Spätantike: Studien zur römischen und lateinisch-christlichen Literatur 9783666252709, 3525252706, 9783525252703

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Spätantike: Studien zur römischen und lateinisch-christlichen Literatur
 9783666252709, 3525252706, 9783525252703

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Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Supplement-Reihe Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 3

Vandenhoeck & Ruprecht

Reinhart Herzog

Spätantike Studien zur römischen und lateinisch-christlichen Literatur Mit einem Beitrag von Manfred Fuhrmann Herausgegeben von

Peter Habermehl Mit zwei Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Spätantike : Studien zur römischen und lateinischchristlichen Literatur / Reinhart Herzog. Mit einem Beitr. von Manfred Fuhrmann. Hrsg. von Peter Habermehl. – Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2002 (Hypomnemata : Supplement-Reihe ; Bd. 3) ISBN 3-525-25270-6

© 2002, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen Internet: http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Hubert & Co., Göttingen Einbandkonzeption: Markus Eidt, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Statt eines Vorworts ....................................

VII

Reinhart Herzog. Biographische Notizen und Hinweise zu den in diesem Bande vereinigten Aufsätzen Von Manfred Fuhrmann .................................

XI

Bibliographie Reinhart Herzog ............................ XXIII

Zur römischen Literatur Augusteische Erfüllung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Eine Retraktation der politischen Lyrik des Horaz ..........

1

Aeneas' episches Vergessen. Zur Poetik der memoria . . . . . . . . . . .

27

Fest, Terror und Tod in Petrons Satyrica ....................

75

Zur lateinisch-christlichen Literatur Metapher - Exegese - Mythos. Interpretationen zur Entstehung eines biblischen Mythos in der Literatur der Spät antike .. . . . . .

115

Exegese - Erbauung - delectatio. Beiträge zu einer christlichen Poetik der Spät antike

155

Rom und Altes Testament. Ein Problem in der Dichtung des Prudentius

179

Probleme der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität am Beispiel des Paulinus von Nola .......................

203

Non in sua voce. Augustins Gespräch mit Gott in den Confessiones - Voraussetzungen und Folgen

235

v

Partikulare Prädestination. Anfang und Ende einer Ich-Figuration Thesen zu den Folgen eines augustinischen Theologoumenon

287

Orosius oder Die Formulierung eines Fortschrittskonzepts aus der Erfahrung des Niedergangs .......................

293

»Wir leben in der Spätantike«. Eine Zeiterfahrung und ihre Impulse für die Forschung. . . . . . .

321

Vom Aufhören. Darstellungsformen menschlicher Dauer im Ende

349

Register ..............................................

407

VI

Statt eines Vorworts Es war der besondere Ton, der mich von Anfang einnahm, wann immer ich eine Arbeit Herzogs aufschlug. Die Faszination seiner Lektüren (im doppelten Sinne) begleitete mich vom Studium an; sie hat bis heute nichts von ihrer Wirkung verloren. Persönlich bin ich Reinhart Herzog nie begegnet, doch sein Name war stets eine feste Größe in meiner »Gelehrtenrepublik«. Seit 1995 die Nachricht von seinem Tod bekannt wurde, ging mir der Gedanke an eine Sammlung seiner >Kleinen Schriften< nicht mehr aus dem Kopf; Ende der Neunziger Jahre nahmen die Pläne konkrete Gestalt an. Daß Herzog im Grunde bis heute ein >Geheimtip< geblieben ist, l liegt nicht nur an der Wahl seiner Themen, die er eher am Wegesrand als auf den ausgetretenen Pfaden fand; es liegt nicht nur an den untypischen Publikationsorten, für die er sich entschieden hat (nicht ein einziger seiner Aufsätze ist in einer der >klassischen< Zeitschriften erschienen). Sein abstrakter Stil, seine hoch verdichtete, stets theoretisch fundierte Argumentation - ein beredtes Zeugnis vom >Goldenen Zeitalter< der Konstanzer »Literaturwissenschaft« - sperren sich der flüchtigen Lektüre und lassen nur selten auf den ersten Blick ahnen, welche Einsichten sich unter der spröden Schale verbergen. Wenn diese Sammlung ihr Teil dazu beiträgt, das CEuvre Herzogs ein wenig bekannter zu machen, sehen sich die Hoffnungen des Herausgebers mehr als belohnt. Um einen verträglichen Umfang des Bandes zu gewährleisten, stand von vornherein fest, daß er nur eine Auswahl der Aufsätze Herzogs enthalten könne. Es war keine leichte, aber eine - wie ich denke - vertretbare Entscheidung, den Schwerpunkt auf Herzogs großes Thema zu setzen: die christliche Spätantike. Auf solche Weise war es möglich, alle relevanten Texte aus diesem Bereich (ausgenommen die eher lexikalischen Artikel im gut zugänglichen »Handbuch der lateinischen Literatur der Antike«) 1 Um es an einem Beispiel festzuhalten: Sein Aufsatz zu den Satyrica (in diesem Band: S. 75ff.) ist in der internationalen Petronliteratur bis heute schlechterdings nicht rezipiert worden; deutschsprachige Arbeiten zitieren ihn ganz vereinzelt.

VII

zu veremen und dem Band eine willkommene thematische Geschlossenheit zu verleihen. Dankenswerter Weise gewährte der Verlag genug Raum, um der spätantiken >Basilika< noch eine kleine >Aula< voranzustellen, nämlich die drei Essays zu den römischen Klassikern Horaz, Vergil und Petron. Damit finden sich in diesem Band - in einer an die antike Chronologie angelehnten Abfolge - alle maßgeblichen Aufsätze Herzogs zur lateinischsprachigen Antike versammelt. 2 Verzichtet habe ich ausnahmslos und schweren Herzens auf seine Untersuchungen zur griechischen Literatur, auf seine überwiegend theoretischen Arbeiten, sowie auf Herzogs Studien zur >Antikerezeption< im weitesten Sinne, die einen Bogen schlagen von der Poetik der Frührenaissance bis zu den Antike-»Identifizierungen« eines Arno Schmidt. Eine photomechanische Wiedergabe der Aufsätze verbot sich schon aus ästhetischen Gründen (zur Orientierung sind die Seitenzahlen der Erstpublikation dem Text in eckigen Klammern beigefügt). Die Präsentation in einheitlichem Gewand erlaubte es, Formalien wie die Zitierweise weitgehend (wenn auch nicht mit letzter Konsequenz) zu systematisieren. Druckfehler und Versehen der Vorlagen wurden bei dieser Gelegenheit stillschweigend korrigiert, >herrenlose< Zitate nach Möglichkeit lokalisiert. 3 Nach dem Vorbild neuerer Arbeiten wurden den griechischen Zitaten Übersetzungen beigefügt; einige längere Zitate, bei denen es allein auf die inhaltliche Aussage ankommt, sind ganz durch eine Eindeutschung ersetzt. Das Register am Ende des Bandes ist bewußt knapp gehalten. Es soll rasche Orientierung bieten vor allem zu Personen und Textpassagen; die Lektüre des Bandes kann und will es nicht ersetzen. 2 Von Herzogs Konstanzer Antrittsvorlesung zu Ovid - >Narziß und Echo. Zur Ästhetik der Illusion< (29. Juni 1992) - existiert ein umfangreiches Arbeitsmanuskript, das sich mit dem vor allem im letzten Drittel frei gehaltenen Vortrag freilich nur bedingt deckt. Die geplante Veröffentlichung in den »Konstanzer Universitätsreden« scheiterte an der Einstellung dieser Reihe in eben jenem Jahr; daraufhin sah Herzog von einer Ausarbeitung seines Textes ab. Da der mündliche Vortrag m.W. weder auf Tonband noch in Mitschriften hinreichend dokumentiert ist, und Herzog eine Publikation des Arbeitsmanuskripts untersagt hat - ein Votum, an das die Familie sich gebunden fühlt -, war es leider nicht möglich, diese exemplarische Klassikerlektüre der wissenschaftlichen Öffentlichkeit im vorliegenden Band endlich zugänglich zu machen. 3 Ein offenkundiger Textausfall in Herzogs letztem Aufsatz (unten S. 370) wurde in spitzen Klammern ergänzt. VIII

Die Vorbereitung dieses Bandes wäre kaum möglich gewesen ohne die Unterstützung, die mir von vielerlei Seite zuteil geworden ist. Die Familie Reinhart Herzogs hat den Plänen zu einer solchen Aufsatzsammlung ohne Vorbehalte ihre Zustimmung erteilt. Die Verlage und Institutionen, bei denen die abgedruckten Aufsätze zuerst erschienen - C. C. Buchners (Bamberg), Klett-Cotta (Stuttgart), J. B. Metzler (Stuttgart und Weimar), die Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Darmstadt) und insbesondere Wilhelm Fink (München), des weiteren die Fondation Hardt (Vandreuvres-Geneve), die Fritz ThyssenStiftung (Köln) und das Institut d'Etudes Augustiniennes (Paris) -, haben ausnahmslos und aufs Freundlichste den Wiederabdruck der Arbeiten genehmigt. Vandenhoeck & Ruprecht hat das Projekt - auch dank der engagierten Fürsprache von Siegmar Döpp - rasch entschlossen unter seine bewährten Fittiche genommen. Für die Geduld, mit der man in Göttingen auf das Manuskript wartete, weiß ich mich insbesondere Ulrike Blech verpflichtet. Bei der Eingabe der Texte leistete Arnd Rattmann tatkräftige Hilfe. Bei der Suche nach kryptischen Zitaten gaben Rene Braun, Josef Ernst und Heinz Gerd Ingenkamp entscheidende Fingerzeige. Die beiden ehemaligen Konstanzer collegae von Reinhart Herzog, Manfred Fuhrmann und Peter Lebrecht Schmidt, standen mir ebenso entgegenkommend mit Rat zur Seite wie Karl-Heinz Schulz, der frühere Sekretär Herzogs in Bielefeld und am Bodensee. Daß Manfred Fuhrmann, einst Lehrer und Mentor Reinhart Herzogs, sich zudem bereit erklärte, diese Publikation mit einigen persönlichen Worten einzuleiten, ist mir eine besondere Freude. Die Drucklegung des Bandes schließlich haben frühere Kollegen, Weggefährten und Freunde Reinhart Herzogs ermöglicht. Dafür möchte ich mich auch an dieser Stelle herzlich bedanken bei Martin Klöckener, Odo Marquard, Alfred Schindler, Wolf-Dieter Stempel, Antonie Wlosok, dem Research Fund der Faculty of Arts and Humanities, University College London (vermittelt von Gerard O'Daly), und jenen Spendern, die ungenannt bleiben wollten. Ihnen allen gilt mein aufrichtiger Dank. Berlin, im März 2002

Peter Habermehl

IX

Reinhart Herzog Biographische Notizen und Hinweise zu den in diesem Bande vereinigten Aufsätzen

Von Man/red Fuhrmann

I

,f

Reinhart Herzog kam am 12. Juli 1941 in Landsberg an der Warthe zur Welt. Die Familie wurde gegen Ende des Krieges ins nördliche Niedersachsen verschlagen; der Vater unterrichtete am Gymnasium des kleinen Marktfleckens Hagen im Bremischen. Der Heranwachsende absolvierte einen erheblichen Teil seiner Schulzeit in den trutzigen Backsteinmauern des Gymnasiums zu Verden (Aller); er lebte dort mitsamt seinem älteren Bruder in Pension. Das Abitur fand indes im Frühjahr 1959 in Bremerhaven statt. Herzog wuchs in einem kargen mittelständisch-akademischen Milieu der Nachkriegszeit auf. Darüber hinaus scheinen ihn Elternhaus und Schule nicht augenfällig geprägt zu haben, weder in politischer noch in religiöser Hinsicht. Doch darüber Bestimmtes auszusagen, ist auch für ihm Nahestehende nicht leicht. Die herbe, schwermütige Landschaft, in der er aufwuchs, hat ihn an Einsamkeit und Verschwiegenheit gewöhnt. Im Herbst 1959 begann er in Kiel zu studieren. Er beschäftigte sich mit Philosophie und Geschichte, daneben mit Romanistik und Latinistik, zunächst noch ohne festes Ziel; er wußte nicht, wo er geistig vor Anker gehen würde, und als Beruf schwebte ihm vage der diplomatische Dienst vor. Ein Seminar über die Psychomachie des Prudentius, das im Wintersemester 1962/63 stattfand, hat ihn offenbar tief beeindruckt. Die allegorische Dichtung, die inkonsistente Bildebene und die ebenso mannigfaltige Sinnebene mit ihren einander durchdringenden und sich ablösenden " Gekürzte Fassung des Nachrufs, den der Gnomon im Jahre 1996 auf den Seiten 472-476 veröffentlicht hat.

XI

Bedeutungssphären übten eine starke Faszination auf ihn aus. So ging aus seinem Referat in jenem Seminar seine Dissertation hervor, »Die allegorische Dichtkunst des Prudentius« (München 1966), und der Erfolg die Promotion wurde im Juli 1964 mit dem Prädikat summa cum laude abgeschlossen - ermutigte ihn, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Die Begegnung mit Prudentius und überhaupt mit der altchristlichen Literatur hat keine emotionale Wende bewirkt, jedenfalls nicht in erkennbarer Weise. Die Psychomachie war für Herzog ein intellektuelles Erlebnis; sie weckte seine spezifische Begabung, seinen Spürsinn für verborgene Zusammenhänge, seine Fähigkeit, zu kombinieren und ganze Netze von Beziehungen bloßzulegen. Er las sich in kurzer Zeit tief in die Bibel und deren spät antike Exegese hinein; er vermochte die leisesten Anspielungen auf Schriftworte ausfindig zu machen und blieb doch in Distanz zu den Inhalten. Die Faszination, welche von dem allegorischen Beziehungsdenken der christlichen Spät antike auf ihn ausging, war und blieb im wesentlichen von formaler Art: das Zwischenreich von Bildlichkeit und Abstraktion, das ihm hier begegnete, setzte, wie seine späteren Schriften zeigen, frei, was er in verknüpfendem Denken zu leisten imstande war. Die Dissertation befaßt sich vornehmlich mit drei Werken des Prudentius: mit den Gedichtsammlungen Peristephanon und Cathemerinon sowie mit dem allegorischen Epos Psychomachie. Sie sucht die scheinbar disparate Vielfalt dieser Dichtungen als in sich stimmiges, einheitliches Gefüge zu erweisen. Das diese Einheit stiftende Moment ist nach Herzog die christliche Heilslehre; das Vehikel wiederum, das die Fülle der Bilder und Sinnbilder auf diese Einheit hin deutbar macht, ist die christliche, die der patristischen Bibelexegese entstammende Allegorese. Herzogs Arbeit fand nicht nur hierzulande, sondern auch in Frankreich anerkennende Resonanz; die Kritik monierte zwar, daß die pagane Tradition zu kurz gekommen sei, machte sich jedoch die Hauptthese des Autors zu eigen und lobte vor allem die differenzierende Betrachtung der allegorischen Technik in den Märtyrerhymnen und in der Sammlung Cathemerinon. Der Dreiundzwanzigjährige setzte seine Studien noch eine Zeitlang fort, hauptsächlich in den Rechtswissenschaften, zunächst in Kiel, dann an der Sorbonne. Im Herbst 1966 wurde ihm an der soeben gegründeten Universität Konstanz eine Assistentenstelle angeboten. Er akzeptierte und bekam ein Jahr Urlaub, sich in München, vor allem bei Bischoff, in die Mittellateinische Literatur und in die Handschriftenkunde einzuarbeiten. Es folgten jene idyllischen Jahre an der jungen Universität Konstanz, da das eigentliche Gebäude erst im Entstehen begriffen war und die XII

Lehre in pavillonartigen künftigen Studentenhäusern, je eines für jedes Fach, stattfand. Herzog beteiligte sich mit Energie an dem damals besonders experimentierfreudigen, nicht selten interdisziplinären Seminarbetrieb, verlor jedoch darüber die Habilitationsschrift nicht aus den Augen, für die er sich die Bibelepik als ein von der Forschung in ungewöhnlichem Maße vernachlässigtes Kapitel der spätlateinischen Literatur vornahm. Im Herbst 1971 war diese Arbeit im wesentlichen zu dem Stadium gediehen, in dem sie bald darauf an die Öffentlichkeit gelangt ist und das - entgegen der Ankündigung - keine Fortsetzung mehr fand: »Die Bibelepik der lateinischen Spätantike. Formgeschichte einer erbaulichen Gattung. Band 1« (München 1975). Die Schrift über die Bibelepik hat wie die Dissertation das Ziel, einer einst, bis zum Barock, bedeutenden, dann aber im Schatten klassizistisch-humanistischer Dogmen mißachteten und mißdeuteten Dichtungsart zu besserem Verständnis zu verhelfen. Der Untertitel gibt Hinweise auf das Programm: die Ausdrücke >Formgeschichte< und >erbaulich< deuten einerseits auf die theologischen Vorbilder der Untersuchung, andererseits auf die religiösen Antriebe, die den untersuchten Gegenstand hervorbrachten. Herzog hat mit diesem Buch ein Musterbeispiel angewandter Rezeptionstheorie geschaffen. Statt mit vorgegebenen ästhetischen Normen an die Paraphrasen biblischer Stoffe heranzutreten, sucht er deren Beschaffenheit aus den jeweiligen Bedürfnissen und Wünschen des Publikums abzuleiten. Eine lange Einführung überblickt das Ganze der spätlateinischen Bibelepik von Juvencus bis Dracontius, vom 4. bis zum 6. Jahrhundert; hier sind mit Umsicht und Scharfsinn die äußeren Indizien für die Rezeptionsgeschichte zusammengestellt: Literaturkataloge, Selbstaussagen der Dichter sowie vor allem die Befunde der handschriftlichen Überlieferung lassen erkennen, nach welchen Kriterien sich die Gattung konstituierte und ein Kanon maßgeblicher Werke entstand. Die eigentliche Darstellung widmet sich so dann den Bibeldichtungen selbst, mit dem Ziel, die dort vorausgesetzten Lesererwartungen zu ermitteln. Herzog zeigt, daß die Epen teils stoffliche, teils formale, ästhetische Bedürfnisse zu befriedigen suchten: dem Publikum sollte einerseits zu einem leichteren Verständnis von Bibeltext und dessen Exegese, andererseits aber auch zur Erbauung, zur Andacht und in späterer Zeit noch zum Genuß einer effektvollen Präsentation verholfen werden. Diese Darlegungen beschränken sich allerdings im wesentlichen auf die Anfänge der Gattungsgeschichte, auf den Cento der Proba und auf die Paraphrasen des Juvencus und des Heptateuchdichters.

XIII

Die Arbeit über die Bibelepik erzielte breiten, fast ausnahmslos zustimmenden Widerhall. Unmittelbar nach der Habilitation wurde dem gerade Dreißigjährigen an der Universität Bielefeld ein neu eingerichteter Lehrstuhl für Latinistik anvertraut; dort hat er nahezu zwei Jahrzehnte, bis zu seiner Berufung nach Konstanz im Herbst 1990, gewirkt. Nach der »Bibel epik« hat Herzog keine Monographie mehr veröffentlicht. Die ihm gemäße Darstellungsform war offensichtlich der breit angelegte Problemaufsatz; die Zahl der von ihm in dichter Folge verfaßten Studien dieser Art beläuft sich auf etwa zwei Dutzend. Der Problemaufsatz erlaubte Flexibilität und häufigen Wechsel der Gegenstandsbereiche: zu Herzogs besonderen Fähigkeiten zählte auch die Gabe, in kurzer Zeit auf neuem Terrain einen eigenen Standort zu gewinnen, und so wurde die Vielfalt der Themen, die Verschiedenheit der jeweils befragten Quellen und der jeweils benutzten wissenschaftlichen Literatur zu einem auffälligen Merkmal seiner Produktion. Die rastlose Expansion war offensichtlich von einem staunenswerten Lektürepensum begleitet: der in chronologischer Folge von Aufsatz zu Aufsatz fortschreitende Leser trifft immer wieder auf gänzlich neue Corpora von Primär- und Sekundärtexten, von teils naheliegenden, teils unerwartbaren Zitaten und Hinweisen. Vielseitigkeit und die Fähigkeit, in überaus verschiedenen Bereichen der geistigen Überlieferung Quartier zu nehmen, qualifizieren für interdisziplinäre Vorhaben. Es ist daher nicht verwunderlich, daß ein gut Teil der Abhandlungen Herzogs durch fächerübergreifende Kolloquien und ähnliche thematisch gebundene Veranstaltungen angeregt wurde. Eine beherrschende Rolle hat hierbei die Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik« gespielt. Diese Vereinigung von Geistesgelehrten (mit wechselndem Personal um einen festen Kern) hat im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts insgesamt sechzehn Kolloquien durchgeführt, die jeweils ein Generalthema aus der Sicht verschiedener Epochen und Disziplinen zu erfassen suchten; aus jedem Kolloquium ging ein umfänglicher Band mit Abhandlungen hervor. Vor allem in den achtziger Jahren hat sich Herzog nahezu regelmäßig an den Tagungen der Gruppe beteiligt. Bei zwei Bänden wirkte er als Herausgeber mit (bei Band 12: »Epochenschwelle und Epochenbewußtsein«, München 1987, mit Reinhart Koselleck, und bei Band 15: »Memoria. Vergessen und Erinnern«, München 1993, neben Anselm Haverkamp und Renate Lachmann), und für insgesamt sechs Bände hat er Beiträge verfaßt. Die Hälfte der Untersuchungen, die hier gebündelt präsentiert werden, ist im Zusammenhang mit Projekten von »Poetik und Hermeneutik« entstanden: Der zweite XIV

und dritte Aufsatz, »Aeneas' episches Vergessen« (1993) und »Fest, Terror und Tod in Petrons Satyrica« (1989), sowie das 4., 8., 9. und 12. Stück entstammen den Arbeitsberichten der genannten Gruppe. Im letzten Dezennium seines Lebens hat Herzog viel Zeit und Mühe auf ein Großunternehmen gewandt: auf eine zeitgemäße Erneuerung der römischen Literaturgeschichte von Schanz-Hosius-Krüger. Beabsichtigt ist ein achtbändiges Kompendium, dessen Gesamtherausgeberschaft Herzog und Peter Lebrecht Schmidt übernommen hatten. Die ersten vier Bände sollen die römische Literatur (von den Anfängen bis zur Mitte des 3. Jh. n.Chr.) behandeln; die Bände 5-8 sind der lateinischen Literatur der Spätantike vorbehalten. Die zweite Werkhälfte ist als Produkt französisch-deutscher Zusammenarbeit konzipiert: Gelehrte aus beiden Ländern wirken als Autoren mit, und die fertigen Bände sollen in beiden Sprachen veröffentlicht werden. Herzog war die Haupttriebkraft des Unternehmens; zum al ihm oblag die nicht leichte Aufgabe, Bandherausgeber und Autoren zu gewinnen, und seiner Geduld, seinem Verhandlungsgeschick gelang es, mancherlei innere und äußere Widerstände zu überwinden. Im Jahr 1989 erschien als erste Probe Band 5, mit den Anfängen der spätantiken Literatur: »Restauration und Erneuerung. 284-374 n.Chr.«, von Herzog selbst herausgegeben und mit einer weit ausholenden Einführung versehen. Der Band wurde von der Kritik alsbald mit großem Beifall aufgenommen: als ein Arbeitsinstrument, das in jeder Hinsicht würdig sei, die Stelle des veralteten Vorgängers einzunehmen. Im Jahre 1997 folgte Band 4: »Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur. 117284 n.Chr.«; die Herstellung weiterer Bände ist inzwischen weit gediehen. Im Frühjahr 1994 ist Herzog freiwillig aus dem Leben geschieden. Nichts hatte das Ereignis angekündigt. Bis zuletzt zeigte sich Herzog ausgeglichen und gelassen; auch wer ihn sehr gut kannte, ahnte nichts von der Krise, die ihn heimgesucht haben muß, und von der Absicht, mit der er sich schließlich trug. Der vorzeitige Tod des Zweiundfünfzigjährigen ist auch jetzt noch für alle, die ihm nahe standen, ein schwer faßbares Ereignis - hieran hat auch die Distanz von sieben Jahren wenig geändert. Der Universität Konstanz und der Wissenschaft hat er durch den Vollzug, der ihn mitten aus einer Fülle von Aufgaben und Plänen riß, einen schweren Verlust zugefügt. Seinem Werk haftet, gerade weil es in weite Zeiträume ausgreift und mannigfachen Quellgründen geistiger Zusammenhänge nachgeht, etwas U nabgeschlossenes an: zu einer die Vielfalt bändigenden Selbstreflexion, zu Versuchen, den eigenen, offensichtlich

xv

außerhalb von überlieferten Größen wie Kirche oder Humanismus liegenden Standort zu bestimmen, ist es nicht gekommen. Am ehesten könnte man wohl seine Haltung als szientistisch bezeichnen, als eine moderner Wissenschaftlichkeit verpflichtete, zu Distanz und Abstraktion neigende Einstellung. Der Forschung hat er vielfältige Impulse gegeben, vor allem auf dem Gebiet der Spätantike, die bei aller Zurückhaltung doch so etwas wie seine geistige Heimat gewesen ist - eine Gegebenheit, die auch für das Verständnis der vorliegenden Sammlung von Bedeutung ist: die Auswahl, die etwa die Hälfte der von Herzog hinterlassenen Aufsätze enthält, besteht im wesentlichen aus seinen Untersuchungen zur christlichen Spätantike. . Dem Herausgeber der Sammlung gebührt nicht geringer Dank dafür, daß er die Mühe und das Wagnis auf sich genommen hat, diesen herausragenden Teil von Herzogs Aufsätzen für einen breiteren Leserkreis zu erschließen. Es bleibt zu hoffen, daß den bisweilen schwierigen, zugleich aber stets bedeutsamen Arbeiten hierdurch zu stärkerer Resonanz verholfen wird. Die folgende Wegweisung zu den in diesem Bande vereinigten Schriften möge ihr Teil dazu beitragen.

TI 1. Die beiden ersten Aufsätze handeln von Zeitstrukturen bei Horaz und Vergil; es geht dort einerseits um bestimmte Verwendungsweisen der grammatischen Tempora, andererseits um die zwiefache memoria des Titelhelden in der Aeneis. Die Horaz-Studie, »Augusteische Erfüllung zwischen Vergangenheit und Zukunft«, benutzt die Schwierigkeiten der Regulus-Ode (III 5) als Beispiel für ein wiederkehrendes temporales Schema der politischen Gedichte: Das Präsens wird ausgespart; Futura und Präterita beherrschen den Text. Horaz hat dieses Schema schrittweise entwickelt: Die Oden III 5 und III 6 zeigen die reife Form. Dort stehen einer positiven Zukunft zwei Schichten der Vergangenheit gegenüber: eine jüngst vergangene schlechte und eine weiter zurückliegende gute Phase. Herzog hat mit dieser Entdeckung einen wichtigen Beitrag zur politischen Einstellung des Dichters geleistet. Das ausgesparte Präsens läßt auf Zurückhaltung hinsichtlich der Gegenwart schließen. Im übrigen aber deutet sich ein Drei-Phasen-Schema der römischen Geschichte an: Auf die heile frühere XVI

Zeit folgte eine Epoche des Unheils (der Bürgerkriege, des Sittenverfalls); doch bald wird das Heil dank Augustus nach Rom zurückkehren. 2. »Aeneas' episches Vergessen«. Die Aeneis ist zweidimensional: Sie verbindet den griechischen Mythos mit der römischen Geschichte. Herzogs Aufsatz verfolgt im Durchgang durch das Epos, wie sich diese beiden Bereiche im Gedächtnis des Aeneas spiegeln: Erinnerung und Vergessen stehen dort in einem dialektischen Verhältnis zueinander; Erinnerung an die mythische Vergangenheit impliziert Vergessen der römischen Zukunft und vice versa. Die Dido-Episode allerdings zeigt einmalige Offenheit: Die römische Dimension ist dort ebenso abwesend wie die mythische, die trojanische. In der zweiten Werkhälfte spielt die Wechselbeziehung von Erinnern und Vergessen keine Rolle mehr - Aeneas geht auf in der Erfüllung seiner Mission. Herzogs zupackende Analyse läßt die viel beklagte Gefühlskälte des Helden in einem weniger ungünstigen Licht erscheinen. Sie provoziert aber auch die Frage, wie es kommt, daß Vergil dem Schwanken seiner Figur die Form einer bald rückwärts, bald vorwärts gerichteten memoria gegeben, warum er nicht die >Erinnerung< an die Zukunft als Glauben oder Zweifel daran geschildert hat. 3. Der Beitrag »Fest, Terror und Tod in Petrons Satyrica« besteht aus analysierenden Abschnitten und einem Versuch, die Ergebnisse der Analyse zu den Kategorien des Imaginären, Fiktionalen und Realen in Beziehung zu setzen. Petrons Cena Trimalchionis changiert ständig zwischen Tod und Leben; sie ist ein kunstvoll arrangiertes Fest ohne Ende, ein Fest, das zwanghafte Elemente enthält. Um dieser Merkmale willen läßt sie sich mit den >realen< Festen despotischer Kaiser, eines Caligula, Nero usw., vergleichen; dort wurden nicht selten ausgesuchte Grausamkeiten als Belustigungen der Teilnehmer in das Programm einbezogen. Herzog deutet diese Affinität von Literatur und Leben als Öffnung der literarischen Fiktion zur Realität - Nero feiert den von ihm gelegten Brand Roms mit dem Vortrag einer» Troiae Halosis«. 4. Mit der Abhandlung, die die programmatische Trias »Metapher - Exegese - Mythos« im Titel führt, wendet sich die Sammlung dem Hauptschauplatz der Forschungen Herzogs zu, der Spätantike. Eine Partie in Dantes Purgatorio parallelisiert mythische und biblische Gestalten: Herzog rekonstruiert, wie es zu dieser wechselseitigen Durchdringung von Antike und Christentum gekommen war, zur Theologisierung des MyXVII

thos und zur Rhetorisierung der Bibel. Für den erstgenannten Vorgang enthält der Protreptikos des Clemens von Alexandrien das Paradebeispiel: Der zur Metapher depotenzierte Mythos dient dort wie das Alte Testament als Repertoire für christliche Typologien_ Der zweite Vorgang läßt sich vor allem in der christlichen Panegyrik dingfest machen: Wie zwei Totenreden auf Basilios (von Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa) zeigen, nehmen darin biblische Figuren die Stelle ein, die im heidnischen Enkomion den Heroen des Mythos zugekommen war; sie fungieren als Exempel, die der Gepriesene überboten hat. 5. Der schon durch den Titel als Seitenstück zum vorigen Beitrag erkennbare Essay »Exegese - Erbauung - delectatio« gilt ebenfalls der Verschmelzung von Literatur und Bibel, sowohl in der Praxis, im lateinischen Bibelepos, als auch in der theoretischen Reflexion. Zumal wegen des zweiten Aspekts ist die kleine Abhandlung von Gewicht: Sie beginnt mit einem Fulgentius-Zitat, das eine perfekte Durchmischung von Kategorien der antiken Poetik und der Bibel-Hermeneutik vor Augen führt, und endet mit einem überraschenden Fund bei J ohannes Chrysostomos: Dessen Schrift De inani gloria (TIEpi KEvo8o~ias, »Über Hoffart und Kindererziehung«) macht sich die aristotelische Katharsis (mitsamt q>6f3os und EAEOS) für eine christliche Poetik zunutze, die die Erbauung fugenlos mit der delectatio verbindet. 6. Die Studie »Rom und Altes Testament« rückt die Partie Vers 409ff. der Hamartigenia des Prudenz in den Mittelpunkt. Die Interpretation geht scharfsinnig den einander überlagernden Bedeutungsebenen des Textes nach. Feinde Roms erscheinen als Belagerer >Jerusalems< (496f.); Anspielungen auf Vergil und Horaz machen Troja, den Ursprung Roms, zur Parallele von Babyion und Jericho (455ff., 480f.), und der tyrannus am Ende des Abschnitts (500) wird als gegenwärtiger Bedroher Roms gedeutet. Von der Warte dieser differenzierten Romtheologie aus wirft Herzog einen Blick auf das Gesamtwerk des Prudenz, das er - in Anknüpfung an eine Abhandlung Walther Ludwigs - als innere Einheit, als planmäßig entfaltete Abfolge spiritueller Dimensionen verstanden wissen möchte. 7. Die Abhandlung »Probleme der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität« zielt auf eine neue Bestimmung des Verhältnisses der beiden im Thema genannten Literaturen. Die herkömmlichen Kategorien wie >ErXVIII

satzKontrastheidnische Form - christlicher InhaltVerschmelzung< , >Rhetorisierung< usw. scheinen zu kurz zu greifen: Sie beschreiben nicht genau genug, wie allerorten biblische Motive und deren Exegese auf die Darstellungs- und Kompositionsweise Einfluß nehmen. Mit Hilfe dreier Gedichte des Paulinus von Nola (carm. 25, 17 und 26) erläutert Herzog seine Auffassung vom Wesen der christlichen als »exegetischer« Poesie: Diese strebt nach Spiritualisierung, wobei sie sich sowohl die christliche Typologie als auch das rhetorische Exempel zu eigen macht. Mit der Feststellung, daß Paulinus die biblischen figurae nicht nur im Sinne des konventionellen Bibelverständnisses auf Christus, sondern - in frei gewählter Transposition - auch auf zeitgenössische Personen bezieht, knüpft Herzog an seinen Beitrag »Metapher - Exegese - Mythos« an: Dort hatte er dasselbe Phänomen in zwei griechischen Totenreden auf Basilios nachgewiesen. 8. Er ruft »non in sua voce«, »nicht mehr in seiner Sprache«, sondern in der Gottes, der biblischen »der Wasserfälle«: so Augustin im 13. Buch der Confessiones von Paulus, und so Herzog von Augustin, dessen Absicht, mit Gott ein Gespräch zu führen, mit den biblischen Texten am Ende des Werkes ihr Ziel erreiche. Denn dies ist die Hauptthese des großangelegten Deutungsversuchs: der >autobiographische< Bericht der Bücher 1-9 ziele auf nichts anderes als auf die »allmähliche Konstituierung eines Gesprächs«; das Gespräch selber beginne erst mit der Genesis-Exegese der letzten Bücher. Ein Vorteil dieser Annahme leuchtet unmittelbar ein: Die Kluft zwischen den beiden Werkteilen, der >Autobiographie< und der Auslegung der Genesis, verringert sich, ja wird zum Verschwinden gebracht. Augustin begreift im Lebensbericht Gottes Handeln an seiner Person: Die dieses Begreifen vollziehende Bezeugung von Gottes Providenz wird von Herzog als »hermeneutischer Dialog« bezeichnet - insofern zu Recht (obwohl das eigentliche Gespräch erst danach einsetzt), als aus Gottes Annäherung an Augustin und dessen im Rückblick sich konstituierender Einsicht eine Interaktion resultiert. Die Abhandlung beschreibt den Weg zum zunächst unmöglich scheinenden Gespräch als Rollentausch, als Wechsel der ursprünglichen Sprecherpositionen: Gott wendet sich schließlich in natürlicher Rede an Augustin (8,12,29: »tolle, lege«), und Augustin kleidet seine Worte in die der biblischen Offenbarung. Der Lebensbericht endet mit der Bekehrung und dem Tode der Mutter. Herzogs Deutung hält hierfür zwei einander bestätigende Gründe beXIX

reit. Die verstehende Sinnstiftung Augustins hat mit den genannten Ereignissen ihr Ziel erreicht; es gibt jetzt keine zeitliche Diskrepanz zwischen Gottes Fürsorge und Augustins Einsicht mehr - der Stoff für die Erzählung ist verbraucht. Dies gilt nun aber auch mit Rücksicht auf den zweiten Adressaten des Werkes, den menschlichen Leser, den Mitchristen. Er soll, wie es in Anlehnung an konventionelle ästhetische Kategorien zu Beginn des 10. Buches heißt, durch Augustins Beispiel ermutigt werden und sich daran erfreuen, daß Gott ihm zur Überwindung seiner Irrtümer verholfen hat. Herzog schließt mit der Feststellung, daß der Besonderheit der Confessiones mit den hermeneutischen Theorien Ricreurs oder Gadamers nicht beizukommen ist. Augustin zielt nicht wie diese auf die Auslegung fertiger Texte, sondern auf die seines Lebens vor der Konversion, als auf die eines >Textesverbraucht< ist), verhält es sich in den Confessiones umgekehrt: Der ausgelegte >TextFortschritt< erscheint hierbei das angebliche Verebben der Übel, bis hin zur nahezu erreichten Ereignislosigkeit. Herzog beschreibt die Phase um Phase wechselnden Mittel, mit deren Hilfe Orosius den historischen Fakten diese >Entwicklung< ab-

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trotzt. Sie laufen - grob vereinfacht - darauf hinaus, daß die Vergangenheit nach Art der Invektive zum Schlechteren, die Gegenwart jedoch nach Art der Panegyrik zum Besseren hin umgeformt wird. 11. Der Vortrag »Wir leben in der Spätantike« macht zur Hauptsache,

was in allen Detailuntersuchungen Herzogs als begleitende Stimme gegenwärtig ist: die Reflexion über die - vor- und innerwissenschaftlichen Voraussetzungen der Befassung mit historischen Objekten. Hierbei steht ein Rahmenbegriff par excellence zur Debatte, die Epochenbezeichnung >SpätantikeSpätantike< aus; es folgt die Reihe der weiteren Disziplinen, die sich früher oder später des bis dahin durch klassizistische oder sonstige Dogmen verdunkelten Zeitalters anzunehmen begannen - bis schließlich, nach der Mitte des 20. Jahrhunderts, auch die Altphilologie das fruchtbare Terrain allgemein als lohnenden Forschungsgegenstand anerkannte. 12. Die Abhandlung >>Y om Aufhören« begibt sich, ausgehend von Kants Schrift Das Ende aller Dinge, im Krebsgang zur christlichen Eschatologie, zu Ovids Metamorphosen und schließlich zum lydischen Logos Herodots. Die kritische Rezeption christlicher Denkformen, die bei Kant begegnet, wird als »Schutz vor der Geschichtsphilosophie«, also als Ausweichen vor dem Glauben an ein innerweltliches Telos, gedeutet. Sie ist so dann Sprungbrett für eine Analyse christlicher Endzeitvorstellungen; hierbei dient Augustins Lehre als Fluchtpunkt. Die Schwierigkeiten, die das Dogma von der Dauer nach dem Tode, der Auferstehung und dem Jüngsten Gericht mit sich bringt, werden detailliert geschildert; Herzog erblickt in dem Lösungsversuch Augustins, >>figura praeterit, non naXXI

tura« (»die Gestalt vergeht, nicht das Wesen«), d.h. in der Annahme, daß sich die Auferstehung nicht ohne eine Verwandlung vollziehe, ein Element der Remythisierung. Hiermit hat er die Brücke zu Ovid geschlagen: Schon die Geschichte des Lycaon ist nach der Formel konstruiert, die Augustin für die christliche Lehre vom ewigen Leben gefunden hat. Herzog möchte in diesem Beispiel geradezu das Baugesetz der Metamorphosen erblickt wissen: Ovids Mythen seien ästhetische Vergegenwärtigungen des fortdauernden Endes (wobei nicht verschwiegen wird, daß der unmittelbar nach der Verwandlung von Hunden zerrissene Actaeon nicht in dieses Schema paßt). Die Herodot-Erzählung von Kroisos und Solon hat die Funktion eines Kontrastes: Sie beruht auf dem Axiom des Endes ohne Dauer. Mit einer kurzen Erörterung der Etymologie des deutschen Wortes >aufhören< schließt die ungewöhnliche Abhandlung - Herzogs cycnea vax, die man zurückblickend kaum anders lesen kann denn als Abschied.

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Bibliographie Reinhart Herzog (mit einem Asteriskos markierte Artikel sind in diesem Band au/genommen)

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zennien der Horazphilologie nicht ganz zeitgemäß. Sie [316] erinnern an jenen verpönten >NaturalismusNaturalismus< abschließend V. Pöschl, Horazische Lyrik, Heidelberg 1970, S. 11.

7 E. Fraenkel [Anm. 2], S. 31 - also ein Manifest der Werkimmanenz, dem sich aufs beste die humanistische Hochschätzung des Klassikers einfügte und dann zuweilen bemerkenswerte hermeneutische Bindungen verfocht. Beispiel: Das nicht Verständliche ist horazischer Humor (vgl. bereits die treffenden Bemerkungen R. Reitzensteins, Aufsätze zu Horaz, Darmstadt 1963 [zuerst 1921], S. 55). Oder: »Horaz ist so lange nicht verstanden ... , solange etwas menschlich Schiefes herauskommt«; der »Adel seiner Menschlichkeit muß höchstes philologisches Kriterium sein« (K. Büchner, Studien zur römischen Literatur 3: Horaz, Wiesbaden 1962, S. 171). Das Postulat Werkimmanenz konnte ferner anschließen an die alte Tradition der Horaz-Apologetik und ihr Argument des >ästhetischen< (gegenüber dem >unsittlichen< sowie dem >adulatorischen4 Horaz; vgl. z.B. eh. H. Schmid, Apologie des Horatius gegen einige neuere Schriftsteller, in: Neue Litteratur und Völkerkunde 1, 1789, S. 33ff. 8 Nämlich jene der symbolischen Deutung sowie der Fiktion; ich komme darauf zurück. 9 So - neben c. m 5 - bekanntlich c. 12; I 7; 114; 115; m 2; m 14; III 27. 10 H. Haffter [Anm. 5], S. 132. 11 Zuletzt im Odenkommentar Lucian Müllers (St. Petersburg 1900), ad toc.

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»Ist's möglich, daß, während Juppiter ... «;12 noch für Heinze war Strophe 1 lediglich als Folie für die Empörung ab v. S »vorangeschoben«Y Haffter suchte das Problem zu lösen, indem er die imperiale erste Strophe aus ihrer Rolle als >Präambel< löste 14 und v. sff. dem Regulusteil zuordnete: Der schmähliche Zustand kontrastiert dem altrömischen Exempel. Der Zusammenhang von Strophe 1 und 2/3 kann aber dann nur noch sehr allgemein umschrieben werden. 15 In der Folge mündet die Interpretation auch hier in die Feier des >GleitensBalance< und des >Schwebens< ein. 16 [318] 12 A. Kießling (Q. Horatius Flaccus, Oden und Epoden, Berlin 1884 u.ö.), ad loc. Vgl. ähnlich H. Th. Plüß, Horazstudien, Leipzig 1882, S. 248 (»da frag ich mich ... «). 13 Q. Horatius Flaccus, Oden und Epoden. Erklärt von A. Kießling. 7. Auflage besorgt von R. Heinze, Berlin 1930, S. 282, ad loc. - Die Sprunghaftigkeit nach v. 4 führte bei N. O. Nilsson (in: Eranos 45, 1947, S. 40ff.) gar zu dem Versuch, Horaz jeden möglichen Krieg mit den Parthern als Bürgerkrieg empfinden zu lassen, solange die Gefangenen nicht befreit seien. 14 Wobei allerdings der Eindruck schwer abzuweisen ist, »als verschwinde der Princeps im folgenden ganz aus dem Gedicht« (E. Doblhofer, Die Augustuspanegyrik des Horaz in formalhistorischer Sicht, Heidelberg 1966, S. 148). Es wirkt daher gezwungen, wenn H. Haffter ([Anm. 5], S. 154; ihm folgen E. Fraenkel [Anm. 2], S. 267ff. und Doblhofer, Augustuspanegyrik S. 150ff., sowie in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1957) Regulus direkt und quasi-typologisch auf Augustus beziehen will, das Gedicht also eher als Augustus- denn als Römerode interpretiert. Hier wirkte seit Heinze die Vorstellung von den beiden c. III 4 >rahmenden< Oden als Systemzwang. 15 >>>Neu sinas Medos equitare inultos / te duce, Caesar< [co I 2,51f.]. Dies ist der Gedanke der drei ersten Strophen« (H. Haffter [Anm. 5], S. 149). In diesem Zusammenhang J. Krokowski, in: Eos 56, 1966, S. 152: »Wer würde aber vom Dichter eine rigorose Logik erwarten?« 16 Vgl. T. Oksala, Religion und Mythologie bei Horaz, Helsinki 1973, S. 111 (»der Gedanke wandert«); ähnlich metaphorisch, unter Verschleifung des Futurs in V. 2, W. Wili, Horaz und die augusteische Kultur, Basel 1948, S. 144. Solche bildlichen Überbrückungen sind auch im Falle von C. III 5 eine Folge der Klingnerschen Interpretationsmetaphorik gewesen. Die »Sinnbezüge«, die Klingner zwischen den Teilen der Ode statt eines »eingeteilten Oberbegriffs« »aufblitzen« sah (F. Klingner, Horazens Römeroden (1952), in: ders., Studien zur griechischen und römischen Literatur, Zürich 1964, S. 351), senden schon bei Büchner die in Brechungen funkelnden >Diamanten< der Römeroden aus (Studien zur römischen Literatur 3, Wiesbaden 1962, S. 126); dieser >Diamant< ist seit Rudolf Borchardt im Umlauf (Brief vom 17.8.1907, in: Neue Rundschau 1957, S. 567). - Die Bemerkung erscheint nicht überflüssig, daß diese Hinweise von keiner Ironie veranlaßt sind: Wie die >naturalistischen< Gerüste zu den Horazoden (oder die >Liebesromane< bei den 4

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Zur zweiten Frage: Gegen die herkömmliche Antwort, Horaz müsse einen tagespolitischen Anlaß für seine Akzentuierung der Regulusgeschichte (Loskauf) gesehen haben, wendet sich (nach anderen) ausführlich Haffter: »zu straff« würden hier die Gedichtteile aufeinander bezogen; »nur vom Mythus« (sc. dem Regulusteil) »und seinen selbständigen Bedürfnissen her« sei die Kontamination mit der Cannae-Tradition recht zu verstehenY Fraenkel folgt ihm;18 bei Syndikus sind die Strophen 2/3 bereits »Durchgangsstadium«, das die pindarische Form (sie soll, wie häufig, auch hier die Sprünge und Anstöße erklären) vorbereitet. 19 Hier ist eine denkbar große Distanz zum Lösungsversuch Mommsens erreicht, der als erster 20 aus textexternen Hinweisen (einer Überlieferung über zeitgenössische Tendenzen [319] zum Gefangenenloskauf) zu einer konsistenten Lösung der ersten und zweiten Frage gelangte: Strophe 1 gebe die auf Revanche drängende öffentliche Meinung wieder, der Horaz nach »schroffem Übergang« (dieser sollte Augustus' Absichten »nicht offenbaren, sondern verdecken«) mit dem Hinweis begegne, »der gefangene Römer sei kein Römer mehr«.21 Hiernach wären also in der Tat die drei Elegikern) ein beachtenswertes Zeugnis des historistischen Paradigmas in den Geisteswissenschaften vor Augen führen, so die Interpretationsmetaphorik der >inneren Form< ein Zeugnis des nachhistoristischen Interpretationsstils humanistischer Inständigkeit. Daß manchem unbehaglich wird, wenn hier »die eigentliche Durchschlagskraft den Dingen ihr Gesicht gibt« (K. Büchner, Römische Literaturgeschichte, Stuttgart 1957, S. 262), steht auf einem anderen Blatt. 17 H. Haffter [Anm. 5], S. 144 und 152. Ähnlich 1. Amundsen, Die Römeroden des Horaz (1942), in: Wege zu Horaz, hrsg. von H. Oppermann (Wege der Forschung 99), Darmstadt 1972, S. 136f. 18 [Anm. 2], S. 322f. 19 [Anm. 4], Bd. 2, S. 75 und 79. Der Rekurs auf >Pindarisches< dient zur Eliminierung von Verständnisschwierigkeiten wie die Berufung auf gleitende Gedankenführung. Hier hätte indes der Detailvergleich, wie er intensiv seit Theiler angestellt wurde (W. Theiler, Das Musengedicht des Horaz (1935), in: ders., Untersuchungen zur antiken Literatur, Berlin 1970, S. 394ff.; hierzu die wichtige Rezension von F. Klingner, in: Gnomon 13, 1937, S. 36ff.) , für die Römeroden ausführlich von H. Kempter (Die römische Geschichte bei Horaz, München 1938, S. 103ff.), erweisen können, daß gerade der Übergang von v. 13 sich aus pindarischer Tradition nicht vollständig erklären läßt. - Für die Wertung der Ode ergibt die Rückführung auf pindarische Form die auch sonst bekannte Beliebigkeit: hie >Meisterwerk< (so der Odenkommentar A. Arnaldis, Mailand 51959), dort >Frostigkeit< (so E. Castorina, La poesia d'Orazio, Rom 1965, S. 279ff.). 20 Zu gleicher Zeit mit ähnlichem Ergebnis: A. Teuber, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 139, 1889, S. 417ff. 21 Th. Mommsen, Reden und Aufsätze, Berlin 1905 (1889), S. 168ff. 5

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Teile der ersten Gedichthälfte aufeinander zu komponiert: Die Überblendung der Cannae- und Regulustradition soll zwar einer bestehenden und damit hinter dem Text von Strophe 2/3 zu statuierenden Tendenz zum Gefangenenloskauf begegnen, vor allem aber einen starken, ebenfalls impliziten Kontrast zum Expansionsprogramm der ersten Strophe setzen. Dieser Lösungsversuch ist dadurch bemerkenswert, daß seine historische Deutung variabel ist: Dem verhüllten >opinion-Ieader< Horaz trat alsbald (bei gleicher Struktur der Interpretation) Horaz als mehr oder weniger offener Kritiker der zögernden Ostpolitik des princeps gegenüber. 22 Trotz des anhaltenden Widerspruchs seitens der Philologen ist noch nach Heinze eine - wie auch immer geartete - aktuelle Tendenz der Ode akzeptiert worden; 23 und noch die letzten althistorischen Arbeiten zum Prinzip at des Augustus und seiner Partherpolitik weisen zwar vorsichtig auf die philologischen Interpretationen seit Haffter hin, verzichten aber nicht auf c. III 5 als >Quelle< aktueller Politik. 24 Die dritte Frage ist merkwürdigerweise bisher nicht gestellt worden; sie fordert aber bei jeder Übersetzung von v. 13 implizit eine Antwort. Hier ist bisher keine befriedigende Lösung ohne Färbungen oder gar Umbiegungen des Wortlauts gelungen. a) Das naheliegendste Verständnis wäre: »Für einen solchen Fall hatte Regulus, vorausschauenden Sinns, Vorsorge getroffen.« Dann aber geht die Verhinderung eines exemptum, das - ausdrücklich - die »perniciem veniens in aevum« (v. 16) nach sich ziehen würde, ins Leere; b) »had foreseen« (Williams, ad toc.): offenbar das Desaster von Carrhae - wiederum stimmt die erfolgreiche Verhinderung eines exemptum nicht (zudem wird [320] »mens provida« redundant); c) »hatte verhüten wollen« (also Plusquamperfekt de conatu)25 - hier wird der 22 So z.B. H. D. Meyer, Die Außenpolitik des Augustus und die augusteische Dichtung, Graz 1961, und R. Saeger [Anm. 3]. Anders z.B. G. De Plinval, Horace et le sort des prisonniers d'Orient, in: MeJanges de philologie, de litterature et d'histoire anciennes, offerts aJ. Marouzeau (... ), Paris 1948, S. 491ff. (Horaz als Sprachrohr der Politik des Augustus, auch ihrer Wandlungen); ähnlich A. Oltramare, in: Revue des Etudes Latines 16, 1938, S. 121ff. 23 So neben Heinze auch G. Pasquali (Orazio lirico, Florenz 1920, S. 701f.) und G. Williams (Tradition [Anm. 4], S. 441f.). 24 Vgl. D. Kienast, Augustus, Darmstadt 1982, S. 283, und D. Timpe, Zur augusteischen Partherpolitik zwischen 30 und 20 v.ehr., in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N.F. 1, 1975, S. 167. 25 So z.B. H. Th. Plüß [Anm. 12], S. 249; H. Haffter [Anm. 5], S. 152; der Oden- und Epodenkommentar von K. Numberger, Münster 1972, ad loc.; D. Gall, Die Bilder der horazischen Lyrik, Königstein/Ts. 1981, S. 79; H. P. Syndikus [Anm. 4], Bd. 2, S. 80: »dem hätte [I] Regulus vorbeugen wollen«. 6

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Widerspruch zwischen zweitem und drittem Gedichtteil wenigstens berührt;26 er bleibt allerdings bestehen. Man mag, nicht ohne Resignation, in diesem Spektrum das auf ein eng umschriebenes Problem verkleinerte, aber getreue Abbild der divergierenden, in ihrer Divergenz seit langem konstanten Auffassungen von der politischen Lyrik des Horaz erkennen, wie sie zuletzt Doblhofer zusammen mit ihrer Forschungsgeschichte vorgeführt hatP Ein erneuter Lösungsvorschlag erscheint bei dieser Sachlage kaum möglich. Aber vielleicht scheinen die Wege nur ausgeschritten zu sein, weil die genannten Methoden des Horazverständnisses nicht zureichen; vielleicht muß der Philologe sich dann nicht vom Historiker trennen, wenn er sein Geschäft an bescheidene Beobachtungen knüpft, Beobachtungen so unscheinbarer, äußerlicher Art, daß sie bisher nicht systematisch verfolgt wurden. Es fällt ja auf, daß in den drei genannten Teilen der Regulusode das Verhältnis der Tempora eine Rolle spielt - und daß das Präsens geradezu >fehltanstehende< (schlechte) Vergangenheit der Strophe 2/3 (Ha), sowie schließlich die abgeschlossene (Signal: »caverat«, v. 13) Vergangenheit [321] (H). Wer sich auf diese Beobachtung einläßt, wird alsbald merken, daß (1) eine vergleichbare Zeitstruktur in den meisten politischen Oden anzutreffen ist, (2) daß sich diese Zeitstruktur entwickelt, und zwar von der direkten präsentischen Darstellung fortentwickelt und erst im Spätwerk zu ihr zurückkehrt, (3) daß diese Entfaltung der Zeitstruktur eine formgeschichtliche Chronologie erlaubt und (4) daß das Element, aus dem diese Reihe entwickelt wird, inhaltlich identisch bleibt (Bürgerkrieg und Partherbedrohung). Dieser Befund nötigt dazu, die Reihe zunächst einmal nachzuzeichnen, 26 Am deutlichsten bei Heinze [Anm. 13], ad toc.: »hatte vorbeugen wollen, indem er das exemplum für die Zukunft verhinderte - freilich vergebens.« 27 In: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1922ff. Doblhofer eröffnet den Überblick mit der Bemerkung, es scheine »an den dichterischen Äußerungen des Horaz selbst zu liegen, daß sein Verhältnis zu Augustus von jeher Raum für weit auseinandergehende Deutungen bot« (S. 1923). 28 Und in dieses >Fehlen< stieß gerade die Tendenzdeutung Mommsens [Anm. 21] hinein. 7

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und zwar - dies ist zu beachten - nur unter dem partiellen Aspekt der Zeitstruktur, das heißt ohne Hinblick auf eine sonst akzeptierte Chronologie, ohne Hinblick auf die Deutungskontroversen zu den einzelnen Gedichten, freilich auch ohne den Anspruch auf eine Deutung der einzelnen Oden.

II Nur in zwei politischen Gedichten spricht Horaz durchgehend im Präsens: in der gestischen Erregtheit der jambischen Szene in epod. 7 und in der Ruhe der panegyrischen Bildfolge in c. IV 5. In beiden ist, wie in c. III 5, von der lebensbedrohenden oder endgültig bewältigten Parthergefahr die Rede; der Kontrast der Regulusode zwischen Punier- und Partherkrieg bildet sogar den Kern der Epode. 29 Aber man kann das frühe Präsens nicht allein dem bekannten Gattungsgesetz 30 der horazischen Jambik, der erregten, sprachlich prägnanten und kühnen metaphorischen Dramatik,31 zurechnen. Denn es ist überzeitlich; es wird durch die fortdauernde Gegenwärtigkeit des Brudermord-Fluchs (epod.7,17-20) gestiftet. Trotz der Nachweise von Vorläufern dieses >GeschichtsmythosWiederholung< des Fluchs, gar von typologischem Denken 35 sprechen; es handelt sich, jenseits der gewählten Situation des Jambus, beim negativen Präsens der 7. Epode um das Aussprechen des hier und immer gültigen Gesamtsinnes der römischen Geschichte, die aber noch nicht entfaltet wird. Die eine, präsentische Zeitdimension der 7. Epode drückt die Verzweiflung vor der Vernichtung durch die eigene Geschichte aus. Diese Zeitdimension wird in epod. 16 entfaltet. 36 Die vernichtende Gegenwart der Bürgerkriege schrumpft zum Einsatz v. H. und wird von der dramatischen Fiktion der Volksversammlung in der Gedichtmitte stark abgerückt: dazwischen schiebt sich die erste [323] temporale Öffnung der bedrückenden cura in Präteritum (v. 3-8: positive Vergangenheit) und (negatives) Futur 37 (v. 9-14) - und damit eine erste Aufzehrung des Präsens.38 Den präsentischen >Rest< von v. H. suchte Horaz in epod. 16 durch die 34 H. J. Krämer, Die Sage von Romulus und Remus in der lateinischen Literatur, in: Synusia. Festgabe für W. Schadewaldt (... ),hrsg. von H. Flashar, Pfullingen 1965, S. 364. 35 H. J. Krämer, S. 363: »Archetyp«. Es liegt aber nicht ein »Zusammenfallen von Frevel und Sühne« (E. A. Schmidt [Anm. 33], S. 534) vor; diese sind vielmehr noch gar nicht auseinandergetreten (»fata Romanos agunt«). 36 Bei näherem Zusehen kündigt sich diese Entfaltung schon in epod. 7 an; mit den beiden Gliedern »non ut ... « (v. 5ff.) und »sed ut ...« (v. 9ff.) werden die siegreichen Punierkriege dem Untergang der Stadt durch die Parther konfrontiert: die positive Vergangenheit der negativen Zukunft. Dies ist bereits die genaue Konstellation der temporalen Entfaltung in epod. 16 (daher verkennt die Isolierung der Aussage auf die >aktuellen< Parther das Gedicht: M. Wissemann, Die Parther in der augusteischen Dichtung, Frankfurt/M. 1982, S. 49, und H. D. Meyer [Anm. 22], S. 33). 37 Diese Verzeitlichung bedeutet noch keine Lösung vom Fluchgedanken: er erfährt vielmehr durch seine Berührung mit dem kosmischen Modell der 4. Ekloge (in der zweiten Gedichthälfte) eine apokalyptische Zuspitzung schon für das Futur v. 9-14: Rom wird in v. 10f. ja nicht etwa von den >Barbaren< zerstört, sondern zerfällt und verödet durch sich selbst (richtig W. Wimmel, in: Hermes 81, 1953, S. 317ff.; zur Verbindung des futurischen mit dem zweiten Gedichtteil vgl. auch E. Fraenkel [Anm. 2], S. 61 Anm. 3). 38 Es ist bezeichnend, daß die zahlreichen Interpretationen von epod. 16 den Tempuswechsel zum Futur bisher nicht erklärt haben (ein Ansatz bei AbleitingerGrünberger [Anm. 30], S. 27). Aber ihn betont die Gliederung des ersten Gedichtteils: v. 1, 3 und 9 korrespondieren, wie E. Fraenkel ([Anm. 2], S. 66 Anm. 2), H. Kempter ([Anm. 19], S. 18) und schon die genaue Analyse von H. Drexler (in: Studi Italiani di Filologia Classica 12, 1935, S. 119ff.) gezeigt haben, syntaktisch und inhaltlich; verfehlt wäre die Gliederung von v. 1-8 als >Einleitung< (AbleitingerGrünberger, S. 24). 9

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Evasion in die vergilisierenden »arva beata«39 zu balancieren - in das ebenfalls präsentische Märchen. Diese Gegenwelt kann in der formgeschichtlich nächsten Stufe (sie bezeichnet zugleich den Übergang der politischen Lyrik in die Odendichtung) bei der Bewältigung der Gegenwart die Allegorie ablösen: in c. I 14. Die Ode beginnt zwar mit dem unveränderten >negativen< Futur (»0 navis, referent in mare te novi jluctuS!«)40 von epod. 16,9ff. Aber die Ode bringt solche Beschwörung des gegenwärtigen Verderbens erstmals in die paränetische Adressatensituation der äolischen Lyrik (wobei die drängenden Fragen und Aufforderungen v. 2f. und 15ff. stilistisch [324] durchaus noch die jambische Herkunft verraten). Und hierbei wird eine fortgesetzte Eliminierung des direkten präsentischen Sprechens - inhaltlich: eine Umformung des alkäischen Seesturms - erreicht, und zwar mittels der >Einklammerung< der aktuellen Situation durch vorangestelltes, adressatenbezogenes »nonne vides ut«. Diese >KlammerWinter< der Soracte-Ode); sie bleibt wie die ähnlich häufige Junktur »frustra, nam« (beim Tempusübergang zum Futur; häufig ein >verfehltes< Präsens eingrenzend) im Zusammenhang zu untersuchen. 42 Vgl. die für Horaz ertragreichen Bemerkungen W. Röslers, Über Deixis und einige Aspekte mündlichen und schriftlichen Stils in antiker Lyrik, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N.F. 9,1983, S. 7-28. 10

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Es kann in keinem seiner zahlreichen Details mehr direkt politisch aufgelöst werden,43 stellt im ganzen aber das Gemeinte, Bedrohliche vor Augen und sucht es damit zu bewältigen. Die Umformung des Gegenwartsausdrucks in Evasion und Allegorie wird erst die Verbindung der horazischen politischen Dichtung mit einer weiteren lyrischen Tradition, der sympotischen Situation,44 hinter sich lassen; sie geschieht noch in einem der spätesten Jamben, epod. 9. Das negative Futur kann sich nun zur erwartungsvoll drängenden futurischen Frage (v. 1-6) wandeln - denn es beschränkt sich jetzt auf die Realisierung des Gelages: freilich als Besiegelung der politischen Rettung; und der bereits mögliche [325] Verweis auf das schon Erreichte des letzten Sieges Oktavians (v.7ff. »ut nuper«) konstituiert eine noch drängende,45 angstvolle,46 aber schon hoffnungsvolle Spannung zwischen möglicherweise besserer Zukunft und bereits gelungener Vergangenheit. Dieses neue, aber noch fragile temporale Gefüge kann nun (ohne daß noch eine präsentische Gegenwelt aufgesucht werden müßte!) die negative Gegenwart, die in epod. 9 zum letzten Mal im direkten Präsens jambischer Empörung erscheint (v. 11-16), umrahmen. Diese bricht freilich hier noch unvermittelt, durch das sympotische Gefüge noch kaum gebändigt, hervor: v. 10/11 und 16/17 stellen schon vor die gleichen Verständnisprobleme wie die Strophen 2/3 der Regulusode. 47 Aber sie kann bereits in der Aktiumepode nicht mehr nur allegorisch, sondern temporal >eingeklammert< werden, und zwar mittels des futurischen Rückblicks, einer von Horaz fortan häufig geübten Fügung: »posteri negabitis« (v. 11) kann die Unglaublichkeit des schlechten Gegenwärtigen hervortreten lassen (und damit seine präsentische Darstellung erträglich machen), aber es zugleich in die Distanz rücken. In diesem kunstvollen Gefüge umzingelt und bewältigt, ist das negative Präsens seit c. I 37, der Antwort auf epod. 9, aus der politischen Lyrik des 43 Daher noch die moderne Deutungsvielfalt von politischen Situationen vor Aktium über erotisches Verständnis bis zum Symbol menschlichen Reifwerdens (letzter Forschungsbericht: E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1936ff.). 44 Vgl. E. Fraenkel [Anm. 2], S. 89, und J. Buchmann, Untersuchungen zur Rezeption hellenistischer Epigrammatik in der Lyrik des Horaz, Diss. Konstanz 1974, S. 167f. 45 Vgl. v. 21: »io Triumphe, tu moraris ... ?« 46 Vgl. v. 37f. 47 Daher bei Heinze [Anm. 13], ad loc., innerhalb dieser Reihe das erste Beispiel der glättenden Periphrase (»die Erinnerung lenkt den Blick ... «). 11

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Horaz verschwunden. Noch kein positives (panegyrisches) Präsens kann es hier ablösen, aber wenigstens das Symposion ist in der ersten Strophe dieses »Jubelliedes« (Fraenkel) Gegenwart geworden; eine Gegenwart freilich besonderer lyrischer Art: Die Emphase des dreimaligen »nunc« statuiert sie, kontrastiert sie einer nunmehr negativ gewordenen Vergangenheit (v. Sff. »antehac«) - aber in ihr zittert das Überwundene noch so nach, sie ist so drängend, daß sie sich selbst schon fast wieder versäumt hat: 48 Das nahezu überpräzise »tempus erat«49 - zwischen »nunc« und »antehac«! - [326] legt Zeugnis ab für die komplizierte temporale Entwicklung, an deren Ende es steht. 50 Die erste das Präsens aussparende politische Ode, der gewaltige Bau von c. I 2, krönt die Entwicklung des temporalen Darstellungsarsenals. Das geschieht wieder durch die Rezeption einer lyrischen Form, des Päans;51 er erlaubt durch seine mythischen Kompositionen die Integration - und zugleich poetische Nutzung - des noch verbliebenen Aspekts der anhaltenden, zerstörerischen Gegenwart in die politische Dichtung: des Fluchgedankens. Wieder ist im perspektivischen Zentrum, der sechsten Strophe,52 das Leitmotiv des Verderbens benannt: »(audiet) cives acuisse ferrum / qua graves Persae melius perirent« (v. 2lf.). Aber es ist bereits indirekt geworden, ist in der seit der Kleopatraode erreichten Sperrung zwischen Vergangenheit und Futur verschwunden: Die Vergangenheit der Zukunft ist 48 E. Fraenkel [Anm. 2], S. 188f., hat gezeigt, daß diesem Befund der Wechsel zwischen dem Alkaioszitat v. 1 und dem >horazischen< Rest der Strophe entspricht. 49 Da »tempus erat« so zum Indiz des lyrischen Zeitgefühls selbst wird, ist es schwer logisch auflösbar und eröffnet wiederum ein Feld >naturalistisch< nachzurechnender Kontroversen; vgl. Orelli-Baiter [Anm. 40], ad loc.; R. Heinze [Anm. 13], ad loc.; G. Pasquali [Anm. 23], S. 46ff.; R. G. M. Nisbet und M. Hubbard, A commentary on Horace. Odes book I, Oxford 1980, ad loc., sowie H. P. Syndikus [Anm. 4], Bd. 1, S. 333. Sorgsame und wohl zutreffende Deutung bei V. Pöschl, Horazische Lyrik [Anm. 6], S. 75ff. 50 Der eigentliche Wendepunkt, was die Zeitstruktur angeht, liegt zwischen c. I 14 und epod. 9; und auch inhaltlich weist das »sollicitum taedium« (c. I 14,17) auf die frühen Epoden zurück, »desiderium« und »cura« (c. I 14,18) auf die Aktiumgedichte voraus; vgl. E. Fraenkel [Anm. 2], S. 296ff.; H. St. Commager, The Odes of Horace. A critical study, New Haven 1962, S. 163; E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1937. 51 Vgl. vor allem F. Cairns, in: Eranos 69, 1971, S. 68ff. 52 Zutreffend als >stilles Auge< des ganzen Gedichts gekennzeichnet von H. L. Tracy, Thought sequence in the Ode, in: Studies in honour of G. Norwood, hrsg. von M. E. White, Toronto 1952, S. 209, und N. E. Collinge, The structure of Horace's Odes, London 1961, S. 103. 12

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die Gegenwart. 53 Aber in dieser Form ist sie anwesend, ja sie beherrscht das Gedicht nun durch die Gegenwart des lyrischen Sprechens, welches sie in temporalen Bögen umkreist, gleichsam Ringe um sie legt:54 Dem von der >Klammer< »audiet« in die Vergangenheit transportierten Geschehen entspricht in seinem Pendant 55 »vidimus« ein zeitlich vorrangiges Ereignis, das seinerseits das [327] letzte Glied einer von »iam satis« (v. 1) an erinnerten Kette ist. Und erst diese Stufungen vermögen die Zeitlosigkeit des Fluchs in die Zeitlichkeit eines gedeuteten Mythos zu überführen. Die vergilischen und ennianischen Vorlagen zu v. 1-20 erlauben es, diese Leistung genau zu verfolgen. Vergil hatte von den Prodigien nach Caesars Tod den Blick sogleich auf den rettenden »iuvenis« gelenkt. Die scheinbare Prodigienkette ab c. 12,1 56 öffnet bereits mit dem »ne« von v. 5 eine erste Mythennutzung: Die schon erlebten Prodigien hätten gedeutet werden müssen, damit nicht die apokalyptische Zukunft (Wiederkehr des »saeculum Pyrrhae«) eintritt 57 - technisch ein Widerspiel zum negativen futurischen Rückblick der Aktiumepode, inhaltlich ein dem »audiet« von v. 21 (23) korrespondierender Hinweis auf die zu bewältigende Gegenwart. Sodann gibt das letzte >Prodigiumaktuellen Anlaß< zuzuordnen. Das zeigen bereits die divergierenden Lösungsversuche zu c. 1 2 eindrucksvollY Hinter diese geschichtliche Entfaltung geht die Zeitstruktur der politischen Oden nicht mehr zurück; ihre nächste Ausformung in der Sequenz der Regulusode wie auch die identische Anordnung der nachfolgenden Ode III 6 64 zeigt eine Stabilisierung; unter dem hier betrachteten Aspekt bilden c. III 5 und 6 die Mitte der politischen Lyrik. Die Elemente dieser Zeitsequenz sind oben zur Regulusode aufgeführt worden: (1) positive Zukunft - »praesens divus habebitur«; (la) »Bedingung« - in c. III 6 negativ formuliert: »delicta lues, donec re/eceris«. Mit dem Element la wird 61 Die positive Zukunftsmöglichkeit zeigt c. 12 schon vor dem Oktavian-Teil in v. 19 (Iuppiter will die Flut nicht) und in dem futurischen Rückblick der sechsten Strophe. 62 Hierzu - als einem Problem der Theorie vormoderner Lyrik - unten im dritten Teil. 63 Seit A. Reifferscheid, Coniectanea nova, Programm Breslau 1880, S. 3f., der »acuisse ferrum« (v. 21) mit der Ermordung Caesars identifizierte, sind einzelne Krisensituationen vor 27 v.Chr. vorgeschlagen worden. Die Zeitstruktur von c. 12 ist jedoch von der jüngeren Forschung im Widerspruch gegen Heinzes Deutung der ersten Odenhälfte als Darstellung einer bereits überwundenen Gefahr herausgearbeitet worden; bahnbrechend die Interpretation von c. I 2 als Mahnung an Oktavian von H. St. Commager (zuerst in: AmericanJournal ofPhilology 80,1959, S. 37ff.); genaue Nachzeichnung des Zeitgefüges - aber wieder mit unterschiedlicher Deutung, wie das lyrische Sprechen von c. 12, dessen >Gegenwart< sich zwischen 44 und 27 v.Chr. erstreckt, aktualisiert werden soll - bei F. Cairns [Anm. 51], L. A. MacKay [Anm. 56], und H. Womble, in: American Journal of Philology 91, 1970, S. Hf. 64 Beide Oden sind bisher nur von C. Koch (in: Neue Jahrbücher für Antike und deutsche Bildung 4, 1941, S. 81ff.) eng aneinandergeruckt worden, jedoch lediglich inhaltlich. Hierzu trug die gerade durch den >Pessimismus< ihrer Schlußstrophe verursachte Fruhdatierung von c. m 6 bei; dagegen H. Silomon, in: Philologus 92, 1937/38, S. 444ff.; G. Williams, in: Journal of Roman Studies 52, 1962, S. 3H., und B. Fenik, in: Hermes 90,1962, S. 86. 14

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die futuristische Eliminierung [329] des Präsens seit Epode 16 (zuletzt in c. I 2: »ne rediret« und »qua melius perirent«) in eine präzise temporale Nachrangigkeit gebracht; (IIa) die noch >anstehende< schlechte Vergangenheit der in c. III 5 (v. 5ff.) und c. III 6 (v. 9ff.) nahezu identischen Partherstrophen. Mit diesem Element erscheint der Rest des bedrückenden Präsens der Epoden, nunmehr in die Vergangenheit transportiert; (II) die positive Vorvergangenheit, in c. III 5 wie 6 erstmals altrömisch (Regulus und das bäuerliche Altrom). Mit c. III 5 wird das temporale Gefüge komplettiert. Die Eliminierung des Fluchgedankens setzt eine der Zukunft entsprechende positive Vergangenheit frei, die historisch einmal degeneriert sein muß (und daher die Rezeption der alt römischen Exempla ermöglicht), so wie sie historisch im augusteischen Programm überwunden werden wird (und daher die Anknüpfung an konkrete Aufgaben - Partherkrieg in c. III 5, Restauration der Tempel in c. m 6 - ermöglicht). In dieser Koppelung der Vergangenheit an die Zukunft gründet die bemerkenswerte Offenheit der horazischen politischen Lyrik, welche sie von der Panegyrik (die stets eine Erfüllung der Vergangenheit in der Gegenwart darstellt) deutlich abhebt - eine Offenheit einmal für die Probleme der wechselnden und in den Gedichten verborgenen Gegenwart, eine Offenheit aber auch für eine stets mögliche lyrische Distanziertheit gegenüber dem Politischen überhaupt. Gerade an c. III 6 und 5 läßt sich zeigen, daß sie das Erbteil des alten Fluchgedankens war, dessen Auflösung in historische Bewegung die Einfügung des auch bei Livius explizierten Dekadenzschemas begünstigte. Sein Kontrast mit der augusteischen Zukunft ist nichts anderes als der vieldiskutierte Widerspruch im Geschichtsbild der Ode m 6; aus ihm aber erwächst auch der eingangs besprochene Gegensatz zwischen dem gelungenen exemplum des Regulus und dem nachfolgenden Verfall in c. m 5. 65 [330] 65 Der »immeritus« Büßende von c. III 6,1, dem ein Aufhören des Verderbens in Aussicht gestellt wird, erscheint in der letzten Strophe - der letzten der Römeroden ! - als keineswegs letztes Glied einer Dekadenzkette. Die Glättungsversuche sind zahlreich (Zusammenstellung bei V. Cremona [Anm. 59], S. 267f.), aber die offene Dissonanz bleibt bestehen. Die stufenweise Dekadenz, welche die zeitlose Identität der Fluchwirkung abgelöst hat (»hoc fonte derivata clades«, c. III 6,19), kann mit der augusteischen Erneuerung noch in keiner gemeinsamen historischen Bewegung abgebildet werden. Wie in c. III 6 die positive Zukunft nicht aus dem Duktus der römischen Geschichte heraus vermittelt werden kann, so in c. III 5 das gelungene Exempel des Regulus nicht in die römische Geschichte hinein: Die von Regulus verhinderte »pernicies veniens in aevum« (v. 15) tritt doch ein. - Erst die Nachzeichnung der in c. III 5 und 6 identischen Zeitstruktur erlaubt also die oben 15

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In der dritten Römerode ist nun das zeitliche Gefüge selbst, aus dem jede gegenwärtige Situation Roms gedeutet werden kann, zum Thema geworden66 - in einem solchen Maße, daß dieses geschichtstheologische Gedicht Vergangenheit und Zukunft nahtlos zusammenzufügen scheint. 67 Horaz überbaut nunmehr die unvermittelte Korrespondenz von Mythendeutung und Gebet an den Soter Oktavian, wie sie c. I2 hergestellt hatte,68 durch eine zweite groß angelegte Vergil- 69 und Ennius-Rezeption: 70 Die im ersten Buch der Georgica angelegte Entsühnung des Laomedon-Fluches, ihre im ersten Buch der Aeneis noch vertiefte Hindeutung auf Romulus und den neuen Quirinus Augustus wird in das gesamte historische Spannungsfeld Troia-Rom eingefügt. Doch zeigt wiederum das temporale Gefüge der Ode - das komplexeste in der politischen Dichtung des Horaz - den Unterschied zum vergilischen Seitenstück. Die segensreiche Zukunft ist hier an keine Bedingung mehr gebunden,71 steht fest: Augustus wird die Apotheose zuteil werden. Er ist in [331] einen griechisch-römischen Heroenkatalog eingereiht, der sich bis zu den spätesten Gedichten nicht mehr wandeln wird. 72 Immerhin steht die Apotheose noch aus (»bibet«, v. 12)13 und wird vergeforderte Erklärung dieser Diskrepanz: Sie folgt aus dem Kontrast der augusteischen Wende mit der geschichtlichen Dekadenz, dem Thema beider Oden. 66 H. St. Commager [Anm. SO], S. 223: c. III 3 »is about chronology«; vgl. auch V. Cremona [Anm. 59], S. 208. 67 Vgl. die Kritik Cremonas [Anm. 59], S. 211, der den Gegenwartsbezug vermißt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das gnomische Präsens der ersten beiden Strophen; zu ihm E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1956. 68 Der Ilia-Romulus-Mythos wird in v. 29ff. zitiert; vgl. auch die Bemerkungen Cremonas [Anm. 59], S. 209. 69 Zu ihr vgl. H. J. Krämer [Anm. 34], S. 364ff.; V. Buchheit, Vergil über die Sendung Roms, Heidelberg 1963, S. 146ff.; M. Pani, Troia resurgens, in: Annali della Facold. di Lettere e Filosofia (Bari) 18, 1975, S. 65ff. 70 Vgl. zur Sonderung der ennianischen Elemente die eingehende Auseinandersetzung mit V. Buchheit bei V. Cremona [Anm. 59], S. 213f. 71 Auch v.43f. zweifelt nicht mehr an der Lösung der traditionellen >Aufgabeaugusteische< Gegenwart des Dichters mit einschließt. Wäre das der Fall, dann läge eine temporal genau bestimmte typologische Dichtung, deren Energie auf die gesteigerte Identität des princeps mit Romulus gerichtet wäre/6 vor. In ihr wäre die aktuelle Gegenwart als offenes Problem in der Tat nicht mehr angedeutet: Die Zukunft augusteischer Erfüllung bewegte sich dann durch die Typologie der beiden Apotheosen auf eine augusteische Gegenwart hin und öffnete sich damit typologischer Panegyrik (Vergangenheit [332] - Erfüllung). Dagegen spricht zunächst die Überlagerung der beiden Sprecherperspektiven, sodann die Tatsache, daß Horaz in deutlichem Kontrast zu den anderen Heroen die Apotheose des Augustus eben nicht ins Präsens setzt, ferner überhaupt die Nennung des Augustus: Echte typologische Dichtung wiese auf die Identität mit dem princeps eben durch die Darstellung eines sichtlich gesteigerten >RomulusBedingung< der Juno v. 57ff., das Verbot, Troia wiedererstehen zu lassen, den Zusammenschluß der Typologie 78 - und zwar so deutlich, daß sie wiederum eine aktualisierende Deutung geradezu herausforderte. 79 Auch wer sie als Aufruf zur 74 Eingeleitet durch ein »dum« von unbestimmter Dauer. 75 Es kongruiert also - ganz wie der horazische Sprechhorizont in bezug auf die >Gedichtsituation< - keineswegs mit dem genauen Zeitpunkt von Junos Rede; nicht nur der »Anachronismus« von v. 42f. (R. Heinze [Anm. 13], ad loc.), sondern auch v. 38f. (noch die Situation des irrenden Aeneaden voraussetzend) deutet dies an. 76 Vgl. für viele F. Klingner, Horazens Römeroden [Anm. 16], S. 347: »ganz und gar auf Augustus bezogen«. 77 Man vergleiche demgegenüber die Formulierung Aen. 1,292. 78 Nur wer sie, mit R. Heinze [Anm. 13], Einl. zu c. m 3, als »poetische Einkleidung« betrachtet, wird dieser Schwierigkeit entgehen. 79 Vgl. wiederum Th. Mommsen [Anm. 21], S. 173ff. Auch ein durch c. I 15 17

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Abwendung von Troia als der moralisch schlechten Vergangenheit versteht 80 (also ähnlich c. III 1 und III 6j hierfür spricht die scheinbar aus dem Kontext der Rede fallende Strophe v. 49ff.), wird damit eben auf die scheinbar ausgesparte, noch zu bewältigende Gegenwart geführt. Der eigentliche Sinn dieses Überschusses aber erhellt aus dem Vergleich mit Vergil: 81 Im Unterschied zur grundsätzlichen Augustus- Typologie der Aeneis, die durch den Dardanus-Mythos auch räumlich zum vollen Zyklus gestaltet worden ist, fordert das offene Geschichtsdenken des Horaz die Lösung von der Vergangenheit als Aufgabe vor der künftigen Erfüllung: Troia 82 muß zerstört bleiben, um die Palinodie des Fluches der 16. Epode 83 zu vollenden. Die Endform lyrischen Zeitgefüges kündigt sich bereits in dem letzten datierbaren politischen Gedicht der ersten Odensammlung an, in c. III 14 (v. 1-4): [333]

»Herculis ritu modo dictus, 0 plebs, morte venalem petiisse laurum Caesar Hispana repetit Penatis victor ab ora.« Erstmals spricht Horaz im positiven Präsens - und zwar in einer sichtbaren Abwandlung der Augustus-Zukunft von c. III 3, welche die nach wie vor bestehende Offenheit und Gefährdung dieser politischen Dichtung erweist. Wie der griechische Heros hat der princeps den Tod besiegt - von der Apotheose ist nicht mehr die Rede 84 -j die Segnung der Gegenwart besteht gerade darin, daß er lebt, seine Abwesenheit schon bedeutet Unsicherheit. Zu Recht hat der Blick sich auf die »Krise des Prinzipats« in der Entstehungszeit des Gedichts (23 v.ehr.) gerichtet, haben aber auch die vernehmlichen Untertöne und Befremdlichkeiten 85 des Gedichts nahegelegtes allegorisches Verständnis von v. 25ff. (Antonius und Kleopatra) stünde quer zur typologischen Sequenz. 80 Vgl. V. Cremona [Anm. 59], S. 209, mit Überblick über die Forschung. 81 Vgl. V. Buchheit [Anm. 69], S. 147ff.; H. Kempter [Anm. 19], S. 58; M. Pani [Anm. 69], S. 67 Anm. 64. 82 Troia ist hier das »Urbild verhängnisvoller naher Vergangenheit« (F. Klingner, Horazens Römeroden [Anm. 16], S. 348). 83 So mit W. Wimmel, in: Acta philologica Aenipontana 2,1967, S. 88. 84 Unzutreffend die Kritik E. Doblhofers (in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1964) an den richtigen Beobachtungen D. Kienasts (in: Chiron 1, 1971, S. 242f.). 85 Vgl. v. I1ff., sodann die »atrae curae« des Dichters (v. 13f.), vor allem jedoch 18

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Beachtung vor allem durch die Historiker gefunden. Die Philologen in ihrer Mehrheit versuchten zu harmonisieren; noch in der Interpretation von c. III 14 kehrt die unterschiedliche Horazdeutung der beiden Disziplinen wieder. 86 Es kann nicht mehr überraschen, daß auch in dieser Ode die Zeitverhältnisse das Interpretationsdilemma beleuchten. Durchweg unbeachtet 87 blieb nämlich das Futur »exiget« (v. 14): »dieser Tag«, so Horaz - und zwar nach der Aufforderung und den Anweisungen zur Festprozession -, werde ihm die Sorgen verscheuchen; es folgt dann die zweite Aufforderung an den puer zur Vorbereitung des Symposiums. Die naturalistische Logik fand bis heute (da man an dem Problem gewöhnlich vorbeigeht) keine widerspruchslose >Situation< für diese Sequenz,88 insbesondere für das Futur. Es hat [334] jedoch wiederum einen Eigenwert, bezeichnet den Ort des lyrischen Sprechens. Es distanziert nämlich erneut das Futur der Erfüllung - dieses Mal sogar vom Präsens des Sieges; und es projiziert, wie am Anfang der Reihe, diese Erfüllung in den sympotischen Bezirk. 89 Die Nachzeichnung der Zeitstruktur in der horazischen Lyrik allein erlaubt es nicht, diese Entwicklung als eine Regression, inhaltlich als einen Rückzug aus den stehengelassenen Fassaden offiziöser Poesie, zu deuten. Aber man muß feststellen, daß die politische Panegyrik 90 weiterhin durch die Variation nach anderen lyrischen Funktionen suppliert und das fatale Epitheton »unicus«, das Augustus als Gatte der Livia gegeben wird (man lese gegenüber den Glättungsversuchen neuerer Zeit die Kommentare von Mitscherlich [Q. Horatii Flacci Opera. Illustr. ehr. W. Mitscherlich. Bd. 1, Reutlingen 1814 u.ö.] und Orelli-Baiter [Anm. 40]). 86 Guter Forschungsbericht: E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1962ff. 87 Ausnahme: Heinzes Erklärung ([Anm. 13], ad loc.), »weil der Tag ja noch nicht abgelaufen ist«. 88 Orelli-Baiter [Anm. 40] und K. Numberger [Anm. 25], ad loc., nahmen als Situation das »Bekanntwerden« der Abreise des Augustus aus Spanien an; Heinze [Anm. 13], ad loc., versteht eine supplicatio vor der Rückkehr; beide Interpretationen werden zur Hauptsache durch das Futur in v. 14 ausgelöst. H. P. Syndikus [Anm. 4], Bd. 2, S. 149, ignoriert es und nimmt den >Tag< als das wirkliche Einzugsfest. 89 Man vergleiche das Zeitgefüge am Beginn der Aktiumepode und der Kleopatraode. 90 In ihrer pindarischen Form (c. IV 4 und 14) bleibt sie ein Sonderfall, dessen Interpretation doch wohl auch den Blick auf die Suetonvita erfordert. Aber auch die durchgehend präsentische Endform dieser formgeschichtlichen Reihe c. IV 5 erinnert mit der Apostrophe des entfernten princeps an c. III 14: An die Stelle der zeitlichen Distanzierung tritt das Thema der räumlichen Ferne. 19

AUGUSTEISCHE ERFOLLUNG

durchkreuzt wird - hier durch die sympotische )zweite GedichthälfteAuseinanderfallen< beider Gedichthälften hat die Forschung seit Klingner immer wieder beschäftigt; bereits E. Burck betonte die zentrale Funktion der Strophe v. 13ff. (Nachweise bei E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1962f.). 92 Das zeigt die Häufung der Motive seit den Anfängen der Gruppe: die deutliche Reminiszenz an den Fluchgedanken (v. 11), das Parthermotiv (v. 7f.), die moralische Restitution (v. 9ff.) , der Rekurs auf Altrom (v. 12ff.), die Meisterung der Bürgerkriegsgefahr (mit Reminiszenz an epod. 7: v. 19) und der Deutungshorizont der troianisch-römischen Geschichte (v. 31f.). 93 Seine Untersuchung vermag etwa die seit E. Fraenkel ([Anm. 2], besonders S. 43ff.) analysierte Umwandlung der altgriechischen lyrischen Formen bei Horaz zu beleuchten; sie nähert sich auch - unter den Aspekten >Offenheit< und >Distanzierung< - den Interpretationen Pöschls über den Platz der politischen Lyrik im Gesamtwerk; endlich hebt sie die temporalen Gefüge bei Horaz von den typologischen Bildungen Vergils ab (vgl. auch W. Kreinecker, Die politischen Oden des vierten Buches des Horaz, Diss. Innsbruck 1970, S. 138f.), unterstreicht also den Formenreichtum geschichtlicher Darstellungsformen in augusteischer Zeit. Vgl. zur vergilischen Typologie die Zwischenbilanzen von G. Binder, Vergils Aeneis und der Staat des Augustus, in: KFS [Katholische Freie Schulen] im Erzbistum Köln 46, 1981, S. 46ff., und R. Rieks, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. 11 31.2, Berlin 1981, S. 80sff. - Nicht behandelt werden konnte an diesem Ort das Verhältnis von >futurischen< und >präsentischen< Steigerungsstufen in der Typologie - der futurische Bezugspunkt, wie er in c. III 3 gegeben ist, schließt an sich noch nicht die Typologie aus. Eine solche Untersuchung träfe auf eine parallele Diskussion über die Typologie in der spätantiken Poesie; vgl. Herzog, Probleme 20

AUGUSTEISCHE ERFÜLL UNG

schränkungen in dieser Reihe weist jedoch über sich hinaus. Das zeigt sich zunächst darin, daß ihre formgeschichtliche Chronologie im wesentlichen mit der historisch oder gattungsgeschichtlich zu ermittelnden Folge übereinstimmt. 94 Über das Verhältnis zwischen epod. 7 und epod. 16 macht die Formgeschichte eine klare Aussage (s. oben); ebenso bemerkenswert ist die frühe [336] Datierung von c. I 14.95 Der Kleopatraode folgen würde hiernach c. I 2; nicht eindeutig entschieden werden kann auch unter dem Tempusaspekt 96 das Verhältnis von c. III 3 und III 5 (mit c. III 6): Beide führen in c. I 2 erreichte Konfigurationen weiter, c. III 6 rückt jedoch nahe an die Regulusode heran. C. III 14, historisch sicher spät (24 v.Chr.) zu datieren, gibt sich auch temporal als Anknüpfung an c. III 3 zu erkennen. Im vierten Oden buch würde c. IV 5 gegenüber dem im allgemeinen als letzte Ode angesehenen c. IV 15 die Endstufe bezeichnen. Weit über das Feld der politischen Dichtung hinaus aber führen diese Untersuchungen zum Zeitgefüge, weil sich zeigen läßt, daß seine sämtlichen Züge, vor allem die Präsenseliminierung und die Verschränkung von Futur und Präteritum, sich auch in den Reihen der sympotischen und der erotischen Oden entwickeln. Eine Darstellung des Gesamtzusammenhangs kann hier nicht gegeben werden; immerhin nötigt der Befund dazu, die Zeitstruktur der horazischen Lyrik ernst zu nehmen und sie abschließend in eine Verbindung mit den schon mehrfach berührten Aspekten der Gedichtsituation, der Fiktion und des Verhältnisses zwischen lyrischer Zeit und Situationszeit zu stellen. Die Thesen Heinzes 97 - die bisher einzige Theorie zum poetischen Verfahren der horazischen Ode - hatten bereits den engen Zusammenhang der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität [in diesem Band: S. 203ff.], und V. Buchheit, in: Hermes 109, 1981, S. 235ff. 94 Für die historisch gewonnene Chronologie sind heranzuziehen: H. D. Meyer [Anm. 22]; D. Timpe [Anm. 24]; R. Saeger [Anm. 3]; D. Kienast [Anm. 24]; vgl. im übrigen besonders K. Ecken, in: Der Altsprachliche Unterricht Reihe 4, Heft 2, 1959, S. 69ff.; H. St. Commager [Anm. 50], S. 160ff.; W. Wimmel [Anm. 83]; G. Wille, Horaz als politischer Lyriker, in: Timetikon aphieroma eis K. I. Merentite (... ) [Festschrift für K. J. Merentitis], Athen 1972, S. 440ff.; E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1936ff. 95 Vgl. zum Problem E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1937. 96 Für c. m 5 kann nach den historischen Indizien nur ein Ansatz von 27 bis 25/24 v.Chr. gegeben werden (vgl. D. Timpe [Anm. 24], S. 167 Anm. 3). 97 Die horazische Ode (1923), in: ders., Vom Geist des Römenums, Darmstadt 31960, S. 172ff. 21

AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG

zwischen der streng situationsgebundenen98 und realen99 Adressatenlyrik und ihrem »voluntaristischen« (weil dialogischen), [337] besonders auch futurischen Charakter hervorgehoben. Dieses Konzept stieß sogleich auf Widerspruch, einmal wegen seiner verfehlten Einschätzung der >modernen< Lyrik als Erlebniskunst,l°o sodann wegen seiner zu schmalen Basis: Nicht wenige Horazoden kennen keinen Adressaten im Heinzeschen Sinn 101 - darunter gerade auch die wichtigsten politischen Oden. Diese Ablehnung hat sich mit den formalen Beobachtungen Heinzes nicht eigentlich auseinandergesetzt, 102 sie nur verdrängt; sie verhinderte U ntersuchungen zum Zeitaspekt, die für andere römische Dichter nicht fehlen. l03 98 Diese Situationsgenauigkeit, bereits durch J. G. Herder erkannt (vgl. Briefe über das Lesen des Horaz, an einen jungen Freund, Brief 2 (,AdrasteaRessentimentApparat< der Aeneis, aufs stärkste verwandelt. Man vergleiche den göttlichen Handlungsanstoß in der Odyssee: Poseidon straft den Helden für ein Vergehen; dort ist die göttliche Aktion eine isolierte, judiziale Handlung, die im übrigen sowohl der Götterwelt ihre Autonomie (ihre eigenen, durchaus nicht auf das Epos bezüglichen >Geschichtenaußerhalb< des Epos stehen wie die Beliebigkeit menschlicher Handlungen. Bereits die großen, in der Forschung als >Durchblicke< bezeichneten »Entrollungen« der nachaeneadischen Geschichte (Jupiterprophezeiung, Heldenschau, Schildbeschreibung) sitzen handlungsfernen, nämlich hermeneutischen Darstellungsformen auf. Sie ergeben jedoch, besonders in den kleineren Spiegelungen/4 Luxurierungen in Form von zusätzlichen, dem Leser zugedachten Informationen zu Geschichte, Geographie und Ätiologie, wie es sie vorher im Epos nicht gegeben hat. Vor allem aber eröffnet die Überlagerung der mythischen durch die geschichtliche memoria in der paganen Antike erstmals die Denk- und Darstellungsform der steigernden Wiederholung, die Typolo· gie. 25 Augustus ist in solchem Horizont »Troianus Caesar« (1,286); damit wird aber bereits der von Rom wissende Aeneas sehr viel mehr sein als der mythische Aineias, der nicht begreift, warum er nicht den Tod seiner trojanischen Mitkämpfer teilen dad. [85] Aus dieser typologischen Dreistufigkeit ist handelnd, im Werk, einzig 22 Was nie aus dem Potential der im fatum erschlossenen geschichtlichen Zukunft heraus geschieht (vgl. 7,286ff.). 23 Die Erscheinungsform dieses Vorganges ist die >tanta moles< (1,33), die mythisch-geschichtliche »Anstrengung« - Hegels Lieblingszitat aus der Aeneis. 24 Diese leserbezogenen Formen verursachen in seltenen Fällen sogar eine ausdrückliche Handlungsreduktion: so verschiebt Jupiter eine Fortsetzung des Götterkampfes auf den späteren punischen Krieg (10,lff.). 25 Also nicht mehr nur die längst vertraute >vertikale< Spiritualisierung in der Allegorese.

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AENEAS' EPISCHES VERGESSEN

Aeneas anwesend. 26 Die Frage ist, wie der epische Held in diesem Werk zu handeln vermag. Auf Aeneas' Schultern liegt zweifache Erinnerungslast; sein Handeln aber scheint doch offen, nämlich frei zu sein für Fiktionen wie zuvor in keinem Epos. Denn seine Fahrt ist nicht mehr als nostos mythologisch festgelegt. Andererseits waren seine Kämpfe noch nicht Bestandteil der römischen Geschichte. War sein Fahrtziel durch die in vielen Einzelzügen vorgegebene italische Aeneaslegende bestimmt, so hatte sie den Apologen des Odysseus und ihren Abenteuern geradezu zu konkurrieren. 27 Erst mit der Aeneis schienen die Voraussetzungen für die Forderung des ersten großen nachhomerischen Epikers Choirilos nach einem atlos logos erfüllt zu sein. In dieser Erwartung sieht man sich getäuscht. Zunächst reproduziert Aeneas' Handeln die homerischen Szenen der Ilias und der Odyssee in einer Ausschließlichkeit, daß es bis heute kontrovers ist, ob überhaupt >eigene< szenische Ensembles vorliegen. Der (Homer-)Leser sieht »jeden seiner Tritte voraus« (Herder).28 Bereits die Seesturmszene ist eine solche Reproduktion (Od. 5,297ff.): der im Sturm vor dem Phäakenland bedrängte Odysseus kehrt mit Situation, Sprache und Szenenverlauf als Aeneas wieder. Es handelt sich nicht um die übliche Intertextualität von Imitation und Evokation, sondern um typologische Wiederholung - und zwar erstmals in der europäischen Literatur um gesetzte, erzählte (nicht: expositorische) Typologie. Ihre Merkmale sind unverkennbar und in der großen Untersuchung von G. N. Knauer 29 vollständig aufgeführt worden: Mehrfachbesetzung (grundsätzlich können alle Situationen und Personen der homerischen Epen kumuliert werden); Reproduktion von Struktur, Konsistenz, kontingentem Detail bei Variation von Motiv, Telos, »Stim26 Der Begriff Typologie ist von G. N. Knauer, Die Aeneis und Homer, Göttingen 1964, S. 345-359, in Anlehnung an die Bibelexegese in die Vergilforschung eingeführt worden. Zum Problem: Herzog, Augusteische Erfüllung zwischen Vergangenheit und Zukunft [in diesem Band: S. Hf., hier: S. 20ff.]. Zur typologischen Mehrstufigkeit nach den Untersuchungen F. Ohlys jetzt K. Stierle, Odysseus und Aeneas, in: Das fremde Wort. Festschrift für Karl Maurer, hrsg. von I. NoltingHauff, Amsterdam 1988, S. 152f. 27 Odysseus war bis in die Zeit der mittleren Republik durch eine Vielzahl italischer Legenden der Hauptkonkurrent für die Stelle auch des römischen Nationalheros; vgl. G. K. Galinsky, Troiae qui primus, in: Gymnasium 81,1974, S. 182-200. 28 J. G. Herder, Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, in: Sämmtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Berlin 1878, Bd. 3, S. 103. 29 S. Anm. 26; zu ergänzen durch M. Lausberg, lliadisches im ersten Buch der Aeneis, in: Gymnasium 90, 1983, S. 203-239. 32

AENEAS' EPISCHES VERGESSEN

mung« (Heinze) - wobei auch die Umkehrung von Reproduktion und Variation in beiden Gruppen möglich ist; Kontamination aller Grade; Epiphänomene wie >LeitzitateEntwicklung< des Helden. Sie determiniert ihn in einem Maße, das bis zur Verformung personaler Konsistenz reiche 4 und nur als Einformung des augusteischen Lesers und seiner panegyrischen Forderungen in den Helden erklärbar ist. 35 Auch hier haben solche Einformungen die bekannte Tendenz zur Wucherung: Aeneas' künftiges Schicksal ist, wohin es ihn immer verschlägt, allen [87] Begegnenden in eigentümlicher und oft ganz unwahrscheinlicher Weise bekannt: 36 die memoria der fata zehrt ihrerseits die Möglichkeit von Odysseus-Abenteuern, den epischen Schock der unerwarteten Kontingenz, auf.

II »Nach meinen physiognomischen Kenntnissen akkurat wie der fromme Aeneas, als ich den· selben gestern mittag vor dreitausend Jahren von der Dido weglaufen sah.« Der Teufel in ehr. Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung

Solche memoriale Mehrstöckigkeit ist es, die das erste >sekundäre Epos< geprägt hat - und damit die Aeneis-Kritik seit dem 18. Jahrhundert (bis 34 Vor dem nationalen >Höhepunkt< des Epos, dem descensus und der Heldenschau, versichert Aeneas der Sibylle (6,56ff. 103ff.), er erfahre eigentlich nichts Neues. Ovid hat in seiner Replik des Aeneas gerade die fehlende Neugier des Helden thematisiert; vgl. S. Döpp, Vergilischer Einfluß im Werk Ovids, München 1968, S. 51. 35 Auch in der Vergil-Forschung als Propaganda abgewertet (vgl. das Kapitel »Impure poetry« bei K. Quinn [Anm. 16], S. 26ff.). - Kritische Rekapitulation des augusteischen Leserhorizonts: Ph. Holt, Who understands Vergil's prophecies, in: Classical Journal 77, 1982, S. 303-314. 36 Vgl. 1,522ff.; 1,565 (Dido vor TIioneus); 7,222ff. (in Latium). 34

AENEAS' EPISCHES VERGESSEN

zu Niebuhrs Urteil, Vergil habe als Epiker seinen Beruf verfehlt}.37 Viel nachhaltiger aber dürfte sie die über ein Jahrtausend währende und noch uns eingefleischte Aeneas-Kritik verursacht haben: 38 Aeneas ist der mißglückte Held schlechthin. Die Stereotypen sind in jedem Jahrhundert seit den christlichen Apologeten vertreten: blaß,39 unheldisch,40 grausam trotz aller (unbelegten) pietas41 - ja gerade durch sie in seiner Treulosigkeit das Urbild des erotischen Tartuffe,42 als der er noch für Grabbes intertextuellen Teufel einzig eine individuelle Physiognomik erhält. Sieht man näher hin, geht diese Irritation auf den unbezweifelbaren Befund zurück, daß Aeneas die Konsistenz als fiktionale Person (im Sinne der homerischen Epik), als >Charakter< im Sinne der peripatetischen Poetologie fehlt. 43 Und offensichtlich handelt es sich hierbei um personale Verwerfungen, die aus dem Ineinander der beiden erörterten memorialen Horizonte der Aeneis entstehen. Aeneas ist - nicht nur in der Sicht der verlassenen Dido »eiectus« und »egens« (4,373), also [88] >unheldischPreface< zur englischen Ausgabe von R. Heinze, Virgil's epic technique, London 1993; R. Rieks, Vergils Dichtung, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. 11 32.2, Berlin 1985, S. 728-868. 39 Vgl. M. Griffith, What does Aeneas look like?, in: Classical Philology 80, 1985, S. 309-319. 40 Vgl. Heinze [Anm. 9], S. 272. 41 Der älteste Vorwurf, der, wie zuletzt wieder in der amerikanischen Philologie, an das Ende der Aeneis, die Tötung des Turnus, anknüpft: vgl. Lact. inst. 5,10. 42 Die bekannteste Kritik; noch V. Pöschl, Dido und Aeneas, in: Festschrift K. Vretska, hrsg. von D. Ableitinger-Grünberger, Heidelberg 1970, S. 148-173 (mit historischem Überblick), spricht vom »Mißbehagen« jedes Lesers über die »kalte Herzlosigkeit« (S. 160). 43 Vgl. E. Kraggerud, Aeneisstudien, Oslo 1968, S. 11-105. 44 Ein Leitmotiv; vgl. 1,529 (vor Dido). 35

AENEAS' EPISCHES VERGESSEN vir«, der sich auch als solcher Unbekannten vorstellt,45 aber jedermann

bekannt ist - ersichtlich sub specie fati. 46 Der oft fühllosen Starre47 (nicht nur in der Dido-Episode) des die fata vollziehenden Instruments kontrastiert Verzweiflung, Todesangst, das Bewußtsein sinnlosen Abgemattetseins und der vergeblichen Mühe,48 das im >Waschlappensyndrom< der allgegenwärtigen Heldenträne mündet. 49 Vergil hat zuweilen die Notwendigkeit gesehen, eine plastische Konsistenz der Person zu vermitteln und damit einen Innenraum des Helden ahnen zu lassen. so Aber hier handelt es sich um Epiphänomene,51 die nicht zu einer psychisch hervorgerufenen Fiktionalität führen, deren Vergil doch in den Eklogen durchaus fähig war. Dem in solcher Sicht schlecht konstruierten Helden haben sich die philologischen Interpretationen in einer Kette von Deutungen substituiert, die mit der >Entwicklungsgeschichte< über das Leiden der humanitas an der eigenen geschichtlichen Größe bis zum >subversiven< Helden getreulich das 19. und 20. Jahrhundert spiegeln. 52 Nun ist hier keine Rettung des Aeneas als eines epischen Helden beabsichtigt. Offensichtlich hat er vor allem gegen die memorialen Horizonte von Mythos und Geschichte zu kämpfen. Diese Erkenntnis freilich führt zu der These, die Aeneas' poetische Faszination erklären könnte: Im Schnittpunkt dieser Horizonte, genauer: im toten Winkel ihrer Über45 1,379; »fama super aethera notus« ist dabei homerische Formung (Od. 9, 19f.) - das Prädikat »pius« aber bleibt durch die Handlung unvermittelt. 46 W. R. Johnson, Aeneas and the ironies of pietas, in: Classical Journal 60, 1964, S. 360ff. 47 Vgl. D. Feeney, The taciturnity of Aeneas, in: Classical Quarterly 33, 1983, S.204-219. 48 Leitbegriffe: »fessus«; »labores«; vgl. R. Rieks, Affekte und Strukturen, München 1989, S. 135ff. 49 Spezialstudien: R. Rieks, Die Tränen des Helden, in: Silvae. Festschrift für E. Zinn (... ), hrsg. von M. von Albrecht u.a., Tübingen 1970, S. 183-198; ders., Affekte und Strukturen [Anm. 48], S. 138ff. 50 »Spes« und unbewegter »vultus« gegenüber den Gefährten, »dolor« »im Herzen« (1,209). 51 Indiz sind die vergilischen Leerstellen der Innerlichkeit vom Typ »plurima volvens« (1,305): der Inhalt dieser Erwägungen wird zwar nach homerischem Vorbild (Od. 9,445) nicht mitgeteilt, doch wuchert die Formel (vgl. 3,34; 4,238. 332) und bezeichnet so die gestörte personale Konsistenz selbst. 52 R. Heinze [Anm. 9], S. 272; K. Büchner, Art. >P. Vergilius MaroErinnerung< übergibt. 53 Sie wird nicht aus einem Gedächtnis hervorgeholt; sie springt an - als eine Gruppe von Gestalten, die - hier als Tote - zu jener einfachen Einheit zusammenschießen, die >Griechen und Trojaner< ergibt, und die Aeneas, der sich an sie und an ihnen sich erinnert, umschließt und sein Ich in diese Erinnerung wirft (Zugehörigkeit; Todeswunsch; Handlungsenthobenheit). Das ist eine genaue Phänomenologie, sichtbar auch an den Begleiterscheinungen, zunächst des Schreckens, der Trauer, der Unsagbarkeit und allgemein eines Vernichtungsgefühls,54 dann am affektiven Resultat, dem Erschlaffen, dem alles überlagernden Ruhebedürfnis. 55 Darüber hinaus aber - poetologisch - gewinnt diese Erinnerung Bedeutung, weil sie aus der beschriebenen Konkurrenz des memorialen Drucks auf Aeneas hervorspringt. Gewiß, sie verschließt ihm vorderhand jede Handlungsmöglichkeit. Aber dies eben 1) als Resultat von Junos memoria: sie ist es, die aus ihrer mythischen melete durch den Sturm des Äolus 53 Vgl. die Nachweise bei H. Schmitz [Anm. 5]. 54 So besonders am Beginn des zweiten Buches: »animus meminisse horret tuetuque refugit« (2,12); »quorum (sc. >Griechen und Trojaner1 pars magna fui« (2,6; »pars magna« steht für die der Erinnerung zugehörige Individualität); der Schmerz kann nicht erzählt werden (»infandus dolor«, 2,3); seine Wiederholung (»renovare«, 2,3) wäre unerträglich. - Wie sich zeigen wird, wird die gleichwohl erfolgende Erzählung des Helden die neue memoriale Dimension des Gedächtnisses vollenden. - Gute Beobachtungen bei E. Henry, The vigour of prophecy, Bristol1989, S. 1-18 (»Memory«). 55 Leitbegriffe: »finis«; »quies«; »requies« (eine Spezialuntersuchung fehlt). Diese Vorstellung überlagert in Aeneas immer wieder die fata-Verheißung; vgl. 3,393ff.: »requies ea (sc. Italien) eerta laborum«. 37

AENEAS' EPISCHES VERGESSEN

Aeneas in die Vergangenheit des Mythos bannt: seine Erinnerung im Blitz des Sturms ist auch die Identität mit dem, was Juno in ihm sieht; 2) als Resultat der fata-Verheißungen - und zwar als Vergessen. Denn die memoria der künftigen Geschichte kann zwar vergessen werden, aber sie ist in seinem Gedächtnis. Sie wird immer wieder memoriert werden können: in Orakeln (und deren Erfüllungen), in Bildern (und deren Deutungen), in hermeneutischen Verfahren, die sämtlich auf eine Mnemotechnik des Lesers zulaufen und damit die Personalität des Helden ebenso transzendieren wie die mythisch-homerischen Doppelungen. Diese personale U nabgeschlossenheit aber ist es, die in einer neuartigen Poetik der memoria das alte Epos überwinden wird. Die soeben angedeutete Dialektik zwischen Aeneas' Erinnern und Vergessen setzt sich sogleich nach der Eingangsszene (1,198-207) fort. Der Held ruft die Gefährten (und damit sich selbst; 1,208f.) beim ersten Mahl an der öden Küste zur Besinnung: er erinnert an die erlittene Vergangenheit ~>neque ignari sumus«, 1,198). Diese ist nun von den casus und discrimina rerum der Gegenwart distanzierbar - nämlich als mythische Vergangenheit; Skylla und die Zyklopen stehen für etwas der Gegenwart Unvergleichliches, vor allem Bedrohlicheres. Die Feststellung »passi graviora« (1,199) distanziert vom mythischen Raum und entlastet die Gegenwart (vgl. 1,210ff.), indem sie ein Gedächtnis konstituiert. »Forsan et haec olim meminisse iuvabit« (1,203) vollzieht dann [90] den entscheidenden Schritt: auch die Gegenwart wird als potentielles Gedächtnis erlebt und bewältigt. Und diese Verschiebung kann bei Aeneas nur erreicht werden, indem sie das Vergessen der fatum-memoria aufhebt: jetzt erst nennt er die Verheißung, memoriert sie (1,205f.). Offenbar konstituieren und stabilisieren beide memorialen Räume einander, genauer: die Selbstdistanzierung56 der Erinnerung zum Gedächtnis des Mythos läßt das Gedächtnis der geschichtlichen Zukunft zugänglich werden. Man kann diesen Stabilisierungsvorgang als einen Ausgleich zwischen den beiden memorialen Lasten im Bewußtsein des Helden verstehen. Dieser Ausgleich aber führt zu dem auffälligen Faktum, daß die Selbstdistanzierung des Aeneas auch die >Gegenwart< in die potentielle Vergangenheit verschlingt. Poetisch bedeutet dies, daß die Entlastung des »meminisse iuvabit« gerade nicht zur kontingenten >epischen< Handlung freisetzt. 57 Diese bleibt im Verlies der 56 Andeutungen zu diesem Vorgang bei S. F. Wiltshire, Self-distancing in the Aeneid, in: Vergilius 30, 1984, S. 25-31. 57 Das wird in der Interpretation der deutschen Latinistik, der an der Präparation von >Römerwerten< liegt, ignoriert; vgl. K. Büchner: »Aus jenem Wissen (sc. vom fatum) führt er dann mit seiner Kraft und seinem Wesen als frommer Streiter

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AENEAS' EPISCHES VERGESSEN

mythischen Abgeschlossenheit - daher die anhaltenden Einformungen in die homerischen Szenen. Sie setzt frei eben zum Memorieren, zur Erwartung, zur Beobachtung, zum Gefühl, zur Stimmung. Sie destruiert den homerischen Helden zur »durchgehaltenen« Identität zwischen Mythos und Geschichte. Das Fazit - »durate, et vosmet rebus servate secundis/« (1,207) - mündet in keinen selbständigen (oder gegenüber Homer: fiktionalen) Handlungsansatz. Solche Stabilisierung gelingt Aeneas in den ersten vier Büchern des Epos nur zeitweise und unvollständig. In der Tat kann die vielerörterte >Suche< des Helden, seine >Entwicklung< bei allmählicher Aufhellung des Fahrtziels, auch als stetes Schwanken zwischen Vergessen und Innehaben der Zukunftsverheißung, zugleich zwischen Überwältigung durch die trojanische Erinnerung und ihrer Distanzierung im Gedächtnis beschrieben werden. Und zwar vorrangig als eine Kette von Vergessens-Anfällen. 58 Denn da ein Epos zu entfalten war, hatten die homerisierenden Szenen als Handlung - das fatum selbst gibt nur Gewißheit über die nach-epische, geschichtliche Zukunft - stets den kontemplativen Zug der Selbstdistanzierung zu unterbinden. Damit entsteht die kraß unwahrscheinliche Kette des im Wortsinne epischen Vergessens des Aeneas. 59 Von der Erscheinung Hektors über die Verheißung der Creusa,60 das Augurium am Ende des 2. Buches bis zu den >black-outs< des [91] Irrfahrtenbuchs und der monumentalen Folgenlosigkeit der im descensus enthüllten Heldenschau auf die Handlung im zweiten Teil des EOOS 61 ist die Amnesie des Helden62 nicht seine Aufgabe durch.« (Der Schicksalsgedanke bei Vergil, in: Wege zu Vergil, hrsg. von H. Oppermann, Darmstadt 1963, S. 294). 58 Vgl. schon E. Henry [Anm. 54], S. 131: »customary oblivion«. Das habituelle Vergessen des Aeneas ist jedoch nie zum Bestandteil der Aeneaskritik geworden. 59 Im Wortsinne: nämlich die Form des Epos aufrechterhaltend. Gleichwohl auch in dem Sinne, in dem Th. W. Adorno die Formulierung zur Charakterisierung von Walter Benjamins Nerwahrensvergessen< einführte. 60 Ein besonders krasser Fall, da ihre Verheißung nicht nur sehr explizit ist, sondern sie als erste Gattin zusammen mit ihren Prophezeiungen dem anhaltenden Vergessen verfallen wird. Hier fragte bereits Servius: »cur Aeneas horum non meminit?« - Es kommt hinzu, daß Aeneas dieses Vergessen selbst in Form einer Rekapitulation (Buch 2) erzählt - weder gleicht also der Held als Erzähler die Inkonsistenz aus, noch der Epiker im Rahmen der auktorialen Klammer. Vgl. M. Wifstrand-Schiebe, Der Black-out des Aeneas, in: Eranos 81, 1983, S. 113-116. 61 Ein Maximum an personaler Inkonsistenz ist erreicht, wenn Aeneas die Schilddarstellungen im achten Buch erinnerungslos durchmustert, die mit der im descensus des sechsten Buchs ihm enthüllten (und von ihm kommentierten) Heldenschau z. T. identisch sind. 39

AENEAS' EPISCHES VERGESSEN

nur die Kehrseite des schon erörterten permanenten Memorierens römischer Zukunft gegenüber dem Leser. Vielmehr manifestiert sie sich in den (hermeneutischen) Abschattungen 63 des Verfehlens, der falschen Deutung, auch in Ansätzen zu psychologisch detaillierter Verdrängung64 als Möglichkeit homerischer Kontingenz, die am Ende des fünften Buches dem Ziel der fata noch so entfernt ist wie im ersten. Als Musterfall des heldischen >Sich-Vergessens< gilt seit jeher die DidoEpisode des vierten Buchs. Gewiß ist sie das; so sehen es Fama (»immemores«, 4,194) und Jupiter-Merkur selbst. Der Göttervorwurf »rerumque oblite tuarum!« (4,267) hält indessen Aeneas nicht nur die habituelle Unfähigkeit vor, das fatum ständig zu memorieren. Vielmehr hat Vergil im Dido-Buch eben den bereits genannten entscheidenden Aspekt, die Bewältigung auch der Gegenwart als künftiger Erinnerung, thematisiert; hierin liegt die das übrige Epos weit übergreifende Modernität und intertextuelle Intensität des Dido-Buches beschlossen. Aeneas hat mit dem Beginn der Liebesbeziehung den >trojanischen< Horizont der mythischen Identität grundsätzlich hinter sich gelassen;65 seine >römische< Identität ist vor der Handlung in Italien noch nicht endgültig gefunden. Indiz dieser Situation ist die neuartige Offenheit des Handlungsraums, in dem Dido so wenig die Frauen, denen Odysseus verfallen ist, kumuliert, wie ihr Karthago allein eine Projektion der durch das fatum bestimmten künftigen Konkurrentin Roms ist. Dido bedeutet also erstmals - und letztmals - in der Aeneis die offene, nicht memorial festgelegte Gegenwart. Aeneas trägt nicht mehr Anchises auf den Schultern (den er eben vor der Ankunft in Karthago »verliert«; 3,710); er führt Ascanius, den Garanten der fata-Zukunft (vgl. 1,267ff.), nicht mehr an seiner Hand; Venus hat ihn durch Cupido in Sohnesgestalt ersetzt (1,657ff.). Das statuarische Sinnbild der Aeneas-Karyatide auf der Flucht aus Troja, das nun als memoriales Denkbild sichtbar wird, ist im vierten Buch aufgelöst: Cupido-Ascanius fälscht die memoria der Zukunft ebenso wie der in phönizische - nicht mehr die phrygischen! - Gewänder geklei-

62 Zur gesamten Kette des Vergessens: D. Quint, Painful memories, in: Classical Journal 78, 1982, S. 30-38; E. Henry [Anm. 54], S. 5ff. 63 Aber auch in thematischer Darstellung von »Nicht-daran-Denken« und fast beiläufiger »Wiedererinnerung« im Fall des Anchises (vgl. 3,107 und 182ff.). 64 Zu Aeneas vgl. die Ce1aeno- und die He1enus-Episoden des dritten Buchs. Vergil hat diesen Aspekt bis zum rebellischen Widerspruch in der Gruppe der trojanischen Frauen gestaltet, die die Weiterfahrt verweigern. 65 Hierzu unten III. 40

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dete Aeneas 66 die der Vergangenheit. [92] Die vor der Ankunft in Karthago erreichte Stabilisierung zwischen mythischem und geschichtlichem Bewußtsein läßt eine Balance zu, deren Stillstand die Gegenwart als unbestimmte Offenheit kennzeichnet. Daß Aeneas sie nicht ebenfalls als künftige Erinnerung von sich distanziert, daran erinnern ihn die Götter. Dies aber geschieht wiederum in der anfallartigen Überwältigung, wie wir sie im Seesturm beobachteten. 67 Aeneas zeigt die gleichen physischen Begleitphänomene (4,279ff.); er erblickt schon bei den Worten des Gottes seine gegenwärtige Tätigkeit beim Mauerbau in Karthago als abgeschlossen. Und in Merkurs Ermahnung (4,272ff.; bezeichnenderweise ebenso in Aeneas' eigener Verteidigung vor Dido, 4,351ff.) wird die memoriale Gruppe Anchises-Aeneas-Ascanius wieder konstituiert, genauer: ihre Wichtigkeit über alle individuellen otia (4,271) des Helden hinaus betont. Was die Liebesgeschichte nun beenden wird,68 ist in der Tat erneut die >Starre< der Karyatide: 69 die knappen Entschuldigungen des aufbrechenden Helden stellen die gegenwärtige Situation der Geliebten bereits als Vergangenheit dar (vgl. unten III). Was während der Zeit der Liebesbeziehung von Aeneas sichtbar wird, führt nur das Minimum vor Augen, das die Ausnahmesituation dieses Buches an personaler Kontinuität edordert: Aeneas spricht nicht, spricht vor allem von seiner Liebe nicht (das tut er erst später), wird zum Objekt. 70 Umso farbiger stößt in die Offenheit dieser Gegenwart zwischen Mythos und Geschichte Dido vor - eine späte, hellenistisch-moderne Figur, mit der sich das vierte Buch als memoriale Leerstelle des Epos der Intertextualität, vor allem zur Tragödie hin, öffnet.71 Sie besetzt ihren Platz im Epos nicht mit Kontingenz, sondern mit Rhetorik; ihre Person ist in ihrer rationalistischen und individualistischen Götterkritik weit über den mythistorischen Horizont ihres Partners in die Zeitgenossenschaft des Dichters vorgetrieben. Mit der zweiten >Erinnerung< in der Aeneis, die durch Merkur edolgt, 66 4,261ff. 67 Merkur fährt herab wie das Unwetter (4,253); die überrumpelnde Gottesepiphanie, nicht in Form der Begegnung, ist in der Aeneis einzig. 68 Zur Isolierung der Personen voneinander vgl. S. G. Farron, The AeneasDido episode, in: Greece and Rome 27,1980, S. 34-47. 69 Sie wird noch unterstrichen durch die erneuten Leerformeln psychischen Kampfes (vgl. 4,390ff.) und den epischen Vergleich (4,441ff.). 70 Vgl. E. L. Harrison, Vergil's Mercury, in: Vergilian bimillenary lectures 1982, hrsg. von A. G. McKay (Vergilius Suppl. 11), College Park/Md. 1982, S. 1-47. 71 Vgl. nach wie vor die Zusammenfassung Heinzes [Anm. 9], S. 116ff. 41

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kündigt sich ein abschließender Zustand in der memorialen Struktur des Helden an. In ihr sehen wir Aeneas über beiderlei Gedächtnis (seiner trojanischen Herkunft sowie seiner römischen Zukunft) verfügen - aber er memoriert so wenig mehr aus ihm, wie er etwas auslöscht. Sein Gedächtnis ist ab Buch 5 zunehmend, vollends ab Buch 7, ohne Erinnern und Vergessen; aber es wird ihm, der sich der verheißenen Apotheose nähert, zur melete, einem voll der Gegenwart hingegebenen Handeln, das ihn in der zweiten Werkhälfte Juno vergleichbar macht. Unmittelbar nach Merkurs Epiphanie sehen wir [93] ihn - erstmals - planen, veranlassen, auch (vor Dido) taktieren. 72 Die epischen Szenen werden auch im zweiten Teil der Aeneis homerische Szenen nachvollziehen, wenngleich ihr Zuschnitt nach den italischen Gründungsüberlieferungen und im Hinblick auf Augustustypologien zunehmen, sich also stärker an der geschichtlichen Zukunft orientieren wird. Aeneas selbst aber wird in seinem Bewußtsein 73 nicht mehr ihr Thema sein; er ist zum geschichtlich Handelnden gewandelt. 74 [94] 72 So auch alsbald gegenüber Jupiter, um ihn auf die Durchsetzung der fata festzulegen: Aeneas »erwägt« (I) 5,702ff., »ob er seine fata vergessen soll« - nämlich ostentativ, durch Abbrechen der Fahrt. Das geforderte Regenwunder tritt sogleich ein; die für das sekundäre Epos typische Wandlung der Götterinterventionen zum merveilleux kündigt sich an, das um so schärfer hervortreten kann (vgl. 9,123ff.), als die Handlung sich der Historie nähert. 73 Wo es noch einen Ausdruck findet, hebt es sich gerade im Verhältnis zur eigenen >trojanischen< Vergangenheit von der ersten Werkhälfte ab: man vergleiche die Selbstvorstellung des Aeneas vor Euander 8, 127ff. mit jener vor Dido. Nunmehr offeriert der Held seine Genealogie, führt sie mit diplomatischer Überlegung bis zu dem Punkt, an dem sich Euander des Anchises erinnern kann (8,155ff.; dreimal variiert). Der Umgang mit der eigenen (mythischen) Vergangenheit erfolgt planvoll: es handelt sich jetzt um ihre Nutzung, um historisch zu setzende Fakten, das Bündnis mit Partnern, die nicht mehr von vornherein am universalen (Leser-) Wissen von Aeneas partizipieren. Daß Vergil diesen Wissens-Horizont einschränkt, bedeutet, daß der Leser nicht mehr zur Kontemplation eingeladen, sondern gespannt wird auf die Vorbereitung der römischen Frühgeschichte. Dieser Horizont ist Livius bereits näher als Homer. 74 Das Zwielicht von Mythos und zunehmender Geschichtlichkeit in der zweiten Werkhälfte ist zwar in der Forschung von der Kontroverse um die Wandlung des Aeneas überschattet worden (s. Anm. 163), fand aber Beachtung (eine zusammenfassende Untersuchung fehlt); vgl. Heinze [Anm. 9], S. 172ff.; Otis [Anm. 3], S. 313; Gransden [Anm. 6], S. 39ff. Dieser Teil ist überwiegend »streng quellenmäßig« (Heinze, S. 248) fundiert. Dies stellt sowohl vor Probleme hinsichtlich der inven· tio, bis hin zur Namensfindung (s. Anm. 30), wie auch vor das Paradoxon, daß die Kampfbücher zugleich »einförmig« und »unübersichtlich« (Heinze) wirken können 42

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- ein Indiz für einen zunehmenden Kontrast von zur Geschichtlichkeit tendieren· den ErzählabläuJen zu solchen des Epos. >Episierung< (ein typisches Kennzeichen des sekundären Epos) wird dann nicht nur sichtbar, wenn gleichwohl homerisiert wird. Diese Spannung erzeugt vielmehr neue Darstellungsformen. So 1) die Ätiologie (vgl. zu ihr Binder [Anm. 33]); sie tritt erst ab dem fünften Buch auf und leistet ähnlich der Genealogie als historische Denkfigur die Verklammerung von (Zeit-)Geschichte und epischer Zeit. 2) Es kann kein Zweifel sein, daß die unter den bequemen, oft schiefen Abbreviaturen Romantik und Sentimentalität erfaßten Phänomene, wie sie sich seit dem 7. Buch häufen, mit dieser Spannung zusammenhängen. Die Idyllik eines Ur-Rom, wie sie auch die römische Elegie ausgearbeitet hat, entspringt einer Darstellungsform, die zwischen Projektion und Rekurrenz pendelt. Das erste Beispiel der Aeneis - Anchises zeigt dem Sohn die Latinerstädte mit den Worten »haec tum no· mina erunt, nunc sunt sine nomine terrae« (6,776) - entfaltet sehr schön diese Dialektik, wie sie im Euander-Buch vorherrschen wird: den >romantischen< Blick des Lesers richtet der epische Held auf etwas noch nicht Vorhandenes; mit dem Blick des Lesers kann er es aus dem Noch-Nicht herausgreifen, und mit dem Blick des Helden kann andererseits der Leser die Gegenwart zum Verschwinden bringen was dann bleibt, ist der Name als Chiffre bedeutender Geschichte. Sentimentalität - der Ausdruck sollte nie für die kontemplativen Affekte des Aeneas selbst gebraucht werden - wird dem Leser mit diesem Hin- und Herwandern des Blickes in dem Maße eingeformt, in dem Aeneas' memorativer Innenraum in der zweiten Werkhälfte verschwindet; nun bedenkt der Dichter (unisono mit dem Leser) in Apostrophen häufig direkt seine Gestalten, die Aeneas am Wege liegen lassen muß (zuerst am Beginn des siebten Buches - nicht zufällig im Zusammenhang mit einer Ätiologie). 3) Das objektive Widerlager dieser Stimmungsmomente sind Ausdrucksformen der Distanz und der Aktualisierung. Distanz von der mythischen Welt repräsentieren die geschichtlich Handelnden in der zweiten Werkhälfte allenthalben (Drances etwa könnte eine Figur aus der ersten Dekade des Livius sein). Vor allem die Feinde der Aeneaden: dies macht ihre Modernität aus, die im Falle des Turnus vielleicht stärker beachtet werden sollte als seine moralische Bewertung. »Nil me Jatalia ter· rent« (9,133) bezeugt nicht nur eine frevlerische Anmaßung; er lebt in einer eigentlich entgötterten Welt (für die seine Verehrung der Fortuna - vgl. 11,413 und 427 der Inbegriff ist), vor allem in einer gegenmythischen Welt, in der virtus sich aus rationalen Gründen, ohne Machinationen, »luce palam« (9,153) verwirklicht. Mit Troja sind auch die zeitenthobenen Geschichten des Mythos auf dem italischen Schlachtfeld an ein Ende gekommen, wird Lucagus höhnisch Aeneas bedeuten (10,581ff.). Solche Distanz aber verklammern gerade die Feinde des Aeneas auf ihre Weise mit dem Mythos. Hier bleibt es nicht bei dem blanken Anspruch, ein Mensch, vielmehr: ein epischer Held wie Aeneas zu sein (vgl. »et nos ... «, 11,50), um eigene Jata zu wissen (9,136f.). Turnus aktualisiert den Mythos, indem er ihn auf sich appliziert: sein ironischer Ausruf »nunc et Myrmidonum proceres Phrygia arma tremescunt« (11,403) setzt sich selbst als Wiederkehr des griechischen Helden (vgl. 11,438f.: Aeneas möge sich als >Achilles< gerieren; er, Turnus, sei »haud ulli 43

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III »invenit me et excogitavit me« Himmelfahrt Mosis 1,14 »si cogitari po test, necesse est illud« Anse1m von Canterbury, Ad Gaunilonem 1 Wenn Inkonsistenz in der Gestalt des epischen Helden die Interpretation geradezu zur Supplementierung im Sinne einer >Entwicklung< genötigt hat, könnten auch die vorstehenden Beobachtungen nicht nur die Entfaltung eines >sekundären< Epos, sondern auch eine Entwicklung des Helden beglaubigen. Angemessen wäre solche Interpretation freilich unter dem Aspekt der memoria nicht. Offenkundig war es doch die Interferenz dessen, was wir als die memorialen Räume des Mythos und der Geschichte bezeichneten, die auch dem Menschen Aeneas, selbst in dem »literal re-

veterum virtute secundus«) - es liegt eine panegyrische Applikation vor. Ihre Kehrseite, die Mythenapplikation der Invektive, läßt sich in der Schmähung des Aeneas durch Amata als eines zweiten frauenraubenden Phrygiers (des Paris; 7,363f.) beobachten. Die angedeuteten Denk- und Darstellungsformen führen aus dem Epos heraus, genauer: sie sind Ausdruck der Spannung, unter der sich die mythistorische Einheit der Aeneis aufzulösen beginnt. Was sie ablösen, ist die alte Darstellungsform nachvollziehender Identität. Als steigernde Typologie vermochte diese zwar auch die römische Zukunft einzubeziehen, und so wurde sie, gerade in der zweiten Werkhälfte, vom Dichter nicht selten gesetzt. (Hier liegt der Unterschied zu den rhetorisch-applikativen Selbstapplikationen der Figuren, die den Mythos für ihre Einzelaktionen aktualisieren; Vergil hat die Grenze zu einer Augustuspanegyrik, die ihm die zu feiernden Aktionen vorgab und von ihm allenfalls die Aktualisierung mythischer Beliebigkeit forderte, nie überschritten.) Aber die in ihr vereinten memorialen Räume des Mythos und der Geschichte drängen zur Verselbständigung. Wie weit dieser Weg am Ende des Epos schon beschritten war, zeigt eine unscheinbare Episode, die den memorialen Horizont der in die Geschichte drängenden Latiner andeutet (12,222ff.). Juturna spricht die rebellischen Gedanken des Rutulervolkes aus, das Turnus zögernd sich dem Zweikampf mit Aeneas weihen sieht. Das Volk will, nach nüchterner Schätzung des Kräfteverhältnisses, den Kampf selbst führen; an »requies« und »salus« (12,241) ist ihm nicht gelegen. Werde Turnus fallen, werde seiner zwar für immer gedacht (»vivusque per ora feretur«, 12,235); was aber nütze das - das Volk selbst würde als die Besiegten beherrscht werden. Hier drängen die Handelnden in die kommende Geschichte hinein wie der Schwarm der künftigen Römer im Unterweltsbuch (s. unten V), und sie drängen auf die Beherrschung der Geschichte. Der epische Held »ad superos ... / succedet fama« (12,234f.), ihm mag das Elysium, die memoria bleiben. 44

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lease from time«75 des vierten Buches, die Spuren eines Erinnerns und Vergessens [95] einzeichnete, deren Muster ein >Davor< und ein >Danach< umfaßt. Daß diese Spuren in die Person des vergilischen Helden, bis zum Kern seiner Identität, >von außen< hineingearbeitet wurden, zeigt die Kongruenz seiner >Entwicklung< mit der Ummontierung vom Trojaner zum Römer. Der Ausdruck trifft recht genau 76 den vorsubjektiven Identitätssprung, den - im Horizont der Leser-memoria! - der phrygische Heros im Verlauf des Epos zum Römer (als conditor urbis wie als primus Augustus) vollzogen haben muß. Dieser Sprung wird in der Tat nicht zum Entwicklungsschritt verlangsamt und im Handlungsgang sichtbar gemacht, sondern durch Selbstbezeichnungen des Helden angezeigt; und diese sind nichts anderes als typologische Distanzierungen, Steigerungen und Identitätsfestlegungen, die sich vollständig der Hermeneutik zwischen Leser und Autor verdanken. 77 Als solche entsprechen sie aufs verblüffendste den Denkformen der innerbiblischen Typologie,78 durch die seit der Urgemeinde das AT neu interpretiert wurde - nicht allerdings, wie in der Aeneis, interpretiert (als Selbstbezeichnung des Helden) und zugleich dargestellt (im Nachvollzug der homerischen Aktionen).79 75 G. K. Galinsky, Vergil's Romanitas, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. 11 31.2, Berlin 1981, S. 1008. 76 Vgl. die Spezialuntersuchung von W. Suerbaum, Aeneas zwischen Troja und Rom, in: Poetica 1,1967, S. 176-204. 77 Vgl. zur epischen Einformung der vergilischen Typologie oben I. 78 Troja ist vornehmlich »vergangen« (»fuimus Troes«, 2,325 - in einem Kontext, der den Begriff viermal mythologisch variiert; vgl. E. Henry [Anm. 54], S. 45); es bleibt die Hoffnung, daß es - als Troja - »wiederauferstehen« wird: 1,206 (Seesturmszene; vgl. noch 10,27 und 58); Troja wird dann »nur in uns«, d.h. im persönlichen Überleben der Flüchtlinge weiterbestehen (2,703); es folgen spiritualisierende Steigerungen (der Kern der typologischen Transformation auch im NT): »altera Troiae / Pergama« (3,8M.); »aeterna Pergama« (8,37); seit dem zehnten Buch bezeichnet Aeneas sich, bezeichnet vor allem aber der Dichter Ascanius als »Römer«. 79 Der >steigernde< Nachvollzug (über die Interpretation hinaus als Darstellung) ist in der Geschichte typologischer Literaturformen erstmals in der Aeneis anzutreffen; und es ist evident, daß er der Geschichtlichkeit futurischer memoria entspringt. Er wird - in der Form projizierter Handlungen - in die historische Fiktionalität providentieller, z.B. auch millenaristischer Historiographie münden, während das Parallelphänomen allegorischer Darstellung (Konstruktion; im Gegensatz zur interpretierenden Allegorese) einen raschen Weg in fiktionale Bildlichkeit ermöglicht. - Einen Ansatz zur Darstellungsform >Nachvollzug< lassen im NT einzig die plerornatischen Vollzüge von Psalmistenworten in der Passion (z.B. das Zerteilen des Gewandes) erkennen. 45

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Gleichwohl lohnt der Blick auf die memorialen Zustände des Helden noch ein weiteres Mal. Denn wenn sich die Bewältigung der Erinnerung an die mythische Identität, ihre Bewältigung nämlich als Gedächtnis des Mythos in der Differenz zu ihm, als der entscheidende Einschnitt im Gesamtprozeß erwiesen hat, so hat Vergil diesen Schritt darüber hinaus als ästhetischen Vorgang dargestellt. Dies geschieht vor der Begegnung mit Dido, im ersten Buch der Aeneis. Der Gestrandete sucht, wie Odysseus bei den Phäaken in Nebel gehüllt, Karthago auf und stößt am J unotempel auf ein Kunstwerk, den Tempelfries. Ausführliche Beschreibung plastisch-mythologischer Kunstwerke gab es in den epischen Formen der Antike zuvor vermutlich nicht (die Schildbeschreibung ist seit Homer vielmehr ein [96] Einfallstor für die Lebenswelt des Lesers gewesen).80 Sie treten auch Aeneas als gänzlich unvermutete Kontingenz (»nova res«, 1,450) entgegen, deren Unwahrscheinlichkeit bereits die antiken Kommentare bemerken: dargestellt sind, bereits »weniger als ein Jahr« (Servius) nach dem trojanischen Krieg, die Szenen seines Endes. Aeneas »erkennt« jedes Detail, das er im einzelnen besichtigt (»lustrat dum singula«, 1,453), »wieder« (»agnoscit«, 1,470; »agnovit«, 1,488). Wiederum wird er von Erinnerung überwältigt (»lacrimans«, 1,459) - aber sie tritt ihm sogleich gestaltet gegenüber, in sich abgeschlossen, von ihm separiert und vergangen. 81 Denn in denkwürdiger Doppelung macht Aeneas sich selbst unter den Handelnden der Darstellung aus. 82 Es ist die erste Selbstbegegnung der europäischen Literatur vor der aula memoriae Augustins. Den ästhetisch konstitutiven Charakter dieser Selbstbegegnung hat Vergil in durchaus neuartiger Weise hervorgehoben: 1) Als Tempelfries ist das Geschehen in eine Distanz des Mythos gerückt, die Vergil durch die Auswahl der Szenen diskret bezeichnet hat: von der Ermordung des Priamus über das Schicksal des Troilus, Memnon, den Amazonenkampf bis zu Penthesilea ist die >llias< als epischer Rahmen so unübersehbar ausgespart, daß die dargestellten Szenen ihrerseits als gestalteter (»ex ordine«, 1,456) Artefakt betont werden. 2) Das Wiedererkennen der Bilder, in Form ihrer Beschreibung, integriert den 80 Das Kunstwerk im Erzählwerk harrt als nachvergilische Darstellungsform für die Antike der Untersuchung; bisher wurden, zumeist noch in Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon, die ekphrastischen Verfahren diskutiert; vgl. Heinze [Anm. 9], S. 398ff. 81 Vgl. B. Fenik, Parallelism of theme and imagery in Aeneid TI and IV, in: AmericanJournal ofPhilology 80,1959, S. 1-24. 82 »Se quoque principibus permixtum agnovit Achivis« (1,488).

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Leser in dem Maße, daß Aeneas selbst nicht ekphrastisch verfahrend, sondern erzählend, ja lesend und gleichsam seine Wiedererinnerung noch einmal erinnernd vorgeführt wird: »we are left with the feeling that Aeneas is recollecting it afterwards.«83 3) Aeneas besichtigt nicht etwa das, was er im zweiten Buch erzählen wird - die Troiae Halosis aus seinem beschränkten Erlebnishorizont -, vielmehr stehen die Handlungen auf dem Fries in einer objektiv-mythischen Perspektive, wie sie etwa der homerischen Teichoskopie eigen ist. 4) So sehr die affektive Hingerissenheit 84 dieser Erinnerung der Reaktion im Seesturm nahekommt (»ingentem gemitum dat pectore ab imo«, 1,485): sie wird doch durch den Scheincharakter des Kunstwerks balanciert (»animum pictura pascit inani«, 1,464). 5) Aeneas verliert »jetzt erst« (»primum«, 1,450; wiederholt im folgenden Vers) seine Furcht, daß ihn Trojas Untergang einholt, die Hoffnung auf die fata siegt in ihm (1,450ff.). Juno ist in den Bereich der Kultverehrung zurückgetreten; was der Held gewesen ist, kann am Fries ihres Tempels einen Platz finden. Die Summe dieser ästhetischen Distanzierung zieht der meistzitierte, aber anerkanntermaßen kaum übersetzbare Vers des Epos (1,462): »sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt.« [97] Daß der Mensch durch Geschehenes nicht ertaubt, ja daß das Geschehene etwas in sich parat hält ~>rerum« als gen. subj.), das es als Gedenken (gen. obj.) sprechend machen wird, kann als gemeinsamer Boden der bisherigen Interpretationen gelten. 85 In der Tat formuliert Aeneas' Ausruf (während des Erkennens und Nachtastens am Fries) im Sinne der älteren deutschen Wendung »es gedenkt mir«86 die Macht des Gedächtnisses, das sich der Held in der Distanzierung von seinem Erinnern geschaffen hat, und das sich im Gedenken wie im Vergessen meldet (vgl. oben I). Aber bevor der Vers, wie üblich, zugleich als Zeugnis einer >typisch vergilischen Sentimentalität< weitergedeutet wird, sollte er im Kontext betrachtet werden (1,461-463): 83 R. D. Williams, The pictures on Dido's temple, in: Classical Quarterly N.S. 54,1960, S. 148. 84 Vertieft durch Isolierung und Verengung des Blickfeldes beim betrachtenden Helden (1,494f.). 85 Vgl. A. M. Negri, Sunt lacrimae rerum, in: Studi Italiani di Filologia Classica 81, 1988, S. 240-258; R. Rieks, Tränen [Anm. 49]; D. J. Stewart, Sunt lacrimae rerum, in: Classical Journal 67, 1971/72, S. 116-122; absurd: H. Funke, Sunt lacrimae rerum, in: Klio 67, 1985, S. 224-233. 86 Vgl. zu diesem Ausdruck K. Stierle, Die Unverfügbarkeit der Erinnerung und das Gedächtnis der Schrift, in: Memoria. Vergessen und Erinnern, hrsg. von A. Haverkamp und R. Lachmann (Poetik und Hermeneutik 15), München 1993, S. 117-159, hier: S. 117. 47

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»en Priamus. sunt hic etiam sua praemia laudi, sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt. solve metus; feret haec aliquam tibi fama salutem.«

Priamus' Tod wird plastisch vergegenwärtigt, aber bereits aus einem Gedächtnis, welches das Geschehene als einen objektiven Besitz konstituiert, es als sinnvoll rekonstruiert und ästhetisch als notwendig abschließt. Zur Erläuterung: was der Fries darstellt, ist, wie alles Vergangene, in einem Gedächtnis, das potentiell universal, »menschlich« ist. 87 Und zwar blitzt es nicht mehr in der sinnlosen Abgerissenheit der vagabundierenden Erinnerung auf, sondern es wird als praemia, als fama rekonstruiert; sein Sinn ist Nachvollzug als Preis und Ruhm. 88 Dem Griechen ist diese Sinngebung bereits als Gedächtnisleistung etwas Ästhetisches: Aoide, eine Tochter der Mnemosyne. Schließlich aber formuliert solches Gedächtnis das Vergangene selbst in seiner Darstellung über die homerische narratio hinaus als laus. Diese gibt ihren Gegenständen eine Kontur der Notwendigkeit, die nicht etwa auf verklärende Zurüstung und Übermalung hinausläuft - im Gegenteil: Züge dessen, was von vornherein zum Scheitern verurteilt (vgl. 1,493), dem Tod anheimgegeben war (vgl. 4,475), kumulieren sich zur >Rührung< des Lesers (»tangere«; »lacrimae«). Die vergilische - wie überhaupt die antike - Ästhetik versteht sich als distanzierenden, aber überaus affektiven Nachvollzug. Erst nach seiner Selbstbegegnung im Kunstwerk ist Aeneas der Erzählung seiner Vergangenheit fähig, mit der Vergil im zweiten und dritten Buch, wie bekannt, narratives Neuland betritt: der memorierende Held vermag nun, weit über den erzählenden Odysseus hinaus, in erlebter Rede und unter Implikation des Lesers 89 [98] eine Selbstdeutung seines Handelns zu geben, die ihn sich selbst in einer überwundenen Phase zeigt und die Notwendigkeit einer Entwicklung rekonstruiert. In ihr eröffnet die Distanzierung zum Mythos im Sinne der Selbstrechtfertigung (vgl. besonders 2,432ff.) ebenso ästhetischen Raum wie das Gedenken an Priamus im Sinne der laus.

87 Die Potentialität wird durch die Unwahrscheinlichkeit des Frieses zum Zeitpunkt des epischen Geschehens unterstrichen: die räumliche Universalität (»quae regio in terris nostri non plena laboris?«, 1,460) umfaßt auch die zeitliche des Lesers. 88 Weiterführend: J. W. Hunt, Forms of glory, Carbondale/Ill. 1973. 89 Vgl. Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, München 1975, S.

72ff.

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Der Erzähler also kann den Bezirk, der mit der Selbstbegegnung am Fries gewonnen wurde, verdoppeln. 9o Diese jeder ästhetischen Dimension eigentümliche Fähigkeit zur Reduplikation und Reflexivität wird in der Aeneis sogleich sichtbar, wenn es heißt, daß Aeneas' Bericht »mehrfach wiederholt« wird (4,78f.), ebenso Kunstwerke mit mythologischen Darstellungen ~1acta patrum«, 1,641). Solche Darstellungen tendieren bald zur Perfektion, zur Rationalität eines >Weltgedichts< (vgl. 1,642: »antiqua ab origine gentis«). Und am Ende stellt sich auch die Figur des Dichters, schon beim Gastmahl in Karthago, ein (Iopas; 1,740ff.). Er ist nicht mehr der homerische Sänger, dem die Musen Geschichten der Götter gaben. Er hat auch den Mythos, selbst die Genealogie ab ovo, hinter sich gelassen. Er trägt ein Lehrgedicht >de rerum natura< vor. Die memoria der Aoide hat sehr schnell die Weltsicht des zeitgenössischen Lesers erreicht. Es ist wohl der gelungenste Zug der Aeneis, wie Vergil diesen neuen memorialen Raum des Ästhetischen mit der Handlung des Epos vermittelt hat, und zwar mit dem Beginn der Dido-Handlung, die den Helden, wie zuvor erörtert, vor die Aufgabe stellt, die - ihm episch auferlegte - Offenheit gegenwärtiger Faktizität zu durchstehen. Wie Odysseus auf Scheria von Athene, wurde Aeneas von Venus in die Nebelwolke gehüllt. 91 In ihr entrückt betrachtet er sich im Fries. Und aus ihr wird er enthüllt, als Dido aufgetreten ist. Die Wolke zerteilt sich, sodaß Aeneas aus dem Fries heraus der Königin erscheint (1,585ff.), man kann sagen, aus den künstlerisch gestalteten Figuren des Mythos hervortritt (1,588f.):

»claraque in luce refulsit os umerosque deo similis«. Es ist das einzige Mal, daß Aeneas' Äußeres beschrieben wird - und zwar als eine Epiphanie des ästhetisch Vollkommenen, die im Vergleich mit dem Werk eines Bildhauers endet (1,589-593). Dido wird fortan in Aeneas den in seiner fama arretierten Heros des trojanischen Mythos sehen, und in diesem Blick erwacht ihre Liebe (nämlich durch seine Erzählung: 4, Hf.). Daß er in die Gegenwart ihrer Existenz treten kann, die sie sehr wohl als andersartig, »kleiner« empfindet,92 90 Richtig Rieks, Die Tränen [Anm. 49], S. 189. 91 Die >Wolke< wird von Vergil in die Nähe eines theatralischen a parte gerückt (Aeneas sucht vergeblich, mit der Umgebung in Kontakt zu treten: 1,514ff.; die Reden, die er belauschen muß, sind auf ihn als impliziten Hörer hin komponiert), das seine Isolierung unterstreicht. 92 Vgl. 1,731ff. 49

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erscheint ihr anfangs unglaublich; es bestimmt aber bis zum Ende ihr gleichsam statuarisches Bild von der mythischen Geschlossenheit [99] und Verfügbarkeit des Geliebten. In dieses Bild paßt nicht die futurische Dimension der fata; noch in ihren Vorwüden bei der Trennung zielen ihre Argumente auf den >Trojaner>/ortunatae gentes«; »quieti«; »Saturnia regna« (11, 252f.). Weiter den mythischen Wurzeln entfremdet ist Polydorus, bereits die Gestalt eines Gestorbenen. Polydorus, wie Aeneas nach Thrakien geflohen (3,41ff.), stirbt einen gänzlich unheroischen Tod durch einen geldgierigen Herrscher, und Aeneas bestattet ihn. Die Vorgeschichte übrigens berichtet nicht der Tote, sondern Aeneas in der Erinnerung als fama. All diese Gestalten versammeln sich gleichsam in der Begegnung des Aeneas mit [102] Helenus und Andromache (3,294-505), einem kunstvollen Ensemble. Seinen Kern bildet die ausgedehnte Helenus-Prophetie, eine sehr detaillierte und >imperiale< Weisung, die zu ihren - meist weniger beachteten - Rahmenbedingungen in Kontrast steht. Diese sind: 1) die >Weitererzählung< der alten mythographischen Tradition; 2) der abgebrochene Dialog mit der opfernden Andromache; 3) die Beschreibung des Schein-Troja, das Helenus gegründet hat; 4) innerhalb der Abschiedsreden der zweite Dialog zwischen Andromache und Aeneas. 1) Helenus und Andromache sind erst von Vergil als gemeinsame Sklaven des Achilleussohnes Neoptolemos (Pyrrhus) zusammengefügt wor104 Mythographisch vollständige Nachweise bei O. T. Zanco, Diomede greco e Diomede italico, in: Rendiconti della Classe di Scienze morali, storiche e filologiche, Accademia dei Lincei 20, 1965, S. 270-282; weiterführend W. W. De Grummond, Virgil's Diomedes, in: Phoenix 21, 1967, S. 40ff. 105 Hierzu Heinze [Anm. 9], S. 104. 106 Diomedes' Vergessen spiegelt eigentümlich die dekonstruktiven Leistungen des Erinnerns und Vergessens in Aeneas wider. Aeneas hat sich von der mythischen Vergangenheit distanzieren können, die in seiner memoria aufgehoben ist. Richtet sich - zu Beginn des Epos - sein temporäres Vergessen auf das, was das fa. tum für ihn bereithält, so »vergißt« Diomedes insgesamt seine ruhmreiche Existenz vor Troja - nur dieses Vergessen sichert ihm das zukunfts· und vergangenheitslose Überleben. 53

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den; Vergil hat darüber hinaus den Sohn der Andromache von Pyrrhus, Molossos, ignoriert. Aeneas kann die Gegenwart der beiden trojanischen Überlebenden zunächst nicht fassen (3,294ff.); sein Besuch bei ihnen entspringt der Unglaublichkeit (»casus tanti«, 3,299) und dem »mirus amor« (3,298) der Erinnerung. - Mit dieser den Helden tief verwirrenden Begegnung ist die Stufe des weitererzählten, des nicht mehr nur ausgesparten oder nachvollzogenen, allenfalls typologisch gesteigerten homerischen Mythos erreicht; diese Stufe repräsentierte Celaeno (s. oben Anm. 98). 2) Andromache ihrerseits begegnet Aeneas »entgeistert« (»amens«; »exterrita monstris«, 3,307); er erscheint ihr wie ein Gespenst (»verane Jaeies?«, 3,310); sie hält es für möglich, daß er ein revenant ist - und fragt sogleich, warum ihr dann Hektor nicht wiederkehre (3,311f.). Hinzu kommt, daß sie, wohl als einzige derer, die Aeneas im Verlauf des Epos begegnen, nichts von seiner Irrfahrt weiß - wobei Vergil in diesen Tatbestand (in Form der Frage: »aut quisnam ignarum nostris deus appulit oris?«, 3,338) das weitere Faktum eingefügt hat, daß auch Aeneas nichts von ihrem casus seit der Versklavung weiß. 107 Mit Andromache tritt Aeneas etwas Neues entgegen, das sich ihm nicht als mythisch vergangen oder, wie die bisher besprochenen Gestalten, nur zukunftslos verfehlt darstellt: ein (unglückliches) Bewußtsein, das keine Verbindung mehr zu seiner einzig beglaubigten (mythischen) Existenz in der Misere seiner gegenwärtigen Faktizität108 zu finden weiß, eines Daseins, das nur auf die sinnlose Fortdauer und damit einen Abgrund von Individualität verweist, wie er sich in der Aeneis sonst nicht findet. Andromache tritt in Aeneas' memoria nur mit den Versuchen in Erscheinung, diese Unglaubwürdigkeit in der Hingabe an den Mythos zu verlieren109 oder in der Zukunft des Aeneas abzustreifen - nämlich in der Gestalt des Ascanius als Ersatz ihres getöteten Sohnes Astyanax. 110 3) Aeneas antwortet in seiner Erinnerung nicht auf Andromache; dafür tritt - ohne seinerseits Andromache in ihrer gespenstischen Isolierung zu antworten - Helenus heran und zeigt Aeneas die [103] von ihm ge107 Vgl. die entsprechenden Fragen des Aeneas 3,317ff. 108 In ihr wird etwas sonst in der römischen Literatur (bis auf die EuripidesRezeptionen) Unerhörtes laut: das Elend der Bettsklavin, die schließlich von dem einer neuen Liebe folgenden Herrn dem Mitsklaven gegeben wird und die Erinnerung an die Existenz als Gattin Hektors wie eine Höllenstrafe erlebt (vgl. 3,32lff., beginnend wiederum mit einem Makarismos der erinnerten Toten). 109 In der Eingangsszene des Opfers 3,30lff. 110 Vgl. 3,339ff. und das Abschiedsgeschenk an die »Astyanactis imago« (3,489) - wiederum ein Kunstwerk mit eingewebten Bildern. 54

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gründete, Troja in allen Einzelheiten petrifizierende Neugründung, die . E' .. 111 seme xlstenz tragt. 4) Erst der Abschiedsdialog mit Andromache bringt eine Antwort auf die Begegnung - und zwar in Form eines Bekenntnisses des Aeneas, das Andromache als Gestalt seiner eigenen memoria enthüllt: ihr Bewußtsein wird als sein eigenes, kommemorativ verarbeitetes und distanziertes Bewußtsein sichtbar. Und es steht in krassem Kontrast zu den imperialen Verheißungen des Helenus - einem Kontrast, der sich nun nicht mehr als Vergessen des fatum artikuliert, sondern als Widerspruch zum fatum, als Widerspruch, der nur durch seinen Transfer in eine antizipierte memoria ausgeglichen wird (3,493ff.): »vivite felices, quibus est fortuna peracta iam sua; nos alia ex aliis in fata vocamur. vobis parta quies (...) si quando Thybrim (...) intraro (...).«

Noch einmal wird der Makarismos im Seesturm (und ebenso der Andromaches) aufgenommen, aber Aeneas trägt ihn aus einer Distanz vor, die bereits die Gründung Roms voraussetzt (vgl. 3,802ff.). Er wird durch den Gehorsam gegen die fata nicht durchstrichen, aber auch durch kein Vergessen der fata realisiert. In der memoria bleibt er erhalten als nicht gelebte Pause zwischen Mythos und Geschichte; in ihr aber wird er auch ästhetisch geformt: 112 Andromache bleibt unvergeßlich. ll3 [104] 111 Nicht die Existenz der Andromache; die Junktur »falsi Simoentis« (3,302) tritt einzig bei ihrer Opferung auf. 112 Die Probe auf die hier gegebene Interpretation - die nachmythischen Figuren begegnen Aeneas aus seiner memoria heraus - gibt die Wiederkehr des gleichen Bekenntnisses beim Abschied von Dido 4,333ff. Nachdem Dido und Karthago in die memoriale Dimension distanziert worden sind (»nec me meminisse pigebit«, 4,335; »dum memor ipse mei«, 4,336), bezeichnet Aeneas den fata-Gehorsam als »nicht sein eigenes Leben« (4,340f.); ein solches würde - wie das der Andromache! der Pflege des zerstörten Troja, dem Totendienst, ja dem Wiederaufbau eines zweiten Troja als einer Stadt der »Besiegten« gewidmet sein (4,340ff.). - Es ist charakteristisch, daß erst die im Gegenzug zur philologischen/ata-Verherrlichung des 20. Jh. sich bewegende >christliche< Interpretation Vergils von Theodor Haecker (vgl. zuletzt ders., Odysseus und Aeneas, in: Virgil, hrsg. von St. Commager, Englewood Cliffs 1966, S. 68ff.) auf diese Bekenntnisse zurückgriff. 113 Die Latinistik hat der Andromache-Helenus-Episode (abgesehen von der Prophezeiung) wenig Aufmerksamkeit zugewandt (vgl. R. E. Grimm, Aeneas and Andromache in Aeneid m, in: American Journal of Philology 88, 1967, S. 151-162; gute Zusammenfassung: B. Otis [Anm. 3], S. 260f.); vor allem ist sie, soweit ich 55

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Die Gestalt des Achaemenides (3,570ff.)114 ist nun die erste Fiktion Vergils, eine der wenigen in der Aeneis. Aeneas erzählt seine Landung bei den Zyklopen, die der Leser als eine der Odyssee-Wiederholungen erkennt. Aber das homerische Handeln des Helden wird in neuartiger Weise eingeführt. Aeneas weiß diesmal nicht, wo er gelandet ist (3,569);115 sein Erfahrungshorizont wird also auf den des Odysseus zurückverlegt. Und in diese Offenheit tritt Achaemenides 116 als der Unbekannte schlechthin (»ignoti nova forma viri«, 3,591). Die Abenteuer des Odysseus und des Aeneas sind nun aus der Kongruenz von Nachformungen auseinandergetreten;117 auch wird die Spannung zwischen den homerisch-mythischen Geschichten und der Gegenwart des Aeneas nicht mehr in der Form einer >Fortsetzung< des Mythos (Celaeno, Andromache) sichtbar gemacht. Sie tritt als fiktionale Aufhebung der nachvollziehenden Identität zutage. 118 Und diese Aufhebung wird in denkwürdiger Weise noch einsehe, gänzlich an der Rezeption Baudelaires (Le cygne) vorbeigegangen - und damit an der anhaltenden Interpretation auch der vergilischen Szene in der Romanistik (vgl. die Dokumentation bei M. Koch, Mnemotechnik des Schönen, Tübingen 1988; dort nicht genannt: W. Fietkau, Schwanengesang auf 1848, Hamburg 1978; J. Starobinski, Melancholie und Spiegelbild, in: Merkur 42, 1988, S. 751-765; vgl. auch B. Vinken, Zeichenspur, Wortlaut. Paris als Gedächtnisraum, in: Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik, hrsg. von A. Haverkamp und R. Lachmann, Frankfurt/M. 1991, S. 231-262). Der Philologe wird - wie aus der hier vorgelegten Interpretation und ihrer Gesamtsicht der vergilischen me· moria deutlich wird - einen Dekonstruktivismus auch hinsichtlich der memoria selbst bei Vergil nicht gelten lassen; er muß auch auf den in allen romanistischen Interpretationen unberücksichtigt gebliebenen Schlußdialog Andromache - Aeneas, auch für die Interpretation Baudelaires, verweisen. Bereits Aeneas (Vergil) erinnert sich doppelt an Andromache (in der Szene selbst und in der Erzählung vor Dido), eine Doppelung, die - mitsamt der Abwendung von den römisch-imperialen fata in eine angemessene Interpretation Eingang finden sollte (vgl. nunmehr W.-D. Stempel, Nachdenken über Andromache, in: Gestaltung - Umgestaltung. Festschrift M. Kruse, hrsg. von B. König undJ. Lietz, Tübingen 1990, S. 429-442). 114 Die Episode hat noch keine ausreichende Detailinterpretation gefunden; vgl. T. E. Kinsey, The Achaemenides episode, in: Latomus 38, 1979, S. 110ff.; H. Offermann, Vergil, Aeneis 5,847 und die Palinurus-Episode, in: Hermes 99, 1971, S. 164-173; E. Römisch, Die Achaemenides-Episode, in: Studien zum antiken Epos, hrsg. von H. Goergemanns und E. A. Schmidt, Meisenheim 1976, S. 208-227. 115 Im Kontrast dazu wird 3,578ff. die fama vom Vulkan Aetna als dem mythischen Gefängnis der Zyklopen in Aeneas' Bericht einbezogen. 116 Auch der Name ist von Vergil erfunden; vgl. Heinze [Anm. 9], S. 112. 117 Dem modernen, nicht vom homerischen Nachvollzug aus urteilenden Leser muß dieser Vorgang gegenläufig erscheinen: »Die beiden Welten rücken so nahe aneinander, daß sie sich fast berühren« (K. Stierle [Anm. 26], S. 120). 56

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mal als memoriales Ereignis dargestellt: Achaemenides wurde von Odysseus und seinen Gefährten in der Höhle des Polyphem »vergessen« (»hic me ... / immemores ... / deseruere«, 3,616ff.). Die Leerstelle zwischen dem Mythos und seiner in die Geschichte führenden Wiederholung wird hier vom Mythos her als ein Vergessen seiner Figuren konstituiert. In ihrer Offenheit aber folgt die fingierte Figur gebieterisch den Darstellungszielen, die sich im karthagischen Fries ankündigten, in der Polydorusgestalt und vollends in Andromaches Bewußtsein Kontur gewannen: Geschichtsverlassenheit in räumlicher und zeitlicher Abgelegenheit, sinnloses Leid und Todesnähe. Achaemenides wird betont als >mittlerer Held< eingeführt (nicht adlig, arm, in den Krieg geschickt); seine Existenz auf der Zyklopeninsel hat ihn - was ohne Vorbild in der Odyssee ist - zum karg lebenden Robinson reduziert (vgl. 3,591. 649ff.).119 Seine Rede 120 fordert von den Aeneaden nichts als Hilfe (also ein Heraustreten aus den mythischen Fronten der Feindschaft und zugleich eine Korrektur [105] der treulosen Vergeßlichkeit des Odysseus).121 Aeneas' nachmythisches Handeln wird zum Ausdruck humanen Mitleids. 122 Im Gegensatz zu Helenus und An118 Vergil markiert diese Aufhebung mit besonderer Sorgfalt: wird zunächst die Zurücklassung des Achaemenides durch Odysseus auf »drei Monate« vor der Ankunft des Aeneas datiert (3,645), so wird beim leibhaftigen Sichtbarwerden Polyphems diese Zeitangabe durchkreuzt: der Zyklop wäscht sich im Meer das frische Blut aus seinem ausgestoßenen Auge (3,662f.). 119 Der Kontrast zur Odyssee muß beabsichtigt sein; hier war die Zyklopeninsel als Inbegriff goldener Zeit und ihrer natürlichen Fülle gemalt worden. 120 In ihr wird wiederum vorausgesetzt, daß Aeneas das Zyklopenabenteuer (des Odysseus) nicht kennt und Polyphems Angriff auch ihm droht. Daher die in dieser Form einzigartige Erzählung des Achaemenides über das Abenteuer des Odysseus, die aus den homerischen Nachvollzügen in der epischen Handlung herausfällt. Gleichwohl ist natürlich das Odysseus-Abenteuer in der memoria des Vergil- und Homerlesers. Achaemenides' Erzählung gerät daher zu einer eigentümlichen Mischform, in der der Berichtende nicht sein Erlebnis, sondern nur sein Zuschauen berichtet (vgl. 3,618ff. und die wiederholte EInklammerung durch »vidi«). 121 In solcher Korrektur der homerischen Vorlage zeigt sich die Aufhebung des identischen Nachvollzugs auch als Aufhebung der (bei Vergil stets latenten) typologischen Steigerung des homerischen Helden durch den vergilischen. Trotz des jeder Typologie inhärenten Moments der gesteigerten Erfüllung bleibt sie ein geschichtliches Denken der Identität und Wiederholung. Wo (wie auch in der Bibelexegese) überbietende Korrektur auftritt, ist typologisches Denken bereits verlassen. 122 Diese vergilische >Humanität< hat erst die Romantik in der Aeneis gefunden; vgl. J. M. Andre, La survie de Virgile dans le romantisme italien, in: Bulletin de l'Association G. Bude 41,1982, S. 306-329. 57

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dromache bleibt Achaemenides nicht in gespenstischer Weise in seinen mythischen Status gebannt; die Aeneaden nehmen ihn, anders als die anderen Begegnenden, auf ihrem Schiff mit. Hiermit freilich ist seine Funktion erschöpft; er tritt niemals wieder auf. Wenn er bei der Entfernung von der Zyklopeninsel noch einmal sichtbar wird, weist er den Weg zur nächsten (homerischen) Station der Fahrt,123 aber er legt den Weg »in entgegengesetzter Fahrtrichtung« zurück: »talia monstrabat relegens errata retrorsus /litora« (3,690f.). Die Aeneis ist mit der Odyssee wieder kongruent geworden, aber sie wird aus ihr herausführen. Die andere von Vergil erfundene Einzelfigur, Palinurus/24 steht spiegelbildlich zu Achaemenides. Vergil hat sie aus der geographischen Bezeichnung eines Kaps an der tyrrhenischen Küste entwickelt. Hier wird eine Leerstelle nicht mehr des Mythos, sondern der italischen Zukunft in die Handlung eingelassen und mit der Gestalt des Steuermanns der aeneadisehen Flotte besetzt. Bezeichnend für diese Zukunftsbezogenheit läuft die Palinurus-Episode nicht mehr in der Erzählung des Helden vor Dido ab; sie ist Teil der seltenen epischen Primärhandlung in der ersten Werkhälfte. Auch ist Palinurus offenbar dem kommemorativen Götterzorn der Olympier enthoben; der Dämon, der ihn ins Verderben stürzen wird, handelt nicht als Teil von Junos Rachemaschinerie. 125 Episch ist somit Palinurus vollkommen überflüssig; er drückt lediglich, am Ruder stehend, die ausschließliche Beschleunigung der zukünftigen Verheißung aus. Dies gibt seiner Szene hellenistische Leichtigkeit: das Meer und sein Getier werden zur theokritischen Szenerie (S,820ff.); die Flotte gleitet unter serenem Abend- und Nachthimmel ohne menschliches Zutun, auch ohne eine Ruderbewegung des Palinurus dahin (S,833ff.). In dieser Enthobenheit, diesem otium, senkt sich Somnus in Gestalt des Gefährten Phorbas herab, verwickelt Palinurus ins Gespräch. Und er macht den Steuermann auf seine Müdigkeit aufmerksam, auch er verweist auf die [106] labores,

123 Damit aber kann intertextuelle Fiktionalität sich multiplizieren: in der Begegnung von Achaemenides mit einem weiteren (von Ovid erfundenen) Gefährten des Odysseus, Macareus (vgl. Stierle [Anm. 26], S. 120f.). 124 Vgl. F. J. Worstbrock, Elemente einer Poetik der Aeneis, Münster 1963, S. 53f.; R. C. Clark, Catabasis, Amsterdam 1979, S. 157; und vor allem J. Freccero, Dante. The poetics of conversion, Cambridge/Mass. 1986, S. 139ff.; P. E. Brenk, Unum pro multis caput, in: Latomus 43,1984, S. 776-801. 125 Die sehr lockere Motivation (zu Beginn der Episode), ein Mensch müsse noch vor Erreichen der italischen Küste sterben (5,814f.), soll eher im Kontrast zur besonders idyllischen Meerfahrt (5,830ff.) die Lesererwartung spannen. 58

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auf die endlich gewonnene Stunde der quies (5,844f.). Noch wehrt sich Palinurus gegen das, was ihm ein Vergessen zu sein scheint (»mene ... / ignorare iubes?«, 5,848f.). Aber seinem verhangenen Blick begegnet nur noch die gefahrlose Stille der Sterne (5,853). Nun kann ihn Somnus mit einem Zweig voll des »Vergessenstaus« (»Lethaeo rore«, 5,854) berühren. Palinurus erwacht in der See erst, als die Flotte schon entfernt ist; sie droht geradewegs auf die Knochen am Fuße des Sirenenfelsens zuzusteuern. Mit der Trennung von Aeneas aber tritt der dem Untergang sichere (5,871) Palinurus auch aus der epischen Handlung der Aeneis. Dem Leser scheint es aufgegeben, diesen Untergang wieder in einer memoria der mythischen Landschaft, eben der gestrandeten Gebeine vor den Sirenen, abzuschließen. Aber Vergil - singulär in der Aeneis - durchkreuzt diese mythische Rückbindung durch ein zweites, postmortales Auftreten des Steuermanns (6,337ff.) im descensus-Buch. Und hier erzählt Palinurus »weiter«er stellt die sinn- und zukunftslose Endphase seines Lebens, getrennt von der Flotte, in krasser Realistik dar: seinen Kampf gegen das Ertrinken, seinen gräßlichen Tod durch Steinwüde am endlich erreichten Strand, die noch grausigere Reise seines hin- und hergetriebenen Leichnams an allen Stränden des verheißenen Landes. Diese (erste) Begegnung des Aeneas im Hades weitet seine memoria auch in ein Wissen des Gegenwärtigen und Künftigen aus, das zuvor nur auf die Verheißung des fatum hin als globale Geschichtserfüllung geglaubt war. Mehr noch: mit Palinurus begegnet Aeneas eine Gestalt, die auf eine neue Art quer und damit gespenstisch zum mythistorischen Handlungssinn steht; mit ihm memoriert Aeneas auch das in seinem Leiden schwer erträgliche Detail des geschichtlich Belanglosen. Mit Palinurus wird also ein rejeton, eine Abspaltung,126 auch von dem Weg in die römische Zukunft als Figur und als Untergang gestaltet - der Bruch in der Erzähllage und Stimmung zwischen den beiden Hälften der Episode 127 zeigt unübertrefflich die Abkehr des Blickes vom geschichtlichen Telos 126 »Mutilated figures« nach der treffenden Bezeichnung von C. Fuqua (Hector, Sychaeus, Deiphobus, in: Classical Philology 77, 1982, S. 235-240). - Man vergleiche das ebenfalls fingierte Freundespaar Nisus und Euryalus im neunten Buch und den ebenfalls >zu früh verstorbenen< Marcellus aus der augusteischen Dynastie in der Heldenschau. Im letzteren Fall ist die Rührung der Herrscherfamilie bei der Vorlesung durch den Dichter die einzige überlieferte Reaktion des zeitgenössischen Publikums (vgl. H. F. Rebert, The felicity of in/elix in Virgil's Aeneid, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 59, 1928, S. 57ff.). 127 Vgl. zur Forschung: P. E. Brenk [Anm. 124]. 59

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des Epos. Damit stellt sich die Frage nach dem Sinn einer solchen (nochmaligen) Ausweitung im Gedächtnis des Helden und ihrem möglichen Widerspruch zur national bestimmten memoria des römischen Lesers. Es ist die Frage nach dem Sinn des vergilischen descensus. [107]

v »Entrücke dich dem Stein! Zerbirst die Höhle, die dich knechtet! Rausche doch in die Flur! Verhöhne die Gesimse -« Gottfried Benn, Karyatide (1916) Für die Handlung der Aeneis bleibt Aeneas' Eintritt in Hades und Elysium an der Hand der Sibylle folgenlos. Der Held jedenfalls handelt nach seinem ascensus aus keiner bestimmteren Kenntnis des Bevorstehenden, als sie der Leser den fünf Versen der abschließenden praeteritio 6,888ff. entnehmen konnte. Aber gerade Aufklärung über Gefahren bis zum Ende der epischen Handlung 128 war es, was ihm als Ergebnis des Abstiegs versprochen und auch der Sinn der Nekyia des Odysseus gewesen war. Auch was Anchises ihm in einer Traumerscheinung verspricht - er werde dem Sohn das Schicksal Roms und die römische Geschichte enthüllen129 -, hätte, ähnlich den anderen >Durchblicken< auf die fata, in der Traumerscheinung selbst Platz finden können. Denn selbst die >Heldenschau< des descensus (6,756ff.) bestimmt Aeneas' Handeln, sowie er zum Licht empor kommt, in keiner Weise. Vor allem: der descensus umschließt keineswegs nur die Orientierung über die fata. Sogar der vertraute Nachvollzug Homers (der Nekyia im elften Buch der Odyssee) ist nur in Teilen im sogenannten mythologischen Hades 130 des sechsten Buches (6,295-547) zu erkennen. Schon hier hat Vergil geändert: die Toten des Mythos wissen grundsätzlich von jedem postmortalen Geschehen; Aeneas kann ihnen, sehr im Unterschied zur Nekyia, nichts mehr »vermelden«.131 Sie sind Sachwalter eines uni128 3,458f.: »venturaque bella / et qua quemque modo fugiasque ferasque laborem« {Helenus-Prophetie}. 129 5,737. 130 Sorgfältige Nachzeichnung der Rezeption bei F. Norwood, The tripartite eschatology of Aeneid VI, in: Classical Philology 49, 1954, S. 15ff.; zum Problem: F. Solmsen, The world of the dead in Book VI of the Aeneid, in: Classical Philology 67, 1972, S. 31-41.

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versalen Gedächtnisses geworden,132 das von der mythischen Vorzeit über die Handlung der Aeneis 133 bis zu Augustus reicht - sie treten also Aeneas mit der memoria des Lesers gegenüber. Und Aeneas begegnet ihnen in einer Weise, die sich schon vor dem Tempelfries in Karthago ankündigte: als Zuschauer - ja er besichtigt geradezu dieses Gedächtnisuniversum. Bereits die Sibylle muß ihn vor dem Abstieg vom Beschauen eines weiteren (mythologischen) Tempelfrieses 134 energisch hinwegführen (6,37); das wiederholt sich [108] bei der Begegnung mit dem verstümmelten Deiphobus (6,539ff.), der mit der Erzählung seines grausigen Todes den betroffenen Aeneas völlig seinen weiten Weg vergessen läßt. 135 In diesem Universum wird ihm gewiß auch der Untergang seiner Geliebten (Dido), seiner Gefährten (Palinurus, Misenus) memoriert. Aber diese Allgegenwärtigkeit zielt weit über seine Person hinaus; was bei der Palinurus-Episode noch als >Ausweitung< der memoria des Helden interpretiert werden konnte, ist in Wahrheit der gesamte mythistorische Horizont des Lesers. Warum hat Vergil den memoria-Raum des Mythos und der fata, der sonst in begrenzter Weise dem Helden eingeformt wurde, in diesem Maße gesteigert und Aeneas gestaltgeworden gegenübertreten lassen? Weder imperiale Sinngebung noch homerisierende Nachfolge allein können den descensus erklären. Eine Erklärung hat die Vergil-Interpretation seit jeher in den beiden folgenden Landschaften des vergilischen Jenseits, dem >moralischen< und dem >philosophischen< Hades, gefunden. Gemeint ist der Höhepunkt des descensus, der nun unabhängig von der römischen Geschichtstheologie eine individuelle Erlösungsphilosophie in die homerische Nekyia einfügt. Das System ist oft untersucht worden und in seinen Quellen geklärt. 136 Es 131 Diese für Homer bis in die Schlachtaristien hinein wichtige Funktion des Heldentodes hat Vergil charakteristischerweise nur noch in der Rezeption einer epischen Formel außerhalb des descensus wiederholt (2,547ff.). 132 Charon handelt nicht nur, er erinnert an die früheren Versuche, in den Hades vorzudringen. Vor dem Eingang in die Unterwelt hat Vergil eine eigene Gruppe nachmythischer Personifikationen als Dämonen von universaler Macht eingeführt (Luctus, Egestas, usw.). 133 So Anchises, der nicht nur Künder der imperialen Zukunft ist, sondern aufs genaueste die Vorgänge der epischen Handlung unmittelbar nach seinem Tod (in Karthago) kennt (vgl. 6,679ff.). 134 In dieses Beschauen fügt sich Vergil mit auktorialen Apostrophen an die dargestellten Gestalten ein (6,30). 135 »NosfZendo ducimus horas«, mahnt die Sibylle 6,539. 136 Vgl. E. Norden, P. Vergilius Maro: Aeneis, Buch VI, Leipzig 21916, S. 16ff.; Solmsen [Anm. 130], S. 35ff.; Clark [Anm. 124], S. 169ff. 61

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setzt, aus orphischer und pythagoreischer Tradition - unmittelbare Quelle Vergils dürfte Platons Phaedo gewesen sein -, zyklische Verläufe zwischen (göttlichem) Pneuma und Körperlichkeit voraus, die im Sinne der Purifizierung (also eines Purgatoriums) von den Menschen durchlaufen werden können, menschliche Existenz also als Bewährung auffassen. Die Purifizierung erfolgt hierbei im Hades nicht als Strafe, sondern gleichsam als ausgleichendes Äquivalent des individuellen Verhaltens 137 durch Einwirkung der Elemente Luft und Feuer. 138 Bis zur gänzlichen Reinigung und Rückkehr in den aether 139 werden die Seelen immer wieder in die Körperlichkeit eingeschlossen (wiedergeboren; nach der Tradition etwa in einem Zyklus von 1000 + 9 Leben). Der durch stoische Lehrstücke angereicherte Platonismus dieser Verkündigung fällt derart aus dem homerischen und augusteischen Rahmen der Aeneis, daß er seit der Spät antike als Kernaussage des Theologen Vergil im epischen Kleide angesehen wurde: er hat die menschliche vita als Bewährungs-Allegorie auf die übrigen Teile der Aeneis projiziert und von Fulgentius bis weit über Cristofero Landino hinaus die Aeneis als Allegorie menschlicher Vervollkommnung interpretieren lassen 140 - eine Lesung der Aeneis, die noch in den >EntwicklungsWasser der Erinnerungpräsentischen< Wirkungsraum der pathe (z.B. Ressentiments) heraus. 152 Paus. 9,39,8. 153 Nachweise bei Henry [Anm. 54], S. 134f. 154 Anders Dante, der bei seiner Rezeption des vergilischen Letheflusses als Wasser des Lebens wiederum das zweite in der Folge zu trinkende Wasser Eunoia einführt (Purg. 28,127-129; Purg. 31,10lf. trinkt Dante vom Lethefluß). 65

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Mit dieser - von Vergil geschaffenen - Verbindung der Wiedergeburtsund Erlösungslehre mit einer Theorie des Vergessens hat sich nun ein eigentümliches Verhältnis zwischen Mythos und Geschichte, also den beiden memorialen Horizonten, die das vergilische Epos konditionieren (vgl. oben I), herausgestellt. An dem Schwarm, der aus der Höhle des Hades herausdrängt, nimmt keine Gestalt des Mythos teil;155 die (philosophische) Universalität der Wiedergeburtslehre wird eingeschränkt; der Mythos bleibt, unvergessen, nichts vergessend, in Tartarus und Elysium eingeschlossen. In der Jenseitshöhle der memoria ist andererseits keine geschichtliche Gestalt anzutreffen, die sich - wie etwa der Scipio in Ciceros De re publica - von den Wiedergeburtszyklen gelöst hätte. Noch durch die philosophische Konzeption der Palingenesie hindurch also hat Vergil den Schnitt zwischen Mythos und Geschichte gelegt; und es ist noch einmal der memoriale Schnitt zwischen Gedächtnis und Vergessen. Die römische Zukunft wird eine Kette von Taten, wechselnden Bildern und partiellen Gestalten entrollen (>>jataque«; »fortunasque virum«; »moresque manusque«, 6,683), die aber kein Erinnern und Vergessen kennen, sondern in ihrer melete voranschießen. Und von ihnen heißt es in dem abschließend von Anchises verkündeten Manifest der [112] Römerwerte (6,847-853) ausdrücklich, ihre geschichtliche Existenz werde politisch sein (6,851ff.), nicht wissenschaftlich (6,849f.), und vor allem nicht ästhetisch (6,847ff.).156 Die mythischen Gestalten sind hingegen keineswegs im Gegenzug strikt in die memoria ihrer Geschichten gebannt, wie zu erwarten wäre. Dies gilt nur für die Verurteilten und die Unbestatteten (Dido; Palinurus; also die von Aeneas memorierte eigene Vergangenheit). Die Bewohner des Elysiums hingegen sind durch ihre Namen, nicht mehr durch Gestalten oder Geschichten, nur mehr als mythische Inbegriffe erkennbar; sie repräsentieren nichts anderes mehr als die memoria selbst. Sie enthält zunächst das universale Gedächtnis (des Lesers), das gerade auch die geschichtliche >Zukunft< umfaßt; Anchises 157 steht für diese Einformung des 155 Anders noch in der vierten Ekloge, wo die mythischen Heroen in der Zeit der Augustusgeburt zum Beginn des neuen Weltenjahrs wieder auf der Erde erscheinen. 156 Es ist übrigens bemerkenswert, daß Aeneas auf dieses so oft hervorgehobene Manifest nicht antwortet, auch, wie erörtert, angesichts des ganzen in die Geschichte drängenden Schwarms nur die Frage nach dem Warum stellt, vor allem aber nur nach einer einzigen geschichtlichen Gestalt sich voll Mitleid erkundigt, dem >zu früh gestorbenen< jungen Marcellus. 157 Anchises blickt nicht dem sich nähernden Sohn entgegen, sondern for66

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ursprünglichenJata-Horizonts zwischen Autor und Leser (vgl. oben I) in eine der Figuren des Elysiums. Aber darüber hinaus erinnern sich die Gestalten des Elysiums an sich selbst. Vergil steigert dabei die bereits Aeneas eingezeichnete Projektion der eigenen Person in die Vergangenheit zu einer Darstellungsform, die es zuvor nicht gab (6,640-678). Ilus, Assaracus und Dardanus 158 haben sich im Elysium ihrer Waffen, Wagen und Pferde, die los geschirrt grasen, entledigt; die Lanzen stehen in den Boden gerammt beiseite. Sie führen eine Existenz des Nachher, die die alten Paraphernalien noch als Erinnerungsspur mit sich führt,159 aber freigesetzt hat. 160 Diese F reisetzung hat Vergil im Sinne der Aoide ästhetisch gemeint: mit den Heroen, die nun, teils ins Grüne gelagert, teils Wettkämpfe ausführend, einen pindarischen Päan singen (6,655ff.), treten Musaeus und Orpheus auf. 161 Hier wird die Linie einer ästhetischen Formung der memoria (s. oben III) fortgesetzt. Zwischen der Gattungstradition des Epos, der augusteischen [113] Erwartung an einen Preis Roms und einer philosophischen Weltanschauung hat Vergil die Aeneis in einer schend in die Richtung, in welcher der futurische Schwarm den Hades verlassen wird (6,679ff.). Er will die einzelnen geschichtlichen Gestalten erläutern und wird von Aeneas mit der Frage nach dem >philosophischen< Hintergrund geradezu unterbrochen (6,716ff.). - Es verdient Beachtung, daß der memoriale Blick des Anchises aus dem Seelenhaufen am Lethefluß nicht etwa nur einen Querschnitt des Gleichzeitigen, den gerade neu beginnenden Lebenszyklus, sondern die geschichtliche Folge der gesamten römischen Zukunft herauszuheben und ihre genaue temporale Sukzession zu vergegenwärtigen (»memorare«; »enumerare«, 6,716f.) in der Lage ist. 158 Es treten hier ausschließlich Gestalten der fernsten mythischen Vergangenheit auf. 159 Vergleichbar sind nur in der spätantik-mittelalterlichen Kunst Gestalten des AT in ihrer (typologischen) Erfüllung: so der noch die Asche und Schrunden aufweisende, aber bereits lächelnde Hiob in Prudentius' Psychomachie (psych. 165f.). 160 Diese Freisetzung kontrastiert aufs schärfste mit der (ebenfalls neuartigen) Darstellung der geschichtlichen Gestalten vor ihrer Wiedergeburt: ihnen wird, bereits ohne ihr Wissen, beim Trinken aus dem Lethestrom das Attribut ihrer irdischen Handlung wie eine bildliche Abbreviatur beigegeben: die Andeutung eines Kranzes, einer Lanze, auf die sich die Gestalt bereits stützt, die Ketten des Torquatus, aber auch das Todesdunkel um das Haupt des Marcellus. Charakteristisch für die Schwierigkeiten, die diese Darstellungsform der Philologie bereitete: H. T. Plüß, Vergil und die epische Kunst, Leipzig 1884, S. 169f. 161 Ebenso alle, die durch ihre Erfindungen das Leben verbessert haben (6,663f. also gerade die, denen die römische Zukunft nach dem Manifest der Römerwerte wesensfremd sein wird) und dadurch in der kollektiven memoria menschlicher Utopie anwesend sind: »quique sui memores aliquos fecere merendo« (6,664). 67

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Poetik der memoria gipfeln lassen, die er in seinem Helden angelegt hat und in einem die Erwartung durchkreuzenden Manifest formuliert. Offenbar weist diese Poetik auf eine memoriale Anthropologie, die es mit Erinnern, Vergessen und Gedächtnis zu tun hat, und zwar gerade bei der Genese von Kunst. Nach einer griechischen Tradition 162 hat es als Töchter Mnemosynes ursprünglich nur drei Musen gegeben: Melete, Mneme und Aoide.

VI »Die Römer, die Stützen meines Arsches, sind immer, sind stets gewesen und werden immer bleiben.« W. A. Mozart, 13. Nov. 1777, an seine Cousine

Die Aeneis wird als Epos zu Ende geführt: Aeneas verläßt das Elysium. Er hat im zweiten Teil des Werks für die Gründung Roms zu wirken. Allerdings wird der Held nicht in eine Wiedergeburt durch den Lethefluß hindurch entlassen. In seinem Gedächtnis führt er das Gesehene, freilich in Form einer kompakten, nicht mehr in Gestalten differenzierten Gewißheit mit (das zeigt etwa die Klage um Pallas 11,29ff.). Aber im allgemeinen äußert sich dieses Wissen nicht im Handeln des Helden, sondern als Selbstgewißheit, als das zuweilen schroffe Bewußtsein, die pietas zu verkörpern und mitleidlos, ja blicklos durchsetzen zu müssen. Die Figur verändert sich (vgl. oben II); sie führt andeutungsweise noch einen kommemorativen Kern in sich, aber dessen zunehmende Unzugänglichkeit destruiert Aeneas zu einem die Geschichte vollziehenden Handlungsträger: »ego poscor« (8,533). Anchises hatte die Heldenschau mit einem Hinweis auf Aeneas' eigene Kriege als Beginn der römischen Zukunft geschlossen. Wirklich ist der Held, insofern er in der zweiten Werkhälfte handeln wird, gleichsam doch durch den Lethefluß gegangen. Mitleid und humanitas werden zeitweise in ausdrücklichem Hohn (vgl. 10,557ff.) zurückgenommen. 163 Die Niedermetzelung [114] des Hauptfeindes Turnus, 162 Pausanias 9,29. Vgl. S. Goldmann, Topoi des Gedenkens. Pausanias' Reise durch die griechische Gedächtnislandschaft, in: Gedächtniskunst [Anm. 113], S. 145-164. 163 Diese >Rücknahme< des descensus und der - nach wie vor zumeist als Entwicklung interpretierten - Gestalt des Helden, wie sie bis zum fünften Buch sichtbar wird, hat die neuere Forschung seit A. Parry [Anm. 52] zu einem radikalen An-

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das letzte Wort der Aeneis, wird endlich durch das zur Rache, zur blinden Wut sich zurückbildende Aufblitzen einer Erinnerung veranlaßt. 164 Aeneas ist hier >außer sich< wie bei seinem ersten Auftreten im Seesturm des ersten Buches. Diesen Verlust seiner Figur an Innerlichkeit hat Vergil nicht zuletzt durch die erneute, starre Einfügung des Helden in die providentielle Gruppe 165 Anchises-Aeneas-Ascanius ausgedrückt. Vergeblich beruft sich (lO,531ff.) der um pietas flehende Gegner auf Aeneas' Vater und Sohn: die pietas des Helden ist diese Gruppe und ihr fata-Sinn selbst geworden. 166 Ascanius zugesprochen ist das letzte Gedenken des Aeneas vor seinem Schlußkampf mit Turnus (12,432ff.). Es handelt sich um eine komplizierte und unter dem hier betrachteten memorialen Aspekt raffinierte Form: von Aeneas formuliert wird diese Zusprache als (wiederum antizipierte) memoria des erwachsenen Ascanius, der sich an Hektar erinnert, an die exempla seiner Vorfahren, an Aeneas selbst. Ihr Ziel ist virtus und labor, nicht fortuna. Eine letzte Steigerung der Gedächtnisantizipation wird hier erreicht, wenn nach Aeneas' Willen Ascanius später in diesem Gedenken an Aeneas zur virtus aufgerufen werden soll 0>sis memor et te animo repetentem ... / ... Aeneas ... excitet«, 12,439f.). Hier ist die gegenwärtige Ermahnung eingeklammert; Aeneas hat sich als lebende Person (außerhalb der Schlacht) vollständig getilgt. Vollends verläßt Aeneas' Schutzgöttin Venus den Helden als Person und wendet sich Ascanius als dem Zukunftsrepräsentanten der Gruppe griff auf die >augusteische< Deutung des Epos (verbreitet vor allem in Deutschland; zuletzt: Otis [Anm. 3]) veranlaßt. Parry, hierin der Vergilauffassung H. Brochs nahe, interpretierte den Aeneas der zweiten Werkhälfte als Opfer der römischen Zukunft; die Aeneis wolle mit ihrer >zweiten< Stimme den Preis sichtbar machen, der für geschichtliches Handeln erlegt werden müsse. M. C. J. Putnam, The poetry of the Aeneid, Cambridge/Mass. 1965, wandte diese Beobachtungen zur Attacke des Dichters gegen Augustus um: in das Nationalepos eingeschrieben sei mit der Figur des Aeneas der Protest gegen den beginnenden Prinzipat; so auch S. Farron in mehreren Untersuchungen (vgl. z.B.: Aeneas' human sacrifice, in: Acta Classica 28, 1985, S. 21-33). 164 Durch den Blick auf das Pallas geraubte Wehrgehenk des Turnus; diese Erinnerung zieht Aeneas tief in sich hinein: »postquam saevi monimenta doloris / ex· uviasque hausit« (12,945f.). 165 Sie war noch im fünften Buch spielerisch durch Analogien in den Familien der Aeneaden variiert worden (vgl. 5,563ff.). 166 Zutreffend Otis' Schlagwort von Aeneas als >pietas in Aktion< ([Anm. 3], S.313). 69

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zu (10,46ff.): möge doch Aeneas wieder ziellos in den Wellen treiben oder waffenlos irgendwo sein Leben in Ruhe zu Ende bringen: 167 »liceat super· esse nepotem«. Vergil hat diese Reduktion seines Helden auf die melete des Handeins eindringlich mit der zweiten großen Ekphrasis der Aeneis vollendet. Die Schildbeschreibung des achten Buches respondiert der Beschreibung des Tempelfrieses (s. oben ill), aber sie nimmt das Ergebnis des ersten Buches, die Selbstbegegnung und ästhetische Selbstdistanzierung, in einer denkwürdigen Szene zurück. Die Waffen des Vulcan, die Venus (wie die homerische Thetis dem Achilleus) ihrem Sohn überbringt, tragen auf dem Schildbuckel die geschichtliche Zukunft Roms noch einmal dargestellt. 168 Aeneas [115] aber erkennt sie nicht mehr. Der descensus ist unter das ihm verfügbare Gedächtnis ab gesunken. Die Kommemoration des »quorum pars magna fui« (2,6; vgl. oben II), die Betroffenheit der Selbstbegegnung, wie sie vor dem Tempelfries möglich wurde, fehlt hier angesichts der Zukunft. Vergil verweist nun bei der Schildbeschreibung zunächst noch auf das Bewußtsein von der ästhetischen Qualität, das Aeneas vor den Friesdarstellungen hatte (vgl. 1,464: »animum pictura pascit inani«; vgl. oben ill): »miratur rerumque ignarus imagine gaudet« (8,730) - allerdings »ig· narus«: die delectatio am Schild kennt ihren Gegenstand nicht mehr. Sie sinkt daher schließlich alsbald unter das Bewußtsein ab, bedeutungsvolle Gestalten, überhaupt ein Kunstwerk vor sich zu haben: das verwunderte Schauen des Helden kann sich nicht genug tun und gleitet zu den Werkstoffen, zu den Funktionen der Waffen ab (8,618ff.). Am Ende nimmt er den Schild als Waffe auf, wälzt ihn sich samt fama und fata auf die Schultern (8,729-731): »talia per clipeum Volcani, dona parentis, miratur rerumque ignarus imagine gaudet attollens umero famamque et fata nepotum.«

Nicht mehr den Vater und mit ihm die mythische Vergangenheit schleppt Aeneas aus dem brennenden Troja; in die Kriege um Rom hinein schul167 "Positis inglorius armis / exigat hic aevum« (10,52f.): es ist das Vergessen der fata, das Aeneas erfolgreich bewältigt hatte! 168 Einer der viel beachteten >Durchblicke< (vgl. oben I), in denen Vergil dem Leser die augusteische Gegenwart als Endpunkt der römischen Geschichte präsentiert; Vulcan hat ihn dementsprechend "haud vatum ignarus venturique inscius aevi« (8,627) gefertigt. Dem entspricht, daß Schildbeschreibung und Heldenschau so kunstvoll variiert sind, daß keine Figur und keine Kleinszene eine präzise Dublette haben.

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tert er die geschichtliche Zukunft. Aeneas als Karyatide - auch die komplette Dreiergruppe, wie sie in der Antike vor und nach dem vergilischen Epos den überall gültigen Inbegriff des mythistorischen Gesamtgeschehens vorstellte,169 trägt den Charakter und die memoriale Struktur dieser Karyatide. 170 Der archaisch-additive Schultersitz (Huckepacksitz) des Anchises wird nach einigen Experimenten auf Krateren und Münzen in der Tabula Iliaca von Bovillae (Abb. 1) von einem Aeneas abgelöst, der mit gefalteten Händen das untergeschlagene Bein des Vaters am Unterschenkel hält. Anchises, verhüllten Hauptes, die pignora imperii im Schoß, schaut in die von Hermes gewiesene Richtung zum Schiff. In sie blickt auch der junge Ascanius, den der Vater nicht an der Hand hält, sondern der den Vater zu führen scheint. (Creusa, die in späteren Bildtypen fehlen wird, ist auf diesem erzählenden Bildwerk noch links im Hintergrund sichtbar.) Aeneas' Blick aber folgt nicht dem Hermes; er trifft den Betrachter. Den Grundlinien dieses Bildtyps folgt noch Berninis, für die Neuzeit am einflußreichsten gewordene Gruppe in der Villa Borghese (Abb. 2). Creusa und Hermes sind verschwunden, die lastende Statik der Gruppe als figura serpentinata ist hervorgehoben; Aeneas ist stärker isoliert. Ascanius ist entsprechend dem ersten Buch zum Cupido umgestaltet, halb versteckt, mit der Hauptfigur kaum mehr verbunden. Aber er blickt in die gleiche Richtung wie das äußerst wache und streng zusammengefaßte Gesicht des eher getragenen als hinfälligen Anchises - eine Richtung, die der Idealperspektive des Betrachters entspricht. Aeneas kehrt den Blick zur Erde. [116] Als Epos hat die Aeneis die Karyatide ihres Helden nicht von der Doppellast mythischer und geschichtlicher memoria entlastet. Aber Aeneas tritt, sich selbst memoria und mit ihr eine Person erwerbend, in den zentralen Büchern aus dem homerischen und römischen Gefüge hervor. Nicht daß er dann unbelastet sichtbar würde: die memoria an das Leid und den folgenlosen Untergang der Gescheiterten ebenso tragend wie die ästhetische memoria eines philosophischen Universums, unterstellt er sich dem Himmel eines Weltgedichts, das Vergil von den Eklogen an zu schreiben beabsichtigte, dem Himmel einer Philosophie, der sich der Dichter nach den letzten bezeugten Äußerungen während der Arbeit an 169 Vgl. zum Folgenden die Nachweise bei W. Fuchs, Die Bildgeschichte von der Flucht des Aeneas, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. I 4, Berlin 1973, S. 615-632. 170 Die - naheliegenden - tiefenpsychologischen Deutungen (vgl. Quint [Anm. 62], S. 35; R. Fahr, Lacrimans exsul feror, in: Anregung 20, 1981, S. 377-382) können hier nicht berücksichtigt werden. 71

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der Aeneis ganz zuzuwenden gedachte. So ist er zur Karyatide des Atlas l71 geworden. Bei dieser >antiken AufgabeOrgie< Petrons wird somit zum Ahnherrn der kompensatorischen Kahlschlagzonen spätneuzeitlicher Belustigungen, der Freizeit, des Kriegs, des Urlaubs. Nicht solche Festphilosophie (und die ihr inhärente Geschichtsphilosophie), nicht die Stereotypen der Orgie sind bemerkenswert, wohl aber die Tatsache, daß Aus: Das Fest, hrsg. von Walter Haug und Rainer Warning (Poetik und Hermeneutik 14), München: Wilhelm Fink Verlag 1989, S. 120-150. 1 J. Pieper, Zustimmung zur Welt. Eine Theorie des Festes, München 1963, S.93.

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hier historisch nichts stimmt. Kein Zug aus der vertrauten Festinszenierung >Orgie< kommt nämlich im historischen Referenztext, der cena Trimalchionis aus Petrons Satyrica, vor. Merkwürdiger noch: auch die Inszenierungen der cena bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts reichem sich nicht mit diesen Zügen an. Nun ist die cena Trimalchionis seit ihrer Erstveröffentlichung 1664 bis zum 19. Jahrhundert wiederholt als Fest und bei Festen aufgeführt worden; sie gehört zur Literatur, die als Fest inszeniert wurde. Die früheste Aufführung war durch einen [121] Brief Leibniz' für Februar 1702 in Hannover-Herrenhausen bekannt;2 inzwischen habe ich im LeibnizArchiv (Hannover) den verschollen geglaubten, von Leibniz selbst aus diesem Anlaß verfaßten Trimaleion Moderne in Versen gefunden; Leibniz spielte in der Aufführung selbst den Enkolp. Die Bearbeitung und Inszenierung 3 hat nun das festliche Gastmahl des Trimalchio durchaus Formen des barocken Festes 4 angenähert, in diesem Sinne auch neue Motive hinzugefügt; 5 sie hat darüber hinaus Elemente des Tischgesprächs, des gelehrten discours zu einer philosophisch-theologischen Aktualisierung der Antike genutzt. Aber es findet sich, abgesehen vom Raffinement der Speisenfolgen, noch kein Element der >OrgieHeld< der Devolutionskriege gegen Frankreich (Motiv des miles gloriosus). 6 Bemerkenswert ist lediglich die z.T. krass-erotische Skatologie der Leibnizsehen Verse, die der Autor noch durch spätere Korrekturen verstärkt hat. So wird in einem Preislied des (hier in die cena integrierten Petronschen) Dichters Eumolp auf Trimalchio traditionelle petrarkistische Metaphorik parodiert: »Un petit Tarqvin bruLoit Pour La grande Lucrece. Dans L'ardeur qvi Le pressoit, 76

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gleichbarer Inszenierungen unter der Regence und zuletzt 1813 in Frankreich.? Eine Wende (die offenbar an der zunehmenden Faszination durch die Spätantike als Epoche teilhat)8 bezeichnet Alexandre Soumets Tragödie Fete de Neron (1830). Die für ein römisches Fest obligatorisch gewordene cena bildet den Höhepunkt des Stückes (Akt III, Szene 5), aber der Emporkömmling ist aus ihr verschwunden. Das Fest wird von Nero (in Anwesenheit Petrons) begangen, und sein Höhepunkt ist eine Aufführung von [122] Aischylos' Agamemnon durch den kaiserlichen Muttermörder. Das >Fest< selbst hat sich hier von der Vorlage Petrons gelöst und kann nunmehr durch Züge aus Sueton, der Historia Augusta und Tacitus montiert werden. Soumet bemerkt bereits summarisch in einer Regieanweisung: »Musique et ballet. La fete occupe tout le theatre; elle doit offrir l'aspect d'une Bacchanale de l'antiquite«. Das Gemeinte konnte als vertraut vorausgesetzt werden. Als Ballett hat sich die Form auf der Bühne noch lange gehalten (nächste Reprise: Scribes Ballett in drei Akten L 'Or· gie von 1831). - Hier erscheint also ein antikes literarisches Gastmahl, zunächst als Fest aufgeführt, zum Inbegriff eines nicht mehr literarisch verstandenen Festtyps dekonstruiert. Wenn dann später die römische Orgie wieder in literarischer Gestaltung auftritt, so mit allen Paraphernalien eines selbständigen Imaginationsraumes, die Petrons cena nur mehr in bescheidenen und ungenauen Graden intertextueller Referenz enthalten. 9 Il bevoit et debevoit Sans cesse, sans cesse. Un jour al'objet charmant Il pissa dans la poche Estant las de sa rigueur Et croyant percer ce creur De roche, de roche. Les pleurs estoient peu touchans Pour attendrir la dame; Presse de ses feux ardens Il versa de l'eau dedans Sa flamme, sa flamme.«

7 Vgl. A. Collignon, Petrone en France, Paris 1905, S. 88ff. 8 Vgl. Herzog, Epochenerlebnis >Revolution< und Epochenbewußtsein >Spätantikespätrömischen Festes< (mit ihr verschwand die cena Trimalchionis in der Obhut konjizierender, dann bis heute zumeist linguistisch und archäologisch kommentierender Philologen) hat nun ein ganz ähnliches Seitenstück. Im historischen Arrangement literaturwissenschaftlicher Romantheorie wurde Petrons Werk zum vielbesprochenen Kernstück der satura Menippea, nämlich ihrer dem Roman am stärksten angenäherten Form in der Antike 10 und gedieh dabei zu einem vergleichbar unkenntlich gewordenen Inbegriff. ll - Ich vermeide es, hier Belege anzuführen; es handelt sich um eine (untersuchenswerte) Form literaturwissenschaftlicher Intertextualität, deren durchaus produktive literarhistorische Unschärfe bei der Begegnung antiker Texte mit der Stringenz moderner Theorieparadigmen entstehen kann. Die >menippeische Satire< gibt es in der antiken Literaturtheorie nicht;12 menippeisch bezeichnet lediglich die formale Eigenheit des prosimetrum {die so unterschiedliche Werke wie die Consolatio philosophiae und die Satyrica aufweisen)Y Die heutige inhaltliche Ausweitung des Begriffs geht auf Drydens Literarkritik (und seine Verteidigung der eigenen Satiren) zurück; sie wurde in der Klassischen Philologie von Helm 1906 durch eine Gattungsgeschichte von Menippos über Antisthenes und die Diatribe bis zu Varro und Lukian [123] unterbaut,14 die zwar inzwischen als Phan-

mehr in erster Linie, sondern dient der Distanzierung des Autors gegenüber seinem Text. 10 Durchaus zutreffend bemerkt J. Kristeva, daß dieser Begriff (sc. die satura Menippea) den »Vorteil hat, eine gewisse Schreibweise in die Geschichte einzubetten« (Le mot, le dialogue et le roman; dt. Fassung in: Literaturwissenschaft und Linguistik, hrsg. vonJ. Ihwe, Bd. 3, Frankfurt/M. 1972, S. 371). 11 Solche Unkenntlichkeit ging soweit, daß konstruierte Entwicklungslinien die Entdeckung der cena (erst im Jahre 1650) ignorierten, daß die cena stellvertretend für die übrigen, ganz heterogenen Teile der Satyrica (unrichtig zumeist als »das Satyricon« benannt) eintraten, daß schließlich auch die Petronschen Namen verfremdet wurden. 12 Varro hat den hybriden Titel für ein Werk verwendet, das er natürlich als Sammlung (römischer) Satiren verstand; neu (und auf Menippos von Gadara zurückgeführt) war die Form des prosimetrum. Die >menippeischen< Themen finden sich bereits bei Lucilius, ja Ennius. 13 Vgl. J. S. Williams, Towards adefinition of Menippean satire, Diss. Vanderbilt Univ., Nashville 1966, und N. Terzaghi, Per la storia della satira, Messina 21944. 14 R. Helm, Lucian und Menipp, Leipzig 1906.

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erkannt wurde,15 jedoch bis heute von den neueren Philologien rezipiert wird. 16 Petron nahm in ihr - besonders nach Heinzes Ableitung der Satyrica vom griechischen Roman 17 - keine hervorragende Stelle ein. Das änderte sich, als die literaturwissenschaftliehe Romanforschung die menippeische Satire entdeckte. Nicht mit dem Anspruch einer Gattungsgeschichte, sondern aus archetypischen Mustern des Ästhetischen eine Anatomie auch der Prosagattungen entwickelnd, sah Northrop Frye einerseits die >Haltung< der Satire, andererseits die >Form< des Menippeischen in einer neuen Gattung verschmelzen. Neben wertvollen Beobachtungen zum >menippeischen< Helden und seinen Situationen 18 war nun für die Satyrica der Ort ihrer literarhistorischen Bedeutung gefunden: mit Petron erreichte die >Menippea< den Roman und eröffnete dessen ästhetisch wertvollste Linie. Bei Michail Bachtin steht das Phänomen Petron in einem noch weiteren Horizont. Die Ausarbeitung des dialogischen Prinzips jenseits der linguistischen und logischen Doktrinen zur Zeit seiner ersten Schriften führte vor allem zum semantischen, dann aber auch literarisch-historischen Konzept der Polyphonie, der Anwesenheit textuell scheinbar nicht präsenter Stimmen, quer und gegen den >Monolog< der hohen Gattungen in einem literarischen Diskurs, in dem eine Vorstellung von Werk- und Autoridentität, besonders in der Theorie J. Kristevas, obsolet zu werden schien. Diese Entwicklung ist bekannt genug; aus ihr bezieht auch die gegenwärtig anhaltende literaturwissenschaftliehe Anwendung des Intertextualitätskonzepts ihre Energie. 19 Indessen zeigt schon die Präsentation der dialogischen Schichten in Bachtins Dostoevskij-Buch,z° daß die polypho-

tarn

15 Vgl. J. Bompaire, Lucien ecrivain, Paris 1958. 16 Vgl. noch die - für die frühe Neuzeit sehr nützliche - Übersicht bei W. von Koppenfels, Mundus alter et idem, in: Poetica 13, 1981, S. 16-66. - Demgegenüber vermitteln komparatistische Zusammenstellungen, die sich auf das sichere Kriterium des prosimetrum beschränken, einen eindrucksvollen Überblick über die Adaptation dieser Form in den unterschiedlichsten Gattungen; vgl. A. Scherbantin, Satura Menippea, Diss. Graz 1951, und E. P. Korkowski, Menippus and his imitators, Ann Arbor 1973. 17 R. Heinze, Petron und der griechische Roman, in: Hermes 34, 1889, S. 494512. 18 N. Frye, Anatomy of criticism, dt. Ausgabe, Stuttgart 1964, S. 310f. 19 Vgl. hier die thematisch dem Konzept gewidmeten Kolloquiumbände >DialogizitätIntertextualitätBakhtinProbleme der Poetik DostoevskijsSpoudoge1oion< (zur Charakterisierung von Texten in der Antike nicht belegt); zur Textoberfläche stößt sie u.a. im sokratischen Dialog und eben in der >MenippeaMenippeischenDie beiden stilistischen Linien des europäischen Romans< und in >Die Vorgeschichte des RomanwortesChronotopChronotopsophistischen«} Roman ein menippeisch-folkloristischer >Prüfungs- und Abenteuerroman< postuliert - doch erfüllt ihn nur Apuleius (ohne menippeische Form!}.26 21 Ebd. S. 127-133. 22 Beide dt. in >Die Ästhetik des WortesEsthetique et theorie du romanProbleme der Poetik Dostoevskijs< [Anm. 20], S. 126; man beachte die »gesellschaftspolitische«, »philosophische« und »ideologische« Erklärung in >Ästhetik des Wortes< [Anm. 22], S. 256f. 26 Vgl. >Esthetique< [Anm. 23], S. 261ff. 80

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Das »Fatale« dieses Befundes - systematisch wäre zu dieser Zeit, der ausgehenden Antike, die gesuchte Verbindung erfordert - läßt Bachtin auf eine allgemeine Schilderung der >römischen Lachkultur< rekurrieren: »Das Ganze kommt mir wie ein gewaltiger Roman vor«.27 Die Satyrica können dieser gesuchte Roman nicht sein, obwohl sie genau das missing link sind - in defizienter Weise: »Tatsächlich ist der Roman als ein Gebilde mit vielen Gestalten und vielen Stilen aus diesem großen Ganzen der parodistisch widergespiegelten Wörter und Stimmen in der Antike entstanden, vermochte es allerdings nicht, das gesamte vorbereitete Material in sich aufzunehmen und zu verwenden. Ich habe Petronius im Auge. Zu größerem war die antike Welt offensichtlich nicht fähig.«28 Eine Begründung für dieses Urteil gibt Bachtin nicht; offensichtlich wird es veranlaßt durch sein Konzept von der geschichtlichen Funktion der karnevalistischen Polyphonie als des Gegenkonstrukts zum (sich mit dem Christentum monotheistisch verstärkenden) literarischen Monolog der herrschenden Ideologie: nach einem solchen Konzept wird die literarische Lachkultur erst im Spätmittelalter stärker herausgefordert. 29 In den Satyrica suchte Bachtin Vorbereitendes, den Atem folkloristischer Riten, den Saturnalienexzeß,3o und traf auf die intertextuelle Anwesenheit einander parodierender ho her Gattungen und ihr Raffinement. 3! Demgegenüber ist Petrons anspruchsvolles Programm, wer sich mit Literatur abgebe, dessen Sinn müsse »ingenti flumine litterarum inundata« sein (118,3),32 zwar ein Manifest der Intertextualität, aber nicht >karnevalistischerÄsthetik des Wortes< [Anm. 22], S. 317. 28 Ebd. [Anm. 22], S. 317. 29 Vgl. >Esthetique< [Anm. 23], S. 251 und >Ästhetik< [Anm. 22], S. 253f. - Kristeva hat dieses historische Schema noch verstärkt (>Le mot< [Anm. 10], S. 364). 30 Vgl. die hymnischen Projektionen in die Satyrica: >Esthetique< [Anm. 23], S.364. 31 Wie bereits W. Rösler (M. Bachtin und die Karnevalskultur im antiken Griechenland, in: Quaderni Urbinati 23, 1986, S. 25ff.) am Beispiel der alten Komödie gezeigt hat, verwehrt Bachtins >folkloristischer< Ansatz ihm die Erkenntnis jeglicher Intertextualität zwischen hohen und akzeptierten Gattungen, die durchaus zur Stabilisierung der Anspielungskultur einer Bildungselite gehören. Besonders für die prosimetrischen Formen in kynischer Tradition - also die Vorgeschichte der Satyrica - sind die bei Bachtin gänzlich ausgesparte Nea sowie die römische Tragödie von Belang. Eine fruchtbare Anwendung von Bachtins Konzept auf die Apocolocyntosis Senecas findet sich bei R. R. Nauta, Seneca's Apocolocyntosis as Saturnalian literature, in: Mnemosyne 40, 1987, S. 69-96. 32 Von E. R. Curtius als Motto zu seinem großen Werk gewählt. 81

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Wie durch die Projektion der Vorstellung >Orgie< ist auch durch das Argumentationspotential, mit dem eine gattungshistorische Konstitution ihren Schwerpunkt zu untermauern sucht, das darunterliegende Werk verschlossen geblieben. [125] Was also ist das römische >Festüber eine halbe Stunde< (69,4). 34 Bereits erkannt von P. Fedeli, Petronio: 11 viaggio, illabirintho, in: Materiali e discussioni per l'analisi dei testi classici 6, 1981, S. 91-117. 82

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Aufmerksamkeit, weil Petron Aktionen und Akteure nach herkömmlicher Auffassung sich selbst kennzeichnen läßtj allerdings gibt es, wie noch zu erörtern sein wird, eine reiche, eindeutige Interpretationen durchkreuzende intertextuelle Anwesenheit des Mythos. Immerhin weist hier das Ensemble der von Petron gesetzten Signale so stark in eine Richtung,35 daß das Haus des Trimalchio, geschildert beim Eintritt des Helden, näheres Zusehen verlohnt. 36 Über die Front des Hauses zieht sich ein Gemälde (29,3-6), das seinem Besitzer gewidmet ist. Solche pikturalen Hinweise, besonders auf den Beruf des [126] Hauseigners (in diesem Fall führt Minerva Trimalchio nach Rom), sind durchaus üblich. Aber hier ist die ganze Lebensgeschichte (von der Stellung als Lieblingssklave seines früheren Herrn: »capillatus« über seinen Aufstieg als Freigelassener) dargestellt und zwar bis zum Auftritt der Parzen und bis zur Apotheose. 37 Solche Darstellungen finden sich an keinen Wohnhäusernj38 es handelt sich um die Darstellung eines abgeschlossenen Lebens, wie sie nach allen Einzelzügen für den Sarkophag bezeugt ist: Merkur als Psychopompos erscheint in Szenen aus dem Lebenslauf des Verstorbenen etwa auf einem Sarkophag der Villa Doria Pamphili,39 die Trias Merkur, Fortuna und Parzen auf dem fragmentarischen Sarkophag eines pompejanischen Händlers. 40 Und so wird Trimalchio gegen Ende der cena, als er sein Grabmal in Auftrag gibt (81,9), die Hauptzüge dieses Wandbildes wiederholen. Er selbst will hier an Stelle der Fortuna Münzen unter das Volk werfend dargestellt werden. Aber auch diesen Darstellungstyp (Fortuna reicht aus ihrem Füllhorn dem Verstorbenen die Münzen) kennt die sepulkrale Ikonographie. 35 Hinzu tritt die Elster über der Schwelle des Eingangs (28,9): ein Totenvogel, vgl. CIL III 5561. - Die Helden werden aufgefordert, mit dem rechten Fuß die Schwelle ins Haus zu überschreiten: dieser Aberglaube war beim Eintritt in ein Haus zu beachten, in dem eine Begräbnisfeier stattfand (W. Deonna und M. Renard, Croyances et superstitions de table dans la Rome antique, Brüssel1961, S. 78). 36 Die folgende Untersuchung ist besonders der Vorarbeit M. Grondonas, La religione e la superstizione nella Cena Trimalchionis, Brüsse11980, verpflichtet. 37 Mit ihren typischen Elementen: Mercur führt Trimalchio am Kinn zum tri· bunal; dort steht Fortuna mit der cornucopia an seiner Seite. Post mortem sieht in dieser Weise der Kaiser Claudius in Senecas Apocolocyntosis sein Leben hinter sich. 38 Petron sagt ausdrücklich, daß der Platz für die Darstellung an der Hauswand >kaum mehr ausreicht< (»in de/iciente vero iam porticu«, 29,5). 39 Kommentiert bei F. Cumont, Recherehes sur le symbolisme funeraire des Romains, Paris 1942, S. 336f. 40 Vgl. den Art. >MercuriusLebender< sucht sein Dasein in einer Feier auf seinen Tod hin zu verdichten, aber man sieht einen >Totentechnisch< den ersten Teil der Feier vor dem aufgebahrten Leichnam einleitet: »ploratio« und »gratia«; es werden in gebührender Reihenfolge die eigentliche »ploratio« mit Teilentblößung [127], Zerraufen der Haare (»seindere«) und Zerkratzen der Brust folgen, endlich die eigentliche Bekleidung des Toten mit den »vitalia« (77,7-78,1) und die Salbung. Die »laudatio«, die Trimalchio am Ende fordert (78,5), wird noch mit dem einleitenden Hornblasen angedeutet (78,Sf.), ehe das katastrophale Ende der eena eintritt.43 Nun spricht Trimalchio hier nach gewöhnlichem Verständnis als Arrangeur eines Festes unter Lebenden; Petron aber durchkreuzt ein solches Verständnis wiederum durch den Hinweis auf eine Situation post mortem. Trimalchio bemerkt bei der Rezitation seines Testaments, seine Sklaven würden »salvo me« frei sein (71,1). >Wenn ich gesund bleibe< (also aus der Perspektive des Lebenden) - so wird gewöhnlich interpretiert - kann 41 Als Gegenprobe zu dieser Erkenntnis können die vergeblichen Bemühungen der Philologen und Archäologen gelten, das Haus des Trimalchio mit seinen komplizierten und weitläufigen Gemächern architektonisch zu deuten (vgl. G. Bagnani, The house of Trimalchio, in: American Journal of Philology 75, 1954, S. 16-39); vgl. zum Wandgemälde F. Magi, L'adventus di Trimalchione e il fregio Adella cancelleria, in: Archeologia Classica 23, 1971, S. 88-92. 42 So die Inszenierung der eigenen Begräbnisfeier bei Seneca, epist. 12,8; Sen. brev. vit. 20,3; Tacitus, bist. 4,45,2; man vergleiche auch die Szene aus Molieres Malade imaginaire. 43 Zu diesen Phasen der Begräbnisfeier J. M. C. Toynbee, Death and burial in the Roman world, London 1971. 84

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der Text nicht meinen: das Testament (hier vor Zeugen nochmals verlesen) würde ja gerade mit dem Tod in Kraft treten. 44 »Me salvo« ist vielmehr ein Euphemismus für den Tod; Trimalchio imaginiert mit der Rezitation den gleichen Zustand post mortem, den die ganze Feier voraussetzen soll. 2) Trimalchio instruiert sodann den Begräbnisunternehmer Habinnas, wie er sein Grabmal zu gestalten habe (71,5-12). Ausdrücklich gibt sich die Instruktion als Wiederholung des schon früher gegebenen Auftrags (71,5); und diese Wiederholung spricht nunmehr mit den Worten, in denen sonst solche Instruktionen überliefert sind: den Worten des Toten auf Grabinschriften. Das beginnt bereits mit der hochaffektischen Anrede an den Begräbnisunternehmer 0>amice carissime«); auch die Einzelweisungen erscheinen wörtlich auf erhaltenen Gräbern. Selbst die erklärenden Kommentare Trimalchios 0>ut mihi contingat post mortem vivere«, 71,6; »ubi diutius nobis habitandum est«, 71,7) werden durch ihre wörtliche Wiederkehr auf Inschriften in die Perspektive post mortem gerückt. 45 Damit hat sich eine eigentümliche Schwellensituation ergeben. Das >normale< Verständnis des Lesers, der Lebende vor sich agieren und eine postmortale Situation imaginieren sieht, beginnt durch die Häufung gegenläufiger Signale zu schwanken und setzt dabei eine der Schwellensituation eigentümliche Dialektik frei. Man sieht Trimalchio in jenen Momenten als Toten eine prämortale cena feiern, in denen er seinen Aufenthalt im Grab detailliert als Leben - und zwar als Verdoppelung des zuvor vertrauten Lebens, als Fest - arrangiert. »Ne mortuus iniuriam accipiam« (71,8) werden nicht nur die üblichen Maßnahmen gegen Verunreinigung getroffen, Trimalchio schreibt auch eine Uhr vor, damit durch das Verfließen der Zeit an ihn erinnert wird. Dieser Zugriff auf das Leben der Hinterbliebenen äußert sich in Selbstbehauptung (das Grab darf nicht Teil der Erbschaft sein) wie in einer grandiosen Ausdehnung des eigenen Daseinsbezirks: das Grab so11100 x 200 Schritte messen und über einen [128] Obst- und Weingarten verfügen (71,6f.). Letzterer ausdrücklich für den Gebrauch des >TotenLebende< in seinem Grab bleibt der feiernde >Tote< in seinem Haus. 3) Diese >Verdoppelung< vollendet sich in der nächsten Phase der cena in der einzig unter den Bedingungen der Feier möglichen Form: das Fest beginnt noch einmal (72f.). Als die >>familia« mit der »ploratio« fortzufahren beginnt, schlägt Trimalchio mit den Worten »quare non vivamus« (72,2) vor, ins Bad zu gehen, um danach in einem ganz anderen »triclinium« (73,5) das Fest zu wiederholen, >aus einem Tag zwei zu machen< (72,4). Man erkennt nun, daß diese cena endlos multipliziert wird (denn so wie Bad und sportliche Betätigung (73,4) die neue cena einleiten, so war, wie man jetzt bemerkt, bereits die alte cena eingeleitet worden: Trimalchio hatte ja nicht etwa die »convivae« empfangen, sondern war, vom Ballspiel kommend, im »adventus« eines Leichenzuges 46 vor ihnen in sein Haus eingezogen: 27,1-6). An dieser Stelle versuchten die Helden der Satyrica aus dem >HadesCerberus< ins >>frigidarium« fallen (den kalten Höllenfluß Styx, wie die vergilischen Anspielungen zeigen),47 wirkt das heiße Bad (vgl. 72,4, wiederum durch vergilische Folie als Phlegeton erkennbar) auf Trimalchio wie eine Auferstehung (»rectus stabat«). Das heiße Bad steht (wie der Wein) wiederum nach den Grabinschriften für das Leben schlechthin. 48 Das Fest geht weiter: 49 »usque in lucem cenemus« (73,6). [129] 46 Bereits bemerkt von A. Magi, L'adventus [Anm. 41], S. 89. 47 Vgl. bereits die Beobachtungen von W. J. O'Neal, Vergil and Petronius, in: Classical Bulletin 32, 1976, S. 33f. 48 Vgl. R. M. Newton, Trimalchio's hellish bath, in: Classical Journal 77, 1982, S. 315-319. Newton erkannte auch, daß Petron an dieser Stelle die intertextuelle Durchlässigkeit zur Aeneis (die Heroen wiederholen post mortem ihre irdischen Betätigungen) bis zu einer fiktionalen Umdeutung und Ausdehnung der Höllenstrafen, die einen Aspekt der Divina eommedia antizipiert, gesteigert hat: die »eonvivae« haben bei ihrem >Sport< vor der nächsten eena Verrenkungen zu verüben, die nach dem Schema der Talion ihren Charakter als Habgierige und Schmeichler wiederholen. Verständlich wird der Text an dieser Stelle erst durch die Anwesenheit der vergilischen Folie (Aen. 6,642-659), auf die eine stark dissimulative imita· tio verweist. 49 Durch zwei Verklammerungen hat Petron diesen Neueinsatz als Teil einer endlosen Kette gekennzeichnet. Der Anlaß zum Trinken ist der erste Bartwuchs des Lieblingssklaven (ein übliches Symbol des Lebensbeginns), so wie im Vorraum zum »trielinium« der ersten eena das täglich geschorene Barthaar des Hausherrn in einer riesigen goldenen Urne aufbewahrt wurde (29,8). Die Aufforderung Trimalchios zu Beginn der neuen eena: »tangomenas faeiamus!« {etwa: >Wir wollen auf 86

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4) >Als er so sprach, krähte der Hahn< (74,1). Wie sich alsbald herausstellt (der Hahn wird sogleich gekocht serviert), hat Trimalchio den Zwischenfall trotz aller abergläubischen Vorkehrungen (74,1) arrangiert; als Unheilverkünder (für Trimalchio ist er der Hornbläser des Begräbnisses) kann der Hahn entweder Feuersbrunst (nach der auch uns noch geläufigen Symbolik) oder den Tod in seiner unmittelbaren Nähe verkünden (74,2). Nun wird bekanntlich das Ende der cena in der Tat durch den Einbruch der städtischen Feuerwehr herbeigeführt, die, durch das ständige Hornblasen alarmiert (78,7), ein Feuer vermutet. Andererseits >stirbt< Trimalchio auch nach seinen ultima verba (78,5) nicht. Selbst das Arrangement, das die festliche Stimmung unterbrechen soll, löst die Schwellensituation nicht auf. 5) »Sed vivorum meminerimus« (75,7). Solche Rückerinnerung an das Leben eröffnet die vorletzte Phase des Leichenfestes, in der Trimalchio die »laudatio funebris« in eigener Person vorwegnimmt - und zwar durchaus aus postmortaler Perspektive: sein Leben, das er nun erzählt, reicht genau wie dessen bildliche Abfolge auf der Frontseite seines >Hauses< bis zum Tod (»satis vivus pervenero«, 77,3; von raffinierter Ambivalenz ist der an die »convivae« gerichtete Ausspruch »nam ego quoque tam fui quam vos estis«, 75,8). Der edolgreiche Lebenslauf 50 stellt sich in dieser Phase des Festes als ein weiterer Versuch dar, das Dasein auf einen festlichen Höhepunkt hin zu arrangieren - nunmehr durch die Teleologie erzählten Erfolgs. Aber wiederum vergeblich. Zum einen ist ja des Erzählers >Leben< eben nicht mit seinem miterzählten Höhepunkt (Trimalchio >stirbt< in seiner gegenwärtigen Lage >vor GlückSibylle, was willst du?< >Sterben will ich.~ entgegen, die Trimalchio während der cena berichtet (48,8). Die mythologischen Prämissen (der Sibylle schenkt Apoll ewiges Leben; sie vergißt jedoch, zugleich um ewige Jugend zu bitten: Ov. met. 14,130ff.) hat Petron zum Problem der Swiftschen Struldbruggs gesteigert: die Sibylle schrumpft so zusammen, daß nur eine Flasche ihre Reste erhalten kann (man vergleiche die gigantische Ausdehnung des Grabes von Trimalchio); ihr bleibt auf die Frage der Kinder (48,8) nur der Wunsch nach gänzlichem Erlöschen. 50 Die in der linguistischen Forschung wiederholt analysierten >Freigelassenengespräche< der cena (41-46) werden durch die Motivwiederholung als Lebensläufe gleicher Art erkennbar; als fragmentarische Splitter ergeben sie Brechungen der vita des Gastgebers. 87

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noch 30 Jahre, 4 Monate und 2 Tage zu leben (77,2). Vor allem aber bewirkt das in sich geschlossene Sinnidyll seines Lebenslaufs, sehr ähnlich dem Idyll seines Lebens im Grabe, eine verstärkte Isolierung durch Selbstbehauptung: seine Ehefrau Fortunata (die noch auf dem Grab an seiner Seite dargestellt werden sollte: 71,11) hat in ihm nur noch einen untergeordneten Platz. Trimalchio verwundet und verstößt sie in plötzlich aufbrechendem Streit (74,8ff.). Es bleibt nach dem pompösen Lebenslauf die Prophezeiung (77,lf.): >Du hast all diese Dinge zu deinem Herrn gemacht. Mit Freunden hast du kein Glück. Niemand wird dir den Dank wissen, der dir zukommt. Du hast großen Besitz. Unter deiner Achsel aber nährst du diese Schlange.stirbt< nicht. Die »laudatio« hatte er sich selbst gehalten; der Aufforderung »dicite aliquid belli« (78,5) respondiert nur mehr der [130] Autor durch das Weitererzählen: er läßt die Gäste entkommen. Trimalchio bleibt unter endlosem Hörnerschallliegen. Es bleibt bei seiner Hoffnung, daß er >als Toter soviel Spaß haben wird wie als Lebender< (78,3). Dieses Fest kann nicht enden.

III »Der Körper überlebt die geistige Gestalt. Er grinst weiter in die Morgensonne. Eine feine Nummer! Frißt und liebt, was ihm vor die Flinte kommt; er ist äußerst dämonisch, wenn Gottfried Benn man ihn genau betrachtet.«

Das Fest wird in der cena als Leben aus der Perspektive des Todes inszeniert wie in den Satyrica insgesamt. Denn dieses Thema ist das Grundmotiv des Werkes; es markiert seine Einheitlichkeit, garantiert seine ästhetische Identität. Der Titel Satyrica bezeichnet keine >Satire< (erst in den Handschriften ist hier Verwilderung eingetreten) - diese wäre der Autorintention fremd; cra-rvPIKOS ist, wie Plinius d.Ä. und Plutarch bezeugen, ein lasziver und 51 »Tu dominam tuam de rebus iltis fecisti« kann sich nicht auf Fortunata beziehen (die mit der >Schlange< gemeint ist), sondern muß ganz wörtlich aufgefaßt werden. Es erhält dann freilich einen ernsten Sinn, auf den man in den Satyrica kaum gefaßt war.

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ausgefallener Vorfall. Mindestens 16 Bücher »crcrrvPIKWV« sind durch Subskriptionen bezeugt (der Anfang des Erhaltenen stammt aus Buch 14, die cena aus Buch 15). Hält man sich vor Augen, daß schon ein Ende des Werkes mit dem 16. Buch 52 die Proportion von 150 erhaltenen zu 800 verlorenen Druckseiten ergibt, so wird nicht nur der marginale Platz der cena sichtbar (und im Gegenzug die Beziehung der erhaltenen EinzelcrcrrvPIK6: zueinander wichtiger). Es erscheint die Werkgesamtheit ins Unfaßbar-Chaotische gegenüber den herkömmlichen Gattungsidentifikationen gesteigert: die Proportionen des griechischen Liebes-, Abenteuer- und Wiedererkennensromans vermögen auch als intertextuelle Referenz 53 in diesen Dimensionen (vom Inhalt abgesehen) keine Einheitlichkeit zu stiften. Die Folie »Ilias + Odyssee«, schon früh erkannt und seither an vielen der Episoden verifiziert,54 hat die Formulierung eines Gesamtmotivs »ira Priapi« nahegelegt, das Enkolp in Buch 15 als sein Verhängnis bezeichnet und das nach den Fragmenten die Handlung schon der ersten Bücher tatsächlich ausgelöst hat. 55 Die homerische Sequenz aber durchkreuzt Petron, wie noch zu zeigen ist, geradezu mit Absicht; ihre Anwesenheit ist weitaus schwächer als in J oyces Ulysses. Es sollte zugestanden werden, daß das Werk in seinem erhaltenen Zustand kein Indiz für Gattungsidentifikationen oder auch nur die Rekonstruktion einer Struktur parat hält - und offenbar auch nicht halten will. Enkolp, der nach Tempelschändung, Mord an seinem Gastfreund und einem Auftritt in der Gladiatorenarena zum Zeitpunkt der cena unter die Rhetoren geraten ist, hatte die Handlung zu Beginn der Satyrica (den Frevel an Priap und seine Folgen) wahrscheinlich damit ausgelöst, daß er, die leblos erigierte Gestalt des Gartengottes [131] annehmend, sich den Matronen von Massilia zur Benutzung dargeboten hatte. 56 Es folgte vielleicht die Verurteilung zum Sündenbock, der auf ein Jahr von der Stadt 52 Wahrscheinlich aber sind angesichts der parodistischen Folie Ilias und Odys· see 24 Bücher. 53 So die seit Heinze (vgl. Anm. 17) vor allem in der Forschung zum antiken Roman vorherrschende These. 54 Zuerst von E. Klebs, in: Philologus 47, 1889, S. 630ff.; jetzt der Überblick J. P. Sullivans, The Satyricon ofPetronius, London 1968, S. 92. 55 Zur Verifikation dieses Motivs und der Konstruktion einer >Kette< homerischer Episoden als Handlungssequenz mit ihren Folgen für die Rekonstruktion des Werkes: H. van Thiel, Petron. Überlieferung und Rekonstruktion, Leiden 1971; Sullivan, The Satyricon [Anm. 54], S. 42 (mit Literatur) und 73f. 56 Vgl. frg. 4 aus Sidon. Apoll. carm. 23,145ff.; hierzu C. Cichorius, Römische Studien, Leipzig 1922, S. 438ff. 89

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ernährt wird, um die Pest fernzuhalten und nach Ablauf der Frist öffentlich geopfert zu werden. 57 Als sozial bereits Toter muß er - wie die Satyrica zeigen - im entscheidenden Moment entkommen sein. Zum Ende des erhaltenen Teils der Satyrica aber gerät er mit seinem Gefährten Eumolp noch einmal in die gleiche Schwellensituation. Ihre Entfaltung ist näherer Betrachtung wert, weil sie, wiederum auf eine Leichenfeier hin inszeniert, ähnliche Folgen zeitigt wie die cena. Man ist soeben einem Schiffbruch entronnen; der Kapitän treibt tot vorbei; aber: >Schiffbruch ist überall< (Eumolp, 115,17); und noch der Tote schwimmt ja, das Gesicht aufwärts gerichtet: »en homo quemadmodum natat« (115,10). Überleben heißt zunächst einmal sich tot stellen; dann kann bei keinem Plan etwas verloren werden (vgl. 117,5). Und flugs entrollt sich den Gefährten - aus der traditionell menippeischen Vogelschau betrachtet - das vor ihnen liegende Croton als Szene, die nur betreten zu werden braucht: eine Erbschleicherstadt, die als geschlossene Utopie geschildert wird. Die Erblasser und die Erbschleicher bilden eine Symbiose, die keine von ihr unabhängige Beschäftigung 58 (»litterae«, »eloquentia«), keine unabhängige Moral (»sancti moresCirce< auf. Hier läßt das Werk die Handelnden der Odyssee in sich ein, die sonst die einzelnen O"aTVpIKO nur in raffinierteren Formen perspektivisch verlängern oder durchkreuzen. Man vergleiche die Lichas-Schiffbruch-Episode: dort verformt entgegen den offensichtlichen homerischen Schiffbruch-Parallelen die Anagnorisis durch Euryklea (vgl. 105,10), vor allem aber das Polyphem-Abenteuer die Handlungsoberfläche - und zwar nicht nur durch direkte Spiegelungen (»fingite nos antrum Cyclopis intrasse«, 101,7), sondern auch durch eine Technik der fragmentierten und >versetzten< An-

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sie inszeniert [132] (»mimum componere«, 117,4). Auf der >scaena maior< (117,2) der sozialen Lüge montiert sich Eumolp zum moribunden (vgl. 117,9) Reichen um, der durch Schiffbruch verwaist ist - das Arrangement isoliert den Agierenden, der auch die Gefährten sich zum rigiden Gehorsam von sklavischen Instrumenten verschwören läßt (117,Sf.) und für sich einen fingierten Lebenslauf, hier im Sinne einer >LegendeLegende< zur Unbeweglichkeit des Moribunden gezwungen - möglicherweise der Priap-Imitation vom Anfang der Satyrica - und inszeniert ein »automaton« (dieser auch für die cena zentrale Begriff ist noch zu erörtern), das ihm, der zwischen einem >Sklaven< und dem Mädchen auf- und niedergeschnellt wird, den Liebesgenuß sichert. Bezeichnenderweise beobachtet Eumolp derweil wie alle Beteiligten dieses Arrangement und fällt in den allgemeinen »risus« ein: das »automaton« wird über den Beischlaf hinaus als solches genossen und schafft die Distanz der Inszenierung gegenüber der eigenen >HandlungSklaven< stets >aus Versehen< mit anderen Namen anredet und so eine zahlreiche >>Jamilia« fingiert (117,10); vgl. ferner die Korrespondenz mit fiktiven Gutsverwaltern und vor allem die ständige Umarbeitung seines Testaments. 61 Vgl. die Zusammenfassung bei H. D. Rankin, Eating people is right. Petronius 141 and a topos, in: Hermes 97,1969, S. 381-384. 62 Zur Rekonstruktion und Deutung der letzten Fragmente der Satyrica vgl. F. M. Fröhlke, Petron. Struktur und Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1977, S. 85-96. 91

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Durch die »summa nausea« des Testaments in ihrer Erwartung gereizt, lassen sich die Erbschleicher überzeugen und durch >ethnologische< Argumentationen den Ekel vertreiben (141,3 und 6-11). Hier werden Exemplatraditionen aus der Deklamationsliteratur imitiert (man vergleiche die 12. declamatio Quintilians) - die Imitation erreicht, daß dem Leser die wahre Identität von >abnormer< rhetorischer declamatio (wie sie in Hf. noch als lebensfremd parodiert wurde) mit dem >Leben< auf dieser »scaena« vor Augen geführt wird. 63 [133] Man vergleiche den ästhetischen Spielraum dieser Intertextualität mit den Gattungsnormen der Satire, unter die sich der thematisch verwandte Modest proposal Swifts stellt. Während dort die durchzuhaltende NaivitätsFiktion eines empfehlenswerten Kannibalismus (als ästhetischer Berstschutz vor der andrängenden Empörung gegen den faktischen Kindermord in Irland) noch allenfalls die schematische Aufstellung von Rezepten er63 Die Personen Petrons können stets aus ihren acrrvplKLiteraturBildbeschreibungen< 83 und 89; hier wird die älteste römische Tradition der >Wiederholung< griechischer Literatur, die Begegnung der Handelnden mit sich selbst auf bildlichen Darstellungen des griechischen Mythos - inauguriert durch Vergil, Aen. 1,416ff. -, fortgebildet) und schließlich eigener poetischer Produktion. Petron hat allein in dem erhaltenen Rest der Satyrica eine kleine Troiae Halosis und ein umfangreiches Bellum civile vorgelegt (vom Dichter Eumolp verfaßt und vorgetragen; als >Mißerfolg< in den Relativismus des übrigen Werkes integriert; vgl. zu beiden F. J. Zeitlin, Romanus Petronius, in: Latomus 30, 1971, S. 56-82). Ist die Troiae Halosis bis in einzelne Verse und Junkturen als echte Parodie der zeitgenössischen Seneca-Tragödie Agamemnon erkennbar, so stellt sich das Bürgerkriegsepos nicht etwa Lucans im Entstehen begriffenen Werk entgegen (nicht parodistische, sondern dissimulative Imitation aus den ersten Büchern der Pharsalia ist nachweisbar; vgl. P. Grimal, La guerre civile de Petrone, Paris 1977). Vielmehr stellt Petron durch den ironisierten Dichter Eumolp der modernen Form des historischen Epos (Lucan) das Exempel einer Behandlung des neuen, historischen Sujets mit einem Rückgriff auf den Götterapparat gegenüber. Petron ist darum kein Klassizist, er kontrastiert auch auf dem Felde der Literarkritik zeitgenössische Literatur durch die Erprobung virtueller Gegenmodelle, die in der offenen Form der Satyrica anwesend sein können. Denkwürdig ist immerhin, daß diese Leerstelle eine Generation später durch die mythologisch-historische Epik des Statius, Silius Italicus und Valerius Flaccus tatsächlich besetzt wurde. 92

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laubt (sie wird bei Petron 141,8 angedeutet), vermag die Realität gewordene declamatio Petrons den Imaginationsraum stärker zu erweitern: bereits der noch Lebende wird in seiner Nahrungsaufnahme von den Nachkommen überwacht, damit sein Fleisch keinen unpassenden Haut-gout erhält (141,3). Offenbar haben die (an dieser Stelle in Fragmente zerbröckelnden) Satyrica noch den öffentlichen Leichenschmaus selbst dargestellt (vgl. 141,5). Der Schluß mag - ähnlich dem Anfang in Massilia - eine Düpierung durch Unterschiebung eines fremden Kadavers enthalten und damit die Entlarvung der Erbschleicher als wirkliche >AasvögelToten< inmitten der von ihnen verzehrten Toten. Die Polis bleibt bei allen gegenseitigen >Begräbnisfeiern< tatsächlich und auf Dauer >menschenleerverlängerten< Bestattung -, der >Matrone von Ephesus< (l11f.). Sie ist, seit La Fontaines Bearbeitung in diesem Sinne,64 immer wieder als freche Enthüllung morscher Konventionen, dann aber auch als kostbares Zeugnis >volkstümlicher< Realistik gefeiert und als Einbruch karnevalistischer Anarchie in den Monolog des akzeptierten und durch die hohen literarischen genera zementierten Wertesystems gedeutet worden: »ein Triumph des Lebens über den Tod« {M. Bachtin).65 Vierfach sei dieser Sieg: durchs Essen, dann durchs Trinken besiege die Matrone [134] ihre »düstere Verzweiflung« (von der freilich nichts im Text steht), die Liebe (die Vereinigung der Matrone mit der Wache) erzeuge neues Leben (erzeugt nur von der Fiktionalität interpretatorischer Inständigkeit); schließlich rette die Witwe die Wache vor dem Tod und verlasse die Nacht des Grabes (bei Petron bleiben beide im Gegenteil im Grab eingeschlossen). 64 Vgl. die Analyse R. E. Coltons, The story of the widow of Ephesus in Petronius and La Fontaine, in: Classical Journal 71, 1975, S. 35-52. 65 In seiner >ChronotopEsthetique< [Anm. 23], S. 364366, hier S. 366. 93

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Petrons Geschichte beginnt vielmehr damit, daß die Witwe - wie Trimalchio, wie die Sibylle - sterben will und dazu die übliche Leichenfeier radikalisiert. 66 Diese setzt übrigens da ein, wo Trimalchios Fest unterbrochen wurde, mit der »elatio« des Toten ins Grab. Das »scindere crines« und Brustschlagen vollführt die Witwe noch dem Brauch konform; dann steigt sie ins Grab, sucht den Hungertod (die Folie der hohen Literatur ist Antigone, die auch im Bestattungsverbot des Kaisers 111,6 sichtbar wird). Die »pudicitia« der Matrone wird durchaus nicht als verkrampft und tadelnswert empfunden: die Umwelt akzeptiert sie als »singulare exemplum« (111,3; vgl. 5). Wir befinden uns bereits in der Nähe frühchristlicher Aretalogie. Und so ist der Fortgang des Geschehens keineswegs die freche Enthüllung eines krassen Lebenswillens hinter den hohen Werten, sondern die Geschichte eines Scheiterns: das Leben holt die Matrone, Zwang anwendend,67 ein und enthüllt sich dabei als das eigentliche Dasein unter Toten. Der Geruch des Weines, den der Soldat mitbringt, korrumpiert 68 zunächst die begleitende Sklavin; und jetzt erst empfindet sie die Grenzüberschreitung, die ihre Herrin zu vollziehen im Begriff war, rückt ihr die Grenzen gegenüber dem Tod wieder vor Augen. Jetzt kommt ihr wieder zu Bewußtsein, daß ihre Herrin lebendig begraben sei (111,11), daß gerade die Anwesenheit ihres Gatten als Leichnam (111,12), den ihre Selbstverleugnung nicht mehr erreichen könne, sie zum Leben zwinge und damit zur Liebe. Diese letztere Argumentation - und damit der Handlungszusammenhang von 111,12-112,2 - wird durch eine Kette nahe beieinanderliegender und für den antiken Leser die Vorlage vollständig reproduzierender Vergilverse aus dem Didobuch dargestellt (Aen. 4,34 und 38f.: Anna überredet die Königin). Petron nähert sich hier erstmals in der lateinischen Literatur der speziellen intertextuellen Form des Cento,69 den er dann 132,11 66 Diesen Charakter als »spectaculum« hatte ihr Leben schon zuvor: ihre Tugend lockt von weither Frauen an (111,1; ganz ähnlich der Schönheit Psyches bei Apuleius). 67 Der einzige Erzähler-Kommentar in dem ganzen Stück spricht vom Zwang (111,13); daß er nicht ungern erlitten wird, ändert seinen Charakter nicht. 68 Stark betont durch »victam manum« (111,10). 69 Die Centonentechnik Petrons bedient sich dabei mit erheblichem Geschick des scheinbar überflüssigen Verses Aen. 4,39 (»nec venit in mentem, quorum consederis arvis«), den die Phantasielosigkeit der bisherigen Petronherausgeber athetierte. Die Magd führt mit ihm der Matrone vor Augen, daß sie sich auf dem >Totenacker< niedergelassen habe: nachdem die Grenzen zwischen Tod und Leben wieder empfunden werden, hat auch das Grauen vor dem Friedhof Gewicht. 94

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(mit der Anrede an sein schlaffes Glied - der Anrede des Aeneas an die sich abwendende Dido in der UnterweltYo fortsetzt und entsprechend den späteren Regeln formal vollendet. Die Phasen von Didos Verführung werden zu denen des Verrats der Matrone an ihrer pudicitia bis zur Vereinigung mit dem Wachsoldaten (112,3). [135] Das Leben hat die Matrone wieder - aber in welcher (inzwischen vertrauten) Gestalt! Die Toten begegnen wie überall in den Satyrica in diesem Leben den Lebenden. Zur Abschreckung hängt vor dem Grabmal der tote Verbrecher, den der Soldat zu bewachen hatte; sein Diebstahl und seine Bestattung durch die Verwandten, ermöglicht eben durch die Liebe zwischen Matrone und Soldat, läßt diesen in Erwartung seiner Strafe Anstalten zum Selbstmord treffen (112,6). Verzweifelt sieht sich die Matrone von Toten umstellt (»ut duo funera spectem«, 112,7). Sie kann die Situation nur retten, indem sie einen weiteren Toten aktiviert (also im Sinne der Satyrica das Leben, das sie zu transzendieren gesucht hatte, mit Toten füllt): ihren Gatten, der erst jetzt ausschließlich in seiner Eigenschaft als Kadaver gebraucht wird - anstelle des gestohlenen Verbrechers - und mit grotesker Lebendigkeit gleichsam >ans Kreuz spaziert< (112,8). Diese Allgegenwart und Unentbehrlichkeit des Leichnams wird ironisch relativiert durch die Reflexion des Enkolp nach dem Schiffbruch 71 angesichts der Leiche des Kapitäns (115,17f.): ob man den Leichnam verbrennt, bestattet oder den Tieren überläßt - diese Vorsorge ist angesichts des »corpus periturum« lächerlich. Die Passage wird erst ganz als ihrerseits lächerlicher Kontrast verständlich, wenn man berücksichtigt, daß hier fast wörtlich ein Zeitgenosse, der Philosoph Seneca, spricht.72 Die Parodie der stoischen Aufklärung gehört zur Perspektivik der Grenzsituationen in den Satyrica. 73

70 Vgl. Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, München 1975, S.34ff. 71 Der Kapitän Lichas, der alsbald selbst im Schiffbruch umkommt, wird die Geschichte der Matrone damit kommentieren, daß am Ende auch sie hätte gekreuzigt werden müssen (113,2). 72 Erkannt vonJ. P. Sullivan [Anm. 54], S. 198-200. 73 Gegenüber dem griechischen Roman haben die Satyrica, die erste ich-Erzählung der lateinischen Literatur, die narrative Technik noch nicht bis zum inneren Monolog vorgetrieben (ein Grenzfall: präsentische Zwischenform der Erzählung nach einer Verseinlage 79,9). Sehr weit fortgeschritten aber erscheint die F raktionierung (die bis zur Inkonsistenz geht) der handelnden Figuren, die sich den intertextuellen Strategien verdankt, wie sie vorstehend an ihren Hauptbeispielen erörtert wurden. Wendet man etwa J. Kristevas Organisationsmodell dialogischer Kate95

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Schließlich wird auch der Verführer zum Leben, der Wachsoldat, ein Toter. Er kann sich angesichts der zu erwartenden Strafe (denn die Vertauschung des Gekreuzigten [136] bleibt nicht verborgen: 112,8) nicht mehr an die Sonne wagen. Das Paar bleibt am Ende der Geschichte im Grab. Die Lebende, die nicht zu sterben vermochte, bleibt tot unter Toten.

IV »An unin/ormed carcass walks still about.« Jonathan Swift

Mögen die vorstehend wiedergegebenen Ergebnisse einer neuerlichen Lektüre der Satyrica dem Werk auch einen ungewohnten Aspekt abgewinnen - neu mutet er nicht an. Wer die historischen Rekonstruktionen der satura Menippea seit Frye und Bachtin verfolgt hat, findet jedenfalls die Auffassung vom enthüllenden Charakter dieser Tradition wieder; auch der in diesen Forschungen vertraute Begriff der >Schwellensituation< (bei Petron wird aus dem reichen Arsenal der Grenzüberschreitungen gorien im Roman (>Le mot< [Anm. 10], S. 371ff.) auf die Satyrica an, so beginnen diese erst nach der vierten Stufe (auf ihr »macht sich der Text zur Lektüre (Text und Kommentar) eines äußeren literarischen Korpus (Zitat und Kommentar) und baut sich somit als Ambivalenz auf«) für das Werk Petrons beschreibungsfähig zu werden. Der Grund liegt darin, daß Petron bereits die grundsätzliche Trennung zwischen dem narrativen Horizont des Autors und des Ich-Erzählers mitsamt der erzählstrategischen Ausnutzung des Wechsels zwischen beiden (vgl. zu Apuleius J. J. Winkler, Auctor and actor. A narratological reading of Apuleius's Golden Ass, Berkeley 1985; zur pikaresken Tradition H. R. Jauß, Ursprung und Bedeutung der Ich-Form in >Lazarillo de Tormesspricht< in 79,8ff. das Liebesgedicht Catulls mit seinem Erfahrungsraum und bahnt Situationen an, die quer zu den kalkulierten »automata« der Handelnden stehen. 96

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offenbar jene zwischen Leben und Tod bevorzugt) kehrt wieder. Ebenso konnte, wer in der Quellenforschung zur hellenistischen Philosophie und zur Diatribenliteratur zu Hause ist, erwarten, als Telos hinter den Episoden der Satyrica eine philosophische Weltauffassung anzutreffen, die er als kynischen Relativismus auf dem Hintergrund epikureischer Lehrstücke zu beschreiben geneigt ist. 74 Schwieriger ist eine angemessene Deutung der petronischen Formen von Intertextualität, wie sie oben (III) angedeutet wurden. Sie führen noch einmal vor die Frage nach der Struktur der Satyrica insgesamt, sei es auch als einer Hohlform mitanwesender Gattungen. P. Veyne (Le >je< dans le Satiricon, in: Revue des Etudes Latines 42, 1964, S. 301-324) und R. Beck (The Satyricon, in: Museum Helveticum 39, 1982, S. 206-214) neigen dazu, die prinzipielle »Abwesenheit« des Autors in diesem Spiegelkabinett intertextueller Relativierung als einen Verzicht auf Werkidentität überhaupt, auch auf eine Lösung aus menippeischkynischen Themen und ihrer prosimetrischen Form zu interpretieren: »Petrone veut prouver qu'il ne prend pas lui-m&me au serieux le genre mineur qu'il pratique« (P. Veyne ebd. S. 308f.). Das Argument stützt sich auf das Fehlen jeglicher der Satire eigenen moralischen Position des Autors. Nach dieser Deutung läge in der Tat mit den Satyrica das Ideal einer dezentrierten, den Autor wie die Figuren umgreifenden Subjektlosigkeit vor, einer chaotischen Riesenform karnevalistischer Intertextualität. An einer solchen Deutung kann nach dem Aufweis des durchgehenden >Schwellenthemas< Tod/Leben nicht mehr festgehalten werden: 75 es garantiert den Satyrica jene Werkidentität, welche durch die Kumulierung einander durchkreuzender Spiegelungen nicht aufgehoben, vielmehr allererst inszeniert wird. Die Satyrica [137] bestätigen die grundsätzliche Kritik K. Stierles 76 an allen 74 So ausführlich O. Raith, Petronius ein Epikureer, Nürnberg 1963. 75 Das Argument, Petron breche durch seine Autordistanzierung mit der >moralischen< Tradition der römischen Satire, leitet sich aus dem erörterten Titel-Mißverständnis (Satyrica - Saturae) her. Petron aber kennt durchaus eine >inhaltlich< bestimmte Tradition, in die er sich stellt: die kynisch-epikureische Philosophie. 76 Werk und Intertextualität, in: Das Gespräch, hrsg. von K. Stierle und R. Warning (Poetik und Hermeneutik 11), München 1984, S. 139-150. Stierle deutet hier bereits einige spezielle Formen intertextueller Relationen an, die denen der Satyrica nahekommen (Übersetzung, Parodie, Travestie; vgl. auch Th. Verweyen und G. Witting, Parodie, Palinodie, Kontradiktio, Kontrafaktur. Elementare Adaptionsformen im Rahmen der Intertextualitätsdiskussion, in: Dialogizität, hrsg. von R. Lachmann, München 1982, S. 202-237). Zu ergänzen wäre diese Reihe durch jene spezifisch antiker Zitatformen (bis zum Cento) und jene der ästhetischen Folgen, besonders bei der Figuren- und Handlungsdeformation (s. oben III). 97

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Intertextualitätskonzepten, die die fiktionale Autorität eines bestimmten Werkes auflösen: »Die Weise, wie ein Text eines anderen Texts inne ist, bestimmt seine ästhetische Gegenwärtigkeit.Inszenierung< sollte, insofern sie die Aktualisierung (z.B. Aufführung) eines Werkes bezeichnet, zur Beschreibung dieses Vorgangs zunächst nicht verwendet werden. Petron läßt ja seine Personen - obwohl er sie, wie sich gezeigt hat, durch intertextuelle Verfahren literarisch inszeniert - ihre Feste planen, organisieren und bis in die Details arrangieren. Nun gehört die Kategorie >Arrangement< dem Fest ursprünglich nicht zu. Feste können als anarchistische Einbrüche verstanden - jedem Arrangement zuwiderlaufen. Sitzen sie aber institutionell gebahnten Riten auf, deren Phasen ihre Struktur und in gewissem Umfang auch ihre Formen bestimmen, so kann allenfalls marginal von Arrangement gesprochen werden. Der Begriff meint vielmehr ursprünglich die Anordnung einer Versuchsreihe, die der Lebenswelt Elemente enthebt und sie im geschlossenen Raum einer eigenen Mikro-Teleologie auf einen Ablauf zurichtet. Eben diesen Charakter trägt nun das Fest der cena Trimalchionis zum ersten Mal in der überlieferten Literatur. Trimalchio feiert kein Fest, das einen Anlaß hätte: seine Tage sollen ein Fest sein, das mit jeder cena vervielfältigt wird und kein Ende hat. Es werden also keine Saturnalien gefeiert, kein kultischer oder allgemein religiöser Hintergrund wird erkennbar. 78 Nicht etwa ein Geburtstag wird begangen, kein gesellschaftliches Ereignis, das eine Auswahl der »convivae« oder auch nur deren Indivi77 K. Stierle, Werk und Intertextualität S. 145; vgl. R. Warning, Imitatio und Intertextualität, in: Kolloquium Kunst und Philosophie 2, hrsg. von W. Oelmüller, Paderborn 1982, S. 171: die poetische Fiktion ist »selbst der systematische Ort aller Dekonstruktion«. 78 Wohl aber der Hintergrund des Tod und Bestattung betreffenden Aberglaubens, dessen Zeichengläubigkeit in den Dienst der Arrangements gestellt werden kann. 98

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dualisierung zur Folge hätte. Petron hat, wie man stets bemerkt hat, jedes römische oder auch nur munizipale Kolorit vermieden (daher die Kontroverse über die Lage der urbs Graeca); man muß hinzufügen, daß auch alle folkloristische [138] Buntheit ausbleibt. Das Sarg-Haus Trimalchios umschließt eine Zwangsgemeinschaft, mit welcher der Hausherr seinen Tod als Fest zu antizipieren sucht. Diese Antizipation bedeutet ein gesteiger· tes, sinnvolles, perfektes und überschaubares Stück Leben (also das >Leben< noch einmal: dies eben ermöglichte die Perspektive post mortem und die Grenzverwischung, in der Petron die Feiernden als in Wahrheit Tote bezeichnet, die ihr endloses Dasein durch prämortale Feste auszufüllen suchen). Ein solches Fest bedeutet mit seiner Komplexitätsreduktion und Sinnemphase eine ungeheure Überforderung, die um so stärker durchschlägt, als es an keine vorgegebenen Strukturen anknüpfen kann. Denn die einzelnen Gänge 0{ercula«) des Mahls strukturieren keineswegs die Feier; sie gehorchen dem Gesetz der kleinen, in sich geschlossenen perfekten und überraschenden Arrangements (»automata«). Systematisch gesehen erfordert ein solches Fest die Komponenten des beherrschten und isolierten Lebensausschnitts, der Mitwirkung einer Zwangsgemeinschaft (als Instrumente wie als Sinnbestätiger), der vorherwissenden Organisierung perfekter, unerwarteter und unüblicher Abläufe (Arrangement im eigentlichen Sinne), der Eliminierung störender Kontingenz (etwa des Mißlingens, der ausbleibenden Überraschung, der Emanzipation der »convivae« vom Zwang des Festes). Ein typisches »automaton« {so bezeichnet es die bewundernde >{amilia« 50,1) ist der >vergeßliche Koch< (47,8-13; 49,1-50,1). Die »convivae«, noch nicht von der letzten Überraschung erholt (vgl. 47,8 - Schnelligkeit im Ablauf und sofortiger Wechsel zur nächsten Handlungseinheit sind erforderlich: vgl. 21,2.4; 22,6; 23,2f.), haben zwischen drei lebend hereingeführten (ein »nomenclator« ruft ihr Alter aus) Säuen als nächstem Gang zu wählen. Trimalchio zwingt ihnen durch eine Entscheidung die Wahl auf, die Sau erscheint in Minutenfrist tafelfertig; Erklärung: der Koch hat vergessen, sie auszunehmen. Die cena droht zu mißlingen; Zorn des Hausherrn; der Koch wird zur Folter entkleidet; die Mitwirkung der »convivae« besteht im anstrengenden Flehen um Gnade. Der Koch darf zur Strafe die Sau auf der Stelle ausnehmen; es erscheinen statt der Innereien delikate Würste. Die Eile der Zubereitung ist nun wieder bewundernswert und unerklärlich, aber die verwirrende und peinliche Geschehensfolge hat einen Sinn erhalten. Applaus ist zu spenden (im Reflex der Bestätigung erscheint das »automaton« als »lautitia« - Perfektion der Eleganz). 99

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Die Beherrschung der Szene und ihr Arrangement beweist sich in der Perfektion als Eliminierung des unzulänglichen Alltags, des Mißlingens (noch wenn Trimalchio beim Spiel Bälle verliert, werden sie in einer silbernen Schüssel gesammelt, 27,3; Arrangement eines scheinbaren Mißlingens auch bei der »manumissio« des Ebers 41,1-5 und eines Sklaven 41,6-8).79 In einer weiteren Steigerung deutet der Festherr tatsächliche Fehler oder Vorfälle, die sich seiner Beherrschung entziehen, als vorhergewußt [139] und geplant um (so die Ohrfeige für den ungeschickten Sklaven, 34,2; das Weinverschütten der Sklaven wird zum »propinare« für den Hausherrn, 28,3). Die Anspannung solcher Abläufe reduziert die Mitwirkenden (nicht nur die Sklaven, sondern auch die »convivae«) zu Instrumenten, die >automatisch< funktionieren - und eben deshalb im Bergsonschen Sinn zur Komik der cena beitragen (etwa der Sklave mit langen Haaren als >Handtuch< (27,6) - ein Swiftscher Mundschläger avant la lettre; vgl. 36,5-8) -, Instrumente, die erheblichem Zwang (bis zur Ekelgrenze: vgl. 64,13; 70,8f.), plötzlicher Brutalität (28,7; 30,7-11; vgl. 47,13) und auch Todesgefahr ausgesetzt sind (so der stürzende Akrobat c. 54; in der Quartilla-Episode wird jemand tödlich verletzt: 22,4). Die Angst, daß bei plötzlichem Zusammenbrechen der Wand oder des Plafonds ein mißlingendes Arrangement fatale Konsequenzen hat, beherrscht die »convivae« (54,3f.): »pessime mihi erat, ne ... per ridiculum aliquid catastropha quaereretur ... itaque totum circumspicere triclinium coepi, ne per parietem automatum aliquod exiret.«

In einem weiteren Schritt kann das Arrangement die »convivae« selbst zum Gegenstand der »automata« machen und sie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und Gesundheit führen. So insbesondere in der cena der Quartilla, einem gesonderten Festkomplex in den Satyrica: Wachhalten bei extremem Schlafbedürfnis (21,7-22,3), erotische Quälerei bis zu Insuffizienz mit drohendem Kreislaufversagen (19,6ff.; hier wird die einschlägige Aischrologie der horazischen Epoden zitiert; 25). Der Arrangeur, der Beherrscher des Festes, nimmt während dieser Abläufe Züge an, die schon an Trimalchio, als er Instruktionen für sein Grab wiederholte, sichtbar wurden: Züge der Isolierung, der Abnahme an 79 Ironischerweise ermöglicht eine derart durchgreifende Einbeziehung des möglichen Mißlingens, des denkbaren Chaos, seine Wiederkehr: so >spielen< in der Quartilla-Episode eindringende Räuber >zügellose< Sklaven und wechseln verrichteter Dinge erfolgreich in die Rolle des apathischen »conviva« über (vgl. 22,5).

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Individualität, zugleich der personalen Ausdehnung. Das Arrangement hat zunächst das Ziel, ein Leben außerhalb des Festes völlig zu ersetzen; Trimalchio ist nie allein, schweigt niemals, umgibt sich mit eindeutigen, leuchtenden Farben und läßt sich pausenlos unter Musik setzen (vom erwähnten Hornblasen über die hydraulische Orgel bis zum Flötenspieler, der abgeordnet ist, noch der Sänfte des Herrn folgend ihm genau ins Ohr zu blasen, 28,5). Zum Arrangement gehört zwar der (zwanghafte) Applaus der Mitwirkenden, aber Trimalchio liegt - was oft übersehen wird - keineswegs vor allem am parvenühaften >AnkommenFest< vor Augen; nicht ungern wendet man sich vom Text ab (in dem das Fest ja schließlich >nur als LiteratUr< inszeniert wird). Beim Abwenden aber tritt das merkwürdige Faktum hervor - und nun erklärt sich auch die Vertrautheit mit jenen »automata« -, daß man außerhalb der Satyrica in der (zeitgenössischen) Wirklichkeit auf eben jenen Festtyp stößt. Er ist uns in zahlreichen Zeugnissen (nicht 101

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immer verläßlichen, viel tralatizisches Gut enthaltenden Zeugnissen, aber das ist hier nicht von Belang) überliefert: in den Nachrichten von den römischen Kaisergreueln, vom sogenannten Caesarenwahnsinn (vor allem nach den Quellen Sueton, Herodian, der Historia Augusta, Tacitus). Das Gesamtphänomen hat niemals zur Untersuchung gestanden 80 - es hat als Literatur des lTOIKv..CX Kcxi ecxV~CXTOS &~ICX (»Vielseitigen und der Verwunderung Würdigen«, Herodian 1,1,5) seit Montaigne den Status des Seriösen nicht mehr gewinnen können; und trotz des gängigen Inbegriffs hat, soweit ich sehe, die Psychoanalyse sich dieses eben in seiner Widerlichkeit dankbaren, vor allem historisch nicht auf Rom beschränkten 81 Grundmusters eines ins Terroristische >gesteigerten< festlichen Lebens nicht angenommen. 82 Immerhin nahm es - in seinen maßvolleren Exempeln - bis zu Beginn dieses Jahrhunderts einen so festen Platz im Schauer-Kanon humanistischer Bildung ein, daß Ludwig Quidde mit seiner Satire auf Wilhelm II. 1894, indem er Sueton ohne ein aktualisierendes Wort nacherzählte (Caligula - Eine Studie über römischen Caesarenwahnsinn), zum Bestseller - vor allem aber wegen Majestätsbeleidigung justiziabel wurde. Die von den Imperatoren (insbesondere Tiberius, Caligula, Nero, Vitellius, Domitian, Commodus, Caracalla und Heliogabal) zumeist in Anekdotenform berichteten Aktionen sind häufig ausdrücklich als Feste gefeiert worden, stets aber sind sie arrangiert in eben dem Sinne, und wie sich zeigen wird, unter den gleichen systematischen Charakteristiken und Folgen wie die cena der Satyrica. Wer sich mit der unbegrenzten, wenngleich stets nur auf Zeit überlassenen Macht [141] des etablierten Prinzipats nicht dem institutionell erwarteten und vorbereiteten Leben in Repräsentation, Gesetzgebung, Verwaltung und Kriegführung zuwandte, sondern - und diese Möglichkeit bestand offenbar bis zu den Soldatenkaisern immer aufs neue - beschloß, die kurze Spanne der Herrschaft als Fest zu arrangieren 83 (mochte auch 80 Mit Ausnahme der Quellenforschung und der Schematisierung biographischer Rubriken; vgl. E. Cizek, Structures et id~ologie dans les vies des 12 Cesars de Suetone, Paris 1977. 81 Vgl. den für diese Festgreuel archetypischen Herrscher Tschou aus der Shang-Dynastie; hierzu: The Analects of Confucius, hrsg. von W. E. Soothill, Shansi 1910, S. 13f. 82 Ansätze: J. Lucas, Un empereur psychopathe, in: L'Antiquite Classique 36, 1967, S. 159ff.; J. Ch. Starr, Civilization and the Cesars, New Y ork 1954. 83 Die extreme Lösung ist die des >Hausmeiersme evasit«, Suet. Tib. 61), das Weiterleben wird als Strafe verhängt (Suet. Tib. 60). Denkbare Arrangements können zunächst in weitaus höherem Maß, als dies Trimalchio möglich war, an den Institutionen, überhaupt am Regierungsgeschäft, parasitieren: so die Feldzugsparodien Caligulas (Suet. Cal. 47), die bis zur Handlungssymbolik (Muscheln als Beute) gesteigert werden können. Hier erscheint bereits das raffinierte »automaton«, das Bedrohung für die Expeditionsteilnehmer (gewiß auch die eigene Lust am Schreck) arrangiert, um sie dann in den >Sinn< eines militärischen Triumphs aufzulösen - der simulierte Germanenüberfall auf Caligulas Expedition (Suet. Tib. 45). Auch an die traditionellen Kulte und Feste kann angeknüpft werden, wobei der krasse Exzeß über das institutionell gebundene, gemeinschaftlich akzeptierte und erwartete, gelöst und sogar anarchisch begangene Fest sichtbar wird - ohne daß doch dem terroristischen Arrangement ein Fest-Charakter abgesprochen werden kann. Der den Isis- und Mithras-Kult durch wirkliche Schlachtung der Gläubigen erfüllende Kaiser (H. A. Comm. 9) >aktualisiert< eine der späten Zivilisation fremde kultische Schicht. Solche Aktualisierung kann nun als Fest-Ablauf in der Realität für das eintreten, was literarisch die intertextuelle Inszenierung der alten und hohen Gattung bewirkt. Der bei einem HerkulesOpfer unerwartet die Taten des Heroen aktualisierende Commodian, der unter den zum Stillsitzen gezwungenen Römern im Amphitheater einzelne als >stymphalische Vögel< erschießt, andere mit der Keule erschlägt (H. A. Comm. 9; Herod. 1,14,9; Cass. Dio 72,20,2), feiert in diesem Sinne ebenso wie der ein Opfer den ganzen Tag und über ganze Herden von Vieh ausdehnende Heliogabal (H. A. Hel. 5,9). Systematisch schwierig ist 84 unter diesen Bedingungen temporärer Allmacht die Konstitution eines ganz neuen, nicht parasitierenden (Un-) Sinn-Ablaufs zu leisten (Trimalchio konnte an die einzelnen Gänge einer cena anknüpfen). Der Extremfall ist der Wahnwitz ex integro: so die Zwangsexpedition der Senatoren zur Einsammlung [142] von 1000 Pfund

84 Das zeigt die simple Stufe der bloßen Verschwendung, angefangen vom Kleiderluxus bis zum systematischen >Verdecken< des Alltags durch Preziosen (Edelsteinstaub auf den Wegen, H. A. Hel. 25.29; vgl. bereits Sat. 68,1 und 34,4).

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Spinnweben (H A. Hel. 27). Häufiger ist die Usurpation und Umkehrung von Handlungszielen (der Bau einer Therme und ihr Zwangsbesuch, um die größten männlichen Glieder auszuwählen, H A. Hel. 8,6) oder die dem Happening ähnliche Hervorhebung fragmentarischer Alltagshandlungen (Befahren der Straße nach Baiae, Suet. Cal. 19) und die Destruktion der Apparaturen danach (ähnlich die Überfahrt mit Luxusschiffen - Gärten und Thermen enthaltend - und deren Destruktion sogleich danach, Suet. Cal. 37).85 Am steigerungsfähigsten erweist sich die Instrumentalisierung und Verdinglichung von Menschen (etwa als ins Wasser eintauchendes >IxionsradKette< von Leibern, Suet. Tib. 43). Die Phänomene des Zwanges, der Grenzsituation, des Todes und nun auch der sozialen Demütigung können vervielfältigt werden. 86 Eigentliche >Zerstörungswut< an Objekten ist die Ausnahme (vgl. etwa H A. Hel. 32); die Steigerungsfähigkeit geht auch hier nur mehr in die Richtung des Arrangements als solchen und seiner Beobachtung, vor allem der Beobachtung der eigenen Person. Dies vollends in eroticis: die eigene Erregung gewinnt nur noch als Gegenstand eines seltenen und komplizierten Arrangements,87 bei gleichzeitiger Selbstbeobachtung,88 Aufmerksamkeit. Wir befinden uns in der Welt des horazischen Spiegelkabinetts. Wie Trimalchio verändert sich die kaiserliche Person durch den Ablauf ihrer Feste. Auch sie verfällt der Abstumpfung durch endlose Orgelmusik (Suet. Nero 16), sie isoliert sich (nur Heliogabal darf im schweigenden Amphitheater lachen, H A. Hel. 32), delegiert sich an multiplizierbare Objekte;89 und ihre Privatheit, ihre Leiblichkeit wird allen zum Schicksal (vgl. Suet. Cal. 24).

85 Bereits hier mit einem starken Zug zur Beobachtung des Arrangements selbst: vgl. Suet. Tib. 62. 86 Zwangsauktion bis zu Selbstmorden; demütigende Einzelsteuern; sexueller Mißbrauch von Beamten, während sie Amtshandlungen vornehmen, und in Anwesenheit der Untergebenen. Die Todesarten nähern sich ästhetischen Inszenierungen (Ersticken unter Veilchenfudern und ästhetischer Genuß des Stöhnens zusammen mit dem Blumenduft; Erschlagen der applaudierenden Menge durch Ochsen und Kamele) oder beziehen die Gefühlsreaktion der Trauernden in die »automata« ein: den Angehörigen wird eine Sänfte für den Transport zur Hinrichtung geschickt. 87 Vgl. Suet. Tib. 44. 88 Vgl. Suet. Nero 29. 89 Caligula umgibt sich mit geköpften, dann durch seinen Porträtkopf komplettierten Statuen, denen seine tägliche Kleidung angezogen werden muß (Suet. Ca!. 22).

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Dem Thema des Kaisers als eines tafelnden Leichnams (dem Thema Petrons also) hat ersichtlich Tacitus seine ausgefeilte Studie über Vitellius gewidmet. Vitellius begreift sogleich bei seiner Erhebung seine Chance zu immerwährender Gefräßigkeit (hist. 1,62); er wird überall (auch in seiner Furcht vor dem bevorstehenden Tod: 2,67f.) auf Straßen, in Bädern und Gärten, das Festmahl organisierend, zum Tier (3,84), das sich am Ende seine Identität als Herrscher von der Umwelt bestätigen lassen muß (3,63). Auf dem Höhepunkt seines Eß-Festes findet er den Palast in völliger Leere vor; er ist - als Gegensatz zur bisherigen Fülle des Festes - tatsächlich zur Unterwelt geworden; und Tacitus imitiert hier ebenso wie Petron das descensus-Buch der Aeneis. Als er abgesetzt ist, erlebt er auf dem Weg zur Hinrichtung die »decapitatio« seiner Statuen (3,85); auch jetzt bleibt er ein wandelnder Leichnam. [143] Der Schlußstein der cena, das Arrangement auf den eigenen Tod hin, fehlt auch im imperialen Rahmen nicht. Die feiernden >Wahnsinnigen< wissen mit kynischer Klarheit, daß ihr Leben gesteigert und als Fest arrangiert werden muß, weil es in den baldigen Tod hineinläuft. Die Alternative, die Pflichterfüllung, eine längere Herrschafts- und damit Lebenszeit, der Nachruhm, führt vor ein Phantom (während der >Ruhm< zu Lebzeiten, die >Ehrungguten< »princeps«, entwickelt in der Schrift De clementia. 90 105

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Eine Möglichkeit, aus diesem Zwangsfest des Todgeweihten inmitten der am Fest Sterbenden zu entkommen, besteht so wenig wie für die Gäste des Trimalchio. Nero erwähnt einmal die sehr moderne Vorstellung eines >Privatlebenskein Kaiser erfährt, was ihm alles erlaubt istkalte< Grausamkeit des Caligula ließ sich für ihn nicht mehr erklären (vgl. De ira 2,5,3). 91 War der Verfasser der »arbiter elegantiarum« Neros? War Nero durch Trimalchio karikiert? Sprechen Indizien in den Satyrica für eine Abfassung erst gegen Ende des 2. Jahrhunderts n.Chr.?

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lende Bluthunde erschreckt), genießt die Panik als zwar von ihm veranlaßte, aber seiner Beherrschung entzogene Regellosigkeit, als Regisseur, aber doch zugleich als Zuschauer. Das ist eine Form gesteigerten Lebens (sie setzt die Tendenz zur Isolierung des Festbeherrschers fort), die das pragmatische Setzen von Bestimmtheiten, die alsbald in ihrem Zweck verschwinden 92 und neu komponiert werden müssen, übersteigt. Denn in solcher Weise wurde in den »automata« der Zwang genossen, der den Machttrieb befriedigte; und dazu hatte der Regisseur mitzuhandeln. Die Perfektion solcher in sich geschlossener terroristischer Mikro-T eleologien überführte auf direktem Wege die Wahnwelt des Imaginativen in die Realität; das dritte Element der (Iserschen) Trias, das Fiktionale, wurde nicht erreicht. Das Resultat dieses >kurzen Weges< wird früher oder später der Terror sein. Die Zwangsveranstaltung stieß, wie die oben angedeutete Phänomenologie zeigt, lediglich an die Grenze, bis zu der Menschliches zum Instrument reduzierbar wird. Daher die Vorliebe der Arrangeure für Grenzsituationen, die einen bekannten regressus in infinitum entspringen läßt: der Arrangeur weiß, daß die Mitwirkung der Beherrschten, von der Mechanik der geforderten Aktionen bis zum Applaus, vom Zwang garantiert ist, ist aber bei grenzüberschreitenden Abläufen auf Wahrhaftigkeit angewiesen. Einleuchtend daher der die Bedingungen solcher Festabläufe sprengende Versuch des Heliogabal, die Beschäler vor seinen Augen und zwischen den einzelnen Gängen seine Lieblingsfrau beschlafen und eidlich jedesmal den stattgehabten Orgasmus bekräftigen zu lassen (H. A. Hel. 30). Der Prototyp der zum Zuschauer befreiten Figur des festlichen Zwingherrn ist natürlich der seine Hauptstadt verbrennende Nero. Aber an seinem Beispiel wird deutlich, daß der in der gesamten Phänomenologie deutliche Hang zur Distanzierung, zur Einklammerung, zum Selbstbeobachten, kurzum: zur Reflexivität, nicht wirklich in einen ästhetischen Raum Einlaß findet. Der Brandstifter als Regisseur kann niemals durch seine Reflexivität die temporäre Autonomie der entfesselten Regellosigkeit zur Fiktionalität steigern; diese bedarf - um beim Beispiel zu bleiben - eines Dritten als Zuschauers, mit anderen Worten: sie bedarf eines intersubjektiv (institutionell) akzeptierten [145] Platzes, der in die Realität »hineingetrieben« ist (Iser), ihr aber zugehört. Nero schafft sich denn auch Zuhörer, indem er seine eigene Tat durch die Produktion und Inszenierung einer Troiae Halosis zu Gehör bringt - eine Doppelung, die Fik92 Vgl. W. Iser, Akte der Fingierung, in: Funktionen des Fiktiven, hrsg. von D. Henrich und W. Iser (Poetik und Hermeneutik 10), München 1983, S. 124. 107

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tionalität zwischenzuschieben und in akzeptierter Weise zu inszenieren versucht. Natürlich zerfällt sie sogleich entsprechend dem gekennzeichneten Regreß: die obdachlosen Opfer werden Zuschauer nur durch Zwang; das intendierte ästhetische Faktum verkommt wieder zum Arrangement. Die Situation umreißt am genauesten jene empörende Szene, bei der man sich zugleich doch fragt, woher einen eine intensive Komik bis zum Tränen-Lachen anwandelt: Nero führt als Schauspieler griechische Tragödien auf, was bis zu zehn Stunden dauert; niemand darf das Theater verlassen; Frauen kommen nieder; die Menge kann es »taedio audiendi« und vor allem »laudandi« nicht länger aushalten. Nero horcht ängstlich nach der Stärke des Beifalls, läßt dabei aber die Tore gegen den Zuhörerschwund schließen. Einzelne stellen sich aus Verzweiflung tot und können in Särgen passieren; andere stürzen sich wirklich von den Mauern. »Le comique se situe entre la vie et l'art« (Bergson). Nun läßt sich die Nähe des Zwangsfestes zum Ästhetischen auch an dem Verhältnis des letzteren zur Realität ermessen. Hält man sich gegenüber dem neronischen Spektakel vor Augen, wie lange die Zuschauer an einem Tag der athenischen Tragödienfeste wirklich ausharrten, so ist man in der Lage, gegenüber der terroristischen Simulierung des ästhetischen Raumes als Institution die tatsächliche Härte der institutionell akzeptierten und verwirklichten - in diesem Sinne: inszenierten, nämlich zu einer Realität in den >Realitäten< gewordenen - Fiktionalität zu erkennen. Es ist das Verdienst der Fiktionalitätstheorie Wolfgang Isers, durch die Einführung der Trias Imaginäres - Fiktionalität - Realität das Verhältnis der beiden letzteren Instanzen einer Betrachtung unterzogen zu haben, die eben den >harten< Charakter der, man möchte sagen: real existierenden, Fiktionalität 93 interpretierte (von Iser später in einer Ausweitung des Begriffs von der aufführenden Aktualisierung eines Werkes zum WirklichWerden des Imaginären in der Fiktion noch weiter ausgearbeitet).94 Wiederholte Realität verschwindet nach diesem Konzept in ihren Zwecksetzungen und Bestimmtheiten dann nicht mit ihrer Verwendung, wenn sie, als ein Akt grenzüberschreitender Imagination, sich »Einlaß in die gegebene Welt« verschafft; ihre Inszenierung, als Fiktionalität, verstanden als Vorbedingung des factum aestheticum, schafft erst durch ihre >harte< Form, ihren »gewissen Realitätscharakter«,95 den akzeptierten und ver93 Ebd. S. 121, 124. 94 Zur Phänomenologie der Dialogregel, in: Das Gespräch, hrsg. von K. Stierle und R. Warning (Poetik und Hermeneutik 11), München 1984, S. 183ff. 9S Bereits von O. Marquard als »Operationalisierung des Imaginären für seine Wirksamkeit im Realen« gedeutet (in: Funktionen des Fiktiven [Anm. 92], S. 490). 108

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standenen Raum, in dem sich die Selektions- und Dekompositionsleistungen ästhetischer Prozesse entfalten können. Es ist nun unverkennbar (von Iser noch nicht thematisiert), daß bereits auf der Grundlage dieser ersten Bedingung inszenierter Fiktionalität der ästhetische Bereich in seinen (de-)konstruktiven Leistungen (Iser [146] spezifiziert: Tilgung, Ergänzung, Gewichtung) Prozesse aufweist, die jenen des Arrangements völlig vergleichbar sind - und vor allem mit ihnen ein offenbar vor- und trans ästhetisches Moment gemeinsam haben: die Triebfeder der Perfektion. 96 Arrangement und Inszenierung, nach ihren hier angedeuteten Konzepten, treten somit klar auseinander; aber ihre nahe Verwandtschaft und die Tendenz zur wechselseitigen Angleichung ihrer Erscheinungsformen weist auf einen verborgenen Zusammenhang, der nur in einer historischen Explikation ans Licht träte. Nun fehlt noch viel, daß eine »Archäologie des Fiktionalen« (Hans Robert Jauß) ins Auge gefaßt werden kann. Die folgenden Erwägungen können sich allenfalls der Vorgabe bedienen, daß an den Interferenzen zwischen Arrangement und Inszenierung gewisse historische Wandlungen abgelesen werden können. Die Genese der ästhetischen Autonomie aus einer Fiktion im Fest, das sich seinerseits einer befreienden >Lichtung< in den Zwangsabläufen von Magie, dann Ritus, dann Kultfeier verdanke, ist der alte Traum eines konstruktiven (durchaus schon vorhistoristischen) Humanismus - geträumt zuerst als apollinische Geburtsfeier des homerischen Olymp und der griechischen Tragödie, später fortgeräumt als Alptraum anthropologischer Regresse ins Vorästhetische. Die Friedensfeier einer uranfänglichen Einheit zwischen religiöser, sozialer und ästhetischer Kultur - zu ihr strebt im Grunde auch die Genealogie ästhetischer Befreiung aus dem entfesselten Fest karnevalistischer Umkehrung; nur tritt die Befreiung hier später ein, setzt einen >Monolog< voraus, dem bereits die verfestigten Kultur->Riten< der akzeptierten ästhetischen Formen angehören. Solchen Genealogien ist bereits von der Klassischen Philologie (mit einem non liquet auf dem Felde der Tragödie), in jüngster Zeit aber auch von jenem Zweig der Fest-Forschung widersprochen worden, der sich unter dem Konzept der >Schwelle< (liminality) mit der Öffnung ritueller Festabläufe auf Ansätze zu narrativer und performativer Enthobenheit befaßt. Wie B. G. Myerhoff, V. W. Turner und insbesondere B. A. Bab96 Zu diesem Phänomen und zu diesem Zusammenhang sind die grundlegenden Bemerkungen von H. R. Jauß (Das Vollkommene als Faszinosum des Imaginären, in: Funktionen des Fiktiven [Anm. 92], S. 443ff., bes. S. 444) heranzuziehen. 109

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cock gezeigt haben,97 halten die Entgrenzungen und subversiven Exzesse innerhalb festlicher Abläufe gerade nicht die Ablösung, die relative Autonomie ästhetischer Repräsentation gegenüber rituellen Identitätsparaphrasen 98 parat. 99 [147] Heuristisch fruchtbarer erscheint es, Fest und ästhetischen Eigenraum zunächst als nebeneinander hervortretend zu betrachten und allenfalls die Genealogie des letzteren als einen konsistent nicht mehr belegbaren Übergang von Identität zu Repräsentation anzunehmen - so hatte bereits Manfred Fuhrmann das Beispiel der attischen Tragödie durch den bekannten Wechsel von >identischen< zu >repräsentativen< Aufschriften auf athenischen Statuen illustriert. 1Oo Erst bei solcher Trennung der Phänomene kommt auch jenes >Hartwerden< des ästhetischen Imaginationsraumes in den Blick, mit dem es als begrenzt enthobenes, in sich geschlossenes, den Zuschauer entlastendes Gefüge begriffen, institutionell akzeptiert und realisiert - und eben das heißt: inszeniert werden kann. IOI - Es ist kein Zufall, daß dieser Begriff, operationalisiert für die Akzeptierung des Ästhetischen als einer Realität unter Realitäten, der dramatischen Form entstammt. Denn in ihr tritt die entscheidende Ablösung der Repräsentation von der Identität in der Alleingegenwart des Schauspielers, aber auch im (szenischen) Zurücktreten des Dichters und des Regisseurs am ursprünglichsten vor Augen {eine Ablösung, die zweifellos einen langen Bewußtseinsprozeß voraussetzt).I02 97 Vgl. die Beiträge der Genannten in: The reversible world, hrsg. von B. A. Babcock, Ithaca 1978; Rite, drama, festival, spectacle, hrsg. von J. J. MacAloon, Philadelphia 1984; dazu auch zum Problem des >KarnevalsOberst-zu-unterstAufführung< so interpretiert. 110

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Nun ist das den üblichen Zwecken bedingt enthobene, in sich geschlossene, den Zuschauer entlastende Gefüge sehr bald im Begriff, mit eben den Perfektions-, Sinn- und Harmonieanforderungen betrachtet zu werden, die es zu jenem beherrschten, kontingenzabweisenden Ablauf steigern, den wir im außerästhetischen Bereich als Arrangement bezeichneten. Die Stationen dieses Weges sind bekannt genug;103 die folgenden Andeutungen knüpfen an das Beispiel der aristotelischen Poetik an. Der >Stoff< ästhetischer Abläufe entzieht sich zunächst der Beherrschung; er ist als Mythos unverfügbar; vor der eigenen Erfindung im modernen Sinn wird gewarnt. Seine Zurüstung aber weist insgesamt nur in eine geforderte Richtung: die Synthesis eines Werks dient der geschlossenen Handlung (im Gegensatz zur Kontingenz des Geschichtswerks); die Systasis der Überschaubarkeit; die >poetische GerechtigkeitWahrscheinlichen< ausgearbeitet und in den Kapiteln 24 [148] und 25 der Poetik durch Lizenzen zur Darstellung des >Unmöglichen< ausgeweitet wird, daß sich die bedingte Autonomie der ästhetischen Prozesse zum beherrschten Arrangement gewandelt hat. Die zunehmende Anwesenheit des Autors im Werk vollendet den Anspruch auf Perfektion und Totalität, der das Kunstwerk bis zum 19. Jahrhundert begleitet hat. Dieser Tendenz wohnt aber der gleiche Zug zur Reflexivität, zur Thematisierung von Fiktionalität selbst inne, wie dem perfekten Arrangement der Realität. Damit manifestieren sich auch in der Archäologie des 102 Man sehe noch bei Aristoteles, Poetik 1448a 20ff., die Beschreibung der Mimesis im >Bericht< (6:rrayyEAAE1V) und im Drama: Kai yap EV Tois alfroiS Kai Ta

aÜTa j..ll~ei(jeat EOTlV OTE ~EV 6:rrayyEAAovTa (...), Tl rrCxVTas ws rrpCxTTOVTas Kai EVepyovVTas TOVS ~l~OV~EVOVS: 6:rrayyEAAoVTa (vom berichtenden Dichter gesagt) wird mit rrpCxTToVTas und (bereits ästhetisch-reflexiv) ~l~OV~EVOVS (die Aktionen

der Schauspieler beschreibend) auf eine Ebene gestellt; der tragische Dichter und die Inszenierung seines Werkes selbst treten hier noch hinter dem Modus der Repräsentation durch den Schauspieler zurück. Belustigenderweise ist der moderne Übersetzer dieser kleinen, aber bezeichnenden Asymmetrie nachzuhelfen geneigt; vgl. die Übersetzung M. Fuhrmanns (München 1976, Stuttgart 1982 u.ö.): »Denn es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten (...), oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen«. 103 Vgl. die Hinweise von Jauß, Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität, in: Funktionen des Fiktiven [Anm. 92], S. 423ff.

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Fiktionalen Züge der >EinklammerungAktualisierungAufweichung< der institutionell (>hartenEntblößung< des Fiktionalen als Selbstthematisierung, ergänzt in späteren Erörterungen 105 durch die Perspektivik intertextueller Relativierung und den Distanzbegriff der Inszenierung. Der Regreß steigerungsfähiger >Einklammerungen< (Inszenierungen von Inszenierungen) wird bereits von Iser gekennzeichnet 106 und auf grundsätzlich eingetretene Grenzverwischungen zwischen Realem und Imaginärem zurückgeführt: Maßstab ist jene »Pragmatik (...), die nicht in die Inszenierung eingeht, weil sie diese bedingt: die Erfahrbarkeit sozialer Realität durch ihre Kritik«.107 Eine derart unvordenkliche Wertung des Faktums Ästhetik legt freilich die Gefahr nahe, von ihr aus literarhistorische Aufstiegs- und Verfalls abläufe namhaft zu machen. Solche Tendenzen akkumulieren sich, was die literarischen Formen betrifft, als Gattungsentgrenzung, als Spiegelung und Deformation durch intertextuelle Perspektivik. Sie entfalten sich, wie in den Satyrica, dann ganz, wenn das Werk über die Traditionen eines lange Zeit durchgespielten Gattungsspektrums verfügt und es integriert (so sind bei Petron Epos, Lyrik, Historiographie und Redekunst >anwesendGeschichte< verfügend, dem Bereich des Menschlichen zugehörig und erfahrbar - z.B. bei Dante im Sinne des Paradigmas. [159] Die vorliegende Stelle kann, wenn wir sie richtig als Zeugnis einer Remythisierung verstanden, einen Anfangs- und einen Endpunkt bezeichnen - den Anfangspunkt einer Spätphase des Mythos, jener aus antiken und biblischen Gestalten zusammengefügten mythologischen HinterWelt, wie wir sie seit der Renaissance vor allem noch als nicht mehr vorgängig von theologischer Deutung abhängige Folie der Kunst kennen, einen Endpunkt aber der spätantik-mittelalterlichen Epoche, in der von einem autonomen Mythos nicht gesprochen werden kann und die mit der ersten Berührung antik-mythischer und christlich-biblischer Welt begann. 4 Stufen dieses Prozesses, der aus der Durchdringung des scheinbar Fernsten zur Konstituierung eines gemeinsamen Mythos führt, will diese risch erhaltenen Epos vermutlich durch die Beschreibungen von Darstellungen an einem Schiff oder Tempel die römischen Gründungsmythen in die Dichtung über den ersten punischen Krieg integriert (die Deutung der Fragmente ist umstritten). Auf die Bedeutung des Kunstgriffes in der altfranzösischen Epik hat J. Seznec, Survival of the pagan gods, New York 1953, S. 116, hingewiesen. 3 Anders bei dem Marmorfries Purg. X,28ff.; hier fehlt die instrumentale Beziehung auf den Läuterungsvorgang. 4 Repräsentant der an dem Fries Büßenden ist nicht zufällig der Maler Oderisi, in dessen Rede die bekannte Unterscheidung zwischen der modernen Malerschule und den Künstlern der etati grosse fällt; vgl. Purg. XI,82ff. (Hinweis von K. Stierle). 117

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Untersuchung an wenigen Beispielen der Literatur kennzeichnen. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf dem überraschendsten und noch am wenigsten geklärten Zug dieses Vorgangs: daß auch die Bibel in den Bereich mythischer Figurationen absorbiert wird. Was hiermit gemeint ist, möge ein Blick auf den Bilderfries des Purgataria erläutern. Sein Kompositionsprinzip ist die Parallelisierung der antiken und biblischen Gestalten; sie folgen einander bis zu dem antiken Schlußtableau sämtlich in Paaren. Und die Paare selbst sind kunstvoll gruppiert: 1) 2) 3) 4) 5) 6)

Luzifer - Gigantomachie (Opfer) Gigantomachie (Sieger) - Nimrod Niobe - Saul Rehabeam - Arachne Alkmäon - Sanherib Tamyris - Holofernes.

Das 1. und 2. Paar ist durch die Aspekte der Gigantomachie, die das Schema andeutet, jeweils zum Komplement eines einzigen Geschehens geworden; dadurch werden auch Höllensturz und babylonische Sprachverwirrung an den gleichen mythischen, den biblischen Geschichtsverlauf ignorierenden Ort versetzt. Das 1. Paar betont die Analogie des Hinabgestürzt- und Begrabenseins in der Hölle und unter der Erde, das 2. Paar vergleicht die membra disiecta der Titanen mit den verwirrten Volkshaufen in Babel; ferner kontrastiert im 2. Paar der Gesichtspunkt des göttlichen mit dem des menschlichen Betrachters, hierbei ist der göttliche Part durch die Olympier, der menschliche durch die biblische Gestalt besetzt. Die nächsten beiden Paare, nicht mehr Rebellen, sondern Vermessene, sind, was Antike und Bibel betrifft, chiastisch angeordnet. Das 5. Paar kontrastiert wieder (antiken) Täter und (biblisches) Opfer; der beiden gemeinsame Gegenstand des Frevels ist Verwandtenmord. Und ebenso bilden die beiden Gestalten des 6. Paares die Komplemente eines einzigen Geschehens, das mit dem des 5. kontrastiert: die gerechtfertigte Tötung des Tyrannen steht dem Mord gegenüber. Kyros und Judith werden in der bildlichen Darstellung verdrängt; T amyris ermordet gleichsam in dieser antik-biblischen Welt auch den Holofernes. [160] Es liegt also ein reziprokes Wegblenden und Kontaminieren der Traditionen vor, ein Rollentausch wird vollzogen, wie er nur innerhalb einer als einheitlich vorgestellten mythischen Welt möglich ist. Die Komposition zeigt, daß es eben auf die Herstellung dieses einheitlichen Mythos durch die völlige Verschmelzung beider Traditionen abgesehen ist. 118

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Es wäre indessen vedehlt, die Zusammenstellung der Paare, ja selbst ihre Gruppierung nur Dantes Kompositionskunst zuzuschreiben. Was hier verbunden wurde, entspricht der Schlußphase einer über tausendjährigen Rezeptionsgeschichte, ohne deren Kenntnis der Sinn der Parallelismen, ja deren Gliederung (z.B. die Zugehörigkeit der Nimrodterzine zu der vorhergehenden, überhaupt das Prinzip 1 Paar = 2 Terzinen) nicht erkannt werden kann. 5 Dies sei am Beispiel des 1. und 2. Paares gezeigt. Jean Pepin hat darauf hingewiesen, daß wir in der Assimilation von Gigantomachie und Genesis 11 das früheste uns noch faßbare Beispiel einer Berührung von antikem Mythos und biblischer Welt sehen düden: 6 Eupolemos (in der Mitte des 2. Jahrhunderts v.Chr. schreibend) hat nach dem Bericht des Eusebius (praep. ev. IX,17) die Erbauer des Turmes als die von der Sintflut verschonten Giganten angesehen; sie seien nach der Zerstörung ihres Werkes über die Erde zerstreut worden. Noch enger ist die Fuge zwischen Bibel und Mythos in der gleich darauf (IX,18) von Eusebius referierten Ansicht eines anderen, anonymen jüdischen Historikers: die Patriarchen stammten von den Giganten ab, die die olympischen Götter vernichtet hatten; nur einer von ihnen, Belos, sei entkommen und habe den babylonischen Turm gebaut. Auch durch Phiion (z.B. de gig. 65) ist Nimrod als einer der sich empörenden Söhne der Erde interpretiert worden. Die christliche Spätantike hat diese Interpretation des hellenistischen Judentums rezipiert. Das zeigt z.B. die Schilderung Nimrods bei dem sonst nur knapp paraphrasierenden Bibelepiker Cyprian (5. Jh. n.Chr.; Genesis,

325ff.): »(...) deum gaudens contra se attollere sanctum, beroum de more ferox, quos ardua cervix immensumque caput sublimes tollit in auras.« Ausführlich und reflektiert geschieht die Parallelisierung bei Avitus (de spir. bist. gest. IV,86-122). Avitus rechtfertigt sie nach dem seit den Apologeten geläufigen Grundsatz vom griechischen Mythos als Derivat der Bibel. Endlich hat diese Assimilation auch in der heidnischen Auffassung vom Gigantenkampf eine Spur hinterlassen. Symmachus will in seinem 5 Vgl. E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 51965, S. 368, der in der Aufzählung der Gestalten dieses Frieses die Komposition verkennt. 6 Mythe et allegorie, Paris 1958, S. 228ff.; ders., Le challenge Homere - Moise, in: Revue des Sciences Religieuses 29, 1955, S. 109ff. 119

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Panegyricus auf Valentinian 1. den Kaiser als Städtebauer preisen und vergleicht: 7 von den Giganten werde berichtet, sie hätten Berge aufeinandergetürmt; diese Überlieferung sei unglaubwürdig, es habe sich wahrscheinlich um berghohe Türme (montanas turres) gehandelt, die dann im [161] Gegensatz zu den Bauten Valentinians eingestürzt seien. Hier beschneidet die Mythenkritik die Gigantomachie auf ein >architektonisches< Substrat. Das geschieht natürlich um des panegyrischen Vergleichszwecks willen, möglich aber wird diese U mbiegung durch die Kenntnis der geschilderten Assimilation. Der Vergleich des Symmachus beweist, daß der auf Hesiod zurückführende Mythos vom Gigantenkampf mit dem bei Homer erzählten von Otos und Ephialtes, die Ossa und Pelion aufeinandertürmten (Od. XI, 305ff.), kontaminiert wurde. Die Nähe beider Mythen und die dem Wortlaut der Bibel nahen homerischen Verse erklären es, daß neben der soeben skizzierten Tradition auch die Verknüpfung dieses Mythos mit der Turmbaugeschichte geschah. Es ist übrigens diese Assimilation gewesen, die zum Paradebeispiel in der Auseinandersetzung zwischen heidnischen und christlichen Allegorikern bei Celsus, Origenes und Julian wurde. 8 Die Abfolge der ersten Figuren auf Dantes Fries ist also die Auswirkung einer durch lange Rezeptionsgeschichte festgelegten Paarbildung, deren Genesis im einzelnen hier darzulegen nicht der Ort sein kann. 9 Auch der Teufelssturz ist nicht nur wegen der augenfälligen Analogie mit dem Gigantenkampf in die Szene einbezogen worden; auch diese Lokalisierung auf dem Fries ist das Ergebnis einer Tradition, die freilich durch eine im Rahmen der Mythenkontamination unerwartete Technik, nämlich die der christlichen Bibelexegese, geschaffen wurde. Nimrods biblische Attribute (Jäger und Rebell) haben ihn seit Origenes allegorisch dem Teufel selbst gleichgestellt; die spätere Exegese hat diese Gleichung übernommen und sie der Dichtung vermittelt. Prudentius hat in seinem Lehrgedicht über den Sündenfall (hamart. 136ff.) Nimrod als den von jeglicher Historie gelösten, überzeitlichen Teufel dargestellt, ähnlich der Epiker Claudius Marius Victor (aleth. III,166ff.); hier hat sich die Darstellung Nimrods (als des Teufels) von dem unmittelbar darauf beschriebenen Turmbau gänzlich gelöst. Der mythischen Gleichung also, die wir zwi7 Monumenta Germaniae historica. Auctores antiquissimi, Bd. VIi, hrsg. von O. Seeck, Berlin 1883, S. 327. 8 Vgl. hierzu E. Stein, Alttestamentliche Bibelkritik in der späthellenistischen Literatur, in: Collectanea Theologica 16, 1935, S. 41ff. 9 Hingewiesen sei noch auf die sehr ausgebildete Vorstufe der Parallelisierung von Judith und Tamyris bei dem Dichter Dracontius (de laud. dei III,480ff.). 120

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schen Luzifer und Nimrod konstatierten, lag bereits die allegorische Gleichung der christlichen Exegese zugrunde. Aber ohne daß zunächst auf die Techniken, die bei dieser Traditionsbildung Anwendung fanden, eingegangen werden soll - der Anfangs- und Endpunkt des Prozesses läßt sich an diesem Beispiel deutlich unterscheiden. Der bei Dante vollendete Rollentausch, der die Einheitlichkeit des antik-christlichen Mythos stiftet, ist in der spät jüdischen Assimilation noch kaum angedeutet. Besonders im zweiten, ausführlichsten Beispiel (praep. ev. IX,18) sind die antiken Gestalten so ersichtlich auf die biblische Welt hin geordnet, daß sich die Frage stellt, ob es sich dort überhaupt um das Konvergieren gleichberechtigter Mythen handelt. Das chronologische Gerüst der Bibel bleibt erhalten (Sintflut - babylonischer Turmbau = Gigantomachie) und bestimmt den Bericht ebenso, wie dessen Einzelheiten (der Turm - nicht etwa die Berge) der Bibel verpflichtet bleiben. Nur die antiken Personen besetzen die biblischen Rollen; und der Personenwechsel ist in der Mythenkontamination die einfachste Möglichkeit. Außerdem ließ sich feststellen, daß im Laufe der Tradition verschiedene [162] griechische Mythen eklektizistisch zur Analogie herangezogen wurden (Giganten - Otos und Ephialtes). Ein scheinbar paralleles Phänomen, >verschiedene Mythen innerhalb der Bibel< (Luzifer - Nimrod), führte sogleich auf eine Strukturverschiedenheit: die biblischen Gestalten sind zunächst auf ihren jeweils fixen Punkt innerhalb der biblischen Historie festgelegt, und nur die innerbiblische Exegese kann sie miteinander identifizieren; der Rahmen der Heilsgeschichte bleibt erhalten. Daher konnte der antike Mythos nur dort, wo schlagende Analogien dies ermöglichten, den Einschlag flüchtiger Einzelzüge in den Zettel einer chronologisch gesicherten Geschichte bewirken. An dieser Differenz - auf der einen Seite für die Mythenkontamination frei verfügbare antike Mythen, auf der anderen historisch fixierte biblische Geschichten - zeigt sich, daß es an der Zeit ist, die Begriffe »biblische Welt«, »antike Gestalten« und deren »Assimilation«, mit denen bisher operiert wurde, einer genaueren Prüfung durch Interpretation zu unterziehen. Andernfalls läuft die Untersuchung Gefahr, die entscheidenden Stationen jenes Prozesses zum gemeinsamen Mythos hin zu übersehen. Es ist bereits vorschnell gewesen, bei der Analyse vorauszusetzen, biblisches und antikes Substrat könnten als zwei gleichwertige, jedenfalls mythische Figurationen betrachtet werden. Angesichts des historischen und zudem sakralen Charakters der Bibel ist der Begriff >biblischer Mythos< eine äußerst problematische Größe. Wie sich gezeigt hat, kann sie am Beginn des Kontaminationsvorgangs noch nicht in sinnvoller Weise angewendet 121

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werden. Wie, so lautet die Frage, konnten in der nachbiblischen Literatur die biblischen Geschichten dem griechischen Mythos kommensurabel werden und schließlich in den Horizont des Mythischen eintreten? Für eine solche Untersuchung im Rahmen der Spätantike ist die Literaturwissenschaft, wie zugestanden werden muß, schlecht vorbereitet. Die Theologie befindet sich in einer Diskussion um den mythischen Charakter der Bibel, die seit etwa zwei Jahrhunderten andauert. lo Die Mythenkritik der Aufklärung setzte mit der Analyse des Schöpfungsberichts ein, und die heutige theologische Diskussion um den mythischen Charakter der Rede vom Kreuz und von der Auferstehung und deren mögliche Entmythologisierung hält bei den Kernpunkten des christlichen Glaubens. tl Sie hat dadurch nicht nur die modernen Theorien des Mythos in all ihren Wandlungen mitvollzogen und z.T. zuerst formuliert (so im 18. Jahrhundert) - je radikaler in ihr die Frage nach der Verkündigung wurde, desto formaler mußte der Gegenbegriff Mythos werden. Unter dem Einfluß der Existentialphilosophie hat er als Kategorie der objektivierenden und damit vergötzenden Rede von Jesus Christus 12 eine unverkennbar ontologische Färbung erhalten. Diese Diskussion ist bisher noch nicht für eine Wiederbelebung der von Bultmann und Dibelius betriebenen Formgeschichte für das von Overbeck gestellte Problem einer nach biblischen christlichen Literatur fruchtbar gewesen. Die Literaturwissenschaft darf skeptisch sein, ob eine so allgemein gefaßte [163] Kategorie des Begriffs Mythos für die nicht theologische Interpretation der patristischen Literatur nutzbar gemacht werden kann. Auf der anderen - philologischen - Seite fehlt es keineswegs an Untersuchungen über die Reduktion des antiken Mythos zum Schattendasein des allegorischen Ornaments und über seine Remythisierung in den europäischen Renaissancen. Dieser Vorgang hat immer wieder Beobachter gefunden; eine Fülle von Einzeluntersuchungen trat den bahnbrechenden Arbeiten von Liebeschütz, Seznec, Curtius und Panofsky zur Seite. Dieses Interesse am >Nachleben< des antiken Mythos in der Rezeption durch das Christentum - meist wird der Begriff Rezeption in diesem Sinne gebraucht, und vom Nachleben des Christlich-Biblischen in der spätantiken Literatur zu sprechen, ist vollends nicht üblich - zeugt von der 10 Hierzu vgl. ehr. Hartlich und W. Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffes in der modernen Bibelwissenschaft, Tübingen 1952. 11 Zu verfolgen in den Sammelbänden >Kerygma und Mythos noVTOS KocrllOV eE(hp~ CITEepavovIlEVOS, 2,3). Gemeint ist mit letzterem der Logos, aber auch er wird nicht anders als »mein Eunomos« (6 EOvollos 6 EIloS) genannt, denn auch er singt, freilich das biblische »neue Lied« (2,4). Hier ist ein weiterer Schritt getan. Der Mythos, der nicht mehr geglaubt, aber noch als lebendige Macht erfahren wird,22 wird en bloc abgelehnt und verächtlich gemacht - die Dichter solle man auf ihren Musenbergen einsperren (2,2). Die Kluft zwischen einem höheren Wissen (2,2) und dem trügerischen Mythos erscheint nun, und zwar in dem gleichen Verhältnis wie bei PlatonY Gleichwohl wird das mythische Sprechen nicht aufgegeben, sondern es greift, gerade als Folge der Abwertung des griechischen Mythos, jetzt auf biblische Vorstellungen in der Weise eines mythischen Kontraposts über; der heilige Berg Zion und die Propheten sind in diesem Zusammenhang nichts anderes als aus der Bibel nach den Konturen des verworfenen Mythos herausgelöste Scherenschnitte. Auch der Logos ist dieser den Mythos bloß reflektierende biblische Umriß ohne christlichen Inhalt; bekränzt steht er, der >wahre< (mein) Eunomos, im [166] »Theater der Welt«. Die soeben als mythischer Kontrapost bezeichnete Sprache mündet in die Metapher. Sie ist somit nichts als ein Teil der allgemeinen Ausdruckswelt, die die Spätantike zu einem so ergiebigen Feld der Metaphernforschung macht. Die mit der Welt profan gewordene Sprache reicht nicht mehr hin, die Zone des Christlichen anders als im uneigentlichen, metaphorischen Gebrauch auszudrücken. Das zeigt sich zunächst bei der Ausarbeitung des Dogmas, später besonders in der Entwicklung der christlichen Poesie. Ausdrücke nach dem Typ meus Eu22 Sehr charakteristisch ist der Satz »Mir ist es, wenn es auch nur Sagen (1-I060s) sind, unerträglich, daß so viele Unfälle zu Tragödien ausgestaltet werden« (2,2). 23 Die Idee des Einsperrens der Dichter spielt auf Platons Staat (398a) an; auch der Hinweis auf die Weisheit, die vom Himmel herabgeführt werden soll, ist Anspielung auf Platon (Phileb. 16c). 126

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nomus, verus (perennis) sol, antenna erucis, miles paeiJieus lassen sich wie es üblich ist - als >Vergeistigungen< (im Bereich der literarischen Imitation als >KontrastimitationenSchwulst Tiere< werden durch das neue Lied überhaupt erst zu >Menschenwahren< (ethisch vollkommenen) Menschen gemacht werden. Die Ambivalenz Tier - Mensch spielt also mit der metaphorischen Fuge zwischen Mythos und Deutung; die überbietende Deformierung des Mythos ist nicht echt, ist sekundär. Der Vergleich mit der oben (S. 125f.) besprochenen Deformierung des Eunomos-Mythos ist instruktiv. In beiden Fällen wird die Struktur der Erzählung verändert, aber im ersten Fall wird der ernstgenommene Mythos richtiggestellt, im zweiten >überholt< die Exegese durch die ihr zur Verfügung stehende metaphorische Zweideutigkeit (Tier >TierInstrument< Christus - erst jetzt wird der Logos beim Namen genannt - ist, so heißt es, »menschenfreundlich« (q>li\av6pumov); »er erzieht, mahnt, warnt, ret129

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tet, bewahrt« (6,2), kurz, er begleitete mit pädagogischen Äußerungen den Menschen vom Beginn der Welt an. Schließlich wird er inkarniert, auf daß er als Mensch zu Menschen rede. Clemens läßt die Sünden- und Erlösungslehre völlig beiseite; Christus ist nach dem Grundsatz verba docent, exempla trahunt Mensch geworden (vgl. 8,3). »Er erzieht uns zum richtigen Leben und leitet zum ewigen Leben an« (7,1). Das Lied-Bild erfährt also eine leichte Verschiebung auf die >Rede< generell hin, im übrigen bleibt es gewahrt und dient als höchst unvollkommenes Vehikel zur Formulierung der christlichen Lehre. Denn der Begriff Christi als des Erziehers, der für das Gesamtwerk des Clemens so bezeichnend ist, führt angesichts der biblischen Geschichte und vor allem der Lehre vom stellvertretenden Leiden und der Erlösung zu erheblichen Verkürzungen der dogmatischen Aussage. Und es wäre verfehlt, wollte man mit der Bezeichnung >Gnostik< die Tatsache ignorieren, daß Clemens tatsächlich immer wieder den Versuch macht, die kirchlichen Lehrvorstellungen seiner Zeit zu formulieren. Die Clemens-Forschung hat gezeigt, daß er durchaus die paulinische Theologie übernommen und an manchen Stellen der Stromateis zu formulieren verstanden hat; auch hier kämpft das soteriologische Dogma mit den Bildern einer pädagogischen Ethik. 24 Der Text des Protreptikos (besonders 7) läßt nun merken, daß Clemens hier ebenfalls die Bilder vom warnenden Gesang, vom rettenden Lehrer zu durchbrechen sucht, um die Heilswirklichkeit auszusprechen. Unvermittelt, und ohne daß sie erklärt würde, erscheint die bösartige Schlange, die den Menschen seit Anbeginn quält (7,4), unter [169] den Metaphern. Aber die Umschreibung der Erlösung fällt wieder in die gewohnte Metaphorik zurück: wenn Christus nach den Propheten erschien, so wie sie, nur wirksamer, »zum Heil einladend« (eiS (J'wTllpiov TIOPOKOAWV, 7,6). Die Grenzen dieser Sprache werden vollends dort sichtbar, wo sie die historische Dimension des A T, hier des Exodus, ins Bild zu integrieren versucht. Ich resümiere die Passage (8,1-3): Der Logos-Erzieher hat immer wieder zum Heil gemahnt; in Moses und den Propheten wendet er sich mehr an den Verstand, aber die Ereignisse des Exodus stellen eine dem Kindesalter angemessene Erziehung dar: die Wunder in Ägypten und der brennende Dornbusch ziehen als Wunderzeichen an, die wandernde Säule 24 Vgl. W. Völker, Der wahre Gnostiker nach Clemens Alexandrinus, Berlin 1952, und W. Bierbaum, Geschichte als Paidagogia Theou, München 1953; speziell E. Fascher, Der Logos-Christus als göttlicher Lehrer bei Clemens von Alexandrien, in: Studien zum NT und zur Patristik. E. Klostermann zum 90. Geburtstag dargebracht, Berlin 1961, S. 193ff.

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sollte Furcht einflößen, denn als Feuersäule ist sie gleichsam eine gigantische Zuchtrute - für die Gehorsamen Licht, für die Ungehorsamen Feuer. »Manchmal schilt er, manchmal droht er, über einzelne Menschen weint er, anderen wiederum singt er ein Lied vor, wie ein guter Arzt bald Pfla. ster auflegt, bald Einreibungen vornimmt, zuweilen aber auch das Messer oder das Feuer anwendet.« Man vergleiche diese Deutung des Exodus mit der paulinischen Rekapitulation 1 Kor. 10,1-11, dem Keimpunkt der Exodustypologie in der altchristlichen Exegese, an dem sich der Umschlag vom typologischen Verständnis der eschatologischen Naherwartung zur sakramentalen Typologie vollzog. 25 Die paulinische Deutung will die biblischen Ereignisse keineswegs in ein einheitliches Bild integrieren, sondern ordnet sie einer bestimmten heilsgeschichtlich-typologischen Konzeption ein. Die Typologie kann offenbar die Details präziser erfassen als eine von metaphorischer Stimmigkeit ausgehende Allegorese (die Feuersäule, das Wasser von Mara und das Manna z.B. können kaum in einem gemeinsamen Bild kongruieren). Die zitierte Zusammenstellung von >Äußerungen< Gottes vom Schelten bis zum Weinen ist der biblischen Geschichte inkommensurabel. Sicheres Indiz dafür, daß in den Bezirk der reinen Metapher hinübergeglitten wird, ist der bruchlose Wechsel des einen Bildes (>ÄußerungenArztHeils-DramalOS Myos; Trauerrede aus Anlaß des Todes), die des Gregor von Nyssa als sogenanntes reines Enkomion (Kcx6cxpov eYKwI-..uOV; Lobrede auf den Toten an einem Erinnerungstag) bezeichnen. Der Unterschied besteht in leichten Veränderungen einer im übrigen seit Thukydides durch lange Tradition fixierten Struktur, von der hier nur der konstante Kern kurz angedeutet sei: nach der üblichen Nichtigkeits- und Schwierigkeitsbeteuerung (CXO~llcrlS) des Proömiums werden die Topen Heimat, Geschlecht, Geburt, Natur und Anlagen (qnJcrlS), so dann Kindheit und Erziehung, hierauf die Tugenden im inneren (elTlT1l0eVIJCX'Tcx) und äußeren Sinn (1Tp6:~ElS) abgehandelt. Der indirekten Charakterisierung dient am Ende die Synkrisis mit Mythen, Geschichte oder Zeitgenossen. Diesem festen Kern werden am Schluß je nach dem aktuellen Zweck des Enkomions entweder ein Makarismos oder ein Threnos angefügt. Das Christentum hat das Enkomion seit Eusebius' Rede auf Konstantin rezipiert und, wie sich besonders gut angesichts seiner starren Schematisierung zeigen läßt, unter bestimmter U mbiegung der Topik verändert 41 Hrsg. von L. Spengel, Rhetores Graeci, Bd. 3, Leipzig 1856, S. 331ff. 142

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(so werden EmrlloEvllCXTa und lTPCx~ElS zu >WundernWahrenmittelalterliche< Poetik, insbesondere der allegorischen Formen, nach einem scharf diskontinuierlichen Schnitt als eine Schwelle des >Neuen< in die spätere Antike zu verlegen, etwa mit dem rhetorischen< Antike, einer zukunftslos sich der christlichen Ausdrucksformen bemächtigenden autonomen Kunstübung verwiesen; in diesem Bezirk waltet noch unangefochten, aber zumeist desinteressiert die Klassische Philologie mit den von E. R. Curtius ererbten Kontinuitätsbegriffen. 8 Und doch ist dies der lebendigste Bezirk der christlich-literarischen Allegoristik, der noch den intakten Buch- und Rezitationsmarkt und eine bis zu politischen Wirkungen reichende Verständlichkeit kennt. 9 4) Zwar streben die hagiographischen Forschungen des letzten Jahrzehnts nach einem Konzept christlicher Wirkungsästhetik, das unter den Leitbegriff der >Erbaulichkeit< gestellt wird (vgl. S. 171 Anm. 72); doch scheinen von seinem Anwendungsfeld bisher keine Verbindungen zur poetischen Praxis der Allegorie zu bestehen; selbst wo die Rezeption der antiken Rhetorik in die christliche Poesie als Leistung erbaulicher Literatur dargestellt wird, werden >exegetische< unvermittelt neben >erbauliche< Erklärungsmodelle gestellt. lc Die Bemerkung des Fulgentius soll zum Anlaß genommen werden, im folgenden der Verbindung zwischen Praxis und Theorie des christlichen delectare und der christlich-exegetischen Dichtung in der Spätantike nachzugehen. Denn wenn auch auf diesem Felde, nach den Worten von H. R. 7 Noch Jauß, Ästhetische Erfahrung [Anm. 5], S. 106, zitiert zustimmend die Charakterisierung des christlich-allegorischen >Neueinsatzes< durch Jean Paul. Vgl. zur Persistenz der romantischen Anschauung von der christlichen >Schwelle< in der Ästhetik der Spätantike: Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, München 1975, S. xxxrvf., und: Probleme der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität [in diesem Band: S. 203ff.], S. 378ff. [hier: S. 207ff.]. 8 Auch die an der Spätantike interessierte Latinistik spart das Problem einer christlichen Rezeption der peripatetisch-horazischen Ästhetik aus; so bei M. Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungslehre, Darmstadt 1973. 9 Vgl. unten S. 161ff. 10 Vgl. Herzog, Die Bibelepik [Anm. 7], S. 121f., und H. Kech, Hagiographie als christliche Unterhaltungsliteratur, Diss. Konstanz 1977. 157

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Jauß, unsere Denkgewohnheit der »Trennung von delectare und prodesse als eine Episode in der Geschichte der Kunst« erscheint,l1 dann könnte der Nachweis einer engen spätantiken Verknüpfung zwischen der Darstellung des sensus spiritalis und der Affekterregung, der exegetischen und der kathartischen Poetik sowohl das Schicksal der antiken Poesie - ihre Rettung und Verwandlung - wie die Zukunft der spiritualisierenden Hermeneutik - ihre unabschätzbare Breitenwirkung in Politik, Predigt und einer lebendig bleibenden Poesie - erklären. Befragt man zunächst die theoretischen Äußerungen der christlichen Poeten, [54] so sieht man die poetische Verpflichtung zum nitor sermonis, zur delectatio zu Beginn der Spätantike noch nicht zu jener tralatizischen Formel erstarrt, in der sie (meist in Verbindung mit dem HorazZitat) über Isidor das Mittelalter erreicht und erst seit dem 12. J ahrhundert wieder zum Problem wird. Gegenüber dem literarisch kompetenten pagan-christlichen Publikum des 4. Jahrhunderts 12 wird sie noch in dem programmatisch-christlichen Johannespanegyrikus des Paulinus von Nola (carm. 6,18f.) als etwas Selbstverständliches eingeräumt. In einen Konflikt mit den Darstellungserfordernissen biblischer Allegorese gerät die christliche Poesie zum ersten Mal bei Sedulius; aber man hat nicht den Eindruck, daß dieser Konflikt in seinen Konsequenzen dem Dichter und seinem kirchlichen Auftraggeber bewußt wurde. Vor allem: er wird nicht gegen eine ästhetisch freie Darstellung von Exegesen gelöst. 13 Sedulius ist die Poesie noch etwas Naturwüchsig-Autonomes; wer der Poesie »pro insita consuetudine vel natura« verfallen sei, dürfe nicht verdammt werden. Aber ihre sinnenfesselnde suavitas rechtfertigt er nur mehr als apologetisches Instrument: sie sei wichtig, damit der für poetische Schönheit Empfängliche, wenn er Christ geworden sei 0>viam libertatis ingressus«), nicht durch die vertrauten Verlockungen zurückfalle. 14 Hieraus entspringt die erste das NT nach einzelnen allegorischen Perikopen in einem hochrhetorischen Manierismus darstellende Poesie, das Carmen Paschale, auf das noch zurückzukommen sein wird. Der Auf11 Jauß, Ästhetische Erfahrung [Anm. 5], S. 57. 12 Vgl. hierzu die Diskussion in: Christianisme et formes litteraires de l'antiquite tardive en Occident (Entretiens sur l'antiquite classique 23), VandceuvresGeneve 1977, S. 412ff. 13 Zum folgenden vgl. die ausführlichere Darstellung bei Herzog, Bibelepik [Anm. 7], S. xuff. 14 »Non repetat iniquae servitutis laqueos, quibus ante fuerat inretitus.« - Die Zitate aus der Epist. ad Maced. 1 (Sedulii opera omnia, hrsg. von J. Huemer, Wien 1885 [CSEL 10], S. 5f.). 158

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traggeber nötigte den Dichter, sie durch ein Prosawerk zu ersetzen. Die Deutungen dieser folgenreichen Ablehnung - sie begründete die mittelalterliche Tradition des sog. opus geminum l5 - reichen von einer Fiktion des Dichters bis zum Testimonium altkirchlicher Kunstfeindschaft. Es läßt sich jedoch an dem Prosawerk zeigen, daß hinter der Forderung ein exegetisches Bedürfnis stand, welches die poetische lex artis durchkreuzte: Sedulius weicht nämlich in der Neubearbeitung sowohl von der Auswahl einzelner Perikopen wie von der Darstellung jeweils einer Allegorese ab; er trägt nach, vervollständigt und inkorporiert sogar Vulgatatexte als Lemmata. Nicht aber wird die rhetorisch-manierierte Darstellung zurückgenommen; zu Recht konnte Sedulius diese Kunstprosa als ein bloßes sti· lum vertere bezeichnen. Und Arators allegorische Poetisierung der Apo· stelgeschichte im 6. Jahrhundert hat diese erste, praktische Abgrenzung zwischen delectatio und Allegorese zum Abschluß geführt: einzelnen, unveränderten Vulgataperikopen steht die - Sedulius an Manierismus noch übertreffende - Poesie der allegorischen Auslegung gegenüber; hiermit hat - auch nach Arators eigener theoretischer Formulierungl6 - eine bemerkenswerte Zuordnung der poetischen Überhöhung zur Allegorese, der schmucklosen Prosa zum sensus historialis stattgefunden, wie sie in der gleichzeitig formulierten, zunächst so einleuchtend erscheinenden Synthese des Fulgentius keinen Platz findet. Ein ähnliches Bild vermitteln allgemein die patristischen Äußerungen zum Verhältnis von Poesie und Exegese: auch sie streben zunächst einer pagane wie christliche Dichtung mit der Möglichkeit allegorischer Auslegung verbindenden Lösung zu, wie sie Fulgentius repräsentiert, nehmen zum Ende des 4. Jahrhunderts jedoch eine scharfe Differenzierung und Abgrenzung vor. Exemplarisch ist der Wandel [55] in der Auffassung Augustins. Er beginnt in den Cassiciacum-Dialogen mit einer beträchtlichen Wertschätzung paganer Poesie als eines die Wahrheit verbergenden Kleides. 17 Augustin bewegt sich hier noch in den Bahnen der spät antiken, die paganen Klassiker allegorisierenden Grammatik, wie sie in einer seit Edgar de Bruyne dokumentierten Tradition das Mittelalter erreichte und erst seit Thomas von Aquin zu einer systematischen Durcharbeitung ge15 Vgl. E. Walter, Opus geminum. Untersuchungen zu einem Formtyp in der mittelalterlichen Literatur, Diss. Erlangen 1973. 16 Epist. ad Vigilium 21f. (De actibus apostolorum, hrsg. von A. P. McKinlay, Wien 1951 [eSEL 72], S. 4): »Alternis reserabo modis quod littera pandit / et res si qua mihi mystica corde datur.« 17 Vgl. etwa De ord. 1,24; Contra Acad. 3,11 und 39ff.; hierzu K. Svoboda, L'esthetique de saint Augustin, Brünn 1933, S. 48. 159

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langte. Und sie wird von Augustin - im Austausch mit dem Poeten Licentius - auch auf eine mögliche christliche Poesie projiziert: auch der christliche Dichter könne mythologische Sujets (z.B. Pyramus und Thisbe) darstellen, wenn er die christlich-allegorische (in diesem Fall: moralische) Schlußauflösung anfüge. 18 Wir besitzen auch derartige christliche Poesie aus dem Anfang des 4. Jahrhunderts, das Carmen de ave Phoenice; und wir besitzen, im Werk des Laktanz, das hervorragendste Beispiel christlicher Exegese der heidnischen klassischen Dichter. Nach 390 verändert sich diese Auffassung sehr rasch, nicht nur bei Augustin. 19 Licentius wird auf die hagiographische Poesie des Paulinus von Nola verwiesen,z° vor allem aber definiert Augustin in seiner >christlichen Ästhetikägyptischen KriegsgefangenenBibel ästhetik< Augustins, zugleich die erste europäische Ästhetik der obscuritas, ist seit Henri-I. Marrou hinreichend untersucht worden - ein Desiderat ist freilich ihre Nachwirkung im Mittelalter 23 und vor allem im 17. und 18. 18 De ord. 1,14. 19 Vgl. Herzog, Die Bibelepik [Anm. 7], S. 171ff. 20 Aug. epist. 26 (und 23). 21 Zitiert wird an dieser Stelle (einmalig in De doctrina christiana) ein episches Adespoton (Ekphrasis Neptuns); angeschlossen wird der Topos »siliqua ... porcorum« (3,7,11). 22 De doctr. christ. 3,8,12. Augustin versäumt auch nicht, die Möglichkeit des einfach ästhetischen, nicht auslegenden Genusses der paganen Dichtung als die am niedrigsten stehende Haltung zu brandmarken (De doctr. christ. 3,7,11). 23 Vgl. wiederum de Bruyne [Anm. 3], S. 307ff.; noch ungeklärt ist die Tradition, die zu Boccaccios Vita di Dante (B. 14) führt. 160

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Jahrhundert. 24 In diesem Zusammenhang ist die radikal veränderte Zuordnung von Poesie und Exegese hervorzuheben: Gott ist einzig Poet, einzig über eine Poetik der delectatio verfügend;25 die Exegese wird zu einer intellektuellen, nicht produktiv-ästhetischen Leistung; sie hat sich allen Anspruchs auf Schmuck und Eingängigkeit, auf eine Kopie der göttlichen delectatio,26 zu enthalten. Angesichts der Neuartigkeit dieser Bibelästhetik wird oft übersehen, daß die delectatio für die Tätigkeit eines christlichen Autors - der in dieser Systematik, aber auch bei Hieronymus,27 zum Exegeten schlechthin wird - ein unlösbares Problem geblieben ist. Es tritt sogleich im 4. Buch von De doctrina christiana auf, das sich der >Vermittlung der Schriftexegese< widmet, also keineswegs nur eine >Predigtlehre< darstellt. 28 Christliche Exegese vermag zwar im systematischen Denken Augustins die rhetorischen Stilhöhen des probare und des jlectere [56] in die christlichen Vermittlungsmodi des dogmatisch-verkündenden docere und des movere als eines Aufrufs zum Handeln zu transformieren. Das mittlere genus dicendi, das delectare, aber führt in De doctr. 4,25,55 zu einer kaum verhüllten Verlegenheit: es sei, so wird dort formuliert, den beiden anderen genera subsidiär, es habe keinen Zweck in sich selbst; an anderer Stelle wird es aus der Ecclesia wie aus dem platonischen Staat vertrieben. 29 »Appetant eum (sc. stilum), qui lingua gloriantur, et se in panegiricis talibusque dictionibus iactant« (4,25,55) - warum aber rezipiert Augustin dieses genus dicendi überhaupt? Die Beispiele, die er von Cyprians Ad Donatum an für das delectare anführt, zeigen hinlänglich, daß er es keineswegs global den Paganen zuweisen konnte; sie zeigen, mitsamt der Insistenz Augustins, daß er sich einer sehr lebendigen, die Exegese in die Rhetorik einformenden christlichen Literatur gegenübersah. Ganz offensichtlich ist die Wandlung in der Auffassung von allegorischer Dichtung und ihrer christlichen Möglichkeit - nach dem Austausch mit Licentius erwähnt Augustin christliche Poesie überhaupt nicht mehr; er geht auch an dem Werk des Prudentius kommentarlos vorbei - sowie die gewaltsame Abgrenzung von ästhetisch autonomer Exegese die Ursache der 24 Zur Neuzeit vgl. R. P. Lessenich, Dichtungsgeschmack und althebräische Bibelpoesie im 18. Jh., Köln 1967. 25 De doctr. christ. 2,6,7f. 26 De doctr. christ. 4,8,22. 27 Siehe unten Anm. 45. 28 Schon die emphatische Distanzierung von der Zumutung, hier rhetorische praecepta zu erörtern (4,1,2), sollte zu differenzierterer Würdigung führen. 29 De doctr. christ. 4,14,30. 161

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fehlenden Ausarbeitung einer christlichen Poetik in der Spätantike; und gewiß ist sie von der Distanzierung gegen die rhetorisierte Bibelexegese des 4. Jahrhunderts veranlaßt worden. Das Ausmaß dieser Rhetorisierung, der Umfang dieser sehr homogenen Integration der biblischen Exegese in die griechisch-lateinische Literatur ist bisher kaum umrissen, eine auch nur summarische Darstellung fehlt. Es handelt sich um die folgenden, sämtlich nach 370 aufkommenden Usurpierungen der Schriftauslegung: a) historisch-panegyrische Applikationen, zuerst in dogmatischen Schriften des Ambrosius (Hunnenexegese von Ezech. 38,9)/° sodann in der bekannten Rom- und Theodosius-Panegyrik des Augustin, Prudentius und Orosius (nach der exegetischen Technik mit der Applikation frührepublikanischer Geschichte auf die Gegenwart bei Claudian vergleichbar), ferner die wenig beachteten ersten posttypologischen Geschichtsdeutungen bei Orosius (insbesondere in der - von Augustin zurückgewiesenen - Übertragung der ägyptischen Plagen auf die Chronologie seit den Christenverfolgungen); 31 b) politische Usurpation der Allegorese, insbesondere bei Ambrosius und seit der frühbyzantinischen Literatur. Sie beginnt mit dem Instrument der Prophetenexegese in der antiarianischen Polemik gegen die Kaiserin Justina, wird in der Auseinandersetzung mit Theodosius zu einer äußerst wirksamen Aktionsform gesteigert 32 und findet im zweiten Epikedium (auf Theodosius) mit der bibelexegetischen Festlegung der Thronfolger auf ein politisches Programm33 ihre für die byzantinische Welt verbindliche Form; c) hagiographisch-politische Exegese zeitgeschichtlicher miracula als >biblischer< historia: neben Sulpicius Severus in der hagiographischen Dichtung des Paulinus von Nola;34 30 De fide ad Grat. 2,16. 31 Vgl. Oros. 7,26f. und Herzog, Orosius [in diesem Band: S. 293ff.]. 32 Wie jüngst gezeigt wurde (F. Claus, La datation de l'Apologia David, in: Ambrosius Episcopus. Atti del Congresso internazionale di studi ambrosiani, hrsg. von G. Lazzati, Mailand 1976, Bd. 2, S. 168ff.), hat die Apologia David altera mit ihrer vom Kaiser zunächst selbst zu seiner Verteidigung allegierten Auslegung von 2 Sam. 11 (David - Bathseba) zur Kirchenbuße geführt; Ambrosius führt in diesem Fall das spirituelle Schriftverständnis gegen das literale >Exempel, des sündigen biblischen Königs ins Feld; vgl. Herzog, Vergleichende Bemerkungen zur theologischen und juristischen Applikation, in: Text und Applikation, hrsg. von M. Fuhrmann und H. R. Jauß (Poetik und Hermeneutik 9), München 1981, S. 367-393. 33 Vgl. De obitu Theodos. Isf. und (negativ) 39. 162

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d) Freisetzung zur autonomen ästhetischen Form, zum allegorischen Kunstwerk: die breiteste und seit L. Meridier 35 nicht untersuchte Tradition liegt in den griechischen Enkomien und Epikedien Gregors von Nazianz, Gregors von Nyssa und des Johannes Chrysostomos vor;36 ihre kunstvollste Ausarbeitung hat in der Spätantike die [57] Epistolographie des Paulinus von Nola 37 (zu ihr zählen auch die literarisch banalisierten Bibelexegesen in den Briefen und Proömien des Hieronymus) und die Enkomiastik des Ambrosius erreicht. 38 Es ist zwar möglich, die Gesamtheit dieses Usurpations- und Integrationsphänomens unter der Vorstellung einer ersten posttypologischen Dynamik in der abendländischen Literatur zu begreifen (allerdings verschwimmen die Grenzen, etwa im Sinne der von Augustin gezogenen Linie: ist die hagiographisch-politische Deutung noch theologisch sinnvoller Ausdruck einer fortlaufenden nachbiblischen Heilsgeschichte?). Für die spezielle Erörterung des Verhältnisses poetischer und exegetischer Formen erscheint nicht eine globale Deutung, sondern die Einsicht in die ästhetischen Implikationen und Konsequenzen dieser Verschmelzung sinnvoll. In der Tat bringt sie eine Kette unverwechselbarer literarischer Formen hervor. Dem Widerspiel des Antityps zum Typ am nächsten, parasitär am nächsten, steht die Figur der Überbietung, ererbt aus der alten rhetorischen Form der Synkrisis (nicht zufällig einem Bestandteil des Enkomion). Sie pervertiert den (biblischen) Typ zur Folie, beschränkt ihn rigoros auf die historia und manipuliert diese endlich nach den Erfordernissen des panegyrischen Objekts. 39 Charakteristische Begleitform ist die lizenzerteilende Kautel,40 oft als Beteuerungsformel der 34 Vgl. Herzog, Probleme der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität (...), S. 404ff. [in diesem Band: S. 227ff.]. 35 L'influence de la seconde sophistique sur l'reuvre de Gregoire de Nysse, Paris 1906. 36 Zu den Enkomien auf Basilios vgl. Herzog, Metapher - Exegese - Mythos [in diesem Band: S. 115ff.], S. 177ff. [hier: S. 142ff.]. 37 Bisher nicht untersucht; zum Verständnis des Gattungshintergrundes: K. Thraede, Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik, München 1970. 38 Vgl. De obitu Valent. 9ff., wo die Kirche mit den Worten des Hohen Liedes in einen Dialog mit dem Kaiser tritt, ferner 59ff.: Valentinians Vita und Karriere wird als Canticum-Exegese erzählt. Vgl. Y.-M. Duval, Formes profanes et formes bibliques dans les oraisons funebres de saint Ambroise, in: Christianisme et formes litteraires [Anm. 12], S. 255ff. 39 Beispiele bei Herzog, Metapher - Exegese - Mythos [in diesem Band: S. 146ff.]. 40 Ein Beispiel: die Exegese des Geliebten aus dem Hohen Lied auf Kaiser Valen163

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prinzipiell unantastbaren Bibeltypologie. Die Reduktion der Schrift zur historia verstärkt ihrerseits erheblich die Ausformung dieser Folie in der narratio; man kann in der Epistolographie und den Enkomien von ekphrastischer Intensität als dem untrüglichen Anzeichen bevorstehender Exegese sprechen. Schließlich kann die Form der bedeutsamen Ekphrasis die Allegorese selbst ersetzen;41 sie hat nun Verweisungscharakter angenommen und läßt die im Hörer vorausgesetzte spiritualisierende Applikation aufklingen. Die Ausarbeitung der narratio gestattet ferner die Aufnahme des gesamten rhetorischen Instrumentariums des stilus medius: insbesondere handelt es sich um die prinzipielle Katachrese (ein System exegetischer Metaphernketten ohne Auflösung, aber auch ohne Kommunikationszweck durchzuhalten, ist z.B. das Ziel der Epistolographie des Paulinus) noch vor der exegetischen Auflösung der narratio; die Distanz zwischen narratio und Deutung wird durch Antithesen-Häufung, der musikalischen Form des cluster vergleichbar, akzentuiert. Hieronymus, ein Mann von weiterem literarischen Horizont als Augustin, hat die Lebenskraft und insbesondere die antipagane Wirkungsmöglichkeit dieser Formen hoch eingeschätzt; er hat auch die Grenzen zwischen der gebotenen theologischen Zurückhaltung und wirksamer kirchlicher Literatur besonnener gesetzt - man sollte diese Besonnenheit nicht, wie es noch oft geschieht, einem Wechsel zwischen >asketischen< und >weltlichen< Phasen zuschreiben. Nur für drei Gattungen hat er strikt die delectatio abgelehnt und hierbei sein berühmtes Urteil über die »mei similes, qui post saeculares litteras ad scripturas venerunt«, gefällt: 1) für die Schrift->Übersetzung< selbst, wenn sie völlig als Klassikercento (wie bei Proba) auftrat;42 2) für den exegetischen Schriftkommentar (als ProsaFachschrift) ;43 3) für die Predigt.44 Gerade die enkomiastische Überfortinian (»habens in se imaginem Christi«) wird eingeleitet (De obitu Valent. 58): »nec iniuriam (>Blasphemiefehlenden< christlichen Poetik in der Spätantike hinreichend auch die Formen und die Praxis einer delectatio in der christlich-exegetischen Poesie dieser Zeit? Von dem Problem dieser Praxis ging die Untersuchung aus. Nicht nur außerhalb des viel behandelten Prudentius findet sich ja poetisch ausgeformte Schriftdeutung; sie findet sich auch lange vor der Paganes und Christliches einschmelzenden, die Bibelexegese so erfolgreich usurpierenden spätantiken Klassik am Ende des 4. 45 Epist. 58,11. 8-9. Diesem Programm gegenüber setzte sich die Stellungnahme Augustins durch; vgl. die beiden, noch in der Spätantike, aus unterschiedlichen Perspektiven vorgenommenen Abgrenzungen: 1) Ennodius: »properantes ad se de dis· ciplinis saecularibus salutis opifex non re/utat, sed ire ad illas quemquam de suo nitore (!) non patitur« (epist. 9,9); 2) Isidor: »eloquia sacra exterius incompta ver· bis apparent, intrinsecus autem mysteriorum sapientia /ulgent« (sent. 3,13). 46 Einige Bemerkungen hierzu bei H. Hunger, Aspekte der griechischen Rhetorik von Gorgias bis zum Untergang von Byzanz, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte 277,3 (Wien 1972).

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Jahrhunderts, ja vor der Rezeption des origenistischen Schriftkommentars im Westen durch Hilarius von Poitiers. Als sich gegen 330 die Poesie der Schrift bemächtigt, um sie, vor dem Hintergrund einer Stiltheologie,47 im Gewand der höchsten antiken Gattung ins Lateinische zu übersetzen, tut sie dies nicht etwa im Rückzug auf eine bloße Technik rhetorischen Paraphrasierens; sie erhält seit Juvencus die alte Abgrenzung der Poetik gegen die veritas des Historikers (in der epischen Tradition am Beispiel Lucans verdeutlicht und so noch Isidor 48 geläufig) aufrecht. Die Theorie der poetischen figmenta (christlich: mendacia)49 wird nicht durch den Anspruch auf die vera historia der Schrift komplettiert, sondern durch die theologische, außerästhetisch formulierte Bedeutsamkeit des neuen Themas abgelöst. 50 Avitus und Dracontius werden die Unmöglichkeit, die Schrift nach ihrer historia erzählen zu wollen, hervorheben. 51 Aber schon Paulinus von Nola und Prudentius haben an programmatischer Stelle die Darstellung des sensus spiritalis als das Ziel ihrer Dichtung deklariert. 52 Nach diesem Gang durch die spätantiken Bedingungen einer Begegnung von Poesie und Exegese - sie sind vielschichtiger, als die plane Synthese des Fulgentius [59] vermuten ließ - soll diese Poesie selbst in einem frühen specimen zu Worte kommen und zur Untersuchung stehen - es handelt sich bei dem folgenden Text sogar um die erste abendländische Begegnung von antiker Poesie und biblischem sensus spiritalis, die Darstellung des Weinwunders zu Kana im Werk des Juvencus (dem Mediävisten sei empfohlen, die entsprechende Partie aus Otfried, der Juvencus gut kannte, zum Vergleich heranzuziehen): » Vina

sed interea convivis deficiebant. Tum mater Christum per talia dicta precatur: >Cernis, laetitiae iam de/ecisse liquorem? Adsint, nate, bonis ex te data munera mensis.
heteronomen< Begriffe der christlich-poetischen Programme der Spätantike: Dichtung als Erlösung, Versifizierung als gutes Werk (Juvencus), säkulare Literatur als Sünde (Proba), ferner die zum Mittelalter traditionell gewordene (Un-)Gleichung metrische Korrektheit - Glaubensfestigkeit (zuerst Marius Claudius Victorius, dann Avitus). 51 De spir. hist. gest. 3,333ff.; De laud. dei 3,741f. 52 Vgl. Paul. Nol. carm. 22 (an Jovius), 154ff.; Prud. Cath. 3,26ff. 166

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Olli respondit terrarum gloria Christus: >Festinas, genetrix; nondum me talia cogit 135 Ad victus hominum tempus concedere dona. < Mensarum tunc inde vocat laetata ministros Mater et imperiis nati parere iubebat. Sex illic fuerant saxis praepulchra cavatis 140 Vascula, quae ternis aperirent ilia metretris Haec iubet e fontis gremio conplere ministros. Praeceptis parent iuvenes undasque coronant Conpletis labiis lapidum; tum spuma per oras Conmixtas undis auras ad summa volutat. Hinc iubet, ut summa tradant gustanda ministro. 145 Ille ubi percepit venerandi dona saporis Nescius, in vini gratum transisse liquorem Egestas nuper puris de fontibus undas, Increpat ignarum sponsum, quod pulchra reservans Deteriora prius per mensas vina dedisset.« 53 150

Es nimmt nicht wunder, daß die eucharistische Spiritualisierung von Joh. 2, die hier ihren ersten Poeten gefunden hat, gewöhnlich ganz übersehen wird und hinter dem zurücktritt, was man gemeinhin wortgetreue Paraphrase nennt. Aber so zart und unauffällig sie sich fühlbar macht - man vergleiche auf der anderen Seite die explizite Deutung Otfrieds, in der die Applikation der Verwandlung auf den sensus spiritalis selbst eine abschließende Phase bewußter allegorischer Poetik erreicht 54 -, so umfassend hat sie den Text verwandelt. Das wird, ist einmal der Schlüssel dieser poetisierten Exegese aufgefunden, sogleich deutlich. In einem ersten Schritt wird das spirituelle Vorverständnis durch kaum merkliche paraphrastische Signale vermittelt; der sensus spiritalis wird also nicht durch Auflösung, sondern durch Nutzung des periphrastischen Spielraums erreicht: »adsint, nate, bonis ex te data munera mensis« (v. 133) sowie »nondum me talia cogit / ad victus hominum tempus concedere dona« (v. 135f.) enthüllt zusammen mit anderen Formulierungen (vgl. 4,455f. Matth. 26,29 »regna patris in nova me rursus concedent surgere vina«: also das Weinstockgleichnis Joh. 15,1 aufnehmend)55 die sakramentale Identität dieses Weines mit dem Blute Christi. Ebenso kann nur die peri53 Evang. 2,130ff. (hrsg. von]. Huemer, Wien 1891 [eSEL 24], S. 47f.). 54 Die Deutung des Wunders von Kana auf die Allegorese selbst findet sich zuerst bei Arator, Act. apost. 2,889ff. 55 Vgl. ferner Evang. 2,731 - Matth. 12,50.

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phrastische Abundanz bei der Nennung des Wassers (als Quellwasser v. 141; »puris de fontibus« v. 148) einen Wink auf das zweite Sakrament [60] des Kana-Wunders, die Taufe geben, das in späterer Exegese - in Verknüpfung mit Joh. 19,34 - als Voraussetzung des ersten erscheint. 56 Es ist allerdings notwendig, sich an diesem Punkt über den Begriff des >Signals< zu verständigen, ihn zu korrigieren. Der Text zeigt nämlich, daß es Juvencus keineswegs nur auf eine Anleitung zur Auslegung ankommt, daß diese Dichtung keineswegs als eine Art unvollkommenes Puppenstadium expliziter exegetischer Poesie angesehen werden darf. Periphrastischer Spielraum ist in dieser Poesie nicht nur Indiz, sondern Manifestation; die Intensität der Paraphrase beweist eine emotional und mimetisch die Grenzen antiker Poesie sprengende Haltung, die es nicht erlaubt, diese Phänomene als den üblichen ornatus der delectatio von der neuartigen hermeneutischen Kommunikation einer Exegese an den Leser zu scheiden. Zur Erläuterung: Die paraphrastische Intensität führt zunächst zu luxurierenden Wiederholungen 57 (>Wein< v. 132 und 146; >Wasser< v. 141 und 148), zu einer ästhetischen Steigerung (v. 139 »praepulchra«), des weiteren zu einem starken ekphrastischen Relief, wie es die Darstellung der Steinkrüge v. 139-144 aufweist. Ekphrasis - mit diesem Begriff eines traditionellen ornatus möchte man diese Intensität zunächst noch als mimetischen Kunstzweck fassen, bis eine ab v. 142 faßbare akribische Verlangsamung bis zur Zeitlupe unmittelbar vor dem spirituell entscheidenden Moment - eben dieses Formgesetz findet sich z.B. auch in den Hymnen des Prudentius (vgl. carm. 3 und 5)58 und im Cento Probae - die Mimesis überschreitet. Die Gegenstände >verlebendigen< sich (Panofsky); das Wasser beginnt zu schäumen (Imitation eines Vergilverses, 59 den J uvencus 4,703 auch für Jesu Verscheiden benutzt hatte). Ähnlich werden biblische Paraphrasen in der altchristlichen Dichtung immer wieder im unmittelbaren Hof des spirituell Bedeutsamen überformt: der Jordan schäumt bei der Taufe Jesu auf; die Masten der Fischerboote erzittern; der Orion er56 Vgl. bei Juvencus den sehr unscheinbaren, gleichwohl das paraphrastisch Nötige überschreitenden Hinweis des »nuper« (v. 148). 57 An dem Gegenphänomen der Verkürzung des Vorlagetextes zum Zwecke des spirituellen Signals erweist sich, daß die periphrastische Breite sich nicht in der Signalfunktion erschöpft; vgl. v. 140, wo das »zwei oder drei« der Vorlage auf das spirituell wichtige »temis« verkürzt wird. 58 Vgl. Herzog, Die allegorische Dichtkunst des Prudentius, München 1966, S.72. 59 Aen. 5,761f. 168

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scheint bei Jesu Wandeln auf dem See;60 endlich kommt es seit Paulinus von N ola zu pararealistischen Überschüssen wie dem Nimbus Mariens und dem Wohlgeruch eines Engels,61 und dem Übersprung von A ndachtshandlungen auf die biblischen Figuren, so auf Elisabeth, die Mariens Bauch küßtY Es leidet keinen Zweifel, daß diese spirituelle Poiesis nicht nur mimetisch nachantik, sondern ebenso nachantik in ihrer merklichen emotionalen Spannung des Dichters selbst ist, die erstmals bis zum Einreißen der antiken Distanz zwischen Autor und Werk führte_ 63 Merklich wird sie zunächst in kontextunabhängigen Epitheta (vgl. v. 134);64 sie präformiert die gehörige Gefühlslage des Hörers (vgl. v. 146 »venerandi saporis«) wie der biblischen Figuren (vgl. v. 137 »laetata«). Vom stupor attonitus bis zur miseratio gibt sich eine diffuse Emotionalität in der frühen Bibeldichtung zu erkennen. Die allgegenwärtige >Inbrunst< (>ardor inexpletus< Juvenc. 2,415) dieser Poesie gipfelt seit Proba im Eindringen des Dichters in das Werk an spirituellen Höhepunkten (als Transformierung der antiken exclamatio zum Gebet oder zum Mithandeln).65 Diese emotionale und transmimetische Intensität in der poetischen Darstellung des Spirituellen ist nicht auf Rhetorik reduzierbar; sie begegnet vor der Rezeption antiker Gattungen und rhetorischer Kunstformen in die altchristliche [61] Poesie. Aber es läßt sich gut erweisen, daß vor allem sie das Rezeptionsvehikel für die literarische Tradition der Antike gewesen ist, daß sie zur Eroberung des rhetorischen ornatus herausforderte. Man vergleiche die nächste poetische Darstellung des Weinwunders, nach etwa einem Jahrhundert: »Prima suae Dominus thalamis dignatus adesse Virtutis documenta dedit convivaque praesens Pascere, non pasci veniens, mirabile! fusas In vinum convertit aquas: amittere gaudent 5 Pallorem latices, mutavit laeta saporem 60 Vgl. ausführlich hierzu Herzog, Die Bibelepik [Anm. 7], S. 150ff. 61 Ebd. S. 218. 62 Paul. Nol. carm. 6,162. 63 Vgl. ausführlich hierzu Herzog, Die Bibelepik [Anm. 7], S. 145ff. 64 Sie können auch die Funktion haben, der andächtigen Stimmung fremde Partien der Vorlage zu eliminieren; so in v. 135: »genetrix« überformt das absprechende »Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?« (Joh. 2,4). 65 Vgl. Herzog, Die Bibelepik [Anm. 7], S. 47ff., 97ff. Nachzutragen: Marius Claudius Victorius, Aleth. 1,462ff. und Paulus von Petricordia 4,437ff. 169

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Unda suum largita merum, mensasque per omnes Dulcia non nato rubuerunt pocula musto. Implevit sex ergo lacus hoc nectare Christus: Quippe ferax qui vitis erat virtute colona Omnia fructi/icans, cuius sub tegmine blando 10 Mitis inocciduas enutrit pampinus uvas.«66

Noch herrscht grundsätzlich das paraphrastische Darstellungsprinzip, doch sind sowohl Deutung (ab v. 8; vgl. besonders »ergo«) wie eine zusammenfassende Vorwegnahme (v. 1-3) abgelöst, und die narratio ist gänzlich auf das Wunder konzentriert; sie wird durch das Reizmittel der Antithese (v.2f.) aufgezehrt - eben diese Rezeption des Sedulius riß das christliche Publikum der Spätantike hin (vgl. Cassiodors emphatischen Applaus im Psalmenkommentar für die antithetischen Stellen carm. pasch. 1,368ff.).67 Das Verwandlungswunder selbst wird nach der Tradition der Metamorphose verarbeitet; rhetorisches Indiz dieser Verarbeitung ist seit Ovid die Litotes (hier v. 7). Bemerkenswert ist, daß nun rhetorisch überformte narratio und spirituelle Auflösung auseinandertreten; vor v. 8 gibt es keine Juvencus vergleichbaren spirituellen Signale mehr, und andererseits enthüllt die Deutung ab v. 8 viel direkter - durch unmittelbaren Zugriff auf Joh. 15,1 (v. 9ff.) -, was bei Juvencus in der narratio verborgen blieb. Diese Phase exegetischen Dichtens entspricht dem Auseinandertreten von extremem, ekphrastischem Realismus und Vergeistigung seit Prudentius, Sidonius und Arator; und sie erst war offensichtlich in der Lage, den poetischen Wechsel der beiden Bedeutungsebenen zum neuartigen Kompositionsprinzip zu erheben (so bei Prudentius), typologische Exegesen zu Gliederungsfunktionen in größeren Werken zu nutzen (so bei Marius Claudius Victorius),68 bereits in der Spätantike ein System spiritueller >Exkurse< zum Sinnträger einer größeren Dichtung aufzubauen (so bei Avitus)69 und die (vor allem epische) Tradition der allegorischen Personifikation in die bibeltypologischen Responsionen zu integrieren (so bei Prudentius). Die Forschungen zur Allegorie haben die Leistungen dieser Phase - zu Unrecht - als die eigentlich neuartigen einer christlich-allegorischen Poetik hervorgehoben. Allerdings sind sie traditionsbestimmend 66 Sedulius, Carm. pasch. 3,1-11 (Opera omnia [Anm. 14], S. 65). 67 PL 70, Sp. 814B. 68 Vgl. die Buchschlüsse 1 und 2 und den Anfang von Buch 3 der Alethia; verwandt - und Beweis für die Werkeinheit - ist die Komposition von Ps.-Hilarius, Genesis und De Evangelio. 69 Vgl. De spir. hist. gest. 2,292ff.; 3,220ff.; 3,362ff.; 4,493ff. (postskriptural). 170

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geworden, traditions bestimmend aber wurde auch das Auseinandertreten 70 narrativer delectatio und spiritueller aedificatio, wie sie das System des Fulgentius trennen wird. [62] Denn nun ist deutlich geworden, daß aedificatio und delectatio in der Praxis christlich-exegetischer Dichtung ursprünglich keineswegs getrennt und nach dem Schema des Fulgentius der Ebene der historia (delectatio) und der Ebene des sensus spiritalis (aedificatio) zugeordnet sind. Das Problem dieser Begriffssynthese, insbesondere der Ort der aedificatio, beginnt sich zu lösen. Denn längst wird der Leser bei der Interpretation des Juvencustextes die Beobachtung gemacht haben, daß eben die Spiritualisierung durch paraphrastische Intensität samt ihrer ästhetischen Implikation, der transmimetischen Emotionalität, genau das >Erbauen< (olKo5oI-l1l; aedificatio) umschreibt, wie es seit den Untersuchungen der Kunstgeschichte zum >Andachtsbild/ 1 und der Hagiographie zur Vitenlegende 72 als genuin christliche Ästhetik herausgearbeitet wurde. Aber der Begriff des Erbaulichen wurde bisher stets partiell, nur für eng umgrenzte Gattungen bis zu einiger deskriptiver Deutlichkeit gebracht; auch wo er als ästhetischer Leitbegriff der christlichen Ausdruckswelt in der Spätantike und als Rezeptionsmedium für die antike Literatur verallgemeinert wurde,!3 ist sein enges Verhältnis zur christlichen Bibel70 Mit ihm stellt sich das Problem, wie die deutende Auflösung der historia, also speziell die Allegorese, ästhetisch zu behandeln sei - Augustin hat es präzise am Beispiel prophetischer Metaphernsprache und der sie auflösenden Allegorese zu theologischer Begrifflichkeit umrissen (De doctr. christ. 2,6,7): den Hörer der Allegorese ergreift eine deutliche Unlust: »quid est ergo quod si haec quisque dicat minus delectat audientem?« - Die Lösung des hier zitierten Seduliustextes bleibt bis zum Ausgang der Spätantike sehr beliebt, ist aber nur sehr begrenzt möglich: die Einformung der spirituellen Auflösung selbst in eine Klassikerimitation. Durch das Vergilzitat (v. 11 - Georg. 1,448) gewährt die imitative Kongruenz zwischen Bibel und Klassiker (auch in den Kommentaren des Ambrosius und Hieronymus genutzt) dem Schrifttext die spirituell erforderte zweite Textfassung; die poetische Tradition leistet auch hier noch die Darstellung des sensus interior. - Das Problem bleibt bis zum Frühmittelalter gegenwärtig (vgl. Avitus, De spir. hist. 5,15ff. und Odo von Cluny, Occupatio 2,248 und 517 - dort als Gegensatz zwischen der theo· rematica camena und den mimiloqui, quasi thema secuti). 71 Seit E. Panofsky, Imago Pietatis, in: Festschrift für M. J. Friedländer zum 60. Geburtstage, Leipzig 1927, S. 261ff. 72 Konsequent durchgeführt und verallgemeinert zuerst bei Th. Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, Tübingen 1964; in Detailuntersuchungen fortgesetzt bei H. Kech [Anm. 10] und A. Gier, Der Sünder als Beispiel, Frankfurt/Mo 1977. 73 Herzog, Die Bibelepik [Anm. 7], S. LxxvIff.

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allegorese nicht gesehen worden. Der Grund liegt, wie sich zeigen wird, zum einen in einer Unterschätzung des Erbauungsbegriffes und der Unkenntnis seiner Begriffsgeschichte, zum andern in der fehlenden Berücksichtigung der griechisch-christlichen Literatur. Denn es läßt sich erweisen, daß in der alten Kirche gerade das Konzept literarischer oiKo5q..rrl zu eben jener Einheit von narrativer delectatio und spiritueller aedificatio ausgearbeitet wurde, wie wir sie in der frühen exegetischen Dichtung des 4. Jahrhunderts praktiziert sahen. Und dieses Konzept gelang durch etwas, das weder die Klassische Philologie noch die Allegorieforschung der christlichen Spätantike zugetraut haben: durch eine. Rezeption der aristotelischen Poetik. Während die innerbiblische und frühkirchliche Geschichte des Begriffes >Erbauung< bis zu Clemens Alexandrinus hinreichend bekannt ist,74 hat der Mangel an Untersuchungen für die Spätantike zu einer gewissen Konfusion geführt und den Blick auf den poetologischen Rang des Erbauungskonzepts verstellt. Einerseits kennt die Geschichte der Bibelexegese den Terminus aedificatio als Bezeichnung für das System der Schriftsinne (seit Origenes};75 dieser Tradition entstammen auch die im Mittelalter tralatizisch gewordenen Veranschaulichungen des mehrfachen Schriftsinnes lfundamentum, tectum, pa rietes; Edelsteinsymbolik}.76 Andererseits ist das >ErbauenErbauung