvorsorge“ der Wirtschaft aus ihren Bindungen an Recht, Religion und Moral.9 Keines der heute existierenden Funktionssysteme (Wissenschaft, Wirtschaft, Religion, Politik) ist mehr in der Lage, die Einheit der Gesellschaft in der Gesellschaft zu repräsentieren; die Differenz von Operationen und Beobachtung tritt an deren Stelle. Mit dem Begriff Staat gewinnt das politische System die Möglichkeit der Selbstbeobachtung und kann sich gesellschaftlich ausdifferenzieren. „Damit ist keineswegs so etwas wie ,gesellschaftlicher Konsens‘ gesichert und auch nicht so etwas wie Legitimität . . . Gesichert ist nur die Fortsetzbarkeit des Beobachtens von Operationen; und an politischen Formen wird nur dasjenige bleiben können, was mit dieser Bedingung kompatibel ist.“ 10 Wer heutige Politik in ihrer wohlfahrtsstaatlichen und ökologischen Variante beobachtet, erkennt nichts anderes als durchgehende Orientierung von Politik an sich selbst, also die Differenz von Regierung und Opposition. Ihre politische Leistungsfähigkeit besteht darin, ein Potential für kollektiv bindende Entscheidungen bereitzuhalten. Damit lässt sich Zukunft der Gesellschaft nicht sichern. Für diese Aufgabe stehen andere funktional autonome Systeme als es diejenige Realität ist, „die wir gewohnt sind, als Staat zu bezeichnen.“ 11 II. „Staat“ institutionell Aus der Nichtkoinzidenz von menschlicher Natur und Staat – im formalistischen wie im totalen Staat – resultieren in je verschiedenem Ausmaß Verfehlung des Politischen. In Texten zur katholischen Soziallehre (J. Höffner) und in der von Helmut Kuhn auf den modernen Staat erweiterten Praxisphilosophie wird versucht, sie durch Beachtung der Koinzidenz zu vermeiden. 1. Der Staat des Gemeinwohls (Joseph Höffner) Der Sinn des Staats liegt in der Ordnung, die verstanden wird als Dienst an den Gliedern und Teilen, welche ohne diese ordnende Kraft nicht bestehen können. Das entspricht dem Monarchie-Traktat von Thomas von Aquin und kann in 8 Vgl. N. Luhmann, Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1993, 97 f. 9 Ebd., 101, 135. 10 Ebd., 143 f. 11 Ebd., 148.

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der Weise aktualisiert werden, dass die Besitzlosen nicht minder Bürger sind als die Besitzenden und der Staat „den Arbeitern in mehrfacher praktischer Richtung einen Schutz schuldig“ ist.12 Eine Unterscheidung ergibt sich insofern gegenüber dem ökonomischen Liberalismus, dessen Idee der prästabilierten Harmonie von Privatinteresse und Gemeinwohl (A. Smith) als realitätsfern angesehen wird. Weil privater Vorteilssuche Schranken gesetzt werden müssen, bedarf es eines auf Recht und Macht gestützten obersten Sozialgebildes, dem die Wahrung des Gemeinwohls obliegt; es soll „das Insgesamt der Voraussetzungen für eine gedeihliche Entfaltung der Einzelmenschen, der kleineren Lebenskreise und der Gesamtgesellschaft schaffen.“ 13 Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft wird – für politische und ökonomische Wandlungen erfahrungsoffen – als „unvermeidlicher Dualismus“ (Koslowski14) angesehen, der die Freiheit des Menschen und die Entfaltung der Kultursachbereiche nach wie vor möglich macht. Der heutige Staat übt die Funktion des obersten Sozialgebildes nur noch partiell aus und sieht sich zu internationaler Aufgabenverbindung genötigt. Auf die Weise nimmt auch der Gedanke eines kontinentalen, ja globalen Gemeinwohls Fahrt auf. Die zum Gemeinwohl hinordnende „Staatsgewalt“ werde – ihrer Idee nach – „durch die Natur und Vernunft gefordert“ und sei „nach den Grundsätzen der Offenbarung“ darstellbar.15 Ihre Ordnungsfunktion gelte der gefallenen Menschheit; im „kommenden Reich Gottes“ gebe es „keinen Staat“. Als Hüter des Gemeinwohls brauche der Staat einheitliche, umfassende souveräne, zwingende Gewalt, die nicht auf eine geschlossene Gesellschaft zielt, sondern offen bleibt für Personalität und kleinere Lebenskreise (Subsidiarität) und vor allem für die über allen Staaten stehende göttliche Ordnung. Die vom Volk selbst stammende staatliche Gewalt bleibe auch nach ihrer Übertragung an den jeweiligen Inhaber wurzelhaft bei ihm. Sie ist bei Missbrauch rückholbar; eine pseudoreligiöse Verbrämung der Staatsautorität wird somit abgelehnt. Die Aufgaben der immer tiefer in fast alle menschlichen Lebensbereiche eingreifenden Staatsgewalt ergeben sich aus dem Staatsziel, dessen „aktuelle Bereiche“ nicht nur Sozialpolitik und innere und äußere Sicherheit gehören, sondern auch Schutz und Förderung der sittlichen Ordnung, die die innere Verbindlichkeit des Rechts sichern, auch wenn „eine gewisse Spannung zwischen dem Pluralismus einer freiheitlichen Demokratie und der Wertgebundenheit des Grundgesetzes unverkennbar“ ist.16 Die Moral, die der 12 Leo XIII., Rerum novarum (RN) Nr. 27 u. 32, in: KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre, Kevelaer 1982, 50 u. 54. 13 J. Höffner, Der Staat – Diener der Ordnung, Bonn 1986, 11. 14 Vgl. P. Koslowski, Gesellschaft und Staat. Ein unvermeidlicher Dualismus, Stuttgart 1982. 15 Leo XIII., RN 25, in: KAB (Anm. 145), 49. 16 J. Höffner (s. oben Fn. 13), 14. Es ist klar, dass mit der jüngst vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Schleifung des Eheprivilegs (Art. 6 GG), also die höchst-

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Staatsgewalt zur Förderung empfohlen ist, müsse auch den Charakter des Politikers prägen. Die Verantwortlichkeit der Staatsbürger für den Staat drücke sich in Rechten und Pflichten aus. Gegenüber einem Trend zur Relativierung verpflichtender staatlicher Normen benennt J. Höffner drei Grundhaltungen: Vaterlandsliebe „ohne geistige Enge“, gemeinwohlsichernde Opferbereitschaft und Vorrang für das Gemeinwohl, auch wenn Interessenvertretung legitim sei. Das Verhältnis von Staat und Kirche wird als „verständige Kooperation“ gedeutet, was einer Konzilsformulierung zufolge Unabhängigkeit und Koinzidenz beider beinhaltet: „Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind je auf ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom. Beide aber dienen, wenn auch in verschiedener Begründung, der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen.“ 17 2. Der auf die menschliche Natur hingeordnete Staat (Helmut Kuhn) Praktische Philosophie ist für Kuhn „eine von der Frage nach dem Guten belebte Nachforschung“. So nimmt sie den Staat nicht hin, sondern fragt, wozu er gut ist. Alle Vertreter der praktischen Philosophie stimmen im Homogeneitätsprinzip von Mensch (Bürger) und Staat überein: Der Staat wird von seinen Bürgern gelebt, er bringt die „Staatlichkeit“ ihrer Natur zum Ausdruck, und zwar als politisches Teilgut (bonum politicum) des in der Ethik reflektierten MenschlichGuten (bonum humanum).18 Wenn der Staat also seine Daseinsberechtigung im Beitrag zur rechten Lebensgestaltung des Menschen findet, bedeutet dies die Notwendigkeit zu ethischer (und nicht nur geschichtsphilosophischer oder gar technischer) Kritik am je bestehenden Staat. Kuhn sichert sich die Unbedingtheit seiner Ethik durch die an Sokrates anschließende Unterscheidung des einen Guten und der vielerlei Güter, die ihre Qualität nur durch Beziehung zum Guten nachweisen können – so der Staat. Damit wird die Lehre von der autonomen Politik, d. h. der Staatsräson als Vorschrift moderner „Realpolitik“, zurückgewiesen und ein Bild des traditionellen Staates – des „Prüfsteins der politischen Philosophie“ 19 entworfen, das Unter- wie Überforderungen vermeiden will.20 Ein ontologischer Bauplan erleichtert die richtige

richterliche Anerkennung einer Gleichrangigkeit von „eingetragenen Lebenspartnern“ und Verheirateten, die Spannungen zwischen katholischer Soziallehre und liberal-egalitär interpretierter Verfassung schärfer werden müssen (BVerfG Beschluss v. 7. Mai 2013). 17 II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 76, 3. 18 H. Kuhn 1967 (Lit.), 28. 19 Ebd., 413. 20 Siehe ebd., 31.

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Sicht auf den Staat: So wie das menschliche Leben das „politische Leben“ sowohl speist als auch sich seiner Macht entzieht, so geht die menschliche Wesensfreiheit ihrer politischen Garantie und sozialen Gewährleistung durch „Freiheitsrechte“ voraus, und so ist die von der Welt des Glaubens und Wissens geleistete Erhöhung des Individuums zur Person Voraussetzung für ihre Anerkennung als „Bürger“ in der politischen Welt. Die richtige Sicht des Staates verlangt füglich, dass institutionelle Ordnungen in existenzieller, also gelebter Vorordnung gründen, sie garantieren und fördern. Die hierzu passenden Bausteine politischer Ordnung reflektieren die gesamte Geschichte des politischen Denkens.21 Kuhn definiert Staat als gemeinschaftlichen Zusammenhang und dessen Form in drei Momenten: Herrschaftsordnung, Lebensgemeinschaft, Rechtsverwirklichung. Die Form wird hervorgebracht durch einen Willen, der gemeinschaftsund geschichtsgestaltend wirkt und ein aus Individualwillen zusammengefasster Gemeinwille ist. So kann die politische Gemeinschaft anderen Gemeinschaften gegenüber den Ausschlag geben, in Überordnung und Selbstbegrenzung. Der Gemeinwille vermag jedoch weder zu entscheiden noch zu handeln, sondern ist „bloße Potentialität“ und bedarf der Aktualisierung durch Repräsentanten. Daher ist Herrschaft für den Staat unvermeidlich, freilich in der Form des Dienstes an der Gemeinschaft.22 Ziel des Gemeinwillens muss das Gemeinwohl sein, dessen breite Akzeptanz die Legitimität der Herrschaft und die Freiheit der Beherrschten ermöglicht, die verstanden wird als die Möglichkeit, das eigene Gut im Gemeingut wiederzuerkennen. „Die Herrschaftsordnung verdient den Namen Staat nur, wenn sie zugleich Lebensgemeinschaft ist, gekittet durch Zusammengehörigkeitsbewusstsein, beseelt durch Übereinstimmung in Sachen des gemeinsam zu lebenden Lebens.“ 23 Der Staat erfüllt seinen Zweck darin, dass er die Bedingungen des Lebens seiner Bürger erstellt und beachtet, dass die menschliche Natur über die vom Staat mit Hilfe seiner Herrschaftsmittel geschaffenen Ordnung hinausragt. Daraus ergibt sich die Aufgabe der Rechtsverwirklichung24, in der der Staat sich allererst konstituiert: „seinem Wesen nach muß er sein Tun und Lassen der Gerechtigkeit als oberster Norm unterstellen“, die er nicht selbst

21

Siehe ebd., 32–38. Siehe ebd., 59 f. 23 Ebd., 60. 24 Zur Teleologie-Debatte in der Politischen Theorie noch immer E. Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, München 1. Aufl. München 1959 und W. Hennis, Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft (= Politica Bd. 14), Neuwied a. Rh. 1963. Weiterführend R. Spaemann und R. Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München/Zürich 1981 und – in überraschender Erweiterung auf das konkrete Ordnungsdenken Carl Schmitts –: D. Negro-Pavon, Orden y Derecho en Carl Schmitt, in: ders., Hrsg., Estudios sobre Carl Schmitt (= Veintiuno colleccion), Madrid 1996, S. 343 ff. 22

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schafft, sondern als deren Treuhänder er wirkt.25 Es erhellt, daß von hier aus die Frage, ob der Staat Herr über Leben und Tod seiner Angehörigen ist, nicht mehrheitsdemokratisch zu beantworten ist.26 Der demokratische Staat der Neuzeit, der die traditionelle monarchische Herrschaftsform liquidiert, „will die politische Verwirklichung der menschlichen Freiheit sein“.27 Als solcher hat er nach Kuhn specifica wie diese: Er löst traditionale Herrschaft ab, indem die Herrscherwahl institutionalisiert wird. Der Staat ist im Bürger und der Bürger im Staat: „Erst in der Demokratie wird der Gemeinwille als der in allen Bürgern lebendige Staatswille gedacht.“ Gleichwohl bleibt der demokratische Staat ein „waghalsiges Experiment“, weil er trotz des institutionellen Dammes gegen den Einbruch des Unsinns der Massenherrschaft ihrer passionalen Versuchung ausgesetzt ist: der „totalitären Verfehlung des Politischen“.28 III. Zusammenfassung Dem praktischen Philosophen geht es um das bürgerliche Leben in Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl („der Mensch ist im Staat und der Staat ist im Menschen“). Darum reflektiert er den Menschen in seiner Würde, seinen Pflichten und Rechten, und den Staat in der ihm obliegenden Aufgabe der Gemeinwohlsicherung, die nach dem rechtlich gebundenen Willen des Volkes wahrgenommen werden muss. Eine unkritische Anerkennung des Volkswillens oder höchstrichterlicher Verfassungsinterpretation ist damit nicht verbunden. Die vom Nominalismus abgeleitete Staatsphilosophie betrachtet den Menschen als Individuum, das sich zum Schutz seines Lebens und seiner Rechte unter kalkulierten Bedingungen in Abhängigkeit von staatlicher Herrschaft begibt und den Staat nach dessen Regeln in Verbindung mit anderen zur Erreichung jeweiliger Ziele nutzt. In jedem Fall wird der Staatsapparat in einem vorgegebenen Interessenspektrum instrumentell und technisch verstanden (Rechts-, National-, Klassenstaat), was keinen Schutz verspricht gegen eine bis ins Totalitäre gehende Disziplinierung oder einer ins Beliebige gehenden Entpflichtung vom Gemeinwohl. Mensch und Staat stehen, was ihre Natur betrifft, in einem Verhältnis der NichtKoinzidenz. Literatur Anter, A., Webers Theorie des modernen Staates. Herkunft, Struktur und Bedeutung, Berlin 1995. Böckenförde, E.-W., Der Staat als sittlicher Staat, Berlin 1978. 25 26 27 28

Vgl. ebd., 61. J. Régnier, L’Etat est-il maître de la vie et de la mort?, Paris (Le Centurion) 1983. Ebd., 437. Ebd., 416–424.

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Brunkhorst, H., Der lange Schatten des Staatswillenspositivismus, in: Leviathan 31 (2003), S. 362–381. Dabin, J., Der Staat oder Untersuchung über das Politische, Neuwied 1964 (franz. 1957). Gröschner, R./Dierksmeier, C./Henkel, M./Wiehart, A., Rechts- und Staatsphilosophie. Ein dogmenphilosophischer Dialog, Berlin u. a. 2000. Herrera, H., Sein und Staat. Die ontologische Begründung der politischen Praxis bei Helmut Kuhn, Würzburg 2005. Höffe, O. (Hrsg.), Platon, Politeia (= Klassiker auslegen 7), Berlin 1997. Kelsen, H., Das Verhältnis von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, 1921. Kuhn, H., Der Staat, München 1967. – Staatsverfall und Staatsbehauptung, in: Zeitschrift für Politik 29 (1982) XXX. Luhmann, N., Staat und Politik. Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme, in: U. Bermbach (Hrsg.), Politische Theoriengeschichte, Opladen 1984, S. 99– 128. MacIntyre, A., Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York 1987. Maier, H./Denzer, H./Rausch, H. (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, 2 Bde., München 1. Aufl. 1968 (5. neubearbeitete Aufl. München 2001). Matz, U., Art. „Staat“, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg/München Bd. 3, 1974, S. 1403–1419. Negro-Pavon, D., Gobierno y estado, Madrid/Barcelona 2002. Taylor, Ch., Negative Freiheit, Frankfurt a. M. 1988. Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden Soziologie, Tübingen 51976.

Nachweise 1. Staat – Studien etc. [Der ursprüngliche Titel ist derjenige der Dissertation, s. unten Ziffer 2.], in: Archiv für Begriffsgeschichte Bd. XIII, Bonn (Bouvier u. Co. Verlag) 1969, S. 109–112 [bearbeitet und durch eine Grafik ergänzt]. 2. Von dem wahren Begrif etc. [Ursprünglicher Titel: „7. Die Hoffmann-Nestelsche Dissertation über den ,wahren Begrif des Wortes Staat‘“ (1767)], in: P.-L. Weinacht, Staat – Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert (= Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd. 2), Berlin (Duncker & Humblot) 1968, S. 225–229 [bearbeitet]. 3. Die Entdeckung der Staatsräson etc. [Ursprünglicher Titel: „Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs“], in: Staatsräson, hg. v. R. Schnur, Berlin (Duncker & Humblot) 1975, S. 65–71/Diskussion S. 73–85 [bearbeitet]. 4. „Staatsbürger“ – zur Geschichte etc., in: Der Staat, Zeitschrift für Staatslehre, öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte, hg. v. E.-W. Böckenförde u. a., 8. Bd. 1969/Heft 1, Berlin (Duncker & Humblot) S. 41–63 [bearbeitet]. 5. „Staatsmann“ – Anatomie etc., in: Prismata, Dank an Bernhard Hanssler, hg. v. D. Grimm u. a., Pullach b. München (Verlag Dokumentation) 1974, S. 479– 493 [Inhalt gekürzt und bearbeitet]. 6. Montesquieus Interesse etc., in: Zeitschrift für Politik, Organ der Hochschule für Politik München, 47. Jg. (NF 4), Köln u. a. (Carl Heymanns Verlag) 2000, S. 446–457. 7. Über Carl Schmitts Arbeit etc. in: Análisis Crítico, hg. H. Herrera Arellano, Revista de Ciencias Sociales, Volumen Monografico Extradordinario, Publicación de la Facultad de Derecho y Ciencias Sociales, Universidad Valparaiso (Chile), Valparaiso 2012, S. 209–239. 8. Zwei Typen heutiger Staatstheorie [Ursprünglicher Titel: Der formale Staat. Der institutionelle Staat], in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, begründet v. H. Krings, H. M. Baumgartner und Chr. Wild, neu hg. v. P. Kolmer und A. G. Wildfeuer, Bd. 3, Freiburg/München 2011, S. 2090–2108 (3.7, 3.8, 4) [bearbeitet].

Namensregister (kursive Seitenangaben betreffen Fußnoten) Adelung, J. Chr. 20 Adenauer, K. 52 Althusius, J. 56 Altmann, R. 71 Ammirato, S. 23 Aristoteles 70 Ayuso, M. 91 Balke, F. 81 Berkowitz, D. F. 23 Bernhard, H. 46 Besoldus, Chr. 23, 25 Beyme, K. v. 43 Bilfinger, C. 85 Bismarck, O. v. 51, 77 Bodin, J. 56, 58, 79 f., 88 Böckenförde, E.-W. 27, 45, 78 Bornitz, Jak. 21, 24 f. Bornitz, Joh. 24 Botero, G. 22 f., 56 Brandt. W. 52 f. Braun, H. 32, 33 Braun, K. 44 Brüning, H. 52 Brunner, O. 7, 27, 32 f., 80 Caligula [Caesar] 62 Campe, J. H. 38 Chaplin, Ch. 87 Cicero, M. T. 59 Clapmarius, A. 23 Claudius [Caesar] 62 Conrad, H. 27 Conze, W. 42

Däubler, Th. 76 Dalberg, C. Th. v. 51 Demokritos, 39 Descimon, R. 56 Desgraves, L. 57 f. Dror, Y. 54 Eberhard III. v. Württemberg 8, 71 Erhard, L. 86 Eschenburg, Th. 52 Feldmann, W. 28 Forsthoff, E. 55 Frachetta, G. 30 Freyer, H. 48 Friedrich Wilhelm IV. v. Hohenzollern 42 Garbo, G. 87 Gaulle, Ch. de 52 Gebhardt, V. 68 Goltz, F. v. 45 Goyard-Fabre, S. 58 f. Gottl, F. 92 Gravina, G. 59 Großing, F. R. v. 35 f., 39, 51 Grotius, H. 57 Gründer, K. 7 Haller, C. L. v. 39 Hauriou, M. 82 Hegel, G. W. F. 12 f., 34, 40, 42 f., 51, 64 Heinemann, G. 86 Heller, H. 77 Hennis, W. 37, 53

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Namensregister

Herrera-Arellano, H. 8, 68 f., 72, 88 Heuss-Knapp, E. 45 Hippolithus a Lapide [B. Ph. v. Chemnitz] 24 Hitler, A. 52, 71, 86 Hitschler, D. 74 Hobbes, Th. 58 f., 60 Hocevar, R. K. 43 Höffner, J. 93–95 Hoffmann, G. J. 17–20 Hofmann, H. 69 Hübner, J. 20 Hüllmann, K. D. 38 Jellinek, G. 77 Josef II. v. Habsburg-Lothringen 33 Jung [-Stilling], H. 33, 37 Kant, I. 36–38, 40, 61 Karl-Eugen v. Württemberg 18 f. Kasner. S. 91 Kennedy, E. 76 Kern, F. 80, 83 Kerschensteiner, G. 44 Kirchheimer, O. 48 Klemperer, V. 55 Klinger, F. M. 39 Klopstock, F. G. 29, 38 Koselleck, R. 7, 35 Koslowski, P. 94 Kossmann, E. H. 23 Kramer, M. 20 Kreps, M. 24 Krüger, H. 48 Kuhn, H. 7, 16, 93, 95–97 Laband, P. 42, 44, 69 Lenz, G. 23 Leo XIII. 94 Llanque, M. 81 Lübbe, H. 49 Luhmann, N. 53, 92

Machiavelli, N. 23, 50, 56, 79 f., 88 Mager, W. 7 Maier, Hans 7, 27, 37 Mann, G. 52 Marx, K. 42 f. Maschke, G. 69, 81, 89 Mathison, F. 38 Mattei, De, R. 23 Matz, U. 91 Max v. Baden 52 Maximilian III. J. v. Bayern 32 Mayer, Th. 80 Mehring, R. 70, 75 Meier, Chr. 67, 77, 88 Meier, H. 74 Meinecke, F. 24, 26, 40, 72 Meschke, W. 28 f. Meyer, A. O. 7, 11 Montesquieu, Ch. de 8, 55–66 Moser, F. C. 31 Münkler, H. 7, 81 Negro-Pavon, D. 96 Nestel, H. 17 Novalis [Hardenberg, F. v.] 40 Plato 51 Possevinus, A. 13 Pufendorf, S. v. 57 Quaritsch, H. 68, 77, 86 Ratzenhofer, G. 51, 54 Ratzinger, J. 69 Raumer, K. v. 32 Reinkingk, D. 23, 50 Riedel, M. 28 Rieder, M. 32 Rist, J. 50 Ritter, G. 80 Ritter, J. 7 Rotteck, C. v. 42 Rousseau, J. J. 35 f., 39, 55

Namensregister Schleicher, K. 86 Schlettwein, J. A. 34 Schlözer, A. L. v. 30, 36 f., 53 Schmitt, C. 7, 16, 49, 67–89, 96 Schnur, R. 80 Schottel, J. G. 20 Schramm, J. 39 Schuppius, J. B. 23 Seckendorf, V. L. v. 11, 13, 57, 87 Seeley, J. R. 29 Selznik, Ph. 54 Shackleton, R. 55, 58, 65, 66 Sieyès, E. G. 37 Simon, F. 8 Smend, R. 29 Smith, A. 94 Spaemann, R. 96 Spener, J. C. 31 Sqella, A. 8 Steinbach, Chr. E. 20

Sternberger, D. 28 Stieler, K. 20 Strauss, L. 70 Thomas v. Aquin 91, 93 Vischpach, K. H. v. 34 Voegelin, E. 96 Wandruszka, A. 23 Weber, Max 44 f., 83, 91 f. Weisgerber, L. 11 Weiß, J. 92 Wieland, Chr. M. 28, 38, 51 Wilhelm II. v. Hohenzollern 53 Wilhelm v. Ockham 91 Zedler, J. H. 20 Zürn, M. 91

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