Staat – Recht – Ökologie: Das »grüne« Weltbild G.W.F. Hegels [1 ed.] 9783412512316, 9783412511432

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Staat – Recht – Ökologie: Das »grüne« Weltbild G.W.F. Hegels [1 ed.]
 9783412512316, 9783412511432

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BERND RETTIG BERND RETTIG

STAAT – RECHT – STAAT – RECHT – ÖKOLOGIE ÖKOLOGIE DAS »GRÜNE« WELTBILD G. W. F. HEGELS DAS »GRÜNE« WELTBILD G. W. F. HEGELS

BERND RETTIG BERND RETTIG

HEGELS HEGELS SITTLICHER SITTLICHER STAAT STAAT BEDEUTUNG UND AKTUALITÄT BEDEUTUNG UND AKTUALITÄT



Bernd Rettig

STA AT – R EC HT – ÖKOLO GI E Das »grüne« Weltbild G. W. F. Hegels

2018 B Ö H L AU V E R L A G

KÖ L N W E I M A R W I E N

Für Rocky!

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Alexander Rettig

© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Umschlaggestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Bettina Waringer, Wien

ISBN 978-3-412-51231-6



I N H ALT

VO R B E M E R K U N G . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

SIGLEN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

A B K Ü R Z U N G E N.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 4

TEIL 1 – SCHLÜSSELBEGRIFFE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1 Schlüsselbegriff „Natur“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15



Hegels Zwei-Naturen-Lehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2 Hegels Synthese der „Entgegengesetzten“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . 46

Schlüsselbegriffe „System“, „objektiver Geist“ und „Sittlichkeit“.. 2.1 „System“.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 „Objektiver Geist“.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 „Sittlichkeit“: „Sitten“ – die Gesetze der „Einheitsnatur“. . . . .

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46 46 64 71

3 Exkurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81



Anhand „Entfremdung/Entäußerung“: Die Naturfrage bei Hegel und Marx. Ein Vergleich.. . . . . . . . . . . . . 81

TEIL 2 – ZUM RECHT. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4 „Idee“ und „Begriff“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



Gegenstand des Rechts und der „philosophischen“ Rechtswissenschaft. .

101 101

6

Inhalt

5 Die Freiheit als „Substanz und Bestimmung“ des Willens. . . . . . . . .



„Freier“, „unfreier“ und „vernünftiger“ Wille. . . . . . . . . . . . . . .

116 116

6 Aneignung und Eigentum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Der doppelte Aneignungsprozess: Stoffwechsel von Natur zu Natur. . 6.2 Wille + Werkzeug = produzierende Einheit = Person. . . . . . . . . 6.3 Eigentum und Austausch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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126 126 136 145

7 Das „abstrakte“ Recht. . . . . . . . . . . . 7.1 ... als pflichtloses Recht. . . . . . . . . . . 7.2 ... als „gesetztes“ Recht.. . . . . . . . . . . 7.3 Die Alternative: Ein Recht beider Naturen.

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151 151 160 168

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8 Hegel zu „Rom“ und zum römischen Recht. . . . . . . . . . . . . . . . 177 8.1 „Rom“ ist ein Gemeinwesen – keine Gesellschaft. Und was folgt daraus?. 177 8.2 Speziell: Hegel, Savigny und das römische Recht. . . . . . . . . . . . . 192 9 Exkurs: Hegel und das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten. 208

T E I L 3 – Z U R FA M I L I E. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2 1 10 Von der „Wirtschaftsfamilie“ zu „Unternehmung“ und „Kleinfamilie“. . .

221

11 Die Fortexistenz der „Wirtschaftsfamilie“ im „Sozialstaat“.. . . . . . . .

239 239



„Polizei“ und „Korporation“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

TEI L 4 – ZUR BÜRGERLICH EN GESELLSCHAFT. . . . . . . . . 251 12 „Unechte“ Gestalt des Sittlichen: Die bürgerliche Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Naturgesetzlicher Gesamtprozess und Sittlichkeit. . . . . . . . . . . . .

251 251

13 Nach dem Verlust des „Sittlichen“: Quo vadis, bürgerliche Gesellschaft?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261



14 Die Geschäftsführung der bürgerlichen Gesellschaft. . . . . . . . . . .



Der Not- und Verstandesstaat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273 273

Inhalt

7

14.1 ... im Fadenkreuz des „Entweder-oder“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 14.2 ... als „Rechtssystem gegen den Staat“: Die „Umbildung des Staates aus dem Begriffe des Rechts“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 14.3 ... als „Maschine mit einer einzigen Feder“. . . . . . . . . . . . . . . . 279 14.4 Fazit.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 15 Exkurs: Richtig und falsch zugleich: Paschukanis und das „Absterben“ von Staat und Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

298

T E I L 5 – Z U M STA AT. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 0 7 16 Hieroglyphe „Staat“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



Vom „naturwüchsigen Gemeinwesen“ zum „Vernunftstaat“. . . . . . . .

17 Der „höhere Prätor“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Die Materialisation des „Weltgeistes“ zum Weltstaat.. . . . . . . . . . . 17.1 Die erste Stufe des „Vernunftstaates“: Die konstitutionelle Monarchie.. 17.2 Forderung der Zeit: Der Weltvernunftstaat. . . . . . . . . . . . . . . .

307 307 317 317 317 327

AU S B L I C K.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3 7 Hegels sittlicher Staat, das ausgeschlagene Vermächtnis. . . . . . . . . . .

337

L I T E R AT U RV E R Z E I C H N I S.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 4 5

P E R S O N E N R E G I ST E R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 6 3

VO R B E M E R KU N G

Mein Anliegen ist es, zu ergänzen und zu vertiefen, was bereits Gegenstand meiner 2014 publizierten Arbeit („Hegels sittlicher Staat“) war. Anhand seiner „Logik“ soll vor allem die dortige Ausgangsthese verifiziert werden, dass der Philosophie Hegels die Dialektik zweier Naturen, der menschgeschaffenen „produzierten“ und der vorgefundenen Natur, zugrunde liegt. Zwei Naturen, zwei „Entgegengesetzte“, die, sollen sie Bestand haben, der „Einheit“, damit: der „Vermittlung“ bedürfen. Hegel ist kein „Naturfeind“, er ist kein „Apologet der Industriegesellschaft“ – Behauptungen, denen ich entgegentrete. Das Gegenteil ist richtig: Hegel gebührt ein Spitzenplatz im Rahmen „grüner“ Philosophie. Er erkannte schon damals die Gefahr, die von einer bürgerlichen Gesellschaft ausgeht, die sich als die menschliche Natur schlechthin geriert. Diesen Anspruch vor sich her tragend, hat sie sich inzwischen 250 Jahre lang auf Kosten der anderen Natur ausbreiten können. Eine Zeit, die ausgereicht hat, die Schöpfung irreparabel zu schädigen. Aber: Der Mensch ist Teil auch der anderen Natur. Zerstören wir sie, zerstören wir uns selbst; wir nehmen teil am Artensterben. Ich erinnere mich noch gut daran, dass es im Harzvorland der 60er-Jahre, als ich dort eine landwirtschaftliche Lehre absolvierte, eine reiche, in Feld und Flur stets präsente Hamsterpopulation gab. Heute ist diese Gegend hamsterfrei – was heißt, dass der Freiheitsbegriff der bürgerlichen Gesellschaft, soweit er sich als „frei von Natur“ versteht, wieder um eine Kleinigkeit, um diese nahezu ausgerottete Art reicher geworden ist. Oder die Bienen. Auch sie sind selten geworden. Die Chance, von einer gestochen zu werden, ist heute ähnlich gering wie die auf einen Sechser im Lotto. Chemieindustrie und moderne Landwirtschaft haben sich zu einer unheiligen Allianz gegen die Schöpfung verschworen. Angeblich im Interesse des Verbrauchers. Aber das Schicksal des Hamsters, das der Biene nimmt das unsere nur vorweg. Bleiben wir bei unserem parasitären Verhalten, bleiben wir bei einer „Freiheit“, die wir als Gegnerschaft verstehen, werden wir als Gattung nicht überleben können. Wir tun also etwas für uns, wenn wir für das Überleben unserer Mitgeschöpfe Sorge tragen. Was ist zu tun? Hegel kommt uns mit der größten Zumutung: mit der „Vernunft“. Aber wer von uns will schon vernünftig sein? Vor allem: Wer kann sich das leisten? Wer in der bürgerlichen Welt seinen Schnitt machen, auch wer in ihr nur einigermaßen über die Runden kommen will, muss sich ihren tausenderlei Sach-

10

Vorbemerkung

zwängen, muss sich ihren Prinzipien, muss sich ihrem Zweck unterordnen. Diese aber laufen auf Knechtung und Ausbeutung der Natur hinaus. Und wiederum geht es mir, als einem gewesenen Marxisten, darum zu zeigen, wie durch den Marxismus und die Versuche, ihn zu verwirklichen, die Naturfrage sowohl theoretisch als auch praktisch auf ein falsches Gleis geschoben wurde. Was mich dabei in besonderem Maße wurmt, ist der Umgang mit dem ruhmlosen Untergang der DDR bzw. des realen Sozialismus überhaupt. Er hätte Anlass zum Nachdenken darüber geben sollen, welche tieferliegenden Ursachen und Kräfte am Wirken waren als jene, die sich an der Oberfläche zeigten. Dabei hätte ans Licht kommen können, dass der Untergang dort nur ein Vorspiel war. Doch kaum einer, der hierzulande die Verbindung zur eigenen falschen Theorie und Praxis herstellt, der fragt, welche Lehren daraus für das eigene Modell zu ziehen sind. Hämische Freude, Hochmut des Siegers, gepaart mit dem Bewusstsein, dass, mit „Demokratie“ und „Freiheit“ in der Tasche, dem Westen Gleiches nicht widerfahren kann, prägen die Szenerie. Aber Hochmut kommt vor dem Fall. Die Zeichen der Zeit sprechen eine deutliche Sprache. Sie sagen uns, dass der Untergang dort nur der Anfang vom Ende war. Vom Tisch gefegt ist damit nur das schwächste Kettenglied einer gegen die Natur organisierten weltbürgerlichen Gesellschaft. Und jetzt? Es brodelt an allen Ecken und Enden, besonders aber an ihren Rändern. Zuhauf zeigen sie sich: die Auflösungserscheinungen in Gestalt von wirtschaftlichem und kulturellem Verfall, von Bürgerkriegen, von Flüchtlingsströmen, von Terror. Auf breiter Front bekommen wir sie zu spüren: die Gegenwehr der anderen Natur. Oder so gesagt: Wir ernten, was wir gesät haben. Dem sittlichen, beide Naturen vermittelnden, Staat steht eine bürgerliche Gesellschaft zur Seite, die sozialverträglich ist. Der eine ist ohne die andere nicht denkbar. Keineswegs nur am Rande wird Hegel daher zum Vordenker auch des Sozialstaates. Er wusste bereits, dass Naturverträglichkeit und Sozialverträglichkeit eine Einheit bilden und ein ökologischer Umbau unserer jetzigen Gesellschaften deshalb nur im Verbund mit ihrem sozialen Umbau gelingen kann. In den letzten Jahrzehnten haben wir jedoch erfahren müssen, dass die Kluft zwischen „Arm“ und „Reich“ unverträglich groß geworden ist. Statt auf dem Vormarsch zu sein, droht der „Sozialstaat“, der ohnehin für die Mehrheit der Weltbevölkerung bis heute ein Fremdwort geblieben ist, zum Auslaufmodell zu werden. Personelle und inhaltliche Bezüge versuche ich zu F.C. von Savigny, O. von Gierke, K. Marx, E. Bloch und N. Luhmann herzustellen, um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten, auch: um die große „Bandbreite“ der hegelschen Philosophie zu zeigen.

Vorbemerkung

11

Die Arbeit ist gefertigt in dörflicher Abgeschiedenheit, jedoch in enger geistiger Kooperation mit Ari, meinem geliebten Wolfsspitz. Gewidmet ist sie Rocky, seinem Vorgänger. Ich bin mir sicher, dass von ihm die Grundidee der ersten und auch dieser Arbeit stammt. Er war ein Hegelianer des Tierreiches. Das soll hiermit publik werden. B.R.

S IG L E N

1. HEGEL MM

Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1969 ff. VRph Vorlesungen über Rechtsphilosophie, 4 Bde., Edition Karl-Heinz Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt 1973/1974 VNSW Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft, Nachschrift Wannenmann, hrsg. v. Claudia Becker u.a., Hamburg 1983 R-Bl Philosophie des Rechts, Vorlesung 1819/20 (Nachschrift Bloomington), hrsg. v. Dieter Henrich, Frankfurt a.M. 1983 VPhG Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, MM 12 SdS System der Sittlichkeit, hrsg. v. Horst D. Brandt, Hamburg 2002 R Grundlinien der Philosophie des Rechts, MM 7 R/A Anmerkung zum jeweiligen Paragrafen R/Z mündliche Zusätze zum jeweiligen Paragrafen R/N handschriftliche Notizen zum jeweiligen Paragrafen E Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, MM 8–10 E/A; E/Z Anmerkung/Zusatz zum jeweiligen Paragrafen L Wissenschaft der Logik, Hamburg 1989 ff. L (B) Lehre vom Begriff L (W) Lehre vom Wesen L (S) Lehre vom Sein DVD Die Verfassung Deutschlands, in: MM 1 Naturrechtsaufsatz, in: MM 2 NR DS Differenzschrift, in: MM 2 GuW Glaube und Wissen, in: MM 2 Phän Phänomenologie des Geistes, MM 3 LS Landständeschrift, in: MM 4 RB Reformbill-Schrift, in: MM 11

2. KANT KantW MdS

Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1960 ff. Metaphysik der Sitten, in: KantW IV

Siglen

IAG ZEF

13

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: KantW VI Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: KantW VI

3. SCHELLING SchW Schellings Werke, Münchner Jubiläumsdruck, hrsg. v. Manfred Schröter, München 1927 4. MARX/ENGELS MEW Werke, 40 Bde., Berlin 1956 ff. AS Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Berlin 1951 ff. GR Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953 ÖPM Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW Erg.-Bd. 1 5. LENIN W Werke, Berlin 1956 ff. AW Ausgewählte Werke, 3 Bde., Berlin 1965

AB KÜ RZU N G EN

ABGB Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch AGB Allgemeines Gesetzbuch für die Preußischen Staaten ALR Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (1794) ARSP Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie BGB Bürgerliches Gesetzbuch BVerfG Bundesverfassungsgericht CC Code civil DJZ Deutsche Juristen-Zeitung DR Deutsches Recht DZfPh Deutsche Zeitschrift für Philosophie FS Festschrift GG Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland HJ Hegel-Jahrbuch HS Hegel-Studien HZ Historische Zeitschrift JHF Jahrbuch für Hegelforschung JuS Juristische Schulung JZ JuristenZeitung NJ Neue Justiz (DDR) PhWB Philosophisches Wörterbuch, hrsg. von Georg Klaus und Manfred Buhr, Leipzig 1964 PVS Politische Vierteljahresschrift Rechtshistorisches Journal RJ SchmJB Schmollers Jahrbuch StuR Staat und Recht (DDR) WRV Weimarer Reichsverfassung ZDK Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie ZStW Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft ZPhF Zeitschrift für philosophische Forschung ZRG (GA) Zeitschrift für Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung) ZRG (RA) Zeitschrift für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung)

TE I L 1 – SC H LÜ S S E LB E G R I FFE

1 Schlüsselbegriff „Natur“ Hegels Zwei-Naturen-Lehre

Im Naturrechtsaufsatz von 1802, auch schon in früheren Schriften1, thematisiert Hegel das „Schicksal“ des Menschen. Dieser ist, biologisch betrachtet, ein Tier. Als eine Einzelheit des Tierreichs wird er als solche in Hegels „Logik“ unter der Rubrik „Das Leben“2 abgehandelt. Was diesen „Tier-Menschen“ aber heraushebt aus dem Tierreich, allgemeiner aus der Natur, ist, dass er produzierendes und denkendes Tier, insoweit also „Geist“ ist. Als „tätiger Geist“ erschafft3 er sich eine eigene Natur, in der er sich materialisiert. Als „zweite Natur“4, als „produzierte“ Natur, wie ich sie nennen werde, tritt sie zur vorhandenen, zur „äußeren“, zur „primären“ Natur hinzu. Der Mensch ist somit Geschöpf und Schöpfer zugleich. Er lebt in und mit zwei Naturen, die sich zunächst als „Verschiedene“, später als „Entgegengesetzte“5 gegenüberstehen, und wird zunehmend von der zweiten, von der „produzierten“ Natur geprägt. Das ist sein Schicksal6. Mit ihm und dem immer deutlicher werdenden Unvermögen, es 1 2

3

4

5 6

Vor allem: Der Geist des Christentums und sein Schicksal, MM 1, S. 274 f. „Leben“ ist ein Zentralbegriff der Frankfurter Systemfragmente. (Siehe dazu Joji Yorikawa: Hegels Weg zum System. Die Entwicklung der Philosophie Hegels, Frankfurt a.M. 1996, besonders die S. 43–112.) Und er bleibt es, wie die entsprechenden Ausführungen in der Logik (Logik [B], S. 211 ff.) zeigen. Beide, „Leben“ und „Schicksal“, sind Begriffe, ohne deren tiefere Durchdringung das Anliegen Hegels kaum verstanden werden kann. M. Riedel (Bürgerliche Gesellschaft und Staat. Grundproblem und Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie, Neuwied u. Berlin 1970, S. 28) spricht von der „vom Menschen hervorgebracht[en] und ins Werk gesetzt[en] Natur“, die „Welt des Geistes“ ist und als solche neben die bereits vorhandene tritt. Siehe dazu M. Riedel: Natur und Freiheit in Hegels Rechtsphilosophie, in: ders. (Hrsg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1975, S. 109–127; M. Winkler: Die Geburt der zweiten Natur, HJ 1990, S. 209–217; I. Testa: Selbstbewußtsein und zweite Natur, in: K. Vieweg/W. Welsch (Hrsg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Frankfurt a.M. 2008, S. 286–307. Vgl. L (B), S. 39. Hegel, NR, S. 495; informativ dazu F. Rosenzweig: Hegel und der Staat, hrsg. v. Frank

16

Teil 1 – Schlüsselbegriffe

zu meistern, verbinden sich all die fast unlösbar gewordenen Probleme der heutigen Menschheit. Die Auseinandersetzung damit, erst Nährboden der Religion7, wird in der Moderne zum Hauptgegenstand der Philosophie.8 Hegel ist mit der seinigen darin am weitesten gekommen, denn seinem „System“ liegen die „Unterschiede“ zugrunde, „zu denen der Begriff der Natur sich entfaltet“, d.h. die selbständige Existenz zweier Naturen, die aus einer früheren „Einheit“ hervorgegangen sind und auch jetzt, nach ihrer Trennung und Verselbständigung, ihrer bedürfen.9 Die „produzierte“ Natur wird aus der „primären“ erschaffen. Aus Sicht des „produzierenden“ Menschen dient sie nur diesem Zweck. Damit ist sie zur Rohstoffquelle, zum Objekt der Ausbeutung degradiert. Als werdende Natur steht die „produzierte“ Natur über lange Zeiträume im Schatten ihres Gegenübers. Abertausende Jahre zeigt sie sich nur als Faustkeil, Steinaxt, Speer, Pfeil und Bogen und als einfache Töpferware. Nur langsam kommt sie in Schwung, schnellt dann aber exponentiell nach vorne und nach oben, wird erst sichtbar, dann unübersehbar. Schließlich wird sie als selbständige Natur erkannt und „anerkannt“ und gewinnt zuletzt als bürgerliche Gesellschaft „Gestalt“.10 Der Zeitpunkt ihrer Emanzipation. Ein „epochaler Bruch“11. Jetzt eigenständig geworden, steht sie im Zentrum und bestimmt das Denken. Nach ihrem Bilde wird alle Natur erklärt. Mit ihrer „Anerkennung“ verbindet sich, dass nun aller Natur die Eigenschaft der „produzierten“ angedichtet wird. Damit ist ihr qualitativer Unterschied und mit ihm: ihr Gegensatz beiseitegeschoben. Wir stehen vor einem Naturbegriff, dem das „Bauprinzip“ nur der „proLachmann, Berlin 2010, S. 190 ff. Er führt dort aus, wie in Hegel die „Idee des Schicksals“ heranreift und später seinen Staatsbegriff prägen wird. Das Schicksal macht die „Tragödie“ des Menschen aus. H. Glockner (Hegel. Bd. 1: Die Voraussetzungen der Hegelschen Philosophie, Stuttgart 1929, S. 331) kommentierend: „Sie besteht darin, dass die sittliche Natur ihre unorganische Natur als ein Schicksal von sich abtrennt und sich gegenüberstellt.“ Ausführlich setzt sich G. Lukács (Der junge Hegel. Ueber die Beziehungen von Dialektik und Oekonomie, Zürich, Wien 1948, S. 239–275) mit der „Frankfurter Schicksalskonzeption“ auseinander. Negativ daran sei vor allem das darin enthaltene „Ausweichen vor einer feindlichen Macht“ (S. 236) bzw. der „freiwillige Verzicht auf den Kampf mit dem Schicksal“ (S. 267). 7 Siehe dazu Hegel in seiner Berliner Antrittsvorlesung, MM 10, S. 410 f. 8 Die „Entzweiung“, formuliert er in der „Differenzschrift“ (S. 20), ist „der Quell des Bedürfnisses“ nach Philosophie. 9 Siehe dazu: § 381/Z E. 10 Wird zur „Objektivation mit ontisch eigener Aktualität“, wie es bei M. Winkler (a.a.O., S. 209) heißt. 11 A. Adam: Despotie der Vernunft? Hobbes, Rousseau, Kant, Hegel, Freiburg i.Br., München 1999, S. 253. Dieser Bruch verbindet sich mit dem Aufstieg des „Vertragsdenkens“, dieser „privatrechtlichen Antwort“ auf ein Problem, „das gerade nicht privatrechtlicher Art ist.“ (ebd., S. 251 f.)

1 Schlüsselbegriff „Natur“

17

duzierten“ Natur zugrundeliegt. Eingeschlossen darin: ein Mensch, der durch die „Person“, durch jenen Teil-Menschen also ersetzt ist, der jetzt zum „archimedischen Punkt des politischen Denkens“12 wird. Auch als „anfangendes Sein“ war die „produzierte“ Natur zwar schon, materiell gesehen, mehr als „Nichts“13, war aber als „Sündenfall“, als Vergehen an der Ursprungs-Natur nicht (oder kaum) erkennbar. Das ist anders geworden. Heute hat sie sich in ihrer Gestalt, der bürgerlichen Gesellschaft, in einem solchen Aus- und Übermaß „breitgemacht“ und gegenüber der Ursprungsnatur verselbständigt, dass diese schon längst akut gefährdet ist. Und mit ihr der Mensch selbst. Keine von beiden ist vom Menschen zu trennen, jede von ihnen hat Daseinsberechtigung, jede von ihnen ist „göttlich“14 – gerade auch die „primäre“ Natur, von der alles Weitere abhängt. Da wir Heutigen daran kranken, dass die „produzierte“ Natur über alle Ufer getreten ist und ihr Gegenüber unter ihr zu ersticken droht, ist also die Frage eines ausgewogenen Verhältnisses beider schon längst zur Überlebensfrage geworden. Wo sich zwei „Entgegengesetzte“ gegenüberstehen, ist für den Dialektiker klar, dass es einer „Vermittlung“ bedarf. Denn Dialektik ist „Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit“15. Das gilt auch hier. Es existiert also ein Drittes, eine „Einheitsnatur“16, wie ich es nennen will, das aus ihr hervorgeht und die Einheit exekutiert. Solange die „produzierte“ Natur nicht „fertiggestellt“ ist, solange sie sich nicht emanzipiert hat, wird die Funktion dieser „Einheitsnatur“ – gewissermaßen in „Personalunion“ – im Rahmen des „naturwüchsigen Gemeinwesens“17 von der „primären“ Natur ausgeübt. Tausende Jahre geht das so. Zuletzt stehen wir vor dem feudalen Menschen (Ebene der Einzelheit) und vor dem feudalen Gemeinwesen (Ebene der Allgemeinheit). Dann aber dies: Beide werden gesprengt; wir erleben die „Teilung des ursprünglich Einen“18. Hat sich der Pulverdampf verzogen, wird die „Entzweiung“ sichtbar. An die Stelle des „naturwüchsigen“ Menschen treten „Person“ und „Subjekt“ und an die Stelle des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ treten die 12 13

Adam, a.a.O., S. 252. „Werden“, das sich auf „Sein“ zubewegt, aber noch lange braucht, um in dieses umzuschlagen (s. dazu Logik [S], S. 62 f.) und als Gestalt „bürgerliche Gesellschaft“ in die Geschichte einzutreten. 14 § 381/Z E. 15 L (S), S. 41. 16 Zwei entgegengesetzte Naturen, in der „Phänomenologie“(MM 3, S. 328 ff.) verbildlicht als „der Mann und das Weib“, werden in einer dritten Natur, dem „Gemeinwesen“, zur Einheit gebracht. 17 Mit diesem Begriff arbeiten sowohl Hegel als später auch Marx (siehe MEW Bd. 3, S. 62, MEW Bd. 13, S. 475). 18 L (B), S. 60.

18

Teil 1 – Schlüsselbegriffe

beiden Naturen, von denen die eine, die „produzierte“, als „bürgerliche Gesellschaft“ Gestalt19 gewinnt. Verlierer ist die „primäre“ Natur. Diese ist ja mit der „Entzweiung“ nicht aus der Welt. Aber da sich die bürgerliche Gesellschaft als das neue Gemeinwesen versteht, steht sie jetzt außerhalb des Politischen. Ihr widerfährt, woran wir bis heute kranken und was, wenn wir nicht umdenken und entsprechend handeln, bald unser aller Ende bedeuten kann: Bisher dominierendes Subjekt, ist sie jetzt zum „Outlaw“ gemacht, zum bloßen Objekt. Jetzt, wo die Sklaverei scheinbar aufhört, fängt sie tatsächlich erst richtig an, indem nun sie versklavt wird. Produzierender Mensch und „produzierte“ Natur, sowie ihre Gestalten „Person“ und „bürgerliche Gesellschaft“, werden die Favoriten der Philosophie der Aufklärung. Diese wirft gegenüber früheren Philosophien das Ruder um 180 Grad herum und sieht in ihnen den frei gewordenen, den befreiten Menschen und die menschliche Natur. Sie rückt also diese Natur (und den auf sie entfallenden Teil des Menschen!) in den Vordergrund. Ausgangspunkt wird der mathematisch-physikalische Naturbegriff Descartes’, der den Atomismus der „produzierten“ Natur, deren „Dingheit“, nun beiden Naturen überstülpt.20 Der harte Kern eines „erdichteten Naturzustands“21.Und weil die je andere Seite nun übersehen wird, scheint es, als bliebe der Mensch, als bliebe die Natur ungeteilt. Ein Schein, der entstehen kann, weil sie jetzt beide vom anderen Ende her definiert werden. Das ist die dezisionistische, zur bloßen „Umkehrung“22 führende Lösung. Ein „organischer“ Naturbegriff wird ersetzt durch einen anorganischen, „Organik“ wird ersetzt durch „Atomistik“. Der Mensch als „Organismus“ wird ersetzt durch den 19 Hegel bereits in dem ersten Systemfragment: „Eine ganze Welt [tritt] aus dem Nichts hervor“ (MM 1, S. 234). 20 Weil er unhaltbar ist, kommt es zum Rückfall „von Aufklärung in Mythologie“ (M. Horkheimer/T.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, hrsg. v. Waltraud Beyer, Leipzig 1989, S. 11) einerseits und zur Verwässerung ihres Anliegens durch einen platten Positivismus, z.B. den A. Comtes. (Siehe dazu auch: Christine Zunke: Die zwieschlächtige Natur der Moderne. Vom Hegelschen Naturrecht und positivistischem Naturbegreifen, HJ 2012, S. 65.) 21 Vgl. § 502/A E. 22 L. Rizzi: Die Kritik Hegels an der Vertragstheorie im „Naturrechtsaufsatz“, HJ 1990, S. 255. Staatsphilosophisch wird sie erstmals von Thomas Hobbes auf den Punkt gebracht. Er setzt an die Stelle des bisherigen Menschen den Maschinen-Menschen und an die Stelle des bisherigen feudalen Gemeinwesens den „Leviathan“, den „Maschinen-Staat“. Hegel setzt sich damit im 2. Abschnitt seines Naturrechtsaufsatzes auseinander (MM 2, S. 453 ff.). Siehe dazu auch M. Riedel, Natur und Freiheit, a.a.O., S. 111. Über Feuerbach schließt sich Marx dieser „Umkehrung“ an, was theoretisch und praktisch im 20. Jahrhundert von großer Bedeutung werden wird (siehe dazu vor allem im „Exkurs“).

1 Schlüsselbegriff „Natur“

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Automaten. Ersetzt wird das eine durch das andere. Eine Verschiebung des Standpunktes23, den Hegel für grundfalsch hält und durch Verweis auf einen historisch neuen Typ von „Einheitsnatur“ korrigiert. Im Bewusstsein der „Zeitzeugen“ spiegelt sich der Zerfall der „naturwüchsigen Einheitsnatur“ im Streit um die Naturen. Anschaulich trägt O. v. Gierke dazu vor, dass als Natur zunächst galt, was in den „naturwüchsigen“ Gemeinwesen unter Führung der „primären“ Natur über die Bande des „Blutes und des Bodens“ zusammengeschlossen war. Jetzt aber, im Ausgang des Mittelalters, kommt der Gedanke auf, „dass alles menschliche Gemeinleben auf einem Vertrage der Verbundenen beruht“24. Er wurde bald ausgebaut „zum konstruktiven Prinzip“ eines darauf beruhenden Staatsdenkens. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag tritt in die Welt. Wurde bisher das Individuum aus der Gemeinschaft, so wird jetzt die „Gemeinschaft aus dem Individuum“ hergeleitet. War bisher die Gemeinschaft älter als das Individuum, so ist jetzt „der vereinzelte Mensch älter als der Verband“. Eine Weile ging es hin und her. Es wird gestritten25 darüber, was jetzt als die menschliche Natur, überhaupt: was als „Natur“ anzusehen ist. Aber bald war es „ein ganz aussichtsloses Unternehmen, wenn stets von neuem einzelne Naturrechtslehrer diesem theoretischen Individualismus entgegentraten und wieder mehr vom Ganzen auszugehen oder doch die staatlichen Hoheitsrechte aus einer vom Individuum unabhängigen Quelle herzuleiten suchten“26. War der Streit anfangs durch „Konfusion“27 geprägt, ist nun die „Umkehrung“ perfekt gemacht. Der Begriff blieb auf den Kopf gestellt. Was vorher Natur und „Gesellschaft“ war, war nun „Natur“28. Das bisherige „gemeinschaftliche Naturrecht“ war durch ein „gesellschaftliches Naturrecht“29 abgelöst – von nun an 23 24 25 26 27 28 29

Mit der sich Hegel in der „Differenzschrift“ auseinandersetzt – siehe MM 2, (insbesondere) S. 94–115. O. v. Gierke: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, Aalen 1981 (7. Aufl.), S. 99. Im Rahmen der, wie Hegel (NR, S. 439 f.) sagt, „empirischen Behandlungsarten“ des Naturrechts. Gierke, a.a.O., S. 105 f. NR, S. 450. Der Naturbegriff Galileis und Newtons wurde zum „Wertbegriff“. (Vgl. dazu G. Lukács: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Hegels falsche und echte Ontologie, Neuwied u. Berlin 1971, S. 10.) F. Tönnies: Hegels Naturrecht, SchmJB 56 (1932), S. 71–85, besonders S. 82 f. Tönnies’ Werk ist bekanntlich durch die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ geprägt, die er als ein zeitliches Nacheinander und – das ist der Mangel – entsprechend der liberalistischen Sichtweise als ein „Entweder-oder“ versteht. Damit übersieht er (wie überhaupt!), dass sich „Gemeinschaft“ auf zwei Naturen bezieht, dagegen „Gesellschaft“ nur auf eine, auf die „produzierte“ Natur.

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der „fixe Punkt“30, um den alles Denken und Handeln zentriert ist. Nach moderner Sprachregelung: Eine neue „Theorielage“31 gewann die Oberhand. Und dabei bleibt es – auch wenn Hegel sich mit seiner Philosophie dem „Dogmatismus der Aufklärerei“ entgegenstemmt. Letzte „naturwüchsige“ Gestalt des Gemeinwesens war die Feudalmonarchie. Bei Übergewicht der „primären“ waren in ihr beide Naturen als „zwei unterschiedene Quanta“32 enthalten. Jetzt aber haben sich die Gewichte verschoben. Bis dahin, wo der Punkt erreicht ist, „auf welchem die Qualität geändert wird, das Quantum sich als spezifizierend erweist und damit in eine neue Qualität, ein neues Etwas umgeschlagen ist.“33 Das ist der Punkt, an dem das feudale Gemeinwesen zerbricht und es zur „Umkehrung“ kommt. Was aber zu beachten ist: Zerschlagen wird nur die feudale Gestalt, nicht das „Gemeinwesen“ selbst. Dieses wird nicht zu nichts. Es wird nur „gestaltlos“, existiert also als „gestaltloses Sein“34 fort. Wir beobachten es „in seinem Übergang zum Wesen“35. Wir sind bei dem Punkt angelangt, der Hegels Philosophie von der der Aufklärung trennt. Es geht um den „Zerfall“ und die dabei ans Licht tretenden zwei entgegengesetzten Naturen. Hegel fragt, was dabei mit dem Gemeinwesen als der Einheit dieser beiden Naturen geschieht. Ist es so, dass es nun auf „das Diesseits und Jenseits verteilt und ausgebreitet“36 wird, wie es z.B. Kant sieht, oder bleibt es als „Sein“ erhalten, wenn jetzt auch als „gestaltloses“? Anders gefragt: Gibt es statt zweier weiterhin drei Naturen, wobei der dritten die Aufgabe zukommt, die „Einheit“ der beiden anderen zu stiften? Die neue Situation nach Zerfall des feudalen Gemeinwesens: Zwei Naturen, die sich als „Entgegengesetzte“ verstehen. Das ist die eine Ebene. Und, dringender denn je angesichts der jetzt entfesselten Dynamik der „produzier30 GuW, S. 292. 31 N. Luhmann: Die Theorie der Ordnung und die natürlichen Rechte, RJ3 (1984), S. 133. Luhmann untersucht diese Zeit der Umstellung vom „alten“ auf das neue Naturrecht, diesen Schwenk vom alten zum neuen Verständnis des Rechts und des Staates, unter systemtheoretischen Gesichtspunkten in mehreren seiner Arbeiten. Da ihn mit Hegel das „systemische“ Denken verbindet, werden uns seine Gedankengänge, seine Fragen und Lösungsansätze noch näher zu interessieren haben, besonders wenn es um das Thema „Recht“ geht. 32 L (S), S. 421. 33 Ebd., S. 412. 34 Hegel definiert in der „Wesenslogik“ (L [W], S. 161) die Wirklichkeit als „die Einheit des Wesens und der Existenz“. Das Wesen für sich allein ist „gestaltlos“. Die Erscheinung für sich allein ist „haltlos“. Das „Wesen“, entnehme ich daraus, ist „gestaltloses Sein“. 35 L (B), S. 33. 36 Phän, S. 327.

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ten“ Natur: eine dritte, eine „Einheitsnatur“ auf der Ebene des Allgemeinen. Als „Naturgestalt“ ist das „Gemeinwesen“ aus der Welt. Fällig geworden ist jetzt aber dessen „Vernunftgestalt“. Sie sichtbar zu machen, ihr den Weg zu ebnen ist das Ziel, das Hegel sich setzt. Sie zu installieren (zu institutionalisieren) wäre die Aufgabe der Politik. *** Hegel startet seine wissenschaftliche Karriere, indem er auf Seiten Schellings dem Streit beitritt, den dieser mit Fichte austrägt. Beide, Fichte und Schelling, haben das analytische Verfahren Kants aufgegeben und mit dem Ziel, das „Ding an sich“ in den Gegenstandsbereich der praktischen Philosophie zurückzuführen, an dessen Stelle „eine wirkliche Construktion“37 gesetzt. Ein Bruch. Ein neuer Anfang. Uneins sind sie sich aber bald darin, was jetzt den neuen „Einheitspunkt“38 bildet. Jeder der beiden nähert sich ihm von der anderen Seite. Fichte meint, ihn in einem „Ich“ gefunden zu haben, dessen Freiheit darin besteht, alles außer sich als Objekt anzusehen. Ein „Totschlag der Natur“, dem Schelling entgegensetzt: Alle Natur diesseits und jenseits der Trennlinie ist „tätiger Geist“, ist „Wille“, ist „Produktivität“. Da aber jene des „Ich“ über „jede Grenze hinausgeht“, da sich das „Ich als Subjekt jener unendlichen Tätigkeit“ zeigt, die keinen Raum für die „Produktivität“ der anderen Seite lässt, muss etwas her, das ihre „Hervorbringungen“ fesselt und bindet.39 Nur was? Nur wie? Hier ist die Natur der „sichtbare Geist“, dort ist der „Geist die unsichtbare Natur“40. Ihr Gemeinsames: Beide sind „Produkt“ und „Produktivität“. Ein „Parallelismus der Natur mit dem Intelligenten“41, der die „Ich-Natur“ Fichtes zu Gunsten einer Dualität zweier Naturen korrigiert. Das ist ein wichtiger Schritt nach vorn, über den Standpunkt der Aufklärung, über Kant und Fichte hinaus. Aber hier bleibt er stehen. Obwohl angekündigt42: Die Konsequenzen aus diesem „Parallelismus“, zu ziehen in einer Wissenschaft, die die Transzendental- und die Naturphilosophie zur Einheit bringt, bleibt er schuldig. Nicht er geht den nächsten, den entscheidenden Schritt, sondern Hegel.

37 SchW 2, S. 333. 38 Vgl. dazu W. Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealismus, Göttingen 1990, S. 206 u. 208 f. 39 SchW 2, S. 430. 40 SchW 1, S. 706. 41 SchW 2, S. 331. 42 Vgl. ebd.

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Die „Vermittlung“ fehlt, erkennt dieser; die „Konstruktion“ ist unvollendet. Ein System „Natur“ ist erst gegeben, wenn die zwei entgegengesetzten Subjekt-ObjektNaturen und ihre entgegengesetzten Zwecke über eine dritte, über die „Einheitsnatur“, vermittelt werden. So hoch die „heuristische Bedeutung“43 seines Ansatzes zu veranschlagen ist: Auch Schellings Weg zur „Identität“ führt zum bloßen Standpunktwechsel, wenn er bei ihm auch auf Kosten der „Ich-Natur“ geht. Hegel bestätigt Schelling: Auch der „Geist“ ist Natur, weil er sich im „Produkt“ materialisiert. Und auch die Natur ist „Geist“, weil sie „Produktivität“ ist. Aber er sieht, was beide „Identitätsphilosophen“ nicht sehen: dass die Entgegensetzung auf eine dritte Natur verweist, deren wichtigste Funktion die der „Vermittlung“ ist. Der objektive Idealismus ist geboren. Da die „produzierte“ Natur Resultat des „tätigen Geistes“ ist, wird sie von Hegel in der „Enzyklopädie“ unter der Rubrik „subjektiver Geist“ abgehandelt.44 Zwei unterschiedliche, ja: gegensätzliche, „Geister“ also, die sich je in einer Natur materialisieren. Zwei Schöpfer und zwei Schöpfungsakte, die sich, biblisch gesehen, wie „Gut“ und „Böse“ gegenüberstehen.45 Verklammert werden daher beide Schöpfer und beide Naturen in der vorneweg46 abgehandelten „Idee“. Der Übergang von dort zur Natur (§§ 245–376 E) oder zum Geist (§§ 377–482 E) ist ein Übergang von der „Einheit“ zu einem Entgegengesetzten. Wenn die entsprechenden Textstellen als die „dunkelsten“ im System Hegels angesehen werden, dann deshalb, weil übersehen wird, dass die „Idee“ weder mit der Natur noch mit dem Geist identisch ist. Sondern: Sie ist ihre Einheit47. Der Geist ist also nichts anderes als ein Aggregatzustand der „produzierten“ Natur. Er zeigt sie in ihrem Werden. Die „primäre“ Natur hingegen ist weitgehend – und besonders aus der Sicht des Menschen – „fertige“ Natur

43 C. Siegel: Geschichte der deutschen Naturphilosophie, Leipzig 1913, S. 217. 44 Damit ist das Verhältnis von Natur- und Geistphilosophie berührt, das eigentlich das Verhältnis zweier Naturen ist. M. Quante (Die Natur: Setzung und Voraussetzung des Geistes. Eine Analyse des § 381 der Enzyklopädie, in: B. Merker/G. Mohr/M. Quante [Hrsg.], Subjektivität und Anerkennung, Paderborn 2004, S. 82 u. 86) untersucht deren „Gelenkstellen“ mit dem Ergebnis, dass beide Teile mit der Natur zu tun haben. Das Problem aber: „Geist“ und „Natur“ sind nicht bloß unterschiedliche Modi der gleichen Natur, sondern von Naturen, die sich qualitativ unterscheiden und sich gegenüberstehen. 45 Hegel spricht die Thematik z.B. im § 18 R an. 46 §§ 213–235 E. 47 Hier stütze ich mich auf R.-P. Horstmann: Logifizierte Natur oder naturalisierte Logik? Bemerkungen zu Schellings Hegel-Kritik, in: ders./M.J. Petry (Hrsg.), Hegels Philosophie der Natur. Beziehungen zwischen empirischer und spekulativer Naturerkenntnis, Stuttgart 1986, S. 290 ff. (S. 299), der zeigt, dass für Hegel die „Idee wesentlich Einheit“ ist.

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und kann deshalb als bereits „äußerlich“ gewordener Geist, als „äußere Natur“48, Gegenstand der „Naturphilosophie“ sein. Wesentlich ist aber, dass sich nicht „Geist“ und „Natur“ gegenüberstehen, sondern: zwei „Geister“ und zwei Naturen. Indem sie beide Naturen einebnet und sie unisono zum Objekt erklärt, schafft die Philosophie der Aufklärung ihre „Entzweiung“ aus der Welt. Aber gewonnen ist damit nichts. Die Aufgabe, eine „Einheit“ zu schaffen, bleibt. Hier setzt Hegel an; seine Philosophie widmet sich der Dialektik zweier gegensätzlicher Schöpfer und zweier gegensätzlicher Naturen. Sie ist der Kern des „System“49-Gedankens und erheischt notwendig jene dritte Natur, durch die die beiden Gegenüber relativiert und korrigiert werden. Darum geht es also, wenn Hegel seine Philosophie mit dem erklärten Ziel entfaltet, die ihm nicht genügenden „früheren Behandlungsarten des Naturrechts“ durch die seinige abzulösen. Eine Korrektur zu Lasten der „produzierten“ und zu Gunsten der jetzt zur Seite geschobenen „primären“ Natur. In der „Differenzschrift“ und anhand des Lösungsversuchs Fichtes zeigt er, was zu tun ist: „Wenn die Aufhebung der Entzweiung als formale Aufgabe der Philosophie gesetzt wird, so kann die Vernunft die Lösung der Aufgabe auf die Art versuchen, dass sie eins der Entgegengesetzten vernichtet und das andere zu einem Unendlichen steigert. Dies ist der Sache nach im Fichteschen System geschehen.“50 Das kann nichts werden. Die „Entgegensetzung bleibt auf diese Art. ... Um die Entzweiung aufzuheben, müssen beide Entgegengesetzte, Subjekt und Objekt aufgehoben werden; sie werden als Subjekt und Objekt aufgehoben, indem sie identisch gesetzt sind.“51 Als „Aufgehobene“ sind sie aufeinander bezogen; der sie trennende Antagonismus ist vermittelt. Die Vernunft gebietet also, sich an die „Idee“ zu halten; an die „Idee“ des Menschen wie auch an die „Idee“ des Gemeinwesens. Geschieht dies nicht, stehen wir vor einer „halbierten Vernunft“52. Die „Idee“ erinnert an die anstehende Aufgabe, jetzt 48 § 381/Z E. 49 Stichwort „System“: Da sich die „Einheitsnatur“ jetzt nicht mehr von selbst, „naturwüchsig“, herstellt, ist die Philosophie gefordert. Es gilt, das jetzt „verhüllte Ganze“ sichtbar zu machen. Das Aufzeigen der „Vernunftgestalt“ wird ihr zentraler Gegenstand. Aber: „das Wahre [ist] nur als System wirklich“ (MM 3, S. 19, 21, 28). Wenn es Engels (MEW 21, S. 268) mit dem Satz abtut, Hegel sehe sich „genötigt ..., ein System ... nach den hergebrachten Anforderungen“ zu machen, übersieht er, dass darin der (im Falle Hegels gelungene) Versuch steckt, die verlorene Einheit der Naturen zurückzugewinnen. Andersherum: Der Spott zeigt, dass Marx/Engels selbst auf der Linie der „produzierten“ Natur argumentieren. 50 DS, S. 94 f. 51 Ebd., S. 95. 52 Ein Ausdruck, den P. Stekeler-Weithofer (Erste und Zweite Natur. Bemerkungen zu Hegels Analyse geistiger Bildung und Selbstformung, in: P. Heuer/W. Neuser/P. Stekeler-

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aus eigener Kraft herzustellen, was sich über Tausende von Jahren von selbst, „naturwüchsig“, hergestellt hat: eine „Gestalt“, in der die Entgegengesetzten vermittelt, mithin zur Einheit zusammengeführt sind. Die „Idee“ ist die logische Konsequenz der „Entzweiung“. Da diese real ist, ist auch die Idee als „die Einheit des Begriffs und der Objektivität“ das „Wahre“.53 Sie zeigt einen Menschen, der nicht Fleisch und Blut ist, dennoch aber Objektivität und Wirklichkeit besitzt. Sie zeigt eine Natur, die wirklich ist, deren Wirklichkeit sich aber nur über die Logik erschließt. Und sie spiegelt das Schicksal des Menschen wider, ein Zwitter zu sein – Resultat der einen, Ausgangspunkt der anderen Natur. Ein Schicksal, das nicht beseitigt werden kann, mit dem gelebt, dass daher „vermittelt“ werden muss.54 Die um den politischen Staat Hegels zentrierte „Vernunftgestalt“ zeigt den Ausweg55. Sie institutionalisiert und exekutiert ein dauerhaft vernünftiges Miteinander zweier Schöpfer und zweier Schöpfungen. Was wir also sehen: Die „Idee“ verweist uns auf einen Staat, der das weiterhin existierende „Ganze“ und dessen Erfordernisse repräsentiert und exekutiert. Jede Seite muss sich Einschränkungen gefallen lassen. Nach zwei Jahrhunderten des unhaltbaren Zustandes unbeschränkter Ausbeutung der „primären“ Natur und der Gewöhnung daran trifft dies die bürgerliche Gesellschaft wie auch jenen Teil des Menschen, der auf sie entfällt, am meisten und wird als unbillige Einschränkung dessen angesehen, was wir gemeinhin unter „Freiheit“ verstehen. Dabei sollte klar sein, dass die längst fällige Korrektur zu Gunsten der „primären“ Natur zugleich eine Korrektur zu Gunsten jenes Menschen ist, der ihr Teil ist. Im Übrigen käme sie spät genug. Denn längst geht es nur noch darum zu retten, was noch zu retten ist. Von der „Logik der Idee“56 her beurteilt Hegel die ans Licht getretenen Dualismen: „Subjekt“ und „Person“, Moral und Recht, Staat und Gesellschaft, auch:

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Weithofer [Hrsg.], Der Naturbegriff in der Klassischen Deutschen Philosophie, Würzburg 2013, S. 23) gebraucht. L (B), S. 206. „Einheit des Begriffs und der Realität“, ebd., S. 207. Das ist ein Standpunkt, den sich Hegel bereits in Frankfurt erarbeitet hat, wie z.B. das dort gefertigte Systemfragment von September 1800 (MM 1, S. 419–427) zeigt. Siehe dazu die hochinteressante Deutung durch G. Lukács (Der junge Hegel, a.a.O., S. 231–234), auf die an anderer Stelle (Kapitel 6.1) noch einzugehen ist. Ein Ausweg, der ihm von all denen verübelt wird, die in der (Kehrt-)Wendung zur „produzierten“ Natur kein Problem, sondern Fortschritt pur sehen: Zu ihnen gehören auch Marx/Engels, weil sie zwar die Verhältnisse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft umkrempeln, aber es bei der Ausbeutung der „primären“ Natur belassen wollen. M. Pawlik: Hegel und die Vernünftigkeit des Wirklichen, Der Staat 41 (2002), S. 186. Verdienst dieser Arbeit ist es, die bislang ignorierte dritte Dimension, das als Gestalt zerschlagene, damit aber nicht zu nichts gewordene Ganze, ins Licht zu rücken und als Gegenstand rechts- und politikwissenschaftlicher Theorie und vor allem: der juristi-

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Natur und Geist. Sie „erinnert“57 an die weiterhin bestehende „Einheit“. Man sehe sich die §§ 1 und 2 R an. Dort wird es als Aufgabe einer „philosophischen Rechtswissenschaft“ bezeichnet, die „Idee des Rechts“ in den Blick zu nehmen. Nur so, nur dann kann das Recht, das ja als Derivat der „produzierten“ Natur in ihr seinen „Anfangspunkt“ hat, in Bezug zum Ganzen gebracht werden. Wird es hingegen nur als bloßer Reflex dieser Natur gesehen, ist das Ergebnis ein „abstraktes“ Recht, das a) die atomistische Grundstruktur der „produzierten“ Natur widerspiegelt; zugleich auch b) die bloße Objektstellung der „primären“ Natur zementiert und damit deren unbeschränkte Ausbeutung legitimiert. Die dritte, „gestaltlose“, Wirklichkeit in einer „Vernunftgestalt“ sichtbar zu machen und zu institutionalisieren ist Aufgabe der Wissenschaft und der Politik. Was aber haben beide im Blick? Die „produzierte“ Natur. Was gepflegt wird, ist eine Betrachtung des Rechts, die allein geprägt ist von ihrer Interessenlage. Die Wahrheit eines Teils wird zur Wahrheit des Ganzen verklärt. Die Rechtswissenschaft verliert so den Anschluss an die Philosophie. Das führt sie zum Positivismus. Wissenschaft im echten Sinne ist sie also nur dann, wenn sie es versteht, beide Ebenen im Begriff sichtbar zu machen. Wie schwer es fällt, hierbei Hegel zu folgen, zeigt sich bei einem so profunden Denker wie E. Bloch, für den die „Idee“ ein „willkürliches Bild“ ist und sein muss, eine „Art Hofsprache“, an deren Ende steht, dass per Ukas die Natur aus der Idee entlassen wird.58 Also bloße Spukgestalten, die sich um sie ranken? Aber die Auseinandersetzung mit Kant und Fichte macht es deutlich: Die „Idee“ ist die „höhere Einheit“59 beider Naturen. Soweit geht Kant mit. Dann trennen sich die Wege. Während dieser die „sehr wohl anerkannte“ Idee „von der Realität“ trennt „und für Gedankendinge erklärte“60, sieht Hegel darin eine Realität. Kant scheitere also daran, so Hegel, dass er die „Vernunft“ dort nicht in Übereinstimmung mit der Realität zu bringen vermag, wo sie die „konkrete Unmittelbarkeit überschreitet“61. Idee und Realität kommen bei Kant nicht zusammen. „[D]er sinnliche Stoff, das schen und politischen Praxis bewusst zu machen. 57 Die „Idee“ ist gewissermaßen der „Merkposten“, der, nach Wegfall des Gemeinwesens als „naturwüchsiges“, an dessen Stelle tritt und an die Aufgabe erinnert, nach der neuen, den jetzigen Gegebenheiten gerecht werdenden (Vernunft-)Gestalt zu suchen. Die „Idee“ ist insoweit antizipierte Vernunftgestalt. 58 Vgl. E. Bloch: Subjekt – Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Berlin 1951, S. 190 f. 59 L (B), S. 23. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 23 f.

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Mannigfaltige der Anschauung war ihm zu mächtig, um davon weg zur Betrachtung des Begriffs und der Kategorien an und für sich und zu einem spekulativen Philosophieren kommen zu können.“62 Für Hegel indes ist der Standpunkt der „Idee“ zugleich der Standpunkt der „Realität“. Niemand folgt ihm auf diesem Weg. Die Liberalen nicht, da sie mit der Dialektik im Ganzen nichts anzufangen wissen. Marx in Bezug auf diesen Teil, der für ihn „Mystik“63 ist, ebenfalls nicht. Während Kant in puncto Natur am Tatsächlichen klebt, also – gewissermaßen „vorsichtshalber“ – nur den sinnlich wahrnehmbaren Teil beider Naturen akzeptiert und den untergründigen „Rest“ zum „Ding an sich“ erklärt, macht es sich Hegel zur Aufgabe, diesen „Rest“ als eine Form des Seins sichtbar zu machen.64 W. Dilthey kritisiert daran: „So entsteht der Panlogismus Hegels, welcher dem Gedanken der Begreiflichkeit der Welt die wahre Natur des Wirklichen und der Wissenschaften rücksichtslos opfert.“65 Aber Hegel bleibt dabei: Beim „Ding an sich“ kann man nicht stehenbleiben. Es bezeichnet ein Unsichtbar-Materielles, das sichtbar zu machen ist. Und das gelingt ihm mit Hilfe seiner „dialektischen“ Logik auch. Mit ihr zeigt er, was bisher verborgen blieb: das „gestaltlose Sein“ seiner „Wesenslogik“66. Damit schließt er die Lücke, die bei Kant bleibt67, weil dieser „Sein“ und „Begriff“ 62 Ebd., S. 25. 63 Siehe dazu: K. Marx, Brief an Ludwig Kugelmann vom 6. März 1868 (MEW 32, S. 538), wo er seine Methode von der Hegels abgrenzt und von der hegelschen Dialektik nur gelten lässt, was nach „Abstreifung ihrer mystischen Form“ übrig bleibt. 64 G. Lukács (Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, S.435) zum Unterschied und dessen Bedeutung: Der Leugnung der Erkennbarkeit des „Dinges an sich“ stellt Hegel dessen Erkennbarkeit gegenüber. Das sei der „springende Punkt“ der dialektischen Methode, so Lukács. 65 W. Dilthey, a.a.O., S. 223. 66 Die „Wesenslogik“ wird von Engels (Dialektik der Natur = MEW 20, S. 348) zu Recht als der „weitaus bedeutendste Teil seiner ‚Logik‘“ bezeichnet. Und zwar, weil deren Schwerpunkt die Einheit der Gegensätze, das Kernthema der Dialektik, behandele. W. Jaeschke (Einleitung, in: G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Bd. 1: Die objektive Logik. Buch 2: Die Lehre vom Wesen (1813), Hamburg 1992, S. XXXIII) hebt hervor, dass Hegel mit der Wesenslogik eine Wirklichkeit sichtbar macht, die bis dahin nicht gesehen wurde. Man kann getrost hinzufügen: die auch heute noch meist übersehen wird. Angesichts der sonstigen Literaturflut zu fast jeder Äußerung Hegels ist die „Wesenslogik“ aus meiner Sicht aber bis heute geradezu stiefmütterlich behandelt worden. 67 Siehe dazu die Ausführungen in der L (B), S. 24. Diese „Lücke“ zeigt an, dass das Ineinandergreifen von Wesen und Begriff nicht verstanden wird. Sie wird genutzt, um Hegel der „Begriffshuberei“ zu bezichtigen – z.B. von Marx/Engels. Was also Hegels Philosophie von der kantischen, aber auch vom Marxismus abhebt, ist die Lehre vom Wesen. Sie steht „zwischen der Lehre vom Sein und der vom Begriff“ (L [S], S. 47). Eine

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nicht zur Deckung bringen kann. Seine dreidimensionale Sicht bringt zwei sich gegenüberstehende Naturen ans Licht, die in einer dritten, in einer „vernünftigen“ Natur, in der „Vernunftgestalt“, eingebettet und vermittelt sind. Diese Vernunftgestalt ist „enthüllte Wahrheit“68. Denn „die Idee“ ist „das an und für sich Wahre.“69 *** Kommen wir auf den Zerfall des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens und der damit verbundenen Emanzipation der „produzierten“ Natur zurück: Hier bleibt die Kollegenschaft stehen. Sie erklärt diese Natur zum Gemeinwesen der Moderne und meint, damit sei ein schlüssiges Ergebnis erzielt. Hegel sieht es anders. Eine „Aufhebung“ ist im Gange; eine das Ganze „erhaltende Aufhebung“70, wie er präzisiert. Der Zerfall ist nur ein Zwischenergebnis. Der Prozess ist damit nicht abgeschlossen. Der ersten Negation folgt eine weitere. Diese führt scheinbar zum Ausgangspunkt zurück – zur „Einheitsnatur“. In Wahrheit lässt sie jedoch deren „naturwüchsige“ Gestalt hinter sich und gelangt zu jener auf Basis der Vernunft.71 Während die Kollegenschaft bei der bürgerlichen Gesellschaft verharrt und diese in einen Rang erhebt, der ihr nicht zukommt, führt Hegel beide Naturen in seiner Vernunftgestalt erneut zusammen. Von zentraler Bedeutung ist, was Hegel in § 141 R72 – er folgt der Zwischenüberschrift „Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit“ – ausführt. Er sagt dort, dass er bisher beide Naturen und deren Derivate Recht und Moral nur unter dem Aspekt des ins Auge springenden Neuen, ihrer jetzigen Verselbständigung, behandelt hat. Er hat sie „zunächst abstrakt“73, als aus dem Zerfall einer „Einheitsnatur“ hervorgehende „Totalitäten“ vorgestellt, sie „als gleichgültige Selbständige gegeneinander bestimmt“74, wobei die „produzierte“ Natur als die Natur des „vereinzelten Einzelnen“ erscheint. Jetzt, nachdem dies geleistet ist, hebt er hervor: Trotz dieser Verselbständigung bleiben sie mit dem „Allgemeinen“75 verbunden. Es bleibt dabei, dass gleichlautende Aussage findet sich in der „Wesenslogik“ (L [W], S. 5). L (B), S. 30. Ebd., S. 212. § 381/Z E (S. 23). In der Vorrede R (S. 15) spricht er vom Staat als einer dritten, einer „sittlichen Welt“ – und meint damit jenen „Vernunftstaat“, der jetzt die Zerfallsprodukte zur „Einheit“ zusammenführt. 72 Und inhaltlich fast identisch auch im § 181 R zum „Übergang der Familie in die bürgerliche Gesellschaft“ zum Ausdruck bringt. 73 § 181 R. 74 L (W), S. 140. 75 Ebd. 68 69 70 71

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jede Natur „das notwendige Andere“76 der anderen ist – was sich darin ausdrückt, dass sie nur „relative Totalitäten“77 sind. Schreibt er unmittelbar davor von der „Totalität“, die bisher als „bestimmungslos“, also abstrakt, vorgestellt worden ist, die nun aber „bestimmt“ werden soll, so hebt er jetzt die „Integration beider relativer Totalitäten“ hervor, zu der in dem nachfolgenden Dritten Teil der Rechtsphilosophie, gewidmet der „Sittlichkeit“, ausgeführt wird. Der Zerfall der „Einheitsnatur“ scheint hiermit wieder in Frage gestellt. Aber es bleibt dabei: Der alte Zustand wird dauerhaft durch einen neuen abgelöst. Nur ist es eben nicht so, dass das vormalige Ganze durch die jetzigen Teile ersetzt wird (oder gar nur durch einen Teil!), sondern dass auch das Ganze nur „relativiert“ wird. Also keine „Mechanik“, keine bloß „äußerliche und mechanische“78 Betrachtung des Umschlags. Entschieden wendet er sich gegen sie und weist auf das Resultat einer solchen hin: Sie führt dazu, „dass die Teile als selbständige gegeneinander und gegen das Ganze sind.“79 Ein Standpunktwechsel80. Bisher hatte Hegel die beiden Naturen nach ihrer Trennung anhand der Kategorien „Recht“ und „Moral“ nebeneinander bzw. hintereinander dargestellt. Jetzt relativiert er die Trennung, indem er mit der „Sittlichkeit“ die veränderte, aber nicht weggefallene Position des „Ganzen“ hervorhebt. Was eben noch aus der Welt schien, die „Einheits-Natur“, taucht wieder auf. Was soeben noch Totalität war, die beiden Teil-Naturen, wird zur „relativen“ Totalität zurückgestuft. Begründete er eben noch die Freiheit der „produzierten“ Natur und ihrer Subjekte, so wendet er sich jetzt der Freiheit des Ganzen zu. Alle drei Naturen bilden auch weiterhin einen Verbund. Die „Einheitsnatur“, das „Ganze“, bleibt als Kraftzentrum bestehen und wirkt auf die Teile ein. Und dennoch ist ein qualitativ neuer Zustand erreicht. Wie weit geht der Zerfall der „Einheits-Natur“? Wie weit geht die Verselbständigung der „Teil-Naturen“? Was ergibt sich daraus?

76 § 119 E/Z 1. 77 Siehe dazu § 141 R. Der Gedanke ist weitergeführt in § 184 R, wo er ebenfalls, in Bezug auf die bürgerliche Gesellschaft, die „relative Totalität“ hervorhebt. 78 § 135/Z E. 79 § 136 E. 80 Was bisher „begriffslogisch“ aus der Sicht der Teil-Naturen und ihrer „Totalität“ gesehen wurde, also „rechtlich“ und „moralisch“, wird jetzt aus Sicht der „Einheitsnatur“ dargestellt, also „sittlich“. Diese unterschiedliche Sichtweise in ihrer Einheit zu sehen tut sich die Hegelforschung schwer, wie dies z.B. bei K.-H. Ilting (Zur Dialektik in der ‚Rechtsphilosophie‘, HJ 1975, S. 38–44) deutlich wird. Hegel selbst erläutert seine Arbeitsweise in einem aus der Vorlesung 1825 oder 1828 stammenden Zusatz zu § 408 E = MM 10, S. 170 f.

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Unverständliche Fragen für den, der die Dialektik nicht zu handhaben weiß. Unverständliche Fragen auch für jene, die mit dem „feudalen Gemeinwesen“ überhaupt das „Ganze“ untergegangen sehen. Weder die Liberalen81 noch Marx/Engels folgen Hegel. Gemeinsam ist ihnen, dass sie das „System“ und mit ihm die hegelsche „Begriffslogik“82 verwerfen. Beide gehen davon aus, dass nun die bürgerliche Gesellschaft den Platz des „Ganzen“ eingenommen hat, dass vom vormaligen „Ganzen“ nichts weiter verbleibt als ein „feudaler Restposten“.83 Das verkennt das Besondere dieser Ablösung. Übersehen wird, dass eine der vormals zum „Politischen“ zählenden Naturen nun daraus verbannt ist. Begriffe sind für Marx/Engels „die Abbilder der wirklichen Dinge“84. Und nur was einen Schatten wirft, ist für sie „wirklich“. Damit ist das „gestaltlose“ Sein zum „Unwirklichen“ gemacht – und mit ihm der hegelsche Begriff. Das zieht logische Unstimmigkeiten85 nach sich. Sie zeitigen jene enorm praktischen Konsequenzen, von denen noch zu reden sein wird. Die wohl wichtigste: Die im „System“ aufbewahrte „Einheitsnatur“ gerät aus dem Blick. Das ist deshalb folgenreich, weil sie aus sich selbst heraus nie wieder Gestalt erlangt. Das „gestaltlos“ gewordene Gemeinwesen harrt darauf, zur „Vernunftgestalt“ gebracht zu werden. Und die „Idee“ erinnert an diese Aufgabe. Sie haben wir im Blick, wenn wir die „Aufhebung“ zu Ende bringen. Sie bezeichnet den im Bewusstsein abgespeicherten Merkposten, von dem aus wir die „Vernunftgestalt“ erschließen. Es ist also nicht so, wie E. Bloch86 meint, dass Hegel vom „logischen Ansich“ unver81 Ilting verweist darauf, dass so gut wie alle Rezensenten der „Rechtsphilosophie“ und auch die späteren Arbeiten dazu diesem Standortwechsel mit Unverständnis begegnen und ihn mit „Akkommodation“ und „Servilität“ zu erklären suchen. Auch Ilting selbst sieht hierin „ein Zurückweichen Hegels vor seinen eigenen liberalen Prinzipien“ (VRph 1, S. 106). 82 Für Marx/Engels siehe dazu: MEW 20, S. 334 und MEW 21 (Ludwig Feuerbach ...), S. 292 f. Schon sehr früh, beim Abfassen der „Heiligen Familie“, kommen sie überein: Wir „überlassen ... den Hegelschen Begriff ... [seinem] Schicksal“ (MEW 2, S. 145). 83 Dazu bereits: B. Rettig: Hegels sittlicher Staat. Bedeutung und Aktualität, Köln, Weimar, Wien 2014, S. 48–55. Und in dieser Arbeit: Kapitel 3. Jedenfalls ist es so, dass beide, Liberalismus und Marxismus, den Hinauswurf der „organischen“ Natur aus dem „Politischen“ absegnen – wenn auch mit je anderer Begründung. 84 MEW 21, S. 292. 85 G. Dulckeit (System und Geschichte in Hegels Philosophie, ZDK4 [1938], S. 33) äußert den Gedanken, dass die Begriffslogik unter anderem die Aufgabe hat, eine „konstruktive Verfälschung der Wirklichkeit“ infolge des Anknüpfens nur an die Gestalt durch eine Art (begriffs)logische Richtigkeitskontrolle zu verhindern. 86 Und vor ihm andere, angefangen bei Schelling über Feuerbach zu Marx, die ihm den Vorwurf machen, die Natur zu „logifizieren“. (Siehe dazu: R.-P. Horstmann, a.a.O., besonders S. 204.)

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mittelt zu einem Zustand kommt, „wo Steine fallen, Mägen verdauen, Menschen sich umbringen.“87 Er verkennt, dass es ein Sein in der Mitte gibt und eine von ihm ausgehende Vermittlung. Gegen das „Leerlassen dieser Mitte“88 wendet sich Hegel. Eine neue Gestalt muss her. Die „naturwüchsige“ muss ersetzt werden durch die „Vernunftgestalt“, durch die „begriffene“ Gestalt. „[D]er Begriff ist die zweite oder die Negation dieser Negation“. Er ist „das wiederhergestellte Sein, aber als die unendliche Vermittlung und Negativität desselben in sich selbst. ... Der Begriff ... ist die Wahrheit des substantiellen Verhältnisses, in welchem Sein und Wesen ihre erfüllte Selbständigkeit und Bestimmung durch einander erreichen.“89 Was gestaltlos ist, ist deshalb nicht bloß ein Spuk. Es ist lediglich eine andere Weise des Seins; das „gestaltlose Sein“ der „Wesenslogik“. In der „Begriffslogik“ wird gezeigt, wie es als „begriffenes Sein“ zum Baumaterial der „Vernunftgestalt“ wird. Die „Einheitsnatur“ ist also nicht für alle Zeiten aus der Welt, sondern harrt darauf, aus ihrer „Gestaltlosigkeit“ in die neue „Gestalt“ überführt zu werden. Was aber ist mit ihrer Vermittlungsfunktion, solange das nicht geschehen ist? Auch das „gestaltlose Sein“ wird vermittelnd tätig. Aber unerkannt, spontan; die Korrektur erfolgt im Nachhinein – über Krisen und Kriege, über das, was Marx den „naturgesetzlichen Gesamtprozess“ nennt. Das Beispiel E. Bloch zeigt, wohin es führt, wenn das „gestaltlose Sein“ ignoriert wird: Die „Entgegengesetzten“ bleiben unvermittelt. An die Stelle der Brücke tritt für ihn ein Graben – ein Graben, den er mit „Metaphysik“ gefüllt sieht. Das „Wesen“ wird so für ihn zum trojanischen Pferd, mit dem Hegel das „Alte“, das „Reaktionäre“ in die neue Zeit hineinschmuggelt.90 Verkannt wird damit, dass das „Vorwärtsgehen“ zur jetzt fälligen „Vernunftgestalt“, „ein Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften ist, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt und in der Tat hervorgebracht wird.“91 Das ist eine Erkenntnis, die – wie sich noch

87 E. Bloch, a.a.O., S. 189. Hegel würde ihm vorhalten, dass das „gestaltlose Sein“ nicht für jene „bequeme“ Philosophie existiert, die sich „im ruhigen Bette des gesunden Menschenverstandes“ bewegt (Phän, S. 64 f.). 88 NR, S. 473. 89 L (B), S. 28. 90 So scheint es M. Theunissen (Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a.M. 1980, S. 306) zu sehen. Er meint, dass Hegel über das „Wesen“ das Alte, das Reaktionäre zurückkehren lässt, dass über das „Wesen“ eine „Rückkehr“ betrieben wird, die ein „Rückfall“ ist; eine „skandalöse“, „zum Rückfall verkommene Rückkehr“. 91 L (S), S. 59 f.

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zeigen wird – Dreh- und Angelpunkt der gesamten Staats- und Rechtsphilosophie ist. Die „konstitutionelle Monarchie“ ist für Hegel die „Vernunftgestalt“ des „Gemeinwesens“. Unter ihrem Dach sind beide Naturen als „relative Totalitäten“ vereint. Mit ihr wird die „Idee“ der Natur „Gestalt“; mit ihr ist die primäre Natur vor der Ausstoßung aus der politischen Organisation gerettet und bleibt ein vom Staat repräsentiertes Subjekt derselben. Aber weil so sowohl die eine als auch die andere Natur relativiert wird, erntet Hegel Kritik von beiden Seiten. Soweit davon die bürgerliche Gesellschaft betroffen ist, wird hierin die „rückwärts gewendete [Seite] am Januskopf der Hegelschen Dialektik“92 gesehen, wird er zum Befürworter des preußischen Machtstaates gestempelt. Soweit die Relativierung sich gegen die „primäre“ Natur richtet, wird gerügt, dass er die Natur „verkleinere“93 – was zeige, dass seine Philosophie einseitig für die industrielle Gesellschaft und gegen die Natur Partei ergreife.94 Gegen solche Vereinseitigungen gewandt schreibt G. Rohrmoser: „Die Verdächtigung der hegelschen Theorie als fortschrittlich oder als reaktionär geht insofern am Kern der hegelschen Position vorbei, als sie unterstellt, dass die Bejahung oder Verneinung der bürgerlichen Gesellschaft dem Begriff unmittelbar entspringe, den Hegel von ihr in seiner Rechtsphilosophie entwickelt hat.“95 Der gegen seinen Staat gerichtete Vorwurf wäre richtiger gegen jenen Staat adressiert, der heute weltweit vorherrschend ist: den „Not-und Verstandesstaat“. Denn auf ihn, der sich als Geschäftsführung der bürgerlichen Gesellschaft versteht, trifft zu, dass er mit dieser gegen die „primäre“ Natur agiert. 92 E. Bloch, a.a.O., S. 117. 93 Dilthey (a.a.O., S. 248/253), der diese Stoßrichtung der hegelschen Naturphilosophie verkennt, sieht hierin eine „rückständige Behandlung der Natur“ – gemessen an Zeitgenossen wie A. v. Humboldt, Mill, Comte –, die ihren tieferen Grund wiederum in der „Naturverachtung Hegels“ habe. Ähnlich E. Bloch, der in Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, Berlin 1955, S. 241 Hegel eine „unleugbare Naturfeindschaft“ unterstellt. 94 So urteilt K.M. Meyer-Abich 1990 (Naturordnung und Menschenrecht, in: T. Evers [Hrsg.], Schöpfung als Rechtssubjekt?, Hofgeismar 1990 [Hofgeismaer Protokolle Nr. 269], S. 24). Mir scheint, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Liest man vom gleichen Autor Praktische Naturphilosophie. Erinnerung an einen vergessenen Traum, München 1997, kann man feststellen, dass das dort Geschriebene mit Hegels Anliegen (wie ich es verstehe) in weiten Teilen übereinstimmt. Ausgewogener beurteilt Mayer-Tasch (Das Ganze und die Glieder. Zur Genealogie der ökologischen Idee, in: ders. (Hrsg.), Natur denken. Eine Genealogie der ökologischen Idee. Texte und Kommentare. Bd. 2, Frankfurt a.M. 1991, S. 11–26), der ja ebenfalls zu den Pionieren der modernen Ökologie zu rechnen ist, den Beitrag Hegels zu einer solchen. 95 G. Rohrmoser: Hegels Lehre vom Staat und das Problem der Freiheit, Der Staat 4 (1964), S. 402.

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Die „Idee“ bezieht sich auf ein Materielles, das durch seine Materialität als „Kraft“96 auf die Teil-Naturen einwirkt; zu Lasten der „produzierten“, zu Gunsten der „primären“. Das ist gegen den damaligen Zeitgeist, der zwar eine Romantisierung der Natur zulässt, sie sonst aber zum Freiwild erklärt. Hegels nüchterne Auffassung sticht ab von der gerade modischen Naturschwärmerei. Solche „Naturschwindelei“ hilft nicht weiter. Ja, es ist so, dass die Ergebnisse solcher Philosophie – er verweist auf Schelling – „statt durch die denkende Vernunft gepflegt zu werden ... von ihren Gegnern als von ihren Freunden breit und platt geschlagen“97 werden und letztlich in einem Natur-Positivismus enden. Was nutzt es, einen möglichst schönen Naturbegriff vorzulegen, wenn nicht gleichzeitig dieser schönen Natur Schutz vor ihrem Gegenüber geboten wird? Solche Philosophie versagt also dort, wo Hegel gerade über die Relativierung beider Naturen und, wichtiger noch: über die Institutionalisierung des „gestaltlos“ Gewordenen, der „primären“ Natur einen effektiven Schutz bieten kann. Dies wissend, stellt er sich dem „romantischen“ Naturbegriff entgegen: „Was wir hier treiben, ist nicht Sache der Einbildungskraft, nicht der Phantasie; es ist Sache des Begriffs, der Vernunft.“98 Abstrakt gesehen ist es richtig, dass bei Hegel beide Naturen Abstriche ihrer „Freiheit“ hinnehmen müssen. Vom Standpunkt der „produzierten“ Natur gesehen, ist seine Philosophie also insoweit eine Philosophie der „Unfreiheit“. Man sollte aber sehen, dass deren Freiheit auf Kosten der „Ursprungsnatur“ geht, dass die Freiheit der Ersteren jetzt die „Vogelfreiheit“ der Letzteren ist. Die Relativierung, die beide Naturen durch Hegel erfahren, verbindet sich also mit dem unschätzbaren Vorteil, dass die „primäre“ Natur in das jetzige Gemeinwesen inkorporiert, damit resubjektiviert und repolitisiert wird. Was sich, abstrakt betrachtet, als eine Beschneidung ihrer Freiheit, was sich als Nachteil zeigt, ist also bei näherer Betrachtung für sie ein Gewinn. Denn auch diese Natur steht jetzt (wieder) als „Mitsein“ im Sinne K.M. Meyer-Abichs99 bzw. der Politischen Ökologie überhaupt unter dem Schutz des Gemeinwesens. ***

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Siehe dazu L (W), S. 148 ff. Einleitung/Z E 2 (MM 9), S. 9. Ebd., S. 10. Vgl. K.M. Meyer-Abich, Praktische Naturphilosophie, a.a.O. Das „Mitsein“ ist die zentrale Kategorie dieser Arbeit.

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Was unterscheidet den philosophischen vom naturwissenschaftlichen Naturbegriff? Hegels Antwort: die „Idee“. Sie führt zur „Vernunft“ und zum „Vernunftbegriff“. Die „Idee“ ist „überhaupt etwas Vernünftiges“, nämlich das „objektiv Wahre“.100 Die „Vernunft“ steht für den sich selbst begreifenden Geist. Vernünftig wird gedacht, wenn dieser erkennt, dass das Objekt „Fleisch von seinem Fleische“101 ist. Ein Denken also, dessen Gegenstand das „Ganze“ ist, eingeschlossen darin: das denkende Subjekt selbst, wissend um seine Zugehörigkeit zu zwei, sich antagonistisch gegenüberstehenden, Naturen. Im Unterschied dazu ist das bloß „verständige“ Denken auf ein ihm gegenüberstehendes Objekt gerichtet. Verstandesdenken ist naturwissenschaftliches Denken; es dient der „Aufklärung“ eines Gegenüber, eines Objekts; es dient der Beherrschung der einen durch die andere Natur. Eine notwendige, eine legitime Denkart. Aber sie ist dort fehl am Platze, wo es um das „Ganze“ geht. Denn dieses hat bereits rein begrifflich kein solches Gegenüber in seinen Teilen. Von daher versteht sich der ständige Kampf, den Hegel gegen die „Verunstaltungen“ führt, die aus dem „Einbruch des verständigen Denkens in eine Sphäre [entstehen], die dem vernünftigen Denken vorbehalten ist.“102 Denn es liegt nahe, dass das „Ganze“ mit den Augen eines Teils gesehen wird, der sich selbst als Ganzes geriert. Jede der beiden Denkarten hat also „Zuständigkeiten“. Mit Hegel spricht T. Litt daher von dem „bedenklichen Hang“ des Verstandes, „im Vertrauen auf die an seinen Gegenständen bewiesene Leistungskraft die Grenzen seiner Zuständigkeit zu überschreiten“103. Solches „Verstandesdenken“, von der Philosophie praktiziert, führt – wie bei Fichte – zu einer „verkehrte[n] Weise“104 der Naturbetrachtung. Die „Einheitsnatur“ kommt ihm nicht in den Blick. Sein Gegenstand ist das Äußerliche und Gegenüberstehende. Nach Art der Naturwissenschaften105 wird dabei dessen Binnenstruktur aufgeklärt. Abseits bleibt hingegen die spezifische Aufgabe der Philosophie, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie das aus der „Entzweiung“ resultierende Schicksal des Menschen zu meistern ist.106

100 101 102 103 104 105 106

L (B), S. 205. Theodor Litt: Hegel. Versuch einer kritischen Erneuerung, Heidelberg 1953, S. 180. Ebd., S. 99. Ebd., S. 178. Einleitung/Z E 2 (MM 9, S. 10). Im Falle des „Geistes“: der Psychologie – siehe § 4 R/A. Das verkennt Marie-Luise Heuser (Schellings Kritik des Hegelschen Naturbegriffs, HJ 1989, S. 135–142), die Hegel (mit Schelling) eine „unevolutionistische Naturkonzeption“ vorhält, weil sie (mit Schelling) den (diesen) Schwerpunkt nicht erkennt, der der Philosophie bei der Bearbeitung der „Naturfrage“ zukommt.

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Hut ab vor dem, was die Philosophie der Aufklärung leistet. Sie hebt in den Blick, was sich in der Praxis gerade Bahn bricht: die „produzierte“ Natur. Hut ab vor dieser „großen Anregung“. Aber inzwischen, nach „der ersten Befriedigung, welche diese Entdeckung gewährt hat“, zeigt sich deren Manko. Es besteht darin, dass sie alle Natur an Maßstäben misst, die der „produzierten“ Natur entnommen sind. Die Folge: Die „primäre“ Natur ist damit gezielt aus dem Bereich des Politischen verstoßen. Das erklärt die „Abgunst“107, unter der sie Ende des 18. Jahrhunderts leidet. Fichte und Schelling versuchen, dieses Manko auszuräumen, und experimentieren dazu mit „zwei Naturen“108.Aber die Weise, wie sie dies tun, wird der Sache nicht gerecht. Fichte z.B. verlagert im Rahmen seiner Entgegensetzung von „Ich“ und „Nicht-Ich“ den „Einheitspunkt“ in seine „Ich-Natur“. Das ist für Schelling nicht „philosophisch“ genug gedacht. Er hebt stattdessen das Gemeinsame beider Naturen hervor und stellt dieses in die Mitte seiner Naturphilosophie. Unbeachtet bleibt aber bei ihm die „Entgegensetzung“ nebst dem Umstand, dass diese vom „Ganzen“ nicht beseitigt, sondern nur vermittelt wird. Beide verfehlen das, was erst Hegel in seiner Philosophie herausarbeiten wird: jene „relative Totalität“, die dem Zusammenspiel der Teile und des Ganzen das besondere Gepräge geben wird. Hegel überwindet das Manko beider Philosophien. Wie Schelling sieht auch er die Natur „philosophisch“. Aber über diesen hinaus sieht er sie als System Natur. Er hat damit im Blick, was die beiden anderen übersehen: den zwischen den Naturen stehenden Antagonismus, die leergelassene Mitte, das „gestaltlose Sein“, das Fehlen einer Vermittlung. Diese dritte, diese „System-Natur“ ist Gegenstand der Philosophie; ihr gilt Hegels Augenmerk. Über sie führt er beide Naturen gleichberechtigt in die politische Organisation zurück. Beide sind sie „Tätige“, „Produzierende“, darin stimmt er mit Schelling überein. Insoweit sind sie „identisch“. Dann aber trennen sich die Wege. Denn Hegel sieht, dass der Zweck des Produzierens jeweils ein anderer ist. Das macht die Naturen zu „Entgegengesetzten“, deren „Einheitspunkt“ außer ihnen liegt. Das alles entzieht sie einer naturwissenschaftlichen Erklärung. Das erkannt zu haben ist seine große, aber bis heute kaum gewürdigte, ja überwiegend missverstandene Leistung. Von daher ist befremdlich, dass eher der „Naturenthusiast“ Schelling109 Favorit der Politischen Ökologie ist, nicht aber Hegel. 107 Einleitung/Z., MM 9, S. 9. 108 Bezüglich Schelling: Hans-Jörg Sandkühler: Revolution, bürgerliche Gesellschaft, Recht und Staat. Schelling und Hegel, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 2 (2004), S. 287–308. 109 G. Lukács (Der junge Hegel, a.a.O., S. 320) in Anspielung auf eine Bemerkung des jungen Marx in seinem Brief an L. Feuerbach vom 3. Oktober 1843. Schelling führt seine Naturphilosophie nicht zu einem Begriff von „Staat“ fort. Er bewegt sich „unter Blumen und Sternen“, wo er es „gar gewaltig blühen und strahlen“ lässt (H. Heine: Zur

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Noch befremdlicher ist, wenn selbst eine naturalistisch-empirische Sichtweise110 à la A. Comte mehr Anklang findet als die seine. Denn hier wie dort wird die Natur außerhalb des Menschen gesucht und gefunden. Zwei Naturen, die man zwar physikalisch, nicht aber philosophisch über einen Kamm scheren darf. Zwei Menschen, die man zwar biologisch nicht trennen kann, aber logisch. Zwei Naturen, zwei Menschen, die als „Entgegengesetzte“ nicht physikalisch, nicht biologisch, sondern nur philosophisch fassbar sind. Deswegen insistiert Hegel in den Eingangsparagrafen zur „Naturphilosophie“ (§§ 245 f.) auf einer Betrachtungsweise, die nicht konkurriert mit jener der Naturwissenschaften, sondern sich von ihr wie beschrieben unterscheidet.111 Der philosophische Naturbegriff zielt auf eine „logische Ansicht“ der Natur. Und, bezogen auf das Leben: Er zielt auf das „logische Leben als reine Idee“ – im Unterschied „von dem Naturleben, das in der Naturphilosophie betrachtet wird“112. Damit ist gesagt: Es geht hier nicht darum, die eine oder andere Natur zu beschreiben. Nicht Empirismus ist angesagt. Aufgabe ist vielmehr, die Ebene der Vermittlung zu finden113; hieraus ergibt sich das jetzige „Bedürfnis der Philosophie“114.

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Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, hrsg. v. Jürgen Ferner, Stuttgart 1997, S. 131). Käme er von dort zu einem Staat, könnte dieser eigentlich nur das sein, was gemeinhin als „Öko-Diktatur“ bezeichnet wird. G. Irrlitz (Einleitung, in: G.W.F. Hegel, Jenaer Schriften, hrsg. u. eingel. v. G. Irrlitz, Berlin 1972, S. XVIII f.) weist darauf hin, dass Schelling seinen fruchtbaren Gedanken der „Einheit von Natur und Geschichte“ nicht zu Ende führt, ja ihn spätestens in seiner „Philosophie der Kunst“ von 1802 aufgibt. Zur Leistung Hegels gehört also, ihn aufgegriffen und zu Ende geführt zu haben. Für Hegel Ausdruck eines „rohen Empirismus“ (MM 9, S. 9). Was deutlich wird: Der Weg von dem „erdichteten“ Naturzustand der Aufklärung zum romantischen Naturbegriff Schellings, aber auch zum positivistischen Comtes ist nicht weit. Zu ihnen führt ein gerader Weg, wenn die Dialektik ausgelassen wird. Siehe dazu H.F. Fulda, G.W.F. Hegel, München 2003, S. 133 f., der dort zum Ausdruck bringt: „[I]n der philosophischen Betrachtung der Natur“ geht es „ausdrücklich nicht mehr um eine theoretisch-wissenschaftliche Erkenntnis“, wie sie die Biologie, die Chemie oder die Physik anstrebt. L (B), S. 212 f. Ein Blick auf den Marxismus: Dieser unterscheidet in einen „historischen“ und in einen „dialektischen“ Materialismus und zerreißt damit den Faden zur „Einheitsnatur“ und zur „Vermittlung“. Eine Naturphilosophie im Sinne Hegels ist damit für ihn nicht nur entbehrlich, sondern „heute ... endgültig beseitigt.“ (MEW 21, S. 295) DS, S. 20. Hier, in der Differenzschrift, finden wir die erste und bleibende Aussage dazu, was die Philosophie jetzt, nach der „Entzweiung“, zu leisten hat und wohin der Mangel der Philosophie seiner Zeit führt.

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Der physikalische115 Naturbegriff hingegen hat eine abstrakte, quantifizierte Natur zum Gegenstand und ist an der „produzierten“ Natur orientiert. Zu „Philosophie“ gemacht, konkurriert er mit der Physik116 und betrachtet sich insoweit als „eine neue Wissenschaft“117. Aber als Physik ist er keine Philosophie mehr und als Philosophie kann er keine Physik sein. Hier stimmt also etwas nicht. Solche Naturphilosophie verfehlt ihren Gegenstand. Bleibt es bei ihr, ist das für die Philosophie ein „ruinöser Irrtum“118. Hegel setzt ihr daher eine solche entgegen, die die menschliche Natur zum Gegenstand hat – was für ihn heißt: zwei Naturen. Er stellt also gegenüber: Die „eigentümliche Natur“119 des Menschen und die Natur, die Gegenstand der Physik ist. Erstere Natur kann nur philosophisch aufgeklärt werden; nur die philosophische „Art und Weise des Denkens“120 führt hier zum Ergebnis, nicht die physikalische.121 Letztere bringt vielmehr ein „fremdartiges Interesse“ in das Thema hinein, und in der Folge wird das, „worauf es bei der Erkenntnis der Wahrheit ankommt, verdunkelt.“122 Die Wahrheit des Geometers ist eine andere als die des Philosophen. Denn sie gelangt „nicht zu Unterschieden des Wesens, nicht zur wesentlichen Entgegensetzung oder Ungleichheit, daher nicht zum Übergange des Entgegengesetzten in das Entgegengesetzte, nicht zur qualitativen, immanenten, nicht zur Selbstbewegung“, sondern „abstrahiert“ davon.123 Es gilt also, zunächst „den Unterschied von Physik und Naturphilosophie“124 herauszuarbeiten. Dabei zeigt sich: Den Physiker interessiert die „Stofflichkeit“ der Natur. Er fragt: Woraus besteht sie? Ihn interessiert nicht, 115 Mehr noch der mathematische; dieser hat insofern also etwas Bestechendes an sich, weil er eine scheinbar neutrale, für alle Natur gültige Logik zur Anwendung bringt. Folgerichtig also: die Übertragung der Methode der Mathematik „auch auf die Philosophie“ (L [B], S. 38) durch Spinoza, Wolff u.a. 116 Siehe dazu: L (S), S. 37 f. und L (B), S. 16 f. 117 Einleitung/Z E 2 (MM 9), S. 11. 118 K. Jaspers: Schelling. Größe und Verhängnis, München 1955, S. 118. 119 L (S), S. 10. 120 Einleitung/Z E (MM 9, S. 11). 121 In diesem Zusammenhang ein Wort zu dem „für uns“ in § 381 E. Ich denke, man muss in diese Worte nicht so viel hineingeheimnissen (wie M. Quante in der angeführten Arbeit), wenn man die Polemik Hegels gegen den Natur- und Geistbegriff der „Erfahrungswissenschaften“, die seine gesamte „Logik“ durchzieht, veranschlagt. „Für uns“ soll m.E. nichts weiter heißen als: für uns Philosophen ist das so. Für uns gilt dieser Begriff, während für die Naturwissenschaftler ein anderer gilt. § 381 steht in engem Bezug zu § 378, wo sich Hegel mit Betrachtungsweisen auseinandersetzt, die die „einzelnen empirischen Erscheinungen des Geistes“ zum Gegenstand haben. 122 Phän/Vorrede, S. 12. 123 Phän/Vorrede, S. 42 u. 45. 124 Einleitung/Z E (MM 9, S. 11).

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ob die eine Natur „primär“ ist und die andere „sekundär“, ob die eine hervorbringend und die andere hervorgebracht ist. Er sieht hier wie dort eine Anhäufung von Atomen und Molekülen. Genereller: Der Physiker darf von der „Idee“ abstrahieren. Er darf ignorieren, dass „das Subjektive, das nur subjektiv, das Endliche, das nur endlich, das Unendliche, das nur unendlich sein soll und so ferner, keine Wahrheit hat, sich widerspricht und in sein Gegenteil übergeht, womit dies Übergehen und die Einheit, in welcher die Extreme als aufgehobene, als ein Scheinen oder Momente sind, sich als ihre Wahrheit offenbart.“125 Er darf die Natur als Totalität betrachten. Er darf als Gerade betrachten, was tatsächlich ein Kreis ist.126 Er darf sich zwecks Erkenntnisgewinns aus der Einheit ein Moment derselben „herausklauben“127. Und er darf sie mit dem Verstand betrachten. Ihm ist erlaubt, was dem Philosophen verboten ist. Naturwissenschaften sind Verstandeswissenschaften. Die Philosophie hingegen ist um die „Idee“ zentriert – oder, was dem gleich steht: um die Vernunft. Der Unterschied ist in § 214 E näher ausgeführt. Der Verstand ist auf das Erkennen eines Entgegengesetzten gerichtet, das um der Erkenntnis willen verabsolutiert und „unlebendig“ gemacht wird. Gegenstand ist eine „der Idee entfremdet[e] ... Natur [, die] nur der Leichnam des Verstandes“128 ist. Die Vernunft hingegen hat ihren Ausgangspunkt in der Einheit, die „als die Einheit des Ideellen und Reellen, des Endlichen und Unendlichen, der Seele und des Leibs“ gefasst wird. Für den Verstand sind das sich gegenseitig ausschließende Gegenstände. Er hat daher „leichte Arbeit, alles, was von der Idee gesagt wird, als in sich widersprechend aufzuzeigen.“129 Der Naturwissenschaftler begnügt sich mit „Wechselwirkung“ von Totalitäten, also mit „äußerlicher“ Reflexion, „die nicht in die Idee selbst“ fällt. Das ist nicht Dialektik. Das ist nicht Vernunft. Denn alle drei sind miteinander verknüpft; „die Idee ist selbst die Dialektik“. Idee = Vernunft = Dialektik. Das vom Verstand geschiedene, von ihm endlich gemachte und mit dem „falschen Schein der Selbständigkeit“ Versehene wird über sie „in die Einheit zurückgeführt.“130

125 § 214/A E. 126 Siehe dazu H. Zeltner: Schelling, Stuttgart 1954, S. 114 f. Zeltner macht damit auf eine Leistung Schellings aufmerksam, die Hegel übernimmt und weiterführt. 127 § 214/A E. 128 § 247/Z E. (MM 9, S. 25). 129 § 214/A E. Bei F. Engels (MEW 21, S. 295) findet sich folgender Satz: „Heute ist die Naturphilosophie endgültig beseitigt. Jeder Versuch ihrer Wiederbelebung wäre nicht nur überflüssig, es wäre ein Rückschritt.“ Aus der Sicht des Marxismus ist es logisch, dass die Naturwissenschaften die Naturphilosophie abgelöst haben, weil er blind ist für den unterschiedlichen Gegenstand beider. 130 § 214/ E.

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Der Naturwissenschaftler favorisiert das „Stoffliche“. Der Philosoph hingegen abstrahiert davon. Da die „produzierte“ Natur sich nicht durch das „Stoffliche“ von der anderen unterscheidet, sondern durch ein „Geistiges“131, fragt er: Was ergibt sich aus der Existenz zweier gegensätzlicher Naturen für den Menschen? Wie kann der Gegensatz überbrückt bzw. vermittelt werden? Beide, Naturwissenschaftler und Philosoph, fragen: „Was ist die Natur?“132 Ersterer antwortet darauf: Hier und da eine Ansammlung von Atomen und Molekülen, die chemisch, physikalisch, biologisch zu bewerten ist – und schließt daraus auf eine einzige Natur. Der qualitative Unterschied zwischen einem Kalkfelsen und daraus gefertigten Autobahnen oder Wohnsilos tritt zurück. Der Philosoph hat den Gegensatz ins Auge zu fassen. Er antwortet, dass beide Naturen, weil sie durch einen Antagonismus getrennt sind, durch ein Drittes vermittelt werden müssen. Mit dem Ergebnis: Jede der beiden Naturen muss zurückstecken, muss von ihrem Anspruch, „Totalität“ zu sein, Abstand nehmen und sich mit weniger begnügen. Da bisher die „organische“ Natur lediglich als Objekt der Ausbeutung durch die „produzierte“ Natur gesehen wurde, sollte klar sein, dass diese Einschränkung der Ersteren zugutekommt, die Letztere aber in ihre Schranken verweist. Eine Philosophie, die sich dem physikalischen Naturbegriff anschließt, erfasst hingegen nur jene Seite des modernen Menschen, die sich aus seiner Zugehörigkeit zur „produzierten“ Natur ergibt. Aber wie Hegel zeigt: Der Mensch ist „organisch“ und „unorganisch“, er ist „Organismus“ und „Nicht-Organismus“. Eine nur atomistische Betrachtung führt dazu, den Menschen unisono zu Lasten seines „organischen“ Teils „unter die mechanischen und chemischen Verhältnisse der gemeinen Objektivität zurück[kehren]“ zu lassen.133 Beides macht sein Wesen aus. Dieses aber verfehlt, wer nur so oder so herangeht. Der Mensch wird dann getrennt von der Natur – von der einen oder der anderen. Was biologisch gesehen ein Mensch ist, ist philosophisch gesehen „zwei Menschen“. „Logisch“ gesehen ist der Mensch aus Fleisch und Blut spätestens mit der Emanzipation der „produzierten“ Natur ersetzt durch die „Idee“. „Biologisch“ gesehen ist dieser „logische“ Mensch jedoch eine Unmöglichkeit. Wie die „produzierte“ Natur ist auch der „produzierte“ Mensch eine Gestalt, die nur durch Formierung und Anerkennung geschaffen wird. Die biologische Einheit entpuppt sich daher, philosophisch gesehen, als Schein, der dazu genutzt wird, mit „dem Menschen“ zu wuchern, wo in Wirklichkeit nur die „Person“, also der „halbe“ Mensch steht.

131 Vgl. § 4 R – dort in Bezug auf das Recht als einen Teil der „produzierten“ Natur. 132 Einleitung/Z E (MM 9), S. 12. 133 L (B), S. 218.

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Zwei entgegengesetzte Begriffe von „Natur“, die, wie Zunke schreibt, zwar „gleichermaßen modern, aber nicht gleichermaßen fortschrittlich sind“134. Der physikalisch-positivistische sagt nichts aus über die menschliche Natur. Er bestärkt den Eindruck, als sei die „primäre“ Natur ein Äußerliches, ein vom Menschen Getrenntes. Er kommt damit dem Bedürfnis entgegen, eine Sonderstellung des Menschen zu behaupten und sein unnatürliches Verhalten dieser Natur gegenüber zu beschönigen und zu rechtfertigen.135 Anders Hegel. Ihm zeigt sich die Zerstörung der Natur als die Zerstörung auch des Menschen. Er lässt daher keinen Raum für jene Anthropozentrik, die uns den Blick auf den Ernst der Lage vernebelt und einem konsequenten Handeln entgegensteht. Zusammenfassend hierzu: Soweit Hegels Philosophie von Aktivisten der ökologischen Bewegung mit Skepsis betrachtet, Schelling ihm vorgezogen wird136, wird das seiner Philosophie nicht gerecht. Es geht nicht um einen möglichst „schönen“ Naturbegriff. Gefragt ist ein wahrer und realistischer.137 Ein solcher ist bei Hegel zu finden, in Ansätzen bei Schelling, nicht bei Fichte und Marx/Engels.138 134 Ch. Zunke, a.a.O., S. 62 135 Siehe dazu J. Wilke: Was ist Natur? Natur als Gegenstand der Naturwissenschaften, in: Zum Naturbegriff der Gegenwart. Kongreßdokumentation zum Projekt „Natur im Kopf“, Stuttgart, 21.–26. Juni 1993, Bd. 1, hrsg. v. d. Landeshauptstadt Stuttgart, Kulturamt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 28. 136 Schelling hat seine Naturphilosophie nicht ausdrücklich in einen Staats- und Rechtsbegriff überführt; alles bleibt nur angedeutet. Man kann nur spekulieren, was dabei herausgekommen wäre, hätte er es getan. Aber es liegt nahe, an ein Ergebnis à la Haller zu denken. Gut möglich, dass die bürgerliche Gesellschaft und die „Person“ darin „gestrichen“ wären. Der Mensch wäre wiederhergestellt – aber der mittelalterliche Mensch. Zum Naturbegriff Schellings gehaltvoll: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: „Von der wirklichen, von der seyenden Natur“. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. Die Abhandlung endet mit dem problematischen Fazit: „Für die Bewältigung der ökologischen Krise werden wir uns allerdings naturphilosophisch nur auf Schelling, nicht auf Hegel, berufen und stützen können.“ (S. 202) 137 S. Žižek (Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Berlin 2014, S. 358) plädiert unter Bezug auf Hegel für eine „radikal-emanzipatorische Politik“, die „weder auf die vollkommene Beherrschung der Natur noch auf das demütige Hinnehmen der Herrschaft von Mutter Erde über uns Menschen ausgerichtet“ ist. 138 Fichtes „Wissenschaftslehre“ ist eine Absage an eine Philosophie, deren Gegenstand das „Ganze“ (also die Einheit zweier Naturen) ist; sie ersetzt Letzteres durch seine „IchNatur“. Marx/Engels teilen diesen Ansatz. Denn auch für sie ist die „primäre“ Natur bloßes Objekt und daher ausschließlich Gegenstand der modernen Naturwissenschaften. Der Bedarf an einer Naturphilosophie ist für Engels „heute … endgültig beseitigt. Jeder Versuch ihrer Wiederbelebung wäre nicht nur überflüssig, er wäre ein Rückschritt.“ (MEW 21, S. 295 – Hervorhebung dort.)

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Teil 1 – Schlüsselbegriffe

*** Es sind diese praktischen Folgen aus dem skizzierten Naturbegriff, derentwegen Hegel den „früheren Behandlungsarten des Naturrechts … alle Bedeutung“139 abspricht. Recht und Staat liegen dort auf der Ebene der „produzierten“ Natur. Beide werden ihr zugeordnet, wobei es zwei Fraktionen gibt: jene, die den Staat voranstellt (wie Hobbes), und jene, die (wie z.B. Kant) mit dem Recht beginnt und darüber zum Staat gelangt.140 Gemeinsam ist ihnen, dass beide Male die „primäre“ Natur aus dem „Politischen“ ausgestoßen ist. Hegel geht anders vor. Das Recht ist ein Abkömmling der „produzierten“ Natur. Anders der Staat. Er ist einer Ebene zugeordnet, die weder zur einen noch zur anderen Natur gehört. Weil auf beide Naturen bezogen, obliegt ihm das „Vermitteln“. Daraus ergibt sich der entscheidende Unterschied: Das Recht als Derivat eines Teils begründet nur eine Teilordnung. Der Staat als Repräsentant des Ganzen ist hingegen institutionalisierte Gesamtordnung. Nur scheinbar schließt Hegel sich dem Ausgangspunkt der kritisierten Kollegen an, indem er (wie diese) seine Ausführungen mit dem Recht beginnt. Der fundamentale Unterschied zeigt sich bereits darin, dass er das Recht, mir dem er beginnt, als „abstraktes“, also unvermitteltes Recht kenntlich macht, bei dem es nicht bleiben kann. Die Gewichtung beider Größen ist damit eine völlig andere. Die Überschrift seiner „Rechtsphilosophie“ wäre also noch richtiger gewählt, wenn sie „Grundlinien der Philosophie des Staates“ lautete und das Recht nur im Untertitel Erwähnung fände. Auf jeden Fall macht schon diese Gesamtanlage deutlich, dass Hegels Staat nur wenig mit dem zu dieser Zeit Kontur annehmenden „Rechtsstaat“ zu tun hat, weil dieser auf einer ganz anderen „NaturEbene“ angesiedelt ist als der seine. Was den beiden (Teil-)Naturen durch die „Einheits-Natur“ widerfährt: nämlich „vermittelt“, nämlich relativiert zu werden, widerfährt auch ihren Derivaten „Recht“ und „Moralität“141. Geschähe dies nicht, stünden wir vor jenem unvermittelten Recht, von dem sich Hegel distanziert: vor dem Naturrecht der kritisierten Kollegenschaft, das aus der Sicht der anderen Natur „Naturunrecht“142 ist. 139 NR, S. 437. 140 Man denke an die Entwicklung des Marxismus Anfang des 20. Jahrhunderts. Der „revisionistischen“ Variante, die Marx auf Kant zurückführt, steht die „revolutionäre“ Variante Lenins gegenüber, die an Hobbes und Fichte erinnert. Beide Varianten sind im Werk von Marx angelegt und kommen zu einem Zeitpunkt ans Licht, als der Marxismus sich anschickt, den Staat zu erobern. 141 Sichtbar wird eine gleiche Weise der Darstellung. In der „Logik“ wird nach der „Idee“ nacheinander erst die eine, dann die andere (Teil-)Natur abgehandelt. 142 NR, S. 506, siehe dazu auch: B. Rettig, a.a.O., S. 22 f.

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Von der „Einheits-Natur“ ausgehend stellt Hegel das „Naturrecht“ der Kollegenschaft richtig. Das verkennt, wer von nur einer Natur ausgeht, egal ob von dieser oder jener. Das bis heute bestehende zentrale Missverständnis ist damit vorprogrammiert: Die Ausführungen zum „Recht“ und die Ausführungen zum „Staat“ scheinen unverbunden zu sein. Insbesondere der Staat (sein Staat) scheint von Hegel nur eingeführt zu werden, um einen feudalen Restposten über die Zeit zu retten. Und tatsächlich: Gäbe es nur die „produzierte“ Natur, wäre diese der ausschließliche Gegenstand und es hätte dann nur jener Staat eine Daseinsberechtigung, den Hegel als den „Not-und Verstandesstaat“143 bezeichnet. Gegenüber allen Anfeindungen und Missverständnissen, gerade auch jenen aus dem Lager der ökologischen Bewegung, bleibt jedoch festzuhalten: Hegel und sein Naturbegriff verdienen unbedingte Beachtung. Denn beide stehen den Zielen der Politischen Ökologie näher als jeder andere Philosoph und jeder andere Naturbegriff. Fassen wir zusammen: Der Mensch hat, indem er sie hervorbringt, mit der „produzierten“ Natur auch sich selbst neu erschaffen. Logisch gesehen ist er jetzt „zwei Menschen“. Als „Person“ ist er Teil einer Natur, die scheinbar aus toten Dingen besteht. Aber über jenen Menschen, den sie sich zum Teil macht, wird sie lebendig. Marx schildert das Quidproquo, durch das das Produzierte „gesellschaftliche“, mit einem Willen beseelte, „lebendige“ Dinge wird.144 Die „Lebendigkeit“ wird an die „Dinge“ gehängt, wird gegen sie ausgetauscht, wird zu deren Lebendigkeit. Der „Wille“, der die Person handeln lässt, ist also der Wille dieser Natur, es ist der freie Wille dieser jetzt frei gewordenen Natur.145 Die Logik sagt uns, dass der Mensch als „Person“ und Anhängsel der Dinge insoweit zum Gegenüber jenes Menschen geworden ist, der Teil der primären Natur ist und als Tier vom Instinkt geleitet wird, also „keinen Willen“ hat146. Der Mensch ist zu „zwei Menschen“ geworden, wenn man so will: zu Dr. Jekyll und Mr. Hyde. „Logisch-philosophisch“ sind sie zusammengefasst in der „Idee“. Das Problem aber: Biologisch gesehen haben wir es immer noch mit derselben „Stofflichkeit“ zu tun. Nichts ist zum früheren Menschen hinzugekommen. Das scheint dazu zu berechtigen, weiterhin undifferenziert vom „Menschen“ zu sprechen. He143 Der „Not- und Verstandesstaat“ Hegels ist eher unser heutiger „Rechts- und Sozialstaat“. 144 MEW 23, S. 86 u. 99 f. 145 So sind m.E. die Erläuterungen im Zusatz und in der Anmerkung zu § 4 R wie überhaupt die Ausführungen zum „Willen“ zu interpretieren. M. Winkler (a.a.O., S. 214): „Diese zweite Natur unterwirft sich den Prometheus mit Macht und Zwang.“ Wie die „primäre“ Natur sich das Tier mit Hilfe der Instinkte unterwirft, unterwirft die „produzierte“ Natur sich die „Person“ also mit Hilfe des „Willens“ – ein „apokalyptisches Szenario“ (Winkler), auf das Hegel Bezug nimmt und antwortet. 146 § 4/Z R.

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Teil 1 – Schlüsselbegriffe

gel aber sieht das anders – und es ist auch anders. „Logisch“ gesehen sind es zwei Teil-Menschen, die je für sich und auch beide zusammen etwas anderes sind als der „biologische“ Mensch“. Er ist als Teil der „produzierten“ Natur „Person“ und er ist als Teil der „primären“ Natur „Subjekt“. „Logisch“ gesehen führt das zur „Idee des Menschen“. Problem aber: Diese kann nicht „Gestalt“ werden. Hier, auf der Ebene der Einzelheit, ist die Biologie stärker als die Philosophie. Der real existierende, der Mensch aus Fleisch und Blut, ist nicht teilbar, er ist nicht abtrennbar von seiner Biologie. Er bleibt erhalten. Hierdurch erhalten alle die Oberwasser, die es für das Einfachste und Richtigste halten, den Menschen auf eine Natur zu veranschlagen und anhand jener zu interpretieren, die jetzt das Sagen hat.147 Mit „Person“ scheint damit der moderne Mensch einer modernen Natur gemeint zu sein. Der biologische Befund scheint den logischen Lügen zu strafen. Aber mit ihr schafft sich die „produzierte“ Natur lediglich jenen Akteur, der ihren Zweck realisiert. Hegel macht es anhand der Formierung der körperlichen und geistigen Kräfte zum Arbeitsvermögen, dem Kern-Eigentum, deutlich: Wie ein Stück Land durch Rodung und durch nachfolgende Bewirtschaftung abgesondert und in Besitz genommen wird, werden auch sie vom Naturprodukt „Mensch“ abgesondert und in Besitz genommen. Da dies generell geschieht, niemand davon ausgenommen ist, muss ein Weiteres hinzutreten: die wechselseitige Anerkennung des Formierten und in Besitz Genommenen. Erst sie wandelt den bloßen Besitz in Eigentum und den Besitzer zur „Person“. Wie Hegel in § 57 R formuliert: Der Mensch wird in Gestalt der Person „das Eigentum seiner selbst und gegen andere“; in der Person ist die „Lebendigkeit“ des Menschen mit dem Eigentum zur neuen Qualität verknüpft. Die „produzierte“ Natur und ihr „Zubehör“: Person, Eigentum, Vertrag sind etwas „Geistiges“, wie Hegel in § 4 R formuliert. Er will damit sagen, dass ein zunächst untergründiges, gestaltloses Sein sich dem Menschen aufzwingt, von ihm erkannt und (gegenseitig) anerkannt wird, sobald diese Natur eine nennenswerte Entwicklung erreicht, die Arbeitsteilung eine gewisse Breite und Tiefe angenommen 147 Unter diesem Aspekt die Lösung des jungen Marx: In der „Judenfrage“ plädiert er für eine Befreiung des Menschen, die die „Person“ der bürgerlichen Gesellschaft zum „Menschen“ voranbringt. Der Staat als Repräsentant des „anderen“ Menschen wird, wie dieser „andere“ Mensch auch, gestrichen. Die Lösung also: eine vermeintliche Vermenschlichung der bürgerlichen Gesellschaft. Er macht damit aus Schellings Natur-Utopie eine Sozial-Utopie. (Siehe dazu die kommentierenden Ausführungen E. Blochs, Prinzip Hoffnung 2, a.a.O., S. 252–254, die ersichtlich machen, dass auch er dem hegelschen „Traumbild“ vom Staat als „der Einheit von privater und politischer Existenz“ die „gesellschaftliche“ Lösung als die einzig „mögliche Einheit“ entgegenstellt. Siehe dazu auch die Arbeit von H. Westholm: Stoffwechsel des Menschen mit der Natur – zu einem qualitativen Naturbegriff von Schelling und von Marx, Oldenburg 1986, in der gezeigt wird, dass der Naturbegriff des jungen Marx stark mit dem Schellings verwandt ist.)

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hat, Warenproduktion und -austausch stattfindet. Durch dieses „Geistige“ wird ein bisher „Gestaltloses“ ins Bewusstsein gehoben. Es wird „Gestalt“. Und diese Gestalt, diese „zweite Natur“, macht sich frei von aller Sicherung, sie „verselbständigt sich mit rasender Geschwindigkeit und einer alles mitreißenden Gewalt“148. Sie ist auf Zerstörung der „primären“ Natur programmiert – damit aber auch auf die Zerstörung des Menschen selbst. Wir sehen: Die „Person“ ist frei von allem Biologischen. Sie ist in allen Fällen juristische, mithin: logische Person. Versuche, die Ebenen zu vertauschen, Biologisches und Logisches zu vermengen, führen zu falschen Ergebnissen. Hegel sagt daher auch klar, dass jetzt, nach Auftreten der bürgerlichen Gesellschaft und der „Person“, der Mensch zu den Akten gelegt ist. Wie das „naturwüchsige“ Gemeinwesen, wie die Familie, so ist auch er in zwei Teile zerfallen. Das zu akzeptieren fällt vielen Hegelinterpreten, besonders den Juristen unter ihnen, ersichtlich schwer. Wohl weil die Konsequenzen „unschön“ und wenig geeignet sind, der bürgerlichen Gesellschaft ein Loblied zu singen. Zöge man sie, wäre aus der Ökonomie und wäre aus dem Recht der „Mensch“ verschwunden. Denn ökonomisch und juristisch gesehen ist dieser substituiert durch „Arbeitsvermögen“ und „Person“. Was als „Restmensch“ weiterhin existiert, wird lediglich als deren biologischer Träger akzeptiert, wird als Ausgangspunkt der „Bedürfnisse“149, wird als Konsument, gehegt, gepflegt und vor allem auch: manipuliert150. Im Übrigen wird er in einer vom Recht gesonderten Sphäre untergebracht, separiert, weggeschlossen – in der Moralität. Aber wenn es auch schwerfällt, wenn auch lieber biologisch argumentiert wird als logisch, wenn man auch lieber beim „Menschen“ bleibt, obwohl dieser zum Schein geworden ist: Eine nüchterne Betrachtung ist dringend gefordert. Bleibt sie aus, bleibt es dabei, dass unter Bezug auf den „Menschen“ auch der unhaltbarste Zustand schöngeredet151 wird, bleiben wir beim Schein und lassen uns von ihm täuschen. Und solcher Täuschung wird bislang der Vorzug gegeben. Denn mit ihr kann 148 M. Winkler, a.a.O., S. 214. 149 Hegel dazu in § 190/A R.: „[H]ier auf dem Standpunkte der Bedürfnisse ... ist es das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt; es ist also erst hier und eigentlich nur hier vom Menschen in diesem Sinne die Rede.“ (Hervorhebung bei H.) 150 Siehe dazu § 190/Z. Und auch § 191/Z R. Dort sagt er, dass es zuletzt nicht mehr der Bedarf ist, „sondern die Meinung, die befriedigt werden muss“, wobei die „Meinung zum Bedürfnis von denen hervorgebracht wird, welche durch sein Entstehen einen Gewinn suchen.“ 151 Marx: „Die Nationalökonomen machen also bald ausnahmsweise – namentlich wenn sie irgendeinen speziellen Missbrauch angreifen – den Schein des Menschlichen an den ökonomischen Verhältnissen geltend, bald aber und im Durchschnitt fassen sie diese Verhältnisse gerade in ihrem offen ausgesprochenen Unterschied vom Menschen, in ihrem strikt ökonomischen Sinn. In diesem Widerspruch taumeln sie bewusstlos hin und her.“ (MEW 2, S. 34 – Hervorhebung bei M.)

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„rund“ gemacht werden, was tatsächlich eckig ist. Dem unbequemen Ergebnis, das die Logik erbringt, indem sie den modernen Menschen als Zombie und die bürgerliche Gesellschaft in ihrer plumpen Amoralität zeigt, kann so aus dem Wege gegangen werden. Es bringt also handfeste Vorteile, dem Schein152 zu huldigen. Ohne „Mensch“ keine Demokratie, keine „Menschenrechte“. Ist aber der Mensch nur Schein, kann auch die Demokratie, können auch die Menschenrechte nur Schein sein. Über schwülstige Berufungen auf den Menschen wird es möglich, die bürgerliche Gesellschaft und die Person zu veredeln, zu vermenschlichen. Das ist in England und den von ihm abstammenden Gesellschaften aufgrund des spezifischen Weges zur bürgerlichen Gesellschaft153 übrigens besser gelungen als bei uns. Aber das Problem ist damit nicht gelöst. Im Gegenteil! Wird eine solche „logische Bilanz“ nicht gezogen, kann auch keine adäquate Lösung für die Zukunft gesucht und gefunden werden. Man kann also sagen: Solange wir uns nicht über den „Menschen“ Klarheit verschafft haben, also nicht begriffen haben, was es mit der „Idee des Menschen“ auf sich hat, solange kann von einem Verständnis der hegelschen Position nicht geredet werden.154 Das Recht jedenfalls bezieht sich nur auf die „Person“, es ist „Personenrecht“, nicht „Menschenrecht“. Das zu erkennen ist Aufgabe einer Rechtswissenschaft, die Anschluss an die dialektische Logik sucht. Soweit ist sie aber bisher nicht gekommen. Wäre sie soweit, wäre erkannt, dass das Recht aus der Perspektive der „primären“ Natur Unrecht ist und sich, da der Mensch deren Teil ist, sich als solches 152 Zum Schein führt Hegel in der „Wesenslogik“ (L [W], S. 9) aus: Der Zerfall des Seins im Rahmen der ersten Stufe der Negation der Negation führt zum Wesen und zum Schein. „Der Schein ist der ganze Rest, der noch von der Sphäre des Seins übrig geblieben ist.“ Das ist so zu verstehen: Das Sein ist verbunden mit einer Gestalt, das Wesen hingegen kann als „gestaltloses Sein“ bezeichnet werden. Der „Rest“ ist also die inhaltslos gewordene Gestalt, eine jetzt leere Hülle. 153 In England, auch in den USA zeigt sich die Bedeutung, die der Schein erlangen kann. Auch dort ist selbstverständlich das Gemeinwesen durch den Not- und Verstandesstaat, der Mensch durch die Person ersetzt. Aber durch die Art und Weise, wie das geschah, halfen dort der Schein und die von ihm ausgehenden Illusionen, diese Gesellschaften stabil zu halten und vor Konflikten zu bewahren, wie sie Kontinental-Europa im 19. und 20. Jahrhundert erschütterten. (Dazu näher: B. Rettig, a.a.O., insbesondere S. 55–86.) 154 Immer wieder wurde und wird hierzu debattiert. Beispielhaft die Diskussion 1900 ff. – u.a. daran beteiligt: J. Binder, H. Kelsen. Sie verfolgte das Ziel, Mensch und Person zu entkoppeln. H. Kelsen ging am radikalsten vor und gelangte am weitesten. Er zeigt eine bürgerliche Gesellschaft ohne Kleider: „Mensch“, „Volk“, Begriffe, in denen besonders die Staatsrechtslehrer aller Länder schwelgen, sind ihm leere Worte. Wo er von Demokratie spricht, sieht er diese als eine vom Menschen und vom Volk abgekoppelte „Sozialtechnik“ – eine Position, die wegen ihres Realismus auf wenig Akzeptanz stößt.

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auch gegen ihn richtet. Ein bloßer Rechtsstaat ist daher ein Unrechtsstaat gegen die „primäre“ Natur wie gegen den auf sie entfallenden Teil-Menschen.155 Und der moderne Staat? Er ist für Hegel die aus dem Prozess der Aufhebung des feudalen Gemeinwesens hervorgehende „Vernunftgestalt“. Er kommt ohne „Feudalität“, ohne „Blutund-Boden-Bindung“ aus und ist trotzdem der Staat beider Naturen. Er führt das Gemeinwesen fort. Er ist der Staat nach Emanzipation der „produzierten“ Natur, der Staat nach Entkopplung beider Naturen, der Staat, der über eine bürokratische Organisation beide Naturen vermittelt und ihr Dasein sicherstellt.

155 Diese Erfahrung konnten die Ureinwohner des nordamerikanischen Kontinents machen, die, als Teil der „primären“ Natur, von den Siedlern ebenso behandelt wurden wie die in Besitz genommene Natur selbst. Der Rechtsstaat diente nicht dem Schutz dieser Völker, sondern denen, die ihre direkte oder indirekte Vernichtung betrieben. Von daher gesehen ist das Wesen des Rechts (jedenfalls des Privatrechts) grob verkannt, wenn man von ihm Hilfe für die bedrohte Natur erhofft.

2 Hegels Synthese der „Entgegengesetzten“ Schlüsselbegriffe „System“, „objektiver Geist“ und „Sittlichkeit“

2.1 „System“

Sein „System“ ist Hegel schon damals und auch noch heute von vielen Seiten angekreidet worden. Damit, so F. Engels in seiner „Feuerbach-Schrift“, versuche Hegel bürgerliche Gesellschaft und Gott zur Einheit zu bringen, womit er seine Philosophie entwerte und sie „zahm“ und hoffähig mache. Eingepfercht darin „wird die revolutionäre Seite erstickt unter der überwuchernden konservativen.“156 Marx/Engels, so ihr Anspruch, „retten“ daher den Kern der hegelschen Philosophie, indem sie das „System“ zerschlagen. Damit, so glauben sie, sei Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt. Aber wie wir noch sehen werden: Hegel wird dadurch eher kopflos gemacht. Oder ortlos – wenn man bedenkt, dass das „System“ seine Methode verortet. Das „System“ beruht auf seinem Geschichtsbild. Für Hegel ist Geschichte in erster Linie die Geschichte der Vermittlung des Antagonismus zweier wesensungleicher Naturen, nicht die von Klassenkämpfen. Er lebt in einer „Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode“157. Das kann nicht genug betont werden. Vor seinen Augen haucht auch in Deutschland jenes „naturwüchsige“ Gemeinwesen sein Leben aus, das die Menschheit bisher über „Blut und Boden“ durch die Geschichte begleitet und geleitet hat. Die Philosophen der Aufklärung haben daraus längst den voreiligen Schluss gezogen, dass damit das „Gemeinwesen“ überhaupt aus der Welt ist. Zwar hat Kant diesen Standpunkt relativiert und lässt es wenigstens als „Ding an sich“ gelten. Aber das genügt Hegel nicht, weil es damit nicht Gegenstand einer praktischen Philosophie geworden ist. Zugleich ist zu sehen, dass der zwischen 156 MEW 21, S. 268. Dagegen wendet sich E. Bloch (Problem der Engelsschen Trennung von „Methode“ und „System“ bei Hegel, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 10: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, Frankfurt a.M. 1985, S. 461–481 sowie in: Hegel und die Gewalt des Systems, ebd., S. 481–500, vor allem aber in: Prinzip Hoffnung 2); er macht dort Einwände geltend, die auch dem Anliegen dieser Arbeit entsprechen. Sie trugen ihm seitens seiner realsozialistischen Kollegenschaft schärfste Kritik ein. Im vermeintlichen Interesse Hegels ist es eine bis heute verbreitete Strategie, wie L. Siep kritisiert, „die Ansprüche seines Systems abzuschwächen.“ (L. Siep: Zur Einführung, in: R. Bubner/W. Mesch (Hrsg.), Die Weltgeschichte – das Weltgericht? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1999, Stuttgart 2001, S. 92.) 157 Phän, S.18.

2 Hegels Synthese der „Entgegengesetzten“

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den beiden Naturen stehende Antagonismus, auf den sich das alte „Gemeinwesen“ bezog, nicht ebenfalls aus der Welt ist, sondern jetzt stärker ausgeprägt ist denn je. Zwar gab es diesen „herrlichen Sonnenaufgang“, der das Individuum in die Mitte stellt. Aber über den Jubel hinweg, dem auch er sich nicht verschließt, fragt Hegel, was mit diesem Antagonismus ist, wer diesen jetzt vermittelt. Die Doppelrolle der „primären“ Natur ist beendet; sie ist als Funktionär der „Einheitsnatur“ vom Sockel gestoßen. Aber spielt sie nun gar keine Rolle mehr? Ist sie nun bloß noch Objekt? Wie weiter; was folgt nach? Die „Zerfallsprodukte“ oder eine neue Gestalt des Gemeinwesens? Die Erkenntnis, die Hegel gewinnt: sowohl als auch. Ja, die Zerfallsprodukte werden selbständig – was für die „produzierte“ Natur heißt, dass sie sich zur bürgerlichen Gesellschaft emanzipiert. Aber sie werden nur relativ selbständig; sie bleiben weiterhin auch Teile eines fortexistierenden Ganzen. Zwei Zäsuren, zwei „Geschichten“ gilt es also zu beachten und zu beurteilen: die Verselbständigung der Teile zu relativ selbständigen Totalitäten, aber auch die Fortexistenz des Gemeinwesens als jetzt selbständige, sowohl von dieser als auch von jener Natur abgelöste „Vernunftgestalt“. Die Abfolge von Gesellschaftsformationen unter Führung des „Naturprinzips“, diese Vorgeschichte ist beendet. Die Geschichte, die es von nun an zu absolvieren gilt, hat ihre Grundlage in der „Vernunft“.158 Die Zeit eines doppelten Überganges: Der Feudalismus wird abgelöst durch den Kapitalismus. Zugleich wird aber auch das Gemeinwesen als „naturwüchsiges“ aus der Geschichte verabschiedet. Ohne dass es damit aber zu Nichts wird. Es bleibt vielmehr „gestaltlos“ erhalten und harrt darauf, in die „Vernunftgestalt“ überführt zu werden. Diese historisch einmalige Situation, im Deutschland dieser Zeit erlebbar, wird der zentrale Gegenstand insbesondere von Hegels Rechtsphilosophie. Während Liberalismus und Marxismus gleichermaßen Staat und Recht nur von der einen Ebene, der der „produzierten“ Natur, ableiten, handeln sie bei Hegel auf beiden Ebenen.

158 Dazu S. Žižek (a.a.O., S. 333 f.): Hegel schlägt mit seinem „System“ den Bogen von der „griechischen Polis als organischer Einheit von Individuum und Gesellschaft ... zu einer neuen organischen Einheit, einer neuen Polis ..., die dem Einzelnen ein tieferes Gefühl der sozialen Solidarität böte, welches über die ‚mechanistischen‘ Interaktionen und das individualistische Konkurrenzdenken der Bürgergesellschaft hinausginge.“ Selbst füge ich hinzu: Der Gesichtspunkt „Klassen/Klassenantagonismus“ rückt weiter in die Mitte, wenn Ausgangspunkt nur die „produzierte“ Natur ist. Betrachtet man also (wie Marx) die Geschichte als Geschichte verschiedener Gestaltungen (nur) dieser Natur, rückt automatisch dieser Antagonismus an die Stelle des Antagonismus der beiden Naturen.

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Teil 1 – Schlüsselbegriffe

Die geschilderten Übergänge sind es, die die „Systeme“ aufkommen lassen. Das bisherige „Ganze“, die „naturwüchsige Einheitsnatur“ unter Führung der „primären“ Natur, ist zerbrochen. Sichtbar sind nur noch die Teile, die beiden Naturen. Das führt zunächst zu den „Systemen“ jener Philosophien, die für Hegel bloße „Reflexion“ sind, weil sie nur die nach dem „Bruch“ sichtbaren Teile reflektieren, während sie das „Ganze“ ein für alle Mal untergegangen wähnen. Er hält dagegen: Die „Entzweiung“ ist nicht das letzte Wort der Geschichte. Das „Ganze“ ist nicht generell zu Gunsten der Teile verabschiedet. Nur ein Zwischenergebnis liegt vor. Er sieht bereits im Umriss, dass von hier der Weg zu einer neuen Einheit führt – ein Weg, den zu suchen er sich zur Aufgabe macht.159 Wie sieht sie aus – die jetzige „Einheitsnatur“? Steht sie unter Führung der „produzierten“ Natur? Ist diese jetzt selbst das „Ganze“? Ist das „Ganze“ eine eigene Gestalt? System ist nicht gleich System. Das „wahre“ ist vom „falschen“, das wissenschaftliche vom unwissenschaftlichen zu unterscheiden. Es führt zu nichts, nur den einen oder anderen Teil zum „Ganzen“ zu erklären. Gegen Spinoza gerichtet, schreibt Hegel: „[A]ls ob das wahre System dem falschen nur entgegengesetzt sei“! Es kommt auf den „Standpunkt“ an, den ich einnehme. Nur der „höchste Standpunkt“, der nicht der Standpunkt der „Entgegengesetzten“ sein kann, führt zum richtigen Ergebnis. Denn nur dieser „höchste Standpunkt“, der Standpunkt der „Vernunft“, enthält die untergeordneten in sich.160 Die Frage muss also auf Basis der Dialektik gestellt und beantwortet werden, weil nur so das jetzige Ganze, und mit ihm: die Vernunft, sichtbar wird. Und mit ihm die Vermittlungsinstanz, die sich auf die jetzige „Entgegensetzung“ bezieht und ihre Folgen korrigiert. Dieses Anliegen wird von Marx/Engels, überhaupt von allen, die die neue Zeit vom Boden der bürgerlichen Gesellschaft aus beurteilen, übersehen bzw. falsch gewürdigt. Zum „System“, diesem Brennpunkt der Kritik an Hegel, äußert sich K. Rosenkranz ausführlich in seiner Biografie. Besonders aus der Sicht des hier zugrunde gelegten Ansatzes sind seine Ausführungen noch immer aktuell, ja tragen mehr zum Verständnis bei als viele neuere Arbeiten. Rosenkranz macht deutlich: Für die Anfänge mag gelten, was Engels spöttisch/nachsichtig formuliert: Angestachelt durch Schelling und dessen wissenschaftlichen Höhenflug, sah auch Hegel „sich genötigt, ein System zu machen.“161 Mit einem solchen in der Tasche, gefertigt in der damals 159 Dazu der Aufsatz von O. Pöggeler, Hegels Jenaer Systemkonzeption, Philosophisches Jahrbuch71 (1963/64), S. 286–318. 160 L (B), S. 9. 161 Aus Frankfurt schreibt er an Schelling, er habe „zwar auch ein System ... schaffen müssen“, hoffe aber trotzdem, ihm als Freund zu begegnen (zitiert bei K. Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844 [Nachdruck Darmstadt 1977], S. 142).

2 Hegels Synthese der „Entgegengesetzten“

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üblichen Manier, also überaus scholastisch, schwerfällig, spekulativ, begibt er sich von Frankfurt nach Jena, um sich dort als Wissenschaftler zu etablieren. Aber er erkennt bald das Ungenügende daran und ist in der ganzen Jenaer Zeit darum bemüht, es „nachzubessern“162. Es sind didaktische Gründe163, vor allem aber solche, die sich aus den Erkenntnissen ergeben, die ihm zuwachsen – insbesondere aus seinem Studium der englischen Ökonomen sowie aus der immer tieferen geistigen Durchdringung der Fragestellungen seiner Zeit. Erste größere Gelegenheit zur Korrektur und Ergänzung bot der „Naturrechtsaufsatz“ von 1802. „Hier war, wo er zuerst sein eigenes System bestimmter hervortreten ließ.“164 Die Auseinandersetzung mit Kant, Fichte, dann auch mit Schelling bringt ihn darauf: „Die Einheit fehlte.“165 Wo mit der Trias Idee, Geist, Natur zu arbeiten war, begnügte sich deren Philosophie mit dem althergebrachten Dualismus à la Aristoteles. Aber was über 1000 Jahre ausreichte, taugt jetzt nicht mehr, war zu „Dogmatismus“166 erstarrt. „Diese Dualität durchbrach Hegel.“167 Was bei allen Abänderungen und Ergänzungen der Folgezeit „unerschütterlich“ bleibt: diese Trias. Mit ihr hat er die „dialektische Grundpaarung“ gefunden. Sein ausgeprägter Wirklichkeitssinn lässt ihn nicht ruhen. Unermüdlich korrigiert und vervollkommnet er. Rosenkranz dazu: „So suchte Hegel die primitive Schwerfälligkeit seines Systems möglichst zu überwinden, durch Vereinfachung Alles systematischer in sich abzurunden, durch Beispiele, ja durch Beziehungen auf die nächste Gegenwart, fasslicher zu machen.“168 Er stabilisiert die „Grundfigur“. Immer

162 Seine zahlreichen System-Entwürfe künden davon. 163 Dazu Rosenkranz, a.a.O., S. 178–198 unter der Überschrift: „Didaktische Modifikationen des Systems“. 164 Rosenkranz, a.a.O., S. 172. 165 Ebd., S. 173. Auch Fichte und Schelling arbeiten mit zwei „entgegengesetzten“ Naturen. Im Unterschied zu Hegel siedeln sie jedoch eine von ihnen auf einer höheren Ebene an, von der aus sie die andere beherrscht. Fichte favorisiert die „produzierte“, Schelling die „primäre“. Hegel hingegen sieht in ihnen zwar entgegengesetzte, aber gleichgeordnete Naturen, die deshalb über eine dritte Natur vermittelt werden müssen. 166 Siehe dazu § 32 E, wo sinngemäß ausgesagt wird: Die aristotelische Metaphysik wurde zum „Dogmatismus“, weil sie nun, nach dem Untergang des „naturwüchsigen Gemeinwesens“, in dem ein Teil (die „primäre“ Natur) das Ganze vertreten hatte, den Blick auf die neue Situation verstellt, die durch zwei Teile und ein Ganzes geprägt ist. Die alte Sichtweise wird fortgeführt. Geändert hat sich lediglich, dass jetzt die eine Natur durch die andere ersetzt wird. Das potenziert den Mangel der alten Metaphysik. 167 Rosenkranz, a.a.O., S. 173. Siehe dazu auch die sehr anschauliche Darstellung bei O. Pöggeler, Systemkonzeption, a.a.O. 168 Rosenkranz, a.a.O., S. 188; siehe auch die ganz ähnlich lautende Aussage bei G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 329.

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Teil 1 – Schlüsselbegriffe

wieder überprüft er sie auf Tauglichkeit, darauf, ob die Logik des Systems mit der Wirklichkeit übereinstimmt. „System“ bedeutet ihm Reduktion der Geschichte auf den immanenten Zusammenhang, auf das logische Substrat, abgelöst also von der „Ungleichmäßigkeit und Verschlungenheit“ ihres realen Verlaufs.169 Zeit und Raum, Vergangenheit und Zukunft werden darin zusammengeführt.170 Seinen Studenten verspricht er „nichts Neues“, sondern kündigt ihnen 1805 an, mit seiner Philosophie „eigentlich das älteste Alte wiederherzustellen und es von dem Missverstand zu befreien, worin es die neueren Zeiten der Unphilosophie begraben haben.“171 Und was meint er damit? Das „Gemeinwesen“! Aber nicht das alte, gerade untergehende, sondern das jetzt aktuelle, allerdings vorerst noch „gestaltlose“ – jenes Gemeinwesen, dessen Gestalt herzustellen uns selbst auferlegt ist. Das „Gängelband“ ist weg! Ein Bruch. Eine Befreiung. Aber wer/was führt uns nun durch die Geschichte? Reicht es, dass wir nun frei sind, dass wir in die Selbständigkeit entlassen sind? Wer ist der neue Führer, was ist der neue Maßstab? Seine Antwort: Die Vernunft! Im „System“ ist die Zäsur aufgegriffen, die die Zerschlagung der „naturwüchsigen Gemeinwesen“ markiert. Vorgeschichte und Geschichte, Anfang und Ende, vor allem aber: Logik und Geschichte, sind darin gebündelt.172 Später, in Nürnberg und Heidelberg, verarbeitet Hegel den Systemgedanken in seiner „großen“ und „kleinen“ Logik. Besonders in der „Enzyklopädie“ übersetzt er die Geschichte in Logik173, 169 Vgl. G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 6. 170 Hegel, MM 12 (VPhG), S. 96 f.: „Die Weltgeschichte ... ist also überhaupt die Auslegung des Geistes in der Zeit, wie die Idee als Natur sich im Raume auslegt.“ 171 Zitiert bei Rosenkranz, a.a.O., S. 192. 172 Siehe dazu R. Kroner: System und Geschichte bei Hegel, Logos 20 (1931), S. 243–258, besonders S. 251. 173 G. Dulckeit nähert sich auf diese Weise dem „System“ an. Auf Seite 31 von „System und Geschichte in Hegels Philosophie“ (a.a.O.) schreibt er: „[D]ie Aufgabe und Bedeutung des Systems liegt in der logisch-metaphysischen Selbstentwicklung der Wirklichkeit“. Glücklicher hätte er formuliert, wenn er statt „Selbstentwicklung“ Vorwegnahme gewählt hätte. Auch seine Schrift Rechtsbegriff und Rechtsgestalt. Untersuchungen zu Hegels Philosophie des Rechts und ihrer Gegenwartsbedeutung, Berlin 1936, ist dadurch geprägt. Eine Zusammenfassung seines Ansatzes findet sich in G. Dulckeit: Die Idee Gottes im Geiste der Philosophie Hegels, München 1947, S. 11–43. Dulckeit ist wie K. Larenz ein Schüler Binders und zählt zu den sog. Neu-Hegelianern. Er ist m.E. aber deutlich anders zu bewerten als K. Larenz, dessen Arbeiten in den 30er-Jahren davon geprägt sind, gewissermaßen „auf Teufel komm raus“ Hegel zu einem philosophischen Vorläufer des „Völkischen“ umzufälschen. Es fehlt auch bei Dulckeit nicht an Versuchen, das nationalsozialistische System mit dem System Hegels zu legitimieren. Aber diese wirken aufgesetzt bzw. wie „angeklebt“. Eindeutig überwiegt bei ihm das Bemühen, Hegel zu verstehen und seinem Werk gerecht zu werden.

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zeigt dort ihren logischen, von ihren 1000 (unlogischen) Zufälligkeiten des Ortes und der Personen, der Irrungen und Wirrungen, der Sprünge und Seitensprünge174 bereinigten Verlauf. Und wozu? Um von diesem rationalen Kern auf die künftige Geschichte zu schließen. Was bedeutet die Befreiung vom „naturwüchsigen“ Zusammenhang? Nur, dass die Herrschaft nun an die „produzierte“ Natur abgegeben bzw. auf sie übergewechselt ist? Nur, dass lediglich eine „Einseitigkeit“ durch die andere175 ersetzt wird? Wäre es so, wäre das eine bloße Umkehrung – unlogisch, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der „Aufhebung“ betrachtet. Die weitere Geschichte darf nicht zur Geschichte nur einer, nur dieser Natur werden. Das bisherige Korrektiv ist weggefallen. Gut so, dabei soll es auch bleiben. Aber ein Mangel wäre es, wenn der „Entzweiung“ nun gar kein Korrektiv zur Seite stünde. Und so zeigt Hegel uns mit seinem „System“, was zu tun ist, wenn die weitere Geschichte zu einer Geschichte der Vernunft werden soll. Das „System“, fasst O. Pöggeler treffend zusammen, „ist für Hegel das höchste Bedürfnis der Zeit, weil es die Auflösung der Entzweiungen, das Flüssigmachen ihrer starren Positivitäten ist.“176 Aber das ist nicht der Hauptstrom der Meinungen. Bis heute überwiegt deutlich der Vorwurf, er habe mit seinem System die Geschichte vergewaltigt.177 Wir sind nun auf uns selbst gestellt – jetzt, nachdem die Hilfestellung durch das „Naturwüchsige“ verloren ist. Jetzt ist die Vernunft gefragt. Das „System“ jedenfalls fordert uns dazu auf, zu ihr aufzuschließen. Bisher bewahrte uns das Gängelband „Natur“ davor, über die Stränge zu schlagen, zwang uns dazu, uns „sittlich“ zu verhalten. Jetzt sagt uns die Vernunft, dass unsere jetzige „Freiheit“ nicht darin bestehen kann, uns nun unbeschränkt den Zwecken der „produzierten“ Natur zu unterwerfen. Zur „Vernunftgestalt“ gelangt Hegel, als er Anfang 1806 die „relative Totalität“ entdeckt. Er sieht sie als Ergebnis des „Auseinandergehen[s] des Realen, dieses Gesetztwerden[s] des Mannigfaltigen.“178 Ein erkenntnistheoretischer Paukenschlag! Der Durchbruch zum „Kern der Dialektik“179. Damit hat er Kant, aber auch Fichte und Schelling endgültig überwunden. Kant, weil dieser das Erfordernis des „Ganzen“ zur Frage des Sollens erklärt, Fichte und Schelling, weil diese das „Ganze“ zwar 174 Hegel in § 189/Z R: in dem „Wimmeln von Willkür“, aus der „Masse von Zufälligkeiten“ die „Gesetze“ finden. 175 Und wie er immer bestimmter anhand des englischen und französischen Anschauungsmaterials sieht: weit gefährlichere und folgenreichere! 176 O. Pöggeler, Systemkonzeption, a.a.O., S. 292. 177 Dazu informativ R. Kroner, a.a.O. 178 Zitiert bei Rosenkranz, a.a.O., S. 192. 179 Lenin, W 38 (Philosophische Hefte), S. 214.

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als „Ist“ sehen, es aber über je eine der Naturen erschließen. Überwunden ist ebenso das bisher starre Nebeneinander von Kausalität und Teleologie180. Der „Identitäts“Standpunkt ist zur „Einheit“ weitergeführt. Das „Ganze“ und die Teile sind auseinandergerückt und bleiben dennoch verbunden. Die Bedeutung dieser Entdeckung wird erhärtet durch die moderne Systemtheorie, die ja ebenfalls die „relative Autonomie“ bzw. die „Systemautonomie“ in die Mitte stellt.181 Ohne sie ist weder das Verhältnis der Teile (der Teilsysteme) untereinander noch das Wechselverhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen (Gesamtsystem) zu verstehen. Die „relative Totalität“ ist verknüpft mit dem Prozess, der von einer Art von „Einheit“ („naturwüchsige Einheits-Natur“) zur anderen Art von „Einheit“ (Vernunftgestalt der Einheitsnatur) führt. Nicht bloße Negation! Nicht bloß ein Bruch. Nicht bloß die Ersetzung der einen durch die andere Natur, sondern: Aufhebung. „Allein das Einzelne hebt sich auch als Einzelnes auf und zeigt damit seine Allgemeinheit.“182 Oberflächlich gesehen, bzw. gesehen aus der Sicht des „Einzelnen“, also bloße Negation. Das „Allgemeine“ des Einzelnen aber, sein „Wesen“, wird nicht negiert, sondern wird mit-, wird weitergeführt. Und dieses mit- und weitergeführte „Allgemeine“ macht aus der neuen Totalität, die auf der Ebene des „Einzelnen“ auftritt, eine „relative“. Das „Wesen“ betätigt sich als „Gericht“, das über die neu auftretenden und sich als „Totalitäten“ gerierenden Erscheinungen urteilt und sie einerseits als solche bestätigt, andererseits sie aber an das Allgemeine rückbindet. Diskontinuität und Kontinuität. Rosenkranz zitiert Hegel: „Jede relative Totalität, auch die geringste, ist in ihrem Lebenslauf selig. Diesem seligen Insichsein tut allerdings die Relativität Abbruch; aber das Gericht, in welches das Einzelne geführt wird, kann eben, weil das Einzelne beschränkt ist, nicht abstrakt richten. Gott, als Richter der Welt, muss, weil er die absolut allgemeine Realität ist, das Herz brechen. Er kann sie nicht richten, er kann sich ihrer nur erbarmen.“183 Der biologische Zusammenhang über „Blut und Boden“ ist dem logischen, über die Vernunft hergestellten gewichen. Mit dem „System“ ist daher verbunden, dass das bis dahin vorherrschende und in der Romantik neu aufflammende bildlich-

180 Siehe dazu G. Klaus (der Luhmann der DDR): Das Verhältnis von Kausalität und Teleologie in kybernetischer Sicht, DZfPh 8 (1960), S. 1288–1277. 181 Siehe N. Luhmann: Soziologie des politischen Systems, in: ders., Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1970, S. 154–177, besonders S. 156 f. Derselbe spricht in Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986, S. 58 vom Umstellen von „Identität“ auf „Differenz“; die Differenz bezeichnet er als den „Startpunkt“ der Theoriebildung. 182 Zitiert bei Rosenkranz, a.a.O., S. 192. 183 Zitiert bei Rosenkranz, a.a.O., S. 193.

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biologische Denken des Zusammenhangs als „Organismus“ durch den logisch geprägten Begriff der „Organisation“ ersetzt wird. Das „System“, dieser Rahmen, in dem sich die „Aufhebung“ verwirklicht, macht zwei Ebenen sichtbar, die miteinander verschränkt sind: – die Ebene der beiden Naturen, die Ebene der „Teilsysteme“; – die Ebene des „Ganzen“ – jetzt existierend als „Vernunftgestalt“. Auf beiden Ebenen begegnen wir „relativierten“ Totalitäten. Hegel macht es sich nicht leicht. Anfangs fühlt er mehr, als er es weiß, dass er auf dem richtigen Weg ist. Es dauert seine Zeit, ehe der scholastische Ballast abgeworfen ist. Eine „didaktische Modifikation“ folgt der anderen. Das Schwierige ist, dass es immer zwei Ebenen gibt, dass es immer zu vermitteln, zu pendeln, zu relativieren gilt zwischen Gesamtsystem und den Teilsystemen. Am Beispiel der „Rechtsphilosophie“: Da das Recht ein Derivat der „produzierten“ Natur ist, beginnt er mit diesem Teilsystem, woraus sich die Überschrift „Das Abstrakte Recht“ für den ersten Teil ergibt. Der zweite Teil könnte entsprechend „Die Abstrakte Moralität“ lauten. Erst der dritte, umfangreichste Teil, Überschrift: „Die Sittlichkeit“, handelt auf der Ebene des „Ganzen“, konkreter: auf der Ebene der „Einheitsnatur“, aber jener, die uns nun als „Vernunftgestalt“ aufgegeben ist. Immer geht es also um das Zusammenspiel dieser zwei Ebenen. Höchst schwierig bereits, dieser Dialektik rein sprachlich gerecht zu werden. Als er Anfang 1807 Jena verlässt, ist er überzeugt: das „Wahre [ist] nur als System wirklich“184. Er hat ganze Arbeit geleistet. Er hat das „konstituierende Prinzip“185 seiner Philosophie gefunden. Er verlässt die Stadt mit einem wissenschaftlichen Begriff von „System“, an dem er in der Folgezeit festhält186 und der – wie wir noch sehen werden – dem der heutigen Systemtheorie in keiner Weise nachsteht, diesem, im Gegenteil, noch immer weit überlegen ist. Zu Recht bezeichnen deshalb J. Habermas und andere „Hegels Jenaer Phase als eine Wende in der Philosophie.“ Denn

184 Phän, S. 28. 185 Vgl. N. Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: ders., Soziologische Aufklärung, a.a.O., S. 115. 186 Zehn Jahre später, nach Erarbeitung seiner „Logik“ und bestärkt durch die dabei gewonnenen Einsichten, formuliert er in der Erstauflage seiner „Enzyklopädie“ (§ 14/A): „Ein Philosophieren ohneSystem kann nichts Wissenschaftliches sein“, weil es nur eine „subjektive Sinnesart ausdrückt“, „seinem Inhalte zufällig“ ist und das „Moment des Ganzen“ aus dem Blick verliert (Hervorhebung bei Hegel). Das korrespondiert mit dem, was N. Luhmann (Gesellschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung, a.a.O., S. 141) 150 Jahre nach Erscheinen der „Enzyklopädie“ schreibt: „[D]ie Gesamtentwicklung bisheriger Gesellschaftstheorie [war] seit Anbeginn als Systemtheorie angelegt“.

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hier werden alle drei Begriffe: System, objektiver Geist, Sittlichkeit, „zu einer nie da gewesenen, nie gewagten Synthese [ge]bündelt.“187 Der Dualismus der beiden Naturen, diese „Grundpaarung“, ist seit eh und je Ausgangspunkt philosophischer Systeme. Dort ist der „logische Anfang“188 der/aller Philosophie zu finden. Zwei „Seine“, zwei Naturen. Sie vertreten die „Unmittelbarkeit“, denn sie sind nicht weiter zerlegbare, nicht weiter quantifizierbare Größen. Und wo sich zwei „Unmittelbare“ gegenüberstehen, ist zugleich auch die „Vermittlung“ nötig. Hegel weist darauf hin, „dass es nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als auch die Vermittlung, so dass diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar“189 anzusehen sind. Alle ernsthafte Philosophie hat dies zu berücksichtigen. Erst die Philosophen der Neuzeit, am radikalsten und mit den größten praktischen Folgen Marx/Engels, glauben, sich davon verabschieden zu können. Soweit sie es tun, ersetzen sie damit Philosophie durch Ideologie.190 Sind wir blind oder warum sonst sehen wir nicht, was Hegel sah und in seiner Philosophie verarbeitet hat: die Existenz der Natur als System, d.h. als Einheit zweier Naturen? Und warum haben nicht bereits seine Vorgänger „bei aller erstaunlichen Klarsicht und dem vielfältig belegten Denkvermögen“ ihre „Systeme“ ebenso aufgebaut? Die Antwort, die uns N. Luhmann gibt: Sie haben den „Begriff der Grenze [nicht] beachtet und bearbeitet“.191 Sie gehen bei ihren Überlegungen von der „naturwüchsigen Einheitsnatur“ aus, sie lassen sich von dem Bild, das diese abgibt, täuschen. Sie sehen nur, dass eine solche Natur, zuletzt das feudale Gemeinwesen, durch eine andere Natur, zuletzt die bürgerliche Gesellschaft, abgelöst wird. Sie sehen nur, dass an die Stelle des bisher dominierenden „Naturprinzips“ jetzt das „Freiheitsprinzip“ tritt, und übersehen dabei die Besonderheit, dass in der ersten Menschheitsperiode die „primäre“ Natur eine Doppelrolle innehat, aus der eine Doppelfunktion erwächst: Sie exekutiert als Teil zugleich auch die Funktionen des „Ganzen“. Diese Doppelfunktion, diesmal unter Führung der „produzierten“ Natur, darf sich nicht wiederholen. Die Einheit zu exekutieren obliegt jetzt einer von beiden Naturen separierten „Vernunftgestalt“. Wir wissen, dass die Praxis den aus Hegels Sicht falschen Weg beschreitet: Es kommt doch zu dieser bloßen Umkehrung. Eine „Einheitsnatur“ unter Führung der „produzierten“ Natur etabliert sich. Eine Fehlentwicklung, mit deren Folgen wir uns heute allenthalben konfrontiert sehen. 187 Steffen Schmidt, Hegels System der Sittlichkeit, Berlin 2007, S. 43 – mit Bezug auf Arbeiten von J. Habermas. 188 L (S), S. 56. 189 Ebd., S. 56. 190 Vgl. dazu N. Luhmann: Wahrheit und Ideologie, Der Staat1 (1962), S. 431–448. 191 Luhmann, Gesellschaft, a.a.O., S. 142.

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Befreiung der „produzierten“ Natur – dafür steht auch Hegel. Aber wie ist sie zu verstehen? Als Ereignis, das es fortan zu feiern gilt und an dem für alle Zeiten kritiklos festzuhalten ist? Als bloße Umkehrung, die von den Befreiten dazu genutzt wird, nun die andere Seite, die andere Natur als vogelfrei, als bloßes Objekt der Ausbeutung anzusehen? Für Marx/Engels war es eindeutig so: Sie stehen auf Seiten der „produzierten“ Natur. Diese hat gesiegt – und dabei soll es bleiben. Die Frage nach dem Schicksal der anderen Natur ist nicht ihre Frage. Das „negative Verfahren der Aufklärung“192 obsiegt in ihrer Philosophie. Indem sie unterscheiden in einen dialektischen und einen historischen Materialismus, „halbieren“ sie die Philosophie Hegels, machen damit aber ihre eigene zu einer „unvollkommenen“193. Die „produzierte“ Natur wird zum Gegenstand des „historischen Materialismus“. Sie übernehmen das „Système de la nature“, die „Bibel des Atheismus“194.Sie kritisieren dieses zwar auch, erkennen es als ungenügend, aber ergänzen es lediglich unter dem Gesichtspunkt der fehlenden Dialektik. Sie machen also bloß ihr starres Innenleben „lebendig“, z.B. durch die Dialektik von „Produktion“ und „Zirkulation“. Damit bereichern sie zwar dieses „System“, zeigen es konkreter und wahrer, aber dessen für Hegel zentraler, im Mittelpunkt seiner Kritik stehender Mangel bleibt unerkannt: die Ausblendung der „primären“ Natur. Sie erstrecken die Dialektik nicht auf das „Ganze der Entgegengesetzten“195, sondern nur auf das Innere eines von ihnen. In der Summe werden sie damit zum Wegbereiter einer revolutionären Scheinlösung196, die die Ausbeutung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft lediglich zu Lasten der „primären“ Natur nach außen verlagert. Marx/Engels verwerfen also nur dieses System. Sie ersetzen es durch ein solches, das auf die Binnenverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft verengt ist.197 „System“ bezeichnet das Verhältnis der Teile zu einem Ganzen und umgekehrt: des Ganzen zu den Teilen.198 Das ist ein erstrangiges philosophisches, aber auch praktisches Problem. Es verwundert daher nicht, dass eine moderne Systemtheorie aufkommt, als der der bürgerlichen Gesellschaft zunächst zugrunde liegende „Freie192 GuW, MM 2, S. 288. 193 GuW, a.a.O., S. 189. Und, was damit zusammenhängt, zu einer Ideologie. 194 Sie übernehmen damit das „Système de la nature“, die „Bibel des Atheismus“ (K. Rosenkranz, a.a.O., S. XXXII). 195 NR, S. 442. 196 Siehe dazu die Ausführungen im Kapitel 3. 197 Für S. Žižek (a.a.O., S. 269) ist deswegen der „lächerlichste unter all diesen kritischen Widerlegungsversuchen ... die marxistisch-evolutionistische Standardidee, es bestehe ein Widerspruch zwischen Hegels dialektischer Methode ... und seinem System.“ 198 Siehe dazu: L (W), S. 142–148.

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Konkurrenz-Kapitalismus“ erst in den „organisierten“ und später in den „globalen“ Kapitalismus unserer Tage umschlägt. Praktische Bedürfnisse, vor allem der Wirtschaft199, erzwingen das Systemdenken. Da der Bedarf in den USA und in England am aktuellsten und größten ist, kommt es dort zuerst auf.200 Allerdings als Teil der ökonomischen, besonders aber als Teil der Organisationswissenschaften – nicht der Philosophie. Das hat der modernen Systemtheorie von vornherein eine utilitaristische, ganz auf Stabilisierung und Effektuierung des Teilsystems „bürgerliche Gesellschaft“ orientierte Ausrichtung gegeben, durch die sie sich grundlegend vom Ansatz Hegels unterscheidet. Philosophisch begründet ist hingegen der Marxismus201, allerdings ist auch dessen Ausgangspunkt ein Teilsystem, nämlich die revolutionär umgestaltete „bürgerliche Gesellschaft“. Man kann den Unterschied zum System Hegels so umreißen: Dieser erfasst darin das Verhältnis der beiden Naturen zueinander. Damit ist er an der Wurzel; das macht sein System zum „Prototyp“ und ihn selbst zum „Systemdenker par excellence“202; das unterscheidet seinen Holismus „von zeitgenössischen Holismen“203. Eine weitere „Reduktion von Komplexität“204 ist nicht möglich. Das von ihm erkannte System ist gewissermaßen das System der Systeme. Der Holismus der modernen „bürgerlichen“ Systemtheorie, aber auch jener von Marx/Engels, unterscheidet sich also darin von jenem Hegels, dass das zugrundegelegte Ganze bei Ersteren nur ein „halbes Ganzes“205 ist und dazu dient, das einzige Korrektiv, das dem ungehinderten Schalten und Walten der „produzierten“ Natur Grenzen setzt, den „naturgesetzlichen Gesamtprozess“ bzw. die „unsichtbare Hand“, auszuschalten. Die Verbindung des Teils „bürgerliche Gesellschaft“ mit dem „Ganzen“ wird zum 199 Z.B. machte das Phänomen, dass die Leitung der Produktionsprozesse sich von einem bis dahin einheitlichen Prozess abspaltet und auf Konzernebene verselbständigt, während die traditionelle Unternehmung zur produktionsausführenden Einheit herabgestuft wird, erforderlich, adäquate Organisations- und Leitungsstrukturen zu entwickeln. 200 Ein zweckhafter, partieller Rückgriff auf seine Philosophie führt deshalb Ende des 19. Jahrhunderts zu einer ersten Hegel-Renaissance im angloamerikanischen Raum. 201 N. Luhmann deutet es in einer Fußnote an: Der historische und dialektische Materialismus von Marx/Engels ist bereits seinem Wesen nach Systemtheorie. (Siehe N.L.: Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Frankfurt a.M. 1973, S. 194 – Fußnote 44.) 202 Pawlik, a.a.O., S. 186. 203 L. Siep: Hegels Holismus und die gegenwärtige Sozialphilosophie, in: A. GethmannSiefert/E. Weisser-Lohmann (Hrsg.), Kultur – Kunst – Öffentlichkeit. Philosophische Perspektiven auf praktische Probleme. Festschrift für Otto Pöggeler zum 70. Geburtstag, Paderborn 2001, S. 69. 204 N. Luhmann in J. Habermas/N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a.M. 1971, S. 11. 205 So verstehe ich auch L. Siep, Hegels Holismus, a.a.O., S. 76.

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Vorteil des Ersteren gekappt – was im Ergebnis dazu führt, dessen Herrschaft über die „primäre“ Natur zu befestigen.206 Wenn H.F. Fulda207 nach dem „Theorietypus“ fragt, der hinter der „Rechtsphilosophie“ steckt, so wäre also nicht in erster Linie an die moderne Systemtheorie zu denken. „System“ nicht als lästiges Beiwerk, nicht als Prokrustesbett, nicht als „Scholastik“, sondern als ein zu damaliger Zeit hochmoderner, hochproduktiver, weit in die Zukunft reichender Ansatz. Also nicht bloß eines jener Systeme, die „einen normativen Vorrang individuellen Lebens vor dem gemeinschaftlichen Leben zum Ausdruck“ bringen wollen. Dem System Hegels liegt vielmehr der „systematische Vorrang der Einheit des Geistes mit der Natur vor der Einheit des Geistes im Zusammenleben von Individuen“ zugrunde.208 Nicht einverstanden kann man aber sein, wenn Fulda formuliert: „Ich glaube allerdings, dass Hegel diesen Gedanken innerhalb seiner Rechtsphilosophie nicht in seiner Tragweite ausgeschöpft hat“ – deshalb nicht, weil er von dieser „zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine Ahnung haben konnte.“209 Damit ist Hegel unterschätzt. Dieser hat, wie ich meine, die Gefahr vorausgesehen, die von einer bürgerlichen Gesellschaft ausgeht, die von ihrem Verbund mit der anderen Natur freigesprochen bleibt. Es spricht für ihn, dass er bereits damals, als diese Gesellschaft noch als „der letzte Schrei“ galt und mit der Gloriole des Fortschritts und des Menschheitsglücks umgeben war, ihren Pferdefuß erkannt hat, dass er sich schon damals der „Ungeschichtlichkeit und Bodenlosigkeit“ ihres Freiheitsbegriffes210 bewusst war. Eine praktische Umsetzung seines Systems hätte der Menschheit sicher ein langsameres Wachstum „verordnet“, hätte aber mit Sicherheit dafür gesorgt, dass mit der anderen Natur sorgsamer, nachhaltiger, haushälterischer umgegangen wird. Wir stünden gewiss nicht vor dem Abgrund, der sich heute vor uns auftut.

206 U. Ruschig (Rezension zu: W. Neuser/S. Roterberg [Hrsg.]: Systemtheorie, Selbstorganisation und Dialektik. Zur Methodik der Hegelschen Naturphilosophie, Würzburg 2012, HS48 (2015), S. 300 u. 303) ist recht zu geben: Wer diesen zentralen Unterschied nicht beachtet, versucht die moderne Systemtheorie „als die bessere Systemphilosophie“ vorzustellen bzw. den „Begriffsunterschied zwischen ‚System‘ in der Systemtheorie und ‚System‘ bei Hegel einzuschleifen.“ 207 H.F. Fulda: Zum Theorietypus der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: D. Henrich/R.-P. Horstmann (Hrsg.), Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik, Stuttgart 1982, S. 393–427. 208 Ebd., S. 402. 209 Ebd. 210 H. Ottmann, Das Recht der Natur in Hegels „Philosophie des Rechts“, Der Staat 23 (1984), S. 4.

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Zwei Naturen, die bisher über „Blut und Boden“ zusammengehalten wurden und in dieser Zeit zwar „Verschiedenes“ sind, aber noch nicht „Entgegengesetztes“. Erst mit Bruch des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ geht die „Verschiedenheit … in Entgegensetzung … über.“211 Eine neue Sachlage, die Hegel zum Ausgangspunkt seiner Philosophie macht. Zwei „Entgegengesetzte“, die zur Einheit geführt werden müssen. Und wer stiftet sie? Zwei Fraktionen, zwei Antworten, jene Rousseaus hier und jene von Hallers dort, stehen zur Wahl. Von Haller sieht das Heil in einer Restauration des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens. Das weist Hegel entschieden zurück. Ein solcher Versuch ergäbe keine zeitgemäße Einheit. Rousseau kommt besser weg. Sein System ist das modernere. Allerdings leidet es an der Einseitigkeit des „Vertragsmodells“. Für beide gilt, dass sie der gestellten Aufgabe nicht genügen, weil sie von einem „Entweder-oder-Denken“ geprägt sind, das in einer „quantitative[n] Unterscheidung der Entgegensetzung des Absoluten“212 verharrt. Gefordert ist indes eine dialektische Betrachtungsweise, die diese Entgegensetzung überwindet. Aber so ist es eben. Wer das System negiert, muss sich entscheiden. Entweder für die eine oder für die andere Natur. Der Liberalismus, auch Marx/Engels entscheiden sich für die „produzierte“ Natur, mithin für die bürgerliche Gesellschaft. Aber um ganz offensichtliche Unlogik zu vermeiden, zwingt auch das dazu, ein „System“ zu errichten. Und auch dazu werden „Entgegengesetzte“ benötigt. Gesucht und gefunden werden „Volk“ oder „Proletariat“. Im letzteren Fall ist damit der Grundstein für eine handfeste revolutionäre Ideologie gelegt. Aber über den zugrunde gelegten Konflikt von Lohnarbeit und Kapital, von Proletariat und Bourgeoisie scheint die Geschichte ihr Urteil bereits deutlich genug gesprochen zu haben. Und auch das andere „Ersatz-Gegenüber“, das „Volk“, führt – siehe das Beispiel „Drittes Reich“ – zu irrationalen Scheinlösungen. Systeme werden also auch nach Hegel errichtet. Sie bleiben jedoch hinter dem seinen zurück, weil sie durch willkürliche Ab- und Ausgrenzungen, durch Ableitung „aus einzelnen untergeordneten Potenzen, welche man zur Geltung des Ganzen, zu prinzipieller Dignität hinaufsteigerte“213, gewonnen werden. Meist dienen sie dazu, Einzelprobleme zu lösen. Die Stabilisierung und Perpetuierung des ganz und gar unbefriedigenden Zustandes steht im Vordergrund. Der Grundkonflikt bleibt jedoch unberührt. Bleibt er aber unerkannt und ungelöst, führt z.B. auch eine proletarische Revolution lediglich zu Verschiebungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, zur Verschiebung von „rechts“ nach „links“, vom „Herrn“ auf den „Knecht“. Der „primären“ Natur aber ist es egal, ob sie durch den „Herrn“ oder durch den „Knecht“ geplündert wird. 211 L(B), S. 39. 212 Rosenkranz, a.a.O., S. 201. 213 … und die „Hegel mit scharfer Dialektik“ bekämpfte (Rosenkranz, a.a.O., S. 175).

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Hegel ging es nicht um metaphysischen Hokuspokus. Die moderne Systemtheorie bestätigt nachträglich gerade auch den großen Realitätssinn, der seinem System zugrunde liegt. Sein Theologiestudium, ohnehin die damals allgemein größere Nähe zum Ursprünglichen halfen ihm. Der Eintritt des Menschen in die Welt ist aus biblischer Sicht ein markanteres Ereignis als aus darwinistischer. Die Schöpfungsgeschichte dramatisiert den Grundkonflikt, der damit in der Welt ist. Die Bibel liefert also insoweit eine Steilvorlage für die damaligen philosophischen Systeme. Sie zeigt den Menschen als Schöpfer einer weiteren Natur, die Gegennatur ist. Ab jetzt gibt es zwei Welten; Welten, die sich wie „Gut“ und Böse“, wie „Göttliches“ und „Teuflisches“, wie „Himmlisches“ und „Irdisches“ gegenüberstehen und daher über ein „höheres Drittes“ vermittelt werden müssen. Die Bibel ist also ein Lehrbuch für Systemtheoretiker, das Hegel214 und Co. aber, wie mir scheint, besser zu nutzen wussten als wir Heutigen. Sie zeigt die Welt ohne den, dann mit dem Menschen. Und sie zeigt, was sich durch den Zuwachs ändert. Die bisher eine Welt, die „an und für sich seiende Welt“, die der „Grund“ für die andere, für die „erscheinende Welt“ ist, ist jetzt selbst „erscheinende Welt“, so dass sich nun zwei „erscheinende Welten“ wie Nordpol und Südpol gegenüberstehen.215 Zwei Teilsysteme, deren Antagonismus über das „Gesamtsystem“ vermittelt werden muss. Wie es N. Luhmann216 ausdrückt: Das Seiende verdreifacht sich. Diese „Verdreifachung“ liegt auch der „Rechtsphilosophie“ zugrunde. Nur von ihr aus ist sie überhaupt verstehbar. Bezogen auf die darin untersuchten Gegenstände arbeitet Hegel heraus, was uns die bisherige Geschichte zum modernen Recht, zum modernen Staat zu sagen hat. Kurzum: Über das „System“ macht er deren Wesen sichtbar.217 Die moderne Systemtheorie wird „unwahr“ durch ihre Einseitigkeit. Während Hegel sich im Interesse des „Ganzen“ die Beschränkung der bürgerlichen Gesellschaft auf ein naturverträgliches Maß zum Ziel setzt, macht sie es sich zur Aufgabe,

214 Auch H. Schnädelbach (System und Geschichte. Über Grenzen des Hegelianismus, in: W. Welsch/K. Vieweg [Hrsg.], Das Interesse des Denkens. Hegel aus heutiger Sicht, Paderborn 2003, S. 224 ff.) ist davon überzeugt, dass Hegel mit dem „System“ einen Gegenstand im Auge hat, der Theologie und Philosophie gemeinsam ist. Man könnte sagen, der in der Bibel geschilderte Grundkonflikt ist von ihm lediglich ins Philosophische „übersetzt“. Trinität und Trias sind also nur der religiöse und der philosophische Rahmen, in den ein und derselbe Konflikt hineingestellt ist. 215 L (W), S. 138. 216 Vgl. N. Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, a.a.O., S. 173 f. (im Zusammenhang der Teil-Ganzes-Problematik). 217 Dazu bezogen auf den Staat die informative und gehaltvolle Darstellung bei W. Maihofer: Hegels Prinzip des modernen Staates, in: M. Riedel (Hrsg.), Materialien 2, S. 361–392.

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aus dem Weg räumen zu helfen, was ihrer Expansion entgegensteht.218 Trotzdem musste und muss sie sich dabei zwangsläufig mit philosophischen Themen auseinandersetzen – z.B. dem Verhältnis von Teilen und Ganzen, dem Verhältnis von Kausaltät und Teleologie.219 Folglich sind dies die logischen „Startpunkte“ auch für N. Luhmann, den Vordenker des modernen System-Denkens in Deutschland. „Differenz“ und – daraus folgende – „Einheit“ prägen auch seinen Denk-Ansatz und verweisen von daher auf die Parallelen zum „System“ Hegels. Dies mag ein Zitat belegen, das an die Kritik Hegels an Schelling erinnert und zugleich die Herangehensweise Luhmanns zeigt: Die Theorie muss sich von der Orientierung an der Einheit des gesellschaftlichen Ganzen als einer kleinen Einheit in einer großen Einheit (Welt) umstellen auf Orientierung an der Differenz von Gesellschaftssystem und Umwelt, von Einheit auf Differenz also als Startpunkt der Theorieentwicklung. Genauer gefasst: Gegenstand der Soziologie ist dann nicht das Gesellschaftssystem, sondern die Einheit der Differenz des Gesellschaftssystems und seiner Umwelt. Es geht, mit anderen Worten, 218 So scheint es auch L. Siep (Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels. Aufsätze 1997–2009, Paderborn, München 2010, S. 118 f.) zu sehen, der einerseits die Gemeinsamkeiten im Herangehen bei Hegel und Luhmann hervorhebt, andererseits aber auch sieht, dass die Zielsetzungen geradezu konträr sind und im Falle der modernen Systemtheorie darauf hinauslaufen, der bürgerlichen Gesellschaft zu einer „schlechten Unendlichkeit“ zu verhelfen. Zum Unterschied der strukturell-funktionalen Methode T. Parsons und dem System Hegels merkt W. Euchner (Freiheit, Eigentum und Herrschaft bei Hegel, PVS11 [1970], S. 531, FN 3) an: „Hegel hätte Parsons gegenüber den Vorzug, das System nicht nur vorauszusetzen, sondern seine Genesis und sein ‚Wesen‘ zu erklären, indem er es als von den Menschen selbst in ihrem gesellschaftlichen Lebensprozess produziert und als ihre eigene, aber entfremdete, ihnen entgegenstehende Macht begreift. Da bei Hegel der gesellschaftliche Prozess antagonistisch verläuft, enthält seine Theorie immer schon die Annahme von Massenelend der Unterschichten und Intellektuellenempörung, während Parsons’ System am meisten Erklärungskraft in der Anwendung auf eine differenzierte, aber grundsätzlich integrierte Mittelstandsgesellschaft zu besitzen scheint.“ 219 Siehe dazu: G. Klaus, a.a.O. Auch Arndt/Lefèvre (A. Arndt/W. Lefèvre: System und Systemkritik. Zur Logik der bürgerlichen Gesellschaft bei Hegel und Marx, HJ 1986, S. 11–25), weisen darauf hin, dass die moderne Systemtheorie von Hegel „lebt“. Auf S. 13 heißt es: „Diese Sicht der gesellschaftlichen Verkettung der Individuen mag sehr modern anmuten. Sie erinnert in der Tat in verblüffender Weise an die handlungstheoretisch orientierte Soziologie in der Nachfolge George Herbert Meads und Talcott Parsons’, die die Defizite utilitaristischer Vergesellschaftungstheorien dadurch zu überwinden sucht, dass sie das auf Handlungen oder auch auf Sachen bezogene Verhalten als ein Verhalten zu entäußerter Subjektivität versteht und so den gesellschaftlichen Zusammenhang selbst als objektivierte Subjektivität.“ Auch N. Luhmann bezieht sich auf Hegel, besonders in „Zweckbegriff und Systemrationalität“.

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um die Welt insgesamt, gesehen durch die Systemreferenz des Gesellschaftssystems, also mit Hilfe der Schnittstelle, mit der das Gesellschaftssystem sich gegen eine Umwelt differenziert. Die Differenz ist nicht nur Trenninstrument, sondern auch und vor allem Reflexionsinstrument des Systems.220 Die „Differenz“ als „Startpunkt“. Und von dort zur „Einheit“. Das wissenschaftliche Herangehen von Luhmann und Hegel gleicht sich. Es steht bei beiden unter dem „Codex der zweiwertigen Logik“221. Ohne zu ergründen, ohne zu begreifen, was es mit der „Differenz“ auf sich hat, welche Bedeutung ihr zukommt, woher das Getrennte und sich jetzt Gegenüberstehende kommt, worin das Trennende besteht, kann man daher nicht zur „Einheit“ gelangen. Also: Sichtbarmachen des qualitativen Unterschieds zwischen der „großen“ und der „kleinen“ Einheit „Welt“. Sichtbarmachen des Gegeneinander, des Trennenden, um von dorther zur „Einheit“ zu gelangen. Geht man so heran, tritt an die frühere Stelle eines mit sich identischen „Absoluten“ eine „Einheit“ – eine Einheit, die wiederum Bezug nimmt auf „Entgegengesetzte“. Kommen wir noch einmal zurück auf die zitierte Bemerkung F. Engels’: Ja, es war damals „üblich“, ein System zu machen. Und auf so manchen Philosophen dieser Zeit und zunächst auch auf Hegel selbst mag zutreffen, dass er vergessen hat, was es mit dem „System“ im wissenschaftlichen Sinne auf sich hat, und es aus Gewohnheit errichtet. Aber bei Hegel bleibt es nicht dabei. Sein „ohne System keine Wissenschaft“ ist nicht bloß so dahergesagt. Aber nur das, nicht irgendein System gibt der Philosophie Halt, bewahrt sie davor, „eine subjektive Sinnesart“222 zu sein und sich im „Zufälligen“ zu verlieren. Und deshalb ist das Systemdenken so alt wie die Philosophie selbst. Aber die Schwierigkeiten der antiken Philosophen, an die die moderne Philosophie ja anknüpft, bestand darin, den Systemcharakter der Natur zu einer Zeit aufzudecken, da die „produzierte“ Natur noch kaum als eigene Natur und schon gar nicht in ihrer heutigen Bedeutung wahrnehmbar war. Das System war noch verborgen im „naturwüchsigen Gemeinwesen“. Platon geht in seiner Philosophie so vor, dass er alle drei, die zwei Teile und das Ganze, als eine Totalität sieht bzw. in einer Totalität zusammenfasst. Das führt ihn zu einem unwirklichen Idealstaat.223 Anders der nach ihm kommende Aristoteles, der den „Abgesang“ der griechischen Polis reflektiert und die Konturen deutlicher sieht. Er unterscheidet bereits jene Natur, die durch die „Kunst des Menschen“ hergestellt ist, von der anderen Natur, 220 221 222 223

N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, a.a.O., S. 23 f. (Hervorhebung bei N.L.). Ebd., S. 76. § 14/A E. Das ist eine „Bestimmung der Einheit“, die auf ein „Identitätssystem“ hinausläuft, also auf die „schlechtesten Weisen der Einheit“ (E, Vorrede zur 2. Auflage von 1827, MM 8, S. 21).

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die „von Natur“ aus besteht.224 Ihm kommt deshalb auch „die von Platon nicht beachtete Differenz zwischen oikos und polis“ in den Blick. Anlass für ihn, nach dem Gemeinsamen, „nach dem Koinoniasein beider zu fragen.“225 Beide Teile, oikos und polis, werden charakterisiert durch das Prinzip „Herrschaft“. Aber anders als von Platon angenommen ist diese Herrschaft hier wie dort nicht dasselbe, sondern verschiedenen Wesens. Deshalb kann die mit der Politie „verbundene Herrschaftsform nicht gleichgesetzt werden ... mit der im Hause“226. Zwei Herrschaftsformen, die an zwei unterschiedliche Daseinsweisen des Menschen anknüpfen. Das Problem der Antike aber ist, dass die Einheit beider Naturen (noch) nicht über eine Vernunftgestalt hergestellt werden kann, sondern nur über eine „Naturgestalt“. Anders gesagt: Die „Einheitsnatur“ ist noch nicht getrennt von der „primären“ Natur, sondern wird von Individuen dieser Natur, also durch einen oder mehrere „Freie“, repräsentiert. Ich nenne diese Geschichtsperiode, in der diese Konstellation herrschend ist, die also erst mit Eintritt in die Moderne abgelöst wird, die Zeit des verdeckten Systems. „Verdeckt“ deshalb, weil hier die beiden Naturen noch nicht generell, sondern nur partiell auseinandergetreten sind und das Ganze noch dominiert wird von der „primären“ Natur. Diese ist, systemtheoretisch gesehen, ein „Teil“ mit Aufgaben, die dem „Ganzen“ zukommen.227 Erst der Zerfall des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ macht die zwei Naturen sichtbar, die zueinander in Differenz stehen. Eine neue Situation, die es philosophisch zu erfassen galt. Von selbst stellt sich jetzt eine „Einheitsnatur“ ein, die von der „produzierten“ Natur dominiert wird. In ihr lebt die „Personalunion“ also fort – und zwar in der Gestalt der „bürgerlichen Gesellschaft“. Aber die Zeit des „verdeckten“ Systems ist zu Ende. Es reicht also nicht, dass jetzt bloß die Vorzeichen ausgetauscht werden, dass jetzt die „produzierte“ den Platz der „primären“ Natur einnimmt. Das „verdeckte“ System ist damit nicht gesprengt, wir sind mit dieser Lösung nicht bei der jetzt „fälligen“ Vernunftgestalt, ja, wir sind von ihr jetzt weiter entfernt denn je. Die Bedeutung eines geschichtlich einmaligen Vorgangs ist damit nicht nur verkleinert, sondern fehlinterpretiert und sogar ins Gegenteil verkehrt. 224 Siehe dazu J. Ritter: „Naturrecht“ bei Aristoteles. Zum Problem einer Erneuerung des Naturrechts, Stuttgart 1961, S. 14. Aristoteles wird auf Grundlage dieser Erkenntnis der erste Philosoph, der ein „System“ errichtet und eine praktische, das „Schicksal“ des Menschen thematisierende Philosophie entfaltet. 225 M. Riedel: Bürgerliche Gesellschaft. Eine Kategorie der klassischen Politik und des modernen Naturrechts, hrsg. v. Harald Seubert, Stuttgart 2011, S. 18. 226 Ebd., S. 19. 227 Es macht m.E. den Unterschied zwischen Schelling und Hegel aus, dass der eine das verdeckte System favorisiert und (damit) zur „Identität“ gelangt, während Hegel unter Beibehaltung der „Entzweiung“ zur „Einheit“ gelangt.

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Wir sehen nur noch die „Freiheit“ der „produzierten“ Natur und übersehen, dass diese auf Kosten der „primären“ Natur geht, die jetzt unfrei wird. Eine bloße Umkehrung. Statt der einen, steht jetzt die andere Natur in der Mitte.228 Es scheint so zu sein, als sei das „naturwüchsige Gemeinwesen“ im Stück in die bürgerliche Gesellschaft überführt worden. Resultat der „Scheidung“ ist aber „nicht, dass eins der Elemente verschwindet, sondern dass jedes derselben in negativer Beziehung auf das andere erscheint“229. Eine Fehldeutung der neuen Sachlage – und zwar auf allen Ebenen des Begriffs. Eine Rückkehr zum Alten ist ausgeschlossen.230 Die Differenz hat der neue Ausgangspunkt zu sein! Sie kann nicht beseitigt, sie kann nur relativiert werden. Die dazu notwendige Herabsetzung des Differenten in den Stand „relativer Totalitäten“ erfolgt über die neue „Einheit“, über die „Vernunftgestalt“. Das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft wird grob verkannt. Sie stiftet nicht die Einheit der Welt, sondern ist das Entgegengesetzte der Welt. Wer das übersieht, für den ist der außerhalb von ihr liegende Teil „dann kein eigenes System ..., sondern das, was als Gesamtheit externer Umstände die Beliebigkeit der Morphogenese von Systemen einschränkt und sie evolutionärer Selektion aussetzt.“231 Der Grundstein ist gelegt für das, was wir gemeinhin als „Anthropozentrik“ bezeichnen: die ganze Welt wird zum Schaden der „primären“ Natur aus dem Blickwinkel der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Menschen betrachtet. Die „Differenz“ verweist hingegen auf zwei gegensätzliche Qualitäten von „Natur“. Erst wenn dies bekannt und anerkannt ist, ist der Weg frei, sie beide in einer vernünftigen, das Überleben beider sichernden Einheit zusammenzuführen. Es gibt 228 Mit der einen oder der anderen – je nach politischem Standort, wobei jede Seite mehr moralisch-ideologisch argumentiert als wissenschaftlich. Für den Zeitraum Mitte der 80er-Jahre konstatiert Luhmann einen „Theoriemangel der ökologischen Bewegung“ (Luhmann, Ökologische Kommunikation, a.a.O., S. 233), der, wie schon vor 200 Jahren bei den Romantikern, Gefahr läuft, ins Gegenteil und damit zur Verwerfung der bürgerlichen Gesellschaft generell umzuschlagen. Inzwischen, nach Beteiligung der politischen Akteure der ökologischen Bewegung an der politischen Macht ist eingetroffen, was Luhmann damals prophezeit hat: „Wie die ‚Roten‘ ... werden auch die ‚Grünen‘ nachdunkeln, sobald sie in Ämter kommen und sich mit den Details konfrontiert finden.“ (ebd., S. 236) 229 Ebd. 230 Den Versuch eines Haller, zur „naturwüchsigen Gemeinschaft“ zurückzukehren, kritisiert Hegel als aussichtsloses und reaktionäres Verlangen. Einen moderneren Versuch dieser Art stellt die auf „Volk“ und „Blut“ gestützte „Gemeinschaft“ des „Dritten Reiches“ dar. Wollte man eine Rettung der Natur vor der bürgerlichen Gesellschaft durch Negierung der Letzteren versuchen, würde das auf eine Öko-Diktatur hinauslaufen. 231 Luhmann, Ökologische Kommunikation, a.a.O., S. 23.

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kein Zurück zum „naturwüchsigen Gemeinwesen“. Strittig ist aber, was nach der „Entzweiung“ zu geschehen hat. Es dabei belassen? Sie schönreden und das Beste daraus machen? Ein bequemer und für einige Zeitgenossen sogar höchst vorteilhafter Weg. Ein Weg, der sich immer mehr als eine Sackgasse erweist. Eine vernünftige Einheit ist herzustellen. Das ist die dem Menschen zugewiesene Aufgabe. Er ist es schließlich, der den jetzigen Zustand zu verantworten hat und der ein essenzielles Interesse haben muss, sie zu lösen. Sagen wir es abschließend so: Mit dem „System“ ist eine „radikale Veränderung der Weltsicht“232 formuliert. Es bringt zum Ausdruck, dass ab jetzt die logische Größe „Vernunft“ jenen Zusammenhang stiftet, der bisher über die biologischen Größen „Blut und Boden“ hergestellt war. „Hegels Systembegriff [ist also] im Sinne der rationalistischen Metaphysik zu verstehen und ernst zu nehmen.“233 Das „System“ markiert den Punkt, wo die sich „naturwüchsig“ vollziehende Geschichte aufhört und die vom Menschen selbst/ bewusst (selbstbewusst) gestaltete Geschichte beginnt. Es bewahrt den jetzigen, weiterhin objektiv bestehenden, jedoch „gestaltlosen“ Zusammenhang und verweist auf ihn. Wer es unternimmt, es abzuschwächen234, oder es gar verwirft, verabschiedet sich nicht nur von der zentralen Fragestellung unserer Zeit, sondern verzichtet zugleich auf eine wichtige Kontroll- und Korrekturinstanz. 2.2 „Objektiver Geist“

Drei Naturen = drei „Geister“ = drei Willen gehen aus dem Zerfall des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens hervor. Zwei davon, die „produzierte“ und die „primäre“, stehen sich als subjektive Geister bzw. als „einzelne Willen“ auf gleicher Ebene antagonistisch gegenüber. Dem „objektiven Geist“ begegnen wir auf der Ebene der „Einheitsnatur“. Zwar existiert diese derzeit „gestaltlos“, ist deshalb aber nicht lediglich ein Spuk, sondern unsichtbares Sein bzw., gesehen von der subjektiven Seite, „Geist“. Als der „tätige Geist“ des „Ganzen“ gibt ihm Hegel den Namen „objektiver Geist“. Drei „Seine“, drei relative Totalitäten, wie Hegel immer wieder betont. Alle drei sind einerseits voneinander getrennt, andererseits auch weiterhin miteinander verbunden. Jedoch nicht mehr über „Blut und Boden“, sondern über die Vernunft. Das „relativ“ ist entscheidend. Bildhaft formuliert T. Litt hierzu, der „objektive Geist“ sei im „System“ auf „halber Höhe“235 zwischen dem subjektiven und absolu232 233 234 235

Ebd., S. 22. L. Siep, Zur Einführung, a.a.O., S. 92. L. Siep, Zur Einführung, spricht von „Abschwächungsstrategien“. T. Litt, a.a.O., S. 96.

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ten Geist angesiedelt – und will damit sagen, dass dieser Geist Ausdruck dieser Relativität ist. Exekutiert wird sie durch die „Vermittlung“. Das „Vermittelte“ wiederum ist „Mitte“, ist der „zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet[e]“236 Geist. Der „objektive Geist“ ist dem „Reich des Wesens“237 zugehörig. Er ist eng verknüpft mit „Idee“ und mit „System“. Für N. Hartmann ist er „ein ganz zentraler, fast müsste man sagen ‚der‘ zentrale [Begriff ], auf den alles hinausläuft.“238 Hegel gliedert seine „Logik“ in: – Seins-Logik; – Wesens-Logik; – Begriffs-Logik. Von der „Wesenslogik“ sagt er selbst, dass sie der „schwerste Teil“ der Logik sei.239 Als die „Lehre von dem Wesen [steht sie] zwischen der Lehre vom Sein und der vom Begriff“. Sie ist also angesiedelt im Raum zwischen der objektiven und der subjektiven Logik. Sie gehört zu dieser wie auch zu jener. Die Dreiteilung seiner Logik hebt ihre Scharnierstellung hervor. Im Wesen ist das Sein des „Ganzen“ insoweit aufgehoben, als ihm die Gestalt fehlt und es dadurch als Sein unsichtbar wird. Dennoch: Es ist auch weiterhin „da“ und deshalb auch weiterhin Sein, weil ja das Wesen zum Sein gehört. Eine Gestalt aber erlangt das „gestaltlos“ Gewordene nicht aus sich selbst. Dazu bedarf es der Vernunft.240 Wegen dieser Zwitterstellung ist in Bezug auf das Wesen „auf den Unterschied von Subjektivem und Objektivem ... kein besonderes Gewicht zu legen.“241 Jedenfalls „zunächst“, „späterhin“ wird der Unterschied sich ohnehin zeigen. Dieses nur durch Zutun des subjektiven Geistes zur Gestalt gelangende Wesen führt uns zum „objektiven Geist“. Er ist, von daher gesehen, etwas höchst Reales, etwas „Seiendes“. In ihm ist die Doppelnatur jener „Vernunftgestalt“ verallgemeinert242, die gerade jetzt, zu Lebzeiten Hegels, auf der Tagesordnung steht. Sie ist einerseits vergeistigtes Sein und andererseits materialisierter Geist. Das macht sie zum Gegenstand beider Formen der Logik. Die „Vernunftgestalt“ versteht sich damit als

236 § 484 E. 237 Phän, S. 327. 238 N. Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus, 2. Teil: Hegel, Berlin u. Leipzig 1929, S. 298. 239 § 114 E. 240 Auf eine Formel gebracht: Wesen plus Vernunft = Vernunftgestalt. 241 L (S), S. 51. 242 Auf diesem Hintergrund bezeichnet Hegel den Staat als das „Irdisch-Göttliche“ (§ 272/Z R).

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„Gegenstoß seiner selbst“243, als das, was am Ende der „Negation der Negation“ an Gestalt an Stelle der negierten tritt. Mittels der Wesenslogik wird das „Ding an sich“ aufgeklärt und damit die Lücke geschlossen, die bei Kant, auch bei Marx244, bleibt. Versteht man die Scharnierstellung der „Wesenslogik“ nicht oder ignoriert man sie, aus welchen Gründen auch immer, verändert sich das Bild. Sichtbar sind dann nur zwei selbständig gewordene und voneinander abgegrenzte Naturen, von denen die eine, die „produzierte“, die Gestalt „bürgerliche Gesellschaft“ angenommen hat. Die dritte Natur kommt wegen ihrer jetzigen „Gestaltlosigkeit“ nicht in den Blick. Sie wird zum „Jenseitigen“ und Vergangenen. Wo die relative Totalität nicht gesehen wird, ist daher auch kein Platz für einen „objektiven Geist“; sie wird dort zur bloßen „Spukgestalt“, bestenfalls zum „Ding an sich“. Philosophische Systeme, die diese Ebene ausblenden, rücken einen der jetzigen Teile an die Stelle des vormaligen „Ganzen“, vorzugsweise die bürgerliche Gesellschaft. So auch der Marxismus, der Theorie und Praxis des 20. Jahrhunderts besonders nachhaltig prägen wird. Auch er verneint das „gestaltlose“ Sein der „Wesenslogik“ und kappt insoweit die Verbindungen zwischen dem „Ganzen“ und den Teilen. Auch für ihn haben „Idee“, „Vermittlung“ und „Begriff“ insoweit keinen Halt im Sein. Aber für Hegel ist das der entscheidende Punkt. Er versteht seine Dialektik ja nicht bloß als „Methode“, sondern sieht sie untrennbar mit dem Sein – und zwar dem „gestalthaften“ wie dem „gestaltlosen“ – verknüpft. Eine „ontologische Verunreinigung“245, von der sie der 243 L (B), S. 33. Überhaupt wird an dieser Stelle noch einmal, diesmal aus begriffslogischer Sicht, auf die enge Verbindung zum „Wesen“ bzw. zum ganzen vorhergegangenen Prozess der Aufhebung, des „Übergehens in Anderes“ Bezug genommen und zum Ausdruck gebracht, dass der „Begriff die Durchdringung dieser Momente [ist]“ und in ihm das „Andersgewordene“ zum Ausdruck gebracht ist. 244 Marx verwirft die Zugehörigkeit des Wesens zum Sein als „spekulative Konstruktion“ (MEW 2, S. 59 f.), als den idealistischen Pferdefuß der hegelschen Philosophie. Eine Fehlinterpretation, die sich in der eigenen Theorie dort zeigt, wo Recht und Staat als bloße „Überbauten“, also als dem Bewusstsein zuzuordnende Größen, dargestellt werden. Die Praxis stieß die realsozialistischen Wissenschaftler mit der Nase darauf, dass hier etwas nicht stimmt. In den 60er-, den Reform-Jahren und auch noch anfangs der 70er-Jahre wurde daher die Frage diskutiert, ob Staat und Recht nicht wenigstens teilweise „Basischarakter“ tragen, also neben dem „Überbau“ (Bewusstsein) auch „Basis“ (Sein) sind. Von der Partei und ihren philosophischen Wächtern misstrauisch beäugt, wurde diese Diskussion nie zu einem wenigstens theoretischen Ende geführt. Selbstverständlich wurden auch keine praktischen Konsequenzen daraus gezogen, denn diese hätten sich in einem grundlegenden Umbau des politischen und wirtschaftlichen Gefüges zeigen müssen. 245 Vgl. G. Lukács, Zur Ontologie, besonders die Ausführungen zur „Wesenslogik“ = S. 71–127. Zu den praktischen Folgen des marxistischen Ansatzes ausführlich im Kapitel 3.

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Marxismus säubert. Ergebnis ist eine „umgestülpte“ Dialektik, die das „gestaltlos“ gewordene „Ganze“ aus dem Auge verliert. Hegel in § 31/A R: „Die höhere Dialektik des Begriffes ist, die Bestimmung nicht bloß als Schranke und Gegenteil, sondern aus ihr den positiven Inhalt und Resultat herauszubringen und aufzufassen, als wodurch sie allein Entwicklung und immanentes Fortschreiten ist.“ Die so verstandene Dialektik ist „die eigene Seele des Inhalts“, ist der für sich selbst vernünftige Gegenstand. Der „Bruch“ der naturwüchsigen Gestalt führt zum „aufgehobene[n] Sein, welches das Wesen ist.“246 Wo die Aufklärer, wo auch der Marxismus nur die Diskontinuität sehen, sieht Hegel beides: die Diskontinuität und die Kontinuität. Die Verselbständigung muss im Rahmen bleiben. Die jetzt hervortretenden zwei Naturen müssen sich mit dem Rang „relativer Totalitäten“ bescheiden. Bedeutsam ist, dass dieses untergründig existierende „Wesen“ nicht von selbst zur Gestalt findet. Vielmehr muss es erkannt und als Erkanntes in die „Vernunftgestalt“ überführt werden. Bleibt das aus, bleibt deren Platz unbesetzt. In diesem Fall verwirklicht sich die nur „wesenhaft“ fortexistierende „Einheitsnatur“ im Nachhinein, über das, was K. Marx als den „naturgesetzlichen Gesamtprozess“, was A. Smith als die „unsichtbare Hand“ bezeichnet, also unvernünftig. Der „objektive Geist“ bezieht sich auf ein Sein, das „Prozess“ ist; auf „ein Halbes, ... das der Ergänzung harrt“247 und – ausgehend von der „Idee“ – zur „Gestalt“ gebracht wird. Es bleibt unsichtbar, wenn der Geist sich nicht darum bemüht und ihm in der bewusst geschaffenen Institution Gestalt gibt. Alles in allem: ein „bahnbrechender Begriff“248. Jedoch eine „Spukgestalt“ für den, der die Ebene des „Ganzen“ als nicht oder nicht mehr existent ansieht. Und Hegel fordert dem Leser, der sich ihm annähern will, viel ab. Er hält sich mit Erklärungen auffallend zurück. Und er selbst braucht lange, bis er den Begriff parat hat und ihn – erstmals 1817 – in seine Philosophie einführt. Jahrelang kreisen seine Gedanken um die ins Nichts versinkende Welt, die sich um das „naturwüchsige Gemeinwesen“ rankt. Jahrelang fragt er sich, was an deren Stelle tritt. Die Natur des Naturrechts? Das Volk? Der Staat? Ein Suchen und Vortasten in unbekanntes Terrain. Immer enger kreist er das Problem ein. Dann ist er sich gewiss: Nicht das Gemeinwesen geht unter, sondern nur dessen „naturwüchsige“ Gestalt. Es wird nicht zu nichts, sondern wird nur zeitweise in einen anderen Aggregatzustand versetzt.

246 § 96/Z E. 247 N. Hartmann, a.a.O., S. 303. 248 Ebd., S. 308.

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Mit der „Entzweiung“ ist die Aufgabe der „Vermittlung“ neu gestellt; diese ist jetzt auf die „vernünftige Institution“ übertragen. Was mit ihr entsteht, ist etwas Wirkliches, wenn man so will: ein „Sein“ besonderer Art. Es scheint so einfach, so einleuchtend zu sein. Daher die Frage: Warum haben wir diese dringend gebrauchte „Vernunftgestalt“ noch nicht? Die Antwort, die uns Hegel gibt: Sie wird uns nicht geschenkt. Es hängt von uns ab, ob wir sie haben oder nicht. Wir müssen dazu über unseren eigenen Schatten springen. Wir müssen dazu „harte unwillige Arbeit gegen uns selbst“ leisten. Wir müssen uns „als das wahre feindliche Hindernis“ der Vernunft erkennen und überwinden.249 Soweit haben wir es noch nicht gebracht. Deshalb verharrt der damals in Gang gesetzte Prozess schon allzu lange auf der Stufe der bloßen Entgegensetzung. Hegel wird dem Idealismus zugeordnet, weil er von der „Idee“ ausgeht. Damit entsteht der Eindruck, als entsprängen „Natur“ und „Geist“, denen er sich danach zuwendet, seinem Kopf.250 Tatsächlich aber verfolgt er die Entwicklung des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ von seinen Anfängen bis zum Zustand der „Entzweiung“ – und darüber hinaus. Wie geht es jetzt weiter, fragt er. Ist es so, dass bloß eine „Umkehrung“ stattfindet, dass die Führung nun an die „produzierte“ Natur übergeht? Oder obliegt die „Vermittlung“ künftig einem Dritten, der sich als Staat institutionalisierenden „Vernunft“? Hierzu gewinnt Hegel Klarheit; er entdeckt die „Vernunftgestalt“. Was sich also zeigt: Seine Trias Idee-Natur-Geist vollzieht nur gedanklich nach, was sich in der Wirklichkeit seiner Zeit ausprägt. Vordergründig scheint es so, als knüpfe Hegel ebenfalls an jenen „Zerfall“ an, aus dem für die Philosophen der Aufklärung nur eine Natur hervorgeht, und als negiere er ihn. Aber er stellt nicht den „Zerfall“, sondern nur dessen Bewertung in Frage. Wo die Aufklärer Anfang und Ende sehen, sieht er einen Prozess, der gerade „Halbzeit“ macht. Erstere meinen, ein unnatürlicher Zustand sei einem „natürlichen“ gewichen. Für sie sieht es aus, als beziehe sich Hegels „Idee“ auf ein, materiell gesehen, „Nichts“, wo er lediglich die zweite Hälfte im Blick hat und es ihm darum geht, den Prozess zu Ende zu bringen. Das aber deuten seine Gegner so, als wolle er lediglich den alten Zustand wiederhergestellt sehen. O. Pöggeler251 weist darauf hin, dass aus diesem „Beginn“ seiner „Enzyklopädie“ für uns Heutige eine „Grundschwierigkeit“ resultiert. Nämlich die, 249 VPhG, MM 12, S. 76. 250 L. Feuerbach notiert 1827/28 über Hegels (angeblichen) Panlogismus: „Gäbe es keine Natur, nimmermehr brächte die unbefleckte Jungfer ‚Logik‘ eine solche aus sich heraus.“ (zitiert bei J. Höppner: Nachwort, in: Ludwig Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza, hrsg. v. J. Höppner, Leipzig 1976, S. 376 f.) 251 O. Pöggeler, Systemkonzeption, a.a.O., S. 294 u. 312 ff.

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dass der dort entfaltete „Übergang von der Logik zur Natur- und Geistphilosophie“ nicht recht verständlich wird. Ihr könne man entgegentreten, wenn man dem System der „Enzyklopädie“ jenes der Jenaer Zeit gegenüberstelle. Das scheint mir ein wichtiger Hinweis zu sein. Denn in das „System“ des „Jenaer“ Hegel ist die erste Hälfte der sich vollziehenden Aufhebung der „naturwüchsigen Einheitsnatur“ einbezogen. Der „Berliner“ Hegel setzt diese „erste Hälfte“ dagegen voraus und beginnt bei der „Halbzeit“, bei der „Entzweiung“, um von dort auf die jetzt notwendige „Einheitsnatur“ zu schließen.252 Jedenfalls trägt diese „Grundschwierigkeit“ dazu bei, dass Hegel als einer gesehen wird, der über seinen „objektiven Geist“ die „Negation der Subjektivität und der Individualität“253 und insoweit die Geschäfte der Reaktion betreibt. Hegel spekuliert nicht darüber, was zuerst war: Gott oder die Welt, Sein oder Bewusstsein. Er geht von dem aus, „was vorhanden ist“254: zwei Naturen. Und deshalb muss die Natur als System betrachtet werden. Davon ist auszugehen. Das „Davor“ interessiert die Logik nicht. Philosophie, so sagt er, beginnt mit dem „allereinfachsten, dem logischen Anfang.“255 Von daher wäre es geradezu ein Fehler, ein Verstoß gegen die Logik, wenn man die beiden Naturen nicht neben- und gegeneinander sehen wollte, sondern hintereinander. „Relative Totalität“ und „objektiver Geist“: Beide markieren den Ausweg aus der philosophischen Sackgasse.256 Der „objektive Geist“ ist von daher gesehen eine neue, aus der „Relativität“ gewonnene Größe; er ist ein „Zwischengeist“, ein „vermittelnder“, ein „Einheit“ stiftender Geist. Er erfasst die „Einheitsnatur“ von ihrer geistigtätigen Seite. Das Absolute beider Ebenen wird relativiert. In der Diktion des Jenaer Hegel: Der „absolute“ wird zum „objektiven Geist“ herab potenziert, während die beiden entgegengesetzten Naturen zu ihm hinauf potenziert werden. Der „objektive Geist“ wird so zu ihrem Einheitspunkt. Als das logische Substrat der bisherigen Geschichte, als „Wesen“, besitzt er Materialität. Er ist also keineswegs ein Hinweis darauf, dass Hegel einer „vorweltlichen 252 Ich verweise in diesem Zusammenhang auf § 187/Z E, wo Hegel seine Vorgehensweise näher darlegt. 253 G. Amengual: Subjektivität in der Rechtsphilosophie Hegels, in: B. Merker u.a. (Hrsg.), Subjektvität und Anerkennung, S. 195. Er referiert diesen Standpunkt mit Blick auf E. Tugendhat, der bekanntlich meint, Hegel der „moralischen Perversion“ bezichtigen zu müssen. 254 L (S), S. 58. 255 Ebd., S. 59. Den „logischen“ Anfang bezeichnet er auch als den „abstrakten Anfang“ (S. 58). Ein Anfang also, der sich nicht darum kümmert, wer/was zuerst da war. 256 Vgl. dazu: G. Irrlitz, a.a.O., S. XLVIII.

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Teil 1 – Schlüsselbegriffe

Existenz der ‚absoluten Idee‘“, einer „Präexistenz der logischen Kategorien“ nachläuft, wie Engels257 im Anschluss an L. Feuerbach formuliert. Das erschließt sich jedoch erst, wenn man nicht nur das Sichtbare, Gestalthafte als „Sein“ im Auge hat, sondern auch dessen unsichtbare bzw. „gestaltlose“ Daseinsform. Die „Vernunftgestalt“ ist materialisierte „Idee“. Sie ist nichts Statisches, nichts Fertiges. Sie bedarf der ständigen Korrektur und Ergänzung, um den aktuellen Erfordernissen zu genügen. Was außerhalb der „Idee“ ist oder gerät, ist also „Einseitigkeit und Unwahrheit“258, ist „vorübergehendes Dasein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung, Unwahrheit, Täuschung usf.“259 Hier die „primäre“, dort die „produzierte“ Natur. Und als Vermittler fungiert der „objektive Geist“.260 Das ist schon die Aussage der „Differenzschrift“, in der sich Hegel insbesondere mit Fichte, indirekt aber auch schon mit Schelling auseinandersetzt. Was meint Fichte mit dem „Ich“?, fragt Hegel. Doch nichts anderes als die Gesamtheit der „Iche“, aus der die Menschheit besteht – als logische Konsequenz ihrer jetzigen atomistischen Struktur. Das „Ich“ steht also für alle „Iche“, die als solche zu übersetzen sind in „produzierte“ Natur. Das Gegenüber ist die „primäre“ Natur. Und Fichte vermittelt nicht, sondern stellt das „Ich“ über die Natur. Oder so gesagt: Er gibt als „Vermittlung“ aus, was wir bereits als Spezifika bei Marx/Engels angesprochen haben261: jenes „Übergreifen“ der „produzierten“ Natur, mit dem ihre Herrschaft über die andere Natur besiegelt ist. Solcher unechter Vermittlung setzt Hegel zwei gleichrangige Naturen bzw. „Geister“ entgegen, deren Gegensatz über einen „Gesamtgeist“ vermittelt wird. Der Bogen ist gespannt von der „naturwüchsigen Einheitsnatur“ über die sich gegenüberstehenden zwei Naturen zur „Vernunftgestalt“. Der Prozess der Aufhebung wird über beide Stufen: „Negation“ und „Negation der Negation“, verfolgt. Von der Zerstörung der alten zur neuen Einheit. Wo für die Philosophen der Aufklärung der Prozess endet, tritt dieser für Hegel in die „Halbzeit“ ein. Was noch zu folgen hat, führt zum Aufleben, zum Wiederherstellen der „Einheitsnatur“. Die „Naturgestalt“ bleibt „negiert“ und von der Zukunft ausgeschlossen. An ihre Stelle tritt die „Vernunftgestalt“. Sie übernimmt es, das jetzt Getrennte und Entgegengesetzte zu vermitteln. Eine Rückkehr zum Ausgangspunkt „Gemeinwesen“, aber zugleich ein Voranschreiten zu einer höheren Qualität.

257 Marx/Engels, AS II, S. 341. 258 §1/A R. 259 Ebd. 260 Dazu J. Yorikawa, Hegels Weg zum System, a.a.O., besonders S. 113 ff. 261 … und im nachfolgenden Kapitel eingehender behandeln werden!

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Wollte man Hegels System grafisch darstellen, so wäre also nicht das Dreieck, sondern der Rhombus die geometrische Figur, die es am adäquatesten zur Darstellung bringt. An dessen oberer Spitze stünde die „naturwüchsige Einheitsnatur“ und an der unteren Spitze die „Vernunftgestalt“. Ein letztes Wort zur „Idee“: Sie erinnert an das, was durch die „Negation“ nicht vernichtet, sondern bloß unsichtbar geworden ist. Der Sache nach ist Hegel Materialist. Der entscheidende Punkt, in dem er sich bis heute vom mechanischen, wie auch vom dialektischen und historischen Materialismus nach Marx, unterscheidet, ist eine tiefere Einsicht in das „Sein“. Was seine Philosophie von den beiden anderen Philosophien abhebt, ist das Verständnis des „Wesens“ als eines „gestaltlosen Seins“. Spricht Hegel von der „Idee“ der Natur, dann meint er damit, dass nach Untergang der „naturwüchsigen Einheitsnatur“ eine „Vernunftgestalt“ an deren Stelle tritt. Wie aber ist es, wenn er von der „Idee des Menschen“ spricht? Ist es nicht so, dass der Mensch zu keiner Zeit und unter keinen Umständen „gestaltlos“ wird, dass also an diesem Beispiel die hegelsche Argumentation versagt, wenn sie nicht gar widerlegt ist? Wer es so sieht, übersieht, dass Hegel auch den Menschen nicht biologisch, sondern logisch sieht. Und unter logischen Gesichtspunkten zerfällt der antike und mittelalterliche „Einheitsmensch“ jetzt in „Person“ und „Subjekt“, die beide in der Vernunftgestalt „Mensch“ zusammengeführt werden. Seine Leiblichkeit bleibt außen vor, sie ist, „logisch“ gesehen, irrelevant. Der „gesunde Menschenverstand“, der von der sinnlichen Wahrnehmung lebt262, sieht das allerdings anders. Für ihn zeugt der Fortbestand der Leiblichkeit für den Fortbestand des Menschen. Aber die „Idee“ als Wahrheit „ohne Hülle“263 lässt sich durch die fortbestehende Leiblichkeit nicht täuschen. Diese ist Fleisch, Blut und Knochen, nicht aber Mensch. Aus einer anderen Sicht ist sie Ausgangsmaterial, aus dem der „Geist“ sein wichtigstes Arbeitsmittel formiert. Aus wieder anderer Sicht ist sie Ausgangspunkt der Bedürfnisse. Der „Natur“-Mensch ist jedenfalls unwiderruflich aufgelöst; Aber: Solange er nicht in die „Vernunftgestalt“ überführt ist, tritt die „Idee“ an seine Stelle. 2.3 „Sittlichkeit“: „Sitten“ – die Gesetze der „Einheitsnatur“

Der dritte Teil der „Rechtsphilosophie“, Überschrift „Die Sittlichkeit“, gliedert sich in drei Abschnitte. Abgehandelt werden darin drei voneinander abgegrenzte soziologische Gestalten, und zwar in dieser Reihenfolge: „Familie“, „bürgerliche Gesellschaft“ und „Staat“. 262 L (S), S. 28. 263 Ebd., S. 33.

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Vorangestellt sind die §§ 142–157, die sich mit der Sittlichkeit an sich befassen. Was versteht Hegel unter Sittlichkeit? E. Gans, wohlvertraut mit der hegelschen Gedankenwelt, äußert sich wie folgt: „Das Wort Sittlichkeit ist unglücklich gewählt. Moralität heißt eigentlich auch so viel wie Sittlichkeit; allein wir haben kein anderes Wort und müssen also Moralität und Sittlichkeit verschieden nehmen.“264 Deutlicher zeigt uns Hegel selbst (in § 33 R), was er damit meint: „Moralität und Sittlichkeit, die gewöhnlich etwa als gleichbedeutend gelten, sind hier in wesentlich verschiedenem Sinne genommen.“ Früher seien sie „ihrer Etymologie nach … gleichbedeutend“ gewesen. Jetzt aber seien sie „Worte für verschiedene Begriffe“. Wie das gemeint ist, macht sein Verweis auf Kant deutlich. Dieser bediene sich „vorzugsweise des Ausdrucks Moralität“, wobei es so ist, dass dieser Sprachgebrauch, wie sich an den „praktischen Prinzipien dieser Philosophie“ zeige, „den Standpunkt der Sittlichkeit unmöglich“ mache, ja ihn „ausdrücklich zernichten“ wolle. Es ist also der neue Inhalt, den der Begriff durch Kant erfahren hat, der Hegel Abstand nehmen lässt. Und dieser neue Inhalt wird dadurch geprägt, dass die Materie „Sittlichkeit“ bei ihm einerseits zu „Recht“ erstarkt ist, andererseits die Moralität bei ihm herabpotenzierte Sittlichkeit ist. Sie ist jetzt ebenso nachrangig dem Recht gegenüber, wie es die zum Objekt gemachte „primäre“ Natur gegenüber der „produzierten“ ist. Dieses verschobene Verhältnis, dieses jetzige Ungleichgewicht macht den alten Begriff unbrauchbar. Deshalb „Sittlichkeit“; sittliches Handeln ist Handeln unter Beachtung der Interessen des „Ganzen“. Wäre dieses beim „Zerfall“ des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ untergegangen, wären also die ehemaligen Teile an seine Stelle getreten, läge die Sache anders. Dann wäre die vormalige Sittlichkeit ersetzt durch „Recht“ hier und „Moralität“ dort. Aber das „Ganze“ existiert fort, wenn zunächst auch „gestaltlos“. Und auch die mit ihm verknüpfte „Sittlichkeit“ bleibt erhalten. Deshalb ist es nötig, jetzt mit drei Begriffen zu arbeiten. In der „Phänomenologie“ ist die Verknüpfung der Sittlichkeit mit dem „Gemeinwesen“ aufgezeigt; sie wird dort als dessen „Gesetz“ vorgestellt.265 Bei Zerfall des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens geschieht nun Folgendes: – „Das sittliche Wesen hat sich selbst in zwei Gesetze gespalten“, in „Recht“ hier und „Moralität“ dort. – Aber „das Bewusstsein als unentzweites Verhalten zum Gesetze, ist nur einem zugeteilt.“266 264 E. Gans, Naturrecht und Universalrechtsgeschichte. Vorlesungen nach G.W.F. Hegel, hrsg. u. eingel. v. Johann Braun, Tübingen 2005, S. 137. 265 Vgl. Phän, S. 328 f. 266 Ebd., S. 345.

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„Zwei Gesetze“, zwei Handlungsrahmen, die jetzt, auf der Ebene der sich gegenüberstehenden Naturen, unter „Recht“ und „Moral“ firmieren. Aber das Bewusstsein vollzieht die Spaltung nicht mit. Korrumpiert von seiner Glücksverheißung, nimmt es nicht zwei Naturen und zwei „Gesetze“ wahr, sondern erhebt die „produzierte“ Natur und das eine „Gesetz“ in den Rang des „Ganzen“. Alles dreht sich jetzt um diese eine Seite, um „produzierte“ Natur“ und (deren) Recht, sie sind in die Mitte gestellt. Aber das Recht bricht mit der Sittlichkeit; es ist eine andere Qualität: Und es wird ihr Gegenteil, wenn wir so verfahren. Denn dann verstehen es seine Adressaten als Berechtigung, im Rahmen der jetzigen „Freiheit“ die „primäre“ Natur unlimitiert ausbeuten/aneignen zu können. Dann tritt der „Rechtszustand“267 an die Stelle der „Sittlichkeit“. Am Vorgang der „Aufhebung“ gezeigt: Der Zerfall der „naturwüchsigen“ Sittlichkeit in hier „Recht“ und dort „Moral“ ist unter dem Gesichtspunkt des § 141 R zu sehen, der uns sagt, dass die Resultate nicht Totalitäten, sondern nur „relative“ Totalitäten sind. Beide, Recht und Moral, sind das Neue und Bleibende – aber nur zusammen mit dieser „Relativität“, die darauf hinweist, dass auch die Ausgangsgröße „Sittlichkeit“ erhalten bleibt. Jedoch in neuer Gestalt; als „Vernunftgestalt“ obliegt ihr, als „Gesetz“ des „Gemeinwesens“ einem das Gleichgewicht der Naturen gefährdenden „Fürsichsein“ der Atome entgegenzuwirken.268 Als solches „Gesetz“ hat sie das Recht der „produzierten“ Natur und ihrer Mitglieder zu Gunsten einer Pflicht der anderen Natur gegenüber zu beschränken. Die Moralität ist „zahnlos“ gemachte Sittlichkeit. Als solche hat sie keinen direkten und zwingenden Einfluss auf die jetzt tonangebende bürgerliche Gesellschaft. Aber es ist unerlässlich, dass das „Ganze“ erhalten bleibt. Die Willkür, zu der das Recht die Atome der bürgerlichen Gesellschaft bei der Ausbeutung der „primären“ Natur ermächtigt, muss daher um des Erhalts der Schöpfung willen gezügelt werden. Recht und Moral: Keine dieser „entgegengesetzten Weisen der sittlichen Substanz“269 ersetzt daher die Sittlichkeit. Zwar bringen 17. und 18. Jahrhundert das Aus für das „naturwüchsige Gemeinwesen“ und damit scheinbar auch für die bisherige Sittlichkeit. Aber beide sind nicht für alle Zeiten aus der Welt. Hegel erkennt: „Das Rechtliche und das Moralische kann nicht für sich existieren und sie müssen das Sittliche zum Träger und zur Grundlage haben“270. Beide bedürfen der Einheit. Sie teilen sich also ihre Totalität mit der des „Ganzen“, das eben nicht ins Nichts gestoßen wird, 267 268 269 270

Vgl. ebd., S. 355 f. Vgl. Phän, S. 340, auch: §§ 142–156 R. Phän, S. 330. § 141/Z R.

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sondern ebenfalls in neuer Qualität und „relativiert“ fortexistiert. Durch den Zerfall und durch das Nichts hindurch führt der Weg von der früheren „unmittelbaren Sittlichkeit“ zu einer neuen, einer institutionalisierten Form derselben, die im modernen Staat ihr Zuhause hat.271 Wesentlich ist, dass „Sittlichkeit“ hier, „Recht“ und „Moralität“ dort, da sie verschiedenen Ebenen zugehören, Begriffe ungleicher Wertigkeit sind. Die Teilung in „Recht“ und „Moral“ bringt mit sich, dass an das Handeln der Individuen unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden. Einmal ein äußerer, ein außerhalb von ihm, liegender und zum anderen ein innerer, im Individuum selbst liegender. Diesen Unterschied kennt das „sittliche“ Handeln nicht. Gans dazu: „Wer sittlich handelt, handelt nach einem Maßstab außer sich.“272 Somit steht die Sittlichkeit überhaupt dem Recht nahe und ist nur deshalb kein Recht, weil – wie wir noch sehen werden273 – die Verbindung zur anderen Seite erhalten bleibt. Sie gehört der „Einheitsnatur“ an und bezeichnet ein Verhalten der Menschen, dass den Forderungen beider Naturen gerecht wird. Beider Gesetze sind in ihr zu den „Sitten“ verschmolzen bzw. vermittelt. Ein „Mischbegriff“, eine Vorstufe dessen, was heute unter (hier) „Recht“ und (da) „Moral“ gefasst wird. Die antiken Griechen sagten „Nomos“274 dazu, ein Begriff, der ihnen ein Gesetz bedeutet, das zwischen Natur- und Rechtsgesetz steht. In der „Sitte“ ist das instinkthafte Verhalten zur „primären“ Natur mit dem angewöhnten Verhalten zur „produzierten“ Natur in einem Mittelwert zusammengeführt und den menschlichen Akteuren verpflichtend vorgegeben, ohne dass ein Gesetzgeber sichtbar wäre. „[N]iemand wisse“, verkündet Antigone, „woher die Gesetze kommen; sie seien ewig“.275 Wesentlich ist, dass sich die Sittlichkeit nicht von der „Freiheit“ her versteht, sondern von der „Idee der Freiheit“.276 Auch das verweist darauf, dass sie „Freiheiten“ vermittelt – und zwar die Freiheit der einen wie der anderen Natur. Mit Auseinandertreten der Naturen zeigen sich „abstraktes“ Recht hier und „abstrakte“ Moralität dort. Der Antagonismus wird offenbar. Das „abstrakte“ Recht wird verbindlich für das Handeln der Personen – was darauf verweist, dass sich das Verhältnis der beiden Naturen zueinander grundlegend zu Gunsten der „produzierten“ Natur verschoben hat.277 Die Moralität ist nur noch ein marginalisiertes, ein 271 Es wird hier auf die Gedankengänge in § 256/A R verwiesen. Nähere Ausführungen dazu im 5. Teil dieser Arbeit. 272 Gans, Naturrecht, a.a.O. 273 Im Kapitel zum „abstrakten“ Recht. 274 Siehe dazu J. Ritter, „Naturrecht“, a.a.O., S. 23 ff. Näher dazu im 2. Teil. 275 § 144/Z R. 276 § 142 R. 277 Diese Deutung und die Tragweite derselben ist in den Arbeiten von G. Lübbe-Wolff

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„amputiertes“ Sittliches, tut sich also nur als eine „Krankheit an diesem hervor“278. Aber „krank“ ist auch ihr Gegenüber, das „abstrakte“ Recht. Deshalb kann es hier wie dort dabei allein nicht bleiben. Der „Krankheitszustand“ ist zu überwinden, er muss einer „vernünftigen“ Sittlichkeit weichen. Mit ihr ist der einheitliche, beiden Naturen gerecht werdende, äußere Maßstab wiederhergestellt.279 T. Kobusch fasst zusammen: „Die Sittlichkeit ist die gemeinsame Grundlage des Rechtlichen und Moralischen, die für sich keine Wirklichkeit haben und nur Momente des Sittlichen sind. Das Sittliche ist deswegen nicht das aus Recht und Moral als einzelnen Bestandteilen Zusammengesetzte, sondern die substanzielle Einheit beider.“280 Der „Maßstab außer sich“ ist es, der Hegel bis auf den heutigen Tag angekreidet wird. Er lässt aus der Sicht vieler Heutiger „Sittlichkeit“ nicht nur nicht gut klingen, sondern ist ihnen Beleg für die insgesamt „freiheitsbeschränkende“, also reaktionäre Tendenz seiner Philosophie.281 Eine zentrale Errungenschaft der Moderne scheint damit in Frage gestellt zu sein. „Sittlichkeit“? Das klingt nicht nur unmodern, sondern rückwärtsgewandt. Nun mag es sein, dass der Begriff tatsächlich „unglücklich“ gewählt ist. Aber wichtiger als eine unglückliche Wortwahl ist das mit ihm verfolgte Anliegen: Wiederherstellen der „Einheit“, Wiederherstellen des gestörten Gleichgewichts der beiden Naturen, ohne in den „naturwüchsigen“ Zusammenhang zurückzufallen. Die „Sitten“ vermitteln zur Zeit der „naturwüchsigen Gemeinwesen“ die höchst unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Anforderungen, die beide Naturen an den Menschen stellen. Sie lockern die Bindung an die „primäre“ und sie machen geltend, was die „produzierte“ Natur verlangt. Die Sitten regeln also das Verhalten zu beiden. Die Unterscheidung von Recht und Pflicht und von Recht und Moral ist ihnen unbekannt; sie sind beides in einem. Je mehr aber die „naturwüchsigen

278 279

280 281

(besonders zu nennen: Die Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft, ARSP 68 [1982], S. 223–254; Historische Funktionen der Unterscheidung von Recht und Moral, in: Tradition und Fortschritt in den modernen Rechtskulturen, hrsg. v. S. Jørgensen u.a., Stuttgart 1985 [ARSP, Beiheft 23], S. 43–50) bereits in den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts überzeugend herausgearbeitet worden. § 408/Z E. „Aber das Sittliche ist an und für sich seinem Wesen nach ein Zurücknehmen der Differenz in sich“ (SdS, S. 5). Hegel spricht in diesem Zusammenhang von „Rekonstruktion“ und meint damit, dass jetzt abstraktes Recht und abstrakte Moralität in einer vernünftigen Sittlichkeit ihre Einheit finden müssen. T. Kobusch: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Freiburg i.Br., Basel, Wien 1993, S. 165. Rosenkranz (a.a.O., S. 174) in Bezug auf die Moral: „Oft ist der Hegelschen Philosophie die Geringschätzung des Moralischen vorgeworfen.“

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Gemeinwesen“ auf die „Entzweiung“ zusteuern, zerfällt diese Sittlichkeit in schon bezeichneter Weise. Aber dabei kann es nicht bleiben. Denn ein bloß moralisches Verhalten der „primären“ Natur gegenüber bietet dieser nicht genügend Schutz. Sie wäre auf das Almosen des „Gewissens“ angewiesen, wo ihr früher die verbindliche Pflicht zur Seite stand. Notwendig ist daher das Übergehen zu einer neuen Qualität, zur „vernünftigen“ Sittlichkeit. Zurückgewinnung der zunächst verloren gegangenen Einheit – das ist der generelle Gesichtspunkt, unter dem Hegel die Philosophie Kants und Fichtes kommentiert und kritisiert. Aber nicht durch ein Zurück zum Alten. Sein Blick ist nach vorn gerichtet. Schon für das Jahr 1797 „bescheinigt“ ihm Rosenkranz: „Er strebte schon hier an, die Legalität des positiven Rechts und die Moralität der sich selbst als gut oder böse wissenden Innerlichkeit in einem höheren Begriffe zu vereinigen, den er ... häufig schlechthin Leben, später Sittlichkeit nannte.“282 Mit der „Sittlichkeit“ entwickelte er „denjenigen Begriff, worin er den Dualismus der praktischen Philosophie Kants und Fichtes aufhob.“ Und weiter: Sie ist für ihn „diejenige Form des praktischen Geistes ..., in welcher ... die Legalität mit der Moralität unmittelbar identisch gestellt sind.“283 Hegel wendet sich nicht gegen Recht und Moralität, sondern nur gegen ihre „Abstraktheit“, gegen ihr Stehenbleiben an einem Punkt, der nicht Endpunkt ist. Er blickt darüber hinaus. Er sieht hinter dem vermeintlichen Fortschritt, den die starre Dualität verspricht, das langfristig Gefährliche und Zerstörerische. Denn der springende Punkt ist doch: Bleibt es bei der jetzigen Aufspaltung, ist es jetzt und für alle Zeiten dem „Gewissen“ überlassen, wie die „primäre“ Natur behandelt wird. Während ihre Ausbeutung durch das Recht legalisiert ist, wird die Pflicht ihr gegenüber im gleichen Zuge unverbindlich gemacht. Und wie verhält sich der moderne Mensch? Hier die vielfältigen „Sachzwänge“, die vom „System der Bedürfnisse“ ausgehen, die ihn an die „produzierte“ Natur fesseln. Hier die Lockerung der Beziehung zur „primären“ Natur, ja die Aufforderung, sie sich untertan zu machen. Dort aber das bloße Sollen. Das kann nicht gut gehen, das ist auf lange Sicht unhaltbar. Die Zerstörung des früher einheitlichen Maßstabes und seine Ersetzung durch zwei sehr verschiedene, durch „Recht“ und „Moral“, zeigen die bloße Umkehrung des Verhältnisses der Naturen an, mithin die Herabstufung der „primären“ Natur zum Objekt. Das freigesetzte Begriffspaar „Recht“ und „Moral“ macht es deutlich: Die „primäre“ Natur liegt außerhalb des Rechts, sie ist rechtlos, sie ist bloßes Rechtsobjekt. Die bis dahin über die „naturwüchsige Einheitsnatur“ durchgesetzte Pflicht 282 Ebd., S. 87. 283 Ebd., S. 173.

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des Individuums ihr gegenüber ist außer Kraft gesetzt, wird Refugium des „Gewissens“. Darum also geht es Hegel: „um die Aufhebung des Schismas von Recht und Moral in einer Ordnung vernünftiger Institutionen.“284 Und was bringt ihm sein Anliegen ein? Überwiegend den Vorwurf, dass damit die frisch gewonnene moderne Moralität relativiert und rückverwandelt wird in eine vorbürgerliche, zwangsbewehrte Sittlichkeit. Oder noch anders gesagt: dass die „Intersubjektivität“285 ersetzt wird durch „Institutionalität“. Insgesamt also ein Schlag gegen die Freiheit der „produzierten“ Natur und ihrer Mitglieder. Aus dieser Sicht geurteilt ist das nicht einmal falsch. Der Vorwurf ist indes haltlos, wenn man beide Naturen im Blick hat und bedenkt, dass nicht die feudale Sittlichkeit restauriert werden soll, sondern jetzt eine Sittlichkeit auf Basis „vernünftiger Institutionen“ gefordert ist. Nach dem Zerfall der „naturwüchsigen Sittlichkeit“ ist nun geschieden, ist hier „Recht“ und dort „Moral“, was einst vereint war. Vom Recht wissen wir, dass es der „produzierten“ Natur angehört. Wie ist es mit der Moral? Sie kristallisiert sich aus jenem Teil der „naturwüchsigen Sittlichkeit“ heraus, der mit der „primären“ Natur verbunden war und über den sich die Pflicht dieser gegenüber geltend machte. Diese Pflicht steht jetzt als „äußerliche“ Pflicht nicht mehr zur Debatte. Und es ist leicht, sie in Misskredit zu bringen, da sie sich zuletzt in der verzerrten Weise einer Pflicht gegenüber dem König bzw. einer feudalen Obrigkeit zeigte. Der Bindung an die „produzierte“ Natur, auch der Bindung an sie über das Recht, kann das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft nicht ausweichen. Aber von jener an die andere Natur ist es jetzt freigestellt. Freiheit! Bitte schön, wer sich ihr weiterhin verbunden sieht und wer es sich leisten kann, mag sich entsprechend verhalten. Das ist seine Sache. Das ist freiwillig. Das geht die bürgerliche Gesellschaft nichts an. Was früher Pflicht war, ist jetzt in das Belieben gestellt, ist jetzt bloßes Sollen. Mit anderen Worten: Die Moral ist eine Art „Trostpreis“, der an die „primäre“ Natur geht – als Ersatz dafür, dass ihr das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft in verbindlicher Form nicht mehr verpflichtet ist. „Sittlichkeit“ steht in enger Beziehung zu „System“ und „objektivem Geist“. Alle drei sind Begriffe gleicher Wertigkeit und der gleichen Ebene. Sie stellen lediglich je andere Aspekte eines gleichen Sachverhalts, eines gleichen Prozesses in die Mitte. Wird durch das „System“ das dialektische Verhältnis der „produzierten“ und der „primären“ Natur als ein Verhältnis von Teilsystemen charakterisiert, die vom Ge284 G. Lübbe-Wolff: Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: B. Sandkaulen/V. Gerhardt/W. Jaeschke (Hrsg.), Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009 (HS, Beiheft 52), S. 330. 285 M. Theunissen: Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts, in: D. Henrich/R.-P. Horstmann (Hrsg.), Hegels Philosophie des Rechts, S. 317–381. Dieser Vorwurf wird uns noch an anderen Stellen dieser Schrift beschäftigen.

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samtsystem überwölbt und relativiert sind, so geht es hier um ihre Derivate „Recht“ und „Moral“. Der „objektive Geist“ wiederum ist die „Einheit“, in der auf der Ebene des „Ganzen“ und der Sittlichkeit die Momente der Einzelheit beider Naturen, „Person“ hier, „Subjekt“ dort, zusammenführt werden. Hegel erkennt – im Unterschied zu Kant und Fichte –, „dass man gute Ordnung und wirkliche Tugend nicht von freischwebenden Sollenssätzen zu erwarten hat, sondern von vernünftigen und als vernünftig begriffenen Institutionen“286. Die „Sachzwänge“, die von Seiten der „produzierten“ Natur auf den Menschen einstürmen, und die mit ihnen verbundenen „Rechtszwänge“ sind so gewaltig, so allgegenwärtig, so konträr zu dem, was die andere Natur fordert, dass bloßes Sollen bedeutet, diese Natur im Stich zu lassen. Mit der Scheidung in Recht und Moral ist also das Band zerrissen, das beide Naturen bisher zusammenhielt. War die „Pflicht“ zur Natur bislang ein Bestandteil des Rechts, so wird das Recht jetzt „pflichtlos“. Und wenn auch das einzelne Mitglied nicht gezwungen wird, alle seine Rechte auszuschöpfen: Sein Erfolg in der bürgerlichen Gesellschaft hängt maßgeblich davon ab, ob und wie viel er davon für sich nutzt. Wer sich zurückhält, wer den rechtlichen Rahmen nicht ausschöpft, wer sich menschlich zur anderen Natur verhält, wird mit ökonomischem Misserfolg, allgemeiner: mit Nachteilen aller Art bestraft.287 Anhand zweier Institutionen, Ehe und Staat288, macht Hegel deutlich, dass die Bindung an beide Naturen unauflöslich ist. Beide sind auch als Institutionen „unmittelbare sittliche Verhältnis[se]“289 und (deswegen) keine Vertragsverhältnisse. Das ist der Grund, warum Hegel dagegen polemisiert, einmal gegen Kant290, zum anderen gegen Rousseau291, sie zu solchen zu erklären. Beide sind Mitte und Vermittlung. Zu Vertragsverhältnissen gemacht, werden sie um ihr Wesen gebracht und der „produzierten“ Natur zugeordnet.

286 Lübbe-Wolf, Aktualität, a.a.O., S. 332. 287 Auch hierzu ein Hinweis auf G. Lübbe-Wolff (Recht und Moral im Umweltschutz, Baden-Baden 1999, S. 22). An praktischen Beispielen zeigt sie, was demjenigen an Nachteilen „blüht“, der sich aus freien Stücken, also ohne dazu rechtlich verpflichtet zu sein, vernünftig gegenüber der Umwelt verhält. 288 § 142/N R. 289 § 161 und § 257 R – Hervorhebung bei Hegel. 290 Siehe die Polemik in § 161/Z R. 291 Siehe dazu § 258/A R. Wenn es dort heißt, es sei das Verdienst Rousseaus gewesen, „den Willen als Prinzip des Staates aufgestellt zu haben“, so folgt sogleich die wichtige Einschränkung: Ungenügend sei, dass er den „Willen nur in bestimmter Form des einzelnen Willens“ und nicht den „allgemeinen“, nicht das „Vernünftige des Willens“ in den Mittelpunkt gestellt habe.

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Die Sittlichkeit ist nicht bloß das Dritte neben Recht und Moralität. Das wäre mechanisch gesehen.292 Recht und Moralität werden vielmehr durch sie relativiert. Und es ist keineswegs rückwärtsgewandt, wenn Hegel die Dichotomie, wenn auch nur partiell, zurücknimmt zu Gunsten der „Einheit“ bzw. der Sittlichkeit. Das täuscht. Hegel will nicht zur antiken293 oder mittelalterlichen Sittlichkeit zurück, sondern strebt dem Neuen zu, dem Ergebnis ihrer Aufhebung, der Vernunft. Wie ist es denn? Die Vertreter des Naturrechts meinen, mit der Aufteilung in Recht und Moral den Stein der Weisen gefunden zu haben. Jeder Natur das Ihre: der „produzierten“ das Recht, der „primären“ die Moral. Als ob damit ein Gleichgewicht hergestellt wäre! Als ob diese Moral ein ausreichendes Pendant wäre! In Wirklichkeit werden über diese Trennung die „primäre“ Natur und jener Teil des Menschen, der zu ihr gehört, ausgegrenzt und entrechtet. Hier sieht Hegel den Korrekturbedarf. Denn nüchtern wie er die Welt betrachtet, sieht er natürlich, dass man das Wohl dieser Natur nicht durch Appelle an die Tugend dauerhaft wahren kann, ja dass sie zum Freiwild erklärt würde, würde man es dabei belassen. Zur Natur der „produzierten“ Natur gehört es, dass sie sich ihr Gegenüber unterwirft und einverleibt. Und da sie sich dazu ihrer Mitglieder bedient, verlangt sie genau das von ihnen. Was sollten demgegenüber moralische Appelle bewirken? Wer will und wer kann es sich leisten, ihnen Gehör zu schenken? Völlig zu Recht vertritt daher G. Lübbe-Wolff in ihren Arbeiten den Standpunkt, dass die Sittlichkeit Hegels deshalb untrennbar mit der „Institution“ verbunden ist, weil moderne Sittlichkeit notwendig die Institutionalisierung erheischt. Die „Vernunftgestalten“, die Hegel an die Stelle der archaischen und feudalen Vorläufer treten sieht, sind nichts weiter als die „Hüter“ der Einheit, als die Verwalter unseres Schicksals. Von daher ist es bedauerlich, dass „gerade in diesem Kern, als Philosophie der Institutionen und einer Kultur des Institutionellen, ... Hegels Philosophie ... nicht ‚herrschend‘ geworden oder auch nur zu einer breiten Rezeption gelangt“294 ist. Zwar wäre die bürgerliche Gesellschaft (oder besser: einige wenige ihrer Mitglieder) weniger reich, als sie es gegenwärtig ist, andererseits

292 G. Lübbe-Wolff (Sittlichkeit, a.a.O., S. 243/247) weist daraufhin, dass Hegels Aufhebung der Dichotomie Recht–Moral „nicht einfach darin [besteht], dass er sie um einen dritten Teil, der Lehre von der Sittlichkeit, aufstockt“, sondern darin, dass er darin die „Sphäre der Einheit und Wahrheit ..., die Sphäre der Einheit von Recht und Moralität“ sieht. 293 Die antike Sittlichkeit vertrug sich mit der Sklaverei; wie sich aus § 57/Z R ergibt: „Die Sklaverei fällt in den Übergang von der Natürlichkeit des Menschen zum wahrhaft sittlichen Zustande; sie fällt in eine Welt, wo noch ein Unrecht Recht ist.“ Ja sie war dort Korrektiv eines Zustands, „wo noch ein Unrecht Recht ist“. 294 Lübbe-Wolf, Aktualität, a.a.O., S. 347.

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stünden wir nicht vor einer derart ausgeplünderten Natur, hätten wir uns im Sinne dieser Philosophie verhalten. Zwei Bemerkungen zu den Kapiteln 1 und 2: Der heuristische Gehalt meines Ansatzes scheint mir außer Frage zu stehen. Ich bin mir aber bewusst, dass die Begründung allerlei Schwächen aufweist und sowohl einer Straffung als auch eines weiteren Ausbaus bedarf. Ich selbst bin dazu derzeit und (angesichts meines Alters) wohl auch in der Zukunft nicht fähig. Seit meiner Beschäftigung mit Hegel habe ich es stets als Mangel empfunden, dass trotz der Literaturfülle im Grunde die „Endaussagen“ schwammig und vage sind. Und sie widersprechen sich häufig. Das kann wohl auch nicht anders sein, solange ein fester Grund fehlt. Diesen glaube ich in den „zwei Naturen“ gefunden zu haben. Gewissermaßen das „Basis-Paar“, von dem aus die vielen, davon abgeleiteten, Gegensatzpaare logisch widerspruchsfreier zu erklären sind, als wenn sie je für sich und als frei im Raum schwebend untersucht werden. Die „Gestalten“ der „Einheitsnatur“ sind, systemtheoretisch gesehen, auf der Ebene des Gesamtsystems angesiedelt. Da in den Bruch des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ dessen vielfältige Sub-Gestalten einbezogen sind, wird diese ganze Ebene „gestaltlos“. Sie scheint als „Sein“ verloren zu gehen, jedenfalls gerät sie als solches aus dem Blick. Aber die „Gestaltlosigkeit“ ist nur der Durchgangspunkt zur „Vernunftgestalt“. Diese stellt sich nicht von selbst ein, sondern muss von uns hergestellt werden; daran erinnert uns die „Idee“. Ob dies rechtzeitig geschieht, wird über unser Schicksal entscheiden. Da die Vernunft ein überaus rares Gut ist, sind Zweifel angesagt. Aber verhärtet sich der Durchgangspunkt zum (schöngeredeten) Dauerzustand, könnte er bald der Schlusspunkt sein.

3 Exkurs Anhand „Entfremdung/Entäußerung“: Die Naturfrage bei Hegel und Marx. Ein Vergleich.

„Entfremdung“ und „Entäußerung“ sind wichtige Begriffe sowohl bei Hegel als auch bei Marx. Aber zu Recht sieht G. Lukács295 in der Herangehensweise an das von ihnen erfasste Problem einen der zentralen Unterschiede zwischen beiden Denkern. Er skizziert Hegels Position so: Dieser sehe die „Entäußerung“ aufgrund eines/seines „ökonomisch unreifen“ Standpunktes als Problem der Vergegenständlichung an. Als Ergebnis der „produktiven“ Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur, kurz: der menschlichen Arbeit, sehe er beide, „Entäußerung“ und „Entfremdung“, im Zusammenhang; beide halte Hegel für unvermeidbar, beide seien sie für ihn Teil seines „Schicksals“. Anders Marx. Auch er leugnet die Entfremdung nicht. Da für ihn aber die „produzierte“ Natur die menschliche Natur ist, da für ihn mit dem „Produzieren“ der Mensch beginnt, kann diese Natur, die sein Zuhause ist, keine Entfremdung begründen. Wenn es sie trotzdem gibt, muss sie eine andere Ursache haben. Die einzig logische Erklärung liegt für ihn darin, dass diese Natur aus Gründen, die ihr nur zeitweilig anhaften, aber an sich außerhalb von ihr liegen, dem Menschen „fremd“ ist. Dieser Grund ist das Privateigentum an Produktionsmitteln, allgemeiner: die Trennung der Produzenten vom Ergebnis ihrer Produktion. Abschaffung des Privateigentums bedeutet für ihn also zugleich Befreiung der „produzierten“ Natur von allem, was sie dem Menschen fremd macht. Für Marx, so Lukács, seien „Entfremdung“ und „Vergegenständlichung“ daher „aufs schärfste getrennt.“ Letztere sei „ein Charakteristikum der Arbeit überhaupt, der Beziehung der menschlichen Praxis zu den Gegenständen der Außenwelt“296, die „Entfremdung“ dagegen sei eine Spezifik kapitalistischer Produktion. „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber.“297 Das führe „zunächst“298 zu „unmenschlicher“ Vergegenständlichung. Im Kommunismus sei dieser Missstand beseitigt. Dort werde es also weiterhin die „Vergegenständlichung“ – jetzt die „menschliche“299– geben, aber keine 295 G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 680 ff. 296 Ebd., S. 696. Ähnlich R. Garaudy in Gott ist tot. Eine Studie über Hegel (Berlin 1965, S. 76 ff. u. 281 f.). 297 K. Marx, ÖPM, S. 511. 298 Ebd., S. 574. 299 Vgl. ebd., S. 572; R. Garaudy (a.a.O., S. 83): „die positive Seite der Arbeit“.

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„Entfremdung“. Das „Produzieren“ als das den Menschen Ausmachende charakterisiert hiernach alle Gesellschaftsordnungen, angefangen bei der Urgesellschaft bis hin zum Kommunismus. Zu Ende gedacht: Je mehr sich der Mensch vergegenständlicht, umso mehr ist er Mensch. Das macht sein Wesen aus; das ist daher positiv zu sehen. Wer die Vergegenständlichung negativ sieht, wer im „Produzieren“ etwas dem „Sündenfall“ Nachfolgendes, also Verbotenes sieht, offenbart damit bereits den metaphysischen/idealistischen/reaktionären Pferdefuß seiner Philosophie.300 Die Kritik an der „Gegenständlichkeit“, die Warnung vor ihr, wird dann zur Warnung vor dem Menschen und seinem Tätigsein. Letzteres sei für den Idealismus Sache Gottes. Gott mache den Geist gegenständlich; Resultat ist die Schöpfung. Was Gott vorbehalten ist, ist dem Menschen versagt. „Produzieren“ als unerlaubte Schöpfung, als Perpetuierung des Sündenfalls muss aus dieser Sicht zwangsläufig etwas Negatives bewirken: nämlich Entfremdung. Den Anstoß gibt L. Feuerbach. Seine Kritik der hegelschen Philosophie zielt auf das „charakteristische Element Hegels, ... [das] Element der Differenz.“301 Immer diese zwei Wahrheiten, immer diese Gegenüber von Geist und Natur, von Subjekt und Objekt, von Geistphilosophie und Naturphilosophie! Immer diese Aufhebung der Gegenüber im Absoluten! Aber das Absolute, was ist das? „Nichts als das Und, die Einheit von Geist und Natur. Sind wir denn aber damit weitergekommen?“ Haben wir am Ende mehr in der Hand als ein „vages, namenloses Wesen“302? „Wie die Theologie den Menschen entzweit und entäußert, um dann das entäußerte Wesen wieder mit ihm zu identifizieren, so vervielfältigt und zersplittert Hegel das einfache, mit sich identische Wesen der Natur und des Menschen, um das gewaltsam Getrennte dann wieder gewaltsam zu vermitteln.“303 Und wie kommt Hegel aus diesem Zwiespalt heraus? Doch nur dadurch, dass er das Prädikat zum Subjekt und das Subjekt zum Prädikat macht. Aber: „Hatten wir nicht diese Einheit schon im Begriffe der Natur selbst?“304 Was also ist zu tun?

300 Vgl. T.I. Oiserman: Die Entfremdung als historische Kategorie, Berlin 1965, S. 60: Oiserman sieht im hegelschen Entfremdungsbegriff, der „jede Gegenständlichkeit ... als eine ‚fremde Wirklichkeit‘“ ansieht, „am unmittelbarsten die idealistische Entgegensetzung von Geistigem und Materiellen“ widergespiegelt. 301 L. Feuerbach: Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, hrsg. v. Wolfgang Harich, Berlin 1955, S. 21, 53. 302 Ebd., S. 53. 303 L. Feuerbach, a.a.O., S. 72. Für den jungen Engels sind das alles Hinweise darauf, dass Hegel „nicht Ernst mit der Überwindung der Gegensätze“ machen will (MEW 1, S. 567). 304 Feuerbach, a.a.O., S. 53.

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Die Verselbständigung des Begriffs zu Gunsten einer Verselbständigung der Natur umkehren. Also „Verkehrung der realen Subjekt-Objekt- und SubjektPrädikat-Beziehungen“ durch Anwendung der „Umkehrmethode“305. Das ist die Lösung; sie leuchtet Marx ein, macht ihn zum „Feuerbachianer“ und bezeichnet seinen Übergang von der hegelschen zur „Feuerbachschen Dialektik“306. Diese „Umkehrmethode“ praktiziert Marx zum ersten Mal bei seiner „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ – einer Ausarbeitung, die durchgängig durch sie geprägt ist. Und da in „dieser Umkehrung … die ganze Kritik am Hegelschen Idealismus enthalten“ ist307, steht ihr Ergebnis bis heute hoch im Kurs.308 Diese „Feuerbachsche Dialektik“ unterscheidet sich von der hegelschen u.a. darin, dass mit dem „System“ auch die „Vermittlung“ im Verständnis Hegels gestrichen ist, also als Herstellen einer Gleichheit der „Entgegengesetzten“.309 Entschieden formuliert Marx: „Wirkliche Extreme kön305 W. Schuffenhauer: Feuerbach und der junge Marx. Zur Entstehungsgeschichte der marxistischen Weltanschauung, Berlin 1965, S. 50 u. 55. Wie sehr die „Umkehrmethode“ das Hegelverständnis der DDR-Philosophie geprägt hat, dazu H. Ley: Die Aufhebung der Hegelschen Philosophie durch Lenin, in: ders. (Hrsg.), Zum Hegelverständnis unserer Zeit. Beiträge marxistisch-leninistischer Hegelforschung, Berlin 1972, S. 17–57 sowie die weiteren Aufsätze des Bandes. 306 Schuffenhauer, a.a.O., S. 56. 307 J. Hyppolite: Der Hegelsche Staatsbegriff und seine Kritik durch Karl Marx, in: M. Riedel (Hrsg.), Materialien 2, S. 441–461. 308 Es wird von all denjenigen gelobt, die den „liberalen Hegel“, den Hegel der bürgerlichen Gesellschaft favorisieren. M. Riedel dazu: „[S]ein unvollendeter Kommentar … [gehört] zu den bedeutendsten Leistungen der Hegel-Exegese, dem die zeitgenössische Schulphilosophie nichts Vergleichbares an die Seite zu stellen hat.“ (M. Riedel: Einleitung, in: ders. [Hrsg.], Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1975, S. 28.) Das Praktizieren der „Umkehrmethode“ wird überhaupt bald die Basis einer partiellen Annäherung des Liberalismus an den Marxismus, z.B. in der Staatsfrage. Denn wie es H. Freyer (Die Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1921, S. 94) bereits Anfang der 20er-Jahre erkannt hat: Dabei „kehrte sich dem jungen Marx das Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesellschaft völlig um: die bürgerliche Gesellschaft, bei Hegel untergeordnetes Moment im Vernunftstaat, wurde zur konkreten Realität, der Staat zum abstrakten Oberbau.“ M.J. Siemek (Von Marx zu Hegel. Zum sozialpolitischen Selbstverständnis der Moderne, Würzburg 2002, S. 10) hält solchem Lob entgegen, dass mit Übernahme der „Umkehrmethode“ die Ausklammerung der „primären“ Natur und deren Subjektivität aus dem Begriff des Politischen besiegelt war, dass sie überhaupt auf eine „Halbierung“ all dessen hinausläuft, was die Philosophie Hegels ausmacht, dass sie im Endeffekt den Marxismus zu einer Philosophie macht, die nur jenen „Sonderfall der Natur“ zum Gegenstand hat, „welchen die menschliche Gesellschaft bildet.“ 309 H. Glockner (a.a.O., S. XVIII) dazu: „Das Wesen der Vermittlung verkannte Feuerbach. Er ging von Anfang an in seiner Hegel-Kritik zu weit und schlug sich auf die Seite eines handfesten Monismus, für dessen Abstraktionen er blind war. Hegels Anti-Dualismus

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nen nicht miteinander vermittelt werden, eben weil sie wirkliche Extreme sind. Aber sie bedürfen auch keiner Vermittlung, denn sie sind entgegengesetzten Wesens.“310 An die Stelle der – wie ich dazu sage – „homogenisierenden Vermittlung“, die als „geistige Akrobatik“311 angesehen wird, setzen Marx/Engels daher eine „Wechselwirkung“, die dem Gesetz von der „Einheit und dem Kampf der Gegensätze“ unterstellt ist.312 Also eine „hierarchisierende Wechselwirkung“. Denn die Stellung der „Extreme“ ist „keine gleiche“, deshalb „greift [das eine] über das andere über.“313 Das ist eine Position, die über die Stationen „Heilige Familie“ und „Pariser Manuskripte“ weiterentwickelt314 und zum festen Bestand der „materialistischen Dialektik“ wird.315 Dass aus dem Kampf Ungleicher die „produzierte“ Natur als Sieger hervorgehen soll (und ja auch tatsächlich hervorgeht!), versteht sich aus dem Vorstehenden von selbst. Das „System“ und mit ihm: das ganze „Begriffswesen“, diese „rationelle Mystik“316, sind gestrichen. Und wo ist man nun? – Bei der Natur. Bei einer Natur, die nicht gewaltsam getrennt ist und daher nicht gewaltsam wieder zusammengefügt werden muss. Diese ununterschiedene Natur, die Rückkehr zu ihr, „ist allein die Quelle des Heils.“317 Soweit, so gut. Sehen wir aber genauer hin, so sehen wir, dass Feuerbach und nun auch Marx/Engels nur dorthin gelangen, wo die Philosophie der Aufklärung bereits war: zu einem einheitlichen Naturbegriff – allerdings ist der ihrige dialektisch „angereichert“ und deshalb „gallo-germanisch“318 bzw. „materialistisch“. Der Weg ist geebnet, der von dieser zunächst nur „umgestülpten“ Dialektik zur „Logik des Kapitals“ führt.319 Aber der Preis ist hoch. Denn fehlt es an der „Vermittlung“, ist die Einheit, zu der Feuerbach/Marx/Engels gelangen, nur eine „formelle

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bedeutete keineswegs ein monistisches Bekenntnis. Hegel stand über jeder Alternative, also auch über dieser.“ MEW 1, S. 292. Hyppolite, a.a.O., S. 451. Vgl. dazu: MEW 20, S. 348 ff. MEW 1, S. 294. Zwei Sätze F. Engels’ weisen auf diese Weiterentwicklung hin: „Feuerbach durchbrach das System und warf es einfach beiseite. Aber man wird nicht mit einer Philosophie fertig dadurch, dass man sie einfach für falsch erklärt.“ (Marx/Engels, AS II, S. 337) Siehe dazu A. Arndt: Hegels Wesenslogik und ihre Rezeption und Deutung durch Karl Marx, in: ders./G. Kruck (Hrsg.), Hegels „Lehre vom Wesen“, Berlin 2016, S. 181–194. Schuffenhauer, a.a.O., S. 57. Ebd., S. 66. Feuerbach plädiert für eine „gallo-germanische Alliance“ in der Philosophie. Dazu Schuffenhauer, a.a.O., S. 71. Vgl. A. Arndt, a.a.O., S. 182 f.

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Einheit“, die verdeckt, dass eine „Bestimmtheit“ die „Herrschaft über die anderen Bestimmtheiten“320 erlangt. Dieser ununterschiedenen Natur steht der ununterschiedene Mensch zur Seite. Ein Mensch, dessen „ganzes Wesen ... sein Unterschied vom Tiere“321 ist. In § 54 seiner „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“ fasst Feuerbach seinen „anthropologischen Materialismus“322 zusammen: „Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluss der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie – die Anthropologie also, mit Einschluss der Physiologie, zur Universalwissenschaft.“323 Mit dieser für den Menschen daseienden Natur und mit diesem „über den Tieren stehenden Wesen“324 Mensch ist der Grundstein für das rings um die „Person“ und die „bürgerliche Gesellschaft“ gruppierte anthropozentrische Weltbild gelegt. Der „Mensch“ Feuerbachs ist ein aus seinem „Schicksal“ herausgelöster, ein idealisierter und privilegierter Mensch. Für Hegel eine Spukgestalt. Und wie recht er damit hat, zeigt sich darin, dass Feuerbach, bei diesem Menschen angelangt, mit seiner Philosophie am Ende ist. Ebenso ist es nahezu zwangsläufig, dass Marx/Engels, angezogen von Feuerbachs „anthropologische[m] Ansatz“325, aber unzufrieden mit dessen Verharren in der Abstraktion, diesen „Menschen“ konkret machen wollen. Sie loben Feuerbach dafür, dass er den hegelschen „metaphysischen absoluten Geist in den ‚wirklichen Menschen auf der Grundlage der Natur‘ auflöste“326. Und sie loben auch das Resultat: das einseitig auf den Menschen zugeschnittene Naturund Weltbild, dessen Botschaft lautet: Die Natur, diese Natur, hat den Menschen hervorgebracht. Also ist sie auch damit einverstanden, dass er sie sich unterwirft.327 Sie kritisieren Feuerbach, der geahnt haben mag, vor welchem Graben er steht, dafür, dass er nicht den „tätigen“, sondern den „liebenden“328 Menschen in die Mitte stellt. Das ist unakzeptabel. Das ist für sie der Schwachpunkt der „neuen Philosophie“, da damit nicht genug das ausgedrückt ist, was jetzt nottut: die zupackende, die naturverändernde Tat. Sie hinterfragen das „Losungswort ‚Mensch‘“.329 Sie über320 321 322 323 324 325 326 327 328 329

NR, S. 449. Feuerbach, a.a.O., S. 162. J. Höppner, a.a.O., S. 383. Feuerbach, a.a.O., S. 163 – Hervorhebungen bei F. Ebd., S. 162. Mit diesem „anthropologischen Ansatz“, so Schuffenhauer (a.a.O., S. 147), ist Feuerbach dabei, „Hegels Geschichtskonstruktion“ zu überwinden, die das geschichtliche Werden nicht vom Menschen, sondern „von einer überweltlichen absoluten Idee“ ausgehen lässt. MEW 2, S. 147. MEW 23, S. 192: dass er „das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit“ unterwirft. Zum Begriff der „Liebe“ bei Feuerbach: Schuffenhauer, a.a.O., S. 71. Schuffenhauer, a.a.O., S. 147.

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schreiten den Graben, den sich Feuerbach zu überqueren scheut. Sie korrigieren ihn und sagen: Ja, der Mensch ist das höchste Wesen der Natur, aber nicht als deren Resultat, sondern als deren Basis330 – was heißen soll: Resultat der einen, aber Basis der anderen Natur. Damit ist der Schritt getan, der auf die andere Seite führt, zur anderen Natur und zum „tätigen“, zum „naturschaffenden“ Menschen. Und wer ist „tätiger“ in diesem Sinne331 als der Proletarier? Nicht Gott, sondern der Mensch ist das höchste Wesen, könnte man Feuerbachs „Das Wesen des Christentums“ zusammenfassen. Ihm untersteht die Natur – nicht jenem. Diesen Standpunkt übernimmt Marx, überträgt ihn auf die Ökonomie und führt ihn gegen Hegel ins Feld. Verworfen ist damit die „Liebe“ – dieser „Zaubergott, der bei Feuerbach über alle Schwierigkeiten des praktischen Lebens hinweghelfen soll – und das in einer Gesellschaft, die in Klassen mit diametral entgegengesetzten Interessen gespalten ist.“332 Die bürgerliche Gesellschaft ist Arbeitsgesellschaft. Dort wird gehobelt. Dort fallen Späne. Marx ergänzt Feuerbach also dort, wo dieser vor den Konsequenzen seines eigenen Standpunktes zurückschreckt333. Er betont die tätige Seite, den „tätigen“, den produzierenden Menschen. Und wer ist das? Nicht jeder Mensch, sondern der Proletarier. Er ist der „tätige“ Mensch; er vergegenständlicht seinen „Geist“ – und das ist gut so, hieraus erklärt sich seine historische Mission. Ungut ist aber, dass dieser „Tätige“ von den Mitteln getrennt ist, die er zum Produzieren benötigt, dass diese sich in der Hand von „Untätigen“ befinden. Diese Trennung ist das Grundproblem. Ist sie beseitigt, ist damit auch die Ursache der „Entfremdung“ beseitigt. Mit dem so ergänzten334 Feuerbach polemisiert Marx gegen Hegel; die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ entstehen. Anmerkung: Als circa 110 Jahre später E. Bloch in „Das Prinzip Hoffnung“, vor allem unter Bezugnahme auf den jungen und „mittleren“ Marx, eine Annäherung des Marxismus an Hegel (mehr noch an Schelling!) versucht und andeutet, dass, indem sie sich vor allem am Marx des „Kapitals“ orientiert, sich auch die sozialistische Gesellschaft ausbeuterisch gegen die „primäre“ Natur verhält, stößt das auf den schärfsten Wi-

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Siehe dazu: Schuffenhauer, a.a.O., S. 147. Und wenn man noch dazu die körperliche Arbeit als die Hauptform der Arbeit ansieht! Marx/Engels, AS II, S. 352. Marx (MEW 3, S. 533 – Thesen über Feuerbach) kritisch: „Er betrachtet daher ... nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig-jüdischen Erscheinungsform gefasst und fixiert wird.“ 334 H. Ottmann, Der Begriff der Natur bei Marx, ZphF39 (1985), S. 215–228, hier S. 219: „Mit Feuerbach wird gegen Hegels Naturbegriff polemisiert“.

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derspruch bei der Partei- und Staatsführung und läutet das Ende seiner Mitgliedschaft zur DDR-Gesellschaft ein. Textstellen wie diese sind es, an die er anknüpft: „Die Natur wird … rein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; hört auf als Macht für sich anerkannt zu werden; und die theoretische Erkenntnis ihrer selbständigen Gesetze erscheint selbst nur als List, um sie den menschlichen Bedürfnissen, sei es als Gegenstand des Konsums, sei es als Mittel der Produktion zu unterwerfen.“335 Bloch sieht den Gegensatz der beiden Naturen durch die zwischenzeitliche Dogmatisierung der marxschen Lehre, mehr noch: durch die Praxis in der Sowjetunion und nun auch in der DDR, besonders schroff ausgebildet, weist auf ihn hin und mahnt seine Abmilderung an. Das trifft auf die prinzipielle Kritik seiner DDRKollegen. Akribisch durchforsten sie sein Werk und weisen ihm nach, dass er den hegelschen Idealismus mit dem marxschen Materialismus „versöhnen“ wolle. Dazu diene er dem Marxismus unter anderem „das reaktionärste an Hegels Philosophie, sein idealistisches System“ als „Fundgrube“336 an. Welche Zumutung! Weiter vorn habe ich dazu bereits ausgeführt, dass Hegel im „System“ beide Naturen zusammenführt und vermittelt, dass es also dazu dient, die überbordende, zerstörerische Dynamik der „produzierten“ Natur zu Gunsten der anderen Natur zu zügeln. Dieses Ziel: die „primäre“ Natur in ihre Rechte einzusetzen, ihr ihre Subjektivität zurückzugeben, versucht Bloch dem Marxismus seiner Zeit nahezubringen, indem er sich auf Aussagen von Marx/Engels beruft, die in diese Richtung zu gehen scheinen. Er wird eines Besseren belehrt: „Freilich, häufig finden wir bei den Marxisten Formulierungen wie z.B. ‚Die Natur rächt sich‘ oder ‚Die Natur hat selbst den Reichtum geschaffen‘. Ein Vertreter des dialektischen und historischen Materialismus wird daraus nie folgern, es handle sich hier um einen von der Natur bezweckten, auf die menschliche Produktion bezogenen Prozess.“337 Zu interpretieren seien solche Aussagen wie folgt: Der Architekt darf nicht die Gesetze der Statik, der Techniker darf nicht die Gesetze der Mechanik verletzen – sonst rächt sich die Natur. Nicht aber dürfen sie verstanden werden in dem Sinne, dass die Natur sich generell für ihre Inanspruchnahme durch den Menschen „rächt“. Dem Anliegen Blochs, der „primären“ Natur ihre Subjektivität zurückzugeben, sie nicht bloß als Objekt der Ausbeutung anzusehen und zu behan335 GR, S. 313. 336 W. Schubardt: Philosophie und Politik im Hegelvortrag Ernst Blochs, in: R.O. Gropp u.a., Ernst Blochs Revision des Marxismus. Kritische Auseinandersetzungen marxistischer Wissenschaftler mit der Blochschen Philosophie, Berlin 1957, S. 233. 337 H. Engelmann: Produktivkräfte und Natur – Kritik der Technikkonzeption von Ernst Bloch, in: R.O. Gropp u.a., a.a.O., S. 174.

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deln, wird entgegengehalten: „Nach marxistischer Auffassung ist sie [die aus Sicht Blochs rein kapitalistische Verhaltensweise ihr gegenüber] … das einzig mögliche reale Verhältnis zur Natur.“ Der Versuch, die Natur zum Mitarbeiter, zum Subjekt zu machen, kann sich auf Marx nur stützen, wenn dieser „völlig falsch interpretiert“338 wird, wenn man Marx durch Schelling ergänzt bzw. „auffrischt“339. *** Wie Marx die Sache sieht, ist gerade gezeigt worden. Und Hegel? Er hat ein anderes Bild sowohl vom Menschen als auch von der Natur. Der Mensch ist Teil der Schöpfung und er ist darüber hinaus selbst Schöpfer, nämlich Schöpfer der „produzierten“ Natur. Er gehört beiden Naturen an. Diese Doppelexistenz macht seine Spezifik, macht die menschliche Natur aus. Hinzu kommt: Beide Naturen stehen sich gegenüber. Die „produzierte“ entsteht auf Kosten der anderen; der Mensch als ihr Produzent steht mithin jenem Menschen gegenüber, der der „primären“ Natur angehört. Mit seinem Produzieren zerstört er sowohl diese als auch sich selbst. „Entfremdung“ ist für Hegel also die Folge dessen, dass sich der Mensch, indem er „tätig“ ist, immer weiter von jener Natur entfernt, der er als biologisches Wesen angehört. Und zugleich wird er von der von ihm selbst hervorgebrachten „Gegen“-Natur vereinnahmt. Als Teil der einen steht er der anderen, als Teil der anderen steht er der einen Natur fremd gegenüber. Eine Verdoppelung, eine doppelte Fremdheit. Sie ist unvermeidbar. Sie gehört zu seinem Wesen. Sie belastet und verpflichtet ihn. Kurzum: Sie ist sein Schicksal. Sie macht sein Dasein zum ständigen Spagat, zur gelebten Aufgabe, ihm gerecht zu werden. Wie wir bereits sahen, ist es das Problem der vorhegelschen Philosophie, dass ihr ein Naturbegriff zugrunde liegt, der die Differenzierung in „produzierte“ und „primäre“ Natur und damit auch die Wesensungleichheit der beiden „Naturen“ nicht kennt und insoweit unklar ist. Indem Marx Hegels „System“ verwirft und die „produzierte“ zur herrschenden Natur macht, fällt er insoweit von Hegel ab und nähert sich dem Standpunkt Fichtes an. Mit dem „System“ ist jenes Sein verworfen, das in der „Wesenslogik“ abgehandelt ist – das „gestaltlose Sein“, dessen Gestalt nur in der „Idee“ aufbewahrt bzw. antizipiert ist. Die Blindheit ihm gegenüber verändert auch

338 Ebd. Eine gängige Interpretation der marxschen Naturauffassung in der DDR war diese: „Der Mensch ist aus der Natur hervorgegangen, als biologisches Wesen Teil der Natur, erhebt sich jedoch über diese und stellt sich ihr vermittels der Arbeit gegenüber.“ (PhWB, S. 376) 339 Siehe dazu J. Habermas: Ernst Bloch. Ein marxistischer Schelling, in: ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a.M. u. Wien 1991, S. 141–159.

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die Dialektik. Jene Hegels ist eingebettet in das „System“340. Sie macht deswegen nicht nur die Beziehungen zwischen den zwei Naturen sichtbar, sondern auch jenen Beziehungs-Komplex, der sich um das „gestaltlose Sein“ rankt; sie stellt die Verbindung zwischen dem Ganzen und den Teilen her. Gerade das aber wird von Marx als der konservative, die „Methode“ stark einengende Teil angesehen und gekappt.341 Folge ist, dass diese, aus ihren ontologischen Zusammenhängen gerissene, Dialektik damit auf bloße Wechselwirkung der beiden Naturen reduziert ist. Der Weg ist frei, die „produzierte“ Natur „übergreifen“ zu lassen. Im Grunde ist damit das Herangehen der modernen Systemtheorie antizipiert: Zur Seite gelegt wird ja nur das System „Natur“, nicht das System an sich. Es werden nur andere Prioritäten gesetzt. „System“ ist jetzt die eine oder die andere Natur, wie sich schon in der Unterscheidung von dialektischem und historischem Materialismus zeigt. Wo Hegel zwei Naturen als „System“ sieht, ist für Marx die bürgerliche Gesellschaft ein solches. Aus dieser werden die „Gegenüber“ gewonnen, wie z.B. „Produktion“ und „Zirkulation“ oder „Bourgeoisie“ und „Proletariat“. Damit ist die Dialektik tatsächlich zu jener „Mehrzweckwaffe“ gemacht (oder zumindest in Gefahr, dazu zu werden), von der bei E. Topitsch342 die Rede ist. Hinzu kommt, dass der Marxismus sich nicht mit „Begriffen“ beschäftigt, sondern mit „Gestalten“. Da der Begriff weiter reicht, mehr umfasst als die Gestalt, resultiert daraus eine Verengung des Blickwinkels. Solange sich diese auf durch „Blut und Boden“ hergestellte Gestalten bezieht, bleibt das ohne praktische Folgen. Denn solange sind Begriff und Gestalt eins. Das Problem tritt offen zutage und wird praktisch, sobald sich die bürgerliche Gesellschaft konstituiert. Denn was geschieht? Der Übergang zu ihr beseitigt die historisch letzte naturwüchsige „Einheits-Natur“, das feudale Gemeinwesen. Ab jetzt sind die zwei gegensätzlichen Naturen getrennt – und damit auch der Mensch. Dieser Verlust der „Einheits-Natur“ und des „Einheitsmenschen“ ruft die Philosophen auf den Plan. Die Begriffe „Natur“ und „Mensch“ werden – wir sahen es bereits – im Zuge dieser Wandlung von der Philosophie der Aufklärung neu definiert. Und zwar, da das Flair des Fortschrittlichen sie umgibt, auf Basis der „produzierten“ Natur.343 Ihr „Mensch“ ist jener Teil-Mensch, der von Hegel „Person“ geheißen wird; er setzt nunmehr den ganzen Menschen fort. Was an sich ein Verlust ist, wird zu einem Gewinn, wird in „Freiheit“ umgedeutet.

340 Hegel eindringlich in der Vorrede zur „Phänomenologie“: Wissenschaftliches Denken ist System-Denken! 341 Garaudy (a.a.O., S. 206) sieht darin die Leistung von Marx. 342 E. Topitsch: Kritik der Hegel-Apologeten, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.), Hegel und die Folgen, Freiburg i.Br. 1970, S. 349. 343 Vgl. zu dieser Problematik: B. Rettig, a.a.O., Einleitung (S. 19 ff.).

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Was aber geschieht mit dem „Rest“, mit jener anderen Natur und mit jenem TeilMenschen, der ihr angehört? In Bezug auf die „organische“ Natur ist es schnell gesagt: Sie wird zum Objekt erklärt – zum Objekt, dem das Subjekt „bürgerliche Gesellschaft“ gegenübersteht. Beim Menschen ist es schwieriger. Dessen „organischer“ Teil kann nicht vom „unorganischen“ getrennt werden. Kein chirurgischer Eingriff vermag dies, ohne dass am Ende der Tod steht. Was der Medizin versagt ist, leisten jedoch Logik und Philosophie. Sie separieren den einen Teil vom anderen. Resultat dieser logischen Operation sind die der bürgerlichen Gesellschaft zugeordnete, in ihr agierende „Person“ hier – und dort die politisch, ökonomisch und rechtlich „mundtot“ gemachte „Leiblichkeit“, das „Subjekt“, das in dem neu entstehenden Teilbereich „Moral“ sein Zuhause hat.344 Kommen wir auf unsere Fragestellung zurück: Beantwortet man sie von der Warte der „produzierten“ Natur und der „Person“ aus, die sich ja nun als die „ganze“ Natur, als der „ganze“ Mensch begreifen, entsteht kein „Entfremdungs“-Problem. Ja, dann gibt es jetzt weniger „Entfremdung“ denn je, weil nun die knechtende Bindung an die „organische“ Natur beseitigt ist. Die Vergegenständlichung jedoch gehört zum Wesen dieser Natur und ihres Menschen. Sie ist daher, das ist der Schluss, der gezogen wird, rundum positiv zu sehen. Was Hegel will, um zum Menschen zu gelangen, ist für Marx hingegen „Wesensentäußerung, Entgegenständlichung und Entwirklichung des Menschen“.345 Wo Hegel eine Entfernung des Menschen von seinem Zuhause sieht, konstatiert Marx eine Annäherung an dieses. Zunahme der Entfremdung bei jenem, Abnahme derselben bei diesem, könnte man zusammenfassen. Ein Gewinn auf der einen, ein Verlust auf der anderen Seite. Hegel sieht es so: Die Lücke, die entsteht, findet als „gefühlte Wahrheit“346 ihren deutlichsten Widerhall in der Religion. In ihr ist der Verlust in spezifischer Weise aufgegriffen. Später347 nimmt sich die Philosophie dieser Lücke an, arbeitet sie rational auf, arbeitet an der „Versöhnung des Bewusstseins mit dem Selbstbewusstsein“ als einem ersten Schritt einer „Rückkehr aus dieser Trennung“.348 344 Dem entspricht die zu gleicher Zeit einsetzende Säkularisierung. Moralität und Religion werden zu Bereichen, die aus dem „Politischen“ ausgegrenzt sind. 345 Marx, ÖPM, S. 584. W. Röd (Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Bd. 2: 17. bis 20. Jahrhundert, München 2009, S. 303) kommentiert: „Nur der durch die menschliche Arbeit bedingten Natur, nicht der Natur an sich, galt sein Interesse, denn ‚die Natur, abstrakt genommen, für sich, in der Trennung vom Menschen fixiert, ist für den Menschen nichts.‘“ 346 Phän, S. 585. 347 Phän, S. 585 f. „Der Inhalt der Religion spricht darum früher in der Zeit als die Wissenschaft es aus, was der Geist ist; aber diese ist allein sein wahres Wissen von ihm selbst.“ (Hervorhebung bei H.) 348 Phän, S. 578 f. Wir sahen bereits, dass auch Schelling die Abwertung der/dieser Natur

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Religion und Philosophie stehen also über einen langen geschichtlichen Zeitraum nebeneinander als Ausdruck der „gefühlten“ und der „erkannten“ Wahrheit. Die „produzierte“ Natur ist die Natur des Menschen. In ihrer Gestalt als bürgerliche Gesellschaft ist sie jedoch unmenschlich und nur deshalb verbunden mit „Entfremdung“.349 Diese Gestalt muss daher durch eine menschliche, durch eine kommunistische ersetzt werden. Im Gegensatz zu Hegel ist das Thema bei Marx also auf die Zusammenhänge des kapitalistischen Produzierens reduziert. In dieser unmenschlichen Art und Weise des Produzierens sieht er die Ursache.350 In den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“, in denen er sich „freischreibt“ von Hegel, macht er deutlich: „Nicht dass das menschliche Wesen sich unmenschlich, im Gegensatz zu sich selbst vergegenständlicht“, sei für Hegel das Problem. „Sondern, dass es im Unterschied vom und im Gegensatz zum abstrakten Denken“ überhaupt „sich vergegenständlicht, gilt [ihm] als das gesetzte und als das aufzuhebende Wesen der Entfremdung.“351 Die „produzierte“ Natur an sich, als Natur des Menschen, ist keine der Quellen der Entfremdung. Anders jedoch die bisherigen konkreten Gestaltungen der „produzierten“ Natur: als Sklavenhalterordnung, als Feudalordnung, als bürgerliche Gesellschaft, die alle auf einer Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln beruhen, die alle Ausbeutergesellschaften sind. Deswegen bringt das dortige Produzieren „Entfremdung“ hervor. Beseitigung dieses Zustandes ist also zugleich „Vernichtung der entfremdeten Bestimmung der gegenständlichen Welt“352. Das Thema ist damit nicht nur enger gefasst, sondern ist zu einem anderen gemacht. Hegel geht es um das Verhältnis der zwei Naturen, damit auch: um das Verhältnis zweier Daseinsweisen des Menschen. Marx aber hat sich der Naturauffassung Feuerbachs angeschlossen und diese weiter ausgebaut. Das macht ihn blind für diese rückgängig zu machen sucht. Allerdings auf eine Art und Weise, die, ins Politische fortgedacht, zu einer Öko-Diktatur führen würde. 349 In andere Worte gefasst: Nicht die Produktivkräfte, die der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegen, sind unmenschlich und wirken „entfremdend“, sondern das kapitalistische Produktionsverhältnis. 350 Die Zusammenfassung, die K. Löwith (Sämtliche Schriften. Bd. 4: Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1988, S. 196 – Hervorhebungen bei K.L.) gibt: „Die Differenz zwischen Hegels ‚System der Bedürfnisse‘ und Marxens ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ zeigt sich darin, dass Marx als Selbstentfremdung des Menschen bekämpft, was bei Hegel noch ein positives Moment jeder menschlichen Tätigkeit ist, nämlich die Entäußerung seiner selbst“, ist insofern ungenau, als er „Vergegenständlichung“ und „Entfremdung“ nicht sauber trennt, und auch deshalb, weil sie nicht genügend zum Ausdruck bringt, dass Hegel sie nicht einfach nur positiv bewertet, sondern er hierin das Grundproblem, das „Schicksal“ des Menschen sieht. 351 Marx, ÖPM, S. 572. 352 Ebd., S. 583 (Hervorhebung bei Marx).

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Fragestellung. Trotz der bei ihm – beim „jungen“ mehr, beim „alten“ weniger – zu findenden Wendungen, die den Eindruck erwecken, es sei anders, als stehe er nicht der Natur der Aufklärer, sondern der Natur Schellings nahe, als sei er ein Vordenker der modernen ökologischen Debatte353, prägen also nicht sie sein Werk, sondern seine späteren Äußerungen, vor allem jene im „Kapital“. Die dort beschriebene Natur ist die Natur des Menschen; zu ihr bekennt er sich.354 Insoweit interpretieren ihn seine realsozialistischen Nachfahren richtiger als z.B. E. Bloch. Gegen die hegelsche „Aufhebung“ polemisierend, schreibt Marx: „Einerseits ist dies Aufheben ein Aufheben des gedachten Wesens, also das gedachte Privateigentum hebt sich auf in den Gedanken der Moral.“ Dieses „denkende Aufheben“ glaubt, seinen Gegenstand ... überwunden zu haben“, obwohl es ihn „in der Wirklichkeit steh[e]nlässt“.355 Aber Hegel bezieht sie nicht auf etwas „Gedachtes“, sondern auf ein real existierendes Gemeinsames, wie es im feudalen Gemeinwesen historisch letztmalig Gestalt annimmt. Nur diese Gestalt verlässt die Geschichte. An die Stelle dieser Gestalt treten die aus dem „gestaltlosen Sein“ zu erschließenden „Vernunftgestalten“. Darunter der Mensch in seinem jetzigen „Anderssein“356. Das aber ist Marx nicht genug. Er wendet ein: Zwar widerspricht Hegel den „gangbaren Begriffen“ des Aufgehobenen. Aber er endet im Metaphysischen und nicht im Wirklichen. Das ungegenständliche Wesen, zu dem er gelangt, sei daher ein „Unwesen“ bzw. ein „Scheinwesen“.357 Wogegen Marx sich sperrt, ist die aus seiner Sicht „metaphysische“ (Begriffs-) Logik, mit der Hegel die konstituierenden Elemente sowohl der einen als auch der anderen Natur erfasst und separiert. Und schlimmer noch: Was soll diese „Aufhebung“, wohin führt sie, wenn das Eigentum, wenn die Person, wenn der Vertrag von ihr nicht erfasst werden und diese sich in jeder historischen Gestalt wiederfinden, die das Gemeinwesen annimmt? Richtiger wäre es, das „Aufheben als gegenständliche, die Entäußerung in sich zurücknehmende Bewegung“ durch „Aneignung des

353 Das wird besonders bei W. Schmied-Kowarzik deutlich, der, gestützt besonders auf das Frühwerk, aber auch auf eine Vielzahl beachtenswerter Bemerkungen im ökonomischen Hauptwerk von Marx, dessen ökologische Kompetenz behauptet. Siehe dazu die lesenswerte, sehr problemorientierte Diskussion zu „Marx und die Naturfrage“ zwischen H. Immler und W. Schmied-Kowarzik, gedruckt unter dem Titel Marx und die Naturfrage. Ein Wissenschaftsstreit, Hamburg 1984. 354 Das betont M.J. Siemek (a.a.O., S. 10 f. u. 24 f.). Siehe dazu auch: H. Westholm, a.a.O. 355 Marx, ÖPM, S. 582. J. Habermas (Ernst Bloch, a.a.O., S. 143) verweist darauf, dass Marx, indem er sich Feuerbach anschließt, auch dessen Begriff der „Aufhebung“ zu eigen macht, was heißt: dem „‚Aufheben‘ die Hälfte seines Sinnes nahm“. 356 Phän, S. 575. 357 Marx, ÖPM, S. 583 sowie S. 578 u. 581.

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gegenständlichen Wesens“ zu fassen.358 „Aufhebung“ also als Vernichtung der entfremdeten Bestimmung der gegenständlichen Welt. Eine Aufhebung, die zu dem realen Ergebnis „Kommunismus“ führt, zum „Kommunismus als Aufhebung des Privateigentums“.359 Hegel jedoch verwirft Eigentum, Person und Vertrag nicht generell. Seine Aufhebung bezieht sich nur auf ihre jeweiligen Gestalten. Für die „Einheits-Natur“ ist damit klargestellt, dass sie nach Untergang des „Blut-und-Boden“Zusammenhanges nicht aus der Welt ist, sondern weitergeführt wird. Nur ihr feudaler Charakter, nicht die Verbindung selbst wird aufgelöst und abgelöst durch einen weitläufigeren Zusammenhang, das „Reich der Gesetze“ bzw. den „naturgesetzlichen Gesamtprozess“. Während Marx also die Gestalt „feudales Gemeinwesen“ ganz selbstverständlich durch die bürgerliche Gesellschaft abgelöst sieht, wird sie bei Hegel durch eine geistig zu erschließende Gestalt abgelöst, unter deren Dach, der „konstitutionellen Monarchie“, die beiden Naturen auf neue Weise, in einem neuartigem Verbund, als jetzt relativ verselbständigte Größen, fortgeführt werden. Zwischenergebnis: Mit Einschwenken auf die Position Feuerbachs entscheidet sich Marx für die „produzierte“ Natur und für den produzierenden Menschen. Das ist zugleich ein Rückfall auf jene Position der Aufklärung, gegen die sich die hegelsche Philosophie richtet. Deren zentrale Aussage, dass der Mensch beiden Naturen angehört, dass beide Naturen die „menschliche“ Natur ergeben, dass er als Wesen aus Fleisch und Blut eine Spezies ist und bleibt, die auch dem Tierreich angehört360, ist damit verworfen. Aber wird betont, dass der Mensch seinem ganzen Wesen nach der „produzierten“ Natur angehört, verliert der Aspekt, dass er durch sie ständig in Frage gestellt wird, alle Bedeutung. Die Frage, die Hegel sich stellt, ist dann „halbiert“, ist zu zwei Fragen gemacht, die je für sich mit der anderen scheinbar nichts zu tun haben, ja denen, soweit sie den „tierischen Menschen“ angehen, jede philosophische Bedeutung abgesprochen wird.361 Hegel hätte Marx also das zum Vorwurf gemacht, was Hegel selbst, allerdings unbegründet, von Vertretern der heutigen ökologischen 358 Ebd., S. 583. 359 Ebd. 360 Das sollte heute, nach Entschlüsselung des menschlichen Genoms, für jedermann einleuchtend sein. Vom Menschenaffen trennen uns weniger als zwei Prozent des GenMaterials. Von Kuh und Schwein, deren Fleisch wir massenhaft vertilgen, trennen uns 17 bzw. 30 Prozent. So gesehen grenzt unser gegenwärtiges Essverhalten an den Tatbestand des Kannibalismus. 361 Das ist richtig erkannt, wenn es bei M. Siemek (a.a.O., S. 25) heißt: „Das Problem der Entfremdung hört also auf, eine ‚anthropologische‘ Frage nach den Beziehungen zwischen dem Menschen als Gattung und der Natur zu sein, und wird zu einer sozialhistorischen Frage nach den Widersprüchen des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses selbst, die in der wirklichen Geschichte erscheinen.“

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Bewegung entgegengehalten wird: dass er seinen Menschen von der Natur trennt, dass er zu denen zählt, die dem „unnatürliche[n] Menschenbild“ der bürgerlichen Gesellschaft huldigen, dem wiederum ein „unmenschliches Naturbild“ entgegengestellt ist.362 Marx stünde für jenes anthropozentrische Weltbild363, das in der Gegenwart einer vorurteilsfreien, objektiven Naturbetrachtung und noch stärker: einem wirksamen Schutz dieser Mitwelt entgegensteht.364 *** Etwa ab Herbst 1800 ist es für Hegel „unaufhebbares ‚Schicksal‘“ des Menschen, Person zu sein und Eigentum zu haben.365 Die Entfremdung verschärft sich damit gegenüber den vorhergehenden gesellschaftlichen Zuständen. Marx hingegen sieht das Grundübel nicht schlechthin im Eigentum, sondern im Privateigentum an Produktionsmitteln. Er gehe „davon aus, dass das Privateigentum ‚der materielle sinnliche Ausdruck des entfremdeten menschlichen Lebens‘ ist“, interpretiert ihn Oisermann. Für ihn bedeute „die ‚positive Aufhebung‘ des Privateigentums die Aufhebung aller Entfremdung.“366 Bei der Vergegenständlichung hingegen bleibt es. Da sie in Beziehung zu den Produktivkräften steht, ist sie ein eigenständiger und positiv zu bewertender Befund. Ja, in der „Deutschen Ideologie“ bringen Marx/ Engels die „Entfremdung“ – dort von ihnen in Anführungszeichen gesetzt – geradezu in Verbindung mit zu geringer Vergegenständlichung, wenn es heißt, dass ihre Aufhebung „eine große Steigerung der Produktivkräfte, einen hohen Grad der 362 Siehe dazu: K.M. Meyer-Abich, Praktische Naturphilosophie, a.a.O., S. 27. 363 Bzw. „anthropozentrisches Vorurteil“, wie Marianne Weber (Fichte’s Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx’schen Doktrin, Tübingen 1900, S. 80) formuliert. 364 Er kommt als Marx der Pariser Manuskripte dabei besser weg, als er dies, von der Sache her gesehen, verdient, wenn ihm verschiedentlich für diese Zeit und für diese Schriften ein „dezidiert ökologischer“ Standpunkt (vgl. P.C. Mayer-Tasch, Natur denken 2, S. 142) bescheinigt wird. Aber dieser Eindruck entsteht hauptsächlich, weil er mit dem Wort „Natur“ hantiert, ohne dass auf den ersten Blick deutlich wird, welche Natur er meint. Da er damals aber bereits von L. Feuerbach inspiriert ist und mit ihm den Menschen aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus begreift, ist es die „produzierte“ Natur, die für ihn menschliche Natur ist. Zutreffender urteilt daher H. Ottmann (Der Begriff der Natur, a.a.O.), wenn er auch den „jungen Marx“ zu jenen zählt, die nur die „Selbstschöpfung des Menschen“ (S. 221) als „Natur“ anerkennen. 365 F. Rosenzweig, a.a.O., S. 192. Für Hegel ergibt sich die Unauflösbarkeit von „Person“ und „Eigentum“, weil das individuelle „Arbeitsvermögen“ Ausgangspunkt des Eigentumsbegriffs ist. Die „Person“ ist also für ihn verdinglichtes, in ihr separiertes und über sie „lebendig“ gemachtes, Arbeitsvermögen. 366 Oiserman, a.a.O., S. 86.

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Entwicklung voraussetzt.“367 Marx sieht sie also im Sinne von Fortschritt und Selbstverwirklichung; je mehr davon, umso „freier“ hat sich der Mensch gemacht, umso mehr beherrscht er die Natur. Hier stimmt Marx also mit dem Liberalismus überein, der ja auch seine Freiheitsauffassung realisiert sieht, wenn die Natur „zur Sache und damit der Mensch zu ihrem Subjekt geworden ist.“368 Hegel hingegen, sich der Problematik dieser Befreiung und dieser Freiheit bewusst, sieht darin beides, sowohl einen Gewinn als auch einen Verlust. Schließlich folgt daraus auch, dass der Mensch, erst direkt, dann indirekt, zur Sache gemacht wird. Direkt, indem er versklavt war, indirekt, indem das Arbeitsvermögen zum „Ding“ wird. Diese „Freiheit“! Sie untergräbt nicht nur die Natur, sondern auch den Menschen selbst; sie fällt auf sie beide als Unfreiheit zurück. Hegel relativiert sie daher, soweit durch sie die Existenz der „primären“ Natur in Frage gestellt ist. Es greift also zu kurz, Hegel eines „unreifen ökonomischen Standpunktes“ zu bezichtigen und ihm Marx entgegenzuhalten, der „von der tieferen und richtigeren Auffassung der ökonomischen Tatsachen“369 ausgehe. Während Lukács meint, Hegel habe Smith nicht tief genug erfasst, ist es laut A. Cornu die „Idealisierung des Menschen und der Natur“, die Fokussierung auf den „Geist“, die „idealistische Mystifizierung“, die Hegel am richtigen Verständnis des Problems hindere.370 Jedenfalls führe diese „Vermischung“, diese „falsche Vereinigung von ‚Entäußerung‘ und ‚Dingheit‘ oder Gegenständlichkeit“ dazu, dass Hegel „ganz falsche Unterschiede“ mache. In der Summe laufe dies auf jene „‚Versöhnung‘ der Hegelschen Philosophie mit der Wirklichkeit hinaus, die Marx/Engels immer wieder anprangern.“371 367 MEW 3, S. 34. 368 J. Ritter: Person und Eigentum. Zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (§§ 34–81), in: L. Siep (Hrsg.): G.W.F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1997 (Klassiker auslegen, Bd. 9), S. 64. An anderer Stelle (ebd., S. 65 f.) heißt es bei ihm, dass der Mensch „Freiheit“ gewinnt, „indem er sich aus der Unfreiheit des Naturstandes [befreit] und die Natur, ihre Macht durchbrechend, zur Sache macht.“ 369 Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 694. Vorher (S. 684) schreibt er: „Freilich hat die theoretische Unklarheit Hegels in der ökonomischen Wertlehre zur Folge, dass bei ihm diese Gruppe der ‚entäußerten‘ gesellschaftlichen Gegenständlichkeit immer wieder mit der ersten verschmilzt, dass er manches als notwendige Folge der Vergesellschaftung der Arbeit, der menschlichen Praxis überhaupt ansieht, was ein spezifisches Wesenszeichen der kapitalistischen Gesellschaft allein ist.“ 370 A. Cornu: Über das Verhältnis des Marxismus zur Philosophie Hegels (Diskussionsbeitrag), DZfPh 2 (1954), S. 895. 371 Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 686. Bezogen auf die Entfremdung und deren Charakterisierung durch Hegel als „etwas Unechtes, etwas Fehlerhaftes, einen Mangel“, heißt es bei W.R. Beyer (Hegel-Bilder. Kritik der Hegel-Deutungen, Berlin 1970, S. 139): „Dass Hegel dann eine ‚schlechte‘ Versöhnung ins Spiel bringt, ist sein Versagen, zu dem ihn der idealistische Ansatz seiner Philosophie leiten und verleiten muss.“

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G. Lukács und J. Ritter372, Marxismus und Liberalismus sind sich, was die „Vergegenständlichung“ angeht, „einig“. Beide bejahen deren emanzipatorischen Gehalt. Anders bei der „Entfremdung“; hier trennen sich die Wege. Für den Liberalismus ist sie Teil der „Freiheit“. Der Marxismus sieht sie als Folge des Privateigentums an Produktionsmitteln. Beide kreiden Hegel an, dass er „Vergegenständlichung“ und „Entfremdung“ nicht trennt. Der Liberalismus, weil er die dialektische Methode bei der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft nicht angewendet wissen will. Der Marxismus praktiziert diese dazu zwar, verweigert sich aber dem Gedanken, dass beide Naturen als Einheit zu sehen sind. Soweit Hegel sein System als Einheit beider Naturen sieht, wird es daher als „mystische Hülle“ verworfen373. Ungeachtet der bedeutenden Unterschiede beider Ansätze: Der Verlierer ist beide Male die „primäre“ Natur. Hegels Philosophie handelt von der Dialektik zweier Naturen. Im Wandel der immer neuen Gestaltungen bleibt dabei das „Gemeinwesen“ der „Einheitspunkt“. Zu dulden, dass die „produzierte“ Natur sich zum Alleinherrscher aufschwingt, hieße, dass wir ihr die andere Natur auf Gedeih und Verderb überlassen, hieße exzessiven Naturverbrauch, hieße „Freiheits- und „Glücksgewinn“ auf deren Kosten. Daher ist Hegel um den Fortbestand eines „Gemeinwesens“ besorgt, das handlungsfähig genug ist, die Interessen auch der anderen Natur zu wahren. Aber weil er dies als die Aufgabe der Philosophie und einer ihr folgenden Praxis ansieht, wird er z.B. von Lukacs als einer angesehen, der ökonomisch „nicht auf der Höhe“ ist. Unbestritten: Marx hat sich ungleich intensiver mit der Ökonomie befasst. Er hat aber insofern dafür teuer bezahlt, als ihm dabei das „Ganze“ aus dem Blick geriet, er also dabei „Opfer“ seines „gesellschaftlichen“ Ansatzes wurde. Hegel hingegen? Die „Produktivität“ im kapitalistischen oder auch im realsozialistischen Sinne steht bei ihm nicht im Mittelpunkt. Praxis geworden, hätte uns seine „Wirtschaftsphilosophie“ möglicherweise erst jetzt Segnungen des technischen Fortschritts beschert, deren wir uns bereits seit 100 Jahren erfreuen. Aber wie wir heute erkennen sollten: Sein Ansatz reicht gerade deshalb über den eng ökonomischen Horizont hinaus. Aktuell und in die Zukunft weisend ist also gerade diese, von ihm als „Schicksal“ erkannte, aber von fast allen Seiten kritisierte, ja angefeindete, Verquickung von Vergegenständlichung und Entfremdung. Falsch, weil illusionär, ist aus Hegels Sicht dagegen der marxistische Ansatz, der die „Zerschlagung“ des Privateigentums als Lösung des Problems vorsieht. Und falsch ist aus seiner Sicht ebenso der stiere Blick auf das Privateigentum als Vater und Mutter der „Freiheit“.

372 Man kann diesen Personenkreis selbstverständlich weiter ziehen und z.B. Heidegger, Adorno und Horkheimer dazu zählen – wie das S. Žižek (a.a.O., S. 355) tut. 373 MEW 23, S. 27 (Nachwort zur 2. Auflage des „Kapitals“).

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Wir werden diesen Punkt noch näher374 beleuchten: Zum Ursprung der Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft machen Hegel und Marx unterschiedliche Aussagen. Letzterer sieht ihn in der Zirkulation; von dort her erobert das Kapital die Produktion. Nach Hegel ist ihr Ursprung die Wirtschaftsfamilie. Diese differenziert sich in „Unternehmung“ und bürgerliche Klein-Familie. Der zentrale Punkt dabei: Damit ist ein Wechsel vom Sittlichen zum Unsittlichen verbunden. Vorher in die Sittlichkeit eingebunden, von ihr domestiziert und erträglich gemacht, werden jetzt „Vergegenständlichung“ und „Produzieren“ freigesetzt. Diese Herkunft und diesen Wechsel behält Hegel im Auge. Er sieht das Gefährliche, das Zerstörerische. Er hat im Auge, was ja angesichts des heutigen MassenKonsums und der skrupellosen Verbraucher-Manipulation immer mehr verloren geht: die Einbettung der Produktion in das menschliche Bedürfnis. Er betont deren dienende Funktion. Er sieht, was mit der neuen Zeit verlorengeht, und sucht nach zukunftsfähigen Lösungen. Er sieht sie darin, dass nach Verlust der „Wirtschaftsfamilie“ die nächstfolgende, umfassendere Einheit des Gemeinwesens, institutionalisiert im politischen Staat, als Repräsentant des Sittlichen tätig wird und Einfluss auf die Unternehmen und ihr Produzieren nimmt, indem diese umfassendere Einheit vorgibt, welches Quantum Natur für die Produktion zur Verfügung steht. Diese Einheit ist für ihn der letzte, der übrig bleibende, sittliche Rahmen. In Deutschland ist es eher K. Rodbertus, der diesen konservativen, akapitalistischen Ansatz aufgreift. Marx hingegen verwirft, zusammen mit dem Liberalismus, das, was einem kapitalistischen Produzieren entgegensteht, als feudalistischen Plunder. Er lässt gerade diesen Staat, den sittlichen Staat Hegels, „absterben“. Damit ist die Lösung des Konflikts vollständig in die Gesellschaft verlegt.375 Das durchzieht sein gesamtes Werk. Schon die Kritik, die er an Bruno Bauer und Moses Heß übt, die der Entfremdung, wie er meint, moralisierend entgegentreten, weist in diese Richtung. Die Ablösung des Produzierens vom Sittlichen, die er zur Ablösung von feudalen Hindernissen in Gestalt von Zünften, Reglementierungen aller Art verengt, ist für ihn die uneingeschränkt positive Leistung des Kapitalismus. Die Feudalität „ausgemistet“, den feudalen Mief herausgelüftet zu haben ist für ihn dessen zentrales Verdienst. Wie Ricardo will Marx „die Produktion der Produktion halber. ... Denn Produktion der Produktion halber heißt, als Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte, also Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck.“376 Hegel, der

374 Im Teil „Zur Familie“! 375 Vgl. dazu D. Henrich: Karl Marx als Schüler Hegels, in: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt a.M. 1981 (3. Aufl.), S. 187, besonders S. 200 f. 376 Marx, Theorien über den Mehrwert, zitiert bei G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 510.

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die Produktion nicht zum Selbstzweck werden lässt, kehre hingegen „das Verhältnis von Mittel und Zweck um“377, stelle damit das Verhältnis idealistisch auf den Kopf. Im Unterschied zu Hegel ist und bleibt Marx in dieser wichtigen Frage ein Liberaler. Er verwirft zusammen mit der Feudalität das, was dieser zugrunde liegt und von Hegel fortgeführt wird: das „Gemeinwesen“378. Für ihn und Engels ist die „sozialrechtliche Anschauungsweise“ eines Rodbertus nichts weiter als ein preußischer Weg zum Sozialismus, ein „Staatssozialismus“. Jenseits der bürgerlichen Gesellschaft liegt für Marx Preußen, die Reaktion, der feudale Pferdefuß. Er verwirft, was Hegel dort an Positivem erblickt. Und indem er es verwirft, verwirft er diesen Teil der hegelschen Philosophie. Marx plädiert für die Übernahme der „freigelassenen“ Ökonomie. Nach der proletarischen Revolution soll sie den „assoziierten Produzenten“ übergeben und von ihnen fortgesetzt werden. Prognostizierte Folge: Entfesselung der Produktivkräfte, rasanter Anstieg der Arbeitsproduktivität und des gesellschaftlichen Reichtums. Noch deutlicher Lenin: Er will die Gesellschaft nach Art eines Betriebes umgestalten. Diese Lösung beseitigt scheinbar die Ausbeutung, hebt scheinbar den Warencharakter der Produkte auf, ersetzt scheinbar den anarchischen Charakter des Produzierens durch die Planmäßigkeit. Nur scheinbar deshalb, weil lediglich die innerbetrieblichen Zustände, weil lediglich die der innerbetrieblichen Planmäßigkeit zugrunde liegende Willkür erweitert, nämlich auf die Dimension einer Volkswirtschaft erstreckt werden. Für beide ist damit das Problem gelöst, auch das Problem der Entfremdung. Hegel würde hierin jedoch dessen Potenzierung sehen. Er würde diese Lösung ablehnen, weil sie nicht nur einen Freibrief für das entsittlichte Produzieren bedeutet, sondern auch, weil die als „Statthalter“ des Sittlichen in die bürgerliche Gesellschaft „eingebauten“ Minimalsicherungen und Korrektive in Gestalt der Konkurrenz und des Marktes außer Kraft gesetzt sind. S. Žižek379 weist zutreffend darauf hin, dass man die „Schubkraft der entfesselten Produktivkräfte“ nicht einfach vom „Kapitalismus“ trennen kann, dass die „Produktivität“ nichts von ihm Unabhängiges ist. Die Ausbeutung der „primären“ Natur ist also nicht bereits dann

377 G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 512. 378 Für Marx konstituiert sich jetzt ein Gemeinwesen, das sich vom Geld als dem „verselbständigten Tauschwert“ her versteht; dieses ist jetzt „das Gemeinwesen“. Das zeigen die Überlegungen, die er in den „Grundrissen“ hierzu anstellt (S. 130 ff., besonders S. 134) Damit ist die Verengung von „Gemeinwesen“ auf „bürgerliche Gesellschaft“, allgemeiner: auf die „produzierte“ Natur verbunden, bei der es auch bliebe, würde die bürgerliche in eine kommunistische Gesellschaft umgewandelt. 379 S. Žižek, a.a.O., S. 355.

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aus der Welt, wenn „assoziierte Produzenten“ oder ein „sozialistischer“ Staat ihre Gegenüber werden. Eher zeigt sich das Gegenteil.380 Hegels Philosophie ist bisher – und nicht nur von Marx – als „idealistisch“ apostrophiert worden. Deshalb, weil sie unisono vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft, vom Standpunkt der Gegen-Natur als der allein anerkannten Wirklichkeit beurteilt wird. Besonders im Fokus: das „System“ als Ausdruck dieses „Idealismus“. Aber verwirft man dieses, ist Hegels Philosophie keineswegs „vom Kopf auf die Füße gestellt“, sondern enthauptet. Das „System“ bewahrt die dialektische Methode davor, als „Mehrzweckwaffe“ herhalten zu müssen. Wird es verworfen, ist der Weg frei gemacht, Hegel selektiv zu nutzen. Die Ansicht, das „System“ zwinge Hegel am Ende zu seiner „sehr zahmen politischen Schlussfolgerung“, ja sei eigens dazu da, ein zahmes, ein von der Obrigkeit erwartetes Ergebnis zu bewirken, ist falsch und als praktizierte Falschheit extrem folgenreich. Nur wenige Forscher würdigen gerade diesen Teil seiner eigentlichen Bedeutung gemäß. Hegel, der Reaktionär, Hegel, der Liberale – jede dieser Vereinseitigungen verfehlt Hegel und sein Werk. Eine tiefere Betrachtung ist angebracht; eine solche wird erweisen, dass gerade der geschmähte Teil sein Vermächtnis an uns enthält. Nachdem die kapitalistische Art des Produzierens (eingerechnet darin: die realsozialistische) 150 Jahre ungezügelt ihr Wesen treiben durfte, in früher unvorstellbarem, die Menschheit längst existenziell bedrohendem Ausmaß Raubbau an der „primären“ Natur verübt hat, sollte dieser Aspekt seiner Philosophie neu in den Blick genommen werden. *** Eine Zusammenfassung könnte so lauten: Die menschliche Natur, die für Marx die „produzierte“ Natur ist, ist für Hegel nicht die eine oder die andere Natur. Der Mensch gehört beiden Naturen an, folglich sind sie beide die „menschliche“ Natur. Das Problem aber ist, dass beide sich unversöhnlich gegenüberstehen; jene aus Beton und Stahl setzt die Natur aus Wäldern und Wiesen außer Kraft. Ihr Gegensatz prägt auch den Menschen und macht sein Schicksal aus; er ist Quelle der Entfrem380 Die ökonomische Praxis des realen Sozialismus zeigt eine nicht vom objektiven Geist, sondern vom nackten ökonomischen Interesse beseelte Form planmäßiger Naturausbeutung. Raubbau in beispiellosem Maßstab fand statt, wo sich ökonomische und poltische Interessenlage besonders eng paarten. Man erinnere sich an die Industrielandschaften, die allein die DDR hinterlassen hat. Eine beispiellose Luftverschmutzung. Ein beispielloser Landschaftsverbrauch. Allein die Beseitigung der von der Wismut zurückgelassenen Umweltschäden hat bisher mehr als 8 Milliarden Euro gekostet. Tonnenideologie dort, wo intelligenzintensive Produktion bitter nötig gewesen wäre.

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dung. Letztere erreicht mit Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft insofern eine neue Qualität, als sich jetzt die schrittweise Entfernung von der „primären“ Natur zur Abkehr von ihr, zum Gegenüber verfestigt. Die „primäre“ Natur ist zum Objekt der Ausbeutung degradiert. Da aber auch der Mensch zu ihr gehört, teilt er dieses Schicksal mit ihr. Die „Entfremdung“ ist der Widerhall dieses Schicksals im Bewusstsein. Nur wer ganz in der Glücksverheißung der bürgerlichen Gesellschaft aufgeht, die sich im Besitz und im Konsum von „Dingen“ manifestiert und erschöpft, mag sich nicht „entfremdet“ fühlen und kann sich insofern glücklich schätzen. Aber es ist ein amoralisches und zunehmend brüchiges Glück, dem er sich hingibt. Der Eintritt der bürgerlichen Gesellschaft in die Geschichte bedeutet also eine Zäsur, die sich von allen bisherigen Zäsuren abhebt. Die Vorgeschichte weicht der eigentlichen Geschichte. Die Ablösung von der Natur (und damit von der Hilfestellung durch das „Naturwüchsige“) wird vom Liberalismus wie auch vom Marxismus missverstanden als Befreiung von der Natur, als „Freiheit“. Hegel hingegen blickt tiefer und weiter. Er sieht, dass der Verbund mit der Natur unauflösbar ist und bleibt. Der Mensch ist und bleibt ihr Teil. Er darf sich zu ihr also nicht als zu einem bloßen Objekt verhalten. Die Natur ist beides: Subjekt und Objekt – und daher ist es notwendig, sie jetzt als Subjekt (wieder)zu erkennen und diese Erkenntnis in politische, ökonomische und juristisch-institutionelle Konsequenzen einmünden zu lassen. Die Hauptfrage dabei: Was ist nach Verlust der „naturwüchsigen“ Gestalt zu tun, um die Einheit beider Naturen sicherzustellen? Der marxsche Lösungsansatz, der Versuch, einen „Kommunismus“ auf Kosten der „primären“ Natur zu etablieren, hat sich im praktischen Vollzug selbst gerichtet. Die politische Konsequenz, die Hegel zieht: Beide Naturen finden Aufnahme in den Staatsbegriff der Moderne. Seine konstitutionelle Monarchie ist also gemeint als der Staat beider Naturen. Marx hingegen versteht seinen Staat als die politische Organisation nur der „produzierten“ Natur. Vor Beseitigung der „Entfremdung“ ist dieser eine „Diktatur der Bourgeoisie“. Danach ist er „Diktatur des Proletariats“.

TE I L 2 – ZUM R EC HT

4 „Idee“ und „Begriff“ Gegenstand des Rechts und der „philosophischen“ Rechtswissenschaft

Die Ausgangslage: Das „Gemeinwesen“ ist zerbrochen. Scheinbar ist es für immer aus der Welt und ein für alle Mal ersetzt durch eines der Zerfallsprodukte, durch die „bürgerliche Gesellschaft“. So suggerieren es jedenfalls Begriffe von „Natur“ und „Naturrecht“, die geradezu das Gegenteil von dem ausdrücken, was tatsächlich geschieht: „der Geist aber reißt sich von der Natur los, und erzeugt sich seine Natur, seine Gesetze selbst. Also ist die Natur nicht das Leben des Rechts“ – und die Hegel „veranlassen“381, sich gegen die jetzt geläufigen „unphilosophischen“ Auffassungen von Natur und Naturrecht zu stellen. Die bürgerliche Gesellschaft, um die sich seit damals (und bis heute) fast alles dreht, ist nicht jener Fixpunkt, für den sie gehalten wird. Bereits in der Vorrede zu seiner „Rechtsphilosophie“ hält ihr Hegel das „Ewige“ entgegen, das im „Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden“ in Vergessenheit geraten ist. Und das „Gemeinwesen“ ist ewig! Zerschlagen wird nur dessen „naturwüchsige“ Gestalt. Es existiert zunächst „gestaltlos“ fort, ehe wir es, aufgerufen dazu, zur „Vernunftgestalt“ komplettieren. Diese „bestätigt“ die beiden Naturen als „relative“ Totalitäten. Das Problem aber: Indem die „Vernunftgestalt“ ihnen einen gleichen Rang einräumt, sie beide als Subjekte ansieht, korrigiert sie die Ausschließlichkeit, die die „produzierte“ Natur für sich beansprucht, zu Gunsten der anderen Natur. Das erklärt den Widerstand gegen sie. Das erklärt, dass wir die „Vernunftgestalt“ bis heute nicht haben. Übertragen auf das Recht: Wer es als Derivat einer „Bestimmtheit“ (der „produzierten“ Natur) sieht, die von der ihr „entgegengesetzten Bestimmtheit … abstrahiert“, von ihr also keine Kenntnis nimmt, ja der deren Schicksal „ganz gleichgültig“382 ist, der übersieht die bloß „relative Totalität“ sowohl dieser Natur als auch des „Rechts“. Die Folge: Die

381 VRph 1, S. 239 (Homeyer). 382 NR, S. 516.

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Teil 2 – Zum Recht

„Grenze [wird] verkannt …, in welcher es seine Wahrheit hat“.383 Die Frage, die der Rechtswissenschaft daraus erwächst: Wie soll sie sich zu ihrem Gegenstand „Recht“ verhalten? Kann sie sich damit begnügen, eine Naturwissenschaft zu sein bzw., da die bürgerliche Gesellschaft eine Gestalt dieser Natur ist, eine Gesellschaftswissenschaft? Oder hat sie, um zur „Wahrheit“ ihres Gegenstandes vorzudringen, den Anschluss zum „Ganzen“ herzustellen und insoweit „philosophisch“ zu sein? Hegel hält Letzteres für nötig. Da das „Ganze“ nicht beseitigt, sondern nur „gestaltlos“ wird, geht es ihm darum, den Bezug zu ihm und seiner jetzt neuen Gestalt (wieder)herzustellen. Das aber setzt einen grenzüberschreitenden, einen philosophischen Standpunkt voraus; nur er führt zum Begriff. Der frühere hat mit der „Entzweiung“ seinen im „Ganzen“ wurzelnden „allumfassenden Zusammenhang“384 verloren, spiegelt nur noch das sichtbare Sein wider und ist insoweit „unwahr“ geworden. Jetzt gilt es daher, den Begriff des Rechts wieder Anschluss finden zu lassen – diesmal an das aus der „Entzweiung“ hervorgehende neue Ganze. Die Rechtswissenschaft darf sich deshalb nicht bloß jenem Recht widmen, das als Derivat der „produzierten“ Natur „gestalthaft“ in die Welt tritt. Vielmehr gehört es zu ihrem „Beruf“, die übergreifenden Zusammenhänge aufzudecken, die sich aus der bloß „relativen Totalität“ jeder der beiden Naturen ergeben. Dazu ist erforderlich, dass das Gegenüber, dass das „Vorne“ und „Hinten“, dass Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, dass „Gestalthaftes“ und „Gestaltloses“ Aufnahme in ihren Gegenstand finden. Handelt die Rechtswissenschaft so, verringert sich damit auch ihr Abstand zur Philosophie. Es ergäbe sich, „dass ein guter Teil dessen, was positive Rechtswissenschaften heißt, vielleicht das Ganze derselben in die vollkommen entwickelte und ausgebreitete Philosophie fallen würde und dass sie darum, weil sie sich als eigene Wissenschaften konstituieren, weder aus der Philosophie ausgeschlossen noch ihr entgegengesetzt sind.“385 Soweit sie das „Ganze“ in ihren Gegenstand einbezieht, ist also auch die Rechtswissenschaft Philosophie. Die Gegenstände beider Wissenschaften würden sich in einem hohen Maße überschneiden. Der wesentliche Unterschied ergäbe sich dann aus dem, was der Rechtswissenschaft aus der Aufgabe des „Positivierens“ zuwächst, d.h. durch das Überführen eines Inhalts in die Form „Recht“. Dreh- und Angelpunkt „relative“ Totalität. Lassen wir das „relativ“ außer Acht, wird ein „absolut“ daraus – und der Abstand zur Philosophie vergrößert sich schlagartig. Der Erkenntnishorizont wird eingeschränkt, woraus resultiert, dass wir zu dem gelangen, was Hegel „bloße Begriffe“ nennt. Also zu solchen, die einseitig und (des383 NR, S.517. 384 DS, S. 23. 385 NR, S. 510.

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halb) unwahr, die nur „abstrakte Verstandesbestimmung“386 sind. Der Begriff bleibt deshalb nicht stehen bei dem, was sich zunächst, bei der ersten, oberflächlichen Betrachtung zeigt, sondern erhält seinen Inhalt auch von dem, worauf er „in seiner Entgegensetzung bezogen ist.“387 Erfasst wird von ihm daher auch das vermeintlich untergegangene, jetzt nur noch von der „Idee“ erinnerte „Ganze“. Hegels Rechtsbegriff umfasst also weit mehr als jener des von ihm kritisierten Naturrechts. Das wird deutlich, wenn er in § 33/Z R formuliert: „Wenn wir hier vom Rechte sprechen, so meinen wir nicht bloß das bürgerliche Recht, das man gewöhnlich darunter versteht, sondern Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte, die ebenfalls hierher gehören.“ Aber dieser Verbund liegt noch in der Zukunft. Nur die „Idee“ erinnert einstweilen daran, dass die Hauptaufgabe, die Schaffung einer „Vernunftgestalt“, noch bevorsteht. So gesehen ist nichts wirklicher „als die Idee.“388 In der „Rechtsphilosophie“ sehen wir also, bezogen auf „Gemeinwesen“ und „Sittlichkeit“, sein Vorgehen in der „Logik“ und in der „Enzyklopädie“ wiederholt. Ist dort der „Generalfall“: das Verhältnis beider Naturen abgehandelt, so ist es hier der „Spezialfall“: das Verhältnis ihrer „Rechte“ zueinander.389 Beide, „Idee“ und „Begriff“, sind eingelagert in das „System“, nehmen dort aber unterschiedliche Plätze ein, wie sich bereits aus der Anmerkung zu § 1 R ergibt. Die „Idee“ zeigt, „dass der Begriff ... allein es ist, was Wirklichkeit hat und zwar so, dass er sich diese selbst gibt“, heißt es dort. Übersetzt lautet dieser verschlüsselte Satz390: Vom Standort der „Einheit“, der „Einheitsnatur“, den der Philosoph einzunehmen hat, ist nach den Teilen Ausschau zu halten. Wer es tut, wird mit dem „begriffenen“ Sein belohnt. Mit der „Vernunftgestalt“. Doch was geschieht, wenn beide, der Philo386 387 388 389

§ 1/A R. GuW, S. 293. R, Vorrede (S. 25). Dieser „Spezialfall“ ist zwar unter der Überschrift „objektiver Geist“ auch Gegenstand der „Enzyklopädie“. Aber dieser Teil ist erst nach Erscheinen der „Rechtsphilosophie“, in der dritten Auflage, hinzugekommen. Siehe dazu: H.F. Fulda, Hegel, a.a.O., S. 196 f. Anderer Meinung ist W. Schild (Spekulationen zum systematischen Aufbau von Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ [1820], Wiener Jahrbuch für Philosophie24 [1992], S. 127), der, Bezug nehmend auf eine Reihe Autoren mit gleicher Meinung, schreibt: „Zunehmend wird erkannt, dass der Aufbau der ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts‘ ... mit der Hegelschen Logik nicht zur Deckung gebracht werden kann.“ Er meint, einen „un-dialektischen Aufbau der ‚Grundlinien‘“ besonders in den Teilen „Abstraktes Recht“ und „Moralität“ zu erkennen, so dass „nur der dritte Teil der ‚Grundlinien‘ und die dort entfaltete Dialektik“ maßgebend sein könne (S. 129). Dem widerspreche ich unter Bezug auf die Ausführungen in den Kapiteln 1 und 2 sowie die nachstehenden Ausführungen. 390 Siehe dazu die Interpretation durch W. Bartuschat: Zum Status des abstrakten Rechts in Hegels Rechtsphilosophie, ZphF41 (1987), S. 21.

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soph und der Jurist, sie nicht finden oder finden wollen? Nun, dann bleibt es bei der „Einseitigkeit und Unwahrheit“ jener Begriffe, die stattdessen ihren Platz einnehmen. Wir bleiben hier, beim Recht, bei einem „abstrakten“ Recht und dort, beim Staat, bei einem „Not-und Verstandesstaat“ stehen. Allgemeiner formuliert: Wir bleiben bei Begriffen stehen, die das Existierende, das „vorübergehende Dasein“, die „äußerliche Zufälligkeit“ betonen. Das genügt nicht. Der Begriff wird erst „wahr“, wenn das negierte, wenn das „gestaltlos“ gewordene Sein darin Aufnahme findet.391 Das erst führt zu einer neuen, „durch den Begriff gesetzte[n] Wirklichkeit“392. Es gibt also solche und solche Begriffe. Einmal das zum Begriff erhobene bloße „Dasein“, die „äußerliche Zufälligkeit“, das „Schein-Sein“. Zum anderen jenen Begriff, der das „gestaltlose Sein“ im Rahmen der Vernunftgestalt ans Licht bringt. Zum hegelschen Begriff gelangt man also im zweiten Teil der „Aufhebung“; er ist Ergebnis der „Negation der Negation“. Er stellt sich nicht von alleine bzw. „naturwüchsig“ her, sondern muss aus dem, was vom „negierten“ Sein „übrig“ bleibt, also vom „Wesen“, erschlossen werden. Der „Begriff der Sache kommt uns nicht von Natur“393, sagt Hegel. Er erschließt sich nicht aus dem Phänomen „Recht“. Die Einordnung in die Dialektik zweier Naturen ist gefordert. Die Rechtswissenschaft hat sich also „das Resultat und die Wahrheit von dem ..., was vorhergeht und was den sogenannten Beweis desselben ausmacht“394, zum Gegenstand zu machen. Das ist leichter gesagt als getan. Jedenfalls tun wir uns bis heute schwer damit. Denn die Vernunft macht sich rar, und gerade gegenwärtig scheint es so, als seien wir unvernünftiger denn je. Sichtbar wird ein weiter Rechtsbegriff, der beiden, früher in der Sittlichkeit zusammengefassten, jetzt selbständig gewordenen, Naturen gerecht wird. Mit ihm sind die Postulate der Naturrechtslehre in allen wichtigen Punkten in Frage gestellt – was die fast durchweg negativen Reaktionen von Hegels Zeitgenossen auf dessen „Rechtsphilosophie“ erklärt.395 Das Kontrastprogramm, bereits mit dem Untertitel „Naturrecht und Staatswissenschaft“ angekündigt, ist entfaltet. Höchst irritierend für die Kollegenschaft, mehr noch für die Zunft der Juristen. Besonders dort, wo er den Staat als einen Teil des Rechts einführt. Gilt der Staat, gerade der in Deutsch391 Wenn (z.B.) D.F. Scheltens (Hegels Rechtsphilosophie zwischen Begriff und Institution, Rechtstheorie 21 [1990], S. 48) den Begriff mit „Wesen“ oder „Wesenskern“ übersetzt, wird dies Hegel nicht gerecht, da dessen Begriff aus der Komplettierung des Wesens zur Vernunftgestalt resultiert. 392 § 1/A R. 393 Vorrede/Z R (S. 17). 394 § 2 R. 395 Siehe die Rezensionen von J.F. Herbart und Z.C. Collmann – beide abgedruckt bei M. Riedel (Hrsg.), Materialien 1, S. 81–208.

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land vorfindliche, für sie doch als Repräsentant des Alten, als Repräsentant einer anderen, nun ins Abseits gedrängten Natur, weswegen nur ein von ihm getrenntes, unabhängiges Recht, das neuere Naturrecht, der richtige Ausgangspunkt sein kann. Und keine Einschränkung ist eingebaut und sagt, dass „Staatswissenschaft“ sich nur bezieht auf den mit der „produzierten“ Natur und ihrem Recht verbundenen Staat, den „Rechtsstaat“! Nein, „das Ungleichartige, ja zum großen Teil einander Widerstrebende“396 ist zum Gegenstand gemacht. Und so zeigen schon die Vorrede und die ersten Paragrafen der „Einleitung“, dass das ganze Werk auf einen völlig anderen, weitgefassten Rechtsbegriff zugearbeitet ist, der – aus der Sicht nicht nur Herbarts – eher rückwärts- als vorwärtsgewandt ist. Wenn es in § 1R heißt: „[d]ie philosophische Rechtswissenschaft hat die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts zum Gegenstande“ und in § 2 R ganz ähnlich und doch anders: „[d]ie Rechtswissenschaft ist ein Teil der Philosophie. Sie hat daher die Idee, als welche die Vernunft eines Gegenstandes ist, aus dem Begriffe zu entwickeln“, dann beginnt er hier umzusetzen, was der Untertitel bereits ankündigt. Er umreißt, was sein Ziel ist: das Recht als einen Teil der Wirklichkeit zu zeigen, der seinen „Anfangspunkt“, seine „Existenz“ zwar in der „produzierten“ Natur hat, nicht aber auch seinen „Endpunkt“. Dieser ist vielmehr im „Ganzen“ zu suchen; ohne diesen Bezug ist das Recht geschieden in Leib hier und Seele dort; zu verstehen aber ist es nur als Einheit beider.397 Nachdrücklich erinnert Hegel an das vermeintlich durch die bürgerliche Gesellschaft ersetzte „naturwüchsige Gemeinwesen“. Wir haben uns damit bereits in den ersten beiden Kapiteln befasst: Dieses wird nur „einfach“ negiert wahrgenommen, d.h. als zerschlagene und außer Kurs gesetzte „Gestalt“, die allenfalls als „Schein“ fortlebt. Dabei wird übersehen, dass sein Wesen von der Negation nicht erfasst wird und als „gestaltloses Sein“ fortlebt. Es ist da, aber es ist unsichtbar. Nur die „Idee“ erinnert uns daran; über sie sind wir aufgefordert, es in einer „Vernunftgestalt“, in der Institution „Staat“, sichtbar zu machen, die ihrerseits Einfluss auf das Recht nimmt, es korrigiert und dessen Absolutheitsanspruch relativiert. Aber für die Kantianer, für Herbart, die dieses „gestaltlose Sein“ dem Transzendentalen überantwortet haben, liegen hier der Fehler und das Rückwärtsgewandte. Und der Marxismus folgt ihnen darin, weshalb die Vertreter dieser philosophischen Richtungen sich einig sind, dass diese Rückkopplung zum Ganzen, dieses Voranschreiten zur „Vernunftgestalt“ eine „Rückwärtsbewegung“, die „Wiederherstellung eines vergangenen Zustands“398 ist. 396 J.F. Herbart in seiner Rezension aus dem Jahre 1822, in: M. Riedel (Hrsg.), Materialien 1, S. 82. 397 Vgl. § 1/Z R. 398 G. Lukács, Zur Ontologie, a.a.O., S. 8.

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Das „gestaltlos“ Gewordene ist zur „Vernunftgestalt“ zu komplettieren.399 Die „Idee“ erinnert uns an diese Aufgabe. Sie hält uns an, auf die Vergangenheit zurück- und auf die Zukunft vorauszublicken. Die Entzweiung bleibt, aber sie wird relativiert. Hegel drückt es so aus: „Die erscheinende Welt hat an der wesentlichen Welt ihre negative Einheit, in der sie zugrunde und in die sie als in ihren Grund zurückgeht. Ferner ist die wesentliche Welt auch der setzende Grund der erscheinenden Welt“400. Erstere bildet jetzt die Mitte. Von ihr aus blicken wir nach hinten und nach vorn! Beide, Philosophie und Rechtswissenschaft, erfüllen ihre Aufgabe nicht. Das einzig „philosophische“ am Naturrecht ist der „erdichtete Naturzustand“. Und an der Rechtswissenschaft kritisiert er, dass sie „vornehmlich darauf geht, anzugeben, was Rechtens ist“401, sich also im Positivismus ergeht. Hegels Forderung: Die Einseitigkeiten beider sind auf der Basis „seines Naturrechts“402 zu revidieren. Abkehr von einem Weltbild, das um die „produzierte“ Natur zentriert ist. Einnahme eines Standpunkts, dem zwei Naturen und ihre Dialektik zugrunde liegen. Damit plädiert er für „zwei Rechte“403; für die Privatrechte beider Naturen. Über die „Idee“, in der das „Ewige“ und damit „Vernünftige“ aufbewahrt404 ist, werden sie vermittelt. In einem „höheren Recht“405, in einem „Recht im weitesten Sinne“406 erlangen sie „Gestalt“.

399 So scheint mir auch H. Ley (Zur „Phänomenologie des Geistes“ und einer marxistischen Theorie der Handlung, in: ders. [Hrsg.], Zum Hegelverständnis unserer Zeit, S. 271) die „Idee“ unter Bezug auf die „Phänomenologie“ zu interpretieren. Insoweit ist sie eine „Vorausangabe“ im Sinne des § 33 R. 400 Logik (W), S. 136. 401 § 2/A R. 402 Wie er gerne betont. Zutreffend formuliert J.-F. Kervegan (Hegel und die Vergesellschaftung des Rechtes durch den Staat, RJ 12 [1993], S. 452), dass für Hegel das kritisierte Naturrecht zweideutig ist, weil der zugrunde gelegte Begriff „Natur“ nicht eindeutig ist. 403 In der in Heidelberg gefertigten Nachschrift Wannenmann (VNSW, S. 82) heißt es: „Es sind zwei Rechte vorhanden, das absolute Recht der Substanz und das Recht der Einzelnen“. 404 Diese Bedeutung der „Idee“ ist bereits im Naturrechtsaufsatz angesprochen, wenn er dort (MM 2, S. 500 f.) schreibt: „In diesem Einssein der Unendlichkeit und der Realität in der sittlichen Organisation scheint die göttliche Natur – von welcher Platon sagt, dass sie ein unsterbliches Tier sei, dessen Seele und Leib aber auf ewig zusammengeboren sind – den Reichtum ihrer Mannigfaltigkeit zugleich in der höchsten Energie der Unendlichkeit und Einheit darzustellen, welche die ganz einfache Natur der des ideellen Elements wird.“ 405 Vgl. § 30 R. 406 Fulda, Hegel, a.a.O., S. 197.

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Die Zerfallsprodukte „Recht“ und „Moralität“, diese „beide[n] Abstraktionen“407, sind zu vermitteln. Denn erst das führt uns zu einem Begriff, der zwei Rechte in sich vereinigt. Insoweit die Vermittlung dies leistet, macht sie die Rechtswissenschaft zum „Teil der Philosophie“. Ohne diese Leistung bleibt sie Natur(rechts)wissenschaft bzw., da die „produzierte“ Natur sich „Gesellschaft“ nennt, „Gesellschaftswissenschaft“. Leidtragende ist die andere, die „primäre“ Natur, die als Rechtssubjekt nicht in den Blick kommt und in der Stellung eines bloßen Objekts verbleibt. Die Dialektik von „Ganzen und Teilen“ ist angesprochen. „Das Ganze ist das Selbständige, die Teile sind nur ein Moment dieser Einheit; aber ebensosehr sind sie auch das Selbständige, und ihre reflektierte Einheit [ist] nur ein Moment, und jedes in seiner Selbständigkeit schlechthin das Relative eines Anderen.“408 Auch das Recht ist folglich aus diesen beiden Perspektiven zu sehen und zu beurteilen. Deswegen gewinnt Hegel seinen Rechtsbegriff nicht bloß aus dem, was die Geschichte aus sich selbst hervorbringt, was also reine Empirie ist, sondern verknüpft in ihm Historisches und Logisches. Das führt ihn zu einer von allen Zufälligkeiten gereinigten „Vernunftgestalt“. Aus dem „Zerfall“ geht nur ein Zwischenstand hervor. Den jetzigen „Gegenüber“ steht eine weitere Dimension auf der Ebene des Ganzen zur Seite. Bleibt sie unbeachtet, werden die für die Atome der „produzierten“ Natur statuierten Rechte verabsolutiert, werden zur Berechtigung, die andere Natur als reines Objekt unlimitierter Ausbeutung anzusehen und zu behandeln. Und mag mit der jetzigen Freiheit nun auch die Sklaverei innerhalb der „produzierten“ Natur ein Ende haben: Versklavt ist dafür jetzt die „primäre“ Natur. Für die Mitglieder der „produzierten“ Natur ein angenehmer, ein profitabler Zustand, der sie uninteressiert macht, sich von Hegel zum „Begriff“ führen zu lassen. Also verweigern sie sich ihm, z.B. mit der Behauptung, dass ein Aufgreifen seines Ansatzes von der Wissenschaft wegführt. Schild formuliert das Problem so: „Kann eine Rechtswissenschaft überhaupt mit der Philosophie Hegels etwas anfangen oder vermag dies nur eine den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht erhebende Jurisprudenz?“409 Grundsätzlicher geht Theunissen an die Frage heran. Er sieht das Problem darin, dass Hegel seine der „Logik“ zugrunde liegende Sozialtheorie nicht auch auf die „Rechtsphilosophie“ überträgt. Beide, „Wissenschaft der Logik“ und „Rechtsphilosophie“, klaffen diesbezüglich, wie er meint, „weit auseinander“. Diese Kluft sei „mühelos“ damit zu erklären, dass Hegel sich bei Abfassung der „Rechtsphilosophie“ genötigt sah, „eine nicht gerade sehr ehrenhafte Rücksicht auf bestehende Verhält407 § 33/Z R. 408 L (W), S. 143. 409 W. Schild: Rechtswissenschaft oder Jurisprudenz, in: Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute. Beiträge zur Standortbestimmung, hrsg. v. Robert Alexy u.a., Stuttgart 1991(ARSP, Beiheft 44), S. 328.

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nisse“ zu nehmen. Außerdem „verblendet … durch eine maßlose Überschätzung seiner Zeit“, ergibt sich daraus in der Summe ein „Abstand zur logischen Idee kommunikativer Freiheit“ bzw. gar eine Umkehrung des „Verhältnis[ses] von Logik und Rechtsphilosophie“410. Zu einer solchen Einschätzung gelangt, wer nicht sehen will oder kann, dass Hegels logischer Ansatz zwei „Entgegengesetzte“ sind, die über bzw. durch ein Drittes vermittelt und relativiert werden. Hier aber, in der „Rechtsphilosophie“, geht es um eminent wichtige praktische Fragen. Ob es also eine oder zwei Naturen gibt, entscheidet hier über Akzeptanz oder Nichtakzeptanz. Folgte man Hegel, müsste vom Endergebnis her auch unser seit nunmehr 200 Jahren bestehendes Weltbild, besonders das Bild von „Staat“ und „Recht“ revidiert werden. Dazu scheint mir wenig Bereitschaft zu bestehen; subjektive und objektive Erkenntnisbarrieren411 zuhauf stehen entgegen. Besonders die „Staatsfrage“ ist berührt. Wenn es bei Theunissen heißt: „[n]immt man aber die Logik der Rechtsphilosophie ernst, so sinkt der Anspruch des Hegelschen Staates, das an und für sich Allgemeine zu sein, in nichts zusammen“412, so wäre dies richtig, wenn, wie es gemeinsame liberale und marxistische Ansicht ist, allein die bürgerliche Gesellschaft als die „menschliche“ Natur anzusehen wäre. Dann gäbe es keine aus der Entgegensetzung der beiden Naturen resultierende Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft. Dann wäre der ganze auf den „Staat“ entfallende Teil der „Rechtsphilosophie“ „unlogisch“ und überflüssig. Ja, dann wird aus dem hegelschen Staat tatsächlich eine reaktionäre, „freiheitsfeindliche“ Institution. Das Recht gehört zum Sein.413 Es bildet sich mit der „produzierten“ Natur heraus. Seine Existenz ergibt sich aus deren atomistischer Struktur. Es sichert den Vollzug jener Freiheit, die wir gegenüber der anderen Natur gewonnen haben. Es berechtigt uns dazu, sie auszubeuten. Aber ebenso stellt es sicher, dass diese Freiheit, dass diese Berechtigung nicht auch gegen die Mitglieder der eigenen Natur praktiziert wird. Das ist die unverrückbare Ausgangsposition, der „Anfangspunkt“, wie Hegel for410 M. Theunissen, Sein und Schein, a.a.O., S. 472 f. Wenn auch derart massive Einwände eher selten sind, so wird doch das Verhältnis von „Logik“ und „Rechtsphilosophie“ im Werk Hegels sehr breit diskutiert. Wobei es meist um die Unterstellung geht, dass Hegel in der „Rechtsphilosophie“ von seiner „Logik“ abweicht, sowie um die Frage, warum er das tut. Als ein Beispiel dieser Diskussion wird auf H. Ottmann (Hegelsche Logik und Rechtsphilosophie. Unzulängliche Bemerkungen zu einem ungelösten Problem, in: D. Henrich/R.-P. Horstmann [Hrsg.], Hegels Philosophie des Rechts, S. 382–392) verwiesen. 411 In der Diktion Theunissens: „ehrenhafte“ und weniger „ehrenhafte“. 412 M. Theunissen, Sein und Schein, a.a.O., S. 478. 413 Der Unterschied zur marxistischen Position: Für Marx/Engels ist das Recht nicht Sein, sondern gehört als sog. „Überbaugröße“ zum Bewusstsein.

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muliert. Und es ist ganz in Ordnung, wenn die Rechtswissenschaft zunächst zusieht, wie das Phänomen „Recht“ sich zusammen mit dieser Natur herausbildet. Dabei kann es aber nicht bleiben. Von der „Idee“ ausgehend hat sie das Gesehene und Beschriebene zum „Vernunftbegriff“ weiterzuführen. Die „philosophische“ Rechtswissenschaft unterscheidet sich also von der bloß zusehenden und beschreibenden dadurch, dass sie das Phänomen „Recht“ vom „Ganzen“ her beurteilt und es damit in Übereinstimmung bringt. Was dabei herauskommt, deckt sich nicht mit dem Ausgangsmaterial. Damit ist aber auch gesagt, dass eine Rechtswissenschaft, die sich dieser Aufgabe entzieht, nicht den Namen einer „Wissenschaft“ verdient. Das Naturrecht der Aufklärer versteht sich aus ihrer Antihaltung zum feudalen Recht und zum feudalen Staat. Zugleich wird dieses „Anti“ aber generalisiert zum „Anti“ gegen das Gemeinwesen überhaupt. Dieses wird, um es mit Hegel zu sagen, zur „Nullität“. Zwar waren das feudale Recht und der Feudalstaat Fesseln, die aus dem Weg geräumt werden mussten. Aber soweit das „Naturrecht“ zugleich für die Entrechtung der anderen Natur steht, ist das eine folgenschwere Weiterung des „Anti“. Gegen diese bloße Umkehrung, gegen diese bloße „Negierung“ wendet sich Hegel. Die „Rechtsphilosophie“ dient ihm der Richtigstellung414 eines solchen Natur- und eines solchen Rechtsbegriffes. Er wendet sich nicht gegen die „Entzweiung“. Sie ist eine Tatsache, die anzuerkennen ist, die „fest“ ist und bleiben muss. Aber er bewertet sie anders als die Kollegenschaft. Er sieht, was diese nicht sehen will: Dass sie keinen luftleeren Raum zwischen den jetzt Entgegengesetzten schafft, dass diese weiterhin eingeschlossen sind in ein Übergreifendes. Nur die „naturwüchsige“ Gestalt ist beseitigt. Geblieben aber ist das bzw. ihr Wesen – ein Wesen, das zu einer neuen Gestalt strebt. Ein Durchgangspunkt ist erreicht – die Plattform einer historisch neuen „Einheitsgestalt“. Hegel drückt es so aus: „Das Wesen hat noch kein Dasein; aber es ist..., es ist eine Unmittelbarkeit, die noch nicht gesetzt ist als wesentliche oder reflektierte; es ist ... nicht ein seiendes Unmittelbares.“415 Es ist nicht falsch, dass das Naturrecht von der „Entzweiung“ ausgeht. Schließlich ist sie das Neue und auch das Bleibende. Der Fehler besteht aber darin, dass seine Vertreter das „Ganze“ aus den Augen verlieren bzw. verwerfen.416 Damit verabsolutieren sie die „Entzweiung“ und potenzieren den daraus folgenden Effekt noch, indem sie in Entweder-oder-Manier ihren Blick starr auf die „produzierte“ Natur und deren Abkömmlinge: das „abstrakte“ Recht und den „Vertragsstaat“ richten.

414 Siehe dazu Fulda, Hegel, a.a.O., S. 200. 415 L (W), S. 136. 416 Vgl. hierzu: G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 340, der hier pro Hegel argumentiert.

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So geht es also nicht. Das „naturwüchsige“ Gemeinwesen und das zu ihm gehörende Recht mögen von der Entwicklung überholt sein. Trotzdem dürfen sie nicht lediglich durch einen „Vertragsstaat“ und durch ein Recht à la Aufklärung ersetzt werden. Nötig ist vielmehr ein Recht, das der „Idee“ genügt. Wo stehen wir gegenwärtig? In § 187/Z E, im Rahmen seiner Schlusslehre417, spricht Hegel von den „drei Gliedern der philosophischen Wissenschaft“, nämlich von „der logischen Idee, der Natur und dem Geist“, als den „Figuren“ des Schlusses. Es ist dies jene Variante der Schlusslehre, die sich deutlich von den Schlüssen der „gewöhnlichen Logik“ unterscheidet. Und zwar besteht der wichtige Unterschied darin, dass die Letzteren sich jeweils auf Totalitäten beziehen und den Sinn haben, deren Momente der Einzelheit, der Besonderheit und der Allgemeinheit zu vermitteln. Die neue Variante des Schlusses aber bezieht sich auf relative Totalitäten; Totalitäten also, die zugleich Teile einer dritten sind, durch die sie vermittelt werden. Eine einzigartige Sachlage, die nur mit einer Logik darstellbar ist, die den „Zusammenstoß zweier Ontologien“ zu erfassen vermag.418 Zwei Totalitäten werden in einer dritten zur Einheit zusammengeschlossen. Der Schluss, dieser Schluss, tritt uns in der Geschichte in dreifacher Gestalt entgegen. Und zwar so, „dass ein jedes seiner Glieder ebensowohl die Stelle des Extrems als auch der vermittelnden Mitte einnimmt.“ Aber den ersten Auftritt hat folgender Schluss: Geist–Natur–Idee Erläuternd heißt es dazu bei Hegel:

417 Die Schlusslehre, eingebettet in die Darstellung zum „subjektiven Begriff“ (§§ 163–193 E), handelt von der subjektiven Wahrnehmung der Totalität. Sie sagt aus, dass ein inhaltlich zutreffender Begriff von ihr nur zu gewinnen ist, wenn die jeweilige Totalität über ihre Momente „Einzelheit“, „Besonderheit“ und „Allgemeinheit“ begriffen wird. Im Zusatz zu § 187 E zeigt Hegel die Anwendung der Schlusslehre auf einen Sonderfall – auf sein „System“. Der „absolute Schluss“ – weil hier mit „Geist“ und „Natur“ Totalitäten in Beziehung gesetzt werden, die – wie wir weiter vorn bereits gezeigt haben – umfassender nicht sein können und die Besonderheit aufweisen, nur relative Totalitäten zu sein. Als solche werden sie zu „Momenten“ bzw. unter die Momente gesetzt, die über die „Idee“ zu einer weiteren Natur, zur „Einheits-Natur“, zusammengeschlossen werden. Die „Idee“ zeigt sich damit als die „absolute Substanz des Geistes wie der Natur“, sie ist „das Allgemeine, Allesdurchdringende“. Zu den staatstheoretischen Konsequenzen der Schlusslehre haben sich u.a. geäußert M. Wolff: Hegels staatstheoretischer Organizismus, HS19 (1985), S. 147–178; W. Pauly: Hegel und die Frage nach dem Staat, Der Staat 39 (2000), S. 381–396; K. Vieweg: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, Paderborn 2012, dort insbesondere Kapitel V und VII. 418 Siehe dazu: G. Lukács, Zur Ontologie, a.a.O., S. 26.

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„Hier ist zunächst419 die Natur das mittlere, zusammenschließende Glied. Die Natur, diese unmittelbare Totalität, entfaltet sich in die beiden Extreme der logischen Idee und des Geistes.“ Diese Schluss-Figur beherrscht die gesamte Vorgeschichte der Menschheit, bis zum Ende der Feudal-Periode. Auf sie folgt jene, worin das bisherige Extrem „Natur“ durch das Extrem „Geist“ als vermittelnde Größe abgelöst wird. Der problematische Punkt in der Menschheitsgeschichte ist erreicht; der Durchgangspunkt. Statt Vorherrschaft der „primären“ nun Vorherrschaft der „produzierten“ Natur. Aus vielen „handfesten“ Gründen, auch weil diese „geistige“ Natur mit „Vernunft“ verwechselt wird, wird der Durchgangspunkt aber praktisch und theoretisch zum „Endpunkt“ verfestigt. Die Bedeutung des „Zunächst“ wird also übersehen bzw. verdrängt und damit die eigentliche Aufgabe, die „Vernunftgestalt“ herzustellen. Der letzte Schluss, jener, der „die logische Idee“ in die Mitte bringt, steht also noch aus, und wir sollten – falls es nicht bereits zu spät ist, überhaupt noch irgendwelche Schlüsse zu ziehen – nicht zögern, ihn theoretisch wie praktisch auf den Weg zu bringen. Drei Schlüsse also, die, zeitlich versetzt, die drei großen Menschheits-Perioden markieren: – Vorgeschichte bis zum Ende des feudalen Zeitalters; – Periode der unvermittelten Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaft; – Periode, die unter die Herrschaft der Vernunft gestellt ist. Wenden wir uns der mittleren Figur zu. Zeigt sie uns nicht einen erstrebenswerten Zustand? Zeigt sie nicht an, dass eine völlig neue Natur aus dem Dunkel der feudalen Verhältnisse emporgestiegen und in „Freiheit“ gesetzt ist? Die „menschliche“ Natur! Sie, so scheint es, ersetzt die bisherigen Herrschaftsverhältnisse. Aus Sicht der Philosophen: das Fortschrittliche an sich. Und doch: nur ein Durchgangspunkt, mit dem sich ein „abstrakter“, kein wirklicher Zustand verbindet. Und was sie bietet, ist so notwendig wie fragwürdig zugleich. Sie spiegelt eine Konstellation wider, die zwar den „unverrückbaren Ausgangspunkt“420 bildet, weil darin das Fundament, das schroffe Gegeneinander der Naturen und ihrer jeweiligen Derivate, abgebildet ist. Jedoch: Ein Überleben ist damit nicht möglich.

419 Die Hervorhebung ist von mir. Sie soll darauf aufmerksam machen, dass die Schlussfiguren nicht schlechthin nebeneinander existieren, sondern in bestimmter zeitlicher Abfolge in die Erscheinung treten. Zur „logischen“ Dimension kommt also die Dimension „Zeit“ hinzu. Der Figur G-N-I folgt die Figur N-G-I. Die „Idee“ steht über einen langen historischen Zeitraum am Rande, ehe die Zeit für sie reif ist: G-I-N. 420 O. v. Gierke: Die soziale Aufgabe des Privatrechts. Vortrag, Berlin 1889, S. 5.

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Jahrtausendelang war dieses „Fundamentalprinzip“ verdeckt, war es überlagert durch die „naturwüchsige Einheitsnatur“ und durch eine „naturwüchsige“ Sittlichkeit. Im 16. und 17. Jahrhundert, mit „Bruch“ des „naturwüchsigen Gemeinwesens“, wird es sichtbar und für gut befunden. Das Ziel scheint erreicht zu sein. Anders Hegel. Er stellt das Neue nicht in Frage. Aber er relativiert es. Er schaut nach hinten, zur bisherigen „Einheitsnatur“ und zur bisherigen Sittlichkeit: So also, auf diese Weise wurde damals vermittelt. Und heute und zukünftig? Folgendes Zwischenergebnis: Die Exklusivität des in § 187/Z E erwähnten Schlusses ergibt sich aus der Tatsache, dass beide Naturen und ihre jeweiligen Derivate nur relative Totalitäten sind. Und „Person“, „Eigentum“, „Vertrag“, das Recht überhaupt sind Derivate der „produzierten“ Natur. Sie teilen daher mit ihr auch deren Relativität. Wird das außer Acht gelassen, gelangen wir – um auf unseren Gegenstand zurückzukommen – einerseits zu einem „abstrakten“ Recht und andererseits zu einer „abstrakten“ Moralität. Bezogen auf Hegels „Rechtsphilosophie“ würde das bedeuten, dass man sich entscheiden müsste: entweder für deren Teile eins und zwei oder für den dritten Teil.421 Beachten wir ihre Relativität nicht, verstehen wir auch nicht, was uns Hegel unter „Sittlichkeit“ zu sagen hat. Die Auseinandersetzung Hegels mit Fichte, später auch mit Schelling, kreist um die Frage der „Identität“. Hegel hält beide für „Identitätsphilosophen“, weil sie eine der beiden Entgegengesetzten, einer den „Geist“, der andere die „Natur“, zum Ganzen erheben. Jeder der beiden gelangt zu einer probaten, scheinbar in sich schlüssigen Lösung. Aber da beide den „Entgegengesetzten“ einen „verschiedenen Rang“ geben, die eine herrschen lassen und die andere „botmäßig“ machen422, steuern beide auf die Herrschaft einer Natur über die andere, ins Politische übertragen: auf die Diktatur zu. Einmal, bei Fichte, käme der „Betriebsstaat“423 heraus, zum anderen, bei Schelling, stünde am Ende die „Öko“-Diktatur. Keiner von beiden findet zur Einheit und von dort zum „Vernunftstaat“. Und Kant? Er hält sich, wie wir bereits sahen, heraus. Er hält sich an das Faktische: an die „Entzweiung“, an die „Entgegensetzung“. Ihre „Einheit“? Die mag es geben, jedoch nur außerhalb des Faktischen. Er fühlt sich nicht berufen, danach zu suchen. „Markenzeichen“ der beiden ersten Perioden ist, dass – systemtheoretisch betrachtet – ein Extrem, eine der beiden entgegengesetzten Naturen, eines der Teile, zugleich die Aufgabe des „Ganzen“, die „Vermittlung“, übernimmt. Zuerst die „primäre“, dann, ab dem 17. Jahrhundert, die „produzierte“ Natur. Aristoteles hat das 421 Entsprechend: entweder für einen „liberalen“ oder einen „reaktionären“ Hegel. 422 DS, MM 2, S. 48. 423 Wie er ja auch in seinem „Geschlossenen Handelsstaat“ antizipiert ist.

4 „Idee“ und „Begriff“

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als Erster erkannt und in seinem System verarbeitet. An ihn hält sich die Philosophie der Aufklärung. Und so muss man sich nicht wundern, dass ihr Weltbild von der ersten Schlussfigur geprägt ist. Was sie jedoch übersieht: Jetzt steht eine andere Natur, die „produzierte“, in der Mitte. Scheinbar bleibt man damit bei Aristoteles. Tatsächlich aber steht in der Mitte des jetzigen Schlusses der „Geist“ bzw. die Gegennatur. Im Endeffekt haben wir statt der Vorherrschaft der einen nun die Vorherrschaft der anderen Natur.424 Und was für einer Natur! Hegel erkennt damals bereits: Diese Natur ist drauf und dran, die andere unter sich zu ersticken. Wenn also damals die „Einheit“ unter dem Kommando der „primären“ und jetzt unter dem Kommando der „produzierten“ Natur steht, dann ist das nicht eine Art ausgleichende Gerechtigkeit, die zum Zuge kommt. Der Mangel jener Schlussfigur wird durch die jetzige vielmehr potenziert. Die Vorherrschaft der primären Natur verband sich mit der Vorherrschaft einer Sittlichkeit, die Recht und Pflicht in sich birgt. Jetzt leben wir im Zustand des Rechts – und zwar eines Rechts, das seinen Inhalt aus der Entpflichtung gegenüber der „primären“ Natur bezieht. Aristoteles ist entschuldigt. Er war mit seiner Philosophie auf der Höhe der Zeit. Er musste aber korrigiert und weitergeführt werden, vielleicht auch bloß richtig verstanden werden, als mit Zerfall des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ eine neue Lage entsteht. Eine „dialektische Logik“ ist jetzt gefordert, die die „Vernunft“ in die Mitte stellt. Übertragen auf unser Thema: Auch Recht und Moral sind zunächst „unvermittelt“, also „abstrakt“, befinden sich also im „Krankheitszustand“, von dem aus ein dritter, „diese beiden abstrakten Momente in sich vereinigender und darum konkreter“425 Zustand anzustreben ist. Also auch hier Fortdenken zum Begriff, in dem beide vermittelt sind. Gegen die Vernunftgestalt werden seit Hegels Zeiten tausenderlei Einwände erhoben. Aber eigentlich sind es nur 1000 Variationen des einen, des zentralen Einwands: dass nämlich durch sie die „Freiheit“ eingeschränkt wird, dass sie „freiheitsfeindlich“ ist. Oder, vom anderen Extrem her gesehen: dass die Vernunftge424 Hegel gegen Kant: „Kant preist sonst die Logik, nämlich das Aggregat von Bestimmungen und Sätzen, das im gewöhnlichen Sinne Logik heißt, darüber glücklich, dass ihr vor anderen Wissenschaften eine frühe Vollendung zuteil geworden ist; seit Aristoteles habe sie keinen Rückschritt getan, aber auch keinen Schritt vorwärts; das letztere deswegen, weil sie allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheine. Wenn die Logik seit Aristoteles keine Veränderung erlitten hat ... , so ist daraus eher zu folgern, dass sie um so mehr einer totalen Umarbeitung bedürfe; denn ein zweitausendjähriges Fortarbeiten des Geistes muss ihm ein höheres Bewusstsein über sein Denken und über seine reine Wesenheit in sich selbst verschafft haben.“ (L [S], S. 35 f.) 425 § 408/Z E (S. 170) – Hervorhebung bei Hegel.

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stalt „naturfeindlich“426 ist. Richtig daran ist nur, dass dieser „dogmatische“ und von Hegel entschieden zurückgewiesene Standpunkt, dieser Standpunkt der Teile, „im Ganzen“ aufgehoben wird.427 Kommen wir auf § 141 R zurück, wo Hegel sagt, dass nicht die beiden Naturen selbst nur „relativ total“ sind, sondern auch ihre Derivate Recht und Moral. Vorher aber hat er sie beide, im ersten und zweiten Teil seiner „Rechtsphilosophie“, „abstrakt“, also als „Totalitäten“ porträtiert.428 Erst im dritten Teil, Überschrift „Die Sittlichkeit“, relativiert er sie und macht sie damit „wahr“. Das geschieht mittels jener „Vermittlung“, über die sich das „Ganze“ geltend macht. „Vermittlung“, sagt G. Lukács, muss sein. Sie ist unverzichtbares Instrument „ontologischer Selbstkorrektur“429. Wenn aber die Ebene des „Ganzen“ gestrichen ist, muss die „Vermittlung“ auf die bereits dargestellte, nach Aristoteles, Fichte, Schelling, Feuerbach auch von Marx praktizierte, spezifische Weise des „Übergreifens“ einer Seite erfolgen.430 Also eine Vermittlung, die eingebettet ist in die „Einheit und den Kampf der Gegensätze“ und sich als Wechselwirkung ungleicher Kräfte und Größen versteht. Es gefällt Lukács daher nicht, wie Hegel vermittelt.431 Aufgrund des „Systems“ führe seine Vermittlung jedenfalls zu falschen Ergebnissen. Denn weil er sie bei der „Idee“ beginnen lasse, „muss er die sonst richtig erkannte Wechselbeziehung“ – die Beziehung der beiden Naturen zueinander – „ontologisch herabsetzen.“432 Damit kann der Marxist nicht zufrieden sein, weil Betroffener solcher Herabsetzung die „produzierte“ Natur ist und diese ja „übergreife“433. Hegels Vermittlung hafte der Makel an, eine Homogenisierung der wechselwirkenden Gegenüber zu bewirken; sie ziele ab auf ein Gleichgewicht und damit: auf eine Gleichheit beider Seiten. Lukács dazu: „Ohne Frage gibt es Fälle, wo dies [die Gleichgewichtslage – B.R.] den Tatsachen entspricht. Für die reale, für die ontologisch bedeutsame Entwicklung sind jedoch vor allem jene Wechselwirkungen ausschlaggebend, in denen das, was 426 A. Baeumler (Einführung, in: Hegels Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, Teil I: Philosophie des Geistes und Rechtsphilosophie, Jena 1927, S. 67) schreibt: „Die Natur ist in Hegels Philosophie vernichtet. Sein Herz gehörte der städtischen Gesellschaft“. 427 Vgl. dazu die Ausführungen in § 32/Z E. 428 Dazu O. Pöggeler: Einleitung, in: G.W.F. Hegel, Vorlesungen. Bd. 1: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft, hrsg. v. C. Becker u.a., Hamburg 1983, S. XXXII f. 429 Vgl. G. Lukács, Zur Ontologie, a.a.O., S. 103. 430 Durch „Schwerpunktbildung“, wie Luhmann (Gesellschaft, a.a.O., S. 144) für die moderne Systemtheorie formuliert. 431 Nämlich wie bereits in der „Phänomenologie“ (MM 3, S. 340) dargestellt: „Das Ganze ist ein ruhiges Gleichgewicht aller Teile.“ 432 Ebd., S. 106. 433 Marx, GR, S. 20: „Die Produktion greift über“. Siehe auch die generellere Aussage von Marx zur „Vermittlung“ und zum „Übergreifen“ in MEW 1, S. 293 f.

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Marx später als das ‚übergreifende Moment‘ genannt hat, zur Geltung kommt.“434 So aber, hier aber, trete eine Verzerrung der Wirklichkeit ein. Richtig ist das Gegenteil. Durch Hegels „Vermittlung“ wird das Verhältnis der Naturen geradegerückt. Was vorher und eigentlich bis heute auf den Kopf gestellt, was hierarchisiert ist, wird von Hegel zu Gunsten der „primären“ Natur korrigiert. Damit kann sich allerdings nicht anfreunden, wer die eine oder andere Natur favorisiert. Sie wird daher perhorresziert, wie Hegel mit Blick auf Fichte und Schelling formuliert. Er hält dagegen: „Dies Perhorreszieren stammt aber … aus der Unbekanntschaft mit der Natur der Vermittlung und des absoluten Erkennens selbst.“435 Sein zentrales, immer wieder betontes Anliegen: ein ausgewogenes Verhältnis der beiden Naturen zueinander auch jetzt, nach der „Entzweiung“, beizubehalten bzw. zurückzugewinnen. Aber gerade das wird ihm damals von fast allen Seiten verübelt. Bezogen auf das Recht und die Rechtswissenschaft: Das Recht ist zwar ein Produkt der „produzierten“ Natur und ihrer Freiheit. Das bedeutet aber nicht, dass die Rechtswissenschaft so tun darf, als wäre diese Natur von der anderen und vom „Ganzen“ durch eine Chinesische Mauer getrennt. Sie muss ihren spezifischen Gegenstand ständig mit der Vergangenheit und mit der Zukunft, mit der „Naturgestalt“ und mit der „Vernunftgestalt“ rückkoppeln, um zu einem wahrhaften Begriff zu gelangen. Der heutige Zustand, dass die Sparte „Rechtsphilosophie“ im Rahmen einer sich um das „abstrakte“ Recht rankenden Rechtswissenschaft wie angeklebt wirkt und kaum mehr als ein Schatten- und Alibidasein führt, wird diesem Anliegen nicht gerecht. „Rechtsphilosophie“ ist für Hegel im Gegensatz zu jenen, die in dieser Verknüpfung einen „paradoxen Tatbestand“436 sehen, daher auch „Staatsphilosophie“. Wie anders als über einen sittlichen Staat kann der im „abstrakten Recht“ ausgemerzten Pflicht der „primären“ Natur gegenüber Geltung verschafft werden? Das führt zu den zwei uns bekannten Rechten. Das „Staatsrecht“ ist nicht nur, aber hauptsächlich dazu da, die Interessen der „primären“ Natur zur Geltung zu bringen. Hegels Ansatz spiegelt also wider, dass er das Recht als Recht in „engerem“ und als Recht in „weiterem“437 Sinne sieht bzw. als „zwei Rechte“, die sich ableiten einmal – im Fall des Privatrechts – von der „produzierten“ Natur – und zum anderen von der „Einheitsnatur“.

434 Lukács, Zur Ontologie, a.a.O., S. 105 f. 435 Phän, S. 25. 436 H. Schnädelbach: Hegel und die Vertragstheorie, HS22 (1987), S. 119. 437 Ebd., S. 113.

5 Die Freiheit als „Substanz und Bestimmung“ des Willens „Freier“, „unfreier“ und „vernünftiger“ Wille

Im § 4 R heißt es: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so dass die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur ist.“ Der Geist materialisiert sich zur eigenen Natur. Er ist Bewusstsein, das sich im Werk Realität gibt.438 Ein Selbsterzeugungsprozess, in dessen Mitte der „Wille“ steht. Dieser ist der „Trieb [des Geistes], sich Dasein zu geben.“439 „Geist“ ist Wille – und Wille ist Tat440; ein Wille, der nichts will, ist keiner. Er dreht sich also um das Tätigsein. Um ein jetzt „frei“ gewordenes Tätigsein, denn die bisherigen Beschränkungen, auferlegt durch die „Blut-und-Boden-Bindung“, sind beseitigt. Der Geist kann ungehindert aneignend auf die andere Natur zugreifen. Freiheit! Resultat dieser Arbeit des Willens ist eine eigene, die „produzierte“ Natur; sie ist der Körper zu diesem Geist. Diese Natur ist atomistisch strukturiert. Da es ihr Zweck ist, sich fortwährend auszubreiten, und sie dazu fortwährend „Aneignung“ betreiben muss, unterliegen die handelnden Atome diesem Zweck. Ein zweckgebundener Wille also. Er ist mit dem Recht verknüpft, die „primäre“ Natur als Objekt anzusehen. Er versteht sich ihr gegenüber als „absolutes Zueignungsrecht“441. Er ist ihr gegenüber „freier“ Wille. Er steht jedoch in der Pflicht der eigenen Natur. „Freiheit“ hier, „Notwendigkeit“ dort. Diese beiden Seiten des Willens werden bereits eingangs der „Geistphilosophie“ herausgestellt. Die Freiheit des Geistes und die seiner Atome wird dort als die Freiheit einer „Bestimmtheit … gegen eine andere Bestimmtheit“442 bezeichnet. Sie endet dort, wo der Zweck des Geistes und der Natur, zu der er sich materialisiert hat und weiter materialisiert, gefährdet ist.

438 Vgl. Phän, S. 300. 439 § 4/Z R. 440 § 343 R: „Die Geschichte des Geistes ist seine Tat, denn er ist nur, was er tut, und seine Tat ist, sich und zwar hier als Geist sich zum Gegenstande seines Bewusstseins zu machen“. 441 § 44 R. 442 § 381/Z E – Hervorhebung B.R.

5 Die Freiheit als „Substanz und Bestimmung“ des Willens

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Die jetzige „Freiheit“ ist die der „frei“ gewordenen Natur. Und ihre Atome sind „Teilhaber dieser gemeinsamen Macht“443. Da jedem Atom gleichviel „Willen“ zusteht, ist eine Ordnung notwendig, die gewährleistet, dass die Aneignenden sich bei der Ausübung ihrer Freiheit nicht ins Gehege kommen, die also den reibungslosen Vollzug des Gesamtzwecks sicherstellt. Eine „Freiheitsausübungsordnung“. Eine Rechtsordnung. Sie sichert das Dasein der Atome als „Dasein des freien Willens“444. Der individuelle Wille hat in der „Spur“ zu bleiben. Erlaubt ist ihm, die „primäre“ Natur auszubeuten. Verboten ist ihm, sich durch Diebstahl, begangen am Eigentum anderer Atome, zu bereichern. Mehr verlangt, mehr bietet die Rechtsordnung nicht. Sie ist verletzt, wenn der Wille sich gegen die eigene Natur und deren Mitglieder vergeht. Dann liegt „Unrecht“445 vor. Für die „primäre“ Natur ist sie nicht da. Eher bewirkt sie das Gegenteil, nämlich eine konzertierte Aktion gegen sie. Gegen die gerichtet, die das „Geistige“ als bloßes Denken, „als das reine Denken seiner selbst“, „als ein besonderes, eigentümliches Vermögen, getrennt vom Willen“ ansehen, stellt Hegel klar: Wer es so sieht, begeht eine „Flucht aus allem Inhalt“, flüchtet in die „Freiheit der Leere“, erhebt eine einseitige Bestimmung „zur einzigen und höchsten“ und zeigt damit, dass er „gar nichts weiß von der Natur des Willens“.446 Sein „Geistiges“ verbindet sich zwingend mit „Wollen“, mit Handeln. Der Geist als schöpferischer, auf die Produktion einer „zweiten Natur“ gerichteter Geist wäre verkannt, würde er auf „reines“ Denken reduziert. Der „Wille“ ist beides: Denken und Handeln.447 Er bezeichnet „eine besondere Art des Denkens: das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben.“448 Kurzum: Wille ist praktisches, auf Veränderung des Daseins gerichtetes Denken. Als Exekutor eines Zwecks ist er „Mittel“ und als solches nicht frei. Aber dieser Mangel an Freiheit bleibt unreflektiert, wird als Mangel nicht empfunden oder verdrängt, weil er „ein mir Innerliches, Subjektives“449 ist. Mehrfach vergleicht Hegel die Situation mit der des Tieres: Dieses empfindet seine Zweckbindung, seine Unfreiheit nicht als einen Mangel. Es wird durch die Instinkte gesteuert, über sie lebt es den Zweck seiner Na443 F.C. v. Savigny: System des heutigen Römischen Rechts, Bde. 1–8, Aalen 1981 (2. Neudruck der Ausgabe Berlin 1840 ff.), Bd. 1, S. 368. 444 Vgl. § 29 R. 445 Siehe dazu die §§ 82–104 R. Savigny (System1, S. 367 f.) fasst den geschilderten Zusammenhang in die Worte: „Jeder Mensch hat jetzt den Beruf zur Herrschaft über die unfreye Natur; denselben Beruf aber muß er eben so in jedem andern Menschen anerkennen, und aus dieser gegenseitigen Anerkennung entsteht, bey räumlicher Berührung der Individuen, ein Bedürfniß der Ausgleichung“. 446 § 5/A R. 447 § 7 R. 448 § 4/Z R. 449 § 8/Z R.

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tur. Anders der Mensch. Dieser hat sich und sein Handeln von der „tierischen“ Natur frei gemacht; er ist „frei von Instinkt“, wie Kant450 formuliert. Er hat dieser Natur gegenüber jetzt einen „freien“, gewissermaßen naturbereinigten Willen451, nicht aber gegenüber jener Natur, die er jetzt als die seine ansieht. Sie beherrscht ihn. Ihrem Zweck, ihren Gesetzen unterliegt er; sie bestimmen sein Handeln. „Freier Wille“ besagt also: Der Mensch ist jetzt der „produzierten“ Natur unterworfen. Ihr gegenüber steht er in der Pflicht, während er der anderen gegenüber pflichtlos geworden ist. Wir machen daraus das Beste und sagen uns, dass wir nun, anders als die Tiere, „frei“ sind. Wir verschweigen uns, dass wir nun gegenüber der „produzierten“ Natur unfrei geworden sind, dass es nun ihre Zwecke sind, „wozu ich getrieben bin“. In dem Maße also, wie „die eigne Tat des Menschen“ diese Natur hervorbringt, wird sie ihm gegenüber „zu einer fremden gegenüberstehenden Macht ..., die ihn unterjocht, statt dass er sie beherrscht“452, sagt Marx – und folgt damit Hegel, bei dem es heißt: Sie ist die „ungeheure Macht, die den Menschen an sich reißt, von ihm fordert, dass er für sie arbeite“453. Die Person hat nicht das Recht, sich aus ihrem Geschiebe und Getriebe herauszuhalten. Sie muss ihre Leiblichkeit zu „Arbeitsvermögen“ formieren. Sie hat „nicht die Freiheit, keine Verträge einzugehen“454. Sie muss sich im Rahmen der Gesetze dieser Natur bewegen, also im Rahmen des Rechts, wie das Tier über die ihm eingepflanzten Instinkte sich gemäß seiner Natur zu verhalten hat. Sie muss, sie muss, sie muss! Und nur in einer Richtung ist ihr Wille frei: soweit dieser gegen die andere Natur gerichtet ist. Zur Willenslehre des Naturrechts äußert sich E. Rosenstock wie folgt: Sie „entrückt die Rechtssubjekte der Raumwelt und lässt sie frei in diesen Raum hineinwirken. Was im Raum ist, hat keinen Willen, was von draußen als ein wahrer Archimedes auf diese Raumwelt wirkt, hat einen Willen. Dieses Wirkende heißt Person, jenes Bewirkte heißt Sache.“455 Die Kehrseite der „Freiheit“ ist also die Knechtung der „primären“ Natur. Oder mit Hegel gesagt: Die Kehrseite des „Naturrechts“ ist das „Naturunrecht“456. Die Bindung durch das „Sittliche“ ist beseitigt. Der jetzige 450 IAG, Dritter Satz. 451 H. Marcuse (Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Neuwied 1962, S. 171) spricht in diesem Zusammenhang von der „Reinigung des Willens“. 452 MEW 3, S. 33. 453 § 236/Z R. 454 H. Schnädelbach, Vertragstheorie, a.a.O., S. 115. 455 E. Rosenstock: Vom Industrierecht. Rechtssystematische Fragen, Berlin u. Breslau 1926, S. 107. 456 NR, S. 506.

5 Die Freiheit als „Substanz und Bestimmung“ des Willens

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„freie Wille“ ist also ein losgebundener, ein unsittlicher Wille. Das zeigt sich exemplarisch darin, dass die Pflicht gegenüber der „primären“ Natur jetzt dem „Gewissen“ überantwortet ist. Aber der Mensch ist und bleibt beiden Naturen zugehörig. Beider Zwecke sind ihm „Gesetz“. Beide müssen daher in einem „vernünftigen“ Willen, in einem „vernünftigen“ Recht zusammengeführt, müssen dazu „vermittelt“ werden. Deswegen existiert auch die Freiheit „ebenso sehr als Wirklichkeit und Notwendigkeit“ des Ganzen „wie als subjektiver Wille“457. Zwei Freiheiten also; die „Willkür-Freiheit“ des Teils und die „vernünftige“ Freiheit des Ganzen. Beide haben ihren Platz und ihr Recht. Beide müssen zur Übereinstimmung gebracht werden. Gegenüber der damaligen und bis heute üblichen Auffassung, für die die Grenze der Willensfreiheit nur wegen der atomistischen Existenz des Willens, gewissermaßen als Binnenproblem der Freiheit, von Bedeutung ist, sieht Hegel das Hauptproblem darin, wie jetzt, nach Auseinandertreten der Naturen, trotz dieser „Freiheit“, der Bestand der „primären“ Natur gesichert werden kann. Wer bestimmt, wer exekutiert jetzt die zum Schutz dieser Natur notwendige Beschränkung der Freiheit? Es ist bereits im ersten Paragrafen zum Thema „objektiver Geist“ angesprochen. „Der freie Wille“, heißt es in § 483 E, „hat unmittelbar zunächst die Unterschiede an ihm [dem objektiven Geist – B.R.], dass die Freiheit seine innere Bestimmung und Zweck ist und sich auf eine äußerliche vorgefundene Objektivität bezieht“. Diese „äußerliche“ Objektivität wiederum spaltet sich auf a) „in das Anthropologische der partikulären Bedürfnisse“ = Aneignung der unmittelbar bedürfnisbefriedigenden Naturdinge; b) „in die äußeren Naturdinge, die für das Bewusstsein sind“ = Aneignung der „primären“ Natur durch deren wissenschaftliche Durchdringung; c) „in das Verhältnis von einzelnen zu einzelnen Willen, welche ein Selbstbewusstsein ihrer als verschiedener und partikulärer sind“ = auf Austausch gerichteter Wille, der aus der arbeitsteiligen Produktion heraus notwendig wird. a), b) und c) machen „das äußerliche Material für das Dasein des Willens aus.“ Ihm gegenüber ist der Wille frei. Aber schon in Frankfurt stößt Hegel bei seinen KantStudien darauf, dass diese Freiheit bloß ein „Spezialfall menschlicher Freiheit“458 ist. Zwar hat sich der Mensch von der Natur gelöst und sich ihr gegenübergestellt. Was dabei unbeachtet bleibt, ist, dass er sich jetzt der anderen Natur unterstellt, dass es jetzt deren Zweck ist, in den er eingebunden ist. Freier Wille? Eher doch so, dass der Mensch, gelockt von Glücksversprechungen, von einer Notwendigkeit in 457 § 33 R. 458 Fulda, Hegel, a.a.O., S. 48.

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die andere wechselt. Er ist also ebenso unfrei wie vorher, nur dass ihm seine jetzige Unfreiheit als „Freiheit“ verkauft wird. Und wer sich von dem Glücksversprechen „kaufen“ lässt, wer sich mit dem Zweck der „produzierten“ Natur vollumfänglich identifiziert, fühlt sich auf jeden Fall freier als jener, der sich ihrem Zweck zu entziehen sucht. Die Freiheit, die Hegel schon in Frankfurt vorschwebt, ist an der „Idee“ orientiert. Schon dort beginnt er Freiheit als Vereinigung zu denken.459 Unter diesem Gesichtspunkt setzt er sich schon damals mit Kant und dessen „allgemeinem Rechtsgesetz“ auseinander, das dahin lautet, dass die „Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit“ über das Recht in Einklang zu bringen ist, und mit dem Postulat endet: „Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“460. Gut und schön – dieses „allgemeine Rechtsgesetz“. Aber das Recht und die Rechtswissenschaft darauf zu beschränken genügt der „Idee“ nicht. Denn es sorgt lediglich dafür, dass die Handlungen der Atome koordiniert und diszipliniert werden, während der andere Zusammenhang, das wichtige Verhältnis der beiden entgegengesetzten Naturen zueinander, darin ausgespart ist. Eine Einschränkung, deren „Hauptmoment“ sich aus der atomistischen Struktur der „produzierten“ Natur ergibt und die weiter nichts ausschließen soll und kann als den Kannibalismus unter den Atomen. In § 29 R kommt Hegel darauf zurück. Diese bloß „negative Bestimmung“, sagt er dort, ist zu wenig, sie versteht sich von selbst. Sie schafft lediglich eine natur- bzw. gesellschaftsinterne Lösung. Sie sprengt den Rahmen des „abstrakten“ Rechts nicht. Sie verhindert lediglich „Faustrechtzustände“, indem sie eine Ordnung in das gemeinsame Anliegen, Aneignung der anderen Natur, bringt. Was bei Kant fehlt, ist bei Hegel der Schwerpunkt: der Zusammenhang der/ dieser „Freiheit“ und dieses „freien Willens“ mit dem Ganzen.461 Der Zerfall der natürlichen („naturwüchsigen“) Sittlichkeit in Recht und Moral ist für Hegel kein „Endpunkt“, sondern – fußend auf seinem Begriff der „relativen Totalität“ – beides, End- und Durchgangspunkt zugleich. Das „Entzweite“ bleibt erhalten, wird aber vermittelt; erst die Vermittlung stellt „die Einheit und Wahrheit“462 wieder her. Beide Entgegengesetzte werden relativiert – was Hegel den doppelten Vorwurf einbringt, sowohl das Recht als auch das Moralische463 gering zu achten. Er wird also 459 Ebd. 460 KantW, MdS, 1. Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, §§ B und C. 461 Vgl. § 4/A R. 462 § 33 R. 463 Rosenkranz, a.a.O., S. 174: „Oft ist der hegelschen Philosophie die Geringschätzung des

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scheinbar aus beiden Lagern kritisiert, in Wahrheit aber nur aus einem Lager, dem der „produzierten“ Natur. Denn die „primäre“ Natur dürfte sich wohl kaum beklagen, bedeutet diese „Geringschätzung des Moralischen“ für sie doch, dass ihre dem „Gewissen“ überantworteten Rechte wiederhergestellt, d.h. institutionalisiert werden. Zwei Einschränkungen des „freien Willens“ statt nur einer! Erstens jene, die bei Kant im Mittelpunkt steht. Zweitens die weitere, die sich aus dem Schutz der anderen Natur ergibt. Sie besteht darin, dass der Wille der „produzierten“ Natur und jeder Teil-Wille ihrer Atome der „Idee des Ganzen“464 verpflichtet wird. Das „ist erste Pflicht aller Freiheit, ja die Bedingung ihres Bestands“465. Erst damit ist das „immanent Vernünftige“ des Willens sichergestellt. Hegel hebt als das große Verdienst Kants hervor, das dieser bei der Beurteilung des Gegensatzes von Teleologie und Mechanismus nahe daran ist, zu einer dialektischen Auflösung zu gelangen. Er referiert466 ihn wie folgt: „Thesis ...: Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig.“ „Antithesis: Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.“ Der Schluss, den Hegel daraus zieht: Es gibt „eine Freiheit als eine besondere Art von Kausalität“, eine Freiheit, die der „Anfang“ einer Kausalität ist und mit der anderen Kausalität in „gar keine[m] Zusammenhang“ steht. Zwei Zwecke und zwei Kausalitäten also; Zwecke und Kausalitäten, die sich gegenüberstehen. Die Moralität als „Selbstbestimmung des Willens“467 kollidiert mit dem „freien“ Willen der Person des „abstrakten“ Rechts. Es stehen sich also gegenüber: Moralischen vorgeworfen.“ Fulda (Hegel, a.a.O., S. 199) weist, bezogen auf die „Grundlinien“ auf Folgendes hin: „Zwar handelt [deren] mittlerer Teil vom Standpunkt der ‚Moralität‘. Aber in der Darstellung dieses ‚Standpunkts‘ ist keine Abhandlung von der Moral enthalten ..., und auch im dritten Teil wird keine ethische Pflichten- oder Tugendlehre vorgetragen“. Diesem richtigen Befund wäre anzufügen: „Recht“ und „Moral“ werden zunächst als „Abstrakta“ dargestellt, als Durchgangspunkte, denen also „logisch“ gesehen keine Dauer beschieden ist, die insoweit auch nicht weiter inhaltlich ausgefüllt werden müssen. 464 Fulda, Hegel, a.a.O., S. 56 – mit Hinweis auf Kant. 465 H. Jonas: Technik, Freiheit und Pflicht. Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels e.V., in: ad libitum, Sammlung Zerstreuung, Nr. 13, Berlin 1989, S. 85. 466 L (B), S. 186 f. 467 § 107 R.

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a) der Wille als Handeln des Subjekts nach moralischen Maßstäben; b) der Wille als Handeln der Person nach den Maßstäben des Rechts. Aber korrumpiert durch die Glücksverheißung der „produzierten“ Natur, entscheidet sich der Mensch für diese Natur, unterwirft sich ihrem Zweck. Er zeigt sich blind dafür, dass er, indem er dem nachläuft, was er für sein persönliches Glück hält, sein anderes Naturdasein unterminiert. Der Mangel468 an Freiheit hier wird überdeckt durch die Freiheit dort. Er nimmt in Kauf, dass er damit nicht nur gegen die Natur, sondern auch gegen sich selbst handelt. Verstehbar, aber unvernünftig. Vernünftig wäre, sich an der Mitte zu orientieren. An einem Willen also, der das Wohl beider Naturen im Auge hat.469 Ein Wille also, der nicht nur dem individuellen Glück nachjagt, sondern versteht, im Interesse des Erhalts der Natur Verzicht zu leisten. Ein sich selbst beschränkender Wille. Was der Mensch auch tut: Er kann seiner zweifachen Natur nicht entsagen. Er hat eine besondere Verantwortung. Mit der Entscheidung nur für die „produzierte“ Natur wird er ihr nicht gerecht. Er bleibt auch der anderen Natur gegenüber in der Pflicht. Ja, der Wille ist jetzt frei. Aber doch nur einseitig und nur dazu, dass wir uns jetzt vollständig dem Zweck der „produzierten“ Natur unterwerfen. Ein Wechsel von einer Bindung in die andere. Das ist wider die Vernunft. Ein so verstandener „freier Wille“ ist deshalb kein „vernünftiger“ Wille.470 Er bedarf der Korrektur. Bleibt sie aus, ist die Zerstörung der anderen Natur vorprogrammiert. Die Schwächen der Lehre vom „freien Willen“ à la Aufklärung, à la Kant treten deutlich zutage, als mit Eintritt der bürgerlichen Gesellschaft in das Stadium des „organisierten Kapitalismus“ „Mächte“ und „Kräfte“ aufkommen, die sich einer Beurteilung nach dem individualistischen Schema weitgehend entziehen. Trotzdem wird weiterhin an dieser Lehre festgehalten. Die „despotische Herrschaft der Aufklärung“, urteilt E. Rosenstock bereits 1926, sorgt dafür, dass deren Auffassungen von „Natur“ und vom „Willen“ unangefochten bleiben. Geadelt durch sie haftet die Willenslehre „am zähesten“. Aber wie zäh sie auch haftet: „Sie kann ... heute bestattet werden.“471 Die vernünftige Freiheit ist also scharf abzugrenzen von der „Willkürfreiheit“. Hegel dazu: „Die gewöhnlichste Vorstellung, die man bei der Freiheit hat, ist die der Willkür. … Wenn man sagen hört, die Freiheit überhaupt sei dies, dass man 468 Siehe dazu § 8/Z R. 469 Siehe dazu: G. Amengual, a.a.O., S. 199. 470 Anders bewertet ist dieser Wille bei K.-H. Ilting (Die Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: M. Riedel [Hrsg.], Materialien 2, S. 54 f.), der den Abschnitt „Abstraktes Recht“ dazu nutzt, den „liberalen“ Hegel herauszustellen. 471 E. Rosenstock, a.a.O., S. 108, 112.

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tun könne, was man wolle, so kann solche Vorstellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung genommen werden, in welcher sich von dem, was der an und für sich freie Wille, Recht, Sittlichkeit usf. ist, noch keine Ahnung findet.“472 Eine solche „Willkürfreiheit“ ist nicht nur eine „ungebildete“ Auffassung, sondern sie ist – wie T. Kobusch473 hervorhebt – „eine Form der Unfreiheit“, die uns, um den Faden weiterzuspinnen, in die Lage der Tiere versetzt, wenn wir ihren Mangel nicht erkennen. Wir machen uns dann zum willfährigen Werkzeug einer Natur, deren Zweck darauf gerichtet ist, sich ihr Gegenüber einzuverleiben. Ein beiden Naturen gerecht werdendes Handeln ist gefordert. Stattdessen lassen wir uns von der „produzierten“ Natur, wie Hegel sagt, „bestimmen“. Die Belohnung besteht in der Teilhabe an den materiellen Gütern, die sie bereithält. Je weniger Widerstand dieser „Bestimmung“ entgegensetzt wird, umso mehr Lohn fällt im Durchschnittsfall an. Wer sich ein- und unterordnet, bringt es in dieser Natur zu etwas. Wer ausschert, steht am Rande. In der „Rechtsphilosophie“ ist dies alles relativ knapp abgehandelt. Ausführlicher hingegen in der „Geistphilosophie“. Dort wird – in der 3. Auflage der „Enzyklopädie“ – diese Thematik in den „Zusätzen“ zu den §§ 408 und 410 unter dem Stichwort „zweite Natur“ breit kommentiert. Zentrale Begriffe sind dort „Selbstgefühl“ und „Gewohnheit“. Wie das Tier sich nicht gegen die ihm eingepflanzten Instinkte verhält, verhält sich das Mitglied der „produzierten“ Natur nicht gegen die „Gewohnheit“. Sie macht aus einem orientierungslosen einen zweckgebundenen Willen. Je nachdem also, aus welchem Blickwinkel ich die „produzierte“ Natur betrachte – Rosenstock z.B. weist auf Hobbes und Descartes hin –, wird einmal die Willensfreiheit geleugnet, zum anderen emphatisch verteidigt.474 Für Hobbes, der das „Inwendige“ der „produzierten“ Natur im Auge hat, sie also vom Aneignungsprozess her betrachtet, steht die „Direktion“ im Vordergrund, der die Akteure unterworfen sind. Für Descartes, der nur die jetzt gewonnene „Freiheit“ und Vorherrschaft gegenüber der „primären“ Natur im Auge hat und von daher urteilt, steht hingegen der jetzt von der Natur losgebundene, mithin „freie“ Wille im Vordergrund. Übersetzt man „Gewohnheit“ mit Sitte, mit Brauch, sind wir bei der Sittlichkeit und damit bei jenem Zustand, der dem „freien Willen“ vorhergeht. Da wir diese Sittlichkeit als von der „naturwüchsigen Einheitsnatur“ herkommend zu verstehen haben, also als vermittelndes Element zwischen „Willen“ und „Instinkt“, wird deutlich, dass der „freie“ Wille ein solcher ist, der sich von dieser Vermittlung losgesagt

472 § 15/A R. 473 T. Kobusch, a.a.O., S. 163. 474 E. Rosenstock, a.a.O., S. 108.

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hat. Was den Menschen jetzt noch, dennoch, an die „primäre“ Natur bindet, wird zur Seite gedrängt, wird eingehaust und dem Gewissen überantwortet. Die „produzierte“ Natur verselbständigt sich gegen ihre Erzeuger. Diese glauben, ihr Herr zu sein, während gilt: Sie ist „das wahre Gemeinwesen nun geworden, das er zu verspeisen sucht, und von dem er verspeist wird.“475 Der Unterschied besteht nur darin, dass das Tier von Natur „unfrei“ ist und lebenslang von den angeborenen Instinkten geleitet wird, während der Mensch sich zu einer solchen Unfreiheit gegenüber der „produzierten“ Natur erst heranbildet bzw. heranbilden lassen muss. Bildungs- und Erziehungsarbeit ist zu leisten, um ihn an sie zu „gewöhnen“ und für sie brauchbar zu machen. Er muss sich also von seiner anderen, „biologischen“ Natur wegbilden, sich von ihr entfernen, wenn er hier bestehen will – ein Vorgang, den Hegel unter der Rubrik „Selbstgefühl“ in § 407 ff. der „Enzyklopädie“ näher beschreibt. Die Aussage geht dahin, dass das Individuum zur Erkenntnis gelangt, zwei Naturen anzugehören, dass es lernt, „sich in sich selbst zu unterscheiden“476, was heißt: die bisherige Bindung der Leiblichkeit an eine Natur, das Beharren auf einer „partikuläre[n] Verleiblichung“477 als eine „Krankheit“ zu sehen und diese zu überwinden. Zwei Selbste und zwei Selbstgefühle anstatt des einen oder des anderen. Man kann nicht brauchbares Mitglied der „produzierten“ Natur sein, wenn man das Selbstgefühl der „primären“ Natur verleiblicht hat. Daher waren die noch urgesellschaftlich lebenden Indianer denkbar schlecht geeignet für die in Nordamerika einzurichtende bürgerliche Gesellschaft, wurden „ausgemustert“ und landeten im Abseits, in der Reservation. Ersetzt wurden sie durch aus Afrika herbeigeholte Sklaven, die durch eine „ackerbauende“ Tradition vorgeprägt waren und daher den Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft besser entsprachen. Ein zentraler Satz in § 410/A E lautet: „Der Mensch ist in seiner Gewohnheit in der Weise von Naturexistenz und darum in ihr unfrei, aber insofern frei, als die Naturbestimmung der Empfindung durch die Gewohnheit zu einem bloßen Sein herabgesetzt, er nicht mehr in Differenz und damit nicht mehr in Interesse, Beschäftigung und in Abhängigkeit gegen dieselbe ist.“ Soll heißen: Beruhte das Selbstgefühl des Individuums der „primären“ Natur auf den Instinkten, so beruht das „Selbstgefühl“ des zur „produzierten“ Natur gehörigen Individuums auf der „Gewohnheit“. Sie ist das, was für die Tiere die Instinkte sind.

475 Marx, GR, S. 396. 476 § 407 E. 477 § 408 E.

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Die Instinkte stehen für eine „unfreiwillige Verleiblichung“, die die Natur selbst an ihren Geschöpfen vornimmt. Ihr steht die „mit Freiheit“478 geschehende gegenüber, die der Mensch an sich vollzieht, indem er die „produzierte“ Natur hervorbringt und diese in sich aufnimmt. Er produziert eine Natur und damit sich selbst. Das vom Instinkt gespeiste Selbstgefühl wird also abgelöst/ersetzt durch die „Gewohnheit“. Diese wird von Hegel näher bestimmt als „zu einem Natürlichseienden, Mechanischen gemachte Bestimmtheit des Gefühls, ... der Intelligenz, des Willens usf., insofern sie zum Selbstgefühl gehören.“479 Alles hat seinen Preis, auch dieses gebotene, dieses lockende „Glück“. Zum alleinigen Zweck erhoben, wird es zum Totengräber. Und was ist nötig, diese Folge abzuwenden? Vernunft! In der Anmerkung zu § 124 R macht Hegel deutlich: Es gibt keine Rückkehr hinter den „Wendepunkt“, keine Rückkehr zur feudalen oder gar zu der „schönen“ Sittlichkeit der griechischen Antike. Es bleibt bei der Freiheit der „produzierten“ Natur und der ihrer Mitglieder. „Biologische“ Zwänge scheiden also aus. Und moralische Appelle allein helfen nicht. Was also bleibt, ist der Zwang, der von der Vernunft und von der Vernunftgestalt ausgeht. Der Mensch hat keine Wahl. Er kann sich nicht verhalten, als sei er das Tier der „produzierten“ Natur. Er muss sich mit beiden Naturen arrangieren, will er seiner Existenz Dauer verleihen. Dazu ist die Vernunft gefragt. „Triebe, Begierden, Neigungen hat auch das Tier, aber das Tier hat keinen Willen und muss dem Triebe gehorchen, wenn nichts Äußeres es abhält. Der Mensch steht aber als das ganz Unbestimmte über den Trieben und kann sie als die seinigen bestimmen und setzen. Der Trieb ist in der Natur, aber dass ich ihn in dieses Ich setze, hängt von meinem Willen ab, der sich also darauf, dass er in der Natur liegt, nicht berufen kann.“480 Das Handeln des Menschen ist durch diese „doppelte Unbestimmtheit“481 charakterisiert. Sie ist das „Neutrale“, der „Urkeim alles Daseins“482, von dem aus der „Entschluss“ zu fassen ist: die Entscheidung, für das Interesse der einen oder anderen Natur tätig zu sein. Das verweist auf den Mittelweg. Ihn zu finden und handelnd zu beschreiten ist die Forderung an uns.

478 479 480 481 482

§ 411/Z E. § 410/A E. § 11/Z R. Vgl. § 12 R. § 12/A R.

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6.1 Der doppelte Aneignungsprozess: Stoffwechsel von Natur zu Natur

Was unterscheidet zwei Naturen, die sich, geprüft auf ihre stoffliche Zusammensetzung, gleichen, die von daher eins zu sein scheinen? Hegels Antwort: das „Geistige“.483 „Stofflich“ gesehen besteht kein Unterschied. Und doch steht ein Antagonismus zwischen ihnen. Dieser aber ist naturwissenschaftlich nicht zu erklären. Er ist Gegenstand von Wissenschaften, die sich auf das „Geistige“ beziehen: Philosophie und Logik. Er resultiert – wie schon in den Kapiteln 1 und 2 herausgearbeitet – aus einer je eigenständigen Subjektivität der Naturen, die sich wiederum in eigenständigen Zwecken zeigt. Zwei handelnde Natur-Subjekte. Zwei subjektive Geister. Zwei „Willen“. Zwei Zwecke. Und zwischen ihnen: der Gegensatz, der Antagonismus. Seiner Biologie nach gehört der Mensch zur „primären“ Natur und unterliegt ihrem Zweck. Zugleich betritt er die Bühne mit einem „Plan“, der ihm vorgibt, durch Aneignung der ersten eine eigene, eine zweite Natur zu schaffen. Dieser Plan, dieses „Geistige“ und Zweckhafte unterscheidet ihn vom Tier, allgemeiner: trennt ihn von der Natur. Dazu K. Marx: Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war.484 Ein „Gegenwille“ und ein „Gegenzweck“ treten auf, die „sich zum Gegenstande machen“485 wollen. Um den Plan ausführen zu können, ist der Mensch mit Armen und Beinen, mit Kopf und Hand ausgestattet. Die Grundausstattung. So ausgerüstet, angetrieben durch den spezifischen Zweck, tritt er „dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht“486 gegenüber – ein Vorgang, der „Arbeit“ genannt wird. Über 483 § 4 R. 484 MEW 23, S. 193. 485 G.W.F. Hegel: Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805–1806, hrsg. v. J. Hoffmeister, Berlin 1969, S. 194. 486 MEW 23, S. 192.

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„Arbeit“ ist der Mensch definiert; aus ihr geht die „produzierte“ Natur hervor. Das ist der Grund, warum „Arbeit“ ein Begriff ist, der in Hegels Philosophie „ein unendliches Gewicht hat.“487 Arbeit aber heißt Aneignung der anderen Natur, heißt „Exploration der Erde nach allen Seiten“488, heißt „Stoffwechsel“ im Sinne von Umwandlung der einen in die andere Natur. Der Geburtsprozess der Gegennatur. Aber Zigtausende Jahre vergehen, ehe er sich zu deren Derivaten „Eigentum“ und „Person“ verdichtet. Als „Arbeiter“ verhält sich der Mensch nicht „biologisch“ zur Natur, sondern als „tätiger Geist“, als „Wille“, als „Produktivität“ im Sinne Schellings. Als gegen die Natur gerichteter Prozess verstößt die Aneignung daher insoweit auch gegen das eigene Menschsein; die Ursprungsgröße „Mensch“ ist damit aufgehoben und zur „Idee“ geworden. Auch die andere, die „primäre“, Natur „arbeitet“. Auch sie ist nicht fertig. Auch sie ist „im Aufbau“489 befindlich. Insoweit ist sie etwas Lebendiges, insoweit ist auch sie „Wille“. Als solcher ist sie nicht nur Produkt, sondern selbst „kontinuierliche Tätigkeit“490, „Produktivität“. Von dieser Seite her betrachtet, als „Produzierendes“, verbietet es sich, in ihr bloß ein Objekt, noch dazu: bloß ein Objekt der Ausbeutung, zu sehen. Der Stoffwechsel Mensch–Natur muss von daher diese Subjektivität, diese „Produktivität“, veranschlagen, d.h. respektieren. Zwei Lebende und Handelnde, zwei „Produzierende“, zwei insoweit: Subjekte, stehen sich gegenüber. Wird die Subjektivität der anderen Seite ignoriert, geht das nicht lange gut. Der Punkt kommt, wo die Natur sich für diese Behandlung – wie Engels sagt – „rächt“. „Arbeit des Geistes“ und „Stoffwechsel“ besagen, dass das in und von der „primären“ Natur Produzierte die Grundlage jener Arbeit wird, die in der „produzierten“ Natur und für sie geleistet wird. Es wechselt die Seiten und wird in neuer, „verarbeiteter“ Gestalt Bestandteil der Gegennatur. Wie Schelling sieht Hegel schon sehr früh, noch in Frankfurt, dass dieses Erschaffen einer Natur auf Kosten der anderen erfolgt. Die Umformung der „primären“ in „produzierte“ Natur ist Schicksal des Menschen; davon kann er nicht lassen. Aber sie ist mit Vernichtung der Ersteren verbunden. Und wenn er damit auch dem Zweck der „produzierten“ Natur folgt, wenn die Umformung also von daher ein „zweckmäßiges Vernichten“491 ist, so bleibt doch 487 H. Freyer, a.a.O., S. 57. 488 Marx, GR, S. 312. 489 Bloch, Prinzip Hoffnung 2, a.a.O., S. 264. Bloch knüpft dort (S. 263) an die Forderung des jungen Schelling an: Die bisherige Philosophie, die die „ursprüngliche Produktivität der Natur über dem Produkt“ verschwinden lasse, umzukehren in eine Philosophie, die „das Produkt“ hinter die „Produktivität“ zurücktreten lässt. 490 C. Siegel, a.a.O., S. 211 unter Bezug auf Schelling. 491 MM 1, S. 425 (Systemfragment von 1800). Siehe dazu die aufschlussreiche Interpreta-

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die Frage, wo es seine Grenze hat. Und eine Grenze muss es haben, schon weil die „produzierte“ Natur mit einem totalen Sieg über die „primäre“ Natur auch ihren eigenen Untergang besiegeln würde. Vernünftigerweise ist daher der Stoffwechsel auf das/durch das begrenzt, was als Mehrprodukt aus der „Produktivität“ der „primären“ Natur hervorgeht. Also: Aufbau der einen Natur bei Erhalt der anderen. Aufbau im Miteinander, nicht im Gegeneinander. So will E. Bloch in „Das Prinzip Hoffnung“ verstanden werden492 und so verstand schon damals Hegel die Naturphilosophie Schellings. „Aneignung“ ist nur ein anderer Ausdruck für „Stoffwechsel“. Der Naturstoff wird formiert, wechselt die Seiten und wird der anderen Natur einverleibt. Hier wird „Stoff“ entnommen, dort kommt „Stoff“ hinzu. Was stattfindet, ist nicht Austausch im Sinne von Geben und Nehmen, im Sinne von Äquivalenz, im Sinne von Werterhaltung, sondern ein Transfer von einer zur anderen Seite. Die eine Natur wird entreichert, die andere bereichert. Kurz gesagt: Es geht um einen Vorgang, der auf keiner „Absprache“ mit der anderen Seite, der auf keinem Vertrag beruht. Was sagt Hegel dazu? Seine ganze Philosophie zeigt, dass er sich der Problematik bewusst ist. K. Vieweg schätzt es so ein: „Hegel hat kein entfaltetes Konzept der Nachhaltigkeit hinterlassen, aber durchaus substantielle Umrisse für diesen Schlüsselgedanken des 21. Jahrhunderts gezeichnet.“493 Warum sonst stellt er dem Recht auf Aneignung die Pflicht zur Natur entgegen? Nutzung, Ausnutzung einerseits – Erhalt andererseits. Beides, „vernünftig“ betrieben, führt uns zur Nachhaltigkeit. Wie weit wir davon aber entfernt sind, zeigen folgende Fakten: a) Der World Overshoot Day – der Tag, von dem ab unser Ressourcenverbrauch die jährliche Reproduktionskraft der Erde übersteigt – war 1987 am 19. Dezember, 2010 schon am 21. August und 2015 am 13. August.494 tion durch G. Lukács (Der junge Hegel, a.a.O.), der hier die noch religiös verbrämte Auseinandersetzung Hegels mit den theoretischen Standpunkten der englischen Nationalökonomie sieht. Dabei ziehe Hegel den Kürzeren, da er nicht zu deren „konsequent kapitalistische[r] Auffassung des Verhältnisses von Ökonomie und Staat“ aufzuschließen vermag, so das „Problem von Mehrarbeit und Mehrwert“ verfehlt und insgesamt in „verworrenen“ und „rückständigen“ Anschauungen steckenbleibt (S. 234 f.). 492 Und so ist er von seinen realsozialistischen Kritikern auch verstanden worden. Das zeigt der Inhalt der in R.O. Gropp u.a., Ernst Blochs Revision des Marxismus, a.a.O., zusammengefassten Aufsätze. Darin wird jener Marx gegen Bloch verteidigt, der – wie im Kapitel 3 bereits dargestellt – dessen Gesamtwerk prägt und, was unsere Fragestellung anbelangt, keinen Raum für solche Gedankengänge lässt. 493 K. Vieweg, a.a.O., S. 117. Eine längst nicht voll erschlossene Fundgrube ist in dieser Hinsicht die „Phänomenologie des Geistes“. 494 Laut Wikipedia.

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b) Dem steht weltweit ein dramatischer Anstieg der Staatsschulden zur Seite. Auch er ist Ausdruck dafür, dass wir weit über unsere Verhältnisse leben. c) Auch die hochgradig asoziale Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu Gunsten weniger495 steht mit a) und b) im Zusammenhang. Das Verhältnis der Einkommen von Topmanagern zu den Einkommen der Arbeiter betrug (in den USA) 1980 1:43, aber im Jahre 2005 bereits 1:411.496 Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt 2015 so viel wie die übrigen 99 Prozent.497 Es ist bekannt, dass die antiken Demokratien an weit geringeren Gegensätzen zwischen Arm und Reich zugrunde gingen.498 Über den Ressourcenverbrauch weit über die Nachhaltigkeitsgrenze hinaus und über das Schuldenmachen nehmen wir, zu Lasten der nachfolgenden Generationen, künftiges Dasein vorweg. Zugleich führt eine explosionsartige Vermehrung zu einem dramatischen Anstieg der Weltbevölkerung, wie an zwei Zahlenpaaren deutlich wird: Von 600 n.Chr. bis 1500 vermehrt sie sich von 200 auf 425 Millionen. Von 1700 bis Ende 2014 vermehrt sie sich von ca. 610 Millionen auf 7280 Millionen.499 Dass sich diese Entwicklung in keiner Weise mit der unter c) aufgeführten Verteilung des Reichtums, aber auch nicht mit den nutzbaren Natur-Ressourcen verträgt, muss nicht besonders betont werden. Die Fakten sprechen eine deutliche Sprache. Sie signalisieren, dass scheinbar alle Sicherungen durchgebrannt sind, die bisher den Fortbestand unserer Zivilisation halbwegs absicherten. Dass es noch nicht zu einem allgemeinen Zusammenbruch gekommen ist, war bisher nur durch die gnadenlose Ausbeutung der Natur zu erreichen. Über einen Ausweg also, der das Problem nicht löst, sondern verschärft. Ein Aufschub, der gewonnen wird zu Lasten der anderen Natur und unser aller Zukunft. Und wie die zunehmenden Auflösungserscheinungen an den Rändern der bürgerli-

495 Legitimiert durch einen fragwürdigen, an keiner Stelle wissenschaftlich fundierten Leistungsbegriff, dessen harter Kern die Unterstellung ist, dass, wer viel hat, auch viel geleistet haben muss. 496 N. Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2007, S. 627. 497 Nach einem Bericht der Hilfsorganisation Oxfam, verbreitet u.a. im ZDF am 19. Januar 2016. 498 Worauf Hegel besonders in seinen politischen Schriften hinweist. (Nachweise und kommentierende Bemerkungen bei W. Euchner, a.a.O., S. 534 f.) 499 Bleibt es bei dieser rasanten Vermehrung, wird es – wie es L. v. Bertalanffy (... aber vom Menschen wissen wir nichts, Düsseldorf, Wien 1970, S. 13) bereits 1970 formuliert, auf der Erde bald nur noch „Stehplätze für eine wimmelnde Menschheit“ geben – wobei dieses Problem wohl noch das geringste unter all den Problemen sein könnte, die sich inzwischen aufgestaut haben.

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chen Gesellschaft zeigen: Dieser Weg, dieser vermeintliche Ausweg, ist schon längst zur Sackgasse geworden. In seinen Vorlesungen vertieft Hegel die Problematik. Bezogen auf den Stoffwechsel von Natur zu Natur sagt er, seinen § 155 R unter Sittlichkeitsgesichtspunkten erläuternd, zur Einheit von Recht und Pflicht: „Aber beide, Rechte und Pflichten, müssen ... in ihrem Wert identisch sein.“500 Im „abstrakten“ Recht sind Rechte und Pflichten als eine synallagmatische Bindung von Leistung und Gegenleistung dargestellt. Handlungsort: die Austauschebene der „produzierten“ Natur. Bezugspunkt: der abgeschlossene, bereits zu „Eigentum“ erstarrte Aneignungsprozess. Anliegen: der sich aus dem arbeitsteiligen Prozess ergebende Zwang zum Austausch. Reine Verteilung auf horizontaler Ebene zwischen Gleichen. Anders beim „Stoffwechsel“ von Natur zu Natur. Ihn verstehen wir nicht als Austausch, sondern als Aneignung ohne Gegenleistung. Das verführt uns dazu, das treibt uns an, diese Natur auszuplündern. Und darum geht es Hegel: Die „primäre“ Natur darf dabei nicht „verkleinert“, darf nicht aufgebraucht, sondern muss trotz Nutzung erhalten bleiben. Um es mit H. Immler zu sagen: Die „Naturkonstanz“501 muss gewahrt bleiben. Nur was diese Natur durch eigene „Produktivität“ hervorbringt, das Mehrprodukt, darf entnommen werden.502 Das macht den Unterschied aus, der zwischen Hegel hier und Ricardo/Marx503 dort besteht. Hegel plädiert für einen auf die „Nachhaltigkeit“ abgestimmten Stoffwechselprozess; Nachhaltigkeit 500 VRph 4, S. 413 (Griesheim). 501 H. Immler: Ist nur die Arbeit wertbildend? Zum Verhältnis von politischer Ökonomie und ökologischer Krise, in: ders./W. Schmied-Kowarzik, a.a.O., S. 27. Immler bezieht diesen Begriff auf die Wert-Lehre Ricardos (und K. Marx’), von der er meint, dass sie die Natur als wertbildende Größe unberücksichtigt lasse. Ebenso gut kann mit „Naturkonstanz“ aber auch das Anliegen Hegels beschrieben werden, Aneignung zu betreiben, ohne den Bestand der Natur zu gefährden. Aneignung also nicht als „Verbrauch“, sondern als „Nießbrauch“ der Natur. 502 Für die Tiere ist dieser Grundsatz ein ihnen von der Natur eingepflanztes Gesetz, dem sie nicht entrinnen können. Der Mensch hingegen hat sich davon losgesagt; er verstößt immer gröber dagegen und nutzt seine Überlegenheit über die Mit-Geschöpfe dazu, sich auf deren Kosten an der Natur zu bereichern. Aber was von der Natur für alles Leben vorgehalten wird, wird auf diese Weise bald nicht mal mehr für das Geschöpf „Mensch“ ausreichen. Wir müssen also lernen, mit dem uns zustehenden Natur-Quantum zurechtzukommen. Vereinfacht gesagt: Gott hat uns den Verstand gegeben, nicht um die Natur zu vernichten, sondern um das uns zustehende Quantum durch intelligente Nutzung auskömmlich zu machen. 503 Für Marx führt nur die Verausgabung menschlicher Arbeit zu einem Tauschwert der hergestellten Produkte. Der benötigte Naturstoff selbst ist „wertlos“ und bleibt daher in der Werttheorie außer Ansatz. Der Stoffwechsel Natur–Natur wird mithin nicht erfasst. (Zur Problematik: H. Westholm, a.a.O., S. 81–86 sowie die dort aufgeführte Literatur.)

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statt Raubbau. Wie der Raubbau an der menschlichen Arbeitskraft im England des 19. Jahrhunderts und anderswo eine Fabrikgesetzgebung zu ihrem Schutze auf den Plan rief, muss also auch die „Arbeitskraft“ der Natur konsequent vor dem jetzigen Raubbau geschützt werden. Aber wie die genannten Fakten zeigen: Davon sind wir weiter denn je entfernt. Es wäre also die Aufgabe der konzertierten Politik aller Staaten, mit einer Schutzgesetzgebung ähnlich der zum Schutz der Arbeitskraft den Ressourcenverbrauch Schritt für Schritt auf ein naturverträgliches Maß zurückzuführen. Ricardo und Marx sehen die Natur als eine grenzenlose, unerschöpfliche Ressource. Die Frage, wie sie trotz pausenloser und sich pausenlos intensivierender Ausbeutung zu erhalten ist, ist nicht ihre Frage. Die Endlichkeit der Natur und ihrer Ressourcen und damit auch ihrer Plünderung, als Fragestellung, als Problem angelegt in der hegelschen Philosophie, „die der Existenz der Erde selbst ein mögliches, ihrer Bewohnbarkeit aber ein ziemlich sicheres Ende vorhersagt“504, konnte damals als „konservativer Vorhalt“ außer Acht gelassen werden. Was heute unser zentrales Problem ist, war nicht das Problem ihrer Zeit. Natur? Davon gab es genug. Marx/ Engels fühlten sich jedenfalls sehr sicher und „noch ziemlich weit von dem Wendepunkt, von wo an es mit der Geschichte der Gesellschaft abwärtsgeht“505. Man konnte aus dem Vollen schöpfen. Und so sind diese beiden ökonomischen Modelle auch angelegt. Die „primäre“ Natur und ihre, noch dazu begrenzte, „Produktivität“ spielen in ihren Werttheorien keine Rolle; sie sind als Wertfaktor darin mit null veranschlagt.506 Aber wie die aufgeführten Zahlen zeigen: Spätestens Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts werden die Folgen unübersehbar und das Ende absehbar. Und trotzdem verbrauchen wir weiterhin Natur über deren Reproduktionskraft. Jahr für Jahr. Und Jahr für Jahr im größeren Maße. Wie die Begriffe „Arbeit“ und „Produktivität“ ist daher auch der Begriff „Ausbeutung“ weiter zu fassen, als wir es bei Marx sehen. Bei ihm steht der Spezialfall „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ im Mittelpunkt.507 Das Problem der Gegenwart ist aber der „Generalfall“, die Ausbeutung der Natur.

504 MEW 21, S. 268. 505 Ebd. 506 Unzutreffend daher die Einschätzung Garaudys (a.a.O., S. 79), Hegel teile die Auffassung A. Smiths. Und dieser anerkenne „keine ‚äußere‘ Quelle für den Wert …, sondern allein die [menschliche] Arbeit schafft den Wert.“ 507 Diese Verengung des Problems kritisiert bereits Marianne Weber (Fichte’s Sozialismus, a.a.O., S. 80).

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Die Umformung des „von der Natur unmittelbar gelieferten Material[s]“ zu „menschlichen Produktionen“508 vollzieht sich auf zwei Ebenen: – Aneignung der „äußeren“ (außerhalb des Menschen gelegenen) Natur mit dem Resultat „äußeres“ Eigentum. Der Mensch vollzieht sie, um sich die „primäre“, die „äußere“ Natur Schritt für Schritt, Stück für Stück anzueignen, was heißt, sie in „Sachen“ umzugestalten. Im Wege des Produzierens, des „Formierens“, wie Hegel sagt, zieht er Teile der einen in die andere Natur herüber. – Aneignung der „inneren“ Natur durch Umwandlung der eigenen Leiblichkeit in ein „williges Organ und beseeltes Mittel“509 des Geistes, in das spezifische Ding „Arbeitsvermögen“. Vereinigt mit dem „Willen“ ergibt es die „Person“. Auf diesen beiden Ebenen findet das „Formieren“ statt: „Heraussetzen eines Innerlichen … in äußerliche Allgemeinheit“510. Was dabei entsteht, die Gesamtheit des hier und dort entstehenden Eigentums, ist die Substanz der „produzierten“ Natur. Seiner Natur gemäß versteht der Geist seine Arbeit als Unterwerfung, Ausbeutung und Umformung seines Gegenübers in „Dinge“. Ein doppelter „Selbsterzeugungsprozess“, um mit dem jungen Marx511 zu formulieren. Die „produzierte“ Natur ist also die Summe des Angeeigneten und durch „Anerkennung“ zu „Eigentum“ und „Person“ Gewordenen. Die aus der äußeren Natur geformten „Dinge“ sowie das aus der „Leiblichkeit“ geformte Ding „Arbeitsvermögen“ bilden die beiden großen Gruppen von Eigentum. Und die „primäre“ Natur? Sie steht diesem Eigentum als Nichteigentum, als – wie wir glauben – „Herrenloses“ gegenüber. Dass durch „Formierung“ der Leiblichkeit zum Ding „Arbeitsvermögen“ Gewordene wird durch die „Anerkennung“ zu Eigentum. Wir werden noch sehen, dass dieser Vorgang bis heute unvollständig geblieben ist, weil bisher eine biologische Betrachtung (der „Mensch“!) dazu verführt, Person und Eigentum begrifflich zu trennen. Die Person als spezifische Gestalt des Eigentums bleibt daher unerkannt. Noch eine Unterscheidung trifft Hegel. Nämlich die in das für „endliche Zwecke“ bzw. für „unmittelbare Genüsse“ produzierte Eigentum einerseits und das Eigentum als Mittel seiner Produktion, das Produktionsmitteleigentum, andererseits. Letzteres ist, gemessen am Ersteren, „ein Höheres“. „[D]er Pflug“, sagt er, „ist ehrenvoller, als unmittelbar die Genüsse sind, welche durch ihn bereitet werden“. Dieses Eigentum ist das Rückgrat der „produzierten“ Natur, denn es „erhält sich, während die un-

508 509 510 511

§ 196 R. § 48 R. § 57/h.N. R. ÖPM, S. 574.

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mittelbaren Genüsse vergehen und vergessen werden.“512 Von seiner Bedeutung her steht es dem zum „Ding“ gewordenen Arbeitsvermögen nahe. Der Stoffwechselprozess endet mit dem Übertritt des Angeeigneten in die „produzierte“ Natur. Und jetzt erst kommen wir zum Eigentum. Das ist für Hegel eine Binsenweisheit, nicht aber für die Juristen damals und auch heute, deren Denken erst einsetzt, sobald der Übertritt erfolgt ist. E. Gans macht es, zum Ärger eines Savigny und eines Puchta, am „Besitz“ deutlich. Weil erst nach dem Eigentum als Rechtsinstitut entdeckt, meint Savigny davon ausgehen zu können, dass der Besitz „jünger“ als das Eigentum sei. Ein böser Streit entbrennt. Gans, der den „weiten“513 Eigentumsbegriff Hegels vertritt, sieht es so: Der Besitz ist vom Eigentum nicht zu trennen, sondern ist ein Moment desselben; eine Etappe auf dem Weg von der Aneignung zum Eigentum, gelegen vor der „Anerkennung“ und damit vor dem Recht. Gäbe es die atomistische Struktur nicht, gäbe es die Notwendigkeit des Austausches nicht, gäbe es also nur ein aneignendes Subjekt, bedürfte es keines Eigentums; der Besitz würde genügen. Deswegen ist für Gans der „Besitz … anfangendes Eigentum“, ist „Eigentum, das noch nicht in den Verkehr gekommen ist“514. Und bezogen auf die „Anerkennung“, die das Ding von „Besitz“ zu „Eigentum“ erhebt: „Wollen wir das Eigentum vom Besitz unterscheiden, so besteht es darin, dass der besondere Wille auch ein allgemeiner geworden ist, dass nämlich das Eigentum auch in der Anerkennung des anderen Willens liegt. Eigentümer sind die, welche von anderen dafür anerkannt werden.“515 Die „Anerkennung“ macht sichtbar, hebt heraus, grenzt ab, was zur „produzierten“ Natur gehört. Sie bedeutet insoweit, dass dieses sichtbar Gemachte, dieses Hervorgehobene, dass dieses Abgegrenzte vom „Geist“ als Bestandteil seiner Natur anerkannt ist. Erst damit ist die angeeignete Sache, unabhängig von ihrer körperlichen Beschaffenheit, unabhängig von ihrem Gebrauchswert, eine neue Qualität, ist 512 L (B), S. 197. 513 Die Auffassungen beider, Hegel und Savigny, zum Eigentum sind unter 8.2 näher dargestellt. 514 E. Gans, Naturrecht, a.a.O., S. 83. Siehe auch: E. Gans: Über die Grundlage des Besitzes – Eine Duplik, in: ders. ,Philosophische Schriften, hrsg. u. eingel. v. H. Schröder, Berlin 1971, S. 335–384. Dieser Ansicht Gans’ pflichtet Marx bei, wenn er (GR, S. 22) schreibt: „Zum Beispiel Hegel fängt die Rechtsphilosophie richtig mit dem Besitz an als der einfachsten rechtlichen Beziehung des Subjekts.“ 515 Ebd., S. 85. Darauf weist auch Rosenzweig (a.a.O., S. 381 f.) hin. Er zeigt die rechtspolitische Bedeutung auf, die dieser Streit gerade zu einer Zeit hat, als die feudalen Grundherren sich zur Rettung ihrer tiefgestaffelten Vorrechte auf leere bzw. leer gewordene Eigentumstitel stützen, denen mit der Auffassung Hegels und Gans’ der „tätige Gebrauch“, die Nutzung, als das inhaltliche Moment des Eigentums entgegengehalten wird.

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sie „Eigentum“ geworden. Nun erst gehört sie dieser Natur an. Und nun erst wird sie zu einer Kategorie des Rechts. Dem Besitz als einem Vorstadium fehlt noch die allgemein anerkannte Zuordnung zur Person. Das macht ihn im Rechtsverkehr zu einer unsicheren, häufig in Frage gestellten Größe. Prozessual drückt sich das darin aus, dass der Besitzer zu beweisen hat, dass er mit Rechtsgrund besitzt. Die Aneignung wird in einer separaten Sphäre vollzogen, im Zwischenreich der Unternehmung. Erst das fertige und „anerkannte“ Produkt gelangt als Eigentum auf den Markt und damit in den Gegenstandsbereich des Rechts. Der Prozess wird also parzelliert: An dem einen Ende steht die Natur; das Objekt. In der Mitte steht der Produktionsprozess, am Ende der Austausch des Produzierten. Das hat nach Hegel kein anderer besser gewusst als K. Marx.516 Und nur das Ende fällt unter die Herrschaft des Rechts und ist Gegenstand der Rechtswissenschaft. Die eigentlichen Geheimnisse des Vorgangs „Aneignung“ verbergen sich also im rechtsfreien Raum – auch dies ist ein Hinweis darauf, dass die ausgebeutete Natur das Recht nicht für, sondern gegen sich hat. Das Wort sagt es schon: „Aneignung“ ist ein einseitiger Vorgang und wird bereits deshalb nur am Rande bzw. am Ende vom Recht erfasst. (Oder am Anfang, wenn wir an die individuelle Arbeitskraft denken, die zunächst „eingekauft“ werden muss, ehe sie im Produktionsprozess selbst auch ausgebeutet werden kann.) Recht und Ökonomie gehen getrennte Wege. Nur am Anfang und am Ende berühren sie sich. Rechtlich gesehen ist also alles in Ordnung, weil die Hauptsache außerhalb des Rechts liegt. Meinte Eigentum zur Zeit des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ das „Verhalten des arbeitenden (produzierenden) Subjekts (oder sich reproduzierenden) zu den Bedingungen seiner Produktion oder Reproduktion als den seinen“, so tritt mit Auseinanderbrechen dieser Gestalt des „Gemeinwesens“ folgende Änderung ein: „Eigentum [ist jetzt] nicht mehr das Verhalten des selbstarbeitenden Individuums zu den objektiven Bedingungen der Arbeit“. Eigentum ist jetzt „immer sekundär, nie ursprünglich.“517 Kommen wir darauf zurück: Die Aneignung bezieht sich einmal auf die außerhalb des aneignenden Subjekts gelegene Natur. Sie führt zum Eigentum an „äußerlichen Sachen“518. Der wichtigere, weil emanzipatorisch wirkende, Prozess ist jener nach innen gerichtete, der darauf abzielt, den eigenen Körper zum „willigen Organ“, zum „beseelten Mittel“ des Geistes zu formen. Die Ausbildung der eigenen Leiblichkeit zur Sache „Arbeitskraft“ 516 Verwiesen wird auf jenen Teil der „Grundrisse“, der von „Progressiven Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation“ handelt (S. 375–413). 517 Marx, GR, S. 395. 518 § 71 R.

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also. Ihre Anerkennung als separate, untrennbar zum jeweiligen „Geist“ gehörende, Sache macht sie zu Eigentum. Zu einem besonderen Eigentum, da sie Hauptproduktivkraft und Hauptproduktionsmittel zugleich ist. Die Hauptsache. Da sie untrennbar mit dem Geist verbunden ist, ist sie handelndes Eigentum; Eigentum, das „Person“ ist. Für Hegel ist sie deshalb Privateigentum im ureigensten Sinne. Ein Eigentum, das aus der „Lebendigkeit“, besser noch: aus der „Natürlichkeit“, des Menschen gewonnen ist. Essenzielles Eigentum, das – im Unterschied zu den „äußerlichen Sachen“ – nicht bloß „rechtliche Zufälligkeit“ ist. „Ich als freier Wille“ mache mich „im Besitze gegenständlich“ (§ 45 R) – was heißen soll: „Ich“ bin nicht als Mensch „Person“, sondern werde zu ihr über die zur „Sache“ gemachte Leiblichkeit. „Ich“ bin als Person diese Sache. Von der Nahrungsaufnahme der Tiere unterscheidet sich die „Aneignung“ also dadurch, dass sie zwar auch der Befriedigung der biologischen Grundbedürfnisse dient, aber ihr höherer und eigentlicher Zweck darin besteht, die „produzierte“ Natur auf- und auszubauen und deren Herrschaft über die „primäre“ Natur zu festigen. Eine doppelte Zwecksetzung, die zu einem doppelten Eigentum führt: a) Eigentum als Mittel der Bedürfnisbefriedigung. Hegel dazu: Es wird zum Ersten gemacht, ist aber nicht das Erste, denn es macht nicht frei – frei im Sinne der weiteren „Befreiung“ der „produzierten“ von der anderen Natur. Deswegen kann er sagen, dass es auf dieses Eigentum nicht oder jedenfalls weniger ankommt. Da es „nicht identisch der Freiheit gesetzt“ ist, gilt: „Was und wieviel Ich besitze, ist ... rechtliche Zufälligkeit.“519 b) Eigentum, verstanden als das, selbständige Sache gewordene, Arbeitsvermögen, also Eigentum in seiner Bedeutung als Hauptproduktivkraft. Das eigentliche „Privateigentum“. Den Unterschied zu jenem Eigentum unter a) aufzeigend, formuliert er: „Eigentum zu haben erscheint in Rücksicht auf das Bedürfnis, indem dieses zum Ersten gemacht wird, als Mittel. Die wahrhafte Stellung aber ist, dass vom Standpunkt der Freiheit aus das Eigentum als das erste Dasein derselben, wesentlichster Zweck für sie ist.“520 Hierher gehört das Produktionsmitteleigentum als „verlängertes“ bzw. erweitertes Arbeitsvermögen. In § 489 E ist es angesprochen als Eigentum, dessen „Besitz Mittel“, das „als Dasein der Persönlichkeit aber Zweck ist.“521 Damit ist der enge Zusammenhang zwischen dem Arbeitsvermögen und dem Produktionsmittel hergestellt. Letzteres ist verlängertes bzw. erweitertes Arbeitsvermögen, ist Mittel zum Zweck, wenn sich das Arbeitsvermögen nur mit seiner Hilfe verwirklichen kann. Wie be519 § 49 R – Hervorhebung bei Hegel. 520 § 45 R. 521 Hervorhebung bei Hegel.

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kannt, knüpft hier der Marxismus an mit seiner Kernthese, dass die Trennung des Arbeitsvermögens vom Produktionsmittel das Grundübel des Kapitalismus ist. Eigentum einmal für den Konsum. Eigentum zum anderen als „erstes Dasein der Freiheit“ = das wichtigere, das wahrhafte Eigentum, jenes Eigentum, das gleichermaßen Substanz der Person wie der „produzierten“ Natur ist. Dieses Eigentum ist elementar, ist essenziell, ist individuell. Und es ist generell: Jeder hat es. Als formierte, zum selbständigen Ding gemachte Leiblichkeit wird es lebendig in der „Person“. Es ist mit ihr zwingend und untrennbar verbunden; es macht ihre Individualität aus. Alles andere Eigentum ist, von daher gesehen, von geringerem Rang. 6.2 Wille + Werkzeug = produzierende Einheit = Person

Weder in der „Enzyklopädie“ noch in der „Rechtsphilosophie“ findet sich eine Zwischenüberschrift mit dem Wort „Person“. Dennoch ist diese hier wie dort breit abgehandelt. Jedoch unter „Wille“ und „Eigentum“. Das hat seinen Grund darin, dass Hegel die „Person“ als die untrennbare Einheit des „Willens“ mit dem zum selbständigen „Ding“ formierten und als solches anerkannten individuellen Arbeitsvermögen ansieht. Abgelöst von allem Biologischen, abgelöst vom „Menschen“, resultiert die „Person“ also aus der Vereinigung dieser zwei Komponenten. Zweck und Mittel, Wille und Werkzeug – in der „Person“ sind sie zur handlungsfähigen Einheit zusammengeführt. Sie tritt daher erst auf den Plan, wenn a) die Leiblichkeit „zum willigen Werkzeug“, d.h. zum Arbeitsvermögen formiert und b) als solches „unter die Bestimmung von Sachen gesetzt“522, also als „Eigentum“ anerkannt ist. Auf diesem Hintergrund sind folgende zwei, im Zusammenhang stehende, Aussagen zu lesen: – Die Person ist das „erste Dasein“ des Eigentums. (§ 45/A R) – Die Freiheit der Person hat vor „anderthalb tausend Jahren angefangen … Die Freiheit des Eigentums aber ist seit gestern“. (§ 62/A R) Historisch ist es zwar so, dass schon früh, mit zunehmender Arbeitsteilung und zunehmendem Austausch, die Ergebnisse des Aneignungsprozesses gegenseitig als „eigene“, als „Eigentum“ anerkannt wurden und werden mussten. Aber die Hauptsache, das individuelle Arbeitsvermögen, war davon nicht erfasst. Gehandelt wurde deshalb nicht dieses, sondern der ganze Mensch.

522 § 43/A R.

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Auch der Begriff „Eigentum“ ist also erst jetzt, mit dem „Arbeitsvermögen“ fertiggestellt. Die Person, können wir also sagen, ist „logisch“ gesehen die erste, „historisch“ gesehen aber die letzte ins Dasein tretende Form des Eigentums. Das eine bedingt also das andere. Der bis dahin unvollständige Begriff „Eigentum“ zeigt sich im Fehlen der „Person“. Und von der anderen Seite gesehen: Das Fehlen der „Person“ verweist auf den unvollständigen Eigentumsbegriff. Mit der „Person“ tritt also eine Gestalt des Eigentums ins Leben, die die bisherigen Behelfe, den „Freien“ (als dem Ausgangspunkt des Traditionsbegriffes „Person“) hier, den „Sklaven“ dort, ablöst, also Subjekt und Objekt, Zweck und Mittel, Wille und Werkzeug vereinigt. Den jetzigen Zustand fasst Hegel in die Worte: „kein Herr, kein Sklave – ebenso aber kein Sklave, kein Herr.“523 Die „Person“ ist, logisch gesehen, kein Mensch. Als Teil der „produzierten“ Natur ist sie lebendig gemachte Sache524, in der das Moment der Einzelheit Gestalt gewinnt. Nüchtern interpretiert E. Gans, was Hegel meint: „[E]s ist ebenso eine Ehre als eine Schande, Person zu sein. Deshalb liegt hierin nichts Positives, es ist nur eine Befugnis, seine Persönlichkeit geltend zu machen.“525 Jenen, die die „Person“ mit dem „Menschen“ verwechseln, sagt er: „‚Homo‘ heißt Mensch und Sklave, wer nichts ist als der Mensch, ist noch gar nichts.“526 Das Wort „Mensch“ transportiert eine biologische, keine juristische Aussage. Jedenfalls ist „Person“ nur jener Teil von ihm, der zu „Arbeitsvermögen“ geworden ist. Es ist daher falsch, sie auf den ganzen Menschen zu beziehen. Die uns ganz selbstverständlich gewordene Identifizierung beider zeigt es: „Wir stehen so radikal im Banne der Aufklärung, dass wir nicht leicht begreifen, dass die Privatperson, die hier am Ende der Feudalzeit und am Beginn der Neuzeit gegenüber dem Staat ins Leben gerufen wird, ein Minus ist gegenüber dem älteren Personenbegriff.“527 Dass die „Person“ erst so spät fertiggestellt ist, hat mit der Abstraktionsleistung zu tun, die ihr zugrundeliegt. Gemessen am Zustand im alten Rom: Dort ist der „Wille“ und die ihn ausführende „Tätigkeit“ auf zwei Menschen verteilt, auf den „Freien“ und auf den „Sklaven“. Jetzt aber ist das ehemals auf zwei Menschen Verteilte in der „Person“ vereint. Ein epochales Ereignis, eine Zeitenwende. Die „produzierte“ Natur, bisher am Gängelband der „primären“ Natur geführt, hat sich emanzipiert. Ihr Grundbaustein ist nun fertiggestellt und zeigt es uns an. Die „Person“ als solchen erkannt zu haben ist, nach Ansätzen bei Locke, bei Kant und bei Fichte, das Verdienst Hegels. Die „Person“ betritt die Bühne. Der „Mensch“ verlässt sie. 523 § 57/N R. 524 Siehe dazu Logik (B), S. 32: Teil des Begriffs „Sache“. 525 E. Gans, Naturrecht, a.a.O., S. 79. 526 Ebd. 527 E. Rosenstock, a.a.O., S. 110.

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Hegel „löst damit den Personbegriff von dem des menschlichen Individuums.“528 Der Mensch ist auf dieser – logischen und damit auch juristischen – Ebene aufgelöst und zur „Idee“ geworden. Von seiner „Biologie“ ist daher jetzt und hier, in der „produzierten“ Natur, zu abstrahieren. Die Person ist die Einheit von „Geist“ und „Ding“, nicht aber „Mensch“. Wem, wie z.B. Savigny, das moderne Recht als bloße Neuauflage des römischen erscheint, übersieht diesen Hauptpunkt; übersieht, dass jetzt die Geschichte einen Punkt erreicht, der den Austritt aus der „Vorgeschichte“ und den Eintritt in die eigentliche Geschichte bezeichnet; einen Wendepunkt.529 Es ist leichter, den Zerfall des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ an Gegenständen außerhalb des Menschen zu diagnostizieren und zu akzeptieren – z.B. als Zerfall der Familie, als Zerfall des „naturwüchsigen Gemeinwesens“. Viel schwerer tun wir uns hingegen damit, in ihn auch den Menschen selbst einzubeziehen. In was sollte dieser auch zerfallen – rein biologisch gesehen? Um zur „Person“ zu gelangen, muss also zunächst der Mensch aus Fleisch und Blut beiseitegestellt werden. Geschieht dies, bleibt eine institutionalisierte Einheit von „Wille“ und „Werkzeug“ zurück. Wer also jetzt noch – nach der „Entzweiung“ – vom „Menschen“ spricht, vertritt „den unwahren Standpunkt, auf welchem der Mensch als Naturwesen“530 erscheint. Vielmehr ist er nach dem Untergang seiner konkreten Gestalten – bezogen auf Rom: „Freier“ und „Sklave“ – zur „Idee“ geworden. Die „Person“ ist das Individuum der „produzierten“ Natur“. Sie ist also keine Steigerungsform von „Mensch“, ist nicht eine besondere Qualität des Menschen, ist keine „Mensch-Person“. Die von mir gewählte Überschrift ist daher bewusst gegen die üblichere „Person und Eigentum“531 gesetzt, die den Eindruck erweckt, als sei die „Person“ etwas Eigenes außerhalb des Eigentums und nicht dessen Hauptform. Das 528 L. Siep: Personbegriff und praktische Philosophie bei Locke, Kant und Hegel, in: ders., Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt a.M. 1992, S. 111. Dazu auch: T. Kobusch, a.a.O., S. 158–171. 529 Dazu im Kapitel 8 Näheres. Hier nur so viel: Savigny polemisiert (System 1, § 53, S. 334– 345) gegen den Begriff „Ur-Rechte“. Er meint damit das Recht an der eigenen Person als einer Sache. Das „Ungehörige“ daran bestehe darin, dass damit die Rechtsverhältnisse (die S. beschränkt sieht auf die „unfreie Natur“ sowie auf dritte Personen) auf eine Ebene erstreckt werden, wo die „Natürlichkeit“ waltet und nicht das Recht. Mit „Natürlichkeit“ meint er die Leiblichkeit des Menschen, die nicht unter das Recht zu fassen sei oder doch nur insoweit, als sie vom Strafrecht vor Verletzungen durch Dritte geschützt wird. Im Unterschied dazu bezieht Hegel dieses „Ur-Recht“ nicht auf die Leiblichkeit, sondern auf das jetzt erst zum Ding gewordene Arbeitsvermögen. 530 § 57/A R. 531 J. Ritter, Person und Eigentum, a.a.O.; ähnlich V. Hösle: Das abstrakte Recht, in: C. Jermann (Hrsg.), Anspruch und Leistung von Hegels Rechtsphilosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 66 – dazu nachfolgend ausführlicher.

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ist im Auge zu behalten. Der Traditionsbegriff „Person“, der sich vom „Menschen“, insbesondere vom „freien“ Menschen her versteht532, ja mit „Mensch“ identifiziert wird, ist bei Hegel also ad acta gelegt. Nicht „Mensch“ plus „Eigentum“ ergeben die „Person“, sondern „Geist“ plus „Arbeitsvermögen“. Der Geist materialisiert sich zur Person, indem er „Sachen als Eigentum“533 besitzt. Und die allererste dieser Sachen, die Hauptsache, ist das Ding „Arbeitsvermögen“. Herrschend ist die Betonung auf „Mensch“ und „frei“. Da jeder dieser „freien Menschen“, auch der ärmste, Besitzer von „Dingen“534 ist, ist es nicht schwer, jeden von ihnen mit „Eigentum“ zu verbinden. Aber nicht diese nur äußerliche Verbindung, die unbestreitbar milliardenfach in der Welt ist, konstituiert die Person; nicht diese Verbindung mit einem Eigentum, das „rechtliche Zufälligkeit“ ist, führt zu ihr. Das zeigt E. Gans, der das Thema im Geiste seines Lehrmeisters anpackt. Er fragt, ob es notwendig ist, dass sich die Person mit dem Eigentum verbindet. „Muss sie sich auf die Sache beziehen oder kann sie außerhalb dieses Bezugs bleiben?“ Seine Antwort: „Sie muss es.“ Denn ohne Eigentum keine Person; „Eigentum ist eine Realisation“ derselben535. Aber als Interpret Hegels sieht er es: nicht irgendein, nicht dieses „zufällige“ Eigentum! Sondern: Eine Person ist schon dadurch Eigentümerin, „dass sie sich selber hat.“536 Das ist die korrekte Interpretation dessen, was Hegel in § 486/A E schreibt, nämlich dass es „Pflicht [der Person ist], Sachen als Eigentum zu besitzen“, und leitet zu dem über, was er in § 57 R präzisierend sagt: „Der Mensch ... nimmt ... sich [als Arbeitsvermögen – B.R.] in Besitz und wird das Eigentum seiner selbst und gegen andere.“ Das wichtigste, das essenzielle Eigentum wird also ausgeblendet, wenn wie folgt argumentiert wird: Weil jeder Mensch Eigentümer einer äußerlichen Sache ist, ja, weil heutzutage einem jeden Menschen ein solches Eigentum unterstellt werden kann,537 ist jede Person zugleich Eigentümer. Mit dem zum „Ding“ formierten und als „Ding“ anerkannten Arbeitsvermögen ist die Inbesitznahme des Körpers durch den Geist (§ 48 R) perfekt gemacht. Ein Vorgang ist abgeschlossen, den Hegel weiter vorn (§ 33/Z R) so beschreibt: „Der freie Wille muss sich zunächst, um nicht abstrakt zu bleiben, ein Dasein geben, und das erste sinnliche Material dieses Daseins sind die Sachen, das heißt die äußeren 532 Siehe dazu H. Hattenhauer: „Person“ – Zur Geschichte eines Begriffs, JuS 22 (1982), S. 405–411. 533 § 486/A E. 534 Und wenn es auch nur ein Kochtopf, eine Zahnbürste oder dergleichen ist. 535 E. Gans, Naturrecht, a.a.O., S. 80 u. 86. 536 Ebd., S. 86. 537 A.A. Piontkowski (Hegels Lehre über Staat und Recht und seine Strafrechtstheorie, Berlin 1960, S. 116) für die marxistische Kritik: „Für die Äußerung des Daseins der Willensfreiheit genügt nach Hegels Meinung auch der Besitz eines einzigen Hemdes.“

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Dinge.“ Zwei Sätze danach nennt er die „Person“ ein Subjekt, „das frei und zwar für sich frei ist und sich in den Sachen ein Dasein gibt.“ „Geist“ und „Sache“ sind zusammengeführt. Beide ergänzen sich wie Leib und Seele. Aber wie schon gezeigt: Die Hauptsache, die Sache, auf die es in diesem Zusammenhang ankommt, ist das „Arbeitsvermögen“. Indem sich der Wille darin ein Dasein gibt, werden Produktivkraft und Produktionsmittel vereinigt. Mit der „Person“ ist damit jenes Atom der „produzierten“ Natur in der Welt, das ihren Zweck exekutiert. Diese einzigartige Verknüpfung macht sie zur Hauptform des Eigentums. Mit ihr ist der „freie Geist“538 zum tätigen Geist gemacht, zu einem solchen, dessen Wille in diesem Eigentum „persönlich“539 wird. Mit der „Person“, ist der „Aneignende“, der Produzent geschaffen. In ihr ist die „bloße Subjektivität der Persönlichkeit“ aufgehoben. Der Mensch aber? Er ist herauszuhalten, er hat hier nichts zu suchen. Als Wesen aus Fleisch und Blut hat er in den hier behandelten Zusammenhängen ein „Gleichgültiges“540 zu sein. Damit ist der Nerv getroffen. Eine „menschfreie“ Person und ein „menschfreies“ Eigentum stoßen allseits auf Unverständnis und bringen Hegel von allen Seiten Kritik ein. Für Marx z.B. sieht es so aus, als drücke sich Hegel mit seiner Konstruktion davor, Eigentum als ein „gesellschaftliches Verhältnis“, also als ein Verhältnis unter Menschen, anzusehen, indem er es zu einem Verhältnis zwischen Person und Natur macht. Wie weit er vom Verständnis Hegels in dieser Frage entfernt541 ist, wird deutlich, wenn er, bezogen auf § 44 R, schreibt: „Nichts kann komischer sein als Hegels Entwicklung des Privatgrundeigentums. Der Mensch als Person muss seinem Willen Wirklichkeit geben als der Seele der äußern Natur, daher diese Natur als sein Privateigentum in Besitz nehmen. Wenn dies die Bestimmung ‚der Person‘ ist, des Menschen als Person, so würde folgen, dass jeder Mensch Grundeigentümer sein muss, um sich als Person zu verwirklichen.“542 Der Hauptzweck des Eigentums, das „Vernünftige des Eigentums“, wie Hegel sagt, „liegt nicht in der Befriedigung der Bedürfnisse“. Auch dazu ist es selbstverständlich da. Aber als solches steht es in einem „ungeistigen Zusammenhang“543 mit der Person. Sein Hauptzweck liegt darin, dem „tätigen Geist“ zu dienen. Und dabei 538 539 540 541 542

Vgl. § 42 R. Vgl. § 46/Z R. § 37/Z R. Oder wie nahe der Auffassung z.B. Savignys! MEW 25, S. 628 f. Mir scheint, dass Marx hier Hegel gründlich missversteht. Denn der § 44 R handelt nicht vom Grundeigentum, sondern davon, dass die handelnde, d.h. die aneignende Person ein „absolutes Zueignungsrecht auf alle Sachen“ hat, die den Bestand der „primären“ Natur ausmachen, darunter der Grund und Boden. 543 § 33/N R.

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steht das „Arbeitsvermögen“ an erster Stelle. Diese Sache gehört zu jeder Person. Sie ist daher nicht bloß „zufällig“, sondern notwendig. Sie ist das eigentliche Privateigentum. Deshalb ist in § 43 R „[n]ur von diesen Sachen“, nämlich von den „Sache“ gewordenen körperlichen und geistigen „Geschicklichkeiten“, „die Rede“, über die der konkrete Geist tätig wird. Im Zusatz zu § 412 E verstärkt er diese Aussage, wenn er die Person dort als „eine von der Leiblichkeit befreite für-sich-seiende abstrakte Totalität“ bezeichnet. Das Gesamt von Geist und „Geschicklichkeiten“, diese „Sphäre der Freiheit“544, materialisiert sich zur „Person“. Indem die „Leiblichkeit“ zu einem immer differenzierteren und vielseitiger einsetzbaren Produktionsmittel formiert wird, wird diese Sphäre stetig erweitert. Und natürlich wird sie auch ergänzt durch äußere Werkzeuge, später durch Maschinen aller Art. Darüber schafft sich der Geist eine eigene Natur, die nun ihrerseits als fester Halt, als „Einheits- und Ausgangspunkt“ fungiert. Im Besitz des „Arbeitsvermögens“ sind alle Personen gleich (vgl. § 49 R). Und da jedes Arbeitsvermögen eine spezifische, unverwechselbare „Beschaffenheit“ ausweist, sich je als individuelle „Geschicklichkeit“ zeigt, wird die Person durch das Arbeitsvermögen zugleich individualisiert und zur „Persönlichkeit“ gemacht. In der Literatur wird zwar übereinstimmend die Verknüpfung des Eigentums mit der Person betont. Aber das geschieht durchweg in der einseitigen Weise, dass Person und Eigentum als körperlich voneinander getrennte, sich gegenüberstehende Größen: als Person und Fahrrad, als Person und Grundstück, als Person und Maschine, gesehen werden.545 Und ganz selbstverständlich wird davon ausgegangen, dass die Person ein Mensch ist. Das liegt daran, dass die „Leiblichkeit“ nicht von dem „Ding“ gewordenen „Arbeitsvermögen“ getrennt wird. Die Folge ist, dass die „Person“ als die Hauptgestalt des Eigentums unsichtbar bleibt. Eine „Vermenschlichung“ der Person, die sich mit ihrer „Entsachlichung“ paart. Hegel dagegen gesetzt: „Wille“ und „Arbeitsvermögen“ konstituieren die Person. Die Leiblichkeit selbst bleibt als „Biologisches“ in diesem Zusammenhang unbeachtet. F. Rosenzweig zum Thema: „Hegel fasste die Person ... als den inhaltsgleichgültigen, ... nur auf sich selbst, das heißt auf seine eigene Freiheit gerichteten freien Willen.“ Er tat das in bewusstem „Gegensatz zur römischen Begriffsbestimmung“, die an den Status anknüpft.546 Indem Hegel die biologisch verstandene „Naturverschiedenheit“ ausklammert und „seine“ Person an jene Verschiedenheit anknüpfen lässt, die sich aus dem individuellen Arbeitsvermögen ergibt, entsteht, so Rosenzweig, „eine ungeheure Verschärfung 544 Vgl. § 41 R. 545 Für viele andere P. Landau: Hegels Begründung des Vertragsrechts, ARSP59 (1973), S. 121. 546 F. Rosenzweig, a.a.O., S. 380.

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des naturrechtlichen Gedankens“547. Unmöglich, da unlogisch für ihn, die Person an den „Menschen“ zu binden. Hegel „konnte nicht die Person abgesehen von der Sache behandeln; das Verhältnis zur Sache wurde ihm gewissermaßen eine rechtsphilosophisch notwendige Eigenschaft der Person.“548 Vorsicht also mit der „Leiblichkeit“. Sie selbst als jenes Eigentum anzusehen, das jeder „hat“, kann schnell in die Irre führen. „Leiblichkeit“ ist ein im Bereich des Logischen zu unpräziser Begriff; als unmittelbares, „biologisches“ Dasein, als „das Leben“549, ist er „dem Geiste nicht angemessen“550. Er ist diesem gegenüber „kein Äußerliches“551, mithin: keine Sache. Eigentum ist etwas Geistiges! Nicht der Körper schlechthin wird zu „Eigentum“, sondern ein Anderes, das Arbeitsvermögen. Für dieses ist der Körper nur die Grundlage, „die reale Möglichkeit alles weiter bestimmten Daseins“552. Auf eine Besonderheit stoßen wir im Strafrecht. Dort spielt die „Leiblichkeit“ weiterhin eine Rolle.553 Die „Unrecht“ begehende Person soll ja nicht bloß „logisch“, sondern tatsächlich bestraft werden. Denn wie Hegel sagt: „der freie Wille kann an und für sich nicht gezwungen werden“. Um ihn zu treffen, muss sich die Strafe an jene „Äußerlichkeit“ halten dürfen, von der der Wille „festgehalten wird“ oder aus der er sich „nicht zurückzieht“554. Das ist in erster Linie die „Leiblichkeit“. Während im Privatrecht also „logisch“, muss im Strafrecht „biologisch“ argumentiert werden, jedenfalls kann dort vom Biologischen nicht ebenso abstrahiert werden wie im Privatrecht. Zu beachten ist aber, dass Hegel den der „Rechtsphilosophie“ zugrunde liegenden Rechtsbegriff vom Privatrecht her entfaltet. Der tätige Geist eignet an – und macht damit das Angeeignete zum Seinigen und sich selbst zur Person. Diese wiederum geht einher mit dem „Verlust des Menschen“, mit dessen „Negation“, wie Hegel sagt. Die „Person“ Savignys, die bis heute Maßstab aller Dinge ist, die „Mensch-Person“, ist damit widerlegt. Sie ist ohnehin 547 Ebd., S. 381. 548 Ebd. 549 § 70 R (Hervorhebung bei H.). 550 § 48 R. 551 § 70 R. 552 § 47 R. 553 W.R. Beyer (Normprobleme in Hegels Rechtsphilosophie, ARSP50 [1964], S. 561) macht bereits in den 60er-Jahren darauf aufmerksam, dass die Mehrzahl der Juristen, die sich mit der hegelschen Rechtsphilosophie befassen, dem Sachgebiet „Strafrecht“ entstammen, die Privatrechtler unter ihnen jedenfalls deutlich in der Minderzahl sind. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Zu tun hat das mit der besagten Auffassung der „Leiblichkeit“. 554 § 91 R. In den N zu § 92/93 heißt es: „Zwang ist Gewalt gegen ein natürliches Dasein, worin ein Wille gelegt ist“.

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nur mit dem „äußeren“, mit dem hinzukommenden Eigentum zu begründen. Oder umfassender gesehen: Sie ist Resultat des herrschenden engen Begriffes, der nur auf das „äußerliche“, dem bloßen Bedürfnis dienende Eigentum fixiert ist. Das wesentlichere „innere“ Eigentum wird, wenn nicht ignoriert, so doch in seiner Bedeutung zu gering veranschlagt. V. Hösle555 z.B. stellt es unter die „unveräußerlichen Güter“, worunter die Leiblichkeit oder Teile von ihr verstanden werden. Anknüpfungspunkt ist die biologische „Ausstattung“, die nicht weitergedacht, die nicht auf den Begriff gebracht wird, also auf das Ding „Arbeitsvermögen“. Wobei natürlich richtig bleibt, dass die Leiblichkeit dessen Träger ist. Aber es ist die umfunktionierte Leiblichkeit, die also auf dieser Ebene als „Ding“ zu sehen ist. Und die als „Ding“ durchaus veräußerbar ist, wie millionenfach abgeschlossene Verträge und ihr tagtäglicher Vollzug belegen. Sie hier biologisch zu sehen verstößt gegen die Logik. Tatsächlich wird hier aber die „Person“ mit dem Wegfall des Sklaven bzw. aus der Generalisierung des „Freien“ erklärt. Das verkennt aber, dass beide, der Sklave und der Freie, durch die „Person“ substituiert werden. Und da wir bei Savigny sind, ein Wort zu dessen „juristischer Person“556, in der das Arbeitsvermögen als „lebendige“ und „vergegenständlichte“ Arbeit zusammengefasst und institutionalisiert ist. Beide Daseinsweisen werden über sie „lebendig“ und handlungsfähig gemacht. Ihre volle „Schlagkraft“ entfalten sie beide im Unternehmen, wo sie, wie Marx formuliert, per „objektiver Assoziation“557 zusammengeführt sind. Das Verdienst, das sich Savigny mit der „juristischen Person“ erworben hat, wird jedoch dadurch geschmälert, dass er damit die „Mensch-Person“ nachahmt, sie also als eigenständige ontologische Größe verkennt. Das macht sie zu jener „Vogelscheuche“, die Gierke in ihr sieht. Das Gemeinsame wird übersehen: dass jede Person juristische Person ist, dass die juristische Person, in welcher Gestalt auch immer, die „natürliche“ Person der „produzierten“ Natur ist. Die „natürlichen“ Personen der bürgerlichen Gesellschaft sind also: a) das verselbständigte, durch „Anerkennung“ vom Menschen losgelöste, individuelle Arbeitsvermögen; b) die zwecks „Produktion“ im Unternehmen zusammengeführte lebendige und vergegenständlichte Arbeit.

555 Siehe dazu Hösle, a.a.O., S. 78–82. Seine Darstellung ähnelt jener P. Landaus (a.a.O.), auf den sich Hösle hierzu auch zustimmend bezieht. 556 In den Grundzügen beschrieben in Savigny, System2, S. 236–241. Savigny versteht sie als Ergänzung der „Mensch-Person“. Eine Hilfskonstruktion, um insbesondere ökonomische „Tatbestände“ zu erfassen, die außerhalb der „Mensch-Person“ liegen. 557 Marx, GR, S. 484.

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Den „Menschen“558 zum Kern der „Person“ zu machen führt zwar zu einem schönen, doch unrichtigen Ergebnis. Das Wesen der „Person“ bleibt verdeckt, der ökonomische Hintergrund bleibt im Dunkeln. Sieht man, wie Hegel, den Schwerpunkt hingegen im „Arbeitsvermögen“, tritt alles Äußerliche zurück – auch dieses „Menschliche“. Falsch also, die „Person“ davon abhängig zu machen. Fehlinterpretiert ist Hegel also, wenn Ritter559 u.a. mit der „Person“ den Menschen auferstehen lassen. Richtig ist vielmehr, dass dieser durch die „Person“ vernichtet ist. Der Mensch ist im Rahmen der „Entzweiung“ zur „Idee“ geworden. Die bis heute tonangebende „Mensch-Person“ Savignys trennt uns also nicht nur von Hegel, sondern – was wichtiger ist – von der Wirklichkeit. Mit ihr ist lediglich der römische „Freie“, der „Status-Mensch“ generalisiert. Das aber verkennt das Wesen der „Person“. Zusammenfassend gesagt: Savigny trennt Eigentum und Person (und wir Heutigen tun es noch immer). Hegel hingegen sieht die Person (wie Schelling) als „Produktivität“ und „Produkt“, als „Subjekt“ und „Objekt“, als „Wille“ und „Gewolltes“. Derselbe Prozess, der das Eigentum hervorbringt, bringt auch die Person hervor. Das „Natürliche“ bleibt außer Ansatz und macht dem „Geistigen“ und dem „Ding“ Platz. Es ist nicht mehr nötig, dass – wie in Rom – der „Geist“ an den Status „frei“ und das „Arbeitsvermögen“ an den Status „unfrei“ geknüpft wird. Beide sind jetzt frei und bilden als „Beides“ die Person. Was in Rom noch nicht möglich war, ist jetzt erreicht. Jedermann ist jetzt „Person“, weil jedermann auch „Ding“ ist. Die römischen Provisorien sind überflüssig geworden. „Person“ ist die „lebendig“ gemachte Hauptsache. Sie tritt an die Stelle des Menschen. Das Biologische an ihr muss also weggedacht werden. Ein Befund, der als unangenehm empfunden wird, ja peinlich berührt, weil er uns als „Zombies“ dastehen lässt. Der Mensch ist „aufgelöst“, sagt er uns. Er ist zur „Idee“ geworden, zu einem erst noch einzulösenden Programm. Um wie viel schöner und freundlicher, wenn auch unrichtiger, hingegen das, was Savigny zu sagen hat, wenn er mit leichter Hand formuliert: „Alles Recht ist vorhanden um der sittlichen, jedem einzelnen Menschen innewohnenden Freiheit willen. Darum muss der ursprüngliche Begriff der Person oder des Rechtssubjekts zusammen fallen mit dem Begriff des Menschen.“560 558 Die „Personalität“ ist etwas außerhalb des Menschen Liegendes. Das erklärt, dass es z.B. den Juristen in den Sklaven haltenden Staaten der USA ein Leichtes war, dem Neger zwar die Qualität „Mensch“ zuzugestehen, aber zugleich zu betonen, dass er trotzdem, zivilrechtlich gesehen, Sache ist. Der Sklave fand also in diesem entscheidenden Punkt keinen Schutz in den „Menschenrechten“, die ja auch in den Verfassungen dieser Staaten festgeschrieben waren. 559 Vgl. Ritter, Person und Eigentum, a.a.O., S. 59. 560 Savigny, System 2, S. 2.

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Für solchen Selbstbetrug ist Hegel nicht zu haben. Er steht für nüchterne Beurteilungen. Wollen wir ihm folgen, ist also von biologischen, moralischen, religiösen Begriffsaufladungen Abschied zu nehmen. 6.3 Eigentum und Austausch

Aus der atomistischen Struktur der „produzierten“ Natur folgt, dass die Aneignung arbeitsteilig-individualistisch, „partikularisiert“561, wie Hegel sagt, durchgeführt wird. Die Produkte sind deshalb auch den Aneignenden zugeordnet, nicht der Natur selbst. Das Problem dabei: Jeder von ihnen hat am Ende, aus der Sicht seiner Bedürfnisse, das falsche Produkt in Händen, oder richtiger: nur den Bruchteil eines ideellen Gesamtprodukts. Das macht den Austausch nötig.562 Hier stoßen wir auf den Vertrag, dem, neben „Person“ und „Eigentum“, dritten Schlüsselbegriff des „abstrakten Rechts“. Erst wenn mit dessen Hilfe jeder das „richtige“ Produkt in Händen hat, ist der Aneignungsprozess beendet. Darauf bezieht sich, wenn es in § 72 R heißt: „Das Eigentum … kommt durch den Vertrag zustande.“ Er vermittelt das Angeeignete also an den „Endverbraucher“, den Eigentümer. Ausgetauscht werden Sachen, die nach den Regeln der §§ 54–58 R formiert und in Besitz genommen sind. Als erst noch Auszutauschendes erstarkt dieser Besitz zu „Eigentum“, wenn das fertige Produkt in Händen dessen ist, der es gebraucht. War der „Stoffwechsel“ ein naturübergreifender Vorgang, so ist dieser Austausch ein interner; er ist auf die „produzierte“ Natur beschränkt. Alle drei Begriffe sind aufeinander abgestimmt. Sind in der Person „Wille“ und „Werkzeug“ zusammengeführt und „lebendig“ gemacht und durch sie der „Mensch“ als „Freier“ und als „Sklave“ substituiert, so spricht bereits die Logik dafür, dass dies eine Entsprechung im „Vertrag“ findet. Und so ist es auch. Wir stoßen bei der Durchsicht der entsprechenden Paragrafen des „Abstrakten Rechts“ auf einen Vertrag und auf ein Vertragsschema, die – wie J. Binder um das Jahr 1930 erstaunt festgestellt hat – stark abweichen von jenen der meisten modernen Privatrechts-Kodifikationen. Gemeint ist die Tatsache, dass es in Hegels „Rechtsphilosophie“, jedenfalls in der Sphäre des abstrakten Rechts, „kein Schuldrecht und keinen obligatorischen Vertrag gibt“ und dass der „Vertrag ... für Hegel ausschließlich Veräußerungs- oder Verfügungsgeschäft“ ist.563 Ein „auffälliger Mangel“564. Ganz selbstverständlich geht 561 § 196 R. 562 K. Marx, GR, S. 76: „Austausch und Teilung der Arbeit bedingen sich wechselseitig.“ 563 J. Binder: Der obligatorische Vertrag im System der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Verhandlungen des dritten Hegelkongresses vom 19. bis 23. April 1933 in Rom, Tübingen 1934, S. 48 f. 564 Ebd., S. 50.

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Binder davon aus, dass der Fehler bei Hegel liegt und nicht bei der Rechtstheorie und Rechtspraxis unserer Tage. „Das Wesen des römischen Kontraktes als eines bloßen Verpflichtungsgeschäftes … tritt gar nicht über die Schwelle des Bewusstseins des Philosophen“565, schreibt er – und gibt damit eine Lesart vor, die – wenn diese Frage überhaupt thematisiert wird – bis heute gilt.566 Aber sie wird Hegel nicht gerecht. Sie offenbart vielmehr, wie sehr dieser in wichtigen Punkten missverstanden wird bzw. wie sehr unser Rechtsdenken noch immer von „Rom“ her geprägt ist. Das Missverständnis korrespondiert mit dem gerade behandelten: Der in „Rom“ unfertige Person- und Eigentumsbegriff setzt sich fort in einem „unfertigen“ Vertragsbegriff. Wie der „Freie“ hier und der „Sklave“ dort zusammen die Vorstufe der späteren „Person“ bilden, wie das römische Eigentum als „Sacheigentum“ und „Vermögen“ existiert, so ist auch der schuld- und sachenrechtliche Vertrag Roms nur eine Vorstufe des modernen Vertrages; auch dieser ist jetzt erst fertiggestellt. Wie durch die Person der „Freie“ und der „Sklave“ substituiert werden, kann jetzt, nachdem mit dem „Arbeitsvermögen“ jene Hauptsache in der Welt ist, die alle Sachen enthält, auch „Eigentum“ weit gefasst werden; der Grund, es auf zwei Hälften zu verteilen, ist entfallen. Und Hegel fasst es weit, wie ein Blick auf § 57 zeigt.567 Er versteht darunter alles, „worin der Wille der Person erscheint“568 – und das ist eben nicht bloß die körperlich zu verstehende „Sache“. Er führt zusammen, was unsere „römisch“ geprägte BGB-Regelung aufteilt in „Sacheigentum“ und „Vermögen“. Und nichts anderes reflektiert sein Vertragsbegriff. Wo die Römer sich mit Umgehungskonstruktionen behelfen mussten, hätten wir längst Zugang zum Begriff – so wir das wollten. Vorhanden, „fertiggestellt“ waren damals der „freie“ Römer sowie das „äußerliche“ Eigentum, zu dem auch die Sklaven zählten. Der Status führte dazu, dass, selbst wenn der Freie sklavenartig bzw. „banausisch“ tätig war, er seinem Auftraggeber nur persönlich (schuldrechtlich) in der Pflicht war. Das von ihm erzeugte Produkt war sein Eigentum und musste in einem zweiten Akt, im Rahmen der „Erfüllung“, auf den Gläubiger übertragen werden. Erst wenn der Schuldner den eingegangenen Vertrag nicht erfüllte, konnte er zur Leistung bzw. zum Schadenersatz verurteilt werden und im Rahmen der Vollstreckung, wenn der Gläubiger anders nicht zu befriedigen war, über die Versklavung verwertet werden. 565 Ebd. 566 Vgl. V. Hösle, a.a.O., besonders S. 84 f. 567 Im Prinzip deckt sich Hegels Eigentumsbegriff mit dem uns bekannten verfassungsrechtlichen. Er ist also nicht zu verwechseln mit dem sehr viel engeren, an „Rom“ orientierten, Eigentumsbegriff des BGB. 568 A. Blomeyer: Hegels „Abstraktes Recht“ und das gegenwärtige Privatrecht, ARSP 30 (1936/37), S. 431.

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In beiden Fällen gelangt das Gleiche zum Einsatz: das Arbeitsvermögen. Aber beurteilt wird der Vorgang nicht von daher, sondern vom Status. Über das Arbeitsvermögen des Sklaven wird „verfügt“, weil der Sklave selbst „Sache“ ist. Im anderen Fall ist eine solche „Verfügung“ nicht möglich, weil der Status „frei“ dazwischensteht und das Arbeitsvermögen selbst noch nicht als selbständiges, veräußerbares „Ding“ erkannt und anerkannt ist. Der Arbeitsvertrag zwischen zwei „Freien“ kann deswegen nicht die/diese „Sache“ zum Gegenstand haben, sondern nur eine „Schuld“, die sich auf eine erst herzustellende Sache bezieht. Generalisiert: Das römische Privatrecht existiert als Schuld- und Sachenrecht. Jetzt aber, mit Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft, kommen zwei Dinge zusammen: Der Status, sowohl der eine wie der andere, entfällt und das „Arbeitsvermögen“ ist jetzt als „Ding“ anerkannt, ist „Ware“ geworden. Damit hat die bisherige juristische Konstruktion im Kernbereich des Aneignens ihren gesellschaftlichen Hintergrund verloren; sie ist überflüssig geworden. Und so kann Hegel jetzt sagen, dass alles Recht „Sachenrecht“ geworden ist. Denn „objektiv ist ein Recht aus einem Vertrage nicht Recht an eine Person, sondern nur an ein ihr Äußerliches oder etwas von ihr zu Veräußerndes, immer eine Sache“569 – inbegriffen die Hauptsache „Arbeitsvermögen“. Dieser von Hegel durchschaute ökonomisch-juristische Hintergrund bleibt 1830 Savigny und nun auch, 1930, Binder verschlossen.570. Zwei Rechtsinhaber, zwei Eigentümer – je wechselseitig berechtigt und verpflichtet – stehen sich gegenüber. Der Vertrag überbrückt die „Atome“, vermittelt ihre Interessen und Bedürfnisse, stellt „Gesellschaftlichkeit“ her. Wegen dieser Vermittlungsfunktion bezeichnet Hegel ihn als „ein Verhältnis des objektiven Geistes“571. Beide, Austausch und Vertrag, ermöglichen den Zugang zur „Gesamtsache“, zum „System der Bedürfnisse“. Hegel verweist auf das vorausgesetzte Moment der „Aner569 § 40/A R. Wie es Hegel dort zeigt: Aus der damaligen „Unfertigkeit“ ergeben sich Begriffe, die „schief“ und „begrifflos“ sind. Alles Recht ist „Sachenrecht“, hält er deshalb der kantischen Unterscheidung in Personen- und Sachenrecht entgegen, die auf einer „Person“ basiert, die an den Status „frei“ geknüpft ist. Damit ist in Frage gestellt, was wir bis heute für eine unumstößliche Wahrheit halten. 570 Anders sein Schüler G. Dulckeit. Dieser kommt in Rechtsbegriff und Rechtsgestalt (a.a.O. – vor allem S. 97–112) Hegel sehr nahe. Auch diese Arbeit leidet, wie bereits weiter oben angemerkt, unter den Versuchen, eine Übereinstimmung der hegelschen Position mit der „völkischen“ Rechtsauffassung aufzuzeigen. Darüber ist ihr heuristischer Gehalt in Vergessenheit geraten. Dieses Schicksal wird dieser Arbeit aber insgesamt nicht gerecht. Dort findet sich z.B. eine Interpretation des „abstrakten Rechts“ und besonders des Vertrages (zur Frage Sachenrecht – Schuldrecht), die noch heute Gültigkeit hat. Gleiches gilt für die gehaltvolle Rezensionsabhandlung zu ihr von A. Blomeyer (a.a.O., S. 427–432). 571 § 71/A R.

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kennung“, aus dem sich ergibt, dass „Ich“, weil „Ich“ selbst eine „äußerliche Sache“ anbiete, Zugang zu allen anderen „äußerlichen Sachen“ haben muss. Aus der Notwendigkeit des Austausches folgt also die der Anerkennung. In Letzterer steckt das Moment, dass „mein Wille als entäußerter zugleich ein anderer“572 ist. Austausch ist so „die Einheit unterschiedener Willen, in der also ihre Unterschiedenheit und Eigentümlichkeit sich aufgibt“573, die sich wiederum aus der Unterschiedenheit und Eigentümlichkeit der ausgetauschten Sachen ergibt. „Eigentum“ meint also die Existenz austauschfähiger und austauschbereiter Sachen. Ein gemeinsamer Wille wird gebildet, der „die Sphäre des Vertrages“574 ausmacht. Hier, auf der Ebene des Austausches, sind die Eigentümer unter sich. Das Erste und Schwerste, die Aneignung, liegt hinter ihnen. Ging es dabei einseitig zu, so nun „gegenseitig“. Was vorher war, bleibt unbeachtet. Vollzog sich der Aneignungsprozess außerhalb des Rechts, so kommt nun das Recht zum Zuge. „Das Eigentum“, heißt es im § 71 R, „kommt durch den Vertrag zustande“. Austausch und Vertrag führen herbei, dass jemand „aufhört, Eigentümer zu sein, es bleibt und es wird“575. Er hat am Anfang die eine, am Ende die andere Sache in der Hand, auf die sich sein Eigentum bezieht. Also nicht die Sache ist Eigentum. Sondern: Die Sache wird zu Eigentum, indem sie über den Austausch als solches „anerkannt“ wird. Zwei Inhaber subjektiver Rechte, „zwei identische Willen“576 stehen sich gegenüber. Jede der Parteien ist Eigentümer und will Eigentümer bleiben. Nur die Sachen werden ausgetauscht. Am Ende des Vorgangs ist jeder der Beteiligten so gestellt wie am Anfang. Nur dass jetzt jeder von ihnen die Sache des anderen in der Tasche hat. Werfen wir einen Blick auf den Stoffwechsel von Natur zu Natur: Er wird charakterisiert durch fehlende Gegenseitigkeit, weshalb er für „Ausbeutung“ steht. Wir haben uns damit bereits auseinandergesetzt und gezeigt, was Hegel dazu zu sagen hat. Ein anderer Denker von Format, Marx, befasst sich mit einem Spezialfall dieser Ausbeutung, nämlich jener, die bei Einsatz der Naturkraft „Arbeitsvermögen“ in der Unternehmung stattfindet. Er sagt dazu: Dieser Stoffwechsel ist zum einen Austausch im gewöhnlichen Sinne. Zum anderen aber tauscht der Kapitalist die Arbeit selbst ein; d.h. er tauscht die Produktivkraft ein, die das Kapital erhält und vervielfältigt und die damit zur Produktivkraft und reproduzierenden Kraft des Kapitals, 572 § 73 R. 573 Ebd. 574 § 71 R. 575 § 74 R – Hervorhebung bei H. 576 § 75/Z R.

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eine dem Kapital zugehörige Kraft wird. ... Der Unterschied des zweiten Akts vom ersten – nämlich der besondre Prozess der Aneignung der Arbeit durch das Kapital ist der zweite Akt – ist exactly der Unterschied des Austauschs zwischen Kapital und Arbeit vom Austausch, wie das Geld ihn zwischen Waren vermittelt. Im Austausch zwischen Kapital und Arbeit ist der erste Akt ein Austausch, fällt ganz in die gewöhnliche Zirkulation; der zweite ist ein qualitativ vom Austausch verschiedner Prozess, und es ist nur by misuse, dass er überhaupt Austausch irgendeiner Art genannt werden könnte. Er steht direkt dem Austausch gegenüber; wesentlich andere Kategorie.577 Der Arbeiter erhält einen Lohn, der Äquivalent für das ist, was Hegel als „Formierungskosten“, Marx als Produktions- und Reproduktionskosten der Arbeitskraft bezeichnen – ein Austausch, der den Regeln des Privatrechts unterliegt. Was im Unternehmen während des Produktionsprozesses geschieht, ist „Stoffwechsel“, der, wie jener zwischen den beiden Naturen, nicht der „Gegenseitigkeit“ unterliegt. Zwei getrennte Vorgänge. In China würde man sagen, dass der letztgenannte Vorgang in einer „Sonderzone“578 spielt. Weil nur Angeeignetes und zu Eigentum Gewordenes über den Vertrag ausgetauscht werden kann, lehnt Hegel es ab, mit dem Vertrag Verhältnisse und Sachverhalte zu erfassen, die außerhalb gelegen sind. H. Schnädelbach dazu: „Hegel selbst bestimmt das Eigentum wesentlich als materielle ‚Sache‘ (vgl. §§ 42 und 52), und diese Beschränkung seiner Vertragslehre auf physische veräußerliche Dinge (vgl. § 75) ist einer der Gründe für seine Polemik gegen die Vertragstheorien, die ihm als unerlaubte Extrapolationen erscheinen müssen.“579 Hegel selbst weist in § 75/A R darauf hin, dass die Subsumtion der Staatsverhältnisse unter den Vertrag, damit un577 GR, S. 185 f. (Hervorhebung bei Marx). In den „Grundrissen“ ist Marx sehr viel näher bei Hegel als im „Kapital“; er entfernt sich also von ihm in dem Maße, wie er sich – wie Siemek (Was ist der Marxismus Hegel schuldig?, HJ 1986, S. 171–176) durchaus treffend anmerkt – ins Ökonomische „vergräbt“. Es mag mehr dahinterstecken als nur dieses „Vergraben“. Die sittliche Dimension der Unternehmung anzuerkennen hieße, ein versöhnlerisches, reformistisches Verhältnis zum Kapital und zum Kapitalismus einzunehmen, hieße, diese an die soziale Funktion zu erinnern, sie bei ihr einzufordern, statt sie abzuschaffen. Obwohl also seine „objektive Assoziation“ in enger Verbindung zur „Assoziation freier Produzenten“ steht, arbeitet Marx diese Verbindung nicht heraus. Das bleibt Juristen wie O. v. Gierke oder Ökonomen wie Rodbertus überlassen, die dafür von marxistischer Seite als Epigonen des preußisch-junkerlichen Systems gescholten werden. 578 Das Innere dieser „Sonderzone“ wird in den Ausführungen zur „Wirtschaftsfamilie“ (Kapitel 10 und 11) näher „beleuchtet“. 579 Schnädelbach, Vertragstheorie, a.a.O., S. 116.

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ter die „Verhältnisse des Privateigentums“, die „größten Verwirrungen im Staatsrecht und in der Wirklichkeit hervorgebracht“ hat. Das andere Beispiel ist die Ehe; auch sie ist für ihn kein Vertragsverhältnis. Sie (wie Kant) dazu zu erklären bezeichnet er als „Schändlichkeit“580, weil auch hier der Vertrag auf einen Gegenstand erstreckt wird, dem keine Materialität im Sinne der „produzierten“ Natur zukommt. Die Ehe gehört vielmehr zu einer Sphäre, „die von ganz anderer und höherer Natur ist“; sie unterliegt dem „Naturprinzip“. Anders die „Ehe“, die Kapital und Lohnarbeit eingehen. Sie unterliegt dem „Produktionsprinzip“ und deswegen auch dem Recht.581

580 § 75/A R. 581 Zur rechtlichen Qualität beider „Ehen“ genauer und differenzierter im Kapitel 11.

7 Das „abstrakte“ Recht

7.1 ... als pflichtloses Recht

Würde sich seine „Rechtsphilosophie“ nur auf den ersten Teil beziehen, hätten wir Heutigen kaum ein Problem mit ihr. Hegel hätte dann die bürgerliche Gesellschaft als jene Natur gezeigt, aus der das „Naturrecht“ erwächst. Und mit diesem ein „Natur(rechts)staat“, der – wie für Kant582 – deckungsgleich mit ihr ist. Seine „Rechtsphilosophie“ wäre dann eine Ausschmückung dessen, was der frühe, noch im Banne Fichtes stehende Schelling in § 68 seiner „Neuen Deduktion des Naturrechts“ postuliert: „[D]er oberste Grundsatz aller Rechtsphilosophie wäre dieser: Ich habe ein Recht zu allem, wodurch ich die Individualität meines Willens der Form nach behaupte, oder: Ich habe ein Recht zu allem, was der Form des Willens überhaupt gemäß ist“583. Das subjektive Recht einer Natur wäre entfaltet, das sich als ein Recht an und über die andere, über die rechtlose, Natur versteht. Man kann annehmen, dass Hegel, zwar nicht als Stammvater, doch als bedeutender Vertreter des „Rechtsstaates“ gewürdigt würde. Aber wäre es so, hätte er sich nicht gegen die „bisherigen Behandlungsarten des Naturrechts“ wenden und dem ersten Teil die weiteren Teile folgen lassen dürfen – jedenfalls nicht den, der die Überschrift „Der Staat“ trägt. Denn der Staat wäre dann bereits im Rahmen der „bürgerlichen Gesellschaft“ abgehandelt: als der von ihm so bezeichnete „Not-und Verstandesstaat“. Seine „Staatsphilosophie“ verrät ihn also. Sie zeigt an, dass er das Naturrecht in den bestehenden Fassungen als unzulänglich verwirft. Das ältere Naturrecht wurzelt im „naturwüchsigen Gemeinwesen“. Es ist Recht in der Bedeutung von: das „ethisch Rechte“584. Recht, das beiden Naturen gerecht wird; Recht, welches deshalb „Einheit“ bzw. „System“ bedeutet und deshalb ebenso „Sittlichkeit“ heißen könnte. Denn die „Sitten“ sind die Gesetze dieser „Einheitsnatur“. Sie regeln das Zusammenleben der damaligen Menschen. Sie sind weder die 582 Kant, MdS, § 45 Satz 1: „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge unter Rechtsgesetzen.“ (Hier zitiert bei C.E. Bärsch: Hegels Staat als qualifizierte Gesellschaft. Zur politischen Dialektik Hegels, HJ 1975, S. 172 – eine Arbeit, auf die in diesem Zusammenhang verwiesen wird.) 583 SchW 1, S. 184. Zum „fichtisch“ geprägten Schelling: W. Metzger (Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen Idealismus, hrsg. v. Ernst Bergmann, Heidelberg 1917, S. 237 ff., besonders S. 242). 584 J. Ritter, „Naturrecht“, a.a.O., S. 23.

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(Natur-)Gesetze der einen, noch die (Rechts-)Gesetze der anderen Natur. Sie sind als deren Einheit vielmehr ein Drittes. Je mehr das „naturwüchsige Gemeinwesen“ unterminiert wird und auf seinen „Bruch“ zutreibt, umso mehr kristallisiert sich, angefangen bei den Handel treibenden Völkern, aus den Sitten das „Recht“ heraus. Als das einigende Band schließlich zerreißt und die „produzierte“ Natur frei wird, verstehen ihre Atome das ganz richtig als ihre Freiheit, als ihre Befreiung von der Pflicht der anderen Natur gegenüber. Die Geburtsstunde dieser Freiheit ist zugleich die des modernen Rechts; auch dieses ist jetzt „zur selbständigen Realität entlassen“. Alles vorherige Recht, also das inselhaft um den Austausch zur Ausbildung gelangte, erweist sich nunmehr als dessen bloße Vorstufe. Aus naturrechtlicher Sicht findet eine „Austauschung“ statt. Ausgetauscht wird das bisherige Recht der „Einheitsnatur“ – die „Sittlichkeit“ – gegen das Recht der bürgerlichen Gesellschaft. Wie es Marianne Weber um 1900 beschrieben hat: Die Individuen entäußern sich all ihrer ursprünglichen natürlichen Rechte, um sie gegen „die bürgerlichen Rechte … einzutauschen.“585 Hinzufügen muss man allerdings, dass damit zugleich eine Reduzierung der Sittlichkeit auf das Element „Recht“ verbunden ist. Und erst diese Reduktion führt uns zum „abstrakten“ Recht.586 Ein geschichtlicher Wendepunkt: Etwas, das sich auf zwei Naturen bezog, etwas, das die Einheit zweier Naturen verkörperte, ist nun nur einer Natur zugeordnet, der „produzierten“. Entscheidend dabei: Diese Rechte sind abgekoppelt von der Pflicht gegenüber der „primären“ Natur, weshalb Hegel es, im Unterschied zum früheren (unbeschränkten = „sittlichen“ Recht), als jenes „beschränkte juristische Recht“587 bezeichnet, das hier, in der Rechtsphilosophie, als „abstraktes Recht“ abgehandelt wird. Bleiben wir dabei: Das moderne Recht versteht sich als pflichtloses Recht; die „Pflichtlosigkeit“ ist sein Grundzug. Recht und Pflicht, vormals in der „Sittlichkeit“ verbunden, ergänzen sich nicht, sondern sind „Entgegengesetzte“, wobei die „Pflicht“ die eindeutig rangniedere und vom „Recht“ ferngehaltene Größe ist.588 Die Pflicht ist dem jetzigen Gegenpart des Rechts, der Moral, überantwortet. Fasst man „Sittlichkeit“ als „Gerechtigkeit“, dann ist jetzt, wie N. Luhmann formuliert, „ein Rechtsbegriff gegen den Begriff der Gerechtigkeit“589 in der Welt. Ein Recht, das 585 M. Weber, Fichte’s Sozialismus, a.a.O., S. 6. 586 T. Litt (a.a.O., S.110): „Es heißt so, weil seine Bestimmungen den Menschen nur als das vollkommen ‚abstrakte Subjekt‘ – Hegel sagt: als Person – erfassen.“ 587 § 486 E. 588 Wie der junge, „fichtisch“ geprägte Schelling dies in § 72 der bereits zitierten Schrift (SchW 1, S. 184) deutlich sieht. 589 N. Luhmann: Subjektive Rechte. Zum Umbau des Rechtsbewußtseins für die moderne

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nur die eine Seite zweier „Entgegengesetzter“ fortführt. Ein einseitiges und, wie wir noch sehen werden, unvollständiges, für Hegel daher: unsittliches, Recht. Ein Recht, das die andere Natur rechtlos macht. Ein Recht, das sich als „Totalität für sich“590 zeigt und deshalb „abstraktes Recht“ genannt ist. Für Hegel ist es nur ein Durchgangspunkt, wie das hier und in ähnlichen Zusammenhängen gebrauchte Wort „zunächst“591 zum Ausdruck bringt. Von ihm führt der Weg nach vorne, zu einer neuen historischen Qualität von „Einheit“ bzw. von Sittlichkeit. Aber nur Hegel sieht das so. Für seine Kollegen, wichtiger noch: für die Praxis, ist das „abstrakte Recht“ bis heute ein Fixpunkt. Ist das Recht als „Einheit“ oder – wie Hegel selbst sagt – als „System“592 damit Geschichte? Unstrittig ist, dass wir vor einer neuen Qualität stehen. Aber wie ist diese zu beurteilen? Aus der Sicht des älteren Naturrechts spräche der jetzt entkoppelte Zusammenhang von Recht und Pflicht eine deutliche Sprache. Und zwar deshalb, weil das jetzige Recht gegen die andere Natur gerichtet, weil es „Naturbeherrschungsrecht“593 ist. Gut so, sagen die Vertreter des neueren Naturrechts dazu, verbuchen den jetzigen Zustand unter „Freiheit“ und sehen es als deren Vollzugsinstrument. Aber trifft der Begriff „Recht“ überhaupt noch zu, wenn man das Recht als „Einheit“ bzw. als „System“ versteht? - fragt damals Hegel und fragt in unserer Zeit N. Luhmann. Was ändert sich, wenn die Pflicht aus dem Weg geräumt ist? N. Luhmann sieht es so: Ursprünglich verstand sich das Recht als die Einheit von subjektivem Recht und („subjektiver“) Pflicht. Oder wie wir sagen: als „Einheitsrecht“ im Sinne von „Nomos“, entstanden aus der Vermittlung der Gesetze beider Naturen. Dem Recht, die „primäre“ Natur anzueignen, stand die Pflicht gegenüber, dies naturverträglich zu tun. Daran knüpft er folgende Überlegung: Eine Einheit, hier: die Einheit „Recht“, ist ein Paradoxon, wenn sie sich nicht auf ein „Entgegengesetztes“ bezieht. Denn wie Hegel sagt: „Wären auf einer Seite alle Rechte, auf der anderen alle Pflichten, so würde das Ganze sich auflösen.“594 Wie aber ist die Einheit herzustellen, wie ist sie überhaupt zu begründen, wenn – wie jetzt – die „primäre“ Natur als Rechtssubjekt weggefallen und zum bloßen Objekt geworden

590 591 592 593 594

Gesellschaft, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 51. § 141/A R. Z.B. in § 181 R. Vgl. R-Bl, S. 52 sowie § 4 R. Wie A. Hollerbach (Der Rechtsgedanke bei Schelling. Quellenstudien zu seiner Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a.M. 1957, S. 114) unter Bezug auf Schellings Naturrechtsschrift von 1797 formuliert. § 155/Z R.

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ist? Luhmanns Antwort595: Um weiterhin der Logik zu genügen, setzt ein Vorgang der „Entparadoxierung“ ein. Für das ehemals auf die „primäre“ Natur entfallende Recht wird innerhalb der „produzierten“ Natur eine Ersatzgröße gesucht und im „Unrecht“ gefunden. Recht versteht sich nun als die Einheit von subjektivem Recht und subjektivem Unrecht; es ist damit, reduziert um die (frühere) Pflicht, vollständig in die „produzierte“ Natur verlagert. Luhmann spricht von der Schaffung einer Schein-Differenz, die, zum „Code“ gemacht, Ausgangspunkt für Programme wird, die mit Positionen und Gegenpositionen hantieren, „ohne die Frage nach der Einheit des Codes zu stellen.“596 Was außerhalb liegt, wird ausgeblendet. Der Code schafft damit eine Totalität, aber eine unechte. Die Relation Recht–Unrecht war auch dem älteren Naturrecht bekannt. Ihr Schwerpunkt lag damals jedoch auf dem Stoffwechselprozess von Natur zu Natur. Jetzt aber bezieht sie sich auf den Warenaustausch innerhalb der „produzierten“ Natur. Dieser jetzt andere Bezugspunkt erfordert eine Neuinterpretation der „Einheit“. Wird das 16. Jahrhundert noch von der „alten“ Einheit dominiert, so haben wir 100 Jahre später eine völlig andere Sach- wie „Theorielage“. Der – aus der Sicht derer, die die „primäre“ Natur ausbeuten – „unfreie“ Zustand ist beseitigt. Die „Belastung“ des Vorgangs mit der „Pflicht“ ist „vom Tisch“. In England bereits in der Praxis, auf dem Kontinent vorerst nur theoretisch. Die Aneignung ist von der Pflicht befreit. Freiheit! Der Schwenk von der bisherigen „Einheitsnatur“ zur „produzierten“ Natur ist vollzogen. Er bringt das Aus für das „Einheitsrecht“. Dieses ist nun nicht mehr zeitgemäß; es genügt der „Freiheit“ der jetzt tonangebenden Natur nicht, die darin besteht, gegenüber der anderen Natur ein unbeschränktes, mithin: pflichtloses, Aneignungsrecht zu haben. In zwei Schritten, im „Zweischrittverfahren“, wie Luhmann597 sagt, wird das Recht daher jetzt der „völlig anderen Theorielage“ angepasst. Im ersten Schritt wird es von der Pflicht getrennt, besser wohl: von ihr befreit. Damit ist das Recht als „Einheit“ (von Recht und Pflicht) zerstört. Aus der Sicht des „Zeitzeugen“ Jeremy Taylor (auf den Luhmann sich bezieht) führt das dazu, dass das bisherige „law“ in „rights“ zerfällt. Da die „rights“ pflichtlose Rechte sind, ist damit im Englischen bereits begrifflich der Unterschied zwischen dem früheren und dem jetzigen Recht deutlich gemacht. Im Deutschen ist diese Unterscheidung unbekannt, ein Grund für Hegel, den Unterschied im Begriffspaar Sittlichkeit–Recht auszudrücken. Mit diesen „rights“, mit diesen „abstrakten“ Rechten ist ein neues „Anfangsdatum“ (Luhmann), ein neuer „Anfangspunkt“ (Hegel) gesetzt. 595 Mit der er die „Begriffsentlarvung“ Schellings (vgl. A. Hollerbach, a.a.O.) wiederholt! 596 N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, a.a.O., S. 77 – Hervorhebung bei N.L. 597 Ebd., S. 136.

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Das „pflichtlose“ Recht ist uns als das „subjektive“ Recht bekannt. Das ursprüngliche „Einheitsrecht“– das „law“ – ist nun ersetzt durch die „rights“, durch die subjektiven, „pflichtlosen“, unvermittelten Rechte, also durch Rechte, „denen alle wesentlichen Momente des Rechtes fehlen.“598 Sie sind das Paradoxon, von dem bereits die Rede war und das über die Ersatzgröße „Unrecht“ entparadoxiert wird. Recht versteht sich durch diese „Umkontextierung“599 nun wieder als Einheit. Diesmal als Einheit von subjektivem Recht und subjektivem Unrecht. Die Schein-Differenz ist zum „Code“ gemacht. Eine Totalität ist geschaffen, aber eine unechte. Bereits im 18. Jahrhundert ist dieser Vorgang abgeschlossen. Die Spuren sind bereits verwischt. Der Weg vom Recht (law) zu den Rechten (rights) ist unkenntlich gemacht, scheint von einem „Schwarzen Loch“600 geschluckt zu sein. Das Paradoxon „abstraktes“ Recht ist „verschlüsselt und so entparadoxiert.“601 Es scheint so, als sei nun der „Not- und Verstandesstaat“ der bürgerlichen Gesellschaft Schöpfer echten (objektiven) Rechts, obwohl er nichts anders tut, als für die Gesellschaftsmitglieder und an deren Stelle subjektives, also „abstraktes“ Recht in die Welt zu setzen. Er wird tätig also nur für diese Natur und deren Mitglieder und damit – dem Zweck dieser Natur gehorchend – gegen die „primäre“ Natur. In der „Rechtsphilosophie“ ist das Thema im § 38 abgehandelt. Die entscheidende Passage dort lautet: „Die Notwendigkeit dieses [abstrakten] Rechts beschränkt sich … auf das Negative, die Persönlichkeit und das daraus Folgende nicht zu verletzen. Es gibt daher nur Rechtsverbote, und die positive Form von Rechtsgeboten hat ihrem letzten Inhalte nach das Verbot zugrunde liegen.“ Auf diesem Hintergrund ist in § 36 das grundlegende Rechtsgebot formuliert: „sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“602 Damit ist die Hauptbedeutung des Attributs „abstrakt“ des „abstrakten Rechts“ aufgezeigt. Sei eine Person. Mache dir den Zweck der „produzierten“ Natur zu eigen. Zeige, dass du ihr williges Werkzeug bist. Eigne an. Je mehr du diesem Gebot folgst, je mehr „Person“ du bist, umso mehr nimmst du teil an dem Glück, das dir diese Natur bietet. Siehe, ein weitgesteckter Handlungsrahmen öffnet sich vor dir. Nutze ihn aus. Genieße dein Recht, die andere Natur anzueignen, in vollen Zügen. Sei frei. Villa, Jacht, Privatjet – nichts ist dem unmöglich, der bis an die Grenzen des Gebotenen „Person“ ist. 598 599 600 601 602

Ebd., S. 139. Luhmann, Subjektive Rechte, a.a.O., S. 64. Luhmann, Theorie der Ordnung, a.a.O., S. 149. Ebd., S. 139. Hervorhebung bei H.

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Teil 2 – Zum Recht

Verboten ist dir nur, deinen Eifer, deinen Erwerbssinn gegen die eigene Natur, deren Mitglieder und deren Eigentum zu richten. War das vermittelte, auf die Einheit beider Naturen bezogene Recht, also die Sittlichkeit, in der Weise verteilt auf Recht und Pflicht, dass auch die Pflicht ein Recht war und das Recht eine Pflicht, so ist jetzt der Bezug zur anderen Natur und damit auch zur Pflicht ihr gegenüber gekappt. Da ihr Recht meine Pflicht war, ist mein Recht damit „pflichtlos“ geworden. Soweit jetzt noch von Pflicht die Rede ist, ist sie so zu verstehen: als Pflicht der Person neben mir, „mein Recht zu respektieren“603. Und jetzt wird auch verständlich, was Hegel meint, wenn er sagt, dass es nicht nur um das „beschränkte juristische Recht“ geht, sondern das Recht „als das Dasein der Freiheit“ – der Freiheit beider Naturen – „umfassend zu nehmen ist.“604 Heilige Kühe, diese subjektiven Rechte! Und nicht ohne Grund. Denn über sie verwirklicht sich schließlich die „Freiheit“. So heilig, dass sie in den Grundrechtskatalogen der meisten modernen Staaten festgeschrieben sind, im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sogar vor allem anderen. Damit ist dem „pflichtlosen“ Recht Verfassungsrang eingeräumt. Ja, die ganze Rechts- und Staatsordnung ist von hierher aufgezäumt. Und innerhalb des Katalogs, immer vorneweg: das Grundrecht auf Eigentum, das „Mutterrecht“. Damit ist ein Bollwerk gegen den Übergang zum „pflichtbetonten“ Recht geschaffen. Da ohnehin die Einheit von Recht und Pflicht mit Erfolg in die Einheit von Recht und Unrecht uminterpretiert wurde, werden Versuche in dieser Richtung gewöhnlich mit „Unrecht“ und „Unrechtsstaat“ verknüpft. Und richtig ist, dass bisherige Versuche, ein solches pflichtbetontes Recht zu installieren, etwa in den Ländern des „realen Sozialismus“, vor allem aber: im „Dritten Reich“, solche Interpretationen zu bestätigen scheinen. Zu bedenken ist aber, dass es in diesen beiden Fällen nicht darum ging, das Recht „naturpflichtig“ zu machen, sondern um die Pflicht gegenüber einem „Führer“ oder einer „führenden“ Partei. Statt „Vernunftgestalten“ wurden Pseudo-Gemeinschaften errichtet, die im Grunde darauf hinausliefen, das im Unternehmen605 angesiedelte Führungsinstrumentarium auf den öffentlichen Raum zu übertragen. Da im „Dritten Reich“ dieser Versuch auch mit Hegel begründet wurde606, wurde dessen Philosophie dadurch in einer Weise diskreditiert, die bis heute nachwirkt. Der Schwenk ist vollzogen; der Schwerpunkt hat sich von einer Ebene auf die andere verlagert: 603 604 605 606

§ 486/A E. § 486 E. Oder allgemeiner: im „Haus“! (Siehe dazu weiter hinten in den Kapiteln 9 und 12.) Zu denken ist hier an die Gruppe um Binder, Larenz, Busse und Dulckeit – die Vorreiter des sog. Neu-Hegelianismus.

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„Recht“ als Phänomen der „Einheitsnatur“, als Instrument zur Regelung des Verhältnisses beider Naturen, ist abgelöst durch ein Recht, welches auf die Regelung der Binnenverhältnisse der „produzierten“ Natur reduziert ist. Eine Aufgabe, die früher am Rande stand, steht jetzt im Vordergrund. Die Konsequenzen sind weitreichend. Von der neuen Plattform aus gesehen ist das, was wir als „Einheitsrecht“ bezeichnet haben, allenfalls eine Vorstufe des jetzigen Rechts.607 Was für Hegel, wie wir noch sehen werden, nur ein halber Schritt nach vorn ist, wenn es dabei bleibt, wird von all denen, die meinen, der Prozess sei mit der „Entzweiung“ bereits zu Ende gekommen, als „Fortschritt“ genommen. Für Hegel bilden die „entzweiten“ Größen die jetzigen, wie er formuliert, „Anfangspunkte“ des rechtswissenschaftlichen Denkens608. Das heißt: Sie sind „Tatsachen“, aber „Tatsachen“, bei denen man nicht stehenbleiben darf, weil sie keine Wahrheit für sich haben. Vielmehr sind sie nur die Bausteine für das, was im dritten Teil der „Rechtsphilosophie“ unter „Sittlichkeit“ abgehandelt wird. Dort geht es darum, die verlorene Einheit auf höherem Niveau wiederherzustellen. Nicht durch ein Zurück zur „naturwüchsigen“ Einheit, sondern durch ein Voran zu jener, die auf „Vernunft“ beruht. Der „Zerfall“ ist also Zwischenstation auf dem Weg vom „abstrakten“ zum „vernünftig“ versittlichten Recht. W. Bartuschat609 formuliert es so: „Wenn es auch richtig ist, das abstrakte Recht auf die Sittlichkeit hin zu lesen, in der es seine Wahrheit hat, so bleibt es zugleich richtig, dass das, was Sittlichkeit ist, unabhängig vom abstrakten Recht nicht bestimmt werden kann.“ Auch Hegel „entparadoxiert“ also. Aber nicht, indem er ein Schein-Ganzes errichtet. Im Gegenteil, er kämpft gegen einen Schein, der suggeriert, dass Recht und Pflicht „an verschiedene Seiten oder Personen verteilt“ sind. Er weist nach, dass die vermeintlich untergegangene „Einheitsnatur“ fortexistiert – nicht mehr „naturwüchsig“, sondern jetzt als institutionalisierte „Vernunft“. Im § 261 R bringt er es zum Ausdruck: Gegenüber Familie und bürgerlicher Gesellschaft, gegenüber Subjekt und Person, ist sie die „höhere Macht“. Der Staat ist der „Einheitspunkt“, von dem sie äußerlich umfasst und dem sie untergeordnet sind – auch Recht und Pflicht. Indem ich dort meine Einheit habe, habe ich gegen den Staat Rechte und Pflichten. Die Einheit ist wiederhergestellt. Eine ähnliche Aussage enthält § 486 E. Hier ist der Zustand vor dem „Zerfall“ geschildert, ehe in der Anmerkung der Zustand „danach“ 607 Bei F. Engels (Der Ursprung der Familie …, MEW 21, S. 155) heißt es: „[D]ie Frage, ob Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, Blutrache oder deren Sühnung ein Recht oder eine Pflicht sei, besteht für den Indianer nicht; sie würde ihm ebenso absurd vorkommen wie die, ob Essen, Schlafen, Jagen ein Recht oder eine Pflicht sei.“ 608 Siehe § 2 R und (allgemeiner) L (S), S. 56. 609 W. Bartuschat, a.a.O., S. 20.

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aufgezeigt wird: Das „nicht nur ... beschränkte juristische Recht“, das sittliche Recht also, ist gekennzeichnet durch die Einheit von Recht und Pflicht. „Dasselbe, was ein Recht ist, ist auch eine Pflicht“; „einem Rechte von meiner Seite [entspricht] eine Pflicht in einem Andern“610. Zu § 155 R merkt er an: „Pflichten sind bindende Beziehungen, Verhältnisse zur substantiellen Sittlichkeit“. Da diese auch zu mir gehört, da diese „mein Wesen“611 ist, ist die Pflicht ihr gegenüber zugleich eine Pflicht mir selbst gegenüber. „Das ist die große Identität von Recht und Pflicht.“612 Von daher ist diese Pflicht eine Selbstbeschränkung, mit der ich meine Freiheit dokumentiere. Also: „Die Pflicht ist zugleich der Inhalt meiner Freiheit selbst, der Geist meiner selbst, ein Moment meines eigenen wahrhaftigen Geistes.“613 Nun aber ist es so: „[I]m Moralischen soll nur das Recht meines eigenen Wissens und Wollens sowie meines Wohls mit den Pflichten geeint und objektiv sein.“614 Dieses nur „Sollen“ ist zu wenig. Angesichts des Drucks, den die bürgerliche Gesellschaft auf mein Handeln ausübt, so wie dieses durch sie kanalisiert und manipuliert wird, darf es dabei also nicht bleiben. Die „substantielle Sittlichkeit“ muss daher institutionalisiert und über die Institution verbindlich gemacht werden.615 Damit auch die Pflicht ihr gegenüber. Dies führt uns zum politischen Staat. Über ihn wird die Pflicht zur Natur exekutiert. Es ist also klar zu unterscheiden: Die Pflicht besteht nicht gegenüber dem Staat, sondern gegenüber der Natur; diese ist Berechtigter. Scheinbar geht es um eine einseitige Pflicht der Natur gegenüber, die umso einseitiger (und „ungerechter“) erscheint, je mehr die „organische“ Natur mit dem Staat gleichgesetzt wird. Tatsächlich liegt auch hier „Gegenseitigkeit“ vor. Schließlich gehört der Mensch auch dieser Natur an. Und diese Natur gibt uns den „Stoff“, aus dem wir die „produzierte“ Natur erschaffen. Verlangt wird von uns lediglich, dass wir damit vernünftig, d.h. unter Beachtung seiner Endlichkeit umgehen. Was Pflicht gegenüber der Natur ist, ist daher auch Pflicht mir selbst gegenüber – und insoweit kann sie nicht als Eingriff in meine Freiheit, kann sie nicht als „beschränkend“616 angesehen werden.

610 § 486/A E – Hervorhebung bei Hegel. 611 § 155/N R. 612 § 155/A R. 613 Ebd. 614 § 155 R – Hervorhebung bei Hegel. 615 Das ist ein Aspekt, den ich am deutlichsten bei G. Lübbe-Wolff herausgearbeitet sehe. 616 Siehe dazu § 29/A R.

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Das so skizzierte abstrakte Recht hat sein Zuhause in der „produzierten“ Natur. Es bringt direkt, unvermittelt deren Prinzip und deren gegen die andere Natur gerichteten Interessen zur Geltung. Allgemeiner (und Bezugnehmend auf das, was bereits unter „System“ ausgeführt wurde) kann man sagen: Hegel beginnt bei einem Teil-System. Unabhängig von aller Verflechtung mit dem anderen Teilsystem und mit dem „Ganzen“ wird zunächst dessen Binnenstruktur analysiert. Zu ihr gehört das Recht. Aus der höheren Sicht des „Systems“ führt uns das zu „abstrakten“ Begriffen, zu Begriffen mit eingeschränktem Wahrheitsgehalt. Das „abstrakte“ Recht ist, wenn man so will, nur ein „halbes“ Recht. Es wird ergänzt bzw. korrigiert durch die vom Staat vertretenen Rechte der anderen Natur. Wird es als „ganzes“ Recht angesehen, werden die Interessen der anderen Natur grob verletzt – wie Hegel das ja in § 141/Z R deutlich genug zum Ausdruck bringt: „Das Rechtliche und das Moralische kann nicht für sich existieren, und sie müssen das Sittliche zum Träger und zur Grundlage haben“. Und kurz danach: „Das Recht existiert nur als Zweig eines Ganzen, als sich anrankende Pflanze eines an und für sich festen Baumes.“ Halten wir als Ergebnis fest: Die „Rechtsphilosophie“ startet beim Zerfall, bei der „Entzweiung“ des „Einheitsrechts“ in ein „abstraktes“ Recht und eine ebenso „abstrakte“ Moralität. War es davor so, dass „Recht“ die Einheit von Recht und Pflicht bedeutet, dass ich ein Recht und eine Pflicht zugleich habe, ist es jetzt so, dass ich das Recht, ein anderer aber die Pflicht hat – und umgekehrt. Ein völlig anderer Sachverhalt. Er zeigt an, dass die Pflicht überhaupt aus dem Recht verbannt ist. Jetzt der Moralität zugeordnet, fristet sie nun dort, „in der Einseitigkeit des moralischen Standpunktes“, ihr Dasein. Das neuere Naturrecht kultiviert diesen Zustand und schreibt ihn fest. Hegel stellt ihn in Frage. Er hält dagegen: „Im Sittlichen ist beides zu seiner Wahrheit, zu seiner absoluten Einheit gelangt, obgleich auch, als in der Weise der Notwendigkeit, Pflicht und Recht durch Vermittelung ineinander zurückkehren und sich zusammenschließen.“617 Damit ist die Zäsur kenntlich gemacht. Ausgangspunkt der Sittlichkeit war die „Einheitsnatur“, vertreten durch die Institution „Staat“. Jetzt aber bin ich, die Person, der Ausgangspunkt. Denn als Atom der „produzierten“ Natur nehme ich teil an deren Freiheit. Deshalb kann Hegel sagen, dass die Freiheit „Substanz und Bestimmung“618 des Rechts ausmacht. Der Wechsel von der „Einheitsnatur“ zur „produzierten“ Natur, vom Gesamtsystem auf ein Teilsystem ist vollzogen. Und da dieses atomistisch strukturiert ist, ist es zugleich ein Wechsel vom „Ganzen“ auf 617 Ebd. – Hervorhebungen bei Hegel. 618 § 4 R.

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die Atome des Teils; diese sind jetzt Subjekte des Rechts. Das Ergebnis: Die Pflicht gegenüber der „primären“ Natur ist aus dem Feld geschlagen. Ein „pflichtloses“ Recht ist geboren. Und deswegen, weil es „pflichtlos“ ist, ist es für Hegel jenes als „unwahr“619 kritisierte „abstrakte“ Recht. Demgegenüber betont Hegel: Unabhängig davon, dass das Handeln der Personen durch das kantische „allgemeine Rechtsgesetz“ im Verhältnis zueinander beschränkt ist, haben alle Personen gleichermaßen eine Pflicht gegenüber dem „Substantiellen“620, also jener Natur gegenüber, die den Menschen hervorgebracht hat, der er weiterhin zugehört und ohne die er nicht existieren kann. Anmerkung: Der Schelling des Jahres 1800621 sieht in der zur modernen „Freiheit“ führenden Befreiung von den Notwendigkeiten der „primären“ Natur eine ganz ähnliche „Paradoxie“ wie jene, die uns Luhmann 1981 vorführt. Eine Freiheit ohne Notwendigkeit? Ein Unding. Und so stellt er klar: Diese Befreiung von den Notwendigkeiten der einen führt die soeben Befreiten sogleich unter die Notwendigkeiten der „produzierten“ Natur. Allerdings bleibt dieser bloße Wechsel unerwähnt, bleibt – wie er sagt – im „Verborgenen“ und wird im Übrigen von Glücksversprechen der „produzierten“ Natur überdeckt. 7.2 ... als „gesetztes“ Recht

„Das Recht ist positiv überhaupt“, leitet Hegel seine Ausführungen im § 3 R ein. Und in der Anmerkung verweist er auf „die Stelle, … wo das Recht positiv werden muss“ – auf die „bürgerliche Gesellschaft“ und ihre Institutionen. Wiederum gegen die kritisierten „früheren Behandlungsarten“ gerichtet, wendet er sich gegen die Auffassung, das Naturrecht sei jedem Menschen angeboren und deswegen universell geltendes Recht, das keiner Positivierung bedarf. Ihr stellt er entgegen: Das Recht hat positiv zu sein; die Positivität gehört zu seinem Begriff.622 Plädierte er in den ersten beiden Paragrafen für eine „philosophische“ Denkart der Rechtswissenschaft, um sie von ihrer Fixierung auf das Recht nur einer Natur, also auf ein „abstraktes“ Recht, abzubringen und ihren Blick für das „Ganze“ zu 619 Siehe dazu bei Kobusch, a.a.O., S. 165. 620 § 261 R: Dort ist die Rede von einer Pflicht, die „das Verhalten gegen etwas für mich Substantielles, an und für sich Allgemeines“ ist. Sie wird nicht über das Recht exekutiert, sondern über den Staat. 621 SchW 2, S. 593 ff. 622 Vgl. dazu W.R. Beyer: Die Grenzen des philosophischen Rechts, in: ders., Denken und Bedenken. Hegel-Aufsätze, hrsg. v. M. Buhr, Berlin 1977, S. 103–110; A. v. Bogdandy: Hegels Theorie des Gesetzes, Freiburg i.Br., München 1989, S. 81–92.

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öffnen, so greift er hier, wo die Vertreter des Naturrechts „philosophisch“ argumentieren und dies mit ihrer negativen Haltung zur „Positivität“ scheinbar unter Beweis stellen, gerade diese „philosophische Bemühung“ an. Dem „angeborenen Recht“ und dessen Vertretern hält er entgegen: „Wenn dem positiven Rechte und den Gesetzen das Gefühl des Herzens, Neigung und Willkür entgegengesetzt wird, so kann es wenigstens nicht die Philosophie sein, welche solche Autoritäten anerkennt.“ Da er sich damit explizit gegen Fries wendet, wird deutlich, was er damit anspricht: Es handelt sich aus seiner Sicht bei dieser „philosophischen Bemühung“ nicht um Philosophie, sondern um Ideologie, um Wucherungen der Philosophie, die dem Begriff „Recht“ nicht angemessen sind und als solche sichtbar werden, sobald versucht wird, dieses angeblich angeborene, überpositive Recht positiv zu machen. Und daran führt kein Weg vorbei. Jedwedes Pathos, jedweder „Brei des Herzens“ ist ihm zuwider. Und das Naturrecht ist voll davon. Was davon Bestand hat, was bloße Ideologie, ja, im Falle Fries, Demagogie ist, wird sich bei der Positivierung zeigen. Sie ist die Stunde der Wahrheit. Sie trennt die Spreu vom Weizen. Sie zeigt die „Zweideutigkeit“ des zugrunde liegenden Naturbegriffs. Das Großsprecherische, das „Brüderliche“ und „Menschliche“ – all das erweist sich als Rednerei, die so Profanes wie „Person“ und „Eigentum“ schönredet.623 Gegenposition zum Absolutismus, erhoben die Vertreter des Naturrechts ihr Recht, schon um dieses vom „positivem“ absolutistischen abzugrenzen, zu einem allgemeingültigen, außerstaatlichen und außerpositiven, wie Hegel formuliert: zu einem „an und für sich seiende[n]“624, Recht. Dem tritt Hegel bereits in Jena mit der Forderung entgegen, „das Verhältnis des Naturrechts zu den positiven Rechtswissenschaften“625 richtigzustellen. Und dazu gehört anzuerkennen, dass auch dieses Recht erst echtes Recht ist, wenn es positiviert ist. Darum also geht es: Das Naturrecht als das Recht einer Natur, die noch vor der Tür steht, die noch nicht gesiegt hat, die noch nicht (als bürgerliche Gesellschaft) Gestalt gewonnen hat, soll „philosophisch“ bleiben, soll abgegrenzt werden von dem noch herrschenden „Feudalrecht“. Keine Vermischung! Das Naturrecht soll sich nicht gemein machen mit der schnöden Wirklichkeit. Auf den ersten Blick ein ehrenwerter Grund. Aber Hegel bleibt dabei: Die Positivierung gehört zum Begriff „Recht“. Kein Weg führt daran vorbei. Auch auf die Gefahr hin, dass „schlechte“ Gesetze dabei herauskommen. 623 In § 502/A E setzt sich Hegel mit dieser „Zweideutigkeit“ auseinander. Der CC zeigt es: Der „schönste“, aber utopische Teil des Naturrechts, jener, der sich um den „Menschen“ rankt, erweist sich als unpositivierbar und fehlt in der rechtlichen Regelung. Eindeutige Sieger bleiben dort die „Person“ und das „Eigentum“. 624 R Vorrede/Z (S. 16). Anders gesagt, sie halten dem „positiven“ (Feudalrecht) ein vorund außerstaatliches Recht entgegen. 625 NR, S. 509 ff.

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Und die Praxis im benachbarten Frankreich zeigt es ja auch. Dort hat die „produzierte“ Natur die Herrschaft errungen und verlangt danach, dass das ihr adäquate Recht aus dem philosophischen Himmel geholt und „gesetzt“ wird. Ein Verlangen, das Napoleon realisiert. Ein gutes Ergebnis kommt dabei heraus. Zugleich eines, das die Kluft aufzeigt, die zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht. Und wenn bei der „Setzung“ auch geschehen kann, „dass Gewalt und Tyrannei ein Element des positiven Rechts“ werden: Das ist „demselben zufällig …[,] geht seine Natur nichts an“ und kann nicht bedeuten, davon Abstand zu nehmen. Ist Hegel damit als (Rechts-)Positivist enttarnt? Stellt er sich gar auf die Seite eines Rechts, dessen Austritt aus der Geschichte längst besiegelt ist? Einige seiner Kritiker sehen es so. Zweifel daran kommen aber sofort auf, wenn man genauer hinsieht und dann darauf stößt, dass er sich ja dort auch gegen Savigny und seine Schule wendet, die ebenfalls, wenn auch mit anderen Gründen, gegen den philosophischen Anspruch des Naturrechts antritt und, ebenfalls wie Hegel, „Recht“ nur als positives Recht akzeptiert. Der Standpunkt der einen wie der anderen Schule genügt ihm nicht. Hegel wendet sich gegen ein Naturrecht, das sich auch deshalb als „Philosophie“ ausgibt, weil es – angesichts des noch unentschiedenen Zustands – für sich bleiben, weil es das „Herz“ ansprechen und nicht vorschnell als Teil der „herzlosen“ produzierten Natur enttarnt werden will. Also keine Philosophie, eher wohl Unphilosophie626. Aber war das nicht ohnehin schon (in den §§ 1 und 2) klargestellt, wo er die Einnahme eines „echt philosophischen“ Standpunktes eingefordert hatte? Nun, hier (im § 3 R) ist die Stoßrichtung eine andere. Betont er dort den philosophischen Standpunkt, um über ihn die „Einheit“ ins Bewusstsein zu bringen, so hebt er jetzt die „Positivität“ als ein essenzielles Merkmal des Rechts hervor. Ihre Leugnung, aus welchen Gründen auch immer, macht das Recht zum bloßen Phantom. Gegenüber Savigny und dessen Schule hebt er dagegen das „Philosophische“ im Sinne der §§ 1 und 2 R als „einen Grundzug des Rechts“ hervor.627 Das Trennende ist hier, dass er Savignys summarische Berufung auf das römische Recht zurückweist und seiner „rein geschichtlichen Bemühung“ jene „wahrhaft historische“ Sicht entgegenstellt, die er im Werk Montesquieus vertreten sieht. Keine der beiden Richtungen erfüllt also die Kriterien, die zu einem „vernünftigen“ Recht führen. Dort fehlt es an einem „echt philosophischen Standpunkt“, der das gepriesene Naturrecht in seiner Einseitigkeit und Beschränkung, der es als Recht bloß der „produzierten“ Natur, der Personen und des Eigentums zeigen würde. Und hier ist es so, dass ein damals positives, inzwi626 Diese Bedeutung von „philosophisch“ im § 3/A R im Zusammenhang mit dem kritisierten Naturrecht übersieht V. Hösle (a.a.O., S. 56). 627 dazu: Rosenzweig, a.a.O., S. 379.

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schen aber längst historisch gewordenes Recht, ein Recht aus der Mottenkiste, der neuen Zeit angedient wird. Das sich die Vertreter des Naturrechts mit der Positivität schwertun, hat, wie schon gezeigt, damit zu tun, dass der Naturrechtsgedanke in den Jahrzehnten aufkommt, in denen sich auf dem europäischen Kontinent eine Doppelherrschaft in Gestalt des Absolutismus ausprägt. Diese Herrschaft ist der Nährboden eines rein „philosophischen“ Standpunktes der Vertreter des Naturrechts. Ein Beispiel dafür, dass es auch anders geht, ist England. Dort blieb die absolutistische Phase nahezu ausgespart. Eine Feudalordnung wandelt sich dort über Jahrzehnte zur bürgerlichen Ordnung. In dieser Zeit gerät das „Setzen“ nie zum Stillstand. Hilfreich dabei: Das dortige Recht wird überwiegend von den Richtern „gesetzt“. Ihnen obliegt es, das feudale „Mischrecht“ von Fall zu Fall in ein Recht für die „produzierte“ Natur umzuwandeln. Gemeinsam ist den Individuen beider Naturen, dass nach „Gesetzen“ gelebt und gehandelt werden muss, um bestehen zu können. Wie Schelling628 verknüpft daher auch Hegel beide Naturen mit „Naturgesetzen“, wie vor allem Zusätze zur „Vorrede“, zum § 211 und die Fußnote zu § 258 R zeigen. Die Individuen der „primären“ Natur leben nach Gesetzen, die sie verinnerlicht haben, die ihnen als Instinkte eingepflanzt, die als solche „positiviert“ sind. „Der Maßstab dieser Gesetze ist außer uns, und unser Erkennen tut nichts zu ihnen hinzu“629. Auf der anderen Seite treten die Naturgesetze als Rechtsgesetze auf. Zum Unterschied bemerkt Hegel: „Die Kenntnis des Rechts ist einerseits ebenso, andererseits nicht“, weil es als „Gesetztes“, als „von Menschen Herkommendes“ stärker in Zweifel gezogen, von einzelnen Adressaten ignoriert wird, weil, genereller gesagt, Rechtsgesetze von geringerer Verbindlichkeit sind. Die Beschreibung des grundlegenden Unterschieds gipfelt in dem Satz: „In der Natur ist die höchste Wahrheit, dass ein Gesetz überhaupt ist: in den Gesetzen des Rechts gilt die Sache nicht weil sie ist, sondern jeder fordert, sie solle seinem eigenen Kriterium entsprechen.“630 Die eine ist längst „fertige“ Natur mit ebenfalls längst „fertigen“ Gesetzen, als der Mensch auf den Plan tritt. Die andere, von ihm selbst geschaffene Natur ist im Aufbau befindlich, und fraglich ist, ob sie je „fertig“ wird. Hoch dynamisch wie sie ist, haben ihre Gesetze ein ungleich kürzeres Verfallsdatum. Wie alles in dieser Natur beruhen auch sie auf „Formierung“ und „Anerkennung“; sie werden also nach Regeln hergestellt, denen auch die Herstellung der profanen „Dinge“ folgt. Ein wei628 Siehe dazu: SchW 2, S. 584. 629 R/Vorrede, S. 16. 630 Ebd.

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terer Unterschied ergibt sich daraus, dass in der „primären“ Natur die Gattung im Mittelpunkt steht, hier aber das Atom. Gemeinsam aber ist beiden Arten „Gesetz“: Sie gehören zum Sein; sie gehören zur Substanz ihrer jeweiligen Natur.631 Die Aneignung der „primären“ Natur macht konzertiertes, optimal aufeinander abgestimmtes Handeln notwendig. Dies erfordert eine Ordnung, nach der die Akteure sich zu richten haben. Sie in die Welt zu setzen, sie zum „Gesetz“ zu erheben ist Aufgabe der Geschäftsführung dieser Natur, Aufgabe also des „Not- und Verstandesstaates“. Dieser erstellt sie für die Natur und damit für ihre handelnden Atome. Eine Einschränkung der subjektiven Rechte ist damit nicht verbunden. Wie W. Metzger bereits vor 100 Jahren zutreffend formuliert hat: Beschränkt werden diese nur „um deswillen, um die Gesamtsumme der Machtentfaltung – namentlich der Welt der ‚Objekte‘, der rechtlosen ‚Natur‘ gegenüber! – so hoch als möglich zu steigern.“632 Das „Setzen“ bedeutet, dass ein „aufgegriffenes“ und „begriffenes“ Wesen in die Existenz herausgestellt wird.633 Es überführt das „gestaltlose“ Recht „in die Form des Gesetzes“.634 Ein Form-Inhalt-Problem635, das die Qualität unberührt lässt. Das „abstrakte“, also „gestaltlose“, Recht gewinnt dadurch seine Gestalt, wie die „produzierte“ Natur in der bürgerlichen Gesellschaft die ihre findet. „Was Recht ist, erhält erst damit, dass es zum Gesetze wird, nicht nur die Form seiner Allgemeinheit, sondern seine wahrhafte Bestimmtheit.“636 Erst jetzt und hier wird es greifbar, wird es verbindlich, wird es exekutierbar. Das „Setzen“ setzt das Erfassen des Wesens voraus, verweist also auf die Rechtswissenschaft, die dem Gesetzgeber entsprechende Hilfestellung zu leisten hat. Im Übrigen erfolgt es von Nation zu Nation in sehr unterschiedlicher Weise, wenn man z.B. an das englische „Fallrecht“637 denkt. Aber wie auch immer es „gesetzt“ wird: 631 Ein Rückblick auf die DDR: Dort wurde ab Mitte der 60er-Jahre diskutiert, ob es ausreicht, das Recht (gemäß Marx/Engels) als bloße „Überbauerscheinung“ anzusehen. Hat es daneben auch „Basischarakter“?, wurde gefragt. Hintergrund der Diskussion war das dringende Bedürfnis besonders der Wirtschaft, nicht bloß einem Recht zu unterliegen, das als reines Instrument der Parteipolitik fungierte. 632 Metzger, a.a.O., S. 242. 633 Vgl. L(W), S. 102. Also ein Thema der „Wesenslogik“ – worauf v. Bogdandy (a.a.O., S. 76) hinweist. 634 § 119 R. 635 Vgl. dazu: W.R. Beyer, Normprobleme, a.a.O., S. 561–580. 636 § 211/A R – Hervorhebung durch H. Die Betonung von „Form“ soll sagen, dass mit dem „Setzen“ nicht nur eine Form zu einem bereits vorhandenen Inhalt hinzukommt, sondern dass diese Form, dieses „Setzen“ zur Qualität („Bestimmtheit“) Recht dazugehört. Dazu auch: NR, S. 516. 637 In § 211/A R gibt Hegel dem gesetzten Recht den Vorzug vor einem Gewohnheitsrecht und noch mehr vor dem Fallrecht englischer Art.

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Basis des Rechts ist die jetzige Unfreiheit und die jetzige Rechtlosigkeit der anderen Natur. Nur insoweit, wie die „primäre“ Natur zu Eigentum umgearbeitet, also zum Teil der „produzierten“ Natur geworden ist, steht sie unter deren Schutz. Soweit sie aber „herrenlos“ ist bzw. so angesehen wird, ist sie bloßes Objekt. Gegen den Anspruch des Naturrechts, universell und unabhängig von den ökonomischen, kulturellen, ethnischen u.a. Gegebenheiten gültig zu sein, wendet Hegel ein, dass das Recht als etwas Praktisches immer auf die konkreten Bedürfnisse der jeweiligen zum Staat verfassten Nation zugearbeitet sein muss. Es muss schwedisches, englisches, französisches oder deutsches Recht sein. Es zu schaffen ist Aufgabe des „Not- und Verstandesstaates“. Selbst das wichtigste Rechtsinstitut, der Vertrag, ist nicht frei von solch nationaler Prägung, wenn auch die Bestandteile an ihm, die „fest“ sind (z.B. die Regelungen zum Zustandekommen, zum Inhalt, zur Erfüllung bzw. Nichterfüllung) sich als Grundelemente in allen nationalen Rechtsordnungen wiederfinden. Beispielhaft verweist Hegel auf den „besonderen Nationalcharakter eines Volkes“, auf die „Stufe seiner geschichtlichen Entwicklung“, auf den „Zusammenhang aller der Verhältnisse, die der Naturentwicklung angehören“. Nationale Besonderheiten aller Art prägen daher das gesetzte Recht sowie die Art und Weise, wie es „gesetzt“ und wie es exekutiert wird. Die kritisierten Standpunkte ignorieren hingegen diese Erfordernisse der Praxis. Sie führen zu einem Recht, dem der Bezug zu all dem fehlt, was die konkrete, nationalstaatlich organisierte, bürgerliche Gesellschaft auf ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe kennzeichnet. Wie es Montesquieu vorgemacht hat: Die nationale Spezifik hat in die „Setzung“ einzufließen. Als „gesetztes“, als zum „Gesetz“ gemachtes, Recht ist Recht konkretes nationales Recht. Das Recht als „Freiheitsausübungsordnung“ bezieht sich auf das Innenleben einer Teilordnung. Daran ändert auch die Positivierung nichts. Das wird bereits deutlich, wenn es in § 217 heißt, dass das „Recht an sich zum Gesetze wird.“638 Und im „Zusatz“ etwas ausführlicher: „Das Gesetz ist das Recht, als das gesetzt, was es an sich war.“ Hegel benutzt ein Bild, um es deutlich zu machen: „Ich besitze etwas, habe ein Eigentum, das ich als herrenlos ergriffen habe: dies muss nun noch als das meinige anerkannt und gesetzt werden.“ Es ist also eine Illusion zu glauben, dass das „abstrakte“ Recht im Zuge der „Setzung“ seine Qualität in Richtung auf eine „Versittlichung“ verändert, dass es nur ein Moment des fertigen Rechts sei, zu dem ein weiteres „Moment“ komplettierend hinzutritt.639 Diese Deutung ist die Folge 638 Hervorhebung bei H. 639 Ausgeprägt findet sich diese Auffassung bei J. Binder (Das System der Rechtsphilosophie Hegels, in: ders./Martin Busse/Karl Larenz, Einführung in Hegels Rechtsphilosophie, Berlin 1931, S. 56–94, hier S. 86) und K. Larenz (Hegel und das Privatrecht, in: Verhandlungen des zweiten Hegelkongresses vom 18. bis 21. Oktober 1931 in Berlin, Tübingen 1932, S. 135–148).

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dessen, dass die bürgerliche Gesellschaft als ein „Gemeinwesen“640 angesehen wird, d.h. als das sittliche „Ganze“. Wäre das der Fall, wäre das ja auch schlüssig gedacht. Dann müsste das dortige „Setzen“ zu einer Versittlichung des bis dahin „abstrakten“ Rechts führen. Dagegen spricht aber, dass die bürgerliche Gesellschaft, wie wir noch genauer zeigen werden, nur bedingt „sittlich“ ist und sie auf keinen Fall die ihr ja nur über das untergründige Wirken des „gestaltlos“ gewordenen Gemeinwesens aufgedrängte Sittlichkeit an das Recht „weitergeben“ kann.641 Im Übrigen sagt es Hegel deutlich genug: Gesichtspunkte der „Billigkeit“, „moralische Rücksichten“ passen nicht zu diesem Recht; sie tun ihm „Abbruch“.642 Ein „Billigkeitsgerichtshof“ verstieße gegen die seine Grundsätze. Das „abstrakte Recht“ bleibt also abstrakt. Wie T. Litt zutreffend formuliert: „Es heißt so, weil seine Bestimmungen den Menschen nur als das vollkommen ‚abstrakte Subjekt‘ – Hegel sagt: als Person erfassen.“643 Und daran ändert die „Setzung“ nichts. Das „Setzen“ überführt das Recht in ein handhabbares Instrument. Es macht seine Besonderheit gegenüber der Sittlichkeit sichtbar und wirksam, die ja gerade auch darin besteht, dass die früher über „Blut und Boden“ verinnerlichte und gegenwärtig gemachte Rechte- und Pflichtenlage aus ihrem natürlichen Zusammenhang herausgerissen und verteilt wird auf „Recht“ hier und „Moralität“ dort. Das „Gesetztsein“ soll gerade die Bedeutung jener Masse verstärken, die jetzt als „Recht“ aus der vorherigen einheitlichen Sittlichkeit herausgehoben ist. Nimmt man die bisherige Sittlichkeit für „ius“, so ist das jetzige, das „gesetzte“ Recht das „ius strictum“. Hegel zeigt die Ergänzung, die das Recht durch die „Setzung“ erfährt, über einen Vergleich. „Ungesetztes“ und „gesetztes“ Recht, sagt er, sind nicht „entgegengesetzt und widerstreitend“, sondern stehen „vielmehr im Verhältnis von Institutionen zu Pandekten.“644 Das „gesetzte“ Recht bleibt auf die Belange der „produzierten“ Natur fixiert. Es bleibt das der „primären“ Natur Entgegengesetzte.645 Das hat der Gesetzgeber im Auge zu behalten. Soll die Aneignung der „primären“ Natur eine konzertierte Aktion sein, muss ausgeschlossen werden, dass ihre Akteure sich kannibalisieren. Maßstab ihres Handelns muss der Zweck der „produzierten“ Natur sein. Aneignung 640 Als „Gemeinschaft“, ab 1933 gar als eine „völkische“ – besonders von Larenz (s. dazu B. Rettig, a.a.O., S. 275 ff.). 641 Wie noch zu zeigen ist: Die bürgerliche Gesellschaft wird also nicht durch das gesetzte Naturrecht versittlicht, sondern gewinnt, wie wir noch sehen werden, Kontakt zur Sittlichkeit nur über das Wirken der „unsichtbaren Hand“. (Dazu ausführlich im Teil 4.) 642 § 223/A R. 643 Litt, a.a.O., S. 110. 644 § 3/A R. 645 Vgl. dazu DS, S. 21.

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der Gegen-Natur – ja, Aneignung auf Kosten anderer Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft – nein. Es bleibt also bei der Pflichtlosigkeit der „primären“ Natur gegenüber. Es bleibt Recht, dessen hauptsächlicher Gegenstand die gesellschaftsinternen Austausch- und Verteilungsvorgänge sind, es bleibt dabei, dass es nur „ein Gemeinsames der Willkür und des besonderen Willes“646 ist. Entgegenstehende Annahmen Binders und Larenz’, die sich – wie wir bereits sahen – aus der fehlerhaften Beurteilung der hegelschen Vertragslehre ergeben, sind daher irrig, haben sich aber bis heute erhalten. Beide unterliegen einem doppelten Irrtum. Einmal glauben sie, dass die Konkretisierung des „abstrakten“ Rechts durch „Setzung“ dessen Qualität zum „Sittlichen“ hin verändert, obwohl dadurch nur dessen Aggregatzustand geändert wird. Zum anderen unterliegen sie, wie wir schon oben gesehen haben, dem Irrtum, dass der von ihnen im „abstrakten Recht“ vermisste, aber in so gut wie allen modernen Kodifikationen des Privatrechts bekannte, schuldrechtliche Vertrag erst durch die „Setzung“ ins Leben tritt – für sie ein Hinweis darauf, dass das abstrakte Recht Hegels durch diese Ergänzung sowohl versittlicht als auch konkretisiert wird. Was die Gesetzgebung im Verein mit der Judikative leistet ist die Objektivierung der subjektiven Auffassungen der Atome der bürgerlichen Gesellschaft von dem, was „rechtens“ ist. Dies im Sinne des bereits besprochenen kantischen „allgemeinen Rechtsgesetzes“, eine Ordnung in den wechselseitigen Vollzug der Willkürfreiheit zu bringen – ein eminent praktisches Bedürfnis, wie jeder Richter und jeder Rechtsanwalt weiß. Da die „Vermittlung“ der Naturen auf der Ebene des politischen Staates erfolgt, würde sich die Qualität des gesetzten Rechts nur ändern, wenn er die „Setzung“ vornimmt. Das ist nicht der Fall. Das private Recht wird nicht von ihm gesetzt, sondern von der Geschäftsführung der bürgerlichen Gesellschaft, also vom „Not- und Verstandesstaat“. Was dabei entsteht, ist nicht dessen Recht, sondern das subjektive Recht der Atome. Hegels Zuordnung der Gesetzgebung und der Rechtspflege zur bürgerlichen Gesellschaft ist also kein „Versehen“647. Das „abstrakte“ Recht ist schließlich Derivat der „produzierten“ Natur. Und so wie diese als „bürgerliche Gesellschaft“ Gestalt gewinnt, muss auch das „abstrakte Recht“ auf dieser Ebene zur Gestalt gebracht werden.

646 § 82 R. 647 Wie A.A. Piontkowski, a.a.O., S. 295 annimmt – und mit dieser Annahme nicht alleinsteht.

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Teil 2 – Zum Recht

7.3 Die Alternative: Ein Recht beider Naturen

Soll die Philosophie zur Wissenschaft werden, muss sie als „System“ aufgefasst werden.648 Und analog: Soll die Jurisprudenz zur Wissenschaft werden, muss sie das Recht als „System“ sehen – und zwar als System jener zwei Rechte, die erst in ihrer Einheit das „menschliche“ Recht ergeben. Bereits in den einleitenden Paragrafen sowohl der „Rechtsphilosophie“ als auch zum „objektiven Geist“ der „Enzyklopädie“ stellt Hegel deshalb klar, dass das von ihm gemeinte Recht sich „nicht nur als das beschränkte juristische Recht“ versteht, „sondern als das Dasein aller Bestimmungen der Freiheit umfassend zu nehmen ist.“649 Wie die „Wahrheit“ der beiden Naturen nur erfasst werden kann, wenn sie als System Natur betrachtet werden, so auch hier: Die „Wahrheit“ des Rechts, hält er sowohl dem scheinphilosophischen Ansatz des Naturrechts als auch dem rein positivistischen Ansatz Savignys und seiner Schule entgegen, erschließt sich erst, wenn es als die Einheit zweier Rechte gesehen wird. Dies vorausgeschickt, wendet er sich dem „abstrakten Recht“ zu, jenem Recht also, das Derivat des Teilsystems „produzierte“ Natur ist. Von daher wird es Hegel, wichtiger noch: der Sache selbst, nicht gerecht, wenn man hier stehenbleibt, wenn man gerade diesen Teil als das eigentlich Bleibende und Gültige heraushebt, jenen aber, der sich um den Staat rankt und eine Einschränkung dessen enthält, was gemeinhin unter „Recht“ und „Rechtsstaatlichkeit“ verstanden wird, als weniger wissenschaftlichen denn Opportunitätsgründen verpflichteten Teil meint abqualifizieren zu können.650 Vielmehr gilt: Erst hier, beim Staat, ist der Begriff des Rechts erschlossen. Philosophisch gesehen: Hegel beginnt mit „Recht“ hier und „Moralität“ dort, d.h. mit den Resultaten der einfachen Negation. Damit ist der Prozess jedoch erst in die „Halbzeit“ eingetreten. Die zweite Hälfte, die „Negation der Negation“ steht noch aus. Sie führt zurück zum „Ganzen“, jedoch unter Erhalt der beiden „Entgegengesetzten“. Im Zusatz zu § 408 E verdeutlicht er sein Vorgehen und stellt klar, dass ein Verbleiben beim „abstrakten“ Recht hier, bei einer „abstrakten“ Moralität dort hieße, in einem Krankheitszustand zu verharren. Wer das übersieht, wer den „Fortgang“ der stattfindenden Aufhebung ignoriert, kann Hegel eigentlich nur missverstehen. Für den ergibt sich: Nach den „liberal“ abgefassten Teilen eins und

648 Vgl. Phän, S. 14. 649 § 486 E. Eine ähnliche Aussage enthält § 33/Z R. Hegel macht also von vornherein deutlich, dass er einen Rechtsbegriff im Blick hat, der weiter gespannt ist als der des „abstrakten Rechts“. 650 Für eine solche „Lesart“ steht K.-H. Ilting (z.B. in: Zur Dialektik, a.a.O.). Ihm ist sein Beitrag hoch anzurechnen, Hegel über die Betonung des „liberalen Hegel“ überhaupt „im Gespräch“ zu halten. An dessen Verfälschung vermag das objektiv nichts zu ändern.

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zwei folgt ein „konservativ-rückwärtsgewandter“ dritter Teil.651 Aber wer so urteilt, zeigt eigentlich nur, dass er von Hegel, mehr noch: von der Dialektik, wenig verstanden hat. Die Überbetonung der Teile (des einen oder des anderen), das Stehenbleiben bei ihnen oder die Überbetonung des Ganzen führt, in die Praxis umgesetzt, zu Verzerrungen, zu totalitärem Liberalismus oder zu totalitärem Etatismus.652 Der „Krankheitszustand“ ist ein „Ungerechtigkeitszustand“. Unter diesem Gesichtspunkt handelt Hegel das Thema in der „Phänomenologie“ ab. „Gerechtigkeit“ heißt für ihn Gleichheit der Naturen. Denn das „Ganze“ ist das ruhige Gleichgewicht seiner Teile. Keines darf sich absolut setzen, keines darf „seine Befriedigung … jenseits seiner“ Natur suchen.653 Jetzt aber hat sich das „sittliche Wesen … in zwei Gesetze gespalten“, gleichzeitig aber ist das Bewusstsein „nur einem“ dieser Gesetze „zugeteilt“654. Das ist eine „Verkehrung“ des Inhalts des Sittlichen655, aus der die Aufgabe erwächst, die sich schon damals abzeichnende, in unserer Zeit ins Ungeheure gesteigerte Ungleichheit der Naturen zu Gunsten der „primären“ Natur zu korrigieren. Anders gesagt: Das „System“ wacht über das „sittliche Wesen“. Und der Institution „Staat“ obliegt es, es zu retten bzw. wiederherzustellen. Sie sagt dem Jüngling „produzierte“ Natur, „dass er … der Natur, der er sich entriss, noch angehöre“, dass diese Natur sein Bruder „mit gleichem Rechte“ ist.656 Das „abstrakte Recht“ ist für Hegel das Vollzugsinstrument der „Willkür-Freiheit“, d.h. ein einseitiges, vom Ganzen und von der Sittlichkeit separiertes, pflichtloses Recht. Wie diese Freiheit geht es daher auf Kosten der anderen Natur. „Gegenseitigkeit“ herrscht nur in den Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft, also dort, wo es um den Austausch des bereits Angeeigneten geht. Diesem unvernünftigen Zustand setzt Hegel eine vernünftige Freiheit entgegen, die die Befreiung von der „primären“ Natur zwar bestätigt, sie aber andererseits relativiert. Statt einer Freiheit, die zerstört, eine solche, die das Überleben ermöglicht. Eine Freiheit, die anerkennt, 651 Wie es bei W. Maihofer (a.a.O.) gut dargestellt ist: Mit Argumenten dieser und ähnlicher Art musste sich Hegel bereits zu Lebzeiten herumschlagen, aber mehr noch schossen sie nach seinem Tode in dem Maße ins Kraut, wie die Zeiten vom philosophischen und rechtswissenschaftlichen Positivismus geprägt wurden. 652 Die deutsche Geschichte, auch die jüngere, ist ein Lehrstück solcher Verzerrungen: Sowohl der bundesdeutsche Staat als auch der Staat der untergegangenen DDR waren (und sind) solche, je nach der entgegengesetzten Seite, „verzerrten“, aus der Sicht Hegels deshalb insoweit „unwirklichen“ Staaten. 653 Phän, S. 340. 654 Ebd., S. 345. 655 Ebd. 656 Ebd., S. 350. Verkannt ist daher Hegel, wenn es bei V. Hösle (a.a.O., S. 70) heißt: „Hegel ist daher – wie auch Fichte – der Ansicht, dass nur Menschen … Rechte haben und dass die Natur ihnen gegenüber rechtlos ist.“

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dass auch die „primäre“ Natur Rechte hat; Rechte, die auf der anderen Seite Pflichten begründen. Überwindung des „abstrakten“, pflichtlosen Rechts und Wiederherstellung der Einheit von Recht und Pflicht durch Aufnahme auch der „primären“ Natur in den Rechtsbegriff. Darum also geht es ihm. Wie aber werden die Rechte der „primären“ Natur bzw. die Pflichten ihr gegenüber verwirklicht? Eine Antwort gibt uns Hegel in § 33/Z R. Er weist dort darauf hin, dass als Recht „nicht bloß das bürgerliche Recht“ zu verstehen ist, sondern ebenso „Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte“. Letztere bilden zusammen mit dem bürgerlichen Recht das System „Recht“. Und nur dieses System „Recht“ ist menschliches Recht, wie Hegel in der Phänomenologie betont. Es wird dazu, weil das „aus dem Gleichgewicht tretende Fürsichsein“ der „produzierten“ Natur auf die Möglichkeiten und Notwendigkeiten des „Allgemeinen“ zurückgeschraubt wird.657 Eingeschlossen in diesem „System“: der Staat, von dem Hegel im gleichen Zusammenhang sagt, dass dessen Recht „höher als andere Stufen“ steht. Der Staat begegnet uns in einer Doppelrolle. Als „Not- und Verstandesstaat“ formuliert er die Naturgesetze der „produzierten“ Natur und wird so als Gesetzgeber für diese Natur und ihre Mitglieder tätig. Im Rahmen der „Rechtspflege“ übernimmt er es, ihr Recht zu setzen und zu exekutieren. Dieses Recht bezieht sich auf das „Substantielle“ dieser Natur und ist das, was wir als „Privatrecht“ kennen. Im Unterschied dazu ist der sittliche Staat institutionalisierte Einheit beider Naturen. Als solcher ist er Sachwalter auch der Interessen der anderen Natur und übersetzt die Pflicht ihr gegenüber in die Sprache, die die andere Seite versteht: in Recht. Dieses Recht ist also nicht Recht für, sondern gegen die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft; es fixiert, wie Hegel in § 261 R deutlich macht, „meine Verbindlichkeit gegen das Substantielle“ der anderen Natur. Und insoweit, als dieser Staat, darauf macht W. Schild658 aufmerksam, ist er „Recht“; Recht, mit dem die Pflicht gegenüber der anderen Natur eingefordert wird. „Das abstrakte Recht“ und die „Moralität“ der „Rechtsphilosophie“ dienen Hegel dazu, die logischen Substrate des modernen Menschen zu zeigen: „Person“, „Subjekt“ und „Idee“.659 Hier aber, im dritten Teil, wendet er sich der Frage zu, wie es nun auf „vernünftige“ Weise weitergeht. Der hier vorherrschende Begriff ist der der Pflicht. Während aber bisher galt: „[i]m abstrakten Recht habe Ich das Recht und 657 Phän, S. 340. 658 W. Schild: Naturrecht bei Hegel, in: J. Eisfeld/M. Otto/L. Pahlow/M. Zwanzger (Hrsg.), Naturrecht und Staat in der Neuzeit. Diethelm Klippel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2013, S. 365. 659 Diesen Aspekt sehe ich besonders bei H.-G. Flickinger („Das abstrakte Recht“. Hegels Kritik des bürgerlichen Rechtsbegriffs, ARSP 62 [1976], S. 527–547) herausgearbeitet.

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ein anderer die Pflicht gegen dasselbe“660 und der Begriff für einen Zustand stand, der den Austausch der Produzenten untereinander bzw. die Korrelation Recht und Pflicht innerhalb der „produzierten“ Natur beschreibt, stellt er jetzt den Zustand einer „Identität des allgemeinen und besonderen Willens“ in die Mitte, in dem „Pflicht und Recht in Eins“661 gesetzt sind. Alle Aneignung der „primären“ Natur, jeder Eingriff in sie berührt auch den Menschen aus Fleisch und Blut, berührt und verringert seine Substanz ebenso wie die der ausgebeuteten Natur. Darum ist die hier, über den Staat, geltend gemachte Pflicht eine solche der verpflichteten Person gegen sich selbst als Menschen. Und „deshalb fallen im Staat (und erst in ihm) Recht und Pflicht zusammen“662. Es gilt, die Schöpfung zu bewahren. Der „absolute Endzweck“663. Er aber ist in akuter Gefahr, wenn die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft nur für ihr eigenes Wohl sorgen. Im Vordergrund hat aber das „Wohl von allgemeiner Bestimmung“664 zu stehen – was nur erreicht wird, wenn es Pflicht ist, auch das Wohl der „primären“ Natur zu sichern. Eine Pflicht, die nicht bloß dem „Gewissen“ überantwortet werden darf, weil das – wie Hegel in seiner Polemik gegen Kant herausstellt – auf eine „Rednerei von der Pflicht“665 hinausläuft. Die Geschichte führt von einer Weise der „Einheit“ (vom „naturwüchsigen Gemeinwesen“, von der „naturwüchsigen Sittlichkeit“) über die „Differenz“ zur Einheit auf Basis „Vernunft“. Ein Weg, den sie laut N. Luhmann im „Zweischrittverfahren“ zurücklegt. Der erste Schritt, der Schritt zu einem „abstrakten“, auf die Belange nur der „produzierten“ Natur und ihrer Atome ausgerichteten Recht ist getan. Zu ihm gehört auch anzuerkennen, dass dieses Recht ein Gegenüber hat, das Recht der „primären“ Natur. Es muss mitgedacht werden, wenn der noch ausstehende zweite Schritt in den Blick kommen soll. Denn erst dieser führt uns auf die Ebene des „Ganzen“, mithin auf die Ebene der Vermittlung. Um ihn zu gehen, muss, so Hegel, so Luhmann, der jetzige Zustand als ein Schein, als eine Schein-Einheit erkannt werden und durch eine echte Einheit, durch die Einheit von subjektivem Recht und subjektiver Pflicht, ersetzt werden. Also Vermittlung der jetzigen „Gegenüber“ in der „Sittlichkeit“. Das jetzt auf der Tagesordnung stehende Gemeinwesen unterscheidet sich vom negierten „naturwüchsigen“ dadurch, dass die Resultate der „Scheidung“ erhalten bleiben. Sie bleiben „anerkannt“ – jedoch als „relative“ Totalitäten. „Naturrecht 660 § 155 R. 661 Ebd. 662 M. Pawlik, a.a.O., S. 196. 663 § 129 R. 664 § 134 665 §135/A/Z R.

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bei Hegel“, formuliert H. Ottmann, „das heißt … Rückkehr zur ethischen Politik, Rückkehr zur Einheit von Recht, Moral und Politik, Rückkehr zur Lehre vom Menschen als einem politischen Wesen, dessen Natur sich erst in sittlichen Institutionen aktualisiert.“666 Die „Rückkehr“, die er meint, reaktiviert nicht feudale Zustände, sondern ist nach vorne gerichtet; sie meint das „vernünftige“ Gemeinwesen. Totalität ja, aber eine „relative“ – woraus sich ergibt: Jede der Naturen hat Rechte und Pflichten gegenüber der anderen. Jeder Teil ist Rechtsobjekt und Rechtssubjekt zugleich. Das setzt ihre Gleichheit voraus. Sie herzustellen macht es notwendig, die Rechte der „produzierten“ Natur bzw. ihrer Mitglieder auf ein naturverträgliches Maß zu beschränken. Das ist Aufgabe des Staates; tut er das, ist er ein Staat von ganz anderer Qualität als der bloße „Gesellschaftsstaat“. Verständlich daher, dass ihm von diesem, wie von der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Nutznießern überhaupt, Widerstand entgegengesetzt wird. Schon Fichte und Schelling sahen es: Bei der „Entzweiung“ kann es nicht bleiben. Alle Schönrederei verdeckt nicht, dass dem daraus folgenden gesellschaftlichen und staatlichen Zustand keine Dauer beschieden sein kann. Verschieden aber die Wege, die sie, 50 Jahre später dann auch Marx, einerseits und Hegel andererseits beschreiten, um ihn zu überwinden. Nehmen wir Marx: Sein Weg vom jetzigen „völlige[n] Verlust des Menschen“ und dem völligen Verlust des auf „Blut und Boden“ beruhenden „naturwüchsigen Gemeinwesens“ zur „völligen Wiedergewinnung des Menschen“667 führt zu einer „menschlich“ umgestalteten Gesellschaft, auf deren Boden der bisher geteilte Mensch „wiedervereinigt“ werden soll. Gewiss, ein schönes Ziel, das er da anstrebt. Ähnlich schön wie 50 Jahre vorher die Ambition des jungen Schelling, beide Naturen auf dem Boden der „primären“ Natur wiedervereinigen zu wollen. Aber wie diese wiedervereinigte Natur, in die Praxis überführt, eine ÖkoDiktatur ergäbe, so geht der marxsche Versuch zum einen auf Kosten der „primären“ Natur668 und führt zum anderen zu der „unwahren“ Staatsform „Diktatur des Proletariats“. Hegel geht anders vor. Die „Entzweiung“ bleibt anerkannt, da sie zum „Schicksal“ des Menschen gehört. Trotzdem sieht er ihr nicht tatenlos zu, sondern relativiert den „Verlust des Menschen“, indem er die „Entzweiung“ relativiert. Er sieht den Ausweg in der Vernunft sowie in vernünftigen Institutionen, über die der jetzt notwendige „historische Kompromiss“ der Naturen exekutiert wird. Wo Marx auf die proletarische Revolution und auf die Abschaffung des Staates setzt, setzt Hegel auf den „Vernunftstaat“. 666 H. Ottmann, Das Recht der Natur, a.a.O., S. 2. 667 MEW 1, S. 390. 668 Erinnert insoweit theoretisch und praktisch an Fichte und dessen „geschlossenen Handelsstaat“!

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Ist mit der „Entzweiung“ ein Endpunkt oder bloß ein Durchgangspunkt erreicht? Ist die „Aufhebung“ abgeschlossen oder macht sie bloß eine Pause? Für die einen macht die Geschichte einen Satz nach vorn, während Hegel den „Geländegewinn“, den sie erzielt, den „Ruck“, den sie macht, aufgrund seiner dialektischen Betrachtung nüchterner und im Ergebnis weit geringer veranschlagt – für viele ein Hauptgrund, ihn als einen Reaktionär anzusehen. „Negiert“ sind bloß der Mensch (Ebene der Einzelheit) und das „naturwüchsige“ Gemeinwesen (Ebene der Allgemeinheit). Aber beide leben ja „gestaltlos“ fort und harren darauf, in die „Vernunftgestalt“ überführt zu werden. Der Weg zu ihr führt über die Relativierung sowohl des „abstrakten“ Rechts als auch der „abstrakten“ Moralität. Über ein „objektives Recht“, fixiert im „Konstitut“ des „Vernunftstaates“, werden die subjektiven Rechte der einen Natur eingeschränkt, soweit diese den Bestand der anderen Natur gefährden. Das „Recht des subjektiven Willens“ wird mit dem „Recht der Welt“ ins Verhältnis gesetzt.669 Ein Gewinn für die „primäre“ Natur, denn ihre Rechtlosigkeit wird damit beendet. Die „Einheit und Wahrheit“670 ist gefunden; der Ausweg aus der Sackgasse Recht hier – Rechtlosigkeit dort. Die bislang dem „Gewissen“ überantwortete Pflicht dieser Natur gegenüber ist damit an das „Ganze“ rückübertragen und wird von dorther verbindlich gemacht und exekutiert. Im Ergebnis werden beide, das „abstrakte Recht“ und die „abstrakte Moralität“, „versittlicht“671. Das alles ist in den §§ 148 ff. R näher erläutert. Auf den Kern reduziert ist dort ausgesagt: Über den Staat als „Recht“ wird die Pflicht der „primären“ Natur gegenüber verbindlich gemacht. Dem Recht, das in der „produzierten“ Natur wurzelt, wird ein „Gegenrecht“ entgegengesetzt, auf dessen Grundlage diese Pflicht exekutiert wird. Da Sachwalter ihrer Interessen der Staat ist, tritt es in der Gestalt eines „einseitigen“, scheinbar öffentlichen Rechts auf. Aber auch hier ist nicht der Staat selbst dessen „Inhaber“. Es ist vielmehr das subjektive Recht der „primären“ Natur. Um Missverständnissen vorzubeugen, weist Fulda deswegen darauf hin, dass die vielfach missverstandene Überschrift „Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse“ nur richtig verstanden wird, wenn man sie als „zweierlei Naturrecht 669 § 33 R. 670 Ebd. 671 Aber wie schon gezeigt: Gerade deswegen wurde und wird Hegel mit Vorwürfen überhäuft – bis hin zum Vorwurf der „moralischen Perversion“ (Tugendhat). Und weshalb? Weil Hegel die zur reinen Gewissensfrage gemachte Pflicht zur Natur relativiert zu Gunsten einer verbindlichen, institutionalisierten Pflicht ihr gegenüber. Er hat damals bereits erkannt, dass die Verlagerung der Pflicht in das Gewissen dazu führt, die Person gegenüber der „primären“ Natur zu „entpflichten“. Oder aus dem Blickwinkel der Natur gesehen: diese zu entrechten.

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(dasjenige des vorstaatlichen und das des staatlichen Zustandes) ... in einer einheitlichen Theorie“672 interpretiert. Da die „primäre“ Natur nicht selbst als Rechtssubjekt auftreten kann, wird sie vom Staat vertreten. Dessen Aufgabe ist es also, ihrem Recht Geltung zu verschaffen. Nur scheinbar ist dieses „zweite“ Recht „Staatsrecht“673; tatsächlich ist es das Privatrecht der „primären“ Natur. Die „primäre“ Natur nur als das Objekt der Ausbeutung zu sehen und zu behandeln macht unfrei. Daher ist es „Befreiung“, wenn der Mensch sich selbst als ihren Teil begreift. Und handelt er entsprechend, ist solches Handeln „nicht Beschränkung der Freiheit, sondern nur der Abstraktion derselben“. Es ist „Gelangen zum Wesen, das Gewinnen der affirmativen Freiheit.“674 Ohnehin nehme ich damit nur meine Pflicht jener Natur gegenüber wahr, der ich als Mensch angehöre. Die hier betonte Pflicht hat also nichts mit jener zu tun, die sich im Warenverkehr von Person zu Person ergibt. Es bleibt bei der „Scheidung“; sie ist unumkehrbar. Das Gegeneinander kann nicht beseitigt, aber es kann (und es muss) „vermittelt“ werden. Dazu muss der „primären“ Natur ihre Subjektivität zurückgegeben werden. Denn: Nicht Subjekt und Objekt stehen sich gegenüber, sondern zwei gleichberechtigte Subjekte.675 Das zu erkennen und anzuerkennen ist das Schwerste. Es erfordert eine Abkehr von dem Weltbild eines Descartes – auch von der bei Kant abgemilderten, aber nicht überwundenen Fassung676 desselben, denn darin ist die (Rechts-)Subjektivität nur 672 Ebd. Der tiefere Sinn der in § 258 R niedergelegten „höchsten Pflicht“ zum Staat ist also diese Pflicht zur Natur. 673 Anhand der Auseinandersetzung Hegels mit Savigny und mit Haller zeigt W. Jaeschke (Die Vernünftigkeit des Gesetzes, in: H.-C. Lucas/O. Pöggeler [Hrsg.], Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S.228 f. – mit Hinweis auf § 258/A R Fußnote, S. 230), was diese beiden eint: der „Hass des Gesetzes“. Der eine – Savigny – sehe im Zivilrecht das Recht schlechthin und „hasse“ daher das andere, das „Staatsrecht“. Haller, dem „ein verklärt gezeichneter mittelalterlicher Feudalismus“ vorschwebt, favorisiere dagegen das „Staatsrecht“ und „hasse“ das Zivilrecht. Diesen beiden „Hassern“ des Gesetzes stelle Hegel „die Behauptung der Vernünftigkeit …, ja der Göttlichkeit des Gesetzes … entgegen – übrigens unbestimmt des Rechtes, ohne Unterscheidung des Zivil- und Staatsrechtes.“ Damit verwirft Hegel die „Halbheit“ beider, die darin besteht, dass jeder der beiden eine der beiden Naturen favorisiert und damit deren Einheit verfehlt. 674 § 149/Z R. 675 Siehe dazu: H. Westholm, a.a.O., S. 108. 676 Siehe dazu Fulda, Hegel, a.a.O., S. 204. Rosenkranz (a.a.O., S. 87) weist darauf hin, dass Hegel sich bereits in Frankfurt intensiv mit der gerade erschienenen Rechts- und Tugendlehre Kants auseinandersetzt. „Er protestierte gegen die Unterdrückung der Natur bei Kant und gegen die Zerstückung des Menschen in die durch den Absolutismus des Pflichtbegriffs entstehende Kasuistik.“ Schon hier in Frankfurt strebte er danach, „die Legalität des positiven Rechts und die Moralität der sich selbst als gut oder böse

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der „produzierten“ Natur und ihrer Mitglieder festgeschrieben. Und eine noch ganz andere Frage ist es, diese Abkehr in praktische Konsequenzen einmünden zu lassen. Hilfe kann die „primäre“ Natur nur vom Staat erwarten. Nicht vom „Not- und Verstandesstaat“, sondern vom echten Staat, dem „Gemeinwesenstaat“. Seine moderne, erst herzustellende, Vernunftgestalt beruht auf einem „Konstitut“, in dem die Grundrechte bzw. die Grundpflichten beider Naturen abgesteckt sind. Zwei Gruppen von „Grundrechten“, die den Bestand beider Naturen garantieren sollen. „Freiheit“ bis dorthin – und nicht weiter. Der Staat exekutiert das Konstitut und schützt damit die „primäre“ Natur vor exzessiver Ausbeutung. Den Mitgliedern der „produzierten“ Natur steht er insoweit als Einschränkung ihres „abstrakten“ Rechts gegenüber. Hegel plädiert also für ein Verfassungsrecht, in dem die „Grundrechte“ beider Naturen zusammengeführt sind. Ein hochmoderner, hochaktueller Ansatz, der den Vorwurf der „Naturfeindlichkeit“ widerlegt, der seine „Rechtsphilosophie“ vom Tage ihres Erscheinens bis heute begleitet.677 Aus der Perspektive der „primären“ Natur: Der Staat sichert ihr Recht auf Bestand, schützt sie vor Nutzung über die Nachhaltigkeitsgrenze hinaus über das von ihm exekutierte „Gegenrecht“. Gäbe es ein solches Konstitut, wäre die heutige Lage, die ganz einseitig die Ausbeutung der „primären“ Natur sanktioniert, grundlegend zu Gunsten eines ausgewogenen Verhältnisses beider Seiten verändert. Hegels Blick reicht weiter, reicht über die Grenzen der einen Natur hinaus. Er zeigt, dass zum „Begriff“ erst gelangt, wer das vorhandene Recht als ein Recht zu sehen vermag, das zu allererst gegen die andere Natur gerichtet ist – und daher der Korrektur, der Ergänzung durch ein anderes Recht bedarf. Unter „Recht“ wird, zur Zeit Hegels mehr als heute, das Privatrecht, das Recht der „produzierten“ Natur, verstanden. Indem Hegel diesem Recht ein weiteres (Privat-)Recht zur Seite stellt, führt er die „primäre“ Natur aus ihrer Objektstellung heraus, zeigt, dass sie im Rahmen seiner „vernünftigen“ Einheitsnatur ebenfalls Subjekt und im Rahmen seiner vernünftigen Sittlichkeit ebenfalls Träger subjektiver Rechte ist.678

wissenden Innerlichkeit in einem höheren Begriffe zu vereinigen, den er in diesen Commentaren häufig schlechthin Leben, später Sittlichkeit nannte.“ 677 Er findet sich auch in der bereits zitierten Arbeit von V. Hösle (a.a.O., S. 70). Ein Satz, der dies besonders deutlich zeigt, lautet: „Hegel ist also – wie Fichte – der Ansicht, dass nur Menschen … Rechte haben und dass die Natur ihnen gegenüber rechtlos ist.“ 678 In diesem wichtigen Punkt ergänze und korrigiere ich meinen früher (Rettig, a.a.O., S. 387 ff.) vertretenen Standpunkt, der noch von der Existenz nur eines Rechtes, des gegen diese Natur gerichteten Privatrechts, ausging.

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Durch die beiden Rechte ist der Weg zum „Vernunftrecht“ vorgezeichnet. Im „Staatsgesetz“679 ist ihre Einheit hergestellt, ist dem Recht beider Naturen Genüge getan. Die Vernunft ist das Kriterium, ist der Korrektor. Aber gerade mit ihr tun wir uns schwer. Und sie ist auch das Schwerste. Wie viel einfacher ist es dagegen, sich auf die Seite bloß einer Natur zu stellen. Wie einfach gelangt man dann zur Harmonie. Ein „Halbes“ zum „Ganzen“ erklären – und schon lösen sich alle Schwierigkeiten, alle Antagonismen, die Hegel im Blick hat, in Luft auf – aber nur bis zu einem bitteren Ende.

679 Wie der junge Marx (MEW 1, S. 104) in diesem Zusammenhang formuliert.

8 Hegel zu „Rom“ und zum römischen Recht

8.1 „Rom“ ist ein Gemeinwesen – keine Gesellschaft. Und was folgt daraus?

Der eine, Savigny, sieht „Rom“ als „Gesellschaft“, der andere, Hegel, sieht es als „Gemeinwesen“680. Will man die Kluft verstehen, die sie trennt, muss man diese unterschiedliche, ja gegensätzliche Beurteilung ganz hoch veranschlagen. Bleiben wir bei Hegel und seinem Standpunkt: Die Stadtstaaten der griechischen Antike sind keine „Gesellschaften“. Und auch Rom ist keine solche. So sehr dieses auch gelitten hat: Grundlage Roms ist noch immer eine natürliche, richtiger: eine „naturwüchsige“, Sittlichkeit.681 Zwar ist die Scheidung der Naturen inzwischen weiter vorangekommen. Aber sie ist noch nicht vollzogen. Der Schwerpunkt liegt noch immer auf der „primären“ Natur; diese dominiert ihr Verhältnis; diese ist der bestimmende Teil682 der „Einheitsnatur“683. Oder so gesagt: „Rom“ ist und bleibt Teil der Vorgeschichte, der Geschichte der „naturwüchsigen Gemeinwesen“. Zwar sagt er, dass sich in „diesem Reiche ... die Unterscheidung zur unendlichen Zerreißung des sittlichen Lebens in die Extreme persönlichen privaten Selbstbewusstseins und abstrakter Allgemeinheit“684 vollbringt. Zwar sagt er, dass „Rom“ am Ende zu einer „geistlosen Einheit“ heruntergebracht ist, sich im Zustand „geistverlassener Objektivität“685 befindet, an Sittlichkeit eingebüßt hat und in die „matte 680 Savigny übersieht, was das „naturwüchsige Gemeinwesen“ von der „Gesellschaft“ trennt. Er steht aber damit nicht allein, da bis heute der Traditionsbegriff „Gesellschaft“, der insbesondere die klassischen Gemeinschaften der europäischen Antike und die heutige bürgerliche Gesellschaft über einen Kamm schert, den wissenschaftlichen, den konkrethistorischen Begriff überlagert. (Siehe dazu M. Riedel: Hegels „bürgerliche Gesellschaft“ und das Problem ihres geschichtlichen Ursprungs, ARSP 48 (1962), S. 539–566.) Dass auch das Werk von K. Marx nicht frei von dieser Gleichsetzung ist, ist bereits gezeigt worden – vgl. dazu: Arndt/Lefèvre, a.a.O., S. 11. 681 Abgesehen vom Bereich „Austausch“ ist der römische Mensch in ein dichtes Netz außerrechtlicher, d.h. „sittlicher“ Bindungen „versponnen, von dessen Dichtigkeit und Festigkeit sich der isolierte Mensch der modernen Gesellschaft nur schwer die rechte Vorstellung machen kann.“ (F. Schulz: Prinzipien des römischen Rechts. Vorlesungen, München u. Leipzig 1934, S. 15.) 682 Das „Leitende“, wie M. Riedel (Bürgerliche Gesellschaft, a.a.O., S. 15) im Anschluss an Aristoteles formuliert. 683 Dieser „Einheitsnatur“ entspricht die „Schluss“-Figur logische Idee – Natur – Geist. 684 § 357 R. 685 § 353 R.

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Gleichgültigkeit des Privatlebens“686 gefallen ist. Aber Hegel übertreibt.687 Und er stößt dort auf seine Übertreibungen, wo er, besonders unter dem Stichwort „Familie“, die „Ungereimtheiten“, die „Inkonsequenz des Unsittlichen“688 zur Sprache bringt, die sich daraus ergeben, dass der Zerfall des römischen Gemeinwesens und seiner Sittlichkeit nicht weit genug gehen, dass Sitte und Recht dort bis zum Ende im Widerstreit liegen. Savigny hat daher recht, wenn er, ihn tadelnd, auf solche Übertreibungen hinweist.689 Nur ein Teilbereich, der des Warenverkehrs, wird vollständig vom Recht erobert. Nur dort wird der Zusammenhang, den „Blut“ und „Boden“ stiften, aufgelöst und ersetzt durch jenen von „Geld“ und „Vertrag“.690 Jedoch das Produzieren selbst verbleibt in der „Wirtschaftsfamilie“. Richtig aber ist: Das „naturwüchsige“, auf „Blut und Boden“ beruhende Gemeinwesen „Rom“ ist am Ende um seine gestaltende Kraft gebracht; es ist unterminiert und nicht mehr in der Lage, als „Ganzes“ zu agieren. Die Auslagerung des Produzierens aus der Familie steht vor der Tür, ist von den Produktionsverhältnissen her vorbereitet. Die unreifen Produktivkräfte aber stehen entgegen. Es bleibt beim Sklaven, weil die Arbeitskraft sich noch nicht deutlich genug als ein „Äußerliches“ und „Unorganisches“ vom Menschen separiert hat. Diesen entscheidenden Punkt, diesen Wendepunkt von „gemeinschaftlichen“ zu „gesellschaftlichen“ Verhältnissen, kann „Rom“ nicht überschreiten. Wie ein Fels steht seine Organisation nach dem Alles-oder-nichtsPrinzip im Wege und wird nun zur Falle. „Freier“ oder „Sklave“. F. Engels dazu: „Hier war die ausweglose Sackgasse, in der die römische Welt stak: Die Sklaverei war ökonomisch unmöglich, die Arbeit der Freien war moralisch geächtet. Die eine konnte nicht mehr, die andre noch nicht Grundform der gesellschaftlichen Produktion sein.“691 „Rom“ fehlt die Kraft, sich zu behaupten. Der hohe Grad an Zivilisa686 NR, S. 492. 687 W. Schönfeld: Puchta und Hegel, in: K. Larenz (Hrsg.), Rechtsidee und Staatsgedanke. Beiträge zur Rechtsphilosophie und zur politischen Ideengeschichte. Festgabe für Julius Binder, Berlin 1930, S. 28: Fällt die „härtesten und wohl auch übertriebensten Urteile“ über das römische Recht. 688 § 180/Z R. 689 Savigny, System 1, S. 350 f. 690 Auch Marx ist dieser Meinung. In den „Grundrissen“ (S. 157) hebt er hervor, dass das Recht sich in Rom „in bestimmtem Kreise“ herausbildet, nur dort, im Bereich des Austausches, kamen die „Bestimmungen der juristischen Person, eben des Individuums des Austausches“ zur Ausbildung. 691 Marx/Engels, AS II, S. 276: „ausweglose Sackgasse“. Die „Geldbeziehung“ wird auch in Rom nie so stark, dass sie die „Blut-und-Boden-Beziehungen“ insgesamt ablösen konnte. „Das bloße Dasein des Geldvermögens und selbst Gewinnung einer Art supremacy seinerseits“, schreibt Marx (GR, S. 405), „reicht keineswegs dazu hin, dass jene Auflösung in Kapital geschehe. Sonst hätte das alte Rom, Byzanz etc. mit freier

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tion nützt nichts: Es geht unter, wird Beute unterentwickelter Völkerschaften, die ihm jedoch eines voraus haben: ein noch kraftvolles Gemeinwesen. In Rom gehören Produktion und Austausch unterschiedlichen Ebenen an. Das noch „gemeinschaftliche“ Produzieren in der „Wirtschaftsfamilie“ und überwiegend für den „Hausgebrauch“ steht einem „gesellschaftlichen“ Austausch gegenüber. Eine unsichtbare Wand und schroffe Gegensätze trennen sie. Die Folge für das Recht: Es konstituiert sich auf der Basis dieser nur um den Austausch zentrierten vorbürgerlichen Gesellschaft. Was ihm fehlt, ist die Rückkopplung zum Produzieren, zur anderen Welt, zur Aneignung. In der Mitte steht das fertige, austauschbereite Produkt. Ein Recht kommt auf, das außerhalb der Sittlichkeit steht. Das Kernstück des römischen Gemeinwesens, die „Wirtschaftsfamilie“ bleibt jedoch ausgespart. Verständlich, dass auf dieser Basis ein Begriff des Rechts nicht zu gewinnen ist. Dieser Mangel (wenn man darin einen Mangel sehen will) erklärt, warum die Begriffe des römischen Rechts so gestochen scharf, ja geradezu „mathematisch“ ausfallen: Sie werden nicht „verunreinigt“ durch Einflüsse aus der anderen Sphäre. Und was hinzukommt: Weil die Zirkulationssphäre als ein sauber von der Produktion abgegrenzter und, gemessen an ihr, als ein stabiler, adynamischer Bereich auftritt, scheint sie zeitlos zu sein – Grund genug, um auf diese vermeintliche Fundgrube 1500 Jahre später, als der frisch ins Leben getretene Kapitalismus auf die, ebenfalls für zeitlos gehaltene, „freie Konkurrenz“ zusteuert, bedenkenlos zuzugreifen. Das antike Griechenland, hebt E. Gans692 hervor, kannte den Begriff „Recht“ noch nicht. Man spricht dort von „Gerechtigkeit“. Das von „Natur Gerechte“, das dort im Mittelpunkt steht, unterschied „dabei noch in keiner Weise das rechtliche und das ethische Gebiet“693. Erst im römischen Reich gelangt die Entwicklung dahin, dass sich aus der „Sittlichkeit“ das Recht herauskristallisiert. Das setzte die Römer in die Lage, wie Gans sagt, das Wort „Recht“ zu erfinden. Andererseits fehlt ihnen eine Rechtsphilosophie. Das hat seinen Grund darin, dass in Rom zwar die Sittlichkeit massiv auseinanderzubrechen beginnt, der Prozess aber nicht zu Ende kommt. Das Recht zeigt sich in Gestalt der „Rechte“ – und für diese finden die Römer das Wort „Jus“. Das ist das Neue. Dabei bleiben sie stehen – bei einem „abstrakten“, der Sittlichkeit unvermittelt gegenüberstehenden Recht.694 Das Weitere, Arbeit und Kapital seine Geschichte geendet oder vielmehr eine neue Geschichte begonnen.“ 692 E. Gans, Naturrecht, a.a.O., S. 24. 693 O. v. Gierke: Naturrecht und Deutsches Recht, Frankfurt a.M. 1883, S. 17. 694 Die fehlende „Vermittlung“ führt dazu, dass Recht und Sittlichkeit in nicht wenigen Fällen kollidieren. Jene „Inkonsequenzen“ der „römischen Rechtsgelehrten und Prätoren“ sind die Folge, die darin bestehen, „von ungerechten und abscheulichen Institutionen“ abzuweichen (§ 3/A R). Als Beispiel nennt Hegel das Recht mehrerer Gläubiger,

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das „begriffene“ Recht bleibt der Zukunft vorbehalten. Die Leistung der Römer besteht darin, dieses „pflichtlose“ Recht – hervorgebracht durch den regen Warenverkehr – aufbereitet, katalogisiert und einer „unübertrefflich scharfen Ausarbeitung aller wesentlichen Rechtsbeziehungen einfacher Warenproduzenten“695 zugeführt zu haben. Was sie nicht leisteten, nicht leisten konnten, war, den Zusammenhang zwischen diesen „pflichtlosen“ Rechten und dem Recht als „Gerechtigkeit“ herzustellen. „Produzierte“ Natur und „Arbeitsvermögen“. Als separate Größen liegen sie außerhalb der „Reichweite“ Roms. 1000 Jahre ist es von ihnen noch getrennt. Dann erst wird der „außerhalb der Wissenschaft des Rechts“696 gelegene Formierungsprozess zu Ende kommen. Noch ist es notwendig, den ganzen Menschen einer „Sache“ gleichzustellen, um an sein Arbeitsvermögen zu gelangen. Rom ist deswegen allerorten eine „Rechtsbaustelle“; „Unfertigkeit“ wohin man blickt. Überall sind Hilfskonstruktionen notwendig, überall muss improvisiert werden. Wo die „Person“ notwendig wäre, wird an den Status angeknüpft. Obzwar unrichtig, ist das eine Lösung, die, „um der äußeren wissenschaftlichen Form wegen, gesucht und verlangt“ wird.697 Damals unlösbare Widersprüche werden so auf „formelle“698 Weise aus der Welt geschafft. Ging es zu Hegels Zeiten darum, das Ding „Arbeitsvermögen“ lebendig und handlungsfähig zu machen, es also zur „Person“ zu erheben, kann und muss es in „Rom“ beim Sklaven bleiben. Der ganze Mensch ist das „Ding“. Lebendigkeit erlangt dieses, indem die Person nach außerhalb verlegt und dem Freien zugeordnet wird. „Person“ und „Ding“ fallen also auseinander, ja gehören verschiedenen Naturen an und: verschiedenen Menschen. Der Status, der des „Freien“ und der des „Sklaven“, der des „positiv“ und der des „negativ“ privilegierten Menschen, vertritt das noch Fehlende. Eine pragmatische Lösung an Stelle einer philosophisch haltbaren Definition; ein damals berechtigter Notbehelf. Ein neuer Anlauf ist nötig. Engels bezeichnet es als die „historische Tat der Deutschen“, ihre unentwickelten Zustände, ihr „Gemeinwesen“ in die Konkursmasse Roms einzubringen. „Aber nicht ihre spezifischen nationalen Eigenschaften waren es, die Europa verjüngt haben, sondern einfach – ihre Barbarei, ihre Gentilverfassung.“ Sie ist elastisch genug, um „Brücke“ zwischen „Rom“ und der Neuzeit zu sein; sie ermöglichte es, „aus dem

ihren Schuldner in Stücke zu zerschneiden, aber die davon abweichende Praxis, es nicht anzuwenden. Vgl. auch § 180/Z R, wo Hegel von der „Inkonsequenz des Unsittlichen und der Versittlichung desselben“ spricht. 695 F. Engels, in: Marx/Engels, AS II, S. 363. 696 § 2 R. 697 § 2/A R. 698 Ebd.

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Schlamm der Römerwelt neue Staaten entstehen zu lassen.“699 Das deckt sich mit Hegel, der (in § 358 R) meint, dass die Verbindung, die die Germanen mit Rom eingehen, einen „Wendepunkt“ darstellt. Verweilen wir dabei: Die „historische Tat der Deutschen“ besteht also darin, dass sie mit ihren fast noch urgemeinschaftlichen Zuständen das „naturwüchsige Gemeinwesen“ restaurieren und kräftigen. Die strikte Organisation der antiken Gemeinwesen nach dem „Entweder-oder-Prinzip“, diese Falle, wird ersetzt durch ein tief gestaffeltes System gleitender Übergänge, kurzum durch die Feudalität. Athen und Rom haben sich als „Sackgassen“ erwiesen. Als Irrwege der Geschichte. Ein Neustart ist notwendig – wobei der „Start“ zurückverlegt wird zu archaischen Zuständen, um, unter Umgehung Athens und Roms, unter Umgehung der Sklavenhaltergesellschaft, über die feudale Ordnung zur Moderne vorzustoßen. Die Polis nimmt also keineswegs die „bürgerliche Gesellschaft“ vorweg.700 Das griechische Gemeinwesen sucht seine „unbefleckte, durch keinen Zwiespalt verunreinigte Welt“ gerade dadurch zu bewahren, dass jene Elemente, die sich 2000 Jahre später zur bürgerlichen Gesellschaft verdichten, aus der Polis ausgeschlossen bleiben.701 Die „Freiheit“ der Griechen meint also die Freiheit der „primären“ Natur, nicht jene der „produzierten“. Zwar scheint die Antike der späteren Aufspaltung des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ in die zwei Grundnaturen der Moderne näherzustehen, aber das ist ein Schein, der uns bis heute glauben lässt, die damaligen Gemeinwesen seien die direkten Vorläufer der bürgerlichen Gesellschaft. Weiter oben haben wir bereits festgestellt, dass die moderne Person aus der Negation sowohl des „Sklaven“ als auch des „Freien“ hervorgeht. Die griechische Polis aber, die sich aus den archaischen, noch urgemeinschaftlichen Verhältnissen herauskristallisiert, stützt sich auf die „Freien“; diese sind es, die das „Naturprinzip“ repräsentieren und aufgerufen 699 Marx/Engels, AS II, S. 281. Ähnlich formuliert O. v. Gierke (Die soziale Aufgabe, a.a.O., S. 7); er versucht, von dem „unfertigen Staat“, von dem „unfertigen Recht“, mit dem die Germanen in die Geschichte eintreten, auf eine bemerkenswerte und aktuelle Form von „Sozialstaat“ und „Sozialrecht“ zu schließen. (Dazu näher im Kapitel 11.) 700 Gegen eine Gleichsetzung: M. Riedel (Hegels „bürgerliche Gesellschaft“, a.a.O.), N. Luhmann (in Luhmann, Gesellschaft, a.a.O.) und jüngst S. Ellmers (Freiheit und Wirtschaft. Theorie der bürgerlichen Gesellschaft nach Hegel, Bielefeld 2015, S. 12), der ebenfalls darauf hinweist, dass die antike „Gesellschaft“ „gänzlich anders verfasst“ war als ihr neuzeitliches Pendant. Auch Marx betont an verschiedenen Stellen der „Grundrisse“ (z.B. S. 916), dass die griechische Freiheit, dass die griechische Demokratie gegenüber den bürgerlichen Entsprechungen „von ganz entgegengesetztem … Gehalt“ sind. 701 Phän, S. 341 und § 356 R. R. Garaudy (a.a.O., S. 69): Die bürgerliche Gesellschaft ist das, „was gerade in Griechenland außerhalb des Gemeinwesens lag und die Sache der Sklaven war: die produktive Arbeit.“

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sind, es gegen die sich breitmachende „produzierte“ Natur zu verteidigen. Sie, die „Freien“, sind in dem organisiert, was die Tradition „Gesellschaft“ nennt, Hegel aber unter „Staat“ subsumiert. „Polis“ heißt Vermittlung unter Führung der „primären“ Natur. Der Schwerpunkt liegt auf dem „Koinoniasein“; es ist die Klammer, die beide Naturen, die Freie und Sklaven verbindet. Die „Freien“ sind die „Freigestellten“; sie sind ausgegliedert aus dem unmittelbaren Produktionsprozess, um als Statthalter der „primären“ Natur das „Koinoniasein“ zu exekutieren. Das ist ihre Aufgabe. Die Polis zeigt nur an, dass das Gemeinwesen ein neues Stadium erreicht hat, dass es zu seinem weiteren Bestehen des Gewaltverhältnisses bedarf, kurzum, dass es „politisch“ geworden ist. Mit dem Heutigen haben Athen und auch Rom also nichts zu tun.702 „Gesellschaft“ drückt nur die Exklusivität, das Frei(gestellt)sein, mithin das privilegierte Dasein jener Menschengruppe aus, die mit der Exekution des „Politischen“ beauftragt ist. Die damalige und die heutige „Gesellschaft“ sind also verschiedenen Ebenen, der des „Ganzen“ damals, der des Teils heute, zugeordnet. „Gesellschaft“ ist damals zentriert um das „Politische“, heute um das „Wirtschaftliche“.703 Oder so gesagt: Die antiken Staatswesen sind Institutionalisierungen des „Allgemeinen“, die modernen Staaten hingegen solche des „Besonderen“.704 Ein je anderer „Geist“, dem sie folgen: hier die „Einheitsnatur“, dort die „produzierte“ Natur. Fehlinterpretiert ist Hegel daher, wenn J. Ritter, § 209/A R zu Gunsten der bürgerlichen Gesellschaft kommentierend, schreibt, dass sich die „in Griechenland beginnende Weltgeschichte der Freiheit ... mit der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Recht der Vollendung“ zuwendet.705 Die bürgerliche hat mit der griechischen Freiheit nur den Namen gemeinsam. Der Mensch der bürgerlichen Gesellschaft ist ganz anders frei als damals der freie Grieche. Die Moderne stellt den Freiheitsbegriff der Antike auf den Kopf. Die in der „primären“ Natur wurzelnde „Privileg-Freiheit“ wird durch eine Freiheit ersetzt, die in der „produzierten“ Natur wurzelt, deren Kern also die „Vergegenständlichung“ ist. Das übersieht Ritter – und nicht nur er. Eine Verwechselung der „Freiheiten“, bei der die Kehrtwende, die Diskontinuität, der qualitative Unterschied aus dem Blick gerät. „Freier Mensch“ ist jetzt, wer personifizierte Sache ist. Nicht der „Mensch“,

702 Was Cicero mit „societas civilis“ übersetzt, wird zu jener „alteuropäischen“ Gesellschaft, die nichts mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft zu tun hat. 703 Die Übertragung der Polis-Verhältnisse auf die bürgerliche Gesellschaft ist daher zwar falsch, wird aber zu einem Wert an sich, weil über sie der antike Demokratiebegriff in die Gegenwart transportiert wird. Dazu näher im Teil „Staat“. 704 Vgl. dazu W. Maihofer, a.a.O., S. 376 f. 705 J. Ritter, Person und Eigentum, a.a.O., S. 59.

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sondern die „Person“ steht jetzt im Mittelpunkt. Darauf hat bereits O. Pöggeler706 hingewiesen. Auch N. Luhmann707 geht - unter Verweis auf Aristoteles - davon aus, dass die Polis eine Gestalt des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ ist. Zwar wird dessen Rahmen durch sie in Richtung auf „gesellschaftliche“ Zustände ausgedehnt, aber nicht überschritten. Grundsätzlich anders die Situation 2000 Jahre später: Beide Naturen sind jetzt definitiv voneinander geschieden und stehen sich als Teilsysteme, als zwei Welten gegenüber. Die „naturwüchsige Einheitsnatur“ unter Führung der „primären“ Natur gehört damit endgültig der Geschichte an. Das schafft eine neue Lage, die scheinbar dadurch geprägt ist, dass jetzt die „produzierte“ Natur legitimer Nachfolger der bisherigen „Einheitsnatur“ wird. Das ist die tonangebende Fehleinschätzung. Sie ist deshalb von großer Tragweite, weil mit der „produzierten“ Natur eine Natur zum „Ganzen“ erklärt wird, deren Zweck die Unterjochung der anderen Natur ist. Hegel hält ihr entgegen: Das „Gemeinwesen“ ist zwar als „naturwüchsiges“ aus der Welt, aber nicht an sich. Es besteht fort; jetzt aber außerhalb der beiden Naturen, als „Vernunftgestalt“ auf der Ebene des Allgemeinen. Die „Polis“, diese neue historische Stufe, ist damals jene „evolutionäre Errungenschaft, die es zu feiern und festzuhalten galt.“708 Aber sie sprengt das „naturwüchsige Gemeinwesen“ nicht. Das hinzugekommene „Politische“ zeigt nur den Abstand, der gegenüber den archaischen Gemeinwesen gewonnen ist und in der Scheidung in „Freie“ und „Sklaven“ besonders deutlich wird. Das wird 2000 Jahre nach Aristoteles, als es den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, von der Feudalordnung zur bürgerlichen Gesellschaft zu bewerten gilt, übersehen.709 Man glaubt, es ändere 706 O. Pöggeler: Hegel und die Französische Revolution, in: E. Weisser-Lohmann/D. Köhler (Hrsg.), Verfassung und Revolution. Hegels Verfassungskonzeption und die Revolutionen der Neuzeit, Hamburg 2000 (HS, Beiheft 42), S. 211. Er bezieht sich dort auf die gleichnamige Schrift Ritters, wo es (S. 30 u. 65), bezugnehmend auf § 209 R, heißt: „Es gehört zur Bildung, dem Denken als Bewusstsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, dass Ich als allgemeine Person aufgefasst werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist.“ Ritter macht daraus: Der Mensch gilt dort, „weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist.“ Er unterschlägt, dass der Satz bei Hegel ein „so“ enthält: „der Mensch gilt so, weil ...“, mit dem Hegel auf den vorstehenden Satz verweist, mithin auf die Person. In der „Person“ ist der Mensch auf die ihm eigene, jetzt allgemein anerkannte, Sache „Arbeitskraft“ reduziert bzw. nivelliert. Die allgemeine Person ist die personifizierte Sache. 707 In seinem Aufsatz „Gesellschaft“, a.a.O. 708 Ebd., S. 138. 709 Ausdruck dieses Übersehens ist der Begriff „Staatsgesellschaft“, den selbst Hegel erst in seiner „Rechtsphilosophie“ überwindet. (Dazu ausführlicher weiter hinten.)

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sich nur die Binnenorganisation der „Gesellschaft“. Man glaubt, der Unterschied liege darin, dass nun das wirtschaftliche Element an Stelle des politischen führend geworden sei. Damit wird der Vorgang, der sich tatsächlich vollzieht, aus verengter Perspektive wahrgenommen und nicht als das gesehen, was er ist: Übergang von der Vorherrschaft einer Natur zur Vorherrschaft der anderen. Halten wir also fest: Die antiken „Gesellschaften“ sind und bleiben „Gemeinwesen“; sie scheitern an der Polarisierung, die ihren Verfassungen zugrunde liegt und von der wir bis heute so eigenartig fasziniert sind. Gerade diese erweist sich als „Sackgasse“. Und so werden diese Gesellschaften eingefangen von politischen Gebilden, in denen die „Mischung“ der gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Elemente nicht dem „Entweder-oderPrinzip“ folgt, sondern „bunter“ und flexibler ist. Das Dazwischentreten der Germanen durchbricht das antike „alles oder nichts“. Das „gesellschaftliche“ Moment tritt zu Gunsten des „gemeinschaftlichen“ zurück. Das ist Rückschritt, nicht Fortschritt – so jedenfalls sehen es die Philosophen der Aufklärung und glauben deshalb, die Antike gegen das Mittelalter aufbieten zu müssen. Aber sie urteilen vom Äußerlichen her. Sie übersehen, dass die antiken Gemeinwesen, sei es in Griechenland, sei es später in Rom, eine Entwicklung durchlaufen, die von der „gesellschaftlichen“ und „demokratischen“ Form wegführt zur aristokratischen und monarchischen Form,710 dass sie als auf Sklaverei beruhende Ordnungen entweder untergehen (West-Rom) oder sich zu feudalen Ordnungen (Ost-Rom) wandeln. Es wird überhaupt übersehen, dass die societa civilis das „Politische“ zum Gegenstand hat, während in der bürgerlichen Gesellschaft ja gerade die andere Seite, das Unpolitische, das Wirtschaftliche separiert und zur Geltung gebracht ist.711 Damit wird die Zäsur verkleinert. „[N]ichts ist [daher] so ungeschickt, als für Verfassungseinrichtungen unserer Zeit Beispiele von Griechen und Römern oder Orientalen aufnehmen zu wollen.“712

710 Riedel (Bürgerliche Gesellschaft, a.a.O., S. 50) macht unter Bezug auf Aristoteles deutlich, dass Polis und Polis-Demokratie als einzigartige Sonderformen anzusehen sind, die sich aus der konkreten geografischen Lage und der damit im Zusammenhang stehenden städtischen Organisation territorial kleiner Gemeinwesen mit relativ geringer Einwohnerzahl ergaben. Sie sind also wenig verallgemeinerungsfähig und noch weniger auf die Verhältnisse unserer Zeit übertragbar. 711 Der Grund, warum wir diese Verwechslung nicht richtigstellen, scheint mir in jener „Demokratie“ zu liegen, die wir gleichermaßen mit der Polis und mit der bürgerlichen Gesellschaft verbinden. Aber jene der Antike geht zusammen mit der Polis unter. Und sie erblüht mit der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu neuem Leben, selbst wenn das wünschenswert wäre. Nicht ohne Grund sagt Hegel in § 273/A R zu den „organischen“ Staatsformen, darunter der Demokratie, dass von ihnen jetzt nur noch „historischerweise die Rede sein“ kann. Vgl. dazu auch: B. Rettig, a.a.O., S. 187–196. 712 VPhG, S. 67.

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Besonders in England paart sich dieser theoretische Fehler713 mit der Praxis. Der dortige Weg zur modernen bürgerlichen Gesellschaft, den ich an anderer Stelle714 als den Weg der Transformation bezeichnet habe, führt zur Austauschung des „Ganzen“ durch den Teil. In England findet so ein Polwechsel des Politischen statt, der anknüpft an die in der „produzierten“ Natur ja ebenfalls bestehenden hierarchischen Strukturen. Er wird unterstützt durch eine Philosophie, die weitgehend an den empirischen Befund anknüpft und von Hegel durchweg dem „Empirismus“715 zugeordnet wird. England scheint dadurch „staatlos“ zu werden, während der Staat auf dem Kontinent – jedenfalls zunächst, während der absolutistischen Phase – als Größe, als Restposten des untergegangenen „naturwüchsigen Gemeinwesens“ erhalten bleibt. Da aber hier wie dort ein Entweder-oder-Denken vorherrscht, folgt der Kontinent zeitlich versetzt nach und nähert seine Theorie, wichtiger noch: seine Praxis derjenigen Englands an. Wo diese Annäherung theoretisch (in der Philosophie Hegels) und praktisch (am deutlichsten in Preußen) ausbleibt, wird dies als philosophische und praktische Rückwärtsgewandtheit bzw. Zurückgebliebenheit gewertet und verurteilt. Bei der damals noch geringen Ausprägung der Differenz kann es Aristoteles nicht verübelt werden, dass er nicht zu unterscheiden vermag zwischen dem Ganzen und jener Natur, die das Ganze nur vertritt. Aber jetzt, nachdem die beiden Naturen auseinandergetreten und als Selbständige und Entgegengesetzte unübersehbar geworden sind, wäre es Zeit gewesen, ihn zu überwinden. Aber man bleibt bei ihm – und so geschieht, dass der Blick nur von links nach rechts wandert, von der „primären“ zur „produzierten“ Natur716. Mit der Folge, dass nun die bürgerliche Gesellschaft an die Stelle der Koinonia gesetzt, dass sie jetzt als die Natur schlechthin angesehen wird. Stand also damals die eine Natur im Schatten, so jetzt die andere. Die Folge: Ein historisch neuer „unvollkommener“ Staat ersteht, ja der unvollkommenste überhaupt, weil mit ihm das „Prinzip des Verderbens“ herrschend wird.717 Hegel erkennt diesen kardinalen Fehler, berichtigt ihn und zieht in seinem „System“ die Konsequenzen. Er überwindet den Traditionsbegriff und gibt der 713 Den Hegel in § 258/A R mit den Worten umschreibt, dass der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft „verwechselt“ wird, obwohl doch klar sein sollte, dass Ersterer „ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum“ bezeichnet. Ganz ähnlich formuliert Marx in den „Grundrissen“ (z.B. S. 137), wenn er darauf zu sprechen kommt, was die „naturwüchsigen“ Gemeinwesen von jenen unterscheidet, deren Substanz das Geld ist. 714 B. Rettig, a.a.O., S. 48–97. 715 Siehe dazu H. Höhne: Hegel und England, Kant-Studien36 (1931), S. 322 f. 716 Die bisherige „Schluss“-Figur Idee-Natur-Geist wird ersetzt durch Idee-Geist-Natur; ein Extrem wird durch das andere ausgetauscht. 717 Vgl. W. Maihofer, a.a.O., S. 377.

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„Gesellschaft“ damit eine völlig neue, moderne Deutung.718 Vermeintlich sieht er sie, wie Marx formuliert, „nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts“719. Aber das ist insofern ungenau, als Hegel, indem er den bloßen „Polwechsel“ berichtigt, über die Engländer und Franzosen hinausgeht. Er sieht in der bürgerlichen Gesellschaft nicht die Gesamtheit der „materiellen Lebensverhältnisse“, sondern, enger gefasst, ein Teilsystem, das zusammen mit einem weiteren Teilsystem ein „Ganzes“ bildet. War der von Aristoteles und Cicero herrührende Traditionsbegriff bezogen auf ein „naturwüchsiges“ Gemeinwesen, das mit dem Übergang von archaischen Zuständen zur Sklavenhalterordnung auf eine neue Stufe gelangt, so ordnet Hegel seine „bürgerliche Gesellschaft“ der „produzierten“ Natur zu und macht sie damit als eine völlig neue Qualität sichtbar. Charakterisiert der Traditionsbegriff also nur eine neue Stufe des „naturwüchsigen Gemeinwesens“, so bezieht sich Hegels „bürgerliche Gesellschaft“ auf den Zustand nach dessen „Bruch“. Hegel bleibt weitgehend unverstanden. Bald nach seinem Tode zieht sich die Philosophie auf die alte Lesart zurück. Das Entweder-oder tritt wieder in den Vordergrund. Und mit ihm die ungeschichtliche Auffassung, dass es vor dem europäischen Mittelalter Kulturen gab, die, politisch gesehen, unsere heutigen Zustände vorwegnahmen, ihnen jedenfalls näher standen als die des Mittelalters. In Rom ersetzt der „Freie“ die Person. Jetzt ist angeblich jeder Mensch Person, weil jeder Mensch frei ist. Aber diese rein quantitative Erweiterung ist nicht „Erheben ins Allgemeine“, wie J. Ritter720 dies interpretiert. Denn es geht nicht um den Menschen; es geht nicht darum, dass dort einige, hier alle Menschen „frei“ und (damit) „Person“ sind. Die Betonung liegt bei den Römern nicht auf „Mensch“, sondern auf „frei“; also auf dem Status. Dieser ist mit „Person“ verbunden, nicht der Mensch. Mit dieser Unterscheidung waren und sind uns die Römer voraus. Sie knüpfen schon damals nicht an die Biologie, sondern an die Logik an. Die Gleichsetzung Mensch–Person biologisiert die „Person“ – was den Blick darauf verstellt, dass diese ein „Geistiges“ ist, das an die als selbständig anerkannte Sache „Arbeitsvermögen“ anknüpft. Diese Gleichsetzung mag zwar gut gemeint sein, weil sie der „Mensch-Person“ Exklusivität verleiht, führt jedoch in die Irre. Richtig ist: Der „Mensch“ bleibt außerhalb der Wertung. Als „Gegenprobe“ mag ein Blick auf die rechtliche Situation in den Südstaaten der USA vor Aufhebung der Sklaverei dienen. 718 Gibt ihr, wie Rosenzweig (a.a.O., S. 392) schreibt, einen „streng begrenzten Sinn“. 719 MEW 13, S. 8. Arndt/Lefèvre (a.a.O., S. 11) weisen darauf hin, dass in dieser Wendung der Traditionsbegriff von „Gesellschaft“ anklingt. Auch in „Zur Judenfrage“ (MEW 1, S. 362) schimmert der Traditionsbegriff durch. Wichtiger aber ist, dass dessen Gebrauch sich in der durchweg positiven Beurteilung des englischen Weges zur bürgerlichen Gesellschaft durch Marx/Engels bestätigt (dazu B. Rettig, a.a.O., S. 48 ff.). 720 J. Ritter, Person und Eigentum, a.a.O., S. 58 – mit Bezug auf § 211/Z R.

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Die „Menschenrechte“ waren auch in deren Verfassungen verankert. Und dass der Sklave ebenfalls „Mensch“ war, wurde meines Wissens auch dort nicht geleugnet. Aber wie im alten Rom: Zivilrechtlich gesehen galt der eine Mensch als „freeman“721, der andere hingegen als Sache. Der Sklave war keine „Person“ – und darauf kam es, privatrechtlich gesehen, an. Das in der Verfassung Erklärte, die „Menschenrechte“, lief also leer, erwies sich in der Praxis, im Geltungsbereich des Zivilrechts, als wertlos, mindestens aber als nachrangig.722 In Rom ist auf zwei Menschen verteilt, was eigentlich ein Drittes und „Außermenschliches“ ist. Der eine Mensch hat den Status „Geist“, der andere den Status „Sache“. Beide sind voneinander getrennt, stehen sich gegenüber, obwohl sie, als die Vorder- und Rückseite der Medaille, eine Einheit bilden. Und wegen dieser Trennung sind beide unwahr. „Wahr“ gemacht werden sie erst, wenn das Biologische zur Seite gestellt wird. Das ist den römischen Juristen noch nicht möglich. Sie müssen sich daher behelfen. Sie müssen den zentralen, den „Einheits-Punkt“ aussparen. So entstehen Begriffe, die an der Peripherie gelegen sind, den Kern, die Mitte, den Ort, wo Eigentum und Person zusammenfallen, aber verfehlen. So entstehen Begriffe, die „halbwahr“ sind, in hegelscher Diktion: „schief“ und „begrifflos“723. Pragmatische, zeitgebundene Notgeburten, für die die Römer entschuldigt sind. Erst 1000 Jahre später kommt zu Ende, was „Rom“ nicht zu Ende bringen konnte: die „Scheidung bisher verbundner Elemente“724. Das „Unorganische“ formiert und separiert sich. Auf allen Ebenen des Begriffs drängt es dahin, sich als ein Selbständiges, als „produziertes Gemeinwesen“725 zu konstituieren. Die Arbeits721 Wie es bei G. Jellinek dargestellt ist: Die nordamerikanische Version von „Menschenrecht“ bezieht sich nicht auf den Menschen an sich, sondern lediglich auf den „freeman“. (Siehe dazu G. Jellinek: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, München u. Leipzig 1919 [3., v. W. Jellinek neubearb. Aufl.]; O. Vossler: Die amerikanischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den europäischen. Untersucht an Thomas Jefferson, München, Berlin 1929.) Insofern entspricht die zivilrechtliche Stellung des Sklaven auch der verfassungsrechtlichen. Jefferson, der selbst ungefähr 300 Sklaven hielt, musste auf diesem Hintergrund also nicht ins Grübeln kommen, als er erklärte: „Alle Menschen sind von Natur in gleicher Weise frei“. Hätten die antiken Stadtstaaten Griechenlands, hätte „Rom“ eine geschriebene Verfassung gehabt, hätte ein solches Verständnis von „Menschenrecht“ bequem darin Platz gefunden. 722 Ökonomische Erklärung findet die Sklaverei der Südstaaten in dem unterschiedlichen Niveau auf wirtschaftlichem Gebiet, das im industriell geprägten Norden ganz selbstverständlich mit der Auffassung von der Arbeitskraft als eigenständigem, unabhängig vom Menschen zu sehendem „Ding“ verknüpft ist, während die Produktionsweise des Südens durchaus noch mit der römischen Auffassung auskam. 723 Siehe § 40/A R. 724 Marx, GR, S. 402. 725 Ebd., S. 399.

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kraft, bis dato noch nicht als unabhängig und außerhalb des Menschen existierendes „Ding“ verstanden, ist jetzt formiert und als ein „Selbständiges“ und „Unorganisches“ anerkannt. Damit ist der Sklave überflüssig. Ein tiefgreifender Wandel, der auch die Wirtschaftsfamilie erfasst. Sie geht über „in ein anderes Prinzip“726, geht über in kapitalistische Warenproduktion, die ihren Ort nicht in der Familie hat, sondern in der Unternehmung. Erst damit ist die Vorgeschichte beendet. Und mit ihr die Zeit der Notbehelfe, die Zeit der Improvisationen. Unentschuldbar daher, sie auch jetzt noch für bare Münze zu nehmen und sie 1:1 auf die jetzigen Verhältnisse zu übertragen. Rom hat ausgedient; es ist (Rechts-)Geschichte geworden. Jetzt, mit Geburt der bürgerlichen Gesellschaft, ist die Zeit gekommen, die mit dieser verbundenen Novitäten auf den Begriff zu bringen. Gute Gründe, jetzt Hegel zu folgen. Aber die Verlockung ist einfach zu groß. Dreht sich jetzt nicht alles um den Menschen? Ist jetzt nicht jeder Mensch ein „freier“ Mensch? Also kann es doch nicht falsch sein, „Mensch“ und „Person“ identisch zu setzen. Warum also etwas zu den Akten legen, was jetzt erst seine eigentliche Bedeutung gewinnt? Und so folgt die Wissenschaft nicht Hegel, sondern knüpft an den oberflächlichen Befund an, folgt Savigny, der den generalisierten „Freien“ zur „Person“ erhebt. Das „Schiefe und Begrifflose“ wird kultiviert und zeigt sich nun in der Aufspaltung in „natürliche“ (= „Mensch-Person“) und „juristische“ Person. Dass die Person überhaupt ein Drittes, außerhalb des „Menschen“ Liegendes ist, wird nicht zur Kenntnis genommen. Wo an das verdinglichte Arbeitsvermögen in „toter“ wie „lebendiger“ Gestalt angeknüpft werden müsste, bleiben wir bei dem Notbehelf. Und nach wie vor wird das Eigentum als eine von ihm getrennte Größe angesehen. Ein folgenreicher Fehler. Er wird erst vom Marxismus partiell727 beseitigt; beseitigt also nur, soweit es die Doktrin verlangt. Der „Mensch“ ist nicht jener „Grund“, aus dem heraus laut Hegel das Recht existiert.728 Es wäre nun aber verkehrt, hier bloß mit dem Finger auf Savigny und auf die deutsche Rechtswissenschaft zu zeigen. Das Verfahren wird weltweit praktiziert – mit und ohne Savigny. Aus „handfesten“ Gründen ist uns dieser „unfertige“ Rechtsbegriff einfach zu lieb geworden, als dass wir ihn durch einen weitaus unschöneren, wenn auch richtigeren ersetzen würden.

726 § 181/A R. 727 Marx sieht das „Arbeitsvermögen“ nur als Ware an, wo es als „Lohnarbeit“ auftritt, nicht generell, wie die abfälligen Bemerkungen zu jener Arbeit zeigen, die als sog. „Dienste“ geleistet wird. Z.B. GR, S. 183: „Von der Hure bis zum Pabst gibt es eine Masse solchen Gesindels“, das keine produktive Arbeit leistet. 728 Vgl. § 3/A R (S. 41).

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Die Vertreter der Aufklärung knüpfen an die „Zerrissenheit“ an, idealisieren sie, machen sie zur philosophischen Plattform des modernen „Naturrechts“. Die beim Zerfall des Ganzen zurückbleibenden bzw. freigesetzten „Elemente“, Hegel nennt sie „Abstrakta“, werden zur Basis des „erdichteten Naturzustandes“. Das „souveräne Individuum“, der „freie Wille“, der durch Vertrag konstituierte Staat werden auf den Schild gehoben. Wobei vor Kant die Szenerie dadurch gekennzeichnet ist, dass einzelne Elemente, einzelne „Bestimmtheiten“ herausgegriffen und zu unterschiedlichen Systemen „verarbeitet“ werden. Bald aber ist klar: Die Zentral-Werte des neuen Zeitalters sind Ware und Geld. Deren „Natur“ wird zur Natur des Menschen erklärt. Die Eigenschaften der Ware werden zu Eigenschaften der Warenbesitzer. Eine Gegenwelt, die nicht vom „Menschen“, sondern von der „Person“ bevölkert wird. Auf Letztere werden Gleichheit und Verkehrsfreiheit der Tauschwerte übertragen. Der Tauschwert ist also der große „Gleichmacher“: Er erhebt den Sklaven und erniedrigt die ehemals Privilegierten. Keiner ist mehr als der andere. Der Mensch als solcher wird Opfer des Atomismus der Sachenwelt; er wird zum „geselligen“ Atom. Als „Person“ ist er dazu da, eine an sich tote Welt zu verlebendigen. Von daher versteht sich, dass der Austauschvertrag zum Gesellschaftsvertrag erhoben wird. Ein „privativer Naturbegriff“729, dem eine „privative“, eine atomistische Auffassung vom Menschen zur Seite steht. Und wie die Ware, wie das Ding als Unorganisches dem „Sittlichen“ nicht zugänglich ist, außerhalb desselben liegt, so auch dieser vereinzelte Einzelne in Gestalt der „Person“. Sieht man die „Sozialität“ als das Wesen des Menschen an, haben wir es also in der „Person“ mit dem entmenschten Menschen, mit dem AntiMenschen zu tun. Das Zusammenleben folgt auf dieser Ebene nicht den Gesetzen der organischen Natur, sondern denen der Gegennatur. Der Zusammenschluss, den der Warenaustausch erzwingt, ist partiell und temporär. Er ist zweckhafte „Aggregation“ – mehr nicht. Der progressive Gehalt der Naturrechtslehre ist unbestritten. Ihre Vertreter waren keineswegs „unerleuchtet“ (Savigny). Ihr Gegenentwurf stellt das Bisherige radikal in Frage, zeigt es in neuem Licht. Das ist weiterführend. Aber richtig ist: Sie erzeugen damit Illusionen, „gang und gäbe Begriffe von Freiheit“730, die fernab jeder Realität liegen: auch fernab, ja außerhalb der heraufziehenden bürgerlichen Gesellschaft. Folgerichtig wird alles, was daran utopischer Überschuss ist, von ebendieser bürgerlichen Gesellschaft vom Sockel gestürzt. In England, wo das Naturrecht der kapitalistischen Ordnung nicht vorausgeht, sondern mit ihr gemeinsam aufkommt, gewinnt es aus diesen Gründen kaum praktische Bedeutung. Tatsächlich geschieht, 729 M. Riedel: Zwischen Tradition und Revolution. Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Stuttgart 1982, S. 87. 730 § 539 E.

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dass sich die Sphären „Produktion“ und „Zirkulation“ zur bürgerlichen Gesellschaft konstituieren. Damit ist das „Ganze“ verloren. Es verschwindet im Nebel der Geschichte, gerät zumindest aus dem Blick.731 „Was übrig bleibt im Untergang der Substanz, das sind die Elemente.“732 Aus dieser Not machen Philosophie und Ideologie eine Tugend: Das übrig Gebliebene, das „in die Atome der absolut vielen Individuen“ Zersplitterte733 wird als die einzige Wirklichkeit ausgegeben. Schlimmer noch: Was eigentlich eine Tragödie ist, wird in eine Komödie umgefälscht.734 Was der Aufklärung nachfolgt, bringt eine Einschränkung nach der anderen. Kant, Fichte und Schelling, auch Schleiermacher und Fries leisten Beiträge. Aber erst Hegel stellt den Anschluss an das „Ganze“ wieder her. Er bereitet dem Naturecht das philosophische Ende, wie Savigny und dessen Schule ihm, mit ganz anderer Intention, das juristische Ende bereiten werden. Das Problem eröffnet sich ihm noch in seiner Frankfurter Zeit, beim Studium der Werke von A. Smith, Stewart, Ricardo. Er versucht, das Gelesene auf den Begriff zu bringen; dieser Begriff heißt „bürgerliche Gesellschaft“ und wird erst 20 Jahre später „fertiggestellt“ sein. In Jena, in dem dort geschriebenen „Naturrechtsaufsatz“ und in den dortigen System-Entwürfen, zieht er, im Rahmen der Auseinandersetzung hauptsächlich mit Kant, erste Schlussfolgerungen. Sein Wortschatz, seine Art des Philosophierens ist noch ganz an Platon und an Aristoteles orientiert. Aber er sieht bereits: Das „System der Bedürfnisse“ steht für die Verdoppelung der Natur. Eine künstliche, eine „produzierte“, eine „andersgesetzliche“735 Natur ist hinzugekommen. Sie hat sich zur alleinigen Natur erhoben – was bedeutet: Die erste, die organische, Natur wird abqualifiziert, wird als menschliche Natur geleugnet. Was weiter bedeutet: Der auf der „naturwüchsigen Einheitsnatur“ beruhende Staats-und Rechtszustand wird ins Unrecht gesetzt, wird „für wertwidrig erklärt“.736 „Natur“ ist jetzt diese künstliche Natur. Und „Mensch“ ist der Mensch als „Warenhüter“, der Mensch als notwendiges Requisit der Warenproduktion und des Austausches. Ihm entspricht auf der Ebene des „Allgemeinen“ jener Staat, der zusammen mit der künstlichen Natur entsteht, der „Not- und Verstandesstaat“. Er wird zum einzig gültigen Staat erklärt. 731 732 733 734

Bedeutsam: auch der „ganze“ Mensch! N. Hartmann, a.a.O., S.124. Hegel, Phän, MM 3, S. 355. Vgl. dazu: NR, S. 495 ff.; Glockner kommentierend: Die Tragödie „besteht darin, dass die sittliche Natur ihre unorganische Natur als ein Schicksal von sich abtrennt und sich gegenüberstellt.“ (H. Glockner, a.a.O., S. 331.) 735 H. Kelsen: Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 30 – darin F. Tönnies (Gemeinschaft und Gesellschaft) folgend. 736 Ders., a.a.O., S. 30 – kritisch-referierend.

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Damit ist der Spieß umgedreht. Das Organisch-Sittliche wird jetzt als Negatives, als Feindliches, als Unvermitteltes und Unvermittelbares hingestellt. Durch Verkehrung der Tatsachen schafft Letztere es, sich nicht nur unter dem Begriff „Freiheit“ als neue, sondern auch bessere und einzige Welt darzustellen.737 Hier setzt Hegel an. Er sucht nach Lösungen, die beiden Naturen gerecht werden. Der „Willkür-Freiheit“738 der „produzierten“ Natur und ihrer Atome setzt er die „Entwicklung aus dem Begriffe“ entgegen – ein erkenntnistheoretischer Ansatz, der an das „Wesen“ anknüpft. Da das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft sich erst jetzt zeigt, kann aus „Rom“ keine Erkenntnis darüber bezogen werden. Erst jetzt beginnt „die Eule der Minerva ... ihren Flug.“739 Also eher so: Von der jetzigen Gestalt kann auf das Wesen geschlossen werden. Und auch „Rom“ kann nun erst, von hier aus, begriffen werden – nicht umgekehrt. Hegels „System“ bildet sich heraus. Mit der bürgerlichen Gesellschaft tritt ein Teil, ein gefährlicher Teil, in die Mitte und geriert sich als Ganzes. Was an das echte „Ganze“ gebunden war, z.B. die Einheit „von Pflicht und Recht“, geht verloren. Damit jenes, was die „innere Stärke der Staaten“ ausmacht.740 Das „Produzierte“, die Sache, tritt die Herrschaft an. Und mit ihm die „Person“, jener Kunst-Mensch, der benutzt und benötigt wird, es lebendig zu machen, der sein (organisches) Akzidens ist, wie Hegel sagt.741 Die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelösten Einzelteile geraten in den Sog eines Gegenprinzips, gehen ein in die „produzierte“ Natur, werden „umgepolt“, werden nach deren Bauplan neu zusammengefügt. Eine Welt der Dinge wird mit dem Menschen, wie Hegel sagt, „aggregiert“. Die Stunde des „Produzierten“ ist die Stunde des „vereinzelten Einzelnen“. Auch die Stunde des Rechts. Des „Rechtszustands“, wie Hegel schreibt.742 Wie die Geburt Jesu das christliche Zeitalter einläutet, so läutet also die Verselbständigung des „Produzierten“ das juristische Zeitalter ein. Entgegen dem Trend widmet sich Hegel dem, was jetzt im Nebel entschwunden, was aus dem Blick geraten ist. Gibt ihm ein Gesicht und eine Stimme. Nimmt es auf in seinen Staatsbegriff. Der Mensch ist nicht nur ein „Produziertes“. Er ist und bleibt Bestandteil auch der anderen Natur. Und deswegen muss Maßstab weiterhin das „Ganze“ sein; die übergeordnete Einheit, das „höhere Dritte“. Ihm ist die „bürgerliche Gesellschaft“ als bloß „relative Totalität“ untergeordnet.

737 Vgl. dazu R.-P. Horstmann: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie, in: M. Riedel (Hrsg.), Materialien 2, S. 276–311. 738 Siehe § 206/A R. 739 R/Vorrede (S. 28). 740 § 261/A R. 741 S. § 145 R. 742 Hegel, Phän, S. 355.

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8.2 Speziell: Hegel, Savigny und das römische Recht

Im Berlin des Jahres 1820 ist er der Star der dortigen Juristenfakultät: der Begründer der historischen Rechtsschule und Antipode Hegels, F.C. von Savigny. In puncto „römisches Recht“ wird an ihm gemessen. Und er selbst urteilt ebenfalls von dorther über seine Gegner und ist schnell dabei, diese als „unkundig“743 zu befinden. Hegel ist in dieses Unkunde-Verdikt vermutlich einbezogen.744 Und Savigny steht damit nicht allein. Auch H.E.G. Paulus, ein Kollege aus der Heidelberger Zeit, bezweifelt sehr, „[o]b Hr. H. die römischen Familienverhältnisse, so wie mehrere andere positive Institutionen immer historisch richtig aufgefasst und gewürdigt habe“.745 Man muss nicht darüber streiten, dass Hugo, Savigny oder moderne Vertreter römischer Rechtsgeschichte mehr vom römischen Recht wissen als er. Aber ist Hegel deswegen „unkundig“? Oder geht er nur anders, grundsätzlicher an das Thema heran. Misst man an der Detailkenntnis, zieht Hegel gewiss den Kürzeren. Gilt das aber auch, wenn man an die prinzipielle Einordnung Roms und seines Rechts in die Geschichte denkt? Hegel ist weder Historiker noch Jurist. Er urteilt über Rom auf der Grundlage einer Methode, die Historisches und Logisches vereint. Dadurch kommt ihm mehr und anderes in den Blick als bei rein historischer oder auch rein juristischer Betrachtung. Hegels Methode bewahrt ihn davor, der schieren Fakten-Menge zu erliegen, davor, an der Oberfläche zu bleiben, und auch davor, dem verbreiteten Entwederoder-Denken zu verfallen. Sie öffnet ihm die Tiefe, eröffnet ihm den Blick auf das Wesen. Und was ihn besonders unterscheidet: Er misst das römische Recht an dem, was von den Vertretern der Zunft damals und heute notorisch ausgeblendet wird: an der Idee. Dadurch kommt ihm der Unterschied zum heutigen Recht in den Blick. Demgegenüber steht der Ansatz Savignys dafür, die Kontinuität zu betonen. Unterschiedliche, ja gegensätzliche Sichtweisen, die also zwangsläufig in unterschiedliche, ja entgegengesetzte Ergebnisse einmünden. Den Experten des rö743 Z.B. die Verfasser des Code civil. (Siehe dazu F.C. von Savigny: Vom Beruf unserer Zeit, in: H. Hattenhauer [Hrsg.], Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften, München 2002, S. 88. An anderer Stelle – S. 98 – spricht er vom „traurigen Zustand ihrer Sachkenntnis.“) 744 Ihm selbst gegenüber hält er sich damit zurück – jedenfalls in der Öffentlichkeit. Aber er duldet, dass sein Schüler und Freund Puchta bis zur Gehässigkeit gegen Hegel und besonders gegen E. Gans polemisiert. (Vgl. dazu: W. Schönfeld, a.a.O., S. 25; J. Braun: Gans und Puchta – Dokumente einer Feindschaft, JZ 1998, S. 763–770.) 745 H.E.G. Paulus: Rezension zu Hegels „Rechtsphilosophie“ (1821), in: M. Riedel (Hrsg.), Materialien 1, S. 53–66, hier S. 64. Bis heute ist dieser „Unkunde-Vorwurf“ nicht verstummt, wie der Aufsatz von Michel Villey (Das römische Recht in Hegels Rechtsphilosophie, in: M. Riedel [Hrsg.], Materialien 2, S. 131–151), geschrieben 155 Jahre nach Erscheinen der „Rechtsphilosophie“, zeigt.

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mischen Rechts, denen es vorkommen mag, als „wildere“ Hegel in einem Revier, wo nur sie Zutritt haben, entsteht aber, wie wir es bei M. Villey sehen, bis in die Gegenwart hinein der Eindruck, dass die Beschäftigung Hegels mit dieser Materie „inadäquat“ ist, so dass man sich fragen muss, „ob dieser mangelhaft gefestigte Teil nicht das Funktionieren der ganzen Maschine in Frage stellt.“746 Savigny und Hegel: Was trennt sie, was ist ihnen gemeinsam? Beide üben sie Kritik am neueren Naturrecht. Beide „blicken sie abschätzig auf die rationalistischen Naturrechtstheorien und -systeme herab“747. Aber die Kritik geht in eine je andere Richtung.748 Hegel distanziert sich von der unphilosophischen Geschichtsbetrachtung749; Savigny verwirft deren Ungeschichtlichkeit.750 Die Vertreter des Naturrechts zielen ab „auf eine Gesamtschau der rechtlichen Ordnung eines Volkes“751 Da sie aber unter Natur nur die eine von zwei Naturen verstehen, kritisiert und korrigiert Hegel sie, wie bereits dargestellt, auf der Basis seiner Zwei-Naturen-Lehre. Savigny verwirft das Naturrecht insgesamt. Zu philosophisch, zu unhistorisch, zu abstrakt, um daraus positives Recht zu machen.752 Auch hat die Naturrechtsdoktrin sich aus seiner Sicht diskreditiert, weil sich die Revolutionäre darauf bezogen, weil die „Aufklärerey den politischen wie den religiösen Glauben wankend gemacht“753 hat. Seine Vorbehalte sind so groß, dass er, anders als Hegel, nicht nach alternativen „Behandlungsarten“ sucht, sondern das Naturrecht generell, zusammen mit den auf seiner Grundlage erarbeiteten Kodifikationen (ALR, CC und ABGB)754, verwirft, mindestens aber ignoriert. 746 M. Villey, a.a.O., S. 132. 747 R. Grawert: Die Entfaltung des Rechts aus dem Geist der Geschichte, Rechtstheorie 18 (1987), S. 437–461, hier S. 438. 748 Dazu: W. Jaeschke, Die Vernünftigkeit des Gesetzes, a.a.O., S. 234 f. 749 Im doppelten Sinne unphilosophisch, wie wir schon gesehen haben: einmal wegen des fallengelassenen Bezugs zur „Einheit“, zum anderen wegen der Überbetonung des „Philosophischen“ bei der Abgrenzung vom positiven Recht. 750 Vgl. Grawert, a.a.O., S. 439 f. 751 H. Thieme: Das Gesetzbuch Friedrichs des Großen, DJZ 41 (1936), Sp. 941. 752 Drastisch fasst F. Tönnies (Hegels Naturrecht, a.a.O., S. 73) die Ansichten Savignys und seiner Schule zum Naturrecht in die Worte: eine Schule, „die das Naturrecht als falsch, als sinnlos und lächerlich verwarf und nur das positive Recht gelten ließ“. 753 Vom Beruf. Erste Beilage, in: H. Hattenhauer (Hrsg.), Thibaut und Savigny, S. 180. 754 G. Lingelbach (Anton Friedrich Justus Thibaut [1772–1840], in: ders. [Hrsg.], Rechtsgelehrte der Universität Jena aus vier Jahrhunderten, Jena, Plauen, Quedlinburg 2012, S. 86): „Für Savigny und seine Anhänger war der code civil ein revolutionäres ‚Krebsgeschwür‘, das Allgemeine Landrecht eine methodisch und historisch unbefriedigende ‚Sudeley‘ und das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch ohnehin viel zu provinziell.“ Savigny selbst macht nicht unberechtigt auf Folgendes aufmerksam: Der Code bedeutet für Frankreich eine halbe Rücknahme der Revolution, eine „halbe Rückkehr zu den vorigen ruhigen

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Wäre es nur die Antipathie des Reichsadeligen gegen die Revolution gewesen,755 wäre seine Kritik am Code civil verständlich, wenn auch sachlich nicht gerechtfertigt. Aber er lehnt ja auch die beiden anderen Kodifikationen ab, denen ein revolutionärer Geruch nicht anhaftet. Das legt die Annahme nahe, dass er noch andere, vielleicht wichtigere, Gründe hatte. Beide sehen im Naturrecht ein „abstraktes“ Recht. Aber während es für Hegel „abstrakt“ ist, weil es das Recht nur einer Natur ist und unvermittelt bleibt, ist es für Savigny „abstrakt“, weil es unhistorisch ist – ein insofern seltsamer Vorwurf, weil ja schließlich auch die Schule, die er begründet, eine „unhistorische“756 ist. Näheren Aufschluss gibt seine Einschätzung der Zeit der späten Aufklärung, die darin gipfelt, dass er ihre Repräsentanten als „unerleuchtet“, aber von einer „grenzenlose[n] Erwartung“ getragen bezeichnet. Davon geleitet, sei man auch „im bürgerlichen Recht ... tätig“757 geworden und habe es unternommen, die beschworene Natur in ihrer Gänze758 zum Gegenstand einer Kodifikation zu machen. Damit trifft er den Punkt: Es sollte tatsächlich die ganze Natur in einem Gesetzbuch abgehandelt werden; besonders das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) steht für einen solchen Versuch. Savigny hingegen beschränkt das Recht auf jenen Teilbereich der „produzierten“ Natur, der bereits in Rom von ihm erfasst war. Alle Natur ein Gegenstand der rechtlichen Regelung? Für Savigny ein Ding der Unmöglichkeit, ein „Hirngespinst unkritischer Raisonneure“759 Versuche, auf dieser Basis das Recht kodifizieren zu wollen, künden von „bodenlosem Hochmut“760. Zuständen ... Für Deutschland aber, das der Fluch dieser Revolution nicht getroffen hatte, war der Code ... vielmehr ein Schritt vorwärts in den Zustand der Revolution hinein, folglich verderblicher und heilloser als für Frankreich selbst.“ (Vom Beruf, a.a.O., S. 84.) 755 Die ihn sagen lässt, dass der „Code … als eine überstandene politische Krankheit betrachtet werden muss“ (Vom Beruf, a.a.O., S. 116). 756 E. Gans: Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung. Bd. 1: Das römische Erbrecht in seiner Stellung zum vor- und nachrömischen 1, Aalen 1963 (Neudruck der Ausgabe Berlin 1834), S. VI. 757 Savigny, Vom Beruf, a.a.O., S. 64. 758 Man sah sich zu nichts Geringerem berufen „als zur wirklichen Darstellung einer absoluten Vollkommenheit“, kritisiert er (ebd.). 759 Zitiert bei E. Wolf: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, Tübingen 1963 (4., durchgearb. u. erg. Aufl.), S. 379. Eine deftige Kritik aus dem Munde eines so vornehmen Mannes. Sie erklärt sich, wie es H. Thieme (Die Zeit des späten Naturrechts, ZRG [GA]56 [1936], S. 209 u. 241) sieht, auf dem Hintergrund eines damals stattfindenden „Wechsel[s] in der Anschauungsweise“. War der Standpunkt des Naturrechts „antiromanistisch“ und schien sich das römische Recht „am Ausgang des 18. Jahrhunderts mit zunehmender Partikulargesetzgebung dem Ende seiner Geltung zu nähern“, so rückt es Anfang des 19. Jahrhunderts wieder in den Fokus der Wissenschaft. 760 Savigny, Vom Beruf, a.a.O., S. 64.

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Was setzt er dagegen? Eine neue Zeit sei angebrochen, die jenem „Hochmut“ keinen Raum mehr gebe. Überall sei „geschichtlicher Sinn“ erwacht, der insbesondere auf „Rom“ und dessen Recht verweise. Gab es dort nicht ein Recht, ein praktiziertes Recht, das ein direkter Vorgänger dessen ist, was jetzt benötigt wird? Ein Recht, das sich über Hunderte von Jahren in der römischen Praxis bewährt hat. Ein Recht, von dem später ein K. Marx sagen wird, das es zugeschnitten ist auf die Individuen des Austauschs, ein Recht, das jenes „für die industrielle Gesellschaft“ antizipiert und deswegen „als das Recht der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft“ dem Mittelalter gegenüber „geltend gemacht werden musste.“761 Fertiges Recht, das nahezu 1:1 in die Neuzeit übernommen werden kann. Reinstes und feinstes bürgerliches Recht, wenn man es um den „Sklaven“ bereinigt. Recht, das abrufbar bereitsteht. Aber dieser „geschichtliche Sinn“, auf den er sich beruft: Rechtfertigt er den bloßen Rückgriff auf „Rom“? Verträgt er sich damit, dass aus der Geschichte mehr als 1000 Jahre herausgeschnitten und beiseitegelegt werden. So als habe sie gar nicht stattgefunden. Oder als sei diese Zeit keine Geschichte, sondern ein Irrweg gewesen. Der „geschichtliche Sinn“ zeigt sich also als selektiver Historismus.762 Im Grunde eint ihn das mit den kritisierten Naturrechtlern, die ja auch so tun, als beginne jetzt erst das Recht. Die „Geschichtlichkeit“ kann also nicht der eigentliche Grund sein, der Savigny und Hegel trennt. Dieser liegt vielmehr auf einer ganz anderen Ebene. Er hat mit dem bereits erwähnten „bodenlosen Hochmut“ des Naturrechts zu tun, die ganze Natur zum Gegenstand des Rechts und der Rechtswissenschaft zu machen. Das missfällt Savigny, weil die „ganze“ Natur – wenn man darunter die „produzierte“ Natur versteht – aus den beiden großen Bereichen „Produktion“ und „Zirkulation“ besteht. Da aber die „Produktion“ in Rom nicht Gegenstand des Rechts war, sieht er eine Rechtswissenschaft, die sie darin einzubeziehen sucht, auf dem Irrweg. Was kann dabei anderes herauskommen als objektives, staatlich gesetztes Recht, dem das entscheidende Kriterium fehlt: subjektives Recht zu sein? Und für Savigny ist „Recht“ subjektives Recht. Nicht die „Natur“ ist „Rechtsinhaber“, sondern ihre Mitglieder. Ihnen „gehört“ das Recht, nicht dem Gesetzgeber. Es geht nicht um ein gnädiges „Zuteilen“ (oder „ungnädiges“ Einschränken) von Rechten, sondern um das Einsetzen in originäre Rechte. Und eines dieser Rechte ist die Rechtsfreiheit der „Produktion“. Und in „Rom“ war der Bereich der „Wirtschaftsfamilie“ rechtsfrei! Die despotische Herrschaft des „Hausvaters“ dort ist legendär und war ein von He761 GR, S. 157. Dazu auch: F. Engels, Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie, MEW 21, S. 397 f. 762 Tiefgründig dazu: W. Jaeschke, Die Vernünftigkeit des Gesetzes, a.a.O., besonders S. 238 ff.

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gel oft angesprochener Missstand. Da es ein Grundzug der Naturrechtslehre ist, die Natur als eine Natur vereinzelter Einzelner zu sehen und von daher ihr Recht sich als das subjektive Recht ihrer Mitglieder versteht, könnte man meinen, es liege ein Missverständnis vor. Und das ist insofern auch der Fall, als sich Savignys Abneigung an der spezifisch deutschen Variante des Naturrechts entzündet, an einer Variante, die sich als „Vernunftrecht“ versteht, wobei dieses „Vernunftrecht“ allerdings an einem unklaren Naturbegriff leidet, der die Ergebnisse der ersten Negation – die „Entzweiung“ – unberücksichtigt lässt. Theoretisch zielt diese Variante auf die „Ausbildung und Übung des Verstandes“, praktisch verfolgt sie das Ziel, die „Lehre von der gemeinen Wohlfahrt als ausschließlichem Staatszweck“763 in eine Kodifikation umzusetzen. Im Unterschied zu jenem der Aufklärung, nimmt dieses Naturrecht auf ein „Ganzes“ Bezug, das ein Janus-Gesicht trägt: Es scheint dem, auch in Preußen bereits im Untergang befindlichen, „naturwüchsigen Gemeinwesen“ näher zu stehen als der ihm folgenden „Vernunftgestalt“. Aus liberalistischer Sicht also eine rückständige Variante des Naturrechts. Was insofern richtig ist, als es das Naturrecht einer noch nicht vollständig zu Ende gebrachten „Entzweiung“ ist. Das erklärt, dass Savigny sich zum damaligen Zeitpunkt gegen eine Kodifikation ausspricht. Aber erklärt es auch seine Hinwendung zum römischen Recht? Scheinbar wiederholt sich „Rom“ in einer Moderne, die sich nun auch in Deutschland durchzusetzen beginnt. Die Sphären „Produktion“ und „Zirkulation“, bisher nur schwach differenziert, entwickeln sich auf ihre säuberliche Trennung zu. Das mag Savigny so sicher machen. Und auch dies: „[G]eblendet durch den Glanz des Logischen, der das römische Recht bedeckt“764, mag er angesichts der ökonomisch noch unreifen deutschen Verhältnisse befürchtet haben, dass im Falle einer voreiligen, für ganz Deutschland geltenden Kodifikation, die die „ganze“ Natur zum Gegenstand hat, eine ähnliche „Sudeley“ herauskommt, wie sie in Gestalt des ALR bereits vorliegt. Alles ist hier noch in Gärung, gerade auch in Preußen. Was anderes hätte eine Kodifikation also erbringen können als die Zementierung eines ungaren Zustandes? Savignys Recht versteht sich daher als ein Recht, das zugeschnitten ist auf jene Phase des Kapitalismus, die in Deutschland noch in der Zukunft liegt: „freie Konkurrenz“. Was Hegel von der historischen Schule hält, zeigt er in der Anmerkung zu § 3 R. Das Loblied ihrer Vertreter auf das römische Recht und die römischen Rechtsgelehrten reizt ihn zu einer entschiedenen, teilweise unangemessenen Polemik – ersatzweise adressiert an Hugo, nicht an Savigny selbst. Eine „rein geschichtliche Bemühung“ 763 H. Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, a.a.O., S. 206 f. 764 R. Ihering, zitiert bei F. Schulz, a.a.O., S. 25. Schulz kommentierend: Savigny erkannte nicht, „dass das römische Recht wirklich nur das der Römer war.“

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sieht er darin, die in „ihrer eigenen Sphäre“ – er verweist hier auf die Rechtsvergleichung – „ihr Verdienst“ habe. Aber diese „Entwicklung aus historischen Gründen“ ersetzt nicht die „Entwicklung aus dem Begriffe“. Er verweist damit auf seine dialektische Logik, die das Historische (das Wirkliche) mit dem Logischen verknüpft. Der Hintergrund ist bereits oben skizziert worden: Der „Begriff“ ist gedanklich erfasstes und zur „Gestalt“, zur „Vernunftgestalt“, komplettiertes Wesen. Hegel will damit also sagen, dass das jetzt benötigte Recht nicht das römische sein kann, weil dieses nicht „Vernunftgestalt“, sondern „Gestalt“ eines sich am Rande des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ etablierenden Bereiches ist. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass es „allgemeine Rechtsbestimmungen, Verstandessätze, Grundsätze, Gesetze u. dgl.“765 aufweist, die sehr modern klingen. Entscheidend ist: Der „Begriff“ ist in diesem Recht nicht zur Geltung gebracht, „das wahrhaft Wesentliche“ kommt darin „gar nicht zur Sprache“. Was die Römer als Begriff ausgeben, was Savigny und Co. als solchen ansehen und von ihnen übernehmen, sind also nicht Begriffe im Sinne der Logik, sondern Stufen zum Begriff, die noch nicht auf das Wesen Bezug nehmen können, sondern lediglich das „äußerliche Entstehen“766 auf einer konkreten Entwicklungsstufe festhalten. Es sind Zwischenergebnisse, Behelfe, die fixiert werden müssen, um das Recht „stimmig“ zu machen.767 Ein Zustand wird darin erfasst, jedoch ein unfertiger. Und außerhalb desselben ist das römische Recht nicht weniger mangelhaft und ungeeignet als das Naturrecht – eher mehr. Denn wie schon ausgeführt: Rom ist ein Gemeinwesen – keine Gesellschaft. Die Sittlichkeit ist überwiegend noch nicht auseinandergetreten in Recht und Moral. Nur dort, in der Zirkulationssphäre, klar abgegrenzt von den anderen Bereichen, wo es überwiegend beim Alten bleibt, bildet sich Recht heraus.768 Und dort knüpft Savigny daher auch an. Denn alles scheint zu passen, wenn man dieses Recht in eine Gesellschaft überträgt, die ohne Sklaven auskommt. Ja, es scheint so, als finde das römische Recht erst jetzt und hier sein Zuhause. Das sieht Hegel grundsätzlich anders. Das Wesen des Rechts ist im römischen Recht schon deshalb nicht erfasst, weil dieses damals noch nicht „geworden“ ist. Der Sklave zeigt es: Die Formierung des Arbeitsvermögens zur selbständigen, vom Menschen getrennten Sache ist noch 765 Hervorhebung bei Hegel. 766 Ebd. 767 Wie wenig das Wesen darin erfasst ist, zeigt sich bei der Einordnung der Kinder. Diese sind wie die Sklaven der „Sache“ gleichgestellt, werden aber in aller Regel, abweichend von der Rechtslage, in der römischen Familienpraxis nicht so behandelt. Im Unterschied zu Hugo und Savigny lobt Hegel daher nicht die Perfektion, sondern solche „Inkonsequenz der römischen Rechtsgelehrten und Prätoren“, die sich aus dieser Unfertigkeit notwendig machen, als eine ihrer größten Tugenden“. 768 Siehe dazu: F. Schulz, a.a.O., S. 13–26.

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nicht abgeschlossen. Er ist Beleg dafür, dass die „Trennung zwischen diesen unorganischen Bedingungen des menschlichen Daseins“, dieser geistige Prozess der „Anerkennung“, der mit der „Formierung“ einhergeht, noch aussteht. Die unentwickelten Verhältnisse gestatten lediglich, dass „ein Teil der Gesellschaft ... von dem anderen selbst als bloß unorganische und natürliche Bedingung seiner eignen Reproduktion behandelt“769 wird. Jetzt, 1820, ist das längst anders. Das individuelle Arbeitsvermögen ist als „Ding“ fertiggestellt und anerkannt. Beide, „Geist“ und „Arbeitsvermögen“, „Zweck“ und „Mittel“, „Subjekt“ und „Objekt“ sind eins geworden. Dieser Wendepunkt erledigt die bisherigen juristischen Hilfskonstruktionen, die sich um „Person“ und „Eigentum“ ranken. Darunter jene, die sich bisher aus dem Auseinanderfall von „Person“ und „Eigentum“ ergab: der „altehrwürdigen“770, in Deutschland bis heute gehätschelten, Einteilung in Personen- und Sachenrecht. Die Römer konnten nicht zum „Begriff“ kommen, weil er voraussetzt, dass jene erste Negation der Sittlichkeit erfolgt ist, aus der „Recht“ und „Moral“ als nun klar voneinander abgegrenzte und entgegengesetzte Größen hervorgehen. „Geboren“ wird damals nur das Teil-Recht der Ware-Geld-Beziehungen. Und deswegen wird jetzt dieser Rückgriff auf „Rom“ zur Falle, führt die deutsche Rechtswissenschaft auf einen „Sonderweg“771, weil er den Blick auf die Zukunft versperrt und damit auf den eigentlichen Begriff. Gemeinsam ist Hegel und Savigny, dass sie gegenüber dem Naturrecht das positive Recht betonen. Aber das geschieht bei Letzerem auf der Grundlage eines eng gefassten, an der Austauschsphäre orientierten Begriffs, während Hegel am bestehenden Recht schätzt, dass es beide Naturen zum Gegenstand hat. Am Verhältnis zum ALR zeigt sich der Unterschied: Hegel sieht es im Großen und Ganzen positiv, Savigny hingegen sieht es als „Sudelei“. Und „römisch“ gesehen hat er damit recht. Denn im ALR ist gerade das, was in „Rom“ säuberlich getrennt ist, zusammengeführt. Zwischenergebnis: Savigny kritisiert am Begriff des Naturrechts, genauer: des Naturrechts, wie es von Svarez und Co. verstanden wird, dessen Weite. Alle Natur ist darin erfasst. Was aufgrund dieser Weite im Falle einer Kodifikation herauskommt, zeigt sich bereits am Umfang: 19.000 Paragrafen des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 stehen 2281 Artikeln des Code civil von 1804 und gar nur 1502 Paragrafen des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs von 1811 gegenüber. Schon 769 Marx, GR, S. 389. 770 Siehe dazu: Rosenzweig, a.a.O., S. 381 f. 771 Einen Sonderweg, den – worauf Hattenhauer (Einleitung, in: ders. [Hrsg.], Thibaut und Savigny, S. 20) hinweist – „zu verlassen heute Vertreter des Europarechts für geboten erklären.“

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das zeigt, dass den beiden anderen Gesetzbüchern ein weit enger gefasster Rechtsbegriff zugrunde liegt. Diese beiden Kodifikationen stehen von daher dem römischen Recht näher, wenn auch für Savigny nicht nahe genug. Das ALR hingegen ist ein echter Ausreißer; es schneidet daher bei einem Vergleich der drei Kodifikationen am schlechtesten ab.772 Auf eine Formel gebracht: Für Hegel ist der Rechtsbegriff des Naturrechts zu eng, für Savigny hingegen ist er zu weit. Konträre Standpunkte also, die einen „gehörigen Abstand“773 schaffen. Sie sind bedingt durch eine im mehrfachen Sinne „von Grund auf verwandelte Zeit“774 sowie deren unterschiedliche Interpretation durch die beiden. Savigny meint, dass es in Deutschland für eine Kodifikation zu früh ist, weil sich das „Ganze“ noch nicht in „Entgegengesetzte“ aufgespalten hat. Sittlichkeit und Recht sind noch nicht, besser: noch nicht sauber genug, getrennt, weshalb im Falle einer Kodifikation ein „verunreinigtes“ Recht, eine „Sudelei“ herauskommen wird. Zwar hat die gesellschaftliche Entwicklung in den drei Jahrzehnten seit 1785 einen „Ruck“775 gemacht und auch Deutschland an den Kapitalismus herangeführt. Die „freie Konkurrenz“ ist nahe – aber für Savigny nicht nahe genug. In Frankreich ist es anders. Auch der Code ist am römischen Recht orientiert,776aber hauptsächlich doch an dem, was in Frankreich bereits gesellschaftliche und ökonomische Praxis geworden ist: Kapitalismus der freien Konkurrenz. Er ist römisch kostümiert, während Savigny von dem Glauben geleitet wird, dass sich „Rom“, rechtlich gesehen, wiederholt, dass also das jetzt notwendige Verständnis von Recht sich mit dem Rechtsverständnis der Römer deckt. Und dieser Glaube hat ja auch etwas Bestechendes an sich: Schließlich ist das römische Recht charakterisiert durch klare Farben und Fronten. Schwarz – weiß, oben – unten, hier – dort, allgemeiner: „Reduktion auf wenige klar sprechende Motive.“777 Das ist die Verlockung, 772 Schon deshalb hält er das ABGB „für unschädlicher als den Code und den Code für unschädlicher als das preußische Gesetzbuch“, wie er am 19. Mai 1815 an Jacob Grimm schreibt. (Zitiert bei E. Wolf, Große Rechtsdenker, a.a.O., S. 506.) 773 Grawert, a.a.O., S. 449. 774 H. Thieme: Savigny und das Allgemeine Landrecht, DJZ 40 (1935), Sp. 220. 775 Das Bild des „Rucks“ wird von Hegel mehrfach gebraucht, vor allem im Zusammenhang der Französischen Revolution und der durch sie auch in Deutschland beschleunigten Entwicklung. 776 Laut F. Wieacker (Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 1952, S. 213) jedoch weit weniger als das spätere BGB. 777 F. Schulz (a.a.O., S. 46). Er führt aus (S. 13 ff.), dass das römische Recht durch „Isolierung“ einzelner Bereiche und deren Verrechtlichung, angefangen beim Bereich „Austausch“, entstanden ist, also durch eine „stückweise“ Umwandlung bzw. Ersetzung der Sittlichkeit durch „Recht“.

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der er verfällt. Savigny erliegt einem Schein, während die Verfasser des Code, von der Praxis mit der Nase auf die Unterschiede gestoßen und diese pragmatisch aufgreifend, eine Kodifikation zustande bringen, die zwar nicht zu „Rom“ passt, dafür aber zu den kapitalistisch gewordenen Verhältnissen Frankreichs. Gerade von daher hätte nahegelegen, dass Savigny zum Anhänger des Code civil wird. Aber eine irrationale Antipathie lässt ihn diesen wichtigen Punkt übersehen. Statt also das römische Recht, mit dessen Erforschung er, damals noch gegen den Zeitgeist778, seine wissenschaftliche Laufbahn beginnt, kritisch zu überprüfen und schöpferisch auf die Belange seiner Zeit umzuarbeiten, fällt er auf reinen Historismus zurück. J. Ritter behauptet, dass Hegel das römische Recht „nicht als ein historisch Vergangenes [sah], sondern als das ‚große Geschenk‘“779 an die Moderne. Ist das so? Ich meine: Nein! Schon eine oberflächliche Sichtung seiner Aussagen zu Rom und zum römischen Recht zeigt, dass er beide mit durchaus „gemischten“ Gefühlen betrachtet. Nüchtern stellt er Positives und Negatives gegenüber, wägt ab, vermeidet jede Schönfärberei, zeigt (in § 3 R), dass z.B. das Bemühen Hugos, das römische Recht als Vorbild für das jetzt gebrauchte „bürgerliche“ Recht vorzustellen, davon lebt, den Unterschied zwischen beiden Rechten zu verdrängen bzw. „hintanzustellen“. Kurzum: Sein Blick auf „Rom“ und auf das dortige Recht ist durch Realismus geprägt. So sieht es auch Rosenkranz: „Das Römische Recht ward ... von ihm gar nicht als das summum bonum der Gesetzgebung verehrt und er liebte es, die Schattenseiten desselben, namentlich sein Familienrecht, grell zu beleuchten.“780 Von Savigny unterscheidet ihn, dass jener zum Begründer einer positivistischen Rechtswissenschaft wird, während Hegel dem Recht ein philosophisches Fundament schafft. Er betont den Unterschied zum römischen Recht, nicht aber das „Bekenntnis zu seiner Tradition“781. Er geht, wie das bereits deutlich wurde, mit einem ganz anderen Geschichtsbild an „Rom“ heran. Er sieht, dass es trotz aller Modernität, trotz aller Nähe zum Heutigen, zu den „naturwüchsigen Gemeinwesen“ zählt. Wie dazu weiter vorn bereits ausgeführt: Savignys Denken ist hingegen maßgeblich durch den damals vorherrschenden Traditionsbegriff von „Gesellschaft“ bestimmt, nach dem alles menschliche Zusammenleben „gesellschaftlich“ ist, unabhängig davon, ob es in der Urgesellschaft, im antiken Athen, im antiken Rom, in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft oder in der bürgerlichen Gesellschaft stattfindet. Und dieses Denken überträgt er auf das Recht und auf die Rechtswissenschaft. Während 778 779 780 781

Siehe dazu H. Hattenhauer, Einleitung, a.a.O., S. 13. J. Ritter, Person und Eigentum, a.a.O., S. 57. Rosenkranz, a.a.O., S. 333. Vgl. § 180/Z R. Villey, a.a.O., S. 132.

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sie für Hegel Gegenstände der Philosophie sind, liegen sie für Savigny außerhalb derselben.782 Die „Idee“ des Rechts ist für ihn eine Schimäre. Sein Recht ist zu allen Zeiten, ist in allen Gesellschaften, „bürgerliches“783 Recht. Von dieser Grundposition aus kann er nicht genug Details herausarbeiten, um sie der, aus seiner Sicht „bedürftigen“, bürgerlichen Gesellschaft für ein künftiges Gesetzbuch anzudienen. Ganz anders Hegel, bei dem Villey zu spüren meint, mit welcher Unlust er ins Detail geht, wie sehr „diese Art Lektüre Hegel bald entmutigt“784 und wie schnell er sich von ihr trennt. Richtig daran ist, dass Hegel immer wieder feststellt: In Rom „gibt es ... eigentlich gar keine Philosophie“, auch keine „Rechtsphilosophie“785. Stattdessen: Detailkenntnis, Rechtsvirtuosität. Und weil es Savigny darum geht, um die „Mikrologie“786 des Rechts, ist er in „Rom“ goldrichtig, sieht er sich durch die Römer bestätigt. Dort blüht das praktisch-unbefangene Verhalten zum Recht. Als Erste damit konfrontiert, sind sie Rechtspositivisten. Was sie unterscheidet könnte also wie folgt umschrieben werden: Während Savigny meint, dass uns die Römer den Begriff des Rechts hinterlassen haben, der, in der Zeit des Mittelalters verschüttet, lediglich wieder zutage gefördert werden muss, sagt uns Hegel, dass die Römer uns einen solchen Begriff gar nicht hinterlassen konnten, weil sie aufgrund der unentwickelten Verhältnisse dazu objektiv nicht in der Lage waren. Die Römer sind also entschuldigt! Aus objektiven Gründen konnten sie die Erscheinung „Recht“ noch nicht auf den Begriff bringen. Alles ist noch im Werden. Nichts ist fertiggestellt. Die Folge: Die römischen Begriffe und Einteilungen sind aus der Sicht des „fertigen“ Begriffs „schief und krumm“, sind Umgehungskonstruktionen, mit denen das Fehlen der nicht fertiggestellten Zentralbegriffe „Person“, „Eigentum“ und „Vertrag“ überbrückt wird. Savigny und die ihm folgende Wissenschaft übernehmen also einen Zwischenstand und geben ihn, leicht modifiziert und modernisiert, als „Endstand“ aus. Und so ist es geblieben. Bis heute leben wir also mit einem unzulänglichen, an die „äußeren“ Sachen geknüpften Eigentumsbegriff. Und parallel dazu: mit einem an den „Menschen“ geknüpften Person-Begriff. An 782 W. Schild: Savigny und Hegel, in: Anales de la Cátedra Francisco Suárez18/19 (1978/79), S. 281: Savignys Theorie versteht sich „als der Versuch, eine von der Philosophie unabhängige und damit eigenständige Rechts-Wissenschaft zu begründen.“ 783 „Wo wir zuerst urkundliche Geschichte finden, hat das bürgerliche Recht schon einen bestimmten Charakter, dem Volk eigentümlich, so wie seine Sprache, Sitte, Verfassung.“ (Vom Beruf, a.a.O., S. 65 – Hervorhebung von mir.) 784 Villey, a.a.O., S. 136. 785 E. Gans, Naturrecht, a.a.O., S. 23. 786 E. Gans, Das Erbrecht, a.a.O., S. XX. Hegel selbst setzt in § 3/A R (S. 41) die römischen Rechtsgehrten den „Mathematikern“ gleich.

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ihnen messen, mit ihnen missverstehen wir Hegel. Das wird z.B. bei P. Landau sichtbar, der ihm einerseits einen weiten Eigentumsbegriff bescheinigt, „weiter als der des römischen Rechts“787, andererseits aber sagt: „Hegel umgeht die Frage, ob nicht jeder schon aufgrund abstrakten Rechts des einzelnen ein Minimum an Eigentum haben müsse, wenn Eigentum wirklich unentbehrliche Grundlage der Verwirklichung der Person ist.“788 Der enge römische, auf das „äußere“ Eigentum beschränkte, Begriff von Eigentum wird von Savigny über den Begriff „Vermögen“ erweitert.789 So ergänzt er, was über die Trennung in „Sache“ und „Obligation“ offenbleibt. Erstaunlich ist nun aber, dass er dieses Defizit Hegel zuschreibt – angeblich, weil dieser das „Vermögen“ nicht kenne.790 Er übersieht, dass Hegels „Eigentum“ auch das „Vermögen“ umfasst. „Römisch“ gesehen scheint es so zu sein, als ob Savigny den „sehr viel engeren Vermögensbegriff bei Hegel“791 überwindet. Dabei ist es genau umgekehrt. Der Eigentumsbegriff Hegels umfasst alle Formen des Eigentums und überwindet damit die Enge des römischen. Wie er sagt, dass „das persönliche Recht wesentlich Sachenrecht ist“792, kann er deshalb auch sagen, dass das Eigentum auch die Obligation umfasst. Beide Trennungen sind also aus dem gleichen Grund „historisch“ geworden. Das übersieht Savigny. Und so kommt es, dass seine kritiklose Übernahme der römischen Trennung in Eigentum und Obligation wie auch jener in Trennung in Sachen- und Schuldrecht den Rechtspositivismus befördert und insbesondere das deutsche Privatrecht auf einen „Sonderweg“ führt. Weil er „Rom“ als den direkten Vorläufer des Jetzigen ansieht, meint er, dass es, vom Rechtlichen her gesehen, reicht, das römische Recht um die Besonderheiten, die sich aus dem „Sklaven“ ergeben, zu bereinigen. Auf diese Weise kommt er zum „Menschen“, zur „Mensch-Person“ und zu einem „menschlichen“ Recht, wo Hegel scheinbar nichts weiter zu bieten hat als logische Surrogate. Wenn es bei J. Ritter, bezogen auf C. Wolff, heißt, dass dessen Naturrecht „dem positiven und historischen Gesetz ohne Zusammenhang mit der Wirklichkeit, der diese entspringen, als Norm“793 entgegengestellt ist, so ist damit der Bruch des neueren Naturrechts mit der Sittlichkeit angesprochen. Dem feudalen, also „sittlichen“ 787 P. Landau, a.a.O., S. 123. Eine neuere Stimme: C. Bertani: Hegels philosophische Vertragslehre, ZRG (GA)131 (2014), S. 184 u. 191. 788 Landau, a.a.O., S. 122. 789 Siehe dazu: Savigny, System 1, S. 340 u. 367–386. 790 Ebd., S. 376, FN k sowie System 3, S. 320 f. (FN f ). 791 H. Spindler: Von der Genossenschaft zur Betriebsgemeinschaft. Kritische Darstellung der Sozialrechtslehre Otto von Gierkes, Frankfurt a.M., Bern 1982, S. 26. 792 § 40/A R. 793 J. Ritter, „Naturrecht“, a.a.O., S. 27.

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Recht wird ein solches entgegengestellt, das das Recht nur der „produzierten“ Natur ist. Wenn Savigny es daher „ideologisch“ geprägt sieht und es als solches ablehnt, hat er darin also nicht unrecht; es ist ideologisch geprägt. Denn es wird ja als das Recht nur der einen Natur jenem Recht entgegengestellt, das sich von der „Einheitsnatur“ ableitet. Andererseits liegt auch seinem Weltbild nur die „produzierte“ Natur zugrunde. Aber während sich das Naturrecht auf alle Sphären dieser Natur bezieht, steht Savigny mindestens damals (um 1815) für eine radikale Verengung des Rechtsbegriffs auf den Bereich „Austausch“. Das hat, wie schon erwähnt, seinen Grund in der neuen Zeit, die – auch in Deutschland – dabei ist, den alten wirtschaftsfamiliären Zustand hinter sich zu lassen, und auf die „freie Konkurrenz“ zusteuert – auf einen Zustand also, der die Rückbesinnung auf „Rom“ nahezulegen scheint. Und das Beispiel Marx/Engels794 zeigt, dass er damit nicht alleine steht. Mit der „freien Konkurrenz“ etabliert sich ein gesellschaftliches Stadium, das sich philosophisch und juristisch mit dem Positivismus und politisch-ideologisch mit dem Liberalismus verbindet. Was mit ihm heraufzieht, kollidiert maximal mit dem Gesellschaftsmodell, das dem ALR zugrundeliegt. Auch von daher war es „nicht eine wissenschaftliche Laune, dass Savigny die Philosophie der Aufklärung hasste und der Jurisprudenz des 18. Jahrhunderts alle wissenschaftliche Leistung absprach.“795 Je näher die „freie Konkurrenz“ heranrückt, umso mehr scheint es, als wiederhole sich „Rom“. Spricht nicht schon von daher alles gegen ein Recht, das in bewusster Abkehr vom römischen796 entstanden ist? Das ALR bezieht sich auf einen unabgeschlossenen Prozess und ist insoweit „Prozessrecht“797. Das römische Recht bezieht sich dagegen auf den relativ stabilen, adynamischen Austauschbereich, der sich – wie es scheint – in der Moderne wiederholt. Und Savigny ist Befürworter des „ruhenden“, des „fertigen“, des zustandsbezogenen Rechts. Berücksichtigt man diesen, vor allem: ökonomischen, Hintergrund, wird verstehbar, dass er im ALR nur 794 Marx/Engels sprechen bekanntlich (AS II, S. 363) vom römischen Recht als vom „erste[n] Weltrecht einer warenproduzierenden Gesellschaft“. 795 H. Hattenhauer, Einleitung, a.a.O., S. 22. 796 Eine „feindselige Haltung“ (H. Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, a.a.O., S. 243) dem römischen Recht gegenüber prägte die juristischen Lehrbücher und die mit der Erarbeitung der Gesetze betrauten Juristen und fand über sie Eingang in das positive Recht. 797 H. Thieme (Die Zeit des späten Naturrechts, a.a.O., S. 254): „Den Gesetzgeber dachte sich das achtzehnte Jahrhundert in dauernder Tätigkeit begriffen. Das Gesetz sollte beständiger Veränderung, Sichtung, Neuredaktion und Ergänzung unterliegen. Bewusste menschliche Willensentscheidung sah man in ihm, noch nicht die Emanation stillwirkender Kräfte. Im absoluten Staat, mit seinem schlagkräftigen Gesetzgebungsapparat, gab es keine Ruhelage des gesetzten Rechts.“

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ein Hindernis für das Neue sehen kann – ein Standpunkt, den er, wie bereits gezeigt, mit Marx/Engels teilt. Und ebenso wird verstehbar, warum er meint, die Zeit für eine Kodifikation sei noch nicht reif. Ähnlich denen, die die „freie Konkurrenz“ idealisieren, idealisiert Savigny Rom und sein Recht. Und nur so – als idealisiertes Recht – kann er es der Gegenwart andienen.798 Er übersieht, dass dem römischen Recht der Austausch einfacher Warenproduzenten zugrundeliegt. Damit hilft er, das Recht einer einfachen Warenproduktion zu restaurieren, als sich auch in Deutschland der Übergang zu einer qualifizierten Form derselben, zur kapitalistischen, anbahnt. Und in deren Mitte steht nicht der Handwerker, sondern die Unternehmung. Er sieht die Rechtsordnung von der Peripherie her, nicht vom Zentrum.799 Nicht nur die Unternehmung im klassisch-kapitalistischen Sinne, sondern die sich bald zeigenden „kollektiven“ Gebilde des „organisierten Kapitalismus“ sind damit vor die Tür gesetzt. Von daher ist es keine „Fortschrittsideologie“800, die seinem „System“ zugrundeliegt. Aus dem Blickwinkel der bürgerlichen Gesellschaft gesehen ist das römische Recht ein Recht innerhalb des Zustandes „Unrecht“, gewissermaßen ein Recht im Unrecht.801 Der Standpunkt des absoluten Rechts ist noch nicht erreicht. Rom ist auf dem Weg dorthin, aber durch 1000 Jahre von ihm getrennt. Das römische Recht existiert nur, wo Warenproduktion und Ware-Geld-Beziehungen es erzwingen. Außerhalb derselben wird „Rom“ nicht geprägt vom „Rechtszustand“, sondern vom „Naturzustand“. Taugt ein solches Recht für die Neuzeit? Ist es damit getan, es vom Recht weniger zum Recht aller zu machen? Ist allein damit sein Grundwiderspruch ausgeräumt? Lassen wir E. Gans zu Wort kommen: Die Römer sind zwar ohne Rechtsphilosophie, sagt er, doch sie haben etwas, „was ebenso gut ist wie Rechtsphilosophie: sie haben das Wort ‚Recht‘, jus, erfun-

798 Für Kantorowicz ist Savigny ein Zeitreisender, der sich 1000 Jahre zurückversetzt, nach Rom, dort das Recht ergreift, damit zurückkehrt und es als das Recht für seine Zeit ausgibt. Siehe dazu H. Kantorowicz: Was ist uns Sayigny? Recht und Wirtschaft1 (1911/12), S. 47–54 u. 76–79 sowie ders.: Volksgeist und historische Rechtsschule, HZ 108 (1912), S. 295–325. 799 Siehe dazu die Ausführungen bei E. Rosenstock, a.a.O., S. 103 ff. 800 E. Wolf, Große Rechtsdenker, a.a.O., S. 386. 801 Er erklärt sich näher dazu, was Rom ist – „vom Standpunkte der Freiheit aus“ (§ 45) gesehen. Wir lesen in § 57/h.N.: „Sklaverei ist etwas Geschichtliches – d.h. sie fällt, gehört in einen Zustand vor dem Rechte“. „Der ganze Zustand soll nicht sein, ist [k]ein Zustand des absoluten Rechts“. „[A]ber innerhalb eines solchen Zustands [ist er] notwendig rechtlich.“

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den, das in keinem vorhergehenden Zustand der Geschichte aufzufinden ist.“802 Sie kommen zu dieser „Erfindung“, weil bei ihnen ein bisher eher bedeutungsloser gesellschaftlicher Bereich nach vorn rückt: der Handel im nationalen und internationalen Maßstab. All das erweckt später den Anschein, als sei das römische Recht der direkte Vorgänger des bürgerlichen. Anders als in der nachfolgenden Feudalordnung, in der die „Wirtschaftsfamilie“ und mit ihr die „naturwüchsige“ Sittlichkeit restauriert wird, führt hier das rigorose „Entweder-oder“, mindestens dort, wo sich Warenproduktion und Ware-Geld-Beziehungen ausprägen, zu den klar konturierten Bereichen „Recht“ und „Moral“. Dennoch, der Schwerpunkt liegt weiterhin auf „Gemeinwesen“. Deshalb ist es bereits vom Prinzip her falsch, die bürgerliche Gesellschaft lediglich als modifizierte, um den „Sklaven“ bereinigte römische anzusehen. Aber:„kein Herr, kein Sklave – ebenso aber kein Sklave, kein Herr“, haben wir Hegel bereits zitiert. Jeder Status, der positive wie der negative, fällt weg. Beide sind durch die „Person“ ersetzt. „Rom“ blieb unterhalb des Dinges „Arbeitsvermögen“. Dieses zu erkennen setzt ein ungleich höheres Niveau der Produktivkräfte voraus und ist der Moderne vorbehalten. Seine Juristen konnten deswegen auch nicht zum Begriff des Rechts gelangen – und sie waren klug genug, einen solchen auch nicht formulieren zu wollen. Um der Praxis zu genügen, behalfen sie sich mit Surrogaten. Aber als Savigny an sein Werk geht, ist die Zeit der Surrogate vorbei. Dennoch bleibt er bei ihnen – was bis heute in der Theorie und Praxis nachwirkt. Nachzutragen ist Folgendes: Savigny korrigiert seinen Standpunkt dieser Jahre803 – wenn auch nicht weit genug –, als er sich, rund 25 Jahre später, an die Abfassung seines „Systems des heutigen Römischen Rechts“ macht. Die Betonung liegt ja auf „heutig“. Er will ein römisches Recht schaffen, dass den gegenwärtigen Verhältnissen gerecht wird. Das zwingt ihn, Lebensbereiche in den Blick zu nehmen, zu denen das römische Recht weitgehend schweigt, weil sie damals größtenteils noch „sittlich“ und nicht auch „rechtlich“ verfasst waren. Jetzt aber sind sie, auch in Preußen, voll in den Gegenstandsbereich des Rechts gerückt. Im Kern geht es dabei um die ehemalige Wirtschaftsfamilie, jetzt also, nach deren Zerfall, um das Familienrecht und das mit ihm eng verbundene Erbrecht. Bei der rechtlichen Durchdringung dieser Materie kommt man nicht voran, wenn ein Rechtsbegriff zugrundegelegt wird, der um den Austausch „äußeren“ Eigentums, also um Schuld- und Sachenrecht, zentriert ist. Denn ihrem ökonomischen Kern nach gehören die Beziehungen innerhalb der Familie nicht dem 802 E. Gans, Naturrecht, a.a.O., S. 24 (Hervorhebung bei G.). 803 Siehe dazu F. Schaffstein: Friedrich Carl v. Savigny und Wilhelm v. Humboldt, ZRG (GA)72 (1955), S. 154–176, hier S. 168.

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Austausch an, sondern der Distribution. Deshalb steht dort auch nicht der Vertrag im Mittelpunkt – der Grund, warum Hegel die naturrechtliche Betrachtungsweise von Ehe und Familie „seit 1820 ... überhaupt verleugnet und das Erbrecht in der Philosophie der Familie, nicht des Rechts behandelt“, wie Rosenzweig etwas missverständlich804 formuliert. Die Familie im engen und im weiteren Sinne fußt auf Strukturen, die dem Vertrag entgegenstehen. Das Familienrecht handelt in der Person „Familie“805, das Austauschrecht handelt zwischen Personen. Savigny steht also vor zwei nicht nur sachlich, sondern „auch historisch völlig getrennte[n] Prinzipien der Systematisierung“806. Jetzt galt es, Lebensbereiche, die einmal „gemeinschaftlich“ und zum anderen „gesellschaftlich“ strukturiert sind, auf einen einheitlichen Nenner zu bringen. Dabei zeigte sich, dass das Familien- und Erbrecht ohne Rückgriff auf naturrechtliches Denken, besonders auf den Vertragsgedanken, theoretisch nicht zu erschließen ist. Und so muss sich auch Savigny, wenn er einen Beitrag zum heutigen Recht erbringen will, dazu bequemen, seinen Standpunkt des Jahres 1814 stillschweigend wenigstens teilweise zu Gunsten des Naturrechts, besser wohl: zu Gunsten der tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, zu revidieren. Denn der Unterschied zu „Rom“ und dessen Recht besteht ja gerade darin, dass jetzt der Bereich des Produzierens, also das Innere der „Wirtschaftsfamilie“, in der Mitte steht, dass jetzt der Freiheitsbegriff auf das Freiwerden dieses Bereichs und dieser Natur bezogen ist. Kein Weg führt daran vorbei. Eingeschlossen in diese Korrektur ist auch Savignys Urteil über die französische Rechtswissenschaft. Sein damaliges, „sehr ungünstiges Urtheil über die Französischen Juristen der neuesten Zeit“, räumt er ein, sei „völlig einseitig und ungerecht“ und nur der damals „aufgeregten Stimmung“ geschuldet.807 Eine ähnliche Korrektur, das ALR und seine Verfasser betreffend, gibt es indes nicht. Hier bleibt es bei seinem „Verdammungsurteil“808. Rechtsdogmatisch gesehen ist die Quadratur des Kreises zu meistern. Mit deutscher Gründlichkeit stellen Savigny und seine Getreuen sich dieser Aufgabe. Sie wird gelöst, indem den beiden heterogenen Teilen ein Allgemeiner Teil809 vorgeschaltet 804 Rosenzweig, a.a.O., S. 385. Exakter wäre formuliert, dass Hegel Familien- und Erbrecht nicht im „abstrakten“ Recht abhandelt, sondern im Teil „Sittlichkeit“, weil sie Gegenstände des konkreten Rechts sind. 805 Siehe § 169 R. 806 A.B. Schwarz: Zur Entstehung des modernen Pandektensystems, ZRG (RA)42 (1921), S. 609. 807 Vom Beruf, Vorrede zur 2. Auflage von 1828, in: H. Hattenhauer (Hrsg.), Thibaut und Savigny, S. 170. 808 H. Thieme, Savigny und das Allgemeine Landrecht, a.a.O., Sp. 221. 809 Nicht jede moderne Kodifikation des Privatrechts hat einen AT. In Deutschland erwuchs ein besonderes Bedürfnis noch einem solchen, weil hier der Kodifikation zwei unterschiedliche Systeme, das römischrechtliche und das naturrechtliche, zugrunde-

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wird, dessen Inhalt ihrer Homogenisierung dienen soll. Aber das geschieht in der einseitigen Weise, dass der Ausgangspunkt des römischen Rechts, der Austausch, zugrundegelegt wird, damit also der Austauschvertrag zum Maßstab gemacht wird. Und auf dieses Maß werden die anders gearteten und umfänglicheren innerfamiliären Beziehungen herabpotenziert. So unzureichend das Ergebnis ist, bringt es doch den unschätzbaren Vorteil mit sich, dass über dieses Verfahren ein wesentlicher Teil der zerfallenen Wirtschaftsfamilie, die Unternehmung, als rechtliche „Sondermaterie“ aus dem Blick gerät.810 Was uns aus diesen Bemühungen bis heute erhalten geblieben ist, ist das „merkwürdig uneinheitliche Gepräge unseres [deutschen – B.R.] Systems“811 gegenüber Kodifikationen, die – à la Naturrecht – die gesamte „produzierte“ Natur „im Stück“ zum Gegenstand des Rechts machen812. Hegel hingegen sieht die Familie weder „römisch“ noch naturrechtlich. Sie ist für ihn ein eigenständiger Bereich, der im Rahmen des Ganzen spezifische Aufgaben erfüllt. Wichtig ist, dass ihr „Inwendiges“ sich teils dem Recht entzieht, sich teils in hierarchischen Beziehungen zeigt. Gerade Letzteres führt dazu, dass Hegel den familienrechtlichen Regelungen des ALR Verständnis entgegenbringt, ja sich an den dortigen Gang bei der Ausführung des Teils „Familie“ anlehnt.813 Kurzum: Er erkennt den qualitativen Unterschied gegenüber dem Austauschbereich und lehnt deshalb eine „Vertraglichung“ der Familie ab.

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liegen. Der AT wird daher in der ausländischen Rechtswissenschaft „als ein spezifisch deutsches Geistesprodukt angesehen“ (Schwarz, a.a.O., S. 587, FN 1). Näher dazu weiter unten (Kapitel 11). Schwarz, a.a.O., S. 602. ... und deshalb zumeist ohne einen Allgemeinen Teil auskommen. Siehe dazu: Rosenzweig, a.a.O., S. 390.

9 Exkurs: Hegel und das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten Hegel hat das ALR, im Unterschied zu den meisten seiner Zeitgenossen, insgesamt positiv bewertet. Um das zu verstehen, ist es nötig, darauf hinzuweisen, dass die dortigen Regelungen bereits ein in Umwandlung zum „Vernunftstaat“ (Stichwort „aufgeklärter Absolutismus“!) befindliches „naturwüchsigen Gemeinwesens“ zeigen. Kein „Zerfall“ ist zu Ende gekommen, alles befindet sich noch im Fluss; nichts, worauf sich die Regelung bezieht, ist „fertiggestellt“. Die Besonderheit also: Die Kodifikation regelt nahezu ausschließlich Gegenstände, die sich im Stadium ihres Werdens befinden. Eine spezifische historische Situation also, die darin eingefangen ist. Von „hinten“ betrachtet ist das ALR antifeudales, von vorn betrachtet ist es antibürgerliches Recht.814 Ein Zwischenstand ist abgebildet. Der Versuch, einen Antagonismus zu überbrücken – allerdings zu einem Zeitpunkt, da dieser noch nicht voll ausgebildet ist. Ein Recht des Übergangs, ein Recht zwischen Tür und Angel; ein sichtbar gemachter Geburtsvorgang. Koselleck beschreibt das Anliegen von Svarez und Kollegen wie folgt: Es ging den Justizaufklärern darum, einmal die unumschränkte Macht des Monarchen einzubinden in das System der vernünftigen Zwecke ... und zum anderen, die Eigenständigkeit der Stände soweit in staatlichen Auftragsdienst zu verwandeln, dass alle Untertanen in ein staatsunmittelbares Verhältnis eintreten konnten. In beiden Richtungen ist das Landrecht auf halbem Wege stecken geblieben. Das Landrecht stellt einen Kompromiss dar zwischen überkommenen Zustand und zukunftgerichteter Absicht.815

814 Aus der Sicht A. de Tocquevilles (Der alte Staat und die Revolution, hrsg. v. J.P. Mayer, Bremen o.J. [1959], S. 286): „[Z]ur Hälfte dem Mittelalter entlehnt“, zur „anderen Hälfte … an den Sozialismus“ angrenzend. 815 R. Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791–1848, Stuttgart 1981 (3. Aufl.), S. 24 f. Ähnlich differenziert urteilt U.-J. Heuer (Allgemeines Landrecht und Klassenkampf. Die Auseinandersetzungen um die Prinzipien des allgemeinen Landrechts Ende des 18. Jahrhunderts als Ausdruck der Krise des Feudalsystems in Preußen, Berlin 1960, S. 22 f.), einer der wenigen, die sich aus marxistischer Sicht mit dem ALR befassen. Auch er verweist auf dessen „fortschrittliche Züge“, die es zu einer „komplizierten, widerspruchsvollen historischen Erscheinung“ machten, die es lohne, erörtert zu werden.

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Zwei entgegengesetzte Naturen sollen vermittelt werden – und zwar durch den jetzt in „Vernunftgestalt“ auftretenden Staat. Auf die Frage R.K. Hočevars, „worauf Hegels positive Einstellung zum Landrecht hauptsächlich zurückzuführen“816 ist, wäre also zu antworten: Das „Halbe“, das Halbfeudale, das Halbbürgerliche daran. Das Unfertige. Das im Fluss Befindliche. Interessanter Stoff für Hegel, der stets mehr am Werdenden interessiert ist als am Gewordenen.817 Stoff, der mehr enthält als das im „Zustand“ Geronnene.818 In Preußen war noch im Gange, was in England und auch Frankreich bereits zum Abschluss gekommen war. In der Endphase seiner Erarbeitung spielt das revolutionäre Anschauungsmaterial, das aus Frankreich sowohl zu den Verfassern des ALR als auch zum Nachfolger Friedrichs II. herüberdringt, eine bedeutende Rolle. Vor ihren Augen wird dort ein rigider „Staatsabsolutismus“ durch einen ebenso rigiden „Gesellschaftsabsolutismus“ ersetzt. Eine Lösung nach dem Entweder-oderPrinzip. Den Verfassern des AGB/ALR geht es hingegen von vornherein darum, „zwei unvereinbare Sozialmodelle miteinander zu verquicken“819. Sie versuchen, mit dem Allgemeinen Gesetzbuch für die Preußischen Staaten (AGB) eine Lösung zu finden, die das „Gemeinwesen“ erhält, ohne die heraufziehende bürgerliche Gesellschaft zu verhindern. Ihr Ziel ist die Umwandlung des bestehenden aufgeklärtabsolutistischen Staates in einen „Vernunftstaat“820, der für sie „konstitutionelle Monarchie“ ist. Auf der Ebene des Rechts wird nicht der Zerfall des bisherigen „Einheitsrechts“ in ein „abstraktes“ Recht hier und eine „abstrakte“ Moralität dort angestrebt, sondern dessen Umwandlung in ein „Vernunftrecht“. Und so ungenügend, so hölzern dies auch geschieht: Das ist es, was das ALR für Hegel interessant macht. In der „Vernunft“ und was damit verbunden ist: im Ziel, das Gemeinwesen zu erhalten, treffen sie sich. Und wir werden noch sehen, dass er hieran anknüpft – insbesondere im Abschnitt „Staat“.

816 R.K. Hočevar: Hegel und das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten, Der Staat 11 (1972), S. 192. 817 Siehe dazu G. Lukács, Zur Ontologie, a.a.O., S. 73. 818 Das ist ein Gesichtspunkt, der auch bei Thieme (Die Zeit des späten Naturrechts, a.a.O., S. 248) anklingt. 819 Hočevar, a.a.O., S. 199. 820 H. Thieme (Die Zeit des späten Naturrechts, a.a.O., S. 206 f.) weist darauf hin, „dass es eine deutsche Aufklärung gab, die mit der Ausbildung und Übung des Verstandes seine Richtung auf gemeinnützige, praktische Gegenstände vereinigte“. Eine Variante der Aufklärung, die den hegelschen Vernunftgedanken in gewisser Weise vorwegnimmt und im ALR umzusetzen sucht. Näher charakterisiert ist diese „deutsche“ Aufklärung, in deren Geist der junge Hegel heranwuchs und erzogen wurde, bei H.F. Fulda, Hegel, a.a.O., S. 26 f.

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Im Anliegen stehen sie sich also nahe. Das unterscheidet Hegel von Kant, der als philosophischer Vertreter eines „gesellschaftlichen“ Standpunktes der ganzen Unternehmung „AGB/ALR“ wesentlich kritischer821 gegenüberstand. Das im ALR kodifizierte Recht ist in die Sittlichkeit eingebunden. Überall zeigt sich die Einheit von Recht und Pflicht. Überall kann man noch das „Gemeinwesen“ herausfühlen. Das lässt das ALR antiquarischer aussehen, als es tatsächlich ist.822 Doch gerade das, was ein Marx und mit ihm die Liberalen, denen der Maßstab „Sittlichkeit“ fremd ist, der feudalen Mottenkiste zuordnen, macht es für Hegel interessant. Wo jene einen Staat bestärkt sehen, der ihrer Meinung nach abgeschafft gehört, sieht Hegel, was hinter ihm steht: das lediglich „gestaltlos“ gewordene Gemeinwesen. Hier liegt der Unterschied. Es leuchtet ein, dass eine Pflicht, die gegenüber der Natur besteht und bloß vom Staat für diese exekutiert wird, anders zu bewerten ist als eine Pflicht, die sich auf nichts weiter bezieht als auf eine Institution „Staat“ oder gar nur den Monarchen. Die Frage der „Freiheit“ ist angesprochen. Und das sahen wir schon: Der Freiheitsbegriff fällt sehr verschieden aus, wenn er vom Standpunkt der Gesellschaft oder vom Standpunkt des Gemeinwesens formuliert wird. Der liberale und auch der marxistische Standpunkt sehen im ALR überwiegend die Unfreiheit betont. Anders Hegel. Seine Bewertung „legt den Schluss nahe, dass es vor allem der Freiheitsbegriff des ALR und seine spezifische staats- und verfassungsrechtliche Ausprägung waren“823, die es ihm angetan hatten. Denn die Willkür-Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Mitglieder ist ja nicht zu Gunsten des Monarchen eingeschränkt, sondern zu Gunsten der „primären“ Natur. „Logisch“ gesehen setzen die Verfasser des ALR den zweiten Schritt vor dem ersten. Sie führen „vernünftig“ zusammen, was noch nicht geschieden ist. Insofern ist der Vorwurf berechtigt, dass damit die noch halbfeudalen Verhältnisse festgeschrieben werden. Der Vorwurf übersieht aber, dass diese „halbfeudalen“ zugleich als „halbkapitalistische“ Verhältnisse charakterisiert werden können.

821 Siehe Koselleck, a.a.O., S. 154. J.F. Herbart, der Nachfolger Kants in Königsberg, kritisiert in seiner Rezension von 1822 (in: M. Riedel [Hrsg.], Materialien 1, S. 81–99, vgl. besonders S. 82 u. 91) denn auch die Vermischung von „alt“ und „neu“, von altem und neuen Naturrecht in der „Rechtsphilosophie“ und drückt damit indirekt aus, dass Hegel das Prinzip des ALR zur Grundlage seiner Rechtsphilosophie gemacht habe. 822 Siehe dazu R. Benthaus: Eine „Sudeley“? Das Allgemeine Landrecht für die Preussischen Staaten von 1794 im Urteil seiner Zeit, Kiel 1996. Der Autor zeigt das sehr unterschiedliche Echo, das das ALR in Wissenschaftskreisen fand. Es reicht von einem Extrem zum anderen. 823 Hočevar, a.a.O., S. 192 f.

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Und freilich, mit dem ALR und seinen 19.000 Paragrafen wird ein monströses, kopflastiges, schwer handhabbares Produkt in die Welt gesetzt. Aber nicht diese, eher praxisrelevanten, Mängel stehen für Hegel im Vordergrund, sondern der zugrunde liegende „theoretische Geist“824. Fürsorgepflicht des Gutsherren und Treuepflicht des Gesindes sind miteinander verknüpft. Das ALR soll mit seinen Regelungen verhindern, dass die Betroffenen des Zerfalls der alten Strukturen in ein soziales Loch fallen, wie dass in England und in Frankreich825 der Fall ist. Die Kritik, der die Verfasser des ALR und dieses selbst von Seiten der feudalen Reaktion ausgesetzt sind, zeigt an, dass damit der neuralgische Punkt getroffen ist. Bei Koselleck heißt es dazu: Die künftige Antinomie zwischen Rechtsstaat und Sozialstaat war im Gesetzbuch schon angelegt. Gerade die altständischen Liberalen haben später darauf hingewiesen, dass aus moralischen Pflichten soziale Rechtsansprüche geworden seien, die den König so sehr seiner Freiheit beraubten wie sie den Staat zur Ausdehnung seiner Macht zwängen. „Jeder Ungebildete hat nun das Recht – Unterricht; jeder Kranke – Heilung; jeder Arme – Unterstützung; jeder Bedürftige – Hilfe vom König zu fordern.“ Seit dem ALR werde jede Dankbarkeit von sozialer Anmaßung und politischer Herausforderung verzehrt.826 Auch diese „Sozialität“ erklärt also das Wohlwollen, mit dem Hegel dem ALR begegnet. Er spürt ja, welche soziale Kälte mit der bürgerlichen Gesellschaft heraufzieht. Schon deshalb ist sie für ihn nicht das Nonplusultra. Ja, sie steht auf der Tagesordnung auch der deutschen Geschichte. Ja, sie bringt Fortschritt. Aber sie ist gefährlich. Deshalb muss man sich ihr behutsam, wohldosiert nähern, nicht mit brachialer Gewalt. Vorsicht, Aufsicht tut not. Sie darf sich nicht zum Staat erheben, sondern muss diesen vor sich haben. Er teilt daher nicht die Ansicht, dass der Staat ihr Platz zu machen hat. Noch dazu einer, der bereits dabei ist, sich in einen „Vernunftstaat“ umzubilden. Übertragen auf das Recht: Wie er gegen eine Alleinherrschaft der bürgerlichen Gesellschaft ist, so ist er auch gegen die Alleinherrschaft eines „abstrakten“ Rechts. Was aus einseitig „gesellschaftlicher“ Sicht als der feudale „Pferdefuß“ des ALR angesehen und angeprangert wird, sieht Hegel also weit differenzierter und deshalb positiver. Und er hat Grund dazu. Er stellt heraus: „Wie ein Hausvater für das Wohl seines Haushalts und der Untergebenen mit Energie sorgt und regiert, davon hat er [Friedrich II. mit dem ALR – B.R.] ein einziges Beispiel 824 Wieacker, a.a.O., S. 206. 825 Marianne Weber (Fichte’s Sozialismus, a.a.O., S. 5) weist darauf hin, dass das Turgot’sche Edikt von 1776 (es führt die Gewerbefreiheit und die Freizügigkeit ein) „Massen Arbeitsloser aus den Provinzen in die Stadt treibt“. 826 Koselleck, a.a.O., S. 148 f.

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aufgestellt.“827 Denn mit dieser „hausväterlichen“ Seite und ihrer Verrechtlichung ist eine Dimension des Rechts, vor allem aber des „Not-und Verstandesstaates“ deutlich gemacht, die den zu seiner Zeit und später Platz greifenden Vorstellungen weit voraus ist: Sozialität. Aktuell ist damals Savigny und mit ihm eine Vorstellung vom Recht, die dieses ausschließlich von der „Zirkulation“ her versteht, also individualistisch, schuldrechtlich und „römisch“. Es trifft daher den Kern, wenn Koselleck schreibt, Hegel habe den „auf eine moderne Gesellschaft vorausweisende[n] Teil“828 des ALR im Blick gehabt. Ein Zwischenstand ist im ALR festgeschrieben. Die Gutsherren werden einerseits eines Teils ihrer Privilegien „enteignet“, andererseits werden sie vom Staat mit der weiteren Wahrnehmung des Enteigneten beliehen. Die Regelung ist entsprechend: Es entsteht nicht „Recht“, sondern eine „Verrechtlichung“; es entsteht ein „Mischrecht“, jene dritte Art von Recht, die Gierke 70 Jahre später „Sozialrecht“ nennen wird. Dieses prägt die Kodifikation und erklärt zugleich, dass darin nur wenig „echtes“ Privatrecht829 zu finden ist. Aus der Sicht Savignys: Ein Unding ist damit in die Welt gesetzt, eine „Sudelei in Form und Materie“, wie er seinem Schwager A. von Arnim schreibt.830 Ein Beleg seiner „Ansicht, nach welcher in dieser Zeit kein Gesetzbuch unternommen werden sollte.“831 Im ALR wird vereinigt, was noch nicht zur vollständigen Trennung gelangt ist. Eine verfrühte Aktion. Aber ist es deshalb wertlos? Für Savigny ja. Mit höflichen Worten attestiert er den Verfassern zwar „Gewissenhaftigkeit und Liebe zur Sache“832, aber damit ist nur eine „sportliche“ Leistung gelobt, während ein „Gebrauchswert“ abgesprochen wird. Andere Kritiker sind we827 VPhG, S. 523. 828 Koselleck, a.a.O., S. 143. 829 Wenn Thieme (Die Zeit des späten Naturrechts, a.a.O.,S. 203, FN 2) auf O. v. Gierke verweist, der in einer seiner Arbeiten zum Thema „Naturrecht und Deutsches Recht“ vorwiegend die öffentlich-rechtliche Seite behandelt, das Privatrecht aber auf mageren zwei Seiten, so hat Letzteres seinen Grund darin, dass die noch nicht zu Ende gekommene Scheidung der beiden Seiten der Wirtschaftsfamilie mit einem Recht in Verbindung steht, das noch zwischen unseren heutigen Extremen „öffentlich“ und „privat“ steht. Gierke nennt es daher nicht ohne Grund „Sozialrecht“. Gemessen an dessen Umfang ist der Umfang des „echten“ Privatrechts relativ gering. Das ist heute nicht anders. 830 Brief vom 22. November 1816. Zitiert bei R. Benthaus, a.a.O., S. 122. Savigny antwortet damit auf ein Schreiben des Schwagers, in dem dieser das ALR „über den grünen Klee“ lobt. 831 F.C. v. Savigny, Vom Beruf, a.a.O., S. 95. Seine Geringschätzung des ALR zeigt sich auch dort, wo er dessen „zweiten großen Vorzug“ benennt. Nämlich den, „bloß als subsidiarisches Recht“ gelten zu sollen (ebd.). 832 Ebd.

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niger vornehm und zurückhaltend und bezeichnen das ALR mehr oder weniger deutlich als ein Bollwerk zum Schutz und zur Konservierung der feudalen Verhältnisse.833 Erst 100 Jahre später, mit dem Übergang zum „organisierten Kapitalismus“ und zum „Sozialstaat“ wandelt sich die Beurteilung des ALR von einer überwiegend negativen zu einer überwiegend positiven – wie ja auch der Übergang zum „Sozialstaat“, aus liberaler Sicht zunächst mit dem Attribut „neofeudal“ diskreditiert, bald aber überwiegend positiv gesehen wurde. Jetzt kommt es zu dem, was H. Thieme834 als den „Wiederaufnahmeprozess“ bezeichnet. Bis dahin eher negativ beurteilt und totgeschwiegen, wird das ALR jetzt, wo der von Staatswegen erfolgte „Eingriff“ notwendiger und selbstverständlicher Teil der Wirtschaftspolitik wird und zur stillschweigenden Korrektur liberaler Grundsätze zwingt, wiederentdeckt. Die jetzige Neu-Beurteilung ist zwar 1933 ff. auch mit dem spezifisch nationalsozialistischen Rechtsverständnis verknüpft, ist damit allein aber nicht zu erklären. Der entscheidende Punkt ist der Ruck im Denken und Handeln, der damals weltweit zu beobachten ist. Deutlich zeigt sich Hegels positives Verhältnis zum ALR dort, wo er sich – wie in der „Reformbill-Schrift“ – mit dem englischen Recht auseinandersetzt. Oberflächlich gesehen haben beide Rechte ein Gemeinsames: die unverkennbar feudale Herkunft. Ja, das englische Recht ist insgesamt feudaler als das feudalste deutsche Recht, weil es nicht, mindestens nicht im gleichen Maße, wie auf dem Kontinent über die Rezeption des römischen Rechts zu einem „gemeinen Recht“ modifiziert worden ist. Es ist originärer feudal als das preußische; es ist deutlicher um das Privileg zentriert als dieses. Zugleich aber ist der englische Feudalismus ein anderer, modernerer als der Kontinentale.835 Das Geheimnis, warum gerade mit diesem Privileg-Recht der Übergang zu einem Recht bewältigt wird, das der Interessenlage einer bürgerlichen Gesellschaft besser entspricht als jenes des ALR, wird offenbar, wenn man sich das englische Justizsystem vor Augen hält. Die dort unbestreitbar größere Unabhängigkeit, die unbestreitbar größere Macht der Gerichte und der Richter, die sich mit dem System des „Fallrechts“ verbindet, führt dazu, dass die Umwandlung des feudalen in bürgerliches Recht auf einer Ebene vollzogen wird, die selbst zur bürgerlichen Gesellschaft gehört, also außerhalb des Staates liegt. Nicht diesem, sondern einer von ihm weitgehend unabhängigen Institution obliegt die Schaffung eines der bürgerlichen Gesellschaft adäquaten Rechts. Das erfolgt von Fall zu Fall, zugeschnitten auf den jeweiligen „Bedarf“ oder deutlicher: auf das jeweilige ökonomische Interesse. 833 Siehe die Darstellung bei U.-J. Heuer, a.a.O., S. 158 ff. u. 261 ff., wo er auf die kritischen Stellungnahmen Johann Georg Schlossers und Ernst Gottlob Morgenbessers verweist. Siehe auch R. Benthaus, a.a.O., S. 105 ff.; dort mehr ein Kaleidoskop der Meinungen. 834 H. Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, a.a.O., S. 204. 835 Darauf macht Marx in den „Grundrissen“ (S. 390) aufmerksam.

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Wie es der US-amerikanische Ökonom Bernhard836 anschaulich schildert: Das individuelle Recht, Wildgänse zu jagen, einen Schauspieler auszupfeifen oder in wilder Ehe zu leben, wird per „Fall“ umgedeutet (z.B.) in das Recht, Wettbewerbsabsprachen treffen zu dürfen. Auf hocheffektive Weise entsteht so in England „abstraktes“, „pflichtloses“ Recht. Per Rechtsprechung wird das „pflichtlose“ Privileg in ein ebenso pflichtloses Recht uminterpretiert, aber – wie Hegel kritisch anmerkt – ohne dass hinterfragt wird, ob diese „Rechte auch nach ihrem materiellen Inhalte … recht und vernünftig sind“837. Anders im Geltungsbereich des ALR. Dieses enthielt das Verbot der Rechtsfortbildung durch Präjudizien, Kommentare und „gelehrte Spitzfindigkeiten“838. Damit war eine Umdeutung der dem Monarchen einst abgetrotzten, abgekauften oder von ihm als Geschenk erhaltenen Freiheiten und Privilegien in bürgerliche Rechte ausgeschlossen. Kritikpunkt also: Was eigentlich „Staatsrechte“ sind, ist in England „bei der privatrechtlichen Form ihres Ursprungs und damit bei den Zufälligkeiten ihres Inhalts stehengeblieben.“839 Anders gesagt: Der Vorgang der Rechtsetzung läuft ohne „Vermittlung“ ab; es fehlt daher die Kontrollinstanz „Vernunft“. Nach heutigen Maßstäben: Er sollte „sozialverträglich“840 und – wie unbedingt zu ergänzen ist – naturverträglich ablaufen. Was Hegel also kritisiert, ist, dass in England ein Recht zur Entstehung gelangt, das die Interessen der „produzierten“ Natur und ihrer Atome unverfälscht zum Ausdruck bringt. Den Verfassern des ALR rechnet er hingegen positiv an, dass sie den Durchbruch zur Moderne unter die Kontrolle des „Ganzen“ stellen, wenn auch das Ergebnis keineswegs optimal ist. Ist Ausgangspunkt die Interessenlage der „produzierten“ Natur, fällt selbstverständlich das Urteil zu Gunsten des englischen Weges aus. Von dorther gesehen ist der „preußische Weg“ nicht nur ziemlich rückschrittlich, sondern geradezu indiskutabel. Kein Wunder also, dass die Liberalen, dass auch Marx/Engels841 das englische Recht trotz seiner feudalen Herkunft favorisieren. 836 R.C. Bernhard: Wettbewerb, Monopole und öffentliches Interesse. Ihre Behandlung in der ökonomischen Theorie sowie im anglo-amerikanischen und deutschen Recht, Stuttgart 1963, S. 1. 837 RB, S. 88 – Hervorhebung bei H. 838 Vgl. dazu F. Wieacker, a.a.O., S. 204. 839 RB, S. 89. 840 Koselleck (a.a.O., S. 148) dazu: „Die Grenzfrage, sie sich Svarez daher stellte, lautete: wieweit darf der staatliche Zwang zu sozialem Verhalten reichen, ohne sich in das Eigenleben seiner Bürger zu sehr einzumischen?“ 841 Siehe z.B. Engels in seiner Feuerbach-Schrift (MEW 21, S. 301), wo er klar zum Ausdruck bringt, dass die englische Umdeutung des feudalen in bürgerliches Recht, dass auch der französische Code einem Gesetzbuch wie dem ALR (Produkt „angeblich aufgeklärter, moralisierender Juristen“) vorzuziehen sind.

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Thieme hebt hervor, dass das ALR ein Produkt der „deutschen Aufklärung“ des 18. Jahrhunderts ist, die dadurch charakterisiert ist, sich bezogen auf das Recht, in Abkehr von den naturwissenschaftlich-mathematischen Herangehensweisen, an der „Vernunft“ zu orientieren.842 Und die Vernunft führt zu einem Staat, der weder identisch ist mit dem Absolutismus noch mit der bürgerlichen Gesellschaft. Beide, Staat und Recht, sind auf „Vermittlung“ angelegt. Mit anderen Worten: Preußen ist auf dem Weg zur konstitutionellen Monarchie. Das ist ein weiterer, höchst wichtiger, Punkt. Koselleck verweist dazu auf den 13.Titel des Teil II ALR, der die Überschrift trägt: „Von den Rechten und Pflichten des Staates überhaupt.“ Magere 18, gegenüber dem AGB von 1791 deutlich entschärfte Paragrafen entfallen darauf.843 Und doch zeigen sie, dass Preußen sich endgültig vom Absolutismus verabschiedet hat. Denn der Monarch unterwirft sich darin dem Staat, bescheidet sich, dessen erster Diener zu sein. „Der absolute Monarch bezieht seine Legitimation nur aus der Wahrung der Rechte, die vom Naturzustand in die Gesellschaft eingebracht werden. Damit verwandelt sich der Souverän, mag er auch in der Praxis unbeschränkt walten können, in ein ‚Oberhaupt‘, in einen ‚Vorsteher der bürgerlichen Gesellschaft‘, oder, wie es bezeichnenderweise im Landrecht heißt: er wird zum ‚Oberhaupt im Staate‘ (§ 2, II, 13).“ Kurz gesagt: Der Staat wird zur „Anstalt der bürgerlichen Gesellschaft“.844 Und der Marxist U.-J. Heuer kommentiert den Inhalt dieser Bestimmungen mit den Worten: „Man ist versucht zu glauben, eine bürgerliche Verfassung vor sich zu sehen.“845 100 Jahre vor ihm schreibt Tocqueville zum ALR: „[E]ine wahre Verfassung“. Denn es diene „nicht nur dem Zweck, die Beziehungen der Bürger untereinander, sondern auch die Beziehungen der Bürger zum Staat zu regeln; es ist zugleich ein Zivil-, ein Strafgesetzbuch und eine Verfassung.“846 Freilich, im AGB von 1791 waren diese Passagen deutlicher, progressiver gefasst. Sie waren als eine Art „Ersatzverfassung“ gedacht, wie entsprechende Formulierun842 H. Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, a.a.O., S. 206, 230 f. W. Dilthey prägt das Wort vom „preußischen Naturrecht“, das Wieacker (a.a.O., S. 204) als „zutreffend“ bezeichnet. 843 Um den Unterschied zu zeigen: Der 1. Titel „Ehe“ umfasst 1131 und der 2. Titel „Wechselseitige Rechte und Pflichten der Eltern und Kinder“ umfasst 773 Paragrafen. 844 Diese Bewertung ist vorherrschend in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, zu einer Zeit also, als in der Bundesrepublik der Sozialstaatsgedanke Konjunktur hat. Moderne Stimmen tendieren eher (wieder) dazu, die „Unhaltbarkeit“ solcher Thesen zu betonen, „wonach dem Allgemeinen Landrecht unmittelbar konstitutionelle Wirkung zukommen soll“ (W. Stegmaier: Das Preußische Allgemeine Landrecht und seine staatsrechtlichen Normen. Über die Funktion der Rechtssätze des Allgemeinen Staatsrechts in AGB und ALR unter der Bedingung der uneingeschränkten Monarchie, Berlin 2014, S. 107). 845 Heuer, a.a.O., S. 140. 846 Tocqueville, a.a.O., S. 281.

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gen in der Einleitung zeigen.847 Und trotzdem. Obwohl der „wirkliche Staat des Landrechts … insofern nicht dem Entwurf einer bürgerlichen Gesellschaft, wie sie Svarez und seinen aufgeklärten Mitstreitern vorgeschwebt hatte“ entsprach, war der Übergang zur konstitutionellen Monarchie vollzogen. Die „gesetzliche Weiche zugunsten einer staatsbürgerlichen Eigentümergesellschaft ... in Preußen [war] gestellt. … Die Umwandlung der monarchischen in eine staatliche Souveränität wurde damit besiegelt“848. Es ist also richtig eingeschätzt, wenn Koselleck die Bedeutung des ALR besonders an dessen staatsrechtlichen Teilen festmacht und dies mit den Angriffen belegt, „die gegen diese Teile während des gesamten Vormärz“849 erfolgten. Was Svarez und seine Mitstreiter damals auf den Weg brachten: einen „entpersönlichten“, vom Monarchen, aber auch von der bürgerlichen Gesellschaft getrennten Staat. Die Staatsverfassung ist damit grundlegend verändert. Kein unbeschränkt herrschender Monarch und keine unbeschränkt herrschende bürgerliche Gesellschaft. Beides steht im Einklang mit Hegel. Der Übergang zum entpersönlichten, zum entbiologisierten, auf die „Vernunft“ gestützten „Einheitsstaat“ ist damit erfolgt. Er ersetzt alle vor ihm existierenden „naturwüchsigen“ Staatsformen, die sich stützen auf die „Freien“ (Polis-Demokratie), auf Monarch und Adel (Feudalmonarchie) oder auf den Monarchen allein (Absolutismus). Sieht man es so, wird verständlich, warum das Ausbleiben der vom König versprochenen Verfassung Hegel nie dazu verleitet hat, dem preußischen Staat seiner Zeit die Qualität „konstitutionelle Monarchie“ abzusprechen. Preußen war eine solche bereits – nicht zuletzt dank der ab 1806 eingeleiteten Reformen. Eine Verfassungsurkunde hätte den eingeschlagenen Weg allenfalls bekräftigt, ihn aber nicht erst beginnen lassen. Kommen wir auf Savigny zurück: Die unterschiedliche, geradezu gegensätzliche Bewertung des ALR zeigt es. Hegel sieht darin ein Recht, das die Privatinteressen und den Staatszweck zu vermitteln sucht. Savigny hingegen lehnt es gerade deswegen ab. „Echtes“ Recht850 ist für ihn 847 R. Koselleck, a.a.O., S. 30 u. 32: Zwar fielen damit einige staatsrechtliche Garantien der Streichung zum Opfer, so dass das ALR „noch weiter hinter dem theoretischen Konzept von Carmer und Svarez“ zurückblieb. Aber: „Allen Streichungen zum Trotz darf aber nicht verkannt werden, dass die rechtsstaatlichen Absichten des Gesetzbuches nicht eliminiert werden konnten.“ 848 Koselleck, a.a.O., S. 30, 31, 32. 849 Ebd., S. 35. Von Bedeutung ist, dass diese staatsrechtlichen Regelungen unmittelbar geltendes Recht wurden, während der große Rest nur subsidiär galt, also hinter den ganzen Wust überkommener Statuten und Provinzialrechte zurücktrat. 850 „Seit seinem Fakultätseintritt in die Berliner Fakultät (1810) wurde das römische Recht zur Grundlage der Juristenausbildung gemacht, und im gleichen Jahr verhinderte er sogar den Versuch eines Kammergerichtsrates, als Privatdozent über den 18000 Paragrafen-Kodex des preußischen ALR an der juristischen Ausbildungsstätte der Hauptstadt

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nur das römische Recht. Aber mit ihm, diesem aus dem „Gemeinwesen“ herausgelösten Recht, das sagten wir schon, favorisiert er „abstraktes“, unvermitteltes, mithin unsittliches Recht; ein Recht, das ohne Bezug zu einem Staat steht, den Hegel als „sittlichen“, wenn auch unvollkommen sittlichen, ansieht. Ein staatloses Recht, ein asoziales Privatrecht. Ein Recht, mit dem die schrankenlose Ausbeutung der „primären“ Natur legitimiert ist. 1861 schrieb F. Lassalle851: Die Hegelsche Philosophie hat den Anspruch einer Versöhnung zwischen Naturrecht und positivem Recht, den sie erhob und zu dem sie das allgemeine Grundprinzip in der Tat in sich enthält, keineswegs zur Erfüllung gebracht. Rechtsphilosophen und positive Juristen fahren daher fort, in derselben abstrakten und kaum voneinander Notiz nehmenden Stellung fortzuexistieren, wie jemals vor Hegels Zeit, ja in noch höherem Maße als in der Hegel selbst angehörenden Periode. Aber erinnern wir uns: Hegel kritisiert am Naturrecht dessen grundsätzlichen Mangel, nur Gegenposition zu sein. Es wird einem positiven Recht gegenübergestellt, das zwar ebenfalls Naturrecht ist, aber – wie wir schon festgestellt haben – das Recht einer „Einheitsnatur“, allerdings einer, die im Zerfall begriffen ist. Wie sich die Naturen entzweien, entzweit sich also auch das Recht. Das bisherige „Einheitsrecht“ als das gemeinsame Recht beider Naturen genügt den Ansprüchen der „produzierten“ Natur nicht; es ist nicht, mindestens nicht genug, ihr Recht. Wenn man von England absieht, dessen Sonderweg sich gerade auch auf dem Gebiet des Rechts eindrucksvoll zeigt, ist es auf dem Kontinent (also auch in Preußen) so, dass über einen ganzen historischen Zeitraum hinweg, gefasst unter „Absolutismus“, ein „Doppelrecht“ existiert: das (noch) existierende positive Recht der untergehenden „Einheitsnatur“ und das seiner Positivierung harrende Recht der „produzierten“ Natur. Hegel als Kritiker des Naturrechts sieht nun, wie mit dem ALR der Versuch gemacht wird, diese beiden Rechte miteinander zu versöhnen, und zwar auf der einzigen Basis, die Hegel für zeitgemäß hält: der der „Vernunft“. Hätte ein damaliger Gesetzgeber versucht zu kodifizieren, wem Hegel in §§ 230– 256 R Ausdruck verleiht, könnte man sich durchaus ein Ergebnis vorstellen, das dem ALR nahekommt. Ein zentrales Anliegen von Svarez und Co. war es nämlich, den Preußens (!) zu lesen.“ (H. Klenner: Anmerkungen zu Savigny, in: J. Kuczynski, Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften. Bd. 6: Gelehrtenbiographien, Berlin 1977, S. 170.) 851 F. Lassalle: System der erworbenen Rechte. Vorrede, in: M. Riedel (Hrsg.), Materialien 1, S. 416.

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bereits einsetzenden Zerfall der „Wirtschaftsfamilie“, besonders in ihrer ländlichen Ausprägung, und dessen negativen Folgen für beide Seiten, für den Herrn und für den Knecht, entgegenzutreten. Heute geschieht dies, wenn es geschieht, auf der Basis einer uns ganz selbstverständlich erscheinenden Trennung der Sphären „Familie“ und „Unternehmung“. Eine Sichtweise, die beide von ihrer gemeinsamen Geschichte abtrennt, so dass der Eindruck entsteht, als habe die Unternehmung und ihre Förderung durch den Staat nichts mit dessen Förderung der Familie zu tun. Klient des Sozialstaates scheint nur Letztere zu sein, nicht auch die Unternehmung. Da diese Trennung im damaligen Preußen zwar bereits eingesetzt hatte, aber längst nicht abgeschlossen war, war zu diesem Zeitpunkt eine andere Art der Regelung kaum möglich. Soweit die feudalen Vorrechte des Adels, vor allem auf dem Land, noch eine Funktion hatten, sie also noch sittlich fundiert waren, wurden diese „verrechtlicht“. Zum Beispiel die Fürsorgepflichten denjenigen gegenüber, die ihrem Gewaltverhältnis unterworfen waren. Aus einer späteren, noch dazu liberalen Sicht, mag das nach Anachronismus aussehen. Zu denken gibt aber, was Tocqueville, ein genauer Beobachter, dazu zu sagen hat. Dieser zeigt, dass die ökonomische Lage der französischen Bauern, die rechtlich852 gesehen schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts ungleich besser gestellt waren als die preußischen, gegen dessen Ende deswegen so drückend geworden war, weil die Beseitigung der feudalen Rechte des ländlichen Adels auch zur Beseitigung seiner früheren Pflichten geführt hatte. So gesagt: Die französischen Bauern hatten den preußischen zwar ein höheres Maß „Freiheit“ voraus, waren aber auch ihrer Kehrseite, der völligen Verarmung und Schutzlosigkeit, weit mehr ausgeliefert als die preußischen.853 Was sich aus liberaler Sicht als Fehlposten an „Freiheit“ darstellt, ist aus sozialstaatlicher Sicht also von kaum zu unterschätzender Bedeutung – worüber, wie wir schon sahen, heute auch Einigkeit besteht. Der heutige Sozialstaat hat die Unternehmung weitgehend von ihrer Verpflichtung freigestellt, für die Familie zu sorgen. Er übernimmt diese Aufgabe überwiegend selbst und stellt sie den Begünstigten als Wohltat dar. Damals, im Ausgang des 18. Jahrhunderts, stand der Staat vor einer anderen Situation. Die Scheidung in Kleinfamilie und Unternehmung war noch nicht vollzogen. Überall im vorwiegend agrarisch geprägten Preußen lagen die Sphären noch ineinander. Die „Blut-undBoden-Bindungen“ und das damit verbundene, in 1000 Jahren gewachsene, dichte Netz an Privilegien hier und Abhängigkeiten dort waren noch erhalten und in Funktion. Bei dieser Ausgangslage musste eine rechtliche Regelung dieses Bereichs und dieser Verhältnisse mit dem Ziel, dem Wohlfahrtszweck zu genügen, in eine äußerst

852 „Rechtlich“ verstanden als bürgerlich-rechtlich! 853 Vgl. dazu: A. de Tocqueville, a.a.O., besonders 2. Buch, 1. und 12. Kapitel.

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umfängliche, detail- und paragrafenreiche854, situative und deshalb unter ständigem Nachbesserungsvorbehalt stehende Kodifikation einmünden. Die 19.000 Paragrafen des ALR sind also entschuldigt. Sie sind es noch mehr, wenn man einen Blick auf den heutigen Zustand wirft. Die Zahl der Paragrafen, die sich mit den Stoffen verbindet, die heute unter „Sozialrecht“ und „öffentliches Wirtschaftsrecht“ firmieren, dürfte die des ALR um ein Vielfaches übersteigen. Und neben der schieren Menge haben damaliges und heutiges „Sozialrecht“ ihre Kurzlebigkeit gemeinsam. Das deutet daraufhin, dass sich eine historische Situation wiederholt, in der die „Produktion“ in den Gegenstand des Rechts einbezogen war. Das Recht bezieht sich insoweit auf einen Prozess und nicht bloß auf einen mehr oder weniger stabilen Zustand; es ist Prozessrecht. Der Grund für diesen „Reichtum“ an Normen ist also damals wie heute der prinzipiell gleiche: eine Reflexion der „Wirtschaftsfamilie“ und der darin ablaufenden Produktionsprozesse. Damals war sie im Zerfallen begriffen und wurde inmitten des Zerfallsprozesses juristisch zu erfassen versucht. Selbstverständlich hat diese Regelung den Zerfall nicht aufhalten können. Das war Svarez und seinen Mitstreitern auch durchaus bewusst. Ja, es hätte ständig „nachgeregelt“ werden müssen. Savigny konnte sich 20 Jahre später mit seiner Meinung auf den Vorteil stützen, dass die Phase „freie Konkurrenz“ in Sicht kam – auch in Deutschland – und damit eine Kodifikation möglich schien, die den scheinbar zeitlosen, überschaubaren, weil von der Produktion sauber abgegrenzten, Austauschbereich zum Gegenstand des Rechts macht. Aber die weiterhin bestehende Familie, wenn auch reduziert auf die Kleinfamilie, straft diese Ansicht Lügen. Sie ist die Störgröße eines Systems des heutigen römischen Rechts. Sie ist das „Halbe“ eines zur „Idee“ gewordenen Ganzen. Eine Schlussbemerkung: Der dem ALR zugrunde liegende Rechtsbegriff bezieht sich auf gesellschaftliche und ökonomische Zustände, in denen beide Sphären vermischt sind: Produktion und Zirkulation. Da der Übergang der Rechtswissenschaft zum „Zirkulationsstandpunkt“ mit einem „Wechsel der Anschauungen“ verbunden ist, muss nicht verwun854 Ein Beispiel aus dem Familienrecht: § 67 Eine gesunde Mutter ist ihr Kind selbst zu säugen verpflichtet. § 68 Wie lange sie aber dem Kinde die Brust reichen solle, hängt von der Bestimmung des Vaters ab. § 69 Doch muss dieser, wenn die Gesundheit der Mutter oder des Kindes unter seiner Bestimmung leiden würde, dem Gutachten der Sachverständigen sich unterwerfen. (Entnommen aus: F. Schulz, a.a.O., S. 15.) Im realen Sozialismus der DDR findet sich eine solche Regelungsdichte, sprich: Gängelei, im ökonomischen Bereich. Die Pläne und Vorgaben, nach denen die VEB zu arbeiten hatten, waren derart zahlreich und detailliert abgefasst, dass sie einer fast vollständigen Entrechtung gleichkamen.

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Teil 2 – Zum Recht

dern, dass das ALR, als dies auch in Preußen geschieht, in Verruf kommt. 20 Jahre nach seinem Inkrafttreten ist es soweit: Das Recht wird jetzt auch dort vorrangig als „Zirkulationsrecht“ begriffen. Für diesen Wechsel stehen Savigny und sein Werk – mit der Besonderheit, dass er ihm über die Reaktualisierung „Roms“ und des römischen Rechts eine eigene Note verleiht.

TE I L 3 – ZU R FA M I L I E

10 Von der „Wirtschaftsfamilie“ zu „Unternehmung“ und „Kleinfamilie“ Die Familie ist über Tausende von Jahren hinweg als „Wirtschaftsfamilie“ das ökonomische Kernstück des „naturwüchsigen Gemeinwesens“. Der Ort, wo die Arbeitskraft produziert, reproduziert und verausgabt wird. Der Ort der Aneignung. Der Ort des „Stoffwechsels“. Zur Wirtschaftsfamilie gehören nicht nur die Familienmitglieder im engsten und engeren Sinne, sondern auch die Sklaven (in Rom), das Gesinde (in der Feudalordnung). Ihr Chef ist der Familienvater. Als 1000 Jahre nach „Rom“ das von „Blut“ und „Boden“ gestiftete Gemeinwesen zerbricht und die beiden darin verschweißten Naturen in die Freiheit entlässt, geht dies nicht zuletzt darauf zurück, dass die Produktivkräfte sich über die „Wirtschaftsfamilie“ hinaus entwickelt haben. Sie ist als Produktionseinheit überholt. Ihr Ende ist eingeläutet; sie hat als Produktionsverhältnis855 ausgedient. Sie zerbricht in zwei Teile: – unter „Verlust der Sittlichkeit“856 in ihren ökonomischen Teil; dieser gewinnt in der „Unternehmung“ eine „selbständige Realität“; – in die auf „Liebe“857 gegründete Kernfamilie.

855 „Produktionseinheit“, wie O. Kahn-Freund (Vorwort, in: K. Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion. Ein Beitrag zur Kritik des bürgerlichen Rechts, Stuttgart 1965, S. 31) formuliert. 856 § 181 R. 857 § 158 R. Unter „Liebe“, einem Begriff aus der Frankfurter Zeit, versteht Hegel ein „Miteinander“ und „Füreinander“, eine besonders umfassende, intensive Vereinigung. „[E] in Ganzes an Vereinigung, in welches auch das faktisch noch Getrennte integriert ist“, wie Fulda (Hegel, a.a.O., S. 47) unter Bezug auf „Der Geist des Christentums und sein Schicksal“ formuliert. Damit ist das Wesen der bürgerlichen Familie freilich stark romantisiert. Immerhin rechtfertigt sich der Begriff deswegen, weil die wirtschaftliche Betätigung der Kleinfamilie gegenüber dem früheren „Haus“ stark eingeschränkt ist und sich jetzt im Wesentlichen auf die Zeugung und auf die Aufzucht des Nachwuchses beschränkt.

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Teil 3 – Zur Familie

Damit sind beide Kreisläufe, die Produktion der Arbeitskraft und die Produktion „profaner“ Güter, jetzt auch institutionell getrennt. Das „Produzieren“ verselbständigt sich. Ein denkwürdiges, ein schicksalhaftes Ereignis! Das „Haus“ als „Leib der einfachen Gemeinschaft“858 ist ersetzt durch die „Unternehmung“; diese ist jetzt „Leib“ der „produzierten“ Natur. Wurde bisher im Rahmen des „Naturprinzips“ produziert, also sittlich, so reißt nunmehr das „Produktionsprinzip“ die Herrschaft an sich. Die Tragweite des Vorgangs kommentiert Hegel wie folgt: „Die selbständige Entwicklung der Besonderheit ist das Moment, welches sich in den alten Staaten als das hereinbrechende Sittenverderben und der letzte Grund des Untergangs derselben zeigt.“859 Die Wirtschaftsfamilie ist „in ein anderes Prinzip“ übergegangen. Die „Unternehmung“ beendet das behäbige, übersichtliche, naturverträgliche, das „sittliche“, das gebrauchswertorientierte Produzieren. „Produktion“ ist jetzt vom anderen Ende her organisiert: Sie ist tauschwertorientiert; hergestellt werden Waren, die sich erst auf dem „Markt“ als Gebrauchswerte beweisen müssen. Dynamik zieht ein. Problem aber: Mit ihr verbindet sich der Drang, ihre Grenze zu verkennen, „sich als ein Ganzes und Absolutes zu konstituieren.“860 Eine Gefahr für die Schöpfung, wenn sie außer Kontrolle gerät. Bisher sahen wir folgende „Gegenüber“ aus dem Zerfall des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ hervorgehen und sich „als Totalitäten für sich konstituieren“861: – Recht und Moralität (aus der „naturwüchsigen“ Sittlichkeit); – Person und Subjekt (aus dem „Menschen“); – „primäre“ und „produzierte“ Natur (aus dem „naturwüchsigen Gemeinwesen“). Auf der Ebene der „Besonderheit“ kommen nun „Kleinfamilie“ und „Unternehmung“ hinzu. In der von Hegel in den §§ 158–181 R porträtierten Kleinfamilie wird nicht mehr „gewirtschaftet“, sondern „geliebt“ – was heißen soll: In ihr wird der Nachwuchs gezeugt, großgezogen und auf seine Rolle in der bürgerlichen Gesellschaft vorbereitet. Der heutige Leser ahnt es mehr, als es ihm gesagt wird, dass diese Familie aus dem „Haus“ hervorgegangen ist. Und nüchtern bzw. ökonomisch gesehen bleibt ja auch sie „Produktionsstätte“. Allerdings ist ihr einziges Produkt die Arbeitskraft.862 Als 858 F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1991, S. 156. 859 § 185/A R. 860 NR, S. 519. 861 § 141/A R. 862 Marx (MEW 23, S. 185 f.): Fortpflanzung, die aus ökonomischer Sicht „Verewigung“ des Arbeitsvermögens ist.

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verlebendigtes Ding wird sie von ihr an die bürgerliche Gesellschaft „ausgeliefert“. Als „Person“ betritt es den (Arbeits-)Markt, findet dort im Regelfall einen Käufer, verkauft sich an diesen und wird im Unternehmen Teil des modernen „Produzierens“. Das „Übergehen“ in die bürgerliche Gesellschaft ist also ein Zwischenschritt. Erst der nächste Schritt führt die Arbeitskraft in die Unternehmung. Dort setzt sich das Dasein des „Haus-Sohnes“ fort. Arbeitsteilung und Spezialisierung sprengen den einstigen Rahmen. Zwei Aufgabenbereiche und zwei „Produktionsstätten“: Kleinfamilie hier und Unternehmung dort, treten hervor, organisieren sich, zentrieren sich um das jeweilige Produkt. Hier wie dort wird nicht mehr für den Eigenbedarf produziert, sondern für die jeweils andere Seite. Auf beiden Seiten Warenproduktion. Eine selbständige Sphäre, die Zirkulation, gruppiert um Markt und Arbeitsmarkt, bildet sich heraus. Was vorher innerfamiliär verteilt wurde, wird jetzt ausgetauscht. Ein interner, bisher außerhalb des Rechts liegender Vorgang wird nach außen verlagert, wird „verrechtlicht“. Bezog sich in „Rom“ der Austausch nur auf „äußerliche“ Sachen, so ist jetzt auch die Hauptsache darin einbezogen: die Arbeitskraft. Das bedeutet einen Quantensprung: Die moderne Ökonomie, das moderne Recht sind geboren. Der Tauschwert steht jetzt im Mittelpunkt. Produkte werden hergestellt, die einen Gebrauchswert nur für die andere Seite haben. Der Markt wird ihr gemeinsamer Treff- und Austauschpunkt. Er ist gemeint, wenn es bei Hegel heißt, dass die „bürgerliche Gesellschaft ... die Differenz [ist], welche zwischen die Familie und den Staat tritt“863. Er ist das Sammelbecken für alle vom „Zerfall“ freigesetzten und auf ihren Tauschwert reduzierten Elemente. Hier werden die Karten neu gemischt. Hier werden durch Austausch die Bedürfnisse befriedigt. Hier stehen sie bereit: der in der Zirkulation aufgehäufte Reichtum einerseits. Und auf der anderen Seite: die aus der Familie in die „selbständige Realität“ Entlassenen. Als „Kapital“ und als „Arbeitskraft“ stehen sie sich gegenüber und harren darauf, in der Unternehmung vereinigt zu werden. Auf den ersten, vielleicht auch auf den zweiten Blick entsteht der Eindruck, als habe Hegel den ökonomischen Kern des geschilderten Prozesses übersehen, mindestens aber fehlinterpretiert. Er macht nicht deutlich genug, dass beide, Kleinfamilie und Unternehmung, das Totalitäten-Paar ergeben, welches aus dem Zerfall der „Wirtschaftsfamilie“ hervorgeht. Es ist von daher bedeutsam und folgenreich, wenn seine Äußerungen hierzu so gedeutet werden, als wäre neben der Kleinfamilie die bürgerliche Gesellschaft selbst das weitere Zerfallsprodukt864 und nicht die Ebene, in der beide Totalitäten zusammengeführt werden. 863 § 182/Z R. 864 Wie z.B. bei H. Ottmann, Das Recht der Natur, a.a.O., S. 3 u. K. Roth: Freiheit und

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Während bei Marx die Unternehmung im Mittelpunkt steht, wird sie bei Hegel nur als Schemen sichtbar. Stünde nicht die Logik dagegen, könnte man glauben, die ehemalige Wirtschaftsfamilie sei zur Kleinfamilie geschrumpft. Und auf der anderen Seite. Als sei die moderne Unternehmung ein ökonomischer Tatbestand ohne jede Vergangenheit. Solcher Glaube wird bestärkt durch die Aussage in § 181 R, wo vom „Übergehen derselben in ein anderes Prinzip“, von Entlassung ihrer Mitglieder in die bürgerliche Gesellschaft mit dem Ziel gesprochen wird, dort als „selbständige konkrete Personen“ zu agieren. Zwar kommt zum Ausdruck, dass die bürgerliche Gesellschaft selbst nur ein Durchgangspunkt ist, auf dessen „Rückseite“ wiederum eine Vereinigung stattfindet. Aber dies bezieht sich vorwiegend auf den politischen Bereich, z.B. auf die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft zur Nation. Hegel scheint am Bild einer einfachen Warenproduktion orientiert zu sein. Das jedenfalls wird ihm oft genug, und zwar aus unterschiedlichen Lagern, „angekreidet“. So macht ihm G. Lukács den Vorwurf, dass er „den Bürgerstand in dem Kaufmann kulminieren“865 lasse. Andere sagen, dass er „die Produktion von der Zirkulation her begreift“866, dass er bei der Zirkulation stehen bleibt, dass er – „trotz seiner Vertrautheit mit Adam Smith“ und einer Wirtschaftslehre, die um industrielle Produktion und Fabriksystem zentriert ist – einer „Handwerksideologie“867 verhaftet bleibt. Für H. Freyer868 signalisiert dies „ein unbegreifliches Versagen“, das durch „die relative Zurückgebliebenheit Deutschlands in der kapitalistischen Entwicklung“ nicht zur Genüge erklärt ist. Das sind durchaus beachtenswerte Einwände. Gegen sie spricht aber, dass in der „großen“ wie „kleinen“ Logik“, vor allem dort, wo Hegel den Begriff „Aufhebung“ erläutert, reihenweise Anhaltspunkte installiert sind, die auf die Unternehmung als das zweite Zerfallsprodukt neben der Kleinfamilie verweisen. Sie hätten uns längst Anlass geben sollen, Hegel zu ergänzen und die Fehlstellen auszufüllen. Ja, es ist ungenau, „Übergang der Familie in die bürgerliche Gesellschaft“ so zu verstehen, als ersetze Letztere das „Ökonomische“ der Ersteren. Richtiger ist es zu sagen, dass die Zerfallsprodukte der „Wirtschaftsfamilie“ – Kleinfamilie und Unternehmung – von der bürgerlichen Gesellschaft aufgefangen werden und in ihr

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Institutionen in der politischen Philosophie Hegels, Rheinfelden, Freiburg i.Br., Berlin 1989, S. 145 ff. G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 487. Vgl. dort auch S. 684 ff. Seiner Argumentation folgend, heißt es bei K. Roth (a.a.O., S. 158): „Hegel ... fällt hinter die ökonomische Klassik zurück, indem er die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert verschleift und die Arbeitsleistung nicht als Konstitutivum des Wertes begreift.“ Arndt/Lefèvre, a.a.O., S. 14. S. Žižek, a.a.O., S. 337. Freyer, a.a.O., S. 59.

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einen allgemeinen Rahmen haben. Da auch dieser Zerfall nur zu relativen Totalitäten führt, also aus der Wirtschaftsfamilie ein System „Familie“ macht, ergibt sich sofort auch die Frage nach der „Einheitsfamilie“ bzw. nach dem, was Hegel in § 252 R als die „zweite Familie“ bezeichnet. Wesentlich ist, dass auch sie nicht mit der bürgerlichen Gesellschaft gleichzusetzen ist, sondern ihre Institutionalisierung in „Polizei“ und „Korporationen“ erfährt. Die bürgerliche Gesellschaft selbst ist als Gestalt der „produzierten“ Natur einer allgemeineren Ebene zugehörig. Sie bildet zusammen mit der „primären“ Natur ein Gegensatzpaar, das den „sittlichen“ Staat „als ein Selbständiges vor sich“869 hat. Obwohl in der Literatur870 als „Fehlposten“ durchaus bekannt und thematisiert, ist die „Unternehmung“ bisher erstaunlich selten Zielpunkt der Hegelforschung geworden. Vielleicht, um durch Ignorieren über ein „heißes Eisen“ im Rahmen unseres streng individualistischen Weltbildes hinwegzukommen. Der Eindruck wird kultiviert, als wäre der aus der Familie Ausgeschiedene jetzt selbst Produzent, als reihte er sich – was ja im Einzelfall vorkommt! – selbst in die gesellschaftliche Arbeitsteilung ein. Regelfall ist jetzt aber, dass er nur vom Glied der familieninternen zum Glied der innerbetrieblichen Arbeitsteilung avanciert. Wer bisher unter der Fuchtel des „Hausvaters“ stand, steht jetzt unter dem Kommando des Kapitals. Der Blick auf die Unternehmung, mehr noch: das Erkennen ihrer Abstammung, ist im Übrigen auch deshalb erschwert, weil sie nicht 1:1 aus dem „Unorganischen“ der Familie hervorgeht. Denn wie schon angedeutet: Ihre Kapitalseite erfährt eine ungeheure Ausdehnung dadurch, dass der in der Zirkulationssphäre aufgehäufte Reichtum hinzutritt und die bisherigen engen Maßstäbe des Produzierens kolossal ausweitet. Der Fall, dass sich der aus der Wirtschaftsfamilie ablösende Teil direkt zur Unternehmung konstituiert, kommt zwar vor, ist aber Ausnahme. Marx dazu: „Es steht dem nicht im Wege, dass bei der Auflösung der Zünfte einzelne Zunftmeister sich in industrielle Kapitalisten verwandeln; indes ist der Kasus rar und so der Natur der Sache nach. Im Ganzen geht das Zunftwesen unter, der Meister und der Gesell, wo der Kapitalist und der Arbeiter aufkommt.“871 Das mag für Diskontinuität sprechen, für jene „Loslösung des Einzelnen von den Produktionsbedingungen der Arbeit = Gruppierung Vieler um ein Kapital“872, die die alte Art des Produzierens zu Gunsten einer neuen Qualität beendet. Trotz869 § 182/Z R. 870 Zuletzt S. Žižek, a.a.O., S. 337. siehe dazu auch H.-C. Schmidt am Busch: Arbeit zwischen Marx und Hegel. André Gorz’ postkapitalistische Gesellschaftstheorie, DZfPh 49 (2001), S. 757 ff. Ähnlich der bei S. Žižek (a.a.O., S. 337) zitierte F. Jameson (The Hegel Variations. On the Phenomenology of Spirit, London 2010, S. 86). 871 Marx, GR, S. 405. 872 Ebd., S. 483.

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dem: Die Herkunft der Unternehmung aus der „Wirtschaftsfamilie“ ist damit zwar verdunkelt, aber nicht beseitigt. Als weiteres sie charakterisierendes Merkmal kann also genannt werden, dass „bürgerliche Gesellschaft“ die Einheit zweier Bereiche ist, der „Produktion“ und der „Zirkulation“. Auf jeden Fall aber ist ihr Begriff erst vollständig, wenn er auch die „Unternehmung“ umgreift. Marx beurteilt den Sachverhalt von dem aus, was jetzt von außen, aus der „Zirkulation“, zum Produzieren „hinzutritt“. Das führt dazu, dass er die Unternehmung vom Kapital her definiert, während ihre Herkunft aus der „Wirtschaftsfamilie“ in den Hintergrund tritt. Sieht man sie aber von ihrem Zweck her, von der Naturaneignung, rückt die Kontinuität in den Vordergrund. Und so geht Hegel auch an die Sache heran, weswegen er zu einer zutreffenderen Beurteilung der neuen Sachlage gelangt. Wenn er sie auch nicht auf den Begriff bringt: Die Unternehmung ist, wie bereits erwähnt, sowohl in seiner „Logik“ als auch in seinem „System der Bedürfnisse“ umschrieben und vorbereitet. Damit leistet Hegel über 100 Jahre hinweg mehr, als die einschlägige Wissenschaft nach ihm zustande bringt. Was bei ihm offenblieb, diese Lücke, hätte längst als Auftrag, sie zu schließen, verstanden werden sollen. Noch dazu, da dies auch zu einer zeitgemäßen Privatrechtstheorie geführt hätte, deren zentrales Subjekt die Unternehmung ist. Denn diese ist weit mehr als „Sohn der bürgerlichen Gesellschaft“ anzusehen als das einzelne Individuum. Die Kunstfigur „juristische Person“ verfälscht insofern die Sachlage, als sie die „Unternehmung“ zum bloßen Derivat der „natürlichen Person“ macht, ihr mithin ihre ontologische Eigenständigkeit und erstrangige Stellung nimmt. Das Institut „juristische Person“ lebt also davon, dass die Realität der Unternehmung zunächst „von einem dogmatischen Individualismus bestritten [wird], der nur die Wirklichkeit einzelner Menschen“ gelten lässt,873 um dann über die Fiktion „Person“ zu werden. Sie ist jedoch Person aus sich heraus, muss also nicht erst zu einer solchen gemacht werden. Sie ist jene neue „Eine Person“, die, zusammen mit der Kleinfamilie, an die Stelle der früheren Wirtschaftsfamilie tritt. Sie ist „selbständige konkrete Person“, abgegrenzt zum einen vom Individuum, vom Staat zum anderen. Sie ist nicht an die Existenz ihrer Mitglieder gebunden, sondern existiert unabhängig von ihnen als „allgemeine und fortdauernde Person“.

873 S. Marck: Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, Tübingen 1925, S. 92.

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Nach Hegel sind es K. Marx und O. v. Gierke874, die von scheinbar weit auseinanderliegenden theoretischen Positionen aus nahezu zeitgleich875 die Unternehmung zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Arbeit machen und dabei zu „Ähnlichkeiten in der Analyse [gelangen], die verblüffen.“876 Für beide ist sie die spezifische, sie charakterisierende, Person der bürgerlichen Gesellschaft. Ihre Hauptperson. Durch sie unterscheidet diese Gesellschaft sich von „Rom“, von der einfachen Warenproduktion überhaupt. Noch deutlicher gesagt: Das, was wir als den Hauptfall der „juristischen Person“ ansehen, ist die natürliche Person der „produzierten“ Natur. Sie müsste in der Mitte des BGB stehen. Während Marx sie aus ökonomischer Sicht in den Blick nimmt, wendet sich Gierke ihrer juristischen Seite zu. Die Unternehmung, konstatiert er, ist die „neue Form des wirtschaftlichen Herrschaftsverbandes“877. Die hierarchischen Verhältnisse innerhalb der Wirtschaftsfamilie setzen sich in ihr fort. Das bedeutet: Nur in der bürgerlichen Gesellschaft, auf dem „Markt“, agiert der nach dort Entlassene als Person, nur dort befindet er sich „im Recht“. Hier aber, in der Unternehmung ist er „Glied“; hier steht er nicht im Recht, sondern im rechtsfreien Raum der „Direktion“. Die Aufteilung der Wirtschaftsfamilie in Kleinfamilie und Unternehmung beendet also die unbefristete „Familienknechtschaft“878, aber nur, um einer vertraglich geregelten Knechtschaft in der Unternehmung Platz zu machen. Damals die „Wirtschaftsfamilie“, jetzt die Unternehmung. Diese geht aus jener hervor; sie setzt deren Zweck fort. Gierkes Schlussfolgerung: Wie die Verhältnisse in der mittelalterlichen Wirtschaftsfamilie keine schuldrechtlichen waren, so ist es auch jetzt. Das zwischen dem Unternehmer und dem Lohnarbeiter bestehende Rechtsverhältnis ist umfassender, ist personenrechtlich zu sehen, weswegen der „Dienstvertrag“ des BGB nicht dazu taugt, es adäquat abzubilden. Gierke gehört, wie Savigny, der historischen Rechtsschule an. Aber sein Ausgangspunkt ist nicht das „Römische“, sondern das „Germanische“. Sein Blick ist damit von vornherein auf jenes Element gerichtet, von dem F. Engels sagt, dass es das Entweder-oder, in dem „Rom“ sich festgefahren hat, aufbricht. Das weiter874 H. Spindler (a.a.O., S. 67) zeigt, „dass Gierke in dieser Zeit als erster und einziger Jurist einen tiefen Einblick in die ökonomische Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus gewonnen hat und dass er die Lösung des Problems ökonomischer Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht als Problem der Armenhilfe, sondern als grundlegende rechts- und wirtschaftspolitische Aufgabe erkannte.“ 875 Das „Kapital“ erscheint 1867, der erste Band des „Genossenschaftsrechts“ erscheint 1868. 876 Spindler, a.a.O., S. 56. 877 O. v. Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 1:Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, Berlin 1868, S. 911. 878 § 180/A R.

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führende, das dynamische Element; ein Dazwischen. Dieses Lebendige und Dynamische bzw., um es hier bereits zu sagen, dieses „Organismische“ macht Gierke gegen das Leblose und Starre des römischen Standpunkts geltend. Verkürzt gesagt: Savigny denkt sein Recht vom Austausch, von jener von „Blut und Boden“ bereinigten Zirkulationssphäre her, die uns Rom so modern und nahe erscheinen lässt, die aber das Reich statischer Beziehungen ist. Anders Gierke; er denkt es von der Produktion, dem dort anzutreffenden, „dynamisch“ geprägten Beziehungstyp sowie der dort anzutreffenden Status-Person her. Schöpft Savigny seinen Rechtsbegriff also aus dem „offenen“ bzw. öffentlichen Bereich „Austausch“, wo sich Gleiche und Gleichberechtigte gegenüberstehen, gewinnt Gierke den seinen aus einem Bereich, der – entsprechend dem „Organismus“ – nach außen abgeschlossen und im Inneren hierarchisch strukturiert ist. Gierke nähert sich der Unternehmung über „körperliches“ Denken, über eine „Corpus-Metapher“879; er sieht sie als Einheit880, für die „Kollektivität“ ein objektives Erfordernis ist. Damit ist er nahe bei Marx, der von „objektiver Assoziation“881 spricht. Beiden, Kleinfamilie und Unternehmung, ist gemeinsam, dass sie „Kollektivität“ erfordern. Nur Mann und Frau erzeugen das Kind. Und die Unternehmung wird nur deshalb zur produzierenden Einheit, weil in ihr „Arbeit“ und „Kapital“, lebendige und vergegenständlichte Arbeit zusammengeschlossen sind. Je für sich bringen sie es zu nichts. Hier wie dort werden also die Gegensätze, dem Zweck gehorchend, überbrückt bzw. aufgehoben. Das geschieht objektiv – ob die Beteiligten wollen oder nicht. Hinsichtlich der Kleinfamilie ist das auch der Standpunkt Savignys; er grenzt daher die Familienverhältnisse von den reinen Austauschverhältnissen ab. Jene tragen „den Charakter der Notwendigkeit in sich“ – diese hingegen sind „willkürlicher Natur“882. Von ihm unterscheidet sich Gierke darin, dass er diese „substantielle Kollektivität“ hier (Kleinfamilie) wie dort (Unternehmung) sieht. Marx, der nur die Unternehmung im Blick hat, bezieht sie nur auf deren Binnenverhältnisse.

879 F. Wieacker: Zur Theorie der Juristischen Person des Privatrechts, in: Festschrift für Ernst Rudolf Huber zum 70. Geburtstag am 8. Juni 1973, hrsg. v. E. Forsthoff u.a., Göttingen 1973, S. 368. Zur „Organismus“-Analogie merkt H. Freyer (a.a.O., S. 115 u. 120 f.) an, damit sei in einer Zeit „philosophischen Vakuums“ eine „handliche Formulierung“ gefunden, die allerdings den Nachteil habe, die „feinste begriffliche Arbeit“, die Hegel geleistet hatte, zu vergröbern. 880 „Kollektiveinheit“, O. v. Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 2:Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs, Berlin 1873, S. 940. 881 GR, S. 484. 882 Savigny, System 1, S. 343.

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Im Verhältnis zueinander betont Gierke die Kontinuität, also die Herkunft beider Teile aus der „Wirtschaftsfamilie“, während Marx, für den die Unternehmung aus der Zirkulation kommt, die Diskontinuität hervorhebt. Daraus ergeben sich unterschiedliche Lösungen. Für Gierke sind Ehe und Arbeitsverhältnis zwar nicht dasselbe, aber sie sind Verhältnisse gleichen Typs, genauer: gleicher Herkunft. Beide sind (aus dem Blickwinkel der feudalen „Status-Person“ gesehen) „personenrechtlicher“ und nicht „schuldrechtlicher“ Natur. Marx, der die Herkunft der Unternehmung aus der Zirkulation betont, sieht hingegen das Arbeitsverhältnis – in Übereinstimmung mit Savigny – trotz der erhobenen Einwände als schuldrechtlichen Vertrag an. Keine Frage, der Lohnarbeiter wird ausgebeutet. Und trotzdem widerfährt ihm, juristisch gesehen, kein Unrecht. Denn Recht und Ökonomie gehen getrennte Wege. Anders Gierke. Er misst an der Wirtschaftsfamilie, er vergleicht den modernen Lohnarbeiter mit dem früheren Knecht. Dasselbe tatsächliche Verhältnis bietet dem Lohnarbeiter jetzt weniger, weil es jetzt schuldrechtlich gedeutet wird. Aus dieser falschen juristischen Einordnung erwächst der jetzige Nachteil. Beide stimmen darin überein: Nicht der Kapitalist steht dem Proletarier gegenüber. Sondern: Beiden steht das Unternehmen gegenüber; dieses ist für sie „das wahre Gemeinwesen nun geworden“.883 Im Inneren agieren beide, Lohnarbeiter und Kapitalist, nicht als Personen, sondern als unselbständige Glieder der Unternehmung – wenn auch auf der Basis eines je sehr unterschiedlichen Status. Aber wieder der Unterschied: Marx, der „römischrechtlich“ denkt und daher die Richtigkeit der juristischen Sachlage anerkennt, verschafft dem Proletarier ökonomische Gerechtigkeit nur durch außerjuristische Mittel: Enteignung des Kapitalisten per proletarischer Revolution und Umwandlung der Unternehmung in eine „Produzenten-Assoziation“. Gierke urteilt von der Wirtschaftsfamilie her und gelangt, im Unterschied zu Marx, zu einem Rechtsanspruch des Lohnarbeiters, der sich aus dem personenrechtlichen Verhältnis zu ihr ergibt und über den Anspruch auf Entlohnung aus dem bloßen Austauschvertrag hinausgeht. Und der „freie Wille“? Er tritt hinter die „Objektivität“, und vor allem: hinter den Zweck, als etwas Zweitrangiges zurück. Sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite. Die Bindung des Lohnarbeiters, darin sind sich Gierke und Marx einig, beruht nicht, mindestens: nicht nur, auf echtem Austausch. Dieser ist für beide nur „täuschender Schein“884. Sie sind sich deswegen einig darin, wie auf die Mär, dass der Arbeiter sich in Entfaltung seines „freien Willens“ an die Unternehmung

883 Marx, GR, S. 396 – Hervorhebung bei Marx. 884 Marx, GR, S. 368.

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bindet, zu antworten ist. Zwar ist es nicht „direkte physische Gewalt“885, die seinen Eintritt in sie erzwingt, sagt der eine (Marx). Und der andere (Gierke) ergänzt: „aber zu wählen hat er nicht das Ob, sondern das Wo der Unterwerfung.“886 Beide stellen das im Unternehmen regierende „Herrschaftsverhältnis“ heraus. Marx unter dem Stichwort „Direktion“, Gierke unter dem Stichwort „Herrschaft“. „Direktion“ und „Herrschaft“ prägen das Verhältnis, nicht der Vertrag. Die moderne Unternehmung ist für Gierke der Paradefall dessen, was er als „Herrschaftsverband“ bezeichnet. Daraus ergibt sich: Das wichtigste Rechtsverhältnis, jenes, das der Lohnarbeiter, solange er arbeiten kann und muss, einzugehen hat, ist also nicht durch jene „Gegenseitigkeit“ geprägt, die die dafür zur Verfügung stehende rechtliche Regelung suggeriert. Beide, Marx und Gierke, stoßen zum Wesen der Unternehmung vor. Aber beide wollen dem Lohnarbeiter auf sehr unterschiedliche Weise Gerechtigkeit verschaffen. Marx konzentriert sich auf das Verhältnis Kapital–Lohnarbeit, stellt also das „Gegenüber“ heraus, während Gierke mit der „Unternehmung“ jene übergreifende Einheit in den Blick nimmt, in der die „Gegenüber“ eingebettet sind. Ein je anderer Schwerpunkt. Der Arbeitsvertrag, das sehen beide, erfasst nur einen Bruchteil des Gesamtverhältnisses. Er hat nur jenen Teil zum Gegenstand, der Austausch im gewöhnlichen Sinne ist, also Austausch gleichwertiger, bereits „fertiggestellter“ Sachen. Der wichtigere Teil entfällt auf den „Stoffwechsel“, der im Unternehmen stattfindet, auf den „grenzüberschreitenden“ Prozess der Naturaneignung, dessen Teil die Arbeitskraft ist. Zwei Vorgänge. Einmal der „normale“ oder „einfache“ Austausch außerhalb des Aneignungsprozesses, der nur das zwecks Bedürfnisbefriedigung zur Verteilung gelangende Eigentum zum Gegenstand hat; Austausch zwecks Konsumierens. Zum anderen Austausch im Rahmen des „Stoffwechsels“; Austausch zwecks Produzierens. „Römisch“ betrachtet geht das in Ordnung. Aus den bereits genannten Gründen ist das römische Recht „blind“ für den Vorgang des Produzierens. Produktion und Austausch stehen sich dort zusammenhangslos, ja feindlich gegenüber. Eine unsichtbare Wand trennt sie. Das Rechtsdenken der Römer beginnt erst hinter dieser Grenze. Der Eigentumsbegriff ist deswegen, weil abgekoppelt vom Aneignen, abstrakt und auf das fertige Produkt fixiert. Natürlich ist das nicht die Schuld der Römer; diese sind vielmehr durch die – aus unserer Sicht – „unfertigen“ ökonomischen Verhältnisse entschuldigt. „Schuldig“ machen sich hingegen jene, die glauben, man könne mit „Rom“ und mit römischem Recht die Verhältnisse der Neuzeit adäquat erfassen. 885 GR, S. 484. 886 Gierke im Artikel „Genossenschaftswesen“ für Bluntschlis „Staats-Wörterbuch“, zitiert bei Spindler a.a.O., S. 53. Circa 60 Jahre später schreibt E. Rosenstock (a.a.O., S. 144) zum Thema: „Der einzelne Arbeitsvertrag … ist nur die temporäre Konkretisierung der ‚höheren Notwendigkeit‘, Arbeitsverträge einzugehen.“

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Die Anerkennung des Arbeitsvermögens als Ware, mithin: als etwas Produziertes, mithin: als etwas Selbständiges außerhalb des Menschen, erweist sich somit als die entscheidende Veränderung gegenüber „Rom“; sie führt zur bürgerlichen Gesellschaft wie auch zu „Kleinfamilie“ und „Unternehmen“. Vom „Produzieren“ her beurteilt, ergibt sich nahezu zwangsläufig eine andere juristische Bewertung. Das zeigt sich bei Gierke. Er urteilt vom Prozess her. Und dieser unterscheidet sich jetzt nicht von jenem, der schon die „Wirtschaftsfamilie“ prägte. Deshalb ist es für ihn auch „lügenhaft“, ein damals „personenrechtliches“ Verhältnis jetzt in ein „schuldrechtliches“ umzuqualifizieren, weil der vom „Produzieren“ erfasste Austausch damit dem gewöhnlichen Austausch gleichgesetzt wird. Für ihn ist es daher Unrecht, wenn die selbständige Gestalt „Wirtschaftsfamilie“, die sowohl den „Hausvater“ als auch den letzten Knecht umschließt, jetzt als das Privateigentum eines oder mehrerer Kapitalisten angesehen wird. Ein Unrecht, dem es mit dem Recht entgegenzutreten gilt. Marx, für den das Unternehmen „Tätigkeitsform“ des Kapitals ist und aus der Zirkulation hervorgeht,887 sagt hingegen, dass der Vertrag, den Lohnarbeiter und Kapitalist abschließen, ein schuldrechtlicher ist, also ein Vertrag auf Gegenseitigkeit. Und die Ausbeutung? „Der eigentlich schwierige Punkt, hier zu erörtern, ist aber der, wie die Produktionsverhältnisse als Rechtsverhältnisse in ungleiche Entwicklung treten. Also z.B. das Verhältnis des römischen Privatrechts ... zur modernen Produktion.“888 Soll heißen: Was in der Produktion geschieht, die Aneignung, die Ausbeutung, wird vom Recht nicht erfasst, ist ein außerrechtliches Problem. Anders Gierke. Für ihn sind die Innenverhältnisse der Unternehmung solche, die auf einer Ebene mit denen der Ehe, der Hausgemeinschaft, der Erbengemeinschaft stehen. Mitte der 90er-Jahre erkennt er in der Unternehmung die „personenrechtliche Gemeinschaft kraft herrschaftlicher Gewalt“. H. Spindler interpretiert: „Diese Gemeinschaften finden nach Gierke ihre geschichtliche Wurzel in der Hausgemeinschaft des germanischen Familienrechts, die sich über den Lehensverband und im gutsherrlich-bäuerlichen Verband erhalten habe und sich nun in der Gestalt der modernen wirtschaftlichen Unternehmen neu herausbilde.“889 Damit überwindet er die Schranke des „römischen“ Vertragsdenkens und eröffnet einen Weg, die dortigen Binnenverhältnisse auch als juristische Verhältnisse plastisch zu machen. Während Marx davon ausgeht, dass die Unternehmen parallel zum historischen Abstieg der Wirtschaftsfamilie aufkommen und diese neue Produktionsform 887 Zum Beispiel GR, S. 404, wo er das Kapital „als aus der Zirkulation herkommend, als Produkt der Zirkulation“ bezeichnet. Siehe dazu auch: B. Rettig, a.a.O., S. 299 ff. 888 GR, S. 30. 889 Spindler, a.a.O., S. 139.

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mit der alten nichts zu tun hat, zeigt Gierke, dass beide, die „Rest“-Familie wie auch die Unternehmung, in der „Wirtschaftsfamilie“ ihren „Stamm“ haben. Die Innenverhältnisse beider Teile, auch die juristischen, müssen also aufgrund dieser gemeinsamen Herkunft verwandt und vergleichbar sein. Wo Savigny und Marx also beim „römischen“ Austauschvertrag stehenbleiben, gelangt Gierke zu einem grundsätzlich anderen Recht, zu dem von ihm sogenannten „Sozialrecht“. Dessen Kern ist ein Arbeitsrecht, das nicht „Schuldrecht“ ist, sondern „seinen Ursprung … im Familienrecht“890 hat. Und wie jedes Familienmitglied am Vermögen der Familie beteiligt ist,891 ist daher auch jedes Glied des Unternehmens an dessen Vermögen beteiligt. Die Unternehmung ist für ihn eine Person, die ebenso „natürlich“ existiert wie die frühere „Wirtschaftsfamilie“. Damit wird zum „ersten Mal … systematisch das neue Zwangs- und Abhängigkeitsverhältnis des kapitalistischen Betriebes in die Reihe dieser Gemeinschaften eingeordnet.“892 Konsequenz seines Ansatzes: Die Unternehmung steht, wie die „Wirtschaftsfamilie“, im gesamthänderischen Eigentum der darin hierarchisch Verbundenen. Damit ist der Unterschied zu Marx, aber auch zu Savigny deutlich gemacht: Diese beiden sehen im Recht kein Instrument, das geeignet wäre, an der bestehenden Situation etwas zu ändern. Savigny, weil ein gegenseitiger Vertrag vorliegt, aus dem der Arbeiter das Seine bezieht. Marx, weil die Ausbeutung ein außerjuristisches Problem ist, das nur mit der Revolution zu bekämpfen ist. Gierkes „sozialrechtlicher“ Ansatz bietet hingegen eine Lösung, die, wie wir noch sehen werden, im modernen „Sozialstaat“ mindestens ansatzweise verwirklicht worden ist. Indem er von den Verhältnissen innerhalb der Familie auf die Verhältnisse in der modernen Unternehmung schließt, überträgt er auf diese zugleich die innerfamiliäre Verteilung. Und diese geht weit über den Lohnanspruch hinaus, der dem Arbeiter aus dem Dienstvertrag erwächst.893 Wenn hier das Recht „Verteilungscharakter“ und nicht bloß „Austauschcharakter“ trägt, so folgert er, muss dies auch dort gelten. Wo Marx also Diskontinuität sieht und die Beziehung Lohnarbeit–Kapital deshalb, rechtlich gesehen, dem Austausch zuschlägt, betont Gierke die Kontinuität. Jener stellt das Kapital und dessen Herrschaft, dieser die weiterhin kollektiv verrichtete Arbeit, die „Betriebsgemeinschaft“ in den Mittelpunkt. Jenem erscheint die Unternehmung als Institution des Kapitals. Dieser sieht in ihr eine historisch neue 890 891 892 893

Ebd., S. 143. Vgl. § 171 R. Spindler, a.a.O., S. 140. H. Spindler (a.a.O., S. 52): Gierke „spürte die Struktur des alten, römisch-rechtlichen und feudalen Herrschaftsverbandes da auf, wo er sich zum Schaden der arbeitenden Klassen im modernen kapitalistischen Unternehmen reproduzierte.“

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Form des „Hauses“, auf die „Familienrecht“, nicht „Austauschrecht“ anzuwenden ist. Jener begreift den Arbeitsvertag als schuldrechtlichen, dieser als einen personenrechtlichen Vertrag. Beide urteilen: Der Arbeitsvertrag ist das moderne Instrument, das Sklavenverhältnis der Lohnarbeiter fortzusetzen. Die Hoffnung, die Marx den Proletariern gibt, davon freizukommen, ist die Revolution. Was Gierke den Arbeitern zu bieten hat, ist bescheidener. Es läuft auf Verbesserung ihrer sozialen Lage hinaus. Seine Konsequenz, die er aus dessen „personenrechtlichem“ Charakter zieht, besteht in der Umformung des Arbeitsrechts vom Teil des Schuldrechts zu einem Arbeitsrecht, das seiner Wurzeln im Familienrecht bewusst wird. Marx will das Unternehmen insgesamt ersetzen durch seine „Assoziation freier Produzenten“. Gierke will es so umgestalten, dass die Stellung des Lohnarbeiters sich der Stellung des Mitglieds der früheren Wirtschaftsfamilie angleicht – was ihm den Vorwurf einbringt, er rede einer Refeudalisierung des Unternehmens das Wort. Das „Produzieren“ liegt, „römisch“ gesehen, außerhalb des Rechts, bildet den „versteckten Hintergrund“894 des Austausches. Rechtsverhältnis und ökonomisches Verhältnis sind getrennt. Das wird aus der Sicht von Marx nur deswegen nicht offenbar, ja geht formal in Ordnung, weil die rechtliche Regelung ohnehin davon abstrahiert, ob „einfache“ Warenproduktion des Typs W-G-W (Ware–Geld–Ware) vorliegt oder „qualifizierte“ Warenproduktion des Typs G-W-G (Geld–Ware–Geld). Gierke, der das Verhältnis Kapital–Lohnarbeit nicht horizontal sieht, sondern vertikal, aus der Sicht der Kollektiveinheit „Unternehmung“, akzeptiert diese Bewertung, dieses Auseinander von juristischer und ökonomischer Beziehung nicht. Wird dieser Austausch ebenfalls als gewöhnlicher Austausch behandelt, fällt er als „Dienstvertrag“ unter das, wie er formuliert, „lügenhafte Schema des streng individualistischen reinen Obligationenrechtes“895. Und was den „schwierigen Punkt“ anbelangt, den Marx unerörtert lässt: Gierke macht ihn zum Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit. Er zeigt, dass das jetzige Produzieren durchaus vom Recht adäquat widergespiegelt wird – nur eben nicht vom römischen. Die Folge, dass die rechtliche Regelung lediglich die „umgekehrte Reihenfolge derselben zwei entgegengesetzten Prozesse, Verkauf und Kauf“896 widerspiegelt, tritt nur ein, wenn römisches Recht zur Anwendung kommt, nicht aber, wenn man den Vorgang deutsch-rechtlich beurteilt. Das römische Recht kann nicht mehr abbilden, als was sein Gegenstand war: die Austauschverhältnisse bei einfacher Warenproduktion. Römischrechtlich gesehen ist daher alles in Ordnung. 894 GR, S. 409. 895 O. v. Gierke, Die soziale Aufgabe, a.a.O., S. 41. Statt von „lügenhaft“ zu reden, drückt sich Marx (GR, S. 368) höflicher aus, indem er von „täuschendem Schein“ spricht. 896 MEW 23, S. 170.

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Die Innenverhältnisse des Unternehmens liegen außerhalb solchen Rechts. Gegen das, was dort geschieht, ist also scheinbar kein juristisches „Kraut“ gewachsen. Für Marx ist daher klar: Hier hilft nur die Revolution. Um eine juristische Aufklärung des Sachverhalts ist er nicht weiter bemüht.897 Gierke hingegen leuchtet in den „versteckten Hintergrund“ hinein. Da er die Unternehmung körperlich sieht, als die moderne Wirtschaftsfamilie, ist sie für ihn weder mit dem „Kapital“ noch mit der „Lohnarbeit“ noch mit beiden zu erklären. Als eigenständige Wesenheit enthält sie diese beiden Komponenten zwar, erschöpft sich in ihnen aber nicht. Kapitalist und Lohnarbeiter sind in ihr zu jener „personenrechtlichen Gemeinschaft“ verknüpft, die „zur beherrschenden Rechtsfigur der Privatrechtskritik“898 seiner späteren Jahre avanciert. Damit gewinnt Gierke Anschluss an die „Eine Person“ Hegels; an die Stelle der von der natürlichen Person „Kapitalist“ abgeleiteten „juristischen“ Person tritt eine originäre natürliche Person „Unternehmung“. An die Stelle einer juristischen „Vogelscheuche“ tritt etwas ökonomisch und juristisch Greifbares. Wie es S. Marck ausdrückt: Mit der Erhebung zur „echten“, zur „natürlichen“ Person wird der Unternehmung das ihr „Gebührende zuteil“.899 Gierke übersetzt ins Juristische, was Marx so beschreibt: „Eigen ist dem Kapital nichts als die Vereinigung der Massen von Händen und Instrumenten, die es vorfindet. Es agglomeriert sie unter seine Botmäßigkeit. Das ist sein wirkliches Anhäufen; ein Anhäufen von Arbeitern auf Punkten nebst ihren Instrumenten.“900 Die Folge: Jeder der in das „personenrechtliche Verhältnis“ Eingebundenen hat Ansprüche an die Person „Unternehmung“, und zwar Ansprüche, die im Fall des Lohnarbeiters über das hinausgehen, was er bei rein schuldrechtlicher Betrachtungsweise beanspruchen könnte. Ebendeswegen, weil der Anspruch auch auf das Betriebsergebnis gerichtet ist. Das Gemeinsame von „Kleinfamilie“ und „Unternehmung“: Sie sind „Produktionsstätten“. In beiden wird gearbeitet. Ob nun in den Ehebetten oder an der Werkbank. Die Folge:

897 In den „Grundrissen“ ist Marx dem Hegel der „Rechtsphilosophie“ noch viel näher als der Marx des „Kapitals“; er entfernt sich also von ihm in dem Maße, wie er sich – wie Siemek (Marxismus, a.a.O.) durchaus treffend anmerkt – ins Ökonomische „vergräbt“. Vielleicht ist es also so: In Beschlag genommen von den ökonomischen Fragen, schiebt er die juristischen Fragestellungen zur Seite, lässt sie jedenfalls unerklärt. 898 H. Spindler, a.a.O., S. 133. 899 S. Marck, a.a.O., S. 92. 900 GR, S. 407.

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Hier wie dort ein beispielloser Anstieg der Produktivität. Hier wie dort eine ungeheure Vermehrung der in Umlauf gebrachten Produkte.901 Die Erzeugung von Kindern ist also jetzt, nach Separierung der Arbeitskraft vom Menschen, ebenso unter ökonomischen Gesichtspunkten zu betrachten wie die Herstellung so profaner Produkte wie Auto und Kühlschrank. Allerdings spricht Hegel in diesem Zusammenhang nicht von „produzieren“, sondern von „formieren“. Aufgabe der Familie ist es, durch Erziehung, durch „Zucht“, wie er sagt, den Nachwuchs zur Arbeitskraft zu formieren. Die in den Kindern angelegte Möglichkeit, in Gestalt ihres Arbeitsvermögens später die „Form der Sache“, einer möglichst wertvollen Sache, anzunehmen, ist in „Wirklichkeit“ umzusetzen. Dazu ist das „bloß Sinnliche und Natürliche“ in ihnen „auszureuten“. Denn: „Was der Mensch sein soll“, nämlich „Arbeitskraft“, „hat er nicht aus Instinkt, sondern hat er sich erst zu erwerben.“902 Produktion also. Der Vertrag aber ist um den Austausch zentriert. Sein Gegenstandsbereich beginnt und endet in der Zirkulation. Mit ihm sind also die völlig anders gelagerten Sachverhalte, die sich mit dem Produzieren verbinden, nicht zu erfassen. Weil auf Sklavenarbeit beruhend, kennt das römische Recht den Arbeitsvertrag nicht; dieser ist ein Produkt der Neuzeit. Der römische Dienstvertrag wird abgeschlossen unter „Freien“, unter Nicht-Arbeitern. Er handelt außerhalb der „Wirtschaftsfamilie“ und bezieht sich nicht auf die Sache „Arbeitskraft“, sondern auf „Dienste“, die nur einzelne Verpflichtungen bzw. Berechtigungen betreffen, nicht aber das Ganze. Das sind ganz verschiedene Sachverhalte, urteilt Gierke. Wenn es auch so ist, dass mit dem „Unternehmen“ nicht die „geborene“, sondern eine „gekorene“ Familie auf den Plan tritt: Das ist nicht Grund genug, das Verhältnis bloß schuldrechtlich zu beurteilen. Damit wäre nur ein Aspekt erfasst, andere, wichtigere Aspekte desselben würden hingegen unterschlagen. Was den Kern ausmacht, ist die „objektive Assoziation“. Der Vertragscharakter steht am Rande. E. Rosenstock, ein Kritiker der Savigny’schen Willenslehre aus den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts, attestiert daher beiden, Dienst- und Ehevertrag, einen Doppelcharakter. Er resultiert daraus, dass sie beide sowohl ein außervertragliches (und daher außerhalb des „freien Willens“) liegendes Gemeinschaftsverhältnis als auch ein gesellschaftlich-vertragliches Verhältnis darstellen.903 Das geht – wie wir schon sahen – mit Gierke konform. Auch mit Hegel, der in § 161/Z R zeigt, dass die Ehe „wesentlich ein sittliches Verhältnis“ ist und nur „unwesentlich“ ein Vertragsverhältnis. Was heißt: Sie ist weder ein bloß „physisches“ noch ein bloß „vertragliches“ Verhältnis. Sie enthält diese beiden Elemente, ist ihnen gegenüber je901 Man denke nur an die explosionsartige Vermehrung der Weltbevölkerung. 902 § 57 u. § 174 R. 903 Vgl. E. Rosenstock, a.a.O., S. 144.

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doch ein Mehr – ausgedrückt im Wort „sittlich“. Die Willenslehre, zeigt Rosenstock unter der Überschrift „Ehe und Arbeit unter der Figur des Vertrages“ auf, trennt Verhältnisse wie diese beiden von ihren Zusammenhängen und reduziert sie auf den „gesellschaftlichen“ Bestandteil. Sie sind damit in den Gegenstand eines „römisch“ verstandenen Rechts einbezogen, aber damit zugleich „verkleinert“, weil sich darin ihr Wesen nicht erschöpft. Die Inkonsequenz Savignys zeige sich nun darin, dass er, anders als die Vertreter des Naturrechts, den Staat von dieser Verfahrensweise ausnimmt,904 den „Vertragsstaat“ also ablehnt. Aber warum diese Sonderbehandlung, warum dieser logische Bruch? Logisch und tatsächlich gesehen gibt es keinen Grund, den Staat anders zu veranschlagen als den Menschen und die Familie. Alle drei Ebenen der Totalität sind schließlich vom „Zerfall“ betroffen. Rosenstocks Erklärung: Savigny erkennt die revolutionäre Sprengkraft des „Vertragsstaates“ der Aufklärung. Als Vertreter einer „nachrevolutionären Rechtslehre“ stellt er sich daher vor den Staat, denn dieser muss „ausdrücklich gegen die Revolution geschützt werden.“905 Was wir hieraus entnehmen können: Die Übertragung der Grundsätze des Austausches auf die Verhältnisse der Wirtschaftsfamilie einschließlich ihrer Zerfallsprodukte hat ihren Preis. Denn Ehe und Arbeitsverhältnis werden damit auf eine Ebene gezogen, der sie nicht zugehören. Hierarchische (heterogene) Verhältnisse werden homogenisiert. Das Herrschaftsverhältnis wird verdeckt. Gierkes Thema sind die bei römischrechtlicher Betrachtungsweise ausgeblendeten „sozialrechtlichen Zwischengebilde“906 und ihr Inneres. Es gelingt ihm so, eine Dimension und eine Aufgabe des Staates und des Rechts sichtbar zu machen, die vom vorherrschenden Rechtsverständnis ignoriert wird. Er zeigt mit ihnen ein drittes Recht, das neben das rein „private“ und das rein öffentliche Recht tritt; er zeigt 904 Ebd., S. 141. Er zitiert aus Savigny, System 3, S. 311 und System 1, S. 21 f. „Dagegen ist auf diesem Gebiet dem Vertrag manche irrige Anwendung beigelegt worden. So bei der ursprünglichen Entstehung der Staaten, die häufig auf einen Vereinigungsund Unterwerfungsvertrag zurückgeführt wird, da doch jede Ableitung derselben aus individueller Willkür verneint werden muss.“ Der Staat sei vielmehr in eine „höhere Notwendigkeit“ eingebettet, die es ausschließe, ihn als Vertrag zu sehen. 905 Ebd. Das Bemerkenswerte: Savigny gelangt hinsichtlich des Staates zum gleichen Ergebnis wie Hegel. Aber die Begründung ist je eine andere. Jener gelangt zu einem „außervertraglichen“ Einheitspunkt, indem er seinen nebulösen, wenn nicht irrationalen „Volksgeist“ dazwischenschiebt. Das führt ihn noch über Hegel hinaus, denn dieser anerkennt ja den „Vertragsstaat“ insoweit, als er ihn im „Not- und Verstandesstaat“ vorliegen sieht. Der entscheidende Unterschied aber besteht darin, dass der „Einheitspunkt“ seines politischen Staates nicht ein „Volksgeist“ ist, sondern die Vernunft. 906 O. v. Gierke, Die soziale Aufgabe, a.a.O., S. 9.

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das „Sozialrecht“ als das ihnen gemäße Recht. Damit ist der rigorose Entwederoder-Standpunkt des römischen Rechts, der alles plattmacht bzw. ignoriert, was dazwischen liegt, überwunden. Unternehmer und Lohnarbeiter sind nicht bloß über den „Dienstvertrag“ äußerlich und zeitweise verbunden, sondern: Beide sind als ihr Glied untrennbar mit der Unternehmung verbunden. Bezogen auf die Regelung des „Dienstvertrages“ im ersten Entwurf eines BGB zeigt Gierke den Unterschied. „Das Preußische Landrecht betrachtet sie [die Dienstverpflichteten] als Familienmitglieder und widmet ihnen in seinem Familienrecht ... fürsorgliche Bestimmungen“ z.B. für den Krankheitsfall. Jetzt aber sollen sie „einem nach dem Muster der Sachmiete gebildete[n] Schuldrecht“907 unterliegen, in dem die „Fürsorge“ keinen Platz hat. Wenn es auch nicht mehr, wie vor 200 Jahren, der „naturwüchsige“ Zusammenhang über „Blut und Boden“ ist: Auch die jetzige Bindung ist eine „objektive“. Das „Vertragliche“ an ihr ist ersichtlich Nebensache. Von hier zur Sozialpflichtigkeit der Unternehmung ist es nicht weit. Und so schlussfolgert Gierke: „Alle fernere sozialpolitische Gesetzgebung wird den Gedanken, dass das moderne geschäftliche Unternehmen eine Form personenrechtlicher Verbindung ist, nur immer klarer herausstellen und immer weiter entfalten können.“908 Und Hegel? Wie die beiden Späteren hat er „einen ausgeprägten Sinn für die ausbeuterische und krisenanfällige Logik des frühen Industriekapitalismus, für die schroffen Muster von Akkumulation von Reichtum und Überproduktion auf der einen Seite der Gesellschaft und für die neuen Arten von Elend und Abhängigkeit auf der anderen Seite.“909 Auch er sieht bereits die sozial prekäre Stellung des Lohnarbeiters. Dieser steht schlechter da als der frühere Haus-Sohn, der, wenn auch in bescheidenem Maße, Teilhaber am Familienvermögen war. Wie also kann seine Existenz gesichert werden, wie kann vermieden werden, dass er zum „Pöbel“ herabsinkt? Seine Antwort darauf soll dem nächsten Kapitel vorbehalten bleiben. Hier nur dies: Der Familie ist „festes Eigentum“ zugeordnet, sie ist im Besitz „bleibenden und sicheren ... Vermögens“. Dieses „gemeinsame Eigentum“ wird vom „Hausvater“ nur verwaltet.910 Bei der Unternehmung ist es nicht anders. Auch ihr ist Vermögen – Kapital und Arbeit – zugeordnet, das die Grundlage ihrer „Personalität“911 bildet und im Rahmen 907 Ders.: Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht, Goldbach 1997 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1889), S. 247. 908 Ders., Die soziale Aufgabe, a.a.O., S. 41. 909 P. Anderson: Zum Ende der Geschichte, Berlin 1993, S. 24. 910 §§ 169,170,171 R. 911 Siehe dazu: D. Suhr (Staat, Gesellschaft, Verfassung von Hegel bis heute, Der Staat 17

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der Aneignung eingesetzt und vermehrt wird. Da Hegel kein Revolutionär ist, legt dies den Schluss nahe, dass seine Lösung jener Gierkes nahesteht. Doch das täuscht. Was Hegel mit Marx verbindet und von Gierke trennt, wird sichtbar, wenn man danach fragt, was in der Unternehmung zusammengeschlossen ist. Gierke antwortet darauf: „Menschlich“ zu verstehende Personen – was ihn zu der „personenrechtlichen“ Beziehung führt. Für Hegel und für Marx stehen im Gegensatz dazu „Dinge“ im Mittelpunkt. Der abgeschlossene Vertrag ist deshalb für sie ein „sachenrechtlich“ zu verstehender Austauschvertrag, weil er sich nicht auf den Menschen bezieht, sondern auf das „Ding“ Arbeitsvermögen. Sein Gegenstand ist die „Veräußerung meines Produzierens oder Dienstleistens, insofern es … veräußerlich ist, auf eine beschränkte Zeit oder nach sonst einer Beschränkung.“912 Für beide ist das Unternehmen ein Zusammenschluss von „Unorganischem“. Die „objektive Assoziation“ bezieht sich auf Kapital und Lohnarbeit; sie (und nicht Kapitalist und Arbeiter) sind dort zur „Einheit zusammengeschlossen.“913 Die Unternehmung ist selbständige Person, weswegen sie in ihrem Inneren keine weiteren Personen duldet. Der Verkäufer der Arbeitskraft bleibt während der Arbeitszeit also vor dem Fabriktor; nur das „Ding“ hat Zutritt. Für ihn selbst gilt das dortige Schild „No admittance except on business.“914 Die Positionen sind damit keineswegs identisch. Hegel und Marx beurteilen zwar den zugrundeliegenden ökonomischen Sachverhalt ähnlich. Aber sie gelangen beide – wie wir gleich sehen werden – zu einer je anderen Lösung des in ihm angelegten Konflikts. Um die hegelsche zu verstehen, müssen wir auf die „Wesenslogik“ sowie auf das dort abgehandelte „gestaltlose Sein“ zurückkommen.915 Dieses muss sich „zur Unmittelbarkeit“916 aufheben; es muss Gestalt annehmen. Was dabei hervortritt, sind jene Funktionen der „Wirtschaftsfamilie“, die nach ihrem Zerfall weder hier noch dort von den Zerfallsprodukten fortgeführt werden. Die sozialen Funktionen im Sinne Gierkes. Sie werden gewissermaßen „ausgelagert“, sie werden als „Polizei“ und „Korporationen“ ein institutionell eigenständiger Bereich der bürgerlichen Gesellschaft, der staatlichen, überwiegend aber halbstaatlichen Charakter trägt.

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[1978], S. 391 ff.), der die Unternehmung als „Ausübungsgemeinschaft“ bezeichnet. § 80 R. Hegel, L (B), S. 109. Marx, MEW 23, S. 189. Weshalb Hegel in § 181 R auch auf seine Ausführungen in der „Wesenslogik“ verweist. § 131 E.

11 Die Fortexistenz der „Wirtschaftsfamilie“ im „Sozialstaat“ „Polizei“ und „Korporation“

Mit den Teilsystemen „Kleinfamilie“ und „Unternehmung“ entstehen leistungsfähige Einheiten für die jeweiligen Zwecke. Hier wie dort kommt es zu einem sprunghaften Anstieg der Arbeitsproduktivität und der Effektivität gegenüber der „Wirtschaftsfamilie“. Und trotzdem: Wir stehen vor dem „Sündenfall“. Denn die „sittliche Bestimmung [des Ökonomischen ist] aufgehoben.“917 Nicht mehr der Mensch ist jetzt Zweck der Produktion, sondern der Reichtum.918 Einerseits arbeitet jetzt jeder Teil effektiver, andererseits zeigt sich bald, dass beide Teile Defizite aufweisen. Nehmen wir die jetzige Familie, die „Produktionsstätte“ des Arbeitsvermögens. Wie käme sie zurecht, wenn es keine Kindergärten, keine Schulen und Universitäten, kein Kindergeld, kein Bafög, wenn es keine Kranken- und Rentenversicherung, wenn es keine Sicherung für den Fall der Arbeitslosigkeit gäbe? Je größere Anforderungen an die Arbeitskraft gestellt werden, umso mehr wird das „Formieren“ derselben zu einer langwierigen und zunehmend teuren Angelegenheit. Risiken wohin man blickt. Die Familie ist mit ihnen zunehmend überfordert. Liebe? Sie mag ja tatsächlich in den meisten mitteleuropäischen Ehen unserer Zeit der „Anfangspunkt“ sein. Aber wie lange hält sie vor – angesichts der Schwierigkeiten, die sich gewöhnlich einstellen, sobald die Partner das „Kerngeschäft“, die Zeugung und Aufzucht von Nachwuchs in Angriff nehmen, angesichts einer familienfeindlichen Umwelt, angesichts der Kosten, angesichts der vielfältigen Zerstreuungen, angesichts einer Gesellschaft, die auf „Spaß“ aus ist? Ehe und Familie sind in einem derartigen Maße mit „Pflicht“ und „Disziplin“ verknüpft, dass sie in einer „pflichtlos“ verstandenen bürgerlichen Gesellschaft immer mehr gemieden werden. Zentrifugale Kräfte aller Art lassen sie immer mehr zerfasern und prekär werden. Die Scheidungszahlen, mehr noch die sich ausbreitende Unlust, überhaupt eine Ehe einzugehen, sprechen eine deutliche Sprache. Dieser Entwicklung muss mit einer zeitgemäßen Sozialpolitik entgegengearbeitet werden. Blicken wir zur Unternehmung. Spätestens mit Eintritt in den „organisierten“ Kapitalismus wird auch sie immer öfter zum „Sozialfall“. Wie oft, wie schnell ist sie in ihrer Existenz bedroht, weil der Profit zum alleinigen Gradmesser des Produ917 § 181/Z R. 918 Vgl. Marx, GR, S. 387.

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zierens gemacht wird, weil Missmanagement herrscht, weil sie von den Aktionären ausgeplündert wird, weil der Bedarf für die Produkte ausbleibt. Wie oft muss sie mit öffentlichen Mitteln „gerettet“ werden – im Interesse der Allgemeinheit, im Interesse der Eigner, im Interesse der Arbeitsplätze. Wie käme sie zurecht, wenn es die mit öffentlichen Mitteln erschlossenen Gewerbegebiete nicht gäbe, wenn es an Autobahnen, Häfen fehlte, allgemeiner: wenn nicht ein breit gestaffeltes System staatlicher Subventionen ihr helfend zur Seite stünde? Was sich also zeigt: Der Zerfall der „Wirtschaftsfamilie“ bringt hier wie dort eine Lücke hervor. Eine Stabilitäts-, eine Versorgungs- und eine „Gerechtigkeitslücke“. Letztere betreffen speziell jenen Teil der Mitgliedschaft, der die bürgerliche Gesellschaft mit keiner weiteren Ausstattung betritt als seiner Arbeitskraft. Sie ergeben sich daraus, dass das Glied der „Wirtschaftsfamilie“ eine, wenn auch bescheidene, Rundumversorgung erwarten konnte, der Lohnarbeiter aber alle Lebensrisiken mit seinem Lohn bestreiten muss. Der damalige Knecht war insoweit also bessergestellt als der jetzige Lohnarbeiter. Bleibt es bei der Lücke, kann jetzt „der Reiche den Armen untergehen lassen durch versagte Unterstützung oder durch harte Ausübung des Schuldrechts“919. Während der damals aufkommende und bald herrschend werdende Liberalismus für sie blind ist, hat Hegel diese Defizite im Auge. Wie Rosenzweig zeigt, beschäftigt ihn bereits seit 1802 die „so riesengroß gesehene soziale Verschiebung“920 zwischen Arm und Reich. 1820 ist die Kluft größer geworden und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Sie stellt eine Gefahr dar, der „die Regierung ‚aufs höchste entgegenarbeiten‘ müsse“921. Was ist dagegen zu tun? Wie kann der Ausgleich geschaffen werden, ohne den die bürgerliche Gesellschaft in steter Gefahr ist auseinanderzubrechen? Fragen, mit denen sich Hegel unter den Rubriken „Polizei“ und „Korporation“ – „Institutionen, worin die bürgerliche Gesellschaft als sittlich erscheint“922 – in den §§ 230–256 seiner „Rechtsphilosophie“ befasst. Der Zerfall und die daraus entstehenden Teile sind Tatsachen, bei denen es bleibt. Aber ist die „Wirtschaftsfamilie“ damit für immer verloren oder nur ihre bisherige Gestalt? Kreist auch hier seine um die „Idee“ zentrierte Philosophie um die Frage, wie die Einheit wiederhergestellt werden kann? Fragt er auch hier, was an die Stelle des Vormaligen tritt?

919 Savigny, System 1, S. 371. 920 Rosenzweig, a.a.O., S. 397. 921 Ebd., S. 396 – mit Bezug auf SdS, S. 78. 922 § 265/Z R.

11 Die Fortexistenz der „Wirtschaftsfamilie“ im „Sozialstaat“

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Das Thema ist bereits im § 188 R angesprochen. Er verweist auf die „drei Momente“, die die bürgerliche Gesellschaft ausmachen, auf die Teil-Systeme, wie man auch sagen könnte: A = System der Bedürfnisse; B = das sich auf das System der Bedürfnisse beziehende „Rechtssystem“. Unter C wird ausgeführt: „Die Vorsorge gegen die in jenen Systemen [in den zuvor unter A und B dargestellten Aufgaben der Bedürfnisbefriedigung durch eigene Arbeit und der Aufgabe des Schutzes des Eigentums durch die Rechtspflege] zurückbleibende Zufälligkeit und die Besorgung des besonderen Interesses als eines Gemeinsamen, durch die Polizei und Korporation.“ Mit den „zurückbleibenden Zufälligkeiten“ sind die Ungleichheiten im Großen wie im Kleinen angesprochen, die sich aus der Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft ergeben. Die Folgen daraus: extremer Reichtum hier und extreme Armut dort. Der Marktmechanismus allein schafft keine Abhilfe. Vermittlung tut also not; „der Gegensatz soll entschärft oder moderiert werden durch den Einbau von Zwischenformen.“923 Die Frage, die sich Hegel stellt: Was ist notwendig, um die beiden Teil-Familien sowie die Einzelnen auch jetzt wirtschaftlich so zu stellen, wie sie vor Zerfall der Wirtschaftsfamilie gestellt waren? Und mit welchen Institutionen? Damit ist der Rahmen für das abgesteckt, was wir heutzutage unter „Sozialstaat“ verstehen.924 Beide, Kleinfamilie und Unternehmung, diese Säulen der bürgerlichen Gesellschaft, sind in ihrem Bestand zu schützen. Angesprochen sind die Kosten für die Erzeugung, Erziehung, Bildung und Ausbildung des sogenannten Humankapitals wie auch jene Kosten, die heute im Interesse einer funktionierenden Wirtschaft verausgabt werden müssen. Was Hegel unter C vorträgt, mutet auf den ersten Blick an wie eine Anleihe an den Wohlfahrtsstaat des 18. Jahrhunderts. Dieses Element seines neuen Staates steht in offenem Widerspruch zu den liberalen Staatskonzeptionen, selbst zu jenen, die dem Denken der preußischen Reformer zugrunde lagen. Dazu W. Kersting: „Der Wohlfahrts- und Polizeistaat des 18. Jahrhunderts ist vom liberalen Bürgertum als Staat obrigkeitlicher Willkür angeklagt und bekämpft worden. Um diese Willkür auszuschalten, wollte der Liberalismus den Staat von jeder Eudämonieverpflichtung entbunden wissen.“ Im Anschluss zitiert er W. v. Humboldt, einen der preußischen 923 R. Ottow: Die Lehre von den Korporationen in der Rechtsphilosophie Hegels und ihre Fortschreibung durch Eduard Gans als Beitrag zur Frage der „Zivilgesellschaft“, ARSP87 (2001), S. 474. 924 Dazu W. Schild: Bemerkungen zum „Antijuridismus“ Hegels, in: G. Haney/W. Maihofer/G. Sprenger (Hrsg.), Recht und Ideologie in historischer Perspektive. Festschrift für Hermann Klenner II, Freiburg i.Br., Berlin, München 1998, S. 151.

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Reformer: „Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter als zu ihrer Sicherheit gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist.“925 Heute weiß jeder, dass die bürgerliche Gesellschaft ohne dieses Element nicht zu halten wäre. Sich selbst (bzw. ihren Elementen A und B) überlassen zu sein bedeutete ihre Selbstzerstörung. Diese „Selbstregulierungsunfähigkeit“926 zwingt zum Handeln, zwingt dazu, Institutionen zu installieren, die ihr Dauer verleihen. Damals aber wird Hegel diese Weitsicht selbst von vielen seiner Anhänger als Rückwärtsgewandtheit angekreidet, obwohl er klarstellt927, dass mit „seiner“ Polizei und mit seinen Korporationen nicht die mittelalterlichen Institutionen gleichen Namens wiederholt bzw. fortgeschrieben sein sollen. Diejenigen, die die Glückserwartung vom Staat in die bürgerliche Gesellschaft verlegt haben, sehen in dem unter C genannten Element nur das Systemfremde und in dessen Befürworter einen Reaktionär. Nur wenige erkennen, dass Hegel um den langfristigen Bestand der bürgerlichen Gesellschaft besorgt ist und sie „gegen den Zynismus des Laissez-faire-Liberalismus“928 und dessen unhaltbare, selbstzerstörerische Grundannahmen verteidigt. Und es zeigt sich ja auch: Was damals als „systemfremd“ galt, erweist sich bereits am Ende des Jahrhunderts als ein originäres, als das bitter notwendige stabilisierende und erhaltende Element. Waren Kleinfamilie und Unternehmung anfangs auf sich selbst gestellt, so zwang die seit Ende des 19. Jahrhunderts in allen entwickelten Industriegesellschaften veränderte Wirklichkeit zum Handeln. Die schon bezeichneten Defizite verlangten nach Lösungen. Die Umbildung der bis dahin bestehenden „Nachtwächterstaaten“ zu „Sozialstaaten“ setzt ein. „Polizei“ und „Korporationen“ werden um- und ausgebaut, werden im „Sozialstaat“ zusammengeführt und institutionalisiert. Eine neue Staatsfunktion konstituiert sich. In ihrem Mittelpunkt steht die Subventionierung beider Teilsysteme. Allerdings geschieht dies ungleichgewichtig, eindeutig zu Gunsten der Unternehmen und ihrer Aktionäre und Top-Manager. Die Polarisierung von Arm und Reich wird nicht verkleinert; im Gegenteil, die Kluft nimmt stetig, ab dem Jahre 1980 sprunghaft, zu. Der Intention Hegels entspricht diese real praktizierte „Sozialstaatlichkeit“ nur ganz ungenügend.

925 W. Kersting: Polizei und Korporation in Hegels Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft, HJ 1986, S. 376 f. 926 Ebd., S. 379. 927 Wenn auch nicht immer deutlich genug, wie R. Ottow (a.a.O., S. 473) zu Recht anmerkt. 928 W. Kersting, a.a.O., S. 377.

11 Die Fortexistenz der „Wirtschaftsfamilie“ im „Sozialstaat“

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„Polizei“ und „Korporationen“ also. Sie sind jene Bestandteile der bürgerlichen Gesellschaft, denen der „Charakter der allgemeinen Familie“929 innewohnt. Sie haben die „Pflicht und das Recht“930, gegen die Willkür und Zufälligkeit vorzugehen, die sich sowohl aus dem Wirken der Kleinfamilie als auch dem des Unternehmens ergeben. Sie sind das „dritte Moment“, dem die Aufgabe der Vermittlung zukommt; jenes Moment, welches die bürgerliche Gesellschaft Hegels von jener des Liberalismus unterscheidet.931 Denn Letzterer meint ja, dass die unter A und B genannten Systeme völlig ausreichend sind, um das „Glück für alle“ real werden zu lassen, ja dass das bei Hegel unter C aufgeführte Element geradezu verhindere, dass sich auch diese Seite an der bürgerlichen Gesellschaft realisieren kann. Dazu W. Kersting: Mit „Polizei“ und „Korporationen“ installiert Hegel nun ausgerechnet solche Institutionen in die bürgerliche Gesellschaft, „die von der sich emanzipierenden Wirtschaftsgesellschaft als Entwicklungshindernisse erkannt und abgeschafft wurden.“ Aber keineswegs aus rückwärtsgewandter Gesinnung heraus. „Hegel hat nicht Restauration im Sinn; er plädiert nicht für eine Rückkehr zur alten Aufgabenstellung der besagten Institutionen“. Was er anstrebt, ist ihre „Beibehaltung ... bei gleichzeitiger Neuformulierung ihres sozialen Auftrags“.932 Das ist der entscheidende Punkt: Es sind neue Institutionen, die entstehen. Die bereits diagnostizierte „Gerechtigkeitslücke“, die sowohl Marx als auch Gierke sehen, ist rechtens; aber rechtens nur im Sinne des „abstrakten“, also „unvernünftigen“ Rechts. Hegel bestätigt also Marx und den von ihm festgestellten Unterschied bei der ökonomischen und juristischen Bewertung des Austausches Kapital–Lohnarbeit. Aber er bestätigt nicht dessen „Revolutions-Lösung“. Statt ihrer setzt Hegel auf die Vernunft; sie gebietet, einen Ausgleich zu schaffen. Dazu ist die „Korporation“ da, die deshalb, weil sie die Familie auf „vernünftiger Basis“ wiederherstellt, von J. Kraus933 zur „vornehmsten Frucht der bürgerlichen Gesellschaft“ erklärt wird. Kennzeichnend für den Standpunkt Hegels ist: Keine Revolution. Kein Rückgriff auf feudale Zustände. Polizei und Korporation haben die Aufgabe, einen Ausgleich zu schaffen. Über sie ist beiden Seiten Hilfe zu gewähren, dem Kapital wie der Lohnarbeit. Staatshilfen aller Art. Eine breit angelegte Wirtschaftsförderung hier. Eine effektive Förderung der Kleinfamilie dort. Und Hilfe, an der beide Seiten paritätisch beteiligt sind oder es sein sollten. Wo der Schwerpunkt auf die Korpora929 § 239 R. 930 Ebd. 931 In der Hochzeit des Liberalismus bot es den Anlass, Hegels Philosophie als „reaktionär“ einzustufen und beiseitezuschieben, wie Rosenzweig (a.a.O., S. 397) dazu anmerkt. Er fügt hinzu, dass man es heute (also um 1914) „schwerlich“ dazu nutzen könnte. 932 W. Kersting, a.a.O., S. 373 f. 933 J.B. Kraus: Wirtschaft und Gesellschaft bei Hegel, ARSP 25 (1931/32), S. 14 ff.

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tionen gelegt ist, geht es um halb- und außerstaatliche Formen solcher Absicherungen, wie um tarifvertragliche Regelungen zu Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Betriebsrenten, bezahlte Maßnahmen der Fortbildung, um Rentenkassen, Krankenkassen, Unfallkassen, um Ausgleichs- und Haftungsfonds, wie sie im Versicherungs- und Bankengewerbe üblich sind. Vieles mehr. Vieles davon gehört längst zum Alltag. Dennoch ist dieses System nicht flächendeckend und insgesamt viel zu grobmaschig – und das gerade dort, wo es um die Absicherung der unteren Schichten geht. Oft werden solche Leistungen nur unter Vorbehalt gezahlt. Und es bestehen riesige, kaum fassbare Unterschiede zum Normalverdiener, wenn man an die Einkünfte der Vorstände solcher Unternehmen wie Volkswagen, wie Deutsche Bank und an deren Absicherung für alle nur erdenklichen Risiken denkt. Insgesamt gesehen liegen die Leistungen für die unteren Schichten deutlich unter dem Niveau dessen, was „billigerweise“ zu leisten wäre. Mit Tendenz abwärts – wäre es anders, könnte nicht erklärt werden, weshalb es in den Jahren ab 1980934 eine derart sprunghafte, historisch beispiellose Umverteilung und Auseinanderentwicklung des gesellschaftlichen Reichtums zu Gunsten ganz weniger gegeben hat. Der soziale Sprengstoff, den diese Entwicklung in sich birgt, zeigt sich längst. Der vom Liberalismus gewollte bzw. gutgeheißene Zustand bringt den „Verlust der Sittlichkeit“ mit sich. Dabei aber kann es nicht bleiben, wenn das Ganze nicht gefährdet sein soll. Also muss ein Korrektiv her. Es ist daher keine Frage der Wahl, ob „Polizei“ und „Korporationen“ vorhanden sind oder nicht. Sie sind notwendig, denn mit ihnen „kehrt das Sittliche als ein Immanentes in die bürgerliche Gesellschaft zurück“935. Ausdrücklich betont wird das für die Korporation. Die „Wirtschaftsfamilie“ selbst ist zwar historisch geworden und kann als Gestalt nicht wiederhergestellt werden. Aber ihr Prinzip muss weitergeführt, muss auf eine „Vernunftgestalt“ übertragen werden. Die Rückkehr zum Sittlichen ist also zugleich auch eine „Rückkehr zum Familienprinzip“936. Das schon vorliegende „erschreckende Anschauungsmaterial“ aus dem wirtschaftlich weit vorn liegenden England bestätigt Hegel: Ohne dieses Element geht es nicht. Fehlt es, sind unerträgliche, unverträgliche und folgenreiche Spannungen die Konsequenz. „Polizei“ und „Korporationen“ wirken also jenen Grundprinzipien entgegen, die, „in ungehinderter Wirksamkeit“, zu jener Entwicklung führen, die in § 244 934 Seit Amtsantritt R. Reagans und des von ihm protegierten doktrinären Wirtschaftsliberalismus. 935 § 249 R – Hervorhebung bei H. Jeder ehemalige „Familiensohn“ ist jetzt Sohn der bürgerlichen Gesellschaft geworden. Deswegen „erbt die Gesellschaft die ehemaligen Aufgaben der Familie“ (H. Ottmann: Bürgerliche Gesellschaft und Staat bei Hegel. Überlegungen zur Logik ihrer Vermittlung, HJ 1986, S. 341). 936 § 248 R.

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beschrieben ist: „Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige reguliert – und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen“, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite der „unverhältnismäßige Reichtum“ weniger. Ein düsteres Bild, das von den Tatsachen unserer modernen, globalisierten Welt längst eingeholt und übertroffen ist. So gesagt: Laisser-faire leistet dem Bürgerkrieg, leistet der Revolution Vorschub. Der Revolution des „Pöbels“, später der Revolution des Proletariats, jetzt wohl wieder jener Teile der Gesellschaft, die der globalisierte Kapitalismus zum Pöbel macht. Da solche Revolutionen kein Ausweg sind, sondern Sackgassen, ist es also die ureigene Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen, für ein Mindestmaß an Homogenität zu sorgen. Wer Sohn der Wirtschaftsfamilie war, ist jetzt „Sohn der bürgerlichen Gesellschaft“. Die Ansprüche der Familie gegen ihn sind auf die Gesellschaft übergegangen. Ebenso aber auch: Seine Rechte gegenüber der Wirtschaftsfamilie sind nun Rechte gegen die bürgerliche Gesellschaft.937 Die Familie ist insoweit ein „Untergeordnetes“ geworden, sie ist in Bezug auf die soziale Absicherung „nicht mehr von so umfassender Wirksamkeit“938 wie früher. Für sie hat jetzt die bürgerliche Gesellschaft einzuspringen. Das ist eine bedeutende Abweichung vom liberalistischen Denken. In § 230 R steckt Hegel den Rahmen ab. Es geht um das „besondere Wohl“. Dieses ist nicht systemfremd, wie es damaliger Standpunkt der Liberalen ist. Kein Verstoß gegen die heilig gesprochenen Grundsätze der freien Konkurrenz. Dieses „besondere Wohl“ ist vielmehr ein Recht; Hegel will es deshalb „als Recht behandelt und verwirklicht“939 sehen. Und was sehen wir? Spätestens 100 Jahre nach Hegels Tod, unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise und der Lehre von Keynes, hat sich auch der Standpunkt der Liberalen in Anbetracht des heraufziehenden „organisierten Kapitalismus“ gewandelt. Aber vorwiegend deshalb, weil nun auch die Unternehmung zum „Sozialfall“ geworden ist, weil sich spätestens jetzt zeigt, dass ohne Hilfe des Staates kein Weiterkommen ist. Der Sozialstaat für alle, für den einen und den anderen Teil der ehemaligen Wirtschaftsfamilie, kommt ins Gespräch und fasst nun Fuß. Kommen wir auf Gierke zurück: Er greift das Anliegen Hegels in einer extrem individualistisch geprägten Zeit auf. Das ist sein Verdienst. Sein deutsch-rechtlicher, vielen seiner liberal ausgerich937 § 238 R. 938 § 238/Z R. 939 § 230 R.

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teten Zeitgenossen rückwärtsgewandt anmutender, wissenschaftlicher Ansatz lenkt den Blick auf das, was für die liberale Kollegenschaft, was auch für Marx endgültig passé sein sollte: auf die „kollektiven“ Gebilde des Mittelalters. Wie Hegel, der sie „negiert“, aber dadurch nicht zu „nichts“, sondern nur „gestaltlos“ geworden sieht, erkennt auch Gierke, dass ihr Untergang kein endgültiger ist und sein kann. Wo der noch immer tonangebende Savigny das Recht vom Austausch her versteht, von dem Bereich her, der zwischen ihnen liegt, ist Gierkes Blick deshalb auf das Innere dieser Einheiten gerichtet. Was bei dem einen ausgeblendet ist, steht bei ihm in der Mitte. Jener untersucht die Rechtsbeziehungen unter Gleichen, wo er sich auf jene in „Herrschaftsverbänden“ konzentriert. Das unterscheidet sie. Das macht ihn interessant. Das bringt Gierke in die Nähe von Hegel, auch in die Nähe von Marx – und trennt ihn von Savigny. Wo dieser nur das Individuum sieht, sieht Gierke auch die „Kollektiveinheiten“. Wo für Savigny Vertrag und Gleichordnung dominieren, sieht Gierke hierarchische Verhältnisse. Für Savigny ist die Austauschsphäre die Kernzone des Rechts. Gierke hingegen sieht sie im Inneren der Unternehmung. Dort wird produziert. Dort entsteht das Eigentum. Aber wessen Eigentum? Wäre die Unternehmung als „Wirtschaftsfamilie“ anzusehen, würde man sagen müssen: das gesamthänderisch gebundene Eigentum aller Familienmitglieder. Es so zu sehen widerspricht sowohl der liberalen als auch der marxistischen Doktrin. Letzterer deshalb, weil Marx und seine Nachfahren schnell begreifen, dass ein „Sozialstaat“ zutiefst „revolutionsfeindlich“ ist. Nimmt er doch durch soziale Befriedung der Revolution den Wind aus den Segeln. Sozialpolitik, von wem sie auch kommt, ist daher für Marx reaktionär. „Je schlimmer es kommt, desto besser.“940 Je manchesterlicher der Kapitalismus, umso sicherer die Revolution. Marx teilt seine juristische Beurteilung mit Savigny, die ökonomische aber mit Gierke. Beide, Marx und Gierke, stellen den dynamischen Teil der bürgerlichen Gesellschaft in den Mittelpunkt. Beide stoßen auf die gleiche – „geldwerte“ – Lücke, die sich zu Lasten des Lohnarbeiters auftut. Dessen Entlohnung erfolgt nach „Zirkulationsmaßstäben“, obwohl der „Produktionsmaßstab“ gelten müsste. Marx meint, dass gegen diese „Lücke“ juristisch gesehen „kein Kraut gewachsen“ ist; nur die Revolution hilft. Anders Gierke. Er gelangt zu einem Rechtsanspruch des 940 H. Freyer, a.a.O., S. 93. Er zitiert Marx, der 1848 in einer Rede zum Freihandel (MEW 4, S. 444 ff.) diesen insoweit befürwortet, wie er den Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat auf die Spitze treibt, mit den Worten: „In diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel.“ Aus dem gleichen Grund („revolutionsfeindlich“) erklären sich die Einschätzungen der Sozialpolitik unter Bismarck durch Engels (MEW 21, S. 167): „Hier werden Kapitalisten und Arbeiter gegeneinander balanciert und gleichmäßig geprellt zum Besten der verkommenen preußischen Krautjunker.“

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Lohnarbeiters am Unternehmen und an den Ergebnissen der Produktion analog der Regelung des Familienrechts. Denn das Vermögen der Familie ist gesamthänderisch gebunden. Jedes Mitglied ist daran beteiligt, wenn auch sehr ungleich. Zwar sind die familienrechtlichen Regeln nicht 1:1 auf die Verhältnisse im Unternehmen anwendbar, sondern nur in „abgewandelter“ Gestalt, sie sind „jedoch keineswegs aufgehoben.“941 Gierke erinnert an die „Fürsorgepflicht“942 des „Hausvaters“. Mit einer zeitgemäßen Entsprechung derselben will er das Arbeitsverhältnis ergänzen, um den Arbeiter im Krankheits- und Invaliditätsfall sowie im Alter abzusichern. Für ihn steht fest: Sowenig sich die Familienverhältnisse auf schuldrechtliche Beziehungen reduzieren lassen, sowenig kann das Arbeitsverhältnis im schuldrechtlichen „Dienstvertrag“ erfasst werden. Tut man es trotzdem, geht das zu Lasten des Arbeiters. Wie sollten auch die Maßstäbe des Schuldrechts greifen? Hier die „zum Teil ins Riesenhafte ausgewachsene[n] privatrechtliche[n] Herrschaftsverbände, welche in der Form des geschäftlichen Unternehmens heute als die eigentlichen Träger unseres wirtschaftlichen Lebens erscheinen.“943 Und dort der Lohnarbeiter, der Sklave der jetzigen Zeit.944 Wir wissen, wie es weitergeht. Erfolg erzielt Gierke weniger über seinen wissenschaftlichen Ansatz als über seine Mitwirkung im Verein für Sozialpolitik, dem er zusammen mit Brentano, Schmoller, Wagner u.a. angehört. Dessen Ziel ist es, die Lücke zu schließen, die sich im praktischen Vollzug des liberalistischen Gesellschaftsund Staatsmodells längst zeigt. Beide, seine eher konservative Weltsicht wie sein wissenschaftlicher Ansatz, vertragen sich gut mit den sozialpolitischen Vorstellungen des Vereins sowie mit der darauf fußenden sozialpolitischen Gesetzgebung, wie sie dann von Bismarck für das Reich ins Werk gesetzt wird.

941 O. v. Gierke: Deutsches Privatrecht. Bd. 1: Allgemeiner Theil und Personenrecht, Leipzig 1895, S. 697. 942 Pendant ist die „Treuepflicht“ gegenüber dem Arbeitgeber. „Fürsorgepflicht“ und „Treuepflicht“ gehören zu den Anregungen, die die Arbeitsrechtswissenschaft (z.B.) über Hugo Sinzheimer aus der sozialrechtlichen Gedankenwelt Gierkes aufgreift und über sie in ein modernes Kollektiv-Arbeitsrecht einfließen lässt. 943 Gierke, Die soziale Aufgabe, a.a.O., S. 40. 944 H. Spindler (a.a.O., S. 57) hebt hervor, „dass Gierke in dieser Zeit als erster und einziger Jurist einen tiefen Einblick in die ökonomische Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus gewonnen hat und dass er die Lösung des Problems ökonomischer Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht nur als Problem der Armenhilfe erkannte, sondern als grundlegende rechts- und wirtschaftspolitische Aufgabe.“ Das führt ihn in die Nähe Hegels. Ein Vergleich ihrer Lösungsansätze lohnt sich also. Schon deswegen, weil er Hegel als einen Vorläufer des modernen Sozialstaats sichtbar macht.

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Indirekt, über den Staat, findet das von ihm kreierte „Sozialrecht“ Eingang in die Praxis. Gierke kann also für sich in Anspruch nehmen, zu den Vätern eines „Sozialstaates“ zu zählen, dem die Aufgabe zufällt, die zentrifugalen Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft jedenfalls soweit zu vermitteln, dass ihr Auseinanderbrechen vermieden werden kann. Insofern ist er auch daran beteiligt, Praxis werden zu lassen, was Hegel schon damals im Blick hatte: die Überführung der „bewusstlosen“ (d.h. selbstverständlichen) Sorge um das Wohl der Mitglieder der „Wirtschaftsfamilie“ in eine „gewusste und denkende“945 Sorge. War es diese „sozialstaatliche“ Seite, die Hegel das ALR interessant machte, so hätte sicher auch der Ansatz Gierkes sein Interesse gefunden. Aber er hätte ihm sicher auch die gleichen Einwände entgegengesetzt. Darunter den Haupteinwand, einen nur mit dialektischer Logik fassbaren Sachverhalt mit einem Organismus-Begriff aufklären zu wollen, der zwar die Herkunft der beiden Zerfallsprodukte zeigt, aber nicht auch die jetzige Gestalt, in die sie als relative Totalitäten eingebettet sind. Er führt Gierke zu einem „personenrechtlichen“ Verhältnis, wo Savigny, Marx, aber auch Hegel mit Blick auf die jetzigen atomistischen Strukturen zu solchen schuld- bzw. sachenrechtlicher Natur gelangen. Diese „personenrechtliche“ Beziehung entpuppt sich also als eine noch nicht restlos von der „Blut-und-Boden-Bindung“ gesäuberte, noch nicht vollständig versachlichte, mithin: noch nicht „sachenrechtlich“ gewordene Beziehung. Hegel hätte Gierke also entgegengehalten, was er in § 3/A R bereits Kant entgegenhielt: dass sein Recht auf einem überholten, hier: an die feudalen Statusverhältnisse anknüpfenden, Begriff von „Person“ basiert. Die Nähe der beiden zueinander täuscht also. Was sie trennt, ist die bei Gierke fehlende Dialektik. Er sieht die Familie als „Organismus“, nicht als „System“. Er denkt den Zerfallsprozess nicht zu Ende. Er interpretiert das fortbestehende „Ganze“ nicht logisch, sondern biologisch. Hegel beschreitet einen Weg, der gewissermaßen zwischen Gierke und Marx gelegen ist. Gemeinsam ist allen dreien, dass sie sich um die Ungerechtigkeit sorgen, die dem Lohnarbeiter widerfährt. Marx tritt ihr mit seiner revolutionären, Gierke mit seiner juristischen Lösung entgegen. Beiden tritt Hegel nicht bei. Der revolutionären nicht, weil er die Fetischisierung des Proletariats durch Marx als den prinzipiellen Fehler seiner Philosophie erkannt und abgelehnt haben würde. Der juristischen nicht, weil er den Konflikt, der sich um diese „Gerechtigkeitslücke“ rankt, nicht für individuell, auf der Ebene des Privatrechts, lösbar hält, sondern eine generalisierte und institutionalisierte Lösung auf der Ebene des Staates favorisiert. Wenn man so will: Er überführt die „hausväterliche“ Dimension des ALR in moderne, zum „Notund Verstandesstaat“ gehörende und von ihm exekutierte vernünftige Institutionen. 945 § 255/Z R.

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Wie anders sollte auch eine Lösung möglich sein, wenn man sieht, wie kompliziert Gesamthandsverhältnisse sind. Jede Auflösung eines Arbeitsverhältnisses zöge endlose Streitigkeiten jener Art nach sich, wie sie aus Ehescheidungen und Erbstreitigkeiten bekannt sind. Nur dass die Rechtslage noch weit verworrener wäre.946 Hegel ignoriert nicht (wie Savigny) den distributiven Gehalt dieser Beziehungen, er fordert diesen nicht (wie Marx) über die Revolution zu Gunsten der Lohnarbeiter ein, sondern verlagert dieses Problem und dessen Lösung auf die Ebene des Allgemeinen. Und die Praxis gibt ihm ja auch recht. Nicht der „Sozialrechtsgedanke“ Gierkes setzt sich durch, sondern der Sozialstaatsgedanke. Der Zerfall der Wirtschaftsfamilie ist für Hegel insofern etwas Endgültiges, als mit ihr die „naturwüchsige“ Gestalt aus dem Leben scheidet. Sie zerfällt in zwei „Entgegengesetzte“ – und dabei bleibt es. Diese „Wirtschaftsfamilie“ ist Geschichte geworden. Was von ihr aber geblieben ist, ist die „Idee“ – ein Fingerzeig darauf, dass ihre untergegangene Gestalt durch eine neue, durch die „Vernunftgestalt“ zu ersetzen ist. Diese liegt außerhalb von „Kleinfamilie“ und „Unternehmung“ und ist Teil des „Not-und Verstandesstaates“; die „Wirtschaftsfamilie“ wird zur dritten Dimension desselben. In sich ist dieser Staatsteil gegliedert in „Polizei“ und „Korporationen“, d.h. in Aufgabenbereiche, die stärker administrativ oder stärker „kooperativ“ bewältigt werden. Wie dies geschieht, zeigt Hegel nur in groben Zügen, aber deutlich genug. Am flexibelsten sind die Korporationen. Sie verstehen sich als halbstaatliche Institutionen, die direkt aus der bürgerlichen Gesellschaft hervorgehen und in direktem Kontaktmit ihr stehen. Sie haben „unter der Aufsicht der öffentlichen Macht das Recht“, gerade für jene Teile der Gesellschaft, die bloß über ihre Arbeitskraft verfügen, „als zweite Familie einzutreten“947. Man denke in diesem Zusammenhang an die Gewerkschaften und weiter: an die mit ihrer Hilfe erkämpften Tarifverträge, allgemeiner gefasst: das über sie erkämpfte kollektive Arbeitsrecht, mit dem die „Gerechtigkeitslücke“ des individuellen Arbeitsrechts mindestens teilweise korrigiert wird. Was Hegel damit bietet, ist eine Prinziplösung. Sie stellt sicher, dass 946 Wäre das Unternehmen als Gesamthandsvermögen anzusehen, an dem er einen Anteil hat, stünde er im Falle des Streites vor all den Schwierigkeiten, die das Institut „Gesamthand“ in sich birgt. Sie sind plastisch beschrieben bei G. Buchda: Geschichte und Kritik der deutschen Gesamthandlehre, Marburg 1936. Die Auffassung Gierkes ist dort auf den Seiten 172–179 abgehandelt, die verwirrende Meinungsvielfalt dazu auf den Seiten 189–224. 947 § 252 R. M. Wolff (a.a.O., S. 152) führt dazu aus, „dass Hegel der Korporation gerade keinen allgemeinen, über die bürgerliche Gesellschaft hinausgehenden Zweck zuschreiben möchte, sondern nur einen beschränkten und endlichen“ – nämlich den, sie „sozialverträglich“ zu machen.

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der Lohnarbeiter seinen über das Arbeitsentgelt hinausgehenden Anteilen an der Unternehmung bzw. an deren Erträgen im Falle seines Ausscheidens daraus nicht selbst hinterherlaufen muss. „Polizei“ und „Korporation“ sind jenes Dritte, das, neben Kleinfamilie und Unternehmung, aus dem Zerfall der „Wirtschaftsfamilie“ hervorgeht. Wie diese sind es Teile der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ergänzen den ökonomischen „Minimalstaat“ A. Smiths, ergänzen den bloßen „Rechtsstaat“ der Liberalen um das, was wir heute den „Sozialstaat“ nennen. Erst über „Polizei“ und „Korporation“ kann die moderne Familie im umfassenden Sinne „gesichert“948 werden. Das sozialstaatliche Element ist eine Komponente des „Not- und Verstandesstaates“, nicht des Staates selbst. Es ist notwendig, um die bürgerliche Gesellschaft halbwegs im Gleichgewicht zu halten, um sie vor der „Desorganisation“ (§ 255/A R) zu bewahren. Ohne es wäre sie längst an ihren Widersprüchen zugrunde gegangen. Doch eines sollte man sehen: Polizei und Korporationen gehören nicht zum Kernbereich des „Sittlichen“; sie gehören zum Sittlichen nur insofern, als sie der völligen Entsittlichung der bürgerlichen Gesellschaft entgegenarbeiten.949 Der Staat ist dem zentralen Anliegen Hegels vorbehalten: der „Naturfrage“. Der Staat hat den Antagonismus, der zwischen den beiden Naturen steht, zu vermitteln. Erhalt der Schöpfung – das ist seine politische Hauptaufgabe. Das „Allgemeine“, das von „Polizei“ und „Korporationen“ herzustellen bzw. zu bewahren ist, ist der höheren und umfassenderen Sicht und Aufgabe des Staates nur „Besonderes“. Und so erklärt Hegel es in seiner Vorlesung auch. „Die Korporation“, heißt es in einer Nachschrift aus dem Wintersemester 1819/20950, „ist schon ein Gemeinwesen, nur hat sie noch einen besonderen Zweck.“ Wenn dies nicht gesehen wird, bliebe es in der Tat „mysteriös, woher es kommt“951 und welchem Zweck es dient – das dem Staat zugrunde liegende Allgemeine.

948 949 950 951

F. Rosenzweig, a.a.O., S. 400. Siehe dazu: § 255/Z R. R-Bl, S. 207. R. Ottow, a.a.O., S. 474.

TE I L 4 – ZU R B Ü RG ER LI C H E N GE S E LLS C HAFT

12 „Unechte“ Gestalt des Sittlichen: Die bürgerliche Gesellschaft Naturgesetzlicher Gesamtprozess und Sittlichkeit

Zwar hat Hegel bereits in Jena mit „System“ und „relativer Totalität“ jenes Grundmodell seiner Philosophie gefunden, das es ihm ermöglicht, den vor seinen Augen stattfindenden Untergang des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens logisch-dialektisch zu durchschauen. Zwar sind Aristoteles und Spinoza überwunden.952 Aber wie bekannt: Der Teufel steckt im Detail. Hegel ist noch immer nicht „fertig“ – und seine äußeren Umstände erschweren den Fortgang seiner wissenschaftlichen Arbeit. Und so sehen wir, dass er in seiner Nürnberger Zeit953, auch noch in Heidelberg mit Begriffen arbeitet, über die er eigentlich seit Jena hinweg ist. Jetzt, in Berlin, wo er seine praktische Philosophie ausarbeitet und gewissermaßen „Farbe bekennen“ muss, stößt er auf bisherige Ungereimtheiten seiner Arbeiten aus dieser Zeit und korrigiert sie. Der Schub, den seine Entwicklung damit erfährt, zeigt sich in der „Rechtsphilosophie“ des Jahres 1820. Neue Begriffe kommen hinzu, alte werden fallengelassen oder geschärft. Hinzu kommt die „bürgerliche Gesellschaft“. Sie ist nun endgültig als Gestalt der „produzierten“ Natur erkannt, damit: als vom „Gemeinwesen“ abgetrennter und auf der Ebene der Teile verselbständigter Bereich. Er trennt sich deswegen jetzt 952 Vgl. dazu M. Riedel: Hegels Kritik des Naturrechts, HS4 (1967), S. 188. Vgl. K.-H. Ilting: Hegels Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Politik, Philosophisches Jahrbuch71 (1963/64), S. 38–58. 953 Rosenzweig (a.a.O., S. 287 f.) spricht von einem „Bruch“, der sich in einer Hinwendung zu kantischen Positionen zeige, sichtbar an einer „Verschiebung der Wertgesichtspunkte zuungunsten des Staates und zugunsten der freien Moralität“ bis zur Hervorhebung des „moralisch freien Einzelmenschen“. Dagegen wendet sich K. Larenz (Hegels Nürnberger Schriften in ihrer Bedeutung für die Entwicklung seiner Rechts- und Staatsphilosophie, ARSP 31 [1937/38], S. 358), der begründet aufzeigt, dass diese Abweichung lediglich aus pädagogisch-didaktischen Gründen (Erfordernisse des Schulunterrichts, jugendliches Alter der Adressaten, Vorgaben der übergeordneten Schulbehörde) erfolgt, nicht aber, weil Hegel seinen philosophischen Ansatz korrigiert.

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auch von der bisherigen „Staatsgesellschaft“, weil sie eine Einheit vorspiegelt, die es so nicht mehr gibt. Damit ist der Traditionsbegriff „Gesellschaft“ überwunden und klargestellt, dass der Staat eine Gestalt des „Ganzen“ ist, die bürgerliche Gesellschaft hingegen nur eine solche des „Teils“. Weiter ist damit ausgesagt, dass es nun zwei Staaten gibt, den „Not-und Verstandesstaat“ der bürgerlichen Gesellschaft und den auf beide Naturen bezogenen „Vernunftstaat“. Der Staat, sein Staat, ist der politische Ausdruck der „Einheitsnatur“, mithin institutionalisierte Sittlichkeit. Der andere Staat, der „Not- und Verstandesstaat“, ist hingegen nur die politische Organisation, die sich die bürgerliche Gesellschaft gibt – ein relativ selbständiger Teilstaat, den M. Wolff als die „Verfassung im Besonderen“954 bezeichnet. Und war in der Enzyklopädie „Das Recht“ abgehandelt, so ist der entsprechende Abschnitt der „Rechtsphilosophie“ jetzt „Das abstrakte Recht“ überschrieben.955 Auch das ist keine Marginalie, sondern ergibt sich ebenfalls aus der bloßen „Relativität“ jener Totalitäten, die jetzt im Rampenlicht stehen und durch ein „höheres Drittes“: durch das als „Vernunftgestalt“ wiedergeborene „Gemeinwesen“ vermittelt sind. Hegel ist sich immer sicher darin, dass Familie und Staat Gestalten institutionalisierter Sittlichkeit sind; die originären, aus sich heraus „sittlichen“ Größen.956 Nicht so bei der bürgerlichen Gesellschaft. Zählte er die von ihr umfassten Sachverhalte 1802 noch pauschal zum „Unsittlichen“, ist sie jetzt dem „Sittlichen“ zugeordnet – allerdings mit dem wichtigen Vorbehalt, der oft übersehen wird: Er sagt, sie ist „zunächst“957 sittlich. Woher dieser Sinneswandel?958 954 M. Wolff, a.a.O., S. 159. 955 Vgl. dazu: W. Schild, Naturrecht bei Hegel, a.a.O., S. 365. 956 Siehe § 142/N R: „Ehe, Staat“, heißt es dort, „sind die einzigen großen sittlichen Ganzen“. 957 Diese „Zunächst“ finden sich z.B. in den §§ 523–525 E und stehen im Zusammenhang zu Aussagen, die das atomistische Innenleben der bürgerlichen Gesellschaft zum Gegenstand haben bzw. wo sie als Abkömmling der – außerhalb der Sittlichkeit stehenden – „produzierten“ Natur porträtiert wird. In § 181 R zeigt Hegel den Übergang des Individuums von der Familie in die bürgerliche Gesellschaft, der „zunächst“ einen Absturz in die Unsittlichkeit bedeutet. Bezugnehmend auf dieses „Zunächst“ formuliert Fulda (Hegel, a.a.O., S. 215): „Im Unterschied zu Familie und einzelnem Staat ist die ganze bürgerliche Gesellschaft nämlich keine Institution oder gar Gestalt des Sittlichen.“ 958 Eine Fragestellung, die bereits Anfang der 80er-Jahre Gegenstand eines Aufsatzes von G. Lübbe-Wolff (Sittlichkeit, a.a.O.) war. Unter dem Eindruck des globalen, alle Grenzen und Beschränkungen zur Seite schiebenden Kapitalismus unserer Tage und der von ihm hervorgebrachten schreienden Diskrepanzen zwischen Reichtum und Armut, der von

12 „Unechte“ Gestalt des Sittlichen: Die bürgerliche Gesellschaft

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Der Schlüssel zur Antwort ist seine Neubewertung der „Entzweiung“. Sein Ausgangspunkt 1802: zwei Naturen sowie der zerstörerische Drang der einen, sich auf Kosten der anderen auszubreiten und absolut zu setzen. „Gezügelt“ ist dieser Drang durch eine „Einheit“ bzw. eine „Einheitsnatur“, die vermittelnd tätig wird. Abertausende Jahre ist es die „primäre“ Natur selbst, die dies übernimmt, die also in dieser Zeit eine Doppelfunktion innehat. Das ist die Zeit des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens und der „naturwüchsigen“ Sittlichkeit. Je mehr die „produzierte“ Natur sich ausprägt, je mächtiger sie wird, umso mehr entzieht sie sich der Vermittlung. Die Folge: Das „naturwüchsige“ Gemeinwesen verliert seine einigende Kraft; und schließlich zerbricht es. Die „Entzweiung“ tritt zutage; „Entzweiung“ in „produzierte“ und „primäre“ Natur, in „Kleinfamilie“ und „Unternehmung“, in „Person“ und „Subjekt“, in „Recht“ und „Moral“ – der scheinbare Normal- bzw. Endzustand. Aber mit ihm kann die Schöpfung, und mit ihr: der Mensch, nicht überleben. Vermittlung tut also weiterhin not. Aber durch wen? Die scheinbar naheliegende (und, wie wir bereits sahen: vom Liberalismus wie vom Marxismus favorisierte) Antwort: durch jene Natur, die jetzt „frei“ geworden ist und als „bürgerliche Gesellschaft“ Gestalt gewinnt. Ihr obläge damit, was vorher Aufgabe der „primären“ Natur war. Und so kommt es ja auch. Sie wird Regieführende Natur. Was früher durch „Blut und Boden“ vermittelt wurde, ist es jetzt durch „Vertrag“ und „Geld“. Eine scheinbar probate, eine „freiheitliche“ Lösung. Für Hegel eine Scheinlösung, weil sie auf Kosten der „primären“ Natur geht959 und für diese „Unfreiheit“ und unlimitierte Ausbeutung bedeutet. Gerade die Natur, die jetzt das Sagen hat, muss ja gezügelt werden. Unterbliebe dies, wäre damit eine bloße Umkehrung des vormaligen Zustandes erreicht. Das zu vermeidende Übel wäre potenziert; der Bock wäre zum Gärtner gemacht. Läge es von daher nicht näher, diese „bürgerliche Gesellschaft“ und ihren „Notund Verstandesstaat“ ohne Wenn und Aber zum Unsittlichen zu zählen? Dem steht jedoch entgegen, dass das Gemeinwesen zwar „gestaltlos“ geworden ist, aber weiterhin „untergründig“ auf sie einwirkt. Wie zeigt sich das? Ein dichtes und zählebiges Geflecht, „Trümmer“ der früheren Blut-und-BodenBindungen, Elemente der „Naturseite“960, wie Hegel sagt, haftet dem Neuen an, „verunreinigt“ und beeinflusst es. Viel davon rankt sich um den Begriff „Volk“. Zwar lässt Hegel keinen Zweifel daran, dass dieses „aufgelöst“961 ist, dass also nicht mehr ihm verursachten Umweltprobleme wird sie ab den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend thematisiert. 959 So ist die Polemik Hegels gegen das Vertragsdenken in § 258/A R zu verstehen. 960 Siehe § 548 E. 961 Vgl. SdS, S. 78; § 303/A R. F. Rosenzweig (a.a.O., S. 182) zitiert Hegel aus dessen ver-

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Athene als Sinnbild des „Volksgeistes“ herrscht. Aber auch die Penaten, „die inneren, unteren Götter“962 haben Macht und beeinflussen das Endergebnis. Jedenfalls kann die „produzierte“ Natur wegen der Symbiose mit dem Naturprinzip nicht in vollem Maße sie selbst sein. Obwohl ihrem Charakter nach ungeteilte, weltumspannende Natur, muss sie aus geografischen, klimatischen, ethnischen Gründen, wegen ihrer zeitlich versetzten Entstehung und Ausbreitung, wegen der ganz unterschiedlichen Startbedingungen bei den einzelnen Völkern, zunächst als national verfasste bürgerliche Gesellschaft auftreten.963 An sich global existierend und agierend, ist sie als Gestalt also bis heute an konkrete Menschengruppen, an konkrete Territorien und Verhältnisse geknüpft. Werden diese Einflüsse missachtet, nach der einen (nationalen) wie der anderen (internationalistischen) Seite, rächt sich das in Gestalt nationalistischer Strömungen, wie wir sie aus der Frühzeit der bürgerlichen Gesellschaft kennen und wie wir sie gegenwärtig wieder als Reaktion auf die vorschnelle oder als vorschnell empfundene Nivellierung der nationalen Belange und Unterschiede im Rahmen der EU erleben. Ein zweiter Komplex von Einwirkungen, der von dieser „Naturseite“ ausgeht, umfasst all das, was A. Smith unter der „unsichtbaren Hand“, was K. Marx unter dem „naturgesetzlichen Gesamtprozess“ verstehen. Aus dieser doppelten Einwirkung auf die bürgerliche Gesellschaft ergibt sich folgende „Formel“: „Produzierte“ Natur + Hineinwirken der „Naturseite“ = national verfasste bürgerliche Gesellschaft.

loren gegangenem Kommentar zu einer Steuart-Schrift. Dort heißt es: Mit Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft ist das Volk „aufgelöst“. Es verliert seine innenpolitische Bedeutung. Rosenzweig selbst kommentiert: Das „absolute Band des Volkes, das Sittliche, ist verschwunden, und das Volk aufgelöst“. Der Zerfall des mittelalterlichen Gemeinwesens lässt vom Volk nur das Staatsvolk übrig, das um die sprachlichen, die ethnischen, die kulturellen Besonderheiten zentriert ist und damit auch den territorialen Rahmen absteckt, „welcher die Selbständigkeit der Nation als einer Individualität gegen andere ist“ (VPhG, MM 12, S. 530). Als nach innen gewandter, innenpolitisch relevanter Begriff wird „Volk“ zum inhaltlosen Allgemeinbegriff. Das „Volk“ spielt beim frühen Hegel eine bedeutendere Rolle als beim späteren. Immer mehr wird es verdrängt durch die Begriffe „Gemeinwesen“ und „Staat“. Die logischen Größen rücken in den Vordergrund. „Volk“ gehört nicht zu ihnen. „Volk“, erst der Hauptgott der Staatsphilosophie, wird zum Nebengott, wird jetzt von Hegel zum Kreis der Penaten gezählt. 962 §257/A R (Hervorheb. bei Hegel). In die gleiche Richtung zielt auch, wenn Hegel in der „Phänomenologie“ (S. 354) vom Zugrundegehen der „lebendigen Volksgeister“ und deren Ersetzung durch das „einzelne Individuum“ schreibt. 963 Siehe dazu A. v. Bogdandy: Hegel und der Nationalstaat, Der Staat30 (1991), S. 513–525.

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Die „Naturseite“ – Einfallstor des Irrationalen – erschwert die logische Einund Zuordnung der bürgerlichen Gesellschaft und macht sie für so manchen zur „eigenartige[n] Zwischenbildung“964. „Vermittlung“ findet also durchaus statt. Allerdings eine, die im Nachhinein korrigiert und „unschöne“, unerwünschte Folgen zeitigt. Die Sittlichkeit drängt sich nur durch die Hintertür in die bürgerliche Gesellschaft, macht sich dort nur als „List der Vernunft“ geltend.965 Eine Reaktion auf die Zügellosigkeit der „produzierten“ Natur. Eine Art Notbremse. Eine Antwort auf die überproportionale Inanspruchnahme und Zerstörung der Natur. Vergeltungsakte, die uns in die Schranken weisen sollen. Dabei bleibt es, solange die „Vernunftgestalt“ fehlt. Bereits in Frankfurt befasst sich Hegel mit den Werken der englischen Nationalökonomen. Studien, die er in Jena und in den Folgestationen fortsetzt. Sein Wissen um die ökonomischen Zusammenhänge führt ihn jetzt also zum Standpunktwechsel,966 sichtbar in der Entdeckung der bürgerlichen Gesellschaft als einer eigenständigen Gestalt neben Familie und Staat. Man kann es mit Arndt/Lefèvre967 so sehen: Er lässt sich von den englischen Nationalökonomen belehren und relativiert seine bisherige Haltung. „Markt“, „Konkurrenz“, allgemeiner: „unsichtbare Hand“, sind ihm nun keine „böhmischen Dörfer“ mehr. Er erkennt darin das „Scheinen der Vernünftigkeit“.

964 Z.B. E. Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt., Aalen 1978 (2. Neudruck d. Ausg. München u. Berlin 1910), S. 350. 965 Siehe dazu: W. Pauly, a.a.O., S. 384. 966 Er entnimmt diesem Studium die Lehre, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht vollständig losgelöst ist von dem „Rest“ des Gemeinwesens (bzw. der „Einheitsnatur“), sondern über die „unsichtbare Hand“, erwähnt in der „Rechtsphilosophie“ als „regierender Verstand“ (§ 189/A), mit diesem verkoppelt bleibt. Markt, Konkurrenz und Wertgesetz stellen sicher, dass das unsittliche Produzieren auf Grenzen stößt. Sie fungieren als die Mittler zwischen den Naturen. Zwar findet die Korrektur im Nachhinein statt, was zur viel beklagten Anarchie, was zu den Handelskrisen führt, aber: Sie findet statt. Das Wirken der Gesetze der Nationalökonomie, vor allem des Wertgesetzes, von Hegel weitergedacht zum „Reich der Gesetze“ (L [W], S. 131, 132, 135), führt also dazu, dass die bürgerliche Gesellschaft Anschluss an die Sittlichkeit gewinnt. 967 Arndt/Lefèvre, a.a.O., besonders S. 13 f. Gemessen an Marx fällt er dadurch nach Meinung dieser Autoren hinter dessen revolutionären Ansatz zurück. Das ist richtig. Aber Hegel ist auch in höherem Maße Realist als Marx und kein Utopist. Und weiter ist zu bedenken, dass es für Hegel Priorität hat, das Verhältnis der beiden Naturen zueinander aufzuklären. Geschieht dies, ergibt sich aus dem Ergebnis zwingend, dass die bürgerliche Gesellschaft, so wie sie derzeit besteht, dringend zu reformieren ist. Aber erst das geklärte bzw. neu bestimmte Verhältnis der Naturen zueinander ergibt eine solide Basis, von der aus Richtung und Umfang dieser Reformen bestimmt werden können.

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Über sie verschafft sich der „regierende Verstand“968 Geltung, wirkt das „Naturprinzip“ korrigierend auf das „Produktionsprinzip“ ein. Was Marx später als „Störgröße“, als „Anarchie“ sieht und ausgeschlossen haben will,969 ist für Hegel die Kraft, die die „produzierte“ Natur zum „Sittlichen“ hin korrigiert. Der „naturgesetzliche Gesamtprozess“ leistet also einen Teil jener „Vermittlung“, die eigentlich dem „Vernunftstaat“ obläge. So verschafft sich das „Naturprinzip“ Geltung. Aber im Unterschied zu den vorhergehenden „naturwüchsigen“ Gemeinwesen, wo es tonangebend war, ist es jetzt, bei Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaft, eindeutig in der Defensive. Naturprinzip und Produktionsprinzip haben ihre Plätze getauscht. Rein äußerlich mag die bürgerliche Gesellschaft an die „Staats-Gesellschaften“ des antiken Griechenland erinnern. Aber beide sind nicht nur zeitlich, sondern vor allem inhaltlich voneinander getrennt. Gemeinsam ist ihnen lediglich ihr Charakter als unechte „Einheitsnaturen“, wobei die bürgerliche Gesellschaft schlechter abschneidet, weil sich mit ihr die Gewichte dramatisch zu Ungunsten der „primären“ Natur verschoben haben. Die Auseinandersetzung mit dem „naturgesetzlichen Gesamtprozess“ ist ein Hauptthema im ökonomischen Werk von K. Marx. Auch er sieht, dass der direkt, über „Blut und Boden“, hergestellte Zusammenhang der Naturen jetzt durch einen indirekten ersetzt ist. Markt und Konkurrenz stören den Zweck des Produzierens. „Planmäßige“ Produktion im Unternehmen – und Anarchie dort, im gesellschaftlichen Raum – das verträgt sich nicht. Welch eine Vergeudung von Arbeitszeit und Material, von gesellschaftlichem Reichtum – dieser Umweg über den Markt! Ein Übel wäre aus der Welt, gäbe es ihn nicht. Der „naturgesetzliche Gesamtprozess“ wäre ausgeschaltet und ersetzt durch eine alle gesellschaftliche Bereiche durchdringende „Planmäßigkeit“. Marx’ Weltbild ist das der Aufklärung: Die „produzierte“ Natur steht in der Mitte; sie „greift über“. (Nur) diese Natur ist die „menschliche“ Natur. Es liegt daher nahe, sie von allen Einflüssen der anderen Natur freizuhalten, sie – aus hegelscher Sicht – zu entsittlichen. Eine geradezu umgekehrte Sichtweise. Das anthropozentrische Weltbild in Reinkultur!970 968 § 189 R und A. 969 Engels spricht von einem „fehlerhaften Kreislauf“, der sich in dieser „Produktionsanarchie“ zeigt und dem zu Gunsten einer gesamtgesellschaftlichen planmäßigen Organisation der Produktion ein Ende bereitet werden muss (MEW 20, S. 255). 970 Wäre im realen Sozialismus realisiert worden, was Marx vorschwebte: eine Produktion, die in den Händen „assoziierter Produzenten“ liegt, wäre bei diesem ökonomisch-philosophischen Ansatz die „primäre“ Natur nicht besser dran gewesen. Sie wäre in diesem Fall statt von „Kapitalisten“ von den „assoziierten Produzenten“ geknechtet und ausgebeutet worden. Der „reale Sozialismus“ ist also nicht bloß einer „Falschanwendung“ der marxschen Theorie zum Opfer gefallen.

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Und so lobt Marx, wo Hegel tadelt. Ihm ist dieser dort nicht konsequent genug, wo der sich auf die „Sittlichkeit“ beruft. Die „Sittlichkeit“ trennt die beiden. Und wenn Marx sie zu bewerten hat, dann ist sie für ihn jener Teil seiner Philosophie, der dem rückwärtsgewandten Hegel zuzuordnen ist. Sie ist ausschließlich die Eigenschaft der „Einheitsnatur“, fehlt also jenen beiden Naturen, die aus ihrem Zerfall hervorgehen. Zwei „Herabpotenzierte“, „Recht“ und „Moral“, treten an ihre Stelle. Zwei Staaten also. Eine „doppelte Organisation“ des Politischen, wie Marx971 kritisch anmerkt. Aber nicht nur für ihn ist der Gemeinwesenstaat ein feudales Relikt. Wer die andere Natur als Teil des Politischen übersieht oder sie bewusst daraus verbannt, für den ist jetzt nur der andere, der Teil-Staat der (national verfassten) bürgerlichen Gesellschaft maßgeblich. Aber „ist dies ... jetzt die Stunde des Not- und Verstandesstaates“?, fragt W. Pauly972 – und verneint dies. Die damals stattfindende Ersetzung des einen durch den anderen, legitimiert sowohl von der liberalen als auch später von der marxistischen Lehre, wird von Hegel als eine Fehlentwicklung zu Lasten des eigentlichen Staates angesehen.973 Der „Gemeinwesenstaat“ bleibt. Der „Not- und Verstandesstaat“ kommt hinzu. Dass Letzterer, gemessen am Gemeinwesenstaat, ein qualitativ Anderes ist, ist in England bereits sprachlich, im Begriff „government“, sichtbar gemacht. Er wird dort von einem fortexistierenden Königtum überwölbt, einem Restposten des vormaligen „naturwüchsig-sittlichen“ Staates. „Reinrassig“ etabliert er sich in Nordamerika.974 Dort ist es so, wie es sich „gehört“: Dort ersteht der Staat zusammen mit der bürgerlichen Gesellschaft. Hegels Staat aber „residiert nicht in, sondern außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft“, bemängelt Marx.975 Ein Staat aus ökonomischer und politischer Rückständigkeit heraus, zu dessen philosophischem Handlanger sich Hegel macht. Der Unterschied: „Bürgerliche Gesellschaft“ und „government“ stehen sich nicht wie Teil und Ganzes gegenüber, sondern Letzteres ist der politische Bestandteil der Ersteren. „Government“ bezeichnet also einen Staat, der sich nur auf die Binnenver971 MEW 1, S. 281. 972 W. Pauly, a.a.O., S. 393 f. 973 Deutlich auch bei M. Wolff (a.a.O., S. 156 f.) herausgearbeitet. Bei der Mehrzahl der Autoren bleibt dieser Unterschied und seine Bedeutung unerkannt, z.B. bei C.E. Bärsch (a.a.O., S. 173), wenn er schreibt: „Durch die Negation eines bestimmten Inhaltes [der „Staatsgesellschaft“ – B.R.] – nämlich Sittlichkeit – entsteht die bürgerliche Gesellschaft, durch die Negation dieser Negation der Staat.“ Also: „Staatsgesellschaft“ minus „Sittlichkeit“ = bürgerliche Gesellschaft. Das weist daraufhin, dass unklar ist, wie der Zerfall der „Staatsgesellschaft“ zu bewerten ist. Das wiederum geht auf die Gleichsetzung von „Gesellschaft“ mit „Gemeinwesen“ zurück, d.h. des engeren, nur auf die „produzierte“ Natur bezogenen Begriffs mit dem weiteren, beide Naturen umfassenden. 974 Worauf Marx lobend hinweist (vgl. MEW 3, S. 62). 975 MEW 1, S. 252.

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hältnisse der „produzierten“ Natur bezieht; er ist zuständig nur für die gemeinsamen Belange der „Personen“ und ihres Eigentums. Die „primäre“ Natur wird von ihm nicht vertreten. Im Gegenteil, als „Verstandesstaat“ ist er ein Staat gegen sie. Wer einseitig für die „produzierte“ Natur Partei ergreift, kann sich mit dem Staat Hegels kaum anfreunden. Oder kann ihn nur mit so wesentlichen Abstrichen akzeptieren, dass das Anliegen Hegels verwässert wird. Akzeptanz findet nur der „Not- und Verstandesstaat“. Er enthält alle wesentlichen Merkmale, die uns so sehr, besonders unter dem Aspekt „Gewaltenteilung“, am Herzen liegen: Gesetzgebung = Legislative, „Rechtspflege“ = Judikative, „Polizei“ = Exekutive. Was dabei zumeist übersehen wird: Hegel bestreitet sie für diesen Staat auch nicht. Aber auf seinen Staat passen diese „gangbaren Vorstellungen“976 nicht oder doch nur mit großen Abstrichen. Der „Not- und Verstandesstaat“ ist auch bei Hegel ein fester und notwendiger Bestandteil der politischen Organisation. Aber er steht bei ihm nicht im Zentrum. Vorrangig geht es ihm um den Staat beider Naturen. Dieser ist der offene Punkt. Dieser ist sein Vermächtnis an uns. Kommen wir auf die Mechanismen der „unsichtbaren Hand“ bzw. der „Naturseite“ zurück, die dem Zweck der „produzierten“ Natur in den Arm fallen und aus dieser Sicht nichts als „Störgrößen“ sind. Was nach Marx helfen soll, alle Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums kräftiger denn je sprudeln zu lassen: die planmäßige Produktion, wird von Hegel als Expansion jener gefährlichen Seiten gesehen, die im Interesse der anderen Natur der Zügelung bedürfen. Planmäßigkeit um jeden Preis? Für Hegel ist das Herrschaft der Willkür. Sie mag eine Weile Bestand haben. Aber Dauer darf ihr nicht beschieden sein. Und es zeigt sich ja auch, dass eine solche Wirtschaft nicht funktioniert, jedenfalls nicht auf lange Sicht. Siehe „realer Sozialismus“: Dort wurden die sich um „Markt“ und „Konkurrenz“ rankenden Kategorien und Prinzipien ebenso „mundtot“ gemacht wie die sich von „Volk“ ableitenden Naturprinzipien. Stattdessen wurde einer aus dem Inneren der Unternehmung kommenden „Planmäßigkeit“ gehuldigt. Mit ihr, glaubte man, ist allem „Naturwüchsigen“ der Weg verlegt. Aber wie das ruhmlose Ende der realsozialistischen Ökonomie zeigt: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Soweit geht der „organisierte“ Kapitalismus des Westens nicht. Er führt zur Pluralität, nicht zur Totalität. Er lässt von der „Naturwüchsigkeit“ mehr übrig als der Osten. Er weiß besser mit ihr zu leben. Dennoch, auch hier wird alles getan, sich dem Wirken der „unsichtbaren Hand“ zu entziehen. Und auch hier belehrt uns daher die Gegenwart mit ihren Zerfallsprozessen an den Rändern, mit ihren Bürgerkriegen und Flüchtlingsströmen, mit dem aufkommenden Populismus in den 976 § 303/A R.

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Zentren, dass die „unsichtbare Hand“ zwar zeitweise außer Kraft gesetzt werden kann, sich dann aber umso gewaltsamer und folgenreicher Bahn bricht. Jedenfalls hat die bürgerliche Gesellschaft unserer Tage infolge der aufgezeigten Entwicklung ihre schon damals erkennbaren Tendenzen zum Zügellosen und zum Asozialen zu neuen „Höhepunkten“ führen können und im globalisierten Kapitalismus der neuesten Zeit eine neue Ziellinie erreicht und überschritten. Das „Zunächst“ verweist uns auf einen „Durchgangspunkt“, auf eine Übergangsgestalt. Einer vieltausendjährigen Sittlichkeit folgt eine „logische Sekunde“ – die Zeit des „Umschlagens“ der „naturhaften“ in eine „vernünftige“ Sittlichkeit. Die „naturwüchsige Einheitsnatur“ müsste also längst durch die „Vernunftgestalt“ ersetzt sein. Tatsächlich aber tritt die bürgerliche Gesellschaft an ihre Stelle und bringt damit die „produzierte“ Natur in die Position, die vormals die „primäre“ einnahm. Logik und Geschichte gehen getrennte Wege. Dabei bleibt es – beim „Durchgangspunkt“. Aber dieser markiert als „Feld rücksichtsloser privater Interessenverfolgung“ den – wie L. Siep977 mit den Worten Hegels formuliert – „Verlust der Sittlichkeit.“ Was schon damals auf der Tagesordnung stand, die „Vernunftgestalt“, fehlt bis heute. Einer der Gründe, warum das so ist, ist der bereits erwähnte Umstand, dass sie sich nicht von selbst herstellt. Sie muss von uns erkannt und gewollt sein. Aber das generelle Problem ist ja, dass wir uns mit der Vernunft schwertun. Sie scheint so ziemlich die letzte unserer Optionen zu sein. Und so geschieht, dass der Prozess, der ohne unser Zutun nicht zu Ende gebracht werden kann, im Stadium der „Entzweiung“ verharrt. Und diesen Zustand der „Halbheit“ haben wir zementiert; wir haben uns auf Kosten der anderen Natur darin eingerichtet, es uns darin gemütlich gemacht. Ja, die bürgerliche Gesellschaft ist sittlich. Der wunde Punkt aber: Sie ist es wider ihre Natur; ihr Kern, die „produzierte“ Natur ist unsittlich. Um ein Bild zu gebrauchen: Wie der Mond nur scheint, weil er von der Sonne angestrahlt wird, so ist auch sie nur sittlich, weil die „gestaltlos“ gewordene „Einheitsnatur“ in sie „hineinscheint“978. Hegel hat also gute Gründe, ihr mit Skepsis979 zu begegnen. Die 977 L. Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg i.Br., München 1979, S. 292. 978 Hegel spricht im § 189 R vom „Scheinen der Vernünftigkeit in diese Sphäre“ und das „Vernünftige“ selbst bezeichnet er als das „Versöhnende“. Eine ähnliche Aussage enthält § 182/Z R. Siehe dazu auch J.B. Kraus, a.a.O., S. 14 ff. 979 Die Kommentare, die er ihr in seinen Vorlesungen beigibt, zeigen, dass bzw. wie wenig „geheuer“ sie ihm ist. Ausführlich dazu: G. Lübbe-Wolff, Sittlichkeit, a.a.O., S. 248–253. W. Schild (Naturrecht bei Hegel, a.a.O., S. 363) zitiert aus der Vorlesungs-Nachschrift Heyse: „Eine bürgerliche Gesellschaft für sich kann es nicht geben, weil sie nicht ein wahrhaft Sittliches, Selbständiges ist. Sie bedarf ein Höheres, Solideres, auf dem sie

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„unsichtbare Hand“, generell: das „Naturprinzip“, wirkt nur von außen auf sie ein. Es beeinflusst und korrigiert sie – wenn auch mit oft „befremdlichen Ergebnissen“980. Und doch: Solange die bürgerliche Gesellschaft darüber ein „selbstregulatives System“981 bleibt, kommt dies der „primären“ Natur zugute. Fassen wir zusammen: Familie und Staat sieht Hegel als die festen, invariablen Gestalten der Sittlichkeit; als Gestalten des reinen „Naturprinzips“ (Familie) und des vermittelten „Naturprinzips“ (Staat).982 Die bürgerliche Gesellschaft zählt er deshalb nicht zu den „großen sittlichen Ganzen“, weil sie nicht originär sittlich ist,983 sondern ihre Sittlichkeit von außen bezieht, diese also nur „relativ“984 ist. Sie existiert deshalb nicht außerhalb von Zeit und Raum. Auch sie bleibt eingebettet in die „Einheitsnatur“. Aber solange diese „gestaltlos“ ist, kann sie nur untergründig auf die bürgerliche Gesellschaft einwirken. Und dies mit abnehmendem Erfolg, weil sich die „produzierte“ Natur diesem Einfluss zu entziehen sucht.

beruht.“ 980 G. Lübbe-Wolff, Sittlichkeit, a.a.O., S. 253. 981 Arndt/Lefèvre, a.a.O., S. 11. 982 In § 158/Z R unterscheidet er: Die der Kleinfamilie zugrunde liegende „Liebe“ ist die „Sittlichkeit in Form des Natürlichen; im Staate ist sie nicht mehr: da ist man sich der Einheit als des Gesetzes bewusst“. Im Staate ist also die Vernunftgestalt „Gesetz“ Ausgangspunkt des Sittlichen. 983 L. Siep: Was heißt: „Aufhebung der Moralität in der Sittlichkeit“ in Hegels Rechtsphilosophie? ,HS 17 (1982), S. 90, hebt hervor, dass die Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft unvollständig ist und die „entscheidende Aufhebung“ erst im „dritten Abschnitt der ‚Sittlichkeit‘, im ‚Staat‘, ... zu finden ist.“ 984 Siehe dazu § 517 E, wo dies unter „b“ zum Ausdruck gebracht wird.

13 Nach dem Verlust des „Sittlichen“: Quo vadis, bürgerliche Gesellschaft? Quelle ihrer prekären Sittlichkeit ist die „freie Konkurrenz“. Diese ist also nicht ohne Grund „Lieblingszustand“ der Ökonomen, wie Marx spottet. Über die „unsichtbare Hand“ bzw. den „naturgesetzlichen Gesamtprozess“ verschafft sich hier die „primäre“ Natur indirekt Geltung. Hier regelt sich das Verhältnis der Naturen scheinbar von selbst. Was will man mehr? Aus dieser Sicht sind, mehr noch als England, die USA Mitte des 19. Jahrhunderts das verwirklichte Ideal der bürgerlichen Gesellschaft. Alles regelt sich von selbst. Bis in alle Ewigkeit. Jedenfalls der Theorie nach. Wozu einen Staat à la Hegel? Er ist nicht nur überflüssig, sondern freiheitsfeindlich. Völlig ausreichend ist er: der Minimalstaat, der „Nachtwächterstaat“. Von diesem festen Punkt her entwickeln Smith und Ricardo das System der modernen Nationalökonomie985 und, parallel dazu, die Rechtswissenschaft das System des bürgerlichen Rechts. Von einem Punkt her, in dem sich „Produktion“ und „Zirkulation“, „Produktionsprinzip“ und „Austauschprinzip“, „Aneignung“ und „Eigentum“, Über- und Unterordnung hier und Gleichordnung dort säuberlich getrennt zeigen. Ein „schöner“ und überschaubarer Zustand, mit dem sich ein ebenso „schönes“ wie überschaubares Recht verbindet. Der dynamische Teil der bürgerlichen Gesellschaft, die Produktion, hat sich in der „Unternehmung“ verkapselt. Deren Inneres wird als Privatsphäre angesehen, die außerhalb des Rechts bleibt. Zum Schwerpunkt des Privatrechts wird daher der Bereich, in dem der Austausch des Produzierten stattfindet; die Sphäre der Zirkulation, ein, gemessen an der „Produktion“, stabiler, adynamischer Bereich. Der „Rechtsraum“. England, wo die Entwicklung zur Moderne aufgrund vieler Umstände, die sich bereits aus der Insellage ergeben, früher einsetzt als auf dem Kontinent und auf weniger Hindernisse stößt, kommt dem Zielpunkt „freie Konkurrenz“ deutlich früher nahe als Frankreich. Deutschland bleibt zurück. Die dortige Entwicklung wird Opfer der fehlenden Zentralmacht, eines grotesken Partikularismus, verheerender Kriege. Der wohl einzige Vorteil, der daraus erwächst, kommt der Philosophie zugute. Aus der Distanz und aus dem Rückstand heraus sind deren deutsche Vertreter in der Lage, das reichlich anfallende „Anschauungsmaterial“, das von dort herüberkommt, zutreffender zu bewerten als die dortige Kollegenschaft.986 985 Vgl. dazu J.B. Kraus, a.a.O., S. 24. 986 G. Lukács (Zur Ontologie, a.a.O., S. 27) hebt hervor, dass der deutsche Idealismus, besonders der Hegels, aus drei Quellen schöpft: der Französischen Revolution, der englischen industriellen Revolution, der deutschen Zurückgebliebenheit.

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Das Besondere: In England kommt es zum gleitenden Übergang von der Feudalmonarchie zum parlamentarischen Königtum. Die absolutistische Phase bleibt nahezu ausgespart. Die „Entzweiung“ in Staat und Gesellschaft wird verdeckt. Der Anschein entsteht, als setze sich das feudale Gemeinwesen als bürgerliches Gemeinwesen fort. Anders in Frankreich. Hier bildet sich der Absolutismus in seiner härtesten und konsequentesten Form heraus. Ihm folgt das andere Extrem – ebenfalls in der härtesten und konsequentesten Form: die Jakobiner-Diktatur. Und Deutschland? Hier hat die Reformation vorgearbeitet und einer aufgeklärten Variante des Absolutismus den Weg geebnet. Wenn man so will: einen Mittelweg. Auf ihn stützt Hegel seine Hoffnung, dass er zum „Vernunftstaat“ führt. Die bürgerliche Gesellschaft existiert also schon jahrzehntelang, ehe sie, reichlich spät und ausgerechnet im rückständigen Deutschland, auf den Begriff gebracht wird. Aber so ist es eben: Der „Begriff“ wird erst gefunden, wenn die Entwicklung ihn genügend vorbereitet hat. Am Anfang steht also nicht er, sondern die Euphorie der Aufklärer. Der wahre Begriff von dem, was sie heraufziehen sehen, ist erst möglich, wenn die zugrunde liegenden Tatsachen alle in der Welt sind. Bis dahin gilt es, ihrer „eigenen immanenten Entwicklung ... zuzusehen.“987 So kommt es also, dass erst hier auf den Begriff gebracht wird, was anderswo seinen Ursprung hat. Die über das dahinsiechende Reich wach gehaltene Erinnerung an das „naturwüchsige Gemeinwesen“ wirft „philosophischen Lohn“ ab! Die historische Mission der deutschen Philosophie wird also gespeist vom Nebeneinander von Reich und Territorien, von Feudalmonarchie und Absolutismus, von Katholizismus und Protestantismus, von den Dutzenden Spielarten, in denen sich der Absolutismus zeigt. Was insgesamt eine Misere ist, davon profitiert die Philosophie. Die frühen Theorien zur bürgerlichen Gesellschaft, angefangen bei Hobbes und Locke, ja die Philosophie der Aufklärung im Ganzen, erweisen sich jetzt, wo bereits praktische Erfahrungen vorliegen, als idealisierte Vorwegnahmen, als Wunschbilder. Die Schokoladenseiten des Neuen, das verheißene Glück, sind darin zum Teil grotesk überzeichnet. Hinzu kommt, dass später, als sie Fuß gefasst hat, gerade der philosophische Ansatz der Aufklärung, das Stehenbleiben bei der „Zerreißung“ und bei der Verabsolutierung der einen Seite, nicht weiterhilft, sondern zur Grundlage einer mehr und mehr positivistischen Weltsicht wird. Kurzum: Man hat sich dort bereits frühzeitig auf einen Standpunkt festgelegt, der sich später als ungenügend erweisen wird. Die Schattenseiten zeigen sich längst, als Hegel sein Werk beginnt. Die Kategorie des „Glücks“, aus der heraus die bürgerliche Gesellschaft bisher interpretiert wurde, lässt er daher beiseite und ersetzt sie durch die Kategorie „Vernunft“; er er987 § 2 R.

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setzt eine euphemistische durch eine sachliche Deutung.988 Er sieht im reformierten Preußen hoffnungsvolle Ansätze. Er stört sich nicht daran, dass der König sein Verfassungsversprechen nicht einzulösen gedenkt. Die Verfassungsurkunde ist nicht der Gradmesser. Er sieht Preußen schon längst auf dem Weg zum „Vernunftstaat“, auf dem richtigen Weg also, während er Frankreich und England auf Abwegen sieht und ihnen die Abkehr vom „Vernunftstaat“ zum Vorwurf macht. In der „Reformbill-Schrift“, einem Aufsatz, „der es sich recht eigentlich zur Aufgabe macht, die politische Form des englischen Staates herabzusetzen“989, verleiht er seinem Unmut Ausdruck. Was treibt ihn dazu, sich so zu äußern, wird schon damals und wird noch heute990 gefragt. Servilität, Altersstarrsinn, konservative Verknöcherung991? Waren schon viele seiner Zeitgenossen, auch seiner Anhänger, von der „Rechtsphilosophie“ befremdet, so mag die jetzige Schrift wie eine kalte Dusche wirken. Besonders auf jene, die Hegel noch immer für einen Liberalen halten. Ihr Inhalt scheint zu bestätigen, dass ein guter Philosoph nicht auch ein guter Politiker sein muss. Und so wird, vermeintlich zu seinen Gunsten, getrennt in Hegel, den Philosophen, und Hegel, den Politiker. England gilt allgemein als das Vorbild, als die Zukunft. Die Mängel des dortigen Systems sind den Gebildeten in Deutschland durchaus bekannt. Aber sie so ins Licht rücken? Selbst Rosenkranz meint, dass Hegel über die Stränge schlägt, „Englands Schattenseiten mit zu schwarzen, Deutschlands Lichtseite mit zu glänzenden Farben malte“, und glaubt dem Aufsatz „doch schon eine krankhafte Verstimmung“ anzumerken.992 988 Da die Idee des „Glücks“ später vom Marxismus übernommen wird, wird ihm dieser Austausch – „Glück“ gegen „Vernunft“ –, dieses fehlende „Bekenntnis zur materiellen Befriedigung des Menschen“ von H. Marcuse (a.a.O., S. 259) angekreidet. Dieser meint, dadurch billige Hegel „in letzter Instanz die Negativität des bestehenden gesellschaftlichen Systems.“ 989 A. Ruge: Die Hegelsche Rechtsphilosophie und die Politik unserer Zeit, in: M. Riedel (Hrsg.), Materialien 1, S. 329. Eine Schrift, die so anglophob abgefasst ist, dass es selbst seinem König ratsam erscheint, die Veröffentlichung wenigstens des zweiten Teils zu unterbinden, um das Verhältnis zu England nicht zu belasten. 990 Siehe dazu den Sammelband C. Jamme/E. Weisser-Lohmann (Hrsg.): Politik und Geschichte. Zu den Intentionen von G.W.F. Hegels Reformbill-Schrift, Bonn 1995 (HS, Beiheft 35). 991 Rosenkranz, a.a.O., S. 414: „So kam es, dass seine politischen Ansichten immer conservativer wurden.“ 992 Ebd.; 130 Jahre sieht G. Irrlitz (Einleitung, in: G.W.F. Hegel, Politische Schriften, hrsg. u. eingel. v. G. Irrlitz, Berlin 1970, S. L) „keine geringe Ironie des Schicksals“ darin, „dass der Verehrer der englischen Verfassung und ursprüngliche Verächter Preußens am Ende seines Lebens ein rabenschwarzes England und ein goldgerahmtes Preußen malte.“

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Für K. Marx, auch für die Liberalen, etwa R. Haym, steht fest: England ist der deutschen Entwicklung weit voraus. Daran ändern alle Mängel des dortigen politischen und ökonomischen Systems nichts. England ist der Maßstab. Höchste Zeit, dass Preußen nach dort aufschließt. Was soll also diese Mängelliste? Wird England so gesehen, kann das, was Hegel schreibt, nur eine beklagenswerte Verirrung sein. Auch: ein Hinweis darauf, dass seine Philosophie nur „ein Kind seiner Zeit“993 war, und ihren Zenit überschritten hat. Selbst Gans, der ihm und seinem Werk am nächsten steht, sieht das so, sieht Hegel als das Opfer des eigenen „Systems“. Gans selbst wird von sich sagen, er habe sich „von dort herausgenommen, was mir nützlich“994 war. 1830 jedenfalls hat er es längst hinter sich gelassen995, während Hegel, je älter er wird, dieses umso „starrsinniger“996 verteidigt. F. Rosenzweig drückt es so aus: Hegel, „der Verherrlicher der Ideen von 1789, aber 1831 sind ihm diese Ideen unwillkommen, auch wo sie nicht weitergehen als die von 1789. Sie könnten ja eben doch weitergehen wollen.“997 Sah Hegel die Julirevolution und die Reformbill „als das Ende seiner Idee eines reformierenden Fortschritts an“? Ist es so, wie Irrlitz998 meint, dass der „Widerspruch zwischen progressivem philosophischem und konservativem politischem Denken, in den Hegel zuletzt geriet und der 1830 von der Geschichte an den Tag getrieben wurde, ... den Politiker Hegel in Bitterkeit enden“ ließ? Richtig ist: Hegel kann nicht übersehen haben, dass seine Philosophie das Eine, der Weg, den die Praxis beschreitet, das Andere und Schwergewichtigere ist. Und diese Praxis, die wegführt von seinem „Vernunftstaat“ und ganz offenkundig auch von der konstitutionellen Monarchie999, setzt seine Philosophie tagtäglich ins Un993 A. Ruge, a.a.O., S. 327; er ergänzt: geschrieben „in einem ganz anderen Bewusstsein, als das unsrige ist.“ An gleicher Stelle gebraucht Ruge das Wort „Indolenz“. 994 Zitiert bei H. Schröder: Einleitung, in: E. Gans, Philosophische Schriften, a.a.O., S. XXXVIII. Das Verhältnis E. Gans’ zur „Rechtsphilosophie“ beleuchtet W.R. Beyer: Gans’ Vorrede zur Hegelschen Rechtsphilosophie, ARSP45 (1959), S. 259–273. 995 Über die Staatsphilosophie Hegels, die er für zeitbedingt hält, deren Zeit also um ist, ist Gans bereits hinaus. Das zeigen z.B. die kritischen Anmerkungen in der Rezension zu H. Leo, Studien und Skizzen zu einer Naturlehre des Staates, aus dem Jahre 1834 (E. Gans, Philosophische Schriften, a.a.O., S. 276–287). Sie könnten auch der hegelschen Staatsphilosophie gelten. 996 Ebd. (E. Gans). Er beteiligt sich also an den „Reinigungsarbeiten“, die durchgeführt werden, um Hegel von seinen vermeintlichen reaktionären Zügen zu säubern. 997 Rosenzweig, a.a.O., S. 519. 998 G. Irrlitz, Einleitung Politische Schriften, S. L f. 999 Der Staat der Zukunft ist für Gans, wie eine Mitschrift seiner Vorlesung 1832/33 belegt, nicht „konstitutionelle Monarchie“, sondern „konstitutionelle Demokratie“ nach dem Muster der USA. (Vgl. dazu: M. Riedel, Einleitung, a.a.O., S. 22.)

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recht, ja scheint sie derart ad absurdum zu führen, dass bereits 15 Jahre nach seinem Tod ein Scheidler sie als eine „allem gesunden Menschenverstande hohnsprechende Welt- und Lebensansicht“1000, noch später ein Prantl sie als „monströses Gebilde“1001 betiteln können. Und auch Marx hat zu diesem Zeitpunkt sein Urteil über den „Vernunftstaat“ bereits gefällt, indem er das Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesellschaft einfach umkehrt. Diese Tragik! Seit drei Jahrzehnten philosophiert er gegen eine Entwicklung an, die unaufhaltsam – auch in Preußen – zum anderen Extrem tendiert: zur Alleinherrschaft der bürgerlichen Gesellschaft. Täglich verliert sein Staat Terrain an jenen Staat, der sich als reine Geschäftsführung der bürgerlichen Gesellschaft versteht. Durchaus ein Grund, griesgrämig und verbittert zu sein. Hatte sich die „Leerheit des Freiheitsgeschreis“ denn nicht bereits gezeigt, ist es nicht längst als „blindes Geschrei“1002 enttarnt worden? Hatte das Jahr 1815 nicht Klarheit geschaffen und den Übergang zur konstitutionellen Monarchie besiegelt – auch dort, wo die Monarchen das nicht oder nur halbherzig akzeptieren wollen? Der Absolutismus hat ausgespielt. Und auch er ist gescheitert: der totale Gesellschaftsstaat der Franzosen. Beide hat die Revolution „gemörsert“, beide haben sich als „unwahr“ erwiesen. Und die Lehre aus beiden war die konstitutionelle Monarchie; die Mitte zwischen den Extremen. Der absolut regierende Monarch war ein Extrem. Und die politische Alleinherrschaft der „produzierten“ Natur mittels des „Not- und Verstandesstaates“ war das andere. Beide bezeichnen unwahre, daher von der Geschichte „negierte“ ökonomisch-politische Gestalten. Sie waren also bereits durch deren „Gericht“ gegangen. Und was geschieht jetzt? Das Urteil wird in den Wind geschlagen. In Frankreich hat die Julirevolution den Übergang zum „Gesellschaftsstaat“ besiegelt. Und in England steht Gleiches bevor, wenn die der Reformbill zugrunde liegenden Pläne umgesetzt werden. Sicher, dort sind im Parlament, in den Amtsstuben, bei Gericht mehr alte Zöpfe und Perücken zu sehen als anderswo. Doch das ist Staffage. Schiebt man sie zur Seite, kommt lupenreiner Kapitalismus, auf der Seite des Staates: ein lupenreiner „Gesellschaftsstaat“, zum Vorschein.

1000 K.H. Scheidler: Hegelsche Philosophie und Schule, in: C. v. Rotteck/C. Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon .Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften, Bd. 6, Altona 1847, S. 607. Wiederum zehn Jahre später der „Richtspruch im Streit um Hegels Rechtsphilosophie“, ausgesprochen von R. Haym, der – von wenigen Ausnahmen abgesehen – „angenommen und über ein volles Jahrhundert anerkannt“ wurde (Riedel, Einleitung, a.a.O., S. 30). 1001 C. v. Prantl: Hegel und die Hegelianer, in: J.C. Bluntschli/K. Brater (Hrsg.), Deutsches Staats-Wörterbuch, Bd. 5, Stuttgart u. Leipzig 1860, S. 48. 1002 Hegel, DVD, MM 1, S. 572.

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Wie er schon nahezu 30 Jahre früher die „Umbildung des Staates aus dem Begriffe des Rechts“1003 in Frankreich der Jahre 1789 ff. kritisiert, so wendet er sich jetzt gegen die Umbildung Englands zum reinen Parlamentsstaat. Geboten wäre, die Herrschaft der Extreme zu Gunsten einer Mitte aufzugeben, die auf neue Weise die beiden Naturen vermittelt. Geboten wäre die echte „konstitutionelle Monarchie“, die „Vernunftgestalt“, in der die „historisch“ gewordenen Staatsformen „aufgehoben“ sind. Hegel „erfindet“ diese „Vernunftgestalt“ ebenso wenig, wie er die bürgerliche Gesellschaft „erfindet“. Er bringt beide lediglich auf den Begriff. Was auch heißt: Er stellt sie auf ihren richtigen Platz. Der Konstitutionalismus ist also Hegels philosophische Antwort auf das praktische Resultat der Revolution. Wie F. Rosenzweig es sieht: 1802 für ihn noch ein leeres Wort, ist er jetzt zum Wesen des Begriffs „Verfassung“ vorgedrungen.1004 Er arbeitet sich zu ihm vor, wie er sich, indem er sich zur „bürgerlichen Gesellschaft“ vorarbeitet. Im Unterschied zu den Vertretern des Liberalismus, und später auch zu Marx/Engels, sieht er im Konstitutionalismus nicht jene Zwischenform, die die absolute Monarchie auf den Parlamentarismus überleitet.1005 Als Teil des „Schicksals“ ist der Konstitutionalismus vielmehr von nun an dessen ständiger Begleiter. Er ist die letzte Staatsform; er ist insoweit „Endpunkt der Geschichte“.1006 Von daher ist es viel zu eng, ihn als „deutschen Sonderweg“, als spezifisch deutsche „Zwischenlösung“ aus politischer „Zurückgebliebenheit“ heraus anzusehen. Oder als Ergebnis eines „dilatorischen Formelkompromisses“. Er ist allgemein gültig. Schon Hegels Parteinahme für den württembergischen König in der „Landständeschrift“1007 zeigt uns seine Haltung an. Und nun, 1831, sieht er 1003 Hegel, VPhG, S. 532. 1004 Vgl. Rosenzweig, a.a.O., S. 407. 1005 F. Engels charakterisiert den preußisch-deutschen Konstitutionalismus der Jahre 1866 ff. als „Schein-Konstitutionalismus“, der als solcher eine „Auflösungsform der alten absoluten Monarchie“ sei (Engels, Zur Wohnungsfrage, AS I, S. 571). 1006 E. Weisser-Lohmann: Rechtsphilosophie als praktische Philosophie. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts und die Grundlegung der praktischen Philosophie, Paderborn 2011, S. 32 – Sie referiert hier die Standpunkte von L. Strauss und C. Schmitt, die gegen diese „Endstaat“-Konzeption Hegels halten. 1007 Schon hier wird deutlich, dass er den Begriffen „Konstitutionalismus“ und „Verfassung“ eine vollkommen andere, tiefere Bedeutung gibt als die alt- oder neuliberalen Fraktionen. Es geht ihm um das Verhältnis der Naturen zueinander. Zum Befremden vieler seiner Kollegen verteidigt er damals den König als den Vertreter eines Rechts der Vernunft gegen die Vertreter der Landstände, denen es darum geht, ihre ehemaligen Privatrechte auch in die neue Verfassung hineinzuretten. Der tiefere Zusammenhang zwischen beiden Schriften ist also die von ihm schon damals gesehene Gefahr, dass sich ein vom Privatrecht dominierter Staat, ein „Vertragsstaat“, etabliert anstatt des „Vernunftstaates“.

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England dabei, wie es den schmalen Pfad zum „Vernunftstaat“ verlässt und Kurs nimmt auf den reinen „Gesellschaftsstaat“, auf den Staat gegen die „primäre“ Natur. Der „Durchgangspunkt“ wird verlassen. Der Weg führt nicht nach vorn, sondern zur Seite. Nicht Preußen, sondern England begibt sich auf einen „Sonderweg“. Eine bloße Umkehrung, die nur das Vorzeichen ändert, geht dort ihrer Vollendung entgegen. Wenn es jetzt bloß darum gehen würde, dass eine Produktionsweise die andere ablöst! Das aus seiner Sicht gewichtigere Geschehnis ist der damit zugleich einhergehende Verlust des Gemeinwesens und seine Gewissheit, dass es nicht durch die beiden Zerfallsprodukte oder gar nur durch das eine ersetzt wird, sondern in das System Gemeinwesen übergeht, d.h. in eine Struktur, die aus einem Ganzen und seinen Teilen besteht. Die Ausstoßung der „primären“ Natur aus dem Politischen steht vor der Tür. Die Sorge treibt ihn um, dass nun jene Natur, jener Teil, die/der von ihm als „bürgerliche Gesellschaft“ auf den Begriff gebracht worden ist, sich anschicken wird, die Herrschaft über alle Natur an sich zu reißen. Aber gerade darum geht es Hegel: Trotz Verselbständigung der „produzierten“ Natur muss auch die andere Natur im Bereich des Politischen verbleiben; sie muss darin weiterhin eine Stimme haben. Das aber setzt jenen Konstitutionalismus auf die politische Tagesordnung, der den Kern seines Staates ausmacht. Frankreich 1830, England 1831: Hegel sieht, dass der „Monarch ... unaufhaltsam aus dem Mittelpunkt des Geschehens“1008 rückt, dass im europaweit fortgeschrittensten Land der „Parlamentsstaat“ triumphiert und nicht sein „Vernunftstaat“. Er sieht, was sich anbahnt: dass der bisherigen Reihe „unvollkommener Staaten“ ein weiterer Staat, aus seiner Sicht: der unvollkommenste überhaupt, hinzufügt werden soll. Vor seinen Augen werden die Kernstücke seiner praktischen Philosophie, die „Vernunft“ und der „Vernunftstaat“, zertreten. Der „Jubel des Verstandes und der Endlichkeit“1009 gellt ihm in den Ohren. Der „Gesellschaftsstaat“ dekretiert sich als der Staat der Moderne, als der „neue Staat“1010. „[D]ieses aus der Not geborene Gefüge sich wechselseitig bedingender Privatbedürfnisse und Privatverpflichtungen“1011 gewinnt das Rennen. Für Hegel aus den schon aufgezeigten Gründen der „worst case“. Und da Deutschland zurückliegt, Preußen zumal, wird er wissen, dass die Entwicklung, diese Fehlentwicklung, vor deren Grenzen nicht haltmachen wird. Die Praxis selbst scheint seine Philosophie, zumal die Staatsphilosophie, ins Unrecht zu setzen. Und von der Praxis lassen sich immer mehr seiner Kollegen leiten. 1008 H. Boldt: Hegel und die konstitutionelle Monarchie – Bemerkungen zu Hegels Konzeption des Staates aus verfassungsgeschichtlicher Sicht, in: E. Weisser-Lohmann/D. Köhler (Hrsg.), Verfassung und Revolution, S. 173. 1009 GuW, S. 321. 1010 § 260/Z R. 1011 Litt, a.a.O., S. 116.

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Auch Gans interpretiert die „konstitutionelle Monarchie“ längst entschieden liberalistisch.1012 Was also wird aus seiner Hoffnung, aus seiner philosophischen Gewissheit? Der preußische Staat dieser Zeit entspricht keineswegs seinem Ideal, aber er steht diesem weit näher als der englische oder auch der französische. Hier ist das Pendel noch nicht zur anderen Seite, zum anderen Extrem ausgeschlagen. Hier ist die Entscheidung noch nicht gefallen, hier besteht noch die Hoffnung, dass die Mitte angesteuert wird. Indem Hegel also Preußen als positives Beispiel entgegenhält (und dabei überzeichnet!), verteidigt er seinen „Vernunftstaat“. Nur mit ihm kann die Alleinherrschaft der „produzierten“ Natur vermieden werden. Kurzum: Was vom Mainstream als ökonomischer und politischer Fortschritt angesehen wird, ist für ihn Rückschritt, ist ein Weg ins Verderben. England ist für Hegel das Beispiel einer Entwicklung zur Moderne, die außerhalb der von ihm durch „System und Geschichte“ abgesteckten Bahnen verläuft. Sie verdeckt das Wesen der neuen Gestalt; sie ermöglicht, dass das Neue über das Alte interpretiert wird. Dieser Sonderweg1013 führt zu einer, „logisch“ gesehen, „unsauberen“ Lösung, weil er den Eindruck erweckt, als wandele sich das „feudale Gemeinwesen“ gewissermaßen „im Stück“ um in eine „bürgerliche Gesellschaft“. Und bezogen auf den „Menschen“: Es entsteht der Eindruck, als wandle sich der ungeteilte „Feudalmensch“ in den ebenso ungeteilten Menschen der bürgerlichen Gesellschaft. Der ganze, bereits geschilderte, logische Gehalt der Entwicklung ist damit zu den Akten gelegt und durch empirische Befunde ersetzt. In England nimmt die bürgerliche Gesellschaft, unbegleitet von einer adäquaten Philosophie, schon sehr früh Gestalt an. Knüpft man nur an den oberflächlichen Befund an, an das Bild der „ungetrennten substantiellen Einheit“, wird erklärlich, dass daraus auf eine bloße Umwandlung der feudalen in die bürgerliche Ordnung geschlossen wird. Auch fehlt den Engländern der „Fingerzeig“, den die Ausbildung des Absolutismus auf dem Festland den dortigen Beobachtern gibt: die dortige Spaltung in Staat und bürgerliche Gesellschaft, aus der insbesondere Hegel seine Schlüsse zieht. Was scheinbar eine Transformation ist, ist in Wirklichkeit eine Reduktion. Was von „Gestalt“ zu „Gestalt“ übergeht, ist „wesenslogisch“ gesehen nur der „Schein“ vom „Menschen“. Scheinbar wird eine feudale Form von „Demokratie“ – Demokratie, die auf den Privilegien der englischen Barone gegenüber ihrem König beruht – in eine „pluralistische“ Demokratie überführt. Dieser „Schein“ – nach He1012 Vgl. H. Boldt, a.a.O., S. 175. Und bereitet damit – wie es Beyer (Gans’ Vorrede, a.a.O., S. 261) sieht – den Boden für „den Freiheitsbegriff einer unterdrückten, aber geschichtlich vor dem Abschütteln dieses Jochs stehenden Klasse“. 1013 Ich habe mich dazu an anderer Stelle (siehe Rettig, a.a.O., S. 48–80) ausführlich geäußert.

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gel „der ganze Rest, der noch von der Sphäre des [ehemaligen] Seins übriggeblieben ist“1014 – wird als real existierend angesehen und in den Vordergrund gerückt. Er verunklart das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft, weil er die „produzierte“ Natur und die von ihr abgeleiteten Größen verdeckt, mindestens aber ihre Bedeutung verkleinert. Daraus entsteht ein Effekt, den der junge Marx in der „Heiligen Familie“ wie folgt beschreibt: Ein „Schein des Menschlichen“, der auch „an den ökonomischen Verhältnissen geltend“ gemacht wird, der im Gegensatz dazu steht, dass diese Verhältnisse von „ihrem offen ausgesprochenen Unterschied vom Menschen“ gefasst werden müssen und von der Praxis ja auch „in ihrem strikt ökonomischen Sinn“ angewendet und verstanden werden.1015 Ein Schein wird „zum Zweck und Wesen des Ganzen“1016 erhoben. In England und den USA ist es damit gelungen, der Bevölkerung eine größere Zufriedenheit mit dem Bestehenden zu vermitteln, als dies auf dem europäischen Kontinent der Fall war. Das Fortleben feudaler Reste, wenn auch nur als „Schein“, hat sich also dort bezahlt gemacht. Bis heute dienen sie dazu, ein an sich Unmenschliches zu vermenschlichen. Was für den Menschen nur „seine vollendete Knechtschaft und Unmenschlichkeit ist“, ist daher „dem Schein nach die größte Freiheit“1017. Auf diesem Schein basiert der spezifisch angloamerikanische, mit Errichtung der Weimarer Republik auch in Deutschland heimisch gemachte, Demokratiebegriff. Maßstab ist der „Vernunftstaat“. Und siehe: Es gibt keine Annäherung an ihn. Im Gegenteil: Die Kluft wird immer größer, hier wie dort. In England ist man dabei, die „Idee“ eines wahrhaft politischen Staates, eines Staates, der als Interessenvertreter beider Naturen auftritt, unter einem Staat zu begraben, der nur die Interessen der „produzierten“ Natur vertritt. Wie also kann das, was jetzt in England geschieht, Vorbild sein? Was dort – und in breiten Kreisen Deutschlands ebenfalls – für Fortschritt gehalten wird, ist für Hegel Rückschritt. Die Standpunkte sind geradezu entgegengesetzt.1018 Der englische Staat ist laut Hegel „seiner Idee gar nicht angemessen“, denn „Seele und Leib“ haben sich dort getrennt. Jene ist entflohen „in die abgeschiedenen Regionen des Gedankens“, dieser ist „in die einzelnen Individualitäten

1014 Logik II, S. 9. 1015 MEW 2, S. 34. 1016 NR, S. 441. 1017 MEW 2, S. 123. 1018 E. Vollrath (Hegels Wahrnehmung Englands, in: C. Jamme/E. Weisser-Lohmann [Hrsg.], Politik und Geschichte, S. 192) vertritt hierzu die „Grundthese ..., dass bei Hegel unter dem Politischen etwas anderes ... verstanden wird, als dies durchgängig in der englischen politischen Apperzeption der Fall ist.“ Das ist so.

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zerfallen“.1019 Das düstere Bild eines „defigurierten“1020 Staates ist beschworen. Geradezu „madig gemacht“ ist ein Staat, der schon zehn Jahre später ganz unverhohlen das Vorbild der deutschen Liberalen, auch das von Marx/Engels sein wird. Hegel begreift seinen Staat als „Endstaat“. Die „Vernunft“ ist zwar quantitativ, aber nicht als Qualität steigerbar. Aber nun sieht er, dass sich die Entwicklung von der „Vernunft“ überhaupt entfernt. Der zwischen den Naturen stehende Antagonismus bleibt unvermittelt und verschärft sich. Alles treibt auf einen Zustand zu, der insoweit „staatlos“ ist, wie er zum reinen Gesellschaftsstaat tendiert. Wenn man so will: Angesteuert wird eine „kleindeutsche“ Lösung. Der „Not- und Verstandesstaat“ steht vor der Tür, der „Parlamentsstaat“, der „Halbstaat“. Die Binnenorganisation bloß der „produzierten“ Natur schickt sich an, Organisation für das Ganze zu werden. 1831 steht Hegel schon fast allein. Unaufhaltsam drängen auch in Deutschland, auch in Preußen die ökonomische und die politische Entwicklung in die englische Richtung. Und immer deutlicher zeigt sich: Hegel ist kein Liberaler1021. Die Kluft zwischen seiner Staatsphilosophie und dem, was ringsum an „Staat“ zur Ausbildung kommt, vergrößert sich stetig. Entsprechend verringert sich die Schar seiner Anhänger bzw. zersplittert sich seine Philosophie in Schulen. In der Literatur wird die Frage diskutiert1022, ob Hegel seine „Rechtsphilosophie“ möglicherweise „zu früh“ geschrieben hat. Die Unterstellung, die Hoffnung: Hätte er sie „später“ geschrieben, wäre er wohl nicht zur „konstitutionellen Monarchie“ gekommen, sondern zum „Parlamentsstaat“. Wer so rechnet, stellt Hegel unter Akkomodationsverdacht oder missversteht ihn. Der „Parlamentsstaat“ verstieße jedenfalls gegen das logische Fundament seiner „Rechtsphilosophie“, das – wie bereits gezeigt – schon in Jena gelegt war und seither weitgehend stabil blieb.1023 „Konstitutionelle Monarchie“ besagt, dass sich der Schwerpunkt verlagert hat. Nicht mehr der Monarch, sondern der „Staat ist [nunmehr] die Wirklichkeit des Göttlichen.“1024 Oder wie es C. Schmitt interpretiert: „nicht mehr das Monarchische, 1019 Logik (B), S. 208. 1020 Vgl. § 258/Z R. 1021 Die Einschätzung seiner Philosophie, zumal seiner Staatsphilosophie durch Karl Hermann Scheidler (a.a.O., S. 606–664), einen Vertreter der liberalen Fraktion, zeigt die tiefe Kluft auf, die beide Richtungen trennt. 1022 W. Jaeschke (Die Vernünftigkeit des Gesetzes, a.a.O., S. 221) macht auf sie aufmerksam. 1023 Oft wird diese Frage, manchmal mit dem Ziel, den Akkomodationsverdacht abzuschwächen, mit der Feststellung verbunden, dass sich die Aussagen der „Rechtsphilosophie“ nicht mit jenen der „Logik“ decken, dass auch deshalb die Lehren der Ersteren konservativer ausfallen, als sie ausgefallen wären, hätte sich Hegel an die Vorgaben aus seiner „Logik“ gehalten. Davon ist aus meiner Sicht nichts zu halten. 1024 VRph 4, S. 670 (Griesheim).

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sondern das Konstitutionelle [ist jetzt] die Hauptsache.“1025 Nach Demokratie, Aristokratie und Monarchie, diesen „organischen“ Staatsformen, die die „alte Welt“1026 charakterisieren und mit Zerfall des „naturwüchsigen Gemeinwesens“1027 historisch geworden sind, ist mit der konstitutionellen Monarchie die „Endform“ erreicht. Das aber nicht im Sinne von „Ende der Geschichte“; sie bezeichnet „vielmehr das Ende einer Geschichtsperiode, den geschichtlichen Abschluss einer Welt“1028, die die politische Organisation, in der beide Naturen zusammengeführt sind, „naturwüchsig“, über „Blut und Boden“ herstellt. In der Terminologie des Marxismus: Die „Vorgeschichte“1029 der politischen Organisation hat geendet. Die „eigentliche“ Geschichte beginnt; die Geschichte des „Vernunftstaates“. Hegel sieht ihn 1820 in Preußen auf gutem Wege1030 – trotz Fehlens der versprochenen Konstitution, trotz fehlender ständischer Vertretung, trotz fehlenden Budgetbewilligungsrechts, wie Rosenkranz1031 tadelnd schreibt. Aber 1830 steht er in Deutschland schon nicht mehr zur Debatte – auch in Preußen nicht. Die Entwicklung verlief „unvernünftig“. Die Trennung und Entgegensetzung der Naturen verselbständigt sich. Es bleibt bei der bloßen Umkehrung. An die Stelle der „primären“ tritt die „produzierte“ Natur. Dass die schlimmen Folgen nicht gleich sichtbar werden, ist der korrigierenden Einwirkung der „unsichtbaren Hand“ zu danken. Ein magerer Ersatz, der die „Sittlichkeit“ vorübergehend rettet. Und England immer vorneweg! Und jetzt sollen dort auch noch die letzten Reste der davorliegenden Einheit beseitigt werden. Die letzten dem Monarchen verbliebenen Befugnisse von Bedeutung sollen auf das Parlament übergehen. Das Aus für das konstitutionelle Königtum. Die bürgerliche Gesellschaft steht kurz vor ihrer Alleinherrschaft. Und Deutschland folgt nach! Was erklärt, dass Hegels Philosophie, zumal die Staatsphilosophie, schon sehr bald nach seinem Tode als von der Zeit überholt erscheint, in „Abgunst“ gerät, ehe sich dann überhaupt jahrzehntelang der Mantel des Schweigens über sie legt. Kommen wir auf die „freie Konkurrenz“ zurück: Logisch gesehen ist sie nur ein Durchgangspunkt. Tatsächlich aber beherrscht sie jahrzehntelang das Feld, ehe sie, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, einem „orga1025 C. Schmitt: Verfassungslehre, Berlin 1983 (6. Aufl.), S. 200. 1026 § 273 Rph/Anm. 1027 MEW 13, S. 475. 1028 R. Kroner, a.a.O., S. 251. 1029 MEW 13, S. 9. 1030 W. Maihofer (a.a.O., S. 362): „In der Tat konnte Hegel … das Preußen des Jahres 1818 … im Gegensatz zu Frankreich, England und Österreich der damaligen Zeit, als einen ‚fortschrittlichen Staat‘ empfinden.“ 1031 Rosenkranz, a.a.O., S. 414.

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nisierten“ Kapitalismus weichen muss. Da sie eng mit dem Wirken der „unsichtbaren Hand“ verbunden ist und die bürgerliche Gesellschaft ihre Sittlichkeit daraus bezieht, bedeutet dies, dass sich ihr sittlicher Gehalt „verdünnt“. Der außerhalb der Institution „Staat“ wirkende Korrekturmechanismus fällt weg, verliert jedenfalls deutlich an Kraft. Was jetzt aufkommt, dieser „organisierte“ Kapitalismus, bildet ökonomische und politische Strukturen aus, die, vom Phänotyp her gesehen, jenen ähneln, die gemeinhin für „Feudalismus“ stehen, weshalb in der Literatur dieser Zeit viel von „Neo-Feudalismus“, von „Neo-Korporatismus“, von Neo-Absolutismus“ lesen können. Die Analogie zum „Organismus“ wird hervorgehoben. Und während Hegel und seine Philosophie jahrzehntelang „abgemeldet“ waren, scheint nun, mit dem Auftreten der genannten Phänomene, seine Stunde zu kommen.1032 Viele glauben sogar, mit dem Aufkommen des „Sozialstaates“ werde der „sittliche Staat“ Hegels Wirklichkeit. Jedenfalls bemerken wir einen Vorgang, den Vollrath als „Einschmelzung Hegelscher Konzepte in die juristische Staatstheorie“ beschreibt.1033 Aber die „Organisation“, die sich jetzt zeigt, das Systemdenken, das jetzt aufkommt,1034 bezieht sich allein auf die eine Natur und dient dazu, den Aneignungsprozess unter Ausschaltung des „naturgesetzlichen Gesamtprozesses“ effektiver zu gestalten. Der Antagonismus der Naturen wird verstärkt und nicht abgeschwächt. Und die ohnehin prekäre Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft ist auf das Schwerste gefährdet. Damit ist genug gesagt. Es verfälscht Hegel und seine Philosophie, diese Prozesse mit ihnen legitimieren zu wollen. Die Versuche, es zu tun, haben wesentlich dazu beigetragen, dass zu dem gegen ihn erhobenen Vorwurf der „Freiheitsfeindlichkeit“ nun auch noch der der „Naturfeindschaft“ (Bloch) hinzukommen konnte. Einen unrühmlichen Höhepunkt erreichten sie im Neu-Hegelianismus J. Binders, K. Larenz’ u.a., besonders in den Jahren 1933 ff.1035 Später wiederholten sie sich in spezifischer Weise im realen Sozialismus, soweit dieser sich neben Marx und Lenin auch auf Hegel beruft. 1032 In England und den USA, wo diese Phänomene zuerst auftreten, eher als in Deutschland. Bei B. Russell (Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung, Zürich 2007, S. 738) ist dazu zu lesen: „Zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren die führenden akademischen Philosophen in Amerika und Großbritannien größtenteils Hegelianer.“ Um die gleiche Zeit galt Hegel in Deutschland als „toter Hund“, der erst wieder geweckt wurde, als er auch dort aus den gleichen Gründen nützlich erschien. 1033 E. Vollrath: Zum Hegelverständnis Hermann Hellers, HS 27 (1992), S. 122. 1034 Siehe dazu N. Luhmann: Zweck – Herrschaft – System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, Der Staat2 (1964), S. 129–158. 1035 Schonender geht in dieser Zeit C. Schmitt mit Hegel um. Durchaus ein profunder Kenner seiner Philosophie, greift er nicht auf diesen zurück, sondern versucht, das „Dritte Reich“ philosophisch mit Hobbes zu legitimieren.

14 Die Geschäftsführung der bürgerlichen Gesellschaft Der Not- und Verstandesstaat

14.1 ... im Fadenkreuz des „Entweder-oder“

Als es zu beschreiben gilt, was als „Staat“ dem „naturwüchsigen Gemeinwesen“ bzw. der Feudalmonarchie nachfolgt, geschieht das von Anfang an anhand zweier unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Modelle. Da England vorausgeht, verwundert nicht, dass es zwei Engländer sind, die die Staatsfrage neu stellen: Hobbes und Locke. Jener steht für eine Version des modernen Staates, die nachfolgend die „gemeinschaftliche“, dieser steht für eine solche, die nachfolgend die „gesellschaftliche“ genannt werden soll. Beide Modelle beziehen sich auf die gerade „frei“ gewordene „produzierte“ Natur und ihren, von Hegel sogenannten, „Not-und Verstandesstaat“. Aber wie F. Neumann1036 treffend formuliert: Hobbes führt uns zu einem „Staatsabsolutismus“, Locke zu einem „Rechtsabsolutismus“. Beide Staatsvarianten unterscheiden sich vom „Gemeinwesen-Staat“ grundsätzlich. Und zwar dadurch, dass sie der Staat nur der „produzierten“ Natur sind. Aber Hobbes sieht in dieser selbst das handelnde Subjekt, während Locke an ihre atomistische Struktur anknüpft und aus ihr schlussfolgert, dass diese Natur über ihre Atome handelt. Modern ausgedrückt: Hobbes sieht die „produzierte“ Natur als ein „geschlossenes“, Locke sieht sie hingegen als ein „offenes“ System an. Beide verlagern den Staat von der Ebene des „Ganzen“ auf die Ebene eines Teils. Beide Modelle spielen seither eine zentrale Rolle. Im 20. Jahrhundert in besonderem Maße, weil sie sich hier als Praxis, als feindliches Gegenüber real existierender Staaten und Staatenblöcke zeigen. Zwei Begriffe also: „Gemeinschaft“ hier, „Gesellschaft“ dort, beherrschen die Diskussion. Die Ergebnisse sind folglich so weit auseinander wie diese Begriffe. Wer die „produzierte“ Natur als „Gemeinschaft“ sieht, sieht in ihrem Inneren keine weiteren Personen, sondern nur noch Funktionäre dieser einen Person. Wer sie hingegen als „Gesellschaft“ versteht, stellt die Atome und ihr Handeln in die Mitte. Dieser zentrale, dieser kardinale Unterschied zeigt sich im Verständnis des Rechts. „Gemeinschaftlich“ begriffen, versteht es sich als Beschränkung des Handlungsrahmens der Glieder. Diese sind eingebunden in eine innergemeinschaftliche Arbeitsteilung und werden mit jenem Quantum an Rechten ausgestattet, das sie befähigt, ihren Pflichten im Ganzen und für das Ganze nachzukommen. Das „gemeinschaftlich“ begriffene Recht verbindet sich mit 1036 Vgl. F. Neumann: Demokratischer und autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie, hrsg. u. mit e. Vorw. v. Herbert Marcuse, Frankfurt a.M. 1986, S. 33.

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den Supplementbegriffen „abgestufte Rechtsfähigkeit“ und – noch bedeutsamer – „Rechtsstellung“.1037 Das „gesellschaftliche“ Recht hingegen versteht sich als Garant der atomistischen Struktur, als Garant ihrer „Freiheit“, als Handlungsrahmen der Atome; eine „Zuteilung“ und „Abstufung“ der Rechte verbietet sich hier. Die Staatstypen, die aus diesem Unterschied hervorgehen, werden gemeinhin als „Diktatur“ und als „Rechtsstaat“ bezeichnet. Und Hegel? Seine Philosophie führt zu keinem von beiden. Sein „Vernunftstaat“ ist weder „gemeinschaftlich“ noch „gesellschaftlich“ gemeint, sondern versteht sich als der Staat für beide Naturen.1038 Er würde daher beiden Typen nur die Qualität eines unselbständigen Elementes des Vernunftstaates zuerkennen. Keiner von ihnen wäre, für sich genommen, mehr als nur „Not- und Verstandesstaat“. Beide sind für ihn Staaten, die lediglich dem „Produktionsprinzip“ verpflichtet sind, nicht auch dem „Naturprinzip“. Wer allerdings den „Vernunftstaat“ nicht zu bewerten weiß, dem „erscheint“, wie Roux/Chanavat hervorheben, „Hobbes in der herkömmlichen Vorstellung als Vater des Totalitarismus und Hegel als reaktionärer Verteidiger preußischer Ordnung.“1039 Aussagen zum „Not- und Verstandesstaat“ finden sich vor allem im Abschnitt seiner „Rechtsphilosophie“, der der bürgerlichen Gesellschaft gewidmet ist. Hier sind wir richtig, wenn wir Hegel als einen Philosophen des Rechtsstaates1040 sehen wollen. Denn hier finden wir z.B. das zentrale Element des modernen Rechtsstaates, die Gewaltenteilung, ausgeführt: a) die Legislative unter „Recht als Gesetz“; b) die Judikative unter „Rechtspflege“; c) die Exekutive unter „Polizei“. Was uns im Abschnitt „Der Staat“ entgegentritt, ist hingegen der Staat des „Ganzen“. Seine Hauptaufgabe ist die Vermittlung der beiden Naturen.

1037 Vgl. dazu: B. Rettig, a.a.O., S. 352–367. Auch H. Hattenhauer geht (in: „Person“, a.a.O., S. 410) hierauf anhand der rechtlichen Situation im „Dritten Reich“ ein. 1038 Am Beispiel: Liberalismus und Marxismus, die – praktiziert – zu dem je entgegengesetzten Typus führen, gehen gleichermaßen davon aus, dass der Staat als politische „Wirkeinheit“ (Böckenförde) oder als „Überbau“ (Marx) in der bürgerlichen Gesellschaft gelegen ist, dass er ihr zwar relativ selbständiger, aber doch nachgeordneter Teil ist. 1039 L. Roux/G. Chavanat: Die Staatsauffassung bei Hobbes und Hegel, Der Staat 17 (1978), S. 2. 1040 Siehe dazu M. Siemek: Hegel als Philosoph des modernen Rechtsstaates, HJ 2008, S. 169–175.

14 Die Geschäftsführung der bürgerlichen Gesellschaft

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Im § 157 R, am Ende jener Aussagen, die für alle nachfolgenden konkreten Gestalten des Sittlichen gelten, nimmt Hegel unter „A.“ auf den „Zerfall“ Bezug, der an die Stelle der vormaligen „Einheit“ den „Standpunkt des Relativen“ setzt. Der jetzt bestehende Zustand der „Entzweiung“ und des „Relativen“ macht notwendig, was, bezogen auf die „produzierte“ Natur und ihren Atomismus, unter „B.“ ausgeführt ist: „[E]ine Verbindung der Glieder als selbständiger Einzelner in einer … formellen Allgemeinheit“, zu der die „Rechtsverfassung als Mittel der Sicherheit der Personen und des Eigentums und … eine äußerliche Ordnung für die besonderen und gemeinsamen Interessen“ in Gestalt des „äußeren Staates“ gehören. Unter „C.“ schließlich ist genannt, was für beide Naturen gefordert ist: Ein Staat, dem es obliegt, die entzweiten Naturen auf der Grundlage der Vernunft „in die Staatsverfassung“ zurück- und zusammenzunehmen. Hier wird bereits das weitere „Programm“ sichtbar. Die „produzierte“ Natur macht wegen ihres Atomismus eine Rechtsordnung notwendig, die sich, zusammen mit dem Zwangsapparat zur Durchsetzung derselben, als „äußerer“ Staat bzw., wie Hegel weiter hinten formuliert, als „Not- und Verstandesstaat“ konstituiert. Im § 183 R, jetzt unter der Überschrift „Die bürgerliche Gesellschaft“, äußert er sich näher zu ihm. Dieser Staat ist dazu da, die Verwirklichung des „selbstsüchtige[n] Zweck[s]“ zu garantieren, der sich mit der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Mitgliedern verknüpft. Er ist der Staat der „Besonderheit“. Was der Mensch sonst noch ist, was es an „Natur“ sonst noch gibt, bleibt außer Ansatz. Insoweit ist er ein „Halbstaat“ – zuständig nur für die Belange jener Natur, der er entstammt. Gegenüber dem früheren ist er ein zur Hälfte „abgestorbener“ Staat.1041 Generell gilt, dass der „Not- und Verstandesstaat“ die „Geschäftsführung“1042 der bürgerlichen Gesellschaft ist, wobei aus dem Modell Hobbes’ eine „Einzelleitung“ folgt. Das andere Modell führt hingegen zu einer „kollektiven“ Leitung; ein Staat entsteht, der gebunden ist an den Willen der Gesellschafter, der „Aggregat der vielen Einzelnen“ ist und „nicht eine an und für sich substantielle Einheit“.1043 Der Staat Hegels hingegen ist außerhalb und oberhalb der bürgerlichen Gesellschaft gelegen. Er anerkennt die bürgerliche Gesellschaft und ihre Rechte. Aber er anerkennt auch die „primäre Natur“ als „Inhaber“ von Rechten. Aus der Gegensätzlichkeit ihrer Zwecke und damit auch: aus der Gegensätzlichkeit ihrer Rechte, ergibt 1041 Die Lehre vom „Absterben“ des Staates ist daher die unausweichliche Konsequenz der liberalen und der marxistischen Theorie. Der Unterschied besteht darin, dass der Liberalismus nur den „Gemeinwesenstaat“ zu Gunsten des „Not- und Verstandesstaates“ absterben lässt, Marx aber den „ganzen“ Staat – eine Utopie, die von der Oktoberrevolution sehr bald praktisch und von Lenin auch theoretisch richtiggestellt wird. 1042 Im Englischen ist dies präziser mit „government“ ausgedrückt. 1043 VPhG, S. 527.

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sich mithin die Notwendigkeit der „Vermittlung“. Was das bedeutet, ist in § 260 R ausgesprochen: „Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.“ Zwei Naturen und deren Subjektivität als die anzuerkennende Grundtatsache der neuen Zeit. Und außerdem das durch die erste „Negation“ nicht beseitigte, sondern nur „gestaltlos“ gewordene und als „gestaltloses Sein“ fortexistierende „Gemeinwesen“. Das gilt es, im „modernen Staat“ zusammenzuführen. Zwei Staaten also: der Staat des Teilsystems „produzierte“ Natur, der sich noch einmal in die zwei benannten Typen aufspaltet, und der Staat des Gesamtsystems. Gemessen am vorhergehenden „naturwüchsigen Gemeinwesen“ wie auch am hegelschen „Vernunftstaat“ fällt der „Not- und Verstandesstaat“ also zurück „in das Entweder-Oder desselben“1044, mit der Folge also, dass er existiert als „gesellschaftlich“ oder „gemeinschaftlich“ organisierter Staat, als „Rechtsstaat“ oder „Diktatur“. Der richtige, der sittliche Staat wirkt in diese beiden Varianten, wenn auch in unterschiedlicher Weise, nur über die „unsichtbare Hand“ hinein, weshalb (zum Glück) in keiner real existierenden Gesellschaft der Staat nur der unverfälschte Ausdruck der „produzierten“ Natur ist. Jeder dieser Staaten wird dadurch, selbst gegen seinen Willen, zu einem gewissen Maße an die „Sittlichkeit“ gekoppelt. Deshalb kann Hegel formulieren: Auch der „schlechteste Staat, dessen Realität dem Begriff am wenigsten entspricht, insofern er noch existiert, ist er noch Idee; die Individuen gehorchen noch einem machthabenden Begriff.“1045 Aber vom Grundsatz her bleibt er in beiden Fällen „Halbstaat“. Die Variante „Rechtsstaat“ hat allerdings deshalb mehr Wahrheit für sich, weil sie der atomistischen Struktur der „produzierten Natur“ Rechnung trägt. Die „gemeinschaftlich“ organisierte „produzierte“ Natur hingegen missachtet diesen Atomismus, stemmt sich gegen ihn. Auf die Dauer erfolglos, wie der sang- und klanglose Untergang der Staaten des realen Sozialismus lehrbuchhaft zeigt; sie lagen mindestens zuletzt außerhalb des „machthabenden Begriffs“.

1044 § 65 E – Hervorhebung bei H. 1045 L (B), S. 208; ähnlich die Aussage in § 258/Z R.

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14.2 ... als „Rechtssystem gegen den Staat“: Die „Umbildung des Staates aus dem Begriffe des Rechts“

Der „Not-und Verstandesstaat“ des rechtsstaatlichen Typus ist der privatrechtlich verfasste bzw. organisierte Staat; der „Vertragsstaat“; die „politisch“ gemachte Privatrechtsordnung. Seine Hauptaufgabe: Schutz und Mehrung des Privateigentums. Mag die Natur in die Binsen gehen: Das Privateigentum hat Vorrang. Jenen, die meinen, dass sein Staatsmodell gegen seine „Logik“ verstößt, kann also entgegengehalten werden: Hätte Hegel eine „Rechtsphilosophie“ verfasst, die unser heutiges Staatsmodell vorwegnimmt, hätte er dazu gegen seine „Logik“ verstoßen müssen. Auch unser GG ist, wie die Verfassungen so gut wie aller „Gesellschaftsstaaten“, ein Paradebeispiel einer Verfassung, die um die „produzierte“ Natur zentriert ist und damit ein „Halbes“ gegen das „Ganze“ verteidigt. Es ist Kern eines „Rechtssystem[s] gegen den Staat“1046. Vom eigentlichen, vom politischen Staat1047 unterscheidet auch unser Staatswesen sich also dadurch, dass es auf die „Geschäftsführung“ der „produzierten“ Natur beschränkt ist. Was der „Vertragsstaat“ der Aufklärung war, ist der „Parlamentsstaat“ der Gegenwart. Der Idealstaat aus Sicht der „produzierten“ Natur. Waren „Blut und Boden“ der Kitt des „naturwüchsigen Gemeinwesens“, so ist es jetzt das Geld. Es ist der Mittelpunkt, der Maßstab aller Dinge. Das Geld, so Marx, „bricht“ das antike Gemeinwesen und setzt sich an dessen Stelle. „Es selbst ist das Gemeinwesen und kann kein anderes über ihm stehendes dulden.“ Und weiter: „Im Geld ist ... das Gemeinwesen ... bloße Abstraktion, bloße äußerliche, zufällige Sache für den Einzelnen“.1048 So sieht es auch Hegel – mit dem Unterschied, dass er die Aussage von Marx nur auf die „produzierte“ Natur bezieht und seinen Staat daher als „Staat als bürgerliche Gesellschaft oder als äußerer Staat“1049 bezeichnet. Wie das Geld verhält sich auch er nur äußerlich zum Menschen. Was für die Person gilt: lebendig gemachtes Ding zu sein, gilt auch für ihn. Der „technische“, vom Organischen und Moralischen losgelöste Staat H. Kelsens. Wie die bürgerliche Gesellschaft ist er in ständiger Veränderung. Eine Orientierung bzw. „Inhalts- und Aufgabenbeschreibung“ gibt Hegel in § 188 R. Aus ihr ist zu entnehmen, dass er ein Staat ist, der zwischen „Rechtsstaat“ und „Sozialstaat“ changiert, wobei zur Zeit der freien Konkurrenz sein rechtsstaatliches Element dominiert, während sich in den späteren Phasen die Gewichte in Richtung „Sozialstaat“ verschieben. Doch weder 1046 Hegel, DVD, S. 470. 1047 W. Schild (Bemerkungen zum „Antijuridismus“, a.a.O., S. 153): „Es ist ... zu fragen, wie sich dieser sittliche Staat zum äußeren Staat der bürgerlichen Gesellschaft verhält.“ 1048 GR, S. 134, 137. 1049 § 523 E – Hervorhebung bei Hegel.

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dieser noch jener ist der Staat Hegels.1050 Beide sind und bleiben „Staaten“ für die „produzierte“ Natur und deren Mitglieder, nicht auch Staaten für die andere Natur. Sie beruhen auf einer „Rechtsverfassung“1051 im Sinne von § 157 R – was etwas anderes und Minderes ist als die auf beiden Naturen ruhende „Staatsverfassung“. Dieser Mangel schlägt allerdings zur Zeit der „freien Konkurrenz“ weniger negativ zu Buche als in der nachfolgenden Zeit, weil damals die „unsichtbare Hand“ als Korrekturinstanz voll wirksam ist. Die negativen Folgen eines Staates, der sich als bloßes „Mittel der Sicherheit der Personen und des Eigentums“1052 sieht, als bloßer „Nachtwächterstaat“, sind also damals geringer als in jener späteren Zeit, in der diese Korrekturinstanz mehr und mehr ausgehebelt wird und eine regulierende Wirkung kaum mehr entfalten kann. Da „Reich der Gesetze“, Rechtsgesetz und „Gesetzesstaat“ in enger Verbindung stehen, ergibt sich aus dem Obigen bereits, dass auf dem Weg von der freien Konkurrenz zum „organisierten“ Kapitalismus auch das Gesetz und der „Gesetzesstaat“ ausgehöhlt werden – unabhängig davon, dass uns eine rapide ansteigende Zahl von Gesetzen suggeriert, ihre Bedeutung nähme zu. Beide werden „denaturiert“ – und zwar durch jene Prinzipien, die aus den Unternehmen in den gesellschaftlichen Raum vordringen. Ein schleichender Prozess macht sie zu etwas anderem. Das über sie zur Geltung kommende „Naturprinzip“ wird verdrängt und durch das „Produktionsprinzip“ ersetzt. Vom Standpunkt der „Gesellschaft“ gesehen, vom Standpunkt des Neo-Liberalismus und des Marxismus also, ist das eine rundum positive Entwicklung, weil sie für Ersteren die Entkopplung des Produzierens von den Belangen der „organischen“ Natur, weil sie für Letzteren die „Planmäßigkeit“ mit sich bringt.1053 Ein Wandel des Gesetzesbegriffs wird sichtbar. Er wird allerdings verdeckt durch ein Verständnis, dass den Begriff „Gesetz“ a) an die Verabschiedung durch eine Legislative knüpft; b) auch auf das Budget erstreckt. Alles, was im Gesetzesstaat vom Parlament verabschiedet wird, falle „[u]nter Gesetz“ moniert Hegel, auch das Budget. Was „Rechtssystem gegen den Staat“ heißt, kann man daher am besten am Paradefall „Budget-Gesetz“ verdeutlichen. Hegel äußert

1050 Vgl. J.-F. Kervegan: Begriff und Verwirklichung des Rechts bei Hegel, JHF6/7 (2000/2001), S. 170. 1051 Diese „schließt die politische Verfassung des Staates nicht ein“ (M. Wolff, a.a.O., S. 156). Bleibt es dabei, ergibt sich daraus eine rein privatrechtliche Struktur, die aus Hegels Sicht ungenügend ist. 1052 § 157 R. 1053 Was, bezogen auf die damit verbundene Entrechtung und Knechtung der Natur, auf das prinzipiell Gleiche hinausläuft.

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sich dazu dort, wo er sich mit der „Umbildung des Staates aus dem Begriffe des Rechts“ im Rahmen bzw. im Ergebnis der Revolution beschäftigt, sowie in § 544/A E. Das Budget wird als Gesetz angesehen, weil es seinen Ursprung in der Legislative hat. Von der Art seines Zustandekommens wird also auf seinen Charakter als Gesetz geschlossen. Aber: „[D]as Budget … ist seinem Begriffe nach kein Gesetz, denn es wiederholt sich alle Jahre, und die Gewalt, die es zu machen hat, ist Regierungsgewalt.“1054 An anderer Stelle: „Der Name eines Gesetzes für die jährliche Festsetzung des Finanzbedarfs dient nur dazu, bei der vorausgesetzten Trennung der gesetzgebenden von der Regierungsgewalt, die Täuschung zu unterhalten, als ob diese Trennung wirklich stattfinde“1055. Was „wesentlich eine Regierungsangelegenheit“ ist, was „nur uneigentlich ein Gesetz“1056 ist, wird nur deshalb als Gesetz angesehen, weil das Parlament darüber befindet. Der Grund: Eine Regierung, der seitens der bürgerlichen Gesellschaft misstraut wird, soll finanziell an die Kandare genommen werden, um ihr Handeln auf die Interessen der bürgerlichen Gesellschaft zu fixieren und zu reduzieren. Kein Geld für andere Zwecke als für jene, die der bürgerlichen Gesellschaft innewohnen. Das Budgetgesetz ähnelt dem trojanischen Pferd; es wird im 20. und 21. Jahrhundert zum Haupteinfallstor der „Maßnahme“ in den Gesetzesbegriff; es wird zum Motor der Umwandlung des Gesetzes aus einem Handlungsrahmen für die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft in ein Instrument der „Direktion“. Die „Maßnahme“1057 substituiert den früheren Inhalt des Gesetzes durch den Befehl, wie C. Schmitt1058 erkannt hat. Und genereller gesehen: Wir beobachten ein Voranschreiten des „Planes“ zu Lasten des „naturgesetzlichen Gesamtprozesses“. Ein Inhaltswandel, der den „Not- und Verstandesstaat“ des rechtsstaatlichen Typs allmählich in Richtung Diktatur verändert. 14.3 ... als „Maschine mit einer einzigen Feder“

14.3.1 Der Betriebsstaat Den „Betriebsstaat“ habe ich bereits an anderer Stelle1059 beschrieben als einen Gesellschaftsstaat, in dem die Sphäre des Produzierens zu jener der Allgemeinheit erho1054 Ebd. 1055 § 544/A E. 1056 Ebd. –Hervorhebung bei H. 1057 In der DDR wurde von „Aufgabe“ und „Aufgabennorm“ gesprochen, um diese Art von „Gesetz“ zu charakterisieren. 1058 C. Schmitt: Legalität und Legitimität, Berlin 1988 (4. Aufl.), S. 13. 1059 Siehe B. Rettig, a.a.O., Kapitel V (S. 299–386). Die nachstehenden Ausführungen nehmen darauf Bezug und sollen die dortigen nur ergänzen bzw. illustrieren.

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ben ist. Aristotelisch gesehen: Das „Haus“ tritt an die Stelle der „Polis“. Die Folge: Die spezifische Herrschaftsform innerhalb der „Wirtschaftsfamilie“, die „Hierarchie“, füllt in einem Staatswesen dieser Art den gesamten öffentlichen Raum aus. War Ausgangspunkt des Rechtsstaates der Atomismus der „produzierten“ Natur, so stehen wir jetzt vor dem anderen Extrem, nämlich dem Versuch, sie als ungegliederte Totalität zu nehmen. Wird sie dort als Aggregat angesehen, so hier als Organismus. Die Folgen für die „Freiheit“: Während bei der Rechtsstaat-Variante die Freiheit der „produzierten“ Natur die Freiheit ihrer Atome ist, ist hier nur die eine Natur selbst frei gegenüber der anderen. Indem ihr eine unechte „Gemeinschaftlichkeit“ übergestülpt wird, die ihrer atomistischen Struktur widerspricht, wird sie in den Rang des „Ganzen“ erhoben. Hegel würde es so formulieren: Ein Standpunkt wird eingenommen, dem „der Mangel anklebt, ein von irgendeiner Seite noch Entgegengesetztes zum Absoluten zu erheben.“1060 Der „Betriebsstaat“ ist also ökonomischer Voluntarismus, dessen „Willkür-Willen“ mit dem „Führer“-, im realen Sozialismus mit dem „Führungsprinzip“ verknüpft ist.1061 Eine Umkehrung. Der Staat existiert nicht durch das Recht, sondern das Recht ist jetzt nur ein Instrument des Staates. Seine Aufgabe ist es, den Gliedern des Organismus Rechte und Pflichten zuzuteilen, die sie in die Lage versetzen, die ihnen vom Staat übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Da jedes Glied eine konkrete Aufgabe zu erfüllen hat, sind Inhalt und Umfang der jeweilig zugewiesenen Rechte und Pflichten ungleich. Eine Mischform entsteht, die auf Dauer weder dem Wirtschaftlichen noch dem Politischen genügt und daher – wie uns das Schicksal des realen Sozialismus zeigt – nahezu gesetzmäßig zum Scheitern verurteilt ist. Die Sphäre des „Produzierens“ ist insofern den Produzenten entzogen, als ihnen die „Direktion“, als ihnen die „Leitung und Planung“ der Produktion ganz oder doch weitgehend zu Gunsten des 1060 Hegel, DS, MM 2, S. 34. 1061 Nur insoweit die Sowjetunion unter Stalin vom Führungs- zum Führerprinzip abweicht, kann von einer „Deformation“ gesprochen werden. In der Arbeit von Hans-Helmut Dietze (Naturrecht in der Gegenwart, Bonn 1936), die von dem Versuch geprägt ist, das „Dritte Reich“ in Abkehr vom „Naturrecht der Gesellschaft“ und in Abkehr von der Tönnies’schen Erkenntnis einer Entwicklung, die gesetzmäßig von „Gemeinschaft“ zu „Gesellschaft“ führt, von einem „Naturrecht der Gemeinschaft“ her zu begründen, liest sich das so: „Gemessen am Theorem [Tönnies’], schien also Hitler Unmögliches zu wollen. Doch er wollte es, und darin liegt das epochal Neue Hitlers, auch Tönnies gegenüber: in der Ansicht des Führers, dass man Gemeinschaft und Gesellschaft wollen könne.“ (S. 97 – Hervorhebung bei Dietze.)

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Staates aus der Hand genommen ist. Hegel würde sagen: Die Unternehmen sind um ihren Willen gebracht und auf die Ausführung eines fremden Willens, des staatlichen, reduziert. Sie sind damit weder Eigentümer noch Personen im echten Sinne, sondern Werkstätten, in denen ein fremder Wille ausgeführt wird. Andererseits ist das Politische um seine umfassendere, über das Ökonomische hinausgehende Bedeutung und Aufgabenstellung gebracht. Beide befinden sich im Zustand schwerer Deformation. Der „organisierte“ Kapitalismus ist dadurch gekennzeichnet, dass die Grenzen des Bereichs „Produktion“ sich zur Gesellschaft hin öffnen. Seine Prinzipien werden auch außerhalb der Unternehmensgrenzen herrschend; die „Direktion“ substituiert die „Freiheit“. Das „liberalistische“ Zeitalter ist damit beendet. Es schließt sich jenes des „Pluralismus“ an. Das „Entweder“ wird tendenziell zum „Oder“. Denkt man die beschriebene Situation zum Staat fort, sind wir beim „Betriebsstaat“. In ihm sind die beiden großen Bereiche der bürgerlichen Gesellschaft, Zirkulation und Produktion, zu Gunsten der „Produktion“ verschoben. Letzere steht im Mittelpunkt. Ihr Inwendiges, das Inwendige der Unternehmung, durchdringt die gesamte politische Organisation. Grundzüge des „Betriebsstaates“ sind: – Die gesellschaftliche Arbeitsteilung wird ersetzt durch eine innerbetriebliche; – die Dialektik von Gebrauchs- und Tauschwert wird zu Gunsten des Tauschwerts verschoben; in den Vordergrund tritt die Produktion abstrakter Gebrauchswerte; der Gebrauchswert verliert seine Korrektivfunktion; – die die bürgerliche Gesellschaft früher prägende Anarchie wird abgelöst durch den „Plan“ (der nicht „Bewusstheit“ verkörpert, sondern „Willkür“); – das echte, auf das „Reich der Gesetze“ Bezug nehmende, Gesetz wird zunehmend denaturiert durch die „Maßnahme“; – der Wirkungsraum des Vertrages wird ersetzt durch die „Direktion“; – die Nationalökonomie wird zur Betriebsökonomie. (Wobei „ersetzen durch ...“ nicht quantitativ, nicht mengenmäßig zu verstehen ist, sondern als „umwandeln“ des einen in das andere.) In der Summe führen diese Entwicklungen gegenüber dem „Rechtsstaat“ zu einer Modifikation des Rechts wie auch des Staats, die sich daraus ergibt, dass in ihnen Prinzipien der Unternehmung Platz greifen und dominierend werden. Zu denken ist vor allem an das Prinzip der „Direktion“. Ein „Mischrecht“, ein „Mischstaat“ entsteht. Mir scheint, dass Hegel eine derartige Mixtur im Auge hat, wenn er von dem „Grundvorurteil“ spricht, „dass ein Staat eine Maschine mit einer einzigen Feder“ sein solle, „die allem übrigen unendlichen Räderwerk die Bewegung mitteilt; von

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der obersten Staatsgewalt sollen alle Einrichtungen, die das Wesen einer Gesellschaft mit sich bringt, ausgehen, reguliert, befohlen, beaufsichtigt, geleitet werden.“1062 Was diesem Zitat folgt, ist die Beschreibung einer Staatspraxis, die jeder kennt, der die DDR erlebt hat. Aber Hegel beschreibt natürlich nicht sie, sondern die staatlichen und rechtlichen Zustände im Deutschland um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Sie sind zwar überall anzutreffen, aber „im preußischen [Staate], das fällt jedem auf, der das erste Dorf desselben betritt“1063, sind sie besonders ausgeprägt. Die „Verfassungsschrift“ ist die erste der sogenannten Jenaer Schriften. Sie entsteht als Deutschland noch weit entfernt ist vom scheinbaren Normalzustand der bürgerlichen Gesellschaft, der „freien Konkurrenz“. Überall, gerade auch in Preußen, stoßen wir auf Verhältnisse, die noch halbfeudalen bzw. merkantilen Charakter tragen. Ein helfend eingreifender, ein sich als Geburtshelfer betätigender Staat steht vor uns – auch in Preußen, wo sich im Rahmen des sogenannten „preußischen Weges“ die Landwirtschaft auf kapitalistische Produktionsmethoden umstellt.1064 Diesem Staat muss es im Interesse der Großagrarier „erlaubt“ sein, über ein vielfältiges Repertoire an Mitteln in diesen Prozess einzugreifen. Die Rechtsordnung für diese Zeit und für diesen Prozess muss also ganz anders beschaffen sein als die Rechtsordnung nach Abschluss des Prozesses. Recht ist in dieser Periode nicht – wie später – bloßer Rahmen für das Handeln der nun „erwachsen“ gewordenen Gesellschaftsmitglieder, sondern ist dosierte und kanalisierte Ermächtigung der noch Unmündigen zum Handeln. Das später nur den Privatpersonen zukommende Recht ist aufgeteilt; es ist ein einheitliches subjektives Recht, wahrgenommen durch beide Seiten. Es ist Recht, das sich auf die Sphären „Produktion“ und „Zirkulation“ bezieht. Aus diesem Grunde ist es äußerst umfangreich und ein Gesetzbuch, in dem es zusammengefasst wird, wird notwendigerweise „sehre dicke“1065.

1062 Hegel, DVD, MM 1, S. 481. 1063 Ebd., S. 482. Gemeint ist das Preußen vor dessen tief greifender Reformierung der Jahre 1806 ff. 1064 Dazu die Arbeit von U.-J. Heuer, a.a.O. Heuer zeigt (S. 32 ff.) dort, dass Preußens Sonderweg zum Kapitalismus darin besteht, dass ein nichtindustrieller Kapitalismus auf der Basis von Gutswirtschaften entsteht, die die Arbeitskraft der leibeigenen Bauern auf eine Weise für sich nutzen, die zwischen Leibeigenschaft und Lohnarbeit gelegen ist, und dass dieser Sonderweg dem ALR seinen Stempel aufdrückt. 1065 Eine der zwei kritischen Anmerkungen Friedrichs II. zum Entwurf des AGB (dem Vorläufer des ALR) lautet: „Es ist aber Sehre Dicke und gesetze müßen kurtz und nicht Weitläufig seindt.“ (Zitiert bei Heuer, a.a.O., S. 151.)

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Dieser Zustand wiederholt sich in der Zeit, die der „freien Konkurrenz“ nachfolgt, in der Zeit des „organisierten“ Kapitalismus und noch stärker in den Ländern des Staatssozialismus. Es sieht so aus, als werde der gleiche Film rückwärts abgespielt. Eine auf Hochtouren arbeitende Gesetzgebungsmaschinerie entlässt eine unübersehbare Flut von Gesetzen, die sich nicht als bloße Handlungsrahmen verstehen, sondern Einfluss auf das Handeln ihrer Adressaten nehmen – Maßnahmegesetze. Gesetze und Verordnungen mit ständig abnehmender Halbwertzeit. Und das alles, weil immer mehr der Prozess geregelt wird, nicht mehr bloß der Zustand. Verengte sich der Gegenstandsbereich des Rechts auf die Regelung der Zirkulationssphäre, als der Kapitalismus auf die „freie Konkurrenz“ zuging, so weitet er sich also jetzt wieder aus. Der „Rechtsstaat“ stellt jenes Prinzip in die Mitte, das auf dem „Markt“ gilt: das der Gleichordnung. Aber die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft verbringen ihr Dasein hauptsächlich nicht dort, sondern überwiegend in diesem oder jenem Teil der Familie. Und besonders in jenem Teil von ihr, der „Unternehmung“ heißt, herrscht die „Direktion“ vor. Das Prinzip der Gleichordnung wird also zunehmend angereichert, überlagert, umgebildet und zuletzt ersetzt durch das Prinzip der Überund Unterordnung. Der „Rechtsstaat“ wird zum „Betriebsstaat“. Organisatorisches Prinzip des Letzteren ist der „demokratische Zentralismus“ (Lenin) bzw. die „Dreigliedrigkeit“ (Schmitt). Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts sind es in Europa zwei Staatswesen, die sich zum „Betriebsstaat“ wandeln: die Sowjetunion und Italien. Am 30. Januar 19331066 kommt Deutschland hinzu. Der per Revolution „künstlich“ (1917 und/oder 1933) herbeigeführte Umschlag nimmt das Ende vorweg und führt quasi über Nacht von einem zum anderen Zustand, von der „bürgerlichen“ zur „totalen“ Gesellschaft1067; der in der Zukunft liegende „Endzustand“ der unorganischen Natur wird über sie „gegenwärtig“ gemacht. Alle modernen Industrie-Gesellschaften bewegen sich tendenziell auf ihn zu. Und insofern wird der Lenin’sche „demokratische Zentralismus“ und wird die Schmitt’sche „Dreigliedrigkeit“ nicht bloß für die Sowjetunion und für Deutschland wichtig. Über sie „verwirklicht sich dieser neue Staat des 20. Jahrhunderts selbst,

1066 „Diese Dreigliedrigkeit sieht Schmitt sowohl im faschistischen Staat der Sowjetunion als auch im faschistischen Staat Italiens als auch im nationalsozialistischen Staat Deutschlands“ verwirklicht. (W. Schild, „An diesem 30. Januar [1933] ist ‚Hegel gestorben‘“. Anmerkungen zu einer These Carl Schmitts, in: H.-D. Klein/R. Langthaler [Hrsg.], Transzendentale Konzepte in aktuellen Bezügen, Würzburg 2010, S. 40). 1067 … die man mit Lenin (Staat und Revolution, AW II, S. 400) als bürgerliche Gesellschaft „ohne Bourgeoisie“ bezeichnen kann; Letztere wird durch den Staat ersetzt.

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weshalb die Dreigliederung als Begriffsinhalt des Staatsbegriffs selbst aufzufassen“1068 ist. Problem aber ist, das unterhalb des Umschlags, potenziert durch ein individualistisch-positivistisches Weltbild, die Deutung, die Einordnung der Prozesse auf mannigfache Schwierigkeiten stößt. Den auf dem Aufstieg Befindlichen fehlt eben noch der Überblick, den der Gipfel bietet. Die Andeutungen auf das „Höhere“ sind dann aber nicht mehr so oder so oder noch anders interpretierbar, wenn das „Höhere“, auf das sie zugehen, bekannt ist. Einen Riecher hierfür hatte Keynes. Er erkennt, was die deutsche Kriegsplanwirtschaft, was das faschistische Italien, was das bolschewistische Russland an Allgemeingültigem, an Zukünftigem auch für die anderen Gestaltungen der „produzierten“ Natur enthalten und vorleben; was sie der in der Krise befindlichen bürgerlichen Gesellschaft zu sagen haben. Er scheut sich nicht, davon zu lernen.1069 Diktatur des Proletariats nach sowjetischem Muster und Diktatur nach Art Hitler-Deutschlands bezeichnen zwei Extremformen des „Betriebsstaates“. So sehr sie sich im Einzelnen unterscheiden: Ihr gemeinsames Dach ist die „Gemeinschaft“. Das ist im Fall des NS-Staates, der mit Begriffen wie „Volk“, „Rasse“, „Blut“ aast, besonders greifbar. Der Marxismus hantiert mit solchen Begriffen nicht; Marx hätte sie auch weit von sich gewiesen. Aber auch sein Kommunismus ist „Gemeinschaft“, wenn auch auf der rationaleren Größe „Proletariat“ beruht. Auch sie, das sahen wir bereits, erhebt die Gegnerschaft zur anderen Natur zum Staatsprinzip. Und in beiden Fällen schützt der „Betriebsstaat“ die „produzierte“ Natur vor den Einwirkungen des „naturgesetzlichen Prozesses“, was bedeutet, dass die auf die bürgerliche Gesellschaft einwirkenden Korrektive weitgehend ausgeschaltet sind. Der reale Sozialismus, der mit besonderer Konsequenz „totaler“ („Betriebs“-) Staat war und die Struktur und die Prinzipien der Unternehmung zur Staatsverfassung erhebt, sollte daher als das erkannt und genutzt werden, was er nach seinem ruhmlosen Austritt aus der Geschichte auf jeden Fall geblieben ist: eine einzigartige Erkenntnisquelle! Seine Theorie und Praxis ist enger mit dem Heutigen verwandt, 1068 W. Schild, „An diesem 30. Januar ...“, a.a.O., S. 40. 1069 J.M. Keynes: On Air. Der Weltökonom am Mikrofon der BBC, Hamburg 2008 (Abdruck in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Februar 2009, S. 13): „Es liegt eine neue Idee in der Luft. ... Genannt wird sie Planung – staatliche Planung, etwas, wofür wir noch vor fünf Jahren im Englischen nicht einmal ein gebräuchliches Wort hatten.“ Keynes steht für jene Art von „Planung“, die mit dem heutigen, schon längst an seine Grenzen gestoßenen Staatsschuldensystem in Verbindung steht. Durch Vorwegnahme der Zukunft ist auf diese Weise für einige Jahrzehnte die Glücksverheißung der bürgerlichen Gesellschaft eingelöst worden. Leidtragende: die in dieser Zeit hemmungslos geplünderte Natur und die uns nachfolgenden Generationen, denen die „Rechnung“ hierfür präsentiert werden wird, die also diese Vorwegnahme werden teuer bezahlen müssen.

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als wir zugeben wollen. Sein Untergang ist Resultat einer völligen Missachtung des Sittlichen. Er kann aber kein Anlass zu hämischer Freude sein, er hat nicht zum „Ende der Geschichte“ geführt, weil unser heutiges System ebenso, wenn auch vom anderen Extrem her und in verdeckter Form, auf die Entsittlichung zusteuert. Er markiert eher den Anfang vom Ende. Der reale Sozialismus war nichts anderes als das schwächste Kettenglied einer prinzipiell (ökonomisch, politisch, staatlich-juristisch) einheitlichen Welt. Er endet als ein aus dem Feld geworfener Mitbewerber, dessen Schicksal das unsrige lediglich antizipiert. Er war deswegen schwach, stand deswegen auf tönernen Füßen, weil er dem Extrem huldigte, weil er auch die Reste der Konkurrenz, des Marktes, der Anarchie rigoros beiseiteschob, sich damit deren korrigierender und stabilisierender Wirkung begab und ungebremst und unkontrolliert auf den ökonomischen und politischen Kollaps zutrieb. Begreifen wir ihn als (modellhaft) auf die Spitze getriebenen Kapitalismus und sezieren wir ihn und seinen Staat unter diesem Aspekt, so ergeben sich Aufschlüsse auch auf seine – im Hinblick auf den (formalen) Vergesellschaftungsgrad – „niederen“ bzw. davorliegenden Phasen, d.h. auf unser Heutiges.1070 Oder so gesagt: Jeder heutige Staat ist auf dem Wege zum „Betriebsstaat“.

14.3.2 ... und seine Theoretiker W.I. Lenin und C. Schmitt: Beide stoßen fast gleichzeitig auf das Phänomen „organisierter Kapitalismus“ und setzen sich damit auseinander. 1916 verfasst Lenin „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ – eine Schrift, in der er u.a. den Nachweis führt, dass dieser jetzige Kapitalismus durch den „Drang nach Herrschaft und nicht nach Freiheit“ geprägt ist.1071 Bereits 1914 erscheint Schmitts „Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“.1072 Darin stellt er fest: „Unsere Zeit ist keine individualistische... Vielmehr scheint gerade heute eine neue Größe 1070 Auch das „Dritte Reich“ ist – wie schon erwähnt – trotz seiner Andersartigkeit in vielen und nicht unwesentlichen Bereichen unter diesem Aspekt ergiebig. Gerade auch, wenn man es, mit E. Fraenkel (Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Frankfurt a.M. 1984 – besonders S. 203 ff.) als „Doppelstaat“ begreift, dessen verbrecherische Irrationalität im Politischen von nicht unbedeutenden Teilen der Wirtschaft als ökonomisch segensreich angesehen wurde. Die Wirtschaft in den Blick genommen, führt also auch von ihm eine unübersehbare Kontinuität zum Heutigen. (Siehe dazu auch H. Dreier: Rechtszerfall und Kontinuität. Zur asynchronen Entwicklung von Staatsrecht und Wirtschaftssystem in der Zeit des Nationalsozialismus, Der Staat 43 (2004), S. 235 ff.) 1071 Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, AW Bd. I, S. 867. 1072 C. Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914.

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sich anzubahnen.“ Er bittet um Nachsicht, „wenn das Resultat des Buches für den Staat etwas im höchsten Sinne Positives ist“. Er bittet weiterhin um Nachsicht für „die scheinbar antiindividualistischen Resultate des Buches“.1073 Diese Nachsicht erbittet er in seinen nachfolgenden Büchern nicht mehr. Von Schrift zu Schrift ist er sich (mit Lenin) darin sicherer, dass das ökonomische und politische Wesen des „organisierten“ Kapitalismus das „Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt“ ist1074, dass folglich der in Deutschland gerade frisch installierte bürgerliche Parlamentsstaat die falsche Antwort darauf ist und durch einen „totalen“ Staat ersetzt werden sollte. Für beide, Lenin und Schmitt, ist die Zeit des „Betriebsstaates“ angebrochen. In zwei Varianten gewinnt er Gestalt: Als sowjetischer Staat der Jahre 1917 ff., der, theoretisch begründet durch Lenin, von Stalin kompromisslos in die Praxis überführt wird. Die rationale Variante dieses Staatstyps. Die andere, irrationale Variante tritt zuerst in Italien auf. Aufgeladen durch das „Völkische“ und „Rassische“ etabliert sie sich in Deutschland der Jahre 1933 ff. unter der Bezeichnung „Drittes Reich“. Um dessen theoretische Fundierung hat sich C. Schmitt „verdient“ gemacht. So feindlich sie sich gegenüberstehen, so sehr sie sich im Einzelnen unterscheiden: beide verkörpern sie den „Staatsabsolutismus“. Zeiten des Umbruchs sind Zeiten des Entweder – oder. Vornehme Zurückhaltung, Einnahme eines neutralen Standpunktes ist nicht Art des Revolutionärs. Wer es tut, stellt sich politisch ins Abseits. Es heißt jetzt Farbe bekennen, es heißt jetzt Partei zu ergreifen - diese oder jene. Alles andere ist Verrat an der revolutionären Sache, Verrat an jenem Neuen, das ans Licht drängt. Schwer vorstellbar, dass Hegel in solche Zeiten gepasst hätte. Es ist die Weise des Revolutionärs, sagt er, „sich in Abstraktionen herumzuwerfen, wohingegen der lebenserfahrene Mensch sich auf das abstrakte Entweder-Oder nicht einlässt, sondern sich an das Konkrete hält.“1075 Trotz fleißiger Arbeit eines Kiesewetter1076: mit dem „Betriebsstaat“ hat Hegel also nichts zu tun. Sein „bewusst betonte(r) Evolutionismus ist antirevolutionär.“1077 Das 1073 Ebd., S. 6. 1074 Lenin, a.a.O., S. 786. 1075 Hegel, § 80/Z E; „Es gibt in der Tat nirgends, weder im Himmel noch auf Erden, weder in der geistigen noch in der natürlichen Welt, ein so abstraktes Entweder-Oder, wie der Verstand solches behauptet. Alles, was irgend ist, das ist ein Konkretes, somit in sich selbst Unterschiedenes und Entgegengesetztes.“ (§ 119/Z2 E). 1076 H. Kiesewetter, Von Hegel zu Hitler (2. Aufl.) Frankfurt a. M. 1995. 1077 H. Kelsen, Sozialismus und Staat, Leipzig 1923, S. 8; s. a. K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, ..., S. 195; In dem Bemühen, Hegel an den Marxismus heranzuführen, betont W.R. Beyer (Revolutionäre Rechtsphilosophie: Hegel 1817, Lenin 1917, in: Ders., Denken und Bedenken. Hegel-Aufsätze, Berlin 1977, S. 111 ff.) hingegen den „revolutionären“ Hegel.

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ist der Grund, warum Hegel in solchen Zeiten zur Seite geschoben wird. Hilfsweise: dass seine Philosophie verfälscht wird. Die revolutionäre Tat lebt von der politischen Vision, lebt von der Antizipation, stützt sich auf das ins Auge gefasste Extrem – was erklärt, dass man in solchen Augenblicken mit Hegel nicht weiter kommt.1078 Denn was bietet er? Überall nur diese „Vermittlung“, mit der ein anständiger Revolutionär nichts anfangen kann. Obwohl in höherem Maße Hegelianer als manche, die sich als solche ausgeben1079, argumentieren Lenin und Schmitt in der jetzigen Situation nicht mit Hegel. Lenin ist seit April 1917 „vor Ort“. Er hat sich kundig gemacht. Er weiß nun, wie es um die Ökonomie Russlands steht. Erschreckend! Mit Händen ist greifbar, dass sie kurz vor dem Kollaps steht. Eine ernüchternde Bilanz. Was nun? Was kann, was muss getan werden? Er schreibt gerade an „Staat und Revolution“. Die Hälfte davon ist fertiggestellt. Er unterbricht diese Arbeit und wendet sich dringlicheren Themen zu. Zwei Arbeiten entstehen, in denen er sich der dramatischen ökonomisch-politischen Lage zuwendet. „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“ und „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?“ entstehen. Beide Aufsätze erscheinen im Oktober, noch vor der Revolution. In „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?“ verweist er auf eine demnächst erscheinende Abhandlung aus seiner Feder, „deren erste Folge bereits beendet ist“1080: „Staat und Revolution“. Was zu diesem Zeitpunkt noch fehlt, ist der Text, der sich u.a. mit jener Fragestellung befasst, die er vorab in diesem Aufsatz behandelt. Und er verweist darin auch auf die bereits genannte dritte Schrift. Liest man diese drei Schriften im Zusammenhang, fällt auf: In dem bereits vorliegenden Text von „Staat und Revolution“ geht er noch (in Übereinstimmung mit Marx!) davon aus, dass der (ganze!) alte Staat zerschlagen werden muss. Jetzt, konfrontiert mit der konkreten ökonomischen Lage Russlands, fragt er:

1078 Jetzt steht die Diktatur auf der Tagesordnung, diese oder jene. Seine Vorbilder sind jetzt katholische Staatsphilosophen wie Bonald, Görres und Donoso Cortes und – da sie in der Argumentation mit ihnen zusammentreffen – die Theoretiker einer Diktatur des Proletariats. Nicht Hegel. Denn aus seiner Philosophie „ergibt sich kein klarer Begriff der Diktatur.“ (C. Schmitt, Die Diktatur, München u. Leipzig 1921, FN auf S. 147). Im Unterschied zu Binder und CO. ist Schmitt anständig genug, diese Erkenntnis zu beherzigen als es 1933 ff. darum geht, das „Dritte Reich“ philosophisch zu legitimieren. 1079 Zu Lenin als dem „Begründer des Hegelmarxismus“: A. Arndt, Hegels Wesenslogik, a.a.O. Zu Schmitt als Hegelianer: H. Ottmann, Hegel und Carl Schmitt, HJ 1993/94, S. 19–24. 1080 Lenin, Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? AW Bd. II, S. 457.

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Was steht auf der Tagesordnung? Was muss, was kann getan werden nach dem Sieg der Revolution? Was ist überhaupt möglich? Er antwortet mit einer wesentlichen Korrektur der eigenen, im ersten Teil von „Staat und Revolution“ bereits niedergelegten, Theorie. Sie besteht darin, dass er jetzt von den „zwei Hälften“ des Staates1081 spricht. Zwei Hälften, die ganz unterschiedlich zu bewerten seien und mit denen man deshalb auch ganz unterschiedlich umgehen müsse. Eine Hälfte, die politische, müsse beseitigt und ersetzt werden durch die „Vorhut“ des Proletariats, also durch die Bolschewiki. Die andere Hälfte aber, jene, die sich mit „Kontrolle“, mit „Rechnungsführung“ verbindet, müsse bleiben, müsse übernommen, müsse dem neuen politischen Staat dienstbar gemacht werden. Eine Hälfte wird „zerschlagen“, die andere Hälfte aber darf nicht zerschlagen werden (und stellt sich ohnehin sehr bald als unzerschlagbar heraus). Mit diesen beiden „Hälften“ führt Lenin eine Differenzierung ein, die ihn objektiv an Hegel heranführt. Denn er entdeckt mit dieser anderen, unzerschlagbaren, Hälfte jenen Staat, der sich der marxschen „Überbau“-Doktrin entzieht. Er entdeckt einen Staat, der Teil der „Basis“1082 ist, jenen Staat also, der für Hegel lediglich Geschäftsführung der bürgerlichen Gesellschaft, der nur „Not-und Verstandesstaat“ ist. Zwei Hälften. Eine ist Gestalt gewordenes Bewusstsein, ist „Überbau“, die andere aber ist „Sein“, ist Bestandteil der „Basis“. Aber die philosophische Tragweite seiner Entdeckung übersieht er nicht, mindestens aber ignoriert er sie. Praktisch aber verhält er sich, verhält sich die Sowjetführung nach der Revolution entsprechend – und jedes andere Verhalten wäre auch auf bloße Bilderstürmerei hinausgelaufen. Statt „Zerschlagen“ jetzt also „Inbesitznahme“.1083 Dieser Staatsteil, der Exekutivapparat, wird der Partei unterstellt und verschmilzt mit ihr zu einem historisch neuen Staatstyp – den ich, gestützt auf M. Weber, „Betriebsstaat“ 1084 nenne. 1081 Ebd., S. 461 ff. 1082 Zu diesem „Staat als Bestandteil der Basisverhältnisse“ gibt es in den endsechsiger Jahren in der DDR eine von der Partei geduldete, wenn auch misstrauisch beäugte Diskussion, die sich vielleicht praktisch ausgewirkt hätte, wäre die DDR bei ihrem Reformkurs geblieben. Mit der Machtübernahme Honeckers und der umgehenden Verabschiedung von der Reformpolitik Ulbrichts ebbte diese Diskussion ab bzw. verlief sich ins Nichts. 1083 Lenin, Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? a.a.O., S. 461. 1084 Auch hier ist auf folgende Parallelität hinzuweisen: Lenin und M. Weber entdecken den „Betriebsstaat“ nahezu gleichzeitig; er ist Teil ihrer Analyse des „organisierten“ Kapitalismus. Und beide ziehen auch praktische Konsequenzen aus dieser Entdeckung. Aus dessen Existenz heraus plädiert Weber für einen plebiszitär bestimmten „starken“ Reichspräsidenten, um über diesen die Aufgabe der „Sozialisierung“ zu verwirklichen. Der Reichspräsident übernimmt danach den überkommenen Exekutivapparat, wird die politische Spitze desselben, um eine Aufgabe zu bewältigen, die zu lösen Weber

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Der „Eigentümer-Staat“ als Dauerzustand. Das „Zunächst“, dass Engels1085 zwischen Übernahme der Produktionsmittel durch den Staat und Produktion durch „frei assoziierte Produzenten“ geschoben hatte, ist gestrichen. Aus dem Übergangsstaat „Diktatur des Proletariats“ wird eine Dauereinrichtung. Von Schrift zu Schrift nimmt Lenin weitere Korrekturen/Relativierungen vor, die den „Kommune-Staat“ betreffen. Dieser, wie der Kommunismus überhaupt, rücken folglich von Schrift zu Schrift in die Ferne. Was jetzt im Mittelpunkt steht, stehen muss, ist der Staat, der „Eigentümerstaat“. Zwei Staatsteile von höchst unterschiedlicher Qualität. Der eine Teil ist der „bewusste und organisierte Vortrupp“ Lenins, das „geistig-weltanschauliche Kraftzentrum“1086 der Nationalsozialisten; er ist auf jeden Fall der führende. Beide Teile sind qualitativ so weit auseinander, dass es im Grunde nicht gerechtfertigt ist, sie unter dem Einheitsbegriff „Staat“ zusammenzufassen. Folglich wurden sie in der DDR ab Anfang der 70-er Jahre in eine dritte und übergreifende Größe, der „politischen Organisation“, eingefügt. „Zentrum“, „Kern“ dieser „politischen Organisation“ kann „nur die Partei der Arbeiterklasse sein.“ Als Träger der „Bewusstheit“ ist sie „unentbehrlicher, besonders bedeutungsvoller, ja wesensbestimmender Bestandteil der politischen Organisation“ des Sozialismus.1087 Dieser Teil bestimmt, was die anderen Teile der „politischen Organisation“, besonders: was der Staat als Apparat zu tun hat. Wie es S. Zizek sieht: Lenin wiederholt damit den Fehler von Marx. Wie dieser betrachtet er „die entfesselte Produktivität im Grunde als etwas von der konkreten kapitalistischen Gesellschaftsformation Unabhängiges.“ Aber: „Kapitalismus und Kommunismus sind nicht zwei verschiedene historische Realisierungen, zwei Arten von instrumenteller Vernunft“1088 sondern beide sind über ein gemeinsames Wesen miteinander verbunden. Und dieses „Wesen“ ist kapitalistisch – was sich im Falle Russlands sehr schnell zeigt. Was in der Sowjetunion der 1917 ff. entsteht, ist ein Kapitalismus ohne Kapitalisten. Er bestätigt jenen früheren Lenin (des Jahres 1905), der geschrieben hat, dass es ein „reaktionärer Gedanke“ ist, „Sozialismus“ zu wollen, wenn objektiv „Kapitalismus“ auf der Tagesordnung steht1089. Ein Kapitalismus unter dem politischen Hut das Parlament nicht für fähig hält. Gemäß seiner These „Sozialisierung ist Verwaltung“ will er die Macht der privatwirtschaftlichen „Diktatoren“ in die Hände des „DiktatorReichspräsidenten“ verlagern. 1085 MEW Bd. 20, S. 261. 1086 W. Stuckart, Partei und Reich, ZADR 2.Jg. (1935), S. 401. 1087 U.-J. Heuer, Gesellschaftliche Gesetze und politische Organisation, Berlin 1974, S. 132 f. 1088 S. Zizek, a.a.O., S. 355. 1089 Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, AW in 3 Bd.,

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„revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.“1090 Sie ist der kurze Weg zum vollen Siege.1091 Im Unterschied zu 1905 wird sie jetzt aber „Diktatur des Proletariats“ genannt. Unter dieser „fremden Flagge“ wird in den folgenden Jahrzehnten in der Sowjetunion der Aufbau eines Staatskapitalismus betrieben. Er ist ein Kapitalismus, der sich vom „naturgesetzlichen Gesamtprozess“ frei gemacht hat. Mindestens ist dieser so weit an den Rand gedrängt, dass damit die bürgerliche Gesellschaft außer Kraft gesetzt ist. Hier ist die „produzierte“ Natur mit sich (fast) alleine. Unbehelligt von den Korrekturinstanzen Markt und Konkurrenz, ungebremst und treibhausmäßig, kann sie sich entfalten. Ein Kapitalismus, der exakt jene Phase nachvollzieht, die gewöhnlich als die ursprüngliche kapitalistische Akkumulation bezeichnet wird. Das Geheimnis der abgekürzten und treibhausmäßigen Entwicklung, die nun folgt, ist also dieser Ausschluss des „naturgesetzlichen Prozesses“. Wie lange lässt sich eine solche Kunstfigur aufrechterhalten? Spätestens Ende der Fünfziger Jahre war das Potential ausgeschöpft, das dieser Weg freigesetzt hatte. Und alles weitere Beiseiteschieben, alles weitere Ignorieren führte nur tiefer in die Sackgasse. Am Ende setzte sich der „naturgesetzliche Gesamtprozess“ durch, bereitete dem „Betriebsstaat“ ein Ende und stellte die bürgerliche Gesellschaft wieder her - und zwar in Russland gleich auf dem neuesten Stand oligarchischer Machtverhältnisse und deutlich unterschieden von jener des westeuropäischen Typs.1092 Gelangte Lenin bei der Entfaltung seiner Parteitheorie zur Erkenntnis, dass die „Partei neuen Typus“ der bewusste und organisierte Vortrupp des Proletariats ist, so geht es ihm jetzt darum, die bei der Partei zentralisierte „Bewusstheit“ über den Staat mit der Eigentumsfrage zu verknüpfen. Dazu bedarf es des „EigentümerStaates“. Die Organisation der Produktion nach den Prinzipien des Syndikats steht auf der Tagesordnung; alle Werktätigen werden „Angestellte und Arbeiter eines das gesamte Volk umfassenden Staats‘syndikats‘“.1093 Damit ist die These vom Absterben des Staates, dieser zentrale Punkt bei Marx, bereits zu den Akten gelegt. Denn Marx geht davon aus, dass die Wirtschaft nicht Sache des Staates ist. Sie geht von den Kapitalisten in die Hände der „frei assoziierten Produzenten“ über. Was bei ihm also lediglich Zwischenstation ist: das Staatseigentum, ist für Lenin „Endstation“. Wenn später überhaupt noch vom „Absterben“ Bd. 1, S. 560. 1090 Ebd. 1091 Vgl.ebd., S. 567. 1092 Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass Russland vorher nie eine bürgerliche Gesellschaft besaß, also nicht – wie Westeuropa – von den liberalen Restbeständen zehren kann. 1093 Lenin, Staat und Revolution, AW Bd. II, S. 402.

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des Staates die Rede ist, dann nur in Bezug auf seine politischen Funktionen in einem in die weite Zukunft verlegten Kommunismus. Sonst aber gilt: Seine „Rolle und Bedeutung“1094 wachsen stetig an. Deutschland ist für Lenin „das Muster eines fortgeschrittenen Landes, das in der Organisiertheit des Finanzkapitalismus in bezug auf die Verwandlung des monopolistischen in den staatsmonopolistischen Kapitalismus ... Amerika voraus“ ist.1095 In Deutschland ist diese eine Hälfte des Staates, die in Russland fehlt, vorhanden. Dort sind, nicht zuletzt kriegsbedingt1096, die Kapitalfunktionen separiert, zentralisiert, institutionalisiert. Die Banken wechseln über aus einer dienenden in eine herrschende Funktion. Zentralen bilden sich aus, von denen die unmittelbare Produktion zahlreicher, ehemals ökonomisch selbständiger, Unternehmen dirigiert wird. Das ist der „Apparat“, der es Lenin angetan hat. Er ist besonders eng mit dem Exekutiv-Apparat des Staates verbunden, leistet mit ihm zusammen „eine große Arbeit auf dem Gebiet der Rechnungsführung und Registrierung“. Und was folgt daraus? „Man muss ihn aus der Unterordnung unter die Kapitalisten befreien, muss ihn den Kapitalisten entreißen und alle Fäden ihres Einflusses abschneiden, abschlagen, abhacken, muss ihn den proletarischen Sowjets unterordnen und auf eine breitere, umfassendere Grundlage stellen, ihn mit dem ganzen Volk verbinden.“ Aus dem privaten (privatmonopolistischen) Apparat und dem staatlichen Apparat ist ein einheitlicher Apparat zu bilden, der damit „schon zu neun Zehnteln ein sozialistischer Apparat ist.1097 Kurzum: die Kapitalfunktion der „Direktion“ muss zur Staatsfunktion gemacht werden. Erst kurz vor Toresschluss und erst nach „nochmaligem Lesen“1098 seiner einschlägigen Schriften, findet in der DDR Beachtung, dass Lenins Position zum Staat bereits vor der Revolution, verstärkt dann in den Monaten und Jahren danach unter dem Druck der ökonomischen Verhältnisse Russlands zu Lasten des „KommuneStaates“ erhebliche Korrekturen und Ergänzungen erfahren hat. . Was aber bleibt für ein Staat, wenn die Beifügung „Kommune“ entfällt? Die Antwort, die U.-J. Heuer findet:

1094 Eine in der DDR von der Führung und von den Vertretern der „Leitungswissenschaften“ endlos wiederholte Formel. 1095 Lenin., VIII. Parteitag der KPR (B), AW Bd. III, S. 188. 1096 Stichwort „Kriegssozialismus“! 1097 Lenin, Werden die Sowjets die Staatsmacht behaupten? A.a.O., S. 461f. 1098 U.-J. Heuer, Noch einmal: Zum Leninschen Staatsbegriff, StuR 1988, S. 860-865.; ders., Lenins „Staat und Revolution“ – heute gelesen, NJ 1987, S. 307-310.

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„Die in ,Staat und Revolution‘ dominante Forderung nach dem ,Kommune-Staat‘ wird damit ergänzt – nicht aufgehoben – durch die Notwendigkeit der Fortdauer des ,bürgerlichen Staates ohne Bourgeoisie‘ – im Sinne einer Gegenüberstellung von ,bürgerlich‘ und ,kommunistisch -, durch die Notwendigkeit eines Syndikatsstaates, also letztlich des Staates als Eigentümer.“1099 Kommen wir zu C. Schmitt. Nur mühsam wahrt er in der „Weimarer“ Zeit die liberale Fasson. Nur mühsam ordnet er sich ein in das abgestandene, unzeitgemäße Getriebe und Geschiebe eines sich um „Rechtsstaat“, „souveränes Individuum“ und „freien Willen“ rankenden Wissenschaftsbetriebes. Noch hat er das Visier nicht hochgeklappt. Er ist jetzt Opportunist, verbrämt seinen „totalen“ Staat mit herkömmlichen Phrasen, versteckt ihn in der „Ausnahme“. Seine Stunde kommt mit der „nationalen Revolution“. Er „outet“ sich, stellt sich auf die Seite der „Bewegung“, lässt aus sich heraussprudeln, was sich in ihm über die Jahre aufgestaut hat. Keine „Schrecksekunde“, die er zu überwinden hat. Er ist sofort „voll da“ und kann aus dem Vollen schöpfen. Schluss mit dem Versteckspiel! Schluss mit den Verklausulierungen! In klaren Worten bringt er zu Papier, was ihn bewegt, begrüßt, begründet und begleitet er das Neue. Auch sein Staat besteht aus zwei „Hälften“. Wie Lenin analysiert er die neuartigen, sich um den „organisierten“ Kapitalismus rankenden Erscheinungen. Wie Lenin gegen das ökonomische Monopol, so polemisiert Schmitt gegen den politischen Pluralismus. Sie sind objektiv da und man darf die Augen nicht vor ihnen verschließen. Man muss ihnen entgegentreten. Nicht mit einem Parlamentarismus a la „Weimar“, sondern mit der Diktatur. Mit Lenin ist er sich einig darin: Entweder – Oder. „Einen Mittelweg gibt es nicht.“1100 Mittelwege a la Kerenski, a la „Weimar“? Liberalismus? Sozialdemokratismus a la Kautsky? Nein, danke! Lenin greift die im „Kapital“ herausgearbeitete Kapitalfunktion der „Direktion“ heraus und verallgemeinert sie zum Staatsprinzip. Das prinzipiell gleiche Anliegen verfolgt Schmitt, wobei er sich auf Hobbes und dessen „Leviathan“ stützt. Aus dem Weg räumen – diese Wucherungen namens Monopol, namens Pluralismus, die sich auf Kosten des Staates breitgemacht haben. Den Staat wiederherstellen. Den Halbstaat „Weimar“ zum ganzen Staat komplettieren. Nur zusammen und bei Führung der „politischen Hälfte“ ergeben sie den Staat. Was bisher, in „Weimar“,

1099 U.-J. Heuer, „Staat und Revolution“ – heute gelesen, a.a.O., S. 308. 1100 Lenin, Die drohende Katastrophe ..., AW Bd. II, S. 299.

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besteht ist: Apparatur, Bürokratie, Heer1101. Eine Halbheit, die durch den jetzigen Parlamentarismus nur überdeckt ist. „Führung“ ist gefordert. Längst hat das Führerprinzip das Unternehmen verlassen und ist dabei, das „Freiheitsprinzip“ zu ersetzen. „Staatsprinzip“ soll es nun werden. „Führung“ muss die Kernaufgabe des neuen Staates sein; von ihr her muss der neue Staat definiert werden – ein Staat, der „unmöglich als parlamentarischer Gesetzgebungsstaat arbeiten“1102 kann. Und wie gelangt man zu diesem „ganzen“ Staat? Über Wahlen? Lenin dazu: Heilige Einfalt! „Empörend, hundertmal schmachvoller als Bernsteins ‚Voraussetzungen des Sozialismus‘.“1103 Als könne man über Wahlen die bürgerliche Gesellschaft abwählen. Als seien die Wahlen nicht Instrumente zum Machterhalt. „Führung“ ist gefragt. Und wer ist dazu berufen? Natürlich nicht das Volk. Und wie sich in der Praxis der jungen Sowjetunion sehr bald zeigt: auch nicht das Proletariat. Die „Führungen“, die „Führer“1104, die hier und dort bald an der Macht sind, repräsentieren nicht diese, sondern das öffentlich gewordene Prinzip der „Direktion“. Es sind die „objektiven Gesetzmäßigkeiten“, die diese „Führung“ verlangen. Schon deswegen wäre es ein Frevel, die einmal erlangte Führung über Wahlen in Frage zu stellen. Der „Wahlfimmel“ der Kautsky und Co. läuft also unter jedem Gesichtspunkt auf offenen Verrat hinaus. Den Sozialismus zur Sache einer Wahl machen zu wollen: „Das heißt der Machtergreifung feige entsagen“.1105 Lenins Argumentation macht Eindruck auf Schmitt.1106 Auch er stützt sich auf das „Objektive“, macht sich zum Sprecher der Triebkräfte und Resultate der Vergesellschaftung – was ihn von daher gesehen für Lenin in höherem Maße zum Marxisten gemacht hätte als Kautsky und Co.1107 Akribisch 1101 P. Schneider, Ausnahmezustand und Norm, Stuttgart 1957, S. 139 1102 C. Schmitt, Legalität und Legitimität, Berlin 1988, S. 11. 1103 Lenin, Werke Bd. 28, S. 94. 1104 Der Begriff des „Führers“ ist damals Gegenstand lebhafter Diskussion, an der alle Parteien, alle Lager beteiligt sind. (Siehe dazu: Probleme der Demokratie, Heft 10 der Schriftenreihe „Politische Wissenschaft“ Berlin-Grunewald 1931. Die darin enthaltenen Beiträge, u.a. von C. Schmitt und H. Heller, sind dem „Führer-Problem“ gewidmet). Ernst Thälmann wurde bekanntlich von seinen Genossen als „Führer seiner Klasse“ bezeichnet. 1105 Lenin, Die Krise ist herangereift, AW Bd. II, S. 439. 1106 Es imponiert ihm, wie er den Ausnahmezustand nutzt. „Daher rührt der große Eindruck, den Lenin ... auf den damaligen Autor Carl Schmitt gemacht hat.“ Diskussionsbeitrag R. Altmann in: Complexio Oppositorum, S. 444. 1107 Die italienischen Marxisten greifen Mitte der 70-er Jahre als erste auf das Potential zurück, dass das Schmittsche Werk birgt. Schmitt als Person sei völlig unerheblich, sagen

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beleuchtet er von dorther die Begriffswelt der Weimarer Republik und ihrer Verfassung. Was ist dort nicht alles zusammen gesperrt! Wie viel Gegensätzliches! „Demokratie“ und „Rechtsstaat“; „Volk“ und „Gesellschaft“; „Identität“ und „Repräsentation“; „Gleichheit“ und „Ungleichheit“. Ein eklektisches Gebräu, das in der Summe einen gärenden, auseinander treibenden Mix bildet. Und wie rückwärtsgewandt! Klebend an Dinge, die tot und begraben sind. Er konstatiert die „grenzenlose Ausdehnung des Begriffs der Demokratie zu einem allgemeinen Idealbegriff“1108, der Liberale und Sozialdemokraten verbinde. In ihm seien das liberalistische Prinzip der „Freiheit“ und das Prinzip der „Demokratie“ (der Demokratie im eigentlichen Sinne) zu einem Brei verquirlt. Er bestätigt, was Lenin schon zehn Jahre früher geschrieben hat: dass nämlich Demokratie Freiheit ausschließt.1109 Und was sehen wir? Ein ganzes Staatswesen, „Weimar“, ist auf diesem sumpfigen Untergrund errichtet worden. Eigenartige Ideenkomplexe, die des Liberalismus und die der Sozialdemokratie a la Kautsky, sieht er in der WRV vermischt – was diese zu einem „Mittelstadium zwischen bürgerlichen und sozialistischen Anschauungen“ mache.1110 Objektiv steht der „Führungsstaat“ auf der politischen Tagesordnung. Das ergibt sich zwingend aus den neuen ökonomischen und politischen Tatbeständen. Dem „Betriebsstaat“ Max Webers, dem Syndikatsstaat“ Lenins gehört die Zukunft. Was bietet hingegen „Weimar“? Das Unding „Volksstaat“! Oder so gesagt: einen faulen Kompromiss. Nicht auf halben Wege stehen bleiben! Nicht stille stehen! „Stehen bleiben kann man nicht – weder in der Geschichte überhaupt noch besonders in Kriegszeiten. Man muss entweder vorwärts schreiten oder zurückgehen.“1111

sie. Von „extremer Aktualität sei seine Argumentation“. Denn er „habe Fragen gestellt, die sich auch den Marxisten stellten.“ (s. dazu: I. Staff, Staatsdenken im Italien des 20. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Carl Schmitt Rezeption, Baden-Baden 1991, S. 199 ff.). 1108 C. Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1983, S. 225 f. – nachfolgend VL. 1109 Lenin, Marxismus und Staat (einer Vorarbeit zu „Staat und Revolution“). In: Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, Berlin 1963, S.103: „Gewöhnlich werden die Begriffe ‚Freiheit‘ und ‚Demokratie‘ für identisch gehalten, und häufig wird einer für den anderen benutzt“, schreibt er mit Blick auf Kautsky, Plechanow und CO. „In Wirklichkeit schließt die Demokratie Freiheit aus.“ Ganz ähnlich formuliert C. Schmitt (VL, S. 224), dass beide Prinzipien „in ihren Voraussetzungen, ihrem Inhalt und ihren Wirkungen verschiedenartig und oft entgegengesetzt sind.“ 1110 C. Schmitt; VL, S. 30. 1111 Ebd.

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Ganz ähnlich Carl Schmitt: Mit der Einführung des Ausnahmezustandes ist es nicht getan. Dieser muss vielmehr „perpetuiert“, muss zum Normalzustand „Diktatur“ fortgeführt werden. Von Schrift zu Schrift ist er sich darin sicherer: auf der Tagesordnung steht der totale Staat. Ein Staat, der Gesellschaft und Staat in einem ist. Ein Staat, zuständig für beides, für das Politische und für das Ökonomische. Was aber ist „Weimar“? Ein Provisorium; eine zeitlich verlängerte „Provisorische Regierung“; ein materiell ungedeckter Kompromiss; etwas zum Scheitern Verurteiltes. Der totale Staat also. Offen war, wohin in Deutschland das Pendel ausschlagen würde: nach links oder nach rechts? Würde er die Gestalt eines faschistischen oder eines bolschewistischen Staates annehmen? Schmitt macht keinen Hehl daraus, dass er die italienische, die irrationale Variante favorisiert. Als Hitler an die Macht kommt, bekennt er sich zu ihm. Im Nachhinein wird er sagen: „Diese totale Diktatur war in der Tat etwas Neues. Die Methode Hitlers war neu. Es gab nur eine Parallele, das war die bolschewistische Diktatur Lenins.“1112 14.4 Fazit

Ein Staat, der sich nur von der „produzierten“ Natur herleitet, ist ein unsittlicher Staat. Das gilt für jeden dieser Staaten, egal ob er sich als „Rechtsstaat“ oder als „Betriebsstaat“ versteht bzw. organisiert. Entscheidend ist ihr Gemeinsames: dass sie Staaten gegen die „primäre“ Natur sind. Für Hegel stünde im Vordergrund, dass sie beide deshalb nicht genügen, weil sie ganz einseitig dem Zweck der „produzierten“ Natur verpflichtet sind und nicht dem Erhalt des „Ganzen“ dienen. Wie es W. Schild einschätzt: Der Naturzustand à la „produzierte“ Natur ist „trotz seines in ihm geltenden Naturrechts ein Unrechtszustand“.1113 Und zwar deshalb, weil er Unrecht gegen die eigentliche, gegen die primäre Natur ist. Zu einem „schöneren“ Ergebnis gelangt nur, wer einen „erdichteten Naturzustand“ zugrundelegt. Beide, „Rechtsstaat“ und „Betriebsstaat“, sind nur Varianten des „Gesellschaftstaates“. Beide Male wird „Wille“ gegen die „primäre“ Natur ausgeübt; „Willkürwille“. Aus dieser Perspektive ist es zweitrangig, ob dieser Wille tatsächlich nur der

1112 C. Schmitt, Antworten in Nürnberg, hrsg. und kommentiert von Helmut Quaritsch, Berlin 2000, S. 14. 1113 W. Schild: Begründungen des Eigentums in der Politischen Philosophie des Bürgertums. Locke-Kant-Hegel, in: J. Schwartländer/D. Willoweit (Hrsg.), Das Recht des Menschen auf Eigentum, Kehl am Rhein, Straßburg 1983, S. 55.

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Wille eines oder einiger ist oder jener „gemeinschaftliche Wille“, der nur die Summe der einzelnen Willen ist.1114 Da sich inzwischen alle real existierenden Gesellschaften vom Durchgangspunkt „freie Konkurrenz“ wegbewegt haben, kann es heute nur darum gehen, das Maß der Abweichung vom damaligen „Gesetzesstaat“ zu bestimmen. Ein Blick auf die in Deutschland besonders beliebte Unterscheidung in „Rechtsstaat“ und „Unrechtsstaat“: Für Hegel, der vom „Ganzen“ her urteilt, stünde im Vordergrund, dass beide Geschäftsführungen der „produzierten“ Natur sind; beide sind insoweit „Unrechtsstaaten“ gegen die andere Natur. Eine gesellschaftsinterne Beurteilung rückt allerdings den Unterschied weit stärker ins Licht. Sie zeigt, dass der „Betriebsstaat“ die atomistische Struktur der „produzierten“ Natur missachtet – auf dieser Ebene ein wesentliches Kriterium. Auch für Hegel wäre er daher ein Staat, der noch „unwahrer“ ist als der andere. Und die Staaten des realen Sozialismus waren zuletzt so „unwahr“, dass sie von heute auf morgen von der Bildfläche verschwanden. Hegel spricht es deutlich genug aus: „Jeder Staat, man mag ihn auch nach den Grundsätzen, die man hat, für schlecht erklären, man mag diese oder jene Mangelhaftigkeit daran erkennen, hat immer, wenn er namentlich zu den ausgebildeten unserer Zeit gehört, die wesentlichen Momente seiner Existenz in sich.“1115 Aber kein existierender Staat, das darf man wohl sagen, ist genügend „Vernunftstaat“. Im Gegenteil, die Staaten der am weitesten entwickelten Gesellschaften haben sich in den letzten Jahrzehnten unter dem Druck eines wildwüchsigen, global agierenden Kapitalismus weiter denn je von ihm entfernt, obwohl er angesichts der um sich greifenden Naturzerstörung heute notwendiger wäre als je zuvor. Verstünde man den „modernen Staat“ als bloße Geschäftsführung der bürgerlichen Gesellschaft, so läge mit unserem GG jene „gute Verfassung“ vor, zu der es angesichts der Wiedervereinigung des Jahres 1990 eilig erklärt worden ist, um die plötzlich „offene“ Verfassungsfrage schließen zu können.1116 Ein anderes Bild zeigt sich, wenn man, wie es Hegel tut, auch die andere Natur in die Wertung einbe1114 Vgl. § 258/A R. 1115 § 258/Z R. 1116 Der Versuch W. Schilds (Die Legitimation des Grundgesetzes als der Verfassung Deutschlands in der Perspektive Hegels, in: W. Brugger [Hrsg.], Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, Baden-Baden 1996, S. 65–96), einen Direktvergleich zwischen der dem Staat Hegels zugrunde liegenden Verfassung und dem GG zu ziehen, zeigt es: Vereinbar mit dem GG sind die Aussagen zum „Not- und Verstandesstaat“, wie sie bei Hegel unter der Rubrik „bürgerliche Gesellschaft“ zu finden sind. Problematisch wird es, wenn der eigentliche Abschnitt „Staat“ in den Vergleich einbezogen wird. Misst man am dortigen, schneidet das GG schlecht ab. Misst man aber am GG, sind es Hegel und sein Staat, dieden Kürzeren ziehen.

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zieht. Dann treten die Defizite des GG klar zutage. Deshalb wird lieber Hegel am GG als umgekehrt das GG an Hegel gemessen. Von daher sind auch jene Bemühungen zwiespältig1117, die versuchen, über die Betonung seines „Liberalismus“ Hegels Staats- und Rechtsphilosophie „gesellschaftsfähig“ zu machen. Das läuft auf eine Verfälschung hinaus, die mit jener des Neu-Hegelianismus durchaus ein Gemeinsames hat: die Umdeutung des hegelschen Staates in einen totalitären Staat; damals in einen (völkischen) „Gemeinschaftsstaat“, diesmal in einen (liberalen) „Gesellschaftstaat“.1118 Damit sollen beide Typen von „Totalität“ nicht in einen Topf geworfen sein. Der totalitäre „Gesellschaftsstaat“ beruht auf den Individualrechten seiner Mitglieder. Der totalitäre „Gemeinschaftsstaat“ leugnet diese Rechte und ersetzt sie durch die „Gliedstellung“ des Einzelnen. Das Vehikel dazu ist die „Rechtsstellung“, ein maßgeblich von K. Larenz für die Belange des „Drittes Reiches“ entwickeltes Institut, das mit veränderter Phraseologie von der DDR übernommen und weitergeführt wurde.1119

1117 Es ist nicht uninteressant, dass J. Ritters Arbeit „Hegel und die französische Revolution“, die für einen solchen Versuch steht, auch in der DDR positiv aufgenommen wurde – und das in einer Zeit, als im Rahmen des „Kalten Krieges“ auch der ideologische Schimpfkrieg auf seinem Höhepunkt war. Eine solche Vereinseitigung des hegelschen Verfassungsbegriffes scheint mir auch bei W. Maihofer (a.a.O.) vorzuliegen. 1118 Zutreffend also, wenn G. Rohrmoser (Hegels Lehre, a.a.O., S. 402) schreibt, dass die „Verdächtigung der Hegelschen Theorie als fortschrittlich oder als reaktionär … am Wesen der Hegelschen Position“ vorbeigeht, weil solche Einschätzungen nur einen Gradmesser kennen: die „Bejahung oder Verneinung der bürgerlichen Gesellschaft“. 1119 Ausführlich dazu: B. Rettig, a.a.O., S. 352–367.

15 Exkurs: Richtig und falsch zugleich: Paschukanis und das „Absterben“ von Staat und Recht

In memoriam E. Paschukanis1120 Der Kommunismus kennt weder Staat noch Recht. Beide stehen ja für eine erzwungene Gemeinschaftlichkeit und taugen schon deswegen nicht für die Welt der sich „frei assoziierenden Produzenten“. Nach marxistischer Auffassung sterben Staat und Recht daher nach erfolgreicher proletarischer Revolution ab; sie begleiten die neue Gesellschaftsordnung nur noch für eine Zeit des Übergangs. Der erste und fast einzige realsozialistische Staats- und Rechtstheoretiker, der das „Absterben“ ernst nahm, war E. Paschukanis. In aller Unschuld, richtiger wohl: im revolutionären Überschwang und im Vertrauen auf die Richtigkeit der Lehren von Marx und Engels, reduziert er Staat und Recht auf Derivate der Warenproduktion; leitet sie ab von „Ware“, „Markt“ und „Konkurrenz“. Wo es diese nicht gibt, gibt es auch keinen Staat, gibt es kein Recht. Beide sind mit ihnen „zerschlagen“. Er sieht nicht, konnte es wohl auch nicht sehen, dass diese Zerschlagung spezifischen Charakter trägt, weil ihr der bloße Austausch der ökonomischen Bezugsgrößen – statt „Zirkulation“ nun „Produktion“ – zugrunde liegt, also die Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in einen gigantischen Betrieb. Und wie das Innere des herkömmlichen Betriebes im rechtsfreien Raum gelegen ist, so auch bei diesem. Seine „Direktion“, die – etwas frei nach Engels1121 zitiert – „um vieles tyrannischer“ ist als die des Staates, tritt jetzt an die Stelle des alten Staates. Diese Direktion gewinnt sehr bald politischen Charakter. Ein Staat ohne Recht ersteht. Das „Absterben“ findet statt – jedoch asymmetrisch. Die Gewalt des Staates wird potenziert. Er vereinigt auf sich den politischen und den ökonomischen Zwang und die Instrumente ihrer Durchsetzung. Dieser Staat mutet altägyptisch1122 an – nicht sozialistisch.

1120 Ermordet (vermutlich erschossen) am 4. September 1937 im Rahmen der „Säuberungen“ der Jahre 1936–1938. 1121 Von der Autorität, Marx/Engels, AS I, S. 600. 1122 Vgl. MEW 23, S. 353. L. Trotzki (Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie? 1936, Essen 1997, S. 103) 1936: „Selbst bei größtem Einsatz der Phantasie könnte man sich schwerlich einen schrofferen Gegensatz ausmalen als den, der zwischen dem Marx-Engels-Leninschen Schema eines Arbeiterstaates und dem realen Staat besteht, an dessen Spitze heute Stalin steht.“

15 Exkurs: Richtig und falsch zugleich: Paschukanis und das „Absterben“ von Staat und Recht

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Paschukanis hat auf seine Art den Beweis geführt, dass die Sowjetunion keinen Sozialismus à la Marx/Engels praktiziert. Das bekam ihm nur solange gut, wie seine Absterbe-Theorie in der Zeit rigoroser Verstaatlichung und Zwangskollektivierung gute Dienste leistete.1123 Aber als diese Aufgabe erledigt war und eine gewisse Normalität einzog, diese Normalität sich „Sozialismus“ nannte und ohne das Zwangsmittel „Recht“ nicht auskam, war dieser gute Dienst verbraucht. Die Absterbe-Theorie störte jetzt. Sie stand nun in offenem Widerspruch zur Stalin’schen Verfassung, wurde als die „furchtbare Krankheit“ des Rechtsnihilismus gebrandmarkt.1124 Von nun an hatte Paschukanis ein Problem. Seit Ende der 20er-Jahre hieß es: „Rolle und Bedeutung des proletarischen Staates nehmen stetig zu.“ Gleiches galt nun auch für das proletarische Recht. Hätte Paschukanis gesagt, dass nur der bisherige Staat, dass nur das bisherige Recht abstirbt, indes ein neuer, ein sozialistischer Staat, ein sozialistisches Recht aufersteht und aufblüht, hätte er die Kurve kriegen, hätte er vielleicht überleben können. Aber er verneinte einen proletarischen Staat wie auch ein proletarisches Recht; hielt beide für ein „Missverständnis“. Dass er damit das Allerheiligste in Frage stellte, den Führungsanspruch der Partei, gar: die „Bewusstheit“, sah er nicht. Er übersah, dass die Partei der Staat geworden war und seine Absterbethese auch die Partei zum Absterben verurteilt. Die Partei aber ist die unverzichtbare Voraussetzung eines kommunistischen Staatswesens. So jedenfalls hat es mit viel Fleiß die realsozialistische Gesellschaftswissenschaft herausgefunden. Lediglich sie sind zum „Absterben“ verurteilt: der „Gesetzesstaat“ und das vom Individuum abgeleitete Recht als Instrumente angeblicher „Unbewusstheit“ (des Marktes, der Ware-Geld-Kategorien). Gewissermaßen ein „Polwechsel“: War der Staat bislang Geschäftsführer der bürgerlichen Gesellschaft, so ist er nun Instrument der Partei. So hätte Paschukanis die Sache sehen sollen. Weil er das nicht vermag, jedenfalls nicht rechtzeitig genug, verfällt er „der Krankheit des Rechtsnihilismus“, wird von Wyschinski enttarnt als einer, der unfähig ist, „die selbständigen Grundlagen des sozialistischen Rechts zu erkennen.“1125

1123 Vgl. dazu N. Reich: Sozialismus und Zivilrecht. Eine rechtstheoretisch-rechtshistorische Studie zur Zivilrechtstheorie und Kodifikationspraxis im sowjetischen Gesellschafts- und Rechtssystem, Frankfurt a.M. 1972, S. 229 ff. 1124 A.J. Wyschinski: Die Hauptaufgaben der Wissenschaft vom sozialistischen Sowjetrecht, in: Sowjetische Beiträge zur Staats- und Rechtstheorie, Berlin 1953, S. 60. 1125 K. Polak: Über A.J. Wyschinskis Lehren und seine Praxis, NJ 9 (1955), S. 66.

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Teil 4 – Zur bürgerlichen Gesellschaft

Was das „Absterben“ bei Marx/Engels und ihren Jüngern, ist das „Verfallen“ bei der bürgerlichen Kollegenschaft. „Verfallslogik“. Das „Verfallen“ des „Rechtsstaates“ und des vom Individuum abgeleiteten Rechts ist seit dem massiven Auftreten „kollektiver“ Tatbestände ein nie endendes, viel beklagtes, immer neu variiertes Thema. Beiden, „Absterben“ und „Verfallen“, ist gemeinsam, dass von einem Staat, von einem Recht her gedacht und geurteilt wird, dessen Zentralgestirne „freie Konkurrenz“, „Markt“, „Gesellschaft“, „Individuum“ und „freier Wille“ sind. Jedoch sehen die Absterbe-Theoretiker im „Absterben“ etwas Positives, Begrüßenswertes, während die Verfalls-Logiker im „Verfallen“ etwas Negatives, Beklagenswertes erblicken, dem es sich entgegenzustemmen gilt. „Absterben“ und „Verfallen“ beziehen sich auf Prozesse, die jeweils vom anderen Ende, vom jeweils entgegengesetzten Standpunkt aus, beobachtet werden. Das „Absterben“ sieht sie von der Warte des bereits erfolgten Umschlags aus. „Produktion“ statt „Zirkulation“, „Plan“ statt „Markt“, „Kollektiv“ statt „Individuum“, „Bewusstheit“ statt „Unbewusstheit“. Die jeweils erstgenannten Begriffe sind jetzt die neuen Ausgangsgrößen. „Allgemeine Rechtslehre und Marxismus“ war nicht von heute auf morgen geschrieben. Das Werk K. Marx’ in seinem Studierzimmer um sich ausgebreitet, hat Paschukanis den darin, besonders im „Kapital“, enthaltenen juristischen Faden aufgenommen und hat das Recht der warenproduzierenden Gesellschaft, das bürgerliche Recht für die Zeit nach vollbrachter proletarischer Revolution konsequent zu Ende gedacht. Er hat, zusammen mit der Warenproduktion, Staat und Recht „absterben“ lassen; für die Übergangsgesellschaft „Sozialismus“ akzeptiert er nur ein absterbendes bürgerliches Recht. Ein „proletarisches“ Recht lehnt er ab; anerkenne man ein solches, proklamiere man damit die „Unsterblichkeit der Rechtsform“. Er formuliert: „Das Absterben gewisser Kategorien ... des bürgerlichen Rechts bedeutet keineswegs ihre Ersetzung durch neue Kategorien des proletarischen Rechts, genau wie das Absterben der Kategorien des Wertes, Kapitals, Profits usw. bei dem Übergang zum entfalteten Sozialismus nicht das Auftauchen neuer proletarischer Kategorien des Werts, Kapitals usw. bedeuten wird.“1126

1126 E. Paschukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe, Frankfurt a.M. 1970, S. 34. Im Anschluss heißt es: „Das Absterben von Kategorien des bürgerlichen Rechts wird unter diesen Bedingungen das Absterben des Rechts überhaupt bedeuten, d.h. das Verschwinden des juristischen Moments aus den Beziehungen der Menschen zueinander.“

15 Exkurs: Richtig und falsch zugleich: Paschukanis und das „Absterben“ von Staat und Recht

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Das Buch erschien 1924. Nicht lange und der Wind drehte sich um 180 Grad. Die XIV. Parteikonferenz der KPdSU von April 1925 akklamierte Stalin und seine These vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“. Aus der Sicht (nicht nur) Trotzkis war damit die konterrevolutionäre Wende eingeleitet. Und es wird schon stimmen, wenn es in der „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Kurzer Lehrgang“ heißt, dass diese These „wie ein betäubender Schlag“1127 wirkte, besonders auf die marxistisch geschulten Parteimitglieder. Wer Kritik übte, wie z.B. Bucharin, der von „National-Kommunismus“ sprach, würde spätestens zwölf Jahre später tot sein. Es ist mir nicht bekannt, ob auch Paschukanis sich ähnlich abfällig dazu äußerte. Das war auch nicht nötig. Seine Arbeit, die er guten Glaubens der sozialistischen Sache gewidmet hatte, sprach für sich, denunzierte ihn, wies ihn als einen Vertreter der später sogenannten „Kapitulationstheorien“ aus. Ließ er nicht einen Staat absterben, der gerade begann „aufzublühen“, der bald gewaltiger und gewalttätiger dastand als jeder russische Staat vor ihm? Und indem er das Recht absterben ließ: Schlug er damit nicht diesem Staat das Hauptinstrument seiner Machtausübung aus der Hand? Begriff er Staat und Recht nicht ausschließlich von der „Unbewusstheit“ her? Aber waren sie jetzt nicht die unverzichtbaren Instrumente der „Bewusstheit“? Und die „Bewusstheit“, vertreten durch die KPdSU, endvertreten durch den Genossen Stalin, starb nicht ab! Im Gegenteil: Ihre „Rolle und Bedeutung“ nahm von Parteitag zu Parteitag zu. Folglich auch die ihrer Instrumente. Das „Absterben“ war also nicht nur gegen den Staat, sondern, schlimmer noch, gegen die Partei, gegen den Genossen Stalin gerichtet; ihr Führungsanspruch war in Frage gestellt. Staat und Recht hatten lediglich die Fronten gewechselt und blühten nun auf und verdienten sich ihr tägliches Brot als Instrumente der „Bewusstheit“. Sie hießen nun „sozialistischer Staat“ und „sozialistisches Recht“. Der jetzige, der „proletarische“ Staat ist, gemessen am bürgerlichen Staat, nur insoweit Nicht-Staat, als ihm das „Rechtsstaat“-Element fehlt. Das jetzige, das proletarische Recht ist, gemessen am bürgerlichen Recht, nur insoweit „Nicht-Recht“, als seine Quelle nicht die Gesellschaft und ihre Einzelnen sind, sondern der Staat. Eine neue Qualität von Staat und Recht war geboren. Mit ihm ist der innerbetriebliche Despotismus öffentlich gemacht, der jetzt unter dem Namen „demokratischer Zentralismus“ die Totalität der gesellschaftlichen Beziehungen beherrschte.

1127 ZK der KPdSU (B): Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Berlin 1953 (16. Aufl.), S. 342.

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Teil 4 – Zur bürgerlichen Gesellschaft

Mit brachialer Gewalt kamen beide, sozialistischer Staat und sozialistisches Recht, über das Volk. Und wie gesagt: Damalige Inkarnation der „Bewusstheit“ war Stalin. Er setzte kompromisslos durch, was die Gesetzmäßigkeiten der Konterrevolution verlangten. Noch war Paschukanis ein geachtetes Mitglied der sowjetischen Gesellschaft, rückte auf zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften, wurde Direktor des „Instituts für Sowjetaufbau und Sowjetrecht“, war stellvertretender Volkskommissar für Justiz. Aber der Tag nahte, an dem er zum „Abschaum“, zum „Gezücht“, zu den politischen „Doppelzünglern“, zu den „bucharinistisch-trotzkistischen Scheusalen“ gezählt werden würde. „1935 war es zu einer dringenden, nicht mehr zu umgehenden Frage geworden: Ist der Staat in der Sowjetunion im Absterben? Wenn nicht, weshalb nicht?“1128 Der Tag der Abrechnung. Weil die Frage nicht beantwortet werden sollte, jedenfalls nicht auf wissenschaftliche Weise, wurde jeder erschossen, der sie hätte stellen können oder sie schon gestellt hatte. „Das Sowjetgericht verurteilte die bucharinistisch-trotzkistischen Scheusale zur Erschießung. Das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten vollstreckte das Urteil.“1129 Paschukanis war ein klarer Fall. Wozu also noch ein reguläres Verfahren? Wozu noch bürokratische Umstände? Wozu einen Staatsanwalt und einen Verteidiger? Sein Verbrechen stand, tausendfach gedruckt, in den Regalen der Bibliotheken. Wo Hunderttausend andere lediglich wegen möglicher Gedankenverbrechen erschossen wurden, war es von daher nur recht und billig, wenn hier gleich vollstreckt wurde. Fünf Minuten. Man war in Eile, man hatte zu tun. Eine Rechtsgrundlage? Paschukanis durfte als Letzter danach fragen. Er hatte es vorausgesagt und die Praxis bestätigte ihn nun: Das Recht war „abgestorben“. Zwar hatte er abgeschworen, hatte Abbitte geleistet, hatte das Gegenteil behauptet, hatte wütend angebellt gegen die Brüder im Geiste. Nichts half. Die Partei „konnte nicht übersehen, dass sowohl die ekelerregende Selbstgeißelung wie die widerlich-süßliche Lobpreisung der Partei die Kehrseite des unruhigen und bösen Gewissens“1130 waren. Was er auch sagte, was er auch schrieb: Es wurde als unglaubhaft, wurde als „Doppelzünglertum“ zurückgewiesen. Wer sich derart vergangen

1128 W. Reich: Die Massenpsychologie des Faschismus, Wiesbaden 2005, S. 219 (Hervorhebung bei Reich). 1129 ZK der KPdSU (B), Geschichte der Kommunistischen Partei, a.a.O., S. 433. 1130 A.a.O., S. 406.

15 Exkurs: Richtig und falsch zugleich: Paschukanis und das „Absterben“ von Staat und Recht

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hatte: am proletarischen Staat, am proletarischen Recht, vor allem aber: an der „Bewusstheit“, der konnte nur noch damit rechnen: mit dem Tod. Die Grabrede hielt sein Nachfolger im Amt, Wyschinski. Was hatte er bei der Übernahme des Instituts feststellen müssen! Zur Brutstätte „gröbster Verfälschungen der Lehre von Marx, Engels, Lenins und Stalins“ hatte der „entlarvte doppelzüngige Paschukanis“ es gemacht, zum „Refugium für Leute, die lediglich Feinde des Sowjetstaates und des Sowjetrechts waren“ und dort „antiparteiliche, schädliche ‚Theorien‘ vom Absterben von Staat und Recht“ lehrten.1131 Nun endlich: „Der Feind ist entlarvt. ... Der Boden ist gereinigt.“ Der „Spion und Schädling Paschukanis“ war der „Müllgrube der Geschichte“1132 überantwortet. Paschukanis ist beileibe nicht der Einzige, der diese Kehrtwende, der diese Konfusion mit dem Leben bezahlen muss. Abertausende Kommunisten1133, speziell: die marxistisch geschulten, teilen sein Schicksal, werden Opfer eines antikommunistischen Prinzips, das im Namen des Kommunismus die Macht ergriffen hatte. Was dem Versuch nachfolgte: Staatskapitalismus. Der Terror, mit dem er durchgesetzt wurde, wurde „zur fürchterlichsten und grellsten Begebenheit“1134 für das sowjetische Volk. Er ist so gesetzmäßig, so zwangsläufig, wie er es auch in der Französischen Revolution war. Auch diese trat mit Idealen an, die sich rasch als unhaltbar erwiesen und die deshalb im Blut erstickt wurden. Auch wenn das System sich, nach Stalins Tod, von Parteitag zu Parteitag ein wenig liberalisiert: Es geht nie wieder um Sozialismus oder Kommunismus. Diese waren, bis auf das Vokabular, für alle Zeiten abgemeldet. Für das Jahr 1936 konstatiert Trotzki: „Die alte bolschewistische Partei ist tot, und keine Kraft wird sie wieder zum Leben erwecken.“1135 Die gleiche Konfusion, der gleiche Untergang in Blut und Terror, die bereits die Reihen der Französischen Revolutionäre gelichtet hatten, führte auch jetzt dazu, 1131 A.J. Wyschinski: Zur Lage an der theoretischen Rechtsfront, in: N. Reich (Hrsg.), Marxistische und sozialistische Rechtstheorie, Frankfurt a.M. 1972, S. 113–117, hier S. 114; „blutgierige Referate“ nennt H. Klenner diese und andere Äußerungen Wyschinskis (H. Klenner: Babelsdorf, Der Staat31 [1992], S. 614); in dieser „Blutgier“ eigentlich nur vergleichbar mit zeitgleichen Äußerungen eines Freisler in Deutschland. 1132 A.J. Wyschinski, Die Hauptaufgaben, a.a.O., S. 25, 29 u. 60. 1133 Man spricht von 1,120 Millionen Parteimitgliedern, die sein Schicksal teilen. Insgesamt sollen den „Säuberungen“ ca. 9 Millionen Sowjetbürger zum Opfer gefallen sein. Vgl. dazu J. Carmichael: Säuberung. Die Konsolidierung des Sowjetregimes unter Stalin 1934– 38, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1981, besonders S. 183–210. 1134 Hegel, § 258 R. 1135 L. Trotzki, a.a.O., S. 146.

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dass die Revolution die eigenen Kinder fraß. Damals waren es Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die auf der Strecke blieben bzw. sich auf magere Surrogate reduzierten: auf Eigentumsfreiheit, auf eine formale Gleichheit auf dem Boden ökonomischer Ungleichheit, auf die zu „Personen-Rechten“ abgespeckten Menschenrechte. Wie die Ziele der Revolution wurde die Zahl ihrer Aktivisten reduziert. Sehr ähnlich das, was jetzt in der Sowjetunion geschah. Was nach dem Terror und seinen Millionen Toten ans Licht kam, war ein Staatskapitalismus, der sich erst als „Sozialismus“, später als „realer Sozialismus“ tarnte. Ich selbst erfuhr von Paschukanis und seiner Schrift, als ich ihn in U.-J. Heuers Buch „Demokratie und Recht“1136 mehrfach zitiert fand. Versuche, der „Allgemeinen Rechtslehre“ habhaft zu werden, scheiterten zunächst. Weder die Fakultät noch die Jenaer Universitätsbibliothek führten sie in ihrem Bestand. Im Nachhinein gesehen war das gut so. Garantiert hätte mir meine Idee, Paschukanis für meine Doktorarbeit auszuschlachten, nur Schwierigkeiten eingetragen. Denn bei der Verbreitung von Irrlehren wie der „Absterbe-These“ ließ die Partei nicht mit sich spaßen. Und Gutachter sollten Professoren werden, die zwei Jahre zuvor veröffentlicht hatten, dass sie die „Absterberei“ für einen Angriff auf die „Bewusstheit“ hielten.1137 O nein, Paschukanis hätte mir keine Pluspunkte eingetragen – es sei denn, ich hätte ihn des „Revisionismus“ bezichtigt. Aber ich wollte es damit nicht bewenden lassen. 1976 oder 1977 fuhr ich extra nach Leipzig und hatte Glück: Die Staatsbibliothek hatte ihn. Ich las die Schrift, so weit ich kam, vor Ort und ließ sie im Übrigen auf Kosten der Sektion und für sie fotokopieren. Von da an hatte die Sektion einen Paschukanis, machte aber, soviel mir bekannt ist, keinen sonderlichen Gebrauch von ihm. Das war DDR-weit so. Paschukanis war seit 1956 zwar irgendwie rehabilitiert. Aber galt das auch für seine Schrift? Das war unsicher. Weder in der Sowjetunion noch in der DDR war sie je wieder aufgelegt worden.1138 „Vorsicht“ war daher die Mutter der Porzellankiste. Man erfüllte die Beschlüsse der Partei besser ohne Paschukanis. Und wenn es nottat, 1136 U.-J. Heuer: Demokratie und Recht im neuen ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Berlin 1965. 1137 G. Haney/H. Oberländer: Staat ohne Bewußtheit?, StuR 19 (1970), S. 80–93. 1138 „Sein theoretisches Denken wurde ... zunächst nicht wieder aufgenommen. Die Bedeutung von ‚Allgemeine Rechtslehre und Marxismus‘ für die sowjetische Rechtswissenschaft tendierte vielmehr auch nach Stalins Tod gegen Null.“ Er war auch weiterhin aus Buchläden und Bibliotheken verbannt. (A. Harms: Warenform und Rechtsform. Zur Rechtstheorie von Eugen Paschukanis, Baden-Baden 2000, S. 20.) Erst 1980 wurden Teile seines Gesamtwerkes in Moskau veröffentlicht. Nicht dabei: „Allgemeine Rechtslehre und Marxismus“.

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sich mit ihm zu befassen, dann ging der auf Nummer sicher, der es unter dem Gesichtspunkt einer „Irrlehre“ tat. Hinzu kam: Die „Bewusstheit“ der DDR, vertreten durch die SED, endvertreten damals durch den Genossen Ulbricht, hatte sich an der Entstalinisierung nur sehr maßvoll beteiligt. Grund wird gewesen sein, dass der „Sieg des Sozialismus“ in der DDR, richtiger: der DDR-Thermidor, noch ausstand, dass die DDR sich 1956 also noch mitten in der stalinistischen Wende befand. Diese musste erst zu Ende gebracht werden. Die Zügel mussten erst fest in die Hand genommen werden, ehe sie gelockert werden konnten. Der aufkeimenden Hoffnung war daher ein Dämpfer zu versetzen. Dies geschah mittels der „Babelsberger Konferenz“ von 1958. Allen, die bereits Morgenluft gewittert hatten, wurde nun der Marsch geblasen und gezeigt, wo der „Hammer hängt“. Wer in der DDR zu bleiben gedachte, passte sich daraufhin an – der eine mehr, der andere weniger. Karl Polak, der bereits unter Wyschinski gedient hatte und von daher wohl am besten wusste, was ans Licht kommen kann, an was gerührt wird, wenn man, wie es Paschukanis tat, Marx zu wörtlich und vor allem: bei dem nimmt, was im „Kapital“ herausgearbeitet ist, schob zum Schutze beider Seiten: der „Bewusstheit“, vertreten durch die Partei einerseits und die Genossen an der „Rechtsfront“ andererseits, folgenden Riegel vor solcherlei Erkenntnis der unfrommen Art: Er gab als Leitlinie vor, dass Marx das „letzte Wort“ zum Staat im „18. Brumaire“ gesprochen hat.1139 Wer sich daran hielt, also der Versuchung widerstand, den „Staats-und Rechtsfaden“ des „Kapitals“ aufzunehmen1140, brachte weder die Partei noch sich selbst in Gefahr, ja konnte darüber hinaus auch zum gewünschten, der Parteilinie entsprechenden, Ergebnis gelangen. Löblich, befremdlich und bezeichnend zugleich ist es aus meiner Sicht, dass H. Klenner, zusammen mit L. Mamut, die „Allgemeine Rechtslehre“ 1991 herausgab. Wer war als Käufer des zum elitären Preis von 98 DM verkauften Nachdrucks ins Auge gefasst? Ebenso löblich, befremdlich und bezeichnend zugleich ist es aus meiner Sicht, wenn G. Haney in den 90ern ein Seminar zu Paschukanis anbietet. Ein wenig schadenfroh nahm ich zur Kenntnis, dass es mangels Interesse bei der Studentenschaft nicht zur Ausführung kam. Zehn Jahre früher wäre ein solches Angebot ganz sicher auf Interesse gestoßen.1141 Aber da standen die Staatsräson, der längst in Fleisch und Blut übergegangene Op1139 K. Polak: Zur Dialektik in der Staatslehre, Berlin 1963 (3.,erw. Aufl.), S. 5. 1140 Wie das meines Wissens H. Klenner mehrfach forderte. 1141 Auf das Interesse der Studenten, allerdings auch auf das Interesse der „Obrigkeit“ in Ge-

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Teil 4 – Zur bürgerlichen Gesellschaft

portunismus und die Selbstzensur einem solchen Vorhaben im Wege. Scheinbar ist nicht einmal versucht worden, Paschukanis und sein Werk zu rezipieren. Schade drum. Ich empfand 1976/77 die „Allgemeine Rechtslehre“ taufrisch. Ein echtes Stück Wissenschaft. Angreifbar, wahrscheinlich sogar grundfalsch, aber anregend. Von einer Idee beseelt. Von daher hob sie sich angenehm ab von den durch Zensur und (vor allem) Selbstzensur geprägten, kastrierten, ideenlosen, dafür aber mit absoluten Wahrheiten vollgestopften, schwer bis nicht lesbaren, ängstlich an der „Linie“ entlang geschriebenen Verlautbarungen seiner Nachfahren. Aber so ging es halt zu in der realsozialistischen Welt: Wichtig war, dass man sich an die Parteilinie hielt. Alles andere war riskant, vorneweg die Idee. Da lag das Problem.

stalt der Generalstaatsanwaltschaft (zu deren Kaderschmiede sich die Sektion gemacht hatte), die argwöhnisch das Treiben an der Sektion beobachtete und aufpasste, dass keiner über die Stränge schlug.

TE I L 5 – ZUM STA AT

16 Hieroglyphe „Staat“ Vom „naturwüchsigen Gemeinwesen“ zum „Vernunftstaat“

Viele Hegelforscher wären froh, wenn es den Abschnitt „Staat“ in der „Rechtsphilosophie“ nicht gäbe. Ein Rätsel, eine Zumutung, auf die der Leser stößt. Gerade noch konnte er unter „Die bürgerliche Gesellschaft“ zufrieden mit Hegel sein und sich reinen Herzens zu ihm bekennen. Und nun das: Der Staat. Dieser Staat, der mit aller Interpretationskunst nicht mit der uns bekannten Staatlichkeit, der eigenen wie jener der befreundeten oder verbündeten Staaten, identifiziert werden kann. Noch immer gilt, was T. Litt 1953 schrieb: dass „kein Teil von Hegels System ... mit so viel Leidenschaft bestritten, ja verketzert worden ist, wie gerade dieser.“1142 Ja, wenn er sich damit begnügt hätte, den schon im Rahmen der „bürgerlichen Gesellschaft“ abgehandelten „Not- und Verstandesstaat“ näher auszuschmücken! Aber so? Was er vorführt, ist kein „Rechtsstaat“, kein „Volksstaat“, kein „Parlamentsstaat“, keine „Diktatur des Proletariats“. Am ehesten scheint dieser Staat in die Schublade „Machtstaat“1143 zu passen. Bis heute wird er missverstanden. Und dies umso mehr, je liberaler die Zeiten wurden. Die Entwicklung rückte vor zum „Gesellschaftsstaat“ und weg vom „Vernunftstaat“. Die Kluft wurde größer, nicht kleiner.1144 Die Praxis, weniger die preußische als die französische und englische, schien Hegel Lügen zu strafen. Und da er sich nicht korrigierte, sondern – wie die Reformbill-Schrift zeigt – bis zuletzt „starrsinnig“ an seinem „Vernunftstaat“ festhielt, verweigern ihm selbst Gans 1142 Litt, a.a.O., S. 113. 1143 Siehe H. Heller: Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland. Ein Beitrag zur politischen Geistesgeschichte, Leipzig, Berlin 1921. Zu Heller und seinem „Machtstaat“Vorwurf: E. Vollrath, Zum Hegelverständnis, a.a.O., S. 111–129. 1144 Die Rezensionen zu seinem Werk zeigen es: Man hatte mehr und anderes erwartet. Den Rezensenten fiel es ersichtlich schwer, einem Buch positive Seiten abzugewinnen, das so ersichtlich gegen den liberalen Zeitgeist angeschrieben war. Siehe hierzu H. Klenner: Hegels Rechtsphilosophie in der Zeit, in: G.W.F. Hegel,Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, hrsg. v. H. Klenner, Berlin 1981, S. 565–609.

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Teil 5 – Zum Staat

und Rosenkranz die Gefolgschaft. Auch sie können oder wollen nicht sehen, dass die Alleinherrschaft der „bürgerlichen Gesellschaft“ der falsche Weg ist. Ein Missverständnis, das bis heute besteht. Was die Liberalen, was auch Marx/Engels als Fortschritt ansehen, ist für Hegel nur ein Ausschlagen des Pendels zur anderen Seite. Statt des Einen nun das Andere. Eine problematische Annäherung an Hegel und seinen Staat1145 gab es erst wieder, als Ende des 19. Jahrhunderts der „Freie-KonkurrenzKapitalismus“ in einen „organisierten“ Kapitalismus übergeht. F. Tönnies zu Hegel und zu diesem Abschnitt: „Hier wenn irgendwo finden wir den Philosophen in die Grenzen seines Zeitalters und seines Lehramtes eingeschlossen.“1146 Eine Rechtsphilosophie, die auch Staatsphilosophie sein will, ein Naturrecht, das sich nicht bloß auf eine Natur bezieht. Ein Staat, der sich nicht als bloßer „Rechtsstaat“, ebenso nicht als bloßer Rechts- und Sozialstaat heutiger Prägung versteht, sondern als „Vernunftstaat“. Das klang damals fremd und rückwärtsgewandt und klingt auch heute für die meisten von uns nicht viel besser. Wer mag das wollen? Schier unmöglich, sich mit diesem Staat, der scheinbar dem Preußen des Jahres 1820 und seinem Monarchen auf den Leib geschneidert ist, zu identifizieren, wenn man meint, Dreh- und Angelpunkt der modernen Welt sei die bürgerliche Gesellschaft.1147 Verständlich von daher, dass eine liberale oder auch marxistische Deutung Hegels einer solchen Staatslehre keinen Raum lässt und sie „insgesamt ignoriert.“1148 Zugleich fällt auf, dass sich kaum ein Autor die Frage stellt, in welcher Beziehung der in den §§ 257–360 R vorgestellte Staat zu jenem „Not- und Verstandesstaat“ steht, der zuvor, im Abschnitt zur „bürgerlichen Gesellschaft“, abgehandelt wurde. Dabei läge die Frage doch nahe: Warum zwei Staaten? Und wenn zwei Staaten: Was unterscheidet sie? In welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Wer die Frage aber stellt, stößt bereits in § 182/Z R auf folgenden Hinweis:

1145 Zur Variante, die unter der Bezeichnung „Neu-Hegelianismus“ versuchte, Hegel zur Begründung und Legitimierung des „Dritten Reiches“ heranzuziehen, siehe: B. Rettig, a.a.O., S. 271–282. 1146 F. Tönnies, Hegels Naturrecht, a.a.O., S. 80. 1147 Dazu Litt (a.a.O., S. 116): Hegels Staatsauffassung ist gegen alle Doktrinen gerichtet, „die im Staat nicht mehr sehen wollen als eine mögliche Spielart menschlicher Vergemeinschaftung, die andere Arten im Verhältnis der Gleichordnung neben, wohl gar im Verhältnis der Vorordnung über sich habe. Unter diesen Lehren ist bekanntlich die einflussreichste diejenige geworden, die die ‚Gesellschaft‘, das von Hegel dem Staat als ‚Moment‘ eingefügte ‚System der Bedürfnisse‘, ihm als ‚absolute Macht auf Erden‘ glaubt überordnen zu sollen.“ 1148 E. Weisser-Lohmann (a.a.O., S. 38) in Bezug auf J. Ritter.

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„Wenn der Staat vorgestellt wird als eine Einheit verschiedener Personen, als eine Einheit, die nur Gemeinsamkeit ist, so ist damit nur die Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft gemeint.“ Ein Staat ist angesprochen, der bloß ein „Gemeinsames der Willkür und besonderen Willens“1149 ist, ein Gesellschafts(vertrags)staat, ein Staat, der nicht mehr ist und nicht mehr sein kann als die „Geschäftsführung“ dieser Gesellschaft. So gesehen: ein Halbstaat, ein Staat, der im „Privateigentum“1150 nur der einen Natur und ihrer Mitglieder steht. Hegels Staat hingegen ist der Staat beider Naturen. Er ist das als „Vernunftgestalt“ wiedererstehende Gemeinwesen. Das Problem dabei: Im Unterschied zu den „naturwüchsigen“ Gemeinwesen stellt sich die „Vernunftgestalt nicht von selbst ein; sie muss vielmehr erkannt und gewollt sein. Und sie muss „hergestellt“ werden. An dem Willen dazu fehlt es bis heute. So gilt denn noch immer die Mahnung, die Hegel im Anschluss an die zitierte Passage ausspricht: „Viele der neueren Staatsrechtslehrer haben es zu keiner andern Ansicht vom Staate bringen können.“ Ja, die gerügte Ansicht hat sich nach Hegels Tod noch weiter verhärtet. Sie ist so in Beton gegossen, dass wir uns gar nicht mehr vorstellen können, dass es noch einen anderen Staat geben könnte als den, den wir bereits haben. Also tun wir so, als gingen uns diese Hinweise (und die ganz ähnlichen, die sich in den §§ 257 ff. R finden) nichts an, und bleiben stehen bei der „Entzweiung“. Überlassen aus den schon genannten theoretischen wie praktischen Gründen das Feld der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem „Not- und Verstandesstaat“. Nach Demokratie, Aristokratie und Monarchie, nach diesen „organischen“ Staatsformen der „alten Welt“, die die Entzweiung „historisch“1151 gemacht hat, ist nun die Zeit des „Vernunftstaates“ gekommen. Denn mit der Vernunft ist „ein Gedankenprinzip für den Staat gefunden ..., welches nun nicht mehr irgendein Prinzip ... ist, ... sondern das Prinzip der Gewissheit. ... Dies ist eine ungeheure Entdeckung über das Innerste und die Freiheit.“1152 Mit dem „Vernunftstaat“ ist das Schicksal gemeistert. Er überbrückt den Antagonismus der Naturen. Er ist der Staat der „Vermittlung“. Er muss vorhalten für alle Zukunft; er ist der „Endstaat“.1153 Die 1149 § 82 R. 1150 Vgl. § 277 R. 1151 § 273/A R. Rosenzweig (a.a.O., S. 412) interpretiert: „Monarchie, Aristokratie, Demokratie stehen nicht als gleichberechtigte Möglichkeiten nebeneinander. … Die moderne konstitutionelle Monarchie kann gar nicht … neben Aristokratie und Demokratie als dritte Form treten.“ 1152 Hegel, VPhG, MM 12, S. 527. Die Vernunft wird jetzt „zum Zweck und Wesen des Ganzen“ gemacht – nicht mehr (irgend)eine „Einzelheit“ und das „Gequäle darüber“, welche von ihnen der richtige Ausgangspunkt ist (NR, S. 441). 1153 Ebd., S. 524: „Mit diesem formell absoluten Prinzip [der Vernunft – B.R.] kommen wir

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Geschichte der „unvollkommenen Staaten“ endet und die selbstverantwortete Geschichte, die Geschichte der „vollkommenen“ Staaten beginnt.1154 Der „Vernunftstaat“ ist scharf abgegrenzt von seinen historischen Vorgängern, bei denen die „Idee des Staates“ noch „eingehüllt“ war in den „naturwüchsigen“ Zusammenhang. Dort waren die „besonderen Bestimmungen derselben nicht zu freier Selbständigkeit gekommen“1155. Dort war – wie bereits dargelegt – das „Ganze“, gewissermaßen in „Personalunion“, über die „primäre“ Natur repräsentiert. Und noch schärfer ist er abgegrenzt gegen die scheinbare Neuauflage der „Personalunion“, wie sie unter Führung der „produzierten“ Natur vor uns steht. Denn im Unterschied zur Ersteren wirft sich jetzt zum Nachteil der „primären“ Natur ein Teil als Ganzes auf. Wir lassen zu, dass die Stunde des modernen Staates zur Stunde des „Not- und Verstandesstaates“ wird. Ein Staatsbegriff macht Furore, aus dem die „primäre“ Natur und die Pflicht ihr gegenüber eliminiert sind. Damit ist ein ins Verderben führender Zustand kultiviert und sanktioniert. Und zugleich ist damit die bittere Medizin verschmäht, die uns Hegel mit seinem Staat an die Hand gibt. Die moderne Staatsauffassung zehrt noch immer von der „Umkehrmethode“, mit der Marx 1843 das hegelsche Staatsrecht analysiert, kritisiert und „berichtigt“ – und damit die sich mit dem Naturrechtsgedanken verbindende Staatsidee restauriert. Bis heute ist deren Ergebnis die Grundlage der herrschenden Staatsauffassung. Deren Fundamente sind: – die bürgerliche Gesellschaft tritt nach Auflösung des feudalen Gemeinwesens an dessen Stelle; sie ist das jetzige „Ganze“; – der zu ihr gehörende Staat ist der moderne Staat. Sieht man es wie Marx, kann der Staat nur das sich auf dieses „Allgemeine“ beziehende „Besondere“ sein. Die „Umkehrmethode“ bewirkt also, dass nicht nur der Gegenstandsbereich des Staates „verkleinert“, sondern dieser selbst zu einem völlig anderen, nämlich zum bloßen politischen Überbau der ökonomischen Wesenheit „bürgerliche Gesellschaft“ wird.1156 Nur dieser Staat wäre „logisch“. Jener Hegels hin-

an das letzte Stadium der Geschichte, an unsere Welt, an unsere Tage.“ (Hervorhebung bei H.) 1154 In der Terminologie des Marxismus: Es endet die „Vorgeschichte“ der politischen Organisation und ihre eigentliche Geschichte beginnt (vgl. MEW 13, S. 9 u. 475). 1155 § 260/Z R – also von Monarchie, Aristokratie und Demokratie. 1156 Da Marx diesen zusätzlich noch an den Klassenantagonismus bindet, ist es aus seiner Sicht konsequent, wenn er auch ihn nach revolutionärer Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft „absterben“ lässt. Wo die Liberalen sich also mit dem einfachen „Absterben“ des Staates bescheiden, lässt Marx ihn „doppelt“ absterben, als Staat des „Ganzen“ wie auch als „Not- und Verstandesstaat“.

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gegen wäre dann „unlogisch“ bzw. wäre, weil man Hegel unterstellen darf, diese Unlogik erkannt zu haben, Beleg eines „bösen Gewissen[s]“1157. Hegels Ausgangspunkt ist das „Gemeinwesen“. Arbeiten wir dieses wissenschaftlich auf, erscheint der „Staat als Resultat“1158; der Staat als „Vernunftgestalt“ steht jetzt für „Gemeinwesen“. Ein völlig anderes Geschichtsverständnis liegt zugrunde. Geschichte nicht als Abfolge von „Gesellschaften“, im Falle Marx/Engels: von „Klassengesellschaften“, sondern nur zweier Perioden: als Geschichte der „naturwüchsigen Gemeinwesen“ und als Geschichte der „Vernunftgestalt“. Während Marx und die bürgerlichen „Kollegen“ sich darin einig sind1159, dass der Staat Teil der bürgerlichen Gesellschaft ist, steht Hegels Staat außerhalb und oberhalb von ihr. Aber das passt einfach nicht zu dem Stellenwert, den wir der bürgerlichen Gesellschaft zumessen. Da wir aber von dorther denken, dort den Maßstab suchen und finden, sie als das „Ganze“ sehen, zieht Hegels Staat den Kürzeren und gerät „in die schiefe Stellung eines Entgegengesetzten“1160. Nahezu nichts an ihm ist so, wie es aus Sicht seiner Kritiker sein sollte. Warum der „Vernunftstaat“ so organisiert ist und dass er als Staat beider Naturen nicht anders organisiert sein kann, interessiert nicht. Hegels Verdienst wird darin gesehen, die bürgerliche Gesellschaft auf den Begriff gebracht zu haben. Deswegen glaubt man, sie sei das (positive) Zentrum seiner „Rechtsphilosophie“. Und weiter glaubt man, ihren Charakter und den ihres Rechts, naturfeindlich zu sein, auf Hegel selbst übertragen zu müssen. Das ist ebenso falsch, als wenn man das Zentrum seiner Philosophie in einem Staat sähe, wie er ihm von Haym, Heller und Popper angedichtet wird. Und es ist ungerecht einem Denker gegenüber, der mehr als jeder andere seinen Beitrag zum Erhalt der Schöpfung geleistet hat, indem er das „Gemeinwesen“ und die „Vernunft“ in die Mitte seiner Philosophie stellt. Wie fern uns sein Staat liegt, zeigt sich in der Diskussion, die zur Begründung der Staatswesen „Weimar“ und „Bundesrepublik“ geführt wurde und wird. Es ist die nahezu einhellige Meinung, dass insbesondere unsere Bundesrepublik ein Staatswe1157 MEW 1, S. 282. 1158 § 256/A R. 1159 Die heutige sozial-liberale Staatsauffassung wird vom Werk E.-W. Böckenfördes dominiert. Geprägt durch C. Schmitt wie auch durch H. Heller, kommt er zu der Aussage, dass die konstitutionelle Monarchie als eine Übergangslösung zu sehen ist. Und ähnlich einem K. Marx beurteilt er sie als eine Erscheinungsform des Bonapartismus. Siehe dazu E.-W. Böckenförde: Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders. (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, S. 395–431. Auch seine Auffassung vom Staat als einer „Wirkeinheit“ innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft steht der marxschen These vom Staat als einem „Überbau“ über einer gesellschaftlichen Basis durchaus nahe, wie ich an anderer Stelle (B. Rettig, a.a.O., S. 80 ff.) versucht habe zu zeigen. 1160 DS, MM 2, S. 11.

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sen höherer Art ist, weil dessen feste Fundamente Demokratie und Freiheit seien. Hegels Staat, dem größtenteils die die moderne Demokratie auszeichnenden Merkmale fehlen, könne von daher nur gut für den Übergang sein. Er beruhe auf keinem eigenen Grund, sein Wesen sei vielmehr von seinem Anfangs- und Endpunkt zu bestimmen. Dem würde Hegel mit Verweis darauf widersprechen, dass die Freiheit, auf die mit so viel Stolz verwiesen wird, die Freiheit nur einer Natur ist und die Unfreiheit der anderen bedeutet. Und unserer Demokratie würde er nachweisen, dass sie, im Unterschied zu jener der griechischen Antike, die im Gemeinwesen wurzelte, ebenfalls nur auf die „produzierte“ Natur bezogen ist und daher nicht mehr als der politische Ausdruck der ihr zugehörigen Willkür-Freiheit sein kann. In Kenntnis des heutigen Ausmaßes an Naturzerstörung würde er sie in den Kreis der dafür Verantwortlichen einreihen. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Was wir heute haben, ist nicht die Demokratie der antiken Griechen, sondern eine, mit der das „Ganze“, gewissermaßen „seitenverkehrt“, über die „produzierte“ Natur definiert wird – über den Verstand, nicht über die Vernunft, wie Hegel hinzufügen würde. Sie wäre mit Kant1161 richtiger als „Republikanismus“ zu bezeichnen. Dieser hat seine Basis in dem „Nation“ genannten „Staatsvolk“, zu dem das frühere Volk nach dessen Vereinzelung in die Personen der bürgerlichen Gesellschaft verschrumpft ist, und dient der Herrschaftssicherung des „besonderen Willens“. Die „primäre“ Natur ist darin nicht einbezogen. Deshalb werden auch die demokratischsten Strukturen und Verfassungen dem zentralen Mangel, naturfeindlich und naturzerstörerisch zu sein, nicht abhelfen – eher im Gegenteil. Leicht möglich, dass wir also an einer Demokratie zugrunde gehen, die nichts anderes ist als die ins Politische gewendete Willkür-Freiheit. Das möge bedacht werden, ehe der „Vernunftstaat“ vorschnell als „antidemokratisch“1162 verworfen wird. Die Abneigung ist also durchaus eine gegenseitige. Wie in unserem Recht sein „abstraktes“ Recht, würde Hegel in unserem Staat den „Not-und Verstandesstaat“ wiedererkennen. Also ein Recht und einen Staat nur für die Atome der „produzierten“ Natur. Ein Recht und ein Staat gegen die andere Natur. Wenn man so will: ein widernatürliches Recht, ein widernatürlicher Staat. Von Vernunft keine Spur. Sicher wäre er erstaunt, dass es trotz ihres Fehlens noch nicht zum Crash gekommen ist. Den „nur gesellschaftlichen“ Standpunkt des Liberalismus und des Marxismus verwirft er jedenfalls. Was wird aus dem „Gemeinwesen“? Das ist die Frage, die ihn bewegt. Bleibt es nach Zerfall der „naturwüchsigen“ Gestalt bei den beiden „Entgegengesetzten“ oder führt der Prozess zu einer neuartigen „Einheitsgestalt“? Gehen aus der „Entzweiung“ 1161 ZEF, 2. Absatz, Erster Definitivartikel. 1162 F. Tönnies, Hegels Naturrecht, a.a.O., S. 81.

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absolute oder relative Totalitäten hervor? Die Antworten entscheiden darüber, ob wir „den Wald vor lauter Bäumen“ sehen oder nicht. Ist Letzteres der Fall, steigern wir uns in jene „Feindschaft gegen das öffentlich Anerkannte“, die sich besonders „in Beziehung auf den Staat eingewurzelt“ hat.1163 Kommen wir auf § 33/Z R zurück. Dort zeigt Hegel, dass zum Recht nicht nur das „abstrakte“ Recht gehört, sondern auch: Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte. Über die „Sittlichkeit“ wiederum wird der Staat eingeführt; der Staat als Ausgangspunkt eines weiteren Rechts, über das die Pflicht gegenüber der anderen Natur zurückgewonnen und exekutiert wird. Der Zerfall lässt das „Wesen“ unberührt. Das „Bleibende“1164, um das es ihm geht und von dem er weiß, dass es eine neue Gestalt annehmen muss. Sein Anliegen: dieses nach der „Entzweiung“ zunächst nur „gestaltlos“ Existierende als Gestalt, diesmal als die „weltliche“ Gestalt1165 der Vernunft zu zeigen – was heißt: als Staat. Denn „gestaltlos“ kann es nicht bleiben; es muss „erscheinen“1166. Was aber geschieht? Wir messen am „Verständigen“. Und was sehen wir? Dem „Vernunftstaat“ fehlt fast alles, was uns den anderen Staat lieb und teuer macht. Defizite wohin man blickt. Ein Urteil aus der Sicht eines Teils, in dem wir bestärkt werden, wenn wir nur an unser materielles Glück denken. Ein falsches, aber herrschend gewordenes Urteil. Und solange wir davon nicht abrücken, helfen alle Interpretationskünste nicht weiter. Das Missverständnis bleibt erhalten. Von dorther kann nicht gefallen, was Hegel anbietet. Unser Verständnis von Gewaltenteilung, des Wählens, der Grundrechte, das in seinem Staat nur einen schwachen Widerhall findet, bezieht sich auf die „produzierte“ Natur und deren atomistische Binnenstruktur. Und ihr Staat ist der „Not- und Verstandesstaat“ – nicht der „Vernunftstaat“. Wir reden aneinander vorbei. Hegels Staat? Ein Gebilde zwischen Tür und Angel, ein Staat des Übergangs vom Absolutismus zum Parlamentarismus. Was jetzt an „Staat“ aktuell ist, zeigt England. Preußen hinkt lediglich hinterher. Zwei Staaten grundverschiedener Qualität. Gegenstand des „Vernunftstaates“ sind die zwei Naturen. „Volk“, „Demokratie“, „Gewaltenteilung“, „Grundrechte“ spielen hier keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Aber nicht, weil Hegel ein „Volks-“ bzw. ein „Demokratiefeind“ wäre, sondern weil hier nicht ihr Ort ist.1167 1163 Vorrede R (S. 14 f.) – Hervorhebung bei H. 1164 § 112/Z E. 1165 Vgl. Litt, a.a.O., S. 101. 1166 § 131 E – es hat also seinen tiefen Grund, warum Hegel in § 181 R auf die §§ 112 ff. und 131 ff. E verweist. 1167 Das übersieht z.B. J. Hyppolite (a.a.O., S. 449 [Hervorhebung bei H. bzw. Marx]), wenn er – Marx folgend – schreibt: „In der Tat weicht Hegel bei der Ableitung des Mo-

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Hauptaufgabe seines Staates ist die Vermittlung zweier gegensätzlicher Naturen und ihrer Zwecke. Das allein schließt es bereits aus, Hegels Staat an der Organisation jenes Staates zu messen, der sich auf die Binnenverhältnisse nur einer Natur bezieht.1168 Hält man „Gemeinwesen“ und „bürgerliche Gesellschaft“ nicht auseinander, ist die Sache klar: Der Staat Hegels ist nicht unser Staat. Marx hätte recht mit dem, was er dazu in seiner „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ ausführt. Damals frisch zu Feuerbach konvertiert, begründet er mit seiner Kritik eine anthropozentrisch geprägte Sicht auf den Staat, die bis heute die fast einzige Sichtweise ist. Ihre Botschaft: Der Staat ist für den Menschen da – für den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft, für die „Person“. Der Staat Hegels hingegen? Er ist weniger „Staat“ als „Mystik der Idee“. Ob vom Teil oder vom Ganzen ausgegangen wird: Die Perspektive ist je eine völlig andere. Einmal kommt uns die neu ins Leben getretene bürgerliche Gesellschaft als „Alleinerbe“ des „Gemeinwesens“ in den Blick. Die parteiische Sichtweise der Aufklärung. Dieser Natur und ihren Segnungen, darunter Freiheit, Fortschritt und (materielles) Glück, gilt ihre Sympathie. Und so wird alle Natur jetzt stillschweigend von dorther begriffen. Damit ist die „produzierte“ Natur unter sich; sie ist mit sich und ihrem Innenleben allein. Die andere, die „primäre“ Natur ist ausgeblendet, sie wird insgesamt und in allen einzelnen Bereichen zum Gegenüber. Sie ist jetzt entsubjektiviert, sie ist als „Herrenloses“ zum Objekt gemacht. Dieser verengten Sichtweise gilt Hegels Kritik. Er setzt ihr seine Dialektik von Teil und Ganzen entgegen. Damit hebt Hegel ins Bewusstsein, was weiterhin, über die „Entzweiung“ hinaus, existent bleibt. Dank erfährt er dafür nicht. Im Gegenteil, sein „Vernunftstaat“ hat ihm eher den Ruf eingebracht, Vordenker totalitärer Staatlichkeit zu sein. „Das Großartige, Neue und nach wie vor Aktuelle“ daran hat jedenfalls bis heute „im öffentlichen Bewusstsein keinen Niederschlag gefunden.“1169 Zwei Staaten. Der eine Staat, der „Vertrags-“ bzw. „Verstandesstaat“, vertritt nur die Interessen der „produzierten“ Natur und ihrer Mitglieder. Seine Hauptaufgabe ist „die Sicherung und der Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit“1170. Da er nicht von heute auf morgen hergestellt ist, zumal in Deutschland nicht, scheint jener des Jahres 1820 ein Staat des Übergangs zu sein. Und Hegel scheint jemand zu sein, der nicht sehen kann oder will, dass er auch in Preußen früher oder narchen der wesentlichen Frage aus: ‚Souveränität des Monarchen oder Souveränität des Volkes, dieses ist die Hauptfrage‘.“ 1168 Das bringt der von M. Wolff (a.a.O.) gewählte Ausdruck „staatstheoretischer Organizismus“ zum Ausdruck. In ihm sind die ganz entgegengesetzten Strukturen, die „atomistische“ hier, die „organismische“ dort, vermittelt. 1169 G. Lübbe-Wolf, Aktualität, a.a.O., S. 329. 1170 § 258/A R.

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später dem „richtigen“, dem zeitgemäßen Staat Platz machen wird. Aber für Hegel ist gerade in diesem „zeitgemäßen“ Staat die „Idee des Staats“1171 verletzt; er sieht ihn weiter von der Vernunft entfernt als der vom Sockel gestoßene Feudalstaat. Denn dieser repräsentierte, wie unvollkommen, wie historisch überlebt auch immer, beide Naturen. Mit dem „Vertragsstaat“ aber ist das „Ganze“ außer Kurs gesetzt; mit ihm beginnt die Herrschaft des Teils. Philosophisch gesehen ist er ein Rückfall auf den Standpunkt der Identität, politisch gesehen auf den der „Totalität“. Er ist „total“ gegenüber der „primären“ Natur. Seine Extreme, der „Rechtsstaat“ und der „Betriebsstaat“, sind bereits porträtiert worden. Hegel gab seiner Arbeit den Untertitel „Naturrecht und Staatswissenschaft“, weil er ihren Gegenstand, die Natur, als System „Natur“, d.h. als die dialektische Einheit zweier Naturen verstand. Das Recht als empirischer Befund ist zwar Derivat der „produzierten“ Natur, aber es bliebe „abstraktes“ Recht, wenn es nicht in Bezug zur anderen Natur gesetzt würde. Das geschieht über den Staat. Eine Rechtsphilosophie, die das aus dem Auge verliert, die also nicht das System „Natur“ im Blick hat, verdient diesen Namen nicht; sie bleibt einseitig, unvollständig und „unwahr“. Indem Hegel so vorgeht, macht er mit der zweiten Natur zugleich die „Einheit der zweifachen menschlichen Natur“1172 zum Gegenstand; im „System“ sind also der „tierische“ Mensch und der „Verstandesmensch“ zum „Vernunftmenschen“ zusammengeschlossen. Und so wie der konkrete Mensch nicht der „tierische“ Mensch oder der „Verstandesmensch“ ist, sondern der „Vernunftmensch“, so ist auch erst sein Vernunftstaat „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“.1173 Gegen den „Vertragsstaat“ des Naturrechts gerichtet, mit dem alle vorherigen Staaten als „Unstaaten“ verworfen sind, hebt Hegel hervor: „[A]ls ob noch kein Staat und Staatsverfassung in der Welt gewesen noch gegenwärtig vorhanden sei“! „[A]ls ob man jetzt – und dieses Jetzt dauert immer fort – ganz von vorne anzufangen“ habe!1174 Die Fortexistenz des Gemeinwesens ist der Grund für die Existenz der „konstitutionellen Monarchie“. Wäre es nach „Zerfall“ seiner Gestalt vollständig und für immer aus der Welt, brauchte es sie nicht. Dann hätte die bürgerliche Gesellschaft die alleinige Nachfolge angetreten. Und mit ihr der „Vertragsstaat“, der seinem politischen Inhalt nach „Parlamentsstaat“ ist. Im „Vernunftstaat“ ist die Vereinseitigung und Hierarchisierung zu Gunsten der „produzierten“ Natur und der „Person“ rückgängig gemacht. Das zerstörerische Gegeneinander ist durch ein vernünftiges Miteinander ersetzt. Würde man es bei der 1171 §258/Z R. 1172 W. Maihofer, a.a.O., S. 375. 1173 § 260 R. 1174 Vorrede R (S. 15).

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bloßen Umkehrung belassen, also akzeptieren, dass das „Naturprinzip“ durch das „Verstandesprinzip“ ersetzt wird, wäre das Schicksal der „primären“ Natur und des „tierischen“ Menschen besiegelt: Erstere unterläge der Zerstörung durch übermäßige Ausbeutung, Letzterer unterläge dem „Artensterben“.

17 Der „höhere Prätor“ Die Materialisation des „Weltgeistes“ zum Weltstaat

17.1 Die erste Stufe des „Vernunftstaates“: Die konstitutionelle Monarchie

Mit der konstitutionellen Monarchie ist ein Anfang gemacht; sie markiert den in § 358 R angesprochenen „Wendepunkt“ von den Staatsformen des „naturwüchsigen“ zu jenen des auf „Vernunft“ beruhenden Gemeinwesens. Hegel stellt sie uns deshalb als „Hieroglyphe der Vernunft“1175 vor und weniger als den preußischen Staat des Jahres 1820. Er konzipiert sie zu einer Zeit, da sich das feudale Gemeinwesen auch in Deutschland in heller Auflösung befindet und die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staat danach drängen, sich an dessen Stelle zu setzen. Die eine Gestalt des Gemeinwesens ist dabei, „historisch“ zu werden, die andere, die „Vernunftgestalt“, ist überwiegend noch bloße „Idee“, „göttlicher Wille“, der sich jetzt erstmals „zur wirklichen Gestalt und Organisation“1176 entfaltet. Hegel schließt sich nicht denen an, die den „Not- und Verstandesstaat“ favorisieren. Mag die konstitutionelle Monarchie auch viele Züge des „Unfertigen“ tragen: Besser sie, als das Feld dem „Not- und Verstandesstaat“ zu überlassen; besser sie als ein staatloser Zustand. Die konstitutionelle Monarchie fungiert insoweit als Platzhalter späterer und fortgeschrittenerer Formen des „Vernunftstaates“. Sie ist die erste der „Stufen“, über die sich der Weltgeist „zum Gegenstande seines Bewusstseins“1177 macht. Ihr Monarch ist die „substantielle“, die verleiblichte „Idee“ des Ganzen1178, die in der Zukunft einer adäquateren „Spitze“ weichen wird. In diese Richtung weist auch die Aussage in § 272/Z R, dass der „Staat wie ein Irdisch-Göttliches zu“ verehren ist, gerade auch deswegen, weil es zu Hegels Zeit so schwer ist, ihn gedanklich zu fassen. „Auffallend“ ist zu dieser Zeit der „Notund Verstandesstaat“. Aber man muss wissen, was das Wesentliche ist „und dass nicht immer das Auffallende das Wesentliche ausmache.“ 1175 § 279/Z R. 1176 § 270 R. In der „Phänomenologie“ (S. 19) heißt es: „Sowenig ein Gebäude fertig ist, wenn sein Grund gelegt worden, so wenig ist der erreichte Begriff des Ganzen das Ganze selbst.“ 1177 Vgl. §§ 343–345 R. Es trennen sich also schon damals, 1820, die Wege Hegels von jenen der liberalen Fraktion. Letzere versteht die „konstitutionelle Monarchie“ als eine Staatsform, die zur Republik überleitet, also zu einer Form des „Not- und Verstandesstaates“. Zehn Jahre später wird das Missverständnis offenbar: Statt über die Ergebnisse der 1830er Revolution zu jubeln, setzt Hegel ihren Ergebnissen seine in der Reformbill-Schrift niedergelegten Bedenken entgegen. 1178 § 273/A R.

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Teil 5 – Zum Staat

Der Monarch ist für Hegel der letzte „Freie“, er ist jenes Individuum, das den Übergang in die bürgerliche Gesellschaft, das die „Personifizierung“ nicht mit vollzieht. Er bleibt außerhalb – und das befähigt ihn, den Standpunkt des „Ganzen“ einzunehmen.1179 In der Antike waren es die „Freien“, denen dies zukam. Jetzt aber ist das so zu verstehende Volk „aufgelöst“, was eine „konstitutionelle Demokratie“ unmöglich macht.1180 Gegen sie sprechen im Übrigen die Erfahrungen der Französischen Revolution. Diese beginnt mit konstitutioneller Monarchie und endet mit ihr. Der „Revolutionskessel“ (Rosenzweig) selbst verwirft ihre demokratische, rousseauistische Phase als unrealistisch. Hegel akzeptiert die Revolution daher auch nur insoweit, als sie die konstitutionelle Monarchie gebiert bzw. „bestätigt“. Und ohnehin hat er ja gegen die Demokratie einzuwenden: Das Wissen darum, „was den Staat ausmacht, ist Sache der gebildeten Erkenntnis und nicht des Volkes.“1181 Ein Standpunkt, den Hegel durchweg vertritt. Er führt zwar weg vom Volk, verweist aber nicht zwangsläufig auf den Monarchen, von dem Hegel ja weiß, dass dieser häufig genug „übel gebildet“ ist. Eher verweist Hegels Standpunkt auf eine Instanz, die von ihrer objektiven Stellung her die Eignung besitzt, das Ganze zu repräsentieren.1182 Der Monarch von Gottes Gnaden liegt Hegel jedenfalls fern.1183 Da es zur konstitutionellen Monarchie gehört, dass das „Regieren“ einer dritten, außerhalb des Monarchen und der bürgerlichen Gesellschaft gelegenen und relativ verselb1179 Das ist auch der Grund, warum er in der „Landständeschrift“ von 1817 die Position des Monarchen verteidigt. 1180 Wenn also gefragt wird, warum „konstitutionelle Monarchie“ und nicht „konstitutionelle Demokratie“ (wie z.B. W. Maihofer, a.a.O., S. 380 ff.), dann ergäbe sich für Hegel die Antwort aus diesem Sachverhalt: Das Volk ist „aufgelöst“. Unter diesem Gesichtspunkt versteht sich auch die scharfe Kritik, die Hegel an der, aus seiner Sicht, „populistischen“ Philosophie des Kollegen Fries übt. Der Sache nach geht es Hegel darum, dass an der Spitze des Staates jemand steht, der „frei“ ist. „Frei“ im Sinne von „freigestellt“ von den bornierten Interessen und Sachzwängen der „produzierten“ Natur und so in die Lage versetzt, die Interessen des „Ganzen“ zu repräsentieren. Denken wir an die „Freien“ der antiken Stadtstaaten. Da die Geschichte von der „Demokratie“ zur Monarchie führt, sie also wegführt von den vielen „Freien“ als Sachwalter des Ganzen zu einem „Freien“, sah Hegel keinen Grund, eine Herrschaftsform wiederzubeleben, die „historisch“ geworden ist. Die Monarchie ist für Hegel also nicht „Rückschritt“, sondern Ergebnis vorwärtsgehender Geschichte. 1181 Hegel, VPhG, S. 91. 1182 Ein solcher objektiver Faktor ist auch der mit dem Majorat belastete Grundbesitz – siehe § 305 f. R. 1183 Vgl. dazu: M. Wolff, a.a.O., S. 170. Das verkennt (z.B.) V. Hösle (Der Staat, in: C. Jermann [Hrsg.], Anspruch und Leistung von Hegels Rechtsphilosophie, S. 201), wenn er schreibt, die Anlage des hegelschen Staates deute „nur auf eine Präsidialdemokratie, nicht auf eine Monarchie“.

17 Der „höhere Prätor“

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ständigten Kraft, der „Regierung“, übertragen ist, wird ohnehin das Zufällige am Monarchen eingedämmt, wird seine Subjektivität verkleinert. Es reicht aus, wenn er dem Grunde nach weiß, für was er steht, was er repräsentiert. Er darf deshalb kein „Bürgerkönig“, im weiteren Sinne: kein Cäsar, kein Napoleon, im noch weiteren Sinne: kein von der bürgerlichen Gesellschaft emporgebrachter Diktator sein.1184 Hegel weist ihm also eine ähnliche Stellung zu wie Marx 50 Jahre später dem Proletariat. Auch dieses steht angeblich außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Auch dieses sieht Marx frei von deren Sonderinteressen. Allerdings ist eine solche Argumentation weitaus schlüssiger, soweit sie sich auf den Monarchen bezieht. Denn der Proletarier vollzieht die Umwandlung zur „Person“ ja sehr wohl mit. Auch seine Existenz ist auf das Eigentum gegründet, auch wenn es „nur“ das Eigentum an der eigenen Arbeitskraft ist. Auch sein Tätigsein wendet sich gegen die „primäre“ Natur. Seine Interessenlage ist also ebenfalls eine „gesellschaftliche“. Eine proletarische Revolution ändert also nichts daran, dass die primäre Natur weiterhin Objekt bleibt, dass sie weiterhin einem Feind gegenübersteht, der auf ihren Verbrauch, auf ihre Zerstörung hinarbeitet. Der „Monarch“ Hegels (oder eine vergleichbare Institution) wird also durch den Proletarier bzw. durch eine „Diktatur des Proletariats“ nicht ersetzt. Und aus anderen, bereits genannten, Gründen ist er ebenso nicht zu ersetzen durch das „Volk“. Damit sind zwei praktizierte Staats-Varianten verworfen, die meinen, ohne Monarchen auskommen zu können. In einem Fall, bei der „Diktatur des Proletariats“, hat inzwischen die Geschichte ihr Urteil gefällt. Und einer „Volksdemokratie“ könnte es durchaus ähnlich ergehen. Im Preußen des Jahres 1820 ist noch alles offen. Das Pendel schwingt noch. Es ist noch nicht beim „Not- und Verstandesstaat“ stehen geblieben. Das bestärkt Hegel im Glauben, hier werde die Mitte gefunden. Er konnte glauben, dass sich seine Philosophie im Einklang mit der Praxis befindet, dass jetzt, wo die Partikularitäten „losgebunden und freigelassen“ sind, wo jede Seite zur vollen Freiheit gelangt ist, auch das „Wesen des neuen Staates“1185 zur Ausbildung kommen wird. Die „Einheitsnatur“ ist jetzt stofflich getrennt von den beiden Naturen. Ihr Stoff ist die Vernunft. Die frühere „Personalunion“ ist beendet. Die Ebenen, auf denen die eine und die zwei anderen liegen, sind klar unterschieden. Der Weg ist frei für den Vernunftstaat. Problem: Er stellt sich nicht von selbst her. Lassen wir den Dingen ihren Lauf, bleiben wir insoweit staatlos, als es nur zur Ausbildung eines „Not- und Verstandesstaates“ 1184 Das erklärt Hegels Unzufriedenheit mit dem Ausgang der Julirevolution in Frankreich und mit der Entwicklung in England, wie er sie in der Reformbill vorgezeichnet sieht. Alles deutet in die falsche Richtung, nämlich auf Abkehr von der konstitutionellen Monarchie. Er verhehlt nicht, dass er Preußen auf besserem Wege sieht. 1185 § 260/Z R.

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kommt. Die „Ordnung der Zeit“, sagt Hegel, weicht ab von der „Ordnung des Begriffes.“1186 Die Folge: ein Manko an Staatlichkeit zu Lasten der Natur. Die Missverständnisse, die sich um sein „Konstitut“ ranken, resultieren größtenteils daraus, dass wir an dem messen, was uns heute als „Verfassung“ von Form und Inhalt her gegenwärtig ist. Dabei schneidet Hegel selbst bei gutwilliger Beurteilung schlecht ab. Zu vieles, was GG und artgleiche Verfassungen bieten, fehlt. Aber solche Vergleiche werden Hegel nicht gerecht. Wenn es in § 302/Z R heißt: „die Verfassung ist wesentlich ein System der Vermittlung“, dann ist damit gesagt, dass sein „Konstitut“ das staatsrechtliche Verhältnis der beiden Naturen zum Gegenstand hat. Deren gegensätzliche Zwecke sind darin aufgegriffen und zur Einheit geführt. Unser GG hingegen ist die Verfassung nur der „produzierten“ Natur. Und deren atomistische Binnenstruktur verlangt nach Regelungen, die dem hegelschen Konstitut naturgemäß fremd sind. Wer von hier aus urteilt, kann in diesem nur den „mystische[n] Dualismus seines Systems“1187 erblicken. Zuzustimmen ist D. Suhr: „[M]it dem zweipoligen Raster: ‚liberal, naturrechtlich‘ hier und ‚monarchisches Prinzip‘ dort ist Hegel nicht einzufangen“.1188 Dahin gelangt aber zwangsläufig, wer sich mit der Trennung in Staat und Gesellschaft begnügt. Gegen das bis in die heutige Zeit tradierte Urteil Hayms, er habe die Figur des „Monarchen“ seinem letzten Dienstherrn, dem preußischen König, aus Servilismus auf den Leib geschrieben, spricht also schon, dass Hegel bereits in der „Verfassungsschrift“ (bei kritischer Grundhaltung gegenüber Preußen!), und seither ununterbrochen, die konstitutionelle Monarchie – seine Lehre aus der Revolution – als die Staatsform der Moderne vorstellt.1189 Sie markiert den „Wendepunkt“ seiner Staatsauffassung.1190 Etwas später, aber lange vor Hegels Berliner Zeit, siedelt L. Siep1191 diesen Übergang an: „Dass eine solche Einheit von Monarchie und ‚Konstitution‘ Grundlage des vernünftigen Staates ist, war Hegels feststehende Konzeption seit dem Ende seiner Jenaer Zeit (1806).“ Ähnlich O. Pöggeler: Heute zeigt ein Blick in die rechtsphilosophische Vorlesung, die Hegel im Winter 1817/18 in Heidelberg hielt, dass Hegel längst vor der Übersiedlung 1186 § 32/Z R. 1187 Marx, MEW 1, S. 288. 1188 D. Suhr: Hegels Vorlesungen über Rechtsphilosophie, Rechtstheorie 5(1974), S. 180. 1189 Richtiger von daher H. Heller (a.a.O., S. 111, insbesondere auch Fußnote 25), der sie nicht als Produkt eines Servilismus ansieht, sondern als Folge eines fehlerhaften philosophischen Ansatzes. 1190 F. Rosenzweig, a.a.O., S. 119. 1191 L. Siep: Hegels Theorie der Gewaltenteilung, in: H.-C. Lucas/O. Pöggeler (Hrsg.), Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, S. 387.

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nach Preußen dem Majorat im Blick auf die englischen Lords und die französischen Pairs eine politische Funktion gab; Hegel beginnt mit der fürstlichen Gewalt, weil er in der Rechtsphilosophie immer mit der Unmittelbarkeit des Zu-eigen-Habens und des Beschließens anfängt.1192 Er verweist auf Carové, einen Hegel-Schüler aus der Heidelberger Zeit, dessen Nachschrift der Vorlesung 1817/18 belegt, „dass Hegel in Heidelberg noch entschiedener als in Berlin sich zur konstitutionellen Monarchie bekannte.“1193 Das macht es jenen schwer, die, auf der Suche nach dem „liberalen Hegel“, den Hegel des „Monarchen“ unter Akkommodations-Verdacht stellen und sich berechtigt sehen, ihn insoweit aus der Wertung zu nehmen. Monarch und konstitutionelle Monarchie sind jedoch „direkt mit den Grundbegriffen seines Gesamtsystems verbunden.“1194 Und als solche hat er sie bereits im Gepäck, als er in Berlin eintrifft. Wie weiter, fragt er – jetzt, nach der „Entzweiung“, jetzt, wo sich das Prinzip des feudalen Königtums erschöpft hat? Sehr einfach die Antwort und die Lösung, wenn man sich für die „produzierte“ Natur entscheidet, wenn man sie zum „Ganzen“ erklärt. Da sie atomistisch strukturiert ist, also die Summe ihrer Atome ist, spricht scheinbar alles für das Modell einer repräsentierten Demokratie. Da alle Atome durch das prinzipiell gleiche Interesse verbunden sind, scheint es die Logik für sich zu haben. Der Monarch hat darin nur Platz, wenn er sich damit begnügt, bloßer „Bürger-König“ zu sein. Weniger „logisch“ ist derlei Staatswesen, wenn man von zwei Naturen ausgeht. Dann entsteht sofort die Frage, wer die andere Natur repräsentiert. Es leuchtet ein, dass die Eignung dafür je weniger ausgebildet ist, je stärker die Verstrickung mit der bürgerlichen Gesellschaft ist. Unter diesem Gesichtspunkt sieht Hegel im Monarchen denjenigen, der am freiesten von ihr ist. Er steht über ihren Sachzwängen; er ist ihr gegenüber „frei“ und nicht frei durch sie. Deshalb ist er berufen, „die Spitze formellen Entscheidens“ zu bilden bzw. jener zu sein, der „den Punkt auf das I setzt“.1195 Und Bezugnehmend auf seine Doppelfunktion 1192 O. Pöggeler: Hegels Begegnung mit Preußen, in: H.-C. Lucas/O. Pöggeler (Hrsg.), Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, S. 313. So urteilt auch K.R. Meist (Differenzen in Hegels Deutung der „Neuesten Zeit“ innerhalb der Weltgeschichte, in: H.-C. Lucas/O. Pöggeler [Hrsg.], Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, S. 478), ebenfalls unter Berufung auf Nachschriften aus der Heidelberger Zeit. Dort bezeichnet Hegel die konstitutionelle Monarchie als „unüberbietbar“ und erklärt sie „unmissverständlich … als die gültige Verfassung des Staates in seiner höchsten Entwicklungsstufe“, als „letzte Gestalt des Staates in der Weltgeschichte“. 1193 Pöggeler, Hegels Begegnung mit Preußen, a.a.O., S. 315. 1194 Siep, Hegels Theorie der Gewaltenteilung, a.a.O., S. 387. 1195 § 280/Z R.

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heißt es bei Hegel: Der Monarch ist im Rahmen des modernen Staates „nämlich zugleich das Einzelnste und das Allgemeinste.“1196 Ihn in dieser Doppelfunktion zu sehen, als den Repräsentanten beider Naturen, macht ihn zum „schwerste[n] Begriff für das Räsonnement“1197. Er war und ist der am wenigsten verstandene und wundeste Punkt seiner Staatsphilosophie. Umso mehr, wenn man ihn aus der Sicht jener Natur sieht, zu der der Monarch in keiner inhaltlichen Beziehung steht. Sieht man in ihm lediglich den funktionslos gewordenen „Gegenspieler“ der bürgerlichen Gesellschaft, hat er keinen Platz im jetzigen Staat. Deswegen setzt L. Feuerbach die Republik gegen „Hegels konservative Verendlichung des Geschichtsprozesses in der ständischen (konstitutionellen) Monarchie“1198. Sie ist die adäquate Staatsform der „produzierten“ Natur. Logisch, dass das „Ganze“ für ihn eine Spukgestalt und der sich darauf berufende Monarch folglich ohne Legitimation ist. Als „konstitutioneller Monarch“ Hegels ist er dagegen „Einheits-“ bzw. „Vermittlungspunkt“. Der „Monarch“ steht oder fällt also damit, ob mit zwei oder mit einer Natur „gerechnet“ wird. Nur für den zweiten Fall könnte also gelten, was Hösle generell behauptet: dass mit dem „Monarchen“ das „eklatanteste Beispiel für einen Begriffsfehler[,] … für eine logisch unbegründete Abweichung vom eigenen Ansatz“ vorliegt, dass er für eine Argumentation stehe, „die nicht anders als absurd zu bezeichnen“ ist, ja die „geradezu an Scharlatanerie grenzt.“1199 Von daher kein Wunder, dass der „Monarch“ von allen Seiten angegriffen wird. Hegels Staat verkörpert das neue „Ganze“; das „Ganze“ als institutionalisierte Vernunft.1200 Und der jetzige Monarch ist nicht mehr der Staat, sondern nur ein Organ der Institution „Staat“. Das ist von Haller1201, Vertreter eines patrimonialen Staates, zu wenig. Gegen Hegels Staat hätte er also einzuwenden, was er schon am staatsrechtlichen Teil des ALR zu kritisieren hatte. Er meint, und aus seiner Sicht durchaus berechtigt, diese Regelungen dienten dazu, den Monarchen und den Adel im engeren und weiteren Sinne zu enteignen. Hegel, der sich in einer Fußnote zu § 258 R mit ihm auseinandersetzt, hält entgegen: eine „unglaubliche Krudität“, weitab 1196 § 275/Z R. 1197 § 279/A R. 1198 Schuffenhauer, a.a.O., S. 148. 1199 V. Hösle, Der Staat, a.a.O., S. 201/205. Siehe dazu und zu ähnlichen Auffassungen: B. Rettig, a.a.O., S. 209 ff. 1200 Litt (a.a.O., S. 101) bezeichnet den Staat Hegels als „die ‚weltliche‘ Gestalt der Vernunft“. 1201 Und auch jenen, die ihn, wie K.E. Schubarth/L.A. Carganico (vgl. dies.: Zu Hegels Staatsbegriff. Über Philosophie überhaupt und Hegels Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften insbesondere [1829], in: M. Riedel [Hrsg.], Materialien 1, S. 209– 213) bezichtigen, mit seiner Version einer konstitutionellen Monarchie am Thron seines obersten Dienstherrn zu sägen.

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„von der Erkenntnis, wie unendlich wichtig, göttlich es ist, dass die Pflichten und die Rechte der Bürger wie die Rechte des Staats und die Pflichten der Bürger gesetzlich bestimmt sind“. Mehr zu sagen hält er wohl nicht für opportun. Denn er weiß natürlich, dass im § 2, II, 13 ALR der Monarch als „Oberhaupt im Staate“ bezeichnet wird und nicht mit dem Staat selbst identifiziert wird. Und er weiß auch um die Bedeutung dieser Herabstufung. Der absolut regierende Monarch, diese „Naturgestalt“ und dieses letzte Bollwerk des „naturwüchsigen Gemeinwesens“, ist damit „vom Tisch“. Als jetzt „konstitutioneller“ Monarch ist er durch die „Institution“ ersetzt worden, durch die „Vernunftgestalt“. Ein Anfang ist gemacht. Der Wechsel ist vollzogen. Das „Ganze“ ist gerettet. Die „konstitutionelle Monarchie“ ist nur eine Frühform des „Vernunftstaates“. Hegel weiß: „eine vollkommene Wirklichkeit hat dies Neue so wenig als das eben geborene Kind“.1202 Er versteht es als „historische Vorausangabe“1203 auf eine Staatsform, die ihre Geschichte noch vor sich hat. Die höhere Stufe des „Vernunftstaates“ ist der Weltstaat. Von ihm ist eine Zeit weit entfernt, die gerade auf den Nationalstaat zusteuert. Aber dass die Geschichte auf ihn zugeht, hat Hegel, wie die Ausführungen unter „C. Die Weltgeschichte“ (§§ 341–360) belegen, mindestens im Umriss gesehen. Er arbeitet hier „ohne Netz und doppelten Boden“. Und je weiter er sich dabei von seiner Gegenwart entfernt und in die Zukunft hineintastet, umso unschärfer und angreifbarer wird das von ihm gezeichnete Bild. Aber die große Linie steht; wenn auch diese „Unschärfe“ den Zugang zu ihr erschwert. Wie es G. Irrlitz 19721204, wie es M. Pawlik 20021205 aus je anderer Perspektive zeigen: „Geschichtsgesetz“ und empirisch-realer „Geschichtsvollzug“ sind nicht deckungsgleich, sondern fallen zeitlich auseinander. Dazwischen liegt der Zeitraum, wo der „Geist langsam und stille der neuen Gestalt“1206 entgegenarbeitet. Oder so gesagt: Der Begriff des „Vernunftstaates“ ist noch nicht dieser Staat selbst. Zu Lebzeiten Hegels lagen zwar die „logischen“ Voraussetzungen für ihn vor, nicht aber im gleichen Maße auch die „historischen“. Das scheint mir der Grund dafür zu sein, dass Hegel 1820 auf feudale oder feudal anmutende Institute zurückgreift, z.B. auf Majorat und Majoratsherren als Repräsentanten der „primären“ Natur. Ein Mix aus „Vernunft“- und „Blut-und-Boden“-Gestalten. Das Bild einer ständisch geprägten Ordnung kommt auf, in der sich der „Stand der natürlichen Sittlichkeit“ hier und die „bewegliche Seite der bürgerlichen Gesellschaft“ dort al pari gegenüberstehen 1202 Phän, S. 19. 1203 § 33 R. 1204 G. Irrlitz, Einleitung Politische Schriften, S. XXIX. 1205 M. Pawlik, a.a.O., S. 199 f. 1206 Phän, S. 18.

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und der Monarch in Pattsituationen die „letzte Entscheidung“1207 trifft. Mit ein wenig Fantasie kann man sich vorstellen, dass die Verfasser des ALR den Abschnitt „Der Staat“ im Jahr 1820 durchaus ähnlich gefasst hätten. Denn auch sie suchten ja eine „Einheit“ herzustellen, bevor sich die Differenz ausgebildet hatte und unumkehrbar geworden war. Sie strebten das „Vernunftrecht“ an, als das „naturwüchsige Gemeinwesen“ noch nicht völlig am Ende, die „produzierte“ Natur noch nicht vollständig als eigenständige Natur hergestellt war. Auch sie nutzten feudale Institute, um die heraufziehenden bürgerlichen Verhältnisse zu „versittlichen“. Das Ergebnis war „Sudelei“, war eine Missgeburt, war ein Mix aus Alt und Neu, wie Savigny und andere nicht vollkommen unbegründet einwenden. An den „Vernunftstaat“ sind folgende Ansprüche gestellt: a) Er muss akzeptieren und darauf aufbauen, dass sich die beiden Naturen und ihre Derivate dauerhaft verselbständigt haben, dass sie „Totalitäten“ geworden sind, deren eine „atomistisch“, deren andere „organismisch“ strukturiert ist. b) Er muss zugleich ihrer „Einheit“ Geltung verschaffen, was es notwendig macht, die Totalität der entzweiten Naturen zu relativieren, sie also, soweit das „Ganze“ es erfordert, als Teile anzusehen und zu behandeln. Der „Vernunftstaat“ muss beides zugleich tun: Die „Entzweiung“ bejahen und verneinen. Mit der konstitutionellen Monarchie bietet Hegel eine Lösung an, „die weder den Staat noch die Gesellschaft in einseitiger Radikalisierung zum Verschwinden bringt.“1208 Hegel selbst drückt es so aus: „Das Prinzip des modernen Staates hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.“1209 Zwei souveräne Naturen unterstellen sich einem Kompromiss, der ihre Souveränität zu Gunsten des Überlebens beider beschneidet und vom „Vernunftstaat“ exekutiert wird. Das Konstitut begründet somit ein staatsrechtliches Verhältnis. Privatrechtliche Verhältnisse haben darin nichts zu suchen.1210 Diese sind „Interna“ der „produzierten“ Natur und betreffen deren Atome. Der richtige Ort, sie zu regeln, ist die bürgerliche Gesellschaft. Und dies geschieht ja auch, wie Hegel unter „Rechtspflege“ in den §§ 209–229 der „Rechtsphilosophie“ aufzeigt.1211 Verengt man 1207 § 280/A R. Überzeugend hierzu G. Lübbe-Wolff: Hegels Staatsrecht als Stellungnahme im ersten preußischen Verfassungskampf, ZPhF34 (1981), S. 476–501. 1208 G. Rohrmoser, Hegels Lehre, a.a.O., S. 402. 1209 § 260 R – Hervorhebung bei H. 1210 Das macht Hegel bereits in seiner „Landständeschrift“ deutlich. 1211 Dieser Unterschied (Staatsrechte – Privatrechte) ist bei W. Jaeschke, Die Vernünftigkeit des Gesetzes, a.a.O., herausgearbeitet.

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allerdings, wie im 20. Jahrhundert üblich geworden, den Staat auf die Geschäftsführung der bürgerlichen Gesellschaft, sieht die Sache sofort anders aus. Dann erscheint die z.B. die Abwesenheit von Grundrechten im modernen Sinne als ein gewaltiges Manko. Wo wir Montesquieu „gesellschaftlich“ verstehen und dessen Lehre von der Gewaltenteilung in die bürgerliche Gesellschaft verlegen, sieht Hegel sie vom „Gemeinwesen“ her, was ihr „einen ganz anderen Sinn“1212 gibt. Das gilt auch für sein Grundrechtsverständnis. G. Lübbe-Wolff1213 weist darauf hin, dass, obwohl bei Erscheinen der „Rechtsphilosophie“ Grundrechtskataloge auf der politischen Tagesordnung standen, ja als der zentrale Teil der Konstitute angesehen wurden, bei Hegel ein Hinweis darauf fehlt. Zwar spielen Inhalte der üblichen Rechteerklärungen wie die Freiheit und Sicherheit des Eigentums, Elemente der Gewerbefreiheit und der Glaubensfreiheit, Ausprägungen des Gleichheitsgrundsatzes u. ä. bekanntermaßen auch in Hegels Rechtsphilosophie eine Rolle … Was aber fehlt, ist jede Andeutung eines Bestrebens, solche Inhalte in die allgemein gerade als so wesentlich geltende rechtliche Form verfassungsmäßig gewährleisteter Individualrechte, – kurz Grundrechte –, zu gießen.1214 Aber leidet Hegel deswegen an einer „Grundrechtsphobie“1215? Eine solche läge nur vor, verstünde Hegel sein „Konstitut“ als die Binnenverfassung der bürgerlichen Gesellschaft. Das ist nicht der Fall. Seine Ebene ist die „Einheitsnatur“. Hier stehen die Grundrechte der in ihr zur Einheit gebrachten zwei Naturen im Vordergrund, nicht die von Individuen. Die Besonderheiten der „produzierten“ Natur, die aus ihrer atomistischen Struktur erwachsen, bleiben auf dieser

1212 H. Trescher: Montesquieus Einfluß auf die philosophischen Grundlagen der Staatslehre Hegels, SchmJB42 (1918), S. 929. 1213 G. Lübbe-Wolff: Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphilosophie, in: H.-C. Lucas/O. Pöggeler (Hrsg.), Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, S. 421–446. 1214 Ebd., S. 425. 1215 J. Seifert: Verfassung in Hegels Philosophie des Rechts, in: G. Haney/W. Maihofer/G. Sprenger (Hrsg.), Recht und Ideologie in historischer Perspektive, S. 255 ff.: „Hegel lässt außer acht, dass die von ihm angestrebte ‚Gegliederung der Staatsmacht‘ Bestimmtheit der jeweiligen Befugnisse voraussetzt. Die Bestimmtheit sowohl der Rechte von Verwaltung, Polizei und der Rechtspflege wie die Bestimmtheit der Rechte der einzelnen Bürger ist kein reiner Formalismus.“ Er rügt: „Hegel hat die Entzweiung in der Wirklichkeit nicht als eine Gegebenheit hinnehmen wollen, die zu ertragen ist und die nur zeitweise überbrückt werden kann“, weshalb es den „Anspruch auf konkrete Freiheitsrechte“ gab.

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Ebene unberücksichtigt. Ja, es wäre geradezu systemfremd, sie hier zur Geltung zu bringen. Was für die eine Natur „Recht“ ist, ist für die andere „Pflicht“ – und umgekehrt. Da wir gewohnt sind, nur die „produzierte“ Natur zu sehen, sehen wir sie davon betroffen. Der Spielraum ihres Handelns, ihre Freiheit, wird auf das reduziert, was naturverträglich ist, was ihr zusteht, ohne dass das „Ganze“ in Gefahr gerät. Das Existenzrecht der einen muss also mit dem Existenzrecht der anderen Natur in ein vernünftiges Verhältnis gebracht werden. Eine „Grundrechtsphobie“ kann darin nur sehen, wer den heutigen, unhaltbar gewordenen Zustand verteidigt. Für den allerdings muss das Fehlen der Grundrechte als geradezu unentschuldbares Manko erscheinen.1216 Richtig wäre es dann, die Personen dieser Natur und ihre Rechte in den Mittelpunkt zu stellen, wie das geradezu vorbildlich im GG geschehen ist. Aber aus der Sicht Hegels wäre damit auch der klare Fall einer Verfassung gegen die „primäre“ Natur geschaffen; unser GG wäre für ihn zweifellos verfasster Anthropozentrismus. Fragt man also, ob wegen der „Abwesenheit eines Grundrechte-Kataloges … der von Hegel in seiner Rechtsphilosophie entworfenen Verfassung etwas Wesentliches fehlte“, kann man mit G. Lübbe-Wolff antworten: „Die Frage kann rundheraus verneint werden.“1217 Im „Vernunftstaat“ sind zwei gleichgewichtige Säulen zusammengeführt: a) Rechts- und Sozialstaat; b) ökologischer Staat. Ein Staat wie der unsrige, nur mit verstärkter ökologischer Kompetenz? Der Unterschied zu unserem Staat zeigt sich bereits darin, dass es Hegel nicht bloß um die Addition dieser zwei Komponenten geht. Er versteht den Vernunftstaat vielmehr als System, innerhalb dessen sich diese Teile als Mittel zum Zweck des Ganzen aus1216 Und so sah es auch der mit Z.C. zeichnende Rezensent der „Rechtsphilosophie“, für den es geradezu unentschuldbar ist, dass das „ganze höchst wichtige Kapitel der angeborenen Rechte … in diesem Lehrbuche ganz“ fehlt (Z.C.: Rezension zu Hegels „Rechtsphilosophie“ [1822], in: M. Riedel [Hrsg.], Materialien 1, S. 100–145). 1217 G. Lübbe-Wolff, Über das Fehlen von Grundrechten, a.a.O., S. 443. Die Begründung, die Lübbe-Wolff für dieses Ergebnis findet, geht von der altständischen Verfassung aus, die den Ständen über verbriefte Privilegien Rechte am und gegenüber dem feudalen Staat sicherte. Der Staat, um den es Hegel geht, bietet keinen Raum für solche Rechte. Hegel sah sich deswegen auch nicht veranlasst, ihnen in seiner Verfassung solchen Raum zu bieten. Im Übrigen weist Lübbe-Wolff (wie auch W. Jaeschke, Die Vernünftigkeit des Gesetzes, a.a.O.) darauf hin, dass damit die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft weder von Hegel noch in der Praxis rechtlos gestellt sein sollen oder sind, da schließlich die Gesetzgebung interne Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft ist und es sich keine von ihnen, bei Strafe des Misserfolgs, leisten kann, es an den für den, insbesondere wirtschaftlichen, Erfolg erforderlichen Rechten fehlen zu lassen.

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zuweisen haben. Jede Komponente, für sich gesehen, verfehlt den „Vernunftstaat“, ja eine Verabsolutierung führt zur Diktatur: des Rechts, des „Sozialen“, des „Ökologischen“. Relativierung, „Vermittlung“ ist also angesagt. Quantitativ-mechanisch gesehen enthält der Vernunftstaat alle uns von der herkömmlichen Gewaltenteilung bekannten Elemente. Und doch macht deren Einordnung in ein „Ganzes“ daraus eine andere Qualität. In § 261 R stellt Hegel heraus: „Gegen die Sphären des Privatrechts und Privatwohls, der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft ist der Staat einerseits eine äußerliche Notwendigkeit und ihre höhere Macht ...; aber andererseits ist er ihr immanenter Zweck und hat seine Stärke in der Einheit seines allgemeinen Endzwecks und des besonderen Interesses der Individuen, darin, dass sie insofern Pflichten gegen ihn haben, als sie zugleich Rechte haben“. Damit ist der „Vernunftstaat“ vorgestellt. Seine Aufgabe ist es, das „Entzweite“ zusammenzuführen und zu vermitteln, mithin: den Kompromiss zu exekutieren. Von unserem Staat unterscheidet er sich darin, dass er sich gegen die „produzierte“ Natur richtet, soweit dies nötig ist. Gegenüber allen ihren „Sphären“ ist er deren „äußerliche Notwendigkeit und ihre höhere Macht“, was heißt: Er ist in erster Linie dazu da, sie auf naturverträgliches Maß zu verpflichten, notfalls sie darauf zurückzuzwingen. Das zeigt bereits, dass es nicht bloß um Summierung und Quantifizierung geht. Von diesem Irrglauben abzukommen scheint für uns aber das Schwerste zu sein. Alles, was sich seit der Aufklärung als Wissen vom Staat angesammelt hat und für unumstößliche Wahrheit gehalten wird, muss daher auf den Prüfstand, muss einer höheren Wahrheit Platz machen. Warum das nicht geschieht, hat mit den praktischen Konsequenzen zu tun. Denn diese sind bisher ganz offensichtlich nicht gewollt. Wir haben uns an den unhaltbaren Zustand gewöhnt; wir haben uns in ihm eingerichtet. Unser ganzes Tun ist auf die Ausbeutung der anderen Natur ausgerichtet. Das wäre mit dem „Vernunftstaat“ grundlegend in Frage gestellt. Das steht seiner Errichtung im Wege. 17.2 Forderung der Zeit: Der Weltvernunftstaat

Aus dem Zerfall des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ geht der um konkrete Völker und Territorien, um konkrete geografische und klimatische Bedingungen zentrierte Nationalstaat hervor. Mit ihm entsteht ein Mix aus „Produktionsprinzip“ und „Naturprinzip“. „Völkergeister“, die Hegel von den niederen Göttern, den Penaten, regiert sieht. Ihr Regiment reicht aus, den Nationalstaat „sittlich“ zu machen. Was entsteht, ist also kein reiner „Not- und Verstandesstaat“. Eine, wenn auch indirekte, Korrektur des „Produktionsprinzips“ durch das „Naturprinzip“ findet statt, die den

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„Vernunftstaat“ jedoch nicht ersetzt. Fehlt es dauerhaft an der vermittelnden Instanz, rückt jenes „vernunftentblößte Tun“ in den Vordergrund, das sich, wie Litt formuliert1218, am deutlichsten in der „Verneinung des Allgemeinen“ zeigt. Hier setzt Hegel ein. Seine „konstitutionelle Monarchie“ versteht sich, ohne dass er es ausdrücklich sagen muss, als institutionalisierte „Einheitsnatur“. Das „Naturprinzip“ ist hier durchgehend durch das „Vernunftprinzip“ substituiert. Fehlt Letzteres, gerät die „primäre“ Natur ins Hintertreffen – und dies umso mehr, je mehr der Nationalstaat durch eine weltbürgerliche Gesellschaft außer Kraft gesetzt wird. Die heutige bürgerliche Gesellschaft ist eine „weltbürgerliche“. War damals der Nationalstaat ihre zureichende politische Organisation, so ist dieser schon längst von der Entwicklung überholt und überrollt. Sein beschränkter Wirkungskreis hat sich erschöpft. Er ist weitgehend „historisch“ geworden und unterliegt dem Gericht des „allgemeinen Geistes“1219. Selbst die größeren unter den Nationalstaaten haben inzwischen ihre „Denationalisierung“1220 erfahren. Mit dem Nationalstaat ist auch das in ihm wirkende „Naturprinzip“ außer Kurs gesetzt. Er kann auch das wenige an Vermittlung, nicht mehr leisten. Er ist dabei, zur nationalen Agentur eines verdeckt existierenden und agierenden Welt-Notstaates zu werden. Eine Entwicklung, die nicht zurückgedreht werden kann und deren Folgen am schwersten die „primäre“ Natur treffen, die jetzt global dem Angriff der anderen Seite ausgesetzt ist. Längst ist daher der Weltvernunftstaat das Gebot der Zeit. Die Natur und ihr Erhalt war bereits zur Zeit des Nationalstaates vielerlei, wie Hegel in § 340 R formuliert, „Zufälligkeiten“ ausgesetzt, die sich allein daraus ergaben, dass das „sittliche Ganze“ auf globaler Ebene zu Hause ist, nicht auf nationaler.1221 Einen mehr oder weniger umfassenden Schutz konnte daher allenfalls jene Natur erhoffen, die sich im „Privateigentum“ der jeweiligen Nation befand. Das ist nicht anders geworden. Ungeschützt sind heute vor allem jene Umweltbereiche, die gewissermaßen als die „Welt-Allmende“ angesehen werden. Schon längst vollzieht sich vor unseren Augen die Tragödie der Gemeingüter, wie ein Blick auf den verpesteten Luftraum und auf die überfischten und verdreckten Weltmeere zeigt – und auf die Folgen daraus, die wir Jahr für Jahr deutlicher zu spüren bekommen. Ihr Schutz muss auf globaler Ebene organisiert und exekutiert werden. Längst macht der „Geist der Welt“, der „unbeschränkte“ Geist, „sein Recht“ geltend – „und sein Recht ist das allerhöchste“1222. Er fordert uns auf, den Weltvernunftstaat zu errichten, jenen Staat, 1218 Litt, a.a.O., S. 127. 1219 § 341 R. 1220 W. Pauly, a.a.O., S. 393. 1221 Siehe § 340 R. 1222 § 340 R. B. Bourgeois (Der Begriff des Staates [§§ 257–271], in: L. Siep [Hrsg.], G.W.F.

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der „Träger und Vollstrecker eines Rechts [ist], vor dem die Rechte aller einzelnen Staaten zurückzutreten haben, ja das geradezu einen an ihnen allen auszuübenden Gericht gleichkommt.“1223 Die Geschichte selbst hat die „Hieroglyphe“ entschlüsselt. Sie hat eine Lage herbeigeführt, die auf den „Welt-Vernunftstaat“ verweist. Er scheint mir angesprochen, wenn M. Riedel formuliert: „Der hegelsche Staatsbegriff, der nach rückwärts die Auflösung der ‚substantiellen Einheit‘ der alten und die eingetretene Differenz mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft zur Voraussetzung hat, bezieht sich nach vorwärts auf eine weitere Sphäre – die der Weltgeschichte.“1224 Also kein „Ende der Geschichte“, natürlich nicht, „vielmehr das Ende einer Geschichtsperiode, de[r] geschichtliche Abschluss einer Welt“1225, die um den Nationalstaat zentriert war. Für Hegel zugleich das Ende jener Frühform des „Vernunftstaates“, die als konstitutionelle Monarchie auftritt. Die vom Nationalstaat umfassten „Völkergeister“ bleiben erhalten, agieren jedoch mit abnehmender sittlicher Kraft. Sie werden insoweit aufgehoben. Auf Weltebene kommt der „Welt-Vernunftstaat“ hinzu. „Indem so die Philosophie des Staates sich auf dem Wege über die Vielheit der Staaten zur Weltgeschichte ausweitet, beginnt ein in den Grundlagen von Hegels System angelegter Gedanke seine bedeutsamen Konsequenzen zu entfalten“, merkt Litt dazu an.1226 Hegel ist Realist. Mit Aus- und Höhenflügen ins Utopische hält er sich zurück. Er überlässt der Geschichte, in welcher konkreten Gestalt der Weltstaat auftreten wird. Mehr als grobe Konturen zeichnet er nicht. Diese Unschärfe lässt H. Ottmann fragen, ob nicht, nachdem zunächst zum Staat als der institutionalisierten Sittlichkeit aufgestiegen wird, jetzt in diesem letzten Teil „ein seltsamer Abstieg“1227 herauszulesen ist? Verzichtet er am Ende seiner „Rechtsphilosophie“ „auf alles Fordern und Postulieren“? Lässt er „die Welt der Staaten, wie sie ist“?1228 Noch kritischer beurteilt V. Hösle den Schluss, den uns Hegel im Teil (C) der Staatsphilosophie bietet. Lässt Hegel alles beim „Naturzustand“ enden, aus dem doch gerade dem gesamten Inhalt seiner Philosophie nach herauszugehen ist? Weshalb der „Rückfall

Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 228): „Für Hegel ist das unwiderstehlichste Staatsrecht das Recht des Weltgeistes“. 1223 Litt, a.a.O., S. 122. 1224 M. Riedel, Zwischen Tradition und Revolution, a.a.O., S. 59. 1225 R. Kroner, a.a.O., S. 251. 1226 Litt, a.a.O., S. 123. 1227 H. Ottmann: Die Weltgeschichte (§§ 341–360), in: L. Siep (Hrsg.), G.W.F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 282. 1228 Ebd., S. 267.

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auf eine Ebene, die in den ersten Paragraphen der Rechtsphilosophie schon überwunden sein sollte“?1229 Solche Fragen, solche Urteile messen an Kant und seinem Weltstaatenbund. Diesem aber liegt der „Vertragsstaat“ zugrunde. Und dieser zielt darauf ab, die Kräfte gegen die „primäre“ Natur zu bündeln, er zielt auf Absprachen ab, die ihrer effektiveren Ausbeutung dienen sollen. Allein die Logik sagt uns, dass der Weltstaatenbund den „Weltstaat“ bereits begrifflich ausschließt. Denn er basiert auf dem Vertrag, nicht auf der Vernunft. Im § 333/A R spricht Hegel aus, was ihm daran nicht genügt: „Es gibt keinen Prätor, höchstens Schiedsrichter und Vermittler zwischen Staaten, und auch diese nur zufälligerweise, d.i. nach besonderen Willen.“ Es bleibt bei unverbindlichen Traktaten, es bleibt „beim Sollen“.1230 Und dieser Zustand wäre auch nicht dadurch gebessert, dass einer von ihnen die Herrschaft an sich reißen und darüber „Einstimmigkeit“ erzwingen würde. Es bliebe trotzdem beim „Willkürwillen“. Der große Unterschied zwischen beiden liegt also darin, dass Kant nur einen Staat für die „produzierte“ Natur kennt, einen „Vertragsstaat“ also, der sich bereits aus der Logik des Begriffs „Vertrag“ nur als eine Mehrheit von Staaten versteht. Der Atomismus dieser Natur, ausgedrückt in der „Person“, setzt sich auf der Ebene des Staates fort. Was auf der privatrechtlichen Ebene der Verbund von „Personen“ ist, ist also hier, auf dieser Ebene, der Staatenbund; Weltbürgerrecht und Staatenbund bilden von daher eine Einheit und folgen der Vertrags-Logik. Doch der Bund solcher „Vertragsstaaten“ als Reaktion auf die jetzt weltbürgerliche Gesellschaft hilft der anderen Natur nicht weiter. Auch er bliebe, was er auch auf nationaler Ebene war: der „willenlose Mittelpunkt“1231 der „produzierten“ Natur. Er ist nichts weiter als die quantitative Ausweitung des national organisierten Vertragsstaates. Aus der Sicht Hegels: ein globaler „Not- und Verstandesstaat“. Aber wenn Hegel eines nicht will, dann ihn. Denn mit ihm wäre der Bock zum Gärtner gemacht; er wäre das Übelste an „Staat“, was der „primären“ Natur geschehen könnte. Mit ihm wäre jede Korrekturinstanz beseitigt. Die Natur wäre der Gegennatur auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. 1820 war die Zeit für den „Weltvernunftstaat“ noch nicht reif, er lag noch zu weit in der Zukunft. Der „Weltgeist“ musste erst materiell werden, musste erst „Objektivität … in Gesetzen“ und Institutionen erlangen, ehe er „in den Zustand eines Staates“ übergeht.1232 Wir brauchen uns also nicht „abgespeist“ zu fühlen. Denn in der „Weltgeschichte“ ist er durchaus vorweggedacht. Das wird übersehen, wenn 1229 V. Hösle, Der Staat, a.a.O., S. 219 f. 1230 … was uns an die UNO und deren klägliches Agieren in den zahlreichen kriegerischen Konflikten unserer Zeit erinnern sollte. 1231 VPhG, S. 61. 1232 § 349 R.

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gefragt wird1233, worin sich Hegel von Kant und dessen Weltbürgerrecht und Weltstaatenbund unterscheidet und weshalb er seine „Rechtsphilosophie“ nicht ebenfalls in solche Forderungen einmünden lässt. Der Schluss, mit dem Hegel aufwartet, ist also nicht „eigenartig“ oder gar „unhaltbar“, sondern, wie M. Pawlik urteilt,1234„systematisch vollkommen konsequent“. Richtig ist aber: Wo Kant etwas Handfestes parat hat – und trotzdem keine Lösung –, ist bei Hegel noch alles offen. Doch mit der „Weltgeschichte“ ist der Weg gewiesen. Mit ihr zeigt er, dass er das Problem im Blick hat. Noch ist der „Vernunftstaat“ zentriert nur um die „Völkergeister“; seine Weltgestalt ist damals nicht aktuell. Aber die Geschichte treibt auf sie zu. Das ist gegenüber Kant eine weit differenziertere und geschichtlichere Auffassung. Das Nationale, das sich um die ethnischen, sprachlichen, kulturellen u.a. Besonderheiten eines konkreten Volkes Rankende, bleibt uns als versittlichende „Verunreinigung“ noch über unabsehbar lange Zeiträume erhalten. Versuche, es vor der Zeit auszumerzen oder zu ignorieren, das hat die Geschichte oft genug gezeigt, bringt Gegenkräfte auf den Plan, mit denen man besser kein Spiel treibt. Dessen war sich Hegel wie kein anderer bewusst.1235 Gleichwohl hat sich mit Aufkommen der weltbürgerlichen Gesellschaft eine Dimension aufgetan, die den nationalen Rahmen sprengt. Das bringt den Weltvernunftstaat auf die Tagesordnung. Damals noch „allgemeine Idee“, ist er jetzt zum dringenden Erfordernis der Praxis geworden. Hier, auf Weltebene, entfaltet er sein Potenzial. Alles „Besondere, die Penaten, die bürgerliche Gesellschaft und die Völkergeister in ihrer bunten Wirklichkeit“ bleibt hier außer Betracht. Hier interessiert die Weltgeschichte nur als Resultat und als die Wahrheit aller Geschichte, als „geistige Wirklichkeit“1236. Hier geht es nicht um die Belange einzelner Völker, Nationen oder Rassen. Gegenstand ist das universell gewordene „Gemeinwesen“. Dessen Vernunftgestalt wird der Korrektor der weltbürgerlichen Gesellschaft. Ein Weltstaat und viele Nationalstaaten, die sich um „dessen Thron“1237 scharen. Ein Weltbundesstaat anstatt des Weltstaatenbundes. Geradezu schwärmerisch äußert sich E. Gans1238 dazu: „Welches ungeheure Schauspiel ist aber diesem 1233 Ottmann, Die Weltgeschichte, a.a.O., S. 267. 1234 M. Pawlik, a.a.O., S. 185. 1235 Seine scharfe Polemik gegen Fries belegt es. Auf der nationalen Klaviatur spielt man nicht. Mit diesem noch überall anzutreffenden und hineinwirkenden „Naturwüchsigen“ heißt es behutsam umzugehen. 1236 § 341 R. 1237 § 352 R. 1238 In der Vorrede der von ihm 1832 herausgebrachten 2. Auflage der „Rechtsphilosophie“ (G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, a.a.O., S. 5).

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Buche als Schluss beigegeben! Von der Höhe des Staates aus sieht man die einzelnen Staaten, als ebenso viele Flüsse sich in das Weltmeer der Geschichte stürzen, und der kurze Abriss der Entwicklung derselben ist nur die Ahnung der wichtigeren Interessen, die diesem Boden anheimfallen.“ Eine kühne, bis heute eher missverstandene Vision, ausgesprochen zu einer Zeit, als der Nationalstaat „der letzte Schrei“ der Geschichte ist. Dem Weltstaat ist zu leisten auferlegt, was die „Völkergeister“ nicht zu leisten vermögen. Diese sind damit nicht negiert; es verbleibt bei „ihrer bunten Wirklichkeit“. Sie sind nur an ihren richtigen Platz gestellt. Die „Völkerstaaten“ bleiben „gegen die andern in souveräner Selbständigkeit.“1239 Aber die Bedeutung hat sich umgekehrt. Die „Völkerstaaten“ werden gegenüber dem Weltvernunftstaat ein „Untergeordnetes“. Die Vermittlung der beiden Naturen auf globaler Ebene wird zur Aufgabe des Weltstaates. Ihn zu installieren und handlungsfähig zu machen wäre zweifellos das bedeutsamste Geschehnis der letzten Jahrhunderte. Mit ihm wäre die „Gestaltlosigkeit“ des Gemeinwesens auf jener Ebene beendet, wo der Staat von allen nationalen Egoismen frei ist und frei sein muss, wenn er adäquates Gegengewicht der weltbürgerlichen Gesellschaft sein will. Die „sittliche Substanz“ des Nationalstaates ist „eine besondere und beschränkte“1240. Sie ist durch viele „Zufälligkeiten“ geprägt. Anders beim Weltvernunftstaat. Dort erhebt sich das Zufällige zur „Wesentlichkeit“.1241 Der beschränkte Geist geht „in die allgemeine Weltgeschichte über, deren Begebenheiten die Dialektik der besondern Völkergeister, das Weltgericht, darstellen.“1242 Die „Weltgeschichte“ geht auf den Weltstaat zu; sie gebiert ihn zu gegebener Zeit; er ist ihr Endzweck.1243 Zur Entstehung gelangt, ist er die „übergreifende Einheit“ gegenüber jedem der Einzelstaaten; er ist „ein drittes Verbindendes über ihnen“1244. Nur er kann den zerstörerischen Kräften Paroli bieten, die von einer weltbürgerlich gewordenen Gesellschaft ausgehen. Und es wäre geradezu eine Einladung an diese, wenn er ausbliebe. Der globalisierte Kapitalismus, der seit den 90er-Jahren in Orkanstärke über die Erde fegt, sollte uns dies längst gezeigt haben. Mit ihm hat die „produzierte“ Natur ihr Ziel erreicht: Sie ist nahezu völlig frei geworden, 1239 § 331; vgl. auch § 322/A R. 1240 Vgl. § 552 E. Er verweist auf „das Moment geographischer und klimatischer Bestimmtheit“ = die „Naturseite“ (§ 548E). 1241 Ebd. (§ 552 E). 1242 § 548 E. 1243 § 549/A E: „Dass der Geschichte und zwar wesentlich der Weltgeschichte ein Endzweck an-und-für-sich zum Grunde liege und derselbe wirklich in ihr realisiert worden sei und werde, – der Plan der Vorsehung“. 1244 § 259/Z R.

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sie hat sich nahezu aller Kontrolle entzogen. Sie ist nahezu bar jeder Verpflichtung der Schöpfung gegenüber. Was ihr als Staat entgegentritt, die rund 200 Nationalstaaten, ist, hier deutlich, dort weniger deutlich, in die Knie gezwungen. Stück für Stück geben selbst die reichen und großen unter ihnen ihre sozialen und sittlichen Kompetenzen preis und werden zum Spielball, ja zum Handlanger der „produzierten“ Natur. Die kriegerischen Konflikte, die Flüchtlingsströme, der weltweite Terrorismus zeigen uns: Die Erde ist zum „Ganzen“ geworden. Täglich haben wir die globalen Auswirkungen unseres Tuns vor Augen. Global muss daher vermittelt und gegengesteuert werden. Der jetzige Zustand jedenfalls ist nicht nur ein Hindernis bei der Lösung der Umweltprobleme, sondern ist längst zum Verschiebebahnhof der Probleme geworden. Reiche Länder können es sich leisten, ihre nationale Umwelt sauber zu halten, weil sie „schmutzige“ Industrien in ärmere Länder verlagern. Sie können den eigenen Waldbestand schonen und schützen zu Lasten der Wälder des Amazonas- und Kongogebietes. Dies alles gebietet den Weltstaat. Dass er auch die zahlreichen Oasen für eine wachsende Zahl Wirtschaftskrimineller und Steuerflüchtlinge trockenlegen könnte, sei nur am Rande erwähnt. Bei Behandlung der Schlusslehre des § 187/Z E sahen wir, dass „alles Vernünftige sich als ein dreifacher Schluss [der Glieder Natur, Geist, Idee] erweist“, wobei beim ersten Schluss die „Natur“, beim zweiten der „Geist“ und erst dann die „logische Idee“ in die Mitte tritt. Eine Abfolge, die auf den geschichtlichen Prozess verweist und die politischen, ökonomischen, sozialen Reifegrade des Menschen und der von ihm errichteten gesellschaftlichen Strukturen widerspiegelt. „Zunächst“ führt uns die „primäre“ Natur an ihrem Gängelband durch die Zeit. Tausende Jahre dauert es, ehe die Zeit der zweiten Schlussfigur gekommen ist, die sich mit dem „gesellschaftlich“, d.h. privatrechtlich begriffenen und organisierten Staat, dem „Vertragsstaat“ verbindet. Von der Geschichte eigentlich nur für eine „logische Sekunde“, längstens aber für den Zeitraum der „freien Konkurrenz“ vorgesehen, hat er sich gegen die Vernunft behauptet und ist bis heute die vorherrschende Staatsform geblieben. „System“ und Ende der Geschichte stehen in einem Zusammenhang, der besagt: Der „Vernunftstaat“ markiert eine Position, „die nicht mehr überbietbar ist“1245; eine Steigerung über ihn hinaus gibt es nicht. Er ist mit der „Weltgeschichte“ verknüpfter Prozess, also nicht bloß „Zustand“. Er ist Nachfolger der „naturwüchsigen Gemeinwesen“. Mit ihm beginnt eine neue Geschichte. 1820 noch kaum mehr als jene „Hieroglyphe“, müsste er heute längst Praxis geworden sein. Längst hätte mit dem „Vernunftstaat“ eine neue Geschichte beginnen müssen. Mit ihm wäre eine Endgestalt in der Welt, ohne dass damit ein „Ende der Geschichte“ erreicht wäre. 1245 H. Ottmann: Kojève und Carl Schmitt. Neue Nachrichten vom Ende der Geschichte und vom Ende der Staatenpolitik, HJ 2002, S. 179.

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Denn selbstverständlich wird es notwendig sein, auch diesen Staat ständig neu zu justieren, um seine Handlungsfähigkeit zu erhalten. „Ende der Geschichte“ also nur insoweit, als nun die Vernunft ihre Herrschaft antritt.1246 Ende der Geschichte also nur im Sinne eines Endes der Vorgeschichte. Der große Unterschied zu den „naturwüchsigen“ Gemeinwesen: Diese stellten sich von selbst her. Was jetzt auf der Tagesordnung steht, ist von uns selbst verantwortet und verlangt uns das Schwerste ab: Vernunft. Im Zusatz zu § 279 heißt es: „Bei der Organisation des Staates … muss man nichts vor sich haben, als die Notwendigkeit der Idee in sich: alle anderen Gesichtspunkte müssen verschwinden“. Damit ist betont, dass die Vermittlung der Naturen die Hauptaufgabe geworden ist. Der „Vernunftstaat“ hat jetzt jene „letzte Entscheidung“ zu treffen, die die antiken Völker „aus ganz äußeren Erscheinungen genommen haben, aus den Orakeln, den Eingeweiden der Opfertiere, aus dem Flug der Vögel“. Es folgt ein Satz, eine Aufforderung, den/die wir heute wörtlich nehmen sollten: uns zur Natur „als zu einer Macht verhalten, die da verkündet und ausspricht, was den Menschen gut sei.“ Wir sind fortgeschritten genug, dass wir heute unser Handeln nicht mehr auf Orakelsprüche und dergleichen stützen müssen. Es reichte, wenn wir wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen folgen würden. Wir wissen längst, was zu tun ist. Und die Natur selbst zeigt uns immer eindringlicher und spürbarer ihren Unmut. Hegels Staat existiert also auf zwei Ebenen: a) als Staat der „Völkergeister“, d.h. als Nationalstaat. Er verschafft den ethnischen, kulturellen, sprachlichen, geografischen Unterschieden und Besonderheiten im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft Geltung. b) als Staat des Ganzen auf der Ebene der Welt, als Weltstaat. Dessen Kernkompetenz: die „Naturfrage“. Er versteht sich somit als ein als Bundesstaat organisierter Weltstaat, dessen Glieder den heutigen Nationalstaaten entsprächen. Die Souveränitätsverluste, die er für letztere mit sich brächte, wären mindestens uns Europäern nicht neu. Wir brauchen nur an die EU zu denken, auf die in den Jahren ihres Bestehens Schritt für Schritt nationale Kompetenzen verlagert wurden. Allerdings sind diese eher ein Beispiel für einen supranationalen Not-und Verstandesstaat, nicht aber eines „Vernunftstaates“. Im Übrigen ginge es einzig und allein um Einschränkungen der Souveränität zu Gunsten der „primären“ Natur. 1246 Zu Recht betont Fulda (Hegel, a.a.O., S. 205) daher, dass „Hegels Programm einer Naturrechtslehre … Staatswissenschaft ist“, weil sie den modernen Staat als „Vermittler“ und die Staatswissenschaft als Wissenschaft von der Vermittlung der beiden Naturen, ihrer Interessen und ihrer Rechte ansieht.

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Und das müssten die obersten Ziele seiner Politik sein: Kein Wachstum der „produzierten“ Natur auf Kosten der Substanz der anderen Natur. Ausgeglichene Staatshaushalte und ausgeglichene Naturhaushalte. Ein verringertes Wachstum der Weltbevölkerung. Abstimmung der „Produktivitäten“ beider Naturen aufeinander. Um diese Ziele zu exekutieren, müssen dem Weltstaat die nötigen Mittel, auch die polizeilichen, an die Hand gegeben werden. Wir brauchten nicht bei null anzufangen, wollten wir ihn errichten. Immerhin gibt es die UN. Ihr umfangreicher, eingeübter bürokratischer Apparat, ihr Sachverstand, ihre Baulichkeiten stünden bereit und könnten als Keimzelle dienen. Und wir brauchten für ihn auch keinen Monarchen, sondern nur das Prinzip, das der konstitutionellen Monarchie zugrundeliegt. Dieses verweist auf ein Parlament, in dem beide Naturen und ihre Interessen gleichberechtigt vertreten sind, und auf eine Regierung, die frei und mächtig genug ist, das als vernünftig Erkannte und Beschlossene zu exekutieren. Ein Parlament und eine Regierung, die sich nach Organisation und Inhalt deutlich unterscheiden von dem, was unter gleichem Namen auch Bestandteil des „Not- und Verstandesstaates“ ist. Auf den Parlamentsbänken säßen Individuen der „Natürlichkeit“1247 als die Repräsentanten der „primären“ Natur und – ihnen gegenüber – Vertreter der einzelnen Stände als die Repräsentanten der „produzierten“ Natur. Verantwortung trügen im „Vernunftstaat“ Mitmenschen, die integer, sachkundig, politisch wie ökonomisch unabhängig sein müssten – Beamte im besten Sinne des Wortes. Auszuschließen wäre das heute in den oberen Etagen des Politikbetriebes schon fast üblich gewordene Wechseln vom „Amtsverhältnis“ in das „Vertragsverhältnis“1248; die „Oberherrschaft“ des bürgerlichen Rechts müsste auf dieser Ebene gebrochen werden.1249 Damit wäre eine Quelle des längst üblich gewordenen Geschäftssinns1250 trockengelegt, mit dem Politik zunehmend betrieben wird.

1247 § 280 R. 1248 Vgl. § 294/A R. 1249 Wie Hegel bereits im Naturrechtsaufsatz (NR, S. 518) fordert. 1250 Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts beschreibt Max Weber die „business-men“, die „matter-of-fact-men“ als den vorherrschend werdenden Politikertyp (M. Weber: Das Verhältnis der Kartelle zum Staate, in: ders., Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik. Schriften und Reden 1900–1912, Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 8, hrsg. v. W. Schluchter, Tübingen 1998, S. 273).

AU S B L IC K

Hegels sittlicher Staat, das ausgeschlagene Vermächtnis „Die Beziehungen des modernen Menschen zur Erde sind nicht wie die von Partnern einer Symbiose, sondern wie die eines Bandwurms zum Hund, den er befallen hat, oder des Mehltaus zur Kartoffel, die er angesteckt hat.“ Aldous Huxley

Die Zeichen stehen auf Sturm. Der „Ausbeuter- und Tierbändigerstandpunkt“1251, den wir schon immer gegen die Natur einnahmen, ist längst einem Krieg gewichen. Wie es der Dalai-Lama sieht: dem „Dritten Weltkrieg gegen die Natur“. Ein Krieg, der – sollten wir ihn gewinnen – mit unserem Untergang endet. Wir haben uns frei gemacht von ihr. Die Bindung an „Blut und Boden“ liegt hinter uns. Das „Gängelband“ ist zerrissen. Sie ist nicht mehr Herr über uns. So weit, so gut. Falsch aber unsere weitere Schlussfolgerung, dass nun wir die Herren sind und sie der Knecht. Wegfall dieser Bindung bedeutet nicht Wegfall jeder Bindung. Selbstbindung ist jetzt gefordert. Diese hat mit „Vernunft“ und mit dem „Vernunftstaat“ zu tun. Letzteren zu installieren, ihn zur institutionell fassbaren und handlungsfähigen Größe zu gestalten wäre also dringend geboten. Denn die Menschheit wird ohne ihn nicht mehr lange überleben können. Er ist also unsere einzige und letzte Chance. Ob wir sie nutzen oder nicht, wird schon bald über unser Schicksal entscheiden. Aber Zweifel sind angesagt. Ist doch alles um das „bewusstlose blinde Ganze der Bedürfnisse und der Arten ihrer Befriedigungen“1252 zentriert. Tausenderlei „Sachzwänge“ verlangen scheinbar gebieterisch nach Wachstum. Wachstum und Konsum! Und das um jeden Preis. Dagegen erhebt die „Vernunft“

1251 Bloch, Prinzip Hoffnung 2, S. 269. 1252 SdS, S. 75.

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ihre allzu schwache Stimme. Und ohnehin weisen die Zeichen der Zeit eher auf „Hass und Wut“1253 gegen sie. Wir wissen längst, dass das Verhältnis zur „primären“ Natur über unser Schicksal entscheiden wird. Der Schlüssel zur Lösung dieses Grundkonflikts wäre zugleich der Schlüssel zur Lösung der sich immer weiter aufstauenden Binnenprobleme der bürgerlichen Gesellschaft. Denn das Herstellen eines vernünftigen Verhältnisses der beiden Naturen zueinander ist untrennbar mit ihrer grundlegenden Umgestaltung verbunden. Das gegenwärtige krasse Missverhältnis zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd, um nur diese Beispiele zu nennen, müsste auf jeden Fall einer gerechteren Verteilung weichen. In fast keiner Beziehung könnte es beim Alten bleiben; alles käme auf den Prüfstand und müsste grundlegend verändert werden. 1828 beginnt K.Chr. Collmann seine Rezension der „Rechtsphilosophie“ mit den Worten, dass der „Geist, der in diesem Buche waltet, ... nicht derjenige [ist], der in unseren Tagen auf bedeutende Erfolge rechnen darf.“1254 Das ist eine Einschätzung, die damals vorherrschend war und es heute leider noch immer ist. Literarisch wird durchaus tüchtiger Betrieb um ihren Autor gemacht. Hegelgesellschaften, Hegelkongresse, Hegelliteratur in Hülle und Fülle. Sonst aber? Schweigen im Walde. Wo es wichtig sein, gar: wo es praktisch werden könnte, wird er gemieden – von der Wirtschaft und von der Politik.1255 K. Vieweg beurteilt es so: Der „Vernunftstaat“ ist zwar dringendes Erfordernis, aber ihn einzurichten ist die „wohl ... schwierigste und riskanteste Herausforderung an die Menschheit überhaupt“, vergleichbar dem „Besteigen des Mount Everest ohne Seilschaft“.1256 Auch N. Luhmann sah es bereits Anfang der 80er-Jahre eher nüchtern: Die bürgerliche Gesellschaft verhalte sich ihren eigenen Prinzipien gemäß. Sie und ihre Mitglieder seien resistent gegenüber Ermahnungen, Belehrungen etc. Die Umwelt habe in ihr keinen Partner, sondern einen Gegner. Ihr Job sei es, sie auszubeuten. Zu den Stichworten „Bewusstseinsveränderung“, „neue Umweltethik“ 1253 Hegel, DS, S. 23. Das wirksamste Mittel, die Herrschaft der Vernunft zu verhindern, besteht aber noch immer darin, sie nicht etwa offen zu verachten oder sie gar zu verbieten, sondern darin, „dass die Beschränktheit sich der Meisterschaft über die Philosophie und der Freundschaft mit ihr rühmt“ (ebd., S. 24). 1254 K.Chr. Collmann: Rezension zu Hegels „Rechtsphilosophie“ (1828), in: M. Riedel (Hrsg.), Materialien 1, S. 158. 1255 Und sicher am wenigsten deshalb, weil „Sprache und Begriffe Hegels … heute schwer in die Köpfe“ dringen, wie D. Suhr (Die Konstituierung von Sittlichkeit. Ein verfassungstheoretisches und verfassungspolitisches Problem, HJ 1988, S. 54) meint. Eher wohl so: „Profit“, „Konsum“, „Spaß“ verriegeln und verrammeln die Zugänge zur Vernunft. 1256 K. Vieweg, a.a.O., S. 521.

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äußert er sich wie folgt: „Wir haben diese Forderung bereits verschiedentlich berührt – und nicht viel damit anfangen können. Unsere Untersuchungen haben in eine ganz andere Richtung geführt.“1257 Der „Vernunftstaat“ ist daher für ihn „Utopie“1258, ihn zu errichten so unwahrscheinlich, wie einem Wolf das Grasfressen schmackhaft zu machen. Die Liste der Skeptiker ist erweiterbar. Und Hegel selbst? 1816 ist er sich noch sicher, dass die Vernunft sich durchsetzen wird. An Niethammer schreibt er damals, dass das, „was an der Zeit ist, notwendig geschieht“1259, wenn auch die „Eule der Minerva ... erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ beginnt – wie er 1820 ergänzt. Aber der Hegel des Jahres 1831 sieht verbittert, dass er mit seiner „Vernunft“ und seinem „Vernunftstaat“ ziemlich alleine dasteht. Die Entwicklung hat sich ihnen nicht genähert, sondern sich von ihnen entfernt. Moralische Appelle? Wirtschaftsethik? „Rednerei“, die an der Situation wenig ändern wird.1260 Wir haben gesehen, dass sich Hegel vom Tage des Erscheinens seiner „Rechtsphilosophie“ bis heute mit einer Flut von Vorhalten und Einwänden fast zu jedem Punkt und zu jeder Frage konfrontiert sieht. Größtenteils Fehldeutungen. Sie kommen leider auch aus einem Lager, das eigentlich in Hegel einen Verbündeten sehen sollte: dem Lager der ökologischen Bewegung. „Naturfeind“, „Apologet der Industriegesellschaft“ sind nur einige der Stichworte, die ihm von dorther entgegenschlagen und als Beleg dafür dienen sollen, dass Hegel und seine Philosophie „der Ökologieproblematik grundsätzlich nicht gerecht werden kann“1261. Das ist vorschnell und unzutreffend geurteilt. Hegel sollte gerade von den Umweltaktivisten als Vordenker erkannt und genutzt werden. Ein Staat im Sinne Hegels? Wenn man es nüchtern betrachtet, wenn man die Fakten zusammenstellt und bewertet, kann die Antwort nur lauten: Wir haben längst auf ihn verzichtet, deutlicher: Wir haben uns längst gegen ihn entschieden. Wir wollen keinen Vernunftstaat. Die Schäden haben inzwischen solche Ausmaße angenommen, dass ihre Behebung oder auch nur Eindämmung nur über eine drastische Beschneidung der Rechte der „produzierten“ Natur und ihrer Mitglieder 1257 N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, a.a.O., S. 259. 1258 Ebd., S. 256. 1259 Brief vom 5. Juli 1816, zitiert bei M. Pawlik, a.a.O., S. 204. 1260 Vgl. § 135/A R. Sehr skeptisch dazu auch die praxisbezogenen Ausführungen von G. Lübbe-Wolff (Recht und Moral, a.a.O., z.B. S. 32). 1261 W. Schmied-Kowarzik: Sittlichkeit, gesellschaftliche Reproduktion und das Verhältnis zur Natur, HJ 1986, S. 199.

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erreicht werden könnte. Darauf sind wir bisher in keiner Weise eingerichtet. Und selbst wenn wir den Vernunftstaat wollten, müsste angesichts des Problemstaus, vor dem wir stehen, hinzugefügt werden: Es könnte bereits zu spät sein für ihn. Es ist nie zu spät? Wo ein Wille, da auch ein Weg? Was lässt Goethe seinen Faust sagen? „Die Botschaft hör ich wohl, allein, mir fehlt der Glaube.“ Angesichts der bisherigen Entwicklung kann man nicht pessimistisch genug sein. Wir stecken tief, sehr tief drin in der Sackgasse, in die wir uns selbst manövriert haben. Das Schlimmste aber ist: Wir sind süchtig nach bürgerlicher Gesellschaft. Je losgebundener diese ist, umso besser. Wir verhalten uns wie Junkies – immer auf der Jagd nach dem nächsten „Schuss“, auch wenn dafür der letzte Krümel echter Natur draufgehen sollte. Rechnet man das jetzige Tempo und Ausmaß des Artensterbens auch nur linear fort, ist der Zeitpunkt abzusehen, an dem sich der Mensch die Erde nur noch mit so hartgesottenen Arten wie Ratte, Zecke und Kakerlake teilt. Unsere Staatswesen sind „gesellschaftlich“ verfasst. Bekenntnisse zur Natur, selbst wenn sie Eingang in die Verfassung finden, bleiben Kosmetik. Beispiel: Artikel 20a GG, eingefügt im Jahre 1994. Sicher, ein schönes Bekenntnis. Aber es gibt wohl niemand, der behaupten würde, dass damit eine Gleichrangigkeit der beiden Naturen bezweckt ist und durchgesetzt werden könnte. Mehr als ein Anfang ist damit nicht gemacht. Die Regelung wirkt wie „a“, wie „angeklebt“. Und wie sollte es auch anders sein? Zentrales Anliegen des GG ist es, die Ausbeutung der „primären“ Natur zu legitimieren. Es ist geradezu musterhaft1262 die Verfassung für diesen Zweck. Die „richtige“ Natur ist nach dorthin „verbannt“, wo auch „Volk“ und der KonnexBegriff „Demokratie“ untergebracht sind: in den erkennbar nachrangigen, nicht justiziablen Teil der Verfassung.1263 Dass die Regelung sich nicht am „Eingemachten“ der bürgerlichen Gesellschaft vergreift, zeigt sich jedenfalls auch darin, dass es zu ihr – nach immerhin mehr als 20 Jahren Geltung – noch keine Rechtsprechung des BVerfG gibt. Dass die Bundesrepublik Deutschland trotz naturfeindlicher Verfassung über eine intaktere Natur verfügt als viele Staaten dieser Erde, hat mit ihrem Reichtum zu tun. Sie kann sich saubere Luft und sauberes Wasser leisten. Jedoch nur, weil wir „unsere“ Natur durch desto schamlosere Ausbeutung „fremder“ Natur vor 1262 Es ist daher durchaus richtig, das GG in den Rang „eines verfassungstheoretischen Idealtypus“ zu erheben, wie P. Unruh (Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz. Ein verfassungstheoretischer Vergleich, Berlin 2004, S. 21 f.) es tut. 1263 Weswegen Autoren wie Walter Leisner (Das Volk. Realer oder fiktiver Souverän?, Berlin 2005) und Friedrich Müller (Wer ist das Volk? Die Grundfrage der Demokratie – Elemente einer Verfassungstheorie VI, hrsg. v. R. Christensen, Berlin 1997) seit Jahren vergeblich fordern, „Volk“ endlich justiziabel zu machen.

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dem Schlimmsten bewahren können – Möglichkeiten, die der großen Schar „DritteWelt-“und „Vierte-Welt-Staaten“ durchweg fehlen. Eine ganz andere Qualität, ein ganz anderes Gewicht hätte eine solche Regelung, wäre der Natur Subjektivität eingeräumt, wäre ihr ein Treuhänder zur Seite gestellt, der das Recht hat, ihre „Leiblichkeit“ vor Eingriffen zu schützen, die über ihre Leistungsfähigkeit hinausgehen – auch durch Anrufung des BVerfG. Aber dazu hätte die Regelung dort eingereiht werden müssen, wo die Verfassung „justiziablen“ Schutz bietet: in den Grundrechtsteil. Das zentrale Hindernis bis heute ist die Vorstellung, die wir von uns haben. Wir denken zu positiv von uns. Wir halten uns für die Krone der Schöpfung, ja für den Schöpfer selbst. Dieses Bild stimmt nicht. Es ist zu schön, um wahr zu sein. Und um dieses geschönte Bild herum haben wir ein Weltbild geschaffen, das anthropozentrische, das diesen geschönten Menschen inmitten einer schönen heilen Welt zeigt. Aber entgegen allen schwülstigen Berufungen auf ihn: Wir haben den Menschen längst über Bord geworfen und ihn ersetzt durch den „Person“ genannten NaturKonsumenten. Die Glücksversprechen der bürgerlichen Gesellschaft haben uns korrumpiert. Sie haben uns die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, ohnehin die „höchste und schwerste“1264 Form der Erkenntnis, genommen. Wie es H. Marcuse, pro Marx und gegen Hegel gewendet, formuliert: „Die Idee der Vernunft ist durch die Idee des Glücks verdrängt worden.“1265 Dieses „Glück“ ist Ergebnis dessen, was für Hegel ein „schmerzerregendes Wegschneiden eines wesentlichen Teiles“1266 ist. Gemäß dem Motto: Je kränker das Ganze, umso gesünder der Teil, sind wir Meister darin geworden, den „Krankheitszustand“ zum „Gesundheitszustand“ zu erklären. Nun, freigemacht von allem Natürlichen, nach dieser Amputation, glaubt der zurückbleibende Rest-Mensch der eigentliche, der Mensch an sich zu sein. Aber: „Krankheit und der Anfang des Todes“ ist dort vorhanden, wo „ein Teil sich selbst organisiert und sich der Herrschaft des Ganzen entzieht“1267. Zweck unseres Daseins ist nicht die totale Enthaltsamkeit, die Abstinenz von allen Genüssen. Es geht nicht darum, die Unschuld des Naturzustandes zurückzugewinnen. Hegel weist daraufhin, dass diese „Unschuldsphantasien“ nur Reflex des von uns praktizierten Gegenteils sind und nur „die Unbekanntschaft mit der Natur des Geistes und dem Zwecke der Vernunft“1268 zeigt. Der „Vernunftzweck“ muss Maßstab werden. Dieser ist „weder jene natürliche Sitteneinfalt“ noch der bloße 1264 § 377 und § 377/Z E. 1265 H. Marcuse, a.a.O., S. 259. 1266 GuW, S. 300. 1267 NR, S. 517. 1268 § 187/A R.

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Ausblick

Genuss. Beide Extreme müssen durch echte Bildung „weggearbeitet“ werden. Dieser Übergang zu echter Freiheit fällt uns nicht in den Schoß, er ist Ergebnis „harter Arbeit“.1269 Davon sind wir weit entfernt. Skepsis ist angesagt. Angesichts des Problemstaus müsste die bürgerliche Gesellschaft so tiefgreifend umgestaltet werden, dass von ihrer heutigen Gestalt nicht mehr viel übrig bliebe. Der praktische Vollzug eines Staates hegelscher Art dürfte nicht nur einen drastischen Fall der Aktienkurse und der Profitraten nach sich ziehen, sondern jedem von uns ein Maßhalten abverlangen, auf das wir in keiner Weise eingestellt sind. Die Glücksverheißung der bürgerlichen Gesellschaft müsste, soweit sie auf Kosten der Natur geht, revidiert werden. Rigorose Umverteilungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft wären notwendig, um die Folgen zu kompensieren. Das würde am meisten jene treffen, die vom jetzigen Zustand am stärksten profitiert haben und heute den Ton angeben. Es ist schwer zu beweisen, aber zu vermuten ist es allemal, dass es jene Teile der Gesellschaft sind, die für jene Sprachlosigkeit der Theorie Sorge tragen, die sich bezüglich „Wirtschaft“ breitgemacht hat.1270 Und das obwohl noch nie in der Menschheitsgeschichte ein – objektiv gesehen – so großer Bedarf an kritischer Reflexion unseres „Wirtschaftens“ gegeben war. Je mehr wir uns dem Abgrund nähern, umso schweigsamer wird die Theorie, umso mehr wendet sie sich zweit- und drittrangigen Fragen zu. Daher steht Hegel allein. Und es sieht so aus, als bliebe er es. Rings um ihn wird mit dem empirischen Befund weitergearbeitet, mit dem Schein des ungeteilten Menschen, mit einer immer brüchiger werdenden Glücksverheißung. Und so geht er immer weiter: Der Raubbau an der richtigen Natur – bis zum bitteren Ende. Hegel sieht die Sache von vornherein nüchterner und (damit) wahrhafter. Der „Mensch“ ist vom Sockel gestoßen bzw. ist zum Schein geworden. Was von ihm übrig bleibt, ist – und das auch nur vom „Standpunkte der Bedürfnisse“: „das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt“. Es bleibt der auf seine biologischen Funktionen reduzierte Mensch; nur „vom Menschen in diesem Sinne“ ist jetzt noch die Rede.1271 Der Mensch als bewusstlos gemachte „Leiblichkeit“, als biologischer Träger der „Person“. Der Mensch als „Produzent“ und als „Konsument“. Beide stehen in einer Anti-Position zur Natur, damit zugleich aber auch in Anti-Position zum wirklichen Menschen. Dieser läuft immer mehr Gefahr, bloße „Leiblichkeit“ und insoweit inhaltlose Existenz zu sein. Er nähert sich mehr und mehr jenem Zombie, 1269 Ebd. „Diese Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens.“ 1270 Siehe dazu: S. Ellmers, a.a.O., S. 8. 1271 § 190/A R – Hervorhebung bei Hegel. Dieser verbleibende Mensch unterscheidet sich vom Tier nur durch die größere Vielfalt seiner Bedürfnisse (s. § 190 R).

Hegels sittlicher Staat, das ausgeschlagene Vermächtnis

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den wir aus Science-Fiction-Romanen und -Filmen kennen. Und nimmt man deren Botschaft ernst bzw. sieht darin antizipierte Zukunft, so scheint es so, als sei die „Person“ drauf und dran, sich von allem Biologischen an ihr zu verabschieden, als sei der Roboter der Mensch der Zukunft. Der Mensch ist Teil von Naturen, denen ein je unterschiedliches „Bauprinzip“ zugrundeliegt. Die eine verkörpert „Organismus“, die andere „Atomismus“. Auch wenn es ihm nicht gefällt oder er es nicht wahrhaben will: Als Teil der „primären“ Natur steht er den anderen Lebewesen gleich. Er ist dort Geschöpf unter Geschöpfen; er teilt ihr Schicksal. Soweit ihm die Fähigkeit zur Arbeit mitgegeben ist, berechtigt ihn das nicht, die Schöpfung zu zerstören. Nutzen, ja! Zerstören, nein! Beide Prinzipien, beide Existenzweisen müssen über das „Ganze“, müssen über die „Einheitsnatur“ unter einen Hut gebracht werden. Die Kehrseite ist eine erhöhte Verantwortung ihr und den Mit-Lebewesen gegenüber. Die Sonderstellung verpflichtet dazu, den Schaden so gering wie möglich zu halten, der der Natur und ihren Bewohnern entsteht, ja möglichst jeden Schaden zu vermeiden. Die Pflicht zur Natur – und sie meint Hegel, wenn in der „Rechtsphilosophie“ von der Pflicht die Rede ist – ist nicht die Pflicht einer „Obrigkeit“ gegenüber, sondern „Inhalt meiner Freiheit“1272. So gesehen findet das Subjekt in ihr „seine Befreiung“1273 von der „Schuld“, die es sich täglich auflädt durch die spezifisch menschliche Nutzung der Natur. Anhand dieser Grundsituation wird die Dimension sowie die praktische Bedeutung der Kritik deutlich, die Hegel an den „bisherigen Behandlungsarten“ des Naturrechts übt. Da die bisherigen sich mit den heutigen Behandlungsarten, bedeutsamer noch: mit der heutigen Praxis, weitgehend decken, wird daraus die Aktualität seiner Kritik sichtbar. Der Staat hat nicht nur den Bestand der Art „Mensch“ zu sichern, sondern er hat jedem Artensterben entgegenzutreten, soweit der Mensch dessen Ursache ist. So gesehen weist das Ausmaß des in unserer Gegenwart zu beobachtenden Artensterbens also auf ein gewaltiges Defizit an „Staat“ hin. Ich schließe die Arbeit wie ich sie begonnen habe: mit „System und Methode“. Das „System“, das war der Ausgangspunkt, ist so wichtig wie die Methode. Verwerfe ich es, wird das Band zerrissen, das beide Naturen zusammenhält; das Band aus „Vernunft“, das an die Stelle der früheren „Blut-und-Boden-Bindung“ zu treten hat. Aus Letzterer sind wir herausgewachsen; wir sind „volljährig“ geworden. Aber die „Vernunftbindung“ haben wir bislang ausgeschlagen. Wir sind bindungslos geworden. Wir sind geworden, wie die „produzierte“ Natur es von uns verlangt. 1272 § 155/A R. 1273 § 149/A R (S. 153).

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Ausblick

Der Abschied vom „System“ setzt, wenn man es physikalisch betrachtet, Energien frei wie bei einer Kernspaltung. Alle Zügel sind abgeworfen, alle Sicherungen entfernt, die bisher die „produzierte“ Natur im Zaum hielten. Technischer Fortschritt ohne Rücksicht auf Verluste. Naturverbrauch ohne Limitierung. Wachstum um jeden Preis. Aber die Uhr tickt. Der Countdown ist eingeleitet. Schon sitzt der „Weltgeist“ über uns zu Gericht. „Uns bleiben 100 Jahre“, titelte C. Jacobi 1987. Dreißig davon sind inzwischen verstrichen, ohne dass ein einziges Problem gelöst worden wäre.

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G Gans, Eduard 72, 74, 133, 137, 139, 179, 204, 264, 268, 307, 331 Gierke, Otto von 19, 143, 212, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 243, 245, 246, 247, 248, 249 Goethe, Johann Wolfgang von 340

C Carové, Friedrich Wilhelm 321 Chanavat, Ghislaine 274 Cicero, M. Tullius C. 186 Collmann, K.Chr. 338 Comte, Auguste 35 Cornu, Auguste 95 D Descartes, René 18, 123, 174 Dilthey, Wilhelm 26 Dulckeit, Gerhard 29, 50, 147, 156 E Engels, Friedrich 29, 39, 46, 48, 54, 55, 56, 58, 61, 70, 127, 131, 178, 180, 203, 204, 214, 227, 266, 270, 289, 298, 299, 300, 303, 308, 311 F Feuerbach, Ludwig 70, 82, 84, 85, 86, 91, 93, 114, 314, 322 Fichte, Johann Gottlieb 21, 23, 25, 33, 34,

H Habermas, Jürgen 53 Haller, Karl Ludwig von 58, 322 Haney, Gerhard 305 Hartmann, Nicolai 65 Haym, Rudolf 264, 311, 320 Heller, Hermann 311 Herbart, Johann Friedrich 105 Heß, Moses 97 Heuer, Uwe-Jens 215, 291 Hobbes, Thomas 40, 123, 262, 273, 274, 275, 292 Hočevar, Rolf K. 209 Hösle, Vittorio 143, 322, 329 Hugo, Gustav von 192, 196, 200 Humboldt, Wilhelm von 241 Huxley, Aldous 337 I Immler, Hans 130 Irrlitz, Gerd 264, 323 J Jacobi, Claus 344 Jaeschke, Walter 26, 174, 326

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Personenregister

K Kant, Immanuel 20, 21, 25, 26, 40, 46, 49, 51, 66, 72, 76, 78, 112, 118, 119, 120, 121, 122, 137, 150, 151, 171, 174, 189, 190, 210, 248, 312, 330, 331 Kautsky, Karl 292, 293, 294 Kelsen, Hans 277 Kerenski, Alexander Fjodorowitsch 292 Kersting, Wolfgang 241, 243 Keynes, John Maynard 245, 284 Kiesewetter, Hubert 286 Klenner, Hermann 305 Kobusch, Theo 75, 123 Koselleck, Reinhart 208, 211, 212, 215, 216 Kraus, Johannes B, 243 L Landau, Peter 202 Larenz, Karl 167, 272, 297 Lassalle, Ferdinand 217 Lefèvre, Wolfgang 255 Lenin, Wladimir Iljitsch 98, 272, 283, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294 Litt, Theodor 33, 64, 166, 307, 328, 329 Locke, John 137, 262, 273 Lübbe-Wolff, Gertrude 79, 325, 326 Luhmann, Niklas 153 Lukacs, Georg 96 M Mamut, Leonid S. 305 Marck, Siegfried 234 Marcuse, Herbert 341 Marx, Karl 26, 29, 30, 39, 41, 46, 48, 54, 55, 56, 58, 66, 67, 70, 71, 114, 115, 118, 126, 130, 131, 132, 134, 140, 143, 148, 149, 172, 186, 195, 203, 204, 210, 214, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 238, 243, 246, 248, 249, 254, 256, 257, 258, 261, 264, 265, 266, 269, 270, 272, 277, 284, 287, 289, 290, 298, 299, 300, 303, 305, 308, 310, 311, 314, 319, 341

Meyer-Abich, Klaus Michael 32 Montesquieu, Charles de Secondat 162, 165, 325 O Oiserman, Teodor Iljitsch 94 Ottmann, Henning 172, 329 P Paschukanis, Eugen 298, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 306 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 192 Pauly, Walter 257 Pawlik, Michael 323, 331 Platon 61, 62, 190 Pöggeler, Otto 51, 68, 183, 320 Polak, Karl 305 Popper, Karl 311 Prantl, Carl von 265 Puchta, Georg Friedrich 133 Q Quante, Michael 22, 36 R Ricardo, David 97, 130, 131, 190, 261 Riedel, Manfred 329 Ritter, Joachim 96, 144, 182, 186, 200, 202 Rodbertus, Karl 97, 98 Rohrmoser, Günter 31 Rosenkranz, Karl 48, 49, 52, 76, 200, 263, 271, 308 Rosenstock, Eugen 118, 122, 123, 235, 236 Rosenzweig, Franz 141, 206, 240, 264, 266, 318 Rousseau, Jean-Jacques 58, 78 Roux, Louis 274 S Savigny, Friedrich Carl von 133, 138, 142, 143, 144, 147, 162, 168, 177, 178, 188, 189, 190, 216, 219, 220, 227, 228, 229, 232, 235, 236, 246, 248, 249, 324

Personenregister

Scheidler, Karl Hermann 265 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 21, 22, 32, 34, 39, 48, 49, 51, 60, 70, 86, 88, 92, 112, 114, 115, 127, 128, 144, 151, 160, 163, 172, 190 Schild, Wolfgang 107, 170 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 190 Schmitt, Carl 270, 279, 283, 285, 286, 287, 292, 293, 295 Schmoller, Gustav von 247 Schnädelbach, Herbert 149 Siep, Ludwig 259, 320 Smith, Adam 67, 95, 190, 224, 250, 254, 261 Spindler, Helga 231 Spinoza, Baruch 251 Stalin, Josef Wissarionowitsch 286, 299, 301, 302, 303 Stewart (Steuart), Sir James 190 Suhr, Dieter 320 Svarez, Carl Gottlieb 198, 208, 216, 217, 219 T Taylor, Jeremy 154 Theunissen, Michael 107, 108 Thieme, Hans 213, 215 Tocqueville, Alexis de 215, 218 Tönnies, Ferdinand 308 Topitsch, Ernst 89 Trotzki, Leo 301, 303 U Ulbricht, Walter 305 V Vieweg, Klaus 128, 338 Villey, Michel 193, 201 Vollrath, Ernst 272 W Wagner, Adolph 247 Weber, Marianne 152 Weber, Max 288, 294 Wolff, Christian 202

Wolff, Michael 252 Wyschinski, Andrei J. 299, 303, 305 Z Zizek, Slavoj 289 Zunke, Christine 39

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