Spätantike: Studien zur römischen und lateinisch-christlichen Literatur 3525252706, 9783525252703

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Spätantike: Studien zur römischen und lateinisch-christlichen Literatur
 3525252706, 9783525252703

Table of contents :
Reinhart Herzog: Spätantike. Studien zur römischen und lateinisch-christlichen Literatur (2002)......Page 3
Hypomnemata. Supplement-Reihe, Band 3......Page 2
ISBN 3-525-25270-6......Page 4
I n h a l t......Page 5
Statt eines Vorworts......Page 7
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Bibliographie Reinhart Herzog......Page 23
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Abb. 2......Page 104
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II......Page 112
III......Page 118
IV......Page 126
V......Page 131
VI......Page 136
I. Dante, Purgatorio XII: Das Problem des christlich-antiken Mythos......Page 145
II. Clemens Alexandrinus, Protreptikos: Der griechische Mythos als christliche Metapher......Page 154
III. Die rhetorische Synkrisis der christlichen Spätantike: Von der Typologie zur Mythisierung der Bibel......Page 168
Exegese - Erbauung - delectatio. Beiträge zu einer christlichen Poetik der Spätantike......Page 185
Rom und Altes Testament. Ein Problem in der Dichtung des Prudentius......Page 209
Probleme der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität am Beispiel des Paulinus von Nola......Page 233
I. Paul. Nol. carm. 25. Ersatz (Verdrängung); Kontrast (Kontrafaktur);antike Form - christlicher Inhalt......Page 239
II. Paul. Nol. carm. 17. Verschmelzung (christlicher Humanismus); Christianisierung (Verwandlung, Vergeistigung)......Page 246
III. Paul. Nol. carm. 26. Rhetorisierung (Dekadenz) - Säkularisierung; Poesie als Exegese......Page 254
I. Gespräch mit Gott?......Page 265
1. Aporien des Proömiums......Page 267
2. Beginn der providentiellen narratio. Die narratio als hermeneutischer Dialog......Page 272
3. Providenz und Textgestalt......Page 273
4. Von der narratio zur Gesprächsvoraussetzung......Page 277
1. Das Ende der narratio......Page 290
2. Das erste Gespräch......Page 292
3. Hermeneutisches Fazit. Ästhetische Konsequenzen......Page 294
4. Erweiterung zum zwischenmenschlichen Gespräch......Page 295
1. Dialektik zwischengöttlicher und menschlicher Teilnahme am Gespräch......Page 297
2. Der Ansatz der augustinischen Ästhetik......Page 298
4. Die Endform des Gesprächs in den Confessiones......Page 303
V. Das Gottesgespräch Augustins und die philosophische Hermeneutik (Ricoeur; Gadamer). Hinweis auf Wittgenstein.Vom Ende der Intimität und ihren Folgen......Page 305
I......Page 317
II......Page 318
III......Page 320
IV......Page 321
V......Page 322
I......Page 323
II......Page 332
III......Page 336
IV......Page 340
V......Page 342
VI......Page 345
I......Page 351
II......Page 356
III......Page 361
IV......Page 366
V......Page 376
I. Kants Schrift Das Ende aller Dingeund das Problem der Dauer im Ende......Page 379
II. Kritische Rekonstruktion der christlichen Eschatologie - Grundzüge der christlichen Eschatologie {nach Augustin) - Theoretische Explikation der urchristlichen Apokalyptik als Denkfigur menschlicher Dauer im Ende - Folgen der altkirchlichen Lösung für die Fortentwicklung der Eschatologie - Augustins Eschatologie: Hermeneutik, Narrativität und Remythisierung - Die leibliche Auferstehung als Verwandlung......Page 388
III. Dauer im Ende als Metamorphose - Ovids Metamorphosen als ästhetische Darstellung der Denkfigur - Lycaons Metamorphose - Folgerungen für eine Gesamtdeutung der Metamorphosen -Spannung zwischen Telos und Ende: Actaeon; Atalanta und Hippomenes......Page 410
IV. Herodots lydischer Logos - Solon und Kroisos: Ende ohne Dauer und hermeneutische Telossetzung - Schluß: Vom Aufhören......Page 427
Register......Page 437

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Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Supplement-Reihe Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 3

Vandenhoeck & Ruprecht

Reinhart Herzog

Spätantike Studien zur römischen und lateinisch-christlichen Literatur Mit einem Beitrag von Manfred Fuhrmann

Herausgegeben von

Peter Habermehl Mit zwei Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Spätantike : Studien zur römischen und lateinischchristlichen Literatur / Reinhart Herzog. Mit einem Beitr. von Manfred Fuhrmann. Hrsg. von Peter Habermehl. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2002 (Hypomnemata : Supplement-Reihe ; Bd. 3) ISBN 3-525-25270-6

© 2002. Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen Internet: http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Hubert & Co.. Göttingen Einbandkonzeption: Markus Eidt, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Statt eines Vorworts

VII

Reinhart Herzog. Biographische Notizen und Hinweise zu den in diesem Bande vereinigten Aufsätzen Von Manfred Fuhrmann

XI

Bibliographie Reinhart Herzog

XXm

Zur römischen Literatur Augusteische Erfüllung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Eine Retraktation der politischen Lyrik des Horaz

1

Aeneas' episches Vergessen. Zur Poetik der memoria

27

Fest, Terror und Tod in Petrons Satyrica

75

Zur lateinisch-christlichen Literatur Metapher - Exegese - Mythos. Interpretationen zur Entstehung eines biblischen Mythos in der Literatur der Spätantike

115

Exegese - Erbauung - delectatio. Beiträge zu einer christlichen Poetik der Spätantike

155

Rom und Altes Testament. Ein Problem in der Dichtung des Prudentius

179

Probleme der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität am Beispiel des Paulinus von Nola

203

Non in sua voce. Augustins Gespräch mit Gott in den Confessiones - Voraussetzungen und Folgen

235 V

Partikulare Prädestination. Anfang und Ende einer Ich-Figuration Thesen zu den Folgen eines augustinischen Theologoumenon

287

Orosius oder Die Formulierung eines Fortschrittskonzepts aus der Erfahrung des Niedergangs

293

»Wir leben in der Spätantike«. Eine Zeiterfahrung und ihre Impulse für die Forschung

321

Vom Aufhören. Darstellungsformen menschlicher Dauer im Ende

349

Register

407

VI

Statt eines Vorworts Es war der besondere Ton, der mich von Anfang einnahm, wann immer ich eine Arbeit Herzogs aufschlug. Die Faszination seiner Lektüren (im doppelten Sinne) begleitete mich vom Studium an; sie hat bis heute nichts von ihrer Wirkung verloren. Persönlich bin ich Reinhart Herzog nie begegnet, doch sein Name war stets eine feste Größe in meiner »Gelehrtenrepublik«. Seit 1995 die Nachricht von seinem Tod bekannt wurde, ging mir der Gedanke an eine Sammlung seiner >Kleinen Schriften< nicht mehr aus dem Kopf; Ende der Neunziger Jahre nahmen die Pläne konkrete Gestalt an. Daß Herzog im Grunde bis heute ein >Geheimtip< geblieben ist,1 liegt nicht nur an der Wahl seiner Themen, die er eher am Wegesrand als auf den ausgetretenen Pfaden fand; es liegt nicht nur an den untypischen Publikationsorten, für die er sich entschieden hat (nicht ein einziger seiner Aufsätze ist in einer der >klassischen< Zeitschriften erschienen). Sein abstrakter Stil, seine hoch verdichtete, stets theoretisch fundierte Argumentation - ein beredtes Zeugnis vom >Goldenen Zeitalter< der Konstanzer »Literaturwissenschaft« - sperren sich der flüchtigen Lektüre und lassen nur selten auf den ersten Blick ahnen, welche Einsichten sich unter der spröden Schale verbergen. Wenn diese Sammlung ihr Teil dazu beiträgt, das GEuvre Herzogs ein wenig bekannter zu machen, sehen sich die Hoffnungen des Herausgebers mehr als belohnt. Um einen verträglichen Umfang des Bandes zu gewährleisten, stand von vornherein fest, daß er nur eine Auswahl der Aufsätze Herzogs enthalten könne. Es war keine leichte, aber eine - wie ich denke - vertretbare Entscheidung, den Schwerpunkt auf Herzogs großes Thema zu setzen: die christliche Spätantike. Auf solche Weise war es möglich, alle relevanten Texte aus diesem Bereich (ausgenommen die eher lexikalischen Artikel im gut zugänglichen »Handbuch der lateinischen Literatur der Antike«) 1 Um es an einem Beispiel festzuhalten: Sein Aufsatz zu den Satyrica (in diesem Band: S. 75ff.) ist in der internationalen Petronliteratur bis heute schlechterdings nicht rezipiert worden; deutschsprachige Arbeiten zitieren ihn ganz vereinzelt.

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zu vereinen und dem Band eine willkommene thematische Geschlossenheit zu verleihen. Dankenswerter Weise gewährte der Verlag genug Raum, um der spätantiken >Basilika< noch eine kleine >Aula< voranzustellen, nämlich die drei Essays zu den römischen Klassikern Horaz, Vergil und Petron. Damit finden sich in diesem Band - in einer an die antike Chronologie angelehnten Abfolge - alle maßgeblichen Aufsätze Herzogs zur lateinischsprachigen Antike versammelt.2 Verzichtet habe ich ausnahmslos und schweren Herzens auf seine Untersuchungen zur griechischen Literatur, auf seine überwiegend theoretischen Arbeiten, sowie auf Herzogs Studien zur >Antikerezeption< im weitesten Sinne, die einen Bogen schlagen von der Poetik der Frührenaissance bis zu den Antike-»Identifizierungen« eines Arno Schmidt. Eine photomechanische Wiedergabe der Aufsätze verbot sich schon aus ästhetischen Gründen (zur Orientierung sind die Seitenzahlen der Erstpublikation dem Text in eckigen Klammern beigefügt). Die Präsentation in einheitüchem Gewand erlaubte es, Formalien wie die Zitierweise weitgehend (wenn auch nicht mit letzter Konsequenz) zu systematisieren. Druckfehler und Versehen der Vorlagen wurden bei dieser Gelegenheit stillschweigend korrigiert, >herrenlose< Zitate nach Möglichkeit lokalisiert.3 Nach dem Vorbild neuerer Arbeiten wurden den griechischen Zitaten Übersetzungen beigefügt; einige längere Zitate, bei denen es allein auf die inhaltliche Aussage ankommt, sind ganz durch eine Eindeutschung ersetzt. Das Register am Ende des Bandes ist bewußt knapp gehalten. Es soll rasche Orientierung bieten vor allem zu Personen und Textpassagen; die Lektüre des Bandes kann und will es nicht ersetzen. 2 Von Herzogs Konstanzer Antrittsvorlesung zu Ovid - >Narziß und Echo. Zur Ästhetik der Illusion< (29. Juni 1992) - existiert ein umfangreiches Arbeitsmanuskript, das sich mit dem vor allem im letzten Drittel frei gehaltenen Vortrag freilich nur bedingt deckt. Die geplante Veröffentlichung in den »Konstanzer Universitätsreden« scheiterte an der Einstellung dieser Reihe in eben jenem Jahr; daraufhin sah Herzog von einer Ausarbeitung seines Textes ab. Da der mündliche Vortrag m.W. weder auf Tonband noch in Mitschriften hinreichend dokumentiert ist, und Herzog eine Publikation des Arbeitsmanuskripts untersagt hat - ein Votum, an das die Familie sich gebunden fühlt -, war es leider nicht möglich, diese exemplarische Klassikerlektüre der wissenschaftlichen Öffentlichkeit im vorliegenden Band endlich zugänglich zu machen. 3 Ein offenkundiger Textausfall in Herzogs letztem Aufsatz (unten S. 370) wurde in spitzen Klammern ergänzt.

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Die Vorbereitimg dieses Bandes wäre kaum möglich gewesen ohne die Unterstützung, die mir von vielerlei Seite zuteil geworden ist. Die Familie Reinhart Herzogs hat den Plänen zu einer solchen Aufsatzsammlung ohne Vorbehalte ihre Zustimmung erteilt. Die Verlage und Institutionen, bei denen die abgedruckten Aufsätze zuerst erschienen - C. C. Buchners (Bamberg), Klett-Cotta (Stuttgart), J. B. Metzler (Stuttgart und Weimar), die Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Darmstadt) und insbesondere Wilhelm Fink (München), des weiteren die Fondation Hardt (Vandceuvres-Gen£ve), die Fritz ThyssenStiftung (Köln) und das Institut dlitudes Augustiniennes (Paris) -, haben ausnahmslos und aufs Freundlichste den Wiederabdruck der Arbeiten genehmigt. Vandenhoeck & Ruprecht hat das Projekt - auch dank der engagierten Fürsprache von Siegmar Döpp - rasch entschlossen unter seine bewährten Fittiche genommen. Für die Geduld, mit der man in Göttingen auf das Manuskript wartete, weiß ich mich insbesondere Ulrike Blech verpflichtet. Bei der Eingabe der Texte leistete Arnd Rattmann tatkräftige Hilfe. Bei der Suche nach kryptischen Zitaten gaben Rene Braun, Josef Ernst und Heinz Gerd Ingenkamp entscheidende Fingerzeige. Die beiden ehemaligen Konstanzer collegae von Reinhart Herzog, Manfred Fuhrmann und Peter Lebrecht Schmidt, standen mir ebenso entgegenkommend mit Rat zur Seite wie Karl-Heinz Schulz, der frühere Sekretär Herzogs in Bielefeld und am Bodensee. Daß Manfred Fuhrmann, einst Lehrer und Mentor Reinhart Herzogs, sich zudem bereit erklärte, diese Publikation mit einigen persönlichen Worten einzuleiten, ist mir eine besondere Freude. Die Drucklegung des Bandes schließlich haben frühere Kollegen, Weggefährten und Freunde Reinhart Herzogs ermöglicht. Dafür möchte ich mich auch an dieser Stelle herzlich bedanken bei Martin Klöckener, Odo Marquard, Alfred Schindler, Wolf-Dieter Stempel, Antonie Wlosok, dem Research Fund der Faculty of Ans and Humanities, University College London (vermittelt von Gerard OT)aly), und jenen Spendern, die ungenannt bleiben wollten. Ihnen allen gilt mein aufrichtiger Dank. Berlin, im März 2002

Peter Habermehl

DC

Reinhart Herzog Biographische Notizen und Hinweise zu den in diesem Bande vereinigten Aufsätzen Von Manfred Fuhrmann

I* Reinhart Herzog kam am 12. Juli 1941 in Landsberg an der Warthe zur Welt. Die Familie wurde gegen Ende des Krieges ins nördliche Niedersachsen verschlagen; der Vater unterrichtete am Gymnasium des kleinen Marktfleckens Hagen im Bremischen. Der Heranwachsende absolvierte einen erheblichen Teil seiner Schulzeit in den trutzigen Backsteinmauern des Gymnasiums zu Verden (Aller); er lebte dort mitsamt seinem älteren Bruder in Pension. Das Abitur fand indes im Frühjahr 1959 in Bremerhaven statt. Herzog wuchs in einem kargen mittelständisch-akademischen Milieu der Nachkriegszeit auf. Darüber hinaus scheinen ihn Elternhaus und Schule nicht augenfällig geprägt zu haben, weder in politischer noch in religiöser Hinsicht. Doch darüber Bestimmtes auszusagen, ist auch für ihm Nahestehende nicht leicht. Die herbe, schwermütige Landschaft, in der er aufwuchs, hat ihn an Einsamkeit und Verschwiegenheit gewöhnt. Im Herbst 1959 begann er in Kiel zu studieren. Er beschäftigte sich mit Philosophie und Geschichte, daneben mit Romanistik und Latinistik, zunächst noch ohne festes Ziel; er wußte nicht, wo er geistig vor Anker gehen würde, und als Beruf schwebte ihm vage der diplomatische Dienst vor. Ein Seminar über die Psychomachie des Prudentius, das im Wintersemester 1962/63 stattfand, hat ihn offenbar tief beeindruckt. Die allegorische Dichtung, die inkonsistente Bildebene und die ebenso mannigfaltige Sinnebene mit ihren einander durchdringenden und sich ablösenden * Gekürzte Fassung des Nachrufs, den der Gnomon im Jahre 1996 auf den Seiten 472-476 veröffentlicht hat.

XI

Bedeutungssphären übten eine starke Faszination auf ihn aus. So ging aus seinem Referat in jenem Seminar seine Dissertation hervor, »Die allegorische Dichtkunst des Prudentius« (München 1966), und der Erfolg die Promotion wurde im Juli 1964 mit dem Prädikat summa cum laude abgeschlossen - ermutigte ihn, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Die Begegnung mit Prudentius und überhaupt mit der altchristlichen Literatur hat keine emotionale Wende bewirkt, jedenfalls nicht in erkennbarer Weise. Die Psychomachie war für Herzog ein intellektuelles Erlebnis; sie weckte seine spezifische Begabung, seinen Spürsinn für verborgene Zusammenhänge, seine Fähigkeit, zu kombinieren und ganze Netze von Beziehungen bloßzulegen. Er las sich in kurzer Zeit tief in die Bibel und deren spätantike Exegese hinein; er vermochte die leisesten Anspielungen auf Schriftworte ausfindig zu machen und blieb doch in Distanz zu den Inhalten. Die Faszination, welche von dem allegorischen Beziehungsdenken der christlichen Spätantike auf ihn ausging, war und blieb im wesentlichen von formaler Art: das Zwischenreich von Bildlichkeit und Abstraktion, das ihm hier begegnete, setzte, wie seine späteren Schriften zeigen, frei, was er in verknüpfendem Denken zu leisten imstande war. Die Dissertation befaßt sich vornehmlich mit drei Werken des Prudentius: mit den Gedichtsammlungen Peristephanon und Cathemerinon sowie mit dem allegorischen Epos Psychomachie. Sie sucht die scheinbar disparate Vielfalt dieser Dichtungen als in sich stimmiges, einheitliches Gefüge zu erweisen. Das diese Einheit stiftende Moment ist nach Herzog die christliche Heilslehre; das Vehikel wiederum, das die Fülle der Bilder und Sinnbilder auf diese Einheit hin deutbar macht, ist die christliche, die der patristischen Bibelexegese entstammende Allegorese. Herzogs Arbeit fand nicht nur hierzulande, sondern auch in Frankreich anerkennende Resonanz; die Kritik monierte zwar, daß die pagane Tradition zu kurz gekommen sei, machte sich jedoch die Hauptthese des Autors zu eigen und lobte vor allem die differenzierende Betrachtung der allegorischen Technik in den Märtyrerhymnen und in der Sammlung Cathemerinon. Der Dreiundzwanzigjährige setzte seine Studien noch eine Zeitlang fort, hauptsächlich in den Rechtswissenschaften, zunächst in Kiel, dann an der Sorbonne. Im Herbst 1966 wurde ihm an der soeben gegründeten Universität Konstanz eine Assistentenstelle angeboten. Er akzeptierte und bekam ein Jahr Urlaub, sich in München, vor allem bei Bischoff, in die Mittellateinische Literatur und in die Handschriftenkunde einzuarbeiten. Es folgten jene idyllischen Jahre an der jungen Universität Konstanz, da das eigentliche Gebäude erst im Entstehen begriffen war und die

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Lehre in pavillonartigen künftigen Studentenhäusern, je eines für jedes Fach, stattfand. Herzog beteiligte sich mit Energie an dem damals besonders experimentierfreudigen, nicht selten interdisziplinären Seminarbetrieb, verlor jedoch darüber die Habilitationsschrift nicht aus den Augen, für die er sich die Bibelepik als ein von der Forschung in ungewöhnlichem Maße vernachlässigtes Kapitel der spätlateinischen Literatur vornahm. Im Herbst 1971 war diese Arbeit im wesentlichen zu dem Stadium gediehen, in dem sie bald darauf an die Öffentlichkeit gelangt ist und das - entgegen der Ankündigung - keine Fortsetzung mehr fand: »Die Bibelepik der lateinischen Spätantike. Formgeschichte einer erbaulichen Gattung. Band 1« (München 1975). Die Schrift über die Bibelepik hat wie die Dissertation das Ziel, einer einst, bis zum Barock, bedeutenden, dann aber im Schatten klassizistisch-humanistischer Dogmen mißachteten und mißdeuteten Dichtungsart zu besserem Verständnis zu verhelfen. Der Untertitel gibt Hinweise auf das Programm: die Ausdrücke >Formgeschichte< und >erbaulich< deuten einerseits auf die theologischen Vorbilder der Untersuchung, andererseits auf die religiösen Antriebe, die den untersuchten Gegenstand hervorbrachten. Herzog hat mit diesem Buch ein Musterbeispiel angewandter Rezeptionstheorie geschaffen. Statt mit vorgegebenen ästhetischen Normen an die Paraphrasen biblischer Stoffe heranzutreten, sucht er deren Beschaffenheit aus den jeweiligen Bedürfnissen und Wünschen des Publikums abzuleiten. Eine lange Einführung überblickt das Ganze der spätlateinischen Bibelepik von Juvencus bis Dracontius, vom 4. bis zum 6. Jahrhundert; hier sind mit Umsicht und Scharfsinn die äußeren Indizien für die Rezeptionsgeschichte zusammengestellt: Literaturkataloge, Selbstaussagen der Dichter sowie vor allem die Befunde der handschriftlichen Überlieferung lassen erkennen, nach welchen Kriterien sich die Gattung konstituierte und ein Kanon maßgeblicher Werke entstand. Die eigentliche Darstellung widmet sich sodann den Bibeldichtungen selbst, mit dem Ziel, die dort vorausgesetzten Lesererwartungen zu ermitteln. Herzog zeigt, daß die Epen teils stoffliche, teils formale, ästhetische Bedürfnisse zu befriedigen suchten: dem Publikum sollte einerseits zu einem leichteren Verständnis von Bibeltext und dessen Exegese, andererseits aber auch zur Erbauung, zur Andacht und in späterer Zeit noch zum Genuß einer effektvollen Präsentation verholfen werden. Diese Darlegungen beschränken sich allerdings im wesentlichen auf die Anfänge der Gattungsgeschichte, auf den Cento der Proba und auf die Paraphrasen des Juvencus und des Heptateuchdichters.

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Die Arbeit über die Bibelepik erzielte breiten, fast ausnahmslos zustimmenden Widerhall. Unmittelbar nach der Habilitation wurde dem gerade Dreißigjährigen an der Universität Bielefeld ein neu eingerichteter Lehrstuhl für Latinistik anvertraut; dort hat er nahezu zwei Jahrzehnte, bis zu seiner Berufung nach Konstanz im Herbst 1990, gewirkt. Nach der »Bibelepik« hat Herzog keine Monographie mehr veröffentlicht. Die ihm gemäße Darstellungsform war offensichtlich der breit angelegte Problemaufsatz; die Zahl der von ihm in dichter Folge verfaßten Studien dieser Art beläuft sich auf etwa zwei Dutzend. Der Problemaufsatz erlaubte Flexibilität und häufigen Wechsel der Gegenstandsbereiche: zu Herzogs besonderen Fähigkeiten zählte auch die Gabe, in kurzer Zeit auf neuem Terrain einen eigenen Standort zu gewinnen, und so wurde die Vielfalt der Themen, die Verschiedenheit der jeweils befragten Quellen und der jeweils benutzten wissenschaftlichen Literatur zu einem auffälligen Merkmal seiner Produktion. Die rastlose Expansion war offensichtlich von einem staunenswerten Lektürepensum begleitet: der in chronologischer Folge von Aufsatz zu Aufsatz fortschreitende Leser trifft immer wieder auf gänzlich neue Corpora von Primär- und Sekundärtexten, von teils naheliegenden, teils unerwartbaren Zitaten und Hinweisen. Vielseitigkeit und die Fähigkeit, in überaus verschiedenen Bereichen der geistigen Überlieferung Quartier zu nehmen, qualifizieren für interdisziplinäre Vorhaben. Es ist daher nicht verwunderlich, daß ein gut Teil der Abhandlungen Herzogs durch fächerübergreifende Kolloquien und ähnliche thematisch gebundene Veranstaltungen angeregt wurde. Eine beherrschende Rolle hat hierbei die Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik« gespielt. Diese Vereinigung von Geistesgelehrten (mit wechselndem Personal um einen festen Kern) hat im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts insgesamt sechzehn Kolloquien durchgeführt, die jeweils ein Generalthema aus der Sicht verschiedener Epochen und Disziplinen zu erfassen suchten; aus jedem Kolloquium ging ein umfänglicher Band mit Abhandlungen hervor. Vor allem in den achtziger Jahren hat sich Herzog nahezu regelmäßig an den Tagungen der Gruppe beteiligt. Bei zwei Bänden wirkte er als Herausgeber mit (bei Band 12: »Epochenschwelle und Epochenbewußtsein«, München 1987, mit Reinhart Koselleck, und bei Band 15: »Memoria. Vergessen und Erinnern«, München 1993, neben Anselm Haverkamp und Renate Lachmann), und für insgesamt sechs Bände hat er Beiträge verfaßt. Die Hälfte der Untersuchungen, die hier gebündelt präsentiert werden, ist im Zusammenhang mit Projekten von »Poetik und Hermeneutik« entstanden: Der zweite XIV

und dritte Aufsatz, »Aeneas' episches Vergessen« (1993) und »Fest, Terror und Tod in Petrons Satyrica« (1989), sowie das 4., 8., 9. und 12. Stück entstammen den Arbeitsberichten der genannten Gruppe. Im letzten Dezennium seines Lebens hat Herzog viel Zeit und Mühe auf ein Großunternehmen gewandt: auf eine zeitgemäße Erneuerung der römischen Literaturgeschichte von Schanz-Hosius-Krüger. Beabsichtigt ist ein achtbändiges Kompendium, dessen Gesamtherausgeberschaft Herzog und Peter Lebrecht Schmidt übernommen hatten. Die ersten vier Bände sollen die römische Literatur (von den Anfängen bis zur Mitte des 3. Jh. n.Chr.) behandeln; die Bände 5-8 sind der lateinischen Literatur der Spätantike vorbehalten. Die zweite Werkhälfte ist als Produkt französisch-deutscher Zusammenarbeit konzipiert: Gelehrte aus beiden Ländern wirken als Autoren mit, und die fertigen Bände sollen in beiden Sprachen veröffentlicht werden. Herzog war die Haupttriebkraft des Unternehmens; zumal ihm oblag die nicht leichte Aufgabe, Bandherausgeber und Autoren zu gewinnen, und seiner Geduld, seinem Verhandlungsgeschick gelang es, mancherlei innere und äußere Widerstände zu überwinden. Im Jahr 1989 erschien als erste Probe Band 5, mit den Anfängen der spätantiken Literatur: »Restauration und Erneuerung. 284-374 n.Chr.«, von Herzog selbst herausgegeben und mit einer weit ausholenden Einführung versehen. Der Band wurde von der Kritik alsbald mit großem Beifall aufgenommen: als ein Arbeitsinstrument, das in jeder Hinsicht würdig sei, die Stelle des veralteten Vorgängers einzunehmen. Im Jahre 1997 folgte Band 4: »Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur. 117284 n.Chr.«; die Herstellung weiterer Bände ist inzwischen weit gediehen. Im Frühjahr 1994 ist Herzog freiwillig aus dem Leben geschieden. Nichts hatte das Ereignis angekündigt. Bis zuletzt zeigte sich Herzog ausgeglichen und gelassen; auch wer ihn sehr gut kannte, ahnte nichts von der Krise, die ihn heimgesucht haben muß, und von der Absicht, mit der er sich schließlich trug. Der vorzeitige Tod des Zweiundfünfzigjährigen ist auch jetzt noch für alle, die ihm nahe standen, ein schwer faßbares Ereignis - hieran hat auch die Distanz von sieben Jahren wenig geändert. Der Universität Konstanz und der Wissenschaft hat er durch den Vollzug, der ihn mitten aus einer Fülle von Aufgaben und Plänen riß, einen schweren Verlust zugefügt. Seinem Werk haftet, gerade weil es in weite Zeiträume ausgreift und mannigfachen Quellgründen geistiger Zusammenhänge nachgeht, etwas Unabgeschlossenes an: zu einer die Vielfalt bändigenden Selbstreflexion, zu Versuchen, den eigenen, offensichtlich XV

außerhalb von überlieferten Größen wie Kirche oder Humanismus liegenden Standort zu bestimmen» ist es nicht gekommen. Am ehesten könnte man wohl seine Haltung als szientistisch bezeichnen, als eine moderner Wissenschaftlichkeit verpflichtete, zu Distanz und Abstraktion neigende Einstellung. Der Forschung hat er vielfältige Impulse gegeben, vor allem auf dem Gebiet der Spätantike, die bei aller Zurückhaltung doch so etwas wie seine geistige Heimat gewesen ist - eine Gegebenheit, die auch für das Verständnis der vorliegenden Sammlung von Bedeutung ist: die Auswahl, die etwa die Hälfte der von Herzog hinterlassenen Aufsätze enthält, besteht im wesentlichen aus seinen Untersuchungen zur christlichen Spätantike. Dem Herausgeber der Sammlung gebührt nicht geringer Dank dafür, daß er die Mühe und das Wagnis auf sich genommen hat, diesen herausragenden Teil von Herzogs Aufsätzen für einen breiteren Leserkreis zu erschließen. Es bleibt zu hoffen, daß den bisweilen schwierigen, zugleich aber stets bedeutsamen Arbeiten hierdurch zu stärkerer Resonanz verholfen wird. Die folgende Wegweisung zu den in diesem Bande vereinigten Schriften möge ihr Teil dazu beitragen.

n 1. Die beiden ersten Aufsätze handeln von Zeitstrukturen bei Horaz und Vergil; es geht dort einerseits um bestimmte Verwendungsweisen der grammatischen Tempora, andererseits um die zwiefache memoria des Titelhelden in der Aeneis. Die Horaz-Studie, »Augusteische Erfüllung zwischen Vergangenheit und Zukunft«, benutzt die Schwierigkeiten der Regulus-Ode (IE 5) als Beispiel für ein wiederkehrendes temporales Schema der politischen Gedichte: Das Präsens wird ausgespart; Futura und Präterita beherrschen den Text. Horaz hat dieses Schema schrittweise entwickelt: Die Oden HI 5 und HI 6 zeigen die reife Form. Dort stehen einer positiven Zukunft zwei Schichten der Vergangenheit gegenüber: eine jüngst vergangene schlechte und eine weiter zurückliegende gute Phase. Herzog hat mit dieser Entdeckung einen wichtigen Beitrag zur politischen Einstellung des Dichters geleistet. Das ausgesparte Präsens läßt auf Zurückhaltung hinsichtlich der Gegenwart schließen. Im übrigen aber deutet sich ein Drei-Phasen-Schema der römischen Geschichte an: Auf die heile frühere XVI

Zeit folgte eine Epoche des Unheils (der Bürgerkriege, des Sittenverfalls); doch bald wird das Heil dank Augustus nach Rom zurückkehren. 2. »Aeneas' episches Vergessen«. Die Aeneis ist zweidimensional: Sie verbindet den griechischen Mythos mit der römischen Geschichte. Herzogs Aufsatz verfolgt im Durchgang durch das Epos, wie sich diese beiden Bereiche im Gedächtnis des Aeneas spiegeln: Erinnerung und Vergessen stehen dort in einem dialektischen Verhältnis zueinander; Erinnerung an die mythische Vergangenheit impliziert Vergessen der römischen Zukunft und vice versa. Die Dido-Episode allerdings zeigt einmalige Offenheit: Die römische Dimension ist dort ebenso abwesend wie die mythische, die trojanische. In der zweiten Werkhälfte spielt die Wechselbeziehung von Erinnern und Vergessen keine Rolle mehr - Aeneas geht auf in der Erfüllung seiner Mission. Herzogs zupackende Analyse läßt die vielbeklagte Gefühlskälte des Helden in einem weniger ungünstigen Licht erscheinen. Sie provoziert aber auch die Frage, wie es kommt, daß Vergil dem Schwanken seiner Figur die Form einer bald rückwärts, bald vorwärts gerichteten memoria gegeben, warum er nicht die >Erinnerung< an die Zukunft als Glauben oder Zweifel daran geschildert hat. 3. Der Beitrag »Fest, Terror und Tod in Petrons Salyrica« besteht aus analysierenden Abschnitten und einem Versuch, die Ergebnisse der Analyse zu den Kategorien des Imaginären, Fiktionalen und Realen in Beziehung zu setzen. Petrons Cena Trimalchionis changiert ständig zwischen Tod und Leben; sie ist ein kunstvoll arrangiertes Fest ohne Ende, ein Fest, das zwanghafte Elemente enthält. Um dieser Merkmale willen läßt sie sich mit den >realen< Festen despotischer Kaiser, eines Caligula, Nero usw., vergleichen; dort wurden nicht selten ausgesuchte Grausamkeiten als Belustigungen der Teilnehmer in das Programm einbezogen. Herzog deutet diese Affinität von Literatur und Leben als Öffnung der literarischen Fiktion zur Realität - Nero feiert den von ihm gelegten Brand Roms mit dem Vortrag einer »Troiae Halosis«. 4. Mit der Abhandlung, die die programmatische Trias »Metapher - Exegese - Mythos« im Titel führt, wendet sich die Sammlung dem Hauptschauplatz der Forschungen Herzogs zu, der Spätantike. Eine Partie in Dantes Purgatorio parallelisiert mythische und biblische Gestalten: Herzog rekonstruiert, wie es zu dieser wechselseitigen Durchdringung von Antike und Christentum gekommen war, zur Theologisierung des My-

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thos und zur Rhetorisierung der Bibel. Für den erstgenannten Vorgang enthält der Protreptikos des Clemens von Alexandrien das Paradebeispiel: Der zur Metapher depotenzierte Mythos dient dort wie das Alte Testament als Repertoire für christliche Typologien. Der zweite Vorgang läßt sich vor allem in der christlichen Panegyrik dingfest machen: Wie zwei Totenreden auf Basilios (von Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa) zeigen, nehmen darin biblische Figuren die Stelle ein, die im heidnischen Enkomion den Heroen des Mythos zugekommen war; sie fungieren als Exempel, die der Gepriesene überboten hat. 5. Der schon durch den Titel als Seitenstück zum vorigen Beitrag erkennbare Essay »Exegese - Erbauung - delectatio« gilt ebenfalls der Verschmelzung von Literatur und Bibel, sowohl in der Praxis, im lateinischen Bibelepos, als auch in der theoretischen Reflexion. Zumal wegen des zweiten Aspekts ist die kleine Abhandlung von Gewicht: Sie beginnt mit einem Fulgentius-Zitat, das eine perfekte Durchmischung von Kategorien der antiken Poetik und der Bibel-Hermeneutik vor Augen führt, und endet mit einem überraschenden Fund bei Johannes Chrysostomos: Dessen Schrift De inani gloria (irspx K€vo5o#as, »Über Hoffart und Kindererziehung«) macht sich die aristotelische Katharsis (mitsamt 96^05 und SAeos) für eine christliche Poetik zunutze, die die Erbauung fugenlos mit der delectatio verbindet. 6. Die Studie »Rom und Altes Testament« rückt die Partie Vers 409ff. der Hamartigenia des Prudenz in den Mittelpunkt. Die Interpretation geht scharfsinnig den einander überlagernden Bedeutungsebenen des Textes nach. Feinde Roms erscheinen als Belagerer >Jerusalems< (496f.); Anspielungen auf Vergil und Horaz machen Troja, den Ursprung Roms, zur Parallele von Babylon und Jericho (455ff., 480f.), und der tyrannus am Ende des Abschnitts (500) wird als gegenwärtiger Bedroher Roms gedeutet. Von der Wane dieser differenzierten Romtheologie aus wirft Herzog einen Blick auf das Gesamtwerk des Prudenz, das er - in Anknüpfung an eine Abhandlung Walther Ludwigs - als innere Einheit, als planmäßig entfaltete Abfolge spiritueller Dimensionen verstanden wissen möchte. 7. Die Abhandlung »Probleme der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität« zielt auf eine neue Bestimmung des Verhältnisses der beiden im Thema genannten Literaturen. Die herkömmlichen Kategorien wie >Er-

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satzKontrastheidnische Form - christlicher Inhalts >VerschmelzungRhetorisierung< usw. scheinen zu kurz zu greifen: Sie beschreiben nicht genau genug, wie allerorten biblische Motive und deren Exegese auf die Darstellungs- und Kompositionsweise Einfluß nehmen. Mit Hilfe dreier Gedichte des Paulinus von Nola (carm. 25, 17 und 26) erläutert Herzog seine Auffassung vom Wesen der christlichen als »exegetischer« Poesie: Diese strebt nach Spiritualisierung, wobei sie sich sowohl die christliche Typologie als auch das rhetorische Exempel zu eigen macht. Mit der Feststellung, daß Paulinus die biblischen figurae nicht nur im Sinne des konventionellen Bibelverständnisses auf Christus, sondern - in frei gewählter Transposition - auch auf zeitgenössische Personen bezieht, knüpft Herzog an seinen Beitrag »Metapher - Exegese - Mythos« an: Dort hatte er dasselbe Phänomen in zwei griechischen Totenreden auf Basilios nachgewiesen. 8. Er ruft »non in sua voce«, »nicht mehr in seiner Sprache«, sondern in der Gottes, der biblischen »der Wasserfälle«: so Augustin im 13. Buch der Confessiones von Paulus, und so Herzog von Augustin, dessen Absicht, mit Gott ein Gespräch zu führen, mit den biblischen Texten am Ende des Werkes ihr Ziel erreiche. Denn dies ist die Hauptthese des großangelegten Deutungsversuchs: der >autobiographische< Bericht der Bücher 1-9 ziele auf nichts anderes als auf die »allmähliche Konstituierung eines Gesprächs«; das Gespräch selber beginne erst mit der Genesis-Exegese der letzten Bücher. Ein Vorteil dieser Annahme leuchtet unmittelbar ein: Die Kluft zwischen den beiden Werkteilen, der >Autobiographie< und der Auslegung der Genesis, verringert sich, ja wird zum Verschwinden gebracht. August in begreift im Lebensbericht Gottes Handeln an seiner Person: Die dieses Begreifen vollziehende Bezeugung von Gottes Providenz wird von Herzog als »hermeneutischer Dialog« bezeichnet - insofern zu Recht (obwohl das eigentliche Gespräch erst danach einsetzt), als aus Gottes Annäherung an Augustin und dessen im Rückblick sich konstituierender Einsicht eine Interaktion resultiert. Die Abhandlung beschreibt den Weg zum zunächst unmöglich scheinenden Gespräch als Rollentausch, als Wechsel der ursprünglichen Sprecherpositionen: Gott wendet sich schließlich in natürlicher Rede an Augustin (8,12,29: »tolle, lege«), und Augustin kleidet seine Worte in die der biblischen Offenbarung. Der Lebensbericht endet mit der Bekehrung und dem Tode der Mutter. Herzogs Deutung hält hierfür zwei einander bestätigende Gründe beXDC

reit. Die verstehende Sinnstiftung Augustins hat mit den genannten Ereignissen ihr Ziel erreicht; es gibt jetzt keine zeitliche Diskrepanz zwischen Gottes Fürsorge und Augustins Einsicht mehr - der Stoff für die Erzählung ist verbraucht. Dies gilt nun aber auch mit Rücksicht auf den zweiten Adressaten des Werkes, den menschlichen Leser, den Mitchristen. Er soll, wie es in Anlehnung an konventionelle ästhetische Kategorien zu Beginn des 10. Buches heißt, durch Augustins Beispiel ermutigt werden und sich daran erfreuen, daß Gott ihm zur Überwindung seiner Irrtümer verholfen hat. Herzog schließt mit der Feststellung, daß der Besonderheit der Confessiones mit den hermeneutischen Theorien Ricoeurs oder Gadamers nicht beizukommen ist. Augustin zielt nicht wie diese auf die Auslegung fertiger Texte, sondern auf die seines Lebens vor der Konversion, als auf die eines >Textesverbraucht< ist), verhält es sich in den Confessiones umgekehrt: Der ausgelegte >TextFortschritt< erscheint hierbei das angebliche Verebben der Übel, bis hin zur nahezu erreichten Ereignislosigkeit. Herzog beschreibt die Phase um Phase wechselnden Mittel, mit deren Hilfe Orosius den historischen Fakten diese >Entwicklung< abXX

trotzt. Sie laufen - grob vereinfacht - darauf hinaus, daß die Vergangenheit nach Art der Invektive zum Schlechteren, die Gegenwart jedoch nach An der Panegyrik zum Besseren hin umgeformt wird. 11. Der Vortrag »Wir leben in der Spätantike« macht zur Hauptsache, was in allen Detailuntersuchungen Herzogs als begleitende Stimme gegenwärtig ist: die Reflexion über die - vor- und innerwissenschaftlichen Voraussetzungen der Befassung mit historischen Objekten. Hierbei steht ein Rahmenbegriff par excellence zur Debatte, die Epochenbezeichnung >SpätantikeSpätantike< aus; es folgt die Reihe der weiteren Disziplinen, die sich früher oder später des bis dahin durch klassizistische oder sonstige Dogmen verdunkelten Zeitalters anzunehmen begannen - bis schließlich, nach der Mitte des 20. Jahrhunderts, auch die Altphilologie das fruchtbare Terrain allgemein als lohnenden Forschungsgegenstand anerkannte. 12. Die Abhandlung »Vom Aufhören« begibt sich, ausgehend von Kants Schrift Das Ende aller Dinge, im Krebsgang zur christlichen Eschatologie, zu Ovids Metamorphosen und schließlich zum lydischen Logos Herodots. Die kritische Rezeption christlicher Denkformen, die bei Kant begegnet, wird als »Schutz vor der Geschichtsphilosophie«, also als Ausweichen vor dem Glauben an ein innerweltliches Telos, gedeutet. Sie ist sodann Sprungbrett für eine Analyse christlicher Endzeitvorstellungen; hierbei dient Augustins Lehre als Fluchtpunkt. Die Schwierigkeiten, die das Dogma von der Dauer nach dem Tode, der Auferstehung und dem Jüngsten Gericht mit sich bringt, werden detailliert geschildert; Herzog erblickt in dem Lösungsversuch Augustins, »figura praeterit, non naXXI

tura« (»die Gestalt vergeht, nicht das Wesen«), d.h. in der Annahme, daß sich die Auferstehung nicht ohne eine Verwandlung vollziehe, ein Element der Remythisierung. Hiermit hat er die Brücke zu Ovid geschlagen: Schon die Geschichte des Lycaon ist nach der Formel konstruiert, die Augustin für die christliche Lehre vom ewigen Leben gefunden hat. Herzog möchte in diesem Beispiel geradezu das Baugesetz der Metamorphosen erblickt wissen: Ovids Mythen seien ästhetische Vergegenwärtigungen des fortdauernden Endes (wobei nicht verschwiegen wird, daß der unmittelbar nach der Verwandlung von Hunden zerrissene Aaaeon nicht in dieses Schema paßt). Die Herodot-Erzählung von Kroisos und Solon hat die Funktion eines Kontrastes: Sie beruht auf dem Axiom des Endes ohne Dauer. Mit einer kurzen Erörterung der Etymologie des deutschen Wortes >aufhören< schließt die ungewöhnliche Abhandlung - Herzogs cycnea voxy die man zurückblickend kaum anders lesen kann denn als Abschied.

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Bibliographie Reinhart Herzog (mit einem Asteriskos markierte Artikel sind in diesem Band aufgenommen)

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XXIÜ

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1997 Handbuch der lateinischen Literatur der Antike. Hrsg. von R. Herzog (t) und P. L. Schmidt. Bd. 4: Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur. 117 bis 284 n.Chr. Hrsg. von Klaus Sallmann (Handbuch der Altertumswissenschaft 8,4), München 1997. XXXII, 651 S. [Französ. Ausg.: Vcige de transition. De la littirature romaine a la littirature chritienne, de 117 ä 284 apres/.-G, Turnhout 2000] Darin von R. Herzog: $ 497 (S. 626-628): XVI. Christliche Dichtung. Einleitung.

in Vorbereitung Handbuch der lateinischen Literatur der Antike. Hrsg. von R. Herzog (t) und P. L. Schmidt. Bd. 6: Das Zeitalter des Theodosius. 374 bis 430 n.Chr. Hrsg.

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von Jacques Fontaine (Handbuch der Altertumswissenschaft 8,6), München: C. H. Beck. Darin von R. Herzog: $ 625: Antonius, Carmen ad quendam senatorem; $ 626.1: Severus Sanctus idem Endelechius, De mortibus boum; $ 626.2: Paulinus, Epigramma; § 627: Meropius Pontius Paulinus (von Nola): Biographie. Briefdichtung. Dichtung; § 628.1: De obitu Baebiani (Paul. Nol. carm. 33).

* * *

Die Konstanzer Antrittsvorlesung vom 29. Juni 1992 zu Ovid, >Narziß und Echo. Zur Ästhetik der IllusionBedingung< in der Partizipialkonstruktion (v. 3f.) überzeugend W. Wimmel, in: Glotta 40, 1962, S. 132, und E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 31.3, Berlin 1981, S. 1958. 5 Richtige Interpretation des »praesens divus« bei H. Haffter, in: Philologus 93, 1938, S. 96ff. 2

AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG

zennien der Horazphilologie nicht ganz zeitgemäß. Sie [316] erinnern an jenen verpönten >NaturalismusNaturalismus< abschließend V. Pöschl, Horazische Lyrik, Heidelberg 1970, S.U. 7 E. Fraenkel [Anm. 2], S. 31 - also ein Manifest der Werkimmanenz, dem sich aufs beste die humanistische Hochschätzung des Klassikers einfügte und dann zuweilen bemerkenswerte hermeneutische Bindungen verfocht. Beispiel: Das nicht Verständliche ist horazischer Humor (vgl. bereits die treffenden Bemerkungen R. Reitzensteins, Aufsätze zu Horaz, Darmstadt 1963 [zuerst 1921], S. 55). Oden »Horaz ist so lange nicht verstanden ..., solange etwas menschlich Schiefes herauskommt«; der »Adel seiner Menschlichkeit muß höchstes philologisches Kriterium sein« (K. Büchner, Studien zur römischen Literatur 3: Horaz, Wiesbaden 1962, S. 171). Das Postulat Werkimmanenz konnte ferner anschließen an die alte Tradition der Horaz-Apologetik und ihr Argument des >ästhetischem (gegenüber dem >unsittlichem sowie dem >adulatorischeninneren Form< ein Zeugnis des nachhistoristischen Interpretationsstils humanistischer Inständigkeit. Daß manchem unbehaglich wird, wenn hier »die eigentliche Durchschlagskraft den Dingen ihr Gesicht gibt« (K. Büchner, Römische Literaturgeschichte, Stuttgart 1957, S. 262), steht auf einem anderen Blatt. 17 H. Haffter [Anm. 5], S. 144 und 152. Ähnlich L. Amundsen, Die Römeroden des Horaz (1942), in: Wege zu Horaz, hrsg. von H. Oppermann (Wege der Forschung 99), Darmstadt 1972, S. 136f. 18 [Anm. 2], S. 322f. 19 [Anm. 4], Bd. 2, S. 75 und 79. Der Rekurs auf >Pindarisches< dient zur Eliminierung von Verständnisschwierigkeiten wie die Berufung auf gleitende Gedankenführung. Hier hätte indes der Detailvergleich, wie er intensiv seit Theiler angestellt wurde (W. Theiler, Das Musengedicht des Horaz (1935), in: ders., Untersuchungen zur antiken Literatur, Berlin 1970, S. 394ff.; hierzu die wichtige Rezension von F. Klingner, in: Gnomon 13, 1937, S. 36ff.), für die Römeroden ausführlich von H. Kempter (Die römische Geschichte bei Horaz, München 1938, S. 103ff.), erweisen können, daß gerade der Übergang von v. 13 sich aus pindarischer Tradition nicht vollständig erklären läßt. - Für die Wertung der Ode ergibt die Rückführung auf pindarische Form die auch sonst bekannte Beliebigkeit: hie >Meisterwerk< (so der Odenkommentar A. Arnaldis, Mailand 51959), dort Frostigkeit< (so E. Castorina, La poesia d'Orazio, Rom 1965, S. 279ff.). 20 Zu gleicher Zeit mit ähnlichem Ergebnis: A. Teuber, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 139, 1889, S. 417ff. 21 Th. Mommsen, Reden und Aufsätze, Berlin 1905 (1889), S. 168ff. 5

A UGUSTEISCHE ERFÜLLUNG Teile der ersten Gedichthälfte aufeinander zu komponiert: Die Überblendung der Cannae- und Regulustradition soll zwar einer bestehenden und damit hinter dem Text von Strophe 2/3 zu statuierenden Tendenz zum Gefangenenloskauf begegnen, vor allem aber einen starken, ebenfalls impliziten Kontrast zum Expansionsprogramm der ersten Strophe setzen. Dieser Lösungsversuch ist dadurch bemerkenswert, daß seine historische Deutung variabel ist: Dem verhüllten >opinion-leader< Horaz trat alsbald (bei gleicher Struktur der Interpretation) Horaz als mehr oder weniger offener Kritiker der zögernden Ostpolitik des princeps gegenüber.22 Trotz des anhaltenden Widerspruchs seitens der Philologen ist noch nach Heinze eine - wie auch immer geartete - aktuelle Tendenz der Ode akzeptiert worden;23 und noch die letzten althistorischen Arbeiten zum Prinzipat des Augustus und seiner Partherpolitik weisen zwar vorsichtig auf die philologischen Interpretationen seit Haffter hin, verzichten aber nicht auf c. HI 5 als >Quelle< aktueller Politik.24 Die dritte Frage ist merkwürdigerweise bisher nicht gestellt worden; sie fordert aber bei jeder Übersetzung von v. 13 implizit eine Antwort. Hier ist bisher keine befriedigende Lösung ohne Färbungen oder gar Umbiegungen des Wortlauts gelungen, a) Das naheliegendste Verständnis wäre: »Für einen solchen Fall hatte Regulus, vorausschauenden Sinns, Vorsorge getroffen.« Dann aber geht die Verhinderung eines exemplum, das - ausdrücklich - die »perniciem veniens in aevum« (v. 16) nach sich ziehen würde, ins Leere; b) »had foreseen« (Williams, ad loc): offenbar das Desaster von Carrhae - wiederum stimmt die erfolgreiche Verhinderung eines exemplum nicht (zudem wird [320] »mens provida« redundant); c) »haue verhüten wollen« (also Plusquamperfekt de conatu)25 - hier wird der 22 So z.B. H. D. Meyer, Die Außenpolitik des Augustus und die augusteische Dichtung, Graz 1961, und R. Saeger [Anm. 3]. Anders z.B. G. De Plinval, Horace et le son des prisonniers d'Orient, in: Melanges de philologie, de litterature et d'histoire anciennes, offerts i J. Marouzeau (...), Paris 1948, S. 491ff. (Horaz als Sprachrohr der Politik des Augustus, auch ihrer Wandlungen); ähnlich A. Oltramare, in: Revue des £tudes Latines 16,1938, S. 121 ff. 23 So neben Heinze auch G. Pasquali (Orazio lirico, Florenz 1920, S. 701 f.) und G. Williams (Tradition [Anm. 41 S. 441f.). 24 Vgl. D. Kienast, Augustus, Darmstadt 1982, S. 283, und D. Timpe, Zur augusteischen Partherpolitik zwischen 30 und 20 v.Chr., in: Würzhurger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N.F. 1,1975, S. 167. 25 So z.B. H. Th. Plüß [Anm. 121 S. 249; H. Haffter [Anm. 51 S. 152; der Oden- und Epodenkommentar von K. Nürnberger, Münster 1972, ad loc; D. Gall, Die Bilder der horazischen Lyrik, Königstein/Ts. 1981, S. 79; H. P. Syndikus [Anm. 4], Bd. 2, S. 80: »dem hätte [!] Regulus vorbeugen wollen«. 6

AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG Widerspruch zwischen zweitem und drittem Gedichtteil wenigstens berührt;26 er bleibt allerdings bestehen. Man mag, nicht ohne Resignation, in diesem Spektrum das auf ein eng umschriebenes Problem verkleinerte, aber getreue Abbild der divergierenden, in ihrer Divergenz seit langem konstanten Auffassungen von der politischen Lyrik des Horaz erkennen, wie sie zuletzt Doblhofer zusammen mit ihrer Forschungsgeschichte vorgeführt hat.27 Ein erneuter Lösungsvorschlag erscheint bei dieser Sachlage kaum möglich. Aber vielleicht scheinen die Wege nur ausgeschritten zu sein, weil die genannten Methoden des Horazverständnisses nicht zureichen; vielleicht muß der Philologe sich dann nicht vom Historiker trennen, wenn er sein Geschäft an bescheidene Beobachtungen knüpft, Beobachtungen so unscheinbarer, äußerlicher Art, daß sie bisher nicht systematisch verfolgt wurden. Es fällt ja auf, daß in den drei genannten Teilen der Regulusode das Verhältnis der Tempora eine Rolle spielt - und daß das Präsens geradezu >fehltanstehende< (schlechte) Vergangenheit der Strophe 2/3 (Ha), sowie schließlich die abgeschlossene (Signal: »caverat«, v. 13) Vergangenheit [321] (ü). Wer sich auf diese Beobachtung einläßt, wird alsbald merken, daß (1) eine vergleichbare Zeitstruktur in den meisten politischen Oden anzutreffen ist, (2) daß sich diese Zeitstruktur entwickelt, und zwar von der direkten präsentischen Darstellung fortentwickelt und erst im Spätwerk zu ihr zurückkehrt, (3) daß diese Entfaltung der Zeitstruktur eine formgeschichtliche Chronologie erlaubt und (4) daß das Element, aus dem diese Reihe entwickelt wird, inhaltlich identisch bleibt (Bürgerkrieg und Partherbedrohung). Dieser Befund nötigt dazu, die Reihe zunächst einmal nachzuzeichnen, 26 Am deutlichsten bei Heinze [Anm. 13], ad loc: »haue vorbeugen wollen, indem er das exemplum für die Zukunft verhinderte - freilich vergebens.« 17 In: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1922ff. Doblhofer eröffnet den Überblick mit der Bemerkung, es scheine »an den dichterischen Äußerungen des Horaz selbst zu liegen, daß sein Verhältnis zu Augustus von jeher Raum für weit auseinandergehende Deutungen bot« (S. 1923). 28 Und in dieses >Fehlen< stieß gerade die Tendenzdeutung Mommsens [Anm. 21] hinein. 7

AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG und zwar - dies ist zu beachten - nur unter dem partiellen Aspekt der Zeitstruktur, das heißt ohne Hinblick auf eine sonst akzeptierte Chronologie, ohne Hinblick auf die Deutimgskontroversen zu den einzelnen Gedichten, freilich auch ohne den Anspruch auf eine Deutimg der einzelnen Oden.

n Nur in zwei politischen Gedichten spricht Horaz durchgehend im Präsens: in der gestischen Erregtheit der jambischen Szene in epod. 7 und in der Ruhe der panegyrischen Bildfolge in c. IV 5. In beiden ist, wie in c. HI 5, von der lebensbedrohenden oder endgültig bewältigten Parthergefahr die Rede; der Kontrast der Regulusode zwischen Punier- und Partherkrieg bildet sogar den Kern der Epode.29 Aber man kann das frühe Präsens nicht allein dem bekannten Gattungsgesetz30 der horazischen Jambik, der erregten, sprachlich prägnanten und kühnen metaphorischen Dramatik,31 zurechnen. Denn es ist überzeitlich; es wird durch die fortdauernde Gegenwärtigkeit des Brudermord-Fluchs (epod. 7,17-20) gestiftet. Trotz der Nachweise von Vorläufern dieses >GeschichtsmythosWiederholung< des Fluchs, gar von typologischem Denken35 sprechen; es handelt sich, jenseits der gewählten Situation des Jambus, beim negativen Präsens der 7. Epode um das Aussprechen des hier und immer gültigen Gesamtsinnes der römischen Geschichte, die aber noch nicht entfaltet wird. Die eine, präsentische Zeitdimension der 7. Epode drückt die Verzweiflung vor der Vernichtimg durch die eigene Geschichte aus. Diese Zeitdimension wird in epod. 16 entfaltet.36 Die vernichtende Gegenwart der Bürgerkriege schrumpft zum Einsatz v. lf. und wird von der dramatischen Fiktion der Volksversammlung in der Gedichtmitte stark abgerückt: dazwischen schiebt sich die erste [323] temporale Öffnung der bedrückenden cura in Präteritum (v. 3-8: positive Vergangenheit) und (negatives) Futur37 (v. 9-14) - und damit eine erste Aufzehrung des Präsens.38 Den präsentischen >Rest< von v. lf. suchte Horaz in epod. 16 durch die

34 H. J. Krämer, Die Sage von Romulus und Remus in der lateinischen Literatur, in: Synusia. Festgabe für W. Schadewaldt (... ),hrsg. von H. Flashar, Pfullingen 1965, S. 364. 35 H. J. Kramer, S. 363: »Archetyp«. Es liegt aber nicht ein »Zusammenfallen von Frevel und Sühne« (E. A. Schmidt [Anm. 33], S. 534) vor; diese sind vielmehr noch gar nicht auseinandergetreten (»fata Romanos agunt«), 36 Bei näherem Zusehen kündigt sich diese Entfaltimg schon in epod. 7 an; mit den beiden Gliedern »non ut...« (v. 5ff.) und »sed ut...« (v. 9ff.) werden die siegreichen Punierkriege dem Untergang der Stadt durch die Parther konfrontiert: die positive Vergangenheit der negativen Zukunft. Dies ist bereits die genaue Konstellation der temporalen Entfaltung in epod. 16 (daher verkennt die Isolierung der Aussage auf die >aktuellen< Parther das Gedicht: M. Wissemann, Die Parther in der augusteischen Dichtung, Frankfurt/M. 1982, S. 49, und H. D. Meyer [Anm. 22], S. 33). 37 Diese Verzeitlichung bedeutet noch keine Lösung vom Fluchgedanken: er erfahrt vielmehr durch seine Berührung mit dem kosmischen Modell der 4. Ekloge (in der zweiten Gedichthälfte) eine apokalyptische Zuspitzung schon für das Futur v. 9-14: Rom wird in v. lOf. ja nicht etwa von den >Barbaren< zerstört, sondern zerfällt und verödet durch sich selbst (richtig W. Wimmel, in: Hermes 81, 1953, S. 317ff.; zur Verbindung des futurischen mit dem zweiten Gedichtteil vgl. auch E. Fraenkel [Anm. 2], S. 61 Anm. 3). 38 Es ist bezeichnend, daß die zahlreichen Interpretationen von epod. 16 den Tempuswechsel zum Futur bisher nicht erklärt haben (ein Ansatz bei AbleiringerGrünberger [Anm. 30], S. 27). Aber ihn betont die Gliederung des ersten Gedichtteils: v. 1, 3 und 9 korrespondieren, wie E. Fraenkel ([Anm. 2], S. 66 Anm. 2), H. Kempter ([Anm. 19], S. 18) und schon die genaue Analyse von H. Drexler (in: Studi Italiani di Filologia Classica 12,1935, S. U9ff.) gezeigt haben, syntaktisch und inhaltlich; verfehlt wäre die Gliederung von v. 1-8 als >Einleiumg< (AbleitingerGrünberger, S. 24). 9

AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG Evasion in die vergilisierenden »arva beata«* zu balancieren - in das ebenfalls präsentische Märchen. Diese Gegenwelt kann in der formgeschichtlich nächsten Stufe (sie bezeichnet zugleich den Übergang der politischen Lyrik in die Odendichtung) bei der Bewältigung der Gegenwart die Allegorie ablösen: in c. I 14. Die Ode beginnt zwar mit dem unveränderten >negativen< Futur (»O navis, referent in mare te novi fluctus/«)*0 von epod. 16,9ff. Aber die Ode bringt solche Beschwörung des gegenwärtigen Verderbens erstmals in die paränetische Adressatensituation der äolischen Lyrik (wobei die drängenden Fragen und Aufforderungen v. 2f. und 15ff. stilistisch [324] durchaus noch die jambische Herkunft verraten). Und hierbei wird eine fortgesetzte Eliminierung des direkten präsentischen Sprechens - inhaltlich: eine Umformung des alkäischen Seesturms - erreicht, und zwar mittels der >Einklammerung< der aktuellen Situation durch vorangestelltes, adressatenbezogenes »nonne vides ut«. Diese >Klammer Heinze [Anm. \y\ad loc. und F. Klingner (Q. Horati Flacci Carmina, Leipzig 1939 u.ö.) mit dem Ausrufungszeichen; Fragezeichen: Bendey (Q. Horatius Flaccus. Ex recensione ... Richardi Bentleii, Cambridge 1711 u.ö.) und Nauck (Des Q. Horatius Flaccus sämmtliche Werke, ... erklärt von C. W. Nauck. Bd. 1, Leipzig 1854 u.ö.) ad loc; gründliche Diskussion bei H. Drexler [Anm. 38], S. 152. Die logische Schwierigkeit beim emphatisch konstatierenden Futur entsprang dem (in der politischen Lyrik des Horaz hier erstmaligen) Nebeneinander von Futur und Paränese; inhaltlich widersprechen sich die Tatbestände von v. lf. und v. 4 nicht. 41 Die häufige horazische Junktur »(nonne) vides (vel)ut* hat durchweg diese distanzierende Funktion (man vergleiche vor allem den >Winter< der Soracte-Ode); sie bleibt wie die ähnlich häufige Junktur »finstra, nam« (beim Tempusübergang zum Futur; häufig ein >verfehltes< Präsens eingrenzend) im Zusammenhang zu untersuchen. 42 Vgl. die für Horaz ertragreichen Bemerkungen W. Röslers, Über Deixis und einige Aspekte mündlichen und schriftlichen Stils in antiker Lyrik, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N.F. 9, 1983, S. 7-28.

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AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG Es kann in keinem seiner zahlreichen Details mehr direkt politisch aufgelöst werden,43 stellt im ganzen aber das Gemeinte, Bedrohliche vor Augen und sucht es damit zu bewältigen. Die Umformung des Gegenwartsausdrucks in Evasion und Allegorie wird erst die Verbindimg der horazischen politischen Dichtung mit einer weiteren lyrischen Tradition, der sympotischen Situation,44 hinter sich lassen; sie geschieht noch in einem der spätesten Jamben, epod. 9. Das negative Futur kann sich nun zur erwartungsvoll drängenden futurischen Frage (v. 1-6) wandeln - denn es beschränkt sich jetzt auf die Realisierung des Gelages: freilich als Besiegelimg der politischen Rettung; und der bereits mögliche [325] Verweis auf das schon Erreichte des letzten Sieges Oktavians (v. 7ff. »ut nuper«) konstituiert eine noch drängende,45 angstvolle, 46 aber schon hoffnungsvolle Spannung zwischen möglicherweise besserer Zukunft und bereits gelungener Vergangenheit. Dieses neue, aber noch fragile temporale Gefüge kann nun (ohne daß noch eine präsentische Gegenwelt aufgesucht werden müßte!) die negative Gegenwart, die in epod. 9 zum letzten Mal im direkten Präsens jambischer Empörung erscheint (v. 11-16), umrahmen. Diese bricht freilich hier noch unvermittelt, durch das sympotische Gefüge noch kaum gebändigt, hervor: v. 10/11 und 16/17 stellen schon vor die gleichen Verständnisprobleme wie die Strophen 2/3 der Regulusode.47 Aber sie kann bereits in der Aktiumepode nicht mehr nur allegorisch, sondern temporal >eingeklammert< werden, und zwar mittels des futurischen Rückblicks, einer von Horaz fortan häufig geübten Fügung: »posteri negabitis« (v. 11) kann die Unglaublichkeit des schlechten Gegenwärtigen hervortreten lassen (und damit seine präsentische Darstellung erträglich machen), aber es zugleich in die Distanz rücken. In diesem kunstvollen Gefüge umzingelt und bewältigt, ist das negative Präsens seit c. I 37, der Antwort auf epod. 9, aus der politischen Lyrik des 43 Daher noch die moderne Deutungsvielfalt von politischen Situationen vor Aktium über erotisches Verständnis bis zum Symbol menschlichen Reifwerdens (letzter Forschungsbericht: E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1936ff.). 44 Vgl. E. Fraenkel [Anm. 2], S. 89, und J. Buchmann, Untersuchungen zur Rezeption hellenistischer Epigrammatik in der Lyrik des Horaz, Diss. Konstanz 1974, S. 167f. 45 Vgl. v. 21: »io Triumphe, tu moraris... ?« 46 Vgl.v.37f. 47 Daher bei Heinze [Anm. 13], ad loc, innerhalb dieser Reihe das erste Beispiel der glättenden Periphrase (»die Erinnerung lenkt den Blick ...«).

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AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG Horaz verschwunden. Noch kein positives (panegyrisches) Präsens kann es hier ablösen» aber wenigstens das Symposion ist in der ersten Strophe dieses »Jubelliedes« (Fraenkel) Gegenwart geworden; eine Gegenwart freilich besonderer lyrischer Art: Die Emphase des dreimaligen »nunc« statuiert sie, kontrastiert sie einer nunmehr negativ gewordenen Vergangenheit (v. 5ff. »antehac«) - aber in ihr zittert das Überwundene noch so nach, sie ist so drängend, daß sie sich selbst schon fast wieder versäumt hat:41 Das nahezu überpräzise »tempus erat*49 - zwischen »nunc« und »antehac«\ - [326] legt Zeugnis ab für die komplizierte temporale Entwicklung, an deren Ende es steht,50 Die erste das Präsens aussparende politische Ode, der gewaltige Bau von c. I 2, krönt die Entwicklung des temporalen Darstellungsarsenals. Das geschieht wieder durch die Rezeption einer lyrischen Form, des Päans;51 er erlaubt durch seine mythischen Kompositionen die Integration - und zugleich poetische Nutzung - des noch verbliebenen Aspekts der anhaltenden, zerstörerischen Gegenwart in die politische Dichtung: des Fluchgedankens. Wieder ist im perspektivischen Zentrum, der sechsten Strophe,52 das Leitmotiv des Verderbens benannt: »(audiet) cives aeuisse ferrum / quo graves Persae melius perirent« (v. 21f.). Aber es ist bereits indirekt geworden, ist in der seit der Kleopatraode erreichten Sperrung zwischen Vergangenheit und Futur verschwunden: Die Vergangenheit der Zukunft ist 48 E. Fraenkel [Anm. 2], S. 188f., hat gezeigt, daß diesem Befund der Wechsel zwischen dem Alkaioszitat v. 1 und dem >horazischen< Rest der Strophe entspricht. 49 Da •tempus erat« so zum Indiz des lyrischen Zeitgefühls selbst wird, ist es schwer logisch auflösbar und eröffnet wiederum ein Feld >naturalistisch< nachzurechnender Kontroversen; vgl. Orelli-Baiter [Anm. 40], ad loc; R. Heinze [Anm. 13], ad loc.; G. Pasquali [Anm. 23], S. 46ff.; R. G. M. Nisbet und M. Hubbard, A commentary on Horace. Ödes book I, Oxford 1980, ad loc, sowie H. P. Syndikus [Anm. 4], Bd. 1, S. 333. Sorgsame und wohl zutreffende Deutung bei V. Pöschl, Horazische Lyrik [Anm. 6], S. 75ff. 50 Der eigentliche Wendepunkt, was die Zeitstruktur angeht, liegt zwischen c. I 14 und epod. 9; und auch inhaltlich weist das »sollicitum taedium« (c. I 14,17) auf die frühen Epoden zurück, »desiderium« und »cura« (c. I 14,18) auf die Aktiumgedichte voraus; vgl. E. Fraenkel [Anm. 2], S. 296ff.; H. St. Commager, The Ödes of Horace. A critical study, New Haven 1962, S. 163; E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1937. 51 Vgl. vor allem F. Cairns, in: Eranos 69,1971, S. 68ff. 52 Zutreffend als >stilles Auge< des ganzen Gedichts gekennzeichnet von H. L. Tracy, Thought sequence in the Ode, in: Studies in honour of G. Norwood, hrsg. von M. E. White, Toronto 1952, S. 209, und N. E. Collinge, The strueture of Horace's Ödes, London 1961, S. 103.

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AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG die Gegenwart.53 Aber in dieser Form ist sie anwesend, ja sie beherrscht das Gedicht nun durch die Gegenwart des lyrischm Sprechens, welches sie in temporalen Bögen umkreist, gleichsam Ringe um sie legt:54 Dem von der >Klammer< »atidiet« in die Vergangenheit transportierten Geschehen entspricht in seinem Pendant55 »vidimus« ein zeitlich vorrangiges Ereignis, das seinerseits das [327] letzte Glied einer von »iam satis« (v. 1) an erinnerten Kette ist. Und erst diese Stufungen vermögen die Zeitlosigkeit des Fluchs in die Zeitlichkeit eines gedeuteten Mythos zu überführen. Die vergilischen und ennianischen Vorlagen zu v. 1-20 erlauben es, diese Leistung genau zu verfolgen. Vergil haue von den Prodigien nach Caesars Tod den Blick sogleich auf den rettenden »iuvenis« gelenkt. Die scheinbare Prodigienkette ab c. I 2,1 * öffnet bereits mit dem »ne« von v. 5 eine erste Mythennutzung: Die schon erlebten Prodigien hätten gedeutet werden müssen, damit nicht die apokalyptische Zukunft (Wiederkehr des »saeculum Pyrrhae«) eintritt57 - technisch ein Widerspiel zum negativen futurischen Rückblick der Aktiumepode, inhaltlich ein dem »audiet« von v. 21 (23) korrespondierender Hinweis auf die zu bewältigende Gegenwart. Sodann gibt das letzte >Prodigiumaktuellen Anlaß< zuzuordnen. Das zeigen bereits die divergierenden Lösungsversuche zu c. 12 eindrucksvoll.63 Hinter diese geschichtliche Entfaltung geht die Zeitstruktur der politischen Oden nicht mehr zurück; ihre nächste Ausformung in der Sequenz der Regulusode wie auch die identische Anordnung der nachfolgenden Ode IE 6 M zeigt eine Stabilisierung; unter dem hier betrachteten Aspekt bilden c. HI 5 und 6 die Mitte der politischen Lyrik. Die Elemente dieser Zeitsequenz sind oben zur Regulusode aufgeführt worden: (I) positive Zukunft - »praesens divus habebitur«; (Ia) »Bedingung« - in c. HI 6 negativ formuliert: »delicta lues, donec refeceris«. Mit dem Element Ia wird 61 Die positive Zukunftsmöglichkeit zeigt c. I 2 schon vor dem Oktavian-Teil in v. 19 (Iuppiter will die Flut nicht) und in dem futurischen Rückblick der sechsten Strophe. 62 Hierzu - als einem Problem der Theorie vormoderner Lyrik - unten im dritten Teil. 63 Seit A. Reifferscheid, Coniectanea nova, Programm Breslau 1880, S. 3f., der •acuisse ferrum« (v. 21) mit der Ermordung Caesars identifizierte, sind einzelne Krisensituationen vor 27 v.Chr. vorgeschlagen worden. Die Zeitstruktur von c. I 2 ist jedoch von der jüngeren Forschung im Widerspruch gegen Heinzes Deutung der ersten Odenhälfte als Darstellung einer bereits überwundenen Gefahr herausgearbeitet worden; bahnbrechend die Interpretation von c. I 2 als Mahnung an Oktavian von H. St. Commager (zuerst in: American Journal of Philology 80, 1959, S. 37ff.); genaue Nachzeichnung des Zeitgefüges - aber wieder mit unterschiedlicher Deutung, wie das lyrische Sprechen von c. 12, dessen >Gegenwart< sich zwischen 44 und 27 v.Chr. erstreckt, aktualisiert werden soll - bei F. Cairns [Anm. 51], L. A. MacKay [Anm. 56], und H. Womble, in: American Journal of Philology 91, 1970, S. lff. 64 Beide Oden sind bisher nur von C. Koch (in: Neue Jahrbücher für Antike und deutsche Bildung 4,1941, S. 8 lff.) eng aneinandergerückt worden, jedoch lediglich inhaltlich. Hierzu trug die gerade durch den >Pessimismus< ihrer Schlußstrophe verursachte Frühdatiening von c. HI 6 bei; dagegen H. Silomon, in: Philologus 92, 1937/38, S. 444ff.; G. Williams, in: Journal of Roman Studies 52, 1962, S. 31f., und B. Fenik, in: Hermes 90, 1962, S. 86.

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die futuristische Eliminierung [329] des Präsens seit Epode 16 (zuletzt in c. I 2: »ne rediret« und »quo melius perirent«) in eine präzise temporale Nachrangigkeit gebracht; (Ha) die noch >anstehende< schlechte Vergangenheit der in c. in 5 (v. 5ff.) und c. HI 6 (v. 9ff.) nahezu identischen Partherstrophen. Mit diesem Element erscheint der Rest des bedrückenden Präsens der Epoden, nunmehr in die Vergangenheit transportiert; (II) die positive Vorvergangenheit, in c. HI 5 wie 6 erstmals altrömisch (Regulus und das bäuerÜche Altrom). Mit c. HI 5 wird das temporale Gefüge komplettiert. Die Eliminierung des Fluchgedankens setzt eine der Zukunft entsprechende positive Vergangenheit frei, die historisch einmal degeneriert sein muß (und daher die Rezeption der altrömischen Exempla ermöglicht), so wie sie historisch im augusteischen Programm überwunden werden wird (und daher die Anknüpfung an konkrete Aufgaben - Partherkrieg in c. HI 5, Restauration der Tempel in c. HI 6 - ermöglicht). In dieser Koppelung der Vergangenheit an die Zukunft gründet die bemerkenswerte Offenheit der horazischen politischen Lyrik, welche sie von der Panegyrik (die stets eine Erfüllung der Vergangenheit in der Gegenwart darstellt) deutlich abhebt - eine Offenheit einmal für die Probleme der wechselnden und in den Gedichten verborgenen Gegenwart, eine Offenheit aber auch für eine stets mögliche lyrische Distanziertheit gegenüber dem Politischen überhaupt. Gerade an c. HI 6 und 5 läßt sich zeigen, daß sie das Erbteil des alten Fluchgedankens war, dessen Auflösung in historische Bewegung die Einfügung des auch bei Livius explizierten Dekadenzschemas begünstigte. Sein Kontrast mit der augusteischen Zukunft ist nichts anderes als der vieldiskutierte Widerspruch im Geschichtsbild der Ode EQ 6; aus ihm aber erwächst auch der eingangs besprochene Gegensatz zwischen dem gelungenen exemplum des Regulus und dem nachfolgenden Verfall in c. III 5.65 [330] 65 Der »immeritus« Büßende von c. IE 6,1, dem ein Aufhören des Verderbens in Aussicht gestellt wird, erscheint in der letzten Strophe - der letzten der Römeroden! - als keineswegs letztes Glied einer Dekadenzkette. Die Glättungsversuche sind zahlreich (Zusammenstellung bei V. Cremona [Anm. 59], S. 267f.), aber die offene Dissonanz bleibt bestehen. Die stufenweise Dekadenz, welche die zeitlose Identität der Fluchwirkung abgelöst hat (»hoc fönte derivata clades«, c. IE 6,19), kann mit der augusteischen Erneuerung noch in keiner gemeinsamen historischen Bewegung abgebildet werden. Wie in c. EQ 6 die positive Zukunft nicht aus dem Duktus der römischen Geschichte heraus vermittelt werden kann, so in c. m 5 das gelungene Exempel des Regulus nicht in die römische Geschichte hinein: Die von Regulus verhinderte »pernicies veniens in aevum« (v. 15) tritt doch ein. - Erst die Nachzeichnung der in c. HI 5 und 6 identischen Zeitstruktur erlaubt also die oben 15

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In der dritten Römerode ist nun das zeitliche Gefüge selbst, aus dem jede gegenwärtige Situation Roms gedeutet werden kann, zum Thema geworden66 - in einem solchen Maße, daß dieses geschichtstheologische Gedicht Vergangenheit und Zukunft nahtlos zusammenzufügen scheint.67 Horaz überbaut nunmehr die unvermittelte Korrespondenz von Mythendeutung und Gebet an den Soter Oktavian, wie sie c. 12 hergestellt hatte,68 durch eine zweite großangelegte Vergil-69 und Ennius-Rezeption:70 Die im ersten Buch der Georgien angelegte Entsühnung des Laomedon-Fluches, ihre im ersten Buch der Aeneis noch vertiefte Hindeutung auf Romulus und den neuen Quirinus Augustus wird in das gesamte historische Spannungsfeld Troia-Rom eingefügt. Doch zeigt wiederum das temporale Gefüge der Ode - das komplexeste in der politischen Dichtung des Horaz - den Unterschied zum vergilischen Seitenstück. Die segensreiche Zukunft ist hier an keine Bedingung mehr gebunden,71 steht fest: Augustus wird die Apotheose zuteil werden. Er ist in [331] einen griechisch-römischen Heroenkatalog eingereiht, der sich bis zu den spätesten Gedichten nicht mehr wandeln wird.72 Immerhin steht die Apotheose noch aus {»bibet«> v. 12)73 und wird vergeforderte Erklärung dieser Diskrepanz: Sie folgt aus dem Kontrast der augusteischen Wende mit der geschichtlichen Dekadenz, dem Thema beider Oden. 66 H. St. Commager [Anm. 50], S. 223: c. IH 3 »is about chronology«; vgl. auch V. Cremona [Anm. 59], S. 208. 67 Vgl. die Kritik Cremonas [Anm. 59], S. 211, der den Gegenwartsbezug vermißt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das gnomische Präsens der ersten beiden Strophen; zu ihm E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1956. 68 Der Üia-Romulus-Mythos wird in v. 29ff. zitiert; vgl. auch die Bemerkungen Cremonas [Anm. 59], S. 209. 69 Zu ihr vgl. H. J. Krämer [Anm. 34], S. 364ff.; V. Buchheit, Vergil über die Sendung Roms, Heidelberg 1963, S. 146ff.; M. Pani, Troia resurgens, in: Annali della Facolta di Lettere e Filosofia (Bari) 18, 1975, S. 65ff. 70 Vgl. zur Sonderung der ennianischen Elemente die eingehende Auseinandersetzung mit V. Buchheit bei V. Cremona [Anm. 59], S. 213f. 71 Auch v. 43f. zweifelt nicht mehr an der Lösung der traditionellen >Aufgabe augusteische< Gegenwart des Dichters mit einschließt. Wäre das der Fall, dann läge eine temporal genau bestimmte typologische Dichtung, deren Energie auf die gesteigerte Identität des princeps mit Romulus gerichtet wäre,76 vor. In ihr wäre die aktuelle Gegenwart als offenes Problem in der Tat nicht mehr angedeutet: Die Zukunft augusteischer Erfüllung bewegte sich dann durch die Typologie der beiden Apotheosen auf eine augusteische Gegenwart hin und öffnete sich damit typologischer Panegyrik (Vergangenheit [332] - Erfüllung). Dagegen spricht zunächst die Überlagerung der beiden Sprecherperspektiven, sodann die Tatsache, daß Horaz in deutlichem Kontrast zu den anderen Heroen die Apotheose des Augustus eben nicht ins Präsens setzt, ferner überhaupt die Nennung des Augustus: Echte typologische Dichtung wiese auf die Identität mit dem princeps eben durch die Darstellung eines sichtlich gesteigenen >RomulusBedingung< der Juno v. 57ff., das Verbot, Troia wiedererstehen zu lassen, den Zusammenschluß der Typologie78 - und zwar so deutlich, daß sie wiederum eine aktualisierende Deutimg geradezu herausforderte.79 Auch wer sie als Aufruf zur 74 Eingeleitet durch ein »dum« von unbestimmter Dauer. 75 Es kongruiert also - ganz wie der horazische Sprechhorizont in bezug auf die >Gedichtsituation< - keineswegs mit dem genauen Zeitpunkt von Junos Rede; nicht nur der »Anachronismus« von v. 42f. (R. Heinze [Anm. 13], ad loc.), sondern auch v. 38f. (noch die Situation des irrenden Aeneaden voraussetzend) deutet dies an. 76 Vgl. für viele F. Klingner, Horazens Römeroden [Anm. 16], S. 347: »ganz und gar auf Augustus bezogen«. 77 Man vergleiche demgegenüber die Formulierung Aen. 1,292. 78 Nur wer sie, mit R. Heinze [Anm. 13], Einl. zu c. m 3, als »poetische Einkleidung« betrachtet, wird dieser Schwierigkeit entgehen. 79 Vgl. wiederum Th. Mommsen [Anm. 21], S. 173ff. Auch ein durch c. I 15 17

AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG Abwendimg von Troia als der moralisch schlechten Vergangenheit versteht80 (also ähnlich c. HI 1 und III 6; hierfür spricht die scheinbar aus dem Kontext der Rede fallende Strophe v. 49ff.), wird damit eben auf die scheinbar ausgesparte, noch zu bewältigende Gegenwart geführt. Der eigentliche Sinn dieses Überschusses aber erhellt aus dem Vergleich mit Vergib81 Im Unterschied zur grundsätzlichen Augustus-Typologie der Aeneis, die durch den Dardanus-Mythos auch räumlich zum vollen Zyklus gestaltet worden ist, fordert das offene Geschichtsdenken des Horaz die Lösimg von der Vergangenheit als Aufgabe vor der künftigen Erfüllung: Troia82 muß zerstört bleiben, um die Palinodie des Fluches der 16. Epode83 zu vollenden. Die Endform lyrischen Zeitgefuges kündigt sich bereits in dem letzten datierbaren politischen Gedicht der ersten Odensammlung an, in c. m 14 (v. 1-4): [333] »Herculis ritu modo dictus, o plebs> motte venalem petiisse laurum Caesar Hispana repetit Penatis victor ab ora.« Erstmals spricht Horaz im positiven Präsens - und zwar in einer sichtbaren Abwandlung der Augustus-Zukunft von c. III 3, welche die nach wie vor bestehende Offenheit und Gefährdung dieser politischen Dichtung erweist. Wie der griechische Heros hat der princeps den Tod besiegt - von der Apotheose ist nicht mehr die Rede84 -; die Segnung der Gegenwart besteht gerade darin, daß er lebt, seine Abwesenheit schon bedeutet Unsicherheit. Zu Recht hat der Blick sich auf die »Krise des Prinzipats« in der Entstehungszeit des Gedichts (23 v.Chr.) gerichtet, haben aber auch die vernehmlichen Untertöne und Befremdlichkeiten85 des Gedichts nahegelegtes allegorisches Verständnis von v. 25ff. (Antonius und Kleopatra) stünde quer zur typologischen Sequenz. 80 Vgl. V. Cremona [Anm. 59], S. 209, mit Überblick über die Forschung. 81 Vgl. V. Buchheit [Anm. 69], S. 147ff.; H. Kempter [Anm. 19], S. 58; M. Pani [Anm. 69], S. 67 Anm. 64. 82 Troia ist hier das »Urbild verhängnisvoller naher Vergangenheit« (F. Klingner, Horazens Römeroden [Anm. 16], S. 348). 83 So mit W. Wimmel, in: Acta philologica Aenipontana 2,1967, S. 88. 84 Unzutreffend die Kritik E. Doblhofers (in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1964) an den richtigen Beobachtungen D. Kienasts (in: Chiron 1, 1971, S. 242f.). 85 Vgl. v. llff., sodann die »atrae curae« des Dichters (v. 13f.), vor allem jedoch 18

AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG

Beachtimg vor allem durch die Historiker gefunden. Die Philologen in ihrer Mehrheit versuchten zu harmonisieren; noch in der Interpretation von c. HI 14 kehrt die unterschiedliche Horazdeutung der beiden Disziplinen wieder.86 Es kann nicht mehr überraschen, daß auch in dieser Ode die Zeitverhältnisse das Interpretationsdilemma beleuchten. Ehirchweg unbeachtet87 blieb nämlich das Futur »exiget« (v. 14): »dieser Tag«, so Horaz - und zwar nach der Aufforderung und den Anweisungen zur Festprozession -, werde ihm die Sorgen verscheuchen; es folgt dann die zweite Aufforderung an den puer zur Vorbereitung des Symposiums. Die naturalistische Logik fand bis heute (da man an dem Problem gewöhnlich vorbeigeht) keine widerspruchslose >Situation< für diese Sequenz,88 insbesondere für das Futur. Es hat [334] jedoch wiederum einen Eigenwert, bezeichnet den Ort des lyrischen Sprechens. Es distanziert nämlich erneut das Futur der Erfüllung - dieses Mal sogar vom Präsens des Sieges; und es projiziert, wie am Anfang der Reihe, diese Erfüllung in den sympotischen Bezirk.89 Die Nachzeichnung der Zeitstruktur in der horazischen Lyrik allein erlaubt es nicht, diese Entwicklung als eine Regression, inhaltlich als einen Rückzug aus den stehengelassenen Fassaden offiziöser Poesie, zu deuten. Aber man muß feststellen, daß die politische Panegyrik90 weiterhin durch die Variation nach anderen lyrischen Funktionen suppliert und das fatale Epitheton »unicus«, das Augustus als Gatte der Livia gegeben wird (man lese gegenüber den Glättungsversuchen neuerer Zeit die Kommentare von Mitscherlich [Q. Horatii Flacci Opera. Illustr. Chr. W. Mitscherlich. Bd. 1, Reutlingen 1814 u.ö.] und Orelli-Baiter [Anm. 40]). 86 Guter Forschungsbericht: E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1962ff. 87 Ausnahme: Heinzes Erklärung ([Anm. 13], ad loc), »weil der Tag ja noch nicht abgelaufen ist«. 88 Orelli-Baiter [Anm. 40] und K. Nürnberger [Anm. 25], ad loc, nahmen als Situation das »Bekanntwerden« der Abreise des Augustus aus Spanien an; Heinze [Anm. 13], ad loc, versteht eine supplicatio vor der Rückkehr; beide Interpretationen werden zur Hauptsache durch das Futur in v. 14 ausgelöst. H. P. Syndikus [Anm. 4], Bd. 2, S. 149, ignoriert es und nimmt den >Tag< als das wirkliche Einzugsfest. 89 Man vergleiche das Zeitgefüge am Beginn der Aktiumepode und der Kleopatraode. 90 In ihrer pindarischen Form (c. IV 4 und 14) bleibt sie ein Sonderfall, dessen Interpretation doch wohl auch den Blick auf die Suetonvita erforden. Aber auch die durchgehend präsentische Endform dieser formgeschichdichen Reihe c. IV 5 erinnert mit der Apostrophe des entfernten princeps an c. HI 14: An die Stelle der zeitlichen Distanzierung tritt das Thema der räumlichen Ferne. 19

AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG durchkreuzt wird - hier durch die sympotische >zweite Gedichthälfteletzten< horazischen Ode, c. IV 15, durch die Klammer der recusatiöy sogar unter Abgehen von der präsentischen Endform. Der versprochene Gesang steht dort zusammen mit der politischen Erfüllung (c. IV 15,17f. »non ... exiget otium«, ein Negativzitat von c. m 14,14 »exiget curas«) im Futur, und dieses tritt der positiven, >anstehenden< Vergangenheit der aetas des Augustus gegenüber. Diese Zeitstruktur ist das letzte Wort der politischen Dichtung des Horaz; und man kann ihm füglich entnehmen, daß der Dichter sich der durchschrittenen Entwicklung bewußt war.92 [335]

m Der formale Aspekt der Zeitstruktur, der für die Reihe der wichtigsten politischen Gedichte des Horaz hier zur Untersuchung stand, ist nur begrenzt aussagefähig.93 Die sichtbare Entwicklung der temporalen Ver91 Gerade das >Auseinanderfallen< beider Gedichthälften hat die Forschung seit Klingner immer wieder beschäftigt; bereits E. Burck betonte die zentrale Funktion der Strophe v. 13ff. (Nachweise bei E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1962f.). 92 Das zeigt die Häufung der Motive seit den Anfängen der Gruppe: die deutliche Reminiszenz an den Fluchgedanken (v. 11), das Parthermotiv (v. 7f.), die moralische Restitution (v. 9ff.), der Rekurs auf Altrom (v. 12ff.), die Meisterung der Bürgerkriegsgefahr (mit Reminiszenz an epod. 7: v. 19) und der Deutungshorizont der troianisch-römischen Geschichte (v. 31f.). 93 Seine Untersuchung vermag etwa die seit E. Fraenkel ([Anm. 2], besonders S. 43ff.) analysierte Umwandlung der altgriechischen lyrischen Formen bei Horaz zu beleuchten; sie nähen sich auch - unter den Aspekten >Offenheit< und >Distanzierung< - den Interpretationen Pöschls über den Platz der politischen Lyrik im Gesamtwerk; endlich hebt sie die temporalen Gefüge bei Horaz von den typologischen Bildungen Vergils ab (vgl. auch W. Kreinecker, Die politischen Oden des vierten Buches des Horaz, Diss. Innsbruck 1970, S. 138f.), unterstreicht also den Formenreichtum geschichtlicher Darstellungsformen in augusteischer Zeit. Vgl. zur vergilischen Typologie die Zwischenbilanzen von G. Binder, Vergils Aeneis und der Staat des Augustus, in: KFS [Katholische Freie Schulen] im Erzbistum Köln 46, 1981, S. 46ff., und R. Rieks, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 31.2, Berlin 1981, S. 805ff. - Nicht behandelt werden konnte an diesem Ort das Verhältnis von >futurischen< und >präsentischen< Steigerungsstufen in der Typologie - der futurische Bezugspunkt, wie er in c. EQ 3 gegeben ist, schließt an sich noch nicht die Typologie aus. Eine solche Untersuchung träfe auf eine parallele Diskussion über die Typologie in der spätantiken Poesie; vgl. Herzog, Probleme 20

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schränkungen in dieser Reihe weist jedoch über sich hinaus. Das zeigt sich zunächst darin, daß ihre formgeschichtliche Chronologie im wesentlichen mit der historisch oder gattungsgeschichtlich zu ermittelnden Folge übereinstimmt.94 Über das Verhältnis zwischen epod. 7 und epod. 16 macht die Formgeschichte eine klare Aussage (s. oben); ebenso bemerkenswert ist die frühe [336] Datierung von c. I 14.95 Der Kleopatraode folgen würde hiernach c. I 2; nicht eindeutig entschieden werden kann auch unter dem Tempusaspekt96 das Verhältnis von c. HI 3 und HI 5 (mit c. HI 6): Beide führen in c. I 2 erreichte Konfigurationen weiter, c. HI 6 rückt jedoch nahe an die Regulusode heran. C. HI 14, historisch sicher spät (24 v.Chr.) zu datieren, gibt sich auch temporal als Anknüpfung an c. DI 3 zu erkennen. Im vierten Odenbuch würde c. IV 5 gegenüber dem im allgemeinen als letzte Ode angesehenen c. IV 15 die Endstufe bezeichnen. Weit über das Feld der politischen Dichtung hinaus aber führen diese Untersuchungen zum Zeitgefüge, weil sich zeigen läßt, daß seine sämtlichen Züge, vor allem die Präsenseliminierung und die Verschränkung von Futur und Präteritum, sich auch in den Reihen der sympotischen und der erotischen Oden entwickeln. Eine Darstellung des Gesamtzusammenhangs kann hier nicht gegeben werden; immerhin nötigt der Befund dazu, die Zeitstruktur der horazischen Lyrik ernst zu nehmen und sie abschließend in eine Verbindung mit den schon mehrfach berührten Aspekten der Gedichtsituation, der Fiktion und des Verhältnisses zwischen lyrischer Zeit und Situationszeit zu stellen. Die Thesen Heinzes97 - die bisher einzige Theorie zum poetischen Verfahren der horazischen Ode - hauen bereits den engen Zusammenhang der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität [in diesem Band: S. 203ff.], und V. Buchheit, in: Hermes 109, 1981, S. 235ff. 94 Für die historisch gewonnene Chronologie sind heranzuziehen: H. D. Meyer [Anm. 22]; D. Timpe [Anm. 24]; R. Saeger [Anm. 3]; D. Kienast [Anm. 24]; vgl. im übrigen besonders K. Eckert, in: Der Altsprachliche Unterricht Reihe 4, Heft 2, 1959, S. 69ff.; H. St. Commager [Anm. 50], S. 160ff.; W. Wimmel [Anm. 83]; G. Wille, Horaz als politischer Lyriker, in: Timetikon aphieroma eis K. I. Merentite (...) [Festschrift für K. J. Merentitis], Athen 1972, S. 440ff.; E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1936ff. 95 Vgl. zum Problem E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1937. 96 Für c. m 5 kann nach den historischen Indizien nur ein Ansatz von 27 bis 25/24 v.Chr. gegeben werden (vgl. D. Timpe [Anm. 24], S. 167 Anm. 3). 97 Die horazische Ode (1923), in: ders., Vom Geist des Römertums, Darmstadt 3 t960, S. 172ff. 21

AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG zwischen der streng situationsgebundenen98 und realen" Adressatenlyrik und ihrem »voluntaristischen« (weil dialogischen), [337] besonders auch futurischen Charakter hervorgehoben. Dieses Konzept stieß sogleich auf Widerspruch, einmal wegen seiner verfehlten Einschätzung der >modernen< Lyrik als Erlebniskunst,100 sodann wegen seiner zu schmalen Basis: Nicht wenige Horazoden kennen keinen Adressaten im Heinzeschen Sinn101 - darunter gerade auch die wichtigsten politischen Oden. Diese Ablehnung hat sich mit den formalen Beobachtungen Heinzes nicht eigentlich auseinandergesetzt,102 sie nur verdrängt; sie verhinderte Untersuchungen zum Zeitaspekt, die für andere römische Dichter nicht fehlen^ 98 Diese Situationsgenauigkeit, bereits durch J. G. Herder erkannt (vgl. Briefe über das Lesen des Horaz, an einen jungen Freund, Brief 2 (>Adrasteaeigene< szenische Ensembles vorliegen. Der (Homer-)Leser sieht »jeden seiner Tritte voraus« (Herder).28 Bereits die Seesturmszene ist eine solche Reproduktion (Od. 5,297ff.): der im Sturm vor dem Phäakenland bedrängte Odysseus kehrt mit Situation, Sprache und Szenenverlauf als Aeneas wieder. Es handelt sich nicht um die übliche Intertextualität von Imitation und Evokation, sondern um typologische Wiederholung - und zwar erstmals in der europäischen Literatur um gesetzte, erzählte (nicht: expositorische) Typologie. Ihre Merkmale sind unverkennbar und in der großen Untersuchung von G. N. Knauer29 vollständig aufgeführt worden: Mehrfachbesetzung (grundsätzlich können alle Situationen und Personen der homerischen Epen kumuliert werden); Reproduktion von Struktur, Konsistenz, kontingentem Detail bei Variation von Motiv, Telos, »Stirn26 Der Begriff Typologie ist von G. N. Knauer, Die Aeneis und Homer, Göttingen 1964, S. 345-359, in Anlehnung an die Bibelexegese in die Vergilforschung eingeführt worden. Zum Problem: Herzog, Augusteische Erfüllung zwischen Vergangenheit und Zukunft [in diesem Band: S. Iff., hier: S. 20ff.]. Zur typologischen Mehrstufigkeit nach den Untersuchungen F. Ohlys jetzt K. Stierle, Odysseus und Aeneas, in: Das fremde Wort. Festschrift für Karl Maurer, hrsg. von I. NoltingHauff, Amsterdam 1988, S. 152f. 27 Odysseus war bis in die Zeit der mittleren Republik durch eine Vielzahl italischer Legenden der Hauptkonkurrent für die Stelle auch des römischen Nationalheros; vgl. G. K. Galinsky, Troiae qui primus, in: Gymnasium 81, 1974, S. 182-200. 28 J. G. Herder, Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, in: Sämmtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Berlin 1878, Bd. 3, S. 103. 29 S. Anm. 26; zu ergänzen durch M. Lausberg, Iliadisches im ersten Buch der Aeneis, in: Gymnasium 90, 1983, S. 203-239. 32

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mung« (Heinze) - wobei auch die Umkehrung von Reproduktion und Variation in beiden Gruppen möglich ist; Kontamination aller Grade; Epiphänomene wie >Leitzitatesekundäre Epos< geprägt hat - und damit die Aeneis-Ksitik seit dem 18. Jahrhundert (bis 34 Vor dem nationalen »Höhepunkt< des Epos, dem descensus und der Heldenschau, versichert Aeneas der Sibylle (6,56ff. 103ff.), er erfahre eigentlich nichts Neues. Ovid hat in seiner Replik des Aeneas gerade die fehlende Neugier des Helden thematisien; vgl. S. Döpp, Vergilischer Einfluß im Werk Ovids, München 1968, S. 51. 35 Auch in der Vergil-Forschung als Propaganda abgewertet (vgl. das Kapitel »Impure poetry« bei K. Quinn [Anm. 16], S. 26ff.). - Kritische Rekapitulation des augusteischen Leserhorizonts: Ph. Holt, Who Widerstands VergiPs prophecies, in: Classical Journal 77,1982, S. 303-314. 36 Vgl. l,522ff.; 1,565 (Dido vor Üioneus); 7,222ff. (in Latium). 34

AENEAS'EPISCHES VERGESSEN zu Niebuhrs Urteil, Vergil habe als Epiker seinen Beruf verfehlt).37 Viel nachhaltiger aber dürfte sie die über ein Jahrtausend währende und noch uns eingefleischte i4ene^5-Kritik verursacht haben:38 Aeneas ist der mißglückte Held schlechthin. Die Stereotypen sind in jedem Jahrhundert seit den christlichen Apologeten vertreten: blaß,39 unheldisch, 40 grausam trotz aller (unbelegten) pietas41 - ja gerade durch sie in seiner Treulosigkeit das Urbild des erotischen Tartuffe,42 als der er noch für Grabbes intertextuellen Teufel einzig eine individuelle Physiognomik erhält. Sieht man näher hin, geht diese Irritation auf den unbezweifelbaren Befund zurück, daß Aeneas die Konsistenz als fiktionale Person (im Sinne der homerischen Epik), als >Charakter< im Sinne der peripatetischen Poetologie fehlt.43 Und offensichtlich handelt es sich hierbei um personale Verwerfungen, die aus dem Ineinander der beiden erörterten memorialen Horizonte der Aeneis entstehen. Aeneas ist - nicht nur in der Sicht der verlassenen Dido »eiectus« und »egens« (4,373), also [88] >unheldischPreface< zur englischen Ausgabe von R. Heinze, Virgil's epic technique, London 1993; R. Rieks, Vergils Dichtung, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 32.2, Berlin 1985, S. 728-868. 39 Vgl. M. Griffith, What does Aeneas look like?, in: Classical Philology 80, 1985, S. 309-319. 40 Vgl. Heinze [Anm. 9], S. 272. 41 Der älteste Vorwurf, der, wie zuletzt wieder in der amerikanischen Philologie, an das Ende der Aeneis, die Tötung des Turnus, anknüpft: vgl. Lact. inst. 5,10. 42 Die bekannteste Kritik; noch V. Pöschl, Dido und Aeneas, in: Festschrift K. Vretska, hrsg. von D. Ableitinger-Grünberger, Heidelberg 1970, S. 148-173 (mit historischem Überblick), spricht vom »Mißbehagen« jedes Lesers über die »kalte Herzlosigkeit« (S. 160). 43 Vgl. E. Kraggerud, Aeneisstudien, Oslo 1968, S. 1M05. 44 Ein Leitmotiv; vgl. 1,529 (vor Dido).

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vir«, der sich auch als solcher Unbekannten vorstellt,45 aber jedermann bekannt ist - ersichtlich sub specie fati.46 Der oft fühllosen Starre47 (nicht nur in der Dido-Episode) des die fata vollziehenden Instruments kontrastiert Verzweiflung, Todesangst, das Bewußtsein sinnlosen Abgemattetseins und der vergeblichen Mühe,48 das im >Waschlappensyndrom< der allgegenwärtigen Heldenträne mündet.49 Vergil hat zuweilen die Notwendigkeit gesehen, eine plastische Konsistenz der Person zu verminein und damit einen Innenraum des Helden ahnen zu lassen.50 Aber hier handelt es sich um Epiphänomene,51 die nicht zu einer psychisch hervorgerufenen Fiktionalität führen, deren Vergil doch in den Eklogen durchaus fähig war. Dem in solcher Sicht schlecht konstruierten Helden haben sich die philologischen Interpretationen in einer Kette von Deutungen substituiert, die mit der Entwicklungsgeschichte< über das Leiden der humanitas an der eigenen geschichtlichen Größe bis zum >subversiven< Helden getreulich das 19. und 20. Jahrhundert spiegeln.52 Nun ist hier keine Rettung des Aeneas als eines epischen Helden beabsichtigt. Offensichtlich hat er vor allem gegen die memorialen Horizonte von Mythos und Geschichte zu kämpfen. Diese Erkenntnis freilich führt zu der These, die Aeneas* poetische Faszination erklären könnte: Im Schnittpunkt dieser Horizonte, genauer: im toten Winkel ihrer Über45 1,379; »fama super aethera notus« ist dabei homerische Formung (Od. 9, 19f.) - das Prädikat »pius« aber bleibt durch die Handlung unvermittelt. 46 W. R. Johnson, Aeneas and the ironies of pietas, in: Classical Journal 60, 1964, S. 360ff. 47 Vgl. D. Feeney, The taciturnity of Aeneas, in: Classical Quarterly 33, 1983, S. 204-219. 48 Leitbegriffe: »fessus«; »labores«; vgl. R. Rieks, Affekte und Strukturen, München 1989, S. 135ff. 49 Spezialstudien: R. Rieks, Die Tränen des Helden, in: Silvae. Festschrift für E. Zinn (...), hrsg. von M. von Albrecht u.a., Tübingen 1970, S. 183-198; ders., Affekte und Strukturen [Anm. 48], S. 138ff. 50 »Spes« und unbewegter »vultus« gegenüber den Gefährten, »dolor« »im Herzen« (1,209). 51 Indiz sind die vergilischen Leerstellen der Innerlichkeit vom Typ »plurima volvens« (1,305): der Inhalt dieser Erwägungen wird zwar nach homerischem Vorbild {Od. 9,445) nicht mitgeteilt, doch wuchen die Formel (vgl. 3,34; 4,238. 332) und bezeichnet so die gestörte personale Konsistenz selbst. 52 R. Heinze [Anm. 9], S. 272; K. Büchner, Art. >P. Vergilius MaroErinnerung< übergibt.53 Sie wird nicht aus einem Gedächtnis hervorgeholt; sie springt an - als eine Gruppe von Gestalten, die - hier als Tote - zu jener einfachen Einheit zusammenschießen, die >Griechen und Trojanen ergibt, und die Aeneas, der sich an sie und an ihnen sich erinnert, umschließt und sein Ich in diese Erinnerung wirft (Zugehörigkeit; Todeswunsch; Handlungsenthobenheit). Das ist eine genaue Phänomenologie, sichtbar auch an den Begleiterscheinungen, zunächst des Schreckens, der Trauer, der Unsagbarkeit und allgemein eines Vernichtungsgefühls,54 dann am affektiven Resultat, dem Erschlaffen, dem alles überlagernden Ruhebedürfnis.55 Darüber hinaus aber - poetologisch - gewinnt diese Erinnerung Bedeutung, weil sie aus der beschriebenen Konkurrenz des memorialen Drucks auf Aeneas hervorspringt. Gewiß, sie verschließt ihm vorderhand jede Handlungsmöglichkeit. Aber dies eben 1) als Resultat von Junos memoria: sie ist es, die aus ihrer mythischen melete durch den Sturm des Äolus 53 Vgl. die Nachweise bei H. Schmitz [Anm. 5]. 54 So besonders am Beginn des zweiten Buches: »animus meminisse horret luetuque refugit« (2,12); »quorum (sc. >Griechen und Trojanen) pars magna fui« (2,6; »pars magna* steht für die der Erinnerung zugehörige Individualität); der Schmerz kann nicht erzählt werden (»infandus dolor«, 2,3); seine Wiederholung (»renovare*, 2,3) wäre unerträglich. - Wie sich zeigen wird, wird die gleichwohl erfolgende Erzählung des Helden die neue memoriale Dimension des Gedächtnisses vollenden. - Gute Beobachtungen bei E. Henry, The vigour of prophecy, Bristol 1989, S. 1-18 (»Memory«). 55 Leitbegriffe: »finis«; »quies«; »requies« (eine Spezialuntersuchung fehlt). Diese Vorstellung überlagen in Aeneas immer wieder die fata-Verheißung; vgl. 3,393ff.: »requies ea (sc. Italien) certa laborum«. 37

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Aeneas in die Vergangenheit des Mythos bannt: seine Erinnerung im Blitz des Sturms ist auch die Identität mit dem, was Juno in ihm sieht; 2) als Resultat der fata-Verheißungen - und zwar als Vergessen. Denn die memoria der künftigen Geschichte kann zwar vergessen werden, aber sie ist in seinem Gedächtnis. Sie wird immer wieder memoriert werden können: in Orakeln (und deren Erfüllungen), in Bildern (und deren Deutungen), in hermeneutischen Verfahren, die sämtlich auf eine Mnemotechnik des Lesers zulaufen und damit die Personalität des Helden ebenso transzendieren wie die mythisch-homerischen Doppelungen. Diese personale Unabgeschlossenheit aber ist es, die in einer neuartigen Poetik der memoria das alte Epos überwinden wird. Die soeben angedeutete Dialektik zwischen Aeneas' Erinnern und Vergessen setzt sich sogleich nach der Eingangsszene (1,198-207) fort. Der Held ruft die Gefährten (und damit sich selbst; l,208f.) beim ersten Mahl an der öden Küste zur Besinnung: er erinnert an die erlittene Vergangenheit (»neque ignari sumus^ 1,198). Diese ist nun von den casus und discrimina rerum der Gegenwart distanzierbar - nämlich als mythische Vergangenheit; Skylla und die Zyklopen stehen für etwas der Gegenwart Unvergleichliches, vor allem Bedrohlicheres. Die Feststellung »passi graviora« (1,199) distanziert vom mythischen Raum und entlastet die Gegenwart (vgl. l,210ff.), indem sie ein Gedächtnis konstituiert. »Forsan et haec olim meminisse iuvahiu (1,203) vollzieht dann [90] den entscheidenden Schritt: auch die Gegenwart wird als potentielles Gedächtnis erlebt und bewältigt. Und diese Verschiebung kann bei Aeneas nur erreicht werden, indem sie das Vergessen der fatum-memoria aufhebt: jetzt erst nennt er die Verheißung, memoriert sie (l,205f.). Offenbar konstituieren und stabilisieren beide memorialen Räume einander, genauer: die Selbstdistanzierung56 der Erinnerung zum Gedächtnis des Mythos läßt das Gedächtnis der geschichtlichen Zukunft zugänglich werden. Man kann diesen Stabilisierungsvorgang als einen Ausgleich zwischen den beiden memorialen Lasten im Bewußtsein des Helden verstehen. Dieser Ausgleich aber führt zu dem auffälligen Faktum, daß die Selbstdistanzierung des Aeneas auch die >Gegenwart< in die potentielle Vergangenheit verschlingt. Poetisch bedeutet dies, daß die Entlastung des »meminisse iuvahiu gerade nicht zur kontingenten >epischen< Handlung freisetzt.57 Diese bleibt im Verlies der 56 Andeutungen zu diesem Vorgang bei S. F. Wiltshire, Self-distancing in the Aeneid, in: Vergilius 30, 1984, S. 25-31. 57 Das wird in der Interpretation der deutschen Latinistik, der an der Präparation von >Römerwerten< liegt, ignoriert; vgl. K. Büchner: »Aus jenem Wissen (sc. vom fatum) führt er dann mit seiner Kraft und seinem Wesen als frommer Streiter

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mythischen Abgeschlossenheit - daher die anhaltenden Einformungen in die homerischen Szenen. Sie setzt frei eben zum Memorieren, zur Erwartung, zur Beobachtung, zum Gefühl, zur Stimmung. Sie destruiert den homerischen Helden zur »durchgehaltenen« Identität zwischen Mythos und Geschichte. Das Fazit - »durate, et vosmet rebus servate secundisU (1,207) - mündet in keinen selbständigen (oder gegenüber Homer: fiktionalen) Handlungsansatz. Solche Stabilisierung gelingt Aeneas in den ersten vier Büchern des Epos nur zeitweise und unvollständig. In der Tat kann die vielerörterte >Suche< des Helden, seine >Entwicklung< bei allmählicher Aufhellung des Fahrtziels, auch als stetes Schwanken zwischen Vergessen und Innehaben der Zukunftsverheißung, zugleich zwischen Überwältigung durch die trojanische Erinnerung und ihrer Distanzierung im Gedächtnis beschrieben werden. Und zwar vorrangig als eine Kette von Vergessens-Anfällen.58 Denn da ein Epos zu entfalten war, hatten die homerisierenden Szenen als Handlung - das fatum selbst gibt nur Gewißheit über die nach-epische, geschichtliche Zukunft - stets den kontemplativen Zug der Selbstdistanzierung zu unterbinden. Damit entsteht die kraß unwahrscheinliche Kette des im Wortsinne epischen Vergessens des Aeneas.59 Von der Erscheinung Hektors über die Verheißung der Creusa,60 das Augurium am Ende des 2. Buches bis zu den >black-outs< des [91] Irrfahrtenbuchs und der monumentalen Folgenlosigkeit der im descensus enthüllten Heldenschau auf die Handlung im zweiten Teil des EDOS61 ist die Amnesie des Helden62 nicht seine Aufgabe durch.« (Der Schicksalsgedanke bei Vergil, in: Wege zu Vergil, hrsg. von H. Oppermann, Darmstadt 1963, S. 294). 58 Vgl. schon E. Henry [Anm. 54], S. 131: »customary oblivion«. Das habituelle Vergessen des Aeneas ist jedoch nie zum Bestandteil der Aeneaskritik geworden. 59 Im Wortsinne: nämlich die Form des Epos aufrechterhaltend. Gleichwohl auch in dem Sinne, in dem Th. W. Adorno die Formulierung zur Charakterisierung von Walter Benjamins >Verwahrensvergessen< einführte. 60 Ein besonders krasser Fall, da ihre Verheißung nicht nur sehr explizit ist, sondern sie als erste Gattin zusammen mit ihren Prophezeiungen dem anhaltenden Vergessen verfallen wird. Hier fragte bereits Servius: »cur Aeneas horum non meminit?« - Es kommt hinzu, daß Aeneas dieses Vergessen selbst in Form einer Rekapitulation (Buch 2) erzählt - weder gleicht also der Held als Erzähler die Inkonsistenz aus, noch der Epiker im Rahmen der auktorialen Klammer. Vgl. M. Wifstrand-Schiebe, Der Blackout des Aeneas, in: Eranos 81, 1983, S. 113-116. 61 Ein Maximum an personaler Inkonsistenz ist erreicht, wenn Aeneas die Schilddarstellungen im achten Buch erinnerungslos durchmustert, die mit der im descensus des sechsten Buchs ihm enthüllten (und von ihm kommentierten) Heldenschau z.T. identisch sind.

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nur die Kehrseite des schon erörterten permanenten Memorierens römischer Zukunft gegenüber dem Leser. Vielmehr manifestiert sie sich in den (hermeneutischen) Abschattungen63 des Verfehlens, der falschen Deutimg, auch in Ansätzen zu psychologisch detaillierter Verdrängung64 als Möglichkeit homerischer Kontingenz> die am Ende des fünften Buches dem Ziel der fata noch so entfernt ist wie im ersten. Als Musterfall des heldischen >Sich-Vergessens< gilt seit jeher die DidoEpisode des vierten Buchs. Gewiß ist sie das; so sehen es Fama (»immemores«, 4,194) und Jupiter-Merkur selbst. Der Göttervorwurf »rerumque oblite tuarumf« (4,267) hält indessen Aeneas nicht nur die habituelle Unfähigkeit vor, dasfatum ständig zu memorieren. Vielmehr hat Vergil im Dido-Buch eben den bereits genannten entscheidenden Aspekt, die Bewältigung auch der Gegenwart als künftiger Erinnerung, thematisiert; hierin liegt die das übrige Epos weit übergreifende Modernität und intertextuelle Intensität des Dido-Buches beschlossen. Aeneas hat mit dem Beginn der Liebesbeziehung den >trojanischen< Horizont der mythischen Identität grundsätzlich hinter sich gelassen;65 seine >römische< Identität ist vor der Handlung in Italien noch nicht endgültig gefunden. Indiz dieser Situation ist die neuartige Offenheit des Handlungsraums, in dem Dido so wenig die Frauen, denen Odysseus verfallen ist, kumuliert, wie ihr Karthago allein eine Projektion der durch dzsfatum bestimmten künftigen Konkurrentin Roms ist. Dido bedeutet also erstmals - und letztmals - in der Aeneis die offene, nicht memorial festgelegte Gegenwart. Aeneas trägt nicht mehr Anchises auf den Schultern (den er eben vor der Ankunft in Karthago »verliert«; 3,710); er führt Ascanius, den Garanten der fata-Zukunh (vgl. l,267ff.), nicht mehr an seiner Hand; Venus hat ihn durch Cupido in Sohnesgestalt ersetzt (l,657ff.). Das statuarische Sinnbild der Aeneas-Karyatide auf der Flucht aus Troja, das nun als memoriales Denkbild sichtbar wird, ist im vierten Buch aufgelöst: Cupido-Ascanius fälscht die memoria der Zukunft ebenso wie der in phönizische - nicht mehr die phrygischen! - Gewänder geklei-

62 Zur gesamten Kette des Vergessens: D. Quint, Painful memories, in: Classical Journal 78,1982, S. 30-38; E. Henry [Anm. 54], S. 5ff. 63 Aber auch in thematischer Darstellung von »Nicht-daran-Denken« und fast beiläufiger »Wiedererinnerung« im Fall des Anchises (vgl. 3,107 und 182ff.). 64 Zu Aeneas vgl. die Cclaeno- und die Helenus-Episoden des dritten Buchs. Vergil hat diesen Aspekt bis zum rebellischen Widerspruch in der Gruppe der trojanischen Frauen gestaltet, die die Weiterfahrt verweigern. 65 Hierzu unten HI. 40

AENEAS'EPISCHES VERGESSEN

dete Aeneas66 die der Vergangenheit. [92] Die vor der Ankunft in Karthago erreichte Stabilisierung zwischen mythischem und geschichtlichem Bewußtsein läßt eine Balance zu, deren Stillstand die Gegenwart als unbestimmte Offenheit kennzeichnet. Daß Aeneas sie nicht ebenfalls als künftige Erinnerung von sich distanziert, daran erinnern ihn die Götter. Dies aber geschieht wiederum in der anfallartigen Überwältigung, wie wir sie im Seesturm beobachteten.67 Aeneas zeigt die gleichen physischen Begleitphänomene (4,279ff.); er erblickt schon bei den Worten des Gottes seine gegenwärtige Tätigkeit beim Mauerbau in Karthago als abgeschlossen. Und in Merkurs Ermahnung (4,272ff.; bezeichnenderweise ebenso in Aeneas* eigener Verteidigung vor Dido, 4,35 lff.) wird die memoriale Gruppe Anchises-Aeneas-Ascanius wieder konstituiert, genauer: ihre Wichtigkeit über alle individuellen otia (4,271) des Helden hinaus betont. Was die Liebesgeschichte nun beenden wird,68 ist in der Tat erneut die >Starre< der Karyatide:69 die knappen Entschuldigungen des aufbrechenden Helden stellen die gegenwärtige Situation der Geliebten bereits als Vergangenheit dar (vgl. unten TD). Was während der Zeit der Liebesbeziehung von Aeneas sichtbar wird, führt nur das Minimum vor Augen, das die Ausnahmesituation dieses Buches an personaler Kontinuität erfordert: Aeneas spricht nicht, spricht vor allem von seiner Liebe nicht (das tut er erst später), wird zum Objekt.70 Umso farbiger stößt in die Offenheit dieser Gegenwart zwischen Mythos und Geschichte Dido vor - eine späte, hellenistisch-moderne Figur, mit der sich das vierte Buch als memoriale Leerstelle des Epos der Intertextualität, vor allem zur Tragödie hin, öffnet.71 Sie besetzt ihren Platz im Epos nicht mit Kontingenz, sondern mit Rhetorik; ihre Person ist in ihrer rationalistischen und individualistischen Götterkritik weit über den mythistorischen Horizont ihres Partners in die Zeitgenossenschaft des Dichters vorgetrieben. Mit der zweiten >Erinnerung< in der Aeneis, die durch Merkur erfolgt, 66 4,261ff. 67 Merkur fährt herab wie das Unwetter (4,253); die überrumpelnde Gottesepiphanie, nicht in Form der Begegnung, ist in der Aeneis einzig. 68 Zur Isolierung der Personen voneinander vgl. S. G. Farron, The AeneasDido episode, in: Greece and Rome 27, 1980, S. 34-47. 69 Sie wird noch unterstrichen durch die erneuten Leerformeln psychischen Kampfes (vgl. 4,390ff.) und den epischen Vergleich (4,441ff.). 70 Vgl. E. L. Harrison, VergiPs Mercury, in: Vergilian bimillenary lectures W82, hrsg. von A. G. McKay (Vergüius Suppl. II), College Park/Md. 1982, S. 1-47. 71 Vgl. nach wie vor die Zusammenfassimg Heinzes [Anm. 9], S. 116ff. 41

AENEAS'EPISCHES VERGESSEN kündigt sich ein abschließender Zustand in der memorialen Struktur des Helden an. In ihr sehen wir Aeneas über beiderlei Gedächtnis (seiner trojanischen Herkunft sowie seiner römischen Zukunft) verfügen - aber er memoriert so wenig mehr aus ihm, wie er etwas auslöscht. Sein Gedächtnis ist ab Buch 5 zunehmend, vollends ab Buch 7, ohne Erinnern und Vergessen; aber es wird ihm, der sich der verheißenen Apotheose nähert, zur metete, einem voll der Gegenwart hingegebenen Handeln, das ihn in der zweiten Werkhälfte Juno vergleichbar macht. Unmittelbar nach Merkurs Epiphanie sehen wir [93] ihn - erstmals - planen, veranlassen, auch (vor Dido) taktieren.72 Die epischen Szenen werden auch im zweiten Teil der Aeneis homerische Szenen nachvollziehen, wenngleich ihr Zuschnitt nach den italischen Gründungsüberlieferungen und im Hinblick auf Augustustypologien zunehmen, sich also stärker an der geschichtlichen Zukunft orientieren wird. Aeneas selbst aber wird in seinem Bewußtsein73 nicht mehr ihr Thema sein; er ist zum geschichtlich Handelnden gewandelt.74^] 72 So auch alsbald gegenüber Jupiter, um ihn auf die Durchsetzung der fata festzulegen: Aeneas »erwägt« (!) 5,702ff., »ob er seine fata vergessen soll« - nämlich ostentativ, durch Abbrechen der Fahrt. Das geforderte Regenwunder tritt sogleich ein; die für das sekundäre Epos typische Wandlung der Götterinterventionen zum merveilleux kündigt sich an, das um so schärfer hervortreten kann (vgl. 9,123ff.), als die Handlung sich der Historie nähert. 73 Wo es noch einen Ausdruck findet, hebt es sich gerade im Verhältnis zur eigenen >trojanischen< Vergangenheit von der ersten Werkhälfte ab: man vergleiche die Selbstvorstellung des Aeneas vor Euander 8,127ff. mit jener vor Dido. Nunmehr offeriert der Held seine Genealogie^ führt sie mit diplomatischer Überlegung bis zu dem Punkt, an dem sich Euander des Anchises erinnern kann (8,155ff.; dreimal variiert). Der Umgang mit der eigenen (mythischen) Vergangenheit erfolgt planvoll: es handelt sich jetzt um ihre Nutzung, um historisch zu setzende Fakten, das Bündnis mit Partnern, die nicht mehr von vornherein am universalen (Leser-) Wissen von Aeneas partizipieren. Daß Vergil diesen Wissens-Horizont einschränkt, bedeutet, daß der Leser nicht mehr zur Kontemplation eingeladen, sondern gespannt wird auf die Vorbereitung der römischen Frühgeschichte. Dieser Horizont ist Livius bereits näher als Homer. 74 Das Zwielicht von Mythos und zunehmender Geschichtlichkeit in der zweiten Werkhälfte ist zwar in der Forschung von der Kontroverse um die Wandlung des Aeneas überschattet worden (s. Anm. 163), fand aber Beachtung (eine zusammenfassende Untersuchimg fehlt); vgl. Heinze [Anm. 9], S. 172ff.; Otis [Anm. 3], S. 313; Gransden [Anm. 6], S. 39ff. Dieser Teil ist überwiegend »streng quellenmäßig« (Heinze, S. 248) fundiert. Dies stellt sowohl vor Probleme hinsichtlich der invenfio, bis hin zur Namensfindung (s. Anm. 30), wie auch vor das Paradoxon, daß die Kampfbücher zugleich »einförmig« und »unübersichtlich« (Heinze) wirken können 42

AENEAS'EPISCHES VERGESSEN

- ein Indiz für einen zunehmenden Kontrast von zur Geschichtlichkeit tendierenden Erzählabläufen zu solchen des Epos. >Episierung< (ein typisches Kennzeichen des sekundären Epos) wird dann nicht nur sichtbar, wenn gleichwohl homerisien wird. Diese Spannung erzeugt vielmehr neue Darstellungsformen. So 1) die Ätiologie (vgl. zu ihr Binder [Anm. 33]); sie tritt erst ab dem fünften Buch auf und leistet ähnlich der Genealogie als historische Denkfigur die Verklammerung von (Zeit-)Geschichte und epischer Zeit. 2) Es kann kein Zweifel sein, daß die unter den bequemen, oft schiefen Abbreviaturen Romantik und Sentimentalität erfaßten Phänomene, wie sie sich seit dem 7. Buch häufen, mit dieser Spannung zusammenhängen. Die Idyllik eines Ur-Rom, wie sie auch die römische Elegie ausgearbeitet hat, entspringt einer Darstellungsform, die zwischen Projektion und Rekurrenz pendelt. Das erste Beispiel der Aeneis - Anchises zeigt dem Sohn die Latinerstädte mit den Worten »haec tum nomina erunt, nunc sunt sine nomine terrae« (6,776) - entfaltet sehr schön diese Dialektik, wie sie im Euander-Buch vorherrschen wird: den >romantischen< Blick des Lesers richtet der epische Held auf etwas noch nicht Vorhandenes; mit dem Blick des Lesers kann er es aus dem Noch-Nicht herausgreifen, und mit dem Blick des Helden kann andererseits der Leser die Gegenwart zum Verschwinden bringen was dann bleibt, ist der Name als Chiffre bedeutender Geschichte. Sentimentalität - der Ausdruck sollte nie für die kontemplativen Affekte des Aeneas selbst gebraucht werden - wird dem Leser mit diesem Hin- und Herwandern des Blickes in dem Maße eingeformt, in dem Aeneas* memorativer Innenraum in der zweiten Werkhälfte verschwindet; nun bedenkt der Dichter (unisono mit dem Leser) in Apostrophen häufig direkt seine Gestalten, die Aeneas am Wege liegen lassen muß (zuerst am Beginn des siebten Buches - nicht zufällig im Zusammenhang mit einer Ätiologie). 3) Das objektive Widerlager dieser Stimmungsmomente sind Ausdrucksformen der Distanz und der Aktualisierung. Distanz von der mythischen Welt repräsentieren die geschichtlich Handelnden in der zweiten Werkhälfte allenthalben (Drances etwa könnte eine Figur aus der ersten Dekade des Livius sein). Vor allem die Feinde der Aeneaden: dies macht ihre Modernität aus, die im Falle des Turnus vielleicht stärker beachtet werden sollte als seine moralische Bewertung. »Nil mefatalia terrent« (9,133) bezeugt nicht nur eine frevlerische Anmaßung; er lebt in einer eigentlich entgötterten Welt (für die seine Verehrung der Fortuna - vgl. 11,413 und 427 der Inbegriff ist), vor allem in einer gegenmythischen Welt, in der virtus sich aus rationalen Gründen, ohne Machinationen, »luce palam« (9,153) verwirklicht. Mit Troja sind auch die zeitenthobenen Geschichten des Mythos auf dem italischen Schlachtfeld an ein Ende gekommen, wird Lucagus höhnisch Aeneas bedeuten (10,58lff.). Solche Distanz aber verklammern gerade die Feinde des Aeneas auf ihre Weise mit dem Mythos. Hier bleibt es nicht bei dem blanken Anspruch, ein Mensch, vielmehr: ein epischer Held wie Aeneas zu sein (vgl. »et nos ...«, 11,50), um eigene fata zu wissen (9,136f.). Turnus aktualisiert den Mythos, indem er ihn auf sich appliziert: sein ironischer Ausruf »nunc et Myrmidonum proceres Phrygia arma tremescunt« (11,403) setzt sich selbst als Wiederkehr des griechischen Helden (vgl. ll,438f.: Aeneas möge sich als >Achilles< gerieren; er, Turnus, sei »haud ulli 43

AENEAS'EPISCHES VERGESSEN

m »invenit me et excogitavit me« Himmelfahrt Mosis 1,14 »5t cogitari potest, necesse est illud* Anselm von Canterbury, Ad Gaunilonem 1 Wenn Inkonsistenz in der Gestalt des epischen Helden die Interpretation geradezu zur Supplementierung im Sinne einer >Entwicklung< genötigt hat, könnten auch die vorstehenden Beobachtungen nicht nur die Entfaltung eines >sekundären< Epos, sondern auch eine Entwicklung des Helden beglaubigen. Angemessen wäre solche Interpretation freilich unter dem Aspekt der memoria nicht. Offenkundig war es doch die Interferenz dessen, was wir als die memorialen Räume des Mythos und der Geschichte bezeichneten, die auch dem Menschen Aeneas, selbst in dem »literal reveterum virtute secundus«) - es liegt eine panegyrische Applikation vor. Ihre Kehrseite, die Mythenapplikation der Invektive, läßt sich in der Schmähung des Aeneas durch Amata als eines zweiten frauenraubenden Phrygiers (des Paris; 7,363f.) beobachten. Die angedeuteten Denk- und Darstellungsformen führen aus dem Epos heraus, genauer: sie sind Ausdruck der Spannung, unter der sich die mythistorische Einheit der Aeneis aufzulösen beginnt. Was sie ablösen, ist die alte Darstellungsform nachvollziehender Identität. Als steigernde Typologie vermochte diese zwar auch die römische Zukunft einzubeziehen, und so wurde sie, gerade in der zweiten Werkhälfte, vom Dichter nicht selten gesetzt. (Hier liegt der Unterschied zu den rhetorisch-applikativen Selbstapplikationen der Figuren, die den Mythos für ihre Einzelaktionen aktualisieren; Vergil hat die Grenze zu einer Augustuspanegyrik, die ihm die zu feiernden Aktionen vorgab und von ihm allenfalls die Aktualisierung mythischer Beliebigkeit forderte, nie überschritten.) Aber die in ihr vereinten memorialen Räume des Mythos und der Geschichte drängen zur Verselbständigung. Wie weit dieser Weg am Ende des Epos schon beschritten war, zeigt eine unscheinbare Episode, die den memorialen Horizont der in die Geschichte drängenden Latiner andeutet (12,222ff.). Juturna spricht die rebellischen Gedanken des Rutulervolkes aus, das Turnus zögernd sich dem Zweikampf mit Aeneas weihen sieht. Das Volk will, nach nüchterner Schätzung des Kräfteverhältnisses, den Kampf selbst führen; an »requies« und »salus* (12,241) ist ihm nicht gelegen. Werde Turnus fallen, werde seiner zwar für immer gedacht (»vivusque per oraferetur^ 12,235); was aber nütze das - das Volk selbst würde als die Besiegten beherrscht werden. Hier dringen die Handelnden in die kommende Geschichte hinein wie der Schwann der künftigen Römer im Unterweltsbuch (s. unten V), und sie drängen auf die Beherrschung der Geschichte. Der epische Held »ad superos ... / succedet fama« (12,234f.), ihm mag das Elysium, die memoria bleiben. 44

AENEAS'EPISCHES VERGESSEN

lease from time«73 des vierten Buches, die Spuren eines Erinnerns und Vergessens [95] einzeichnete, deren Muster ein >Davor< und ein >Danach< umfaßt. Daß diese Spuren in die Person des vergilischen Helden, bis zum Kern seiner Identität, >von außen< hineingearbeitet wurden, zeigt die Kongruenz seiner >Entwicklung< mit der Ummontierung vom Trojaner zum Römer. Der Ausdruck trifft recht genau76 den vorsubjektiven Identitätssprung, den - im Horizont der Leser-memorw! - der phrygische Heros im Verlauf des Epos zum Römer (als conditor urbis wie als primus Augustus) vollzogen haben muß. Dieser Sprung wird in der Tat nicht zum Entwicklungsschritt verlangsamt und im Handlungsgang sichtbar gemacht, sondern durch Selbstbezeichnungen des Helden angezeigt; und diese sind nichts anderes als typologische Distanzierungen, Steigerungen und Identitätsfestlegungen, die sich vollständig der Hermeneutik zwischen Leser und Autor verdanken.77 Als solche entsprechen sie aufs verblüffendste den Denkformen der innerbiblischen Typologie,78 durch die seit der Urgemeinde das A T neu interpretiert wurde - nicht allerdings, wie in der Aeneis, interpretiert (als Selbstbezeichnung des Helden) und zugleich dargestellt (im Nachvollzug der homerischen Aktionen).79 75 G. K. Galinsky, Vergil's Romanitas, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. n 31.2, Berlin 1981, S. 1008. 76 Vgl. die Spezialuntersuchung von W. Suerbaum, Aeneas zwischen Troja und Rom, in: Poetica 1,1967, S. 176-204. 77 Vgl. zur epischen Einformung der vergilischen Typologie oben I. 78 Troja ist vornehmlich »vergangen« (»fuimus Troes«, 2,325 - in einem Kontext, der den Begriff viermal mythologisch variiert; vgl. E. Henry [Anm. 54], S. 45); es bleibt die Hoffnung, daß es - als Troja - »wiederauferstehen« wird: 1,206 (Seesturmszene; vgl. noch 10,27 und 58); Troja wird dann »nur in uns«, d.h. im persönlichen Überleben der Flüchtlinge weiterbestehen (2,703); es folgen spiritualisierende Steigerungen (der Kern der typologischen Transformation auch im NT): •altera Troiae / Pergama« (3,86f.); *aeterna Pergama« (8,37); seit dem zehnten Buch bezeichnet Aeneas sich, bezeichnet vor allem aber der Dichter Ascanius als »Römer«. 79 Der >steigernde< Nachvollzug (über die Interpretation hinaus als Darstellung) ist in der Geschichte typologischer Literaturformen erstmals in der Aeneis anzutreffen; und es ist evident, daß er der Geschichtlichkeit futurischer memoria entspringt. Er wird - in der Form projizierter Handlungen - in die historische Fiktionalität providentieller, z.B. auch millenaristischer Historiographie münden, während das Parallelphänomen allegorischer Darstellung (Konstruktion; im Gegensatz zur interpretierenden Allegorese) einen raschen Weg in fiktionale Bildlichkeit ermöglicht. - Einen Ansatz zur Darstellungsform >Nachvollzug< lassen im NT einzig die pleromatischen Vollzüge von Psalmistenworten in der Passion (z.B. das Zerteilen des Gewandes) erkennen. 45

AENEAS'EPISCHES VERGESSEN

Gleichwohl lohnt der Blick auf die memorialen Zustände des Helden noch ein weiteres Mal. Denn wenn sich die Bewältigung der Erinnerung an die mythische Identität, ihre Bewältigung nämlich als Gedächtnis des Mythos in der Differenz zu ihm, als der entscheidende Einschnitt im Gesamtprozeß erwiesen hat, so hat Vergil diesen Schritt darüber hinaus als ästhetischen Vorgang dargestellt. Dies geschieht vor der Begegnung mit Dido, im ersten Buch der Aeneis. Der Gestrandete sucht, wie Odysseus bei den Phäaken in Nebel gehüllt, Karthago auf und stößt am Junotempel auf ein Kunstwerk, den Tempelfries. Ausführliche Beschreibung plastisch-mythologischer Kunstwerke gab es in den epischen Formen der Antike zuvor vermutlich nicht (die Schildbeschreibung ist seit Homer vielmehr ein [96] Einfallstor für die Lebenswelt des Lesers gewesen).80 Sie treten auch Aeneas als gänzlich unvermutete Kontingenz (»nova res«, 1,450) entgegen, deren Unwahrscheinlichkeit bereits die antiken Kommentare bemerken: dargestellt sind, bereits »weniger als ein Jahr« (Servius) nach dem trojanischen Krieg, die Szenen seines Endes. Aeneas »erkennt« jedes Detail, das er im einzelnen besichtigt (»lustrat dum singula«, 1,453), »wieder« (»agnoscit«, 1,470; »agnovit«, 1,488). Wiederum wird er von Erinnerung überwältigt (»lacrimans«, 1,459) - aber sie tritt ihm sogleich gestaltet gegenüber, in sich abgeschlossen, von ihm separiert und vergangen.81 Denn in denkwürdiger Doppelung macht Aeneas sich selbst unter den Handelnden der Darstellung aus.82 Es ist die erste Selbstbegegnung der europäischen Literatur vor der aula memoriae Augustins. Den ästhetisch konstitutiven Charakter dieser Selbstbegegnung hat Vergil in durchaus neuartiger Weise hervorgehoben: 1) Als Tempelfries ist das Geschehen in eine Distanz des Mythos gerückt, die Vergil durch die Auswahl der Szenen diskret bezeichnet hat: von der Ermordung des Priamus über das Schicksal des Troilus, Memnon, den Amazonenkampf bis zu Penthesilea ist die >Ilias< als epischer Rahmen so unübersehbar ausgespart, daß die dargestellten Szenen ihrerseits als gestalteter (»ex ordine«, 1,456) Artefakt betont werden. 2) Das Wiedererkennen der Bilder, in Form ihrer Beschreibung, integriert den 80 Das Kunstwerk im Erzählwerk harn als nachvergilische Darstellungsform für die Antike der Untersuchung; bisher wurden, zumeist noch in Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon, die ekphrastischen Verfahren diskutiert; vgl. Heinze [Anm. 91 S. 398ff. 81 Vgl. B. Fenik, Parallelism of theme and imagery in Aeneid II and IV, in: American Journal of Philology 80, 1959, S. 1-24. 82 »Se quoqueprincipibus permixtum agnovit Achivis« (1,488). 46

AENEAS'EPISCHES VERGESSEN

Leser in dem Maße, daß Aeneas selbst nicht ekphrastisch verfahrend, sondern erzählend, ja lesend und gleichsam seine Wiedererinnerung noch einmal erinnernd vorgeführt wird: »we are left with the feeling that Aeneas is recolleaing it afterwards.«83 3) Aeneas besichtigt nicht etwa das, was er im zweiten Buch erzählen wird - die Troiae Halosis aus seinem beschränkten Erlebnishorizont -, vielmehr stehen die Handlungen auf dem Fries in einer objektiv-mythischen Perspektive, wie sie etwa der homerischen Teichoskopie eigen ist. 4) So sehr die affektive Hingerissenheit84 dieser Erinnerung der Reaktion im Seesturm nahekommt (»ingentem gemitum dat pectore ab imo«, 1,485): sie wird doch durch den Scheincharakter des Kunstwerks balanciert i^animum pictura pascit inani«, 1,464). 5) Aeneas verliert »jetzt erst« (»primum«, 1,450; wiederholt im folgenden Vers) seine Furcht, daß ihn Trojas Untergang einholt, die Hoffnung auf die fata siegt in ihm (l,450ff.). Juno ist in den Bereich der Kultverehrung zurückgetreten; was der Held gewesen ist, kann am Fries ihres Tempels einen Platz finden. Die Summe dieser ästhetischen Distanzierung zieht der meistzitierte, aber anerkanntermaßen kaum übersetzbare Vers des Epos (1,462): »sunt lacrimae verum et mentem mortalia tangunt.« [97] Daß der Mensch durch Geschehenes nicht ertaubt, ja daß das Geschehene etwas in sich parat hält (»rerum« als gen. subj.), das es als Gedenken (gen. obj.) sprechend machen wird, kann als gemeinsamer Boden der bisherigen Interpretationen gelten.85 In der Tat formuliert Aeneas* Ausruf (während des Erkennens und Nachtastens am Fries) im Sinne der älteren deutschen Wendung »es gedenkt mir«86 die Macht des Gedächtnisses, das sich der Held in der Distanzierung von seinem Erinnern geschaffen hat, und das sich im Gedenken wie im Vergessen meldet (vgl. oben I). Aber bevor der Vers, wie üblich, zugleich als Zeugnis einer >typisch vergilischen Sentimentalität< weitergedeutet wird, sollte er im Kontext betrachtet werden (1,461-463): 83 R. D. Williams, The pictures on Dido's teraple, in: Classical Quarterly N.S. 54, 1960, S. 148. 84 Vertieft durch Isolierung und Verengung des Blickfeldes beim betrachtenden Helden (l,494f.). 85 Vgl. A. M. Negri, Sunt lacrimae rerum, in: Studi Italiani di Filologia Classica 81, 1988, S. 240-258; R. Rieks, Tränen [Anm. 49]; D. J. Stewart, Sunt lacrimae rerum, in: Classical Journal 67, 1971/72, S. 116-122; absurd: H. Funke, Sunt lacrimae rerum, in: Klio 67, 1985, S. 224-233. 86 Vgl. zu diesem Ausdruck K. Stierle, Die Unverfügbarkeit der Erinnerung und das Gedächtnis der Schrift, in: Memoria. Vergessen und Erinnern, hrsg. von A. Haverkamp und R. Lachmann (Poetik und Hermeneutik 15), München 1993, S. 117-159, hier: S. 117. 47

AENEAS* EPISCHES VERGESSEN

»en Priamus. sunt hie etiam sua praemia laudi, sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt. solve metus;feret haec aliquant tibifama salutem.« Priamus' Tod wird plastisch vergegenwärtigt, aber bereits aus einem Gedächtnis, welches das Geschehene als einen objektiven Besitz konstituiert, es als sinnvoll rekonstruiert und ästhetisch als notwendig abschließt. Zur Erläuterung: was der Fries darstellt, ist, wie alles Vergangene, in einem Gedächtnis, das potentiell universal, »menschlich« ist.87 Und zwar blitzt es nicht mehr in der sinnlosen Abgerissenheit der vagabundierenden Erinnerung auf, sondern es wird als praemia, als fama rekonstruiert; sein Sinn ist Nachvollzug als Preis und Ruhm.88 Dem Griechen ist diese Sinngebung bereits als Gedachtnisleistung etwas Ästhetisches: Aoide, eine Tochter der Mnemosyne. Schließlich aber formuliert solches Gedächtnis das Vergangene selbst in seiner Darstellung über die homerische narratio hinaus als laus. Diese gibt ihren Gegenständen eine Kontur der Notwendigkeit, die nicht etwa auf verklärende Zurüstung und Übermalung hinausläuft - im Gegenteil: Züge dessen, was von vornherein zum Scheitern verurteilt (vgl. 1,493), dem Tod anheimgegeben war (vgl. 4,475), kumulieren sich zur >Rührung< des Lesers (»tangere«; »lacrimae«). Die vergilische - wie überhaupt die antike - Ästhetik versteht sich als distanzierenden, aber überaus affektiven Nachvollzug. Erst nach seiner Selbstbegegnung im Kunstwerk ist Aeneas der Erzählung seiner Vergangenheit fähig, mit der Vergil im zweiten und dritten Buch, wie bekannt, narratives Neuland betritt: der memorierende Held vermag nun, weit über den erzählenden Odysseus hinaus, in erlebter Rede und unter Implikation des Lesers89 [98] eine Selbstdeutung seines Handelns zu geben, die ihn sich selbst in einer überwundenen Phase zeigt und die Notwendigkeit einer Entwicklung rekonstruiert. In ihr eröffnet die Distanzierung zum Mythos im Sinne der Selbst recht fertigung (vgl. besonders 2,432ff.) ebenso ästhetischen Raum wie das Gedenken an Priamus im Sinne der laus.

87 Die Potentialität wird durch die Unwahrscheinlichkeit des Frieses zum Zeitpunkt des epischen Geschehens unterstrichen: die räumliche Universalität (»quae regio in terris nostri non plena laborist«, 1,460) umfaßt auch die zeitliche des Lesers. 88 Weiterführend: J. W. Hunt, Forms of glory, Carbondale/Ül. 1973. 89 Vgl. Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, München 1975, S. 72ff. 48

AENEAS'EPISCHES VERGESSEN Der Erzähler also kann den Bezirk, der mit der Selbstbegegnung am Fries gewonnen wurde, verdoppeln.90 Diese jeder ästhetischen Dimension eigentümliche Fähigkeit zur Reduplikation und Reflexivität wird in der Aeneis sogleich sichtbar, wenn es heißt, daß Aeneas' Bericht »mehrfach wiederholt« wird (4,78f.), ebenso Kunstwerke mit mythologischen Darstellungen (»facta patrum«, 1,641). Solche Darstellungen tendieren bald zur Perfektion, zur Rationalität eines >Weltgedichts< (vgl. 1,642: »antiqua ab origine gentis«). Und am Ende stellt sich auch die Figur des Dichters, schon beim Gastmahl in Karthago, ein (Iopas; l,740ff.). Er ist nicht mehr der homerische Sänger, dem die Musen Geschichten der Göner gaben. Er hat auch den Mythos, selbst die Genealogie ab ovo, hinter sich gelassen. Er trägt ein Lehrgedicht >de verum natura< vor. Die memoria der Aoide hat sehr schnell die Weltsicht des zeitgenössischen Lesers erreicht. Es ist wohl der gelungenste Zug der Aeneis> wie Vergil diesen neuen memorialen Raum des Ästhetischen mit der Handlung des Epos vermittelt hat, und zwar mit dem Beginn der Dido-Handlung, die den Helden, wie zuvor erörtert, vor die Aufgabe stellt, die - ihm episch auferlegte - Offenheit gegenwärtiger Faktizität zu durchstehen. Wie Odysseus auf Scheria von Athene, wurde Aeneas von Venus in die Nebelwolke gehüllt.91 In ihr entrückt betrachtet er sich im Fries. Und aus ihr wird er enthüllt, als Dido aufgetreten ist. Die Wolke zerteilt sich, sodaß Aeneas aus dem Fries heraus der Königin erscheint (l,585ff.), man kann sagen, aus den künstlerisch gestalteten Figuren des Mythos hervortritt (l,588f.): »claraque in luce refulsit os umerosque deo similis«. Es ist das einzige Mal, daß Aeneas9 Äußeres beschrieben wird - und zwar als eine Epiphanie des ästhetisch Vollkommenen, die im Vergleich mit dem Werk eines Bildhauers endet (1,589-593). Dido wird fortan in Aeneas den in seiner fama arretierten Heros des trojanischen Mythos sehen, und in diesem Blick erwacht ihre Liebe (nämlich durch seine Erzählung: 4,lff.). Daß er in die Gegenwart ihrer Existenz treten kann, die sie sehr wohl als andersartig, »kleiner« empfindet,92 90 Richtig Ricks, Die Tränen [Anm. 49], S. 189. 91 Die >Wolke< wird von Vergil in die Nähe eines theatralischen a parte gerückt (Aeneas sucht vergeblich, mit der Umgebung in Rontakt zu treten: l,514ff.; die Reden, die er belauschen muß, sind auf ihn als impliziten Hörer hin komponiert), das seine Isolierung unterstreicht. 92 Vgl. l,731ff. 49

AENEAS'EPISCHES VERGESSEN erscheint ihr anfangs unglaublich; es bestimmt aber bis zum Ende ihr gleichsam statuarisches Bild von der mythischen Geschlossenheit [99] und Verfügbarkeit des Geliebten. In dieses Bild paßt nicht die futurische Dimension der fata; noch in ihren Vorwürfen bei der Trennung zielen ihre Argumente auf den >Trojanerimperiale< Weisung, die zu ihren - meist weniger beachteten - Rahmenbedingungen in Kontrast steht. Diese sind: 1) die >Weitererzählung< der alten mythographischen Tradition; 2) der abgebrochene Dialog mit der opfernden Andromache; 3) die Beschreibung des Schein-Troja, das Helenus gegründet hat; 4) innerhalb der Abschiedsreden der zweite Dialog zwischen Andromache und Aeneas. 1) Helenus und Andromache sind erst von Vergil als gemeinsame Sklaven des Achilleussohnes Neoptolemos (Pyrrhus) zusammengefügt wor104 Mythographisch vollständige Nachweise bei O. T. Zanco, Diomede greco e Diomede italico, in: Rendiconti della Classe di Scienze morali, storiche e filologiche, Accademia dei Lincei 20, 1965, S. 270-282; weiterführend W. W. De Grummond, VirgiPs Diomedes, in: Phoenix 21, 1967, S. 40ff. 105 Hierzu Heinze [Anm. 9], S. 104. 106 Diomedes' Vergessen spiegelt eigentümlich die dekonstruktiven Leistungen des Erinnerns und Vergessens in Aeneas wider. Aeneas hat sich von der mythischen Vergangenheit distanzieren können, die in seiner memoria aufgehoben ist. Richtet sich - zu Beginn des Epos - sein temporäres Vergessen auf das, was dasfatum für ihn bereithält, so »vergißt« Diomedes insgesamt seine ruhmreiche Existenz vor Troja - nur dieses Vergessen sichert ihm das zukunfts- und vergangenheitslose Überleben. 53

AENEAS'EPISCHES VERGESSEN

den; Vergil hat darüber hinaus den Sohn der Andromache von Pyrrhus, Molossos, ignoriert. Aeneas kann die Gegenwart der beiden trojanischen Überlebenden zunächst nicht fassen (3,294ff.); sein Besuch bei ihnen entspringt der Unglaublichkeit (»casus tanti«, 3,299) und dem »mirus amor« (3,298) der Erinnerung. - Mit dieser den Helden tief verwirrenden Begegnung ist die Stufe des weitererzählten, des nicht mehr nur ausgesparten oder nachvollzogenen, allenfalls typologisch gesteigerten homerischen Mythos erreicht; diese Stufe repräsentierte Celaeno (s. oben Anm. 98). 2) Andromache ihrerseits begegnet Aeneas »entgeistert« (»amens«; »exterrita monstris^ 3,307); er erscheint ihr wie ein Gespenst (»verane fades?«, 3,310); sie hält es für möglich, daß er ein revenant ist - und fragt sogleich, warum ihr dann Hektor nicht wiederkehre (3,3llf.). Hinzu kommt, daß sie, wohl als einzige derer, die Aeneas im Verlauf des Epos begegnen, nichts von seiner Irrfahrt weiß - wobei Vergil in diesen Tatbestand (in Form der Frage: »aut quisnam ignarum nostris deus appulit oris?«> 3,338) das weitere Faktum eingefügt hat, daß auch Aeneas nichts von ihrem casus seit der Versklavung weiß.107 Mit Andromache tritt Aeneas etwas Neues entgegen, das sich ihm nicht als mythisch vergangen oder, wie die bisher besprochenen Gestalten, nur zukunftslos verfehlt darstellt: ein (unglückliches) Bewußtsein, das keine Verbindung mehr zu seiner einzig beglaubigten (mythischen) Existenz in der Misere seiner gegenwärtigen Faktizität108 zu finden weiß, eines Daseins, das nur auf die sinnlose Fortdauer und damit einen Abgrund von Individualität verweist, wie er sich in der Aeneis sonst nicht findet. Andromache tritt in Aeneas' memoria nur mit den Versuchen in Erscheinung, diese Unglaubwürdigkeit in der Hingabe an den Mythos zu verlieren109 oder in der Zukunft des Aeneas abzustreifen - nämlich in der Gestalt des Ascanius als Ersatz ihres getöteten Sohnes Astyanax.110 3) Aeneas antwortet in seiner Erinnerung nicht auf Andromache; dafür tritt - ohne seinerseits Andromache in ihrer gespenstischen Isolierung zu antworten - Helenus heran und zeigt Aeneas die [103] von ihm ge107 Vgl. die entsprechenden Fragen des Aeneas 3,317ff. 108 In ihr wird etwas sonst in der römischen Literatur (bis auf die EuripidesRezeptionen) Unerhörtes laut: das Elend der Bettsklavin, die schließlich von dem einer neuen Liebe folgenden Herrn dem Mitsklaven gegeben wird und die Erinnerung an die Existenz als Gattin Hektors wie eine Höllenstrafe erlebt (vgl. 3,32lff., beginnend wiederum mit einem Makarismos der erinnerten Toten). 109 In der Eingangsszene des Opfers 3,30lff. 110 Vgl. 3,339ff. und das Abschiedsgeschenk an die »Astyanactis imago« (3,489) - wiederum ein Kunstwerk mit eingewebten Bildern. 54

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gründete, Troja in allen Einzelheiten petrifizierende Neugründung, die seine Existenz trägt.111 4) Erst der Abschiedsdialog mit Andromache bringt eine Antwort auf die Begegnung - und zwar in Form eines Bekenntnisses des Aeneas, das Andromache als Gestalt seiner eigenen memoria enthüllt: ihr Bewußtsein wird als sein eigenes, kommemorativ verarbeitetes und distanziertes Bewußtsein sichtbar. Und es steht in krassem Kontrast zu den imperialen Verheißungen des Helenus - einem Kontrast, der sich nun nicht mehr als Vergessen desfatum artikuliert, sondern als Widerspruch zum fatum, als Widerspruch, der nur durch seinen Transfer in eine antizipierte memoria ausgeglichen wird (3,493ff.): »vivite feliceSy quibus est fortuna per acta iam sua; nos alia ex aliis in fata vocamur. vobis parta quies (...) 5i quando Thybrim (...) intraro (...).« Noch einmal wird der Makarismos im Seesturm (und ebenso der Andromaches) aufgenommen, aber Aeneas trägt ihn aus einer Distanz vor, die bereits die Gründung Roms voraussetzt (vgl. 3,802ff.). Er wird durch den Gehorsam gegen die fata nicht durchstrichen, aber auch durch kein Vergessen der fata realisiert. In der memoria bleibt er erhalten als nicht gelebte Pause zwischen Mythos und Geschichte; in ihr aber wird er auch ästhetisch geformt:112 Andromache bleibt unvergeßlich.113 [104] 111 Nicht die Existenz der Andromache; die Junktur »falsi Simoentis« (3,302) tritt einzig bei ihrer Opferung auf. 112 Die Probe auf die hier gegebene Interpretation - die nachmythischen Figuren begegnen Aeneas aus seiner memoria heraus - gibt die Wiederkehr des gleichen Bekenntnisses beim Abschied von Dido 4,333ff. Nachdem Dido und Karthago in die memoriale Dimension distanziert worden sind (»nee me meminisse pigebit«, 4,335; »dum memor ipse mei«, 4,336), bezeichnet Aeneas den ^ifci-Gehorsam als »nicht sein eigenes Leben« (4,340f.); ein solches würde - wie das der Andromache! der Pflege des zerstörten Troja, dem Totendienst, ja dem Wiederaufbau eines zweiten Troja als einer Stadt der »Besiegten« gewidmet sein (4,340ff.). - Es ist charakteristisch, daß erst die im Gegenzug zur philologischen ^ita-Verherrlichung des 20. Jh. sich bewegende >christliche< Interpretation Vergils von Theodor Haecker (vgl. zuletzt ders., Odysseus und Aeneas, in: Virgil, hrsg. von St. Commager, Englewood Cliffs 1966, S. 68ff.) auf diese Bekenntnisse zurückgriff. 113 Die Latinistik hat der Andromache-Helenus-Episode (abgesehen von der Prophezeiung) wenig Aufmerksamkeit zugewandt (vgl. R. E. Grimm, Aeneas and Andromache in Aeneid HI, in: American Journal of Philology 88, 1967, S. 151-162; gute Zusammenfassung: B. Otis [Anm. 3], S. 260f.); vor allem ist sie, soweit ich 55

AENEAS* EPISCHES VERGESSEN Die Gestalt des Achaemenides (3,570ff.)1H ist nun die erste Fiktion Vergils, eine der wenigen in der Aeneis. Aeneas erzählt seine Landung bei den Zyklopen, die der Leser als eine der Odyssee-Wiederholungen erkennt. Aber das homerische Handeln des Helden wird in neuartiger Weise eingeführt. Aeneas weiß diesmal nicht, wo er gelandet ist (3,569);115 sein Erfahrungshorizont wird also auf den des Odysseus zurückverlegt. Und in diese Offenheit tritt Achaemenides116 als der Unbekannte schlechthin (»ignoti nova forma viri«, 3,591). Die Abenteuer des Odysseus und des Aeneas sind nun aus der Kongruenz von Nachformungen auseinandergetreten;117 auch wird die Spannung zwischen den homerisch-mythischen Geschichten und der Gegenwart des Aeneas nicht mehr in der Form einer >Fortsetzung< des Mythos (Celaeno, Andromache) sichtbar gemacht. Sie tritt als fiktionale Aufhebung der nach vollziehenden Identität zutage.118 Und diese Aufhebung wird in denkwürdiger Weise noch einsehe, gänzlich an der Rezeption Baudelaires (Le cygne) vorbeigegangen - und damit an der anhaltenden Interpretation auch der vergilischen Szene in der Romanistik (vgl. die Dokumentation bei M. Koch, Mnemotechnik des Schönen, Tübingen 1988; dort nicht genannt: W. Fietkau, Schwanengesang auf 1848, Hamburg 1978; J. Starobinski, Melancholie und Spiegelbild, in: Merkur 42, 1988, S. 751-765; vgl. auch B. Vinken, Zeichenspur, Wortlaut. Paris als Gedächtnisraum, in: Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik, hrsg. von A. Haverkamp und R. Lachmann, Frankfurt/M. 1991, S. 231-262). Der Philologe wird - wie aus der hier vorgelegten Interpretation und ihrer Gesamtsicht der vergilischen memoria deutlich wird - einen Dekonstruktivismus auch hinsichtlich der memoria selbst bei Vergil nicht gelten lassen; er muß auch auf den in allen romanistischen Interpretationen unberücksichtigt gebliebenen Schlußdialog Andromache-Aeneas, auch für die Interpretation Baudelaires, verweisen. Bereits Aeneas (Vergil) erinnert sich doppelt an Andromache (in der Szene selbst und in der Erzählung vor Dido), eine Doppelung, die - mitsamt der Abwendung von den römisch-imperialen fata in eine angemessene Interpretation Eingang finden sollte (vgl. nunmehr W.-D. Stempel, Nachdenken über Andromache, in: Gestaltung - Umgestaltung. Festschrift M. Kruse, hrsg. von B. König und J. Lietz, Tübingen 1990, S. 429-442). 114 Die Episode hat noch keine ausreichende Detailinterpretation gefunden; vgl. T. E. Kinsey, The Achaemenides episode, in: Latomus 38, 1979, S. HOff.; H. Offermann, Vergil, Aeneis 5,847 und die Palinurus-Episode, in: Hermes 99, 1971, S. 164-173; E. Römisch, Die Achaemenides-Episode, in: Studien zum antiken Epos, hrsg. von H. Goergemanns und E. A. Schmidt, Meisenheim 1976, S. 208-227. 115 Im Kontrast dazu wird 3,578ff. die fama vom Vulkan Aetna als dem mythischen Gefängnis der Zyklopen in Aeneas' Bericht einbezogen. 116 Auch der Name ist von Vergil erfunden; vgl. Heinze [Anm. 9], S. 112. 117 Dem modernen, nicht vom homerischen Nach Vollzug aus urteilenden Leser muß dieser Vorgang gegenläufig erscheinen: »Die beiden Welten rücken so nahe aneinander, daß sie sich fast berühren« (K. Stierle [Anm. 26], S. 120). 56

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mal als memoriales Ereignis dargestellt: Achaemenides wurde von Odysseus und seinen Gefährten in der Höhle des Polyphem »vergessen« (»bic rne ... / immemores ... / deseruere«> 3,616ff.). Die Leerstelle zwischen dem Mythos und seiner in die Geschichte führenden Wiederholung wird hier vom Mythos her als ein Vergessen seiner Figuren konstituiert. In ihrer Offenheit aber folgt die fingierte Figur gebieterisch den Darstellungszielen, die sich im karthagischen Fries ankündigten, in der Polydorusgestalt und vollends in Andromaches Bewußtsein Kontur gewannen: Geschichtsverlassenheit in räumlicher und zeitlicher Abgelegenheit, sinnloses Leid und Todesnähe. Achaemenides wird betont als >mittlerer Held< eingeführt (nicht adlig, arm, in den Krieg geschickt); seine Existenz auf der Zyklopeninsel hat ihn - was ohne Vorbild in der Odyssee ist - zum karg lebenden Robinson reduziert (vgl. 3,591. 649ff.).119 Seine Rede120 fordert von den Aeneaden nichts als Hilfe (also ein Heraustreten aus den mythischen Fronten der Feindschaft und zugleich eine Korrektur [105] der treulosen Vergeßlichkeit des Odysseus).121 Aeneas' nachmythisches Handeln wird zum Ausdruck humanen Mitleids.122 Im Gegensatz zu Helenus und An118 Vergil markiert diese Aufhebung mit besonderer Sorgfalt: wird zunächst die Zurücklassung des Achaemenides durch Odysseus auf »drei Monate« vor der Ankunft des Aeneas datiert (3,645), so wird beim leibhaftigen Sichtbarwerden Polyphems diese Zeitangabe durchkreuzt: der Zyklop wäscht sich im Meer das frische Blut aus seinem ausgestoßenen Auge (3,662f.). 119 Der Kontrast zur Odyssee muß beabsichtigt sein; hier war die Zyklopeninsel als Inbegriff goldener Zeit und ihrer natürlichen Fülle gemalt worden. 120 In ihr wird wiederum vorausgesetzt, daß Aeneas das Zyklopenabenteuer (des Odysseus) nicht kennt und Polyphems Angriff auch ihm droht. Daher die in dieser Form einzigartige Erzählung des Achaemenides über das Abenteuer des Odysseus, die aus den homerischen Nachvollzügen in der epischen Handlung herausfällt. Gleichwohl ist natürlich das Odysseus-Abenteuer in der memoria des Vergil- und Homerlesers. Achaemenides' Erzählung gerät daher zu einer eigentümlichen Mischform, in der der Berichtende nicht sein Erlebnis, sondern nur sein Zuschauen berichtet (vgl. 3,618ff. und die wiederholte Einklammerung durch »vidi«), 121 In solcher Korrektur der homerischen Vorlage zeigt sich die Aufhebung des identischen Nachvollzugs auch als Aufhebung der (bei Vergil stets latenten) typologischen Steigerung des homerischen Helden durch den vergilischen. Trotz des jeder Typologie inhärenten Moments der gesteigerten Erfüllung bleibt sie ein geschichtliches Denken der Identität und Wiederholung. Wo (wie auch in der Bibelexegese) überbietende Korrektur auftritt, ist typologisches Denken bereits verlassen. 122 Diese vergilische >Humanität< hat erst die Romantik in der Aeneis gefunden; vgl. J. M. Andre, La survie de Virgile dans le romantisme Italien, in: Bulletin de l'Association G. Bude 41,1982, S. 306-329. 57

AENEAS'EPISCHES VERGESSEN dromache bleibt Achaemenides nicht in gespenstischer Weise in seinen mythischen Status gebannt; die Aeneaden nehmen ihn, anders als die anderen Begegnenden, auf ihrem Schiff mit. Hiermit freilich ist seine Funktion erschöpft; er tritt niemals wieder auf. Wenn er bei der Entfernung von der Zyklopeninsel noch einmal sichtbar wird, weist er den Weg zur nächsten (homerischen) Station der Fahrt,123 aber er legt den Weg »in entgegengesetzter Fahrtrichtung« zurück: »talia monstrabat relegens errata retrorsus / litora« (3,690f.). Die Aeneis ist mit der Odyssee wieder kongruent geworden, aber sie wird aus ihr herausführen. Die andere von Vergil erfundene Einzelfigur, Palinurus,124 steht spiegelbildlich zu Achaemenides. Vergil hat sie aus der geographischen Bezeichnung eines Kaps an der tyrrhenischen Küste entwickelt. Hier wird eine Leerstelle nicht mehr des Mythos, sondern der italischen Zukunft in die Handlung eingelassen und mit der Gestalt des Steuermanns der aeneadischen Flotte besetzt. Bezeichnend für diese Zukunftsbezogenheit läuft die Palinurus-Episode nicht mehr in der Erzählung des Helden vor Dido ab; sie ist Teil der seltenen epischen Primärhandlung in der ersten Werkhälfte. Auch ist Palinurus offenbar dem kommemorativen Götterzorn der Olympier enthoben; der Dämon, der ihn ins Verderben stürzen wird, handelt nicht als Teil von Junos Rachemaschinerie.125 Episch ist somit Palinurus vollkommen überflüssig; er drückt lediglich, am Ruder stehend, die ausschließliche Beschleunigung der zukünftigen Verheißung aus. Dies gibt seiner Szene hellenistische Leichtigkeit: das Meer und sein Getier werden zur theokritischen Szenerie (5,820ff.); die Flotte gleitet unter serenem Abend- und Nachthimmel ohne menschliches Zutun, auch ohne eine Ruderbewegung des Palinurus dahin (5,833ff.). In dieser Enthobenheit, diesem otium% senkt sich Somnus in Gestalt des Gefährten Phorbas herab, verwickelt Palinurus ins Gespräch. Und er macht den Steuermann auf seine Müdigkeit aufmerksam, auch er verweist auf die [106] labore$>

123 Damit aber kann intertextuelle Fiktionalität sich multiplizieren: in der Begegnung von Achaemenides mit einem weiteren (von Ovid erfundenen) Gefährten des Odysseus, Macareus (vgl. Stierle [Anm. 26], S. 120f.). 124 Vgl. F. J. Worstbrock, Elemente einer Poetik der Aeneis, Münster 1963, S. 53f.; R. C. Clark, Catabasis, Amsterdam 1979, S. 157; und vor allem J. Freccero, Dante. The poetics of conversion, Cambridge/Mass. 1986, S. 139ff.; P. E. Brenk, Unum proraultiscaput, in: Latomus 43, 1984, S. 776-801. 125 Die sehr lockere Motivation (zu Beginn der Episode), ein Mensch müsse noch vor Erreichen der italischen Küste sterben (5,814f.), soll eher im Kontrast zur besonders idyllischen Meerfahrt (5,830ff.) die Lesererwartung spannen.

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auf die endlich gewonnene Stunde der quies (5,844f.). Noch wehrt sich Palinurus gegen das, was ihm ein Vergessen zu sein scheint (»mene ... /ignorare iubest«, 5,848f.). Aber seinem verhangenen Blick begegnet nur noch die gefahrlose Stille der Sterne (5,853). Nun kann ihn Somnus mit einem Zweig voll des »Vergessenstaus« (»Lethaeo rore«, 5,854) berühren. Palinurus erwacht in der See erst, als die Flotte schon entfernt ist; sie droht geradewegs auf die Knochen am Fuße des Sirenenfelsens zuzusteuern. Mit der Trennung von Aeneas aber tritt der dem Untergang sichere (5,871) Palinurus auch aus der epischen Handlung der Aeneis. Dem Leser scheint es aufgegeben, diesen Untergang wieder in einer memoria der mythischen Landschaft, eben der gestrandeten Gebeine vor den Sirenen, abzuschließen. Aber Vergil - singulär in der Aeneis - durchkreuzt diese mythische Rückbindung durch ein zweites, postmortales Auftreten des Steuermanns (6,337ff.) im descensus-Buch. Und hier erzählt Palinurus »weiter« er stellt die sinn- und zukunftslose Endphase seines Lebens, getrennt von der Flotte, in krasser Realistik dar: seinen Kampf gegen das Ertrinken, seinen gräßlichen Tod durch Steinwürfe am endlich erreichten Strand, die noch grausigere Reise seines hin- und hergetriebenen Leichnams an allen Stränden des verheißenen Landes. Diese (erste) Begegnimg des Aeneas im Hades weitet seine memoria auch in ein Wissen des Gegenwärtigen und Künftigen aus, das zuvor nur auf die Verheißung des fatum hin als globale Geschichtserfüllung geglaubt war. Mehr noch: mit Palinurus begegnet Aeneas eine Gestalt, die auf eine neue Art quer und damit gespenstisch zum mythistorischen Handlungssinn steht; mit ihm memoriert Aeneas auch das in seinem Leiden schwer erträgliche Detail des geschichtlich Belanglosen. Mit Palinurus wird also ein rejeton, eine Abspaltung,126 auch von dem Weg in die römische Zukunft als Figur und als Untergang gestaltet - der Bruch in der Erzähllage und Stimmung zwischen den beiden Hälften der Episode127 zeigt unübertrefflich die Abkehr des Blickes vom geschichtlichen Telos 126 »Mutilated figures« nach der treffenden Bezeichnung von C. Fuqua (Hector, Sychaeus, Deiphobus, in: Classical Philology 77, 1982, S. 235-240). - Man vergleiche das ebenfalls fingierte Freundespaar Nisus und Euryalus im neunten Buch und den ebenfalls >zu früh verstorbenem Marcellus aus der augusteischen Dynastie in der Heldenschau. Im letzteren Fall ist die Rührung der Herrscherfamilie bei der Vorlesung durch den Dichter die einzige überlieferte Reaktion des zeitgenössischen Publikums (vgl. H. F. Rebert, The felicity of infelix in VirgiPs Aeneid, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 59,1928, S. 57ff.). 127 Vgl. zur Forschung: P. E. Brenk [Anm. 124]. 59

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des Epos. Damit stellt sich die Frage nach dem Sinn einer solchen (nochmaligen) Ausweitung im Gedächtnis des Helden und ihrem möglichen Widerspruch zur national bestimmten memoria des römischen Lesers. Es ist die Frage nach dem Sinn des vergilischen descensus. [107]

V »Entrücke dich dem Stein/ Zerbirst die Höhle, die dich knechtet/ Rausche doch in die Flur! Verhöhne die Gesimse -« Gottfried Beim, Karyatide (1916) Für die Handlung der Aeneis bleibt Aeneas9 Eintritt in Hades und Elysium an der Hand der Sibylle folgenlos. Der Held jedenfalls handelt nach seinem ascensus aus keiner bestimmteren Kenntnis des Bevorstehenden, als sie der Leser den fünf Versen der abschließenden praeteritio 6,888ff. entnehmen konnte. Aber gerade Aufklarung über Gefahren bis zum Ende der epischen Handlung128 war es, was ihm als Ergebnis des Abstiegs versprochen und auch der Sinn der Nekyia des Odysseus gewesen war. Auch was Anchises ihm in einer Traumerscheinung verspricht - er werde dem Sohn das Schicksal Roms und die römische Geschichte enthüllen129 -, hätte, ähnlich den anderen >Durchblicken< auf die fata, in der Traumerscheinung selbst Platz finden können. Denn selbst die >Heldenschau< des descensus (6,756ff.) bestimmt Aeneas' Handeln, sowie er zum Licht empor kommt, in keiner Weise. Vor allem: der descensus umschließt keineswegs nur die Orientierung über die fata. Sogar der vertraute Nachvollzug Homers (der Nekyia im elften Buch der Odyssee) ist nur in Teilen im sogenannten mythologischen Hades130 des sechsten Buches (6,295-547) zu erkennen. Schon hier hat Vergil geändert: die Toten des Mythos wissen grundsätzlich von jedem postmortalen Geschehen; Aeneas kann ihnen, sehr im Unterschied zur Nekyia, nichts mehr »vermelden«.131 Sie sind Sachwalter eines uni128 3,458f.: »venturaque bella /et quo quemque modo fugiasque ferasque laborem« (Helenus-Prophetie). 129 5,737. 130 Sorgfältige Nachzeichnung der Rezeption bei F. Norwood, The tripanite eschatology of Aeneid VI, in: Classical Philology 49, 1954, S. 15ff.; zum Problem: F. Solmsen, The world of the dead in Book VI of the Aeneid, in: Classical Philology 67,1972, S. 31-41. 60

AENEAS9 EPISCHES VERGESSEN versalen Gedächtnisses geworden,132 das von der mythischen Vorzeit über die Handlung der Aeneis™ bis zu Augustus reicht - sie treten also Aeneas mit der memoria des Lesers gegenüber. Und Aeneas begegnet ihnen in einer Weise, die sich schon vor dem Tempelfries in Karthago ankündigte: als Zuschauer - ja er besichtigt geradezu dieses Gedächtnisuniversum. Bereits die Sibylle muß ihn vor dem Abstieg vom Beschauen eines weiteren (mythologischen) Tempelfrieses134 energisch hinwegführen (6,37); das wiederholt sich [108] bei der Begegnung mit dem verstümmelten Deiphobus (6,539ff.), der mit der Erzählung seines grausigen Todes den betroffenen Aeneas völlig seinen weiten Weg vergessen läßt.135 In diesem Universum wird ihm gewiß auch der Untergang seiner Geliebten (Dido), seiner Gefährten (Palinurus, Misenus) memoriert. Aber diese Allgegenwärtigkeit zielt weit über seine Person hinaus; was bei der Palinurus-Episode noch als >Ausweitung< der memoria des Helden interpretiert werden konnte, ist in Wahrheit der gesamte mythistorische Horizont des Lesers. Warum hat Vergil den memorw-Raum des Mythos und der fata> der sonst in begrenzter Weise dem Helden eingeformt wurde, in diesem Maße gesteigert und Aeneas gestaltgeworden gegenübertreten lassen? Weder imperiale Sinngebung noch homerisierende Nachfolge allein können den descensus erklären. Eine Erklärung hat die Vergil-Interpretation seit jeher in den beiden folgenden Landschaften des vergilischen Jenseits, dem >moralischen< und dem >philosophischen< Hades, gefunden. Gemeint ist der Höhepunkt des descensus, der nun unabhängig von der römischen Geschichtstheologie eine individuelle Erlösimgsphilosophie in die homerische Nekyia einfügt. Das System ist oft untersucht worden und in seinen Quellen geklärt.136 Es 131 Diese für Homer bis in die Schlachtaristien hinein wichtige Funktion des Heldentodes hat Vergil charakteristischerweise nur noch in der Rezeption einer epischen Formel außerhalb des descensus wiederholt (2,547ff.). 132 Charon handelt nicht nur, er erinnert an die früheren Versuche, in den Hades vorzudringen. Vor dem Eingang in die Unterwelt hat Vergil eine eigene Gruppe nachmythischer Personifikationen als Dämonen von universaler Macht eingeführt (Luctus, Egestas, usw.). 133 So Anchises, der nicht nur Künder der imperialen Zukunft ist, sondern aufs genaueste die Vorgänge der epischen Handlung unmittelbar nach seinem Tod (in Karthago) kennt (vgl. 6,679ff.). 134 In dieses Beschauen fügt sich Vergil mit auktorialen Apostrophen an die dargestellten Gestalten ein (6,30). 135 *Nosflendo ducimus horas«, mahnt die Sibylle 6,539. 136 Vgl. E. Norden, P. Vergilius Maro: Aeneis, Buch VI, Leipzig 21916, S. I6ff.; Solmsen [Anm. 130], S. 35ff.; Clark [Anm. 124], S. 169ff.

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AENEAS'EPISCHES VERGESSEN setzt, aus orphischer und pythagoreischer Tradition - unmittelbare Quelle Vergils dürfte Piatons Phaedo gewesen sein -, zyklische Verläufe zwischen (göttlichem) Pneuma und Körperlichkeit voraus, die im Sinne der Purifizierung (also eines Purgatoriums) von den Menschen durchlaufen werden können, menschliche Existenz also als Bewährung auffassen. Die Purifizierung erfolgt hierbei im Hades nicht als Strafe, sondern gleichsam als ausgleichendes Äquivalent des individuellen Verhaltens137 durch Einwirkung der Elemente Luft und Feuer.138 Bis zur gänzlichen Reinigung und Rückkehr in den aetber1* werden die Seelen immer wieder in die Körperlichkeit eingeschlossen (wiedergeboren; nach der Tradition etwa in einem Zyklus von 1000 + 9 Leben). Der durch stoische Lehrstücke angereicherte Piatonismus dieser Verkündigung fällt derart aus dem homerischen und augusteischen Rahmen der Aeneis, daß er seit der Spätantike als Kernaussage des Theologen Vergil im epischen Kleide angesehen wurde: er hat die menschliche vita als Bewährungs-Allegorie auf die übrigen Teile der Aeneis projiziert und von Fulgentius bis weit über Cristofero Landino hinaus die Aeneis als Allegorie menschlicher Vervollkommnung interpretieren lassen140 - eine Lesung der Aeneis, die noch in den >Entwicklungsversammelten< Helden handelt. Von ihnen wird Aeneas9 einziger Kommentar zur Heldenschau sagen: »quae Iuris miseris tarn dira cupido?« (6,721) - der Wille zum Leben ist etwas Furchtbares, und er macht elend. Eine solche Zuweisung des Vergessens an das Leben, des Gedächtnisses an das Jenseits hatte sich allerdings in der orphischen Tradition der Wiedergeburtslehre angebahnt. So wird auf den Goldschalen von Petelia und Thurii (Süditalien; 4. Jh. v.Chr.) der gestorbenen Seele im Hades geraten, aus dem See der Mneme zu trinken, aber den Lethetrank zu vermeiden; sie werde dann »über die anderen herrschen«, am Ende schneller zum aether zurückkehren.153 Vergil hat offenbar die Anamnesis ganz vermieden, ebenso das >Wasser der Erinnerungpräsentischen< Wirkungsraum dtrpathe (z.B. Ressentiments) heraus. 152 Paus. 9,39,8. 153 Nachweise bei Henry [Anm. 54], S. 134f. 154 Anders Dante, der bei seiner Rezeption des vergilischen Letheflusses als Wasser des Lebens wiederum das zweite in der Folge zu trinkende Wasser Eunoia einführt (Purg. 28,127-129; Purg. 31,lOlf. trinkt Dante vom Lethefluß).

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Mit dieser - von Vergil geschaffenen - Verbindung der Wiedergeburtsund Erlösungslehre mit einer Theorie des Vergessens hat sich nun ein eigentümliches Verhältnis zwischen Mythos und Geschichte, also den beiden memorialen Horizonten, die das vergilische Epos konditionieren (vgl. oben I), herausgestellt. An dem Schwann, der aus der Höhle des Hades herausdrängt, nimmt keine Gestalt des Mythos teil;155 die (philosophische) Universalität der Wiedergeburtslehre wird eingeschränkt; der Mythos bleibt, unvergessen, nichts vergessend, in Tartarus und Elysium eingeschlossen. In der Jenseitshöhle der memoria ist andererseits keine geschichtliche Gestalt anzutreffen, die sich - wie etwa der Scipio in Ciceros De re publica - von den Wiedergeburtszyklen gelöst hätte. Noch durch die philosophische Konzeption der Palingenesie hindurch also hat Vergil den Schnitt zwischen Mythos und Geschichte gelegt; und es ist noch einmal der memoriale Schnitt zwischen Gedächtnis und Vergessen. Die römische Zukunft wird eine Kette von Taten, wechselnden Bildern und partiellen Gestalten entrollen (»fataque«; »fortunasque virum«; »moresque manusque«, 6,683), die aber kein Erinnern und Vergessen kennen, sondern in ihrer melete voranschießen. Und von ihnen heißt es in dem abschließend von Anchises verkündeten Manifest der [112] Römerwerte (6,847-853) ausdrücklich, ihre geschichtliche Existenz werde politisch sein (6,85lff.), nicht wissenschaftlich (6,849f.), und vor allem nicht ästhetisch (6,847ff.).156 Die mythischen Gestalten sind hingegen keineswegs im Gegenzug strikt in die memoria ihrer Geschichten gebannt, wie zu erwarten wäre. Dies gilt nur für die Verurteilten und die Unbestatteten (Dido; Palinurus; also die von Aeneas memorierte eigene Vergangenheit). Die Bewohner des Elysiums hingegen sind durch ihre Namen, nicht mehr durch Gestalten oder Geschichten, nur mehr als mythische Inbegriffe erkennbar; sie repräsentieren nichts anderes mehr als die memoria selbst. Sie enthält zunächst das universale Gedächtnis (des Lesers), das gerade auch die geschichtliche >Zukunft< umfaßt; Anchises157 steht für diese Einformung des 155 Anders noch in der vierten Ekloge, wo die mythischen Heroen in der Zeit der Augustusgeburt zum Beginn des neuen Weltenjahrs wieder auf der Erde erscheinen. 156 Es ist übrigens bemerkenswert, daß Aeneas auf dieses so oft hervorgehobene Manifest nicht antwortet, auch, wie erörtert, angesichts des ganzen in die Geschichte dningenden Schwanns nur die Frage nach dem Warum stellt, vor allem aber nur nach einer einzigen geschichtlichen Gestalt sich voll Mitleid erkundigt, dem >zu früh gestorbenem jungen Marcellus. 157 Anchises blickt nicht dem sich nähernden Sohn entgegen, sondern for66

AENEAS* EPISCHES VERGESSEN ursprünglichen /ite-Horizonts zwischen Autor und Leser (vgl. oben I) in eine der Figuren des Elysiums. Aber darüber hinaus erinnern sich die Gestalten des Elysiums an sich seihst. Vergil steigert dabei die bereits Aeneas eingezeichnete Projektion der eigenen Person in die Vergangenheit zu einer Darstellungsform, die es zuvor nicht gab (6,640-678). Aus, Assaracus und Dardanus158 haben sich im Elysium ihrer Waffen, Wagen und Pferde, die losgeschirrt grasen, entledigt; die Lanzen stehen in den Boden gerammt beiseite. Sie führen eine Existenz des Nachher, die die alten Paraphernalien noch als Erinnerungsspur mit sich führt,159 aber freigesetzt hat.160 Diese Freisetzung hat Vergil im Sinne der Aoide ästhetisch gemeint: mit den Heroen, die nun, teils ins Grüne gelagert, teils Wettkämpfe ausführend, einen pindarischen Päan singen (6,655ff.), treten Musaeus und Orpheus auf.161 Hier wird die Linie einer ästhetischen Formung der memoria (s. oben HI) fortgesetzt. Zwischen der Gattimgstradition des Epos, der augusteischen [113] Erwartung an einen Preis Roms und einer philosophischen Weltanschauung hat Vergil die Aeneis in einer sehend in die Richtung, in welcher der futurische Schwann den Hades verlassen wird (6,679ff.). Er will die einzelnen geschichtlichen Gestalten erläutern und wird von Aeneas mit der Frage nach dem >philosophischen< Hintergrund geradezu unterbrochen (6,716ff.). - Es verdient Beachtung, daß der memoriale Blick des Anchises aus dem Seelenhaufen am Lethefluß nicht etwa nur einen Querschnitt des Gleichzeitigen, den gerade neu beginnenden Lebenszyklus, sondern die geschichtliche Folge der gesamten römischen Zukunft herauszuheben und ihre genaue temporale Sukzession zu vergegenwärtigen (»memorare«; »enumerare«, 6,716f.) in der Lage ist. 158 Es treten hier ausschließlich Gestalten der fernsten mythischen Vergangenheit auf. 159 Vergleichbar sind nur in der spätantik-mittelalterlichen Kunst Gestalten des A T in ihrer (typologischen) Erfüllung: so der noch die Asche und Schrunden aufweisende, aber bereits lächelnde Hiob in Prudentius* Psychomachie {psych. 165f.). 160 Diese Freisetzung kontrastiert aufs schärfste mit der (ebenfalls neuartigen) Darstellung der geschichtlichen Gestalten vor ihrer Wiedergeburt: ihnen wird, bereits ohne ihr Wissen, beim Trinken aus dem Lethestrom das Attribut ihrer irdischen Handlung wie eine bildliche Abbreviatur beigegeben: die Andeutung eines Kranzes, einer Lanze, auf die sich die Gestalt bereits stützt, die Ketten des Torquatos, aber auch das Todesdunkel um das Haupt des Marcellus. Charakteristisch für die Schwierigkeiten, die diese Darstellungsform der Philologie bereitete: H. T. Pliiß, Vergil und die epische Kunst, Leipzig 1884, S. 169f. 161 Ebenso alle, die durch ihre Erfindungen das Leben verbessert haben (6,663f. also gerade die, denen die römische Zukunft nach dem Manifest der Römerwerte wesensfremd sein wird) und dadurch in der kollektiven memoria menschlicher Utopie anwesend sind: »quique sui memores aliquos fecere merendo« (6,664). 67

AENEAS'EPISCHES VERGESSEN Poetik der memoria gipfeln lassen, die er in seinem Helden angelegt hat und in einem die Erwartimg durchkreuzenden Manifest formuliert. Offenbar weist diese Poetik auf eine memoriale Anthropologie, die es mit Erinnern, Vergessen und Gedächtnis zu tun hat, und zwar gerade bei der Genese von Kunst. Nach einer griechischen Tradition162 hat es als Töchter Mnemosynes ursprünglich nur drei Musen gegeben: Melete, Mneme und Aoide.

VI »Die Römer, die Stützen meines Arsches, sind immer, sind stets gewesen und werden immer bleiben.* W. A. Mozart, 13. Nov. 1777, an seine Cousine Die Aeneis wird als Epos zu Ende geführt: Aeneas verläßt das Elysium. Er hat im zweiten Teil des Werks für die Gründung Roms zu wirken. Allerdings wird der Held nicht in eine Wiedergeburt durch den Lethefluß hindurch entlassen. In seinem Gedächtnis führt er das Gesehene, freilich in Form einer kompakten, nicht mehr in Gestalten differenzierten Gewißheit mit (das zeigt etwa die Klage um Pallas ll,29ff.). Aber im allgemeinen außen sich dieses Wissen nicht im Handeln des Helden, sondern als Selbstgewißheit, als das zuweilen schroffe Bewußtsein, die pietas zu verkörpern und mitleidlos, ja blicklos durchsetzen zu müssen. Die Figur verändert sich (vgl. oben II); sie führt andeutungsweise noch einen kommemorativen Kern in sich, aber dessen zunehmende Unzugänglichkeit destruiert Aeneas zu einem die Geschichte vollziehenden Handlungsträger: »ego poscor« (8,533). Anchises hatte die Heldenschau mit einem Hinweis auf Aeneas' eigene Kriege als Beginn der römischen Zukunft geschlossen. Wirklich ist der Held, insofern er in der zweiten Werkhälfte handeln wird, gleichsam doch durch den Lethefluß gegangen. Mitleid und humanitas werden zeitweise in ausdrücklichem Hohn (vgl. 10,557ff.) zurückgenommen.163 Die Niedermetzelung [114] des Hauptfeindes Turnus, 162 Pausanias 9,29. Vgl. S. Goldmann, Topoi des Gedenkens. Pausanias' Reise durch die griechische Gedächtnislandschaft, in: Gedächtniskunst [Anm. 113], S. 145-164. 163 Diese >Rücknahme< des descensus und der - nach wie vor zumeist als Entwicklung interpretierten - Gestalt des Helden, wie sie bis zum fünften Buch sichtbar wird, hat die neuere Forschung seit A. Parry [Anm. 52] zu einem radikalen An-

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das letzte Wort der Aeneis, wird endlich durch das zur Rache, zur blinden Wut sich zurückbildende Aufblitzen einer Erinnerung veranlaßt.164 Aeneas ist hier >außer sich< wie bei seinem ersten Auftreten im Seesturm des ersten Buches. Diesen Verlust seiner Figur an Innerlichkeit hat Vergil nicht zuletzt durch die erneute, starre Einfügung des Helden in die providentielle Gruppe165 Anchises-Aeneas-Ascanius ausgedrückt. Vergeblich beruft sich (10,53 lff.) der um pietas flehende Gegner auf Aeneas* Vater und Sohn: die pietas des Helden ist diese Gruppe und ihr fata-Sinn selbst geworden.166 Ascanius zugesprochen ist das letzte Gedenken des Aeneas vor seinem Schlußkampf mit Turnus (12,432ff.). Es handelt sich um eine komplizierte und unter dem hier betrachteten memorialen Aspekt raffinierte Form: von Aeneas formuliert wird diese Zuspräche als (wiederum antizipierte) memoria des erwachsenen Ascanius, der sich an Hektor erinnert, an die exempla seiner Vorfahren, an Aeneas selbst. Ihr Ziel ist virtus und labory nicht fortuna. Eine letzte Steigerung der Gedächtnisantizipation wird hier erreicht, wenn nach Aeneas* Willen Ascanius später in diesem Gedenken an Aeneas zur virtus aufgerufen werden soll (»sis memor et te animo repetentem ... / ... Aeneas ... excitet«, 12,439f.). Hier ist die gegenwärtige Ermahnimg eingeklammert; Aeneas hat sich als lebende Person (außerhalb der Schlacht) vollständig getilgt. Vollends verläßt Aeneas* Schutzgöttin Venus den Helden als Person und wendet sich Ascanius als dem Zukunftsrepräsentanten der Gruppe griff auf die >augusteische< Deutung des Epos (verbreitet vor allem in Deutschland; zuletzt: Otis [Anm. 3]) veranlaßt. Parry, hierin der Vergilauffassung H. Brochs nahe, interpretierte den Aeneas der zweiten Werkhälfte als Opfer der römischen Zukunft; die Aeneis wolle mit ihrer >zweiten< Stimme den Preis sichtbar machen, der für geschichtliches Handeln erlegt werden müsse. M. C. J. Putnam, The poetry of the Aeneid, Cambridge/Mass. 1965, wandte diese Beobachtungen zur Attacke des Dichters gegen Augustus um: in das Nationalepos eingeschrieben sei mit der Figur des Aeneas der Protest gegen den beginnenden Prinzipat; so auch S. Farron in mehreren Untersuchungen (vgl. z.B.: Aeneas' human sacrifice, in: Acta Classica 28, 1985, S. 21-33). 164 Durch den Blick auf das Pallas geraubte Wehrgehenk des Turnus; diese Erinnerung zieht Aeneas tief in sich hinein: »postquam saevi monimenta doloris /exuviasque hausit« (12,945f.). 165 Sie war noch im fünften Buch spielerisch durch Analogien in den Familien der Aeneaden variiert worden (vgl. 5,563ff.). 166 Zutreffend Otis' Schlagwort von Aeneas als >pietas in Aktion < ([Anm. 3], S. 313). 69

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zu (10,46ff.): möge doch Aeneas wieder ziellos in den Wellen treiben oder waffenlos irgendwo sein Leben in Ruhe zu Ende bringen:167 »liceat superesse nepotem«. Vergil hat diese Reduktion seines Helden auf die melete des Handelns eindringlich mit der zweiten großen Ekphrasis der Aeneis vollendet. Die Schildbeschreibung des achten Buches respondiert der Beschreibung des Tempelfrieses (s. oben HI), aber sie nimmt das Ergebnis des ersten Buches, die Selbstbegegnung und ästhetische Selbstdistanzierung, in einer denkwürdigen Szene zurück. Die Waffen des Vulcan, die Venus (wie die homerische Thetis dem Achilleus) ihrem Sohn überbringt, tragen auf dem Schildbuckel die geschichtliche Zukunft Roms noch einmal dargestellt.168 Aeneas [H5] aber erkennt sie nicht mehr. Der descensus ist unter das ihm verfügbare Gedächtnis abgesunken. Die Kommemoration des »quorum pars magna fui« (2,6; vgl. oben II), die Betroffenheit der Selbstbegegnung, wie sie vor dem Tempelfries möglich wurde, fehlt hier angesichts der Zukunft. Vergil verweist nun bei der Schildbeschreibung zunächst noch auf das Bewußtsein von der ästhetischen Qualität, das Aeneas vor den Friesdarstellungen hatte (vgl. 1,464: »animum pictura pascit inani«; vgl. oben HI): »miratur rerumque ignarus imagine gaudeU (8,730) - allerdings »*gnarus«: die delectatio am Schild kennt ihren Gegenstand nicht mehr. Sie sinkt daher schließlich alsbald unter das Bewußtsein ab, bedeutungsvolle Gestalten, überhaupt ein Kunstwerk vor sich zu haben: das verwunderte Schauen des Helden kann sich nicht genug tun und gleitet zu den Werkstoffen, zu den Funktionen der Waffen ab (8,618ff.). Am Ende nimmt er den Schild als Waffe auf, wälzt ihn sich samt fama und fata auf die Schultern (8,729-731): »talia per clipeum Volcani, dona parentis, miratur rerumque ignarus imagine gaudet attollens umero famamque et fata nepotum.« Nicht mehr den Vater und mit ihm die mythische Vergangenheit schleppt Aeneas aus dem brennenden Troja; in die Kriege um Rom hinein schul167 »Positis inglorius armis / exigat hie aevum* (10,52f.): es ist das Vergessen der fatay das Aeneas erfolgreich bewältigt hatte! 168 Einer der viel beachteten >Durchblicke< (vgl. oben I), in denen Vergil dem Leser die augusteische Gegenwart als Endpunkt der römischen Geschichte präsentiert; Vulcan hat ihn dementsprechend »haud vatum ignarus venturique inscius aevi« (8,627) gefertigt. Dem entspricht, daß Schildbeschreibung und Heldenschau so kunstvoll variiert sind, daß keine Figur und keine Kleinszene eine präzise Dublette haben. 70

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tert er die geschichtliche Zukunft. Aeneas als Karyatide - auch die komplette Dreiergruppe, wie sie in der Antike vor und nach dem vergilischen Epos den überall gültigen Inbegriff des mythistorischen Gesamtgeschehens vorstellte,169 trägt den Charakter und die memoriale Struktur dieser Karyatide.170 Der archaisch-additive Schultersitz (Huckepacksitz) des Anchises wird nach einigen Experimenten auf Krateren und Münzen in der Tabula Iliaca von Bovillae (Abb. 1) von einem Aeneas abgelöst, der mit gefalteten Händen das untergeschlagene Bein des Vaters am Unterschenkel hält. Anchises, verhüllten Hauptes, die pignora imperii im Schoß, schaut in die von Hermes gewiesene Richtung zum Schiff. In sie blickt auch der junge Ascanius, den der Vater nicht an der Hand hält, sondern der den Vater zu führen scheint. (Creusa, die in späteren Bildtypen fehlen wird, ist auf diesem erzählenden Bildwerk noch links im Hintergrund sichtbar.) Aeneas' Blick aber folgt nicht dem Hermes; er trifft den Betrachter. Den Grundlinien dieses Bildtyps folgt noch Berninis, für die Neuzeit am einflußreichsten gewordene Gruppe in der Villa Borghese (Abb. 2). Creusa und Hermes sind verschwunden, die lastende Statik der Gruppe Asfigura serpentinata ist hervorgehoben; Aeneas ist stärker isoliert. Ascanius ist entsprechend dem ersten Buch zum Cupido umgestaltet, halb versteckt, mit der Hauptfigur kaum mehr verbunden. Aber er blickt in die gleiche Richtung wie das äußerst wache und streng zusammengefaßte Gesicht des eher getragenen als hinfälligen Anchises - eine Richtung, die der Idealperspektive des Betrachters entspricht. Aeneas kehrt den Blick zur Erde. [116] Als Epos hat die Aeneis die Karyatide ihres Helden nicht von der Doppellast mythischer und geschichtlicher memoria entlastet. Aber Aeneas tritt, sich selbst memoria und mit ihr eine Person erwerbend, in den zentralen Büchern aus dem homerischen und römischen Gefüge hervor. Nicht daß er dann unbelastet sichtbar würde: die memoria an das Leid und den folgenlosen Untergang der Gescheiterten ebenso tragend wie die ästhetische memoria eines philosophischen Universums, unterstellt er sich dem Himmel eines Weltgedichts, das Vergil von den Eklogen an zu schreiben beabsichtigte, dem Himmel einer Philosophie, der sich der Dichter nach den letzten bezeugten Äußerungen während der Arbeit an 169 Vgl. zum Folgenden die Nachweise bei W. Fuchs, Die Bildgeschichte von de: Flucht des Aeneas, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. I 4, Berlin 1973, S. 615-632. 170 Die - naheliegenden - tiefenpsychologischen Deutungen (vgl. Quint [Anm. 62], S. 35; R. Fahr, Lacrimans exsul feror, in: Anregung 20, 1981, S. 377-382) können hier nicht berücksichtigt werden. 71

AENEAS* EPISCHES VERGESSEN der Aeneis ganz zuzuwenden gedachte. So ist er zur Karyatide des Atlas171 geworden. Bei dieser >antiken AufgabeOrgieHeld< der Devolutionskriege gegen Frankreich (Motiv des miles gloriosus). 6 Bemerkenswert ist lediglich die z.T. krass-erotische Skatologie der Leibnizsehen Verse, die der Autor noch durch spätere Korrekturen verstärkt hat. So wird in einem Preislied des (hier in die cena integrierten Petronschen) Dichters Eumolp auf Trimalchio traditionelle petrarkistische Metaphorik parodiert: »Un petit Tarqvin bruloit Pour la gründe Lucrece. Dans l'ardeur qvi le pressoit, 76

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gleichbarer Inszenierungen unter der Regence und zuletzt 1813 in Frankreich.7 Eine Wende (die offenbar an der zunehmenden Faszination durch die Spätantike als Epoche teilhat)8 bezeichnet Alexandre Soumets Tragödie Fete de Neron (1830). Die für ein römisches Fest obligatorisch gewordene cena bildet den Höhepunkt des Stückes (Akt HI, Szene 5), aber der Emporkömmling ist aus ihr verschwunden. Das Fest wird von Nero (in Anwesenheit Petrons) begangen, und sein Höhepunkt ist eine Aufführung von [122] Aischylos' Agamemnon durch den kaiserlichen Muttermörder. Das >Fest< selbst hat sich hier von der Vorlage Petrons gelöst und kann nunmehr durch Züge aus Sueton, der Historia Augusta und Tacitus montiert werden. Soumet bemerkt bereits summarisch in einer Regieanweisung: »Musique et ballet. La fete occupe tout le theatre; eile doit offrir Paspect d'une Bacchanale de l'antiquite«. Das Gemeinte konnte als vertraut vorausgesetzt werden. Als Ballett hat sich die Form auf der Bühne noch lange gehalten (nächste Reprise: Scribes Ballett in drei Akten UOrgie von 1831). - Hier erscheint also ein antikes literarisches Gastmahl, zunächst als Fest aufgeführt, zum Inbegriff eines nicht mehr literarisch verstandenen Festtyps dekonstruiert. Wenn dann später die römische Orgie wieder in literarischer Gestaltimg auftritt, so mit allen Paraphernalien eines selbständigen Imaginationsraumes, die Petrons cena nur mehr in bescheidenen und ungenauen Graden intertextueller Referenz enthalten.9 // bevoit et debevoit Sans cesse, sans cesse. Un jour a l'objet charmant II pissa dans la poche Estant las de sa rigueur Et croyant percer ce cceur De röche, de röche. Les pleurs estoient peu touchans Pour attendrir la dame; Presse de ses feux ardens II versa de l'eau dedans Sa flamme, sa flamme.« 7 Vgl. A. Collignon, Petrone en France, Paris 1905, S. 88ff. 8 Vgl. Herzog, Epochenerlebnis >Revolution< und Epochenbewußtsein >Spätantikes in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hrsg. von R. Herzog und R. Koselleck (Poetik und Hermeneutik 12), München 1987, S. 195-219. 9 So beim Festin de Cotta in Anatole Frances Thais: das Raffinement der Petronschen Verfremdung von Eßbarkeit bei einzelnen Speisenfolgen - schon in der Leibnizschen Bearbeitung das lebendigste Zitatelement - dient nun weniger der Referenz als einer Gliederungsfunktion im Ablauf der cena: das Zitat evoziert nicht

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PETRONS SATYRICA Diese Dekonstruktion eines literarischen Gastmahls zum Prototyp des >spätrömischen Festes< (mit ihr verschwand die cena Trimalchionis in der Obhut kontierender, dann bis heute zumeist linguistisch und archäologisch kommentierender Philologen) hat nun ein ganz ähnliches Seitenstück. Im historischen Arrangement literaturwissenschaftlicher Romantheorie wurde Petrons Werk zum vielbesprochenen Kernstück der satura Menippea, nämlich ihrer dem Roman am stärksten angenäherten Form in der Antike 10 und gedieh dabei zu einem vergleichbar unkenntlich gewordenen Inbegriff.11 - Ich vermeide es, hier Belege anzuführen; es handelt sich um eine (untersuchenswerte) Form literaturwissenschaftlicher Intertextualität, deren durchaus produktive literarhistorische Unscharfe bei der Begegnung antiker Texte mit der Stringenz moderner Theorieparadigmen entstehen kann. Die >menippeische Satire< gibt es in der antiken Literaturtheorie nicht;12 menippeisch bezeichnet lediglich die formale Eigenheit des prosimetrum (die so unterschiedliche Werke wie die Consolatio philosophiae und die Satyrica aufweisen).13 Die heutige inhaltliche Ausweitung des Begriffs geht auf Drydens Literarkritik (und seine Verteidigung der eigenen Satiren) zurück; sie wurde in der Klassischen Philologie von Helm 1906 durch eine Gattungsgeschichte von Menippos über Antisthenes und die Diatribe bis zu Varro und Lukian [123] unterbaut,14 die zwar inzwischen als Phan-

mehr in erster Linie, sondern dient der Distanzierung des Autors gegenüber seinem Text. 10 Durchaus zutreffend bemerkt J. Kristeva, daß dieser Begriff (sc. die satura Menippea) den »Vorteil hat, eine gewisse Schreibweise in die Geschichte einzubetten« (Le mot, le dialogue et le roman; dt. Fassung in: Literaturwissenschaft und Linguistik, hrsg. von J. Ihwe, Bd. 3, Frankfurt/M. 1972, S. 371). 11 Solche Unkenntlichkeit ging soweit, daß konstruierte Entwicklungslinien die Entdeckung der cena (erst im Jahre 1650) ignorierten, daß die cena stellvertretend für die übrigen, ganz heterogenen Teile der Satyrica (unrichtig zumeist als »das Satyricon« benannt) eintraten, daß schließlich auch die Petronschen Namen verfremdet wurden. 12 Varro hat den hybriden Titel für ein Werk verwendet, das er natürlich als Sammlung (römischer) Satiren verstand; neu (und auf Menippos von Gadara zurückgeführt) war die Form des prosimetrum. Die >menippeischen< Themen finden sich bereits bei Lucilius, ja Ennius. 13 Vgl. J. S. Williams, Towards a definition of Menippean satire, Diss. Vanderbilt Univ., NashvUle 1966, und N. Terzaghi, Per la stoiia della satira, Messina 2 1944. 14 R. Helm, Lucian und Menipp, Leipzig 1906.

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tom erkannt wurde,15 jedoch bis heute von den neueren Philologien rezipiert wird.16 Petron nahm in ihr - besonders nach Heinzes Ableitung der Satyrica vom griechischen Roman17 - keine hervorragende Stelle ein. Das änderte sich, als die literaturwissenschaftliche Romanforschung die menippeische Satire entdeckte. Nicht mit dem Anspruch einer Gattungsgeschichte, sondern aus archetypischen Mustern des Ästhetischen eine Anatomie auch der Prosagattungen entwickelnd, sah Northrop Frye einerseits die >Haltung< der Satire, andererseits die >Form< des Menippeischen in einer neuen Gattung verschmelzen. Neben wertvollen Beobachtungen zum >menippeischen< Helden und seinen Situationen11 war nun für die Satyrica der Ort ihrer literarhistorischen Bedeutung gefunden: mit Petron erreichte die >Menippea< den Roman und eröffnete dessen ästhetisch wertvollste Linie. Bei Michail Bachtin steht das Phänomen Petron in einem noch weiteren Horizont. Die Ausarbeitung des dialogischen Prinzips jenseits der linguistischen und logischen Doktrinen zur Zeit seiner ersten Schriften führte vor allem zum semantischen, dann aber auch Uterarisch-historischen Konzept der Polyphonie, der Anwesenheit textuell scheinbar nicht präsenter Stimmen, quer und gegen den >Monolog< der hohen Gattungen in einem literarischen Diskurs, in dem eine Vorstellung von Werk- und Autoridentität, besonders in der Theorie J. Kristevas, obsolet zu werden schien. Diese Entwicklung ist bekannt genug; aus ihr bezieht auch die gegenwärtig anhaltende literaturwissenschaftliche Anwendung des Intertextualitätskonzepts ihre Energie.19 Indessen zeigt schon die Präsentation der dialogischen Schichten in Bachtins Dostoevskij-Buch,20 daß die polypho15 Vgl. J. Bompaire, Lucien ecrivain, Paris 1958. 16 Vgl. noch die - für die frühe Neuzeit sehr nützliche - Übersicht bei W. von Koppenfels, Mundus alter et idem, in: Poetica 13, 1981, S. 16-66. - Demgegenüber vermitteln komparatistische Zusammenstellungen, die sich auf das sichere Kriterium des prosimetrum beschränken, einen eindrucksvollen Überblick über die Adaptation dieser Form in den unterschiedlichsten Gattungen; vgl. A. Scherbantin, Satlira Menippea, Diss. Graz 1951, und E. P. Korkowski, Menippus and his Imitators, Ann Arbor 1973. 17 R. Hcinze, Petron und der griechische Roman, in: Hermes 34, 1889, S. 494512. 18 N. Frye, Anatomy of criticism, dt. Ausgabe, Stuttgart 1964, S. 310f. 19 Vgl. hier die thematisch dem Konzept gewidmeten Kolloquiumbände >Dialogizität«, hrsg. von R. Lachmann, München 1982; >IntertextualitätBakhtinSpoudogeloion< (zur Charakterisierung von Texten in der Antike nicht belegt); zur Textoberfläche stößt sie u.a. im sokratischen Dialog und eben in der >MenippeaMenippeischenDie beiden stilistischen Linien des europäischen Romans < und in >Die Vorgeschichte des Romanwortes«,22 ferner in der erzähltheoretisch anspruchsvollen und die historische Deduktion [124] z.T. verlassenden >ChronotopChronotopPrüfungs- und Abenteuerroman< postuliert - doch erfüllt ihn nur Apuleius (ohne menippeische Form!).26

21 Ebd. S. 127-133. 22 Beide dt. in >Die Ästhetik des Wortess hrsg. von R. Grübel, Frankfurt/M. 1979, S. 251-338. 23 Hier benutzt in der franz. Übers.: >Esthetique et theorie du romanProbleme der Poetik Dostoevskijs< [Anm. 20], S. 126; man beachte die »gesellschaftspolitische«, »philosophische« und »ideologische« Erklärung in >Ästhetik des Wortes< [Anm. 22], S. 256f. 26 Vgl. >Esthetique< [Anm. 23], S. 261ff.

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PETRONS SATYRICA Das »Fatale« dieses Befundes - systematisch wäre zu dieser Zeit, der ausgehenden Antike, die gesuchte Verbindimg erfordert - läßt Bachtin auf eine allgemeine Schilderung der >römischen Lachkultur < rekurrieren: »Das Ganze kommt mir wie ein gewaltiger Roman vor«.27 Die Satyrica können dieser gesuchte Roman nicht sein, obwohl sie genau das missing link sind - in defizienter Weise: »Tatsächlich ist der Roman als ein Gebilde mit vielen Gestalten und vielen Stilen aus diesem großen Ganzen der parodistisch widergespiegelten Wörter und Stimmen in der Antike entstanden, vermochte es allerdings nicht, das gesamte vorbereitete Material in sich aufzunehmen und zu verwenden. Ich habe Petronius im Auge. Zu größerem war die antike Welt offensichtlich nicht fähig.«28 Eine Begründung für dieses Urteil gibt Bachtin nicht; offensichtlich wird es veranlaßt durch sein Konzept von der geschichtlichen Funktion der karnevalistischen Polyphonie als des Gegenkonstrukts zum (sich mit dem Christentum monotheistisch verstärkenden) literarischen Monolog der herrschenden Ideologie: nach einem solchen Konzept wird die literarische Lachkultur erst im Spätmittelalter stärker herausgefordert.29 In den Satyrica suchte Bachtin Vorbereitendes, den Atem folkloristischer Riten, den Saturnalienexzeß,30 und traf auf die intertextuelle Anwesenheit einander parodierender hoher Gattungen und ihr Raffinement.31 Demgegenüber ist Petrons anspruchsvolles Programm, wer sich mit Literatur abgebe, dessen Sinn müsse »ingenti flumine litterarum inundata« sein (118,3),32 zwar ein Manifest der Intertextualität, aber nicht >karnevalistischerEsthetique< [Anm. 23], S. 251 und >Ästhetik< [Anm. 22], S. 253f. - Kristeva hat dieses historische Schema noch verstärkt (>Le mot< [Anm. 10], S. 364). 30 Vgl. die hymnischen Projektionen in die Satyrica: >Esthetique< [Anm. 23], S.364. 31 Wie bereits W. Rösler (M. Bachtin und die Karnevalskultur im antiken Griechenland, in: Quaderni Urbinati 23, 1986, S. 25ff.) am Beispiel der alten Komödie gezeigt hat, verwehrt Bachtins >folkloristischer< Ansatz ihm die Erkenntnis jeglicher Intertextualität zwischen hohen und akzeptierten Gattungen, die durchaus zur Stabilisierung der Anspielungskultur einer Bildungselite gehören. Besonders für die prosimetrischen Formen in kynischer Tradition - also die Vorgeschichte der Satyrica - sind die bei Bachtin gänzlich ausgesparte Nea sowie die römische Tragödie von Belang. Eine fruchtbare Anwendung von Bachtins Konzept auf die Apocolocyntosis Senecas findet sich bei R. R. Nauta, Seneca's Apocolocyntosis as Saturnalian literature, in: Mnemosyne 40, 1987, S. 69-96. 32 Von E. R. Curtius als Motto zu seinem großen Werk gewählt.

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Wie durch die Projektion der Vorstellung >Orgie< ist auch durch das Argumentationspotential, mit dem eine gattungshistorische Konstitution ihren Schwerpunkt zu untermauern sucht, das darunterliegende Werk verschlossen geblieben. [125] Was also ist das römische >Festüber eine halbe Stunde< (69,4). 34 Bereits erkannt von P. Fedeli, Petronio: II viaggio, il labirintho, in: Materiali e discussioni per l'analisi dei testi classici 6,1981, S. 91-117. 82

PETRONS SATYRICA

Aufmerksamkeit, weil Petron Aktionen und Akteure nach herkömmlicher Auffassung sich selbst kennzeichnen läßt; allerdings gibt es, wie noch zu erörtern sein wird, eine reiche, eindeutige Interpretationen durchkreuzende intertextuelle Anwesenheit des Mythos. Immerhin weist hier das Ensemble der von Petron gesetzten Signale so stark in eine Richtung,35 daß das Haus des Trimalchio, geschilden beim Eintritt des Helden, näheres Zusehen verlohnt.56 Über die Front des Hauses zieht sich ein Gemälde (29,3-6), das seinem Besitzer gewidmet ist. Solche pikturalen Hinweise, besonders auf den Beruf des [126] Hauseigners (in diesem Fall führt Minerva Trimalchio nach Rom), sind durchaus üblich. Aber hier ist die ganze Lebensgeschichte (von der Stellung als Lieblingssklave seines früheren Herrn: »capillatus« über seinen Aufstieg als Freigelassener) dargestellt und zwar bis zum Auftritt der Parzen und bis zur Apotheose.37 Solche Darstellungen finden sich an keinen Wohnhäusern;38 es handelt sich um die Darstellung eines abgeschlossenen Lebens, wie sie nach allen Einzelzügen für den Sarkophag bezeugt ist: Merkur als Psychopompos erscheint in Szenen aus dem Lebenslauf des Verstorbenen etwa auf einem Sarkophag der Villa Doria Pamphili,39 die Trias Merkur, Fortuna und Parzen auf dem fragmentarischen Sarkophag eines pompejanischen Händlers.40 Und so wird Trimalchio gegen Ende der cena, als er sein Grabmal in Auftrag gibt (81,9), die Hauptzüge dieses Wandbildes wiederholen. Er selbst will hier an Stelle der Fortuna Münzen unter das Volk werfend dargestellt werden. Aber auch diesen Darstellungstyp (Fortuna reicht aus ihrem Füllhorn dem Verstorbenen die Münzen) kennt die sepulkrale Ikonographie. 35 Hinzu tritt die Elster über der Schwelle des Eingangs (28,9): ein Totenvogel, vgl. CIL m 5561. - Die Helden werden aufgefordert, mit dem rechten Fuß die Schwelle ins Haus zu überschreiten: dieser Aberglaube war beim Eintritt in ein Haus zu beachten, in dem eine Begräbnisfeier stattfand (W. Deonna und M. Renard, Croyances et superstitions de üble dans la Rome antique, Brüssel 1961, S. 78). 36 Die folgende Untersuchung ist besonders der Vorarbeit M. Grondonas, La religione e la superstizione nella Cena Trimalchionis, Brüssel 1980, verpflichtet. 37 Mit ihren typischen Elementen: Mercur führt Trimalchio am Kinn zum tribunal; dort steht Fortuna mit der cornucopia an seiner Seite. Post mortem sieht in dieser Weise der Kaiser Claudius in Senecas Apocolocyntosis sein Leben hinter sich. 38 Petron sagt ausdrücklich, daß der Platz für die Darstellung an der Hauswand >kaum mehr ausreicht< i^in deficiente vero iam porticu«, 29,5). 39 Kommentiert bei F. Cumont, Recherches sur le symbolisme funeraire des Romains, Paris 1942, S. 336f. 40 Vgl. den Art. >Mercurius