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German Pages [432] Year 2016
P I C T U R A ET P O E S I S Interd isz ip l inäre Stud ien zum Verhä ltn is von L iteratur und Kunst Heraus g e g eb en von Ulrich Ernst Jo ach im Gaus Christel Meier
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Band 33
SPR ECHEN IN BILDER N – SPR ECHEN ÜBER BILDER Die allegorischen Ikonotexte in den Regia Carmina des Convenevole da Prato
VON CA ROLI N E SMOU T
2017 BÖH L AU V E R L AG KÖL N W E I M A R W I E N
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Convenevole da Prato, Regia Carmina, London, British Library, Royal 6 E IX, fol. 23. © 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Ulrike Weingärtner, Gründau Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Bindung: Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50591-2
Inhalt
DANK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1
REGIA CARMINA – DER KODEX (LONDON, BRITISH LIBRARY, ROYAL 6 E IX) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.1 Kodikologische Beschreibung und Sujet des Lobgedichtes . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.2 Genese der Handschrift und Zuschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
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REPRÄSENTATION VON KÜNSTEN UND HERRSCHAFT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.1 Die Kommune als locus virtutis, in dem Künste entstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.2 König Robert von Anjou als Erretter der Italia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.3 Der zeichnende Dichter und die Bilderfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2.4 Das Bild des zeichnenden Dichters im Spiegel der poiesis . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2.5 Möglichkeiten und Grenzen bildlichtextueller Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
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ALLEGORISCHE IKONOTEXTE ALS REFLEXIONSFIGUREN DER PICTURA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.1 Schöner Schein und nackte Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3.2 figura – Allegoretik der Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3.3 Die „Naturalisierung der Allegorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
4 „KUNSTGESPRÄCH“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 4.1 Dilectio, Charis, Erato, oder: die ‚Liebe‘ zur Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 4.2 Die enargeia gemalter Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5
SPRECHEN IN BILDERN – SPRECHEN ÜBER BILDER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 5.1 Die mimetische Allegorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 5.2 ‚Bildkritik‘ und ‚Kunsturteil‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
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‚STUMMER DISKURS DER BILDER‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 6.1 Die Diskursivität gemalter Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 6.2 ‚Bildkritik‘: Die Deutungshoheit des weisen Königs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
SCHLUSSBEMERKUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
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Inhalt
LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Textausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 ABBILDUNGSNACHWEIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 REGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 ABBILDUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Dank
Bei dieser Studie handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2014 an der Freien Universität Berlin angenommen wurde. All jenen, die mein Dissertationsvorhaben unterstützt und begleitet haben, möchte ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen. Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater Klaus Krüger, dem ich den Hinweis auf den historischen Gegenstand verdanke und der meine Beschäftigung mit diesem über viele Jahre hinweg wohlwollend gefördert hat; für seine großzügige Gewährung allen erdenklichen Freiraumes und ausgiebiger Ruhe möchte ich ihm herzlich danken. Zudem konnte ich thematische Anstöße gewinnen durch meine wissenschaftliche Mitarbeit in den durch ihn geleiteten DFG-Projekten „Signa und Res – Bildallegorien in der Renaissance (14.–16. Jahrhundert)“ innerhalb der Forschergruppe „Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts“ (FOG 606) an der Freien Universität Berlin und „Illustrationen zu Dantes Divina Commedia: Text – Bild – Kommentar“ im Rahmen des „Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medien und kulturelle Kommunikation“ (SFB/FK 427) an der Universität zu Köln. Auch danke ich Wolf-Dietrich Löhr, der das Zweitgutachten übernommen hat, für sein Interesse an meiner Arbeit, kritischen Rat und anregenden Austausch durch meine Teilhabe am Konzept des „Kunstgesprächs“. Ohne Doktorandenstipendien der FAZIT-Stiftung, am Kunsthistorischen Institut in Florenz – Max-Planck-Institut und am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris hätte ich die Arbeit in dieser Form nicht schreiben können. All diesen Institutionen bin ich zu großem Dank verpflichtet. Gerhard Wolf danke ich sehr für sein Interesse an meinen Gedanken und seine Bestärkung; ebenso danke ich Andreas Beyer, dem seinerzeitigen Direktor des DFK, für die Aufnahme in den Kreis der Jahresstipendiaten zu dem Thema „Sprechen über Bilder – Sprechen in Bildern“ (2010/2011) und die großartigen Arbeitsbedingungen. Dass diese Arbeit entstehen konnte, habe ich zudem meinem früheren Lehrer Eberhard König zu verdanken, der mich während meiner Studienzeit den Umgang mit Handschriften lehrte und mein Interesse für Handschriftenkunde weckte. Insbesondere möchte ich Jörn Steigerwald danken für die intellektuellen Anregungen und den Austausch vornehmlich über Allegorie, für seine lehrreiche Kritik und seinen ehrlichen Zuspruch. Wichtige Begleiterinnen waren mir zudem Caroline Recher, Imke Wartenberg und Susanne Conrad; die Gruppe der Pariser Stipendiaten hat nicht nur durch zahlreiche anregende Gespräche einen erheblichen Anteil daran, dass ich die Arbeit gedanklich erweitern und zum Abschluss bringen konnte, sondern auch durch die freundschaftliche Atmosphäre, die lange motivierend nachklang. Für das Interesse an meiner Arbeit und deren Aufnahme in die Reihe „pictura & poesis“ danke ich den Herausgebern sehr herzlich, insbesondere Christel Meier-Staubach. Während Stephan Speicher und Julius Speicher den Text durch ihr Lektorat lesbarer
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Dank
machten, haben die kompetenten und freundlichen Mitarbeiter des Böhlau Verlages aus meinem Manuskript ein Buch gemacht. Ihnen allen sei vielmals gedankt. Nicht zuletzt danke ich meinen Eltern, die mir über viele Jahre hinweg finanziell das Studium der Kunstgeschichte ermöglichten und Anteil nahmen. Gwendolin Julia Schneider schließlich weiß, welche Bedeutung ihr zukommt.
Einleitung
In der zehnten Novelle des sechsten Tages von Giovanni Boccaccios Decameron wird von Frate Cipolla, einem Mönch des heiligen Antonius, und seinem Diener erzählt. Jener pflegte jährlich im August in das Landstädtchen Certaldo zu kommen und der Gemeinde zu predigen, „um die Almosen einzusammeln, welche die kurzsichtigen Leute jenen Mönchen gewähren“1. Frate Cipolla „war untersetzter Gestalt, rötlichen Haares und munteren Gesichts, dabei der abgefeimteste Spitzbube der Welt, und obwohl er keinerlei Unterricht genossen hatte, wußte er doch trefflich und ohne langes Besinnen zu reden, so daß, wer ihn nicht kannte, ihn nicht allein für einen großen Redekünstler gehalten, sondern ihn dem Cicero selbst oder dem Quinctilian [sic] an die Seite gesetzt hätte. Auch war er von allen in der Umgegend Gevatter oder Freund oder guter Bekannter. Eines Tages nun, als […] alle guten Männer und Weiber der umliegenden Dörfer sich zur Messe in der Pfarrkirche versammelt hatten, trat er, als es ihm an der Zeit schien, hervor und sagte: ‚Ihr Herren und ihr Frauen! Wie ihr wißt, ist es euer Brauch, alljährlich den armen Dienern des hochadeligen heiligen Herrn Antonius von eurem Korn und eurem Weizen zu spenden, der eine wenig, der andere viel, je nach dem Vermögen und der Frömmigkeit eines jeden, damit dieser gebenedeite Heilige eure Ochsen und eure Esel, eure Schweine und eure Schafe in seinen Schutz nehme. Außerdem pflegt ihr, insbesondere aber pflegen diejenigen unter euch, welche bei unserer Bruderschaft eingeschrieben sind, den kleinen Beitrag zu entrichten, den man einmal im Jahr zu bezahlen hat. Um nun das eine und das andere einzufordern, bin ich von meinem Oberen, nämlich dem Herrn Abt, hierher gesandt. So mögt ihr denn zu diesem Zweck unter dem Segen Gottes heute nachmittag nach drei Uhr, wenn ihr das Glöcklein läuten hört, euch außerhalb der Kirche versammeln, woselbst ich die gewohnte Predigt halten und euch das Kreuz zum Kusse reichen werde. Außerdem aber will ich, da mir bekannt ist, welch inbrünstige Verehrer des hochadeligen heiligen Herrn Antonius ihr seid, euch zu besonderer Gunst eine schöne und hochheilige Reliquie zeigen, die ich vor Zeiten selbst aus dem Heiligen Lande von jenseits des Meeres hergebracht habe. Dieses ist nämlich eine der Federn des Erzengels Gabriel, welche er in der Stube der Jungfrau Maria verloren hat, als er nach Nazareth zu ihr kam, um ihr zu verkündigen‘. Mit diesen Worten schwieg er und las seine Messe weiter. […]“2. 1 Giovanni Boccaccio: Decameron, hg. v. Vittore Branca, Mailand 1976 (Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, Bd. 4), VI, 10, S. 565: Certaldo, […]; nel quale, per ciò che buona pastura vi trovava, usò un lungo tempo d’andare ogni anno una volta a ricoglier le limosine fatte loro dagli sciocchi un de’ frati di santo Antonio, il cui nome era frate Cipolla […]. Übersetzung aus Giovanni Boccaccio: Das Dekameron, übertr. v. Karl Witte, durchges. v. Helmut Bode, München 1964, VI, 10, S. 502. 2 Giovanni Boccaccio, Das Dekameron, VI, 10, S. 502 f. Siehe Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 10, S. 566 f.: Era questo frate Cipolla di persona piccolo, di pelo rosso e lieto nel viso e il miglior brigante del mondo: e oltre a questo, niuna scienza avendo, sì ottimo parlatore e pronto era, che chi conosciuto non l’avesse, non solamente un gran rettorico l’avrebbe estimato, ma avrebbe detto esser Tulio medesimo o forse
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Einleitung
Zum Vorzeigen dieser Reliquie kam es alsdann aber nicht. Denn zwei Bekannte spielten dem beredten Frate Cipolla einen Streich, indem sie die Engelfeder, bei der es sich in Wirklichkeit um die Schwanzfeder eines Papageien handelte, entwendeten und durch herumliegende Kohlen ersetzten. So forderten sie seine Schlagfertigkeit heraus. Diese Vertauschung war ein Leichtes, denn Frate Cipollas Diener kam seiner Aufgabe nicht nach, auf die Feder achtzugeben, was wenig überraschte. Von einigen wurde er Guccio Imbratta („Schmierfink“, „Schmutzfink“) und Guccio Porco („Schwein“) genannt3, wobei es Frate Cipolla war, der oft über seinen Diener spottete und ihm neun Eigenschaften attestierte, die er den Leuten stets als Reim in klanglicher Eingängigkeit kundtat: „Ein Lügenmaul ist er und faul, verstockt in Trutz und reich an Schmutz. Stets voll Verdacht und unbedacht; ein Feind der Pflicht, ein grober Wicht, und was er soll, das tut er nicht“ (egli è tardo, sugliardo e bugiardo; negligente, disubidente e maldicente; trascutato, smemorato e scostumato)4.
Weder die Saumseligkeit des „Schmutzfinken“ noch die neue Reliquie brachten den Redner in Verlegenheit. Sie riefen vielmehr seine Kunst fingierender Rede hervor: Ohne langes Nachdenken bot er der Gemeinde die Kohlen leichthin als jene dar, auf denen der heilige Laurentius geröstet worden sei. Dabei umkleidete er diese ‚Reliquie‘ durch eine beeindruckende Sequenz reiner Worthülsen und verlieh dergestalt sowohl seiner fingierten Reliquie als auch der Erzählung den Anschein erheblicher Bedeutung. So habe er die Kohlen wie die Feder des Erzengels Gabriel, die „Zähne des heiligen Kreuzes“ und „ein wenig Glockenklang vom Tempel Salomos in einem zierlichen Fläschchen“5 von dem „verdienstvollen Patriarchen von Jerusalem“, dem „ehrwürdigen Vater Messer Tumirnichts Wennsbeliebtius“6, erhalten. Überdies habe dieser ihm Quintiliano: e quasi di tutti quegli della contrada era compare o amico o benvogliente. […] e una domenica mattina, essendo tutti i buoni uomini e le femine delle ville da torno venuti alla messa nella calonica, quando tempo gli parve, fattosi innanzi disse: „Signori e donne, come voi sapete, vostra usanza è di mandare ogni anno a’ poveri del baron messer santo Antonio del vostro grano e delle vostre biade, chi poco e chi assai, secondo il podere e la divozion sua, acciò che il beato santo Antonio vi sia guardia de’ buoi e degli asini e de’ porci e delle pecore vostre; e oltre a ciò solete pagare, e spezialmente quegli che alla nostra compagnia scritti sono, quel poco debito che ogni anno si paga una volta. Alle quali cose ricogliere io sono dal mio maggiore, cioè da messer l’abate, stato mandato; e per ciò con la benedizion di Dio, dopo nona, quando udirete sonare le campanelle, verrete qui di fuori della chiesa là dove io al modo usato vi farò la predicazione, e bascerete la croce; e oltre a ciò, per ciò che divotissimi tutti vi conosco del barone messer santo Antonio, di spezial grazia vi mostrerò una santissima e bella reliquia, la quale io medesimo già recai dalle sante terre d’oltremare: e questa è una delle penne dell’agnol Gabriello, la quale nella camera della Vergine Maria rimase quando egli la venne a annunziare in Nazarette.“ E questo detto si tacque e ritornossi alla messa. […]. 3 Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 10, S. 567: Aveva frate Cipolla un suo fante, il quale alcuni chiamavano Guccio Balena e altri Guccio Imbratta, e chi gli diceva Guccio Porco. 4 Giovanni Boccaccio, Das Dekameron, VI, 10, S. 504 und Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 10, S. 567. 5 Giovanni Boccaccio, Das Dekameron, VI, 10, S. 509. Siehe Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 10, S. 573: donommi uno de’ denti della Santa Croce e in una ampoletta alquanto del suono delle campane del tempio di Salomone e la penna dell’agnol Gabriello, della quale già detto v’ho […]. 6 Giovanni Boccaccio, Das Dekameron, VI, 10, S. 509. Siehe Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 10, S. 572: il venerabile padre messer Nonmiblasmete Sevoipiace, degnissimo patriarca di Ierusalem.
Einleitung 11
„den Finger des heiligen Geistes, der noch so frisch und unverwest war wie je zuvor […], die Locken des Seraphs, der dem heiligen Franziskus erschien, den Fingernagel eines Cherubs und eine der Rippen des heiligen Hocestporcus“ gezeigt; „ferner einige Kleidungsstücke des heiligen catholischen Glaubens, ein paar Strahlen des Sterns, der den drei Weisen im Morgenlande erschien, ein Fläschchen von dem Seuweiß, den der heilige Michael vergossen, als er mit dem Teufel kämpfte, eine Kinnbacke des Todes, an dem der heilige Lazarus gestorben ist, und noch vieles andere“7.
Solchermaßen fügt sich diese Novelle als Schlusspunkt in die Erzählungen des sechsten Tages, die von Personen handeln, welche durch geschickte Worte oder umgehende Erwiderungen und schnellen Entschluss einer Gefahr entgehen. Dabei zeigt Boccaccios Modellierung des Frate Cipolla die Spannung von Anerkennung und Kritik: Während dessen rhetorisches Können, das auf Witz und Geistesgegenwart basiert, ausgestellt wird, wird es im Gegenzug durch den Verweis auf seine mangelnde Gelehrsamkeit konterkariert: „obwohl er keinerlei Unterricht genossen hatte, wußte er doch trefflich und ohne langes Besinnen zu reden, so daß, wer ihn nicht kannte, ihn nicht allein für einen großen Redekünstler gehalten, sondern ihn dem Cicero selbst oder dem Quinctilian [sic] an die Seite gesetzt hätte“ (niuna scienza avendo, sì ottimo parlatore e pronto era, che chi conosciuto non l’avesse, non solamente un gran rettorico l’avrebbe estimato, ma avrebbe detto esser Tulio medesimo o forse Quintiliano)8.
Hinter der glänzenden rhetorischen Oberfläche der Worte verbirgt sich mithin keine tiefere Wahrheit, was auch durch die Semantik der Feder zu sinnfälliger Anschauung gelangt: Die Feder des Erzengels wäre die Schwanzfeder eines Papageien gewesen – die Transformierung offenbarender Rede in nachplapperndes, bedeutungsloses Gerede. Dies impliziert zugleich Kritik: Der Papagei, der Ave sagen, also den Gruß des Verkündigungsengels an Maria wiedergeben kann, verliert seine Bedeutung als Zeichen der Marienverehrung, indem er der Scheinhaftigkeit dient. Die Spannung von ästhetischer Form und Bedeutungslosigkeit, von Hülle und Gehaltlosigkeit spiegelt sich denn auch in der Zusammenschau von Frate Cipollas Erfindungen und Wortspielen und seinem Namen – „Bruder Zwiebel“. Wie die Zwiebel aus vielen Häuten besteht, aber keinen Kern aufweist, überlagern sich in seiner Rede Zeichen ohne tiefere Bedeutung.9 Indem Boccaccio in der Figur Frate Cipollas eine in Täuschung 7 Giovanni Boccaccio, Das Dekameron, VI, 10, S. 509. Siehe Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 10, S. 572: Egli primieramente mi mostrò il dito dello Spirito Santo così intero e saldo come fu mai, e il ciuffetto del serafino che apparve a san Francesco, e una dell’unghie de’ gherubini, e una delle coste del Verbum-caro-fatti-alle-finestre e de’ vestimenti della santa Fé catolica, e alquanti de’ raggi della stella che apparve a’ tre Magi in Oriente, e una ampolla del sudore di san Michele quando combatté col diavole, e la mascella della Morte di san Lazzero e altre. 8 Giovanni Boccaccio, Das Dekameron, VI, 10, S. 502 und Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 10, S. 566. 9 Vgl. die dekonstruktivistische Lektüre dieser Novelle von Millicent Joy Marcus: An Allegory of Form. Literary Self-consciousness in the Decameron, Saratoga 1979, S. 64–78.
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Einleitung
und Lügenhaftigkeit fundierte Rede problematisiert – so ist Frate Cipollas Verurteilung des Klerus in der von ihm bereisten terra di Menzogna reflexiv zu lesen10 –, verteidigt er zugleich ex negativo die literarische Fiktionalität, die auf Wissen basiert und eine tiefere Wahrheit in sich trägt. Ebenjener Spannungsbezug von Schein und Sein gilt auch für die Malerei, wobei die künstlerische poiesis reflektiert wird. Dieser Sinn verrät sich erneut über die allegorische Kodierung der Namen. Vor dem Hintergrund, dass Boccaccio an anderer Stelle mit der terminologischen Verwandtschaft von penna und pennello, von Feder und Pinsel, spielt und damit die Spiegelbildlichkeit von Literatur und Malerei aufzeigt11, geraten in Korrespondenz zur Feder des Rhetors die Bezeichnungen des Dieners in den Blick – Imbratta und Porco, das heißt „Geschmiere“, „Schmierfink“ oder „Schmutzfink“ und „Schwein“. Damit ist wohl auf die „Schweineborste“ angespielt, aus der Pinsel hergestellt werden und der, ursprünglich wie übertragen-funktional, Schmutz anhaftet.12 Denn diese Be 10 Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 10, S. 571: Ma perché vi vo io tutti i paesi cerchi da me divisando? Io capitai, passato il Braccio di San Giorgio, in Truffia e in Buffia, paesi molto abitati e con gran popoli; e di quindi pervenni in terra di Menzogna, dove molti de’ nostri frati e d’altre religioni trovai assai, li quali tutti il disagio andavan per l’amor di Dio schifando, poco dell’altrui fatiche curandosi dove la loro utilità vedessero seguitare, nulla altra moneta spendendo che senza conio per quei paesi („Doch wozu soll ich euch die Länder, die ich durchreist habe, einzeln aufzählen? Genug, ich setzte über den Arm des heiligen Georg und kam nach Lügeland und Trügeland, welche Gegenden von zahlreichen Völkern dicht besiedelt sind. Von hier aus erreichte ich Täuschenhausen, woselbst ich viele von unseren Klostergeistlichen und eine Menge von Mönchen anderer Orden antraf, welche um Gottes willen sämtliches Ungemach mieden und, solange sie nur ihren Vorteil dabei fanden, sich um fremde Mühseligkeiten wenig kümmerten, auch in jenen Ländern nie anderes Geld ausgaben als falsches“). Übersetzung aus Giovanni Boccaccio, Das Dekameron, VI, 10, S. 508. 11 Giovanni Boccaccio, Decameron, Conclusione dell’autore, 6–7, S. 960; siehe dazu Richard Kuhns: The Writer as Painter. Obersvations on Boccaccio’s Decameron, in: Malerei und Stadtkultur in der Dantezeit. Die Argumentation der Bilder, hg. v. Hans Belting, Dieter Blume, München 1989, S. 65–69. Eingehend zu penna und pennello als Instrumente von Schreiber und Maler Wolf-Dietrich Löhr: Dantes Täfelchen, Cenninis Zeichenkiste. Ritratto, disegno und fantasia als Instrumente der Bilderzeugung im Trecento, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 13, 2008, S. 148– 179; Stefano Jossa: La penna e il pennello. Retoriche a confronto, in: Officine del nuovo. Sodalizi fra letterati, artisti ed editori nella cultura italiana fra Riforma e Controriforma, Atti del simposio internazionale, Utrecht, 8–10 novembre 2007, hg. v. Harald Hendrix, Paolo Procaccioli, Rom 2008, S. 245–256; vgl. Horst Wenzel: Schrift und Gemeld. Zur Bildhaftigkeit der Literatur und zur Narrativik der Bilder, in: Bild und Text im Dialog, hg. v. Klaus Dirscherl, Passau 1993, S. 29–52, bes. S. 31 f. 12 Vgl. Franco Sacchetti: Il trecentonovelle, hg. v. Davide Puccini, Turin 2004, Novelle LXXV, S. 224 f., die von Giotto und den Schweinen des heiligen Antonius erzählt, aus denen Giotto die Borsten seiner Pinsel gewonnen hat: Chi è uso a Firenze, sa che ogni prima domenica di mese si va a San Gallo; e uomini e donne in compagnia ne vanno là su a diletto, più che a perdonanza. Mossi Giotto una di queste domeniche con sua brigata per andare, ed essendo nella via del Cocomero alquanto ristato, dicendo una certa novella, passando certi porci di Sant’Antonio, e uno di quelli correndo furiosamente, diede tra le gambe a Giotto per sì fatta maniera che Giotto cadde in terra. Il quale a’i‚utatosi e da sé e da’ compagni, levatosi e scotendosi, né biastemò i porci né disse verso loro alcuna parola; ma voltosi a’ compagni, mezzo sorridendo, disse: O non hanno e’ ragione? Ché ho guadagnato a mie’ dì con le setole loro migliaia di lire, e mai non diedi loro una scodella di broda. Gli compagni, udendo questo, cominciorono a ridere, dicendo: Che rileva a dire? Giotto è maestro d’ogni cosa; mai non dipignesti tanto bene alcuna storia quanto tu hai dipinto bene il caso di questi porci. […]. („Wem Florenz nicht fremd ist, der weiß, daß jeden ersten Sonntag im Monat Männlein und Weiblein in Scharen nach San Gallo gehen; und sie gehen dort mehr um des Vergnügens als um des Ablasses willen hinauf. An einem dieser Sonntage machte sich Giotto mit seiner Gesellschaft auf, um
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griffe sind in Zusammenhang gesetzt mit Lippo Topo, der „triefäugigen Maus“, dessen figürlichen Namen Vittore Branca als sprichwörtlichen, nicht ernstzunehmenden Maler ausgelegt hat.13 So äußert der Erzähler in Bezug auf den Diener: „Dieser war so sehr schlecht, dass es nicht wahr ist, dass Lippo Topo von ihm jemals etwas so sehr gemacht hat“ (il quale era tanto cattivo, che egli non è vero che mai Lippo Topo ne facesse alcun cotanto)14.
Damit ist semantisch das Feld der Malerei berührt, wobei sie durch die Bezeichnungen „Geschmiere“, „Schmierfink“ und „Triefäugigkeit“ vorderhand als minderwertig erscheint. Bei genauer Lektüre der Worte des Erzählers kehrt sich dieser Tenor indes um, wobei sie drei Aspekte implizieren, die für diese Arbeit wesentlich sind: erstens die Reflexion eines zeitgenössischen Sprechens über Malerei, zweitens die künstlerische poiesis und drittens der Illusionismus mimetischer Malerei. So verweist die Bemerkung „dass es nicht wahr ist“ auf ein Sprechen über Lippo Topo und seine Malerei. Hierbei inhäriert die vorausliegende Aussage, auf die sich die Bemerkung richtet, zum einen die für das Trecento überlieferte Vorstellung, dass das Kunstwerk die physische Erscheinung des Künstlers spiegelt.15 Denn durch die Triefäugigkeit ist das hässliche Äußere des Malers bezeichnet, das sich wiederum in der mimetischen Darstellung der Schmierigkeit Guccio Imbrattas (ne facesse alcun cotanto) reflektiert. Demnach ist das Verbum facesse im Sinne gemalter Repräsentation verstanden. Indem die Triefäugigkeit zudem das nur vermeintlich tranige Wesen Lippo Topos versinnbildlicht, wird zum anderen durch den Widerspruch des Erzählers die Diskrepanz zwischen der äußeren Gestalt und dem Charakter herausgestellt: Der hässliche Künstler gleicht eben nicht dem liederlichen Diener aufgrund seiner geistreichen Aufgewecktheit, seines Verstandes.16 Solchermaßen ist die dort hinzugehen, und als er in der Via del Cocomero einige Augenblicke stehen blieb und irgendeine Geschichte erzählte, kamen einige Schweine des heiligen Antonius vorbei, und eines davon, das wild dahergerannt kam, fuhr Giotto derart zwischen die Beine, daß er hinfiel. Als er sich durch eigene und der Begleiter Hilfe erhoben hatte, schüttelte er den Staub von den Gewändern, schimpfte jedoch nicht auf die Schweine, noch rief er ihnen etwas nach, sondern sagte zu seinen Begleitern gewandt mit feinem Lächeln: ‚Haben sie nicht eigentlich recht? Ich habe in meinem Leben mit ihren Borsten Tausende von Lire verdient, ihnen jedoch nie eine Schüssel Brühe hingestellt.‘ Als die Begleiter dies hörten, fingen sie an zu lachen und sagten ‚Braucht man es noch auszusprechen? Giotto ist Meister in allen Dingen; nie hast du irgendeine Geschichte so gut gemalt wie den Vorfall mit diesen Schweinen.‘ […]“). Übersetzung aus Franco Sacchetti: Toskanische Novellen, Berlin 1998, S. 98. Siehe dazu Wolf-Dietrich Löhr: Autorità del penello. Der Pinsel als Werkzeug und Bedeutungsträger im Tre- und Quattrocento, in: Poiesis. Praktiken der Kreativität in den Künsten der Frühen Neuzeit, hg. v. Valeska von Rosen, David Nelting, Jörn Steigerwald, Zürich 2013, S. 111–153, hier S. 121–130. Zu Giottos Witz und Klugheit siehe u. a. Norman E. Land: Giotto’s Eloquence, in: Source. Notes in the History of Art 23, 2004, S. 15–19. 13 Giovanni Boccaccio, Decameron, S. 1347: „proverbiale pittore da strapazzo“. 14 Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 10, S. 567. Übersetzung der Verfasserin. 15 Siehe dazu Norman E. Land: Giotto as an Ugly Genius. A Study in Self-portrayal, in: Explorations in Renaissance Culture 23, 1997, S. 23–36, hier S. 25. 16 Vgl. Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 5 mit der Betrachtung Giottos Hässlichkeit, die nicht auf sein ingenium und die Schönheit seiner Malerei schließen lässt. Zum Topos des hässlichen Äußeren Giottos und dessen Diskrepanz zur Größe seiner Kunst aufgrund seines ingenium siehe Land, Giotto as an Ugly Genius.
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künstlerische poiesis reflektiert, die durch das Verbum facesse einmal die aus theoria und praxis bestehende Ebene künstlerischer Tätigkeit anzeigt und andermal die Ebene ethischer praxis, das heißt das tugendhafte Handeln des Künstlers. Insofern dieser Satz auch bedeutet, dass die Leute, die über Lippo Topo und seine Malerei sprechen, dem äußeren Schein aufsitzen, reflektiert er schließlich auch – so meine These – den Illusionismus der mimetischen Malerei.17 Demzufolge gestaltet Boccaccio Lippo Topo spiegelbildlich zu Frate Cipolla, um nicht nur auf einer Metaebene ex negativo die literarische, eine tiefere Wahrheit in sich tragende Fiktionalität zu verteidigen, sondern auch die Bedeutsamkeit illusionistischer Malkunst herauszustellen. Denn während Frate Cipolla für eine wohlgeformte Rede steht, die in Täuschung und Lügenhaftigkeit fundiert ist, versinnbildlicht Lippo Topo eine illusionistische mimetische Malerei, die wahrhaftig ist, weil sie aus Verstand und Tugend erwächst. Diese Novelle dient als Auftakt und Referenzerzählung dieser Studie, weil sie in allegorischer Form einmal eine Reflexion der Fiktionalität von Sprache und Literatur und deren Status und andermal der illusionistischen mimetischen Malerei bietet. Zudem findet sich in dem Gegenstand dieser Arbeit, dem Lobgedicht des Convenevole da Prato auf König Robert von Anjou (London, British Library, Royal 6 E IX), das der Autor um 1320–1335 geschaffen hat, eine auffallend lange Passage „eigentümliche[r] [Fälle] mit dem Beispiel des Lippo Topo“ (exemplo quales Lippus Topi spetiales /)18. Diese Figur lege ich hier in Rekurs auf Boccaccios Metaphorik als Allegorie eines Malers aus.19 So mag bereits einige Jahre zuvor der zeitgenössische ‚Diskurs‘ über den Rang der Malerei in der Figur des Lippo Topo gespiegelt sein, womit sich auch Boccaccios Aufwertung der Malerei20 historisch verankern ließe. Lippo Topo erscheint vorderhand als lasterhafte Gestalt, 17 Mimesis ist hier verstanden im Sinne empirischer Naturnachahmung. Siehe dazu die Worte der Muse Erato in Kap. 2.3 mit Anm. 283. 18 Convenevolis Pratensis Regia Carmina ad Robertum Andecavensem Corona Sicula Et Hierosolymitana Insignem, Faksimile, hg. v. Gruppo Bibliofili Pratesi, Cinisello Balsamo 1982, fol. 18v, Vers 14. Hingewiesen sei auf die anderen Normen folgende Transkription des Werkes von Cesare Grassi: Regia Carmina. Testo e traduzione, in: Convenevole da Prato. Regia Carmina, dedicati a Roberto d’Angiò re di Sicilia e di Gerusalemme, hg. v. Cesare Grassi, Cinisello Balsamo 1982, S. 41–140. Übersetzung der Verfasserin. Soweit nicht anders angegeben, stammen im Folgenden sämtliche Übersetzungen von der Verfasserin. Auf Roberta Marchionnis Übersetzung des Wiener Exemplars der Regia Carmina (Österreichische Nationalbibliothek, Cod. ser. nov. 2639) bin ich erst nach Abschluss dieser Arbeit aufmerksam geworden, so dass lediglich ein Abgleich mit dieser vorgenommen wurde: Roberta Marchionni: Das Lobgedicht auf König Robert von Anjou. Codex Series nova 2639 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Diplomatische Transkription und Übersetzung, Graz 2010. 19 Eine solche Auslegung wurde wiederholt in Frage gestellt und vielmehr auf die Sprichwörtlichkeit Lippo Topos abgehoben, der für jene Leute stehe, die beabsichtigen, große Dinge zu tun, ohne jedoch die Mittel dazu zu haben. Siehe Lucia Lazzerini: Lippo Topo, in: Lingua nostra 32, 1971, S. 35–38; Cesare Grassi: Di Lippo Topo presunto pittore, in: Giornale storico della letteratura italiana 168, 1991, S. 271– 273. Siehe auch Rino Avesani: Il ‚Geta‘ di Vitale di Blois nei ‚Regia carmina‘ per Roberto d’Angio, in: Kontinuität und Wandel. Lateinische Poesie von Naevius bis Baudelaire. Franco Munari zum 65. Geburtstag, hg. v. Ulrich Justus Stache, Wolfgang Maaz, Fritz Wagner, Hildesheim 1986, S. 410–423, hier S. 415 f. 20 Vgl. die bekannten Darstellungen der Maler im Decameron; siehe dazu Paul F. Watson: The Cement of Fiction. Giovanni Boccaccio and the Painters of Florence, in: Modern Language Notes 99, 1984, S. 43– 64; Dieter Blume: Die Täuschung der Sinne oder die Intellektualität der Malerei. Bild und Poesie
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insofern er als Apostel der Faulheit auftritt: Er gibt vor, alle Zeit im Bett zu verbringen und bestrebt zu sein, die Trägen an eben jenes zu binden. Dabei schließt er mit diesen Wetten ab, wer am längsten untätig im Bett liegen könne. Er „schickte, als Betrag der Wette, reinen Wein und verlangte, dass vom ersten, der sich erhebe, der Preis dafür bezahlt werde“ (pignus mictebat temeti soluique petebat / mensuram primo surgenti. […] /) 21.
Seine Faulheit erweist sich sodann allerdings als bloßer Schein, denn: „Lippo stand auf, als ihn etwa eine angelegentliche Bemühung in Anspruch nahm, und er atmete kaum, während er sich mit Mühe anzog, und er ließ nicht zu, dass er bemerkt wurde, sondern nahm eher hin, vom Knecht als unverschämt gehalten zu werden in so großer Trägheit“ (Lippus surgebat, cum forsan cura petebat / et quasi non flabat uix uestes quando parabat, / set permictebat sentiri seque sinebat / credi per seruum tanto torpore proteruum /)22.
Nach einiger Zeit wurden seine bloß vorgetäuschte Untätigkeit und Listigkeit indes vom Knecht erkannt: „Du glaubtest schlau, mich zu täuschen und wolltest, dass ich den Preis für den Wein bezahle und zugleich aber auch Sorge tragen, schnell aufzustehen“ –
was der Erzähler sogleich wie folgt kommentiert: „und er sagte die Wahrheit“ (Doctus credebas me fallere meque uolebas / soluere mensuram uini nec spernere curam, / tam cito surgendi, uerum dicebat […] /)23.
Dergestalt zeigt dieser erzählte ‚Fall‘ eine Spannung zwischen der vordergründigen Schläfrigkeit und Tranigkeit, die durch die Triefäugigkeit versinnbildlicht werden, und dem dahinter verborgenen aufgeweckten, listigen, umsichtigen und vernünftigen Wesen. Er verweist mithin darauf, dass dem Vordergründigen zu misstrauen und das Urteil an die hinter den Erscheinungen liegenden Dinge zu binden ist. Insofern diese Reflexion des Täuschenden einer Erscheinung und ihrer wahren Bedeutung im allegorischen Sinn auf das illusionistische Werk des Malers übertragen wird, impliziert sie eine Aufwertung der Malerei. Dementsprechend birgt schließlich auch der Kommentar des Erzählers zum ‚Fall‘ des Lippo Topo eine Kritik an der Topik als Wissensordnung, die der Malerei keinen angemessenen Platz zuweist. Dabei verweist er nicht zuletzt im Sinne eines zu reflekbei Giovanni Boccaccio, in: Jenaer Universitätsreden 10, 2003 (Philosophische Fakultät, Antrittsvorlesungen IV), S. 41–61. 21 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 18v, Vers 22 f. 2 2 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 18v, Verse 26–29. 23 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 18v, Verse 40–42.
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tierenden ‚Ansehens‘ der Malerei auf das Vermögen seiner Kunst (ars), ihr erkenntnisstiftendes Potential aufzuzeigen: „Welche Geltung dieses Gesprochene hat, darüber werden die Gelehrten nachdenken können. Vielleicht werden einige Leser von gewichtigerem Geist sagen: ‚Dieser unbedeutende Sinnspruch sollte nicht vermischt werden mit einem ernsthaften Gedanken und nicht wiedergefunden werden zwischen den zu erwägenden Dingen, wo die reifen, reinen und sehr gelehrten Taten hinzulegen sind und nicht jene voll von List und Gelächter‘. Am Ende ihrer Anstrengung wird die Kunst antworten, wenn sie Zeit haben wird, Antworten zu geben“24 (Quid ualet hoc fari, poterunt docti meditari. / Forsan lectores aliqui sensu grauiores: / hoc leue misceri sententia nec reuideri / inter libranda debebat uelle, locanda / sunt ubi matura doctissima factaque pura / et non plena dolis uel risu. Fineque molis / ars respondebit, si dandi tempus habebit /) 25.
Die gerade auch von Boccaccio angesprochene Erneuerung der Malerei durch Giotto und deren Geltung26 ist oft beschrieben worden, sie ist geradezu ein Topos kunsthistorischer Rede. Und obschon in den vergangenen Jahren vermehrt Studien zur Malerei des Trecento entstanden sind, sind deren ästhetischen und epistemologischen Implikationen bei Weitem nicht systematisch erforscht. Dies resultiert insbesondere daraus, dass die Studien zum einen vornehmlich historisch-monographischen Zuschnitts sind, ohne Erörterung systematischer Zusammenhänge.27 Zum anderen wurde verstärkt nach dem 24 Vgl. zum ‚Fall‘ Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im Policraticus Johanns von Salisbury, Hildesheim 21996 [1988], S. 28 f.: „der ‚Fall‘ […] stellt das Allgemeine auf die Probe, zeigt Schwachstellen des Gesetzes und konkurrierende Prinzipien. Er ist somit eo ipso ‚strittig‘ und bedarf ‚kasuistischer‘ Behandlung. […] Der Fall als Sonderfall ist entweder nicht oder nur durch Sonderbehandlungen (wie Diskussion und Reflexion) auf ein Allgemeines zu beziehen; er kann entweder ‚als Frage im Raum stehen bleiben‘ oder ein zuletzt lösbares Problem darstellen, einen ‚außergewöhnlichen, aber doch vorkommenden Fall‘, der als solcher ‚eine Lektion‘ erteilt“. Vgl. Hans Lipps: Beispiel, Exempel, Fall und das Verhältnis des Rechtsfalls zum Gesetz, in: Hans Lipps: Die Verbindlichkeit der Sprache. Arbeiten zur Sprachphilosophie und Logik, hg. v. Evamaria von Busse, Frankfurt a. M. 21958 [1944], S. 39–65, hier S. 47 f. 25 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 18v, Verse 47–53. 26 Siehe die bekannte Passage aus Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 5, S. 550 f., in der es in Bezug auf Giotto heißt, dass er eine Begabung (ingegno) von solcher Vortrefflichkeit hatte, dass er die Malerei wieder ans Licht zurückgeführt habe, die den Geist der Weisen befriedige: […] Giotto […] ebbe uno ingegno di tanta eccellenzia […]. E per ciò, avendo egli quell’arte ritornata in luce, che molti secoli sotto gli error d’alcuni, che più a dilettar gli occhi degl’ignoranti che a compiacere allo ’ntelletto de’ savi dipignendo, era stata sepulta […]. 27 Exemplarisch genannt seien hier Arbeiten zur Spanischen Kapelle in Santa Maria Novella in Florenz, zum Camposanto in Pisa und zur Sala dei Nove im Sieneser Palazzo Pubblico. Siehe dazu Joseph Polzer: Andrea di Bonaiuto’s Via Veritatis and Dominican Thought in Late Medieval Italy, in: The Art Bulletin 77, 1995, S. 262–289; Daniel Russo: Religion civique et art monumental à Florence au XIVe siècle. La decoration peinte de la salle capitulaire à Sainte-Marie-Novelle, in: La religion civique à l’époque mediévale et moderne. Chrétienté et Islam, Actes du colloque, Nanterre, 21–23 juin 1993, hg. v. André Vauchez, Rom 1995, S. 279–296; Margarete Dieck: Die Spanische Kapelle in Florenz. Das trecenteske Bildprogramm des Kapitelsaals der Dominikaner von S. Maria Novella, Frankfurt a. M. 1997; Lina Bolzoni: La predica dipinta. Gli affreschi del Trionfo della Morte e la predicazione domenicana, in: Il Camposanto di Pisa, hg. v. Clara Baracchini, Enrico Castelnuovo, Turin 1996, S. 97–114; Friederike
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sozialgeschichtlichen Kontext der Werke gefragt.28 Die zuvorderst durch Hans Belting gegebenen Anstöße einer methodischen Differenzierung und neuer Fragestellungen, die den grundlegenden, historisch variablen Zusammenhang von formal-ästhetischer Gestalt, semantischem Gehalt und Funktion implizieren, wurden mithin lange Zeit nicht aufgegriffen.29 Theoriebildende Arbeiten, die insbesondere aus einem interdisziplinären Austausch mit der Literaturwissenschaft hätten erwachsen können, fehlen weitgehend.30 Wille: Die Todesallegorie im Camposanto in Pisa. Genese und Rezeption eines berühmten Bildes, München 2002; zu Siena aufgrund der Auseinandersetzung mit der bestehenden Forschung Maria Monica Donato: Ancora sulle ‚fonti‘ del buon Governo di Ambrogio Lorenzetti. Dubbi, precisazioni, anticipazioni, in: Politica e cultura nelle repubbliche italiane dal Medioevo all’età moderna, hg. v. Simonetta Adorni-Braccesi, Florenz 2001, S. 43–79; Maria Monica Donato: Il pittore del Buon Governo. Le opere politiche di Ambrogio in Palazzo Pubblico, in: Pietro e Ambrogio Lorenzetti, hg. v. Chiara Frugoni, Rom 2002, S. 201–255. 28 Vgl. Diana Norman (Hg.): Siena, Florence and Padua. Art, Society and Religion, 1280–1400, 2 Bde., New Haven 1995; Joanna Cannon (Hg.): Art, Politics, and Civic Religion in Central Italy, 1261–1352, London 2000. 29 Hans Belting: The New Role of Narrative in Public Painting of the Trecento. Historia and Allegory, in: Pictorial Narrative in Antiquity and the Middle Ages, hg. v. Herbert L. Kessler, Marianna Shreve Simpson, Washington D. C. 1985, S. 151–168; Hans Belting: Wandmalerei und Literatur im Zeitalter Dantes. Zwei öffentliche Medien an einer Epochenschwelle, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. v. Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck, München 1987, S. 53–79; Hans Belting: Das Bild als Text. Wandmalerei und Literatur im Zeitalter Dantes, in: Malerei und Stadtkultur in der Dantezeit. Die Argumentation der Bilder, hg. v. Hans Belting, Dieter Blume, München 1989, S. 23–64; Hans Belting: Langage et réalité dans la peinture monumentale publique en Italie au Trecento, in: Artistes, artisans et production artistique au Moyen Age, Vol. 3: Fabbrication et consommation de l’oeuvre, hg. v. Xavier Barral i Altet, Paris 1990, S. 491–511. Vgl. die zahlreichen Studien von Maria Monica Donato zum politischen Gebrauch des Bildes in den italienischen Kommunen des Spätmittelalters, in denen die „Aufgaben“ der Bilder erörtert werden. So spricht Donato zwar von „una nuova arte politica“ (1994, S. 493), doch diskutiert sie die Neuheiten, die in einer neuen Funktion der Bilder fundiert sind, allein auf ikonographischer Ebene. Ebenso spricht sie von einer neuen Art visueller Kommunikation und erwähnt dabei den engen Zusammenhang von Bild und geschriebenem Wort, erörtert diesen indes nicht tiefgreifend. Maria Monica Donato: „Cose morali, e anche appartenenti secondo è luoghi“. Per lo studio della pittura politica nel tardo medioevo toscano, in: Le forme della propaganda politica nel due e trecento. Relazioni tenute al convegno internazionale organizzato dal Comitato di studi storici di Trieste, dall’École française de Rome e del Dipartimento di storia dell’Università di Trieste, Trieste, 2–5 marzo 1993, hg. v. Paolo Cammarosano, Rom 1994, S. 491–517; Maria Monica Donato: Immagini e iscrizioni nell’arte ‚politica‘ fra Tre e Quattrocento, in: Visibile parlare. Le scritture esposte nei volgari italiani dal Medioevo al Rinascimento, Atti del convegno internazionale di studi, Cassino – Montecassino, 26–28 ottobre 1992, hg. v. Claudio Ciociola, Neapel 1997, S. 341–396. 30 Mit der Darlegung des Spannungsgefüges in Giottos Malereien in der Arenakapelle, das in einer bildimmanenten Medienreflexion und einem ausgestellten ästhetischen Anspruch einerseits und dem theologischen Grund, in dem die Bilder fundiert sind, andererseits besteht, stand Max Imdahl: Giotto. Arenafresken. Ikonographie. Ikonologie. Ikonik, München 1980 bislang nahezu allein; vgl. zu Imdahl Karlheinz Stierle: Proust, Giotto und das Imaginäre, in: Modernität und Tradition, Festschrift für Max Imdahl zum 60. Geburtstag, hg. v. Gottfried Boehm, Karlheinz Stierle, Gundolf Winter, München 1987, S. 219–249. Zur Reflexion der spezifischen Medialität von Bild- und Wortkunst im Werk Giottos und Dantes siehe aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die Kapitel „Die Reflexion der Sichtbarkeit“ und „Das System der schönen Künste im Purgatorio von Dantes Commedia“ in Karlheinz Stierle: Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München 1997, S. 159–166, 389–401; zudem zur Entwicklung einer „Ästhetik der ‚Rezeption‘“ anhand der von Gott geschaffenen Reliefs im Purgatorio Dantes Divina Commedia Andreas Kablitz: Jenseitige Kunst oder Gott als Bildhauer. Die Reliefs
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Dabei erweist sich in kunsttheoretischer wie methodischer Hinsicht als entscheidendes Desiderat, dass die Bilder nicht systematisch in ihrer Form als Allegorien mit deren Reflexion von Figuralität und Referentialität analysiert wurden.31 Insofern es um allegorische Formen ging, wurden sie vornehmlich auf zugrundeliegende Prätexte zurückgeführt, oder es wurde leichthin die Verbindung traditioneller ikonographischer Elemente mit neuartigen Motiven angemerkt. Die genuin bildlichen Prozesse der Sinnstiftung und Spezifika der Allegorie wie Intertextualität respektive Interpikturalität und Selbstreferentialität, die seitens der Literaturwissenschaft seit der (Post-)Moderne gründlich erforscht sind, wurden mithin nicht oder nur in geringem Maße bedacht. Mit anderen Worten wurde dem Umstand, dass ein wesentliches Merkmal der Allegorie die mediale Konstruktion von Bedeutung ist, bislang kaum Rechnung getragen und damit die medientheoretischen Implikationen der Bildallegorien und die kunstimmanenten Reflexionen auf Bildlichkeit für die Erforschung der Malerei des Trecento nur vereinzelt berücksichtigt.32 An diesem Punkt setzt die vorliegende Studie an, indem sie erörtert, inwiefern sich die Aufwertung der Malerei als Erkenntnisverfahren und deren ästhetische Eigenwertigkeit im Trecento über die Allegorie konzeptionalisieren lässt. Sie exemplifiziert dies anhand des nicht unbekannten, bislang aber wenig beachteten Lobgedichtes des Convenevole da Prato auf König Robert von Anjou, das im Medium der auf uns gekommenen Handschriften einen singulären Fall der Herrschaftsrepräsentation darstellt. Es ist in Form allegorischer Ikonotexte gestaltet, die sich mit Blick auf den „ästhetischen Diskurs“ der Frühen Neuzeit als erkenntnistheoretisches Instrumentarium herausstellen. Denn zum einen verzichtet der Begriff „Ikonotext“ in seiner buchstäblichen Struktur auf das verbindende, aber dennoch trennende „und“ zwischen Bild und Text, so dass sich in ihm in prägnanter Weise das Konzept der unauflöslichen Verschränkung von Bild und Text zur (bildtheoretischen) Sinnerzeugung manifestiert.33 Zum anderen wird in erheblichem in Dantes Purgatorio (Purg. X–XII), in: Mimesis und Simulation, hg. v. Andreas Kablitz, Gerhard Neumann, Freiburg 1998, S. 309–356. 31 So weist etwa die Monographie von Anne Dunlop: Painted Palaces. The Rise of Secular Art in Early Renaissance Italy, University Park 2009 eine differenzierte Fragestellung zu den Bildallegorien auf, die auch auf einen veränderten Blick auf die Kunstgeschichtsschreibung der Renaissance zielt. Sie bietet aber keine systematische Auseinandersetzung mit der Allegorie. Zur Bedeutung einer systematischen Beleuchtung der Bildallegorie in der Frühen Neuzeit siehe Klaus Krüger: Bildallegorien in der italienischen Renaissance. Zur Hermeneutik visueller Topoi in der Kunst der Frühen Neuzeit, in: Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts, hg. v. Thomas Frank, Ursula Kocher, Ulrike Tarnow, Göttingen 2007, S. 193–207. 32 Siehe Klaus Krüger: Figuren der Evidenz. Bild, Medium und allegorische Kodierung im Trecento, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. v. Peter Strohschneider, Berlin 2009, S. 904–929, bes. S. 409–420 zur bildimmanenten Medienreflexion in Werken Giottos, in denen sich ein neuartiges Spannungsgefüge zwischen dem Anspruch der Eigengesetzlichkeit des Bildes und seinem zeichenhaften Gebrauch zeigt. Vgl. auch Klaus Krüger: Bildlicher Diskurs und symbolische Kommunikation. Zu einigen Fallbeispielen öffentlicher Bildpolitik im Trecento, in: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik, hg. v. Jan-Dirk Müller, München 2007, S. 123–162, der anhand ausgewählter Fallbeispiele trecentesker Malerei die immanenten Reflexionen ihrer medialen Bedingungen erörtert. 33 Der von Peter Wagner entwickelte Begriff „Iconotext“, der bereits in seiner formalen buchstäblichen Struktur die unauflösliche Verschränkung der beiden Medien Bild und Text anzeigt und auf semanti-
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Maße allein in der allegorischen Bedeutung der Figurationen ein historisches Malereiverständnis greifbar. Konkreter: Der Erkenntniswert des Lobgedichtes hinsichtlich des historischen Malereidiskurses ist im Folgenden zu diskutieren, insofern es von einem magister der Rhetorik verfasst und eigenhändig mit Zeichnungen respektive gemalten Bildern versehen ist und in ihm im Rahmen des ut pictura poesis-Diktums dichtungs- und bildtheoretische Konzepte zum Ausdruck gebracht werden, die in der nachfolgenden Kunsttheorie von Bedeutung sind. In dieser Gestaltung des unmittelbaren Zusammenhangs von dichtungstheoretischem Sprechen über Bilder und gemalten Bildern stellt das Lobgedicht einen seltenen historischen Fall dar: Die ausdifferenzierte kunsttheoretische Begrifflichkeit erfährt auf der Ebene der historischen Semantik eine bildliche Konkretion wie auch das Bild eine begriffliche Konkretion. Demgemäß erweisen sich die allegorischen Ikonotexte als kunsttheoretische Reflexionsfiguren vor der frühneuzeitlichen Kunsttheorie. Sie sind als Medium einer vergleichenden Theoriebildung für Bild- und Wortkunst zu begreifen. Dabei impliziert die reflektierte Verschwisterung von Wort- und Bildkunst die Ausstellung ihrer je spezifischen medialen Möglichkeiten. Zum einen lassen sich also in diachroner Perspektive die Wurzeln frühneuzeitlicher Kunsttheorie, die bekanntlich rund einhundert Jahre später zum ersten Mal in schriftlicher Form fixiert sind, partiell freilegen. Zum anderen besteht der Wert für die kunsthistorische Forschung des Trecento darin, dass die topische kunsthistorische Rede von der Neuartigkeit der Malerei Giottos über diesen kunsthistorischen Topos des ästhetischen Qualitätsmerkmals hinaus präzisiert wird, indem die Aufwertung der Malerei in ihren ästhetischen wie epistemologischen Implikationen ausdifferenziert wird. Damit stellt sich die Frage nach der systematischen Verschränkung von ‚Kunstdiskurs‘ und historischer Herrschaftsrepräsentation: Wie gelangt der konzeptuelle Zusammenhang von Herrschaft und Wort- und Bildkunst, von Herrscherlob und ‚Kunstlob‘ zu sinnfälliger Anschauung? Das heißt auch: Inwiefern ist die Veranschaulichung des abstrakten Konzepts der Diskurshoheit des Königs, die dessen Auftrag zur Behebung des akuten Problems der politischen Ordnung Italiens augenscheinlich macht, an die Reflexion des ästhetischen wie epistemischen Potentials der Bilder gekoppelt, und inwiefern wird sie letztlich ausgestellt durch ein bildliches Sprechen über die Bilder? Solchermaßen plausibilisiert sich die titelgebende Formel „Sprechen in Bildern – Sprechen über Bilder“: Zum einen wird die Verschränktheit von der Bildhaftigkeit allegorischer Darstellung und der Notwendigkeit der sprachlichen Auslegung sinnfällig; und zum anderen die Verschränktheit der neuen ‚Sprachfähigkeit‘ der Bilder und des daran gebundenen Sprechens über diese.34 Die allegorischen Ikonotexte erweisen sich mithin als prädestischer Ebene dezidiert auf die unaufhebbare wechselseitige Durchdringung dieser zur Sinnstiftung abzielt, beschreibt treffend die der Bild-Text-Gestalt zugrundeliegende wahrnehmungstheoretische Verflechtung. Zur terminologischen Definition von „Iconotext“ siehe Peter Wagner: Introduction. Ekphrasis, Iconotexts, and Intermediality – the State(s) of the Art(s), in: Icons – Texts – Iconotexts. Essays on Ekphrasis and Intermediality, hg. v. Peter Wagner, Berlin 1996, S. 1–40, hier S. 16. Vgl. Steffen Siegel: Bild und Text. Ikonotexte als Zeichen hybrider Visualität, in: Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text, hg. v. Silke Horstkotte, Karin Leonhard, Köln 2006, S. 51–73. 34 Vgl. Christine Tauber: Manierismus und Herrschaftspraxis. Die Kunst der Politik und die Kunst-
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niert, zugleich eine historische und methodologische Fragestellung zu entwickeln, in der Bild und Sprache als notwendige Komplemente reflektiert werden. Dementsprechend zielt die im Zentrum dieser Studie stehende Diskussion des Modells des allegorischen Ikonotextes als Reflexionsfigur vor der frühneuzeitlichen Kunsttheorie darauf, eine präzise Grundlage für die Rekonstruktion der historischen und aktuellen Debatten um den ‚stummen Diskurs der Bilder‘ zu erarbeiten. Demnach fügt sich die Diskussion der allegorischen Ikonotexte auf systematischer Ebene in zwei aktuelle Forschungsdiskurse: einmal in neuer Perspektivierung in den Diskurs um die Selbstreflexivität der frühneuzeitlichen Malerei, der auf die Malerei des Mittelalters übertragen wurde35, andermal in das weite Feld der Bild-Text-Forschung zur Audiovisualität im Mittelalter mit dem Prinzip der doppelten Visualisierung durch Schrift und Bild36 und zu den intermedialen Wechselbeziehungen und Wahrnehmungsperformanzen Sehen und Lesen.37 In Bezug auf Ersteren besteht indes ein formaler Unterschied gegenüber Gemälden darin, dass die Miniaturen die Reflexion ihres ästhetischen wie epistemischen Wertes nicht aus sich allein heraus zeigen – was auch in der Spezifik des Mediums Buch mit seiner genuinen Verbindung von Text und Bild begründet ist. So vollzieht sich zum einen die Reflexion in einem verschränkten Wahrnehmungs- und Wirpolitik am Hof von François Ier, Berlin 2009, die anhand manieristischer Kunst am französischen Hof von François Ier die „Deutungshoheit als Herrschaftsakt“ untersucht und dabei die Bedeutung des durch die Kunst angesprochenen Intellekts des Betrachters herausstellt, der „einen kunsttheoretischen Diskurs [substituiert], den es in Frankreich im Gegensatz zu Italien in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht gegeben hat“. Dabei geht es Christine Tauber in Rückgriff auf die von Ulrich Oevermann entwickelte „objektive Hermeneutik“ um den methodologischen Wert des (historischen) Zusammenhanges von „Bild-Text“ und Sprache, der sprachlichen Vermittlung der visuellen „Ausdrucksgestalt als eigenlogische[r] bedeutungstragende[r] Äußerung“ für die Kunstwissenschaft. Zit. S. 3, 7. 35 Siehe u. a. Louis Marin: Opacité de la peinture. Essais sur la représentation au Quattrocento, Paris 1989; Louis Marin: Des pouvoirs de l’images. Gloses, Paris 1993; Louis Marin: De la représentation, hg. v. Daniel Arasse u. a., Paris 1994; Daniel Arasse: Le sujet dans le tableau. Essai d’iconographie analytique, Paris 1997; Victor I. Stoichita: Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München 1998; Klaus Krüger: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001; Steffen Bogen: Träumen und Erzählen. Selbstreflexion der Bildkunst vor 1300, München 2001; Norbert Schnitzler: Illusion, Täuschung und schöner Schein. Probleme der Bilderverehrung im späten Mittelalter, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politischsoziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus Schreiner, München 2002, S. 221–242; Christiane Kruse: Wozu Menschen malen. Historische Begründungen eines Bildmediums, München 2003, S. 137–173; Marius Rimmele: Das Triptychon als Metapher, Körper und Ort. Semantisierungen eines Bildträgers, München 2010. 36 Siehe grundlegend Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995; Horst Wenzel: Audiovisualität im Mittelalter, in: Literatur im Informationszeitalter, hg. v. Dirk Matejovski, Friedrich Kittler, Frankfurt a. M. 1996, S. 50–70; Horst Wenzel, Wilfried Seipel, Gotthart Wunberg (Hgg.): Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche, Wien 2001; Horst Wenzel (Hg.): Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Wien 2000. 37 Siehe dazu Silke Horstkotte, Karin Leonhard: Einleitung. Lesen ist wie Sehen – über Möglichkeiten und Grenzen intermedialer Wahrnehmung, in: Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text, hg. v. Silke Horstkotte, Karin Leonhard, Köln 2006, S. 1–15 sowie die Beiträge in diesem Band; Eckart Conrad Lutz, Martina Backes, Stefan Matter (Hgg.): Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, Zürich 2010; Liliane Louvel: Poetics of the Iconotext, Ashgate 2011.
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kungszusammenhang mit den Texten. Zum anderen ist die Modellierung und Ausstellung der ‚Sprachfähigkeit‘ der Bilder sowie die Reflexion ihrer visuellen Argumentationsformen an das Trägermedium, die Folia, gebunden und wird so performativ erfahrbar.38 Dergestalt sind die systematischen Aspekte pikturaler Reflexivität und komplexer BildText-Relationen verschränkt.39 Indem die allegorischen Ikonotexte dabei die spezifischen medialen Möglichkeiten von Malerei und Wortkunst reflektieren und die Bedeutungsgenerierung in einer permanenten Bewegung zwischen den unterschiedlichen medialen Materialitäten sowie Materiellem und codiertem Zeichenhaften fundiert ist40, gibt eine medientheoretisch orientierte Analyse in historischer Perspektive Aufschluss über die Praxis der Signifikation sowie das konkrete Wissen um Medialität. Angesichts des reflektierten und ausgestellten symbiotischen Verhältnisses von Bild und Sprache ist schließlich auch hinsichtlich gegenwärtiger bildwissenschaftlicher Erörterungen zum Status des Bildes und seiner Relation respektive Relationierung zur Sprache, die auf die Neuzeit und Moderne fokussiert sind, anzumerken: Unter der Prämisse, dass historische Analyse und gegenwärtige Theoriebildung in einem grundsätzlichen Verhältnis zueinander stehen, ermöglicht auch das Modell des allegorischen Ikonotextes einen analytischen Differenzierungsgewinn, indem die historische Differentialität konturiert wird.41 Die historische Ebene betreffend, verschränken sich in dieser Studie angesichts der angesprochenen Kopplung von ‚Kunstdiskurs‘ und politischem Diskurs jene zwei Fragestellungen, die unlängst auch Gerhard Wolf in einem Aufsatz zu Ambrogio Lorenzettis 38 Vgl. Rimmele, Das Triptychon als Metapher, der als eine seiner Grundthesen herausstellt, dass die mediale Selbstreflexivität des Bildes im Hinblick auf das Trägermedium zum Tragen kommt. Vgl. auch Marius Rimmele: Selbstreflexivität des Bildes als Ansatzpunkt historischer Bildforschung. Ein Diskussionsbeitrag zur Rolle des Trägermediums, in: Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft, hg. v. Ingeborg Reichle, Steffen Siegel, Achim Spelten, Berlin 2007, S. 15–32. 39 Einen Überblick grundlegender Studien zum Bild-Text-Verhältnis im Mittelalter und aktueller, an BildText-Gefüge geknüpfte Forschungsfragen, wie jene nach den Bedingtheiten medialer Prozesse in den Spezifika der Materialität, geben aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Eckart Conrad Lutz: Lesevorgänge. Vom punctum flexus zur Medialität. Eine Einleitung, in: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, hg. v. Eckart Conrad Lutz, Martina Backes, Stefan Matter, Zürich 2010, S. 11–33, hier S. 18–25; Christian Kiening: Medialität in mediävistischer Perspektive, in: Poetica 39, 2007, S. 285–352, bes. S. 305–315. Zu den vielfältigen Aspekten, die sich im Bild-Text-Verhältnis im Spätmittelalter in den unterschiedlichen Gattungen und Funktionszusammenhängen zeigen, siehe Claudio Ciociola (Hg.): Visibile parlare. Le scritture esposte nei volgari italiani dal Medioevo al Rinascimento, Neapel 1997. 4 0 Medialität wird hier demzufolge verstanden nach Kiening, Medialität in mediävistischer Perspektive, S. 351. 41 Vgl. Horst Wenzel: Zur Narrativik von Bildern und zur Bildhaftigkeit der Dichtung. Plädoyer für eine Text-Bildwissenschaft, in: Bilderfragen. Die Bildwissenschaft im Aufbruch, hg. v. Hans Belting, München 2007, S. 317–331, hier S. 331: „Die akademische Systematik der Fachwissenschaften hat Bild- und Textbeobachtung in einer Weise gegeneinander polarisiert, wie es für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit undenkbar gewesen wäre“; Horst Wenzel: Spiegelungen. Zur Kultur der Visualität im Mittelalter, Berlin 2009, S. 21–23, 38–40; Belting, Das Bild als Text, S. 38: „Die Hierarchie, in der man sie [d. h. Bild und Text] heute sieht, entspricht einer modernen Sicht“; Michael Curschmann: Hören – Lesen – Sehen. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 106, 1984, S. 218– 257; Michael Camille: Seeing and Reading. Some Visual Implications of Medieval Literacy and Illiteracy, in: Art History 8, 1985, S. 26–49.
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Fresken in der Sala dei Nove im Sieneser Palazzo Pubblico angesprochen hat: „Die erste gilt Italien beziehungsweise dem Problem, was man im 14. Jahrhundert darunter verstand“, während die zweite „den Ort von Dichtung und Bildkünsten sowie die Verflechtungen der Künste in dieser Situation [betrifft]“42. So ist mit Gerhard Wolfs Worten, dass „die Diskussion um Italien […] geradezu ein Movens für die Suche nach neuen medialen und künstlerischen Modellen zu sein [scheint]“43, der historische wie systematische Problemzusammenhang dieser Arbeit präzise umrissen. Damit versteht sich die Arbeit als ein Beitrag des Forschungsfeldes zu kommunalen politischen Bildprogrammen des Trecento mit der Frage nach der Genese neuer bildlicher Sprachformen und den genuin bildlichen Prozessen der Sinnstiftung – also dem „komplexen inneren Zusammenhang von symbolischer Kommunikation und ästhetischer Bedeutungsproduktion“, worin sich „die politische und soziale Dimension einer ästhetischen Wertbesetzung in und mit Bildern“44 zeigt. Dabei positioniert sie sich gleichsam im Spannungsgefüge von „Malerei der Dantezeit“45 und „Literatur zur Giottozeit“46. Dergestalt ist zum einen der Bezug zu Michael Baxandalls grundlegender Studie Giotto and the Orators aufgerufen, welche die epideiktische Rhetorik humanistischer Kunstbetrachtung seit Petrarca beleuchtet und nach deren Bedingtheit von Kriterien der Rhetorik und lateinischer Literatur fragt.47 Zum anderen ist auf das zu erforschende „Kunstgespräch“ verwiesen, das als Konstruktion eines historischen Sprechens über Malerei, des historischen Dialogs zwischen Bilderzeugung und Bildbetrachtung verstanden wird und Baxandalls Studie durch eine komplementäre Perspektive ergänzt. Denn dabei werden Reflexionen der zeitgenössischen Kunstpraxis in unterschiedlichen Textgattungen fokussiert, in denen sich ein aus der Praxis der Bilderzeugung gewonnenes Sprechen zeigt.48 Die Anknüpfungspunkte dieser Studie 42 Gerhard Wolf: Die Frau in Weiß. Visuelle Strategien und künstlerische Argumentation in Ambrogio Lorenzettis Fresken in der Sala dei Nove, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 55, 2013, S. 27–53, hier S. 28. Vgl. zu diesen beiden Problemzusammenhängen die aktuellen Sammelbände Elisa Brilli, Laura Fenelli, Gerhard Wolf (Hgg.): Images and Words in Exile. Avignon and Italy in the First Half of the 14th Century (1310–1352), Florenz 2014; Gerhard Wolf (Hg.): Kunstgeschichten. Parlare dell’Arte nel Trecento, München 2017. 43 Wolf, Die Frau in Weiß, S. 50. 4 4 Klaus Krüger: Bilder als Medien der symbolischen Kommunikation. Ästhetik und Geschichte. Kommentar zur Sektion „Kunstwerke als Medien symbolischer Kommunikation“, in: Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation, hg. v. Barbara Stollberg-Rilinger, Tim Neu, Christina Brauner, Köln 2013, S. 319–328, Zit. S. 323 f., 325. Siehe dazu insbesondere die in Anm. 32 angeführten Aufsätze von Klaus Krüger sowie den jüngst erschienenen Essay Klaus Krüger: Politik der Evidenz. Öffentliche Bilder als Bilder der Öffentlichkeit, Göttingen 2015. 45 Belting/Blume (Hgg.), Malerei und Stadtkultur in der Dantezeit. 4 6 Wolf, Die Frau in Weiß, S. 29. Zu diesem Spannungsfüge siehe Klaus Krüger, Friederike Wille (Hgg.): Kunst der Dantezeit. Diskurse und Figurationen, München 2017; Wolf (Hg.), Kunstgeschichten; vgl. C. Jean Campbell: The Commonwealth of Nature. Art and Poetic Community in the Age of Dante, University Park 2008. 47 Michael Baxandall: Giotto and the Orators. Humanist Observers of Painting in Italy and the Discovery of Pictorial Composition 1350–1450, Oxford 1971. 48 Siehe im Hinblick auf das „Kunstgespräch“ Löhr, Dantes Täfelchen; Wolf-Dietrich Löhr: Korrekturen. Schöpfung und Schminke bei Franco Sacchetti, in: Kunstgeschichten. Parlare dell’Arte nel Trecento, hg. v. Gerhard Wolf, München 2017 (im Druck); Wolf-Dietrich Löhr: Gaukler, Phantasten und Philosophen. Das Bild des Künstlers in Anekdoten des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Die Erfindung
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bestehen darin, dass sich nicht nur Elemente zeitgenössischer epideiktischer Rede über Malerei finden, sondern sich auch künstlerisches Praxiswissen in der Wahrnehmungsperformanz der Folia und ihrer Figurationen spiegelt und diese in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen. Hinsichtlich des dargelegten historisch-systematischen Problemzusammenhangs und der zentralen Frage, inwiefern sich die Aufwertung der Malerei als Erkenntnisverfahren und deren ästhetische Eigenwertigkeit im Trecento konzeptionalisieren lässt, wird im Folgenden gezeigt, dass sich drei Modelle und deren systematische Kopplung als fundamental erweisen: die Allegorie, die Topik und die künstlerische poiesis. So ist an die Aufwertung der künstlerischen poiesis, das heißt der künstlerischen Tätigkeit mit ihren theoretischen und ethischen Implikationen als Produktion von Wissen, eine ‚Kritik der Topik‘ als Wissensverwaltung durch Ordnungen gebunden, die Artefakten in ihrer ästhetischen Eigenwertigkeit keinen angemessenen Platz zuweist. Der ästhetische wie epistemologische Wert insbesondere der Malerei wird hieran über die Allegorie reflektiert und ausgestellt. Im Anschluss an die kodikologische Erfassung der Handschrift, aus der sich die Genese des Werkes ableiten lässt und in der das Verständnis der Ikonotexte im Sinne einer doppelten ‚Autorschaft‘ fundiert ist (Kap. 1), wird das Aufscheinen jenes komplexen Gefüges in einem ersten Schritt fokussiert; und zwar im Rahmen des Zusammenhangs von Künsten und Herrschaft, der als essentiell und darüber hinaus erneuert dargestellt ist. So wird zunächst die Repräsentation der toskanischen Kommune Prato, der Auftraggeberin des Lobgedichtes, als locus virtutis, in dem Künste entstehen, beleuchtet (Kap. 2.1). Das heißt: Zum einen erörtere ich die Darstellung der politischen Ordnung der Kommune als Nährboden für das Entstehen einer neuen Kunst, zum anderen die Ausformung der gesellschaftlichen wie politischen Bedeutung der Wort- und Bildkunst aufgrund ihrer erkenntnisstiftenden Qualität. An diese Darlegung der bildlich-textuellen Reflexion der Erneuerung der Künste und der politischen Erneuerung Italiens, deren figura die Kommune Prato ist, als die zwei Seiten einer Medaille, bindet sich die Analyse der Repräsentation Roberts von Anjou. In typologisierendem Sinn erscheint er demgemäß als idealer, ‚für Italien geborener‘ Herrscher, der den Papst von Avignon nach Rom zurückführen sowie den deutschen kaiserlichen Herrschaftsanspruch in Reichsitalien zurückweisen wird und somit die libertas Ytalie herbeiführt (Kap. 2.2). Dieser bemerkenswerten Manifestation des imperialen Herrschaftsanspruchs des angevinischen Königs ist ebenfalls der konzeptuelle Zusammenhang von Herrschaft und Künsten in Form des translatio-Gedankens inbegriffen: Durch die Übertragung der translatio imperii und der translatio studii auf diese Dynastie erscheint Italien als Ort politischer und kultureller Überlegenheit. Daraus resultiert freilich die Frage nach der Darstellung der Künste und deren Implikationen (Kap. 2.3). Hierbei erweist sich das Nebeneinander des Bildes des göttlich inspirierten, prophetischen Sängers (vates) gesellschaftlich relevanter Dichtung mit seiner Vision vom Reich irdischer Glückseligkeit und fiktionaler Dichtkunst als wesentlich. Diese erfährt wiederum durch den Zusammenhang von dichterischem ingenium und scientia des Bildes. Frühe italienische Meister bis Botticelli, Ausstellungskatalog, Bucerius Kunst Forum Hamburg, 01. 10. 2011–08. 01. 2012, hg. v. Ortrud Westheider, Michael Philipp, München 2011, S. 58–69.
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eine Aufwertung und ist gleichrangig neben die Philosophie gestellt. Hinsichtlich einer dergestalt modellierten Bedeutung fiktionaler Dichtkunst wird sodann gezeigt, inwiefern das Konzept der Bilderfindung mit ihren Komponenten von imaginatio, memoria und fingere nicht nur theoretisch reflektiert wird, sondern deren medialen Möglichkeiten im Sinnbild ausgelotet und als künstlerische Praxis vorgestellt werden. Damit ist das Konzept dichterischer poiesis als theoriegeleiteter künstlerischer Praxis als Produktion von Wissen aufgerufen, wobei insbesondere die Reflexion des Zusammenhangs von inventio, ingenium und ars/téchne in den Blick gerät. Zudem wird der Zusammenhang von poiesis und charis respektive gratia zur Sprache gebracht. Als wichtig erweist sich darüber hinaus in Convenevoles Regia Carmina die Reflexion der enargeia: Denn durch sie als anschaulichem „Vor-Augen-Stellen“ werden die Bedeutung der Bildhaftigkeit der Sprache und folglich der Wert der dem Bild eigenen Anschauungsleistung herausgestellt. Daraufhin ist die Übertragung dieser Aspekte auf die Malerei aufgrund des ut pictura poesis-Diktums näher zu betrachten. Hierbei ist in kunsttheoretischer Perspektive bedeutsam, dass dieses in dem Lobgedicht nicht nur sprachlich reflektiert wird. Bemerkenswerterweise ist die Übertragung hinsichtlich des poietischen Vermögens der Malerei in den Ikonotexten vielmehr selbst ins Werk gesetzt. So zeigt sich eine Transposition der durch die Musen versinnbildlichten Regeln der Sprachkunst auf das (entstehende) Regelsystem der Kunst der Malerei. Damit ist schließlich der grundlegende Aspekt im Prozess künstlerischer Schöpfung zu erörtern, nämlich jener der Bilderfindung (inventio). Der Begriff „Bilderfindung“ ist in seiner semantischen Ambivalenz zu verstehen: sowohl im Sinne von Bilder-Findung als auch von Bild-Erfindung. Dabei wird das Nebeneinander zwei verschiedener historischer Konzepte der inventio angesprochen: die rhetorische inventio im Sinne von (Auf-)Finden (Topik) und die dichterische, an die Leidenschaft des Dichters gebundene inventio im Sinne von Erfinden respektive Erdichten. Damit deutet sich die Untrennbarkeit beider Konzepte an, die im Quattrocento deutlich hervortritt. Daran knüpft sich die Frage nach dem konkreten poietischen Vermögen des zeichnenden Dichters (Kap. 2.4). So wird zum einen das Konzept dichterischer poiesis anhand einer Petrarca-Anekdote über seinen Lehrer Convenevole untersucht, um zum anderen die spezifische künstlerische Leistung der Bild-Text-poiesis zu betrachten. Die Erörterung bildlich-textueller Reflexion der Vermittlungsleistung bildlicher Repräsentation und ihrer Medialität (Kap. 2.5) bildet den Abschluss des Kapitels. Hier ist die Auseinandersetzung mit dem Paradoxon zentral, das dem religiösen Bild eignet: nämlich der Sichtbarmachung des Unschaubaren, das die Grenzen der sinnlichen Erfahrung überschreitet. So wird hier insbesondere das Spannungsgefüge zwischen dem Anspruch der Eigengesetzlichkeit des Bildes und seinem zeichenhaften Gebrauch beleuchtet. Mit diesen eher grundlegenden Ausführungen geraten im nachfolgenden Kapitel 3 die allegorischen Ikonotexte als Reflexionsfiguren der pictura in den Fokus. Hierbei wird zunächst anhand eines ausgewählten Fallbeispiels diskutiert, inwiefern sich dieser allegorische Ikonotext in seinem fiktionalen Status als Reflexionsfigur der mimetischen Qualität und illusionistischen Wirkung der Malerei erweist (Kap. 3.1). Insofern er eine bildlich-textuelle Selbstreflexion des ästhetischen wie epistemischen und zugleich epistemologischen Wertes der Malerei bietet, wird nicht nur nach der Modellierung der Geltungsansprüche des fiktionalen Artefaktes gefragt, sondern auch nach der Ausstellung
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des genuin deiktischen Potentials der Bilder und der Bedeutung der Evidenz-Effekte der pictura. Mit dieser Ausformung der Allegorie als reflektierter Kunstform wird weiter diskutiert, inwiefern die Aufwertung der Malerei als Erkenntnisverfahren und deren ästhetische Eigenwertigkeit über die Systematik der Allegorie erfolgt: durch eine Hybridkonstruktion von Dichtungs- und Bibelallegorese sowie durch eine Transformation des tradierten vierfachen Schriftsinnschemas (Kap. 3.2). Demgemäß wird erörtert, dass Convenevole auf der neuen ‚Tradition‘ von Dantes Dichtungskonzeption aufbaut, um einerseits eine ‚Kritik der tradierten Topik‘ zu bieten, welche die Malerei wenig schätzt, und auf Giotto, um andererseits eine neue ‚Topik der ästhetischen Kritik‘ als ästhetische Reflexion zu konstituieren. Indem die unterschiedlichen Ikonotexte dieser beiden Kapitel jeweils als Sinnbilder von Dichtung und Malerei die Möglichkeiten der Kunst reflektieren, lassen sich die Implikationen dieser Reflexivität und Selbstreferenz ausdifferenzieren. Hieran wird die Komplexität des Neuartigen der Malerei anhand des Konzepts der „Naturalisierung der Allegorie“ noch näher bestimmt (Kap. 3.3). So wird der Spannungsbezug von realitätshaltiger
Allegorie und allegorisch aufgeladener Wirklichkeitsevidenz beleuchtet, um die ästhetischen wie wirklichkeitsdeutenden Geltungsansprüche der Malerei genauer beschreiben zu können. Aufbauend auf dem Befund, dass sich die allegorischen Ikonotexte als Reflexionsfiguren der pictura erweisen, wird der Diskurshorizont der Bilder näher erschlossen. Damit rückt das Paradigma des „Kunstgesprächs“ in den Fokus (Kap. 4), das nach dem diesbezüglichen erkenntnisstiftenden Wert des Lobgedichtes fragen lässt. Denn dieses zeigt eine Verschränkung der Herstellung von Bildern einerseits und der textuellen wie visuellen Reflexion des zeitgenössischen Diskurses über ästhetischen Reiz, epistemologische Funktion und Theoriehaltigkeit der Malerei andererseits. So wird zunächst das Aufscheinen zeitgenössischer humanistischer Rede über Malerei im Medium des Textes dargelegt (Kap. 4.1), um sodann aufzuzeigen, inwiefern die Bilder ihre Theoriehaltigkeit ausstellen, die in einem theoretisch-künstlerischen, in Malerwerkstätten verankerten Wissen fundiert ist (Kap. 4.2). Es wird mithin die Verschränkung von künstlerischer Praxis und Rhetorik beleuchtet, indem der Vollzug der Theoriebildung in der Komposition der Bilder und die daran gebundene Einsicht betrachtet werden, dass sich das in den allegorischen Ikonotexten reflektierte Ausdrucksvermögen der mimetischen Malerei über das rhetorische enargeia-Konzept theoretisieren und damit konkretisieren lässt. Mit dem sich anschließenden Kapitel lässt sich neben der Bedeutung des rhetorischen enargeia-Theorems das Konzeptuelle der Malerei ausdifferenzieren, indem anhand eines weiteren Fallbeispiels thematisiert wird, inwiefern sich die Empirie visueller Wahrnehmung als konstitutiv erweist. Hierbei wird nach der Verknüpfung von Bild- und Betrachterraum gefragt und einer daran gebundenen Verschiebung allegorischer Bedeutungsproduktion, die zwischen Bildoberfläche und imaginierter Performativität vor dem Bild oszilliert (Kap. 5.1). Indem die tiefere Bedeutung der allegorischen pictura also nicht zuvorderst hinter dem Bild liegt und demzufolge nicht im Sinne des ikonographischikonologischen Modells vornehmlich auf die Entschlüsselung eines zugrundeliegenden Prätextes zielt, wird nicht nur der ästhetische Eigenwert des Bildes ausgestellt. Daneben wird mit dieser Verschiebung von einem ‚Dahinter‘ zu einem ‚Vor dem Bild‘ das Sprechen
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des impliziten Betrachters über das Bild versinnbildlicht. Damit tritt wiederum der Zusammenhang der Repräsentation von Herrschaft und Künsten in den Fokus (Kap. 5.2). Es wird folglich die allegorische Modellierung von Herrschaft näher beleuchtet, die unhintergehbar an eine ‚Bildkritik‘ – verstanden als genitivus subjectivus – und ein ‚Kunsturteil‘ – verstanden als genitivus objectivus – gekoppelt ist. Insofern dies auf eine epistemologische Aufwertung der Malerei zielt, wird im abschließenden Kapitel erörtert, wie sich in allegorischen Ikonotexten eine Reflexion auf den Stellenwert der Bilder im Diskurs um das Generieren und Stabilisieren von Wissen und dabei zugleich die ästhetische Funktion der Bilder zeigt (Kap. 6). Dabei wird diskutiert, inwiefern durch eine Fragmentierung tradierter Ikonographien und einer dadurch erzeugten Ambiguität der Bildzeichen gleichsam ein ‚stummer Diskurs der Bilder‘ ausgelöst und damit auf der Ebene medialer Reflexion die neue ‚Sprachfähigkeit‘ und das epistemologische Potential der Bilder ausgestellt werden. So tritt letztlich die Relevanz der allegorischen Ikonotexte in historischer wie methodologischer Hinsicht deutlich hervor. Denn der historische Gegenstand bedingt die Zusammenführung dreier Forschungsparadigmen, nämlich jene der Topik, der (post-)modernen Allegorie-Forschung und des „ästhetischen Diskurses“ der Frühen Neuzeit. Da der ästhetischen Erfahrung der figürlichen Ambiguität in den allegorischen Ikonotexten im ‚Sprechen über die Bilder‘ zu begegnen ist, stellt sich am Ende in historischer wie kunsttheoretischer Perspektive die Frage – die hier freilich offen bleiben muss: Inwiefern sind in der Ambiguität der Bildform und der ihr inhärenten Reflexion über die deiktische und bedeutungsstiftende Funktion visueller Zeichen die Grundlagen eines historischen Prozesses zu sehen, der sich im Cinque- und Seicento in „Phänomene[n] intendierter Ambiguität und bewusster Durchbrechung der Form-Inhalt-Adäquanz“49 spiegelt?
49 Valeska von Rosen: Res et signa. Formen der Ambiguität in der Malerei des Cinquecento, in: Kann das Denken malen? Philosophie und Malerei in der Renaissance, hg. v. Inigo Bocken, Tilman Borsche, München 2010, S. 243–274, hier S. 270. Siehe dazu eingehender Valeska von Rosen: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600, Berlin 2009. Vgl. in diesem Sinn Krüger, Bild als Schleier, S. 241–284; jüngst Valeska von Rosen (Hg.): Erosionen der Rhetorik? Strategien der Ambiguität in den Künsten der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2012.
1. Regia Carmina – Der Kodex (London, British Library, Royal 6 E IX)
1.1 Kodikologische Beschreibung und Sujet des Lobgedichtes Mit der Handschrift des Lobgedichtes auf König Robert von Anjou (1278–1343), die unter der Signatur Royal 6 E IX in der Londoner British Library aufbewahrt wird, ist ein herausragendes Objekt der Herrschaftsrepräsentation im italienischen Trecento Gegenstand der Betrachtung. Der Kodex, der um 1336 entstanden ist, findet erstmals im Katalog der Kings Library aus dem Jahr 1734 Erwähnung.1 Seine vorgängige Geschichte ist nicht überliefert, auch gibt er selbst diesbezüglich keine Hinweise. Ein erster Verbleib in Neapel erscheint indes insofern wahrscheinlich, als zwei Abschriften überliefert sind, die in den 1340er-Jahren ebendort entstanden sind.2 Durch König Georg II. wurde der Kodex sodann 1757 als Teil der Old Royal Library an das British Museum übergeben, bevor er schließlich in die Bestände der British Library überging.3 Gefasst ist die Handschrift in einen modernen Einband in blauem Maroquin, der auf dem Buchrücken folgende Beschriftung trägt: Convenevoli / de Pratis / Poemata / Roberto / Regi / Napoli / Dictata / Mus. / Brit. / Bibl. / Reg. / 6. E.IX. Im Inneren birgt der Kodex nach einem Pergament-Vorsatzblatt als fol. I dreißig Pergamentblätter im Folioformat mit den beträchtlichen Maßen von 49 cm x 35 cm. Zu 1 David Casley: A Catalogue of the Manuscripts of the Kings Library. An Appendix to the Catalogue of the Cottonian Library, London 1734, S. 117. Die Entstehung der Handschrift, die als Poemata varia, cum picturis beschrieben ist, wird in das 14. Jahrhundert datiert. Darüber hinaus findet sich das Incipit: Sedes summa Dei. Siehe dazu George F. Warner, Julius P. Gilson: Catalogue of Western Manuscripts in the Old Royal and King’s Collections, Bd. 1, London 1921, S. 160 mit dem nicht korrekten Eintrag: „Not identifiable in the old catalogue“. 2 Siehe dazu Kap. 1.2. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf den Eintrag, der sich auf dem originalen fol. I befindet. Er ist mit Bleistift geschrieben und auf den 3. Oktober 1839 datiert: „These poems are the work of Convenevole da Prato, Petrarch’s teacher, and were written during the pontificate of Benedict XII i. e. 1334–1342. The subject is the call […] Robert of Anjou, King of Naples & Sicily to […] the Guelph or Church party. There is a copy in the Magliabechi Library (Class. VII, num. XVII in folio) described by Mehus, pp. CCVIII-CCX. A third copy (brought from Italy) belonged in April 1839 to the […] ‚Payne of Top‘ bookmerchants in Pall Mall. I. H. 3. October 1839“. Darunter ist hinzugefügt: „The copy* which was in the possess of Payne of Top was that which belonged to the Magliabechi and has since been noticed to that library. I. H. Oct. 1848 *It was a more recent copy of the present vo lume“. 3 Auf den Folia 1 und 30v ist am unteren Rand der Besitzerstempel des British Museum in roter Tinte aufgeprägt. Vgl. dazu und zum Folgenden die kodikologische Darstellung des British Library Board unter http://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Royal_MS_6_e_ix [letzter Zugriff am 16. 10. 2013]; ferner den knappen Katalogeintrag von Andrew George Watson: Catalogue of Dated and Datable Manuscripts c. 700–1600 in the Department of Manuscripts, The British Library, Bd. 1, London 1979, Nr. 876, S. 152; zudem den kodikologischen Eintrag bei Marco Ciatti: Le miniature, in: Convenevole da Prato. Regia Carmina, dedicati a Roberto d’Angiò re di Sicilia e di Gerusalemme, hg. v. Cesare Grassi, Cinisello Balsamo 1982, S. 15–32, hier S. 28–30.
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Regia Carmina – Der Kodex
dem sind je vier unfoliierte moderne Papierblätter als Vorsatz und Nachsatz eingefügt (V + 30 + IV). Die ursprüngliche Bindung ist mithin verloren4, zudem sind die Blätter beschnitten. Die Folia weisen einen Verbund von sechs Lagen auf, bestehend aus einem Unio, zwei Quaternionen, einem einzelnen Blatt, einem weiteren Quaternio mit zwei eingefügten Blättern sowie schließlich einem Unio. Die Lagenformel lautet demgemäß: I1 + 2x IV17 + (I-1)18 + (IV+1+1)28 + I30.5 Reklamanten befinden sich auf den Folia 9v, 18v, 19v, 20v, 21v, 23v, 24v, 26v, 27v, 29v. Die Foliierung mit brauner Tinte in der rechten oberen Ecke der Rectoseite ist modern. Der Erhaltungszustand der Folia ist gut, wobei die Folia 27–30v in einem schlechteren Zustand sind als die übrigen; sie weisen am oberen Rand Flecken und am unteren Restaurierungsspuren auf. Das Pergament ist fein und von besonderer Qualität; insbesondere ist es gut bearbeitet, die Differenz zwischen Fleisch- und Haarseite ist kaum bemerkbar. Der Schriftspiegel beträgt 35,5 cm x 24 cm. Die reinen Textseiten sind in zwei Kolumnen gestaltet, die zwischen 34 und 47 Zeilen umfassen, am häufigsten 44 und 45 Zeilen. Der Text ist mit brauner Tinte in einer italienischen Halbkursive des 14. Jahrhunderts (Cancelleresca) einheitlich geschrieben (Taf. 5 und 8).6 Die allegorische Dichtung umfasst circa 3700 Verse, die vornehmlich in Hexametern und Leonianern abgefasst sind; das Incipit auf fol. 1 lautet Sedes summa Dei prout est exemplar amoris, das Explicit auf fol. 30v scandat et imploret procunctis qualibus hora. Daneben findet sich eine längere Rede in Prosa auf den Folia 25v–26v. Gegliedert wird der Text durch Fleuronnée-Initialen in roter und blauer Tinte, wobei der 2- bis 4-zeilige Buchstabenkörper in Lombardenform und das ihn umschließende Fleuronnée farblich kontrastieren (Taf. 8 und 23). Als Besatz sind die Lombarden kompakt umschlossen von konturparallelen Fäden oder Stegen, die in eine vertikale und horizontale Ausrichtung übergehen und somit das Initialfeld blockartig durch Eckfelder mit Knospen oder Ähren erweitern. Die Fäden sind außen gesäumt von Perlenketten mit kurzen dichten Fransen. Sie formen sich links nach oben und unten zu einem mit Ähren, Knospen oder Perlen gefüllten Dreieck, auf dem teilweise ein Medaillon mit ausgesparten Perlen aufsitzt. Nach unten schließt sich ein vertikaler Fleuronnéestab aus Perlenketten an, der in Parallelfäden übergeht, die sich schließlich gabelnd zu Fadenvoluten ausformen. Die symmetrisch organisierte Fläche des Binnenraums ist gefüllt mit Blattrosetten, Knospenfleuronnée (Garben, Ähren) und Zierleisten. Neben den FleuronnéeInitialen eröffnen als Auszeichnungsbuchstaben Versalien jeden Vers. Sie mögen in diesem Fall insbesondere auch als Lektürehilfe der Ikonotexte dienen, insofern in ihnen die Verse durch die Bilder teilweise gesprengt oder dicht gedrängt sind und so der Beginn eines Verses deutlich markiert ist.
4 Der British Library Board gibt zur Bindung an: „Post-1600; Royal Library binding“. Siehe http://www. bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Royal_MS_6_e_ix [letzter Zugriff am 16. 10. 2013]. 5 Vgl. die Angaben des British Library Board: http://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Royal_MS_6_e_ix [letzter Zugriff am 16. 10. 2013]. 6 Vgl. dazu Armando Petrucci: L’autografo di Convenevole da Prato e l’educazione grafica di Francesco Petrarca, in: Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medioevo e Archivio Muratoriano 81, 1969, S. 47–53; Renato Piattoli: Un autografo di Ser Convenevole, in: Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medioevo e Archivio Muratoriano 81, 1969, S. 33–46.
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Ausgestattet ist das Lobgedicht zudem mit 62 Miniaturen, die in Temperafarben und mit Blattgold sowie pulverisiertem Gold gestaltet sind.7 Die Miniaturen sind außerordentlich groß, sie füllen zumeist ohne Rahmung nahezu das gesamte Folio aus (Taf. 16 und 17).8 Gerahmt werden die Bilder indes von Textblöcken, die den Umrisslinien der Figuren angepasst sind, so dass die Texte die Bilder ‚umschreiben‘ und ‚(unter)stützen‘. Zudem ist die Schrift integraler Bestandteil der Bilder, indem sie diese durchbricht und ausfüllt, so dass die schriftlich fixierte Sprache aus dem Inneren der Figuren kommt und diese selbst sprechen lässt. Doch ist nicht nur das Sehen des Bildes mit dem Lesen der Schrift verschränkt. Ebenso wird das Lesen des Textes von einer steten Wahrnehmung der Bilder begleitet, denn diese ragen in die Schriftzeilen hinein und nehmen keine Rücksicht auf das Schriftbild der Worte (Taf. 20). Prägnanter: Die Bild-Text-Figuren sind als allegorische Ikonotexte modelliert, die eine unaufhebbare ikonisch-textuelle Kodierung aufweisen; auf inhaltlicher Ebene ist den ikonischen und sprachlichen Zeichen eine gemeinsame metaphorische Ebene eigen, da sie durch eine wechselseitige Semiosis miteinander verschränkt sind. Die Rezeption der illuminierten Folia muss somit zur Erfassung ihrer polysemen Gestalt zwischen simultaner Betrachtung und sukzessiver Lektüre oszillieren. Der Aufbau des Lobgedichtes ist strukturell durch die Darstellung der Tugenden bestimmt. Damit entspricht es einem der beiden Grundtypen der Disposition, die aus der antiken Rhetoriktheorie zum genus demonstrativum überliefert sind9 und für die mittelalterliche Panegyrik Gültigkeit besaßen – neben der systematischen Aufzählung der Tugenden gab es als Möglichkeit der Disposition die chronologische Reihung von Taten.10 7 Sie befinden sich auf den Folia 1v, 2v, 4v, 5, 6–9, 10v–13, 15v, 19v–25, 27, 28v–30v. 8 Einzig die Miniaturen auf den Folia 6–8 und 15v sind gerahmt. 9 Siehe M. Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia, Bd. 1: Incerti auctoris de ratione dicendi Ad Herennium lib. IV, hg. v. Friedrich Marx, Winfried Trillitzsch, Leipzig 1964 [Nachdruck von 1894], III, vi, 10–8, 15, S. 76 f.; M. Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia, Bd. 2: Rhetorici libri duo qui vocantur De inventione, hg. v. Eduard Strobel, Leipzig 1977 [Nachdruck von 1915], II, 59, 177 f., S. 155 f.; Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, Erster Teil: Buch I–VI, hg. und übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 31995 [1975], III, 7, 10–25, S. 160–163. 10 Siehe dazu Annette Georgi: Das lateinische und deutsche Preisgedicht des Mittelalters in der Nachfolge des genus demonstrativum, Berlin 1969, hier S. 30, 32: „Grundsätzlich kennt die Theorie zwei Arten der Disposition, die Reihung historischer Fakten in zeitlicher Folge und die Reihung nach Tugenden. […] Die beiden Möglichkeiten der Disposition konstituieren die beiden Grundtypen des Preisgedichtes“. Zur Gültigkeit der Anweisungen des genus demonstrativum siehe ebd., S. 173: „Trotz des Wandels, den das Preisgedicht während des Mittelalters durchläuft, behalten die Anweisungen des genus demonstrativum fortwährend ihre Geltung. Sie beweisen darin ihre überzeitliche Bedeutung als Funktionsträger, die unter verschiedenen Bedingungen unterschiedlich realisiert werden können“. Vgl. zum genus demonstrativum Michael Mause: Die Darstellung des Kaisers in der lateinischen Panegyrik, Stuttgart 1994; Michael Mause: Panegyrik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 495– 502. Zur normativen Bedeutung der Rhetorica ad Herennium und Ciceros De inventione sowie Quintilians Institutio oratoria für mittelalterliche Lobgedichte vgl. Franz Bittner: Studien zum Herrscherlob in der mittelalterlichen Dichtung, Würzburg 1962, S. 161–164; Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen 111993 [1948], S. 184–186; Björn Hambsch: Herrscherlob, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 1377–1392, hier Sp. 1382 f. Siehe ferner zur Kenntnis Quintilians im Mittelalter neben jener von Ciceros De inventione und der Rhetorica ad Herennium u. a. James Jerome Murphy: Rhetoric in the Middle Ages. A History of Rhetorical Theory from Saint Augustine to the Renaissance, Berkeley 1974, S. 123–130; John O. Ward: Quintilian
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Demgemäß kommt neben den äußeren Umständen (res externae) – wie vornehme Geburt, Geschlecht, Würde, Vaterland – und den körperlichen Vorzügen (res corporis) – wie Kraft, Gesundheit, Schönheit – insbesondere den res animi normative Bedeutung zu: den Tugenden, den Künsten, der Weisheit. Zudem sind die Darstellungen zeitgenössischer politischer Diskurse sowie der Analogie des Herrschers zu Christus für die Komposition grundlegend. Dies gleicht einerseits dem traditionellen Rahmen des Herrscherlobes11, andererseits zeigt sich darin die Spezifik dieses Werkes. Denn die Komplexität der formalen und inhaltlichen Bezüge erwächst zuvorderst aus dem monumentalen Bildprogramm, welches das Werk in zwei Themenbereiche gliedert, die in ein analogisches Verhältnis gesetzt sind. Auf den Folia 1–10 ist die zweite Parusie Christi, die Wiederkehr Christi zum Jüngsten Gericht und zur Errichtung des Reiches Gottes, bezeichnet. So folgen auf das Bild des leeren Thrones (fol. 1v) (Taf. 2) und die sinnbildliche Darstellung des Paradieses in Form des Arbor vitae, der aus Lilien und Granatäpfeln gebildet ist und an dessen Fuß die Propheten Enoch und Elias knien (fol. 2v) (Taf. 4), paarseitig angelegt der thronende Christus und die fürbittende Gottesmutter (fol. 4v und 5): Während Christus in Glorie mit Weltkugel vor einem Himmelsband erscheint, kniet Maria vor ihm nieder, erhöht auf einem Treppenpodium, unter dessen Stufen ein Drache niedergestreckt ist (Taf. 6 und 7). Der himmlische Hofstaat in Gestalt der Ordnung der Engelhierarchien und Auserwählten schließt sich auf den Folia 6–8 an. Durch architektonisch gerahmte Bildfelder ist er in jeweils drei vertikale Register gegliedert (Taf. 9): Angeführt wird die Kurie von den drei obersten Rängen der neun Engelhierarchien, das heißt Seraphim, Cherubim und Thronen (fol. 6). Sie sind als rote, aus Flügeln bestehende Wesen, niederkniende blaue Engel in Menschengestalt und auf einer Thronbank sitzende Engel mit ockerfarbenen Gewändern und weißen Flügeln dargestellt. Es folgen die Herrschaften, Fürsten und Mächte (fol. 6v) (Taf. 10): Die Herrschaften sitzen auf einer Thronbank und halten zierliche Stäbe, während die Fürsten in Rüstung und mit Schild und Keule wehrhaft hinter Zinnen stehen und die ebenfalls Rüstung tragenden Mächte schließlich offensiv vorgehen, indem sie vor Dämonen niederknien und mit ihren Händen deren Köpfe eindrücken. Auf fol. 7 (Taf. 11) knien zuoberst die Virtutes, in weiße, mit einem großen roten Kreuz versehene Gewänder gekleidet und ein Gefäß haltend, gefolgt von den Erzengeln, die mit einem zierlichen Stab in der Linken hinter Zinnen stehen und vom gerüsteten und gekrönten Michael angeführt werden. Ähnlich posieren die Engel, die in großer Anzahl und in schlichten weißen Gewändern zuunterst dargestellt sind. Es schließen sich auf fol. 7v die Patriarchen, Propheten und Aposteln an (Taf. 12). Unter den Propheten sind König David und der mit Hörnern versehene Moses deutlich herausgestellt. Während Moses eine Schriftrolle vorzeigt, halten die Aposteln, die ebenfalls durch Attribute gekennzeichnet sind, Bücher. Den Abschluss des himmlischen Hofstaates bilden auf fol. 8 and the Rhetorical Revolution of the Middle Ages, in: Rhetorica 13, 1995, S. 231–284, hier S. 251–282; Michael Winterbottom: Quintilian, in: Texts and Transmission. A Survey of the Latin Classics, hg. v. Leighton D. Reynolds, Oxford 1983, S. 332–334. 11 Vgl. Hambsch, Herrscherlob, Sp. 1378. Vgl. ferner zum Verhältnis des Herrschers zur göttlichen Sphäre Mause, Die Darstellung des Kaisers in der lateinischen Panegyrik, S. 219 f.
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die Märtyrer, Heiligen, Jungfrauen und Witwen und Gerechten (Taf. 13). Die Gruppe der Heiligen ist gebildet aus Geistlichen verschiedener Stände, jene der Gerechten aus Männern und Frauen in zeitgenössischer Kleidung der kommunalen Gesellschaft. Abgeschlossen wird dieser Themenbereich durch die Darstellung eines leeren, durch ein Kreuz überhöhten Thrones beziehungsweise eines Altares auf fol. 8v (Taf. 14) und die Figur des auferstandenen Christus mit Kreuzesfahne auf fol. 9 (Taf. 15). Die apokalyptischen Messias-Hoffnungen finden im zweiten Teil der Handschrift ihr Analogon. Denn in den Miniaturen der Folia 10v–30v wird der eschatologischen Heilserwartung das Bild König Roberts als ‚Messias‘ der irdischen Glückseligkeit Italiens und Roms gegenübergestellt. So korrespondiert mit dem Bildpaar des thronenden Christus und der fürbittenden Gottesmutter auf den Folia 4v und 5 jenes des thronenden Königs vor dem Flächenornament goldener fleur-de-lis auf blauem Grund mit der supplizierenden Figur der Italia (fol. 10v und 11) (Taf. 16 und 17). Dieser folgen die Personifikation der trauertragenden und klagenden Roma (fol. 11v) (Taf. 18), Herkules mit dem Fell des nemëischen Löwen als exemplum virtutis (fol. 12) (Taf. 19) und die Personifikation der huldigenden wie (für)bittenden Florentia; sie ist gekennzeichnet durch ihr Übergewand in den heraldischen Farben rot und weiß und die florentinische Wappenblume in ihrem Rücken (fol. 13) (Taf. 21). Als ideeller Hofstaat sind dem König sodann die sieben Tugenden (fol. 19v–21v), die Septem Artes Liberales (fol. 29) sowie die neun Musen (fol. 29v–30v) beigeordnet – demgemäß wenden sich die Figuren fast ausnahmslos der Darstellung des thronenden Königs auf fol. 10v zu: Die Reihe der Theologaltugenden wird eröffnet mit der Personifikation der niederknienden Fides (fol. 19v), die mit ihrer Linken einen Schild trägt, während sie mit ihrer Rechten ein geöffnetes, mit Versen beschriebenes Buch emporhält (Taf. 24). Ihr folgen auf fol. 20 die Spes, die ihren Blick zum oberen Foliorand richtet, wo Gott in einem Himmelssegment erscheint (Taf. 25), und auf fol. 20v die bekrönte und in ein rotes Gewand mit Fehfellbesatz gekleidete Caritas (Taf. 26). Auf der gegenüberliegenden Rectoseite des fol. 21 schließen sich mit Prudentia und Iustitia die Kardinaltugenden an (Taf. 27): Beide Personifikationen sitzen einander zugewandt auf einer Bank, wobei Prudentia als junge, in ein reich ornamentiertes Gewand gekleidete Frau dargestellt ist und Iustitia als Ritter im Harnisch mit Schwert und Schild, der die Aufschrift lex trägt. Auf fol. 21v figurieren dann links Fortitudo und rechts Modestia (Taf. 28): Fortitudo, die in größerem Maßstab angelegt ist als Modestia, erscheint in kampfbereiter Haltung durch ihre gebeugten Knie sowie die mittels der Rechten in die Höhe gerichtete Keule und den Schild, den sie schützend an ihre linke Flanke anlegt. Modestia hält ihrerseits eine Waage mit weiteren Messgeräten wie Krug und Gewichten als Zeichen des Maßhaltens. Die Personifikationen der Septem Artes Liberales sind demgegenüber auf fol. 29 auf einer Seite versammelt dargestellt (Taf. 41): Im oberen Drittel des Folio knien links die Astronomia, die in ihrer rechten Hand ein Gerät hält, das wahrscheinlich ihr Attribut, die Armillarsphäre, bezeichnen soll, rechts die Musica, die auf ein Blatt mit Notationen vor ihr verweist. Darunter knien im mittleren Drittel die ebenfalls dem Quadrivium angehörenden Arithmetica und Geometria: Während Erstere durch eine differenzierte Gestik ihrer Hände charakterisiert ist, bezieht sich Letztere auf das großformatige Dreieck, das ihr attribuiert ist. Im unteren Drittel sind schließlich die Personifikationen des Triviums dargestellt: Links kniet die Rhetorica, die ein mit
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Blumen durchwirktes Gewand trägt, vor einem Blütenkranz, auf den sie verweist. Die daneben kniende Figur ist durch die Gestik ihrer Hände als Dialectica veranschaulicht, während die Grammatica als Attribut ein aufgeschlagenes Buch in ihrer Rechten hält. Der Reigen der neun Musen schließlich wird auf fol. 29v mit Klio, Melpomene, Euterpe und Thalia eröffnet (Taf. 42): Klio, welche die Spitze des Figurenensembles bildet, entspringt einer vasenförmigen Quelle, dem fons elicon, ebenso wie Melpomene links unten, die nachdenklich ihr Kinn in ihrer rechten Hand abstützt. Euterpe hingegen hält eine mit Blumen gefüllte Vase, während Thalia ihre Arme ausbreitet und dabei ihr Gewand umfasst, so dass ein Schoß für die Verse geformt ist. Auf dem gegenüberliegenden fol. 30 folgen Polyhymnia, Erato, Terpsichore und Urania (Taf. 43): Polyhymnia steht in einer Quelle und zieht mit ihrer linken Hand ein Buch aus dieser. Ein weiteres hält sie mit ihrem linken Oberarm, während sie mit ihrer Rechten Bücher in eine Truhe neben sich legt. Am rechten Foliorand geht Erato ebenfalls aus einer vasenförmigen Quelle hervor und hält mit beiden Händen Schriftstücke empor. Die ein Gelehrtengewand tragende Terpsichore steht am unteren Foliorand vor einem Pult und liest aus einem aufgeschlagenen Buch, während Urania rechts von ihr von Flügeln umfangen ist, die mit Sternen versehen sind, und sich dementsprechend emporrichtet. Kalliope schließlich ist auf fol. 30v dargestellt und schließt als letzte Figur das Werk ab (Taf. 44). Sie steht vor einer Vase, aus der Wasser zu ihr hin fließt, und spielt auf einem Blasinstrument. Neben diesen Miniaturen, die insbesondere die res animi des Königs bezeichnen, finden sich folgende Darstellungen, durch die zum einen die res externae berührt sind und zum anderen das paraenetische, ermahnende Element des Panegyricus angedeutet ist, das dazu dient, Anliegen des Auftraggebers oder einer Interessengemeinschaft bittend und mahnend vorzubringen: Fol. 12v zeigt in vertikaler Anordnung drei in Weiß, Gold und Rot gemalte Lilien, zum Teil mit filigranem vegetabilem Dekor (Taf. 20). Zwei rechteckige, gerahmte Gartenbilder sind auf fol. 15v dargestellt: Gestaltet sind sie durch symmetrisch strukturierte Blumenfelder, wobei die obere Miniatur oberhalb früchtetragende Bäume und Sträucher aufweist, die untere blühende Lilien und Rosenstöcke (Taf. 22). Auf fol. 22 ist das Parisurteil vor Augen gestellt (Taf. 29): Hinter einem Tisch sitzen links die lorbeerbekrönte Pallas Athene, mittig Juno mit einer Krone auf dem Haupt und rechts die rotgewandete Venus. Dieser wird durch Paris, der vor dem Tisch kniet und ein rotes Gewand trägt, das als Muster zahlreiche goldene Äpfel zeigt, der Apfel überreicht. Es folgt auf fol. 22v eine kleine kauernde Frauenfigur: Kassandra (Taf. 30). Das gegenüberliegende fol. 23 zeigt die großformatige Figur eines Pfaus, indem dieser sein prachtvolles, mit den Argusaugen ausstaffiertes Federgewand aufgeschlagen hat (Taf. 31). Zwei unterschiedlich große Fahnen, die ein junger Mann verschränkt hält, sind auf fol. 23v dargestellt: die obere, größere, besteht aus goldenen Lilien auf blauem Grund, den heraldischen Zeichen der Anjou, die untere aus zwei Feldern in den heraldischen Farben Pratos, Gelb und Rot (Taf. 32). Dieser Zusammenhang ist auch auf der gegenüberliegenden Rectoseite des fol. 24 ausgestellt: Der geharnischte Ritter zu Pferd in den heraldischen Zeichen der pratensischen Kommune, goldenen Lilien auf rotem Grund, bezeichnet das Siegelbild der Kommune Prato, wobei an der Oberkante des Schildes das angevinische Wappenzeichen zu sehen ist – goldene Lilien auf blauem Grund mit einem roten Rechen an der oberen Leiste (Taf. 33). Eine Miniatur der drei Grazien folgt auf fol. 24v: Ihre
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Blöße verdecken sie mit weißen Tüchern, die sie oberhalb der Brust mit der linken Hand zusammenhalten (Taf. 34). Fol. 25 zeigt einen Baum mit den vier Kronen des Hauses Anjou, das heißt die Krone Frankreichs, Navarras, Ungarns und jene von Jerusalem und Sizilien (Taf. 35). Die Personifikation der Philosophia erscheint auf fol. 27: Mit Krone und Szepter versehen und in ein reich ornamentiertes und kostbares Gewand gekleidet, öffnet sie dieses mit ihrer Linken und zeigt so mehrere Bücher vor, die sie im Innenfutter ihres Mantels mit sich trägt (Taf. 37). Die darauf folgende Miniatur auf fol. 28v zeigt den geflügelten Pegasus am Fuße eines steil aufragenden Gebirges (Taf. 40). Mit diesem Bildprogramm ist hinsichtlich der Herrschaftsrepräsentation bemerkenswert, dass das Herrschaftsverständnis nicht nur theologisch fundiert ist, sondern auch Themen der antiken Mythologie in den Dienst der Propaganda genommen werden. Für eine Stelle der Handschrift ist eine fehlerhafte Anordnung der Ikonotexte zu vermerken. Sie betrifft die Folia 28 und 29. Auffällig wird sie durch das fol. 28, das blanco erscheint, und den Reklamanten auf fol. 27v (Quod tibi primatum) (Taf. 38 und 39). Die Worte Quod tibi primatum finden sich wieder als die Ersten des fol. 29 mit der bildlichen Darstellung der Septem Artes Liberales. Das heißt, dass die sieben freien Künste, deren Rede auch in den beiden Textkolumnen des fol. 27v fixiert ist, auf fol. 28 figurieren sollten. Der gemalten Figur der Philosophia auf fol. 27 sollte mithin die bildliche Darstellung der Septem Artes Liberales auf fol. 28 folgen, womit deren Zugehörigkeit visualisiert wäre (Abb. 1). Damit würden die Septem Artes Liberales der Darstellung des Pegasus am Helikon auf fol. 28v vorausgehen und so die neun Musen diesem auf den Folia 29 bis 30 unmittelbar nachfolgen und dergestalt zugeordnet sein (Abb. 2). Demgemäß würde die Handschrift auch mit einem Blanco-Folio schließen, wie es üblich ist.12 Der durch das Bildprogramm angezeigte affirmative Gesichtspunkt des Herrscherlobes einmal und der paraenetische andermal13 findet sich korrespondierend in der Dichtung und wird durch diese mittels Hymnen, Klagen und Bitten sprachlich ausdifferenziert. So werden im Text der Folia 1–10 als zeitgeschichtlich-politische Aspekte das avignonesische Papsttum und die Krise der Kirche beklagt und dementsprechend zum einen Ermahnungen an die Christen ausgesprochen und zum anderen Gott und sein Thron gepriesen. Dabei impliziert das Lob der Macht und Herrlichkeit Gottes wiederum einen politischen Diskurs, indem es die zeitgenössische theologische Frage um die visio beatifica, die Gottesschau der Seligen, betrifft. So ist auf fol. 1, im Anschluss an einleitende Verse über den Thron Gottes, das Exordium bestimmt durch die Klagen des römischen Thrones über seinen verlassenen Zustand, die Degeneration der Päpste und die römischen Patrizier, die keine Maßnahmen zur Beendigung des Leides Roms treffen. Damit berichtet der (römische) Thron über einen Aufruf Christi zur Hilfestellung Roms durch einen Vikar und zur Rückkehr zur Tugend der Frömmigkeit. Gemäß dieses Aufrufs zur Gefolgschaft Christi beklagt er die Verschmähung Roms, das durch das Blut der 12 Die Argumentation von Ciatti, Le miniature, S. 19, dass die Handschrift mit der Darstellung des Pegasus im Anschluss an die Figuren der Musen enden sollte, erscheint mir aufgrund der dargelegten kodikologischen wie inhaltlichen Aspekte wenig plausibel. 13 Siehe zu diesen beiden Aspekten Guy Sabbah: De la Rhétorique à la communication politique. Les Panégyriques latins, in: Bulletin de l’Association Guillaume Budé 43, 1984, S. 363–388, bes. S. 378.
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Märtyrer heilig geworden sei, und trägt schließlich dem Autor auf, das Gesehene niederzuschreiben und König Robert zu übermitteln. Infolgedessen ruft der Autor auf fol. 1v Gott an, über ihn sprechen und die Wahrheit künden zu können, gefolgt von der Anrufung an die Heiligen um Fürsprache und Beistand. Das Abbild des Gottesthrones wird gebeten, das Mögliche über das göttliche Antlitz zu sagen, so dass die übrigen Verse von der Gottesschau der Seligen und vom göttlichen Thron und dessen Wirkung handeln. Hieran reflektiert der Autor auf fol. 2 die Repräsentation und Wahrnehmbarkeit Gottes und lässt das Paradies über sich und das Wirken Gottes sprechen. Letzteres findet eine Fortsetzung auf fol. 2v, indem sich das Abbild des Paradieses über sich als Ort der Geretteten und die Gnade des (Richter-)Gottes äußert. Demnach richtet der Autor auf fol. 3 eine Ansprache an die Frommen als Gott Wohlbekannte, den Glauben im Herzen zu bewahren und mit Worten und Taten zu lehren. Die Bedeutung dessen wird im Weiteren betont, indem die Folgen für „diejenigen, die den Sieg über die Laster errungen haben“ (uident Deum, qui tropheum sumpserunt de uitiis /)14, dargestellt werden: die Gottesschau. Dem schließt sich eine Rede des göttlichen Thrones über die Gnade Gottes und das göttliche Licht an, gefolgt auf fol. 3v vom Lob Gottes als „bester Hafen“ (portus optimus)15, als Spender der ewigen Glückseligkeit. Ein Lob des Gottesthrones wiederum durch die Elemente der göttlichen Schöpfung sowie eine Rede über den göttlichen Thron, von dem das „Licht der Gerechtigkeit“ (iusticie lumen)16 ausstrahlt, und den Fall Luzifers finden sich auf fol. 4. Hieran spricht Christus auf fol. 4v über das göttliche Licht und dessen Gewährung gegenüber den Seligen durch seinen Richterspruch, gefolgt von einer Ansprache an Maria als (Für-)Bittende. Diese wiederum richtet auf fol. 5 Worte über ihr Wesen als Himmelskönigin und Gottesmutter an Christus, den Herrscher des himmlischen Reiches; sie spricht als Fürbittende und als Bezwingerin des Dämons. Die Ansprache Mariens findet auf fol. 5v eine Fortsetzung: Gegenstand ist zunächst der Heilige Geist als Quelle der Schöpfung und der göttlichen „Frucht“ (fructus)17, die sie trug. Im weiteren Verlauf thematisiert sie die Feindlichkeit in der Welt und den Gegensatz zum bezeichneten Paradies, auf dessen Gegenseite wiederum der „schauderhafte Tartarus“ (tartarus orridus)18 stehe. Dahingehend ruft sie zum Lob Gottes durch die Seligen auf, um das „Leben des Volkes zu läutern“ (populi uitamque lauare)19 und demütig Christus zu folgen. Dazu fügt sich die Erwähnung alttestamentlicher Propheten als Kritiker und Mahner ihrer Zeit sowie bekannter Gestalten aus der Genesis. Gemäß des Aufrufs Mariens folgt auf den Folia 6–8 ein extensives Lob Gottes durch die Engelhierarchien und Auserwählten: Auf fol. 6 loben zunächst die Seraphim Gott als „entzündendes Licht“ (lumen es accendens), „Tugend“ (uirtus), „reinigende Güte“ (bonitas mundans), „Weg der Gerechten“ (uia rectorum), „Schutz der Frommen“ (tutamen 14 15 16 17 18 19
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 3, Vers 29. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 3v, Vers 30. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 4, Vers 57. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 5v, Vers 16. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 5v, Vers 25. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 5v, Vers 38.
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piorum)20. Die Cherubim preisen Gott als Stifter des Lichtes (tu das, lux, lumen), Lenker der Gestirne (astriferum cursum struis) und die Erhabenheit Gottes als vollkommenes, wahres Wissen (tua maiestas […] / est mera doctrina, perfecta scientia uera /)21. Der Chor der Throne, bezeichnet als „ruhiger Thron“, der „im Frieden der Frommen ruht“ ([…] sedesque quieta / […] / ordo tronorum, requiescens pace piorum /)22, erwähnt die heiligen Gesetze, die Gott gewährt. Die Herrschaften auf fol. 6v, denen „die Regierung anvertraut ist“ (ordo […] dominatio […] / […], cui mandatur regimen […] /), rühmt Gott als „Herr der Dinge und Herrscher der Herrscher“ (Tu dominus rerum dominator et es dominorum /)23, der Kraft und Hoffnung gibt. Die Fürsten ihrerseits preisen Gott, da durch ihn „Könige über Königreiche herrschen“ (per te regna regunt reges) und „Menschen leben“ (degunt homines)24. Zudem bitten sie um Stärkung aufgrund des göttlichen Auftrags, die Menschen zu führen, indem diese in den Künsten unterrichtet werden. Als „verständige Kraft“, die den Mächten Kraft und Festigkeit gibt (robur cordatum tu nostra potentia castrum /)25, wird Gott dann im Lob der Mächte bezeichnet. Auf dem nachfolgenden fol. 7 preisen die Virtutes Gott als „wahre Tugend“, durch deren „wohltätige Kraft der ruhmreiche Siegespreis gegeben wird“ (Tu uirtus uera, Deus, es […] / […] alma ui, qua datur inclita palma /)26. Es folgen die Erzengel, die als rechtmäßige Hüter der Geheimnisse des Himmels, die sie genießen, dargestellt sind und diesbezüglich Häretiker vor der Hölle warnen. Danach lobt der Chor der Engel im Namen aller Engelhierarchien, die Güte Gottes kennend, die thronende göttliche Herrlichkeit von Angesicht zu Angesicht als Sieg: omnes et scimus, te dante, tuam bonitatem, / quilibet ordo, uidens prout est facialiter alma / maiestas residens tua, laudant te quia palma / 27.
Auch die Patriarchen, die das Lob Gottes auf fol. 7v fortsetzen, rühmen die göttliche Herrlichkeit, die sie „von Angesicht zu Angesicht“ (ut ad faciem spectamus facie totaliter /)28 schauen. In diesem Sinne sprechen ebenfalls die Propheten und Apostel: Während Erstere den inneren Glanz Gottes erwähnen, den sie nun wahrhaftig sehen, preisen Letztere die „unendliche Majestät des Höchsten“, die sie im Paradies schauen (uidemus nmensissimam maiestatem Altissimi /)29. Auf fol. 8 schließen sich die Märtyrer diesem Tenor an, indem sie das ewige Leben im Paradies würdigen, das bedeutet, Gottes „glänzendes Gesicht zu schauen“ (uita etterna cernere te, Deus, est et faciem / tuam fulgentem […] /)30. Es folgen die Heiligen mit ihrer Anrufung Gottes um Kraft, die Feinde zu bekämpfen, während die Jungfrauen die Schau Gottes als Preis der Demut loben. Die Witwen 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 6, Verse 4, 6, 8, 10. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 6, Verse 19, 21, 26 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 6, Verse 36, 45. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 6v, Verse 15 f., 1. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 6v, Vers 23 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 6v, Vers 43. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 7, Vers 5 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 7, Verse 14–16. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 7v, Vers 9. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 7v, Vers 39. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8, Vers 7 f.
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und Gerechten schließlich rufen Gott an, die Christen aus der Finsternis des Irrtums zu befreien (de tenebris erroris extrahe christicolas) und ihnen zu gewähren, Gott zu sehen und im Himmel in sichtbarem Frieden zu besitzen (dona eis te uidere […] / et in celis possidere te pace conspicua)31. Die Worte des (römischen) Thrones im Exordium werden auf fol. 8v aufgegriffen und gesteigert: Zunächst beklagt der apostolische Stuhl seinen verwitweten Zustand, worunter „das ganze Volk der Kirche“ (ecclesie plebs tota)32, Latium und Rom leide, gefolgt von der Klage der „erhabenen Ehre des Klerus“ (celsus honos cleri)33 über den verkommenen Zustand des Klerus: dedecorant tumidi contagia pontificatum / pontificisque locum sanctum iustumque prophanant / 34 („Schwellende verderbliche Einflüsse entehren das Pontifikat und entweihen den heiligen und gerechten Ort des Papstes“).
Demgemäß fordern im Folgenden der Thron und das Kreuz die Rückkehr des Papstes nach Rom, bevor die römische Kirche ihren verwitweten Status und den Zustand Roms beklagt und den Papst um Rückkehr bittet. Dahingehend spricht auch Christus auf fol. 9: Im Zusammenhang der Bedeutung seines Kreuzestodes und der Errichtung der Kirche in Rom durch Petrus missbilligt er den verlassenen römischen Thron. Denn dadurch werde sein Tod vergessen und damit das Niederwerfen der schweren Schuld. Im weiteren Verlauf seiner Rede kritisiert er auf fol. 9v die Frevelhaftigkeit der Kirchenführer und ruft zur Rückkehr tugendhafter Christen nach Rom auf, das er „mit den Kräften der heiligen Kirchen zur Herrin der ganzen Welt gemacht habe“ ([…] ego totius edem / orbis sacrarum cum uiribus ecclesiarum / hanc dominam feci […] /)35.
Denn Avignon sei ein Ort „ohne die Früchte der Tugend und die Werke des Heils“ ([…] sine uirtutis locus est operumque salutis / fructibus)36. Diesen Aspekt führt schließlich der Schlüssel auf fol. 10 näher aus: Er verschmähe es, „von habsüchtigen, schädigenden und hochmütigen Händen gehalten zu werden“ (Hec clauis loquitur, quasi dedignata teneri / in manibus cupidis, ledentibus atque superbis /) 37.
Diese Kritik gilt zunächst im Allgemeinen ehrlosen Prälaten, um dann im Besonderen auf Papst Johannes XXII. gerichtet zu sein.
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Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8, Verse 35, 37 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8v, Vers 4. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8v, Vers 15. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8v, Vers 18 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 9v, Verse 64–66. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 9v, Vers 77 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 10, Vers 4 f.
Kodikologische Beschreibung und Sujet des Lobgedichtes 37
Zu der skizzierten Thematik des Gotteslobes, des daran gebundenen Diskurses um die visio beatifica und der Schwere der zeitgenössischen Krise der christlichen Welt ist jene des zweiten Themenbereiches ab fol. 10v ins Verhältnis gesetzt: Es werden Klagen zum aktuellen Zustand Italiens und Roms erhoben und Robert von Anjou als tugendhafter und weiser Herrscher gerühmt, der durch den Glanz und die Würde seines Geschlechts ausgezeichnet und somit der berufene Retter Italiens und Roms sei. Insofern bildet die (sprachliche) Darstellung der herrscherlichen Tugenden – gemäß der Form antiker Panegyrik – den Höhepunkt des Lobgedichtes. Hierbei kommt insbesondere den exempla virtutis Bedeutung zu, indem sie nicht nur der amplificatio dienen und somit einem in Rede stehenden Sachverhalt zusätzliches Gewicht verleihen, sondern auch eine paraenetische Funktion haben – der König soll gemäß der Vorgaben der exempla handeln.38 Zunächst bezeichnen die auf fol. 10v dargestellten Lilien die vererbten Tugenden des fränkischen Geschlechtes: „Schönheit“ (decus), „Gefälligkeit“ (gratia), Weisheit, Gerechtigkeit, Güte, „Ehrenhaftigkeit“ (pudoris)39. Darauf folgt, dass die Blumen, „Spiegel und Strahl eines kundigen Lebens“ (speculum uite […] radiusque perite)40, „den durch seinen Verstand erfahrenen König Robert loben, derart loben, dass sie die durch ihn vollführten Taten preisen“ (Flores expertum laudent ratione Robertum / regem, quem laudent sic, quod per eum sua plaudent /) 41.
Vor diesem Hintergrund beklagt auf fol. 11 die Italia dem „unbesiegten, mächtigen, tatkräftigen, gelehrten“ (rex inuicte, potens, acerrime, docte)42, „durch die Tugend kräftigen König“ (rex uirtute uigens)43 gegenüber die verflogene(n) „Ehre und Kräfte“ (fugit honor uires et)44. An ihre Bitte um „guten Frieden und die Kraft des Heils“ (bonam pacem […] uimque salutis)45 ist wiederum ein Lob gebunden, insofern allein König Robert sie aus ihren „unheilvollen Schäden“ (dira […] / dampna)46 retten könne. An die Klagen der Italia schließen sich auf fol. 11v jene der Roma über den Klerus, der „sein Herz dem Prunk geweiht hat“ (cor pompisque dedit)47, und den Verlust des alten, tugendhaften Volkes an: Sie sei ihrer Herrschaft und ihrer Bürger beraubt und „voll von Schuldigen“ ([…] sum spoliata tropheo / ciuibus atque meis, sumque repleta reis /)48; nicht einmal der Schatten ihrer alten Zeit sei geblieben (nec uetus umbra mei manet)49. Aufgrund dessen bittet die Roma 38 Zur Bedeutung von exempla virtutis siehe Hildegard Kornhardt: Exemplum. Eine bedeutungsgeschichtliche Studie, Leipzig 1936, hier S. 13–24. 39 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 10v, Verse 3, 8, 13 f., 18. 4 0 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 10v, Vers 36. 41 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 10v, Vers 41 f. 42 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11, Vers 1. 43 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11, Vers 4. 4 4 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11, Vers 13. 45 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11, Vers 27. 4 6 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11, Vers 51 f. 47 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11v, Vers 2. 48 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11v, Vers 57 f. 49 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11v, Vers 59.
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Regia Carmina – Der Kodex
König Robert, unter Hinweis auf schwerwiegende Konsequenzen dieses Zustandes, wegen seines „edlen Stammes“ Sorge für sie zu übernehmen: […] Doleo plus modo quam soleo, / ni capias curam generosam per genituram, / digne Roberte, mei […] / 50.
Die Erfordernis des Handelns stellt nachfolgend auf fol. 12 Herkules heraus, wenn er den König zum schnellen Agieren auffordert: Dieser solle „die Zweigespanne von den transalpinen Irrtümern zurückführen“ ([…] bigas / de transalpinis […] reuocare ruinis /)51, wozu er über jene Tugenden verfüge, die Herkules selbst gehabt habe (quas habui mecum uirtutes sunt modo tecum)52 – gemäß der rhetorischen Funktion des exemplum virtutis werden zuvor einige der zwölf Werke, die von Herkules vollbracht wurden, sowie weitere Taten aufgeführt. Die Notwendigkeit einer verstandesmäßigen Führung und die Bedeutung eines vorbildlichen Königs werden dann auf fol. 12v näher ausgeführt: Der römische Staat würde zur Tugend erhoben „unter dem Schutz eines raschen, verständigen, angemessen erfahrenen, unbesiegten Königs, der die Tugenden kennt“ (ut romana […] res publica […] / […] ad uirtutem releuetur, / rege tuente cito, cordato, rite perito, /inuicto, noscens uirtutes […] /) 53.
Daran ist ein erneuter Aufruf an König Robert geknüpft, die Fürsorge Roms auf sich zu nehmen (suscipe, ne tardes, curam)54, zumal sie „auch Heilmittel für ganz Italien sein“ werde (Hec quoque tutela tibi Rome sumpta medela / Italie toti fuerit […] /)55. Im Folgenden ergreift die Florentia das Wort: Sie reicht dem König drei Blumen als Preis dar: Sie bezeichnen die Reinheit seiner Geburt, die Weisheit des Königs, der göttlicher Abkunft sei, sowie die Gnade. Auf fol. 13 setzt sich die Rede der Florentia fort, in der sie über den Autoritätsverlust Roms und die Abwesenheit der Päpste klagt, die Latium sehr schaden würden. Demzufolge besteht ihre an den König gerichtete Bitte darin, den Schutz Latiums zu übernehmen und dabei den „Schleier der besonnenen Klugheit“ zu gebrauchen (Rex, queso, suscipe, […] / […] Latii tutamina. Uelo / utere consilii […] /)56. Mit fol. 13v beginnen die Reden der einzelnen Tugenden, die sich bis fol. 15 erstrecken. Zunächst klagt die Fides, „von vielen Stürmen geschlagen“ (alma fides […] multis impulsa procellis /)57,
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Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11v, Verse 46–48. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 12, Vers 32 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 12, Vers 34. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 12v, Vers 23–26. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 12v, Vers 34. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 12v, Vers 36 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 13, Vers 31–33. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 13v, Vers 1.
Kodikologische Beschreibung und Sujet des Lobgedichtes 39
„weil sie von einer groben und hartnäckigen Sippschaft erschüttert wird, welche die wahren Geheimnisse der Allegorie in den Schriften nicht erkennt und jenem nicht glaubt, der ihre Reinheit sieht“ (Ipsa fides queritur, quod eam gens aspera dure / ceruicis quatitur, que nescit uera figure / scriptis archana, ne credit pura uidenti /)58.
In diesem Zusammenhang bittet sie um den Frieden Roms, da sie fürchtet, „dass sich in Rom eine vom Volk hervorgerufene Erschütterung ereignet“ (ne fiat nouitas moueat quam uulgus in urbe /)59. So ruft die Fides König Robert, den sie „gut erleuchtet und in dieses Reich gestellt hat, das [er] von Christus-König [hat]“ ([…] firma fides, que bene lustrauit et isto / te posuit regno, quod habes a principe Christo, /)60, zur Verteidigung der Urbs auf: Die „Scham der Kirche“ wünsche ihn „sehnlich als Streiter, Riese wegen des Verstandes, Samson wegen der Kraft“ ([…] pudorem / ecclesie. Pugilem te gestit mente gigantem / et ui Sansonem […] /)61. Im Anschluss daran spricht die „beständige Hoffnung“ für Rom (spes constans […] / inquit pro Roma […] /)62: Sie stärkt Robert, die Sorge für Rom zu übernehmen, wodurch sich dieser den Kaiserthron in Rom verdienen werde: Spes habet et firmat, quod si modo suscipis istam / curam pro Roma, quam nosti turbine pistam, / induperatoris sedem merebis in urbe / 63.
Denn solange sie mit ihm sein werde, werde er immer Sieger sein (semper uictor eris, fuero dum spes ego tecum /)64, und es werde keinen Feind geben, der ihn oder das Reich schädigen oder ihn einschüchtern werde, was er sich durch seine Tugend verdient habe ([…] nullus erit, quia sic uirtute mereris, / qui te uel regnum ledat uel terreat hostis /)65. Daraufhin bittet auf fol. 14 die Liebe (Dilectio), die Mitleid mit Rom hat (compatiens dilectio feruida Rome)66, König Robert, den Rat zu befolgen, den sie „in die Waagschale seines Verstandes [legt] zugunsten der reichen Gabe des Friedens“ (audi consilium quod ego, dilectio, pono / lance tue mentis pro pacis diuite dono /)67. Er solle dies tun für sein „edles Geschlecht“ (per tuam stirpem generosam), für sich und seine Liebe zum Glauben (te per amorem, /quem seruvas fidei), für die Ehre, die er allen Christen erweise (per quem cunctis et honorem christicolis prebes), und „nun insbesondere für die Lateiner“ (nunc precipueque Latinis)68. Zur Stärkung dieses Arguments führt die Dilectio Exempla an, „die glühende Liebe oder Ehrgefühl angespornt hat“ ([…] caloris / ardentis stimulauit amor uel fruc5 8 59 60 61 62 63 6 4 65 66 67 68
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 13v, Verse 7–9. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 13v, Vers 4. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 13v, Vers 25 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 13v, Verse 37–39. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 13v, Vers 41 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 13v, Verse 47–49. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 13v, Vers 70. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 13v, Vers 82 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14, Vers 1. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14, Vers 19 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14, Verse 15–18.
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tus honoris /)69: Als jene, „welche die Leidenschaft der Heimatliebe mehr angezogen hat als eine angsterfüllte Flucht“ ([…] quos feruor amoris / attraxit patrie plus quam fuga plena timoris /)70, nennt sie Kodros, Lykurg, Darius I., Moses, die Makkabäer, David, Samson, Elias; zu bewundern wegen ihrer Freiheitsliebe (mirandos pro libertatis amore)71 seien die Decier und Fabier; Paulus, Lepidus, die Scipioner und Catoner seien jene „Quiriten, welche die Liebe für das Heil und das Wohl der Heimat angetrieben hat“, reich an ewigem Ruhm zu werden ([…] quos proque salute Quirites / proque bono patrie produxit amor fore dites / nomine perpetuo […] /)72. Mit diesen Beispielen bittet die Dilectio den König schließlich, den Römern „das Verlangen nach Frieden und freie Herzen“ zu eröffnen, während er sein „Amt für die Freiheit des Senates“ ausführe (Uota quietis eis et libera pectora pande, / dum geris officium pro libertate senatus /)73. Die Prudentia führt in ihrer Rede auf fol. 14v als Exempla Augustus und Cato an, deren Taten Robert von Anjou bewegen sollen, noch bessere zu vollbringen (monstrant opereris uti meliora)74. Damit habe der König, dessen Gelehrsamkeit die Prudentia betont, „die Felder vor Augen, die mit einer schnellen Pflugschar“ zu durchfurchen sind (Regia nunc oculis presentia mens habet arua / uomere festino […] /)75. In dieser Stoßrichtung fährt die Iustitia fort, die in unmittelbarem Anschluss beginnt, dem König zuzureden und ihn „wie einen gerechten Camillus“76 zu noch schwierigeren Taten anzuspornen (iustitie uirtus ortari cepit et illum, / ut iustum, pupugit super asperiora, Camillum /)77. Der König, der dafür gerühmt wird, dass er die Tugend der Gerechtigkeit verehrt, habe für die Erhaltung des Gesetzes, welches das christliche Recht lehrt, Sorge zu tragen: „Der römische Sitz ist die Mutter der Kirchen“ (sedes romana genitrix est ecclesiarum /)78. Daran knüpfen sich die Ausführungen der Constantia auf fol. 15, wenn sie Robert von Anjou als denjenigen rühmt, der „die Schicksale des Reiches“ lenkt und ihn dabei als „Gipfel der Tugendhaften“ und „Großmütigen der Großmütigen“ bezeichnet (Imperii regis ipse uices, scio teque proborum, / rex, apicem fore, magnanimum te magnanimorum /)79. Da ihm der Thron gehöre, „der die ehrwürdigen Erbgüter Christi verwaltet“ (Est tua, rex, sedes patrimonia, que regit alma / Christi […] /)80, wird er aufgefordert, die gebotenen Aufgaben zu übernehmen (Ardenter cape, que cernis fore, rex, capienda /)81. Dieser Appell wird durch die Modestia forciert, indem nun ihre Worte deutlich auf die Empathie des Königs zielen – wobei ihnen zugleich, gemäß der Personifikation der „Mäßigung“, Angemessenheit anhaftet: Nachdem sie die Schwäche und Hilfsbedürftigkeit Roms angesprochen hat, äu 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14, Vers 49 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14, Vers 21 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14, Vers 41. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14, Verse 43–45. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14, Vers 58 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14v, Vers 28. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14v, Vers 29 f. Marcus Furius Camillus († 365 v. Chr.) wurde auch als zweiter Gründer Roms bezeichnet. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14v, Vers 43 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14v, Vers 90. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15, Vers 17 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15, Vers 19 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15, Vers 37.
Kodikologische Beschreibung und Sujet des Lobgedichtes 41
ßert sie prononciert, dass „der schmerzende Staat durch Geschrei dringend verlangt“ und sie „heulend dazu anspornt“, dass sie nicht mehr schweigt und den König „mit Worten und Tränen“ anruft ([…]; res publica namque dolenter / exposcit, ne plus sileam, clamore, citando / teque precer uerbis et flentibus, ac ululando / me stimulans. […] /)82. So bittet sie seine „gütige und der Krone der Welt würdige Hoheit“, dass er nicht zögere ([…]. Precor ergo, tuam reuerendo benignam / et maiestatem mundi diademate dignam, / ne tardes […] /)83. Die Relevanz der vorgebrachten Stellungnahmen betont schließlich die „Schar der Tugenden“ (tota caterua uirtutum)84, indem sie mit „frommer Stimme“ spricht, „nicht verhüllt von einer ausgebreiteten Wolke“ (cum uoce pia, patula non nube uoluta)85: O cui debetur, rex, iam monarchia mundi / et decus imperii, […] / […] / […] respice […] / me, famulam, […]; / nam conmissa loquor presenti uerba tenore. / 86 („König, dem die Herrschaft der Welt und die Würde des Reiches gebühren, […] schaue auf mich, deine Dienerin, […]. Denn ich sage dem gegenwärtigen Zustand entsprechende Worte“).
In dem carmen, das sich auf fol. 15v anschließt, spricht noch einmal die Schar der Tugenden. Hier führt sie dem König gegenüber an, dass sie „kürzlich von [seinen] guten, unstreitig gelehrten, mit viel Barmherzigkeit durchgeführten Taten erfahren“ habe (nouiter tua nam bona discunt, / docta quidem, facta, multa pietate peracta)87, so dass sie ihn im weiteren Verlauf ihrer Ansprache um die Rettung der Römer bittet. Darauf folgt ein Gebet Pratos an Gott, dem König den Weg zu weisen, um die gerechten Gesuche zu erfüllen (da regique uiam faciendi iusta petita)88. Die Verse auf dem gegenüberliegenden fol. 16 bestehen aus einer allegorischen Rede über Blumen und deren unterschiedlichen Eigenschaften, welche die Menschen bezeichnen. Es schließt sich ein Königslob der „Blumen“ (flores), der „Dinge“ (res), der „Glaubensgrundsätze“ (dogmata) sowie der Lateiner (latini) an.89 Letztere begehren Robert von Anjou als Herrn der Welt (te cupiunt dominum fore mundi corde latini)90 und sprechen den Wunsch aus, dass er die Herrschaft ergreife (teque et imperium capias dant uota latini)91 – und das Reich bittet, dass der König das liebe, was die Lateiner in ihrem Geiste führen (te rogat imperium, quod ames, quod mente latini)92. Im Zusammenhang des Rufes nach Frieden mit Robert von Anjou auf dem Thron und Ausführungen über den Krieg reflektiert der Autor die Wirkung der „blumigen Worte“ (flores uerborum)93: Sie bewegen den König zum tugendhaften Handeln und sorgen infolgedessen für dessen Ehre. 8 2 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15, Verse 62–65. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15, Verse 65–67. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15, Vers 73. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15, Vers 78. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15, Verse 79–84. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 4 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 35. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 16, Verse 24, 26. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 16, Vers 25. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 16, Vers 27. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 16, Vers 28. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 16, Vers 64.
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Welche Waffen zum Erlangen des Sieges notwendig sind, wird im weiteren Verlauf auf fol. 16v dargelegt (Referam set nunc breuiora, […], que sunt opis arma tropheis /)94: die Gnade (gratia), die sich mit dem König „gewiss und für immer als [seine] Gefährtin verbündet“ (Gratia […] / te sociat certe semperque comes tua tecum /)95; daneben das „nützliche Schwert“ (utilis ensis)96, mit dem an seiner Seite er Ruhm erlangen wird (atque tue coste quo tu merearis honores /)97. Damit wird der wiederholte Aufruf an den König vorgebracht, eilend den Frieden zu bringen und den „gefräßigen Streit“ zu eliminieren ([…]. Curre, Roberte, / curre, feras pacem, litem consume uoracem /)98; dass jeder durch ein unheilvolles Zögern bedingte Aufschub aufgegeben werden muss ([…]. Dire / ergo more linquenda quidem dilatio cuncta est /)99, ist Gegenstand der nachfolgenden Verse. Mit fol. 17 beginnt ein neues carmen, das zunächst in allegorischer Rede von einem Obst- und Blumengarten handelt, gefolgt von der Rede über die Schwertlilie: Sie wurde gegeben, um königliche Nachkommenschaft zu verführen ([…] danda fuit hec in prole domanda / regis […] /)100: Genannt werden Jason und Medea sowie Paris und Helena. Es folgen Ausführungen zum Mythos um Troja, um nach „dieser langen Abschweifung“ (ista […] digressio longa) zu den „anfänglichen Vorhaben“ (primis propositis)101 zurückzukommen, „da das größere nun drängende Werk von der blühenden Stelle handeln soll“ ([…] cum maius nunc opus istans / sit de floreto […] /)102. So wird im Laufe des fol. 17v – in den ersten Versen sind kursorisch Prunk, Hochmut und Betrug thematisiert – ein neues carmen eröffnet mit der Erzählung über den Ort, „wo ein von einer edlen Baumkrone geschmückter Obstbaum hervorleuchtet“ (Nunc referam poma, fructus ubi nobile coma / ornatus lucet, qui res cum pondere ducet /)103. Auf der „vielfältigen Baumspitze sitzt als vorderste die personifizierte Verteilung“ (Innumeri cima stat distributio prima)104, die in ihrer Rede die „Übel der gierigen Priester“ ([…] uulnus auari / presbiteri […] /)105 anspricht und „die schlimmen Schäden ihrer Trägheit“ aufzeigt (torporis horum mala dampna)106. Demgegenüber lobt sie die Tugend des Königs, „auf dessen Kräften die sichere Stellung dieser Welt steht“ (Cuius stat uiribus et status huius / orbis […] /)107. Allgemeine Ausführungen zur Faulheit als der „schlimmsten unter den Sünden“ (Pessima culparum fit segnities)108 einmal und zur „Lehrmeisterin namens Fleiß, beflügelt mit den guten Federn eines rechtschaffenen Verstandes“ ([…] magistra / sollicitudo, bonis pennata probis ratio 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 16v, Vers 7 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 16v, Vers 28 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 16v, Vers 31. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 16v, Vers 34. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 16v, Vers 40 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 16v, Vers 71 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17, Vers 57 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17, Vers 70 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17, Vers 71 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17v, Vers 31 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17v, Vers 33. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17v, Vers 47 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17v, Vers 58. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17v, Vers 83 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 18, Vers 11.
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nis / plumis […] /)109 andermal schließen sich auf fol. 18 an. Der Autor verweilt bei diesem Thema, das dem König „vielleicht gefallen wird, weil [er] mit dieser Aufmerksamkeit die kraftlose und zerbrechliche Lage festigen, die wertlose Sache wieder teuer machen [kann]“ (Conmoror hac cura forsan tibi, rex, placitura, / hac cura quare potes hac quia res solidare / fractas et fragiles, pretiosas reddere uiles /)110.
In diesem Themenkomplex wird auf fol. 18v das Beispiel des Lippo Topo angeführt, gefolgt von der Hervorhebung der Bedeutung der weisen und wahren Lehre. Im weiteren Verlauf kommt die Rede auf fol. 19 auf unheilvolle ‚Männer‘: Goten, Kriegstreiber, von hochmütigen und tyrannischen Männern Abstammende (nata superborum patienter dura uirorum / atque tirampnorum […] /)111; „Nachkommen der Priester“ (sacerdotum […] nepotum)112 und „im Schmutz Geborene, [die] später Oberpriester wurden, unkundig der Glaubensregeln und des vernünftigen Lebens“ (et spurce nati sunt postea pontificati, / ignari canonum, uiuendi uel rationum /)113. Die Klage über den Klerus wird weiterhin ausgebreitet und die Größe dieses Problems herausgestellt: Dona cratoris neglexit, pignus amoris / perdidit, ignarus factus, torpens et auarus, / elatus, uanus, Symonis cum peste profanus / 114 („Er [d. h. der Klerus] hat die Gaben des Schöpfers vernachlässigt, hat das Pfand der Liebe vernichtet, ist unwissend geworden, verharrend in träger Ruhe und habgierig, hochmütig, eitel, gottlos durch die ansteckende Krankheit des Simon“).
Allerdings habe Papst Benedikt XII. dieser „unheilvollen Pest“ ein Ende gesetzt (Et nisi quod frena Benedictus papa catena / cum retinente dedit, qua pestis dira resedit /)115, und „durch den Rat der Väter [hörte auf ], was unter den Wolken dunkel war“ (consilioque patrum quod erat sub nubibus atrum /)116. Als Exemplum der klugen Einsicht wird hieran Cicero angeführt, als Retter der römischen Republik angesichts seines Vorgehens gegen die Verschwörung des Catilina. Auf fol. 19v beginnt die Fides die Ansprachen der sieben Tugenden. Zunächst spricht sie über das Buch des Glaubens, wodurch sie sich dem König enthülle. Sie stellt sich als „Schlüssel des Himmels“ (Clauis ergo fides sum celi […] /)117 dar, weil der Glaube für den Menschen „die besondere Rettung“ sei „in dieser so blinden und so bodenlosen Welt“
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Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 18, Verse 20–22. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 18, Verse 27–29. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 19, Vers 8 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 19, Vers 10. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 19, Vers 12 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 19, Verse 49–51. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 19, Vers 52 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 19, Vers 62. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 19v, Vers 42.
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([…] quia sumque salus spetialis, / hoc, homo tu, mundo tam ceco tamque profundo /)118. Daraufhin wird, im Rahmen des Passus zum „Kreuz des Herrn“ (crucem Domini)119, dazu aufgerufen, mit diesem „das wirksam zu vertreiben, was wie von Sinnen das Wunderbare des Glaubens schädigt“ ([…] fugare potenter / et que dementer ledunt fidei paradoxam /)120. Die Spes eröffnet ihre Rede auf fol. 20 mit der Bitte an Gott, König Robert im Reich zu befestigen (regno siste)121 und dafür zu sorgen, dass „der in den Studien erfahrene Robert seine Reiche reinigt“ von Frevelhaften (et fac expertum studii purgare Robertum / deque suis regnis […] /)122. Dahingehend wendet sie sich im weiteren Verlauf an den König, um ihm, wie Jitro Moses, einen weisen Rat zur Abhilfe des Volkes zu geben (Ietro dedit canum seu consilium quoque sanum / iam Moysi plebis releuande. […] /)123 – der König werde imstande sein, das Gleiche zu schaffen, wenn er das nicht für unwichtig halte. Es folgen auf fol. 20v die Worte der Caritas, die von deren Eigenart handeln, und jene des Geistes Gottes (Spiritus ille Dei sum)124. Da sich dem König die Fülle von diesem nicht verberge, gibt dieser dem König ein Ziel und bittet ihn: „Erhebe dich, […] erhebe dich, hilf den Italern […]!“ (Et quia te certe mea non latet ista Roberte / copia, do finem tecum rogo corde reclinem: / surge, leo fortis, qui franges uincula mortis, / surge, iuues ytalos […] /)125. Auch die Prudentia und Iustitia auf fol. 21 sprechen jeweils über ihre Eigenschaften, ebenso die Fortitudo und Modestia auf fol. 21v. Der Text auf fol. 22 enthält Ansprachen der bildlich dargestellten Figuren in Gesprächsform zum Urteil des Paris und dessen Bedeutung. Daran schließen sich die Worte der Kassandra auf fol. 22v über die Folgen des Parisurteils und des „Raub[es] der Spartanerin“ (spartane […] rapina)126 an: Conueniunt reges, tunc Aulide fundere iurant / per pugne leges grai que Pergama durant /127 („Die Könige kommen zusammen, dann schwören die Griechen in Aulis, mit den Gesetzen des Kampfes Troja niederzuwerfen, das [anfangs] standhält“).
In Folge ihrer Ausführungen zum Trojanischen Krieg richtet sich Kassandra an König Robert: Sie spricht über ihre ungehörten Mahnungen und den daraus folgenden Niedergang Trojas, aus dessen „Samen der Tugend dann aber Rom [wie ein Baum] mit blühendem Laub entstehen wird, das alsbald solche Schandtaten wiedergutmacht“ (At florente coma uirtutis semine Roma / nostro post surget, probra que mox talia purget. /)128. Zu Beginn des neuen carmen auf fol. 23 legt der Autor dar, dass der Pfau über „das Leben der 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 19v, Vers 43 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 19v, Vers 47. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 19v, Vers 67 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 20, Vers 19. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 20, Vers 21 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 20, Vers 46 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 20v, Vers 45. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 20v, Verse 51–54. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22v, Vers 7. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22v, Vers 9 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22v, Vers 68 f.
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Hochmütigen“ (uita superbis)129, das „hochmütige Aufblähen der Prälaten“ (prelatis inflatio)130 und den Prunk der Niederträchtigen „in wenigen Worten erzählt“ (paucis uerbis narrat)131. Tatsächlich spricht der Pfau vornehmlich über seine Erscheinung und sein Wesen. Im Anschluss an den Pfau ergreift auf fol. 23v die Kommune Prato das Wort. An König Robert gerichtet, spricht sie über die „königlichen Zeichen“ (regalia signa)132 und ihre treue Gefolgschaft in Tugendhaftigkeit. Infolgedessen ruft sie den König „als einzige Hoffnung des italischen Volkes“ (unica spes gentis itale)133 auf, voranzugehen und „Trost der klagenden Roma“ (solamen […] Rome sisque gementis! /)134 zu sein. Mit dem Ersuchen, „die Bitten des Anrufenden anzuhören“ ([…]. Precor, dignare preces audire precantis /)135, wendet sich die Kommune auf fol. 24 nochmals an den König. Durch den Mund des Autors spricht sie diesen in seiner Funktion als Senator Roms an und legt dementsprechend dar, dass Rom, die Mutter, „Schutz und die Altersvernunft des Senates“ bedürfe (Nunc eget ipsa parens tutela nuncque senatus / sensato senio […] /)136. Im sich anschließenden Abschnitt auf fol. 24v bringt der Autor dann sein eigenes Anliegen gegenüber dem König vor: Er bittet den König, der „Freund der Güte, von ausgezeichnetem Blut und vornehmlich Freund der Kundigen“ sei ([…] supplico, princeps, / deuote reuerensque precor, bonitatis amice, / sanguinis egregii, set precipue peritorum / semper amatorem […] /)137,
„diese Beschäftigung und dieses fromme Werk zu fördern“ ([…] digneris ut ipse iuuare / hoc opus hocque pium studium […] /)138 – Ausführungen des Autors zu Entstehungszeit und -bedingungen seines Werkes begleiten dieses Ansuchen. Danach kommen die Chariten zu Wort. Sie erläutern ihre Eigenschaften und bezeichnen sich als „Quelle des Guten“, aus der sie für den König Gaben in Fülle fließen lassen, da dessen Krone diese verdient habe ([…] sicut dona meruit tua digna corona / nostro fonte boni, que manamus tibi doni / copia […] /)139. Demgemäß bitten sie den König im weiteren Verlauf, mit ihnen „strebend die Liebe des Friedens zu wollen“ (Tecum que stamus, nobiscum uelle rogamus / per nostrum rorem quesite pacis amorem. /)140 und das „gewiss nützliche Werk“ schnell durchzuführen ([…]. Cito fac opus utile certe. /)141. Die Rede über ihre Eigenschaften setzt sich auf fol. 25 fort. Hierbei wird die Beziehung zu den 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Vers 5. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Vers 6. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Vers 5. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23v, Vers 1. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23v, Vers 27. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23v, Vers 28. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24, Vers 9. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24, Vers 13 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Verse 17–20. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Vers 21 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Verse 49–51. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Vers 66 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Vers 69.
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neun Musen wiederholt herausgestellt und so auf die Bedeutung der Künste verwiesen. Es folgt ein neues carmen, dessen Gegenstand die „höchsten Gaben Gottes“ (Dona superna Dei)142 sind: die Gottesschau und der „Baum des Gartens“ mit dem „Holz des kundigen Lebens“ (Arbor hec est orti, […], / […] lignum uite fertur fore quippe perite /)143 und den besten Früchten im Wipfel (Poma set hec cima sunt optima nataque prima /)144: Gerechtigkeit (iustitia), die göttliche Erkenntnis (notio diuina)145, Weisheit. Daran knüpft sich schließlich der epideiktische Verweis auf die angevinischen Kronen: die Krone von Frankreich, Jerusalem und Sizilien, Navarra, Ungarn. Im Figurengedicht auf fol. 25v werden die Eigenschaften dieser Kronen näher beschrieben, gefolgt von der Anrufung an Gott, das königliche Geschlecht zu schützen, und einem Gebet zu Gott. Mit fol. 26 beginnt die Rede der Weisheit (Sophia), die überschrieben ist mit den programmatischen Worten „Du bist der König der Juden“ (Tu es rex iudeorum)146: Zunächst legt die Sophia dar, dass es wegen Adams Ursünde Christus, „dem Mittler zwischen Gottheit und Menschheit“, gefiel, „vor dem Herabsteigen seiner Fleischwerdung die frei Geborenen unter die Herrschaft von Fürsten und Königen zu stellen, damit bei seiner heilbringenden Ankunft die Königsherrschaft keine Neuheit sei, die zu Verdutztheit der rohen Geister führen könnte. Er selbst kam dann, heilsamster Spiegel und Beispiel der Demut, verborgen, sich nicht an die weltliche Pracht angleichen wollend“ (Ob cuius originalem conflictum […]. Placuit autem mediatori deitatis et humanitatis, qui uos amauit inmense, per quem omnia sunt creata, natos liberos ante sue incarnationis descensum regum statuere dominatus et principum, ut in suo salutari aduentu stuporem non faceret rudium regia nouitas animorum. Uenit tamen idem, humilitatis saluberimum speculum et exemplum, occultus, nolens pompis assimilari mundanis)147.
Daraufhin legt sie die Gründe für das Kommen Christi dar, um dann König Robert in ein analogisches Verhältnis zu diesem zu setzen, beginnend mit den Worten: At modo tu es rex iudeorum148 („Aber jetzt bist du der König der Juden“). Denn mit diesen Worten – tu es rex iudeorum – seien die Verdienste Roberts am besten klar dargelegt (Quod in uerbis propositis optime declaratur)149, in denen sie „vier außerordentliche göttliche Gaben“ sieht, die dem König gegeben seien (in quibus quatuor mirabilia munera diuinitus intelligo tibi data)150. Damit breitet die Sophia die Tugenden des Königs aus, der „reine Substanz unter den Königen“ (mera es substantia inter reges)151 sei und sein „königliches Diadem mit 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 25, Vers 47. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 25, Vers 55 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 25, Vers 62. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 25, Vers 63 und 65. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26a, Zeile 1. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26a, Zeilen 10–17. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26a, Zeile 27. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26a, Zeile 39. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26a, Zeile 40 und fol. 26b, Zeile 1. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26b, Zeile 6.
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nichts anderem als dem Verdienst [seiner] Tugend“ erworben habe (Tu non emisti regium diadema nisi promerente uirtute)152. Demgemäß entfaltet sie im weiteren Verlauf des fol. 26v – unter anderem in Gegenüberstellung zu Negativ-Exempla – die res animi des Königs, gefolgt von der Darstellung der res externae, indem die vornehme Abstammung und die edle Gesinnung des Geschlechts herausgestellt werden. Auf fol. 27 ergreift die Philosophia das Wort, die sich als „Weisheit des Lichtes, reich an Säften der Tugend und starkes Heilmittel des Heils“ bezeichnet ([…] Lucis ego sum sapientia, sucis / diues uirtutis et plena medela salutis /)153. Augenscheinlich ist sie dem König, da er sie stets von Herzen heftig geliebt und somit alles sinnvoll gemacht habe (Rex, quia me certe semper cum corde, Roberte, / zelasti, per te faceres ut cuncta diserte, / sum manifesta. […] /)154. In ihrer Rede entfaltet sie zum einen weitere Aspekte der Tugendhaftigkeit und Weisheit Roberts, um ihn dann zum Handeln gemäß Christi aufzufordern. Zum anderen führt sie – gemäß der genannten Charakterisierung – ihre Eigenschaften näher aus, die bewirken, dass der Mensch die himmlischen Wahrheiten erkennen kann. In Folge sprechen auf fol. 27v die Septem Artes Liberales über die Verbindung und Bedeutung des Trivium und Quadrivium: Es diene einem gottgefälligen Leben, das in Zusammenhang gebracht wird mit den Gestirnen und den Bündnissen der Planeten. Mit den einzelnen Sternzeichen wird dann die Tugendhaftigkeit des Königs preisend verglichen. Die knappe Darstellung der einzelnen Musen mit ihren jeweiligen Kompetenzen sowie des Pegasus, der mit Christus gleichgesetzt ist, schließt sich auf fol. 28v an. In diesem Zusammenhang richtet zudem der Autor Worte an den Adressaten seines Werkes. Versammelt auf fol. 29 richten die Septem Artes Liberales ihre Lobreden an Robert von Anjou: In ihrer Rede führt die Astronomia die res externae, res corporis und res animi an, die dem König durch die jeweiligen Gestirne verliehen worden seien, um daran die Bitte zu knüpfen, die Dinge, die vom Gesetz abfallen, zum rechten Werk zu führen ([…] rex, rogo, rectum / sicut habes ducas in opus res lege caducas /)155. Die Musica ruft den heiligen Paraklet, den wohltätigen Geist, an, die Sinne voll und sicher für den Frieden König Roberts und die Latiner einträchtig zu machen (Spiritus alme ueni, tu sancte Paraclite. Pleni / fac sint et certi sensus pro pace Roberti / regis, concordes latios fac […] /)156. Die Tugendhaftigkeit und die „vollkommene Begabung“ (perfecta dote)157 König Roberts vergleicht dann die Arithmetica mit den vollkommenen Zahlen. Daraus leitet sie unter anderem die Bitte ab, die Herde zurückzuführen, auch dem Gesetz wieder eine sichere Geltung zu verschaffen und die Hoffnung der Stadt wiederherzustellen (Ergo reducque gregem […], repara quoque legem / ad numerum certum, […] /spem repares urbis. […] /)158. Die Geometria bittet den König, für das Dreieck, das die Dreieinigkeit bezeichnet, Sorge zu tragen, „für dessen Messung“ er „die frommen Lehrsätze“ festhalten soll (cuius mensure teneas pia dog-
152 153 154 155 156 157 158
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26va, Zeile 7 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 27, Vers 4 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 27, Verse 12–14. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29, Vers 11 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29, Verse 15–17. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29, Vers 37. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29, Verse 27–29.
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mata miste /)159. Über ihre Eigenschaft und Maßgaben spricht die Rhetorica, verbunden mit dem Aufruf an den König, die vorgebrachten Bitten zu erhören. Die Gerechtigkeit und das Urteilsvermögen Roberts stellt die Dialectica heraus, so dass sie erbittet, dass er „die Niederträchtigen mit dem Recht“ zwingen möge (Postulo feruenter cogas cum iure malignos /)160. Die Grammatica schließlich erhofft, dass der König aufgrund seiner Gelehrsamkeit die italienischen Kriege besänftigen und „mit den Waffen der Schrift“ siegen wolle ([…] uelis scripture uincere telis /)161. Auf fol. 29v beginnen die Ansprachen der einzelnen Musen. Zunächst spricht Klio, die sich als „Maßregel der Suche des Lichtes“ (Querende ratio sum lucis […] /)162 bezeichnet, in ihrer an König Robert gerichteten Rede über ihr Wesen und ihr Wirken. Die Rede der Euterpe handelt von deren Süßlichkeit, die auf Vernunft beruht. Ihre Eigenschaft, zum Nachdenken über wunderbare Dinge anzuregen ([…] miranda […] facio meditari /)163, stellt Melpomene heraus, und Thalia verweist auf den Zusammenhang von Weisheit und Dichtung und die reichen Gaben, die sie zu spenden vermag. Auf fol. 30 kommt zunächst Polyhymnia zu Wort, die ihr Vermögen darstellt, das Wissen der natürlichen Dinge und die „Bedeutungen der Wörter“ (sensus uerborum)164 in Erinnerung zu behalten. Dann spricht Erato über die inventio, Terpsichore verweist auf die Wahrheit, die in den von ihr gegebenen Worten enthalten ist, und Urania legt dar, dass sie zwischen dem Himmlischen und Irdischen vermittelt. Auf fol. 30v schließlich führt Kalliope, die für Beredsamkeit steht, aus, dass ihre himmlische Stimme mahnt, dass „die bürgerlichen Aufgaben zunehmen und das Licht des öffentlichen Lebens kundig erkannt“ wird (Uox mea celica, que monet unica gliscere uite / munera ciuica, lumina publica scire perite /)165. Den Abschluss des Werkes bildet ein Lob Gottes.
1.2 Genese der Handschrift und Zuschreibungen Den Auftrag zur Anfertigung dieses Panegyrikums erteilte die Kommune Prato, um es König Robert von Anjou, unter dessen Schutz sie stand, zu dedizieren. Obschon keine Dokumente tradiert sind, die über die Auftraggeberschaft sowie die genaue Entstehungszeit des Werkes sicher berichten, lassen einige Verse und Ikonotexte der Handschrift selbst Rückschlüsse darauf zu. Ebensowenig sind Dokumente greifbar, denen sich Autorschaft und Titel des Werkes entnehmen lassen, die das Werk verschweigt.166 Als Verfasser der Ikonotexte wird infolge philologischer und historischer Analysen mehrheitlich Convenevole da Prato angesehen.167 Bekannt ist Convenevole, Magister der Rhetorik und 159 160 161 162 163 164 165 166 167
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29, Vers 40. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29, Vers 60. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29, Vers 63. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Vers 1. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Vers 41. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 30, Vers 7. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 30v, Vers 27 f. Siehe zu diesem Zusammenhang Kap. 2.1. Zur Zuschreibung des Werkes an Convenevole da Prato siehe grundlegend Cesare Grassi: Il testo
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Grammatik, der zudem als Notar tätig war, als mutmaßlicher Lehrer Francesco Petrarcas in der Provence.168 Ende 1306 hatte sich Convenevole von Prato aus in das ghibellinische Pisa begeben, wo er sich bis mindestens 1311/1312 aufhielt.169 Seit 1317 ist er sodann in Avignon fassbar, bevor er vor 1336 oder zu Beginn des Jahres nach Prato zurückkehrte. Denn im April 1336 wurde er vom Rat der Acht und dem Gonfaloniere Pratos zum Professor der Rhetorik – er lehrte latinum maius und Cicero – der Kommune Prato ernannt.170 Gegen Ende des Jahres 1337 wird er schließlich gestorben sein, seine Registrielatino e la traduzione, in: Convenevole da Prato. Regia Carmina, dedicati a Roberto d’Angiò re di Sicilia e di Gerusalemme, hg. v. Cesare Grassi, Cinisello Balsamo 1982, S. 7–14, hier S. 8 f.; Emilio Pasquini: Convenevole da Prato, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 28, Rom 1983, S. 563–568, hier S. 566 f. und komplementär zu diesen Giulio Vaccaro: Filologia del testo e filologia dell’imagine nei Regia Carmina di Convenevole da Prato, in: Convenevole da Prato: Regia Carmina. Panegirico in onore di Roberto d’Angiò, Commentario, Turin 2004, S. 20–38, hier S. 21–24. Vgl. dazu folgende ältere Studien von Lorenzo Mehus: Historia litteraria florentina. Ab anno MCXCII usque ad annum MCDXXXIX, Nachdruck der Ausgabe Florenz 1769, hg. v. Eckhard Keßler, München 1968, S. 208– 210, 224; Giulio Giani: Ser Convenevole da Prato, maestro del Petrarca. Secondo nuovi documenti, Prato 1913, S. 96, 112–119; Konrad Burdach: Reformation, Renaissance, Humanismus. Zwei Abhandlungen über die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst, Berlin 1926; Ernst Saenger: Das Lobgedicht auf König Robert von Anjou, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 84, 1988, S. 7–91, hier S. 9 [Diss., Univ. Wien 1936]. Eine Zuschreibung an Convenevole verneinen Alessandro D’Ancona: Convenevole da Prato il maestro del Petrarca, in: Alessandro d’Ancona: Studi sulla letteratura italiana dei primi secoli, Mailand 1891, S. 105–147 und Philippe Sonnay: La politique artistique de Cola di Rienzo, 1313–1354, in: Revue de l’Art 55, 1982, S. 35–43, hier S. 38 f., während sich in der Frage der Autorschaft Arsenio Frugoni: Convenevole da Prato e un libro figurato in onore di Roberto d’Angiò, in: Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medioevo e Archivio Muratoriano 81, 1969, S. 1–32, nicht eindeutig festlegt. Als mögliche Autoren werden von diesen Cecco di Orlando und Duccio di Ammadore in Betracht gezogen, da beide in den Jahren 1335 und 1336 als magister der Grammatik im Dienst der Kommune Prato standen und in zeitgenössischen Dokumenten der Kommune namentlich bezeugt sind. 168 Vgl. dazu Kap. 2.4. Zu Convenevole da Prato (um 1270/1275–1337) siehe Giani, Ser Convenevole da Prato; Renato Piattoli: Per la biografia di ser Convenevole da Prato, in: Atti e memorie della R. Accademia Petrarca di Lettere, Arti e Scienze 14, 1933, S. 114–121; Pasquini, Convenevole da Prato; Giuseppe Billanovich: Ser Convenevole maestro notaio e chierico, in: Petrarca, Verona e l’Europa, Atti del Convegno internazionale di studi, Verona, 19–23 settembre 1991, hg. v. Giuseppe Billanovich, Giuseppe Frasso, Padua 1997, S. 366–390. Zur Unterrichtung Petrarcas durch Convenevole siehe als zeitnahe Quelle Philippi Villani De origine civitatis Florentie et de eiusdem famosis civibus, hg. v. Giuliano Tanturli, Padua 1997 (Thesaurus mundi: Bibliotheca scriptorum latinorum mediae et recentioris aetatis, Bd. 26), XXIII, 2, S. 89 f.: cum patre Petraco exulare conpulsus est et apud Avinionem, civitatem Provincie famosam, pueritie annos et adolescentie initia sub spectabili yndole in scolis liberalium artium mirabili docilitate consumpsit, depositisque rudimentis patrie artis, preceptore Convenevole Pratensi, qui ibidem scolas publice tenuit, viro mediocris poesis perito, poeticum cepit degustare melos, cui annuentibus celis laurea deberetur. Dazu Giuseppe Billanovich: Dal Livio di Raterio (Laur. 63, 19) al Livio del Petrarca (B. M., Harl. 2493), in: Italia medioevale e umanistica 2, 1959, S. 103–178, hier S. 136: „In Provenza Petracco affidò il suo figliolo Francesco alla scuola di grammatica di Convenevole“; Ronald G. Witt: In The Footsteps Of The Ancients. The Origins Of Humanism From Lovato To Bruni, Leiden 2000, S. 232 f. 169 Nach 1306 finden sich im Archivio Comunale di Prato für den Zeitraum von dreißig Jahren keine Quellen mehr zu Convenevole. Vgl. Giani, Ser Convenevole da Prato, S. 61. 170 Prato, Archivio Comunale, Serie Comunale, Nr. 77, Diurnio 293, fol. 11: Am 20. April 1336 beriet der Rat der Hundert (consilium centum) erneut über die Nominierung zweier Grammatiklehrer, über deren Berufung schließlich der Rat der Acht sowie der Gonfaloniere zu entscheiden hätten: DD quidem octo defensores populi et uexillifer iustitie in sala palatii noui, more solito congregati, uigore auctoritate et
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rung in den Aktenstücken der Kommune bricht im Dezember 1337 ab. Für Convenevoles Modellierung der Diskursherrschaft König Roberts über Papst Johannes XXII. in Glaubensfragen und die daran gebundene Reflexion des Vermögens der Bilder171 dürfte von Belang sein, dass Convenevole den Franziskanerminoriten angehörte.172 Denn zwischen 1321 und 1334 wurde zwischen dem Franziskanerorden und Papst Johannes XXII. der „theoretische Armutsstreit“ geführt – in dem das angevinische Königspaar Robert und Sancia die Franziskaner-Spiritualen bekanntlich unterstützte: Die Franziskanerminoriten stellten, wie jüngst Susanne Conrad eingehend darlegt hat, in dem „ebenso langjährigen wie komplexen theologischen Konflikt mittels neuartiger kultureller Techniken den Anspruch Johannes XXII. auf das normative Monopol der Schriftauslegung in Frage“173. balia eis concessa per consilium centum populi terre prati […] facto prius et misso inter eos solepni partito ad fabas nigras et albas secundum formam statuti et optento, per duas partes eorum et ultra secundum formam statuti e l i g e r u n t inf ra scriptos sapie ntissimos uiros in doctores et magistros gramatice, uidelicet mag istr um Conuoneuol e m cond am se r Acchoncii d e Prato in mag istr um et d octore m i n te r ra p rati i n re c tor i cha et magistrum Duccium condam de Prato in doctorem magistrum gramatice in terra prati, pro IIIIor annis incipiendis die primo mensis octobris proximo uenturi […]. Im Zusammenhang der Gehaltsaufführung ist auch das Aufgabengebiet des Unterrichtes näher bestimmt mit der Unterweisung von Cicero und latinum maius: Qui recipere debeant salaria infrascripta uidelicet dicto m a g i s t ro C o n u o n e u o l i p ro s a l a r i o l e c t u re n o u e Tu l l i i pro quolibet florenis auri unum et non ultra […]. Item q u i fe ce r i t l a t i n u m m a i u s solidis triginta […]. Die Nominierung wurde sodann durch den Rat der Acht und den Gonfaloniere angenommen, wie ein auf den 22. April 1336 datiertes Dokument belegt. Prato, Archivio Comunale, Serie Comunale, Nr. 63, Diurnio 279, neunte Lage, fol. 20: Cum per dominos octo defensores populi et uexilliferum iustitie terre prati electi fuerint omni uia et modo quibus melius potuerunt in magistros et doctores gramatice et rectorice in terra prati sapientissimi et scientiatissimi uiri, uidelicet ser Conuoneuole ser Acchoncii de Prato et ser Duccius Amadoris de Prato, pro IIIIor annis incipiendis die primo mensis octobris proximo futurum […] in dicta electione plenius continetur, predicti DD octo defensores et uexillifer, capitanei et gonfalonerii suprascripti congregati ut supra ordinauerunt, deliberauerunt, stantiauerunt et reformauerunt, quod dictus ser Conuoneuole et ser Duccius in quantum uenire et stare uelint in dicta terra prati et continue legere […]. 171 Es handelt sich um den Disput um die visio beatifica der Jahre 1331–1334. Siehe dazu Kap. 6. 172 Piattoli, Per la biografia di ser Convenevole, S. 116 f. legt dar, dass ein durch Jacopo di Barluccio ausgestelltes pratensisches Dokument bezeugt, dass Convenevole am 19. September 1293 die Minderbrüder (ordini minori) und die Einschreibung in den Klerikerstand erreichte. Zudem hat Piattoli den in den Verzeichnissen der alten Bruderschaft von Santa Croce in San Francesco in Prato für das Jahr 1295 aufgeführten Convenevole als den pratensischen Notar und Rhetoriker identifiziert. Piattoli, Un autografo di Ser Convenevole, S. 37. Vgl. dazu D’Ancona, Convenevole da Prato, S. 107, der diesbezüglich auf die aufgeführte Liste verweist bei Cesare Guasti: Capitoli della Compagnia della Santa Croce di Prato. Scrittura inedita del sec. XIII. Ora per la prima volta pubblicata, in: L’Eccitamento. Giornale di Filologia, di Letteratura e di Amentà 1, 1858, S. 406–417. 173 Susanne Conrad: MedienMacht.
Der Armutsstreit zwischen Papst Johannes XXII. und dem Franziskanerorden als Spiegel einer neuen Funktionalisierung von Medien im Kampf um Macht, Diss., TU Dresden 2008, S. 2. Zur franziskanischen Bildpropaganda siehe Dieter Blume: Wandmalerei als Ordenspropaganda. Bildprogramme im Chorbereich franziskanischer Konvente Italiens bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Worms 1983, bes. S. 149–170; Joachim Poeschke: Die Kirche San Francesco in Assisi und ihre Wandmalereien, München 1985, bes. S. 45–49; Klaus Krüger: Der frühe Bildkult des Franziskus in Italien. Gestalt und Funktionswandel des Tafelbildes im 14. Jahrhundert, Berlin 1992; vgl. zusammengefasst Klaus Krüger: Selbstdarstellung im Konflikt. Zur Repräsentation der Bettelorden im Medium der Kunst, in: Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte, hg. v. Otto Gerhard Oexle, Andrea von Hülsen-Esch, Göttingen 1998, S. 127–186; Tanja Michalsky: Sponsoren der Armut. Bildkonzepte franziskanisch orientierter Herrschaft, in: Medien der Macht. Kunst
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Die materielle Erfassung sowie die Analyse des Bild-Text-Verhältnisses, aus denen sich die Genese des Werkes ableiten lässt, weisen darauf hin, dass es im Prozess einer verschränkten Text- und Bildkomposition des Verfassers entstanden ist. Die Ikonotexte sind mithin im Sinne einer doppelten ‚Autorschaft‘ zu betrachten. Da in den nachfolgenden Erörterungen der Ikonotexte die genuine Verschränkung von Text und Bild sowie die werkdisponierende Funktion der Bilder behandelt werden, seien hier zur Einführung allein zwei bis drei Beispiele vorgebracht, welche die doppelte ‚Autorschaft‘ plausibilisieren. Angeführt sei zunächst die programmatische Eingangsfigur der Handschrift auf fol. 1v (Taf. 2). Sie besteht aus einem gemalten Thron, der das gesamte Folio ausfüllt. Er erscheint figürlich leer, wobei diese Leere zugleich gefüllt wird durch Schrift und heraldische Zeichen. Diese erscheinen oberhalb des blauen Thronsitzes und füllen jeweils eine Hälfte der zweigliedrigen Thronlehne aus: Links ist der angevinische Wappenschild zu sehen, die goldenen Lilien auf blauem Grund mit einem roten Rechen an der oberen Leiste, rechts der des Papsttums, die gekreuzten Schlüssel auf rotem Grund. Während die Wappenschilde zum einen an ihrer unteren Spitze durch die Textur der Worte gehalten werden, sprengen sie zum anderen das Gefüge der Worte. So wird die Verschränkung von textueller Unterstützung und visuellem Eingriff, also die reziproke Einwirkung von Bild und Dichtung sinnfällig. Demgemäß lauten die Verse, die unter dem Wappenschild der neapolitanischen Anjou fixiert sind: Detur ut alma salus, hec regi signa Roberto / sunt hic, et malus ratis eius stet sibi certo / ad memorem curam, sic designando figuram. / 174 („Damit das wohltätige Heil gegeben wird und der Mast seines Schiffes für ihn sicher emporragt, sind an dieser Stelle diese Zeichen für König Robert, zur Erinnerung der Fürsorge, dergestalt das Bild zeichnend“).
Zum einen verweist das Adverb hic, „an dieser Stelle“, darauf, dass ein gezeichnetes beziehungsweise gemaltes Zeichen im dichterischen Schaffensprozess integriert war, das heißt genauer: der Wortfindung vorausgeht. Zum anderen ist die Wendung sic designando figuram bedeutsam. Denn das prädikativ gestellte Gerundivum designando dient der Bezeichnung der Notwendigkeit: Um der Aufforderung an König Robert ob seiner Macht Ausdruck zu verleihen, ist es notwendig, Bilder zu zeichnen. Der Zweck der geforderten Fürsorge wird sodann erfahrbar durch die rechts stehende Figur des päpstlichen Wappenschildes und die Verse, die unter diesem fixiert sind und so das gemalte Zeichen figürlich unterstützen. Dergestalt können sie gemeinsam mit der links stehenden Figur als programmatische Worte der Handschrift gelesen werden. Und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen in Bezug auf die dargestellte politische Aussage, zum anderen in Bezug auf die Darstellungsmittel. Letztere werden in den Ikonotexten ebenso extensiv wie intensiv reflektiert. Die Verse lauten:
zur Zeit der Anjous in Italien, hg. v. Tanja Michalsky, Berlin 2001, S. 121–148. Vgl. auch die Beiträge in William R. Cook (Hg.): The Art of the Franciscan Order in Italy, Leiden 2005. 174 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Verse 52–54.
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Ut recolat [!] sedem, quam Petri fixit, et edem / ecclesie, signa solio stant ista benigna / diuino […] / 175 („Damit sie den Sitz Petri erneuern, den er erbaut hat, und das Haus der Kirche, stehen diese gütigen Zeichen auf dem göttlichen Thron“).
Analog zur linken Figur spiegelt sich die der Wortbildung vorausliegende Bildsetzung in dem Demonstrativpronomen ista, das unmittelbar auf das gemalte Zeichen hinweist. Zudem wird die Relevanz des Zeichens herausgestellt durch die Konjunktion ut („damit“). Worin die Erneuerung der Kirche fundiert ist, oder: um im Bild zu bleiben, worauf sie ‚fußt‘, gelangt zu sinnfälliger Anschauung, lässt man den Blick nach unten schweifen: auf die Fußbank des Thrones. In der dreibogigen Architektur wird der essentielle Zusammenhang von Bild und Text augenscheinlich, indem die geschriebenen Worte das Innere der Bögen materialiter ausfüllen und somit dessen Substanz versinnbildlichen: die Theologaltugenden, die durch die Verwendung des Adverbs hic respektive hinc einem jedem Bogen zugeordnet sind. So beginnen die in den linken Bogen eingeschriebenen Verse mit den Worten hic oriendo fides surgit („hier entspringend, erhebt sich der Glaube“), die des mittleren mit spes hic certa boni firmatur („hier wird die sichere Hoffnung des Guten gestärkt“) und die des rechten schließlich mit den Worten nascitur hinc carus, qui feruet amor („es entspringt von hier die teure Liebe, die glühen wird“)176. Dergestalt erfolgt die Sinnerzeugung insbesondere durch die formal-ästhetische Bild-Text-Anlage, der Sinn offenbart sich also erheblich auf visueller Ebene. Denn indem neben der gemalten Architektur auch die schriftlich fixierten Buchstaben der die Theologaltugenden bezeichnenden Verse die Fußbank der Form nach (nach)bilden, vermittelt sich dem lesenden Betrachter, dass die Herrschaft wahrlich auf ihnen ‚fußt‘. Das Bild des Fußes bleibt auch in den nachfolgenden, unter der Fußbank geschriebenen Versen erhalten: Zum einen weisen sie zahlreiche Wörter auf, die metaphorisch dem Wortfeld des Fußes zugehören; zum anderen sind sie auch räumlich in der Nähe zu dem Ort platziert, der hier dem Fuß vorbehalten ist – der Fußbank. So offenbart sich erneut eine doppelte, bildlich-textuelle Sinnerzeugung: So wie „die unglücklichen Feinde unter der Bedrückung stehen“, weil der Sieger des Krieges „mit Recht den Fußschemel tritt“ (stant infelici pressura post inimici: / qui uincit bellum, calcat de iure scabellum /)177, so sind die Verse auf dem schmalen Raum unter dem gemalten Fußschemel niedergeschrieben. Die Bedrängung gelangt in der formalen Gestaltung zur Anschauung. Dass die Dichtung vor der Folie der nicht nur im Kopf des Dichters entworfenen, sondern eben auch gezeichneten Bilder entstanden ist, lässt sich untermauern anhand verschiedener Beispiele. Angeführt sei die Figur des Herkules, die auf der rechten Hälfte des fol. 12 erscheint, neben einer Textspalte auf der linken (Taf. 19). Herkules trägt als Kleid das Fell des nemëischen Löwen und steht mit gespreizten Beinen fest auf dem Boden. Die Arme hat er wehrhaft vor der Brust gekreuzt, wobei er mit seiner Rechten
175 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Verse 55–57. 176 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Verse 73, 75, 77. 177 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Vers 79 f.
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die Keule emporhält. Von der Figur aus richtet sich der Blick auf die Verse, die zwischen Keule und Kopf fixiert sind und sich dabei deren Umrisslinien anschmiegen. Sie lauten: Cerne meam clauam, cum qua mala monstra necaui, / exterrens prauam rabiem, qua stant truce praui. / 178 („Betrachte meine Keule, mit der ich die üblen Scheusale getötet habe, erschreckend die unrechte Wut, in deren Grausamkeit die Verworfenen stecken“).
Schon die ersten Worte fordern auf, die Keule zu betrachten und zeigen damit nicht nur, dass die Dichtung auf die Malerei abgestimmt ist, sondern inszenieren geradezu die formal-ästhetisch angedeutete Ikonotextualität. Denn der Blick wird von der Figur auf den durch sie gerahmten Text gelenkt und von ihm gleich wieder auf die Figur zurückgeworfen. Dass Bild und Text durch eine wechselseitige Semiosis miteinander verschränkt sind, insofern ihnen eine gemeinsame metaphorische Ebene eigen ist, zeigt sich mit der Lektüre der Verse, die zwischen den Beinen geschrieben sind: Herculis ista uago fluctu non extat ymago, / set docet, ut bellum fiat culpeque macellum. / 179 („Dieses Bild von Herkules ragt nicht durch die schwankende Woge hervor, sondern es belehrt, wie Krieg erfolgt und der Fleischmarkt des Verschuldens“).
Erneut wird sprachlich demonstrativ auf die gemalte Figur verwiesen – ista ymago Herculis. Indem diese mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht und dergestalt die Standfestigkeit bezeichnet ist, kontrastiert sie in augenfälliger Weise mit dem Bild der unsteten, schwankenden Woge des Textes. Durch diesen figürlichen Spannungsbezug wird mithin das Sinnbild der Standfestigkeit (constantia) modelliert, das dem „Verschulden“ durch Unbeständigkeit (inconstantia) entgegensteht. Mit anderen Worten: Das Bild bezeichnet das Eigentliche, die Tugend der constantia, während der Text auf das Laster der inconstantia hinweist. In diesem Sinne sei noch die Figur der Fortitudo, der Personifikation der Tapferkeit, betrachtet, zumal sich an ihr der Entstehungsprozess der Handschrift ablesen lässt (Taf. 28). Auf der linken Hälfte des fol. 21v erscheint sie in einem grünen Gewand. Während ihre Rechte eine in die Höhe gerichtete Keule umfasst, hält sie in ihrer Linken einen Schild. Ihr Oberkörper ist wehrhaft nach vorne gewölbt, einem Schild gleich, der auch durch die Röhrenfalten angedeutet sein mag, die zwischen ihren Knien spitz zusammenlaufen. Ihre kampfbereite Haltung wird zudem durch ihre gebeugten Knie sichtbar, wobei ihre vorwärtsgewandte Dynamik wiederum durch den Faltenwurf mit seinen feinen schwarzen Schraffuren sowie den aufgeworfenen Saum erfahrbar wird. Dieser macht dann auch nachdrücklich die Beweglichkeit der Figur sichtbar, indem er ein dynamisches Stehen der Fortitudo auf den Fußballen zu sehen gibt. Auf die in der Betrachtung und Beschreibung der Figur sinnfällig werdende Vitalität wird durch die Texte sprachlich hin-
178 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 12, Vers 44 f. 179 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 12, Vers 46 f.
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gewiesen, indem die Gegenwärtigkeit betont ist.180 So lauten die Worte, die links vor der Fortitudo, oberhalb ihrer gebeugten Knie fixiert sind: et genibus flexis maneo, quia […] / succurro presto […] /181 („und ich bleibe mit meinen gebeugten Knien, weil ich gegenwärtig zu Hilfe komme“).
Die systematische Kopplung von figürlich gezeigter Vitalität und rhetorischem Vor-Augen-Stellen zeigt sich noch deutlicher in den Worten, die in dem Textblock über dem Kopf der Fortitudo niedergeschrieben sind und in denen die Fortitudo ebenfalls selbst spricht. Denn ihre selbstreferentielle Beschreibung stellt dezidiert die Gegenwärtigkeit des bildlich Gezeigten heraus. Auf Höhe der wuchtigen Kugel der Keule ist zu lesen: Fortis et armata sum uirtus […] / […] / […] modo claue pondus graue prodo. / Dextra sum fidens […] / 182 („Ich bin eine starke und bewaffnete Tugend […]: eben gerade bringe ich das schwere Gewicht der Keule hervor. Ich vertraue sie der Rechten an“).
Der damit entstehende Eindruck, dass die Verse im formalen wie inhaltlichen Sinn erst nach Konzeption und Zeichnung der Figuren gedichtet und hinzugefügt worden sind183, erhärtet sich schließlich durch die Gestalt des Schildes, den die Fortitudo in ihrer Linken hält. Die Worte verweisen nämlich deiktisch auf die Gestaltung des Elefanten, der auf dem Schild zu sehen ist, sowie auf die Körperhaltung der gemalten Figur der Tugend: Umbonem stantis fortis sic est elefantis, / sum quia robusta, gestans, et prelia iusta / uincens, infesta tueor set prorsus honesta. / 184 („Weil ich stark bin, trage ich den Schild des so stehenden Elefanten, der stark ist, und ich gewinne gerechte Schlachten, aber ich verteidige auch vorwärtsgerichtet die bedrohte sittliche Würde“).
Anhand der angeführten Beispiele lässt sich Klarheit gewinnen hinsichtlich des Herstellungsprozesses der Handschrift: Zunächst ist davon auszugehen, dass sie nach einer Urfassung des Convenevole angefertigt wurde, die nicht erhalten geblieben ist.185 Sol180 Die rhetorische enargeia wird somit reflektiert, die Lebendigkeit des vor Augen Gestellten, das wie gegenwärtig erscheint. Zur enargeia der gemalten Figuren siehe Kap. 3.1 und 4.2. 181 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 21v, Vers 20 f. 182 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 21v, Verse 4–7. 183 Vgl. Ernst Saenger: Über die Struktur des Bildercodex im Trecento, in: La Critica d’Arte 3, 1938, S. 131–135, hier S. 131. 184 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 21v, Verse 16–18. 185 Vgl. Julius von Schlosser: Giustos Fresken der Theologie und Philosophie bei den Eremitani zu Padua und die Miniaturen einer Ambraser Handschrift, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses 17, 1896, S. 13–100, hier S. 19–30; Saenger, Über die Struktur des Bildercodex; Julius von Schlosser: Poesia e arte figurativa nel Trecento, in: Critica d’Arte 3, 1938, S. 81–90; An von Schlosser und Saenger schließen sich an: Frugoni, Convenevole da Prato e un libro figurato, S. 15; Grassi, Il testo latino e la traduzione, S. 7; Vaccaro, Filologia del testo, S. 24.
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chermaßen können die ‚Tituli‘ nicht als Malanweisungen für die Miniatoren betrachtet werden. So ist der Arbeitsprozess der illuminierten Folia wie folgt zu denken: Zunächst wurden die Figuren auf die blanken Pergamente gezeichnet; bei der Figur des Herkules auf fol. 12 (Taf. 19) sind Spuren der Federzeichnung gut sichtbar, die verändert und ausradiert worden sind. Sodann wurde der Text geschrieben und die Verse in die Federzeichnungen eingefügt – gut erkennbar sind auf fol. 24v (Taf. 34) die auf dem Pergamentgrund gezeichneten, vertikal und diagonal verlaufenden Linien, welche die Gewandfalten der drei Figuren andeuten und über welche die Verse geschrieben wurden. Schließlich wurden das Gold aufgetragen und die Figuren mit Temperafarben gemalt. Dies lässt sich über das fol. 24v hinaus beispielsweise an der Gestalt des Schildes zeigen, den die Fortitudo auf fol. 21v hält (Taf. 28). Denn die Worte sind auf den blanken Pergamentgrund geschrieben, die zum einen wie Inseln aus dem roten Grund des Schildes hervorragen, der sie umfängt. Zum anderen sind die Worte in ihrer Anordnung dem Körperumriss des Elefanten angepasst. Gleiches ist zu beobachten an der monumentalsten Miniatur des Kodex, die das gesamte Folio 10v ausfüllt (Taf. 16). Sie zeigt den thronenden König Robert vor goldenen Lilien auf blauem Grund. Deutlich ist erkennbar, dass die Worte vor dem Goldauftrag in die gezeichneten Lilien und der Ausführung des blauen Grundes auf das Pergament geschrieben wurden. Insofern sich mit der verschränkten Text- und Bildkomposition des Autors die Frage nach der erkenntnistheoretischen Einbindung und der Funktionsweise von Bildern in Texten stellt, lassen sich zur historischen Kontextualisierung Francesco da Barberinos Documenti d’amore anführen (Rom, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Barb. lat. 4077 und Barb. lat. 4076).186 Zudem lässt sich anhand dieser die Formel „Sprechen in Bildern – Sprechen über Bilder“ plausibilisieren, welche die historische Reflexion der ‚Sprachfähigkeit‘ von Bildern und die Notwendigkeit ihrer sprachlichen Auslegung sinnfällig macht. Der Notar Francesco da Barberino (1264–1348), der sich wie Convenevole in Avignon aufhielt, schuf die bekannten, bislang aber nicht umfassend erforschten Documenti d’amore um 1313.187 Sie bestehen aus einer in volgare verfassten Dichtung, deren Verse zum einen von lateinischen Paraphrasen in Prosa begleitet und zum anderen durch lateinische, eben-
186 Zur Bedeutung der Bilder bei Francesco da Barberino und zum geschichtlich-kulturellen Kontext siehe Marcello Ciccuto: Guinizzelli e Guittone, Barberino e Petrarca. Le origini del libro volgare illustrato, in: Rivista di storia della miniatura 1/2, 1996/1997, S. 77–87, bes. S. 82–84; Marcello Ciccuto: Francesco da Barberino. Un pioniere del Bildercodex tra forme del gotico cortese e icone della civiltà comunale, in: Letteratura & Arte 9, 2011, S. 83–95. 187 Siehe dazu Paola Supino Martini: Per la tradizione manoscritta dei Documenti d’Amore di Francesco da Barberino, in: Studi medievali 37, 1996, S. 945–954; Francesco Egidi: Le miniature dei codici barberiniani dei Documenti d’amore, in: L’Arte 5, 1902, S. 1–20, 78–95; Valeria Nardi: Le illustrazioni dei Documenti d’Amore di Francesco da Barberino, in: Richerche di Storia dell’arte. Studi di miniatura 49, 1993, S. 75–92; Daniela Goldin: Testo e immagine nei Documenti d’Amore di Francesco da Barberino, in: Quaderni d’italianistica 1, 1980, S. 125–138; Bernhard Degenhart, Annegrit Schmitt: Corpus der italienischen Zeichnungen 1300–1450, Bd. 1,1: Süd- und Mittelitalien, Berlin 1968, S. 31–38; Susanna Partsch: Profane Buchmalerei der bürgerlichen Gesellschaft im spätmittelalterlichen Florenz. Der Specchio Umano des Getreidehändlers Domenico Lenzi, Worms 1981, S. 79–87.
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falls in Prosa verfasste Glossen kommentiert werden.188 Den Textgefügen ist zu Beginn eines jeden Kapitels eine Miniatur vorgeschaltet (Abb. 3). Die Pointe: Die Bilder, die Barberino selbst entworfen hat189, bilden den Zielpunkt des Werkes, insofern sie eine Bildbeschreibung des Autors in der neuen Volkssprache bezwecken: Das Verfassen des volgareTextes ist begründet im Betrachten (inspectio) der Bilder, deren Semantik einer Erklärung (expositio) des Autors durch den literarischen Text bedarf, der wiederum durch die lateinischen Glossen kommentiert wird.190 Die Komplexität des Bild-Text-Gefüges, die sich durch Spruchbänder in den Bildern potenziert, wird aufgrund der Wechselwirkungen von Bild und den verschiedenen Textformen weiter auszudifferenzieren sein. So werden in Verschränkung mit der Darlegung des erkenntnistheoretischen Vermögens der Bilder juristische Aspekte erörtert, welche die Medien Bild und Text implizieren und die Fragen der Authentizität des Autors berühren.191 Dass Bilder diese zu gewährleisten vermögen, und inwiefern die Malerei gegenüber der Sprache zu nobilitieren ist, legt Barberino in I, vi, 353 (sub Docilitate) dar: Unter dem Punkt de designatonibus cum pictore etc. heißt es zunächst, dass es nicht nur in Bezug auf das Bild, sondern auch in der freien Beschäftigung ein wichtiger Teil der Handlung sei, zuerst zu zeichnen (Hoc nedum in pictura sed in cuius liber rei fabrica magna pars primitus designare). Durch die Zeichnung sei es möglich, dass die Kunst mit mehr Ruhm gesehen werde, mit der man sich wegen der unangemessenen Verachtung der Farben nicht befasse (ac licet nobilius propter colorum fastidia non videatur ars videatur incongrua). Denn durch jene würden die Intentionen des Autors und die auftretenden Neuheiten den Malern leichter dargereicht, sie diene der geeigneten Erfassung der Anordnung (per quam pingentibus intentiones suas facilius porrigunt et novitates emer188 Zum Textcorpus der Documenti d’amore siehe Francesco da Barberino: Documenta Amoris, Bd. 1: Versi volgari e parafrasi latina, hg. v. Marco Albertazzi, Lavis 2008, S. V–XX. 189 Während sich in dem älteren Kodex Barb. lat. 4077 die vom Autor selbst geschaffenen lavierten Federzeichnungen finden, sind die Deckfarbenminiaturen in Barb. lat. 4076 von professionellen Illuminatoren ausgeführt. 190 Francesco da Barberino: Documenta Amoris, Bd. 2: Glossae, hg. v. Marco Albertazzi, Lavis 2008, Documenta Amoris, Incipit apparatus per eundem Franciscum compositus super documentis amoris ex causis inferius introductis, S. 6: Modum autem agendi vide per casum qui subditur cum operis insimul divisione ac rocche ipsius Amoris supra depincte, tam inspectione quam expositione sequenti („Siehe hingegen die Art und Weise des zugleich durch die Mittel, wie unten hingefügt, auszuführenden Werkes und ebenso durch die Einteilung der Burg Amors selbst, die oben gemalt ist, sowohl durch Betrachtung als auch durch die folgende Erklärung“). Die formalen Zusammenhänge der unterschiedlichen Textformen, an die eine Reflexion der Semantik der Volkssprache sowie des Lateinischen gebunden ist, und des Bild-Text-Gefüges legt Francesco da Barberino im weiteren Verlauf des Glossentextes des Proömiums dar. Siehe ebd. S. 26 f. Zu diesen Bild-Text-Gefügen im Allgemeinen siehe Belting, Das Bild als Text, S. 34 f. Vgl. Eva Frojmovic: The Theory and Practice of (Visual) Authorship in the Trecento. The Case of Francesco da Barberino’s Documenti d’amore (c. 1315), Vortrag gehalten auf dem International Medieval Congress 2005, University of Leeds, 11.–14. Juli 2005: „The image stands in a similar relationship with the texts it accompanies as the text stands to the gloss. Not the other way round. The Italian poem explicates the figures and the commentary is in reality a supercommentary“; Shelly MacLaren: Shaping the Self in the Image of Virtue. Francesco da Barberino’s I documenti d’amore, in: Image and Imagination of the Religious Self in Late Medieval and Early Modern Europe, hg. v. Reindert Falkenburg, Walter S. Melion, Todd M. Richardson, Turnhout 2007, S. 71–95. 191 Siehe dazu Eric Jacobsen: Francesco da Barberino. Man of Law and Servant of Love, in: Analecta Romana Instituti Danici 15, 1986, S. 87–118, bes. S. 97 f.; MacLaren, Shaping the Self, S. 86; Frojmovic, The Theory and Practice of (Visual) Authorship.
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gentes, que ad divisandum pertinet, habilius speculantur). Auf die aus diesen Worten erwachsende Frage, warum der Maler hier bevorzugt werde vor dem Schreiber (querere quare pictor preponitur hic scriptori), erfolgt als Antwort: Über eine größere Genauigkeit im Ausdruck verfüge der Maler, der nach seinen Regeln feine Dinge gestalte, als der Schreiber, der übernehme, was vorher geschrieben worden sei (possumus> di[di]cere quod maior subtilitas est in pictore qui de iure suo subtilia format, quam in scriptore qui scipita exemplando transummit)192. Barberino stellt also zum einen das erkenntnistheoretische Vermögen der Zeichnung als gedanklichen Entwurf heraus und zum anderen die Genauigkeit der Malerei, die nach den Regeln des Malers in feiner Weise gestaltet sei (de iuro suo subtilia format). Damit wird die Malerei als eine ars mit eigenen Regeln betrachtet.193 Francesco da Barberino legt im weiteren Verlauf seines Werkes dar, dass „keiner der Maler an dem Ort, an dem das Buch begonnen wurde, [ihn] richtig verstanden habe“ (cum nemo pictorum illarum partium ubi extitit liber fundatus me intelligeret iusto modo)194 und sein Werk infolgedessen in seiner Heimat professionell illuminiert worden sei. Auch das lässt an das Werk des Convenevole denken, das in Florenz abgeschrieben und illuminiert wurde. Zum einen verweist bereits die Anordnung des Pergaments innerhalb der Lagen, der eine ausgesprochen sorgfältige Planung zugrunde lag, auf die Anfertigung in einer professionellen Werkstatt: Es zeigt sich eine kontinuierliche Anordnung von Fleisch- zu Fleischseite und Haar- zu Haarseite, so dass ein einheitlicher Eindruck des jeweils aufgeschlagenen Seitenpaares entsteht.195 Zum anderen lässt bereits die Farbgebung der Illuminationen auf Florenz als Herstellungsort schließen: Neben dem zarten Farbklang von Rosa, Ocker, Hellbraun, Grau und Weiß, aber auch Olivgrün heben sich insbesondere Zinnoberrot, Mennigrot, leuchtendes Blau und Dunkelblau (Ultramarin, Azurit) sowie Gelb und poliertes Blattgold heraus196 – ganz charakteristisch für die florentinische Buchmalerei. Verantwortlich für diese Gestaltung ist stilkritischen Untersuchungen zufolge die Werkstatt des Pacino di Bonaguida.197 Eine solche Zuschrei192 193 194 195
Francesco da Barberino, Documenta Amoris, Bd. 2, S. 59 f. Vgl. dazu Kap. 4.1. Francesco da Barberino, Documenta Amoris, Bd. 2, XI, i, 6748 (sub Gratitudine), S. 547. Eine solche Anordnung war insofern üblich, als Pergament eine hellere Fleisch- und eine dunklere Haarseite aufweist. In regelmäßiger Abwechslung sind Fleischseiten und Haarseiten gepaart: fol. 1v und 2 Fleischseiten, fol. 2v und 3 Haarseiten, fol. 3v und 4 Fleischseiten usf. Abweichend davon fol. 17v–20, auf denen jeweils Fleisch- und Haarseite gegenüberstehen. 196 Zu den verwendeten Pigmenten vgl. Catherine Schmidt Patterson, Alan Phenix, Karen Trentelman: Scientific Investigation of Painting Practices and Materials in the Work of Pacino di Bonaguida, in: Florence at the Dawn of the Renaissance. Painting and Illumination, 1300–1350, Ausstellungskatalog, Los Angeles, Getty Center, 13. 11. 2012–10. 02. 2013, hg. v. Christine Sciacca, Los Angeles 2012, S. 361–371. 197 Zu Pacino di Bonaguida und seiner Werkstatt siehe in stilkritischer Hinsicht Richard Offner: The Shop of Pacino di Bonaguida, in: Richard Offner: Studies in Florentine Painting. The Fourteenth Century, New York 1927, S. 3–21, hier S. 11–19. Siehe darüber hinausgehend Christine Sciacca: Pacino di Bonaguida and his Workshop, in: Florence at the Dawn of the Renaissance. Painting and Illumination, 1300–1350, Ausstellungskatalog, Los Angeles, Getty Center, 13. 11. 2012–10. 02. 2013, hg. v. Christine Sciacca, Los Angeles 2012, S. 285–303, die neue Forschungstendenzen aufgreift, wenn sie auf die einheitlich erscheinenden Stilsprachen in den Werken aus Pacinos Werkstatt abzielt und damit nach der Funktionsweise der Werkstatt fragt.
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bung an die führende florentinische Buchmalerei-Werkstatt während der ersten Hälfte des Trecento erfolgte wesentlich zunächst durch Richard Offner198 und wurde bekräftigt durch Miklós Boskovits und Ada Labriola199, nachdem die Handschrift zwischenzeitlich als Arbeit der Werkstatt Taddeo Gaddis gewertet worden war.200 Die Präsentation des einstimmig in die Jahre 1335/1336 datierten Londoner Kodex in einer Ausstellung zur florentinischen Tafel- und Buchmalerei von 1300–1350 im Allgemeinen und Pacino di Bonaguidas im Besonderen bestätigte jüngst diese Zuschreibung.201 Dabei stellten Yvonne Szafran und Nancy Turner in ihrem Katalogbeitrag heraus, dass die Maltechnik der Londoner Miniaturen gerade auch jener der Tafelmalereien Pacinos gleicht: Sie verweisen auf die Ausmalung der Figuren in breiten, horizontalen Pinselstrichen und auf die besondere Art der Modellierung des Inkarnats.202 Offensichtlich ist die Referenz der Figuren der Regia Carmina auf Pacinos Tafelmalerei bereits aufgrund ihres großen Formats. Die monumentalen Figuren sind in ihrer Plastizität ähnlich modelliert wie in Pacinos wohl um 1315/1320 entstandenem KreuzigungPolyptychon aus der Galleria dell’Accademia in Florenz203 (Abb. 4). So zeichnen sich die 198 Richard Offner: A Critical and Historical Corpus of Florentine Painting, Sect. 3, Vol. 6: The Fourteenth Century: Close Following of the St. Cecilia Master, New York 1956, S. 213–216. 199 Miklós Boskovits: A Critical and Historical Corpus of Florentine Painting, Sect. 3, Vol. 9: The Fourteenth Century: The Painters of the Miniaturist Tendency, Florenz 1984, S. 49, Nr. 165 und S. 52, Nr. 178; Ada Labriola: Aggiunte alla miniatura fiorentina del primo Trecento, in: Paragone 547, 1995, S. 3–17, hier S. 6 f.; Ada Labriola: L’eredità di Giotto nella miniatura fiorentina, in: L’eredità di Giotto. Arte a Firenze 1340–1375, Ausstellungskatalog, Florenz, Galleria degli Uffizi, 10. 06. 2008– 02. 11. 2008, hg. v. Angelo Tartuferi, Florenz 2008, S. 67–75, hier S. 68, vgl. S. 192. Zu Labriolas Hypothese, in dem Kodex neben Pacino einen Miniator prägend am Werk zu sehen, so dass von einem „Maestro del Panegirico di Roberto d’Angiò“ gesprochen werden könnte, siehe Francesca Pasut: Pacino di Bonaguida e le miniature della Divina Commedia. Un percorso tra codici poco noti, in: Da Giotto a Botticelli. Pittura fiorentina tra Gotico e Rinascimento. Atti del convegno internazionale Firenze, Università degli Studi e Museo di San Marco, 20–21 maggio 2005, hg. v. Francesca Pasut, Johannes Tripps, Florenz 2008, S. 41–62, hier S. 60, Anm. 52: „L’ipotesi della studiosa di creare un ‚Maestro del Panegirico di Roberto d’Angiò‘ merita un futuro approfondimento“. 200 Giulietta Chelazzi Dini: Osservazioni sui miniatori del Panegirico di Roberto d’Angiò, in: Scritti di storia dell’arte in onore di Ugo Procacci, Bd. 1, hg. v. Maria Grazia Ciardi Dupré Dal Poggetto, Paolo Dal Poggetto, Mailand 1977, S. 140–145, hier S. 140–143; Ciatti, Le miniature, S. 23–27, zum Forschungsstand S. 15–17. 201 Christine Sciacca (Hg.): Florence at the Dawn of the Renaissance. Painting and Illumination, 1300–1350, Ausstellungskatalog, Los Angeles, Getty Center, 13. 11. 2012–10. 02. 2013, Los Angeles 2012, bes. Nr. 5, S. 37–42 (Christine Sciacca); vgl. Joshua O’Driscoll: Carmina regia, in: Royal Manuscripts. The Genius of Illumination, Ausstellungskatalog, London, British Library, 11. 11. 2011– 13. 03. 2012, hg. v. Scot McKendrick, John Lowden, Kathleen Doyle, London 2011, Nr. 134, S. 380 f., hier S. 381. 202 Yvonne Szafran, Nancy Turner: Techniques of Pacino di Bonaguida, Illuminator and Panel Painter, in: Florence at the Dawn of the Renaissance. Painting and Illumination, 1300–1350, Ausstellungskatalog, Los Angeles, Getty Center, 13. 11. 2012–10. 02. 2013, hg. v. Christine Sciacca, Los Angeles 2012, S. 335–355, hier S. 347. 203 Tempera und Blattgold auf Holz, 182 cm x 249 cm, Inv. Nr. 8568. Die Datierung ist in der Signatur auf dem unteren Rahmen nicht vollständig erhalten geblieben, lesbar sind noch die Ziffern MCCCX: Symon presbiter sancti Florenti fecit pingi hoc opus a Pacino Bonaguide anno domini MCCCX[…]. In der Forschung besteht Einstimmigkeit darüber, dass das Werk vor 1330 entstanden ist. Als wahrscheinlich wird die Zeit 1315/1320 angesehen. Siehe dazu Richard Offner: A Critical and Historical
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Gestalt des Heiligen Bartholomäus im Polyptychon und Christi auf fol. 9 der Londoner Handschrift (Abb. 5 und 6) durch eine ruhige und doch bewegte Präsenz aus: Seiner Blickrichtung folgend vollzieht der Heilige Bartholomäus eine leichte Körperdrehung nach rechts, was durch den Schwung der Röhrenfalten seines Übergewandes, die entgegengesetzt zur Blickrichtung schräg fallen, wahrnehmbar wird. Da die Röhrenfalten zur Körperflanke hin als voluminösere Schüsselfalten ausgeformt sind und sich der Heilige zudem durch sein Stehen auf einem tiefenräumlich zu verstehenden Boden vom flächigen Goldgrund abhebt, scheint sich die Figur plastisch wie in einer Nische zu bewegen. Auch bei der Christus-Figur in den Regia Carmina, die im Dreiviertelprofil gegeben ist, wird Plastizität erzeugt durch tiefe Schüsselfalten. Indem sie die Form des gebeugten rechten Armes aufgreifen und gleichsam zurücklaufen zum tiefer liegenden linken Arm, wirkt der schräg gestellte Körper von der Fläche des Pergaments hervorgehoben. Dabei wird die ruhige Bewegung der monumentalen Gestalt nach rechts durch das nach hinten gesetzte Bein, das die diagonal zum Saum hin laufenden Röhrenfalten indizieren, angedeutet und dergestalt der Ernst des fixierenden Blickes und der dazugehörenden Gestik unterstrichen. Neben der verwandten Auffassung von Körperlichkeit zeigen die beiden Figuren zudem stilistische Analogien in den Gesichtern – solche werden noch augenscheinlicher in einer Gegenüberstellung der Polyhymnia auf fol. 30 und dem um 1310/1315 datierten Kruzifix-Fragment im Museo de Arte de Ponce204 (Abb. 7 und 8): Die dem Betrachter zugewandte Gesichtshälfte der im Dreiviertelprofil dargestellten Figuren ist in einem aufgehellten Inkarnat und mit Weißhöhungen gestaltet, wodurch Licht gekennzeichnet ist. Gleiches gilt für den vorderen Nasenrücken und Nasenflügel, der zudem durch einen in Schwarz gezogenen Halbkreis deutlich herausgestellt ist. Über die Formung der Nasenspitze hinaus wird dieser schwarze Zug zur Konturlinie, die den Übergang vom Nasenrücken zum hinteren Nasenflügel markiert und der Nase Plastizität verleiht. Die Konturlinie läuft in eine geschwungene Form aus, um schließlich die Augenbraue zu bilden. In ihrer monumentalen Anlage und stilistischen Ausarbeitung weisen die Figurendarstellungen aus Pacinos Werkstatt Bezüge zur Malerei Giottos und zu giottesken Mustern in der zeitgenössischen florentinischen Tafelmalerei auf. Offensichtlich wird dies unter anderem im Vergleich mit der sogenannten Peruzzi-Altarpala, die um 1309–1315 in Giottos Werkstatt entstanden ist (Abb. 9).205 Die Ikonographie der 1947 wieder zusamCorpus of Florentine Painting, Sect. 3, Vol. 2: The Fourteenth Century: Elder Contemporaries of Bernardo Daddi. A new edition with additional material, notes and bibliography by Miklós Boskovits, Florenz 1987, S. 142–149; Boskovits, A Critical and Historical Corpus of Florentine Painting, Sect. 3, Vol. 9, S. 48; zuletzt der Katalogeintrag in Sciacca (Hg.), Florence at the Dawn of the Renaissance, Nr. 21, S. 105–107 (Francesca Pasut). 204 Tempera und Blattgold auf Holz, 138,8 cm x 35 cm, Inv. Nr. 62.0259. Zu (ursprünglicher) Gestaltung wie Erhaltungszustand und den Fragen der Datierung und Zuschreibung siehe den aktuellen Forschungsbericht bei Sciacca (Hg.), Florence at the Dawn of the Renaissance, Nr. 19, S. 98–100 (Lauren Bradley, Bryan C. Keene, Yvonne Szafran). 205 Raleigh, North Carolina Museum of Art, Inv. Nr. 60.17.7, Tempera und vergoldeter Gips auf Holz, 105,7 cm x 250,2 cm. Zu den diskutierten Fragen der Zuschreibung und dem ursprünglichen Aufstellungsort (Peruzzi-Kapelle in Santa Croce in Florenz) siehe die Darstellung in Sciacca (Hg.), Florence at the Dawn of the Renaissance, Nr. 1, S. 24–28 (David Steel); vgl. Angelo Tartuferi
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mengefügten Altartafeln206 ist insofern bemerkenswert, als der segnende Christus auf der zentralen Tafel von der Jungfrau Maria und Johannes dem Täufer flankiert wird; denn sowohl das Motiv des segnenden Christus als zentraler Figur ist ungewöhnlich für Altartafeln der ersten Hälfte des Trecento als auch jenes der Deësis207; außen figurieren Johannes der Evangelist und der Heilige Franziskus. Wie eine Nebeneinanderstellung des segnenden Christus mit jenem auf fol. 4v der Regia Carmina zeigt (Abb. 10 und 11), weisen die Gesichter eine verwandte Form auf: Unter einer hohen Stirn liegen die mandelförmigen Augen, die markant gestaltet sind durch die schwarzen Konturlinien der Augenlider mit der eingeschlossenen weißen Bindehaut und der fixierend ausgerichteten Iris und Pupille. Die das Auge überfangenen Brauen formen die Nasenwurzel aus und gehen einseitig in eine Konturlinie über, die der Nase Plastizität verleiht, indem sie die Scheidewand zwischen dem beleuchteten und beschatteten Nasenflügel bildet. Mit der langen schmalen Nase korrespondiert schließlich der schmale Mund mit der farblich akzentuierten Ober- und Unterlippe, die durch eine schwarze Linie als solche herausgearbeitet sind. Zudem werden durch die farblich nuancierte Gestaltung des Bartes, der den Mund umfängt, die physiognomischen Unebenheiten der Kinn-, aber auch der Wangenpartie modelliert. Dass die beschriebenen Charakteristika insbesondere der Gesichter aus Pacinos Werkstatt giottesken Mustern der florentinischen Tafelmalerei entsprechen, wird schließlich unmittelbar einsichtig in einer Gegenüberstellung der Florentia auf fol. 13 der Regia Carmina mit der Jungfrau Maria in Bernardo Daddis Triptychon des J. Paul Getty Museums, das um 1330/1335 entstanden ist (Abb. 12 und 13).208 Die Modellierung der Gesichter entspricht dem zuvor Beschriebenen. Die Mitteltafel des Triptychons zeigt die seltene Ikonographie der Madonna del Parto, das heißt der schwangeren, hoffnungsfrohen Jungfrau Maria. Sie erscheint halbfigurig hinter einer Brüstung und neigt ihren Kopf in Richtung des aufgeschlagenen Buches, das sie in ihrer Linken hält. Der Text gibt den Beginn der Magnificat-Passage aus dem Lukasevangelium209 wieder (Magnificat anima mea Dominum. Et exsultauit spiritus meus in Deo salutari meo. Quia respexit), also Mariens dankenden Lobpreis Gottes hinsichtlich der gnadenhaften Empfängnis des Gottessohnes, so dass sich die Bedeutung der Ikonographie erschließt. Der Blick der Jungfrau
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(Hg.): L’eredità di Giotto. Arte a Firenze 1340–1375, Ausstellungskatalog, Florenz, Galleria degli Uffizi, 10. 06. 2008–02. 11. 2008, Florenz 2008, Nr. 1, S. 88–91 (Angelo Tartuferi). Zur Provenienz der einzelnen Tafeln und der Frage der ursprünglichen Form siehe aktuell Sciacca (Hg.), Florence at the Dawn of the Renaissance, Nr. 1, S. 24–28 (David Steel). Siehe dazu Millard Meiss: Painting in Florence and Siena after the Black Death. The Arts, Religion, and Society in the Mid-Fourteenth Century, Princeton 1951, S. 9; Julian Gardner: Giotto in America and Elsewhere, in: Italian Panel Paintings of the Duecento and Trecento, hg. v. Victor M. Schmidt, New Haven 2002, S. 161–181; Leonetto Tintori, Eve Borsook: Giotto. The Peruzzi Chapel, New York 1965. Tempera und Blattgold auf Holz, 121,6 cm x 113 cm, Inv. Nr. 93. PB. 16. Siehe dazu Richard Offner: A Critical and Historical Corpus of Florentine Painting, Sect. 3, Vol. 4: The Fourteenth Century: Bernardo Daddi, His Shop and Following. A new edition with additional material, notes and bibliography by Miklós Boskovits, Florenz 1991, S. 191–212; zuletzt Sciacca (Hg.), Florence at the Dawn of the Renaissance, Nr. 6, S. 42–45 (Bryan C. Keene). Lk 1, 46–55.
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scheint sich aber über das Buch hinaus in den Betrachterraum zu richten, gemäß der Geste ihrer rechten Hand, die über die fingierte Brüstung die Bildschwelle zu überschreiten scheint.210 Die Dignität Mariens, die durch die Feinheit ihres Gesichts und durch ihren Habitus samt der kostbaren Gewänder zum Ausdruck gebracht ist, findet sich in verwandter Form in der Figur der Florentia. So erscheint auch sie in einem kostbar ornamentierten Gewand, und ihre empfindsame Haltung, die ihre Vornehmheit unterstreicht, wird durch den transparenten Schleier, der ihr Haupt zart umfängt, anschaulich. Nicht zuletzt mag man die Entstehungszeit des Londoner Kodex um 1335/1336 aufgrund stilistischer Analogien zur Buchmalerei des Laudario der Compagnia di Sant’Agnese von Santa Maria del Carmine und des Antiphonars VII aus Santa Maria all’Impruneta in Florenz und deren zeitliche Nähe ableiten.211 Beide Handschriften wurden in Pacinos Werkstatt angefertigt, das Antiphonar (Florenz, Santa Maria all’Impruneta, Cod. VII) zwischen 1335 und 1340212, das heute zerschlagene Laudario der Compagnia di Sant’Agnese um 1340.213 Aus Letzterem sei das illuminierte Blatt zu Beginn des Hymnus zu Trinitatis (New York, The Pierpont Morgan Library, Ms. M. 742)214 dem thronenden Christus auf fol. 4v der Regia Carmina gegenübergestellt (Abb. 14 und 15): Beide Miniaturen zeigen den frontal thronenden Christus, dessen gleichartige Körper210 Siehe dazu Krüger, Bild als Schleier, S. 53–56, hier bes. S. 55 f.: „Die an Maria zur Erfüllung gebrachte Heilsverheißung, die der Text bekundet, verweist auf das heilsgeschichtliche Machtwirken Gottes und erhebt zugleich die Dargestellte zum Hoffnungsbild für den Gläubigen. An ihr manifestiert sich der innerweltliche Niederschlag der welttranszendenten Herrlichkeit und Erlösungskraft Gottes. Konkretisiert aber wird diese inhaltliche Botschaft durch die subtile Inszenierung des Bildes selbst als einer Schwelle, an der sich die Jungfrau aus ihrer himmlisch-unfaßlichen Sphäre, die der Goldgrund indiziert, den Blicken der Gläubigen darbietet und an der ihre Erscheinung vermittels ihrer Handreichung über die trennende Brüstung hinweg den Eindruck greifbarer, ja lebendiger und gleichsam sprechender Gegenwart erweckt“. 211 Vgl. Labriola, Aggiunte alla miniatura fiorentina, S. 6. Zur chronologischen Nähe des Laudario und des Antiphonars VII siehe Laurence B. Kanter u. a. (Hgg.): Painting and Illumination in Early Renaissance Florence. 1300–1450, Ausstellungskatalog, New York, Metropolitan Museum of Art, 17. 11. 1994–26. 02. 1995, New York 1994, S. 45. 212 Siehe dazu Tartuferi (Hg.), L’eredità di Giotto, Nr. 47, S. 192–194 (Ada Labriola). Zu den stilistischen Analogien der Miniaturen und denen der Regia Carmina siehe Labriola, L’eredità di Giotto nella miniatura fiorentina, S. 68; Labriola, Aggiunte alla miniatura fiorentina, S. 6 f. 213 Siehe zu diesem Boskovits, A Critical and Historical Corpus of Florentine Painting, Sect. 3, Vol. 9, S. 52 f.; Barbara Drake Boehm: The Laudario of the Compagnia di Sant’Agnese, in: Painting and Illumination in Early Renaissance Florence. 1300–1450, Ausstellungskatalog, New York, Metropolitan Museum of Art, 17. 11. 1994–26. 02. 1995, hg. v. Laurence B. Kanter u. a., New York 1994, S. 58– 80; Christine Sciacca: Reconstructing the Laudario of Sant’Agnese, in: Florence at the Dawn of the Renaissance. Painting and Illumination, 1300–1350, Ausstellungskatalog, Los Angeles, Getty Center, 13. 11. 2012–10. 02. 2013, hg. v. Christine Sciacca, Los Angeles 2012, S. 219–235 und den anschließenden Katalog zu Nr. 45, S. 237–281. 214 Pergament, 45,4 cm x 33,5 cm; Temperafarben und Blattgold. Siehe dazu Offner, A Critical and Historical Corpus of Florentine Painting, Sect. 3, Vol. 2, S. 209–213; Drake Boehm, The Laudario of the Compagnia di Sant’Agnese, S. 73, 75 f.; Cara Dufour Denison u. a. (Hgg.): The Master’s Hand. Drawings and Manuscripts from the Pierpont Morgan Library New York, Ausstellungskatalog, Basel, Museum Jean Tinguely, 21. 10. 1998–24. 01. 1999, Frankfurt am Main, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, 17. 02. 1999–02. 05. 1999, New York 1998, Nr. 120, S. 312 (Roger Wieck); zuletzt Sciacca (Hg.), Florence at the Dawn of the Renaissance, Nr. 45.16, S. 267 (Christine Sciacca).
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auffassung und Modellierung des den Unterkörper verhüllenden Gewandes augenscheinlich ist. Die Gestaltung des Faltenwurfs bringt eine außerordentliche Plastizität hervor, und es ist eben die künstlerische Erzeugung von Plastizität, die den beiden Figuren gemein ist. So wird in beiden die Frontalität der Pose aufgebrochen: Während Christus in den Regia Carmina seinen Oberkörper in einer unmerklichen Bewegung nach rechts wendet und diese erst durch den Gestus seiner erhobenen Hand sowie die Wendung seines Kopfes deutlich sichtbar wird, ist auf dem New Yorker Blatt der Kopf Christi leicht nach links gerichtet und der Blick seitwärts. So vermag der Maler in beiden Miniaturen durch die Bildlösung des – unterschiedlich stark ausgeprägten – Dreiviertelprofils die Physiognomie der Wangenpartie plastischer zu gestalten. Neben dem in Florenz angefertigten Kodex der Regia Carmina sind zwei erweiterte Abschriften der Londoner Handschrift überliefert, die heute in Wien (Österreichische Nationalbibliothek, Cod. ser. nov. 2639) und Florenz (Biblioteca Nazionale Centrale, Ms. Banco Rari 38) aufbewahrt werden.215 Auf diese sei hier nur hinsichtlich des Stellenwertes, der dem Werk des Convenevole – unter anderem – im Rahmen politischer Propaganda zuzusprechen ist, knapp hingewiesen. Die beiden Handschriften unterscheiden sich von dem Londoner Kodex darin, dass sie einen Anhang von vier illuminierten Folia enthalten mit einer disparaten mise-en-page hinsichtlich der Ikonotexte des Convenevole.216 Während unstrittig ist, dass es sich bei den beiden Handschriften in Wien und Florenz um Kopien des in London aufbewahrten Kodex handelt, werden Datierung und Lokalisierung in der Forschung kontrovers diskutiert.217 Diesbezüglich erscheint Karl215 Siehe zu beiden Handschriften die jüngst erschienenen Kommentarbände der neuen Faksimiles: Karl-Georg Pfändtner: Das Lobgedicht auf König Robert den Weisen von Neapel (Wien, ÖNB, Cod. Series nova 2639), Graz 2008; Convenevole da Prato: Regia Carmina. Panegirico in onore di Roberto d’Angiò, Commentario, Turin 2004; vgl. dazu Grassi, Il testo latino e la traduzione, S. 7; Ciatti, Le miniature, S. 19, 22. 216 Die Auffassung von Michael Stolz: Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter, Tübingen 2004, S. 76 f., Anm. 26, dass auch die Londoner Handschrift ursprünglich diesen Anhang enthalten habe, lässt sich weder anhand historischer Befunde noch an der überkommenen materialen Erscheinungsform des Kodex verifizieren. In der oberen Foliohälfte findet sich jeweils ein gerahmtes Bildfeld mit Bänken, auf denen jeweils zwei Personifikationen der Septem Artes Liberales sowie der Kardinal- und Theologaltugenden thronen. Zu ihren Füßen ist ihnen ein historisches exemplum zugeordnet. Gezeigt sei das fol. 33 der Wiener Handschrift mit der thronenden Iustitia, unter deren Füßen Nero iniustus zusammengesunken ist, sowie die Fortitudo mit dem am Boden kauernden Holofernes (Abb. 16). Die Texte unter den Miniaturen beinhalten Zitate des Heiligen Augustinus zu den Tugenden und Lastern sowie den Septem Artes Liberales. Diese zeigen eine weitgehende Übereinstimmung zu dem Milleloquium Veritatis Sancti Augustini, das in Neapel von Augustinus von Ancona (1243–1328) begonnen und von Bartolomeo da Urbino um 1330 vollendet wurde. Von Belang ist insbesondere, dass die Texte im Anschluss an die Augustinuszitate sechs Hexameter zu den Bildallegorien umfassen, in denen sie diese beschreiben und erläutern. Die Ikonographie rekurriert wohl auf ein heute verlorenes Fresko mit der Darstellung des Triumphes des Heiligen Augustinus, das um 1330/1340 im Umkreis der Augustiner-Eremiten entstanden sein muss. Siehe dazu und zur starken Rezeption dieses Bildprogramms Pfändtner, Das Lobgedicht auf König Robert, S. 14–16; von Schlosser, Giustos Fresken, S. 91–94; Dorothee Hansen: Das Bild des Ordenslehrers und die Allegorie des Wissens. Ein gemaltes Programm der Augustiner, Berlin 1995. 217 Degenhart/Schmitt, Corpus der italienischen Zeichnungen 1300–1450, Bd. 1,1, S. 55–58 lokalisieren alle drei Handschriften nach Neapel, wobei sie eine Differenzierung vornehmen zwischen dem Londoner und dem Wiener wie Florentiner Kodex. Während Ersterer im Stil toskanisch beein-
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Georg Pfändtners Argumentation schlüssig, die er in Rekurs auf Julius von Schlosser unlängst in seinem Kommentar zum Faksimile der Wiener Handschrift vorgebracht hat. Pfändtner zufolge „erscheint […] eine Entstehung der Wiener und der Florentiner Handschrift in Neapel noch vor dem Tod König Roberts von Anjou am wahrscheinlichsten. Hier war wohl das heute in London verwahrte Widmungsexemplar greifbar, das zusätzlich zur Wiener Handschrift auch für den Florentiner Codex als Vorlage verwendet worden ist, und nur hier kann man zu Lebzeiten des Königs Interesse an einer fast schon serienmäßig erscheinenden Weiterverbreitung der Propagandaschrift gehabt haben“218.
Die Wirkung der Bilderfindungen des Convenevole spiegelt sich insbesondere in deren Adaption durch den römischen Volkstribun Cola di Rienzo (1313–1354).219 Dessen Bildpropaganda war formal wie inhaltlich abhängig von den Ikonotexten des Convenevole.220 So ließ Cola di Rienzo unter anderem am römischen Senatorenpalast auf dem Kapitolsplatz 1347 ein allegorisches Wandbild anbringen, auf dem die monumentale Figur der Roma zu sehen war, die in schwarze Trauergewänder gehüllt und mit aufgelöstem Haar auf einem beinahe gesunkenen Schiff kniet und dabei die Arme vor der Brust gekreuzt hält. Daneben war unter anderem auf einer kleinen Insel die in Scham versunkene Personifikation der Italia dargestellt. Erhalten geblieben ist das Fresko nicht, jedoch durch eine Beschreibung in der Cronica des Anonimo Romano überliefert.221 Mit Blick auf Convenevoles Figuren der Italia und Roma werden die Analogien zwischen den beiden Werken unmittelbar einsichtig (Taf. 17 und 18): Die niedersinkende Italia zeigt sich beschämt und mit vor der Brust gekreuzten Armen, während die Roma ein schwarzes Trauflusst sei, zeigten Letztere einen neapolitanischen Stil. Vgl. Bernhard Degenhart, Annegrit Schmitt: Corpus der italienischen Zeichnungen 1300–1450, Bd. 2,2: Venedig. Addenda zu Süd- und Mittelitalien, Berlin 1980, S. 263 f. Ferdinando Bologna: I pittori alla corte angionina di Napoli 1266–1414, e un riesame dell’arte nell’età fridericiana, Rom 1969, S. 353 hingegen verneint eine Zuschreibung nach Neapel. Zur Forschungskontroverse um Zuschreibung und Datierung siehe Pfändtner, Das Lobgedicht auf König Robert, S. 48 f. 218 Pfändtner, Das Lobgedicht auf König Robert, S. 50. Vgl. von Schlosser, Giustos Fresken, S. 24. 219 Zu Cola di Rienzo siehe die neueren Monographien von Amanda Collins: Greater than Emperor. Cola di Rienzo (ca. 1313–54) and the World of Fourteenth-Century Rome, Ann Arbor 2002; Ronald G. Musto: Apocalypse in Rome. Cola di Rienzo and the Politics of the New Age, Berkeley 2003; zudem Gustav Seibt: Anonimo romano. Geschichtsschreibung in Rom an der Schwelle zur Renaissance, Stuttgart 1992, hier bes. S. 122–148; Konrad Burdach, Paul Piur (Hgg.): Briefwechsel des Cola di Rienzo, 1. Teil: Konrad Burdach: Rienzo und die geistige Wandlung seiner Zeit, Berlin 1928; Konrad Burdach, Paul Piur (Hgg.): Briefwechsel des Cola di Rienzo, 2. Teil: Kritische Darstellung der Quellen zur Geschichte Rienzos mit einer Abhandlung über die Briefsammlung Petrarcas, Berlin 1928. 220 Siehe dazu Belting, Das Bild als Text, S. 39–42; Sonnay, La politique artistique, S. 38; Marta Ragozzino: Le forme della propaganda. Pittura politica a Roma al tempo di Cola di Rienzo. Proposte per una ricerca, in: Roma moderna e contemporanea 6, 1998, S. 35–56; Serena Romano: L’immagine di Roma, Cola di Rienzo e la fine del medioevo, in: Arte e iconografia a Roma da Costantino a Cola di Rienzo, hg. v. Maria Andaloro, Serena Romano, Mailand 2000, S. 227–256, hier S. 236; von Schlosser, Poesia e arte figurativa, S. 87. 221 Anonimo Romano: Cronica. Edizione critica, hg. v. Giuseppe Porta, Mailand 1979 (Classici, Bd. 40), S. 150, 215–244. Siehe dazu Seibt, Anonimo romano.
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ergewand und gelöstes Haar trägt.222 Inwiefern diese Figuren – ähnlich wie später bei Cola di Rienzo – (bild)rhetorisch auf die Erneuerung des römischen Reiches durch einen it al ien i s c hen Kaiser, Robert von Anjou, zielen, wird im Folgenden auf der Ebene der politischen Ikonographie zu fragen sein.223 Daneben ist – in Analogie zu den Bildbeschreibungen des Anonimo Romano – das historische Bildverständnis zu erörtern, das in den Ikonotexten reflektiert wird. Denn während der Wert dieser Bildbeschreibungen darin besteht, dass sie aufgrund ihrer Anschaulichkeit und ihrem Blick fürs Detail Aufschluss geben über das Bildverständnis des historischen Betrachters, ist spiegelbildlich dazu nach der Modellierung bildlicher Evidenz in der Londoner Handschrift zu fragen.
222 Siehe zu den Personifikationen der Italia und Roma und deren literarischer Darstellung mit ihren politischen Implikationen Kap. 3.3. 223 Die Erneuerungsideen Cola di Rienzos sind prägnant dargelegt von Seibt, Anonimo romano, S. 144: „Die Verbindung spiritualistischer und römisch-imperialer Ideen ist nur möglich auf der Basis eines Geschichtsdenkens, das […] zu verlorenen Zuständen zurückkehren will: zur apostolischen Urzeit auf geistlicher, zum römischen Reich in seinem vollen Rechtsbestand auf weltlicher Ebene. In breve tiempo li Romani tornaraco allo loro antico buono stato, kündigte Rienzo vor seinem Umsturz an. Die reformatio- und renovatio-Ideen Colas meinen diesen Wiedergewinn einer mit utopischen Zügen ausgestatteten Vergangenheit, eines Zustands ursprünglicher Einheit, in dem neben dem Zwiespalt zwischen Papst und Kaiser auch der zwischen Christen und Heiden aufgehoben sein sollte“.
2. Repräsentation von Künsten und Herrschaft
2.1 Die Kommune als locus virtutis, in dem Künste entstehen Wenn das Werk des Convenevole als Regia Carmina („königliche Gedichte“) bezeichnet wird, so ist das nicht der Titel, den der Autor dem Werk gegeben hätte oder der jedenfalls bereits von Zeitgenossen schon benutzt worden wäre – zumindest ist diesbezüglich nichts überliefert. Erst die Forschung hat diesen Titel geprägt, dabei allerdings eine prominente Stelle der Handschrift aufgegriffen, dort, wo von Auftraggeber und Adressat die Rede ist. So heißt es auf fol. 24: Supplico pro uate, qui regia carmina cudit, / hec tua […] / exaudire uelis, que poscit nomine prati / […] rex pie […] /1 („Durch den Dichter, der diese dir [gewidmeten] königlichen Gedichte schmiedet […], flehe ich dich an, dass du das deutlich hören mögest, was er im Namen Pratos verlangt […], oh frommer König“).
Aus diesen Versen lässt sich schließen, dass die Kommune Prato den Auftrag zur Anfertigung dieses Panegyrikums erteilte, um es dem angevinischen König zu dedizieren, unter dessen Schutz sie stand.2 Demgemäß ist er auf fol. 10v in einer ganzseitigen Miniatur dargestellt (Taf. 16): König Robert thront in vollem Krönungsornat vor dem heraldischen Zeichen der Anjou, den goldenen Lilien auf blauem Grund.3 1 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24, Verse 27–30. 2 1313 hatte sich die Kommune Prato per Ratsbeschluss für fünf Jahre in die Signoria König Roberts von Anjou begeben und ihn zum rector, gubernator, protector et defensor et dominus terre prati et eius districtus gewählt (Prato, Archivio Comunale, Serie Comunale, Nr. 71, Diurnio 287, fol. 459–460v; vgl. ebd. fol. 443v/444, 456, 456v/457). Während die pratensische Kommune in der Folgezeit, von 1320–1325, unter florentinischem Schutz stand, unterstellte sie sich 1327 der Signoria Karls von Kalabrien, dem Sohn Roberts von Anjou. Dabei handelte es sich um eine signoria perpetua, so dass der Titel dominus et protector terre prati vererbbar war und die Kommune Prato somit zwangsläufig in die Signoria des Nachfolgers Karls von Kalabrien überging. Nach dem Tod Karls von Kalabrien 1328, mit dem die Abschaffung des Titels eines königlichen Vikars sowie die Wiederherstellung der alten Verfassung in Florenz einhergingen, ließ Robert von Anjou Prato durch florentinische Vikare regieren. Vgl. Robert Davidsohn: Geschichte von Florenz, Bd. 3, Berlin 1912, S. 771, 862; Fernand Braudel, Giovanni Cherubini: Prato. Storia di una città. Ascesa e declino del centro medievale (dal Mille al 1494), Bd. 2, Florenz 1991, S. 620–623. Als einzige zeitgenössische historiographische Aufzeichnung siehe Anonimo: Cronichetta inedita della prima metà del sec. XIV, contenuta nel cod. Magliabechiano XXV. 505, in: Pietro Santini: Quesiti e ricerche di storiografia fiorentina, Rom 1972 [Nachdruck Florenz 1903]. 3 Zum Zusammenhang des Werkes mit der Kommune Prato vgl. folgende Verse auf fol. 24v: Repperit inuidie, merens, obstacula seue / et stetit hucusque res imperfecta, dolore / non sine multiplici populi pratensis, et usque / nunc tenuit tacito super ore silentia muta / („Das Werk hat, tief betrübt, die Hindernisse des wütenden Neides erfahren und ist bis jetzt stehengeblieben als unvollendete Sache, zum vielfachen Schmerz des pratensischen Volkes, und es hat bis jetzt wegen des schweigsamen Mundes eine stumme Ruhe ge-
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Die in den genannten Versen zum Ausdruck gebrachte Verbindung der Kommune Prato und König Roberts von Anjou als dem zu preisenden Herrscher wird auf fol. 15v weiter bildlich-textuell ausgeformt (Taf. 22). In diesem Ikonotext4 repräsentiert das obere Gartenbild die Kommune Prato in etymologischem Rückgriff, wie die verweisenden Verse unter dem Bild verdeutlichen: Hic ortus, pratum siue campus, rex, tibi gratum / dat solamen: habe, quia uotum fert sine tabe. / 5 („Dieser Garten, Wiese oder Feld, gibt dir, König, angenehmen Trost: Nimm ihn an, weil er ein Gelöbnis [der Treue] ohne Makel trägt“).
Wie die blühende Wiese und der früchtetragende Baumbestand anzeigen, ist die Miniatur nach den Eigenschaften des Bezeichneten, der fruchtbaren sowie der blühenden Grünstelle – hic ortus, pratum siue campus – gestaltet.6 Augenscheinlich ist dabei, dass die Bäume die heraldischen Farben der Kommune Prato, Gelb und Rot, tragen. Des Weiteren wird durch die Verse, die in der Textkolumne links von den Miniaturen fixiert und diesen zugehörig sind, das tugendhafte Wesen der Kommune ausgeprägt: In diesen halten die sieben Tugenden eine Rede an König Robert, so dass das Gartenbild in der Imagination als von den Tugenden bevölkert und somit als Tugendgarten erscheint. Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die Verse, die dem bildlich vor Augen gestellten pratensischen Garten unmittelbar vorausgehen: significat pratum tibi nunc seruire paratum, / ut se concessit semper nec mente recessit. /7 („er bezeichnet, dass Prato nun bereit ist, dir zu dienen, wie es immer zugestanden und sich nie von seiner Absicht zurückgezogen hat“).
Diesem sprachlich hervorgebrachten Gelöbnis der Verbundenheit wird durch den auf fol. 23v nachfolgenden Ikonotext Nachdruck verliehen. In diesem (Taf. 32) stellt ein Fahnenträger dem Betrachter zwei Fahnen vor Augen: Während die ‚höher gestellte‘ und größere Fahne die regalia signa der Anjou zeigt, die goldenen Lilien auf blauem Grund in unendlichem Rapport, erscheint die ihr ‚unterstellte‘ in den heraldischen Farben Pratos, Gelb und Rot. Bei näherer Betrachtung wirkt diese durch Anordnung und Größe ausgestellte Hierarchisierung indes abgeschwächt, insofern die Fahnen auch als verschränkt gezeigt werden durch die Armhaltung ihres Trägers.8 Die durch die Arme des Fahnenträgers sinn-
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halten“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Verse 26–29. Dokumente, in denen die Kommune Prato als Auftraggeberin dieser Dedikationsschrift genannt ist oder denen sich eine andere Auftraggeberschaft entnehmen lässt, sind ebenfalls nicht tradiert. Vgl. zu diesem Ikonotext und den Semantiken dieses Abschnittes die eingehenden Ausführungen in Kap. 3.2. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 45 f. In analoger Weise ist die Kommune Florenz durch die untere Miniatur versinnbildlicht. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 41 f. Durch diese bildlich-textuelle Verschränktheit auf fol. 23v zeigt sich, dass mit der unteren Fahne nicht, wie wiederholt angenommen, die oriflamme bezeichnet oder nur auf diese angespielt ist. Dieser Ikonotext zeigt vielmehr eine offene Zeichenstruktur und stellt damit eine Polysemie aus. Zu Deutungs-
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fällig gemachte Verschränktheit der Kommune Prato mit der angevinischen Monarchie wird sprachlich ergänzt durch die Verse unmittelbar unter der Fahne mit den heraldischen Farben Pratos. In ihnen spricht die repräsentierte Kommune zu Robert von Anjou: Semper ego signa sequar et tua iussa benigna, / semper ubi digna secus amnes sunt sua signa, / ubere que plena sunt fructu sunt et amena, / est ubi septena uirtutum uiuida uena /9 („Ich werde immer [deinen] Zeichen folgen und deinen gütigen Befehlen, wo immer entlang der Ströme seine würdigen Zeichen sind [d. h. jene des Glaubens], die voll von Reichlichkeit und lieblich sind durch die Frucht, wo die kräftige Quellader der sieben Tugenden ist“).
Mit den letzten Versen wird nochmals, im Anschluss an das gemalte Bild des pratensischen Tugendgartens auf fol. 15v, das Bild Pratos als tugendhafter Ort sprachlich ausgeformt. Dass diese bildlich ausgestellte wie sprachlich betonte Tugendhaftigkeit nicht nur zu machtpolitischer Festigkeit führt, sondern gerade auch zur Hervorbringung tugendhafter künstlerischer Werke, verdeutlichen die im Folgenden zitierten Verse auf fol. 22v. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass das dedizierte künstlerische Werk aufgrund seiner erkenntnisstiftenden Art Liebe verdient und dass aus eben dieser Liebe zu Dichtung und Malerei die Einsichten des Königs bezüglich der Tugendhaftigkeit Pratos erwachsen. Das bedeutet schließlich, dass die Festigung des politischen Bündnisses des angevinischen Königreiches mit der Kommune letztlich aus dieser Qualität des Werkes erwächst. So lauten die Verse: Durabit pratum parens semper tibi gratum. / Dilige deuotum rex, ipsum pectore totum. / Mictet pauonem tibi, quo capiens rationem, / dignos ornandi doctos uirtutis amandi. / Quam quamuis noscas, per amorem cernere poscas. /10 („Prato wird dir immer gehorsam und dankbar bleiben. Liebe es, König, weil es selbst ganz demütig im Herzen ist. Es wird dir einen Pfau schicken, von dem du die Vernunft nimmst, die würdigen Gelehrten zu ehren und die Tugend zu lieben. Obwohl du sie kennst, sollst du verlangen, sie durch die Liebe vor Augen zu haben“).
Fixiert sind diese Worte um die kauernde Figur herum, die in der unteren rechten Ecke des fol. 22v figuriert (Taf. 30 und 31). Dabei handelt es sich um die letzten Verse des carmen dieses Folio, die somit dem in den Versen angesprochenen Pfau unmittelbar vorausgehen, der auf der gegenüberliegenden Rectoseite als gemalte Figur erscheint. Der Pfau erweist sich somit als Sinnbild der Regia Carmina.11 möglichkeiten dieser Fahne vgl. Alessandro Savorelli, Vieri Favini: Segni di Toscana. Identità e territorio attraverso l’araldica dei comuni. Storia e invenzione grafica (secoli XIII–XVII), Florenz 2006, S. 88–100. Zur Funktionalität historischer und imaginärer Wappen bei trecentesken Geschichtsschreibern vgl. Christoph Friedrich Weber: Exempla im Schilde führen. Zur Funktionalität „redender Wappen“ in der kommunalen Geschichtsschreibung des Trecento, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 11, 2006, S. 147–166, bes. S. 150 zum Problemfeld mit weiterführender Literatur. 9 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23v, Verse 13–16. 10 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22v, Verse 81–85. 11 In Bezug auf die Wirkung und damit den Wert des dedizierten Werkes vgl. die Worte der Muse Kalliope,
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Gleichsam besiegelt wird der bislang gebildete Zusammenhang von virtus und der Qualität des Werkes, indem in dem auf fol. 24 folgenden Ikonotext die Verschränkung von Auftraggeberin und Schöpfer des Werkes, von Kommune und Dichter, zum Ausdruck gebracht wird (Taf. 33). Denn zum einen bezeichnet die gemalte Figur des geharnischten Ritters auf dem Pferd mit seiner Zurschaustellung des heraldischen Zeichens der pratensischen Kommune, den goldenen Lilien auf rotem Grund, das Siegelbild der Kommune Prato12; zum anderen wird das carmen dieses Folio durch die topische Formel des causa iubet eingeleitet, das heißt des Motivs der Abfassung einer Schrift im Auftrag einer „gehorsamfordernden Autorität“. Das Siegelbild wird mithin zum Autorenbild.13 Dergestalt findet nicht nur eine bildlich-textuell modellierte Verbindung von Autor und Auftraggeberin statt – die zudem in der paarseitigen Bildanlage mit dem fol. 23v anschaulich wird, das den pratensischen Fahnenträger zeigt (Taf. 32 und 33). Der Autor verleiht vielmehr dadurch seinem Werk einen autoritativen Gehalt.14 So lauten die Verse, die links oben auf dem fol. 24 fixiert sind und damit den Beginn der Dichtung dieses Ikonotextes darstellen:
in denen die politische Wirkung des Werkes beschworen wird. Insofern ihre Rede zahlreiche Bescheidenheitstopoi aufweist und sie bezeichnenderweise zugleich auf fol. 30v das Werk beschließen, figuriert die Muse hier als Sprachrohr des Autors: Optima uox donat mea quod placet arte sonora: / delectando sonat, quia fit ratione decora. / Si tibi, rex, placuit sonus huius, queso, libelli, / gaudeo. Que potuit, fecit condulcia melli. / Si qua tuli fellis, fuit ex celleri properante / tempore, quo cellis rapit id grauitate morante. / Forsan defectus incuria prestitit atri / nubem […]. / […]. / Optima uox querit dici nam res sapienter. / Optima uox hec erit, cum fiunt digna libenter / […]. / Gaudeo sentiri, dum luminibus gero, flendo / que dant saluandi uotum, que dant pretiosa / premia letandi […] / („Meine ausgezeichnete Stimme schenkt mit ihrer klangvollen Kunst das, was gefällt: erfreuend erklingt sie, weil sie gemacht ist mit schicklicher Verfahrungsart. Wenn dir, oh König, ich frage, der Klang dieses kleinen Buches gefallen hat, freue ich mich. Es hat getan, was es konnte, dass es süßen Geschmack von Honig hat. Wenn ich Teile der Galle überbracht habe, war es durch den Umstand der Eile, in dem es vom Bienenstock den dort mit seinem Gewicht haftenden Honig löste. Vielleicht hat der Mangel an Sorgfalt eine Hülle des Dunklen gebracht […]. Denn die ausgezeichnete Sprache ist bestrebt, dass die Dinge weise gesagt werden. Ausgezeichnet wird diese Sprache sein, wenn die würdigen Taten gern geschehen werden […]. Ich freue mich, gehört zu werden, während ich die Dinge vor Augen stelle, die weinend den Wunsch geben, gerettet zu werden, die kostbare Preise der Fröhlichkeit geben“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 30v, Verse 1–18. 12 Weder ein Siegelabdruck noch ein wächsernes Siegel sind erhalten geblieben, Beschreibungen des pratensischen miles sind hingegen greifbar. Vgl. Giulio Giani: Dell’Arme di Prato, in: Archivio Storico Pratese 1 (2), 1917, S. 49–52, hier S. 49 f.; Giacomo C. Bascapé: Sigillografia. Il sigillo nella diplomatica, nel diritto, nella storia, nell’arte, Bd. 1: Sigillografia generale. I sigilli pubblici e quelli privati, Mailand 1969, S. 196, Anm. 23. Alessandro Savorelli stellt heraus, dass der geharnischte Ritter nicht – wie in der älteren heraldischen Forschung angenommen – das originäre Wappenzeichen der pratensischen Kommune ist. Er betont vielmehr die doppelte Zeichenhaftigkeit der Miniatur, die das kommunale Siegelbild wiedergibt: Während der miles das ursprüngliche Siegelbild der Parte Guelfa war, stellen die goldenen Lilien auf rotem Grund das ursprüngliche heraldische Kennzeichen der Kommune Prato dar. Savorelli/Favini, Segni di Toscana, S. 86 f.; vgl. Claudio Cerretelli: Sui pittori di stemmi e scudiccioli, in: Leoni vermigli e candidi liocorni, hg. v. Alessandro Pasquini, Prato 1992, S. 99–126, bes. S. 113–116. 13 Siehe dazu näher Kap. 2.4. 14 Zu diesem in der Literaturgeschichte fundierten Motiv siehe Curtius, Europäische Literatur, S. 94 f.; Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 1960, § 257.
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Causa iubet, quod sic in equo, rex, stem modo sessor / militis armati signi [!], sum namque professor / pratensis, referoque suam sic stando figuram. / Indulge fidei subiecte, respice puram / mentem, deflexam tibi semper ubique paratam. /15 („Die Sache befiehlt, dass ich dergestalt auf dem Pferd bin, König, auf diese Weise Reiter mit den Zeichen des bewaffneten Kriegers, weil ich pratensischer Professor bin, und so seiend stelle ich seine [d. h. Pratos] Gestalt dar. Sei gefällig zu der dargebrachten Treue, beachte den reinen Geist, dir immer zugeneigt und bereit“).
Indem diese Worte links vom Gesicht des Reiters geschrieben stehen, kommen sie gleichsam aus seinem Mund und binden sich bildlich unmittelbar an den angevinischen König. Denn dieser ist durch das heraldische Zeichen der goldenen fleur-de-lis auf blauem Grund auf fol. 23v repräsentiert, die dem Textblock direkt gegenüberstehen. So werden die Worte mittels des heraldischen Zeichens mit dem Bild König Roberts auf fol. 10v verbunden (Taf. 32 und 16). Mit fortschreitender Lektüre und Betrachtung erscheint der Autor gleichsam ‚wörtlich‘, das heißt bildlich, und zugleich bildhaft als ‚Mittler‘ zwischen der Kommune und dem König und damit gleichsam als Botschafter der Auftraggeberin. Lauten doch die ersten Verse des Textblockes, der bezeichnenderweise hinter dem Reiter fixiert ist: Supplico pro uate, qui regia carmina cudit, / hec tua […] / exaudire uelis, que poscit nomine prati / […] rex pie […] /16 („Durch den Dichter, der diese dir [gewidmeten] königlichen Gedichte schmiedet […], flehe ich dich an, dass du das deutlich hören mögest, was er im Namen Pratos verlangt […], oh frommer König“).17
Es hat sich mithin ein Sprecherwechsel vollzogen, der formal gekennzeichnet ist durch die einen neuen Passus markierende Initiale „S“ des supplico. Die Kommune Prato richtet nun also eine Rede an den König, in der sie aber explizit auf das Werk des Dichters und dessen Funktion als ‚Sprachrohr‘ verweist. Mit fortschreitender Rezeption der Handschrift steigert sich schließlich die Darstellung der Kommune Prato als tugendhafter Ort, in der infolgedessen Künste entstehen. Denn nachdem Prato durch den Ikonotext des fol. 15v sinnbildlich als Tugendgarten repräsentiert und sodann auf fol. 23v als Ort bezeichnet wurde, „wo die kräftige Quellader der sieben Tugenden ist“ (est ubi septena uirtutum uiuida uena)18, wird schließlich ein figürlicher Zusammenhang Pratos mit dem Parnass erfahrbar. Vor dem Hintergrund einer historisch veränderten Bedeutung des Parnass in zeitgenössischen dichtungstheoretischen Reflexionen, wie sie sich in Werken Dantes und Petrarcas zeigt – um nur die 15 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24, Verse 1–5. 16 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24, Verse 27–30. 17 Zum Horazischen Topos des „Schmiedens“ der Dichtung siehe Q. Horatius Flaccus Opera, hg. v. David R. Shackleton Bailey, München 42001 [1985] (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), Ars Poetica, Verse 438–441. 18 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23v, Vers 16.
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bekanntesten zu nennen –, verdichten sich hier erstmals jene Fragen, die im Zentrum dieser Arbeit stehen: Inwiefern wird die politische Ordnung Kommune als Nährboden für das Entstehen einer neuen Kunst aufgefasst? Hinsichtlich der Reflexion der Bedeutung der Wort- und Bildkunst für das Gemeinwesen, die in diesen Ikonotexten fassbar wird, sei in historischer Perspektivierung exemplarisch verwiesen auf Leonardo Brunis Oratio Funebris auf Nanni degli Strozzi von 1428. Bezeichnet Bruni hier doch Florenz als principatus der litterae studiaque in Italien und führt aus, dass das florentinische Gemeinwesen und dessen Regierungsform als der Nährboden für das Entstehen und Erblühen der modernen litterae in Florenz zu erachten sei.19 Darüber hinaus fragt sich: Inwiefern sind die Ikonotexte als kunsttheoretische Reflexionsfiguren modelliert, indem zeitgenössische dichtungstheoretische Diskurse mittels der gemalten Figuren zu kunsttheoretischen Diskursen transformiert werden? Und inwiefern wird so eine Kunsttheorie vor der kunsttheoretischen Traktatliteratur fassbar? In der Rezeption des fol. 28v und dessen ‚intraikonotextuellen‘ Bezügen zu den Folia 24 und 15v wird nun der Zusammenhang der Kommune Prato mit dem Parnass erfahrbar, indem sich die Figuren des Parnass und des paradiesgleichen Ortes verbinden. Spiegelt sich doch in der Darstellung des Parnass auf fol. 28v (Taf. 40) und deren semantischer Verschränkung mit den beiden genannten Ikonotexten der Gedanke der Rückkehr des Regnum Apollinis, an das die Rückkehr zum „augusteischen Zeitalter“ gebunden ist. Das heißt: Die allegorischen Ikonotexte reflektieren in Anklang an Vergils Vierte Ekloge die Erneuerung der Dichtkunst und die politische Erneuerung Italiens als die zwei Äste einer Entwicklung auf dem Nährboden der Kommune Prato. Das fol. 28v zeigt ein geflügeltes Ross vor einem Bergmassiv: Pegasus am Parnass respektive Helikon. Auf nahezu halber Höhe des Folio steht der rot-blau geflügelte Pegasus in bildparalleler Anordnung am Fuße des nach rechts hin steil aufragenden Gebirges, das als grau-grün schimmerndes, doppelgipfeliges Bergmassiv vor Augen gestellt ist. Dabei ist Pegasus im Begriff, mit beiden Vorderhufen aus dem zerklüfteten Berggestein die Quelle Hippokrene hervorzuschlagen. Dazu ist in der rechten der beiden Textkolumnen über dem Pegasus zu lesen: Iste fuit gratus fossor fontis pretiatus. / Hic fuit alatus, quo Perseus ille relatus, / Gorgona post cesam duce Pallade numine lesam. /20 („Dieser war der willkommene kostbare Ausgräber der Quelle. Er war der Geflügelte, von dem jener Perseus zurückgebracht wurde, nach der Tötung der Gorgona unter der Führung der in ihrer Göttlichkeit gekränkten Pallas“).21
19 Siehe dazu Hans Baron: The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny, Princeton 21966 [1955], S. 414–418. 20 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 28v, Verse 15–17. 21 In ikonologischer Hinsicht sei verwiesen auf Ovid: Metamorphosen V, 254–266, wo Pegasus als Ursprung der Quelle benannt ist (est Pegasus huius origo fontis) und Pallas Athene den Musen berichtet, dass sie gesehen habe, wie Pegasus aus dem Blut der Medusa entstanden sei: uidi ipsum materno sanguine nasci. P. Ovidi Nasonis Metamorphoses, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Richard John Tarrant, Oxford 2004 (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis), S. 134 f.
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Wesentlich ist hier zum einen, dass die „durch die Hufe des Pferdes Pegasus aufgewühlte Quelle“ am „großen göttlichen Fuß des Parnass“ verortet ist, wie es die Muse Klio nachfolgend kundtut; zum anderen, dass der Parnass demzufolge als Sitz Apollons erscheint, dem Gott des Lichtes und der Künste. So beginnt Klio ihre Rede mit folgenden Worten, die links oben auf fol. 29v fixiert und somit als unmittelbar dem doppelgipfeligen Gebirge zur Seite stehend zu denken sind22 (Abb. 2): Querende ratio sum lucis musa uocata. / Ingenii satio mecum querit, generata / fonte caballino Pegaseo calceque fosso / nataque diuino Parnasi sub pede grosso. /23 („Ich, die Maßregel der Suche des Lichtes, werde Muse genannt. Mit mir sucht die Saat der sinnreichen Erfindung, die erzeugt ist von der durch die Hufe des Pferdes Pegasus aufgewühlten Quelle und geboren am großen göttlichen Fuß des Parnass“).
Zuerst stellt die Muse fest, dass die Dichtung als Suche nach erhellender Wahrheit auf ihren Normen basiert, dann, dass mit ihr das ingenium einhergeht, die Begabung, die sie als „Saat der sinnreichen Erfindung“ umschreibt.24 Das ingenium ist erzeugt durch die Quelle Hippokrene, durch Pegasus hervorgebracht, und geboren am „großen göttlichen Fuß des Parnass“, was heißt, dass die Dichtung von Apollon abstammt, unter seinem Einfluss entsteht.25 Die Bedeutung Apollons für die Regia Carmina im Besonderen konkretisiert sich mit den beiden nachfolgenden Versen, in denen der Autor Klio als Muse der Geschichtsschreibung und Heldendichtung sprechen lässt: Rex, hec inueni, cupiens tibi nempe placere, / quorum sunt pleni sensus, quos nolo tacere. /26 („König, ich habe diese [Dinge] erfunden/gefunden, von denen die Gedanken voll sind, die ich nicht verschweigen möchte, natürlich im Wunsch, dir zu gefallen“).
Die Worte sind auf das Lobgedicht auf König Robert bezogen, so dass dessen Dichter an dieser Stelle nachdrücklich in Zusammenhang mit Apollon gebracht wird; nachdrücklich, weil der Autor durch den Ikonotext des vorausgehenden fol. 28v in ein analogisches Verhältnis zu Apollon gesetzt wurde. Lauten doch die Verse, die bezeichnenderweise unmittelbar über Pegasus geschrieben sind und in denen der Autor selbst spricht: Candidus, alatus equus est hic, est et rubicundus, / ut norit mundus quia, rex, es nempe beatus / ecclesie cultor, diuine laudis amator, / eius adorator et iustus sanguinis ultor. / At deitas sessor suus est: tu sis michi, uati / terrigene prati, solaminis, ergo professor, / et dator et pacis patrie pratensis amore, / cuius, rex, rore solio regnas modo pacis. /27 2 2 Siehe zur mutmaßlichen originären Anordnung der Ikonotexte Kap. 1.1. 23 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Verse 1–4. 24 Zu ingenium und inventio siehe näher Kap. 2.3. 25 Vgl. Francesco Petrarcas Collatio laureationis, wo Apollon als Gott der Dichter und als Gott der Einbildungskraft bezeichnet ist: Cum ergo Apollo poetarum deus haberetur […] et quem deum ingenii nuncupabant. Siehe Carlo Godi: La Collatio laureationis del Petrarca, in: Italia Medioevale e Umanistica 13, 1970, S. 1–27, 11, 15, S. 25. 26 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Vers 5 f. 27 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 28v, Verse 47–54.
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(„Ein blendend weißes, geflügeltes Pferd ist an dieser Stelle, und es ist (hoch)rot, weil die Welt weiß, dass du, König, wahrhaftig seliger Verehrer der Kirche bist, Liebhaber des göttlichen Ruhmes, sein Anbeter und gerechter Rächer des Blutes.28 Aber die Gottheit ist sein Reiter: Du seiest mir Trost, dem erdgeborenen Dichter Pratos und daher Lehrer, und Geber des Friedens aus Liebe zur pratensischen Heimat, auf dessen Thron, König, du allein regierst mit dem Tau des Friedens“).
Augenscheinlich ist, dass durch das bildlich-textuell evozierte Bild des (hoch)roten und berittenen Pegasus ein ‚intraikonotextueller‘ Bezug zum fol. 24 aufgerufen und damit ein analogisches Verhältnis sinnfällig wird (Taf. 33 und 40): So, wie der reitende Ritter auf dem roten Pferd des Siegelbildes Pratos als Figur des Dichters erscheint, zeigt sich der Pegasus im Vorstellungsbild des lesenden Betrachters als (hoch)rot und von der Gottheit geritten. Diese bildhafte in Beziehung Setzung von Dichter (uates) und Gottheit (deitas) wird durch die sich unmittelbar anschließenden Worte konkretisiert: […] tu sis michi, uati / terrigene prati, solaminis, ergo professor / 29.
Denn diese lassen sich zum einen als invocatio, als Anrufung des Dichters an die Gottheit auslegen; zum anderen werden die beiden Ikonotexte insbesondere durch den vates-Begriff30 verflochten: Während dieser auf fol. 24 neben der Erwähnung des Status des pratensischen Lehrers als Bezeichnung an den Reiter gebunden ist – sum professor pratensis sowie uate, qui regia carmina cudit – richtet sich der Autor auf fol. 28v mit den Worten uati terrigene prati, solaminis, ergo professor an die reitende Gottheit. Dergestalt zeigt sich der vates der Regia Carmina mit Apollon, dem mythologischen Gott der Künste, als der „Gottheit“ und Pegasus verbunden. Mit Blick auf die Kommune Prato heißt dies: Als Ort ist sie über die Figur des vates respektive pratensischen Lehrers mit dem Ort Parnass in ein figürliches Verhältnis gesetzt.31 28 Hier resultiert die Röte des Pferdes nicht aus dem Blut der Medusa, aus dem es dem Mythos nach entstanden ist, sondern deutet auf den Kreuzestod Christi hin, in dem sich die göttliche Liebe offenbart. Dass das Ross hier eine christianisierte Bedeutung hat, zeigen bereits die unmittelbar vorausgehenden Verse an, die direkt in der Textspalte über den in Rede stehenden Versen fixiert sind. 29 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 28v, Vers 51 f. 30 Zum vates-Begriff vgl. Kap. 2.3. 31 Vgl. Francesco Petrarca: L’Africa. Edizione critica, hg. v. Nicola Festa, Florenz 1926 (Edizione nazionale delle opere di Francesco Petrarca, Bd. 1), I, 1–16, S. 3 f., mit der Darstellung von Vaucluse in Verschränkung mit Helikon und Parnass zur Bezeichnung neuer dichterischer Kraft: Et michi […], / Musa, […] referes, […] / […]. / Hunc precor exhausto liceat michi sugere fontem / Ex Elicone sacrum, dulcis mea cura, Sorores, / Si vobis miranda cano. Iam ruris amici / Prata quidem et fontes vacuisque silentia campis / Fluminaque et colles et apricis otia silvis / Restituit Fortuna michi: vos carmina vati / Reddite, vos animos. Tuque, o certissima mundi / Spes superumque decus, quem secula nostra deorum / Victorem atque Herebi memorant, quem quina videmus / Larga per innocuum retegentem vulnera corpus, / Auxilium fer, summe parens. Tibi multa revertens / Vertice Parnasi referam pia carmina, si te / Carmina delectant; […] / („Auch mir wirst du, Muse, künden […]. Laßt mich Dürstenden bitte aus dieser heiligen Quelle des Helikon trinken, ihr meine süße Sorge, Schwestern, wenn ich denn Dinge besinge, die euch bewundernswert scheinen! Schon hat das Schicksal mir ja meine geliebten ländlichen Wiesen wiedergegeben, die Quellen und die Stille des freien Feldes, die Flüsse und Hügel und die Ruhe sonnendurchfluteter Wälder – ver-
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Dass mit der „Gottheit“ (deitas) zuvorderst Apollon bezeichnet ist und nicht Christus32, ergibt sich textimmanent aus der Konjunktion at („aber“), welche die Formulierung „die Gottheit ist sein Reiter“ einleitet: At deitas sessor suus est. Denn da sie syntaktisch gesetzt wird zur Anknüpfung eines verschiedenen, aber nicht völlig entgegengesetzten Gedankens, weist sie darauf hin, dass hier mit deitas nicht vorderhand Christus bezeichnet ist, von dem in den vorausgehenden Versen die Rede war: Fidus equus, cursus albus, de monteque rursus / edit Iordanem, doctrine corpore panem / de proprio uite, se prebuit ipseque mite: / confert per rorem uinumque suumque cruorem. / Belliger hic fortis prostrauit prelia mortis, / affixus clauis cruce, que nunc est sacra nauis. /33 („Das treue Pferd, weißes Ross, ließ andererseits vom Berg den Jordan heraussprudeln, das Brot der Lehre, [entspringend] vom eigenen Lebenskörper, und es selbst zeigte sich sanft: Es reicht durch den Tau den Wein dar, das heißt sein Blut. Dieser starke Krieger warf die Angriffe des Todes nieder, angeheftet mit Nägeln am Kreuz, das nun das heilige Schiff ist“).34
Mit der reitenden Gottheit ist Apollon bezeichnet; die Dichtkunst entsteht unter seinem Einfluss. Sind doch der Klio zufolge ingenium und inventio als Elemente der Dichtkunst an Pegasus und Hippokrene gebunden. Dies bedeutet wiederum: Anhand der Figur des Pegasus am Parnass mit dem reitenden Apollon wird versinnbildlicht, dass es sich bei den Regia Carmina um ein poetisches Werk handelt, das des Vermögens und Gebrauchs der Kunst bedarf und somit dichterischer Inspiration durch den Gott der Künste. Dabei leiht ihr nun dem Dichter wieder seinen Gesang und seines Geistes Kraft! Und du, o gewisseste Hoffnung und höchste Zier der Welt, den unsere Zeitläufe als Sieger über die Götter wie auch die Unterwelt kennen und der uns fünf klaffende Wunden an seinem unschuldigen Körper sehen läßt, schenke mir deine Hilfe, höchster Vater! Bei meiner Rückkehr vom Gipfel des Parnaß will ich dir viele fromme Gesänge darbringen, wenn dich denn Gesänge erfreuen“). Übersetzung aus Francesco Petrarca: Africa. Lateinisch – Deutsch, hg., übers. und mit einem Nachwort von Bernhard Huss und Gerhard Regn, Mainz 2007 (excerpta classica, Bd. 24), S. 9. Vgl. zu Vaucluse als Helikon im Dienste der Selbstdarstellung Petrarcas Wolf-Dietrich Löhr: Lesezeichen. Francesco Petrarca und das Bild des Dichters bis zum Beginn der Frühen Neuzeit, Berlin 2010, S. 222–227. 32 In den Göttermoralisationen, die zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstanden sind, wurde Apollon mit Christus gleichgesetzt. So in John Ridewalls Fulgentius Metaforalis, in dem Apollon die veritas repräsentiert, als die sich Christus bezeichnet hat. Siehe Hans Liebeschütz: Fulgentius Metaforalis. Ein Beitrag zur Geschichte der antiken Mythologie im Mittelalter, Leipzig 1926 (Studien der Bibliothek Warburg, Bd. 4), S. 31–41; Beryl Smalley: English Friars and Antiquity in the Early Fourteenth Century, Oxford 1960, S. 110–132. Vgl. dazu Petrus Berchorius: Reductorium morale, Liber XV: Ovidius moralizatus, cap. I, De Formis Figurisque Deorum. Textus e codice Brux., Bibl. Reg. 863–9 critice editus, Werkmateriaal (3), hg. v. Joseph Engels, Utrecht 1966, S. 21 mit der Deutung des Apollon als veritas. 33 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 28v, Verse 18–23. 34 Vgl. dazu Francesco Petrarca: Bucolicum Carmen, Kommentar zu I, 62–66 in Cod. 33 Plut. 52 der Biblioteca Laurenziana in Florenz: […] seu iohannes batista […] lavit appollineos artus ad ripam nitentis fluminis, idest batticavit cristum in ipso iordane. qui cristus, poetice loquendo, dicitur appollo, idest deus sapientie. Zit. nach Francesco Petrarca: Il bucolicum carmen e i suoi commenti inediti, hg. v. Antonio Avena, Padua 1906, S. 173. Die christologisch-ekklesiologischen Implikationen dieses Ikonotextes setzen sich unterhalb der Miniatur fort, indem die dort geschriebenen Verse Christus als Erlöser der Menschheit thematisieren. Vgl. dazu die ikonographisch-ikonologischen Ausführungen von Elisabeth Schröter: Die Ikonographie des Themas Parnass vor Raffael. Die Schrift- und Bildtradition von der Spätantike bis zum 15. Jahrhundert, Hildesheim 1977, S. 213–216.
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wird die gesellschaftliche und politische Bedeutung der Wort- und Bildkunst durch die invocatio herausgestellt: […] tu sis michi, uati / terrigene prati, solaminis, ergo professor / et dator et pacis patrie pratensis amore, / cuius, rex, rore solio regnas modo pacis. / 35
Denn Apollon gibt dem Dichter in der politisch leidvollen Lage Zuspruch durch göttliche Inspiration, die die „königlichen Gedichte“ mit ihrem persuasiven und demzufolge performativen Potential erst ermöglicht. Insofern diese im Auftrag Pratos verfasst werden, sind es zum einen die göttliche Kraft als Ursprung der Dichtung und zum anderen die pratensische Liebe des Friedens, die durch den Dichter im Lobgedicht medial gebunden sind und so den ersehnten Frieden bedingen. Dass die Kommune in ihrer Tugendhaftigkeit nicht nur Frieden hervorbringt, sondern auch Nährboden ist für die vom Frieden begünstigten und ihn befördernden Künste, wird dann im Bild erneut verdichtet: in der Miniatur des fol. 15v. Denn in dieser ist Prato im bibelhermeneutisch-typologischen Sinn als vorausdeutende figura des zukünftigen Friedens Italiens versinnbildlicht und zugleich als Ort der Künste, insofern die Figur des Gartenbildes als Reflexionsfigur der Bild- und Wortkunst modelliert ist. In literarhistorischer Kontextualisierung lässt dieser Zusammenhang an Dantes Anrufung Apollons im ersten Gesang des Paradiso der Divina Commedia denken. Denn in dieser wird Apollon als divina virtù bezeichnet, die das Vermögen gibt, den glückseligen Zustand auf ruhmvolle, das heißt kunstvolle, Weise darzustellen. Dabei ist gleich zu Beginn die Qualität der Inspiration herausgestellt, die dem Dichter durch Apollon eingegeben ist. So lauten die Verse 13–36: O buono Appollo, a l’ultimo lavoro / fammi del tuo valor sì fatto vaso, / come dimandi a dar l’amato alloro. / Infino a qui l’un giogo di Parnaso / assai mi fu; ma or con amendue / m’è uopo intrar ne l’aringo rimaso. / Entra nel petto mio, e spira tue / sì come quando Marsïa traesti / de la vagina de le membra sue. / O divina virtù, se mi ti presti / tanto che l’ombra del beato regno / segnata nel mio capo io manifesti, / vedra’mi al piè del tuo diletto legno / venire, e coronarmi de le foglie / che la materia e tu mi farai degno. / Sì rade volte, padre, se ne coglie / per trïunfare o cesare o poeta, / colpa e vergogna de l’umane voglie, / che parturir letizia in su la lieta / delfica deïtà dovria la fronda / peneia, quando alcun di sé asseta. / Paca favilla gran fiamma seconda: / forse di retro a me con miglior voci / si pregherà perché Cirra risponda /36 („O edler Apollon, mach mich fürs letzte Werk so zum Gefäß deiner Kraft, wie du’s verlangst, um den geliebten Lorbeer zu gewähren. Bis hierher war mir das Joch des Parnass genug; doch nun bedarf es beider, um auf dem verbliebenen Feld in die Schranken zu treten. Tritt ein in meine Brust und gib mir Atem, so wie du Marsyas aus der Hülle seiner Glieder löstest. O göttliche Kraft, wenn du dich so weit mir vergönnst, dass ich das Schattenbild des glückseligen Reiches kundtun kann, wie es sich meinem Kopf eingeprägt hat, dann wirst du sehen, wie ich 35 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 28v, Verse 51–54. 36 Dante Alighieri: La Divina Commedia, Paradiso, hg. v. Anna Maria Chiavacci Leonardi, Mailand 2009 [Nachdruck von 1994] (Oscar grandi classici, Bd. 117), S. 15–20.
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zum Fuß deines geliebten Baumes komme und mich mit dem Laub bekränze, das ich dem Stoff und das ich dir verdanke. So selten nur, Vater, pflückt sich ja ein Herrscher oder Dichter siegreich davon ab – Schuld und Schande menschlichen Strebens! Das peneische Laub müsste doch, wenn es noch einem danach dürstet, bei dir heiterer delphischer Gottheit Freude hervorrufen. Kleiner Funke entfacht großen Brand: Vielleicht wird man nach mir mit besseren Stimmen beten, damit der Gott von Cirrha darauf eingeht“)37.
Bedeutsam für den Zusammenhang von politischer Erneuerung Italiens und Erneuerung der Künste wie Regnum Apollinis ist, dass im weiteren Verlauf der Verse die Anrufung Apollons zum einen verschränkt ist mit der Vorstellung vom Lorbeer als Preis dichterischer Anstrengung; zum anderen, dass an sie der Zusammenhang zwischen den Dichtern und den besungenen Herrschern gebunden ist.38 Den Lorbeer scheint dann auch Convenevoles Klio im Sinn zu haben, so dass die Wiederaufnahme der Dichterkrönung mit dem Lorbeer zur Entstehungszeit der Regia Carmina ins Blickfeld rückt.39 Zu memorieren ist in diesem Zusammenhang die Ansprache der Muse: Rex, hec inueni, cupiens tibi nempe placere, / quorum sunt pleni sensus, quos nolo tacere. / Scilicet unde tui possunt sentire uirorem, / si quem precipui fructus referuntque decorem. / 40 („König, ich habe diese [Dinge] erfunden/gefunden, von denen die Gedanken voll sind, die ich nicht verschweigen möchte, natürlich im Wunsch, dir zu gefallen. Wovon dein [Geist] natürlich das Grün wahrnehmen kann, wenn die vorzüglichen Früchte damit die Anmut zurückbringen“).
Zum einen ist also die Erneuerung der Dichtkunst angezeigt durch die zurückgekehrte Anmut, die wiederum das wahrnehmbare „Grün“ bedingt. Angesichts des zeitgenössischen Diskurses der Dichterkrönung kann das „Grün“ durchaus als Bezeichnung für den Lorbeer verstanden werden; gerade auch, weil in den Worten der Klio zum anderen der 37 Dante Alighieri: La Commedia / Die Göttliche Komödie, Bd. III Paradiso / Paradies. Italienisch – Deutsch, in Prosa übers. und komm. v. Hartmut Köhler, Stuttgart 2011, S. 15, 17. 38 Vgl. als Rekurs P. Papini Stati Achilleis, hg. v. Aldo Marastoni, Leipzig 1974 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), I, 15 f., S. 1 f.: […] cui geminae florent vatumque ducumque / certatim laurus […] /. 39 Verwiesen sei hier auf die Korrespondenz Dantes mit Giovanni del Virgilio, die Dichterkrönung des Historikers Albertino Mussato im Jahre 1315 sowie insbesondere jene Francesco Petrarcas durch Robert von Anjou auf dem römischen Kapitol 1341. Erwähnt sei hier auch, dass Convenevole die Dichterkrönung zugeschrieben wird; insbesondere durch die ältere, aber auch die jüngere Forschung, obschon eine solche Zuschreibung anhand des überlieferten Quellenmaterials nicht belegbar ist; vgl. Giani, Ser Convenevole da Prato, S. 84. Als Gewährsmann dient dabei Francesco Petrarca: Rerum Senilium Libri, XIII–XVIII, hg. v. Ugo Dotti, Felicita Audisio, Elvira Nota, Mailand 2010, XVI, 1, S. 2062, der in diesem Brief an Luca de Penna schreibt, dass die Bürger Pratos Convenevole bei dessen Begräbnis post mortem mit dem Lorbeer gekrönt hätten: […] oratus a civibus suis, qui ad sepulturam illum, sero quidem laureatum, tulerant […]. Siehe u. a. Mehus, Historia litteraria florentina, S. 195; Girolamo Tiraboschi: Storia della letteratura italiana, Bd. 5, Teil 2, Venedig 1795, S. 597 f.; Ernest H. Wilkins: The Coronation of Petrarch, in: Speculum 18, 1943, S. 155–193; Pasquini, Convenevole da Prato, S. 566; Grassi, Il testo latino e la traduzione, S. 9. 4 0 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Verse 5–8.
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Aspekt der politischen Erneuerung sinnfällig wird. Richtet sie doch als rühmende Muse der Geschichtsschreibung und Heldendichtung diese Worte an den König, von dem die Erneuerung Italiens im und durch das erdichtete Werk erhofft wird.41 Dass die Erneuerung der Dichtkunst an die Rückkehr des Regnum Apollinis gebunden ist, wird im Ikonotext des fol. 28v gezeigt. Gleich zu Beginn dieses carmen führen Worte imperativisch die novitas der Dichtung herbei. Ihren Ursprung hat die erblühende, durch die „neuen Musen“ (musarum nouarum) inspirierte Dichtung dabei in der Quelle am „großen göttlichen Fuß des Parnass“, ist also apollinischen Ursprungs. So heißt es mit Beginn der linken Textspalte oberhalb der bildlichen Darstellung: Cephyre dux, flores duc de Caliope meliores, / ymbres da uernos rores de fonte supernos! / Xenia musarum perfla nunc ore nouarum / […]! / 42 („Führer Zephir, führe bessere Blumen von Kalliope herbei, gib Frühlingsregen, himmlischen Tau aus der Quelle! Hauche nun mit dem Mund Geschenke der neuen Musen aus […]!“).
Mit dem Frühling, der Quelle, den durch den Westwind herbeigeführten Blumen wird ein paradiesischer Ort hervorgerufen, so dass diese Verse gleichsam als Mittler zum zweiten Ast der Entwicklung erscheinen: der politischen Erneuerung Italiens und dessen glückseligem Zustand. Dass das sprachlich vermittelte Bild des paradiesischen Ortes die Vorstellung vom goldenen Zeitalter impliziert, erschließt sich nicht nur durch intertextu 41 Vgl. Dante Alighieri: La Divina Commedia, Purgatorio, hg. v. Anna Maria Chiavacci Leonardi, Mailand 2009 [Nachdruck von 1994] (Oscar grandi classici, Bd. 117), XXII, 64–78, S. 648–651, insofern der Parnass sowohl für die antike Poesie steht als auch mit dem goldenen Zeitalter unter Kaiser Augustus in Verbindung gebracht ist. So lässt Dante Statius folgende Worte zu Vergil sprechen: Ed elli a lui: “Tu prima m’invïasti / verso Parnaso a ber le sue grotte, / e prima appresso Dio m’alluminasti. / […] / quando dicesti: ‘Secol si rinova; / torna giustizia e prima tempo umano, / e progenïe scende da ciel nova‚. / Per te poeta fui, per te cristiano: / ma perché veggi mei ciò ch’io disegno, / a colorare stenderò la mano. / Già era ’l mondo tutto quanto pregno / de la vera credenza, seminata / per li messaggi de l’etterno regno /. („Und er zu ihm: ‚Als erster hast du mich ermutigt, in den Grotten des Parnass zu trinken, und hast als erster mir auch den Weg zu Gott erleuchtet. Du hast gehandelt wie einer, der in der Nacht geht und die Fackel hinter sich trägt, von der er selbst nichts hat, doch die die Menschen nach ihm erleuchtet, da, wo du sagtest: ‚Das Zeitalter wird neu, Gerechtigkeit kehrt wieder und die erste Zeit des Menschen, und ein neues Geschlecht steigt herab vom Himmel.‘ Durch dich wurde ich Dichter, durch dich auch Christ. Doch damit du besser verstehst, was ich hier zeichne, will ich noch Farben dazunehmen: Die Welt war schon ganz erfüllt vom wahren Glauben, den die Boten des ewigen Reiches ausgesät hatten‘“). Übersetzung aus Dante Alighieri: La Commedia / Die Göttliche Komödie, Bd. II Purgatorio / Läuterungsberg. Italienisch – Deutsch, in Prosa übers. und komm. v. Hartmut Köhler, Stuttgart 2011, S. 435, 437. Vgl. dazu Francesco Petrarcas Collatio laureationis, in der er sein Bestreben darlegt, den öden und verlassenen Parnass zu erklimmen, und herausstellt, dass es einst eine Zeit gab, die für die Dichter eine glücklichere war: die Zeit der Herrschaft des Kaiser Augustus, unter dem die herausragenden Dichter aufblühen konnten: Fuit enim quoddam tempus, fuit etas quedam felicior poetis, quando in honore maximo habebantur. In Grecia primum, deinde in Ytalia, et presertim sub imperio Cesaris Augusti, sub quo vates egregii floruerunt. Siehe Godi, Collatio laureationis, 4, 2 f., S. 16, siehe auch 5, S. 16 f.; Francesco Petrarca, L’Africa, IX, 458 f., S. 278, wo Petrarca seine Hoffnung auf eine glücklichere Zeit im Bild des Helikon ausdrückt, der in neuem Grün und mit Lorbeerbäumen erscheinen wird: Tunc Elicona nova revirentem stirpe videbis, / Tunc lauros frondere sacras; […] /. 42 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 28v, Verse 1–3.
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elle Bezüge43, sondern sie gelangt in den gemalten Bildern des fol. 15v zu sinnfälliger Anschauung (Taf. 22). Das heißt: Auf fol. 15v, das bezeichnenderweise den Nukleus der Handschrift bildet, verdichtet sich im Medium der Malerei der zentrale künstlerische und politische Anspruch des Lobgedichtes: Die Bilder stellen das Postulat der Erneuerung der Künste und der politischen Erneuerung Italiens sinnfällig vor Augen. Denn in den beiden Miniaturen, die epideiktisch als pratum und floretum bezeichnet sind, ist der Topos der Haine und Wiesen als Ort der Musen und damit der Dichter zur Anschauung gebracht44, so dass Prato und Florenz sinnbildlich als Ort der Künste erscheinen. Zugleich erscheinen die gemalten Gartenbilder als Sinnbilder der beiden Kommunen und als typologische figura. Dergestalt ist ihnen die Errichtung eines friedlichen Reiches unter der Herrschaft Roberts von Anjou als heilsgeschichtliches Ereignis eingeschrieben.45 Die Vorstellung vom goldenen Zeitalter, die sich in den Bildern des fol. 15v spiegelt, legt eine Lektüre der Vierten Ekloge Vergils nahe: Bekanntlich verkündet Vergil zu Beginn die Geburt eines Knaben, mit der das Kommen einer neuen Epoche, des goldenen Zeitalters, einhergeht46 und entwirft eine Welt im paradiesischen Zustand: 43 Vgl. P. Ovidi Nasonis Metamorphoses, I, 107 f., S. 5, wo es zum goldenen Zeitalter heißt, dass ewiger Frühling herrschte und Westwinde mit lauen Lüften Blumen streichelten, die ungesät entsprossen waren: uer erat aeternum, placidique tepentibus auris / mulcebant Zephyri natos sine semine flores /. Dante Alighieri, Divina Commedia, Purgatorio, XXVIII, 139–144, S. 845 f., wo das irdische Paradies in Zusammenhang gebracht ist mit dem Parnass und dem goldenen Zeitalter. Denn Matelda, die Personifikation der Glückseligkeit, äußert während ihrer Führung Dantes, Vergils und Statius’ durch das irdische Paradies: Quelli ch’anticamente poetaro / l’età de l’oro e suo stato felice, / forse in Parnaso esto loco sognaro. / […] / qui primavera sempre e ogne frutto; / nettare è questo di che ciscun dice. / („‚Die in der Antike einst das Zeitalter des Goldes und seinen glückseligen Zustand besangen, dachten sich vielleicht den Ort dafür auf dem Parnass aus. […]; dort herrschte immer Frühling, und es gab jede Frucht. Nun: Der Nektar, von dem alle sprachen, ist das Wasser dieser Flüsse.‘“). Übersetzung aus Dante Alighieri, La Commedia / Die Göttliche Komödie, Bd. II Purgatorio / Läuterungsberg, S. 563. 4 4 Vgl. Giovanni Boccaccio: Genealogie deorum gentilium, hg. v. Vittorio Zaccaria, Bd. 1, Mailand 1998 (Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, Bd. 7/8,1), VII, 14 (De nynphis in generali), S. 740, wo er von den Hainen der Nymphen spricht: pratorum atque florum nynphas. Zur Gleichsetzung von Nymphen und Musen siehe u. a. P. Vergili Maronis Opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Roger A. B. Mynors, Oxford 1969 (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis), Eclogae, VII, 19–21, S. 18 und Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum libri XX, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis), VIII, xi, 96, o. S. Vgl. auch P. Ovidi Nasonis Metamorphoses, V, 265 f., S. 135, wo Pallas Athene die Haine der altehrwürdigen Wälder betrachtet, die Grotten und die verschiedenen Gräser mit zahllosen Blumen: sil uarum lucos circumspicit antiquarum / antraque et innumeris distinctas floribus herbas /. 45 Siehe dazu eingehend Kap. 3.2. 4 6 P. Vergili Maronis Opera, Eclogae, IV, 7–10, S. 10: iam noua progenies caelo demittitur alto. / tu modo nascenti puero, quo ferrea primum / desinet ac toto surget gens aurea mundo, / casta fave Lucina: tuus iam regnat Apollo /. Vgl. P. Vergili Maronis Opera, Aeneis, VI, 791–794, S. 252: hic uir, hic est, tibi quem promitti saepius audis, / Augustus Caesar, diui genus, aurea condet / saecula qui rursus Latio regnata per arua / Saturno quondam […] / („Der aber hier ist der Held, der oft und oft dir verheißen, Caesar Augustus, der Sproß des Göttlichen: Goldene Weltzeit bringt er wieder für Latiums Flur, wo einstens Saturnus herrschte“). Übersetzung aus Vergil: Aeneis. Lateinisch – Deutsch, hg. und übers. v. Johannes Götte, München 6 1983 [1958] (Sammlung Tusculum), S. 265, 267. Zur Vorstellung des goldenen Zeitalters bei Vergil vgl. Inez Scott Ryberg: Vergil’s Golden Age, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 89, 1958, S. 112–131; Hans Reynen: Ewiger Frühling und Goldene Zeit. Zum Mythos des goldenen Zeitalters bei Ovid und Vergil, in: Gymnasium 72, 1965, S. 415–433.
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At tibi prima, puer, nullo munuscula cultu / errantis hederas passim cum baccare tellus / mixtaque ridenti colocasia fundet acantho. / […] / ipsa tibi blandos fundent cunabula flores. / occidet et serpens, et fallax herba ueneni / occidet; Assyrium uulgo nascetur amomum. /47 („Dir aber, Knabe, spendet von selbst als Erstlingsgeschenklein Efeugeranke, von Baldrian rings durchwuchert, die Erde, Wasserrosen mischt sie dem lächelnden Reiz des Akanthus. […] üppig umblüht deine Wiege dich rings mit lieblichem Blumen. Dann stirbt aus die Schlange, und trügerisch-giftiges Krautwerk stirbt dann aus und überall wächst assyrischer Balsam“)48.
Interessant sind hier insbesondere die Verse 23–25, insofern in analogischem Rekurs auf diese in der Miniatur des ortus pratensis die civitas Pratos als nova progenies modelliert wird, als Hoffnungsträgerin der neuen, durch Robert von Anjou herbeigeführten und repräsentierten Ära: So, wie die Wiege den puer Vergils als lieblicher Blumenteppich umgibt (ipsa tibi blandos fundent cunabula flores), erscheint die Kommune Prato mittels des Blumenteppichs als Boden für Roberts Handeln. Und wie „trügerisch-giftiges Krautwerk […] dann aus[stirbt] und überall […] assyrischer Balsam“ wächst ([…] et fallax herba ueneni / occidet; Assyrium uolgo nascetur amomum /), bringt der frühlingshafte ortus pratensis die verschiedenen Kräuter als Heilmittel gegen die Gefechte dar: Pometum uernum […] / […] herbarum uirtutes fert uariarum, / est ubi, si tela feriunt, optata medela. / 49
So wird die Kommune Prato Ort einer historischen Idee.50 Dabei ist hinsichtlich des Adressaten des Lobgedichtes und der Botschaft der Dichtung wesentlich, dass in dieser Modellierung der historischen Funktion Pratos der puer in Vergils Vierter Ekloge nicht in der Tradition mittelalterlicher Exegese als figura der bevorstehenden Geburt Christi ausgelegt werden kann. Robert von Anjou erscheint vielmehr als alter Augustus, der paradiesgleiche Zustände herbeizuführen vermag.51 47 P. Vergili Maronis Opera, Ecloga, IV, 18–20, 23–25, S. 10. 48 Vergil: Landleben. Catalepton, Bucolica, Georgica. Lateinisch – Deutsch, hg. v. Johannes und Maria Götte, Zürich 61995 [1949] (Sammlung Tusculum), S. 47. 49 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17, Verse 5–7. 50 In reflexiver Verschränktheit damit wird das integumentum, das als rhetorischer Schmuck durch die blühende Erscheinung versinnbildlicht ist, zur Trägerin einer Verkündigung, zur figura. Vgl. P. Vergili Maronis Opera, Eclogae, IV, 3, S. 10: si canimus siluas, siluae sint consule dignae („Klingt von Wäldern mein Lied, seien wert auch des Konsuls die Wälder!“). Übersetzung aus Vergil, Landleben, S. 45. 51 Zur Verschränkung des Sinnbildes vom paradiesischen Garten und Vergils Vierter Ekloge bzw. dem Kommen des neuen Augustus vgl. Petrus de Ebulo: Liber ad honorem Augusti sive de rebus Siculis, XLVIII: Imperium Cesar solus et unus habet. / Iam redit aurati Saturnia temporis etas, / Iam redeunt magni regna quieta Iovis. / Sponte parit tellus […] / […]. / Omnis olivescit Phebeis frondibus arbor, / Vix arbor partus sustinet orta novos. / Nec rosa nec viole nec lilia […] / Marcescunt […]. / […]. / Amodo perpetue tempora pacis erunt. / […]. / Nam meus Augustus solus et unus erit, / […] commune bonum, rex omnibus unus / („Der Kaiser hat allein und als einziger das Reich inne. Schon kehrt die saturnische Epoche, eine goldene Zeit, wieder, schon kehrt wieder die friedliche Herrschaft des großen Jupiter. Von sich aus gebiert die Erde […]. Jeder Baum mit dem Laub Apolls trägt Oliven, kaum gepflanzt trägt der Baum schon neue Früchte. Weder Rose, noch Veilchen, noch die Lilie […] verblühen […]. Von jetzt an werden Zeiten ewigen Friedens sein. […]. Denn mein Kaiser wird als einziger und allein sein, […] das gemeine Wohl,
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Die Hoffnung auf Robert von Anjou wird schließlich auch in Bezug auf die Abfassung des Werkes selbst zum Ausdruck gebracht – im Zusammenhang der topischen Nennung von Hinderungsgründen für die Arbeit an dem Werk. So legt der Autor im Anschluss an das Autorbild auf fol. 24v dem König gegenüber dar, dass es durch „Neid“ und „Hinterlist“ nicht vollendet werden konnte, zum „vielfachen Schmerz des pratensischen Volkes“ (dolore / […] multiplici populi pratensis), und dass „auf dich […] gehofft [wird], dass es ein glückliches Ende nimmt“ (per te speratur felicem summere finem)52. Damit wird durch den Hinweis auf das Leid des pratensischen Volkes nicht nur ein weiteres Mal die Auftraggeberschaft indiziert. Darüber hinaus geht mit dieser syntaktischen Gegenüberstellung von schlechter Zeit und besserer Zeit, in der die Dichtung vollendet werden wird, das Bild des politisch glücklichen Zustands unter König Robert als Bedingung der gänzlichen Entfaltung der Dichtkunst einher. Wenn Prato als tugendhafter Ort, in dem Künste gedeihen, gelobt wurde, bedeutet dies, dass die oft gestörte Arbeit an dem dichterischen Werk auch außerhalb Pratos erfolgt sein muss.53 Repperit inuidie merens obstacula seue / et stetit hucusque res imperfecta, dolore / non sine multiplici populi pratensis, et usque / nunc tenuit tacito super ore silentia muta. / Sicque pium dormiuit opus per tempora cuncta / pene Iohannis, humi qui pridem castra reliquit, / pontificis quondam summi, quo cepta fuerunt / eius cesarei fini primordia pastor / speratoque, dolo sic impediente maligno. / Per te speratur felicem summere finem. /54 („Das Werk hat, tief betrübt, die Hindernisse des wütenden Neides erfahren und ist bis jetzt stehengeblieben als unvollendete Sache, zum vielfachen Schmerz des pratensischen Volkes, und es hat bis jetzt wegen des schweigsamen Mundes eine stumme Ruhe gehalten. So hat das fromme Werk fast während der ganzen Zeiten des Johannes geschlafen, der vor kurzem die irdische Burg verlassen hat, des ehemaligen allerhöchsten Priesters, unter dem das Werk erste Anfänge hatte, [aber] durch bösartige Hinterlist verhindert bis zum erhofften Ende dieses kaiserlichen Hirten. Auf dich wird gehofft, dass es ein glückliches Ende nimmt“).
Über das zuvor Gesagte hinaus ist festzuhalten, dass diese Verse auch Rückschlüsse auf die Entstehungszeit der Regia Carmina ermöglichen; dies ist von Belang, weil dazu keine Dokumente auf uns gekommen sind. Indem die Worte besagen, dass „das Werk erste Anfänge hatte“ unter dem Pontifikat Johannes XXII. (1316–1334), dann indes „fast während der ganzen Zeiten des Johannes geschlafen“ hat, der vor kurzem gestorben sei, ein König für alle“). Zit. nach Petrus de Ebulo: Liber ad honorem Augusti sive de rebus Siculis. Eine Bilderchronik der Stauferzeit aus der Burgerbibliothek Bern, hg. v. Theo Kölzer, Marlis Stähli, Textrevision und Übersetzung v. Gereon Becht-Jördens, Sigmarigen 1994, S. 225. Vgl. auch Dante Alighieri: Epistole, hg. v. Arsenio Frugoni, Giorgio Brugnoli, in: Dante Alighieri. Opere Minori, Bd. II, hg. v. Pier Vincenzo Mengaldo, Bruno Nardi u. a., Mailand 1979 (La letteratura italiana, Bd. 5, 2), S. 507–643, Epistola, VII, 1, 6, S. 565 in Bezug auf Heinrich VII., und Dante Alighieri: Monarchia, hg. v. Prue Shaw, Florenz 2009 (Edizione nazionale delle opere di Dante, Bd. 5), I, xi, 1, S. 350. Siehe dazu Otto Herding: Über Dantes Monarchia, in: Dante und die Mächtigen seiner Zeit, hg. v. Herbert Grundmann u. a., München 1960, S. 37–57, hier S. 52. 52 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Vers 27 f. und 35. 53 Wie in Kap. 1.2 dargelegt, ist Convenevole ab 1317 in Avignon nachweisbar, ab 1336 wieder in Prato. 54 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Verse 26–35.
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sind als Entstehungszeitraum der Regia Carmina grob die 1320er- und beginnenden 1330er-Jahre umrissen.55 Wesentlich ist zudem die auffallende antipodische Stellung von Papst und König: Während Ersterer in negativer Weise dargestellt wird, weil an Johannes XXII. die Nennung „bösartiger Hinterlist“ gebunden ist und demzufolge das Ende „dieses kaiserlichen Hirten“ (eius cesarei pastor) gewünscht wird, erscheint der König als Hoffnungsträger in positivem Licht. In dieser Lesart wird das eius mithin syntaktisch als auf Iohannis bezogen verstanden, so dass die Formulierung „kaiserlicher Hirte“ als kritische Wertung im Sinne des verweltlichten Papstes aufzufassen ist.56 Damit steht die Auslegung dieser Formulierung zum einen im Gegensatz zu der in der Forschung bestehenden Auffassung, dass mit eius cesarei pastor Nikolaus V. bezeichnet ist, der 1328 durch Kaiser Ludwig IV. zum Gegenpapst ernannt worden war.57 Zum anderen gerät die angesprochene antipodische Stellung von Johannes XXII. und Robert von Anjou als Lichtgestalt in Konflikt mit der These von Thomas Haye, der hinsichtlich Convenevoles Arbeit an der Dichtung im avignonesischen Exil darlegt: „Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits König Robert als Widmungsnehmer vorgesehen hatte. Größere Wahrscheinlichkeit kann hingegen die These beanspruchen, dass Convenevole in Avignon nicht nur zur Zeit des Johannes, sondern mit Blick auf Johannes gedichtet hat. Denn der erste Teil der Kollektion eignet sich aufgrund seines Themas und seiner hymnischen Intention in idealer Weise dazu, einem am Ort residierenden Inhaber des apostolischen Stuhles gewidmet und in Auszügen vorgetragen zu werden. […] So hat Convenevole seine vorläufige Sammlung wohl in der Mitte der 1330er Jahre wieder 55 Vgl. Grassi, Il testo latino e la traduzione, S. 8; Thomas Haye: Päpste und Poeten. Die mittelalterliche Kurie als Objekt und Förderer panegyrischer Dichtung, Berlin 2009, S. 251 f.; Giani, Ser Convenevole da Prato, S. 119 f. Hinsichtlich dieses Entstehungszeitraumes sind zwei weitere Textstellen aufschlussreich: Zum einen wird auf fol. 19 Papst Benedikt XII. (1334–1342) erwähnt, der die gottlosen Zustände innerhalb des Klerus beendet habe: Et nisi quod frena Benedictus papa catena / cum retinente dedit, qua pestis dira resedit / und Sic opus id fictum cessauit per Benedictum, / segnitie multo nutritum tempore stulto / (Verse 52 f. und 60 f.). Zum anderen heißt es auf fol. 10, dass unlängst eine Spaltung des Thrones ([…] nuper / ad talem […] hyatum /) stattgefunden habe und dass die Opferspeise des neuen Pontifex von unheilvollem Betrug besprengt und von grausamen Gift erfüllt sei ([…] noui pontificis exta / pestis aquata dolis et seuo pasta ueneno. /) (Verse 38 f. und 46 f.). Wenn der Autor in den unmittelbar vorausgehenden Versen vom Gehorsam eines nur geringen Teils Deutschlands gegenüber dem Papst spricht sowie von der Ablehnung ganz Griechenlands, den Befehlen des apostolischen Stuhls zu gehorchen ([…] uix claues pars reueretur / Teuthonie modica, set Grecia tota negauit / sedis apostolice iussis parere salutis /) (Verse 42–44), so dürfte damit vom Schisma des Papsttums die Rede sein, das 1328 mit der Ernennung Nikolaus V. zum Gegenpapst durch Ludwig den Bayern erneute Aktualität erfahren hatte. Für die Entstehungszeit der Dichtung ergibt sich daraus, dass diese Passage zeitnah an den historischen Ereignissen von 1328 entstanden sein dürfte und womöglich nicht nach 1330; fand doch in diesem Jahr das Schisma sein Ende, weil sich Nikolaus V. der Autorität Johannes XXII. unterordnete. Vgl. dazu auch folgende Verse auf fol. 17, wo es heißt, dass der zornige Siculus, der bewusst Sünden begeht, keift oder brüllt, weil er die wahre Lehre des Petrus verlassen hat ([…] rabidus latrat Siculus, qui conscia patrat / crimina uel rugit, quia Petri dogmata fugit. /) (Vers 15 f.). Grassi sieht in diesen Versen eine Anspielung auf die Ereignisse in Sizilien im Jahre 1328, als der sizilianische Klerus nicht Johannes XXII., sondern dem Gegenpapst Nikolaus V. die wahre Doktrin zusprach. Grassi, Regia Carmina, S. 129, Anm. 485. 56 Vgl. zu dieser Semantik insb. Kap. 6. 57 Grassi, Il testo latino e la traduzione, S. 8; Vaccaro, Filologia del testo, S. 23.
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in seine Heimat mitgenommen, beträchtlich erweitert und konzeptionell auf den sizilischen König zugeschnitten“58.
Dass es gerade die Ikonotexte des ersten Teils der Handschrift sind, die eine Kritik an dem „kaiserlichen Hirten“ Johannes XXII. versinnbildlichen und dabei die auctoritas Roberts von Anjou ausformen, werde ich gleichsam als Kulminationspunkt der Herrschaftsrepräsentation König Roberts im abschließenden Kapitel dieser Arbeit aufzeigen. Im Folgenden sei zunächst die Repräsentation Roberts von Anjou als Erretter der Italia vorgestellt, der ob seiner Tugendhaftigkeit den Papst nach Rom zurückzuführen vermag und als idealer, ‚für Italien geborener‘ Herrscher erscheint.
2.2 König Robert von Anjou als Erretter der Italia Bis bibit octenis pater ille pius scelus annis / sanguinis humani fundendi. Flamina cura / illa fuint [!]: lites incendere, figere partes / perpetuis odiis. […] / 59 („Zweimal acht Jahre lang hat jener fromme Vater den Frevel getrunken, menschliches Blut zu vergießen. Das war seine priesterliche Sorge: Streit zu entzünden, Parteien zu bilden mit beständigem Hass“).
Von der negativen Darstellung Johannes XXII. war bereits die Rede. Die Worte, die auf fol. 10 zu lesen sind, unterstreichen die Kritik an diesem Papst.60 Darüber hinaus weisen sie auf die politischen Missstände in Rom und Italien hin, wodurch sie einen programmatischen Charakter erhalten. Wird doch Robert von Anjou in den Regia Carmina aufgerufen, das avignonesische Exil des Papsttums zu beenden und durch die Rückführung der sedes apostolica nach Rom wie die Zurückweisung des deutschen kaiserlichen Herrschaftsanspruches in Reichsitalien dieses von den politischen Missständen zu erlösen und die libertas Ytalie herbeizuführen. Den historischen Rahmen, in dem die Regia Carmina zu betrachten sind, bildet mithin zuvorderst das avignonesische Exil der Päpste seit 130961, in dessen Folge eine ‚charismatische Lücke‘ in Italien entstanden war. Auf der durch die Parteienkämpfe zwischen Guelfen und Ghibellinen zerrütteten Apenninhalbinsel nahm das Königreich Neapel eine Vormachtstellung des guelfischen, papstfreundlichen Bündnissystems in Italien ein und erlebte unter Robert von Anjou (1309–1343) in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts einen Höhepunkt seiner Herrschaft. Als König von Neapel hatte Robert zugleich das Amt des päpstlichen Vikars für Reichsitalien inne, war zeitweise Senator Roms sowie Signore zahlreicher guelfischer Städte in Ober- und Mittelitalien – darunter auch 5 8 Haye, Päpste und Poeten, S. 252. 59 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 10, Verse 55–58. 60 Der Kritik an Johannes XXII., die Missetat begangen zu haben, menschliches Blut zu vergießen, liegt der Rechtssatz zugrunde, dass die Kirche nicht nach Blut dürstet (ecclesia non sitit sanguinem). 61 Zur Geschichte Avignons als Papstsitz siehe immer noch das Standardwerk von Guillaume Mollat: Les papes d’Avignon (1305–1378), Paris 1930.
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Prato und Florenz.62 Aufgrund seiner herausragenden Machtstellung in Italien wurde auf Robert von Anjou innerhalb der guelfischen Parteiung die Hoffnung gesetzt, die libertas Ytalie gegen den deutschen Herrschaftsanspruch in Reichsitalien zu verwirklichen. Dieser Ruf nach einem nationalen Königtum ist im Kontext der letzten großen Auseinandersetzung zwischen den beiden Universalmächten Papst- und Kaisertum zu betrachten. Die politischen Ziele der Kurie bestanden zu diesem Zeitpunkt darin, die Rechtsnachfolge des Kaisers im vakanten Imperium anzutreten. Hierbei sollten die angevinischen Könige als päpstliche Vikare vacante imperio der Durchsetzung der kurialen politischen Interessen in Italien dienen.63 Damit war König Robert von Neapel in die politischen Auseinandersetzungen zwischen der Kurie in Avignon und dem Reich verwickelt64, das durch die Thronvakanz in Deutschland nach dem Tod König Heinrichs VII. 1313 paralysiert war. Umgekehrt suchte das neapolitanische Königshaus den universalen Gültigkeitsanspruch der päpstlichen Machtbefugnis (plenitudo potestatis) seinen politischen Ambitionen dienstbar zu machen: Durch die Bestellung zum Reichsvikar ein Jahr nach dem Tod Heinrichs VII. wurde König Roberts Autorität gegenüber den ober- und mittelitalienischen Kommunen legitimiert und zugleich angestrebt, Würde und Rechte des Kaisers auf dieses Amt zu übertragen. Dies spiegelt sich in Verlautbarungen, das Kaisertum abzuschaffen. So wurde in Briefen und Gesandteninstruktionen, die im Frühjahr und Sommer 1313 verfasst und an Papst Clemens V. adressiert wurden, dem Kaiser zunächst seine dignitas und auctoritas gegenüber den übrigen Monarchen abgesprochen, um schließlich die Abschaffung des römischen Kaisertums zu postulieren.65 62 Zu Roberts Ämtern als Senator Roms und päpstlicher Vikar des Kirchenstaates, die ihm 1313 durch Clemens V. und 1317 durch Johannes XXII. verliehen worden waren, siehe Peter Partner: The Lands of St. Peter. The Papal State in the Middle Ages and the Early Renaissance, London 1972, S. 309, 327. Zur Geschichte der Anjou im Allgemeinen und zur Herrschaft Roberts von Anjou im Besonderen vgl. Émile Léonard: Les Angevins de Naples, Paris 1954; Giuseppe Galasso: Il regno di Napoli. Il Mezzogiorno angioino e aragonese (1266–1494), Turin 1992. Zu Robert von Anjou siehe immer noch Romolo Caggese: Roberto d’Angiò e i suoi tempi, 2 Bde., Florenz 1922/1931; Walter Goetz: König Robert von Neapel (1309–1343). Seine Persönlichkeit und sein Verhältnis zum Humanismus, Tübingen 1910; zum zeitgenössischen Bild König Roberts Alessandro Barbero: Il mito angioino nella cultura italiana e provenzale fra Duecento e Trecento, Parte II: Roberto d’Angiò fra guelfismo e umanesimo, in: Bollettino storico-bibliografico subalpino 80, 1982, S. 389–450. 63 Wie Friedrich Baethgen in seiner immer noch grundlegenden Abhandlung über den „Anspruch des Papsttums auf das Reichsvikariat“ dargelegt hat, beanspruchte der Papst für sich vacante imperio, das heißt beim Fehlen eines von ihm approbierten Reichsoberhauptes, das Recht, die dem Kaisertum zu Lehen gegebenen Rechte selbst zu verwalten oder sich in dieser Funktion durch einen Vikar vertreten zu lassen. Vgl. Friedrich Baethgen: Der Anspruch des Papsttums auf das Reichsvikariat. Untersuchungen zur Theorie und Praxis der potestas indirecta in temporalibus, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 41, 1920, S. 168–268. 6 4 Während das neapolitansiche Königreich der Anjou Lehen des Papstes war, unterlag Avignon dem Schutz Roberts von Anjou. Denn es befand sich in der Grafschaft Provence, die zum Herrschaftsbesitz Roberts von Anjou gehörte. 65 Vgl. Acta imperii Angliae et Franciae ab anno 1267 ad anno 1313, hg. v. Fritz Kern, Tübingen 1911, S. 246 und Monumenta Germaniae Historica, Legum, Sectio IV. Constitutiones et acta publica imperatorem et regum, Bd. IV, 2, hg. v. Jakob Schwalm, Hannover 1909, Nr. 801, Nr. 1253. Die Autorschaft der Briefe ist umstritten, zur diesbezüglichen Forschungskontroverse siehe Samantha Kelly: The new Salomon. Robert of Naples (1309–1343) and Fourteenth-Century Kingship, Leiden 2003, S. 197. Zur anti-imperialen Rhetorik und angevinischen Politik in Bezug auf das Reich ebd., S. 194–204; Kurt-Ulrich
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Die oben angesprochene politische Hoffnung, die in Robert von Anjou als Rektor und Vikar des vom Papst verlassenen Rom gesetzt wurde, gelangt in den Regia Carmina insbesondere in dem mehrseitig konzipierten Supplikationsbild der Folia 10v–1366 zur Anschauung.67 In diesem tritt zunächst die Italia, die ob der politischen Missstände ihrer Standfestigkeit beraubt ist, dem thronenden König entgegen und kommuniziert das Bittgesuch um Errettung in der Bild-Text-Gestalt bildhaft (Taf. 16 und 17): Auf der Versoseite thront vor dem Flächenornament großer goldener fleur-de-lis in unendlichem Rapport auf blauem Grund, dem heraldischen Zeichen der Anjou68, König Robert in vollem Krönungsornat.69 Im Profil gegeben, wendet er sich der Personifikation der Italia
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Jäschke: Zu universalen und regionalen Reichskonzeptionen beim Tode Heinrichs VII., in: Festschrift für Berent Schwineköper zu seinem 70. Geburtstag, hg. v. Helmut Maurer, Hans Patze, Sigmaringen 1982, S. 415–435; Kenneth Pennington: Henry VII and Robert of Naples, in: Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert, hg. v. Jürgen Miethke, München 1992, S. 81–92. Zur Auffassung der gebotenen Beherrschung des italienischen Reichsgebietes durch einen italienischen Herrscher vgl. William M. Bowsky: Henry VII in Italy. The Conflict of Empire and City-State, 1310–1313, Lincoln 1960, S. 191 f., 208. Siehe zu diesem näher Kap. 3.3 und 4.2. Die Repräsentation der Herrschaft Roberts von Anjou umfasst hier und im Folgenden den erkenntnistheoretischen wie politisch-juristischen Aspekt des Begriffs „Repräsentation“: Sie ist sowohl im Sinne von repraesentare (‚etwas vor Augen stellen‘) als „Darstellung“ durch Bilder und Zeichen zu verstehen als auch in ihrer Bedeutung als „Stellvertretung“, die der Legitimation von Herrschaft dient. Vgl. Kap. 2.5 zur zeichen- und medientheoretischen Bedeutung des Begriffs „Repräsentation“. Zu den semantischen Implikationen des Begriffs „Repräsentation“ siehe Eckart Scheerer, Benedikt Haller: Repräsentation, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, Sp. 790–797, 812– 816; Hasso Hofmann: Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974. Indem in die goldenen Lilien Inschriften inseriert sind, die diese selbstbezüglich über ihren Glanz sprechen lassen, verschränken sich Bild und Text sinnfällig: Die materialiter ausgestellte Pracht wird in den Texten nicht nur erläutert und damit semantisch aufgeladen, sondern die gemalten goldenen Lilien erfüllen zugleich das, was die Worte versprechen. Im Allgemeinen weisen die Inschriften auf den Glanz der heraldischen Zeichen des französischen Königshauses hin und erklären im Besonderen Robert von Anjou zum würdigen Träger dieser königlichen Zeichen: Lilia francorum regum sunt plena nitorum. / O bone rex, certe bonus es rex quippe, Roberte, / lilia sunt puris exemplum grande figuris. / Hec tibi sunt certe data lilia signa, Roberte, / ut regnes uere sapienter, sicut habere / uis nomen rectum cuncta bonitate refectum. / […]. / Hic est fulgoris flos aureus atque pudoris. / Flos est candorus hic et stat semper odorus. / Aurea sunt cara quia sunt hec lilia rara. / Proles regalis hoc flore patet spetialis. / („Die Lilien der Könige von Frankreich sind voll des Glanzes. Guter König, gewiss bist du ein guter König, ja Robert, die Lilien sind ein bedeutendes Muster durch die reinen Formen. Diese Lilien sind gewiss Zeichen, dir gegeben, Robert, damit du wahrhaftig weise regierst, gleichwie Kraft, einen redlichen Namen zu haben, gestärkt durch die gesamte Beschaffenheit/mit aller Güte. […]. Diese ist die goldene Blume des Glanzes und der Ehre. Diese Blume ist rein und bleibt immer duftend. Diese Lilien sind golden, kostbar, weil sie selten sind. Das königliche Geschlecht ist offenbar besonders durch diese Blume“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 10v, Verse 9–14, 18–21. Zu den theologisch-politischen Implikationen der angevinischen Heraldik siehe William M. Hinkle: The Fleurs de Lis of the Kings of France 1285–1488, Southern Illinois University 1991, S. 1–31. Hinsichtlich des oben angesprochenen Bestrebens Roberts von Anjou, kaiserliche Würde und Rechte auf die eigene Herrschaft zu übertragen, und der Modellierung des imperialen Herrschaftsanspruchs Roberts in den Regia Carmina sei hier darauf verwiesen, dass sich der König drei Jahre nach dem Tod Heinrichs VII. darum bemüht hatte, dessen Krone zu erwerben. Denn die im Thronbild des fol. 10v zu sehende Krone ähnelt jener der Skulptur Heinrichs VII. aus dessen Grabmal in Pisa (Museo dell’Opera del Duomo, geschaffen von Tino di Camaino, um 1315) – gleiches gilt für die Krone, die Karl von Kala-
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zu, die ihm auf der gegenüberliegenden Rectoseite von rechts in gebeugter Haltung mit einem Supplikationsgestus entgegentritt. Auf dem nachfolgenden fol. 11v schließt sich die Roma der Italia an (Taf. 18): Im schwarzen Gewand und mit einem Trauergestus tritt sie vor den König, als Witwe und vom Papst Verlassene. Wie den sichtbar misslichen Zuständen Italiens und Roms abgeholfen werden soll, zeigt schließlich Herkules auf fol. 12 (Taf. 19). Er tritt in einem Gestus der Stärke auf: Mit dem Fell des nemëischen Löwen angetan, steht er mit gespreizten Beinen fest auf dem Boden und hat die Arme wehrhaft vor der Brust gekreuzt, wobei seine Rechte die erhobene Keule umfasst. Zugleich blickt er jedoch sorgenvoll – seine Stirn ist leicht in Falten gelegt – auf Roma, die ihm unmittelbar vorausgeht. Als Exemplum König Roberts, als Spiegel dessen Stärke und als Vorbild, spricht Herkules zu diesem Worte, die dem bildlich Gezeigten Nachdruck verleihen: […] rex […] Roberte; / non minor ipse gigas es tu. Si ducere bigas / de transalpinis uel uis reuocare ruinis, / quas habui mecum uirtutes sunt modo tecum. / Accedas, queso, Romam, que corpore leso / litibus icta gemit semper, nam conmoda demit / seua nimis rabies odiorum siue furorum. / Mente potes Romam si uis ubique iuuare. / 70 („[…] König Robert; du selbst bist ein nicht geringerer Riese. Wenn du gewillt bist, das Zweigespann zu steuern oder aus den transalpinen Trümmern zurückzurufen – die Tugenden, die ich besaß, sind nun mit dir. Komme, ich bitte dich, nach Rom, die Stadt, die immer klagt, getroffen durch die Streitigkeiten in ihrem verletzten Körper, denn das wilde Toben des Hasses und der Raserei entzieht ihr allzusehr das Wohl. Wenn du es willst, kannst du mit deiner Vernunft Roma überall zu Hilfe kommen“).
Jetzt stellt sich die Frage, welche Eigenschaften es sind, die als Stärken König Roberts diesen befähigen, Italien und Rom zu retten.71 Gleich zu Beginn der Handschrift, auf fol. 1, brien im Paradiesbild der Cappella del Podestà im Florentiner Palazzo del Bargello (um 1326–1328) trägt (Abb. 17a, 17b, 18, 19a und 19b). So könnte die auf fol. 10v gezeigte Krone als Zeichen kaiserlicher Macht des angevinischen Herrschaftsträgers gelesen werden. Zum angestrebten Kronenerwerb siehe Harald Keller: Die Entstehung des Bildnisses am Ende des Hochmittelalter, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 3, 1939, S. 227–356, hier S. 304; Romolo Caggese: Firenze dalla decadenza di Roma al Risorgimento, Bd. 2, Florenz 1913, S. 100. Zur Ähnlichkeit der Kronen der Pisaner Grabfigur Heinrichs VII. und Roberts von Anjou in den Regia Carmina vgl. Percy Ernst Schramm: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechszehnten Jahrhundert, Bd. 3, Stuttgart 1956, S. 1016 f. Zur Darstellung der Krone Karls von Kalabrien in der Cappella del Podestà und dem versinnbildlichten angevinischen-florentinischen Herrschaftsverhältnis siehe Iris Grötecke: Das Bild des Jüngsten Gerichts. Die ikonographischen Konventionen in Italien und ihre politische Aktualisierung in Florenz, Worms 1997, S. 169–171, 180 f. Insofern sich in diesem ein kommunales Selbstbewusstsein der eigenen Macht spiegelt, zeigen sich Analogien zur repräsentierten Macht der Kommune Florenz in den Regia Carmina. 70 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 12, Verse 31–38. 71 Im Folgenden werden sich die in den rhetorischen Lehrbüchern festgeschriebenen Topoi des Personenlobes finden, wie die zu preisende Geburt und hohe Abkunft des Königs. Darüber hinaus sind es insbesondere dessen Tugenden, wie die Worte des Herkules bereits anzeigen. So seien hier in Bezug auf Letztere exemplarisch die Worte der Modestia, der Personifikation der Mäßigung, auf fol. 15 angeführt, die sich in diesen Zusammenhang einfügen: […] loquor hec uicis urbis / […]. / Ambobus caret illa: caret ciuilis amoris, / et caret auxilii, languoris plena, doloris / diues […] / […] / […]; res publica namque dolenter /
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wird dem Leser eröffnet, dass Robert von Anjou schicklicher Herrscher Italiens sei.72 Lauten doch die letzten Verse des Folio, in denen der Thron Gottes zum Autor spricht: Scribe quidem, mox tronus ait, nunc uisa, deinde / regi cuncta meo referes conscripta Roberto, / Italie genito, docto inuictoque, fideli, / pro merito mundus quod haberet eumque monarcham / imperiumque hominum, sua nam mage proxima sedes / 73 („Schreibe nämlich, spricht dann der Thron, das Gesehene nun auf, hierauf wirst du alles, was du aufgeschrieben hast, meinem König Robert berichten, ihm, geboren für Italien, gelehrt, unbesiegt, getreu und würdig, dass die Welt ihn als Monarchen und Oberhaupt der Menschen hätte, denn sein Thron ist der allernächste“).
Indem der Thron Gottes von „meinem König Robert“ (regi meo Roberto) spricht, figuriert er zugleich als römischer Thron, als stellvertretender Thron Gottes auf Erden. Damit ist der imperiale Herrschaftsanspruch des angevinischen Königs bekundet, der sodann nachdrücklich betont wird. Wird doch König Robert näherhin vorgestellt als „für Italien geboren“ (Roberto Italie genito) und demgemäß nicht nur als würdiger König (monarcham), sondern als Oberhaupt der Menschen (imperium hominum), weil sein königlicher Thron dem römischen Thron am nächsten ist (sua nam mage proxima sedes). Dabei rufen die Bezeichnung des als „für Italien geboren“ und der imperiale Anspruch wiederum die Semantik der oben angesprochenen Wiesenbilder auf fol. 15v und deren allegorische Verschränktheit mit Vergils Aeneis auf: So wie durch die Geburt des Kindes ein goldenes Zeitalter für Latium anbricht74, so ist Robert von Anjou für Italien und dessen Erneuerung geboren.75 Gemäß dem Genre des Herrscherlobes wird Robert von Anjou
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exposcit, ne plus sileam, clamore, citando / teque precer uerbis et flentibus, ac ululando / me stimulans. Precor ergo, tuam reuerendo benignam / et maiestatem mundi diademate dignam, / ne tardes […] / („ich spreche dies anstelle der Stadt […]. Sie entbehrt zweier Dinge: Sie entbehrt der Liebe unter den Bürgern, und sie entbehrt der Hilfe, voll der Ermattung, reich an Schmerz […]. […]; denn der schmerzende Staat verlangt dringend durch Geschrei und spornt mich heulend dazu an, dass ich nicht mehr schweige, und ich werde gebeten, dass ich dich mit Worten und Tränen anrufe. Deshalb bitte ich, Ehrerbietung zeigend, deine gütige und der Krone der Welt würdige Hoheit, dass du nicht zögerst“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15, Verse 51–67. Zu zeitgenössischen Auffassungen hinsichtlich eines angevinischen Königtums über ganz Italien vgl. Saenger, Lobgedicht auf König Robert, S. 60–65. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1, Verse 81–85. P. Vergili Maronis Opera, Aeneis, VI, 791–794, S. 252: hic uir, hic est, tibi quem promitti saepius audis, / Augustus Caesar, diui genus, aurea condet / saecula qui rursus Latio regnata per arua / Saturno quondam […] / („Der aber hier ist der Held, der oft und oft dir verheißen, Caesar Augustus, der Sproß des Göttlichen: Goldene Weltzeit bringt er wieder für Latiums Flur, wo einstens Saturnus herrschte“). Übersetzung aus Vergil, Aeneis, S. 265, 267. Vgl. den Aufruf der Florentia auf fol. 12v, der sich als sprachlicher Nachdruck im Anschluss an die gemalten Figuren des Supplikationsbildes erweist: suscipe, ne tardes, curam […] / […]. / Hec quoque tutela tibi Rome sumpta medela / Italie toti fuerit […] / […]. / Te dominum gliscunt, tua uota sequi quia discunt. / Cernunt te patrem, quem terra latinaque fratrem / quemue sibi talem peperit regem latialem. / („Übernimm, du mögest nicht zögern, die Fürsorge […]. Dieser von dir angenommene Schutz Roms wird auch Heilmittel für ganz Italien sein […]. [Die Menschen] wollen dich als Herrn, weil sie lernen, deinem Gelöbnis zu folgen. Sie erkennen dich als Vater und Bruder, den die lateinische Erde hervorgebracht hat, oder so als König Latiums für sie“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 12v, Verse 34–41.
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nach der Figur eines der großen Herrscher der Vergangenheit geformt, der durch sein Kommen als ‚Friedensfürst‘ die Wiederherstellung der ‚eigentlichen‘ und ‚richtigen‘ Ordnung zu vollziehen vermag.76 Dementsprechend erscheint auch auf der nachfolgenden Versoseite des fol. 1 der römische Thron, der bereitet ist für die Herrschaft König Roberts und des Papstes (Taf. 2). Dieser ist dem Betrachter in monumentaler Weise vor Augen gestellt, die Thronarchitektur erstreckt sich über das gesamte Folio. Der Thron erscheint leer, insofern die dreibogige Fußbank, der blau ausgelegte Thronsitz und die Lehne nicht von einer Figur besetzt, sondern mit (Schrift-)Zeichen ausgefüllt sind. Im Zentrum der Darstellung stehen die Wappen der neapolitanischen Anjou und des Papsttums, indem sie deren horizontale Mitte bilden. Sie erscheinen oberhalb des Thronsitzes auf der zweigeteilten Rückenlehne, links das angevinische Wappen, die goldenen Lilien auf blauem Grund mit einem roten Rechen an der oberen Leiste, rechts das Wappen des Papsttums, die gekreuzten Schlüssel auf rotem Grund. Damit ist nicht nur der ordo universalis variiert, insofern der römische Thron halb durch den Papst und halb durch den angevinischen König anstelle des deutschen Königs besetzt ist. Dergestalt ist Robert von Anjou nicht nur als würdiger Kaiser bezeichnet.77 Bemerkenswert ist weiter, dass das Wappen der Anjou und nicht das päpstliche Wappen auf der heraldisch besseren rechten Seite platziert ist. Das drückt die politische Abhängigkeit des Papstes vom angevinischen König aus und den Machtanspruch der Anjou.78 In diesem gleichberechtigten Nebeneinander von geistlicher und weltlicher Macht auf dem römischen Thron79 zeigt sich mithin die Macht Roberts von Anjou, in 76 Vgl. dazu zum Zusammenhang von kirchlichem Reformgedanken und Endkaisererwartungen Bernhard Töpfer: Das kommende Reich des Friedens. Zur Entwicklung chiliastischer Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter, Berlin 1964, S. 325–331. 77 Vgl. dazu Jürgen Miethke, Arnold Bühler: Kaiser und Papst im Konflikt. Zum Verhältnis von Staat und Kirche im späten Mittelalter, Düsseldorf 1988; Jürgen Miethke: Kaiser und Papst im Spätmittelalter. Zu den Ausgleichsbemühungen zwischen Ludwig dem Bayern und der Kurie in Avignon, in: Zeitschrift für historische Forschung 10, 1983, S. 421–446. 78 Die Zurückdrängung des päpstlichen Machtanspruchs wird insbesondere auch mittels der Allegorese der Bildfolge zur visio beatifica versinnbildlicht, indem durch diese die Deutungshoheit Roberts von Anjou gegenüber Papst Johannes XXII. im Disput um die Gottesschau modelliert wird. Siehe dazu Kap. 6. 79 Damit ist Samantha Kellys Auffassung meines Erachtens nicht zuzustimmen, die in Bezug auf den in den Regia Carmina dargestellten Herrschaftsanspruch Roberts von Anjou formuliert: „the Prato master lauded Robert as an alternative to the papacy: in the wake of the papal-Bohemian alliance and the pan-Italian league’s opposition to it, Robert was now viewed as an Italian hero independent of his papal lord“. Kelly, New Salomon, S. 205. Zum mehrfach vorgebrachten Wunsch der gemeinsamen Führung der Christenheit durch König Robert und den Papst vgl. die Verse unter den Wappen auf der Darstellung des Thrones auf fol. 1v. In ihnen spricht der Thron Gottes bezüglich des Anjou-Wappens, dass der Mast des Schiffes von König Robert sicher emporragt zur Fürsorge der römischen sedes ([…] malus ratis eius stet sibi certo / ad memorem curam […] /). Zum päpstlichen Wappen heißt es, dass es „auf dem göttlichen Thron“ steht, damit dieses Zeichen den von Petrus geschaffenen Thron und das Haus der Kirche erneuert (Ut recolat [!] sedem, quam Petri fixit, et edem / ecclesie, signa solio stant ista benigna / diuino […] /). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Verse 53 f., 55–57. Siehe auch die Worte, die auf den Stufen des Thrones König Roberts auf fol. 10v fixiert sind: Stet, stet tranquille solium, stet hoc arce pupille / semper diuina, sua sicut sancta carina. / („Es stehe, es stehe ruhig, es stehe immer dieser Thron auf der göttlichen Burg der Waisen [d. h. Roma], so wie ihr heiliges Schiff [d. h. der päpstliche Thron]“) (Vers 49 f.).
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sofern es im allegorischen Sinn in vorausdeutender Weise bedeuten kann, dass der Papst nach Rom zurückgeführt sein wird. Die Tugenden, die König Robert diese Tat ermöglichen, werden im weiteren Verlauf des Werkes erfahrbar. So spricht die Constantia auf fol. 15: Imperii regis ipse uices, scio teque proborum, / rex, apicem fore, magnanimum te magnanimorum. / Est tua, rex, sedes patrimonia, que regit alma / Christi. Post papam tibi pondus, rex, tibi salma. / 80 („Du selbst leitest die Schicksale des Reiches, und ich weiß, dass du, König, der Gipfel der Tugendhaften bist und der Großmütige der Großmütigen. König, dein ist der Thron, der die ehrwürdigen Erbgüter Christi verwaltet. Nach dem Papst [ist] die Last dir, König, dir die Verantwortung“).
Neben der Tugend der Constantia sind es insbesondere die Theologaltugenden des Glaubens (fides), der Spes und Caritas, die mit Roberts Herrschaft in Verbindung gebracht sind. So lässt der Autor auf fol. 13v die Fides sprechen, die, wie er darstellt, „Wahrheiten sagt und die Ehre Italiens schützt oder dessen Rechte mit der Glaubenslehre“ ([…] uera loquenti / italyeque decus uel dogmate iura tuenti /): Nunc quia pastor abest, qui pascere uelle uidetur, / ut uox comunis simulatio nunc hec habetur. / […]. / Si te firma fides, que bene lustrauit et isto / te posuit regno, quod habes a principe Christo, / […] / te uocat, ut Romam defendas, tu probe uerna / et miles Christi, pugnas. Modo res sua poscit / […] / […]. Illi, qui credunt, dona potentum / uirtutum meruere, gerunt magnalia signa. / Tolle, Roberte, tuo tutamina tegmine digna. / Spes inuitabit te, carus amorque rogabit, / ostendent causas cur tollere pila tonabit / uirtutum series. Hah, cerne, Roberte, pudorem / ecclesie. Pugilem te gestit mente gigantem / et ui Sansonem […] / […]. / Spes habet et firmat, quod si modo suscipis istam / curam pro Roma, quam nosti turbine pistam, / induperatoris sedem merebis in urbe / […]. / Sanctius imperii solium reor esse mereri, / spes ego, quam solium secus imperiumque teneri. /81 („Weil nun der Hirte abwesend ist, der bereit ist, die Schafe zu weiden, ist nun diese Heuchelei das allgemeine Reden. […]. Wenn der feste Glaube, der dich so sehr erleuchtet hat und in dieses Reich gestellt hat, das du von Christus-König hast, […] dich ruft, dass du Rom verteidigst, dann kämpfe, du rechtschaffener Inländer und Kämpfer Christi.82 Roms Lage erfordert es gerade […]. Jene, die glauben, haben die Gaben der wirkungsvollen Tugenden verdient, und als Zeichen führen sie große Werke aus. Nimm auf, Robert, die würdige Verteidigung von deinem Schirm. Die Hoffnung wird dich einladen, und die teure Liebe wird dich bitten, sie werden dir die Gründe zeigen, warum dich die Reihe der Tugenden rufen wird, die Waffen zu ergreifen. Ah, Robert, siehe die Scham der Kirche. Sie wünscht dich sehnlich als Streiter, Riese wegen des Verstandes, Samson wegen der Kraft […]. [Hier spricht nun die Spes, Anm. der Verf.:] Die Hoffnung ist da und gibt Kraft, und wenn du dich dieser Sorge um Rom annimmst, das 80 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15, Verse 17–20. 81 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 13v, Verse 11–52. 82 Zur sinnbildlichen Darstellung König Roberts als miles christianus, der die Gerechtigkeit verkörpert, vgl. Kap. 5.2.
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du geschlagen vom Wirbel weißt, wirst du den Thron des Imperators in Rom verdienen […]. Ich, die Hoffnung, glaube, dass es heiliger ist, den Thron des Imperiums zu verdienen als den Thron und das Imperium nicht recht zu halten“).
Beide oben angesprochenen Aspekte der Herrschaftsrepräsentation Roberts von Anjou, der gleichsam „die Ehre Italiens schützt“ (Italye decus tuenti), zeigen sich in diesen Reden der Fides und Spes an den König: Zum einen spiegelt sich in der Aufforderung, Rom als „Inländer“ (uerna) zu verteidigen, der Kampf um den deutschen Herrschaftsanspruch in Reichsitalien.83 Zum anderen drückt sich die Zurückdrängung des Anspruchs päpstlicher Suprematie darin aus, dass die Fides die gottunmittelbare Herrschaft Roberts von Anjou herausstellt.84 Ist ihm doch dieser zufolge sein Königreich von Christus direkt übergeben und nicht vermittelt durch den Papst.85 Aufgrund seines Glaubens seien Robert Tugenden verliehen, die ihn „große Dinge“ (magnalia) vollbringen lassen. Solchermaßen erscheint Robert von Anjou als vicarius Christi.86 Hinzu kommt, dass Fides von der „Scham der Kirche“ (pudorem ecclesie) spricht, die Robert als Streiter wünsche. Damit ist er gegenüber dem Oberhaupt der Kirche als führende Kraft ausgezeichnet, wobei sein Thronen auf dem römischen Herrschersitz und das Fußen seines herrscherlichen Handelns auf den Theologaltugenden mittels Bild und Text eindrücklich gestaltet werden. Während Fides, Spes und Caritas König Robert explizit zur Verteidigung Roms aufrufen, bilden sie auch die Fußbank des römischen Thrones auf fol. 1v, so dass sie als dessen Stützen versinnbildlicht sind: Den drei geschwungenen Bögen, welche die Fußbank des Thrones bilden, sind jeweils zwei Verse inseriert, wobei durch die dreimalige Verwendung des Adverbs hic beziehungsweise hinc jedem Bogen eine der Kardinaltugenden zugeordnet ist. So beginnen die in dem linken Bogen eingeschriebenen Verse mit den Worten hic oriendo fides surgit („hier entspringend, erhebt sich der Glaube“), die des mittleren mit spes hic
83 Vgl. dazu Eugenio Dupré Theseider: Problemi del papato avignonese, Bologna 1961, S. 83. 84 Zur Herkunft königlicher Autorität von Gott siehe Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990. Zur Zurückdrängung päpstlicher Autorität und zur herrschaftslegitimierenden und herrschaftsreglementierenden Funktion der Sakralität königlicher Herrschaft siehe auch Andreas Kosuch: Abbild und Stellvertreter Gottes. Der König in herrschaftstheoretischen Schriften des späten Mittelalters, Köln 2011. Vgl. zu diesen Ausführungen Barbara Bruderer Eichberg: Die theologisch-politische Bedeutung des Allerheiligenbildes im panegyrischen Lobgedicht an Robert von Neapel. Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Herrscher ikonographie, in: Concilium medii aevi 2, 1999, S. 29–57, hier S. 35–37. 85 Vgl. dazu die Worte, die der Autor auf fol. 24v spricht: Das Königreich Roberts sei von Gott selbst verliehen, nicht durch Vermittlung: Sedis apostolice speties signatur ab illa, / at tua, rex, uere quoquam formatur ab ista, / non mediante tuum regnum donatur ab ipsa. / („Die Gestalt des apostolischen Thrones wird bezeichnet von jenem [himmlischen], und deiner, König, wird wahrhaftig irgendwie von diesem [päpstlichen] gebildet, obwohl dein Königreich nicht von ihm selbst durch seine Vermittlung verliehen wird“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Verse 9–11. Vor dem Hintergrund, dass das angevinische Königreich Neapel Lehen des Papstes war, bergen diese Worte eine gewisse Brisanz. 86 Zur Bezeichnung vicarius Christi nicht nur für den Papst, sondern auch für den weltlichen Herrscher Kosuch, Abbild und Stellvertreter Gottes; vgl. dazu Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 106–110; grundlegend zum vicarius Christi-Konzept Michel Maccarrone: Vicarius Christi. Storia del titolo papale, Rom 1953.
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certa boni firmatur („hier wird eine sichere Hoffnung des Guten gestärkt“) und die des rechten schließlich mit den Worten nascitur hinc carus, qui feruet amor („es entspringt hier die teure Liebe, die glühen wird“).87 Das bedeutet: Indem die schriftlich fixierten Worte, welche die Theologaltugenden bezeichnen, die Fußbank materialiter der Form nach (nach)bilden und somit deren innere Substanz bilden, vermittelt sich dem lesenden Betrachter, dass die Herrschaft wahrlich auf ihnen ‚fußt‘. Das Bild, dass Robert von Anjou infolgedessen als Streiter der Kirche und Befreier Italiens auf dem römischen Thron regieren wird, wird schließlich durch die nachfolgenden Verse modelliert: Stant infelici pressura post inimici: / qui uincit bellum, calcat de iure scabellum. /88 („Die Feinde stehen zuletzt unter einer unglücklichen Bedrückung: Wer den Krieg gewinnt, tritt mit Recht auf den Fußschemel“).
Durch die Metaphorik des Fußes wird mithin das Vorstellungsbild des thronenden Herrschers evoziert, der zuvor die Feinde im Kampf siegreich niedergetreten hat und sie niederhält durch seine Herrschaft, die durch das Thronen bezeichnet ist. Das Niederhalten der Feinde wird dabei wahrnehmungsästhetisch sinnfällig, indem diese Verse auf dem schmalen Raum unter dem gemalten Fußschemel geschrieben stehen und gleichsam als durch ihn sowie die auf ihm imaginierten Füße des Thronenden bedrängt erscheinen. Die Repräsentation König Roberts als heilbringender Erretter Roms und der libertas Ytalie wird darüber hinaus und nicht zuletzt durch die formale Ordnung des Bildprogramms erfahrbar. Die Handschrift ist thematisch in zwei Teile gegliedert, deren Bildfolgen in ein analogisches Verhältnis gesetzt sind. In beiden Teilen wird das Kommen des Erlösers versinnbildlicht: auf den Folia 1–10 ist die zweite Parusie Christi, seine Wiederkehr zum Jüngsten Gericht und zur Errichtung des Reiches Gottes, durch die Bilder bezeichnet. In den Miniaturen der Folia 10v–30v ist der eschatologischen Heilserwartung das Bild König Roberts als Messias der irdischen Glückseligkeit Roms und Italiens zur Seite gestellt. Er erscheint als solcher, indem er über virtus und scientia und damit über sapientia verfügt: Als ideeller Hofstaat sind dem auf fol. 10v thronenden König die sieben Tugenden (fol. 19v–21v), die Septem Artes Liberales (fol. 29) sowie die neun Musen (fol. 29v–30v) beigeordnet (Taf. 24–28 und 41–44).89 Das Bild des thronenden Königs mit der supplizierenden Italia und Roma und dem bildhaften Hofstaat korrespondiert mit dem Bildpaar des thronenden Christus und der fürbittenden Gottesmutter auf den Folia 4v und 5 samt dem nachfolgenden himmlischen Hofstaat in Gestalt der Ordnung der Auserwählten auf den Folia 6–8 (Taf. 6, 7 und 9–13). Durch diese visuelle Analogie zeigt sich zum einen eine himmlisch sanktionierte Autoritätsbeglaubigung der Herr-
87 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Verse 73, 75, 77. 88 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Vers 79 f. 89 Zum ethischen Kanon herrscherlicher Tugenden vgl. Wilhelm Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, Leipzig 1938. Vgl. in ikonographisch-ikonologischer Hinsicht immer noch Adolf Katzenellenbogen: Allegories of the Virtues and Vices in Medieval Art. From Early Christian Times to the Thirteenth Century, London 1939; Rosemond Tuve: Notes on the Virtues and Vices, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 26, 1963, S. 264–303; 27, 1964, S. 42–72.
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schaft Roberts und zum anderen die Integration der neu zu errichtenden politischen Herrschaftsordnung in den göttlichen Heilsplan. Dergestalt wird die an Robert von Anjou herangetragene Aufgabe sinnfällig, die politische Ordnung und den Frieden wiederherzustellen und damit das christliche Volk zur irdischen Glückseligkeit zu führen. Während sich diese Programmatik vornehmlich visuell im Ikonotext des fol. 15v verdichtet, der bezeichnenderweise den Nukleus der Handschrift bildet90, wird sie sprachlich durch die Rede der Sophia, der Weisheit, aufgegriffen und erörtert. Indem diese zum König spricht, dass die „Tugend der Weisheit und der Lehre“ (uirtute sapientie ac doctrine) der königlichen Würde inhärent sei, „weil ich mit dir bin und dich nicht verlasse, vielmehr begleite ich dich wie eine treue Erzeugerin und Amme, und wie eine Ernährerin stehe ich dir überall fürsorglich zur Seite“ (quia tecum sum nec desero, imo comitor ut fidelis genitrix baiula, et ut nutrix ubique sum iuxta sollicita)91,
werden zunächst gedankliche Verbindungen zu zeitgenössischen herrschaftstheoretischen Schriften wie Dantes Monarchia aufgerufen. Dante hat die kaiserliche Autorität an die höchste Wissenschaft, die Philosophie, gebunden und ethisch fundiert. Dabei wird bei einer Übertragung zentraler herrschaftstheoretischer Aspekte der Monarchia auf den herrschaftstheoretischen Diskurs der Regia Carmina eine politische Problematik deutlich. Sie ermisst sich vor dem Hintergrund, dass der Monarchia zufolge der Mensch einer doppelten Leitung bedarf: Der Papst führt die Menschen nach den göttlichen Lehren zum ewigen Leben, der Kaiser nach der philosophischen Unterweisung zum zeitlichen Glück.92 Denn in den Regia Carmina wird mit der Thematisierung des zeitgenössischen Disputs um die selige Schau Gottes und der dabei verhandelten Irrlehre Johannes XXII.93 deutlich, dass die Menschen aufgrund dieser ihrer Führung zur ewigen Glückseligkeit durch den Papst entbehren.94 Damit plausibilisiert sich auch die oben erwähnte Kritik des Convenevole an Papst Johannes XXII. Im Anschluss an diese Kritik tritt deutlich die sprachliche Charakterisierung König Roberts als weltlicher Messias und vicarius Christi hervor, durch die den Evangelien entstammende Wendung tu es rex iudeorm.95 Dabei sieht die Sophia die Gottunmittelbarkeit
90 Siehe dazu Kap. 3.2 und 3.3. 91 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26vb, Zeile 43 f. 92 Dante Alighieri, Monarchia, III, xvi, 10, S. 435 f.: Propter quod opus fuit homini duplici directivo secundum duplicem finem: scilicet summo Pontifice, qui secundum revelata humanum genus perduceret ad vitam ecternam, et Imperatore, qui secundum phylosophica documenta genus humanum ad temporalem felicitatem dirigeret. Vgl. dazu Karl Maurer: Dante als politischer Dichter, in: Poetica 7, 1975, S. 158–188. 93 Siehe dazu Kap. 6. 94 Die Verantwortung des römischen Papsttums zur Erlangung der ewigen Glückseligkeit ist versinnbildlicht im Ikonotext des fol. 8v. Siehe zu diesem weiter unten. 95 Matt. 27, 11; Mk 15, 2; Lk 23, 3. Hingewiesen sei darauf, dass die Wendung tu es rex iudeorum im Sinne der Allegorie wörtlich und allegorisch ausgelegt werden kann; wörtlich, weil Robert von Anjou Robert auch König von Jerusalem war. Vgl. dazu u. a. Léonard, Angevins de Naples, S. 209–294; Raoul Manselli: Anjou (Dynastie), in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München 1979, S. 645–648.
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seiner „königlichen Würde“, die „so große und so zahlreiche Gaben durch das Wollen des Himmels erhalten“ hat (tanta et tot munera tua regia celsitudo celtius iam recepit)96, gemäß zeitgenössischen herrschaftstheoretischen Schriften in besonderer Tugendhaftigkeit fundiert.97 So legt sie im Anschluss an ihre Ausführungen zur heilsgeschichtlichen Bedeutung Christi und dessen himmlischen Königtum dar, weshalb Robert von Anjou der ideale König der Christenheit ist: Regnum tuum, clementissime rex Roberte, non est ueraciter ex hoc mundo, quia tu es rex iudeorum. […] tu es rex iudeorum per hostium ecclesiastice unctionis, tu es rex per prosapiam regie propaginis atque prolis, tu es rex per potentie legitime maiestatem, tu es rex per sapientie ueram lucem, tu es rex per intellectus operatricem uirtutem, tu es rex per consilii electionem cognitam salutaris, tu es rex per fortitudinis constantiam singularis, tu es rex per clementie misericordiam compassiue, tu es rex per scientie conuersationem laudabilem discretiue […].98 („Dein Königreich, gnädigster König Robert, ist wahrhaftig nicht von dieser Welt, weil du König der Juden bist. […] du bist König der Juden wegen der kirchlichen Salbung, du bist König durch das Geschlecht der königlichen Abstammung und Nachkommenschaft, du bist König wegen der Würde der rechtmäßigen Macht, du bist König wegen des wahren Lichts der Weisheit, du bist König wegen der Tugend des Erkenntnisvermögens, die viel bewirken kann, du bist König wegen der bewährten Wahl des heilbringenden Beschlusses, du bist König wegen der Beständigkeit einer außerordentlichen Kraft, du bist König wegen der Barmherzigkeit von mitfühlender Gnade, du bist König wegen des lobenswerten Umgangs von unterscheidender Kenntnis […]“).
Es sind mithin unter anderem sapientia, virtus und scientia, aus denen die königlichen Verdienste erwachsen und aufgrund derer Robert König der Juden genannt wird (meritis igitur regiis iudeorum rex diceris)99. Als zentrales Kriterium in der Darstellung des analogischen Verhältnisses von göttlicher und königlicher Herrschaft und damit von himmlischer und irdischer Glückseligkeit der Italia erweist sich schließlich die Tugend der Gerechtigkeit. Richtet doch die Sophia folgende Worte an die Göttlichkeit:
96 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26vb, Zeile 40 f. 97 Zur aristotelischen Vorstellung von der Gottähnlichkeit durch herausragende Tugendhaftigkeit vgl. Kosuch, Abbild und Stellvertreter Gottes. 98 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26b, Zeilen 29 f., 37–44. Indem die Sophia ihre Rede mit der liturgischen Formel Amen. Laus tibi Christe („Amen. Lob sei dir, Christus“) beendet, wird das Bild des Königs als weltlicher Messias schließlich nachdrücklich geprägt. 99 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26vb, Zeile 39 f. Vgl. die Worte, welche die Sophia im Verlauf ihrer Rede gesprochen hatte und die dem Gesagten Nachdruck verleihen: Ergo rex es tu iudeorum et Ierusalem, nostri gratia Saluatoris. Fac itaque ut inuitis etiam ytalicis, languidis, seditiosis inuicem, tibi tamen animo reuerenter deuotis, subuenias in hac tua fidei, spei, caritatis, sapientie, iustitie, fortitudinis, temperantie ac tot beatitudinum senectute […] („Also bist du König der Juden und von Jerusalem, wegen der Gnade unseres Retters. Komm daher gleich den Italern zu Hilfe, unwillig, träge, aufrührerisch untereinander, dir dennoch ergeben mit ehrerbietigem Gemüt, in diesem deinem Alter voll des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe, der Weisheit, der Gerechtigkeit, der Stärke, der Mäßigung […]“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26va, Zeilen 34–38.
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Da sibi, Domine, tuum regi iudicium et iustitiam filio tuam regis, ut qui habet in Ytalia parte regnum, ubi est mundi monarchia terrena. Te donante sic suum dirigat principatum, quod obtinere te donante imperium mereatur […].100 („Herr, gib ihm, dem König, deine Urteilskraft und deine Gerechtigkeit, du herrscht durch den Sohn, wie er das Königreich in Italien hat, ein Teil, wo irdische Herrschaft ihren Sitz hat. Durch deine Gabe führe er so sein Fürstentum, damit er durch deine Gabe verdiene, das Reich zu erhalten […]“).
Das heißt, dass der politischen Tugend die Funktion zukommt, die Gerechtigkeit herrschen zu lassen, weil diese für die irdische Glückseligkeit Sorge trägt.101 In diesem Sinne erweist sich auch der Aspekt des gerechten Richters als bedeutsam, der im Zusammenhang der Repräsentation Roberts Herrschaft als göttlicher Stellvertreterschaft zur Anschauung gelangt. Spiegelt er sich doch zunächst in der dargestellten Parusie Christi zum Jüngsten Gericht und dabei – in ikonographischer Perspektive – insbesondere in den Darstellungen des leeren Thrones als Hetoimasia auf fol. 1v sowie des thronenden Christus auf fol. 4v.102 Auf die Erscheinung Christi als gerechter Richter folgt die Repräsentation König Roberts als gerechter Richter anhand des allegorischen Ikonotextes des Parisurteils auf fol. 22 (Taf. 29): Während Paris im Bild als unrechter Richter erscheint, wird der König im Sinne der rhetorischen enargeia als weiser Richter vor dem Bild vorgestellt.103 Dabei rekurriert die vergegenwärtigte Performanz Roberts herrschaftstheoretisch auf das Handeln des Herrschers als oberstem Richter – in Analogie zur Göttlichkeit.104 Insofern das gerechte Handeln in besonderer Tugendhaftigkeit fundiert ist, zielt das Sinnbild auf die Sichtbarmachung der Gottähnlichkeit König Roberts. Aufgrund dieser erscheint Italien sodann auch unter Roberts Herrschaft in einem paradiesgleichen Zustand. Dies wird nicht nur sinnfällig im allegorischen Ikonotext des fol. 15v und dessen Verständnis als Folge des vorausgehenden Supplikationsbildes, das heißt des tugendhaften Handelns des gerechten Herrschers.105 Darüber hinaus wird auf den ‚glücklichen‘ Zustand Italiens durch die analogische Bezugnahme der Bilder des fol. 15v zum fol. 2v106 (Taf. 22 und 4) hingewiesen, derzufolge diese als irdisches Abbild des himmlisches Paradieses erscheinen. Mit Blick auf Robert als gerechten Richter und die Darstellung der (heils-)geschichtlichen Bedeutung Roms und Italiens anhand der Allegorie des Parisurteils sei noch einmal mit anderen Worten formuliert: Im Sinne eines typologischen Geschichtsmodells erscheint das Urteil des Paris als figura des gerecht richtenden Robert, 100 101 102 103 104
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26b, Zeilen 24–27. Vgl. dazu Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 106–115. Siehe dazu eingehend Kap. 6. Siehe dazu Kap. 5.1 und 5.2. Zum Zusammenhang von Gottesvikariat und richterlicher Aufgabe vgl. Kosuch, Abbild und Stellvertreter Gottes. 105 Hinsichtlich des Zusammenhangs von gerechter Herrschaft und daraus erwachsenen ‚blühenden Landschaften‘ sei hier bloß auf die berühmten Darstellungen in Padua und Siena verwiesen: Giottos Personifikation der Giustizia in der Arenakapelle (1304–1306) (Abb. 20) und Ambrogio Lorenzettis in den Jahren 1337–1339 geschaffene Allegorie der guten Regierung und deren Auswirkungen über das Land in der Sala dei Nove im Palazzo Pubblico (Abb. 21 und 22). 106 Zur Darstellung des fol. 2v siehe Kap. 2.5, zu fol. 15v Kap. 3.2.
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so dass der Zustand Italiens unter dessen tugendhafter Herrschaft zur historischen Erfüllung des vorläufigen Troja gerät.107 Die historische Bedeutung Roms und Italiens wird insbesondere auch durch die beiden Thronbilder auf den Folia 1v und 8v zum Ausdruck gebracht (Taf. 2 und 14). Dabei zeigt sich nicht nur die Auffassung, dass Papst und König, sakrale und profane Macht, von Rom aus ihre Herrschaft über ein befriedetes Italien ausüben sollen. Darüber hinaus verweisen die Bilder auf die Bedeutung der ‚irdischen Wiklichkeit‘108, erscheint doch die Referenz auf das Weltliche als eigentliche Bedeutung. Deutlich wird dies in der Auslegung der Worte, die der Autor auf fol. 24v spricht und die in Bezug auf die Miniatur des fol. 1v gelesen werden können: Sedis apostolice speties signatur ab illa, / at tua, rex, uere quoquam formatur ab ista, / non mediante tuum regnum donatur ab ipsa / 109 („Die Gestalt des apostolischen Thrones wird bezeichnet von jenem [himmlischen], und deiner, König, wird wahrhaftig irgendwie von diesem [päpstlichen] gebildet, obwohl dein Königreich nicht von ihm selbst durch seine Vermittlung verliehen wird“).
Der göttliche Thron ist unmittelbares Vorbild der Gestalt des apostolischen wie mittelbares des königlichen. So ist nun der sensus litteralis der Throndarstellung auf fol. 1v der göttliche Thron – bezeichnet als sedis ymago Dei110 auf der Lehne – und dessen sensus allegoricus, dessen tiefere Bedeutung, der römische Thron von Papst und König. Der Ikonotext des fol. 1v weist damit eine Spannung zwischen himmlischem und irdischrömischem Thron auf: Die figura des Thrones ist ‚lesbar‘ als Thron Gottes, deren allegorische Bedeutung nicht im Transzendenten liegt. Sie verweist vielmehr durch ihre ikonische Motivik sinnfällig auf ihre eigentliche Bedeutung: die römische sedes, auf der König beziehungsweise Kaiser und Papst thronen. Die eigentliche Bedeutung liegt mithin im diesseitigen, innerweltlichen Verhülltsein des Göttlichen. Solchermaßen werden König und Papst als vicarii Christi repräsentiert. Die Auffassung von Rom als Zentrum der Christenheit wird nachdrücklich durch den allegorischen Ikonotext des fol. 8v versinnbildlicht (Taf. 14). Denn diese Darstellung des leeren Thrones erweist sich im Gefüge der vorausgehenden Bildfolge mit ihrer apokalyptischen Semantik zunächst als Thron Gottes, der im letzten Kapitel der Offenbarung des Johannes mit dem himmlischen Jerusalem verbunden ist, nachdem dieses als neue Stadt aus dem Himmel herabgefahren ist nach dem Kampf zwischen Gott und dem Antichristen und dem letzten Gericht mit Gott als Sieger.111 Zur Anschauung gebracht ist die Darstellung eines leeren Thrones, welche die gesamte Fläche des Folio ausmisst: Über 107 Vgl. dazu Kap. 5. 108 Zum Bezugspunkt der ‚irdischen Wirklichkeit‘, der im Trecento wesentlich wird, vgl. Kap. 3.2. Grundlegend zum Aspekt der ‚irdischen Wirklichkeit‘ Erich Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin 1929; Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen 1946; Erich Auerbach: Figura, in: Archivum Romanicum 22, 1938, S. 436–489. 109 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Verse 9–11. 110 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Vers 15. Vgl. dazu eingehend Kap. 2.5, ferner Kap. 2.3. 111 Apk 21, 1–2 und 22, 1. Siehe dazu Kap. 6.
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einer zweibogigen Fußbank, in deren Bögen die Figur eines Löwen links und die eines Drachen rechts eingestellt sind, erhebt sich die Thronbank, die auf zwei seitlichen Stützen ruht. Überhöht wird sie von einem monumentalen, mit roter Farbe sowie Schriftzeichen ausgefüllten Kreuz, das nahezu zwei Drittel des Folio einnimmt. Durch dieses ist der Thron als sedes crucis invictae bezeichnet112, so dass sich in ihm die Semantik des Sieges über Missstände und Feinde spiegelt, die dem göttlichen Thron des himmlischen Jerusalems inhärent ist. Unterstützt wird diese Semantik durch die figürliche Gestalt der Fußbank. Rekurriert diese doch mit der Darstellung des Löwen und Drachen auf Psalm 90, 13, demzufolge Christus mit Füßen auf Aspis, Basilisk, Löwe und Drache tritt, das heißt über das Böse obsiegt.113 Diese Bildlichkeit aufgreifend, heißt es entsprechend auf dem linken Bogen: hic pietas miserans conculcat calce leonem („hier tritt die sich erbarmende Frömmigkeit den Löwen mit der Ferse“)114. Auch der Drache bekommt einen Tritt, wiederum nicht aus hochmütigem Geist, wie die Inschrift des rechten Bogens zu verstehen gibt: Mens humilis dirum pede conculcare draconem / scitur hic […] / 115 („Man weiß, dass hier ein demütiger Geist den grausigen Drachen mit dem Fuß tritt“). 112 Diese Formel wird in den Versen umschrieben, die dem Kreuz zugehören: Zum einen epideiktisch, wenn es unter der linken Seite des Querbalkens demonstrativ heißt: Hec est crux, sedis clauis, robusta potestas / („Dieses ist das Kreuz, Schlüssel des Thrones, starke Macht“); zum anderen, wenn das gemalte Kreuz auf der rechten Seite gespiegelt selbst spricht: Crux clauis fortis sum, uincens prelia diri / hostis […] / („Ich Kreuz bin der mächtige Schlüssel, der die Schlachten gegen den grausigen Feind gewinnt“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8v, Verse 42, 46 f. 113 Psalm 90, 13: super aspidem et basiliscum calcabis conculcabis leonem et draconem. Biblia sacra: iuxta Vulgatam versionem, hg. v. Robert Weber, Stuttgart 41994 [1969]. Zur Bezeichnung des besiegten Antichristen durch Löwe und Drache vgl. Augustinus: Sermones Suppositi. Classis IV. De Diversis, hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1865 (Patrologia Latina, Bd. 39), Sermo CCCXV, Sp. 2349: Sed dictus diabolus leo et draco; leo propter impetum, draco propter insidias: leo aperte irascitur, draco occulte insidiatur. Pugnavit Ecclesia prioribus temporibus adversus leonem; pugnat modo adversus draconem. („Aber vom Teufel wird gesagt, dass er Löwe und Schlange ist. Löwe wegen des Ungestüms, Schlange wegen der Hinterlist. Der Löwe wütet offen, die Schlange lauert im Verborgenen. Die Kirche kämpfte in früheren Zeiten gegen den Löwen, nun kämpft sie gegen die Schlange“). Zur Ikonographie des Christus victor, die in Zusammenhang steht mit Psalm 90, 13 vgl. Antonio Quacquarelli: Il leone e il drago nella simbolica dell’età patristica, Bari 1975, S. 107–120; Giuseppe Bovini: Cristo vincitore delle forze del male nell’iconografia paleocristiana ravennate, in: Corsi di cultura sull’arte ravennate e bizantina 11, 1964, S. 25–34. 114 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8v, Vers 54. Die Barmherzigkeit gründet auf dem Glauben, wie das linke Thronbein besagt: fides fundat sedem dominam pietatis („der Glaube begründet einen herrschaftlichen Thron der Barmherzigkeit“). Demgemäß hat sie den Thronsitz eingenommen und erscheint als Gestalterin frommer Werke: sedet in cathedra operum fingensque piorum heißt es auf dem linken Bogen der Fußbank. Weitere Tugenden, denen neben der Fides eine tragende Funktion der Herrschaft zukommt, sind Spes und Caritas. Sie sind ebenfalls in den Thronbeinen angeführt. Während das mittlere Thronbein „die nicht wankende Hoffnung“ bezeichnet, die „zu siegen den Stamm des Thrones emporhält“ (sustinet hic truncum sedis spes uincere constans), „entflammt“ die im rechten Thronbein versinnbildlichte Liebe „[nicht nur] den Thron, sondern rüstet ihn auch mit Kraft aus“ (hic amor accendit sedem, set uiribus armat). Dergestalt ist in der Thronarchitektur das abstrakte Konstrukt der ecclesia mit ihren elementaren Werten versinnbildlicht. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8v, Verse 52, 53, 55, 58. 115 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8v, Vers 56 f.
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Insbesondere durch die ikonographische Motivik von Löwe und Drache ist dann auch die tiefere Bedeutung dieser figura des göttlichen, im himmlischen Jerusalem aufgestellten Throns bezeichnet: die sedes apostolica in der römischen Bischofskirche San Giovanni in Laterano. Die Ikonographie greift zurück auf jene eines Reliefs des Treppenpodiums der Lateranskathedra (Abb. 23 und 24).116 Damit ist dezidiert bezeichnet, dass der stellvertretende Thron Gottes seinen Ort in der Stadt Rom hat. Zugleich erscheint Rom durch die sinnbildliche Analogie zum himmlischen Jerusalem als neues Jerusalem und ist damit in Gegensatz gestellt zu Avignon, das entsprechend dem sündigen Babylon gleichgesetzt ist.117 Das Thronbild bezeichnet mit seinem semantischen Bezugsrahmen der 116 In ihrer ursprünglichen Gestalt ist die Lateranskathedra, die unter Papst Nikolaus IV. (1288–1292) im Zuge der Apis- und Presbyteriums-Erneuerung über einem Treppenpodium errichtet wurde, nicht erhalten geblieben. Auch sind Beschreibungen des Thrones selbst, der um 1470 entfernt wurde, nicht überliefert. Das erhalten gebliebene Relief mit den Figuren von Natter, Löwe, Drache und Basilisk war dereinst auf der vierten Stufe des Treppenpodiums der Kathedra angebracht. Ob es ursprünglich in unmittelbarem Bezug zur Fußbank beziehungsweise zum Thron stand oder so zu denken ist, wie in der allegorischen Figur auf fol. 8v gezeigt, wird als möglich erachtet. So äußert Peter Cornelius Claussen: „Die Vermutung liegt nahe, das Relief habe sich ursprünglich wie in Assisi […] unmittelbar unter dem Thron befunden […]. ASPIS, LEO, DRACO, BASILISCO sind die Tiere beschriftet, auf die Christus laut Psalm 90, 13 tritt. […] Der Sinn der Darstellung zu Füßen des thronenden Papstes ist jedenfalls deutlich: Wie der Erlöser selbst zertritt sein Stellvertreter diese Geschöpfe des Satans“. Peter Cornelius Claussen: Die Kirchen der Stadt Rom im Mittelalter 1050–1300, Bd. 2: S. Giovanni in Laterano, Stuttgart 2008, S. 132–134. Für die Auslegung, dass in der Darstellung auf fol. 8v gerade durch die Figur des Löwen und Drachen die Lateranskathedra repräsentiert ist, spricht die Inschrift, die das erhalten gebliebene Relief umgab. Bezeichnenderweise lautet sie: Hec est papalis sedes et pontificalis. Zur Lateranskathedra siehe zuletzt Claussen, Kirchen der Stadt Rom, S. 130–137, zur Inschrift S. 132; vgl. dazu Giovanni Battista De Rossi: Inscriptiones Christianae urbis Romae, Bd. 2, Rom 1888, S. 307, Nr. 6. Zum Zusammenhang der beiden Kathedren in San Giovanni in Laterano und der Oberkirche von San Francesco in Assisi (Abb. 25a und 25b), die auf 1270/1280 datiert wird, siehe Francesco Gandolfo: Assisi e il Laterano, in: Archivio della Società Romana di Storia Patria 106, 1983, S. 63–113, hier S. 90–102; Claussen, Kirchen der Stadt Rom, S. 134–136. Zur Datierung der Kathedra in Assisi siehe Hans Belting: Die Oberkirche von San Francesco in Assisi. Ihre Dekoration als Aufgabe und Genese einer neuen Wandmalerei, Berlin 1977, S. 27 f. und Nr. 62; vgl. Jürgen Wiener: Die Bauskulptur von San Francesco in Assisi, Werl 1991, S. 162–191. 117 Vgl. die Worte, die der Autor auf fol. 9v Christus sprechen lässt und in denen Avignon mit der Dirne und Babylon gleichgesetzt wird, in Rekurs auf Apk 17: […] Aperite doloribus istis / nunc oculos, mando, quia uos dolore nefando / decepit scorti spelunca et loca morti / subdita peccati. […] / („Öffnet nun die Augen zu solchen Schmerzen, ich trage es auf, weil euch mit ruchlosem Schmerz die Höhle der Dirne und die der todbringenden Sünde unterworfenen Orte betrogen haben“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 9v, Verse 70–73. Vgl. Dante Alighieri: La Divina Commedia, Inferno, hg. v. Anna Maria Chiavacci Leonardi, Mailand 2009 [Nachdruck von 1991] (Oscar grandi classici, Bd. 117), XIX, 106–117, S. 584–586; Francesco Petrarca: Sine nomine. Lettere polemiche e politiche, hg. v. Ugo Dotti, Rom 1974, XVII, S. 170–195. In zahlreichen zeitgenössischen Texten, in denen sich der Wunsch nach der Rückkehr der Päpste nach Rom bekundet, zeigt sich die Auffassung von dem Aufenthalt der Päpste in Avignon als ‚Babylonischer Gefangenschaft‘. Vgl. dazu Eugenio Dupré Theseider: L’Attesa escatologica durante il periodo avignonese, in: L’Attesa dell’Età Nuova nella spiritualità della fine del medioevo, Atti del III Convegno del Centro di studi sulla spiritualità medievale, Todi 1962, S. 65–126, der zeigt, in welchem Maße die traditionelle Opposition von Babylon und Jerusalem auf die zeitgenössische Situation übertragen wurde; auch Robert Coogan: Babylon on the Rhone. A Translation of Letters by Dante, Petrarch an Catherine of Siena on the Avignon Papacy, Potomac 1983, S. 1–12; Cathleen A. Fleck: Papal Politics of a Trecento Bible. The Bible of Anti-pope Clement VII (London, British Library, ms. Add. 47672), PhD Thesis, John Hopkins University 1998, S. 274–287.
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Apokalypse die Niederlage der Hure Babylon mit dem Sieg des himmlischen Jerusalems und im übertragenen Sinn den Sieg Roms über Avignon. Dem Bild des siegreichen Roms wird schließlich Nachdruck verliehen durch den Ikonotext der gegenüberliegenden Rectoseite des fol. 9 (Taf. 14 und 15). Auf diesem erscheint der siegreiche Christus, der aufrecht stehend in monumentaler Größe die linke Seite des Folio einnimmt, wobei seine Glorie durch einen glänzenden Nimbus in Gold augenfällig wird. In Dreiviertelansicht gegeben, wendet er dem Thron auf fol. 8v den Rücken zu. Seine Rechte hat er zum Segensgestus erhoben, während seine Linke die Kreuzesfahne hält, um die sich die Figur der ehernen Schlange windet.118 Damit ist mit Verweis auf Numeri 21, 4–9 die erforderliche Reumütigkeit des christlichen Volkes beziehungsweise der avignonesischen Kurie bezeichnet, die sich dem Willen Christi als ihrem Führer widersetzt, indem die sedes apostolica nicht mehr in Rom steht.119 So lässt Convenevole Christus denn auch folgende Worte sprechen, die auf fol. 9 rechts von seinem Körper fixiert sind, und zwar auf der Höhe des Kreuzes über der Thronbank der Thronfigur auf der gegenüberliegenden Versoseite: Petrus […] ymitatus / est me, sicque mori uoluit […] / in cruce. Fundauit sedem cruce quam decorauit / Rome […] / 120 („Petrus […] hat mich […] nachgeahmt und wollte so am Kreuz sterben […]. Er hat in Rom den Thron gegründet, den er mit dem Kreuz geschmückt hat“).
Indem Christus diese Worte über die Kreuzigung Petri und die Gründung des römischen Thrones im Zusammenhang seiner Rede über seinen Kreuzestod und seine siegreiche Auferstehung spricht, bedeutet dies: Die sedes apostolica, die Gottes Willen gemäß durch Petrus als erstem römischen Bischof in Rom befestigt wurde, muss dort zum siegreichen Kampf und Fortleben der Christenheit aufgestellt sein. Damit ist wiederum verwiesen auf die oben angeführten Verse: Wie Christus tritt der in Barmherzigkeit thronende Papst die Feinde der römischen Kirche nieder.121 Zudem wird der Papst durch das Kreuz als Nachfolger Petri und vicarius Christi versinnbildlicht – und damit auch dessen amt118 So lauten die unmittelbar rechts von der Fahne geschriebenen Verse: Sum Deus hic et homo factus, qui talia promo. / Hic ego sum pura caro, cuius facta figura / enea serpentis […] / („Hier bin ich Gott und gewordener Mensch, der diese Dinge hervorbringt. Hier bin ich reines Fleisch, und ich habe die aus Bronze gemachte Figur der Schlange“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 9, Verse 1–3. 119 Als gleichsam typologische figura ist Numeri 21, 4–9 zu lesen: Gott schickte gegen die Israeliten, die Moses gegenüber ungehorsam waren, glühende Schlangen, durch deren Bisse zahlreiche Israeliten getötet wurden. Als sich die Israeliten reumütig zeigten, schuf Moses im Auftrag Gottes eine eherne Schlange und setzte sie auf einen Stab. Wenn in der Folgezeit ein Israelit von einer Schlange gebissen wurde, schaute dieser auf die eherne Schlange und blieb damit am Leben. 120 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 9, Verse 21–24. 121 Vgl. in diesem Sinn zum Fußschemel der Lateranskathedra Claussen, Kirchen der Stadt Rom, S. 134 sowie zu dem der Kathedra in der Oberkirche von San Francesco in Assisi Belting, Oberkirche von S. Francesco in Assisi, S. 27 f. und Nr. 62. Als Papstthron ist die Kathedra in San Francesco in Assisi aufzufassen, das „unter Gregor IX. (1227–1241) als eine Art päpstlicher Eigenkirche gegründet worden [war]“. Claussen, Kirchen der Stadt Rom, S. 135. Siehe dazu Gandolfo, Assisi e il Laterano; Poeschke, Die Kirche San Francesco in Assisi; Wolfgang Schenkluhn: San Francesco in Assisi: Ecclesia specialis. Die Vision Papst Gregors IX. von einer Erneuerung der Kirche, Darmstadt 1991.
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liche Bürde und Verantwortung ausgestellt –, indem der Körper des auf der Kathedra Thronenden in Analogie zu den Körpern Christi und Petri vor dem Kreuz erscheint.122 In dieser Gegenüberstellung des leeren Thrones, der unter anderem den unsichtbaren Gott bezeichnet, und des inkarnierten Gottes in Christus, der solchermaßen im Sinne von Kol 1, 15 als „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (qui est imago Dei invisibilis)123 erscheint, erweist sich dieser paarseitig konzipierte Ikonotext auch als Allegorie der römischen ecclesia. Denn der leere Thron figuriert nicht nur als Hetoimasia und damit als Abzeichen für die Macht Gottes124, sondern bedeutet durch das Kreuz sowie durch Löwe und Drache die römische sedes apostolica, die unmittelbar mit ihrem siegreichen Stifter, Christus, verbunden ist. Dass mit diesem paarseitigen Ikonotext die traditionelle Verankerung der Kirche in Rom bezeichnet ist, erhellt sich zudem aus dem Umstand, dass sich das Hetoimasia-Motiv in zahlreichen römischen Kirchen findet – genannt seien die Apsis- beziehungsweise Triumphbogenmosaike in Santa Maria Maggiore (Abb. 27), San Paolo fuori le mura und Santi Cosma e Damiano.125 In diesem Sinne verweisen dann auch die Worte, die das Thronbild auf fol. 8v komplementieren, auf das Verhängnis der leeren, vom Papst verlassenen römischen sedes apostolica. So ist in dem Textblock, der links oben fixiert ist, zu lesen: Conqueritur cetus uirtutum lex ululatque: / sedem stare uident uidue quasi more relicte / et uacuam sponso castris habitante remotis / 126 („Die Schar der Tugenden beklagt sich, und das Gesetz schreit: Sie sehen den Thron verwitwet stehen, wie durch Gewohnheit verlassen127, und ohne Bräutigam, der sich in entfernten Lagern aufhält“). 122 Vgl. die Kathedra in San Saba in Rom (Abb. 26), auf deren Rückenlehne ein marmorner Tondo aufliegt, der mittels polychromer Intarsien ein Kruzifix in einem Nimbus zeigt und somit der Kopf des thronenden Papstes von diesem – in Analogie zu Darstellungen Christi – hinterfangen wird. Siehe dazu Francesco Gandolfo: La cattedra papale in età federiciana, in: Federico II e l’arte del duecento italiano, Atti della III settimana di studi di storia dell’arte medievale dell’Università di Roma La Sapienza, 15–20 maggio 1978, Bd. 1, hg. v. Angiola Maria Romanini, Rom 1980, S. 339–366, hier S. 339–343; vgl. dazu Wiener, Bauskulptur, S. 187. 123 Biblia sacra: iuxta Vulgatam versionem. 124 Vgl. zur Hetoimasia Thomas von Bogyay: Etimasie, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 6, München 1973, Sp. 144–154, hier Sp. 146 und 145: „Die Etimasie entstand jedenfalls aus dem zeremoniellen Gebrauch auszeichnender Sitze als Herrschaftszeichen himmlischer und irdischer Gewalt“. „Im weiteren und heute allgemein üblichen Sinne bedeutet die Etimasie sowohl jede Darstellung des Ehrensitzes, der im Himmel auf die Heimkehr des siegreichen Gottessohnes wartet, wie auch den leeren oder mit bestimmten sinnbeladenen Attributen belegten Thron als christliches Gottessymbol schlechthin“. 125 Die altchristlichen Kompositionen der Hetoimasia als sedes crucis invictae wurden bis ins 13. Jahrhundert hinein in Rom „nachgeahmt und variiert“, Thomas von Bogyay: Thron (Hetoimasia), in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4, Freiburg 1972, Sp. 305–313, hier Sp. 307; vgl. Frédéric van der Meer: Maiestas Domini. Théophanies de l’apocalypse dans l’art chrétien. Étude sur les origines d’une iconographie spéciale du Christ, Rom 1938, S. 231–236; Tilmann Buddensieg: Le coffret en ivoire de Pola, St-Pierre et le Latran, in: Cahiers Archéologiques – Fin de l’Antiquité et Moyen âge 10, 1959, S. 157–195, hier S. 179–184. 126 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8v, Verse 8–10. 127 More bezieht sich auf die Länge des avignonesischen Papsttums.
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Die Verletzung des Gesetzes durch die Residenz des Papstes in Avignon und die beklagenswerte Tugendlosigkeit, die sich in dem verwitweten Zustand der traditionell in Rom verankerten sedes apostolica zeigt, wird sodann nachdrücklich betont. Unter dem Thronsitz sind die Worte geschrieben, in denen die Lateranskathedra auf ihren rechtlichen Anspruch als Sitz des Oberhauptes der Kirche hinweist: sponsi longa mei tam trux absentia, que me / suspirare facit, cum me sic cerno relinqui, / matrem cunctarum cathedrarum. […] / 128 („die lange und so trotzige Abwesenheit meines Bräutigams, die mich [ihn] ersehnen lässt, wenn ich mich so verlassen sehe, mich Mutter aller Kathedren. […]“).129
Durch diese Bild-Text-Konfiguration des fol. 8v ist mithin auf den Ehrentitel von San Giovanni in Laterano verwiesen, die als offizielle Bischofskirche des Papstes den Ehrentitel Omnium urbis et orbis ecclesiarum mater et caput („Mutter und Haupt aller Kirchen der Stadt Rom und des Erdkreises“) trägt. Dieser Ehrentitel, der die Lateransbasilika als ranghöchste Patriarchalbasilika ausweist, geht auf die Konstantinische Schenkung zurück, in der dem römischen Bischof der Vorrang über alle anderen Kirchen, das heißt über die Patriarchate von Konstantinopel, Jerusalem, Alexandria und Antiochia, durch Kaiser Konstantin verliehen wurde. Die prekären Konsequenzen der widerrechtlichen und schändlichen Abwesenheit des Papstes legt die Kathedra in ihrer Rede näher dar. Es ist der fortschreitende Niedergang Roms130, der sich in den „verfallenen Häusern“ (domi128 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8v, Verse 73–75. 129 Hinsichtlich des Verhängnisses der leeren, vom Papst verlassenen römischen sedes apostolica und der daran gebundenen Tugendlosigkeit des Klerus sei verwiesen auf den Klagegesang der Ehre des Klerus. Dieser geht voraus in dem Textblock, der in der rechten oberen Ecke der leeren Thronfigur geschrieben steht. Die Würde des Klerus ist hier personifiziert. Sie, und nicht der Klerus, spricht, weil dieser durch Korruption verdorben ist. Cur ego, celsus honos cleri, turgere sedentes / siue superbire facio non sponte? Uidete, / christicole, qualem mercedem sepe reporto: / dedecorant tumidi contagia pontificatum / pontificisque locum sanctum iustumque prophanant. / Que uirtute Iesus magna patrimonia fecit, / passio queue dedit bona, fedat abusio turpis / et nequam. Corrumpit enim pecus una maligno / nam morbo scabiosa grecem totumque ueneno / humoris corpus pus inficit. Ergo cauete, / ergo cauete, uiri, ne uos fex tangat iniqua / aut heresis, ferale malum mortisque uenenum. / („Warum mache ich, erhabene Ehre des Klerus, jene, die dasitzen, von selbst ergrimmt oder übermütig? Seht, Demütige Christi, welchen Lohn ich oft bekomme: Die verderblichen Einflüsse des Stolzes entehren das Pontifikat und entweihen den heiligen und gerechten Ort des Papstes. Das Erbgut, das Christus mit großer Tugend errichtet hat, und das Wohl, das uns seine Passion gegeben hat, schändet der schmähliche und nichtsnutzige Missbrauch. Weil nämlich ein einziges Schaf durch die boshafte Krankheit Krätze die ganze Herde verdirbt und der Eiter durch das Gift der Flüssigkeit den Körper vergiftet. Deshalb hütet euch, deshalb hütet euch, Männer, dass euch der nachteilige Abschaum nicht ergreift oder die Irrlehre, bösartiges Übel und Gift des Todes“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8v, Verse 15–26. Diese Worte versinnbildlichen das Abrücken von der Ehre des Klerus und verweisen so auf die Notwendigkeit einer Reform der Kirche, die an eine Rückkehr des Papsttums nach Rom gebunden ist; dies erschließt sich aus dem Kontext der übrigen Verse dieses Folio. Vgl. dazu Raoul Manselli: Papato avignonese ed ecclesiologica trecentesca, in: Aspetti culturali della Società Italiana nel periodo del papato avignonese, Atti del XIX Convegno del Centro di studi sulla spiritualità medievale, Todi 1981, S. 175–195. 130 Zur zeitgenössischen Sorge um den fortschreitenden Niedergang Roms infolge der Abwesenheit der Kurie vgl. insbesondere die Schriften Dantes und Petrarcas. Zu den Differenzen in den diesbezüglichen Vorstellungen Dantes und Petrarcas, aber auch Cola di Rienzos, siehe Charles T. Davis:
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bus caducam) und gemarterten Oratorien (oratoria) zeigt und sowohl aus dem Mangel an lebenserhaltender Nahrung durch den „Hirten“ (pastor) als auch aus den inneren Kriegen der Stadt resultiert: Pastor, ouile Dei uenias pasture! Famescit / atque mori metuens pascas famis interioris / in languore fero […]. / […] /[…]. Sola / noxia fecit eam uacuam domibusque caducam / sponsi longa mei tam trux absentia […] / […] /[…]. Si mea tantum / dampna forent, patienter ego quecunque tulissem. / Set grauiter cruciant nunc oratoria Rome, / namque uetustatis maior pars fessa labore / iam ruit yma petens, et cetera bella minantur. /131 („Hirte, komme den Schafstall Gottes zu füttern! Er hat Hunger und fürchtet zu sterben in schmerzender Entkräftung durch inneren Hunger. Weide ihn! […]. Die einzige Schuld an der Leere und den verfallenen Häusern trägt die lange und so trotzige Abwesenheit meines Bräutigams […]. Wenn die Schäden lediglich meine wären, hätte ich sie wie auch immer geduldig ertragen. Aber nun martern sie grausam die Oratorien Roms, denn der größere Teil, mürbe durch die Anstrengung der Länge der Zeit, ist schon eingestürzt bis zum Boden, und andere Kriege drohen“).
In Bezug auf die in den Regia Carmina propagierte politische Ordnung sind diese Worte von Bedeutung, da sie zwei Rom-Konzepte implizieren: das kommunale Rom und Roma caput orbis. Sie sind miteinander verschränkt, insofern Rom als „Haupt der Welt“ eines gerechten und friedvollen Gemeinwesens bedarf. Die Aufgabe der römischen Bürger besteht somit darin, unter der Führung Roberts von Anjou als Senator der urbs Rom als einen tugendhaften Ort zu erneuern, an den der Papst zurückkehren kann.132 DemRome and Babylon in Dante, in: Rome in the Renaissance. The City and the Myth, Papers of the Thirteenth Annual Conference of the Center for Medieval and Early Renaissance Studies, hg. v. Paul A. Ramsey, Binghamton 1982, S. 19–40, bes. S. 34. Zu Dante siehe insbesondere Charles T. Davis: Dante and the Idea of Rome, Oxford 1957. Zu Petrarca und Avignon siehe immer noch die sehr gut kommentierte Ausgabe von Paul Piur: Petrarcas „Buch ohne Namen“ und die päpstliche Kurie. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Frührenaissance, Halle 1925; Dotti, Sine nomine; Berthe Widmer (Hg.): Francesco Petrarca: Aufrufe zur Errettung Italiens und des Erdkreises. Ausgewählte Briefe. Lateinisch – Deutsch, Basel 2001; vgl. auch Coogan, Babylon on the Rhone; zuvor Emilio Pasquini: Il mito polemico di Avignone nei poeti italiani del Trecento, in: Aspetti culturali della Società Italiana nel periodo del papato avignonese, Atti del XIX Convegno del Centro di studi sulla spiritualità medievale, Todi 1981, S. 257–309. 131 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8v, Verse 59–61, 72–80. 132 Vgl. dazu die Analyse des Ikonotexts auf fol. 15v in Kap. 3.2. Vgl. hier auch folgende Verse auf fol. 10, in denen auf die Krise der christlichen Welt verwiesen wird: Spe cupidi seruante domum, patrimonia Christi / sunt collata; uelis si scire: uel ore potentum / deposcente precum uel cum dulcedine ficta, / aut dant prebendas ipsorum sanguine natis, / seu bene nummosis seu nobilibus trabeatis / aut, non sponte, probis. Raro tamen accidit ultro, / ut dignos meritosque uelint, solamine leto / prelati, de more frui, liuore maligno / sic et agente dolo, seu dedignante superba / et tumida ceruice sedent dum culmine uiles, / obliti qua sorde fimi uenere […] / („Während die Habsucht das Haus [d. h. die privaten Güter] bewacht, sind die Erbgüter Christi übertragen; wenn du verlangst, es zu wissen: entweder durch die Dreistigkeit der Mächtigen oder durch die vorgetäuschte Lieblichkeit der Gebete, oder sie geben ihren Blutsverwandten Präbenden, entweder den Reichen oder den mit einer Trabea bekleideten Adeligen oder, nicht freiwillig, den Rechtschaffenden. Dennoch geschieht es selten, dass sie willens sind, dass die Würdigen und Verdienstvollen, mit erfreulichem Trost des Bevorzugten, durch den Gebrauch Nutzen ziehen, so
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zufolge wird die Bedeutung Roberts als Senator Roms in mehrfacher Hinsicht repräsentiert. So verweist zum einen die römische sedes apostolica im Zuge ihrer Klage über die römischen Bürger anhand einer rhetorischen Frage auf die herrscherliche Macht Roberts, die für die Erneuerung Roms als caput orbis Sorge trägt: Mestitiam! Quid agam? Quis me solabitur? Ipsi / ciues consilium pacis patrieque relinquunt, / qui dominam mundi Romam perfecit amorem. /133 („Oh Traurigkeit! Was werde ich tun? Wer wird mich trösten? Die Bürger selbst geben die Bereitschaft zum Frieden und die Liebe zur Vaterstadt auf, die Rom zur Herrin der Welt gemacht haben“).
Zum anderen wird die Bedeutung der kommunalen politischen Ordnung als Grundlage des universalen Roms versinnbildlicht, indem die tugendhafte Kommune Prato durch den Mund des Autors zu König Robert spricht: […]. Precor, dignare preces audire precantis, / sponte tibi uero fidei celo famulantis, / proque mea tibi matre preces cum supplici mente / porrigo, pro Roma genitrice mea modo flente. / Nunc eget ipsa parens tutela nuncque senatus / sensato senio, rex, cuius tu trabeatus / quondam consul amor, quia sciris urbe senator. / Te rogat, ut culpe ne crescat sis medicator. /134 („Ich bitte, entschließe dich, die Bitten des Flehenden anzuhören, der ich dir mit wahrem Glaubenseifer diene, und mit flehendem Geist reiche ich dir die Bitten für meine Mutter dar, für das weinende Rom, das mich hervorgebracht hat.135 Nun bedarf die Mutter selbst des Schutzes und der Senat eines verständigen Greises, oh König, der du in der Trabea Konsul bist, geliebt, weil man weiß, dass du in der Stadt Senator bist. Sie bittet dich, dass du Arzt des moralischen Gebrechen seiest, dass dieses nicht wachse“).136
In diese Gestaltung der Roma als caput orbis fügt sich schließlich der imperiale Aspekt, so dass Rom als Sitz der beiden Universalmächte erscheint. Dazu muss das Recht wieder zu seiner Geltung kommen, und so ist es die Gerechtigkeit, die Iustitia, die Robert von Angetrieben von der boshaften Missgunst und vom Betrug, oder sie sitzen mit hochmütigem und schwellendem Hals verächtlich an der Spitze, verschmähend, von welcher Niedrigkeit des befleckten Schmutzes sie gekommen sind“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 10, Verse 16–26. 133 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 8v, Verse 68–70. 134 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24, Verse 9–16. 135 Zur Bezeichnung der Roma als Mutter vgl. Dante Alighieri: Convivio, Bd. 2: Testo, hg. v. Franca Brambilla Ageno Florenz 22003 [1995] (Edizione Nazionale delle Opere di Dante, Bd. 3), I, iii, 4, S. 13, wo Florenz benannt wird als bellissima e famosissima figlia di Roma; Giovanni Villani spricht in seiner Nuova cronica von Florenz als figliuola e fattura di Roma (Buch II, iv); siehe Giovanni Villani: Nuova cronica, Bd. 1: (Libri I–VIII), Edizione critica, hg. v. Giuseppe Porta, Parma 1990 (Biblioteca di scrittori italiani), S. 66. 136 Vgl. Dante Alighieri, Epistole, XI, S. 580–598, an die Kardinäle (1314), wo er sich über den verwahrlosten Zustand Roms beklagt und die Kardinäle, die im Kardinalskollegium zu dieser Zeit nach dem Tod Clemens V., dem ersten avignonesischen Papst, einen neues Oberhaupt auf die sedes apostolica zu wählen haben, um Loyalität gegenüber dem ursprünglichen Ort der sedes apostolica ersucht. Diese bestünde in einer Rückkehr des Papsttums nach Rom. Vgl. dazu Dupré Theseider, L’Attesa escatologica, S. 108 f.
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jou gegenüber ihre Freundschaft zur Roma in der Vergangenheit herausstellt und daraus ihren Anspruch herleitet, von dieser geliebt zu werden. In diesem Sinne der notwendigen Wiedererrichtung von Recht und Gerechtigkeit legt sie dem König dar, dass er als „Guter und Gerechter“ das römische Reich zu befestigen und dabei die Völker an die Bedeutung des römischen Throns als „Mutter der Kirchen“ zu gemahnen vermag. Dergestalt erscheint Robert als kaiserlicher Herrscher Italiens und Schutzmacht der römischen Kirche – gemäß der Eingangsminiatur des Kodex auf fol. 1v mit den heraldischen Zeichen des Papsttums und der neapolitanischen Anjou und dem Vorrang der Letzteren. So spricht die Iustitia zu Robert von Anjou auf fol. 14v: […] Tutela uenusta / est certe fragiles substentas rexque Quirites. / Iam reges habuere, boues quasi sub iuga mites. / Omnes imperii romani regnaque rectus / uix quisquam sistit, si comprimat arcta senectus. / Indiget auxilio senuit quia Roma. Iuuari / debet. Amica fui, semper merui set amari. / Regalis stirpis francorum diligis equam / uirtutem. Uitium ne surgat, comprime nequam, / tu bonus ac equus. Ne tedeat ergo, Roberte, / nam sub tutore pereunt bona pacis inerte. / […] / dona, […] / ipsius ut senio Rome reparamina dentur, / que caput est orbis, licet eius iussa timentur / nunc modicum […] / […]. / Natio queque soli fatur: sum libera gentes, / uicit Roma patres, non nos, post se uenientes. / Ius aliud uerum mandat ius christicolarum: / sedes romana genitrix est ecclesiarum. / Huic geniti sacro debent baptismate uoto /137 („Dein Schutz ist angenehm, und du, König, hältst gewiss die schwachen Quiriten138. Sie, wie ruhige Ochsen unter dem Joch, haben einst Könige gehabt. Kaum ein Gerechter kann alle Römer des Imperiums und die anderen Königreiche befestigen, wenn das missliche Alter niederdrückt. Roma bedarf der Hilfe, weil sie gealtert ist. Ihr muss geholfen werden. Ich bin ihr immer Freundin gewesen, ja, ich habe es verdient, geliebt zu werden. Du achtest die gerechte Tugend im königlichen Geschlecht der Franken hoch. Damit sich das Laster nicht erhebt, halte die Nichtsnutzigen nieder, du Guter und Gerechter. Also zögere nicht, Robert, denn unter einem tatenlosen Beschützer gehen die Güter des Friedens unter. […] veranlasse, dass der Altersschwäche der Roma selbst Heilmittel gegeben werden, die Haupt der Welt ist, auch wenn ihre Befehle nun wenig gefürchtet werden […]. Jede Nation des Erdbodens sagt: ‚Ich bin ein freies Volk, Rom hat unsere Väter besiegt, nicht uns, die wir nachher kommen.‘ Aber das wahre Recht der Christen schreibt andere [Normen des] Rechts vor: Der römische Thron ist die Mutter der Kirchen. Diesem, erzeugt durch die heilige Taufe, sind [die Menschen] durch das Gelöbnis verpflichtet“).
Bemerkenswert ist, dass Robert „die gerechte Tugend im königlichen Geschlecht der Franken“ hochachtet (Regalis stirpis francorum diligis equam uirtutem): Das verweist auf das Hervorgehen der angevinischen Dynastie aus dem fränkischen Geschlecht der Kapetinger.139 Das respektvoll beschriebene Verhältnis der Franken zur Roma dürfte nicht nur den Gedanken der translatio imperii spiegeln, der „formalen Umgestaltung des Reiches
137 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14v, Verse 64–74, 82–91. 138 Die römischen Vollbürger. 139 Die Dynastie der Anjou ist eine Nebenlinie des fränkischstämmigen Adelsgeschlechts der Kapetinger.
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Repräsentation von Künsten und Herrschaft
bei zeitlicher Kontinuität“140: Die Herrschaft des römischen Imperiums ist auf das Geschlecht der Franken übergegangen, das heißt genauer: durch Gott an dieses übertragen. Mit diesen Worten der Gerechtigkeit dürfte vielmehr auch ausgedrückt sein, dass die weltliche Herrschaft Roms auf die neapolitanischen Anjou in rechtmäßiger Ordnung übertragen ist: So wie die Kapetinger die Könige der Franken (rex francorum) und ab dem 13. Jahrhundert die Könige von Frankreich (rex franciae) stellen, stellen die neapolitanischen Anjou gleichsam den König von Italien mit imperialem Anspruch. Dieser Aspekt der translatio imperii zeichnet sich auf fol. 25v in einigen Versen näher ab, und zwar in Form eines mimetischen Figurengedichtes, dessen Schriftbild die Form einer Krone zeigt (Taf. 36). Dabei impliziert der in diesem aufgezeigte translatio-Gedanke jedoch nicht nur die translatio imperii, sondern auch die translatio studii, die mit Ersterer einhergeht. Dergestalt spiegelt sich hier nicht nur – verwiesen sei auf die Ausführungen in Kapitel 2.1 – der konzeptuelle Zusammenhang von Herrschaft und Künsten, sondern zuvorderst wird das neapolitanische Königreich der Anjou respektive Italien als Ort kultureller Überlegenheit gezeigt. Die Worte, welche die zweite der Kronen bilden, die in der linken Textspalte zu sehen sind, lauten: Hec est francorum, dans laurea dona proborum, / sunt ubi doctorum meliorum uasa sacrorum. / 141 („Diese ist [die Krone] der Franken, die die Lorbeer-Gabe der Rechtschaffenen gibt, wo die Gefäße ziemlich guter und ehrwürdiger Gelehrter sind“).
Deutlich zeigt sich die Verschränkung von translatio imperii und translatio studii: Die Herrschaft des Imperium Romanum ist auf die Franken übergegangen, und an die tugendhaften Herrscher des Geschlechts ist der Ort großer Gelehrsamkeit gebunden. Damit scheint in den Versen die aus der Antike überlieferte Auffassung der notwendigen Einheit von herrschaftlicher und kultureller Überlegenheit auf, wie sie sich beispielsweise bei Cicero und Horaz142 findet, indem diese von den Griechen auf die Römer übergegangen sei.143 Sodann wird in den nachfolgenden Versen das Wachsen der angevinischen Dynastie aus fränkischer Wurzel angeführt und die Überbietung der ruhmreichen Ab140 Zur Vorstellung der translatio imperii grundlegend Werner Goez: Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958, hier S. 82. 141 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 25v, Vers 6 f. 142 Siehe M. Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia, Bd. 44: Tusculanae disputationes, hg. v. Max Pohlenz, Stuttgart 1982 [Nachdruck Leipzig 1918] (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), IV, 1, S. 361 f.; Q. Horatius Flaccus Opera, Epistula, II, 1, 156 f., S. 297: Graecia capta ferum victorem cepit et artis / intulit agresti Latio. („Griechenland ward jetzt unterworfen; doch unterwarf es sich selbst seinem rauen Besieger, brachte ihm die Künste ins ländliche Latium“). 143 Siehe dazu Curtius, Europäische Literatur, S. 38. Zur historischen Entwicklung des translatio artes-Konzepts und seiner Verschränkung mit dem der translatio imperii siehe Franz Josef Worstbrock: Translatio artium. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie, in: Archiv für Kulturgeschichte 47, 1965, S. 1–22; Ulrike Krämer: Translatio imperii et studii. Zum Geschichts- und Kulturverständnis in der französischen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bonn 1996, S. 32–41, 213–225 zur translatio studii in der Auseinandersetzung von Petrarca und Jean de Hesdin.
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kunft durch die Anjou der Gegenwart. Sprachlich bildhaft gemacht ist diese durch einen Superlativ des größten Duftes der gerechten/rechtschaffenen Blumen: Radix, rexque bone, uis prima tueque corone / fulget in hac morum prout experientia, quorum / uirtus est florum redolentia summa piorum. /144 („Die Wurzel, guter König, und die vorzüglichste Kraft deiner Krone glänzt in dieser sowie die Frucht der Sitten. Deren Vorzüglichkeit ist der größte Duft der rechtschaffenen Blumen“).
Die grammatikalische Verhältnissetzung von Komparativ (doctorum meliorum uasa sacrorum) und Superlativ und deren jeweiligen sensus litteralis scheint als sensus allegoricus eine Übertragung aufzuweisen, die an die glänzendste Krone folglich die größte Gelehrsamkeit bindet: Nicht Paris, sondern das neapolitanische Königreich der Anjou145 beziehungsweise Italien erscheint als Ort kultureller Überlegenheit.146 Diese sprachlich evozierte hierarchische Abfolge der Kronen gewinnt materialiter plastische Konkretion, indem das Figurenbild der angevinischen Krone als oberstes über dem der corona francorum erscheint und somit die Rangfolge sinnfällig macht.147 In Bezug auf Robert von Anjou als tugendhaften, gelehrten und damit weisen Herrscher erweisen sich die ersten beiden Verse in ihrer semantischen Offenheit als wesentlich. Lässt sich die Wendung von der „Lorbeer-Gabe der Rechtschaffenen“ (laurea dona proborum) doch nicht nur auf die Bedeutung tugendhafter und damit gerechter Herr144 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 25v, Verse 8–10. 145 Zur bedeutenden Stellung des neapolitanischen Hofes als eines der wichtigsten intellektuellen und künstlerischen Zentren in Europa vgl. die älteren Studien von Nicola A. Rillo: Francesco Petrarca alla Corte Angioina, Neapel 1904, S. 80–89 und Nunzio Federico Faraglia: Barbato da Sulmona e gli uomini illustri della corte di Roberto d’Angiò, in: Archivio storico italiano 3, 1889, S. 313–360; zudem Kelly, New Salomon, S. 22–72 sowie die Beiträge von Alessandro Barbero, Ferdinando Bologna, Julian Gardner, Isabelle Heullant-Donat in dem Sammelband L’État angevin. Pouvoir, culture et société entre XIIIe et XIVe siècle, Actes du colloque international organisé par l’American Academy in Rome, l’École française de Rome, l’Istituto storico italiano per il Medio Evo, l’U. M. R. Telemme et l’Université de Provence, l’Università degli studi di Napoli Frederico II, Rome-Naples, 7–11 novembre 1995, Rom 1998. 146 Vgl., gerade auch bezüglich des Kontextes dieses Kapitels, Karlheinz Stierle: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München 2003, hier S. 13: Im Zusammenhang der translatio imperii stellt er dem Begriff der translatio studii den der translatio ecclesiae zur Seite und fasst damit Petrarcas Anschauung „einer prinzipiellen Illegitimität der translatio“ von Rom nach Paris (translatio studii) sowie von Rom nach Avignon (translatio ecclesiae). Hier zeigt sich somit aber auch eine Differenz im historischen Verständnis hinsichtlich des römischen Imperiums: Während in den Regia Carmina die Vorstellung einer Kontinuität des historischen Prozesses zugrunde liegt, sieht Petrarca gerade eine Diskontinuität in diesem. Siehe in diesem Zusammenhang auch Andreas Kablitz: Das Ende des Sacrum Imperium. Verwandlungen der Repräsentation von Geschichte zwischen Dante und Petrarca, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. v. Walter Haug, Tübingen 1999, S. 499–549. 147 Die Verse lauten: Una salus Italis hec est et spes spetialis. / Hec est quam digna redolenti fronte benigna / Ierusalem regis hec Sicilieque corona! / Docta persona decoratur diuite legis / luce peritorum speculo ueroque bonorum. / („Diese [Krone] ist die einzige Rettung für die Italer und ihre besondere Hoffnung. Wie sehr ist diese gütige Krone der duftenden Stirn des Königs von Jerusalem und Sizilien würdig! Die gelehrte Person [des Königs] ist geschmückt mit dem kostbaren Licht des Gesetzes und mit dem wahren Spiegel der Kundigen und Guten“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 25v, Verse 1–5.
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schaft hin lesen, die den Lorbeer verdient, sondern auch im Sinne der Überreichung des Lorbeers an ehrwürdige Gelehrte. Dieses oszillierende Gefüge von tugendhafter Herrschaft und ehrwürdiger, den Lorbeer verdienender Gelehrsamkeit, verdichtet sich in der Figur der Pallas Athene auf fol. 22, das die Darstellung des Parisurteils zeigt (Taf. 29). Denn zum einen kann der Lorbeerkranz den kriegerischen Ruhm bezeichnen, den Pallas Athene Paris versprach; zum anderen steht er auf dem Haupt der Pallas, der Göttin der Weisheit, die links im Bild dargestellt ist, für eben jene Weisheit und Gelehrsamkeit. Beide Aspekte werden durch diese allegorische Figur auf König Robert übertragen, indem er durch diesen Ikonotext mit Pallas in Verbindung gebracht ist. Wird doch durch die Bildrhetorik das Vorstellungsbild vom gerecht richtenden König vor dem Bild evoziert, dessen Urteil auf Pallas fällt, indem er die durch Pallas Athene versinnbildlichte Weisheit erkennt.148 Insofern das Parisurteil zum Trojanischen Krieg mit dem Untergang Trojas geführt hat und das Römische Reich infolgedessen durch den Trojaner Aeneas gegründet wurde, erscheint die Allegorie des Parisurteils gleichsam als typologische figura, die in Roberts Herrschaft in Italien ihre Erfüllung findet. Solchermaßen ist die angevinische Herrschaft als Fortsetzung des römischen Reiches bezeichnet. Indem dieses genealogisch mit Troja verbunden ist, impliziert der Ikonotext des fol. 22 gemäß der Konzeption der translatio imperii als Fortsetzung des römischen Reiches eine genealogische Bindung der Anjou an Troja.149 Damit lässt sich hinsichtlich des ausgestellten Herrschaftsanspruchs Roberts von Anjou festhalten: Durch diese Bindung ist der Zusammenhang der angevinischen Herrschaft mit dem römischen Imperium gesichert. Daneben erfährt die Herrschaft König Roberts schließlich eine sakrale Legitimation mittels des Konzepts der beata stirps des angevinischen Königshauses.150 Diesem zufolge 148 Siehe dazu Kap. 5.1 und 5.2. 149 Zur verbreiteten genealogischen Herleitung verschiedener Adelsgeschlechter und Völker von Troja qua translatio imperii, wie jener des französischen Königsgeschlechts der Franken, vgl. Jean-Pierre Bodmer: Die französische Historiographie des Spätmittelalters und die Franken, in: Archiv für Kulturgeschichte 45, 1963, S. 91–118; Helene Homeyer: Beobachtungen zum Weiterleben der trojanischen Abstammungs- und Gründungssagen im Mittelalter, in: Res publica litterarum 5, 1982, S. 93– 123; Gert Melville: Troja. Die integrative Wiege europäischer Mächte im ausgehenden Mittelalter, in: Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit: Staaten, Regionen, Personenverbände, Christenheit, hg. v. Ferdinand Seibt, Winfried Eberhard, Stuttgart 1987, S. 415–432; František Graus: Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter, in: Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter, hg. v. Willi Erzgräber, Sigmaringen 1989, S. 25–43; Beate Kellner: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, S. 131–138. 150 Zum Selbstverständnis der Anjou als beata stirps vgl. Tanja Michalsky: Memoria und Repräsentation. Die Grabmäler des Königshauses Anjou in Italien, Göttingen 2000, S. 61–67; André Vauchez: Beata stirps. Sainteté et lignage en Occident aux XIIIe et XIVe siècles, in: Famille et parenté dans l’Occident médiéval, hg. v. Georges Duby, Jacques Le Goff, Rom 1977, S. 397–406; André Vauchez: La sainteté en Occident aux derniers siècles du Moyen Age. D’après les procès de canonisation et les hagiographiques, Rom 1981, S. 209–214; Gábor Klaniczay: Holy Rulers and Blessed Princesses. Dynastic Cults in Medieval Central Europe, Cambridge 2002, S. 295–327: Die neapolitanischen Anjou griffen die kapetingische und arpadische Tradition auf „to be the first to make the notion of dynastic saintliness (beata stirps) the cornerstone of the sacral legitimation of their new dynasty“ (S. 295). Kelly, New Salomon, S. 119–129 gibt einen Überblick über die Predigten und Bildwerke, in denen die beata stirps der neapolitanischen Anjou thematisiert ist.
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ist der König durch seine Herkunft aus einem geheiligten Geschlecht ausgezeichnet. Angeführt wird dieses Argument von der Sophia, die auf fol. 26v spricht: Regalis in te substantia, rex, apparet, quia geonologiam contines pro auorum generositatem et inuictam uirtutem auorum, liberalitatem parentum tam felicis recordationis: tam regis Karoli libertatem quam bone memorie regine Marie honestissimam pietatem et, ut latius exprimam, sanctitatem. Et quid ultra celeste sydus, germanum tuum beatissimum Ludouicum, in substantie tue dotibus numerem? Annumero quidem et refero tue prosapie gloriam, letitiam et triumphum. Uiuis ergo protectus hoc seculo, qui tam gloriosum couterinum habes aduocatum in celo. Uiuis, rex, directus in regno, qui tale aspicis exemplum relictum in clero. Essentia generalis est tibi credita singulariter, rex Roberte, in natura, gratia et scriptura.151 („Königliches Wesen, König, erscheint in dir, weil du in dir eine Genealogie gemäß der edlen Abkunft der Ahnen trägst und ihrer unbesiegten Tugend, die Freigiebigkeit deiner Eltern in so glücklicher lebhafter Erinnerung: sowohl die Großzügigkeit des Königs Karl152 als auch die aufrichtige Frömmigkeit und, um mich weitläufiger auszudrücken, die Heiligkeit der Königin Maria153 in gutem Andenken. Und was sollte ich darüber hinaus unter den Mitgiften deines Wesens das himmlische Gestirn aufzählen, deinen seligen Bruder Ludwig154? Gewiss zähle ich ihn hinzu und berichte von dem Ruhm, der Anmut und dem Triumph deines Geschlechts. Du lebst also beschützt in dieser Welt, der du im Himmel als Anwalt einen so rühmlichen Bruder hast. Du lebst, König, redlich im Königreich, der du ein solches Vorbild im Klerus hinterlassen siehst. Das deinem Geschlecht eigene Wesen ist dir anvertraut in besonderer Weise, König Robert, in deinem Charakter, wohlgefälligen Wesen und der schriftlichen Darlegung“).
Nachdem die Sophia zunächst eine genealogische Argumentation zur Legitimation der herrschaftlichen Ansprüche König Roberts aufgerufen hat155, kommt sie konkret auf den Aspekt der dynastischen Heiligkeit der Anjou zu sprechen. Weist sie doch mit ihrer Nen151 152 153 154 155
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 26va, Zeile 41–fol. 26vb, Zeile 3. Karl II. von Anjou (1254–1309), der Vater Roberts. Maria von Ungarn († 1323), die Ehefrau Karls II. Ludwig von Toulouse (1274–1297). Der genealogische Rückgriff gehört zum Topoi-Arsenal des Herrscherlobes. Vgl. M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars prior, hg. v. Ludwig Radermacher, Leipzig 1959 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), III, vii, 10, S. 160; Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, § 245. Zur Bedeutung einer genealogischen Argumentation zur Legitimation herrschaftlicher Ansprüche und zu genealogischen Konzepten im Zusammenhang der Repräsentation dynastischer Heiligkeit siehe u. a. Gert Melville: Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynastische Legitimation zur Herrschaft, in: Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit, hg. v. Peter-Johannes Schuler, Sigmaringen 1987, S. 203–309; Godfried Croenen: Princely and Noble Genealogies, Twelfth to Fourteenth Century. Form and Function, in: The Medieval Chronicle. Proceedings of the 1st International Conference on the Medieval Chronicle, Driebergen/Utrecht, 13–16 July 1996, hg. v. Erik Kooper, Amsterdam 1999, S. 84–95; vgl. dazu konkret in Bezug auf die neapolitanischen Anjou Jean-Paul Boyer: La foi monarchique. Royaume de Sicile et Provence (mi-XIIIe–mi-XIVe siècle), in: Le forme della propaganda politica nel Due e nel Trecento, Relazioni tenute al convegno internazionale organizzato dal Comitato di studi storici di Trieste, dall’École française de Rome e del Dipartimento di storia dell’Università di Trieste, Trieste, 2–5 marzo 1993, hg. v. Paolo Cammarosano, Rom 1994, S. 85–110.
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nung der Heiligkeit Marias von Ungarn (regine Marie sanctitatem) darauf hin, dass das Königshaus der ungarischen Arpaden durch den Hl. König Stephan von Ungarn eine beata stirps war.156 Gebunden an die eheliche Verbindung Marias von Ungarn und Karls II. von Anjou, den elterlichen Vorfahren Roberts, stellt sie den Fortbestand der dynastischen Heiligkeit heraus157, indem sie zunächst König Robert gegenüber äußert, dass er eine Genealogie in sich trage „von so glücklicher lebhafter Erinnerung“ (geonologiam contines […] tam felicis recordationis) – insofern eine lebhafte Erinnerung die Gegenwärtigkeit von etwas bedeutet, dürfte mit den Worten felicis recordationis das fruchtbare Fortbestehen der Geblütsheiligkeit bezeichnet sein. In diesem Sinne fährt die Sophia in ihrer Rede fort: Sie kommt auf den Hl. Ludwig von Toulouse zu sprechen, den Bruder König Roberts.158 Diesem wird nun ein besonderer Stellenwert zur Repräsentation des „königlichen Wesens“ Roberts und zur Legitimation seiner Herrschaft beigemessen. Denn durch das Stilmittel der rhetorischen Frage weist sie auf die Bindung Ludwigs und dessen Heiligkeit zu Robert hin. Eine verstärkende Wirkung erfährt diese Aussage, indem sie in Form einer schon nicht mehr erforderlichen Antwort darlegt, dass an diese Heiligkeit Ruhm, Anmut und der Triumph des Geschlechts (tue prosapie gloriam, letitiam et triumphum) gebunden sind. Die allegorische Bedeutung dieser Aussage liegt freilich in der Übertragung auf das Wesen König Roberts, der dieser geheiligten Dynastie entstammt. Zudem spiegelt sich in den Worten der Sophia, dass König Robert „redlich im Königreich“ lebt, indem er seinen Bruder Ludwig „im Klerus hinterlassen“ sieht (uiuis, rex, directus in regno, qui tale aspicis exemplum relictum in clero), auch die Notwendigkeit einer Legitimierung der angevinischen Thronfolge: Die Sophia legitimiert die Herrschaft Roberts von Anjou als Drittgeborenem, die auf ihn durch den Thronverzicht seines Bruders Ludwig von Toulouse übergegangen ist.159 Die historische Notwendigkeit der Legitimierung der Thronfolge Roberts160, die verbunden ist mit der Repräsentation dynastischer Heiligkeit, spiegelt sich im Medium des Bildes bekanntlich in der berühmten Ludwigpala Simone Martinis (Abb. 28).161 Im Auf156 Vgl. dazu Gábor Klaniczay: Königliche und dynastische Heiligkeit in Ungarn, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. v. Jürgen Petersohn, Sigmaringen 1994, S. 343–361. 157 Vgl. dazu Vauchez, Beata stirps; Vauchez, Sainteté en Occident, S. 212–214. André Vauchez zufolge liegt die Dauerhaftigkeit der ‚sainteté de lignage‘ in der Verbindung des neapolitanisch-angevinischen und des ungarisch-arpadischen Königshauses begründet, die 1270 durch die Heirat Karls II. von Anjou und Maria von Ungarn vollzogen wurde. 158 Am 7. April 1317 war Ludwig von Toulouse kanonisiert worden. Zu seiner Heiligsprechung siehe grundlegend Edith Pásztor: Per la storia di San Ludovico d’Angiò (1274–1297), Rom 1955, bes. S. 23–34. Eine Zusammenstellung der Quellen findet sich bei Margaret R. Toynbee: S. Louis of Toulouse and the Process of Canonisation in the Fourteenth Century, Manchester 1929. 159 Bevor Ludwig im Mai 1296 zum Priester geweiht und im Dezember desselben Jahres durch Bonifaz VIII. zum Bischof von Toulouse erhoben wurde, hatte er im Januar 1296 zugunsten seines jüngeren Bruders Robert auf die Krone verzichtet. Vgl. dazu Pásztor, Per la storia di San Ludovico. 160 Infolge des Todes Karls II. bestanden Thronstreitigkeiten zwischen der neapolitanischen und ungarischen Linie der Anjou: Karl Robert von Ungarn sah sich als Sohn von Karl Martell, dem erstgeborenen Bruder Roberts, als rechtmäßiger Thronprätendent und erhob Anspruch auf die neapolitanische Krone. Siehe dazu Bálint Hóman: Gli Angioini di Napoli in Ungheria, 1290–1403, Rom 1938, S. 143. 161 Neapel, Museo Nazionale di Capodimonte, Inv. Nr. Q.34, Tempera und Gold auf Holz, Tafel 200 cm x 138 cm, Predella 56 cm x 138 cm. Einen Überblick über die Bildwerke, in denen die beata stirps der
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trag Roberts von Anjou wohl kurz nach der Kanonisierung Ludwigs 1317 entstanden162, zeigt sie in zentraler Mittelachse frontal thronend den Heiligen Ludwig von Toulouse. Als Heiligem und Bischof, bezeichnet durch Nimbus und Mitra, wird ihm die himmlische Krone durch Engel aufs Haupt gesetzt. Infolge dieses Status reicht er die irdische Krone der geheiligten angevinischen Dynastie – die Borte seines kostbaren Umhangs zeigt gemäß der Abstammung seiner Eltern alternierend die heraldischen Zeichen der neapolitanischen und ungarischen Anjou – an seinen jüngeren Bruder Robert weiter: Die Krönung Roberts, der am rechten Bildrand im Profil vor dem Thronenden niederkniet, vollzieht sich durch den heiliggesprochenen Bruder. In dieser Repräsentation des königlichen Geschlechts verschränken sich somit göttliche Auszeichnung und weltliche Herrschaft.163 Durch das Konzept der beata stirps wird mithin die Legitimität und Sakralität König Roberts bezeichnet. Hier spiegelt sich der splendor imperii, der Glanz der Herrschaft, der im Glanz der Abstammung, der „‚Heiligkeit‘ des Blutes“164, fundiert ist: Der Sippenheilige nimmt die Gnade Gottes als Glanz auf und vermittelt sie als Glücksglanz des Geschlechts. Qua genealogischer Disposition ist König Robert mit dieser „Harmonie von Geblütscharisma und himmlischem Glanz“ verbunden.165 Daraus erwächst das Charisma seiner Herrschaft „als die Verbindung von Tugend und Heil“166, was in der bildlich-textuellen Repräsentaneapolitanischen Anjou ausgestellt wird, gibt Kelly, New Salomon, S. 119–129. Vgl. zur forcierten Repräsentation der Anjou als einer beata stirps im Medium des Grabmals Tanja Michalsky: Die Repräsentation einer Beata Stirps. Darstellung und Ausdruck an den Grabmonumenten der Anjous, in: Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte, hg. v. Otto Gerhard Oexle, Andrea von Hülsen-Esch, Göttingen 1998, S. 187–224. 162 Die Datierung basiert auf stilkritischen Analysen und historischen Begründungszusammenhängen, eine dokumentarische Festschreibung ist nicht überliefert. Vgl. Bologna, I pittori alla corte angioina, S. 151–157; Julian Gardner: Saint Louis of Toulouse, Robert of Anjou and Simone Martini, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 39, 1976, S. 12–33, hier S. 22 f.; Andrew Martindale: Simone Martini. Complete Edition, Oxford 1988, S. 18, 192–194; Adrian S. Hoch: The Franciscan Provenance of Simone Martini’s Angevin St. Louis in Naples, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 58, 1995, S. 22–38, hier S. 26; abweichend von diesen Lorenz Enderlein: Zur Entstehung der Ludwigstafel des Simone Martini in Neapel, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 30, 1995, S. 135–149, der eine spätere Entstehungszeit annimmt. 163 Siehe dazu Michalsky, Memoria und Repräsentation, S. 67–73; Gardner, Saint Louis of Toulouse; Klaus Krüger: A deo solo et a te regnum teneo. Simone Martinis Ludwig von Toulouse in Neapel, in: Medien der Macht. Kunst zur Zeit der Anjous in Italien, hg. v. Tanja Michalsky, Berlin 2001, S. 79–119. 164 Herwig Wolfram: Splendor Imperii. Die Epiphanie von Tugend und Heil in Herrschaft und Reich, Graz 1963, S. 95: „So wird im besonderen der Glanz der Herrschaft […] durch die ‚Heiligkeit‘ des Blutes und das Charisma der Sippe erzeugt“. 165 Zum splendor, dem „Glanz als Attribut des göttlichen oder zumindest charismatischen Herrschers“ siehe Wolfram, Splendor Imperii, S. 104: Sippenheilige „empfangen Gottes Gnade als Glanz und vermitteln jenen als Glücksglanz ihres Geschlechtes und deren Reiches. Man meinte nun, daß der Glanz einer adeligen Sippe sehr wohl geeignet sei, den Glanz Gottes aufzunehmen, und daß aus der Harmonie von Geblütscharisma und himmlischem Glanz die Erscheinung adeliger und damit ‚staatlicher‘ Macht allein möglich sei. Die politische Theologie benennt während des ganzen Mittelalters mit splendor das Zusammenwirken jener Kräfte und Tugenden“. 166 Wolfram, Splendor Imperii, S. 96: „[…] diejenige Wirklichkeit der Herrschaft […], die wir als Charisma, als die Verbindung von Tugend und Heil, und deren Erscheinung wir als Glanz bezeichnen“.
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Repräsentation von Künsten und Herrschaft
tion des Königs auf fol. 10v sinnfällig vor Augen gestellt wird (Taf. 16). In den Versen, die in die goldenen Lilien auf blauem Grund inseriert sind, vor denen der König als dem heraldischen Zeichen seines Geschlechts thront, heißt es: Lilia formauit hec aurea queue locauit / in spatio celi sic stipite nempe fideli / regia stirps: splendet hiis floribus et proba pendet. / Gratia cum flore uenit […] / […] / Hic est fulgoris flos aureus atque pudoris; / […] / proles regalis hoc flore patet spetialis. /167 („Das Königsgeschlecht hat diese goldenen Lilien gebildet und sie so in den Raum des Himmels gestellt, offenbar mit dauerhaftem Stamm: Es glänzt durch diese Blumen und schwebt [dort] tugendhaft. Die Gnade kommt mit dieser Blume […]. Diese ist die goldene Blume des Glanzes und der Ehre; […] das königliche Geschlecht offenbart sich besonders durch diese Blume“).
Insofern diesen Worten zufolge „der Glanz der Herrschaft […] die Epiphanie der Tugend und des von ihr begründeten ‚Heils‘ des Herrschers [ist]“168, heißt es in diesem Sinn schließlich auch in Bezug auf die historisch-politische Situation in dem mimetischen Figurengedicht auf fol. 25v, das die Krone der neapolitanischen Anjou bildet: Una salus Italis hec est et spes spetialis. / Hec est quam digna redolenti fronte benigna / Ierusalem regis hec Sicilieque corona! /169 („Diese [Krone] ist die einzige Rettung für die Italer und ihre besondere Hoffnung. Wie sehr ist diese gütige Krone der duftenden Stirn des Königs von Jerusalem und Sizilien würdig!“).
2.3 Der zeichnende Dichter und die Bilderfindung Die Repräsentation König Roberts als Erretter der Italia und Roma führt zurück zum Exordium, zur Einleitung der Lobrede. Einmal, weil im Exordium das panegyrische Telos, der Beweggrund für das Verfassen und der Zweck des Herrscherlobes, vom Autor angezeigt ist.170 Andermal, weil es mit dem Bild des Dichters in Zusammenhang steht171, nach dessen bildlich-textueller Modellierung in diesem Kapitel gefragt wird. So vernimmt der Leser in der linken Textspalte des fol. 1 (Taf. 1) die Klage des verlassenen römischen Throns über die Abwesenheit des Papstes sowie über die Degenerierten der Kurie, die 167 168 169 170
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 10v, Verse 5–8, 18–21. Wolfram, Splendor Imperii, S. 101. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 25v, Verse 1–3. Zur Bedeutung des Exordium und teleologischen Erwägungen, die in das Kalkül einer Rede gehören, siehe M. Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia, Bd. 3: De oratore, hg. v. Kazimierz F. Kumaniecki, Leipzig 1995 [Nachdruck von 1969] (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), II, 76–79, S. 235–242; M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars prior, IV, i, 5, S. 186. Vgl. dazu Helmut Rahn: Zur Struktur des ciceronischen Rede-Proömiums, in: Der altsprachliche Unterricht 11, 1968, S. 5–24, bes. S. 8–11. 171 Das Exordium dient auch der Selbstdarstellung des Redners, siehe M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, IV, i, 7, S. 186; M. Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia, Bd. 2: Rhetorici libri duo qui vocantur De inventione, I, 16, 22, S. 20 f.
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„aufgeblasen sind durch den weltlichen Prunk“ (tument pompis) und die „Roma, das ehrwürdige Haupt der Welt, auslachen und mit Worten verspotten“ ([…] ridentque capud uenerabile Romam / orbis et in uerbis deludunt […] /)172. Diese Klage aufgreifend, legt Christus hieran nachdrücklich dar, dass seine Stadt Rom Hilfe erbittet (urbs mea, Christus ait, […] / […] / urbs mea, Roma, […] / urbs mea querit opem […] /), um demgemäß eine rasche Hilfe ohne Verzug anzuordnen, ja, zu befehlen (mando citus pergat nunc absque pauoris inanis, / mando, mora […] /)173. Nachdem Christus schließlich prophezeiend in Aussicht gestellt hat, dass „Roma ihr Ruhm zurückgegeben wird“ (Rome reddetur gloria), weil „die barmherzige Tugend nicht zerbrochen werde an den abscheulichen Vorkommnissen dieser kurzen Periode“, und die Christenheit bald glücklich sein wird (non pia frangatur exemplis tempore uirtus / turpibus hoc modico; modicum sperate, beati / mox eritis […] /)174, trägt der heilige Thron dem Verfasser des Lobgedichtes an, den Auftrag zur Errettung der Roma an König Robert von Anjou zu übermitteln. Der Dichter, das ist nun festzuhalten, erscheint als Zeuge der Worte Christi. Gibt er doch dem Leser gegenüber dessen Worte wieder, wie der Einschub „[…], sagt Christus, […]“ ([…], Christus ait, […]) nahelegt. Das Bild des Dichters als Seher und Künder einer göttlichen Wahrheit formt sich aus, wenn Christus den baldigen glücklichen Zustand der Christenheit voraussagt und der Dichter sodann in göttlicher Bestimmung den Auftrag zur Errettung der Roma an den König zu übermitteln hat. Das heißt: Als Seher der göttlichen Weisheit kündet der Dichter in seinem Werk die Wahrheit über den Herrscher, der für den Zustand irdischer Glückseligkeit Sorge tragen wird.175 Dies Modell des prophetisch wissenden, höchste Wahrheit verkündenden Dichters, des vates, steht bei Varro und, ihm folgend, bei und seit Vergil als „Ausdruck für den göttlich inspirierten, prophetischen Sänger/Künder gesellschaftlich relevanter Dichtung“176. 172 173 174 175
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1, Verse 22, 24 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1, Verse 37–40, 45 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1, Verse 64, 62–64. Das Bild des prophetischen Sehers mit seiner Vision vom Reich irdischer Glückseligkeit korrespondiert mit der zentralen allegorischen Figur des Werkes auf fol. 15v, das auch die Dichtung der Regia Carmina versinnbildlicht. In dieser Verschränkung zeigt sich eine Semantik, die Andreas Kablitz für Dantes Divina Commedia herausgestellt hat: Indem dem Ikonotext des fol. 15v der vierfache Schriftsinn der Bibelexegese eingeschrieben ist und transformiert wird, „verwandelt [Convenevole] gewissermaßen exegetische Techniken in eine Produktionsästhetik“. Dergestalt zeigt sich die gnadenhaft durch Gott erworbene Wahrheit des vates in der Struktur des Ikonotextes, die die eigene Dichtung als Hervorbringung einer neuen Wahrheit ausstellt. Siehe dazu Kap. 3.2 und 3.3, ferner Kap. 2.1. Zit. aus Andreas Kablitz: Dantes Odysseus, in: Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption, hg. v. Martin Vöhler, Bernd Seidensticker, Berlin 2005, S. 93–122, hier S. 117. 176 Andreas Bendlin: Vates, in: Der Neue Pauly, Bd. 12/1, Stuttgart 2002, Sp. 1150 f., hier Sp. 1150. Vgl. dazu P. Vergili Maronis Opera, Aeneis, VII, 41, S. 257; P. Vergili Maronis Opera, Eclogae, VII, 27 f., S. 18 und IX, 33 f., S. 24; Q. Horatius Flaccus Opera, Epoden, 16, 66, S. 161 und 17, 44, S. 163; John Kevin Newman: Augustus and the New Poetry, Brüssel 1967, S. 99–206; Hellfried Dahlmann: Vates, in: Philologus 97, 1948, S. 337–353. Gemäß der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung der Dichtung ist der Autor auf fol. 24 ausdrücklich als vates bezeichnet, und zwar in einer Ansprache, welche die Kommune Prato, die Auftraggeberin des Werkes, an den König richtet. In ihren Worten verweist sie explizit auf das Werk des Dichters und dessen Funktion als ‚Sprachrohr‘, womit auf dessen Relevanz verwiesen ist: Supplico pro uate, qui regia carmina cudit, / hec tua […] / exaudire uelis, que poscit nomine prati / […] rex pie […] / („Durch den Dichter, der diese dir [gewidmeten] königlichen Ge-
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Repräsentation von Künsten und Herrschaft
In den Versen, mit denen die Regia Carmina auf fol. 1 anheben und die einen Teil des Proömiums bilden, wird das geschaffene Werk mit dem göttlichen Licht verbunden. Zugleich wird die göttliche Liebe als formende Kraft und als Bedingung verdienstvoller Werke herausgestellt.177 Indem der Dichter als göttlich inspiriert erscheint, werden damit zugleich die Wirkung und Bedeutung des dem Leser vorgestellten Werkes zum Ausdruck gebracht. So heißt es denn: Sedes summa Dei prout est exemplar amoris, / nam res ex nicchilo cunctas in amore creauit, / sic regimen regum, sic est etiam soliorum, / iudicii lux clara tenens moderamina ueri. / De quo fons manat mare gignens unde lauatur / mundus et omnis habet alimentum natio. Sedes / sunt alie Matris Sancte celique figure. / Harum uel generum fragilis farrago libelli / est huius. Tronis residens celestibus isti / rorem dignetur aspergere, cuius ab arce / omne bonum manare datur fructusque operumque. / 178 („So wie der höchste Thron Gottes Abbild der Liebe ist, denn sämtliche Dinge hat er in Liebe aus dem Nichts geschaffen, so ist die Regierung der Könige, die der Throne, das klare Licht des Urteils, das die Lenkung des Wahren hält. Von dort strömt eine Quelle aus, die das Meer hervorbringt, durch das die Welt gereinigt wird und jedes Volk Nahrung erhält. Andere Throne sind jene der Heiligen Mutter und der himmlischen Wesen. Das Mancherlei dieses zerbrechlichen Büchleins179 ist dieser Art. Der auf dem himmlischen Thron sitzt, möge es gnädig mit Tau besprengen, von dessen Höhe alles Gute herrührt und die Früchte der Arbeit gegeben werden“).
Die Darstellung des Autors als göttlich inspirierter Dichter wird im Verlauf des Exordium weiter ausgeprägt. Entscheidend ist dies im Hinblick auf die an sie gebundene und im Folgenden zu erörternde Repräsentation von Bilderfindung und damit von Wort- und Bildkunst. Denn in dieser Darstellung des Dichters zeigt sich deutlich die Auffassung einer ‚theologischen Poetik‘, derzufolge das Werk eines Dichters göttlichen Ursprungs ist, das durch göttliches Einwirken charakterisiert wird.180 So lauten die ersten Verse auf fol. 1v, die bezeichnenderweise über dem gemalten Thron fixiert sind (Taf. 2):
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dichte schmiedet […], flehe ich dich an, dass du das deutlich hören mögest, was er im Namen Pratos verlangt […], oh frommer König“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24, Verse 27–30. Zur Liebe als schöpferischer Kraft vgl. Kap. 4.1. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1, Verse 1–11. Dieser Ausdruck von Bescheidenheit scheint zu rekurrieren auf Juvenal, siehe D. Iunii Iuvenalis Saturae Sedecim, hg. v. James A. Willis, Stuttgart 1997 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), I, 86, S. 5: […] nostri farrago libelli /. Vgl. zu dieser Passage u. a. Jonathan Powell: The Farrago of Juvenal 1.86 Reconsidered, in: Homo Viator. Classical Essays for John Bramble, hg. v. Michael Whitby, Philip Hardie, Mary Whitby, Bristol 1987, S. 253–258. Zur theologischen Poetik immer noch grundlegend: August Buck: Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance, Tübingen 1952, S. 67–87 (Kap. III, 2: Die Verteidigung der Poesie); ferner Giorgio Ronconi: Le origini delle dispute umanistiche sulla poesia (Mussato e Petrarca), Rom 1976; Claudio Mésoniat: Poetica theologia – La Luculoa Noctis di Giovanni Dominici e le dispute letterarie tra ’300 e ’400, Rom 1984; zur Entwicklung von der Spätantike bis zur Renaissance vgl. Ernst Robert Curtius: Theologische Poetik im italienischen Trecento, in: Zeitschrift für romanische Philologie 60, 1940, S. 1–15; Curtius, Europäische Literatur, S. 219–232.
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Hah, Deus en, fari nequeo sine te meditari. / Ergo precor nosse, sicut das optime, posse / deque tuo trono concedas dicere dono. / Gloria, laus et honor tibi sit, quam dicere conor. / Uera loqui dones dicam si lucida pones. /181 („Ah, Gott, siehe, ich kann nicht sprechen, ohne mich geistigen Betrachtungen über dich hinzugeben. Also bitte ich darum, dich zu erkennen, wie du es, Höchster, gewährst, und dass du mir mit der Gabe zugestehst, über deinen Thron oben sprechen zu können. Dir seien Ruhm, Lobpreisung und Ehre, sie versuche ich zu sagen. Du schenkest, die Wahrheit zu sagen, ich werde sie sagen, wenn du sie deutlich darstellen wirst“).182
Dass der Dichter die göttlichen Gaben tatsächlich erhalten hat, erfährt der Leser im Laufe der Lektüre: Nachdem sich unter anderem der bildlich dargestellte Thron Gottes selbst geäußert hat – signifikanterweise sind die Worte […], inquit tunc celica sedes /183 („[…], sagte dann der himmlische Thron, […]“) in die materialiter vor Augen gestellte Thronarchitektur eingelassen, in den oberen Knauf der linken Thronflanke –, spricht erneut mit dem ersten Vers auf fol. 2 das auktoriale Ich: Nunc precor audiri. Sapientia diua propinat, / que loquar. Ipsa sinat fari uerbisque poliri. / Res ego narrabo, que sentio, nunc sua sedes, / cuius uult edes. Que dogmata mira parabo. /184 („Nun bitte ich, gehört zu werden. Die göttliche Weisheit gibt mir ein, was ich sagen soll. Sie selbst erlaube mir zu sprechen und zu feilen. Ich werde die Dinge berichten, die ich wahrnehme, nun ist ihr Thron Wohnsitz von dem, der empfangen möchte.185 Diese wunderbaren Lehren werde ich vortragen“).186 181 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Verse 1–5. 182 Zum vates-Begriff, der eine Verbindung von Dichter und Göttlichkeit impliziert in der hier aufscheinenden zweifachen Weise, nämlich vom göttlich inspirierten Propheten, der in seiner Dichtung Gott besingt, vgl. Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum libri XX, VIII, vii, 3, o. S.: proinde poetae Latine vates olim, scripta eorum vaticinia dicebantur, quod vi quadam et quasi vesania in scribendo commoverentur […]. Etiam per furorem divini eodem erant nomine, quia et ipsi quoque pleraque versibus efferebant. („daher hießen die Dichter einst im Lateinischen vates, ihre Schriften wurden Weissagungen genannt, weil sie durch eine gewisse Kraft und gleichsam einen Wahnsinn beim Schreiben bewegt wurden […]. Auch durch die Raserei waren sie dem Namen nach göttliche, weil diese selbst das meiste in Versen hervorbrachten“). 183 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Vers 42. 184 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 2, Verse 1–4. 185 Damit ist der Thron Roberts von Anjou gemeint. 186 Vgl. dazu folgende Verse auf fol. 25v: […] Deus, sapientia superne ueritatis / […] / et summa pulcritudo sublimium formarum, / lumen, a quo descendit omnis intelligentia, / et mea, que ostendit, omnis que fert scientia, / per me quicquid accendit a tua refulgentia / („[…] Gott, Weisheit der höchsten Wahrheit […] und höchste Schönheit der erhabenen Formen, Licht, von dem alle Einsicht herrührt, auch meine, die das zeigt, was alles Wissen (hervor)bringt, alles was durch mich erhellt, [kommt] durch deinen Widerschein“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 25v, Verse 24–31. Vgl. zum Zusammenhang der schöpferischen Kraft göttlicher Liebe und der vermittelnden Position, die dem göttlich inspirierten Autor zukommt, Francesco da Barberino, Documenta Amoris, Bd. 1, S. 5, deren Proömium mit folgenden Versen anhebt: Somma vertù del nostro sir Amore / lo mio intellecto novamente accese, / ché di ciascun paese / chiamasse i servi a la sua maggior rocca. Dazu lautet die lateinisch verfasste Paraphrase: Summa nostri virtus superioris Amoris meum accendidit intellectum, ut servos eius ad suam maiorem archem de quacunque patria evocarem. Mit Vers 9 heißt es sodann, dass die Kunst, mit Nachdruck und Würde zu reden, die Eloquentia, durch Amor gelenkt ist: Et esso ad Eloquença disse a boccha / tutti li
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Letztlich wird das Bild, dass das Werk vorderhand durch göttliches Einwirken entstanden ist, maßgeblich durch einen intertextuellen Bezug erzeugt: In den Versen, die sich auf fol. 1 unmittelbar an das Proömium anschließen (Taf. 1), stellt sich der Autor in die Tradition der Offenbarung des Johannes.187 So beschreiben die Verse, die in der linken Textspalte durch die zweite Initiale eingeleitet werden und mit dem Verb astitit188 anheben: Astitit effingens faciem cathedralis ymago / quedam, sic recolo qua canus crine sedebat / et barba niueaque senex cum ueste, set ore / flammifero […] / 189 („Es stand da [d. h. mir ist erschienen, ich habe gesehen], eine äußere Erscheinung darstellend, wahrhaft das Bild einer Kathedra, auf der, so erinnere ich mich, ein alter Weißhaariger und Weißbärtiger saß, mit einem schneeweißen Gewand, aber einem feuerroten Gesicht“).
In offenkundiger Weise lehnt sich die Schilderung des Alten an die Darstellung der Offenbarung (1, 12–16) an: conversus sum ut viderem vocem quae loquebatur mecum et conversus vidi […] similem Filio hominis […] caput autem eius et capilli erant candidi tamquam lana alba tamquam nix et oculi eius velut flamma ignis […] et facies eius sicut sol lucet in virtute sua […] („Und ich wandte mich um, die Stimme zu sehen, die zu mir redete; und da ich mich umwandte, sah ich […] einen, der einem Menschensohne glich […]. Sein Haupt aber und seine Haare waren weiß wie weiße Wolle und wie Schnee, und seine Augen wie Feuerflammen […] und sein Angesicht war, wie wenn die Sonne leuchtet in ihrer Kraft“)190.
Der göttliche Ursprung des Werkes wird mittels eines zweiten intertextuellen Bezugs auf die Offenbarung in den letzten Versen des fol. 1unterstrichen: documenti / che troverren contenti / nel libro qui seguente […]. Das bedeutet, dass dem Autor die Rolle des Schreibers attestiert wird. Ihm kommt eine vermittelnde Position zu, indem er gebeten wurde, die Lehren Amors und der Tugenden aufzuzeichnen und dergestalt anderen erfahrbar zu machen. So die Verse 15–20: Amor e Cortesia mi comandarono / ch’ io gli mandasse a quegli / ch’ aman che sia grand’ egli. / Et io a.llor li dono, / perché tutti non sono / a quel sì alto parlamento stati. Dazu angeregt und erleuchtet war er durch das Bild, das in seinem Geist zusammengestellt war, wie sich aus der Lektüre der lateinischen Glosse zu der ersten lateinischen Paraphrase Summa nostri virtus erschließen lässt. Sie lautet: Accendidit dic per ymaginationem collatam in mentem meam […]. Francesco da Barberino, Documenta Amoris, Bd. 2, S. 17. 187 Durch diesen intertextuellen Bezug und die daraus resultierende Implikation der Vision ist zudem der allegorische Charakter des Werkes bezeichnet. Zur Geläufigkeit dieses Bezeichnungsmodus siehe Angus Fletcher: Allegory. The Theory of a Symbolic Mode, Ithaca 1964, S. 348 f. 188 Das astitit ist als traditionelle Kennvokabel eines visionären Zusammenhangs zu verstehen, vgl. Anicii Manlii Severini Boethii Philosophiae Consolatio, hg. v. Ludwig Bieler, Turnhout 1957 (Corpus Christianorum, Series Latina, Bd. 94), I, pr. 1, 1, S. 2: […], astitisse mihi supra uerticem uisa est mulier reuerendi admodum uultus […]; P. Vergili Maronis Opera, Aeneis, III, 150, S. 157; Fabii Planciadis Fulgentii V. C. opera, hg. v. Rudolf Helm, Stuttgart 1970 [Nachdruck von 1898] (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), Mythologiae, I, xiii, S. 24. 189 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1, Verse 12–15. 190 Biblia sacra: iuxta Vulgatam versionem; Übersetzung aus Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Mit dem Urtexte der Vulgata, übers. und mit Anm. versehen v. Augustin Arndt S. J., Bd. 3, Regensburg 61914 [1897].
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Scribe quidem, mox tronus ait, nunc uisa, deinde / regi cuncta meo referes conscripta Roberto / 191 („Schreibe nämlich, sagt dann der Thron, das Gesehene nun auf, hierauf wirst du alles, was du aufgeschrieben hast, meinem König Robert berichten“).192
Das nimmt offenbar Bezug auf Apk 1, 10–19: fui in spiritu in dominica die et audivi post me vocem magnam tamquam tubae dicentis quod vides scribe in libro et mitte septem ecclesiis […]. Scribe ergo quae vidisti et quae sunt et quae oportet fieri post haec. („Da war ich im Geiste an dem Tage des Herrn, und ich hörte hinter mir eine starke Stimme, wie von einer Posaune, die sprach: Was du schaust, schreibe in ein Buch, und sende es den sieben Gemeinden […]. Schreibe nun, was du gesehen hast, was ist, und was nach diesen geschehen soll“)193.
Hinsichtlich der ‚theologischen Poetik‘ und damit verbunden der Bilderfindung zeigt sich eine oszillierende Deutungskomplexität, die ihren Ausgang nimmt in den Versen: Astitit effingens faciem cathedralis ymago / quedam, sic recolo qua canus crine sedebat / et barba niueaque senex cum ueste, set ore / flammifero […] / 194.
Gemäß der ‚theologischen Poetik‘ wird die nachfolgende Schöpfung einer materiellen Gestalt (effingens faciem) metaphysisch abgeleitet mittels des intertextuellen Bezugs auf die ersten Verse der Offenbarung des Johannes. Durch dieses metaphysische Referenzsystem wird die Vorstellung evoziert, dass das sprechende Dichter-Ich eine Vision des göttlichen Thrones erfährt, von welchem im ersten Vers des Werkes die Rede war. Indem sich mit fortschreitender Lektüre der evozierte Thron mit dem Alten indes als Bild der römischen Kathedra Petri erweist, entsteht eine Spannung, eine semiotische Differenz zwi191 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1, Vers 81 f. 192 Vgl. dazu Karl Maurer: Jenseitige Literaturkritik in Dantes Divina Commedia und anderweit, in: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht, Heidelberg 1980, S. 205–252, hier S. 248, Anm. 270, der in Bezug auf Dantes Divina Commedia darlegt: „Der Dante der Divina Commedia schreibt, erst im Geist, dann in – nur mit ‚höherer‘ Hilfe zu findenden – Worten nieder, was er gesehen und gehört hat (vgl. Inferno II, 8: O mente che scrivesti ciò ch’io vidi); sein unmittelbares Vorbild sind die biblischen ‚Offenbarungen‘, namentlich die Apokalypse […] und ihre mittelalterlichen Nachbildungen.“ In Rückbindung wiederum an die angeführte Passage aus Francesco da Barberinos Proömium der Documenti d’amore sei zudem verwiesen auf Beatrices Anweisung an Dante zur Niederschrift des Gesehenen, damit diese der in Sünde verstrickten Menschheit zum Nutzen gereiche: Però, in pro del mondo che mal vive, / […] e quel che vedi, / ritornato di là, fa che tu scrive / (Dante Alighieri, Divina Commedia, Purgatorio, XXXII, 103–105, S. 947 f.). Und in Paradiso XVII, 128 heißt es schließlich, Dante solle seine ganze Vision verkünden: tutta tua visïon fa manifesta (Dante Alighieri, Divina Commedia, Paradiso, XVII, 128, S. 491). Siehe dazu hier Maurer, Dante als politischer Dichter. Vgl. zu der Passage auch Löhr, Lesezeichen, S. 132 f. 193 Biblia sacra: iuxta Vulgatam versionem; Übersetzung aus Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Mit dem Urtexte der Vulgata, Bd. 3. 194 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1, Verse 12–15.
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schen der Fiktion des sensus litteralis und dem konnotierten metaphysischen Referenzsystem. Das heißt: Gerade durch die Evozierung eines metaphysischen Referenzsystems gerät die dichterische Fiktion in die Opposition von Sein und Schein. Dabei erweisen sich die mit der beschriebenen Imagination bedeutete göttliche Eingebung zum einen und die Hervorbringung der äußeren Gestalt zum anderen nicht nur als zwei Aspekte einer Einheit.195 Die Spannung zwischen eigenständiger künstlerischer Hervorbringung und metaphysisch fundierter schöpferischer Nachahmung wird vielmehr zugunsten Ersterer verschoben, indem der erscheinende Thron als Kathedra Petri sinnfällig wird und damit den Versen in ihrer oszillierenden Deutungskomplexität zwischen göttlichem und irdischem Thron eine Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen der imitatio substantiellen Seins inhärent ist.196 Zudem wird diese Spannung nachfolgend auf die Struktur der gesamten Handschrift übertragen durch die schon zitierten letzten Verse des fol. 1: Scribe quidem, mox tronus ait, nunc uisa, deinde / regi cuncta meo referes conscripta Roberto /197 („Schreibe nämlich, sagt dann der Thron, das Gesehene nun auf, hierauf wirst du alles, was du aufgeschrieben hast, meinem König Robert berichten“).
Diese Spannung wird dadurch erzeugt, dass nicht klar ist, ob der römische Thron spricht oder der göttliche Thron, der Abbild der Liebe Gottes (exemplar amoris) ist, so dass dieser als Ursprung des Wortes, als dessen substantielles Sein erschiene. Die metaphysische Begründung des Lobgedichts bleibt damit in der Schwebe. Solchermaßen wird ein Nebeneinander von göttlich inspirierter Dichtung und fiktionaler Dichtkunst durch den Verfasser modelliert, wobei das konnotierte metaphysische Referenzsystem als Legitimationsinstanz der dichterischen Fiktion fungiert. Bedeutsam ist hierbei, dass dieses Nebeneinander nicht nur auf theoretischer Ebene reflektiert
195 Vgl. die prägnanten Ausführungen von Karlheinz Stierle: Fiktion, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 2001, S. 380–428, hier S. 380 f. zum Verhältnis von Fiktivem und Imaginärem, in denen er sich insbesondere mit Wolfang Isers Thesen zum Fiktiven und Imaginären auseinandersetzt. 196 Vgl. Maria Moog-Grünewald: Der Sänger im Schild – oder: Über den Grund ekphrastischen Schreibens, in: Behext von Bildern? Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuellen Faszination durch Bilder, hg. v. Heinz J. Drügh, Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 2001, S. 1–19, hier S. 1 zur „essentiellen, daher unaufhebbaren Differenz“ von „Bild und Text“ sowie von „Wirklichkeit und Sprache“ und dem „Begehren […,] die vorgebliche Differenz aufzuheben“: „Feststellung und Widerruf sind – quasi ab origine – aufeinander verwiesen; sie bestimmen von Anbeginn das Wesen der Dichtung in ihrer Intention, eine Identität zu ‚stiften‘ zwischen Poiesis und Mimesis, ‚mimo-logisch‘ zu sein, auch anders: Rhetorik in Metaphysik zu gründen, mithin jenen Hiat zu schließen, den schon Platon aufgemacht hat, indem er einerseits auf den nurmehr tertiären Status der Sprache und der Dichtung in ihrem Verhältnis zum Sein verwies [Platon: Politeia 595a–608b], und den er selbst wiederum aufhob, indem er andererseits und andernorts der Sprache und Dichtung unmittelbare Teilhabe am Sein zubilligte [Platon: Phaidros 244a–257b. Hier ist die Rede von der Liebe, dem Eros, als Form des Wahnsinns, der Mania; diese kann in ihrer dritten Erscheinungsweise, der Mania, die von den Musen ausgeht, dem Dichter zuteil werden und – so implizit – diesen teilhaben lassen am Göttlichen (245a)]“. 197 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1, Vers 81 f.
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wird198, sondern im Fortgang der Rezeption als Form dichterischer Praxis sinnfällig wird. Die Bedeutung des Nebeneinanders von göttlich inspirierter Dichtung und fiktionaler Dichtkunst ermisst sich in literarhistorischer wie dichtungstheoretischer Perspektive angesichts des zeitgenössischen Diskurses um die ‚theologische Poetik‘ und die daran gebundene Verteidigung fiktionaler Dichtkunst, wie sie sich bei Albertino Mussato und Giovanni Boccaccio zeigt.199 In diesen Zusammenhang fügt sich, dass sich das Autor-Ich auf fol. 28v als vates bezeichnet und durch seine invocatio an Apollon, den mythologischen Gott der Künste, bedeutet, dass die Dichtung des Vermögens und Gebrauchs der Kunst bedarf.200 Solchermaßen implizieren diese Verse das Konzept der inventio im Sinne von Erfinden beziehungsweise Erdichten201: 198 Siehe dazu weiter unten. Zu den verschiedenen Formen des Konzepts dichterischer Inspiration siehe die grundlegende Studie von Christoph J. Steppich: Numine afflatur. Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance, Wiesbaden 2002, S. 29–145. 199 Zum Postulat der Vergleichbarkeit von Dichtung und Theologie siehe Giovanni Boccaccio: Trattatello in laude di Dante, hg. v. Giorgio Ricci, Mailand 1974 (Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, Bd. 3), (1. Redaktion), § 155, S. 475: Dunque bene appare, non solamente la poesì essere teologia, ma ancora la teologia essere poesia. Vgl. dazu Albertino Mussato, der in seiner siebten Versepistel darlegt, dass die alten Dichter Künder Gottes gewesen seien und die Dichtung eine ‚zweite Theologie‘ (altera theologia) sei: […] Divini per secula prisca poete / esse pium celis edocuere Deum. / […] / Hique alio dici ceperunt nomine vates: / quisquis erat vates, vas erat ille Dei. / Illa igitur nobis stat contemplanda poesis / altera que quodam theologia fuit. / Daneben spricht Mussato in seiner vierten Versepistel davon, dass die Poesie eine Wissenschaft ist, die vom Himmel stammt und göttlichen Rechts ist. Die allegorische Dichtung, das heißt die heidnischen Mythen, berichteten dasselbe wie die Heilige Schrift, nur in Form ästhetischer Verhüllung: Hec fuit a summo demissa scientia celo; / cum simul excelso ius habet illa Deo. / Que Genesis planis memorat primordia verbis, / nigmate maiori mistica musa docet. / Zit. nach Enzo Cecchini: Le epistole metriche del Mussato sulla poesia, in: Tradizione classica e letteratura umanistica. Per Alessandro Perosa, hg. v. Roberto Cardini, Eugenio Garin, Lucia Cesarini Martinelli, Giovanni Pascucci, Rom 1985, S. 95– 119, hier S. 116, 108. Vgl. zur ‚theologischen Poetik‘ Anm. 180 in Kap. 2.3 und hier nicht zuletzt Rainer Stillers: Mit einem Füllhorn voller Erfindungen geht die Dichtkunst stets einher. Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio, in: Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, hg. v. Jörg Schönert, Ulrike Zeuch, Berlin 2004, S. 131–149. Zur Verteidigung der Dichtkunst bei Boccaccio siehe August Buck: Boccaccios Verteidigung der Dichtung in den Genealogie deorum, in: Boccaccio in Europe, Proceedings of the Boccaccio Conference, Louvain, Decembre 1975, hg. v. Gilbert Tournoy, Leuven 1977, S. 53–65; Bodo Guthmüller: Bersuire und Boccaccio. Der Mythos zwischen Theologie und Poetik, in: Bodo Guthmüller: Studien zur antiken Mythologie in der italienischen Renaissance, Weinheim 1986, S. 21–33; Sebastian Neumeister: Boccaccios Literaturbegriff (Genealogie deorum gentilium XIV), in: Saeculum tamquam aureum, Internationales Symposion zur italienischen Renaissance des 14.–16. Jahrhunderts am 17./18. September 1996 in Mainz, hg. v. Ute Ecker, Clemens Zintzen, Hildesheim 1997, S. 233–243. 200 Siehe dazu Kap. 2.1. Vgl. zu verschiedenen Arten der invocatio Dante Alighieri: Epistola a Cangrande, hg. v. Enzo Cecchini, Florenz 1995 (Biblioteca del medioevo latino, Bd. 51), § 47, S. 18, wo dargelegt ist, dass die Dichter sich an die ‚höheren Substanzen‘ wenden müssen, das heißt Gott, aber auch Apollon und die Musen; vgl. dazu Dante Alighieri, Monarchia, I, i, 6, S. 338; Dante Alighieri: De vulgari eloquentia, hg. v. Aristide Marigo, Florenz 31957 [1938] (Opere di Dante, Bd. 6), I, i, 1, S. 2–6; Dante Alighieri, Divina Commedia, Paradiso, I, 13–15, S. 15 f. sowie II, 8, S. 52 und XXIII, 55–60, S. 637; Dante Alighieri, Divina Commedia, Inferno, II, 7–9, S. 46 f. und XXXIII, 10, S. 982; Dante Alighieri, Divina Commedia, Purgatorio, I, 7–10, S. 10 f. und XXIX, 37–42, S. 857. Siehe dazu Ernst Robert Curtius: Die Musen im Mittelalter, in: Zeitschrift für romanische Philologie 59, 1939, S. 129–188; Curtius, Europäische Literatur, S. 235–252. 201 Siehe dazu weiter unten.
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At deitas sessor suus est: tu sis michi, uati / terrigene prati, solaminis, ergo professor, / et dator et pacis patrie pratensis amore /202 („Aber die Gottheit ist sein Reiter: Du seiest mir Trost, dem erdgeborenen Dichter Pratos und daher Lehrer, und Geber des Friedens aus Liebe zur pratensischen Heimat“).
Das schöpferische Hervorbringen des zeichnenden Dichters mit seinen Komponenten von imaginatio, memoria und fictio wird in dem Ikonotext der Folia 1 und 1v nicht nur reflektiert, sondern auch als künstlerische Praxis vorgestellt. So wird bei der Betrachtung des auf fol. 1v dargestellten Thrones (Taf. 2) unmittelbar augenscheinlich, dass das Bilden, fingere, aus der auf fol. 1 geschilderten imaginatio schöpft, zugleich aber von ihr abweicht203: Während in dieser auf dem Thron ein alter Weißhaariger sitzt (astitit cathedralis ymago, qua canus crine sedebat senex), erscheint er auf dem gemalten Thronbild nicht. Durch die auf den alten Weißhaarigen bezogene Wendung „so erinnere ich mich“ (sic recolo) ist zudem angezeigt, dass sich die schöpferische Einbildung aus der memoria speist.204 Die Zeichnung setzt mithin an der memoria an.205 Dergestalt erweisen sich Einbildung und Zeichnung als kreative Auseinandersetzung mit dem Gedächtnis. An diese ‚kunsttheoretische‘ Ebene fügt sich freilich die Semantik des Thronbildes im historischen Sinn, insofern mit dem alten Weißhaarigen, das heißt Petrus, auf dem Thron die Erinnerung an Rom als vormaligem Sitz der Päpste bezeichnet ist. In Bezug auf die sprachlich beschriebene Imagination entfaltet sich mithin eine Spannung zwischen Nachbildung (mimesis) und Andersheit der pictura, die durch die Bindung an das effingens faciem als konkrete Materilisation der sprachlich benannten Formgebung 202 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 28v, Verse 51–53. Zu bedenken ist freilich, dass der Begriff vates auch aus metrischen Gründen gesetzt sein könnte – uati reimt sich mit prati. 203 Die Dichtung erscheint mithin im aristotelischen Sinn der poiesis als Nachahmung, unterliegt dem ästhetischen Gesetz der nachahmenden Hervorbringung. Vgl. zu imaginatio und schöpferischer fantasia Dante Alighieri: Vita nova, hg. v. Guglielmo Gorni, Turin 1996 (Nuova raccolta di classici italiani annotati, Bd. 15), 2, S. 29–38 und 23, S. 191–196. Die imaginatio gibt die Kraft, das Werk zu vollenden. Demzufolge ist die schöpferische fantasia das Produkt der imaginatio. 204 In den Versen spiegelt sich mithin eine doppelte Semantik von imaginatio und schöpferischer fantasia: Zum einen die erinnernde Funktion einer sinnlichen Erfahrung, zum anderen die erfundene Neuschöpfung aus der Einbildungskraft. Vgl. Löhr, Dantes Täfelchen, S. 17–19; siehe dazu auch WolfDietrich Löhr: Disegnia sechondo che huoi. Cennino Cennini e la fantasia artistica, in: Linea I. Grafie di immagini tra Quattrocento e Cinquecento, hg. v. Marzia Faietti, Gerhard Wolf, Venedig 2008, S. 163–190. Zur Definition der Begriffe imaginatio und phantasia und deren semantischen Differenzen siehe Murray Wright Bundy: The
Theory of Imagination in Classical and Medieval Thought, Urbana 1927, bes. S. 200; Marie Dominique Chenu: Imaginatio. Note de lexicographie philosophique médiévale, in: Miscellanea Giovanni Mercati, Bd. 2: Letteratura medioevale, Vatikanstadt 1946, S. 593–602; Thomas G. Rosenmeyer: Φαντασία und Einbildungskraft. Zur Vorgeschichte eines Leitbegriffs der europäischen Ästhetik, in: Poetica 18, 1986, S. 197–248; Jacqueline Hamesse: Imaginatio et phantasia chez les auteurs philosophiques du 12e et du 13e siècle, in: Phantasia – Imaginatio, V° Colloquio Internazionale, hg. v. Marta Fattori, Massimo Bianchi, Rom 1988, S. 153–184; Mary Carruthers: The Craft of Thought. Meditation, Rhetoric, and the Making of Images, 400– 1200, Cambridge 1998. 205 Vgl. zu diesem Zusammenhang Löhr, Dantes Täfelchen, der anhand der Zusammenschau exemplarischer Textpassagen von Dante und Cennini die „Rolle des disegno als Medium von memoria und inventio“ eindrücklich herausstellt und dabei die historische Semantik der Begriffe erhellt.
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erscheint. Dies bedeutet hinsichtlich des Imaginären: Indem sich im Akt des Fingierens, der aktiven, formgebenden Fiktion, die Bearbeitung des Imaginären vollzieht, heißt dies zugleich, dass „das Imaginäre […] da erst seine höchste Form und zugleich seine höchste Bestimmtheit [erhält], wo es fiktiv bearbeitet ist“206. Demgemäß zielt das Imaginäre auf seine mediale Evidenz im fiktiven Werk und unterstellt sich darin den medialen Bedingungen. Und in Bezug auf die pictura heißt dies: Dass das gemalte Bild als „vergegenständlichtes Substrat des Imaginären“207 erscheint208, bedeutet, dass gerade die medialen Bedingungen der pictura, in der sich das Imaginäre freisetzt, als bedeutsam bezeichnet sind. In dieser Spannung zwischen Mimesis und Alterität wird mithin das Eigenrecht der pikutralen Materilisation ausgestellt und damit auf die materiale Präsenz verwiesen. Bedeutsam kommt hinzu, dass der fiktionale Status des konkret vor Augen gestellten Bildes durch die Bild-Text-Relation bezeichnet wird und das Bild gerade in diesem Status zu seinem Eigenrecht kommt. Wesentlich ist dabei das astitit ymago: Indem die Präsenz des Bildes der Imagination durch das astitit („es stand da“) sprachlich betont wird, wird durch die Andersheit der fiktionalen pictura zugleich der nicht-wirkliche Status der Materilisation sinnfällig. Das Bild zeigt sich in seinem medialen Status, indem es die Vision himmlischer Wahrheit in Form des alten Weißbärtigen nicht einfangen kann.209 Positiv gewendet heißt dies: In diesem Spannungsgefüge von Präsenz und Repräsentation ist das Uneigentliche bezeichnet, das etwas anderes, das Eigentliche, zu repräsentieren vermag.210 Es lässt sich damit festhalten: In dem Ikonotext der Folia 1 und 1v verdichtet sich gleichsam eine Kunsttheorie, indem die verschiedenen Aspekte künstlerischen Schaffens – imaginatio, memoria, fictio – reflektiert und ihre medialen Möglichkeiten im Sinnbild ausgelotet werden. Mittels einer polysemen Aufladung seiner allegorischen Bild-Text-Figuren lenkt der zeichnende Dichter mithin den Blick auf die Oberfläche der Bildzeichen. Zeigt doch das Bild des leeren Thrones auf fol. 1v in Bezug auf die Verse des fol. 1 sowohl den abwesenden Papst als auch Gott in seiner Unsichtbarkeit. Die Oberfläche ist mithin als Schleier aufgefasst, der zugleich zeigt und verhüllt.211 Aufgrund der dergestalt erfahrbaren Spannung zwischen Absenz und Präsenz, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wird die Bedeutung der materiellen Oberfläche des allegorischen Bildes ausgestellt: Insofern die Erfassung 206 Stierle, Fiktion, S. 381. 207 Klaus Krüger, Alessandro Nova: Einleitung, in: Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, hg. v. Klaus Krüger, Alessandro Nova, Mainz 2000, S. 7–11, hier S. 8. 208 Zur literarischen Fiktion als ‚ausprägendem Medium‘ siehe Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1991. 209 Vgl. zur Unmöglichkeit der Repräsentation von Unschaubarem Dante Alighieri, Divina Commedia, Paradiso, X 40–48, S. 281 f.: Quant’ esser convenia da sé lucente / quel ch’ era dentro al sol dov’ io entra’mi, / non per color, ma per lume parvente! / Perch’ io lo ’ngegno e l’arte e l’uso chiami, / sì nol direi che mai s’imaginasse; / ma creder puossi e di veder si brami. / E le fantasie nostre son basse / a tanta altezza, non è maraviglia; / ché sopra ’l sol non fu occhio ch’andasse. / 210 Vgl. dazu Kap. 2.5. 211 Zur paradoxalen Struktur der Bilder, auf etwas Unsichtbares, Transzendentes, Abwesendes einzig durch ihre sichtbare Medialität verweisen zu können, wobei die Metapher des Schleiers grundlegend ist, siehe Krüger, Bild als Schleier; Gerhard Wolf: Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance, München 2002.
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des sensus allegoricus auf dem wörtlichen Sinn, dem sensus litteralis, aufbaut, erweist sich die Oberfläche der gemalten Figur als sensus litteralis in ihrer Ambiguität als kritischer Punkt.212 Die Notwendigkeit allegorischer Sprache und deren polysemer Aufladung wird im weiteren Verlauf des Werkes dargelegt – in der Ansprache der Septem Artes Liberales auf fol. 27v (Taf. 38). Anders perspektiviert gesprochen heißt dies, dass ihre Lektüre eine Relektüre des Ikonotextes der Folia 1 und 1v evoziert und dieser in diesem Bezug dezidiert als Reflexionsfigur allegorischer Wort- und Bildkunst erscheint. Stellt er doch die von den Freien Künsten postulierte aliud verbis aliud sensu-Formel sinnfällig aus. Bezüglich der dichtungstheoretischen Verse des Exordium sind die ersten Worte der Septem Artes Liberales ‚grundlegend‘. Denn sie besagen, dass die artes ihren Ursprung in Gott haben, insofern die Erleuchtung „im Innersten vom Himmel“ erfahren wird: Ut deus nos impleat rore, qui redoleat et uirtute poscimus. / Liberales celitus artes nos […] penitus illustret […] petimus. / 213 („Wir bitten, dass Gott uns anfüllt mit Tau, der duftet, und mit Tugend. Wir erbitten, dass er uns Freien Künste […] im Innersten vom Himmel erleuchtet“).
Im unmittelbaren Anschluss an diese beiden Verse wird dezidiert die ‚Medialität‘ der artes herausgestellt. Denn die göttliche Wahrheit, die durch die genannte Erleuchtung bezeichnet ist, wird in den Lehren der artes durch allegorische Rede vermittelt, die als Schleier erscheint: Der Sinn wird in der Schrift verhüllt, die aufgetragen ist auf Rinden (cortices), die wiederum in reflexiver Weise als Schleier aufgefasst werden können, insofern cortex im übertragenen, dichtungstheoretischen Sinn „Hülle“ bedeutet: Nos docemus, cortice scribimus et codice, quorum sensum tegimus: / intellectus alius, et munus est melius latens, quod intendimus. / 214 („Wir lehren, wir schreiben auf Rinden und in Bücher Dinge, deren Sinn wir verhüllen: Die Bedeutung ist eine andere, und der Dienst ist besser, wenn verborgen ist, was wir beabsichtigen“).
Die Bedeutung rhetorischer Verhüllung und deren Medialität werden mithin betont durch die Herausstellung der Zweckmäßigkeit bildhafter Rede.215 Diese wird im weiteren Verlauf der Rede näher bestimmt: Die Zweckmäßigkeit besteht in der Erforschung der Gesetze, wobei nun wesentlich ist, dass zunächst die Relevanz des „Weg[es] der Untersuchung der Wahrheit“ (ueritatis metodos) angesprochen wird, um darauf aufbauend die Bedeutung bildhafter Sprache dabei herauszustellen: 212 Hinsichtlich der sich hier zeigenden Berührungspunkte mit modernen Allegorietheorien sei auf die Ausführungen in der Einleitung sowie in Kap. 6 verwiesen. Zu dem Ikonotext der Folia 1 und 1v vgl. Kap. 2.5. 213 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 27v, Vers 1 f. 214 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 27v, Vers 4 f. 215 Zu Reflexion und Herausstellung der Bedeutung allegorischer Rede, die Lehren unter einem schönen Gewand verbirgt, siehe umfassend Kap. 3.1 und 3.2.
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Quod iubemus congruum est opus, precipuum salutis […]. / Ueritatis metodos, quam […] inquirimus, / fons est diui luminis bonus atque numinis […]. / Ornatus purpureus uerbis, sensus aureus et flos uenustissimus, / quod depingi uolumus, et tam docte quesumus, mores sunt, quos canimus. / 216 („Was wir wünschen, ist ein harmonisches Werk, hervorragendes [Mittel] des Heils […]. Der Weg der Untersuchung der Wahrheit, die wir […] erforschen, ist gute Quelle des göttlichen Lichts und der wirkenden Macht Gottes […]. Der purpurne Schmuck durch die Worte, der goldene Sinn und die anmutigste Blume [sind das], was wir malen wollen, und was wir dergestalt gelehrt zu erfahren suchen, sind die Gesetze, die wir besingen“).
Festzuhalten ist: Nicht nur, dass sich in dem Wunsch, „purpurnen Schmuck durch die Worte“ und die „anmutigste Blume“ gemalt zu haben (depingi uolumus), das ut pictura poesis-Diktum spiegelt und damit die Bedeutung der Bildhaftigkeit der Sprache herausgestellt wird und folglich der Wert der dem Bild eigenen Anschauungsleistung. Darüber hinaus wird durch das sich anschließende tam („dergestalt“) als Demonstrativpartikel zur Bezeichnung des verglichenen Grades die Bedeutung bildhafter Darstellung zur Erforschung der Wahrheit nachdrücklich betont. Der Eindruck, dass sich hier eine Aufwertung der Dichtung andeutet, wird schließlich durch folgende Aussage der Septem Artes Liberales erhärtet, die sich mittels einer Demonstrativ-Konstruktion auf die ihr vorausgehende astrologische Darstellung bezieht. So sprechen die Septem Artes Liberales dieses Urteil über die fabula: […]. / Illa fatur fabula ut doctrine famula et seruus rectissimus. / 217 („[…]. So spricht der Mythos wie ein Diener der Lehre und sehr redlicher Sklave“).
Indem der fabula eine unterstützende Funktion bezüglich der Lehre beigemessen und ihr Redlichkeit attestiert wird, wird die mythische Dichtung mithin nicht mehr als lügenhafte, sondern als Wissen vermittelnde Fabel erachtet, der Wahrheitsanspruch zukommt. Dies lässt, gleichsam in vorausdeutender Weise, an Giovanni Boccaccios Genealogie deorum gentilium (XV, 8)218 denken. Wird doch in diesem 1347 begonnenen Werk die mythologische fabula nicht nur als poetisches Sinnbild astrologischer Zusammenhänge aufgefasst; vielmehr erklären sich in ihm die fabula und Astrologie wechselseitig: Die Astrologie dient ihrerseits der Deutung der fabulae und stellt somit deren Wahrheitsgehalt heraus.219 Ganz in diesem Sinne heißt es im weiteren Verlauf der Regia Carmina auf fol. 28v (Taf. 40), dass Urania, die Muse der Astronomie, die Dichtung ehrt. Darüber hinaus ist es die poetische Neigung, personifiziert durch die Muse Terpsichore, die be216 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 27v, Verse 6–10. 217 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 27v, Vers 61. 218 Giovanni Boccaccio: Genealogie deorum gentilium, hg. v. Vittorio Zaccaria, Bd. 2, Mailand 1998 (Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, Bd. 7/8,2), S. 1544–1549. 219 Siehe dazu vornehmlich Dieter Blume: Regenten des Himmels. Astrologische Bilder in Mittelalter und Renaissance, Berlin 2000, S. 112–118 („Astrologie und Mythos – Ein neues Konzept von Giovanni Boccaccio“); vgl. Eugenio Garin: Le Favole Antiche, in: Eugenio Garin: Medioevo e Rinascimento. Studi e Richerche, Bari 1954, S. 66–89, bes. S. 77 f.
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lehrend anhand der Planeten, und das dürfte heißen der mythologischen fabulae, Lehrsätze aufstellt: […], / ut tu, celestes Uerania, carmen honestes, / Tersicoreque monens per stellas dogmata ponens. / 220 („[…], wie du, himmlische Urania, die Dichtung ehren sollst, und du, belehrende Terpsichore, Lehrsätze aufstellst durch die Planeten“).
Im Anschluss daran wird die bildlich-textuelle Modellierung der Dichtkunst als Bereich der Philosophie ersichtlich, wenn dezidiert zum Ausdruck gebracht ist, dass das ingenium des Dichters nicht von der scientia zu trennen ist.221 Dies wird bereits im formalen Aufbau des Bildprogramms deutlich: Die Darstellung des Pegasus am Parnass mit den neun Musen folgt auf den Folia 28v–30v den Septem Artes Liberales nach, die der Philosophia zugehören und die scientia personifizieren, insofern die Lehren durch sie erforscht und vermittelt werden (Abb. 1 und 2). Denn wie in Kapitel 1.1 aufgezeigt, ist die bildliche Darstellung der Septem Artes Liberales auf fol. 28 zu denken, das heißt im Anschluss an deren Rede auf fol. 27v. Damit sind die Sieben Freien Künste unmittelbar an die gemalte Figur der Philosophia auf fol. 27 gebunden. Demzufolge zeigen sich die Septem Artes Liberales hinsichtlich des in Rede stehenden Zusammenhangs von dichterischem ingenium222 und scientia als Mittler von Philosophie und Dichtung. Dabei spiegelt sich die Geltung, die der Dichtkunst in diesem Gefüge beigemessen wird, bereits im formalen Umfang: Während sich die Septem Artes Liberales auf einem Folio drängen, entfalten sich die neun Musen mit dem Pegasus am Parnass über vier Folia. In dieser Verhältnissetzung scheint die Vorstellung auf, dass die Dichtung die gleichen Inhalte vermittelt wie Philosophie und Theologie, diese indes in einen allegorischen Schleier hüllt, während Philosophie und Theologie direkt sprechen.223 Solchermaßen werden Dichtung und Philosophie aufgrund ihrer tieferen Bedeutung in ein analogisches Verhältnis gesetzt. Convenevole lässt den Zusammenhang von Philosophie und Dichtung die Muse Thalia aussprechen, die auf fol. 29v am unteren Bildrand in einem roten Gewand figuriert (Taf. 42). Dabei zeigt sich der Rang der Dichtung, wenn die Muse das Gelehrte ergreift und zugleich lernt, die „erfundenen Gebräuche zu verwirklichen, offenkundig die rechtschaffenden, die die Schwestern mit Tüchtigkeit weben“. Das heißt: Die Dichtkunst, die als „rechtschaffen“ bezeichnet wird, erfährt eine Aufwertung, indem sie gleichrangig neben die Philosophie gestellt wird. So spricht Thalia: […] dicor Grecisque Thalia, / uerborumque rapax, que seminat alma Sophya. / Scripta quidem capio uel uisa libenter amena, / docta simul rapio uelut ex dulcedine plena, / et disco ueros inuentos uiuere mores, / clare sinceros, quos texunt forte sorores. /224 220 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 28v, Vers 4 f. 221 Vgl. Dante Alighieri, De vulgari eloquentia II, i, 8, S. 168: Sed optime conceptiones non possunt esse nisi ubi scientia et ingenium est; ergo optima loquela non convenit nisi illis in quibus ingenium et scientia est. 222 Zum ingenium-Begriff siehe weiter unten. 223 Vgl. dazu die in Anm. 180 in Kap. 2.3 angeführten Studien. 224 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Verse 53–58.
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(„[…] von den Griechen werde ich Thalia genannt, befähigt, sich die Worte anzueignen, die die nährende Sophia verstreut. Ich sammele nämlich mit Vergnügen die Schriften oder das anmutige Gesehene, zugleich ergreife ich das Gelehrte wie aus voller Süße und lerne die wirklichen und jene erfundenen Gebräuche zu verwirklichen, offenkundig die rechtschaffenden, die die Schwestern mit Tüchtigkeit weben“).
Augenscheinlich ist, dass die Fiktionalität der Dichtung und der ästhetische Wert der gewobenen Textur aufgrund der anmutigen Anschaulichkeit der Sprache (uisa amena) betont werden. Ganz in diesem Sinne wird in den Ikonotexten der Musen die Dichtkunst umfassend thematisiert. Sie findet philosophische Wahrheiten und kleidet sie in ein erfundenes Gewand, das sich durch seinen ästhetischen Anspruch auszeichnet. 225 Demgemäß bringen sogleich die ersten Verse zu diesem Abschnitt des Werkes, die über der Darstellung des Pegasus am Parnass respektive Helikon auf fol. 28v geschrieben sind (Taf. 40), das zentrale Anliegen zur Sprache: Die Dichtung ist zu ehren aufgrund ihres epistemologischen wie ästhetischen Wertes. Mit Beginn der linken Textspalte oberhalb der bildlichen Darstellung heißt es: Cephyre dux, flores duc de Caliope meliores, / ymbres da uernos rores de fonte supernos! / Xenia musarum perfla nunc ore nouarum, / ut tu, celestes Uerania, carmen honestes, / Tersicoreque monens per stellas dogmata ponens. / Sic Eratho formas similes pariat sibi normas / rebus et exemplum paret utile preduce templum! / Que retinet carum Polimina delitiarum, / perspicua mente primum sensus capiente. / Omnes rite quia capit, ipsa reperta Thalya, / namque prius nata mediator nectare lata. / Melpomone, uerba que dulci miscuit erba, / lingua fauique merax Euterpe musaque uerax. / Klio querende ratio lucisque uidende. / 226 („Führer Zephir, führe bessere Blumen von Kalliope herbei, gib Frühlingsregen, himmlischen Tau aus der Quelle! Hauche nun aus mit dem Mund Geschenke der neuen Musen, wie du, himmlische Urania, die Dichtung ehren sollst, und du, belehrende Terpsichore, Lehrsätze aufstellst durch die Planeten. So bringe Erato sich ähnliche Gebilde als Normen für die Gegenstände hervor und schaffe ein nützliches Vorbild; nimm als Beispiel den Tempel! Polyhymnia ist es, die den Wert der Wonnen bewahrt, zuerst die Bedeutungen begreifend durch den klaren 225 Dass den Regia Carmina nicht nur das Konzept der ‚theologischen Poetik‘ zugrunde liegt, sondern auch ein solches, das Rainer Stillers als ‚anthropologische Poetik‘ bezeichnet, zeigt sich deutlich in den Ikonotexten, die ich in Kapitel 3 diskutiere. Zur ‚anthropologischen‘ Poetik siehe Stillers, Anthropologische Poetik, der die bildhafte Dichtung in Zusammenhang mit dem menschlichen Erkenntnisinteresse bringt und als deren Erkenntniswert gegenüber anderen Disziplinen die Spezifik der bildhaften Fiktion betont. So formuliert er zum einen: „die Dichtung hat ihren Ursprung im Menschen, in seinem Erkenntniswillen und wird als etwas vom Menschen für Menschen Gemachtes gesehen; diese Ansätze zu einer anthropologischen Poetik sind eng mit einer zweiten Vorstellung verknüpft: Die Bildhaftigkeit von Dichtung, das heißt der visuelle, imaginative Charakter ihrer Darstellungsweise ist […] ein essentielles, konstitutives Merkmal, das die Dichtung an den menschlichen Erkenntniswillen und sein Erkenntnisbedürfnis bindet“. Zum anderen fragt er „nach dem Nutzen des bildhaften Substrats selbst, nach seiner Legitimität, seiner Wirkung […]. Der Blick geht hierbei […] vom abstrakten Sinn dichterischer Texte auf das bildhafte Verfahren zurück, das diesen Sinn vermittelt – und damit auf die spezifische Leistung, den Eigenwert dieses Verfahrens, das dadurch eine gewisse Opazität gewinnt“. Zit. S. 132, 133. Vgl. zu Letzterem auch Kap. 2.5. 226 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 28v, Verse 1–14.
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Geist. Als die, die alle richtig begreift, tritt Thalia auf, denn sie wurde ja ehemals geboren als Mittlerin wegen eines üppigen Nektars. Melpomene mischt die Worte mit lieblichem Kraut, und die reine Sprache von Honig ist Euterpe, wahre Muse. Klio ist die Vernunft, das Licht zu suchen und zu sehen“).
Im Zuge der Lektüre dieser Verse stellt sich dem Leser dar, wodurch sich die Dichtung auszeichnet: Es ist ihre Neuartigkeit, novitas. Wird doch um das Herbeiführen „besserer Blumen“ (flores meliores) und der „Geschenke der neuen Musen“ (xenia musarum nouarum) gebeten, wobei das ästhetische Qualitätsmerkmal der Dichtung in ihrer mimetischen Gestalt (Erato) und Lieblichkeit (Thalia, Melpomene, Euterpe) besteht.227 Daneben wird erfahrbar, wo die erblühende Dichtung ihren Ursprung hat: Sie entspringt der Quelle des Helikon, insofern die „Frühlingsregen“, „der himmlische Tau“, aus der Quelle stammen (ymbres da uernos rores de fonte supernos). Die durch die Musen inspirierte Dichtkunst ist mithin göttlichen Ursprungs, was in diesem Kontext heißt, dass sie mit Apollon, dem Gott der Künste, in Verbindung gebracht ist.228 Dieser Zusammenhang gelangt zu sinnfälliger Anschauung in der unter den Versen zu sehenden Darstellung des Pegasus am Helikon beziehungsweise Parnass und den auf ihm versammelten Musen, die auf den nachfolgenden Folia figurieren229 (Abb. 2). Das geflügelte Musenross steht am Fuße des steil aufragenden doppelgipfeligen Gebirges und schlägt mit beiden Vorderhufen die Quelle Hippokrene aus dem zerklüfteten Gestein hervor. Die Musen befinden sich ihrerseits unmittelbar am Helikon und richten ihren Blick auf den die Quelle freilegenden Pegasus. Insofern sie in der Anordnung der Folia dieser Handlung des Pegasus nachfolgen, macht ihr Stehen in oder an der sprudelnden Quelle deren Vollzug sowie das tradierte Wissen sinnfällig, dass die Musen am Berg Helikon bei der Quelle Hippokrene zu finden sind.230 Dahingehend ist auch in der rechten der beiden über dem Pegasus befindlichen Textkolumnen zu lesen: Iste fuit gratus fossor fontis pretiatus. / Hic fuit alatus, quo Perseus ille relatus, / Gorgona post cesam duce Pallade numine lesam. / 231 („Dieser war der willkommene kostbare Ausgräber der Quelle. Er war der Geflügelte, von dem jener Perseus zurückgebracht wurde, nach der Tötung der Gorgo unter Führung der in ihrer Göttlichkeit gekränkten Pallas“).232
227 Siehe dazu weiter unten sowie Kap. 4.1. 228 Vgl. dazu Kap. 2.1. 229 Der erste Musenikonotext des fol. 29v ist auf fol. 29 zu denken. Dementsprechend sind die Darstellungen des Pegasus auf fol. 28v und der Musen als paarseitige Komposition vorzustellen. 230 Zu den Musen als Quellbewohnerinnen in ikonographisch-ikonologischer Perspektive siehe Schröter, Ikonographie des Themas Parnass, S. 216 f. 231 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 28v, Verse 15–17. 232 Vgl. in ikonologischer Hinsicht P. Ovidi Nasonis Metamorphoses, V, 254–266, S. 134 f., wo Pegasus als Ursprung der Quelle benannt ist (est Pegasus huius origo fontis) und Pallas Athene den Musen berichtet, dass sie gesehen habe, wie der Pegasus aus dem Blut der Medusa entstanden sei: uidi ipsum materno sanguine nasci.
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Während das Gebirge zum einen als Parnass bezeichnet ist – die „durch die Hufe des Pferdes Pegasus aufgewühlte Quelle“ ist an den „großen göttlichen Fuß des Parnass“ verortet (fonte caballino Pegaseo calceque fosso / […] diuino Parnasi sub pede grosso)233 –, erscheint es zum anderen gleichermaßen als Helikon.234 Denn die in zentraler Position auf fol. 29v vor Augen gestellte Amphore figuriert als Quelle des Helikon, wie der Titulus Fons Elicon besagt, der den Versen vorangestellt ist, die in die Darstellung der Amphore eingelassen sind: Fons Elicon. / Fons ego musarum sum, potrix lux animarum, / de me quique bibunt, norunt que dogmata scribunt. / 235 („Ich bin die Quelle der Musen, Licht, Trinkerin des Geistes, und die, die von mir trinken, erkennen die Lehren, über die sie schreiben“).
Die Quelle zeichnet mithin die Musen als Erkennende der Lehren aus, so dass nun an den ästhetischen Wert der Dichtung, der durch die vorausgehenden Verse herausgestellt wurde, explizit deren epistemischer Gehalt geknüpft wird. In diesen Zusammenhang fügt sich der Ikonotext der Muse Klio, die in der großen bauchigen Amphore steht, aus der das Quellwasser des Helikons strömt und mit der sie die zentrale vertikale Achse des fol. 29v bildet. Dadurch in eine herausragende Position gebracht, führt sie ihre Schwestern an, die sie umgeben und ihr auf den Folia 30 und 30v nachfolgen. Von ihrer erhöhten Position schaut sie auf die Darstellung des Pegasus am Fuße des Helikons herab und eröffnet – der bildlichen Figurenkomposition entsprechend – die Ansprachen der Musen. Ihren Worten liegt das Konzept dichterischer poiesis als theoriegeleiteter künstlerischer Praxis mit ihren theoretischen und ethischen Implikationen als Produktion von Wissen zugrunde; sie verbinden somit die ästhetische mit der epistemologischen Seite der Dichtkunst. So lauten ihre Worte, die links obenauf fol. 29v geschrieben stehen: Querende ratio sum lucis musa uocata. / Ingenii satio mecum querit, generata / fonte caballino Pegaseo calceque fosso / nataque diuino Parnasi sub pede grosso. / Rex, hec inueni, cupiens tibi nempe placere, / quorum sunt pleni sensus, quos nolo tacere. / Scilicet unde tui possunt sentire uirorem, / si quem precipui fructus referuntque decorem. / Corrigenda tuo iusto sero uerba reperta / iudicio. Tribuo tibi que sunt plurima certa, / ut leuius cernas intellectumque libenter / summas, non spernas, sicut spero, sapienter. / […] / […] gliscunt pandere mentem, / possit sentiri si fert florem redolentem. / 236
233 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Vers 3 f. Diese beiden Verse sind links oben auf fol. 29v fixiert und somit als unmittelbar dem Gebirge zur Seite stehend zu denken. Vgl. dazu Kap. 2.1. 234 Angesichts der angeführten Verse und des doppelgipfelig gemalten Gebirges sei in ikonologischer Perspektive auf den Prolog der Satiren des Persius verwiesen, wo die fonte caballino und der doppelgipfelige Parnass (bicipiti Parnaso) nebeneinander erscheinen: nec fonte labra prolui caballino / nec in bicipiti somniasse Parnaso /. Persius: The Satires. Text with Translation and Notes, hg. v. J. R. Jenkinson, Warminster 1980 (Aris & Phillips Classical Texts), S. 10. 235 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Vers 51 f. 236 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Verse 1–18.
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(„Ich, die Maßregel der Suche des Lichtes, werde Muse genannt. Die Saat der sinnreichen Erfindung sucht mit mir, sie ist erzeugt von der durch die Hufe des Pferdes Pegasus aufgewühlten Quelle und geboren am großen göttlichen Fuß des Parnass. König, ich habe diese [Dinge] erfunden/gefunden, derer die Gedanken voll sind, die ich nicht verschweigen möchte, natürlich im Wunsch, dir zu gefallen. Davon kann dein Geist natürlich das Grün wahrnehmen, wenn die vorzüglichen Früchte damit die Anmut zurückbringen. Ich streue gefundene Worte, die zu berichtigen sind durch dein wohlbegründetes Urteil. Ich schenke dir sehr viele sichere, so dass du sie leichter erkennst und du den Sinn mit Vergnügen nimmst und sie einsichtsvoll nicht verachtest, wie ich hoffe. […] sie [d. h. die Worte] gewinnen an Stärke, den Sinn auszubreiten, damit er wahrgenommen werden kann, wenn er eine duftende Blume trägt“).237
Nachdem Klio dargelegt hat, dass die Dichtung als Suche nach erhellender Wahrheit auf den Normen der Muse basiert, stellt sie heraus, dass mit ihr als Maßregel das ingenium einhergeht, die Begabung, die sie als „Saat der sinnreichen Erfindung“ umschreibt. Das heißt, dass das dichterische (Er-)Finden (inventio) gebunden ist an das ingenium, die angeborene Fähigkeit, das wiederum erzeugt ist durch die Quelle Hippokrene und damit „geboren am großen göttlichen Fuß des Parnass“ (nataque diuino Parnasi sub pede grosso).238 Demgemäß entsteht die Dichtung unter dem Einfluss Apollons, dem Gott der Künste, dessen Sitz der Parnass ist. Zudem hebt die Muse dem König gegenüber die Bedeutsamkeit der ästhetischen Gestalt des Erdichteten zur Darstellung eines tieferen Sinns hervor: Die Anmut ist die Voraussetzung zur Darstellung tieferer Bedeutungen. Dies impliziert den Stellenwert der poiesis: Die inventio und die daraus entstandene anmutige Gestalt stehen für die künstlerische Praxis, während auf die im Prozess des Schaffens mitgeführte theoretische Reflexion durch die Bezeichnung der Muse als „Verfahrensart“ (ratio) verwiesen ist.239 Fundiert ist dieses poietische Vermögen im ingenium, der 237 Vgl. in Bezug auf die Aspekte des ingenium und der inventio, die an Klio gebunden sind, folgende Worte von Melpomene, die unterhalb von Klio und der gleichgewandeten Euterpe in der linken Ecke des fol. 29v figuriert. Indem sie ihre Rechte unter das Kinn geschoben hat und so den Kopf in der Hand abstützt, zeigt sie sich in der Haltung des Nachsinnenden und äußert: Sum faciens stantes mentes super hiis meditantes, / que soror inuenit Clio, que dulcedine lenit. / Euterpe secum, que fabricat omnia mecum. / („Ich mache die Geister standhaft, die über das nachsinnen, was meine Schwester Klio erfindet, die mit Süße besänftigt. Mit ihr ist Euterpe, die alles mit mir verfertigt“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Verse 35–37. Insofern durch Euterpe der dichterische Anspruch des aut prodesse aut delectare versinnbildlicht wird – siehe dazu weiter unten –, verdichtet sich in der Figur der Melpomene der epistemologische wie ästhetische Anspruch der Dichtung. 238 Vgl. zur historischen Kontextualisierung Wolf-Dietrich Löhr: Genie, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, hg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart 22011 [2003], S. 144–150, hier S. 145 f.: „Die Ursprünge der neuzeitlichen Genie-Auffassung gehen hauptsächlich aus der Diskussion um die rhetorische Kategorie der (Stoff-)Erfindung (inventio) hervor, die F. Petrarca um 1350 zum grundlegenden Verfahren der von ihm mitgeprägten Nachahmungsästhetik erhebt. Zugleich kennt er die Utopie gänzlich origineller Schöpfung: Ihm ist ein von der Natur begünstigtes ingenium vorstellbar, das ‚ohne Unterstützung äußerer Kräfte‘ ‚durch sich selbst großartige Gedanken [magnificos sensus] ausdrücken kann‘ […] (Epistolae familiares, 1, 8, 4)“. 239 Zum Konzept künstlerischer poiesis als „‚theoriehaltige Praxis‘ künstlerischen Herstellens“, das „mit Begriff und Konzept der antiken Poiesis in Verbindung“ gebracht ist, siehe jüngst Valeska von Rosen, David Nelting, Jörn Steigerwald (Hgg.): Poiesis. Praktiken der Kreativität in den Künsten der Frühen Neuzeit, Zürich 2013. Im Vorwort umreißen die Herausgeber das Poiesiskonzept wie
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Saat dichterischer inventio, das sinnfällig den Ausgangspunkt der Worte der Klio bildete. Solchermaßen implizieren die Worte der Muse die aus der antiken Rhetorik- wie der frühneuzeitlichen Kunsttheorie bekannte Verbindung von ingenium und ars/téchne, von nicht erlernbarer Begabung und erlernter regelhafter Technik.240 Die Bedeutung der zu Gesang und Poesie begeisternden Quelle Hippokrene wird daneben auch im Ikonotext zur Muse Kalliope sinnfällig, die auf fol. 30v den Musenreigen und das Werk abschließt (Taf. 44). Denn der Fluss des Quellwassers, das der Amphore in der unteren linken Ecke des Folio entströmt, verbindet sich gleichsam mit dem Saum und den darüber aufsteigenden, farblich akzentuierten Röhrenfalten des Gewandes der Kalliope; so wird in dieser Verbindung eine harmonisch-fließende Form anschaulich. Demgemäß spricht die Muse auch über den Rang ihrer klangvollen Dichtung – die wiederum durch ihr Spielen auf einem Blasinstrument versinnbildlicht ist. Wie in den Worten der Klio kommt dabei der poiesis eine fundamentale Bedeutung zu, insofern die klangvolle Kunst „mit schicklicher Verfahrungsart gemacht ist“ (fit ratione decora) und daraus deren delectatio erwächst. Bedeutsam ist zudem, dass Kalliope daran die Qualität der enargeia bindet, des anschaulichen „Vor-Augen-Stellens“ des Erdichteten. Diese scheint in ihrer Äußerung auf, dass sie sich freut, gehört zu werden, während sie es den Augen vorführt (gaudeo sentiri, dum luminibus gero).241 Dabei betont die Muse nicht nur den Wert ihrer fiktionalen Dichtkunst, indem sie herausgestellt, dass sie „Würdiges“ sagt (digna loquendo), sondern verweist auch in der Reflexion des bildgebenden Vermögens ihrer Sprache folgt: „In einem so verstandenen Konzept der Poiesis ist einerseits die Tätigkeit von Künstler, Dichter und Komponist an eine explizite Reflexion der Kunstproduktion angebunden und andererseits wird in diesem Konzept die Arbeit sowie das Produkt konkret gefasst und als künstlerische Schöpfung, als etwas ‚Gemachtes‘ bewertet“. Valeska von Rosen, David Nelting, Jörn Steigerwald: Vorwort, in: ebd., S. 7 f., hier S. 7. Siehe dazu insbesondere den Beitrag von Valeska von Rosen: Einleitung
Poiesis. Zum heuristischen Nutzen eines Begriffs für die Künste der Frühen Neuzeit, in: ebd., S. 9–41. 240 Vgl. Q. Horatius Flaccus Opera, Ars Poetica, Verse 408–411, S. 326, wo hinsichtlich der Frage, ob eine Dichtung Beifall erringt durch Naturtalent (natura) oder Kunstverstand (arte), die Notwendigkeit der Verbindung von Bestreben (studium) und Begabung (ingenium) dargelegt wird: Natura fieret laudabile carmen an arte / quaesitum est. ego nec studium sine divite vena / nec rude quid prosit video ingenium; alterius sic / altera poscit opem res et coniurat amice /. Vgl. dazu Johannes Engels: Ingenium, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, Sp. 382–417, hier Sp. 383: „‚Ingenium‘ bezeichnet die angeborene Beschaffenheit, das Talent und die natürliche Begabung zu einer bestimmten Tätigkeit. Als unverzichtbare Vorbedingung einer Ausbildung zum Redner steht das Ingenium neben ars, studium, exercitatio und imitatio. In den Theorieschriften der lateinischen Rhetorik der späten Republik und des frühen Prinzipats beim Auctor ad Herennium, bei Cicero und Quintilian, sowie in der Poetik des Horaz bilden ars und ingenium kein sich ausschließendes Gegensatzpaar, sondern ergänzen sich gegenseitig zum Ideal des orator perfectus oder poeta doctus“. Vgl. Martin Kemp: Der Blick hinter die Bilder. Text und Kunst in der italienischen Renaissance, Köln 1997, S. 298–303 mit einer Zusammenstellung von Schriften, in denen sich der Bezug von ingenium und studium wie arte findet. Vgl. auch zum Zusammenhang von Begabung und Ausbildung in der frühneuzeitlichen Kunsttheorie Ulrich Pfisterer: Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quellen, Stuttgart 2002, S. 57–69. 241 Vgl. zur Bedeutung der Anschaulichkeit als ausgezeichneter Leistung der Sprache in mediengeschichtlicher Perspektive Haiko Wandhoff: Velden und visieren, blüemen und florieren. Zur Poetik der Sichtbarkeit in den höfischen Epen des Mittelalters, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 9, 1999, S. 586–597.
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auf die genuine Anschaulichkeit der Malerei.242 Ihre Rede eröffnet Kalliope denn mit folgenden Worten: Optima uox donat mea quod placet arte sonora: / delectando sonat, quia fit ratione decora. / Si tibi, rex, placuit sonus huius, queso, libelli, / gaudeo. Que potuit, fecit condulcia melli. / […]. / Optima uox querit dici nam res sapienter / […]. / Optima uoxque petit, ne turpia sint recitata, / nam cum falce metit mens, que reputat sibi grata. / Auribus audiri facio me digna loquendo. / Gaudeo sentiri, dum luminibus gero […] / 243 („Meine ausgezeichnete Stimme schenkt mit ihrer klangvollen Kunst das, was gefällt: erfreuend erklingt sie, weil sie gemacht ist mit schicklicher Verfahrungsart. Wenn dir, oh König, ich frage, der Klang dieses kleinen Buches gefallen hat, freue ich mich. Es hat getan, was es konnte, dass es süßen Geschmack von Honig hat. […]. Denn die ausgezeichnete Sprache ist bestrebt, dass die Dinge weise gesagt werden […]. Und die ausgezeichnete Sprache bittet, dass garstig Klingendes nicht vorgetragen wird, denn der Geist erntet mit der Sichel das, was er für sich angenehm erachtet.244 Wenn ich durch die Ohren gehört werde, so, weil ich Würdiges sage; ich freue mich, gehört zu werden, während ich es den Augen vorführe“).
Welche Bedeutung der erwähnten Verbindung von ingenium und ars/téchne245, von nicht erlernbarer Begabung und erlernter regelhafter Technik, in den Regia Carmina beigemessen wird, ermisst sich, blättert man zurück zum Ikonotext des 24v (Taf. 34). Auf diesem sind die Chariten, die Göttinnen der Anmut, als gemalte Figuren auf der rechten Seite vor Augen gestellt. Dicht nebeneinander stehend und sich berührend, zeigen sich die nahezu gleichgroßen Schwestern dem Betrachter in Dreiviertelansicht und wenden ihre Häupter nach links, zum thronenden König auf fol. 10v. Ihre Körper haben sie in ein schlichtes weißes, ungegürtetes Tuch gehüllt, das sie jeweils in angewinkelter Armhaltung oberhalb ihrer Brust zusammenhalten, wobei das Inkarnat ihrer Arme und Brust sichtbar wird. In langen Röhrenfalten fällt das Tuch vor ihren Körpern herab und schließt oberhalb der Knöchel mit einem grün-gold-grünen Saum ab, so dass ebenfalls ein Teil ihrer Beine sowie die Füße unverhüllt sind. In ihrer Rede, die über ihnen im rechten Textblock fixiert ist, stellen sie ihre Gaben sprachlich heraus: das von der Natur geschenkte ingenium und die Dinge hervorbringende Anmut der bewegten Seele.246 So wird in dem Ikonotext der Chariten die Vorstellung vom ingenium als göttlicher Gabe namentlich zum Ausdruck gebracht.247 Daneben bringen sie die künstlerische poiesis zur Sprache mit ihren Implikationen der imaginatio und inventio der ars und – insofern die Chariten als gemalte Figuren vor Augen gestellt sind – der téchne des Malers. Der Aspekt der poiesis wird im Zusammenhang des Folio nachdrücklich herausgestellt, indem er ebenfalls in den Versen der linken Textspalte thematisiert ist. Bezeichnenderweise spricht in diesen Versen der Autor 242 Zur Reflexion des rhetorischen enargeia-Theorems in der Übertragung auf die Malerei siehe Kap. 4.2. 243 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 30v, Verse 1–4, 11–16. 244 Hier verschränken sich zwei Aspekte: der ästhetische Anspruch der (neuen) Kunst und das Kunsturteil, das an die Schönheit der Kunst gebunden ist. Vgl. dazu Kap. 5.2. 245 Vgl. dazu Baxandall, Giotto and the Orators, S. 15–17. 246 Vgl. zum Ikonotext der Chariten Kap. 4.1. 247 Das lateinische Wort für das griechische χάρις (charis) ist gratia, das unter anderem „Gnade“ bedeutet.
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über sein Werk, so dass Autor und Werk wiederum in unmittelbaren Zusammenhang mit ingenium und charis respektive gratia gebracht werden. Die Verse lauten: Mundus opusque gerens purum, tibi supplico, princeps, / deuote reuerensque precor, bonitatis amice, / sanguinis egregii, set precipue peritorum / semper amatorem, generosum postulo uultum / ac animum nitidum, digneris ut ipse iuuare / hoc opus hocque pium studium uirtute magistra, / illustrante tuum cor sancta luce benignum. / Rex, aperire uolam tunc solis auribus alme / maiestatis ego propriis quandoque retectum. / 248 („Ich, rein und ein reines Werk hervorbringend, falle dir zu Füßen, Fürst, ergeben und ehrerbietig bitte ich dich, Freund der Güte, von ausgezeichnetem Blut, immer vornehmlich Freund der Kundigen, ich erbitte eine milde Miene und eine helle Gesinnung, dass du geruhest, dieses Werk und diese fromme Bemühung zu fördern249, belehrt von der Tugend, während das heilige Licht dein gütiges Gemüt verherrlicht. König, ich wünsche nun allein den Ohren deiner gütigen Erhabenheit das zu eröffnen, was meinen eigenen offenbart worden ist 250“).
In der Herausstellung der Tugend als Lehrerin der Beschäftigung (studium) und des Werkes (opus) zeigt sich die Reflexion über die poiesis des Dichters als theoriegeleitete künstlerische Praxis. Verbinden sich doch in dieser durch die virtus die Ebene der Poetik und jene der Ethik, die auf die in der Tugend begründete Handlung zielt.251 Dass das Werk in der poiesis fundiert ist, wird zudem gleichsam autoritativ ‚besiegelt‘ durch die Worte, die der Autor die Auftraggeberin des Werkes sprechen lässt. Diese attestieren dem Dichter das Vermögen des kunstmäßigen Hervorbringens des Werkes, das im Akt der Produktion 248 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Verse 17–25. 249 Vgl. dazu Löhr, Lesezeichen, S. 58 f.: „Die Anrufung des göttlichen, später des fürstlichen Beistands liegt an der Wurzel der Dedikation und der daraus hervorgehenden Bildtradition, bei der oft der Adressat wie ein Angerufener erscheint“. Vgl. zur Anrufung des göttlichen Beistandes folgende Verse auf fol. 1v, die rechts über der Darstellung des Thrones fixiert sind: Celis o grati sancti iam sede locati, / queso, rogate […] beati, / gratia quod prebet […] / […]. / Est prout oretis pro me decus hocque iuuetis / uestrum, nam cupitis opus hoc sine flamine litis. / („Liebe Heilige im Himmel, bereits aufgestellt am Thron, ich bitte euch, […], erbittet, ihr Seligen, das, was die Gnade gewährt […]. Es ist mir Ehre, in dem Maß, in dem ihr für mich betet und dieses unterstützt, denn ihr wünscht dieses Werk von euch ohne das Wehen des Streites“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Verse 8–14. 250 Hier besteht erneut eine Anlehnung an die Offenbarung des Johannes. In Bezug auf die Reflexion der Schöpfung eines aus Wort und Bild bestehenden Werkes und dem autoritativen Charakter des Notats und damit verbunden der Bilder ist zu vermerken: Während hier von Geoffenbartem durch Sprache die Rede ist, denn den Ohren ist ja etwas offenbart worden, wurde auf fol. 1 die Offenbarung über den Sehsinn herausgestellt: Scribe quidem, mox tronus ait, nunc uisa („Schreibe nämlich, spricht dann der Thron, das Gesehene nun auf “) (Vers 81). Zum Bild des Autors und der Bedeutung der Niederschrift des in Wort oder Bild Geoffenbarten siehe Löhr, Lesezeichen, S. 53–59, 132 f. 251 Vgl. dazu Kap. 2.4. Vgl. zum Konzept künstlerischer poiesis, das im aristotelischen Denken fundiert ist, von Rosen, Einleitung
Poiesis. Ihre Ausführungen gehen von der Annahme aus, „dass das künstlerische und literarische Produzieren in der Frühen Neuzeit im Erbe antiker Denkvorstellungen zum Thema steht, die aber […] in der elaborierten, insbesondere der normativ argumentierenden Kunstund Dichtungstheorie nicht den entsprechenden Ort und die angemessene Bedeutung erhalten haben, weshalb ihr konzeptueller Charakter auch von der modernen Forschung nicht ausreichend erkannt wurde“. Zit. S. 11.
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die Seite der theoria mit jener der zweckmäßigen praxis verbindet. Denn die geschmiedeten Gedichte werden durch „eine leichte und kundige Arbeit der Worte“ geschaffen, deren Zweck unter anderem darin besteht, den König zu ehren. So lauten die auf fol. 24 hinter dem Autor-Bild geschriebenen Verse (Taf. 33): Supplico pro uate, qui regia carmina cudit, / hec tua […] / exaudire uelis, que poscit nomine prati / […] rex pie […]. / […]. Tibi, rex, decus inde paratur, / […]: / res facienda leui uerborum scito labore. / 252 („Durch den Dichter, der diese dir [gewidmeten] königlichen Gedichte schmiedet […], flehe ich dich an, dass du das deutlich hören mögest, was er im Namen Pratos verlangt […], frommer König. […]. Daher wird dir, König, Ehre bereitet […]: Sache, die geschaffen werde durch eine leichte und kundige Arbeit der Worte“).
Das Werk des Dichters ist „durch eine leichte und kundige Arbeit der Worte“ geschaffen (res facienda leui uerborum scito labore) – welche Bedeutung dem zukam, ermisst sich, schlägt man das Folio um: Auf der Versoseite versinnbildlichen die Chariten, in welchem Maße das aus Wort und Bild bestehende Werk durch eine leichthändige, ja geradezu graziöse Arbeit hervorgebracht wurde. Wie erwähnt, gelangt dabei der Aspekt der poiesis deutlich zum Ausdruck. So äußern sie folgende Worte, die oberhalb ihrer gemalten Figur zu lesen sind (Taf. 34): Tres sumus et mores donamus fonte sorores. / Primaque nature do munera do geniture. / Dono secunda uiam lucis legisque sophyam. / Tertia sudores ego patior atque labores, / ac operum latrix sum consors atque paratrix. /253 („Wir sind drei Schwestern, und aus der Quelle schenken wir die Regeln. Ich, die Erste, gebe die Gaben der Natur und der Erzeugung [d. h. den erzeugenden Samen der Anmut]. Ich, die Zweite, schenke den Weg des Lichtes und die Weisheit der Regeln. Ich, die Dritte, ertrage Schweiß und Mühen, und ich bin Überbringerin, Teilhaberin und Bereiterin der Werke“).
Mit der ersten Grazie, die das von der Natur geschenkte ingenium, die Begabung (munera nature), sowie die Dinge hervorbringende Anmut (munera geniture) der bewegten Seele als wesentliche Bedingung versinnbildlicht, verbinden sich die theoretischen und ethischen Aspekte der Erzeugung von Kunst in Gestalt der zweiten Grazie; auf diese ist verwiesen durch „den Weg des Lichtes und die Weisheit der Regeln“ (uiam lucis legisque sophyam), von denen die zweite Grazie spricht.254 Aus dieser Verbindung erwächst 252 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24, Verse 27–33. 253 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Verse 43–47. 254 Vgl. die bekannte Passage aus Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 5, S. 550 f., in der es in Bezug auf Giotto heißt, dass er eine Begabung (ingegno) von solcher Vortrefflichkeit hatte, dass er die Malerei wieder ans Licht zurückgeführt habe, die den Geist der Weisen befriedige: […] Giotto […] ebbe uno ingegno di tanta eccellenzia […]. E per ciò, avendo egli quell’arte ritornata in luce, che molti secoli sotto gli error d’alcuni, che più a dilettar gli occhi degl’ignoranti che a compiacere allo ’ntelletto de’ savi dipignendo, era stata sepulta […]. Insofern die Tätigkeit des Malers Wissen erfordert, um den Geist der Weisen zu befriedigen, und Giotto in dieser Novelle als ebenbürtig neben dem Rechtsgelehrten Messer Forese
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schließlich die Anfertigung des Werkes, deren Mühen durch die Überbringung und Teilhabe der dritten Grazie verborgen bleiben.255 Dieser Zusammenhang von charis und poiesis lässt in kunsttheoretischer Perspektive an Leon Battista Albertis Malereitraktat De Pictura von 1435/36 denken, in dem die drei Grazien die künstlerische wie moralische virtus des Malers versinnbildlichen.256 Dahingehend setzt sich dann auch die Rede der Chariten fort, wobei die Textur der Worte sinnfällig mit der Textur des Gewandes verwoben ist. Denn zum einen stellen sie heraus, dass der König durch die ästhetische Gestalt des Werkes (und deren Semantiken), die versinnbildlicht ist durch deren Mantel (mantello), zum Handeln veranlasst wird, wodurch auch der Zweck der künstlerischen Praxis bezeichnet ist. Zum anderen ist der Schleier der Dichtung aus rechtschaffener Tugend gewirkt. Das heißt, dass die poiesis als theoriegeleitete künstlerische Praxis fundiert ist im tugendhaften Ethos des zeichnenden Dichters. Aus diesem erwächst schließlich die Weisheit, mit der das Werk angefüllt ist und die es, verborgen unter dem dichterischen Schleier, zu enthüllen gilt. Konkret heißt es: […] rex […] / […] gratum fac donum sepe rogatum / nostro mantello, sicut legis ipse libello. / Hic est, qui celat, qui delet crimina, uelat / et uirtute pia qui replet corda sophya. / Tecum que stamus, nobiscum uelle rogamus / per nostrum rorem quesite pacis amorem. / Hoc ope uirtutis fiet, rex scito Roberte, / nostre sicque tue. Cito fac opus utile certe. / 257 („[…] König, […] mache das angenehme Geschenk, oft erbeten durch unseren Mantel, wie du selbst in der Bittschrift liest.258 Dieser ist es, der verbirgt, der die Schuld tilgt, der die Herzen mit rechtschaffener Tugend einhüllt und sie mit Weisheit anfüllt. Wir, die mit dir sind, bitten dich durch unseren Tau, mit uns die Liebe des Friedens zu wollen. [Unter den Füßen der Chariten:] Dies wird geschehen durch die Kraft der Tugend, wisse es, König Robert, durch unsere wie durch deine. Führe schnell das gewiss nützliche Werk durch“).
Hier zeigt sich die zivilisatorische Aufgabe der Kunst: Das Ziel, die Stiftung des Friedens durch den König, erwächst aus der Verschränkung der Tugendhaftigkeit des Dichters und derjenigen des Königs. Während Ersterer aufgrund seiner Tugend das Werk hervorgebracht hat, vermag Letzterer durch seine Tugendhaftigkeit die heilbringenden Semantiken des Werkes zu erkennen und aus den gewonnenen Einsichten den Frieden durch sein tugendhaftes Handeln zu stiften. Darin spiegelt sich zugleich die Aufwertung der künstlerischen poiesis mit ihren dargelegten Implikationen von ingenium, inventio, charis beziehungsweise gratia. Nun stellt erscheint, wird die Malerei sinnbildlich über den Rang eines Handwerks hinaus in den einer Wissenschaft erhoben. Vgl. zu diesem Zusammenhang Kap. 4. 255 Zu Ikonographie und Ikonologie der Chariten respektive drei Grazien und zum Zusammenhang von gratia, ingenium und ars in der Kunsttheorie der Frühen Neuzeit siehe Veronika Mertens: Die drei Grazien. Studien zu einem Bildmotiv in der Kunst der Neuzeit, Wiesbaden 1994. 256 Siehe Leon Battista Alberti: De Statua, De Pictura, Elementa Picturae – Das Standbild, Die Malkunst, Grundlagen der Malerei, hg., eingel., übers. und komm. v. Oskar Bätschmann, Christoph Schäublin, Darmstadt 2000, De pictura, III, 54, S. 296 f. 257 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Verse 61–69. 258 Das Werk ist versinnbildlicht durch den Mantel (mantello), insofern dieser in Bezug gesetzt ist zu der vorliegenden Bittschrift (libello).
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sich die Frage, inwiefern die hier aufscheinenden theoretischen Reflexionen, die als ausgeprägte und weiterentwickelte Theorien aus der frühneuzeitlichen Traktatliteratur bekannt sind, nicht nur in Zusammenhang mit der Dichtkunst, sondern auch mit der Malerei gebracht sind. Angesichts des Umstandes, dass die frühneuzeitlichen Kunsttheorien aus der Rhetoriktheorie erwachsen sind, gerät die Figur der Rhetorica auf fol. 29 in den Blick (Taf. 41). Und tatsächlich korrespondiert sie mit dieser historischen Sachlage, indem sie das ut pictura poesis-Diktum versinnbildlicht und damit den Vergleich von Dichtung und Malerei aufruft. Links unten auf dem Folio ist die gemalte Figur der Rhetorica zu sehen, die bezeichnenderweise in ein mit Blumen übersätes Gewand gekleidet ist. Links von ihr sind die gesprochenen Worte ihrer Rede schriftlich fixiert, die mit den folgenden drei Versen anhebt: Pingo nouos flores uerbis uariando colorum. / […] proprii poscunt ita mores: / pictum sermonem pictam cupio rationem. / 259 („Ich male neue Blumen mit Worten, die Farben wechselnd. […] folgendermaßen verlangen es die wesentlichen Regeln: Ich wünsche eine ausgemalte Unterredung und eine ausgemalte Überlegung“).
Während die Rhetorica diese Worte spricht, kniet sie vor einem Blütenkranz nieder, der in verschiedenen Farben gemalt ist, und verweist den Betrachter mit ihrem rechten Zeige- und Mittelfinger auf diesen. Durch diese reflexive Bild-Wort-Gestalt stellt die Rhetorica auf sinnfällige Weise vor Augen, dass das Werk des Rhetorikers Convenevole in der Tradition antiker Kunsttheorie steht. Spiegelt sich in ihr doch die in der Ars poetica des Horaz fixierte Formel des ut pictura poesis260: dass die Dichtkunst ihr Vermögen zeigt, mit Worten zu malen, was wiederum den Wert der der Malerei eigenen Augenscheinlichkeit zum Ausdruck bringt.261 In kunsttheoretischer Perspektive ist bedeutsam, dass das ut pictura poesis-Diktum in den Regia Carmina nicht nur dergestalt reflektiert wird, sondern dass es bemerkenswerterweise hinsichtlich des poietischen Vermögens der Malerei in den Ikonotexten selbst ins Werk gesetzt ist. Aufzeigen lässt sich dies anhand des folgenden 259 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29, Verse 49–51. 260 Q. Horatius Flaccus Opera, Ars Poetica, S. 325. In dieser mutmaßlichen Bezugnahme der Rhetorica auf eine dichtungstheoretische Norm scheint eine nicht strikte Trennung zwischen Rhetorik- und Dichtungstheorie auf. Vgl. zur strukturellen Abhängigkeit der Kunsttheorie seit dem Quattrocento von Rhetorik und Poetik John R. Spencer: Ut Rhetorica Pictura. A Study in Quattrocento Theory of Painting, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 20, 1957, S. 26–44; vgl. dazu Baxandall, Giotto and the Orators. 261 Vgl. zum ut pictura poesis-Diktum im Rahmen der frühneuzeitlichen Kunsttheorie die grundlegenden Studien von William G. Howard: Ut Pictura Poesis, in: Publications of the Modern Language Association of America 24, 1909, S. 40–123; Rensselaer W. Lee: Ut Pictura Poesis. The Humanistic Theory of Painting, in: Art Bulletin 22, 1940, S. 197–269; Mario Praz: Mnemosyne. The Parallel Between Literature and the Visual Arts, Princeton 1970, S. 3–27; Wesley Trimpi: The Meaning of Horace’s Ut Pictura Poesis, in: The Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 38, 1973, S. 1–34; Wesley Trimpi: Ut Pictura Poesis. The Argument for Stylistic Decorum, in: Traditio 34, 1978, S. 29–73; Henryk Markiewicz: Ut Pictura Poesis … A History of the Topos and the Problem, in: New Literary History 18, 1987, S. 535–558; Carsten-Peter Warncke: Sprechende Bilder – sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 1987, bes. S. 23–28.
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intratextuellen Bezugs: Die Muse Euterpe, die auf fol. 29v als gemalte Figur am rechten Foliorand im Kreis ihrer Schwestern erscheint (Taf. 42) und wie die Rhetorica (gemalte) Blumen vorweist, stellt in ihrer Rede die Bedeutung des ästhetischen Anspruchs der Dichtung heraus. Sie spricht: Sum bene delectans, quia rethoricis ego cenis / dono daples [!] plenis dulcedine, […] / […]. / Sunt ratione sita. Quamuis que non sit amena / res non quesita, set sit de turbine plena. / Misceo cum ueris mendacia delitiosa / […]. / Aut prodesse uolo seu delectare poetas, / illis quosque colo flores iubeo fore metas. / 262 („Ich weiß gut zu erfreuen, weil ich bei den rhetorischen Mahlzeiten Speisen voller Süßigkeit reiche […]. Sie [d. h. die Worte] sind gegründet auf Vernunft. Im Übrigen wird eine Sache, die nicht anmutig ist, nicht begehrt, sondern sie ist voll von Wirbel. Ich mische mit den Wahrheiten entzückendes Erdichtetes […]. Ich möchte den Dichtern entweder nützlich sein oder sie erfreuen, und ihr Ziel seien die Blumen, die ich pflege“).263
Entscheidend sind hier die letzten Worte der Muse, dass sie den Dichtern die Blumen, die sie pflegt, als Ziel verordnet. Das heißt mit anderen Worten: Die bi ld h a f te und au sg ema lte Sprache wird als Ziel der Dichtung postuliert. In Analogie dazu werden auf fol. 23 nicht nur die genuine Anschaulichkeit der Malerei und deren ästhetische Erscheinung sprachlich reflektiert, vielmehr wird diese Eigenschaft in der gemalten Figur selbst ausgestellt (Taf. 31). So präsentiert der Pfau dem Betrachter sein entfaltetes f a rb enprä c ht i g e s Federgewand, durch das nahezu das gesamte Folio au sg ema lt ist, und spricht dabei selbst folgende selbstreferentielle Worte: Forma superborum sum picta […] / […]. / Esse quidem noui me quod de lumine […] / […]. / Glorior at caude specie […] / […] / et caude crines pedibus tunc indico fines. / 264 („Ich bin gemalte Gestalt der Stolzen […]. Ich weiß, dass ich wahrlich von diesem leuchtenden Glanz gemacht bin […].265 Ich rühme mich hinsichtlich der schönen Gestalt des Schweifes, und ich zeige die Federn des Schweifes den Füßen als Ziel“).
Der intratextuelle Bezug zu den Worten der Euterpe, die den Dichtern als Ziel die Blumen verordnet, besteht mithin darin, dass der Pfau ebenfalls ein Ziel benennt: die Schönheit des farbenreich ausgemalten Federgewandes. Hinsichtlich der Reflexion des ästhetischen Anspruchs der Künste besteht der Reiz mit Blick auf die Malerei nun darin, dass der Pfau nicht nur wie Euterpe auf das zu erreichende künstlerische Ziel sprachlich hinweist. In selbstreflexiver Weise stellt er vielmehr im Bild selbst das Ziel gegenwärtig aus, was in Verschränkung mit den Worten bedeutet: In ihm als gemalter Figur ist das Ziel der Malerei bereits erreicht.266 Erwächst doch aus seiner Gemachtheit als pictura und der da262 263 264 265
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Verse 19–34. Zur Semantik dieser Worte vgl. auch die Ausführungen weiter unten. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Verse 45, 11, 17, 28. Hinsichtlich der oben thematisierten künstlerischen poiesis sei hier auf das betonte Gemachtsein verwiesen. 266 Vgl. zur topischen Klage des Niedergangs der Malerei im Mittelalter und zum Lob des Wiederaufstiegs
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mit verbundenen Schönheit sein glänzender Ruhm, wie er eigens sagt. Damit stellt der Pfau – als Sinnbild der aus Dichtung und Malerei bestehenden Regia Carmina – eine Allegorie der Malkunst und deren Beurteilung dar.267 In dieser Analogiesetzung von Dichtung und Malerei scheint eine Transformation des Horazischen ut pictura poesis in seiner ursprünglichen Bedeutung auf, das die Worte der Rhetorica implizierten: Es zeigt sich eine Übertragung der Regeln der Sprachkunst, die durch die Muse versinnbildlicht sind, auf das (entstehende) Regelsystem der Kunst der Malerei. Die rhetorischen Gestaltungsprinzipien sind an die Figur des Pfaus angelegt, so dass dessen Verschränkung mit den Worten der Euterpe die Gleichartigkeit der Künste impliziert. Solchermaßen spiegelt sich in der Verschränktheit der beiden allegorischen Ikonotexte die grundlegende Definition der Malerei, die Simonides von Keos durch Plutarch zugeschrieben ist und die sich auch in der stark rezipierten Rhetorica ad Herennium findet: dass die Malerei stumme Poesie sein möge und die Dichtung sprechende Malerei.268 Insofern dieses Diktum gemeinsam mit dem Horazischen ut picutra poesis bekanntlich in der Kunsttheorie seit dem Cinquecento zur Darstellung von Dichtung und Malerei als ‚Schwesterkünste‘ gedient hat269, ist hieran in rückwirkender Perspektive herauszustellen: Die allegorischen Ikonotexte erweisen sich in ihrer Verschränktheit von Bild und Text als Instrument einer vergleichenden Theoriebildung für Bild- und Wortkunst vor der Kunsttheorie. Hinsichtlich Baxandalls grundlegender Studie Giotto and the Orators möchte ich noch einmal pointieren: Das ut pictura poesis-Diktum wird nicht nur sprachlich reflektiert, sondern im Bild wird auch ausgestellt, dass die Malerei der Dichtkunst gleicht.270 Der Wert der allegorischen Ikonotexte hinsichtlich des Verständnisses der historischen Malereiauffassung und ihrer kunsttheoretischen Implikationen besteht mithin da-
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der zeitgenössischen Malerei unter anderem in Schriften Boccaccios und Petrarcas die Darstellung bei Baxandall, Giotto and the Orators. Vgl. Erwin Panofsky: Renaissance and Renascences in Western Art, Kopenhagen 1960, S. 10–19. Zu Reflexion und Ausstellung des ästhetischen wie epistemologischen Wertes der Malerei siehe umfassend Kap. 3. Siehe Plutarch’s Moralia in Sixteen Volumes, Bd. 4: 263 D–351 B, hg. und übers. v. Frank Cole Battit, Cambridge, Mass. 1972 [Nachdruck von 1936] (Loeb Classical Library, Bd. 305), De gloria Atheniensum, 346F–347A, S. 500 f.; Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia, Bd. 1: Incerti auctoris de ratione dicendi Ad Herennium lib. IV, IV, xxviii, 39, S. 149: Poëma loquens pictura, pictura tacitum poëma debet esse („Ein Gedicht soll sprechende Malerei, Malerei ein stummes Gedicht sein“). Zum Diktum des Simonides siehe Gabriele K. Sprigath: Das Dictum des Simonides. Der Vergleich von Dichtung und Malerei, in: Poetica 36, 2004, S. 243–280. Vgl. dazu u. a. Lee, Ut Pictura Poesis, bes. S. 197; Ulrich Pfisterer: Künstlerische potestas audendi und licentia im Quattrocento. Benozzo Gozzoli, Andrea Mantegna, Bertoldo di Giovanni, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 31, 1996, S. 107–148, bes. S. 109–118. Baxandall, Giotto and the Orators. Baxandall beleuchtet das Aufkommen der frühneuzeitlichen Kunsttheorie von Petrarca bis Leon Battista Alberti und fragt nach deren Bedingtheit von Kriterien der Rhetorik und lateinischen Literatur. Dabei zeigt sich, dass in keiner der von ihm analysierten Texte explizit die Formel ut pictura poesis genannt ist. Eine ähnliche Differenz besteht bezüglich folgender Studien, in denen das analysierte Verhältnis von Text und Bild schlagwortartig unter der Formel ut pictura poesis gefasst ist: Maurizio Bettini: Francesco Petrarca sulle arti figurative, in: Memoria dell’antico nell’arte italiana, Bd. 1, hg. v. Salvatore Settis, Turin 1984, S. 219–267; Jens T. Wollesen: Ut Poesis Pictura. Problems of Images and Texts in the Early Trecento, in: Petrarch’s Triumphs. Allegory and Spectacle, hg. v. Konrad Eisenbichler, Amilcare Iannucci, Ottawa 1990, S. 183–210.
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rin, dass sie von einem magister der Rhetorik verfasst und zugleich mit Bildern versehen wurden. Denn solchermaßen scheinen nicht nur rhetorik- und dichtungstheoretische Konzepte auf, die in der nachfolgenden Kunsttheorie von Bedeutung sind; vielmehr stehen diese in unmittelbarem Zusammenhang mit der Malerei und bezeugen so deren ästhetische wie epistemologische Aufwertung. Dahingehend sei nun abschließend der grundlegende Aspekt im Prozess künstlerischer Schöpfung beleuchtet, nämlich jener der Bilderfindung (inventio). Der Begriff „Bilderfindung“ ist dabei in seiner semantischen Ambivalenz zu verstehen: sowohl im Sinne von Bilder-Findung als auch von Bild-Erfindung. Denn es gilt, zwei verschiedene historische Konzepte der inventio anzusprechen: die rhetorische und die dichterische. Diese zwei verschiedenen Konzepte von inventio werden durch die beiden Musen Polyhymnia und Erato auf fol. 30 nicht nur zur Sprache gebracht, sondern das Nebeneinander dieser beiden inventio-Konzepte wird durch das Nebeneinander der beiden Musen verbildlicht (Taf. 43). Während Polyhymnia im Zentrum figuriert, ist Erato am rechten Foliorand platziert, so dass diese der vorausgehenden Polyhymnia gleichsam komplementär zur Seite gestellt ist: Polyhymnia stellt die rhetorische inventio im Sinne von (Auf-) Finden im Rahmen der Topik anschaulich vor Augen, wohingegen Erato, die Muse der L ieb e s dichtung, über die Topik hinaus die an die L eiden s c h a f t des Dichters gebundene inventio im Sinne von Erfinden beziehungsweise Erdichten versinnbildlicht. Damit deutet sich die Untrennbarkeit beider Konzepte an, die im Quattrocento dann deutlich hervortritt. Stehen doch beide Traditionen von inventio, die rhetorische wie die dichterische, hinter dem quattrocentesken Konzept der inventio eines Bildes.271 Das Konzept der Topik ist im Zusammenhang der Behandlung historischer Denkmodelle künstlerischer inventio von fundamentaler Bedeutung. Denn mit Topik ist zunächst die Kunst des Findens, die ars inveniendi eines zu gestaltenden Stoffes bezeichnet, wobei die gesammelten materialen Topoi (loci communes) dann in eine Ordnung zu bringen und damit verfügbar sind. Eben diese der Topik inhärente Verbindung von inventio und memoria, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die inventio in der memoria aufbewahrte Bilder aufgreift und zu neuen Bildern gestaltet272, wird in den allegorischen Ikonotexten reflektiert. So äußert sich Polyhymnia gemäß der rhetorischen Tradition im Rahmen der Topik mit ihrem methodischen Prozess des excogitare, des Ausfindigmachens durch Nachdenken: Tres habeo cameras: capit una, tenetque secunda, / tertia custudit recolitque retenta recepta. / Uenor ymaginibus memores inferre figuras, / quas infigo locis uariis ac ordine, fungor / et spatiis signis et disparibus plico uerbis / aut claustris depono, uolens in mente tenere. / Que libri promunt, ego noui corde profari; / possunt que comunt, uideo gaudens, recitari. / 273 271 Siehe dazu Martin Kemp: From Mimesis to Fantasia. The Quattrocento Vocabulary of Creation, Inspiration and Genius in the Visual Arts, in: Viator 8, 1977, S. 347–398. 272 Vgl. Mary Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1992; Carruthers, Craft of Thought, die den schöpferischen Aspekt für die ars der memoria als wesentlich aufzeigt, insofern der schöpferische Prozess des Denkens nachvollzogen ist in der geistigen (Re-)Kombination von Wissenselementen. 273 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 30, Verse 9–16.
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(„Ich habe drei Zimmer: Das erste empfängt, das zweite hält, und das dritte hütet und überprüft das, was festgehalten und aufgenommen wird. Ich gehe auf die Jagd, um den Bildern im Gedächtnis habende Figuren zu bringen, die ich ordentlich an verschiedenen Orten befestige und in verschiedenen Räumen ablege, und ich wickele sie in Zeichen und Worte und lege sie nieder unter Verschluss, um sie im Geist zu halten. Was die Bücher hervorbringen, weiß ich auswendig zu sagen; was sie ordnen, das kann, ich sehe es mit Freude, vorgetragen werden“).
Vorab wird in den ersten beiden Versen der Zusammenhang von imaginatio, memoria und ratio und deren jeweilige Funktion dargelegt: Zunächst empfängt die imaginatio (im ersten Zimmer) Sinneseindrücke, die sodann an die memoria (im zweiten Zimmer) überantwortet werden und solchermaßen ein Vorrat an Erinnerungen angelegt wird. Dieser unterliegt schließlich der kritischen Prüfung der ratio (im dritten Zimmer), indem die Verstandestätigkeit entscheidet, was aus der Fülle der Eindrücke festzuhalten ist und welchen somit Gültigkeit zukommt.274 Hiernach wird der Akt der inventio als Finden beschrieben: durch das auf die Jagd-Gehen und die Zusammenstellung memorierter, an verschiedenen loci geordneter Figuren, was zur Formung neuer Bilder führt.275 Dabei wird die Bedeutung des bewahrten Wissens nicht nur durch die Worte, sondern auch durch die gemalte Figur der Muse verdeutlicht: Die erinnerten Figuren sind in Zeichen und Worte gewickelt (signis et […] plico uerbis), was durch die Bücher, die Polyhymnia hält, als deren Trägermedium bezeichnet ist. Sie sind aufzubewahren und damit geistig zu bewahren, wie Polyhymnia durch das Legen der Bücher in die Truhe neben sich zeigt. Dass die memoria durch Prozesse des Sehens und Hörens der Sicherung und Vergewisserung von Wissen und Werten dient276, wird schließlich durch die letzten beiden Verse zum Ausdruck gebracht. 274 Zum Zusammenhang der Kräfte imaginatio, ratio und memoria in Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen und deren Ort in der Hirntopographie vgl. Wright Bundy, Theory of Imagination, S. 179 f.; Michael Camille: Before the Gaze. The Internal Senses and Late Medieval Practices of Seeing, in: Visuality Before and Beyond the Renaissance. Seeing as Others Saw, hg. v. Robert S. Nelson, Cambridge 2000, S. 197–223. Vgl. zu der hier genannten Kammerordnung Wenzel, Schrift und Gemeld, S. 48 zum Wälschen Gast des Thomasin von Zerclaere; ferner Joachim Bumke: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001, S. 36 f. 275 Zur Mnemotechnik des Rhetorikers, die auf der Zuordnung von Bildern (imagines) zu Orten (loci) beruht, vgl. Frances A. Yates: The Art of Memory, London 1966, bes. Kap. 1: The Three Latin Sources for the Classical Art of Memory. Zum Schreiten des Rhetors durch seine imaginären Bildersäle, bei dem er die zu Bildern (imagines) verdichteten Redegedanken einsammelt, vgl. Stefan Goldmann: Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemonik durch Simonides von Keos, in: Poetica 21, 1989, S. 43–66. 276 Vgl. Wenzel, Schrift und Gemeld, S. 49 zu Richart de Fournivals Bestiaire d’Amour, in dem das Gedächtnis als Schatzhaus der Erinnerung beschrieben ist mit zwei Türen, nämlich Sehen und Hören. Vgl. dazu Friedrich Ohly: Probleme der mittelalterlichen Bedeutungsforschung und das Taubenbild des Hugo de Folieto, in: Friedrich Ohly: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 32–92, hier S. 50 f.; Sylvia Huot: From Song to Book. The Poetics of Writing on Old French Lyric and Lyrical Narrative Poetry, Ithaca 1987, S. 135–173; Helen Solterer: Letter Writing and Picture Reading. Medieval Textuality and the Bestiaire d’amour, in: Word and Image 5, 1989, S. 131–147; Michael Curschmann: Imagined Exegesis. Text and Picture in the Exegetical Works of Rupert of Deutz, Honorius Augustodunensis, and Gerhoch of Reichersberg, in: Traditio 44, 1988, S. 145–169.
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Die Muse Erato thematisiert gleichsam komplementär den Prozess der inventio. Dabei ist bezüglich der oben beschriebenen Aufwertung künstlerischer poiesis und damit der Dicht- und Malkunst wesentlich, dass Erato auf die systematische Verschränkung von Topik und Ästhetik der Künste hinweist. So stellt sie die Bedeutung des Neuen in den Künsten heraus, des in deren ästhetischer Erscheinung sichtbar werdenden Wissens und des erkenntnisstiftenden Potentials der Künste. Sie äußert: Cum res plus certe loquor, ut sunt limite multe, / diligo, set musta uolo conformare uetustis / et rebus iustis adiungere sepe uenusta / 277 („Wenn ich spreche, bevorzuge ich die sichereren Dinge, die wie viele in den Grenzen [des Bekannten] liegen, aber ich möchte das Neue dem Alten entsprechend gestalten und das Anmutige mit den gesetzmäßigen Dingen verbinden“).
Die Worte beziehen sich auf die Topik, die als Wissensverwaltung durch Ordnungen die materialen Topoi (loci communes) zur Argumentation bereithält278, wobei die alten Argumente neu organisiert werden und so zu einer neuen Überzeugung führen.279 Der Wissenswandel ist an das tradierte Wissen rückgebunden, womit zugleich die Bewahrung des alten Wissens gewährleistet ist. Augenscheinlich ist zudem, dass im zweiten Teil des Satzes die künstlerische poiesis, das heißt die künstlerische Tätigkeit mit ihren theoretischen und ethischen Implikationen als Produktion von Wissen, eine Aufwertung erfährt: Durch die Verbindung von anmutiger Sache und „gesetzmäßigen Dingen“ ist nicht nur die poiesis als künstlerische Produktion und deren Reflexion bezeichnet. Darüber hinaus wird die anmutige Sache mit dem von Erato angesprochenen „Neuen“ verschränkt und in Bezug zum „Alten“, dem gesetzmäßigen Wissen und dessen Ordnung, gestellt. Durch die Metrik wird dabei die spezifische Verschränkung betont: musta – uenusta, uetustis – iustis. Damit wird in den Worten der Muse eine systematische Koppelung von Topik und Ästhetik der Dichtkunst vollzogen. Angesichts der aufgezeigten Reflexion und Ausstellung des ut pictura poesis-Diktums in den Ikonotexten lassen sich die Worte der Erato nicht nur auf die Dichtkunst beziehen, sondern auch auf die Malerei übertragen. Mit 277 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 30, Verse 26–28. 278 Dem Topik-Begriff haftet bekanntlich eine Unschärfe an, wie Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976, S. 33 betont hat; vgl. dazu Berthold Emrich: Topik und Topoi, in: Der Deutschunterricht 18, 1966, S. 15–46; Jozef A. R. Kemper: Topik in der antiken rhetorischen Techne, in: Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, hg. v. Dieter Breuer, Helmut Schanze, München 1981, S. 17–32. Zum materialen und formalen TopikBegriff siehe u. a. Curtius, Europäische Literatur; Lothar Bornscheuer, Neue Dimensionen und Desiderata der Topik-Forschung, in: Mittellateinisches Jahrbuch 22, 1987, S. 2–27; Conrad Wiedemann: Topik als Vorschule der Interpretation. Überlegungen zur Funktion von Topos-Katalogen, in: Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, hg. v. Dieter Breuer, Helmut Schanze, München 1981, S. 233–255; Josef Kopperschmidt, Formale Topik. Anmerkungen zur ihrer heuristischen Funktionalisierung innerhalb einer Argumentationsanalytik, in: Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 1991, S. 53–62. 279 Zur argumentativen Funktion der Topik siehe Bornscheuer, Topik; Rüdiger Bubner: Dialektik als Topik, Frankfurt a. M. 1990.
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anderen Worten bringt die Muse eine ‚Kritik der Topik‘ hervor, die Artefakten in ihrer ästhetischen Eigenwertigkeit keinen angemessenen Platz zuweist.280 Die Implikationen der angesprochenen Verschränkung von anmutiger Sache, „gesetzmäßigen Dingen“ und „Neuem“ erschließen sich in einer Relektüre der ersten Verse ihrer Rede. Denn diese explizieren, worin sich die Anmut und der Wert der neu entstehenden Kunst zeigen, nämlich in der mimetischen Qualität der Darstellung. So führt Erato aus: Inuenio similes inuenctis comparo formas, / nature normas ymitor non dogmate uiles. / Incipit esse meum picte referens alienum, / et laudis plenum capio similando tropheum. / 281 („Ich erfinde und schaffe Formen, die dem Erfundenen ähnlich sind282, ich ahme die Regeln der Natur nach, nicht verachtenswert durch den Lehrsatz. Es beginnt meines zu sein, das Fremde mit malerischen Mitteln zurückzubringen, und durch die Nachahmung erhalte ich ein ruhmreiches Siegeszeichen“).
Mit der Nachahmung der Regeln der Natur ist die Strukturgleichheit zwischen der ars mit ihrem gedanklichen Entwurf sowie dessen handwerklicher Herstellung und den Prinzipien der Natur gemeint. In dieser Analogiesetzung kann die Kunst als eine auf einen Zweck hin ausgerichtete Herstellung durch den Lehrsatz nicht verachtet werden.283 Mit 280 Vgl. dazu Kap. 3.1 und 3.2. 281 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 30, Verse 17–20. 282 Zur inventio beziehungsweise fantasia und der Erzeugung von Artefakten siehe Löhr, Dantes Täfelchen, bes. S. 165–171. 283 Siehe u. a. Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, Bd. 6: Prima Secundae Summae Theologiae a quaestione I ad quaestionem LXX, Rom 1891 (Editio Leonina: Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia, Bd. 6), q. LVII, a. 4, S. 36 f.; Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, Bd. 14: Summa contra Gentiles, Liber tertius, Rom 1926 (Editio Leonina: Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia, Bd. 14), Kap. X, bes. S. 26: Ars enim in sua operatione imitatur naturam; Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, Bd. 2: Commentaria in octo libros Physicorum Aristotelis, Rom 1884 (Editio Leonina: Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia, Bd. 2), II, lect. IV, 6, S. 64: Ideo autem res naturales imitabiles sunt per artem, quia ab aliquo principio intellectivo tota natura ordinatur ad finem suum, ut sic opus naturae videatur esse opus intelligentiae, dum per determinata media ad certos fines procedit: quod etiam in operando ars imitatur. Im Sinne der aristotelischen Formel der natura naturans, also der Natur als produzierendem Prinzip, heißt es, dass die Kunst die Natur in der Art ihres zielgerichteten Tuns nachahme. Vgl. Dante Alighieri, Divina Commedia, Inferno, XI, 103–105, S. 349, der in Rekurs auf die Physik des Aristoteles (Aristoteles: Physik II, 8, 199a) bezüglich des Verhältnisses von ars und natura formuliert: che l’arte vostra quella, quanto pote, / segue, come ’l maestro fa ’l discente; / sì che vostr’ arte a Dio quasi è nepote /. Die Natur wird hier verstanden als Tochter der göttlichen Kunst und Weisheit, so dass die menschliche Kunst gleichsam als Enkelin Gottes anzusehen ist, indem ihr aufgegeben ist, die Kunst Gottes nachzuahmen. Zur Nachahmung beziehungsweise imitatio der Natur durch die ars im Sinne einer Strukturanalogie siehe Hans Blumenberg: Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen [1957], in: Hans Blumenberg: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a. M. 2001, S. 9–46; Kurt Flasch: Ars imitatur naturam. Platonischer Naturbegriff und mittelalterliche Philosophie der Kunst, in: Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus, hg. v. Kurt Flasch (Festschrift für Johannes Hirschberger), Frankfurt a. M. 1965, S. 265–306, bes. S. 282–284; Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin 21960 [1924], S. 20–22; Anne Eusterschulte: Mimesis, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Tübingen 2001, Sp. 1232–1294, hier Sp. 1251–1257.
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dem Auftakt des folgenden Satzes (incipit) ist dann der Beginn von etwas Neuem bezeichnet: Die Muse bringt das Fremde gemalt zurück (picte referens alienum). Angesichts des dem Werk zugrundeliegenden ut pictura poesis-Diktums fragt sich, ob mit dem Fremden die Natur gemeint ist, die wiederentdeckt und mit der neuen Malerei mimetisch wiedergegeben wird.284 Dafür sprechen die sich anschließenden Worte „und durch die Nachahmung erhalte ich ein ruhmreiches Siegeszeichen“ (et laudis plenum capio similando tropheum). Denn mit der ruhmreichen Nachahmung (similando) sind die Qualitäten der mimetischen Malerei angesprochen, die im Sinne empirischer Naturnachahmung und ihrer gegenstandsbezogenen Anschaulichkeit verstanden wird.285 Damit bringen die Worte der Erato zwei unterschiedliche Konzepte der imitatio naturae zum Ausdruck, denen zufolge im Sinne der poiesis festgehalten werden kann: Hinsichtlich künstlerischer Tätigkeit respektive Arbeit steht nicht mehr der Aspekt ihrer Nützlichkeit allein im Vordergrund. Der ästhetische Eigenwert des geschaffenen Kunstwerkes steigt vielmehr zu bedeutendem Rang auf.286 Solchermaßen verleiht Erato den Worten ihrer Schwester Euterpe Nachdruck, die ihr auf fol. 29v vorausgeht (Taf. 42). Dabei wird ihr Zusammenhang formal-kompositorisch augenscheinlich, insofern Euterpe ebenfalls am rechten Foliorand mittig figuriert und eine horizontale Achse mit Erato bildet. Euterpe stellt in ihrer Ansprache, die über ihrer gemalten Figur rechts oben auf dem Folio zu lesen ist, das angesprochene Nebeneinander von prodesse und delectare deutlich heraus, indem sie die Bedeutung des ästhetischen Anspruchs der Dichtung betont. So spricht sie, während sie mit der Linken ein Gefäß hält, aus dem Blumen hervorkommen, die sie mit ihrer rechten Hand wiederum umfasst: Sum bene delectans, quia rethoricis ego cenis / dono daples [!] plenis dulcedine, prandia sectans / dulcia cum florum redolenti more saporum. / […]. / Sunt ratione sita. Quamuis que non sit amena / res non quesita, set sit de turbine plena. / Misceo cum ueris mendacia delitiosa, / ut tempus ueris 284 Zur Wiederentdeckung der Natur, die verbunden ist mit der Wiederbelebung der Malerei, siehe Panofsky, Renaissance and Renascences, S. 18 f. 285 Demgemäß heißt es auch auf fol. 28v zu Erato: Sic Eratho formas similes pariat sibi normas / rebus […] / („So bringe Erato sich ähnliche Gebilde als Normen für die Gegenstände hervor“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 28v, Vers 6 f. 286 Vgl. dazu näher Kap. 3 und 4. Vgl. ferner auch folgende Verse auf fol. 2 sowie die gemalten Gartenbilder auf fol. 15v (Taf. 22), insofern sich in deren In-Verhältnis-Setzung eine Reflexion auf die ‚Sprachfähigkeit‘ der Bilder zeigt und eine In-Analogie-Setzung von Schöpfergott und Dichter. Auf fol. 2 spricht das Paradies: En ego, tunc inquit paradisus, […] / […], / sum regnum […] / […], / quem factor florum repleuit fructibus horum, / ortus virtutum, pratum bona pascua tutum / […]. / Hec micchi donauit, qui me qui cuncta creauit / („Siehe, ich, sagt dann das Paradies, […], ich bin ein Reich […], das der Schöpfer dieser Blumen angefüllt hat mit Früchten, Garten der Tugenden, sichere Wiese, gute Weide […]. Diese Dinge hat mir jener geschenkt, der mich und alle Dinge erschaffen hat“), Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 2, Verse 57, 63, 66 f., 70. In Bezugnahme auf diese Worte, die das Paradies über die Schönheit seiner Gestalt und seines Wesens spricht, die es Gott als Schöpfer zu verdanken hat, zeigt sich in den (Garten-)Bildern eine Reflexion ihrer ‚Sprachfähigkeit‘. Stellen sie doch als Meta-Allegorie der Dicht- und Malkunst eben in gemalter Form die Reichhaltigkeit ihrer Blumen und Früchte aus, deren Schönheit sie dem malenden Dichter beziehungsweise der Kunst des Malers zu verdanken haben. Demzufolge implizieren die Worte auch eine Analogie von Schöpfergott und Dichter. Zu den Gartenbildern als Allegorie der Dicht- und Malkunst siehe Kap. 3.2.
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cum spinis dat generosa. / Dat frondes, flores uarios tellusque colores / […]. / Aut prodesse uolo seu delectare poetas, / illis quosque colo flores iubeo fore metas. / 287 („Ich weiß gut zu erfreuen, weil ich bei den rhetorischen Mahlzeiten Speisen voller Süßigkeit reiche, um angenehme Mahlzeiten bemüht, mit dem Duft von Blumen. […]. Sie [d. h. die Worte] sind gegründet auf Vernunft. Im Übrigen wird eine Sache, die nicht anmutig ist, nicht begehrt, sondern sie ist voll von Wirbel. Ich mische mit den Wahrheiten entzückendes Erdichtetes, wie die Zeit des Frühlings mit den Dornen Edles gibt. Sie gibt Laub, verschiedene Blumen, und die Erde gibt Farben […]. Ich möchte den Dichtern entweder nützlich sein oder sie erfreuen, und ich verordne ihnen als Ziel die Blumen, die ich pflege“).
In Anlehung an das durch Erato zum Ausdruck gebrachte Mimesis-Konzept zeigt sich in diesem Ikonotext ebenfalls die Thematisierung der Analogie von der Schöpfung der Natur und der Dichtkunst. Gibt doch die (er)blühende Dichtung dem Frühling gleich Blumen, die mit Blüten und Blättern versehen sind. Dies bekundet Euterpe nicht nur in ihren Worten, sondern vergegenwärtigt es, indem sie die Blumen darreicht und zugleich zeigt, wie diese aus dem in Erdfarben gefassten Krug erwachsen. Indem sie nicht nur den Krug hält, der als naturgleicher Nährboden der Blumen erscheint, sondern diese mit ihrer Rechten u m f a s st , wird sinnfällig, dass sie dargelegt sind mit Vernunft, die b e g rei f t . Dergestalt weist der Ikonotext darauf hin, dass das geschaffene Werk erwachsen ist aus Wissen, Regelanwendung und technischer Fertigkeit. Indem Euterpe zudem betont, dass sie entzückendes Erdichtetes mit den Wahrheiten mischt (misceo cum ueris mendacia delitiosa), spiegelt sich noch deutlicher die Mimesis im aristotelischen Sinn, insofern sie zu verstehen ist als eine „fiktionale Gestaltung aufgrund einer verständlichen Korrelation zur Wirklichkeit“288. Damit lässt sich schließlich festhalten: In dem Ikonotext werden beide Aspekte der aristotelischen Mimesis sinnfällig, da die Muse nicht nur das Werk in seinem produktiven, ‚gedeihlichen‘ Verfertigtsein in Form der Blumen zeigt, sondern auch den produktiven Moment des Verfertigens zur Sprache bringt mittels ihrer Worte.289 Eben dieser Moment führt letztlich wieder zurück zur poiesis.290
287 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Verse 19–34. 288 Thomas Buchheim, Hellmut Flashar, Richard A. H. King: Einleitung, in: Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, hg. von Thomas Buchheim, Hellmut Flashar, Richard A. H. King, Darmstadt 2003, S. IX–XXVIII, hier S. XXVI. 289 Vgl. zum produktiven Moment und „schöpferischen Prozess“, welcher der Mimesis bei Aritstoteles inhärent ist, Arbogast Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand in der Poetik des Aristoteles, in: Poietische Philosophie. Grundlagen der Ästhetik und Literaturwissenschaft, hg. v. Thomas Buchheim, Darmstadt 2003, S. 184–219; Arbogast Schmitt: Einleitung, in: Aristoteles: Poetik, hg., übers. und eingeleitet v. Arbogast Schmitt, Berlin 2008, S. 45–137, hier S. 95 f., 119; Arbogast Schmitt: Schöpferische und produktive Formen der Mimesis bei Aristoteles, in: Mimikry. Gefährlicher Luxus zwischen Natur und Kunst, hg. v. Andreas Becker, Schliengen 2008, S. 173–188. 290 Zur „kategorielle[n] Nähe der Termini ‚Mimesis‘ und ‚Poiesis‘ bei Aristoteles“ siehe hier von Rosen, Einleitung
Poiesis, Zit. S. 15.
Das Bild des zeichnenden Dichters im Spiegel der poiesis 139
2.4 Das Bild des zeichnenden Dichters im Spiegel der poiesis In dem auf den 27. April 1374 datierten Brief an den päpstlichen Sekretär Luca de Penna reflektiert Francesco Petrarca anhand von Ciceros Schriften allgemein die Position des Dichters in seiner Gesellschaft, wobei er in besonderem Maße dessen moralische und literarische Vorbildlichkeit bedenkt. In diesem Zusammenhang geht er auch kritisch auf das Verhalten seines vormaligen Lehrers Convenevole da Prato ein, indem er insbesondere dessen Leistung als Literaturtheoretiker, aber auch seine moralischen Defizite hervorhebt: Fuit micchi pene ab infantia magister qui me primas literas doceret; sub hoc postea grammaticam et rethoricam audivi. Utriusque enim professor ac preceptor fuit, cui parem ego non novi, quoad theoricam loquor; quod ad practicam attinet non ita, prorsus horatiane cotis in morem, que ferrum novit acuere, non secare. […] graviore siquidem pressus inopia, duo illa Ciceronis volumina, […] librosque alios me tradente, abstulit, pretendens necessarios sibi in opere suo quodam. Quotidie enim libros inchoabat mirabilium inscriptionum et, prohemio consummato quod in libro primum, in inventione ultimum esse solet, ad opus aliud phantasiam instabilem transferebat. Quid te ad vesperam verbis traho? Cum inciperet suspecta esse dilatio, quod non egestati sed studio concessi libri erant, cepi altius exquirere quid de eis actum esset et, ut pigneratos comperi, penes quem essent indicari michi petii, ut facultas fieret luendi eos.291 („Beinahe seit der Kindheit hatte ich einen Lehrer, der mich die ersten Buchstaben lehrte, und bei dem ich später Grammatik und Rhetorik hörte. Er war Professor und Unterweiser beider Disziplinen. Ich kenne nicht einen, der ihm ebenbürtig wäre, wo ich über die Theorie spreche; wo es aber die Praxis berührt, war er so ganz und gar nicht in der Art des Horazischen Schleifsteins, der weiß, Eisen zu schärfen, aber nicht zu schneiden. […] Von schwererem Mangel bedrängt, nahm er jene zwei Cicero-Bände weg, […] die ich ihm übergab und andere Bücher, wobei er vorgab, er brauche sie notwendig für irgendeine Arbeit. Täglich nämlich fing er Schriften mit sonderbaren Titeln an, und sobald er das Vorwort vollendet hatte, das im fertigen Buch das Erste, bei der Konzeption aber das Letzte zu sein pflegt, wandte er seine unstete Fantasie einem anderen Werk zu.292 Was halte ich dich mit den Worten bis zum Abend hin? 291 Francesco Petrarca, Rerum Senilium Libri, XIII–XVIII, XVI, 1, S. 2056, 2058, 2060. 292 Vgl. angesichts der zentralen Frage dieser Arbeit nach den kunsttheoretischen Implikationen in der Malerei des Trecento und ihrer Verschränkung mit der Rhetorik- und Dichtungstheorie folgende Ausführungen von Leon Battista Alberti in seinem Traktat De Pictura (III, 61), die u. a. durch den Verweis auf die Apelles-Anekdote in der antiken Malereitheorie verankert werden: […] neque id agendum quod plerique faciunt, ut plura opera assumant, hoc ordiantur, hoc inchoatum atque imperfectum abiciant. Sed quae coeperis opera, ea omni ex parte perfecta reddenda sunt. Cuidam, cum imaginem ostenderet, dicenti: hanc modo pinxi, respondit Apelles: te quidem tacente id sane perspicuum est, quin et miror non plures huiuscemodi abs te esse pictas. Vidi ego aliquos tum pictores atque sculptores, tum rhetores et poetas, si qui nostra aetate aut rhetores aut poetae appellandi sunt, flagranti studio aliquod opus aggredi, qui postea, dum ardor ille ingenii deferbuit, inchoatum ac rude opus deserunt, novaque cupiditate aliud agendi ad novissima sese conferunt. Quos ego homines profecto vitupero. Nam omnes qui sua posteris grata et accepta fore opera cupiunt, multo ante meditari opus oportet, quod multa diligentia perfectum reddant. Siquidem non paucis in rebus ipsa diligentia grata non minus est quam omne ingenium („und man darf sich nicht auf Folgendes einlassen (was sehr viele tun): mehrere Werke gleichzeitig in Angriff zu nehmen, dieses zu beginnen, jenes angefangen und unfertig beiseite zu legen. Vielmehr müssen die Werke, die man einmal begonnen hat, in jeder Hinsicht zur Vollendung gebracht werden. Als einmal einer dem
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Repräsentation von Künsten und Herrschaft
Als die Verzögerung anfing verdächtig zu sein, schließlich waren die Bücher nicht dem Mangel, sondern dem Studium überlassen worden, fing ich an genauer nachzuforschen, was mit ihnen geschehen sei, und wie ich herausfand, dass er sie verpfändet hatte, verlangte ich, dass mir mitgeteilt werde, in wessen Besitz sie seien, damit die Möglichkeit bestünde sie auszulösen“).
Im Allgemeinen modelliert Petrarca anhand von Cicero den klassischen Rhetor beziehungsweise zeitgenössischen poeta als vir bonus, insofern der vorbildliche Dichter sowohl in der ethischen als auch dichterischen Praxis sowie der dichterischen Theorie gleichermaßen vorbildlich sein muss, um als nachahmenswert zu gelten. Im Besonderen bindet Petrarcas Text an die Person des Convenevole die Reflexion auf die notwendige Verbindung von theoria und praxis auf zwei systematisch zu differenzierenden Ebenen, die indes, auf Cicero aufbauend, interagieren: erstens die Ebene der Dichtkunst und zweitens die Ebene der Ethik. Auf der ersten Ebene behandelt Petrarca die poiesis, das heißt das kunstmäßige Hervorbringen eines Werkes, das im Akt der Produktion die Seite der theoria mit jener der zweckmäßigen praxis verbindet293, indem er anhand der Funktionen Convenevoles als professor und preceptor dessen Handlungen beleuchtet. Während die Bezeichnung des professor der Rhetorik und Grammatik die Kenntnis der Theorie der Poetiken impliziert, verweist diejenige des preceptor auf die Umsetzung von Rede- und Dichtkunst. Damit ist zunächst eine Rückbindung an das aus der Antike tradierte Konzept der rhetorischen beziehungsweise dichterischen praxis gegeben. Indem Petrarca Convenevole die Fähigkeit zur künstlerischen Praxis, das heißt die Kompetenz zur theoriegeleiteten Dichtung, abspricht, ist auch sein Lob, dass er niemanden kenne, der Convenevole im Bereich der Theorie (theoria) ebenbürtig sei, nur ein halbes. Beschränkt Petrarca damit doch Apelles ein Bild zeigte und sagte: ‚Dies habe ich eben gemalt‘, antwortete der Meister: ‚Auch wenn du es nicht gesagt hättest, würde man es deutlich sehen; ja, ich wundere mich sogar, dass du nicht noch mehr Bilder dieser Art gemalt hast‘. Ich selbst erlebe immer wieder, wie Maler und Bildhauer, Redner und Dichter (wenn man in unserer Zeit von Rednern und Dichtern überhaupt sprechen darf ) mit glühendem Eifer irgendein Werk in Angriff nehmen, wie sie dann aber, sobald jene Erhitzung des Geistes etwas abgeklungen ist, dieses Werk angefangen und im Rohzustand stehenlassen – nur um sich mit neuer Lust (nämlich etwas anderes zu schaffen) aufs Neueste zu werfen. Solche Leute muss ich wirklich tadeln. Denn wer immer Wert darauf legt, dass seine Werke bei der Nachwelt ankommen und Erfolg haben, muss lange zuvor über ein Werk nachdenken und es dann mit großer Sorgfalt zum Abschluss bringen. Ist es doch so, dass vielfach gerade der Sorgfalt ein nicht geringerer Erfolg zuteil wird als der ganzen Begabung“). Leon Battista Alberti, De Statua, De Pictura, Elementa Picturae, De pictura, III, 61, S. 308–311. 293 Vgl. den poiesis-Begriff in Aristotelis Ethica Nicomachea, hg. v. Franz Susemihl, cur. Otto Apelt, Leipzig 3 1912 [1882] (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), 1140a–1140b, S. 127– 130, der ein zweckgebundenes Handeln bezeichnet (siehe auch Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Griechisch – Deutsch, übers. v. Olof Gigon, neu hg. v. Rainer Nickel, Düsseldorf 2001 (Sammlung Tusculum), S. 243, 245, 247). Das heißt, dass der Zweck des Handelns im Produzieren von etwas besteht. Siehe dazu Theodor Ebert: Praxis und Poiesis. Zu einer handlungstheoretischen Unterscheidung des Aristoteles, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 30, 1976, S. 12–30; György Markus: Praxis und Poiesis. Eine fragwürdige Aristoteles Renaissance, in: Streitbare Philosophie. Margherita von Brentano zum 65. Geburtstag, hg. v. Gabriele Althaus, Irmingard Stäuble, Berlin 1988, S. 71–91; Josef Derbolav: Poiesis, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 1024 f. Zum heuristischen Wert des aristotelischen poiesis-Begriffs in kunstwissenschaftlicher Perspektive jüngst von Rosen/Nelting/Steigerwald, Vorwort.
Das Bild des zeichnenden Dichters im Spiegel der poiesis 141
Convenevoles Vorbildhaftigkeit allein auf die Funktion als professor der theoriehaltigen Seite der Dichtkunst. An die mangelnde Tüchtigkeit im Bereich der Dichtungspraxis bindet Petrarca die Mängel in der ethischen Praxis. Denn in der geschilderten Anekdote um die unrechtmäßig verpfändeten Cicero-Handschriften stellt Petrarca die defizitären moralischen Handlungen seines Lehrers aus und markiert damit, dass dieser keineswegs seiner Funktion als vir bonus nachkomme, obwohl er behauptete, als Lehrer ciceronischer Rhetorik das antike Ideal zu lehren.294 Pointiert stellt Petrarca diese problematische Vorbildlichkeit seines Lehrers mittels des intertextuellen Bezugs auf die Ars poetica des Horaz aus, indem er einerseits das zuvor Gesagte nochmals unterstreicht und andererseits mittels der Horazischen Wendung vom Schleifstein295, die auf die zweckmäßige praxis abzielt, zum Ausdruck bringt, dass Convenevole hier nicht über die erforderliche Kunst (téchne) verfüge, ein vernunftgeleitetes und zugleich kreatives Grundverhalten des Dichters, in dem die Herstellung eines Werkes im Sinne der dichterischen poiesis fundiert ist. Denn die Dichtungspraxis des Convenevole sei durch eine phantasia instabilis gekennzeichnet, so dass er es nicht vermochte, durch sie zu belehren, „wie die Mittel erworben werden, was den Dichter fördert und bildet, was sich ziemt, was nicht“ (unde parentur opes, quid alat formetque poetam, / quid deceat, quid non […] /)296. Doch impliziert die Formel des Schleifsteins mit ihrem genuinen praxis-Aspekt eine Doppelung, die durch die nachfolgend geschilderte Anekdote nachdrücklich herausgestellt wird: An die Ebene der Poetik knüpft sich die der Ethik, die auf die in der Tugend begründete Handlung zielt. Die Semantik des Schleifsteins weitet sich auf die Funktion des Lehrers im Sinne tugendhaften Handelns, als preceptor virtutis, der Convenevole nicht gerecht wurde. Unter systematischem Blickwinkel lässt sich folglich festhalten, dass Petrarca die Ebene der Poetik mit der Ebene der Ethik verbindet und diese wiederum jeweils binnendifferenziert durch die Dreigliederung in theoria – poiesis – praxis. Vorbildlich sind für Petrarca nur diejenigen rhetores und poetae, die zum einen Poetik und Ethik verbinden und zum anderen die poiesis, verstanden als theoriegeleitetes Handeln, für sich zum Ziel nehmen, um damit zugleich vorbildlich zu handeln und für andere nachahmungswürdig zu sein. Diese systematische Durchdringung der poiesis-Ebenen, das heißt der ethischen und poetischen Ebene, deren qualitative Beurteilung sich allein aus dem hervorgebrachten Werk speist, mit der ethischen und dichterischen praxis-Ebene, an deren Beurteilung auch die des Charakters des Handelnden gebunden ist297, dient im Weiteren als Aus294 In der rhetorischen Strategie Petrarcas fungiert Convenevole somit in mehrfacher Hinsicht als negativer Bezugspunkt, um die eigene, sich an Cicero anlehnende Vorbildlichkeit ex negativo herauszustellen. 295 Q. Horatius Flaccus Opera, Ars poetica, Verse 303–308, S. 322: non alius faceret meliora poemata. verum / nil tanti est. ergo fungar vice cotis, acutum / reddere quae ferrum valet exsors ipsa secandi; / munus et officium nil scribens ipse docebo, / unde parentur opes, quid alat formetque poetam, / quid deceat, quid non […] / („Kein anderer würde bessere Gedichte verfertigen. Aber das ist es nicht wert. Also diene ich als Schleifstein, der das Eisen zu schärfen vermag, ohne selbst schneiden zu können. Aufgabe und Pflicht, selbst nichts schreibend, werde ich lehren, wie die Mittel erworben werden, was den Dichter fördert und bildet, was sich ziemt, was nicht“). 296 Q. Horatius Flaccus Opera, Ars poetica, Vers 307 f., S. 322. 297 Aristotelis Ethica Nicomachea, 1105a 26–31, S. 31; siehe dazu Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, S. 65.
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gangspunkt, das in der philologischen Forschungsliteratur bestehende, wiederholt in Rekurs auf Petrarca formulierte Urteil über die Regia Carmina als eines „Sammelsuriums“ verschiedener Textbausteine298 zu hinterfragen. Denn dabei wurde zumeist übersehen, dass die negative Darstellung des Convenevole der Selbstdarstellung des Dichters Petrarca diente299 und dass sich Convenevoles Werk in besonderer Weise anbietet, ihn als professor, preceptor und poeta mit eigener positiver Leistung zu beurteilen. Die Tatsache, dass in der poiesis des Convenevole die inventio und dispositio kunstgerechter Rede mit derjenigen von Bildern verschränkt werden, die einer von Sprache beziehungsweise Text differenzierten Systematik unterliegen, ermöglicht eine Befragung und, so möchte ich behaupten, Modifizierung des allein aus philologischem Blickwinkel gefällten Urteils über die Regia Carmina.300 Denn aus kunsthistorischer Perspektive kann nicht von einer mangelnden Kenntnis der rhetorischen, genus-gebundenen Textordnung gesprochen werden. Obschon das Lobgedicht zuweilen rhetorischen Ordnungsprinzipien zuwiderläuft, ist vielmehr festzustellen: Die Transgression der rhetorischen Textordnung ist dem Einfließen einer anderen, dem Medium Bild gehorchenden Systematik geschuldet, welche die Textordnung transformiert.301 Dabei bestätigt indes die in der Struktur des poetischen Textes aufscheinende Transgression dichtungstheoretischer Normen gerade die bestehenden Regeln. So wird der betrachtende Leser und lesende Betrachter im Rezeptionsakt nicht nur der Reziprozität des Text-Bild-Gefüges gewahr, sondern auch der werkdisponierenden Funktion der Bilder, die in erheblichem Maße die thematische und argumentative Struktur des Lobgedichtes bestimmen. Hier zeigt sich die zentrale Rolle, die den imagines beziehungsweise den zu malenden Bildern, den picturae, im Prozess der inventio und dispositio dieses dichtenden und zeichnenden poeta zukam. Demzufolge liegt die intentio operis auf struktureller Ebene insbesondere darin, die einzelnen, der inventio entsprungenen Bilder in der dispositio zu einer elaborierten visuellen ‚Textur‘ verwoben vor Augen zu stellen, sie als eine in eine logische Kohärenz gebrachte Bildfolge ‚lesbar‘ werden zu lassen. Meine These vom spezifischen poietischen Vermögen des Convenevole, die aus der strukturellen Bedeutung der Bilder erwächst, möchte ich anhand des Ikonotextes des fol. 24 diskutieren (Taf. 33). Dieser erweist sich als aufschlussreiche Figur, da er als autoreferentielle Autorrepräsentation zu verstehen ist. Konkret zeige ich auf, inwieweit in dieser Repräsentation zum einen die künstlerische Leistung der Bild-Text-poiesis ausgestellt ist und zum anderen auch beziehungsweise gerade der ästhetische Rang deutlich wird, den Convenevole der pictura beimaß. Beim Betrachten des Folio erschließt sich zunächst, 298 Siehe u. a. Grassi, Il testo latino e la traduzione, S. 9; Pasquini, Convenevole da Prato, S. 566; Witt, In The Footsteps Of The Ancients, S. 234; Vaccaro, Filologia del testo, S. 23. 299 Petrarca beschreibt Convenevoles Ungenügen auf der Ebene der theoria und praxis, um dieses zur Absetzung seiner eigenen Person zu nutzen, indem er sich positiv von diesem unterscheidet. Somit präsentiert er sich als wahrhafter Nachfolger Ciceros, da er insbesondere in der Poesie Vorbildlichkeit beanspruchen kann. 300 Siehe insbesondere die in Anm. 298 dieses Kapitels angeführten Studien. 301 Vgl. dazu Kiening, Medialität in mediävistischer Perspektive, S. 346: Schrift und Bild sind „nicht einfach Teile eines multimedialen Verbundes, sondern je eigene Formen komplexer Medialität, denen ihr Rahmen in Gestalt von Transgredierungen […] eingeschrieben ist“.
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dass die gemalte Miniatur des berittenen und geharnischten Ritters mit seiner forcierten Zurschaustellung der heraldischen Kennzeichen der pratensischen Kommune, den goldenen Lilien auf rotem Grund, das Siegelbild der Kommune Prato wiedergibt.302 Durch dieses wird sie als Auftraggeberin des Lobgedichtes repräsentiert. Doch bleibt es nicht bei diesem Bedeutungsgehalt des Bildes. Denn indem der Betrachter beginnt, die das Bild umgebende Schrift – die darin einer Siegelinschrift gleicht – links oben auf dem Folio zu lesen, wird die Repräsentation der Kommune überblendet von dem ‚Auftritt‘ des Autors.303 Vernimmt der Leser doch die folgenden, in Ich-Rede gehaltenen Worte:304 Causa iubet, quod sic in equo, rex, stem modo sessor / militis armati signi [!], sum namque professor / pratensis, referoque suam sic stando figuram. / 305 („Die Sache befiehlt, dass ich dergestalt auf dem Pferd bin, König, auf diese Weise Reiter mit den Zeichen des bewaffneten Kriegers, weil ich pratensischer Professor bin, und so seiend stelle ich seine [d. h. Pratos] Gestalt dar“).
Unverkennbar weisen die schriftlich fixierten Worte der ersten drei Verse ein topisches Merkmal der literarischen sphragis auf, des sie g e l nden Schlussteils eines Werkes, in dem der Verfasser seinen Namen nennt und mit selbstbezüglichen Worten sein eigenes Schaffen beglaubigt. Denn der Autor verweist auf seine Person als pratensischer Professor und bezeichnet sich in einem weiteren Vers, in dem er jedoch die durch das Siegelbild repräsentierte Kommune Prato sprechen lässt, explizit als Schöpfer der Dichtung: uate, qui regia carmina cudit.306 Convenevole verleiht den Versen damit das Gewand der literari302 Siehe dazu Kap. 2.1, Anm. 12. 303 Hier spiegelt sich der Umstand, dass in Panegyrika der Redner selbst in zweifacher Hinsicht eine bedeutende Stellung beansprucht: Zum einen repräsentiert er die civitas, zum anderen präsentiert er seine eigene Person vor dem Kaiser. 304 Der Konnex von „Autor“ und „Ich-Rede“ mag irritieren, ist jedoch bewusst gesetzt, da in der Rezeption der verschränkten Bild-Text-Gestalt des Folio die Ich-Rede der ersten drei Verse nicht die Rede eines fiktiven Ich ist, sondern die Ich-Rede zur Autorrede wird. Ich ziele hier also nicht auf ein individuell-subjektbezogenes Autorschaftsmodell ab, sondern möchte die Bild-Text-Gestalt als aufschlussreiches Beispiel bezüglich systematischer Fragen nach Autorkonzeption etc. aufzeigen. Vgl. Ursula Peters: Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachlichen Bilderhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts, Köln 2008, S. 1–12 zu den Funktionen des Autorbildes in der historischen Entwicklung der Autorisierung von Texten, mit einleitender Zusammenschau des Forschungsstandes zum in der jüngeren Mediävistik intensiv erforschten komplexen Verhältnis von Ich-Rede und Autorschaftskonstruktion; Christel Meier: Ecce auctor. Beiträge zur Ikonographie literarischer Urheberschaft im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 34, 2000, S. 338–392, bes. S. 338–341; Burghart Wachinger: Autorschaft und Überlieferung, in: Autorentypen, hg. v. Walter Haug, Burghart Wachinger, Tübingen 1991, S. 1–28. 305 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24, Verse 1–3. 306 Nach den genannten ersten drei Versen wird ein Sprecherwechsel vollzogen, indem nun die Kommune Prato, die Auftraggeberin des Werkes, eine Rede an den König richtet. In dieser verweist sie aber wiederum explizit auf das Werk des Dichters und dessen Funktion als ‚Sprachrohr‘: Supplico pro uate, qui regia carmina cudit, / hec tua […] / exaudire uelis, que poscit nomine prati / […] rex pie […] / („Durch den Dichter, der diese dir [gewidmeten] königlichen Gedichte schmiedet […], flehe ich dich an, dass du das deutlich hören mögest, was er im Namen Pratos verlangt […], oh frommer König“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24, Verse 27–30. Zum Horazischen Topos des „Schmiedens“ der Dichtung Q. Horatius Flaccus Opera, Ars poetica, Verse 438–441, S. 328.
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schen sphragis und greift die Besiegelungs-Metapher der Miniatur auf. Diese verweist in ihrer gemalten Wiedergabe des Siegelbildes auf den ursprünglichen materiellen Träger, das Siegel, zurück und erhält dadurch ihren autoritativen, beglaubigenden Status.307 Somit wird in programmatischer Reflexion die schöpferische Leistung in doppelter Weise besiegelt.308 Diese Transgression der literarischen Tradition durch die Verschiebung des Ortes der Besiegelung des Werkes vom Ende der Handschrift309 auf das fol. 24 mit dem gemalten Siegelbild verweist auf den Rang, den der poeta der pictura zuerkennt. Denn die Verschränkung der autoreferentiellen Worte mit der Miniatur ermöglicht die v i s ue lle Bekräftigung der auktorialen Besiegelung. Aus rezeptionsästhetischer Perspektive betrachtet, zeigt sich hier, dass das Selbstbewusstsein des Dichters weniger durch seine geschmiedeten Verse als vielmehr durch das gemalte Bild zum Ausdruck kommt.310 Die Relevanz einer kohärenten ‚rhetorischen‘ Struktur des gemalten Bildprogramms, der sich die Dichtung hier zu fügen hat, manifestiert sich dadurch, dass die Bild-Text-Gestalt des fol. 24 nicht, wie es die Rhetorik verlangte, an das Ende der Handschrift verlegt werden konnte. Denn die Miniatur des berittenen und geharnischten Ritters stellt zugleich die Schlussminiatur der monumentalen Bilderfolge dar, welche die Kommune Prato versinnbildlicht.311 Aufgrund ihrer das pratensische Siegelbild wiedergebenden Gestalt fungiert die Miniatur auf einer weiteren Bedeutungsebene mithin als Untersiegelung und dient somit der Beglaubigung des in monumentalen Bildern versinnbildlichten Wesens Pratos. Vor dem Hintergrund der bisher erörterten Funktion des gemalten Bildes im Dienste 307 Zudem hatte Convenevole seinem Werk bereits durch die topische Formel des causa iubet, des Motivs der Abfassung einer Schrift im Auftrag einer „gehorsamfordernden Autorität“, autoritativen Gehalt verliehen. Zu diesem in der Literaturgeschichte fundierten Motiv siehe Curtius, Europäische Literatur, S. 94 f.; Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, § 257. 308 „Ich-Rede“ und „Autor“ sind hier demnach nebeneinanderzustellen, da die polyseme Bild-Text-Gestalt eine Autorschaftsrepräsentation impliziert: In ihr manifestiert sich ein spezifisches Konzept der Textautorisierung, indem sie mittels der auf pikturaler wie textlicher Ebene verwendeten BesiegelungsMetaphorik die Ich-Rede des Autors dezidiert als eine auf die eigene Texturheberschaft bezogene IchAussage gestaltet. Sie fungiert also gleichsam als Verfasserschaftsbesiegelung, als ‚Signatur‘. Daneben dient die Miniatur auch als visuelle, durch den zeichnenden Autor selbst gesetzte Markierung des fingierten Sprechers der Verse dieses Folio: der Kommune Prato, die durch ihr Siegelbild bezeichnet ist. 309 Jakob Diehl: Sphragis. Eine semasiologische Nachlese, Gießen 1938, S. 49: „vor dem Epilog trat der Dichter mit seiner Persönlichkeit hervor und drückte damit dem Gedicht sein Siegel auf “. 310 Betrachtet man die Miniatur vor dem Hintergrund der ihr einverleibten Verschränkung von (Reiter-) Siegel und Autorauftritt, so mag sie auch das Konzept der „Autorprofilierung“ implizieren. Verweist ihre Ikonographie doch auf eine „relativ standardisierte[…] Ausprägung[…]“ der Autordarstellung, die sich insbesondere in italienischen Trobadorhandschriften des späten Duecento und beginnenden Trecento findet: „die Präsentation eines adeligen Herrn auf dem Pferd mit […] Rüstung, nicht selten mit erhobenem Schwert, die dezidiert auf den aristokratisch-ritterlichen Aspekt höfischer Liedkunst abhebt“. Peters, Das Ich im Bild, S. 37, und s. Abb. 13–16. Die intentio operis wird somit zudem darin bestehen, vermittels des Bildes dem sozialen Stand des Verfassers wie auch den carmina selbst eine Aufwertung widerfahren zu lassen, woran sich wiederum Fragen der „Profilierung literarischer Geltungspotentiale“ (Peters) anschließen und der ästhetischen Funktion, die in selbstreferentiellen, die Dichtung betreffenden Textpassagen hervortreten. Vgl. Ursula Peters: ‚Texte vor der Literatur‘? Zur Problematik neuerer Alteritätsparadigmen der Mittelalter-Philologie, in: Poetica 39, 2007, S. 59–88, hier S. 78–82, die diesen Problemzusammenhang mit den aktuellen Forschungsparametern darlegt. 311 Die Bilderfolge beginnt auf fol. 15v und endet mit der Miniatur auf fol. 24.
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der sphragis und der verschränkten bildlich-textuellen Autorität der Besiegelung sei der erste Vers hinsichtlich der bildlich-textuellen Ästhetik näher betrachtet. Der lateinische Hexameter lautet: Cáusa iubét, quod síc in equó, rex, stém modo séssor. Bei der optischen Erfassung der Schriftzeichen und der synchronen phonetischen Aufnahme entfalten die beiden Wörter stem modo im Zusammenspiel mit dem danebenliegenden Bild eine komplexe Semantik, indem die Verwendung des Verbes stem312 in einer Allusion auf das italienische Wort stemma begründet sein dürfte. Denn zum einen verweist das Wortbild der beiden aufeinanderfolgenden Worte stem und des gekürzten modo, also des stem mo, auf die Buchstabenfolge des stemma. Zum anderen lehnt sich der durch die metrische Verschleifung bedingte Klang des stem modo an die Phonetik des Wortes stemma an. Es lässt sich damit festhalten: In diesem allegorischen Ikonotext mit seiner zugrundeliegenden Siegel-Metaphorik zeigt sich exemplarisch das spezifische poietische Vermögen des Convenevole. Zugleich lässt sich die Semantisierung des aus Schrift und Bild zusammengefügten Erscheinungsbildes auch als Kritik der Topik verstehen, indem dichtungstheoretische Normen transgrediert werden und dadurch der Rang der pictura betont wird. Insofern im Rahmen der oben angesprochenen philologischen Kritik an den Regia Carmina unter anderem der Ikonotext des fol. 15v als Beleg für eine inkonsistente Kompositionsform erwähnt ist313, sei dieser als weiteres Fallbeispiel angeführt, um die TextBild-poiesis des Convenevole aufzuzeigen (Taf. 22). Die beiden Gartenbilder, die auf der rechten Foliohälfte zu sehen und in epideiktischen Versen als pratum und floretum bezeichnet sind, repräsentieren die beiden Kommunen Prato und Florenz.314 Sie erscheinen als Tugendgärten, obschon deren Mitte jeweils eine ikonographische Leerstelle aufweist, indem die Gärten nicht durch die Personifikationen der Tugenden bevölkert sind. Diese ikonographische Leerstelle wird allerdings mit Beginn der Lektüre der linken Textspalte gefüllt. Denn der Leser vernimmt dabei die Rede der Schar der Tugenden, so dass das gemalte Bild durch das sprachlich evozierte Vorstellungsbild der Tugenden im Garten überblendet wird. Wesentlich ist hier nun, dass die Rede, die in Form der Textspalte den Gartenbildern zur Seite gestellt ist, eine elaborierte Struktur aufweist: Sie entspricht den Gestaltungsprinzipien eines Bittschreibens. Dieses beruht auf den formalen Elementen der Begrüßungsformel, allgemeiner Rechtfertigung, den Fakten, die den konkreten Anlass des Sprechaktes geben, dem pragmatischen Zentrum sowie dem zentrifugalen Teil der pragmatischen Peripherie. Die Struktur und deren Inhalt seien hier stichpunktartig vor Augen gestellt: Begrüßungsformel: Cetus uirtutum […] / […] te, rex, de more salutant / („Die Schar der Tugenden […] grüßt dich, König, gemäß der Sitte“) – allgemeine Rechtfertigung: nouiter tua nam bona discunt, / docta quidem, facta, multa pietate peracta / (gute und weise Unternehmungen Roberts, die mit viel Barmherzigkeit durchgeführt sind) – Fakten, die den konkreten Anlass des Sprechaktes geben: Roma resoluit (Rom ist in Verfall geraten) – pragmatisches Zentrum: Auxiliare, precor, romanos […] / (Auf312 In der 1. Person Singular des Konjunktiv von stare gegeben, weist es in Folge des iubed quod die grammatikalisch notwendige Konjunktiv-Form auf. In das Versmaß hätten sich durchaus auch andere, inhaltlich passende Verben einfügen lassen. 313 Frugoni, Convenevole da Prato e un libro figurato, S. 24. 314 Siehe eingehend zu dem Ikonotext Kap. 3.2. Zum politischen Zusammenhang der Kommunen Prato und Florenz siehe Kap. 2.1.
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ruf zur Hilfe der Roma und Befriedung Italiens) – zentrifugaler Teil der pragmatischen Peripherie: O Deus […] / […] / […] da cernere pacem, / quam petimus […] / (Anrufung an Gott, den gewünschten Frieden zu sehen und Gefolgschaftsbekundung Pratos an Robert von Anjou).315 Damit zeigt sich zum einen nicht nur das notarielle Wissen des Convenevole, sondern zum anderen erschließt sich auch im zeitlich erstreckten Rezeptionsprozess der Lektüre die Substanz der Text-Bild-poiesis. Denn die Tugenden stellen umfassend den Verfall der Roma mittels einer Wortwahl vor, die sich auf sinnfällige Weise antipodisch zu den Qualitäten der rechts sichtbaren Gartenbilder verhält. Roma schmähe die „süßen Früchte des Friedens“ ([…] Roma conculcat dulcia poma / pacis […] /)316 und sei mit einem Überfluss an Streit der früher übereinstimmenden Quiriten317 ausgefüllt (Concordes dites set erant modo lite Quirites. /)318. Dergestalt wird durch die Worte das imaginäre Bild der discordia evoziert, das insbesondere den in augenfälliger Ordnung gegebenen Blumen, hier der concordia Pratos und Florenz, kontrastiv entgegensteht. In sich steigernder Klage fahren die Tugenden fort, dass die Roma ferner die Normen und insbesondere die Gebote Gottes vergesse, weil sie „mehr durch Schlamm als durch die Orte der Tugend, des Friedens und des eigenen Heils“ gehen wolle ([…]. Quia negligit optima norme, / iussa Dei primum, cupiens plus carpere limum / quam loca uirtutis pacis proprieque salutis. /)319. In Verschränkung mit dem evozierten Bild der discordia entsteht somit schließlich das imaginative Bild eines Sumpfes, der jeglicher Ordnung entbehrt. Mit fortlaufendem Abschreiten der Textspalte nähert sich der betrachtende Leser schließlich der finalen Intention des Bittschreibens der Tugenden: der Erlösung der Roma aus dem sündhaften Zustand und der Befriedung Italiens durch König Robert.320 In medialer Perspektive ist dabei entscheidend, dass das „pragmatische Zentrum“ mit seiner an den König gerichteten Handlungsaufforderung dezidiert im gemalten Bild vor Augen gestellt ist: in den paradiesgleichen Gartenbildern, deren sensus allegoricus nun gesehen wird. Insofern Prato damit im Sinne des Schriftsinnschemas als figura des befriedeten und blühenden Italien erscheint, geht letztlich auch der „zentrifugale Teil der pragmatischen Peripherie“ des Bittschreibens mit der Gefolgschaftsbekundung Pratos und Anrufung an Gott, den gewünschten Frieden zu sehen, im Bild auf. Damit lässt sich schließlich gegen Petrarca beziehungsweise genauer: gegen die literaturwissenschaftliche Beurteilung des dichterischen Werks des Convenevole festhalten321, 315 316 317 318 319 320
Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Verse 1 f., 4 f., 8 f., 15, 31–34. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 8 f. Mit den Quiriten ist die zivile römische Bürgerschaft bezeichnet. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 13. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Verse 10–12. Auxiliare […] romanos. […] / […] / […] cito propera, quia res petit ipsa seuera. / […]. / Ergo rogant regem te, qui scis ponere legem, / […] / accellerare uiam […], / ut sedare queas ytalas quascunque plateas, / urbes et terras, omnes extinguere guerras. / („Hilf […] den Römern. […] beeile dich sogleich, weil die schwerwiegende Situation selbst es erfordert. […]. Deshalb bitten sie dich, König, der du weißt, das Gesetz aufzustellen, […] deinen Weg zu beschleunigen, damit du jede Gasse, Stadt und Land Italiens befrieden kannst, jeden Krieg auslöschst“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Verse 15–17, 24–29. 321 Angeführt sei hier die Beurteilung des Ikonotextes des fol. 15v von Frugoni, Convenevole da Prato e un libro figurato, S. 24: „[…] un intermezzo pratese, in verità non bene collocato dopo le preanunciate
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dass in diesem ein vernunftgeleitetes und kreatives Grundverhalten des Dichters sichtbar wird und die Regia Carmina im Sinne der dichterischen poiesis fundiert sind.
2.5 Möglichkeiten und Grenzen bildlich-textueller Repräsentation Das spezifische poietische Vermögen des Convenevole sowie das Verständnis des Ikonotextes der Folia 1 und 1v als Reflexionsfigur schöpferischen Hervorbringens sollen nun als Ausgangspunkt dienen, um im Folgenden in historischer wie medientheoretischer Hinsicht die dem Ikonotext der Folia 1, 1v und 2 inhärente Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen bildlich-textueller Repräsentation zu erörtern.322 Dies geschieht vor dem Hintergrund eines Traditionszusammenhanges, in dem die Bedeutsamkeit bildlicher Vorstellungen und ihrer Vermittlungsleistung abstrakter Ideen, die anders verstandesgemäß nicht zu fassen wären, erörtert wurde – wie beispielsweise in der Schule von Chartres im 12. Jahrhundert.323 Grundlegend ist hier die bekannte Verschränkung des Thronbildes auf fol. 1v (Taf. 2) mit folgenden Versen, die sich im Anschluss an das Proömium auf fol. 1 finden: Astitit, effingens faciem, cathedralis ymago / quedam, sic recolo qua canus crine sedebat / et barba niueaque senex cum ueste, set ore / flammifero […] / 324 („Es stand da [d. h. mir ist erschienen, ich habe gesehen], eine äußere Erscheinung darstellend, wahrhaft das Bild einer Kathedra, auf der, so erinnere ich mich, ein alter Weißhaariger und Weißbärtiger saß, mit einem schneeweißen Gewand, aber einem feuerroten Gesicht“).
Wie oben dargelegt, ist das gemalte Bild des Thrones als allegorische Verbildlichung der vorausgehenden Beschreibung der Imagination zu verstehen.325 Der versinnbildlichte Ge-
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Virtù – e del resto la duplicazione del riquadro non ha senso se non come mezzo per occupare l’intera colonna“. Im Sinne von repraesentare als ‚etwas vor Augen stellen‘ ist der Begriff der „Repräsentation“ hier erkenntnistheoretisch verstanden, als „Darstellung“ durch Bilder und Zeichen. Zu den semantischen Implikationen des Begriffs der „Repräsentation“ in erkenntnistheoretischer wie politisch-juristischer Hinsicht mit dem Aspekt der Stellvertretung vgl. hier Scheerer/Haller, Repräsentation. Zum Begriff der „Repräsentation“ als Vergegenwärtigung von etwas Abwesendem durch ein konventionelles Zeichen vgl. Hofmann, Repräsentation, S. 65–80. Zu bildtheoretischen Erörterungen und zum medialen Status des Bildes siehe hier wesentlich: Thomas Lentes: Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses. These zur Umwertung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheorie und Bildandacht des 14.–16. Jahrhunderts, in: Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, hg. v. Klaus Krüger, Alessandro Nova, Mainz 2000, S. 21–46; Thomas Lentes: Der mediale Status des Bildes. Bildlichkeit bei Heinrich Seuse – statt einer Einleitung, in: Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne, hg. v. David Ganz, Thomas Lentes, Berlin 2004, S. 13–73; Krüger, Bild als Schleier, S. 11–26; Christel Meier: Malerei des Unsichtbaren. Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Bildstruktur im Mittelalter, in: Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988, hg. v. Wolfgang Harms, Stuttgart 1990, S. 35–65. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1, Verse 12–15. Da das Thronbild als sedis ymago Dei bezeichnet ist, vermittelt der Begriff der ymago auch hier zwischen dem konkret vor Augen gestellten materiellen Bild und einem immateriellen Gegenüber in
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halt der imaginären Erscheinung des Thrones mit dem alten Weißhaarigen ist damit auf das gemalte Bild übertragen: die Macht und die Herrlichkeit Gottes. Dabei wird zugleich eine Spannung zwischen sprachlicher Imagination und gemalter Gestalt erfahrbar: Der alte Weißhaarige erscheint nicht im Bild. Darin scheint der paradoxale Charakter des ‚Mediums‘ auf, „weil es sowohl zwischen Präsenz und Absenz als auch zwischen Immanenz und Transzendenz vermittelt“326. Solchermaßen reflektiert der Ikonotext mittels der apostrophierten Verhältnisbestimmung der Ähnlichkeit die Darstellbarkeit Gottes und dabei die Möglichkeiten und Grenzen der Repräsentation durch Bild und Sprache. In dem Ikonotext zeigt sich mithin eine Auseinandersetzung mit dem Paradoxon, das dem religiösen Bild eignet, nämlich der Sichtbarmachung des Unschaubaren, das die Grenzen der sinnlichen Erfahrung überschreitet.327 Indem sich der Thron leer zeigt, macht das Bild zum einen materialiter das Unsichtbare, immaterielle Göttliche präsent.328 Zum anderen bindet sich an diesen Spannungsbezug von Präsenz und Repräsentation die Reflexion des ontologischen Status, der Seinsart des Bildes. Durch die gezeigte, aber nicht bedeutete Leerstelle wird der mediale Status der ‚Textur‘ des Ikonotextes ausgestellt: Sie erweist sich als ‚Schleier des Unsichtbaren‘, der zugleich zeigt und verbirgt und die Unzugänglichkeit des Göttlichen versinnbildlicht. Diese Medialität wird im weiteren Verlauf der Rezeption nachdrücklich erfahrbar, insofern durch den Text und seine bildliche Anordnung das Bild des Richters auf dem Thron evoziert wird. Der links unter dem Thronsitz befindliche Vers lautet: Iudicis ante pedes cuius stat subdita sedes / 329 („Vor den Füßen des Richters, dem der Thron unterstellt steht“).
Dieses Bild des thronenden Richters wird weiter ausgeprägt durch die Worte, die bezeichnenderweise unter der Fußbank zu lesen sind und besagen, dass „die Feinde unter einer unseligen Bedrückung stehen“, weil der Sieger des Krieges „mit Recht auf den Fußschemel tritt“ (Stant infelici pressura post inimici: / qui uincit bellum, calcat de iure scabellum. /)330. Insofern die Worte im Kontext der Parusie-Thematik stehen und somit hin-
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Form des visionären Vorstellungsbildes. Siehe dazu u. a. Jean-Claude Schmitt: Imago. De l’image à l’imaginaire, in: L’image. Fonctions et usages des images dans l’Occident médiéval. Actes du 6e International Workshop on Medieval Societies 1992, hg. v. Jérôme Baschet, Jean-Claude Schmitt, Paris 1996, S. 29–37. Vgl. zum Spannungsverhältnis von Imagination und der Medialität von Bildern die Beiträge in Klaus Krüger, Alessandro Nova (Hgg.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz 2000. Eine fundierte Zusammenschau dazu in diachroner Perspektive gibt David Summers: Representation, in: Critical Terms for Art History, hg. v. Robert S. Nelson, Richard Shiff, Chicago 1996, S. 3–16. Kiening, Medialität in mediävistischer Perspektive, S. 333. Siehe zu diesem Problemzusammenhang weiter unten. Vgl. zur Ikonographie des leeren Thrones, der Hetoimasia, Bogyay, Thron (Hetoimasia), Sp. 307: „Der leere od. nur symbolisch belegte Sitz als Zeichen unsichtbarer Anwesenheit war eine weitverbreitete Vorstellung“. Vgl. dazu Eduard Stommel: Die bischöfliche Kathedra im christlichen Altertum, in: Münchener Theologische Zeitschrift 3, 1952, S. 17–32. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Vers 58. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Vers 79 f.
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sichtlich der Wiederkunft Christi zum Weltgericht zu verstehen sind, bedeutet die durch den verschränkten Wahrnehmungszusammenhang von Bild und Text erzeugte Spannung zwischen Zeigen und Verbergen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit die Zukünftigkeit des unverhüllten Sehens des Göttlichen im Jenseits. In diesem Sinne ist denn auch unter dem Thronsitz zu lesen: Hec humiles donis inuitat […]. / […] / corde datur mundis uideant ut tecta profundis / celis […] /331 („Dieser [d. h. der Thron] lädt die Demütigen mit Gaben ein […]. […] den im Herzen Reinen wird gegeben, die verdeckten Dinge in den innersten Himmeln zu sehen“).332
Durch die sprachlich evozierte Sichtbarkeit und die visuell gezeigte Unsichtbarkeit Gottes zeigt sich nicht nur die dem Ikonotext inhärente Reflexion der Medialität des Bildes. Im Rezeptionsprozess wird vielmehr auch erfahrbar, wie die Möglichkeiten der Verschränkung von evidenzstiftender Sichtbarmachung und Sinn produzierender Lesbarmachung durch Bild und Text ausgelotet werden. Dass die Auslotung der Möglichkeiten und Grenzen bildlich-textueller Repräsentation das eigentliche Thema dieser religiösen Bildersprache ist333, spiegelt sich zudem in den Worten, die im ersten Vers der linken Thronlehne fixiert sind: In ihnen ist der visualisierte Gottesthron als sedis ymago Dei simplex334 bezeichnet, als „einfaches Bild des Thrones Gottes“.335 Das weist auf den medialen Status des Bildes als Zeichen hin, das auf etwas verweist, was es selbst nicht ist. Dabei ist zweierlei bedeutsam: Zum einen wird das Augenmerk auf die Verhältnisbestimmung der Ähnlichkeit des bildlichen Mediums gerichtet, insofern die Worte einer notwendigen Klarlegung zu unterliegen scheinen, dass das Bezeichnete, das Signifikat, nicht mit dem Bezeichnenden, dem Signifikanten, zu verwechseln ist. Demzufolge stellt sich die Frage, inwieweit in diesen Worten die neuen mimetischen Qualitäten der Malerei und ihre täuschende Abbildlichkeit reflektiert werden. Zudem ist mit der Betonung des Bildcharakters – sedis ymago – nicht nur die repräsentative Seite des Bildes angesprochen, sondern auch auf die Relevanz der materiellen Gestalt verwiesen und damit auf den Eigenwert des Bildes. Hier zeigt sich hinsichtlich der dieser Arbeit zugrundeliegenden Frage nach der epistemologischen Aufwertung der Malerei: Das Bild-Text-Gefüge expliziert in seiner Reflexion der medialen Bedingtheit des Dargestellten, das heißt dessen Vermitteltheit in der 331 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Verse 68–71. 332 Vgl. dazu eingehend Kap. 6. 333 Zur Theoriehaltigkeit religiöser Bilder in Auseinandersetzung mit maßgebenden Forschungspositionen siehe jüngst Jeffrey Hamburger: The Place of Theology in Medieval Art History. Problems, Positions, Possibilities, in: The Mind’s Eye. Art and Theological Argument in the Middle Ages, hg. v. Jeffrey Hamburger, Anne-Marie Bouché, Princeton 2006, S. 11–31. Vgl. zu diesem Zusammenhang grundlegend Krüger, Bild als Schleier, S. 11–26. Vgl. zur Alterität des Figurierens Georges DidiHuberman: Fra Angelico. Unähnlichkeit und Figuration, München 1995. 334 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Vers 15. 335 Der Begriff ymago hat hier eine doppelte Bedeutung: Zum einen ist durch seine wiederholte Verwendung hinsichtlich des auf fol. 1 beschriebenen Vorstellungsbildes (cathedralis ymago) angezeigt, dass der gemalte Thron als dessen Verbildlichung vor Augen gestellt ist. Zum anderen bedeutet er, dass der Thron als Abbild des Urbildes (imago) erscheint.
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bildlichen Darstellung, die Vermittlungsleistung und damit die epistemologische Bedeutung des visuellen Zeichens. Zum anderen stellt das Bild durch die selbstreferentiellen Worte, nicht der Thron Gottes selbst zu sein, in Verschränkung mit dem leeren Thronsitz die reale Absenz des Göttlichen sinnfällig aus.336 So ist in dem Ikonotext eine Abkehr des historischen Bildkonzepts der Materialidentität von Zeichen und Bezeichnetem und damit der Präsenz des Bezeichneten im Zeichen zu beobachten.337 Mit Blick auf die Neuartigkeit der Malerei im Zeitalter Giottos heißt dies: Durch die Abkehr von der neuplatonischen Vorstellung, dass „das Urbild im Abbild präsent ist und diesem seine (metaphysische) Dignität gibt“338, besteht das Neue in Bezug auf das gemalte Bild unter anderem darin, dass ihm ohne diese ontologische Fundierung Dignität zukommt. Solchermaßen scheint die erkenntnistheoretische Aufgabe des Bildes nicht mehr vornehmlich in „der Vermittlung der erkennenden Anagoge“339 zu liegen. Mit anderen Worten spiegeln die in der Rezeption des allegorischen Ikonotextes gemachten Erfahrungen genau die Frage, die Jeffrey Hamburger – in Rückgriff auf spätere kunsttheoretische Fragen – aufgeworfen hat: ob das Wort „work“ in der Formel „medieval work of art“ nicht gerade den SelbstErsatz („self-substitution“) des Kunstwerks bezeichnet für das, was nicht gesehen werden kann.340 Das Bild geht mithin nicht mehr vollständig in einer Fremdreferenz auf, sondern die Selbstreferenz des Werkes wird deutlich erfahrbar und die Eigenpräsenz herausgestellt.341 Damit verbindet sich die Frage, inwiefern in den allegorischen Ikonotexten, denen der nominalistische Gottesbegriff des deus absconditus zugrunde liegt, dessen Allmacht durch den menschlichen Verstand nicht erkannt werden kann342, das Konzept des per visibilia ad invisibilia an Bedeutung abnimmt, insofern das Bild nicht mehr als bloße Membran aufgefasst wird, das in seiner medialen Funktion der Schau des Nicht-Sichtbaren dient.343 Zielt die figura des Thrones in ihrer allegorischen Bedeutung nicht insbeson336 Dementsprechend und diesem Verständnis Nachdruck verleihend, heißt es dann auch auf fol. 2: Ipse Deus tali non est uisibilis arte („Gott selbst ist nicht sichtbar mit solcher Kunst“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 2, Vers 13. Siehe dazu weiter unten. 337 Zu den historischen Bildkonzepten der Materialidentität von Zeichen und Bezeichnetem und damit der Präsenz des Bezeichneten im Zeichen oder eines substantiellen Anteils des Bildes am Abgebildeten sowie der Abkehr von einem ontologischen Zeichenbegriff siehe Lentes, Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses. Zur byzantinischen Bildertheologie, in der dem Heiligen der Status von ‚Realität‘ im Bild zukommt, siehe u. a. Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990; Krüger, Der frühe Bildkult des Franziskus. 338 Zu dieser Auffassung, die in neuplatonischen Erkenntnistheorien des 12. Jahrhunderts gilt, siehe hier Meier, Malerei des Unsichtbaren, Zit. S. 49. 339 Meier, Malerei des Unsichtbaren, S. 53. 340 Jeffrey Hamburger: The Medieval Work of Art. Wherein the Work? Wherein the Art?, in: The Mind’s Eye. Art and Theological Argument in the Middle Ages, hg. v. Jeffrey Hamburger, Anne-Marie Bouché, Princeton 2006, S. 374–412. 341 Verwiesen sei hier auf den Begriff der „Re-Präsentation“ mit seiner reflexiven und transitiven Dimension, dem Sich-Präsentieren und dem Etwas-Repräsentieren. Siehe Marin, Des pouvoirs de l’images, Einleitung „L’être de l’image et son efficace“. 342 Zur notitia intuitiva, derzufolge eine durch unmittelbare Anschauung gewonnene Erkenntnis Gottes für den Intellekt des Menschen nicht möglich ist, siehe unten. 343 Zum Konzept des per visibilia ad invisibilia Ernst Benz: Christliche Mystik und christliche Kunst, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 12, 1934, S. 22–48;
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dere auch – nachgerade in gegensätzlicher Stoßrichtung zur göttlichen Herrlichkeit, die hinter dem ‚Schleier des Unsichtbaren‘ verborgen ist – auf die Erkenntnis der irdischen ‚Wirklichkeit‘? Und tritt in Analogie dazu neben die Tendenz des Schauens durch die Oberfläche des Bildes zur Erfassung des hinter ihr Liegenden die Erfahrung von deren Opazität durch Ambiguitäten, so dass der Blick zum Verständnis des polysemen Gehalts immer wieder an die materielle Oberfläche gebunden wird und derart die grundlegende Bedeutung der Figur und des sehenden Erkenntnisprozesses modelliert ist? So zeigt das Bild einerseits die Leere und füllt andererseits in diesem Zeigen die Leere durch die heraldischen Zeichen, die über dem Thronsitz zu sehen sind.344 Das Thronbild ist mithin in zweifacher Weise, zeitlich wie räumlich, als Re-Präsentation zu betrachten: Einmal erweist sich der leere Thron als Zeichen, das den unsichtbaren jenseitigen Gott im Diesseits repräsentiert. Andermal wird er als der leere römische apostolische Stuhl sinnfällig, auf dem einst Petrus, der alte Weißhaarige der Imagination, als Stellvertreter Gottes auf Erden thronte.345 So macht er etwas präsent, das einmal war und in dieser Form nicht mehr ist. Durch die heraldischen Zeichen wird sodann erfahrbar, dass der tiefere Sinn auf der Bildoberfläche ausgestellt ist, und zwar auf eben jener ikonographischen Leerstelle des Thronsitzes: Die heraldischen Zeichen des neapolitanischen Königshauses der Anjou sowie des Papsttums zeigen an, dass die beiden universalen Herrschaftsträger als Stellvertreter Gottes auf Erden thronen. So wird sinnfällig vor Augen gestellt, dass die Macht und die Herrlichkeit Gottes durch die Herrschaft des Königshauses der Anjou und des Papsttums in Rom repräsentiert werden. Die figura erweist sich mithin als ‚realitätshaltige‘ Allegorie.346 Ihr Sinn liegt in der Diesseitsbezogenheit und gerade nicht in einem Transzendenten als letztgültigem Sinnziel. Angesichts des vieldiskutierten figura-Begriffs sei hier herausgestellt, dass er als wesentliche analytische Kategorie fassbar wird, indem die Bild-Text-Gestalt als Mittel fungiert, veritas sinnlich erscheinen zu lassen347: zum einen das Göttliche, zum anderen den
Ernst Benz: Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt, Stuttgart 1969, S. 313–325; Sixten Ringbom: Devotional Images and Imaginative Devotions. Notes on the Place of Art in Late Medieval Private Piety, in: Gazette des Beaux-Arts 73, 1969, S. 159–170, bes. S. 162–164; David Freedberg: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago 1989, S. 161–191. 344 In diesem Zusammenhang der zeichenhaft ausgestellten päpstlichen wie kommunalen Herrschaftsansprüche in Rom – Robert von Anjou war zeitweilig Senator Roms – im Zeichen von Petrusnachfolge und Christusvikariat, die verschränkt sind mit der medialen Reflexion auf Sichtbarkeit und Verborgenheit des Göttlichen, vgl. Wolf, Schleier und Spiegel, bes. S. 138–140. Dort wird die Komplexität dieser Herrschaftsansprüche aufgezeigt: Sie sind in Zusammenhang gesetzt mit der vera icon und dem als kommunalem Symbol verstandenen Lateransalvator, der ursprünglich thronenden Figur des Salvators, dessen Körper seit dem 13. Jahrhundert unter einer Silberverkleidung verborgen war. 345 Zu den beiden Ebenen der „Repräsentation“, der erkenntnistheoretischen und der politisch-juristischen, vgl. Scheerer/Haller, Repräsentation; Hofmann, Repräsentation. 346 Vgl. dazu eingehend Kap. 3.2 und 3.3. 347 Zum figura-Begriff, der das Gestalthafte und Anschauliche mit dem Aspekt der rhetorischen Trope sowie des Typologisch-Figuralen verbindet, siehe hier neben der grundlegenden Studie von Auerbach, Figura; Joachim Knape: Figurenlehre, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 289–342; konzise Ausführungen bei Kiening, Medialität in mediävistischer Perspektive, S. 349. Zum figura-Begriff als analytische Kategorie siehe näher Kap. 3.2.
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göttlichen Willen, in Rom die sedes apostolica dauernd aufgestellt zu sehen.348 Damit stellen der Thron und die heraldischen Zeichen die Notwendigkeit der durch sie bezeichneten Mittler aus, die das Transzendente im Irdischen gegenwärtig machen. Es lässt sich damit festhalten, dass die Bedeutung des allegorischen Thronbildes in seinem Status als Zeichen liegt, wobei zugleich sein Status der Fiktionalität erfahrbar wird aufgrund des ihm strukturell eingeschriebenen rezeptiven Rückgriffs auf das vorausliegende Vorstellungsbild, das durch den Text auf fol. 1 evoziert wurde.349 In diesem Sinne wird das Verfahren der Signifikation ‚sichtbar‘350, indem sich dieses im hermeneutischen Prozess eines Vor und Zurück spiegelt, den die komplexe Verschränktheit von Text und Bild vorgibt. So erweist sich das Trägermedium als konstitutiv für die Bildreflexion, insofern in der formalen Anordnung von Text und Bild auf Recto- und Versoseite des fol. 1 die Lenkung der Rezeption angelegt ist, die der Erfahrung der Medialität des Bildes und dessen ambivalentem Status als verhüllender figura dient.351 Indem im Rezeptionsprozess das Verfahren der Signifikation erfahrbar wird, implizieren die Ikonotexte eine klare Unterscheidung zwischen dem Modus und dem Gegenstand der Repräsentation, dem „Wie“ und dem „Was“. Darin spiegelt sich eine Distanzierung von der Auffassung, dass dem Bild die Realpräsenz des Heiligen innewohne, und im Gegenzug das Bewusstsein der Vermittlungsleistung der Ikonotexte diesbezüglich zu gewinnender Erkenntnisse. Mit anderen Worten: Den Ikonotexten liegt kein ontologisches, sondern ein semiotisches Zeichenverständnis zugrunde. Es wird ein auf Repräsentation, nicht auf Partizipation basierender Bildbegriff fassbar. Eben diese Reflexion der Vermittlungsleistung göttlicher Erkenntnis durch (visuelle) Zeichen wird in den ersten Versen der Rectoseite von fol. 2 ausdifferenziert (Taf. 3). Dabei verbinden sich drei Diskursebenen: erstens ein zentraler Aspekt nominalistischer Theologie, nämlich die Frage nach der Benennbarkeit Gottes und seinem unergründbaren Wesen. Zweitens die Allegorie, insofern die Erhabenheit Gottes unaussprechlich 348 Auf fol. 1v ist die Rede vom göttlichen Thron, „den das himmlische Haus in sich trägt“ ([…] sedes, quam celica continet edes /) und der Notwendigkeit der Erneuerung des römischen, durch Petrus geschaffenen Thrones (ut recolat [!] sedem, quam Petri fixit […] /), was durch „diese gütigen Zeichen auf dem erhabenen göttlichen Sitz“ ([…] signa solio […] ista benigna / diuino […] /) bezeichnet ist – das heißt die gemalten heraldischen Zeichen des Papsttums, unter denen diese Worte fixiert sind. In Entsprechung dazu spricht auf fol. 1 der verlassene römische Thron als „Abbild der Heimat“ (cathedralis […] / ymago domus […] /). Hochmütig werde Rom verschmäht, das durch Gott/Christus (Rex) dem Thron ähnlich geschaffen worden sei ([…] superbe / spernunt, quam similem micchi Rex formauit […] /) – um als Ort den Thron aufnehmen zu können. Damit sind – in anti-avignonesischer Stoßrichtung – Rom und die römische sedes apostolica dezidiert in Analogie gesetzt zum transzendenten Reich Gottes und dem göttlichen Thron. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Verse 22, 55–57; fol. 1, Verse 68 f., 77 f. 349 Siehe dazu Kap. 2.3. 350 Zur rhetorischen Seite mentaler Bildproduktion und dem erkenntnisbezogenen Vermögen des Bildlichen im Rahmen mittelalterlicher Erkenntnistheorie vgl. Carruthers, The Craft of Thought; Carruthers, The Book of Memory. 351 Vgl. dazu im Hinblick auf den Aspekt des Neuen in der Malerei des Trecento Krüger, Bild als Schleier, S. 26, der in Bezug auf das Mittelalter äußert: „Kurz gefaßt: Die mediale Struktur des Bildes, sein ambivalenter Status als Schleier, ist hier nicht eigentlich in einer entsprechenden ästhetischen Gestalt aufgehoben und folglich auch nicht für seine Wirkung, für die betreffende Lenkung seiner Rezeption, produktiv gemacht“.
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ist und daher nur allegorisch, das heißt „anders“, gesagt werden kann. Indem die Sache (res) nur durch Zeichen (signa) bezeichnet werden kann, zeigt sich mithin das Theorem der Unähnlichkeitsbeziehung zwischen Signifikat und Signifikant der Allegorie. An eben diese Differenzierung knüpft sich drittens eine Kritik an visueller Frömmigkeit und Bildverehrung, die im 14. Jahrhundert zunahm. Zudem mögen sich die Verse in Zusammenhang bringen lassen mit zeitgenössischen Theorien zur Optik, insofern „die ‚Perspektiviker‘“, wie Hans Belting formuliert, „in den Hochschulen seiner [d. h. Giottos] Zeit mit der These Furore gemacht [hatten], man könne die Dinge nicht an sich, sondern nur in ihrer Erscheinungsform wahrnehmen“352. Die sich in dem Ikonotext der Folia 1, 1v und 2 zeigende Notwendigkeit der Klarlegung einer zeichen- und erkenntnistheoretischen Bestimmung erklärt sich nicht zuletzt auch – so möchte ich behaupten – vor dem Hintergrund, dass sich mit der Malerei Giottos, die auf die fiktive Präsenz des Dargestellten zielte, das Problem der Darstellung des Metaphysischen neu stellte. In diesem Sinne mag in dem allegorischen Ikonotext auch eine Reflexion des Spannungsverhältnisses zwischen dem Unähnlichkeitstheorem der Allegorie und den neuen mimetischen Qualitäten der Malerei angelegt sein und damit auch des Spannungsbezugs von bildlicher Repräsentation und Präsenz. So lauten denn die Verse, die auf Höhe der Thronlehne – und damit der ikonographischen Leerstelle – fixiert sind: Quamuis describi nequeat diuina potestas / uel sua maiestas, possunt signacula scribi. / Deficit indago cupiens reperire medullam / uel credens ullam uidisse Dei uel ymago. / Nam licet ex certis causis sua picta figura / cernitur et pura fidei ratione repertis, / non tamen est factor rerum Deus esse putandus / et formis dandus humanis preuius actor. / Ipse Deus tali non est uisibilis353 arte, / formarum parte quanquam, nec ymagine tali / aures mortales se fors sentire fatentur / […]. / Non Deus est aliqua mortalis ymagine mensus / aut hominum census trutina, que fallit iniqua. / 354 („Obgleich die göttliche Macht oder seine Größe/Erhabenheit nicht (durch Zeichnung oder Schrift) dargestellt [oder: (begrifflich) bestimmt] werden kann, können sie bezeichnet werden durch die Zeichen. Es hört die nachstrebende Erforschung auf, die das Innerste [d. h. das Wesen Gottes] finden will oder glaubt, irgendetwas davon zu sehen, [und es reicht auch nicht] ein Abbild [aus]. Denn mag es auch sein, dass seine gemalte Gestalt aus sicheren und durch reine Einsicht des Glaubens gefundenen Gründen gesehen wird, ist gleichwohl nicht anzunehmen, dass Gott, der Schöpfer der Dinge, ein Handelnder vor aller Zeit ist, den man in mensch352 Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008, S. 151. Zum Begriff der species als dem visuellen Eindruck, den ein Ding in den Sinnen hinterlässt, siehe Kap. 4.1. 353 Von anderer Schreiberhand wurde das visibilis durchgestrichen und durch spectabilis ersetzt, das am Ende des Verses leicht abgerückt geschrieben steht. Diese nachträgliche Änderung, die ebenfalls in einer Cancelleresca geschrieben und an einer dunkleren Tinte sowie abweichenden Formung der Buchstaben zu erkennen ist, muss kurze Zeit nach der Anfertigung des Kodex vorgenommen worden sein. Denn sowohl in der Florentiner als auch in der Wiener Abschrift steht spectabilis geschrieben, nicht visibilis. 354 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 2, Verse 5–20.
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lichen Formen darstellen könne.355 Gott selbst [d. h. Gott in sich] ist nicht sichtbar durch solche Kunst, wenngleich er es hinsichtlich der Formen ist, auch nicht mit einem solchen Bild, das menschliche Ohren möglicherweise zu hören meinen […]. Gott wird nicht ermessen [d. h. ergründet] durch irgendein menschengeschaffenes Bild oder gemessen durch die Waage der Menschen, die gefährlich täuscht“).
Zunächst ist festzuhalten, dass die Verse, welche die unbegreifliche, das menschliche Erkenntnisvermögen in seinen Grenzen übersteigende absolute Souveränität des verborgenen Gottes (deus absconditus) thematisieren, in Zusammenhang stehen mit nominalistischer Theologie. Dabei reflektieren die hier zugrundeliegenden erkenntnistheoretischen Fragen über die Möglichkeiten und Weisen der Erkenntnis Gottes nicht nur die anthropologischen Bedingungen der Gotteserkenntnis im Allgemeinen sowie die erkenntnistheoretischen Möglichkeiten der Theologie als scientia im Besonderen.356 Sie stellen vielmehr eine zeichentheoretische, das heißt genauer eine sprach- und bildtheoretische, Reflexion dar, die explizit durch die Herausstellung des Potentials der Zeichen angezeigt 355 Diese Aussage dürfte in Zusammenhang stehen mit der Vorstellung des Menschen als imago Dei, die an Christus als Ebenbild Gottvaters gebunden ist. Vgl. Samuel Vollenweider: Der Menschgewordene als Ebenbild Gottes. Zum frühchristlichen Verständnis der Imago Dei, in: Ebenbild Gottes – Herrscher über die Welt. Studien zu Würde und Auftrag des Menschen, hg. v. Hans-Peter Mathys, Neukirchen 1998, S. 123–146. Zum Zusammenhang von Christologie und Medialität jüngst Christian Kiening: Mediologie – Christologie. Konturen einer Grundfigur mittelalterlicher Medialität, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 15, 2010, S. 16–32. 356 In den Worten spiegelt sich eine wesentliche Auffassung nominalistischer Theologie, die darin besteht, dass es nicht möglich sei, von Gottes Offenbarung Rückschlüsse auf sein Sein zu ziehen. Dies impliziert eine Kritik an der überkommenen theologischen Ansicht, die darin irre, Kenntnis über Gott aus der Heiligen Schrift oder den Heiligen zu haben. Die nominalistischen Auffassungen lassen einen Unterschied zwischen der Offenbarung von Gott selbst und menschlichen Folgerungen erkennen, wobei die Offenbarung Gottes in der Schöpfung und in Christus nicht unterminiert wird. Vgl. Heiko A. Oberman: Some Notes on the Theology of Nominalism. With Attention to its Relation to the Renaissance, in: The Harvard Theological Review 53, 1960, S. 47–76. Zur Differenz zwischen der Theologie, die dem Menschen in seinem gegenwärtigen Status möglich ist (theologia nostra), und der Theologie an sich (theologia in se), die vom Menschen aufgrund seines begrenzten Erkenntnisvermögens nur unvollkommen betrieben werden kann, siehe Guillelmi de Ockham Opera philosophica et theologica. Ad fidem codicum manuscriptorum edita, Opera theologica, Bd. 1: Scriptum in librum primum sententiarum ordinatio, Prologus et distinctio prima, hg. v. Philotheus Boehner, Gedeon Gál, St. Bonaventure 1967 (Editiones Instituti Franciscani Universitatis S. Bonaventurae), Prolog, Quaest. VII, S. 199. Der Mangel unmittelbarer Einsicht bedeutet nach Ockham indes nicht, dass die Wahrheiten der Theologie an sich (theologia in se) nicht erkennbar wären. Denn obschon eine intuitive, das heißt durch unmittelbare Anschauung gewonnene, Erkenntnis Gottes für den Intellekt des Menschen nicht möglich ist, besteht die Möglichkeit einer abstraktiven, durch Gott gewährten Erkenntnis (de potentia absoluta). Zur Unmöglichkeit intuitiven Erkennens Gottes für den Menschen und zur abstraktiven Gotteserkenntnis vgl. u. a. Guillelmi de Ockham Opera philosophica et theologica, Opera theologica, Bd. 1, Prolog, Quaest. I, S. 5, 72. Zur Erörterung der Möglichkeiten der Gotteserkenntnis des Menschen in seinem irdischen Zustand bei Wilhelm von Ockham und in zeitgenössischen Positionen siehe Volker Leppin: Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995, S. 111–152. Zur intuitiven und abstraktiven Erkenntnis vgl. Jürgen Miethke: Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969; Katherine H. Tachau: Vision and Certitude in the Age of Ockham. Optics, Epistemology and the Foundation of Semantics 1250–1345, Leiden 1988. Vgl. dazu zu Seh- und Sinnestheorien Camille, Before the Gaze.
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ist (possunt signacula scribi).357 Diese Auffassung gewinnt hier durch den folgenden Satz an Bedeutung, wenn sie zum einen mit einem Wandel in der ‚Wissenschaft‘ und zum anderen mit der Malerei in Zusammenhang gebracht ist: „Die nachstrebende Erforschung“ nach dem Wesen Gottes „hört auf “, und es reicht kein Abbild aus, um dieses zu sehen (Deficit indago cupiens reperire medullam / uel credens ullam uidisse Dei uel ymago /)358. In dieser Kritik an der Unzulänglichkeit des Abbildes, in der der Zusammenhang von Substanz beziehungsweise Wesen und Abbild negiert ist, scheint die Loslösung von der aus Byzanz tradierten Objektsubstanz der Ikone bezeichnet zu sein; zumal es weiter heißt: Ipse Deus tali non est uisibilis arte, / formarum parte quanquam […] / 359 („Gott selbst [d. h. Gott in sich] ist nicht sichtbar durch solche Kunst, wenngleich er es hinsichtlich (seitens) der Formen ist“).
Neben dem zeichenhaften Charakter des Bildes dürfte in Verbindung mit der zuvor zitierten Aussage zum Ausdruck gebracht sein, dass das Verhältnis von Urbild und Abbild durch eine Differenz in der Natur und eine Ähnlichkeit in der Form gekennzeichnet ist.360 Solchermaßen sind die Worte als eine Kritik an der visuellen Frömmigkeit zu lesen; 357 Dementsprechend heißt es in dem theologischen Diskurs zur intuitiven Gotteserkenntnis, dass Gott durch einen Begriff erkannt wird, der propositional anstelle Gottes verwendet wird. So steht dem für den irdischen Intellekt unmöglichen Erkennen Gottes durch unmittelbare Anschauung das Erkennen im Begriff gegenüber. Der Begriff, der die Sache supponiert, ist mithin fundamental für die Erkenntnis. Vgl. Guillelmi de Ockham Opera philosophica et theologica. Ad fidem codicum manuscriptorum edita, Opera theologica, Bd. 2: Scriptum in librum primum sententiarum ordinatio, Distinctiones II–III, hg. v. Stephen Brown, St. Bonaventure 1970 (Editiones Instituti Franciscani Universitatis S. Bonaventurae), Dist. 3, Quaest. II, S. 402, 413, 409: Per hoc dico ad quaestionem quod nec divina essentia, nec divina quidditas, nec aliquid intrinsecum Deo, nec aliquid quod est realiter Deus potest in se cognosci a nobis […]. […] sed illa quae immediate cognoscimus sunt aliqui conceptus qui non sunt Deus realiter, quibus tamen utimur in propositionibus pro Deo […]. […] Ita potest dici in proposito, quod quamvis nihil terminet immediate actum intelligendi nisi unus conceptus qui non est Deus […]. […] Et hoc non est aliud nisi quod quia non possumus Deum in se cognoscere, utimur pro eo uno conceptu proprio […]. („Ich sage, dass weder das göttliche Wesen noch die göttliche Wahrheit noch irgendetwas, das wirklich Gott ist, von uns hier erkannt werden kann. […] Was wir unmittelbar erkennen, sind Begriffe (aliqui conceptus). Diese sind nicht wirklich Gott, aber sie werden in Propositionen anstelle Gottes verwendet. […] Obwohl der Denkakt von nichts anderem abgeschlossen wird als einem Begriff, welcher Gott nicht ist, kann trotzdem gesagt werden, dass Gott mit diesem Begriff erkannt werde […]. Und es handelt sich hier einfach darum, dass, weil wir Gott in sich nicht erkennen können, wir einen ihm eigentümlichen Begriff an Stelle seiner benutzen […]“). 358 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 2, Vers 7 f. 359 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 2, Vers 13 f. 360 Darin mag ein Bezug auf die Beschlüsse des 2. Konzils von Nicäa (787) beziehungsweise die Bestimmung des Nikephoros zum Wesen des Bildes bestehen – Nikephoros bestimmt das Verhältnis von Urbild und Abbild durch eine Ähnlichkeit in der Form (εἰδος καὶ μορφή) und eine Verschiedenheit in der Natur (φύσις). Vgl. Hermenegild Maria Biedermann: Bild, Bildverehrung, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, Stuttgart 1983, Sp. 145–149, hier Sp. 146. So lässt der erste Teil der Aussage an Inschriften denken, die Kreuzigungsdarstellungen und anderen Christusbildern seit dem 11. Jahrhundert beigegeben sind und die wohl in Rekurs auf die Bilderlehre des 2. Konzils von Nicäa als Anleitung rechter Frömmigkeitspraxis die Nicht-Identität von Urbild beziehungsweise der Gottheit und ihrem (Ab-)Bild betonen. So heißt es unter anderem im Rationale divinorum officiorum des Durandus von Mende im Zusammenhang der Rechtfertigung des Bildergebrauchs (I, III, 1): Nec Deus est nec homo
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sie spiegeln das Spannungsverhältnis zwischen Bilderglauben und Bildkritik, was in den unmittelbar vorausgehenden Versen deutlich wird: Nam licet ex certis causis sua picta figura / cernitur et pura fidei ratione repertis, / non tamen est factor rerum Deus esse putandus / et formis dandus humanis preuius actor. / 361 („Denn mag es auch sein, dass seine gemalte Gestalt aus sicheren und durch reine Einsicht des Glaubens gefundenen Gründen gesehen wird, ist gleichwohl nicht anzunehmen, dass Gott, der Schöpfer der Dinge, ein Handelnder vor aller Zeit ist, den man in menschlichen Formen darstellen könne“)
An das Zugeständnis, gemalte Gottesbilder zu betrachten, bindet sich die Kritik, dass im Bild Gott „in menschlichen Formen“ (formis humanis) dargestellt werden könnte. Damit fragt sich zum einen, inwiefern sich in diesem Passus eine historische Bilderfahrung bezüglich zeitgenössischer Kultbilder spiegelt. Zum anderen bindet sich daran die Frage, inwiefern er vor dem Hintergrund des bekannten Funktionswandels des Tafelbildes im Due- und Trecento als eine Reaktion auf einen historischen Wandel zu lesen ist: den Wandel vom Bildniskonzept der Ikone, welche die Präsenz der dargestellten Person durch Abbildlichkeit verkörpert, hin zur ästhetischen Erfahrung von Abbildhaftigkeit, die bedingt ist durch die mimetische Gestalt der Darstellung, welche mittels ihrer ästhetisch-fiktionalen Erscheinung den Eindruck von Wirklichkeit, Präsenz und Authentizität evoziert.362 Demgemäß wird nicht nur einem ontologisch fundierten Bildkonzept zupresens quam cernis ymago / Sed Deus est et homo quem sacra figurat ymago /. Guillelmi Duranti Rationale divinorum officiorum, Bd. 1, hg. v. Anselme Davril, Timothy M. Thibodeau, Turnhout 1995 (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis, Bd. 140), S. 35. Genannt sei hier auch die Beischrift des Thronbildes Christi, der Maiestas Domini-Darstellung, die am Bogen der Cappella di San Clemente in San Marco in Venedig zu sehen ist und deren ursprüngliche Entstehung ins 12. Jahrhundert datiert wird: Nam Deus est quod imago docet sed non Deus ipsa, hanc videas sed mente colas quod noscis in ipsa. Zit nach Otto Demus: The Mosaics of San Marco in Venice. The eleventh and twelfth Centuries, Bd. 1, Chicago 1984, S. 56. Siehe zu den Beischriften Ragne Bugge: Effigiem Christi, qui transis, semper honora. Verses Condemning the Cult of Sacred Images in Art and Literature, in: Acta ad archaeologiam et artium historiam pertinentia 6, 1975, S. 127–139; Jack M. Greenstein: On Alberti’s Sign. Vision and Composition in Quattrocento Painting, in: The Art Bulletin 79, 1997, S. 669–698, hier S. 674–676; Norbert Schnitzler: Illusion, Täuschung und schöner Schein. Probleme der Bilderverehrung im späten Mittelalter. Schaufrömmigkeit – ein Mißverständnis, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus Schreiner, München 2002, S. 221–239, hier S. 236–239; Wolf, Schleier und Spiegel, S. 157–159. 361 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 2, Verse 9–12. 362 Diese historische Entwicklung des Kultbildes hat Klaus Krüger prägnant beschrieben: „Der Eindruck, den die Bildwirklichkeit jetzt zunehmend im gläubigen Betrachter hervorzurufen sucht, verlagert sich vom Erlebnis einer […] numinos erfahrenen […] Realpräsenz, wie es die mobilen Ikonen und plastischen Statuen als Verkörperung der Kultpersonen im Kontext ihrer rituellen Inszenierung erzeugten, hin zur Wahrnehmung einer genuin bildlich konstituierten und durch die Darstellung fiktiv vor Augen gestellten Gegenwart. Was dabei zutage tritt, ist ein neues, zukunftsweisendes Vermögen des Bildes, nämlich die Erfahrung von Präsenz, Tatsächlichkeit und Authentizität aus ihrer Gebundenheit an die stoffliche Objektwirklichkeit und an die greifbare Materialität des Bildes zu lösen und sie kraft einer neuen Fiktionalität der Darstellung zu erwirken“, Klaus Krüger: Von der Pala zum Polyptychon. Das Altarbild als Medium religiöser Kommunikation, in: Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco, Ausstellungskata-
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gunsten eines semiotischen eine Absage erteilt. Durch die Betonung, dass von Gott nur die ihm in menschlichen Bildern zugewiesenen Formen, die auf ihn verweisen, sichtbar sind und so die äußere Gestalt des Bildes hervorgehoben ist, wird vielmehr die Medialität des Bildes mit ihrer sinnstiftenden Eigenschaft als das Wesen des Bildes herausgestellt. Da sich dessen Reflexion gerade im Blick zurück auf das Thronbild des fol. 1v mit seiner zugleich transparenten und opaken Oberfläche verdichtet, wird das gemalte Bild zur zentralen Reflexionsfigur der Vermittlungsleistung bildlicher Repräsentation.363 Wenn der Thron als erkenntnisstiftendes Zeichen erfahrbar wird, bleibt zu erörtern, inwiefern der Ikonotext als Reflexionsfigur in Zusammenhang mit dem oben angesprochenen theologischen Diskurs zur Gotteserkenntnis zu denken ist. Erfolgt diesem zufolge doch das Erkennen Gottes durch einen Begriff, der propositional anstelle Gottes verwendet wird. So steht dem für den irdischen Intellekt unmöglichen Erkennen Gottes durch unmittelbare Anschauung das Erkennen im Begriff gegenüber. Indem der Begriff, der die Sache supponiert, mithin fundamental für die Erkenntnis ist, fragt sich, ob in dem Ikonotext dem visuellen Zeichen eine ähnliche erkenntnisstiftende Funktion zuerkannt wird. In diesem Zusammenhang geraten folgende Verse über dem gemalten Thron in den Blick (Taf. 2): Hah, Deus en, fari nequeo sine te meditari. / Ergo precor nosse, sicut das optime, posse / deque tuo trono concedas dicere dono. / Gloria, laus et honor tibi sit, quam dicere conor. / Vera loqui dones dicam si lucida pones. / 364 („Ah, Gott, siehe, ich kann nicht sprechen, ohne mich geistigen Betrachtungen über dich hinzugeben. Also bitte ich darum, dich zu erkennen, wie du es, Höchster, gewährst, und dass du mir mit der Gabe zugestehst, über deinen Thron oben sprechen zu können. Dir seien Ruhm, Lobpreisung und Ehre, sie versuche ich zu sagen. Du schenkest, die Wahrheit zu sagen, ich werde sie sagen, wenn du sie deutlich darstellen wirst“).
log, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, 10. 01. 2008–13. 04. 2008, hg. v. Wolf-Dietrich Löhr, Stefan Weppelmann, Berlin 2008, S. 179–199, hier S. 179. Vgl. dazu umfassend Krüger, Der frühe Bildkult des Franziskus, bes. S. 96–99; Belting, Bild und Kult. Zum lebendigen Kultbild, zur Bilderpraxis und der ungebrochenen Ikonentradition in Rom, die sich von den neuen Repräsentationsformen von Kultbildern in anderen italienischen Kommunen im 13. und 14. Jahrhundert unterscheidet, siehe Gerhard Wolf: Salus populi romani. Die Geschichte römischer Kultbilder im Mittelalter, Weinheim 1990; Hans Belting: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981; Hellmut Hager: Die Anfänge des italienischen Altarbildes. Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des toskanischen Hochaltarretabels, München 1962; Ernst Kitzinger: The Cult of Images in the Age Before Iconoclasm, in: Dumbarton Oaks Papers 8, 1954, S. 83–151; Gerhart B. Ladner: The Concept of the Image in the Greek Fathers and the Byzantine Iconoclastic Controversy, in: Dumbarton Oaks Papers 7, 1953, S. 1–34. 363 Vgl. zur Vermittlungsleistung des Bildes in der Repräsentation Gottes Herbert L. Kessler: Spiritual Seeing. Picturing God’s Invisibility in Medieval Art, Philadelphia 2000, S. 104–138; vgl. hier ferner auch Jeffrey Hamburger: Seeing and Believing. The Suspicion of Sight and the Authentication of Vision in Late Medieval Art, in: Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, hg. v. Klaus Krüger, Alessandro Nova, Mainz 2000, S. 47–69. 364 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1v, Verse 1–5.
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Zunächst scheinen die Verse eine abstrakte, durch Gott gewährte Erkenntnis zu bezeichnen, wobei das Erkennen Gottes über den Begriff, nämlich den Thron, erfolgt. Insofern in der Bild-Text-Figur der Begriff als bildliches Zeichen erscheint, zeigt sich der vor Augen gestellte leere Thron als unmittelbarer Gegenstand der Erkenntnis. Solchermaßen erweist sich das gemalte Bild in seiner Evidenz zuvorderst als Medium der Erkenntnis. Dass sich die Erkenntnis an die Erfahrung des sinnlichen Gegenstandes bindet, mag schließlich durch folgende Verse der zitierten Passage von fol. 2 bezeichnet sein: Non Deus est aliqua mortalis ymagine mensus / aut hominum census trutina, que fallit iniqua. / 365 („Gott wird nicht ermessen [d. h. ergründet] durch irgendein menschengeschaffenes Bild oder gemessen durch die Waage der Menschen, die gefährlich täuscht“).
Indem diesen Worten die Aussage vorausgegangen ist, dass Gott durch reine Einsicht des Glaubens erfahren wird (pura fidei ratione repertis)366, ist zunächst festzuhalten, dass die Verse eine Kluft zwischen menschlicher Vernunft und Glauben bezeichnen: Die (beurteilende) Vernunft ist an die Autorität des Menschen gebunden und darin potentiell dem Irrtum unterworfen, während der Glauben in der Offenbarung Gottes fundiert und damit abgesichert ist.367 Insofern Gott nicht durch die menschliche Vernunft erkennbar und das Sein Gottes nicht an den menschlichen Gegenstand, hier zuvorderst das geschaffene Bild, gebunden ist, scheint diesem die Aufgabe zuzukommen, die semantische Relation von Zeichen und Bezeichnetem zu analysieren.368 Demzufolge bedeuten die Worte, dass die menschlich hergestellten Bilder ihre Urteilsfähigkeit und erkenntnisstiftende Evidenz aus sich selbst beziehen, so dass sie zu ihrer Begründung nicht mehr auf das Universelle, Absolute, als dem Aussage- und Beweiskräftigen verweisen.369 Der angesprochenen Qualität des Bildes wird im weiteren Verlauf des Werkes Nachdruck verliehen, indem nicht nur die erkenntnisstiftende Tragweite der gemalten Figur sprachlich benannt, sondern auch dessen Fundierung in der ästhetischen Gestalt herausgestellt wird. So spricht die gemalte Figur des fol. 2v (Taf. 4) selbstbezüglich folgende Worte, die rechts neben dem obersten Granatapfel zu lesen sind: 365 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 2, Vers 19 f. 366 Vgl. Guillelmi de Ockham Opera philosophica et theologica. Ad fidem codicum manuscriptorum edita, Opera theologica, Bd. 4: Quodlibeta septem, hg. v. Joseph C. Wey, St. Bonaventure 1980 (Editiones Instituti Franciscani Universitatis S. Bonaventurae), Quodlibet I, Quaest. I, S. 11: dico quod non potest demonstrari quod Deus sit omnipotens, sed sola fide tenetur. Der nominalistischen Erkenntnistheorie Ockhams zufolge ist die Omnipotenz Gottes nicht durch die menschliche Vernunft erkennbar, sondern nur durch den Glauben. 367 Vgl. dazu Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, S. 275; ferner Eckhard Kessler: Petrarca und die Geschichte. Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München 1978, S. 199. 368 Dass sich die wahre Erkenntnis Gottes erst mit der visio beatifica der Seligen vollzieht, versinnbildlicht die sich anschließende Bildfolge mittels einer ihr eingeschriebenen dialektischen Struktur. Siehe dazu Kap. 6. 369 Vgl. zum „Leistungsanspruch der ‚Suppositionslogik‘“ Jürgen Goldstein: Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham, Freiburg 1998.
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Exemplum superi paradisi defero ueri, / pomis sum plenus, ego sum spatiosus, amenus. / Est tamen inmensus is, sum metis ego census. / 370 („Ich biete dar das Abbild des wahren oben befindlichen [d. h. himmlischen] Paradieses, ich bin reich an Früchten, ich bin weitläufig und anmutig. Jedoch ist jenes unermesslich, ich bin [hingegen] geschätzt durch meine Grenzen“).
Das gemalte Bild repräsentiert als Abbild das himmlische Paradies und erscheint demzufolge in einem Ähnlichkeitsverhältnis zu diesem. Diese Verhältnisbestimmung von Abbild und Urbild zeigt indes weniger eine platonische Implikation, insofern das Bild den Worten zufolge nicht als bloßes simulacrum, als bloße Nachbildung, erscheint, das lediglich eine Teilhabe am Urbild aufweist. Das sprechende Bild weist vielmehr selbstreferentiell auf seine Größe und Schönheit hin. Die Wirksamkeit des Bildes speist sich mithin nicht nur aus seiner Abbildhaftigkeit, sondern auch aus seiner Schönheit, die zum einen sinnfällig wird durch die Abbildlichkeit vom Paradies und zum anderen betont wird durch die selbstreferentielle Bezeichnung als anmutige Gestalt. Daneben wird die Wirksamkeit eben dieser Bildqualität durch jene Worte herausgestellt, welche die ersten Verse des obersten Textblocks bilden: Sum quia pictura paradisi, facta figura / etterni, dico quod prosint hec inimico, / si uult saluari si uult sapiensque probari. / Non tamen ingratis ualeo, nec sum reprobatis / utilis. Ergo satis placeo cum pace locatis. / 371 („Weil ich ein Bild bin, gemacht nach dem Ebenbild des ewigen Paradieses, sage ich, was dem Feind nützen könnte, wenn er gerettet und für weise befunden werden will. Gleichwohl bin ich nicht wirksam für die Unnützen, auch bin ich den Verworfenen nicht nützlich. So gefalle ich sehr denen, die im himmlischen Frieden untergebracht sind“).
Der Grundsatz des Ähnlichkeitsverhältnisses des gemachten Bildes (facta pictura) zur figura des himmlischen Paradieses dient auch hier der Herausstellung des ästhetischen Ranges seiner Gestalt.372 Dabei bezeugen sich durch die Akzentuierung der Gemachtheit des Bildes die Selbstreferenz und damit die Bedeutung der Eigenpräsenz. Zudem deutet die Konjunktionalkonstruktion – „weil ich ein Bild bin“ (sum quia pictura) – auf das erkenntnisstiftende Vermögen der Malerei hin. So wird syntaktisch nicht nur auf die mediale Spezifik des Bildes verwiesen, sondern durch die Kausalität auch darauf, dass die Malerei gerade aus ihrer pikturalen Beschaffenheit ihre Ausdrucksfähigkeit bezieht. Lautet doch das Prädikat dico: sum quia pictura dico […] („weil ich ein Bild bin, sage ich […]“). 370 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 2v, Verse 15–17. 371 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 2v, Verse 1–5. 372 Vgl. die bekannte Inschrift, die in Duccios monumentalem Retabel für den Hochaltar des sienesischen Doms (1308–1311) auf dem Thronpodest der Maestà fixiert ist: Mater sancta dei, sis causa senis requiei. Sis Ducio vita te quia pinxit ita („Heilige Mutter Gottes, du mögest die Ursache der Ruhe für Siena sein; du seiest Leben für Duccio [d. h., gib Duccio langes Leben], we i l e r d ic h s o g e m a lt h a t“ (te quia pinxit ita). Zit. nach Luciano Bellosi: Duccio. La Maestà, Mailand 1998, S. 13. Die Pala (212 cm x 424,9 cm, Tempera und Gold auf Holz) befindet sich heute im Museo dell’Opera Metropolitana del Duomo in Siena.
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Repräsentation von Künsten und Herrschaft
Insofern das lateinische dicere auch „zeigen“ bedeuten kann, wird durch die semantische Spannung zwischen „sagen“ und „zeigen“ die Ausstellung des ‚sprechenden‘ beziehungsweise deiktischen Potentials des Bildes besonders sinnfällig.373 Mit den nachfolgenden Worten wird schließlich die Funktion der pictura aufgezeigt, die bezeichnet ist durch den Aspekt des Nutzens: die Gewinnung von Erkenntnis aus der Bildevidenz. Indem das Bild bekundet, jenen sehr zu gefallen, die nun im Himmel untergebracht sind (ergo satis placeo cum pace locatis), bedeutet es, die Tugendhaften vormals mittels seiner ästhetischen Gestalt ‚angesprochen‘ und erkenntnisstiftend auf sie eingewirkt zu haben. Die Wirksamkeit des Bildes erwächst mithin aus seiner ästhetischen Gestalt. So verweist das sprechende Bild reflexiv darauf, dass es in seiner vor Augen gestellten Präsenz etwas zeigt, das nur in dieser visuellen Präsenz sichtbar wird. Daneben weist das Bild auf eine außerhalb von ihm liegende ‚Wirklichkeit‘, das Jüngste Gericht, auf welche die Nützlichkeit der Worte bezogen ist. Vermag doch das Bild in seinem (Sich-)Zeigen den Menschen zu tugendhaftem Handeln anzuleiten, so dass er beim Jüngsten Gericht der Erlösung zugeführt wird ([…] dico quod prosint hec inimico, / si uult saluari si uult sapiensque probari /). Demzufolge wird die mediale Funktion des Bildes in der Verschränkung von Präsenz und Repräsentation erfahrbar. Das heißt: Es zeigt sich eine Spannung zwischen dem Bezug auf das Vergegenwärtigte und damit dem zeichenhaften Gebrauch des Bildes einerseits und der Ausstellung der spezifischen pikturalen Anschaulichkeit mit dem Anspruch der Eigengesetzlichkeit des Bildes andererseits.
373 Allerdings ist zu beachten, dass dico mit inimico einen Reim bildet und somit auch aus metrischen Gründen gesetzt sein kann. Vgl. zum Zusammenhang von Sagen und Zeigen aus textwissenschaftlicher Perspektive Sybille Krämer: Sagen und Zeigen. Sechs Perspektiven, in denen das Diskursive und das Ikonische in der Sprache konvergieren, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 3, 2003, S. 509–519.
3 Allegorische Ikonotexte als Reflexionsfiguren der pictura
[…] uisis pedibus, nego donis / esse uenustatis me pictum uel nouitatis / grate […] / 1 („Sehe ich meine Füße, leugne ich, gemalt worden zu sein mit den Gaben der Anmut oder des gefälligen Neuen“).
Diese Worte spricht der Pfau, der auf fol. 23 als gemalte Figur vor Augen gestellt ist (Taf. 31). Indem die Worte zum einen selbstreferentiell sind und zum anderen in ihrer Begrifflichkeit an die dichtungstheoretischen Konzepte anschließen, die durch die Musen und Chariten zur Sprache gebracht werden2, ergibt sich folgende Fragestellung: Inwiefern werden – vor dem Hintergrund der Fundierung der frühneuzeitlichen Kunsttheorie in der Rhetoriktheorie – dichtungstheoretische Konzepte nicht nur im Medium der Sprache und damit auf der Ebene der historischen Semantik greifbar, sondern auch im Medium des Bildes selbst? Das heißt: Sind die dichtungstheoretischen Konzepte dergestalt zu kunsttheoretischen erweitert, als sie in der ästhetischen Gestalt des Bildes reflexiv ausgestellt sind? Und bedeutet dies vice versa eine Einflussnahme der Malerei auf eine sich ausprägende Theoriebildung der Dichtkunst? Konkret frage ich also, inwiefern sich die allegorischen Ikonotexte als Instrument einer vergleichenden Theoriebildung für Bild- und Wortkunst vor der Kunsttheorie erweisen. Im Sinne eines solchen Zusammenhanges lenken die epideiktischen Worte des Pfaus den Blick dezidiert auf seine gemalte Gestalt, so dass zugleich auf deren Bedeutung verwiesen ist. Dabei wird die Bedeutung nicht nur sprachlich betont durch die Herausstellung des Qualitätsmerkmals des „gefälligen Neuen“ (grata novitas). Der gemalte Pfau, der auf sein Gemachtsein durch die Malerei sprachlich hinweist, zeigt sich vielmehr selbstreflexiv in monumentaler Prachtentfaltung, um den zum Sehen angehaltenen impliziten Betrachter das Neue gewahr werden zu lassen. Das Neue ist mithin an einen ästhetischen Anspruch gebunden, der in der farbigen Pracht zu sinnfälliger Anschauung gelangt. Dieser augenscheinliche Anspruch ist aber durch den Pfau in ein spannungsvolles Verhältnis zu seinem impliziten Betrachter gesetzt: So liegt der Aussage, die den Füßen die ästhetische Qualität abspricht, als Prämisse eben eine solche Qualität zugrunde. In diesem Sinne reagiert der Pfau auf den impliziten Betrachter, wenn er eine kunstvolle Erscheinung seiner Füße abstreitet und somit in Widerspruch zu dessen Wahrnehmung tritt. Denn während der implizite Betrachter die hässlichen Füße des Pfaus in ihrer mimetischen Gestalt als malerische Qualität erkennt, zielt der eitle Pfau darauf, die Füße als kunstlos gemalt darzustellen. Da er unter der Hässlichkeit seiner Füße leidet, muss er die Qualität der mimetischen Malerei leugnen und darauf zielen, dem impliziten Betrachter zu vermitteln, in seinem Eindruck der ‚wirklichen‘ Gestalt ‚getäuscht‘ zu sein. Das heißt: Der Ikonotext 1 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Verse 18–20. 2 Siehe Kap. 2.3.
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Allegorische Ikonotexte als Reflexionsfiguren der pictura
erweist sich als Reflexionsfigur der mimetischen Qualität und illusionistischen Wirkung der Malerei. Demzufolge wird die allegorische Figur des Pfaus im Folgenden hinsichtlich einer bildlich-textuellen Selbstreflexion des ästhetischen wie epistemologischen Wertes der (Dicht-)Kunst analysiert. Im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Reflexion der illusionistischen Wirkung gemalter Bilder besteht der Wert des allegorischen Ikonotextes mithin darin, eine solche nicht nur textuell aufzuweisen, sondern sie im Bild selbst angelegt zu haben.3 Mit der Modellierung der Allegorie als reflektierte Kunstform in der Figur des Pfaus möchte ich in einem weiteren Schritt die These diskutieren, dass die Aufwertung der Malerei als Erkenntnisverfahren und deren ästhetische Eigenwertigkeit über die Systematik der Allegorie erfolgt: durch eine Hybridkonstruktion von Dichtungs- und Bibelallegorese sowie eine Transformation des tradierten vierfachen Schriftsinnschemas. Dergestalt baut Convenevole zum einen auf der neuen ‚Tradition‘ von Dantes Dichtungskonzeption auf, um eine ‚Kritik der tradierten Topik‘ zu bieten, welche die Malerei wenig schätzt4, und zum anderen auf Giotto, um eine neue ‚Topik der ästhetischen Kritik‘ als ästhetische Reflexion zu entwickeln. In dieser Verschränkung reflektiert er kritisch die Neuheit der Dichtung und Malerei, wobei sich die Reflexion des ästhetischen und philosophischen Verfahrens vor allem hinsichtlich der Allegorie vollzieht. Die Relevanz dieser Darstellungsweise des Convenevole erweist sich hinsichtlich des trecentesken ‚Kunstdiskurses‘ insofern, als Boccaccio in seinem zwischen 1350 und 1355 entstandenen Trattatello in laude di Dante die Divina Commedia wiederum mit den Eigenschaften eines Pfaus interpretiert und dabei die Transformation des Schriftsinnschemas herausstellt.5 Gemäß dem zuvor Gesagten zeigt sich nicht nur der erkenntnistheoretische Wert der allegorischen Ikonotexte, sondern auch der heuristische Wert des Konzepts der Topik in Bezug auf die topische kunsthistorische Rede von der Neuartigkeit der Malerei Giottos. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass die Neuordnung der Topik Topos der kunsthistorischen Forschung ist, insofern sie rückgebunden wird an das Neue der Malerei Giot 3 Als bekanntes und zugleich wohl bedeutendstes Beispiel seien hier nur Dantes Beschreibungen der Reliefs im 10. Gesang des Purgatorio der Divina Commedia genannt, die eine Reflexion des ‚Sprachvermögens‘ der Bildwerke implizieren. Die Anschaulichkeit der Bildwerke bringt Dante allein mittels der Dichtung ekphrastisch hervor, so dass sowohl die Bildwerke als auch deren evidentia nur durch die Sprache des Dichters anschaulich werden. Dabei wird in der Metapher des visibile parlare die illusionistische Wirkung der Werke sinnfällig zum Ausdruck gebracht, die an den Anschein von Lebendigkeit des Dargestellten gebunden ist. Siehe dazu Kablitz, Jenseitige Kunst oder Gott als Bildhauer; Stierle, Ästhetische Rationalität, S. 389–401 („Das System der schönen Künste im Purgatorio von Dantes Commedia“). Zur Reflexion mittelalterlicher Autoren einer illusionistischen Bildwirkung und deren Bedeutung im Konzept mimetischer Malerei im Sinne empirischer Naturnachahmung siehe insbesondere Krüger, Bild als Schleier; ferner Kruse, Wozu Menschen malen, S. 77–80. Zu medialer Reflexion und illusionistischer Wirkung der gemalten Personifikationen Giottos in der Arenakapelle in Padua siehe Krüger, Figuren der Evidenz, S. 409–420. 4 Vgl. dazu Kap. 2.3 mit den Worten der Muse Erato. 5 Boccaccio, Trattatello in laude di Dante (1. Redaktion), § 220 f., S. 493: […] Commedia, la quale, secondo il mio giudicio, ottimamente è conforme al paone, se le propietà de l’uno e de l’altra guarderanno. Il paone tra l’altre sue propietà […] n’ ha quattro notabili. […] Queste quattro cose pienamente ha in sé la Comedia del nostro poeta; ma, perciò che acconciamente [volendo seguire un’ordinata disposizione degli argomenti] l’ordine posto di quelle non si può seguire, come verranno più in concio or l’una or l’altra le verrò adattando […].
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tos.6 Allerdings wird in der topischen Rede von der Neuartigkeit der Malerei Giottos der Topos der kunsthistorischen Forschung gerade nicht an das philosophische System der Topik rückgebunden, sondern als ästhetisches Qualitätsmerkmal genommen, wodurch es seine semantische Bedeutung verliert.7 Daher möchte ich die Neuordnung der Topik betrachten, um dadurch die ‚Kritik der Topik‘ und die ‚Topik der ästhetischen Kritik‘ zusammenzubringen und das Neuartige der Malerei exemplarisch herauszuarbeiten.8 Das Neuartige der Malerei wird schließlich anhand des Konzepts der „Naturalisierung der Allegorie“9 beleuchtet. Sein erkenntnistheoretischer Wert liegt darin, dass sich mehrere Aspekte unter ihr fassen lassen, an die eine Aufwertung der fiktionalen Dichtund Malkunst gebunden ist: Die mimetische Erscheinung der Allegorie10 tritt anhand ihrer so konkretisierten Gestalt in ein spannungsvolles Verhältnis zu deren Status des 6 Zur Aufwertung der Malerei im Trecento und ihre Bindung an die Darstellung Giottos als Neubegründer der Malerei, die sich in verschiedenen Textgattungen spiegelt, siehe grundlegend Baxandall, Giotto and the Orators und zuletzt insbesondere Löhr, Dantes Täfelchen; Löhr, Korrekturen; Löhr, Gaukler, Phantasten und Philosophen. Vgl. auch die Quellensammlung in Michael Viktor Schwarz, Pia Theis (Hgg.): Giottus Pictor, Bd. 1: Giottos Leben. Mit einer Sammlung der Urkunden und Texte bis Vasari, Wien 2004 sowie die kritische Rezension dazu von Peter Seiler: Michael Viktor Schwarz, Pia Theis (Hgg.): Giottus Pictor, Bd. 1: Giottos Leben. Mit einer Sammlung der Urkunden und Texte bis Vasari, Wien 2004, in: sehepunkte 5, 2005, Nr. 6 [15. 06. 2005], http://www.sehepunkte. de/2005/06/6428.html [letzter Zugriff am 23. 02. 2013]. Zum Konzept der novità unter Berücksichtigung der Vorstellung vom Neubeginn der Malerei im Trecento Ulrich Pfisterer: Die Erfindung des Nullpunktes. Neuheitskonzepte in den Bildkünsten, 1350–1650, in: Novità. Neuheitskonzepte in den Bildkünsten um 1600, hg. v. Ulrich Pfisterer, Gabriele Wimböck, Zürich 2011, S. 7–85, bes. S. 14 f. Zur Malerei Giottos und deren immanenter Reflexion ihrer medialen Bedingungen, worin sich ein neuartiges Spannungsgefüge zeigt zwischen dem Anspruch der Eigengesetzlichkeit des Bildes und seinem zeichenhaften Gebrauch, siehe v. a. Krüger, Figuren der Evidenz, S. 904–920. 7 Die Bedeutung des Topik-Begriffs ist von der kunsthistorischen Forschung bislang nur unzureichend erfasst. Insgesamt herrscht eine an den literaturwissenschaftlichen Topos-Begriff angelehnte Auffassung vor, „während eine Befragung der bildlichen, als der medienspezifischen Gegebenheitsweise auf ihre topischen Strukturen hin bisher ein Desiderat geblieben ist“. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Anja Hallacker: Topik. Tradition und Erneuerung, in: Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts, hg. v. Thomas Frank, Ursula Kocher, Ulrike Tarnow, Göttingen 2007, S. 15–27, S. 21. Vgl. dazu Ulrich Pfisterer: „Die Bilderwissenschaft ist mühelos“. Topos, Typus und Pathosformel als methodische Herausforderung der Kunstgeschichte, in: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, hg. v. Ulrich Pfisterer, Max Seidel, München 2003, S. 21–32. 8 Siehe dazu auch Kap. 6. 9 Zur „Naturalisierung der Allegorie“ grundlegend Krüger, Bild als Schleier, bes. S. 243–279. Obgleich die Formel dort in Bezug auf die „Medialität des Bildes bei Caravaggio“ verwendet ist, kann sie unter der Prämisse einer historischen Differenz auch für bildliche und textuelle Darstellungsmodi im Trecento Geltung beanspruchen. Vgl. Krüger, Figuren der Evidenz. Zur Naturalisierung der Allegorie in Dantes Divina Commedia und insbesondere Boccaccios Amorosa Visione siehe Jörn Steigerwald: Erschriebene Bilder. Giovanni Boccaccios Amorosa Visione, in: Poiesis. Praktiken der Kreativität in den Künsten der Frühen Neuzeit, hg. v. Valeska von Rosen, David Nelting, Jörn Steigerwald, Zürich 2013, S. 85–109, der das Konzept der Naturalisierung der Allegorie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive eingehend problematisiert; vgl. auch Jörn Steigerwald: Amors Gedenken an Psyche. Die novelletta in Giambattista Marinos Adone, in: Geschichte – Erinnerung – Ästhetik. Tagung zum 65. Geburtstag von Dietmar Rieger, hg. v. Kirsten Dickhaut, Stefanie Wodianka, Tübingen 2010, S. 175–194. 10 Mimesis ist hier verstanden im Sinne empirischer Naturnachahmung.
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Uneigentlichen. Hinzu kommt die Loslösung von einem vorausliegenden theologischen Referenzsystem in Form der Transformation des vierfachen Schriftsinnschemas, so dass eine Differenz zwischen Sinnsystem und Sinnbild angezeigt ist. Damit wird die Repräsentation von zugrundeliegenden Deutungsmustern zersetzt, und zugleich gelangt die ästhetische Gestalt zu zentraler Bedeutung. In diesem Spannungsverhältnis von Präsenz und Repräsentation, von ästhetischem Eigenwert und vermitteltem Sinn modelliert die naturalisierte Allegorie eine „Evidenzproblematik“11. Dabei wird in der Herausstellung der ästhetischen Qualität die Sinnlichkeit des Sinnbildes stark gemacht, um die Sinnhaltigkeit aus dieser erwachsen zu lassen. Das heißt, dass das erkenntnisstiftende Potential des Sinnbildes in dessen ästhetischer Qualität fundiert ist. Um die ästhetischen wie wirklichkeitsdeutenden Geltungsansprüche der Malerei und damit die Evidenzproblematik der naturalisierten Allegorie genauer beschreibbar zu machen, frage ich konkret nach dem Spannungsbezug von realitätshaltiger Allegorie und allegorisch aufgeladener Wirklichkeitsevidenz. So gilt es nun, im Folgenden die These zu diskutieren, dass der erkenntnistheoretische Wert des Modells des allegorischen Ikonotextes darin besteht, dass es sich als Reflexionsfigur der Malerei vor dem „ästhetischen Diskurs“ in der Frühen Neuzeit erweist.
3.1 Schöner Schein und nackte Wahrheit In monumentaler Weise zeigt sich auf fol. 23 die Figur eines Pfaus (Taf. 31): Seine nach links gewandte Figur füllt das gesamte Blatt aus. Sie wendet sich dem thronenden König auf der Versoseite des fol. 10 zu – obschon zahlreiche Folia zwischen den beiden Miniaturen liegen, sie also nicht paarseitig angelegt sind, gibt dies die Logik der Handschrift vor. In seiner ganzen Pracht stellt er sich diesem vor Augen, indem er sein Federgewand aufgeschlagen hat, das insbesondere durch das leuchtende Blau seiner Borte mit den goldfarbenen Argusaugen besticht. Zudem ist seine gemalte Gestalt durch Textfelder durchbrochen. Bereits auf den ersten flüchtigen Blick wird augenscheinlich, dass Anmut in der Gestaltung des Folio thematisiert ist: Im Bewusstsein der grazilen Schönheit seines farbenreich illuminierten Federkleides hat der Pfau dieses zu voller, fast das gesamte Folio ausschmückender Pracht aufgeschlagen. Die in der gemalten Gestalt des Federkostüms implizierte Metapher des Schmuckes und der Zierde findet ihr rhetorisches Komplement in der Rede des Pfaus. Denn Convenevole lässt den Pfau explizit über seine Schönheit und Zierde sprechen, wie der Leser den Worten entnimmt, die bezeichnenderweise dem Federkleid eingeschriebenen sind: Hic ego sum pauo […] / […]. / Forma superborum sum picta […] / […]. / Esse quidem noui me quod de lumine […] / […]. / Glorior at caude specie […] / […] / et caude crines pedibus tunc indico fines. / 12 11 Steigerwald, Erschriebene Bilder, S. 95; vgl. zu den dargelegten Aspekten S. 94 f. 12 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Verse 10, 45, 11, 17, 28.
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(„Hier bin ich Pfau […]. Ich bin g em a lte Gestalt der Stolzen […]. Ich weiß, dass ich wahrlich von diesem leuchtenden Glanz g em a c ht bin […]. Ich rühme mich hinsichtlich der schönen Gestalt des Schweifes, und ich zeige die Federn des Schweifes den Füßen als Ziel“).
Mit fortschreitender Lektüre dringt der betrachtende Leser vom integumentalen Gewand zum Inneren des Pfaus vor. Dabei vernimmt er die im Duktus moralischer Belehrung gehaltene Rede des Pfaus über das Leben der Hochmütigen (uita superbis)13, das Sich-Aufblähen vor Hochmut (inflatio) und den Prunk (pompa) derer, die „den grausamen Gewinnen des Frevels zugewandt sind“ ([…] pompa paratis / ad lucra seua doli […] /)14. Indem die Worte nicht nur die äußere Gestalt des Pfaus bildhaft aufgreifen, sondern seinem Körper eingeschrieben sind und somit gleichsam aus seinem Inneren kommen, erschließt sich dem Betrachter: Der Pfau versinnbildlicht in allegorischer Kodierung die Dichtkunst, die moralische Lehren in ein anmutiges Gewand kleidet.15 Da die Rezeption des Pfaus aber von dem monumentalen Bild ausgeht, zeigt sich, dass diese nicht allein auf die Reflexion über Struktur und Semantik der Dichtkunst zielt, sondern auch und mehr noch auf die der Malkunst. Die Malerei steht keineswegs hinter der Dichtung zurück. Dies zeigt sich nicht nur an der so farbenreich illuminierten und fast das gesamte Folio ausmalenden – und dabei die gedichteten Verse eingrenzenden – Figur des Pfaus; sondern auch darin, dass die epideiktischen Worte des Pfaus den Blick auf seine gemalte Gestalt lenken. Dabei verweist der Pfau selbstreflexiv auf die ausgestellte Schönheit seiner Federn, indem er explizit deren gemalte Verfasstheit anspricht – die Federn eines gemalten Pfaus, picti […] pennis pauonis16. Zudem bezeichnet er diese vor Augen gestellte und reflektierte Schönheit seines gemalten Wesens als Ziel. Seine Gemachtheit als pictura und die damit verbundene Schönheit sind also für seinen glänzenden Ruhm verantwortlich. Doch spricht nicht nur der Pfau über seine so schön gemalte Gestalt, sondern auch der implizite Betrachter. Dieser wird erzeugt durch die intermediale Referenz des gemalten Bildes auf enzyklopädische Schriften wie Bestiarien und deren Topoi, die den Pfau als ein doppeldeutiges und täuschendes Wesen kennen.17 So artikuliert der implizite Be 13 Superbis ist anstelle von superborum aus metrischen Gründen gesetzt: Sit paucis uerbis narrat, que uita superbis /. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Vers 5. 14 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Vers 6 f. 15 So äußert der Pfau belehrend, dass die schönen Scheine der Welt zu vermeiden seien und nicht auf materielle Dinge zu vertrauen sei ([…] mundi spetiosa cauendi, / nec confidendi rebus […] /). Demgemäß führt er näher aus: Pompis elatos doceo deponere gratos / stultitie flores, que diligit orbe colores / et spernit mores rectos fructusque labores. / („Ich belehre die von ihrem Prunk Stolzen, die angenehmen Blumen der Torheit niederzulegen, die in der Welt die Farben liebt und die redlichen Sitten und die fruchtbaren Mühen verachtet“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Verse 39 f., 42–44. 16 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Vers 49 f. 17 Zum einen entsprechen dem schönen Schein des Federschmucks keineswegs die hässlichen Beine des Pfaus, zum anderen kontrastiert mit der Schönheit des prachtvollen Gefieders, die den Pfau stolz und hochmütig sein lässt, der schlechte Charakter des Pfaus. Als zeitgenössische Werke seien genannt: Il Bestiario moralizzato, Kap. XLVI, siehe Maria Romano (Hg.): Il Bestiario moralizzato, in: Testi e interpretazioni. Studi del Seminario di Filologia romanza dell’Università di Firenze, Mailand 1978, S. 721–888, hier S. 832; Brunetto Latini: Trésor, hg. v. Pietro G. Beltrami u. a., Turin 2007, I, 169, S. 282; Cecco D’Ascoli: L’Acerba, hg. v. Marco Albertazzi, Trento 2002, III, xxi, S. 197–199; Petri Berchorii Pictaviensis Opera omnia sive Reductorium, Repertorium, et Dictionarium morale utriusque testamenti, catholicum,
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trachter seine Bewunderung über die Schönheit der gemalten Gestalt. Denn der Pfau schlägt sein Federkleid bekanntlich dann auf, wenn er bemerkt, dass die Menschen seine Schönheit bewundern, wie beispielsweise Brunetto Latini in seinem Trésor, den Topos aufgreifend, lehrt: il voit les homes qui remirent sa biauté, il drece la coe contrement.18 Die an den impliziten Betrachter geknüpfte insinuierende Rede, die auf den historischen Betrachter zielt, leitet diesen somit an, die ästhetische Erscheinung der ihm vor Augen gestellten gemalten Figur zu bestaunen.19 Zu dem eingeforderten Bestaunen tritt der Pfau aber mittels dieser Worte in ein spannungsvolles Verhältnis: […] uisis pedibus, nego donis / esse uenustatis me pictum uel nouitatis / grate […] / 20 („Sehe ich meine Füße, leugne ich, gemalt worden zu sein mit den Gaben der Anmut oder des gefälligen Neuen“).
Denn indem er beim Betrachten seiner Füße leugnet, „gemalt worden zu sein mit den Gaben der Anmut oder des gefälligen Neuen“ und so eine kunstvolle Erscheinung seiner Füße abstreitet, tritt er in Widerspruch zur Wahrnehmung des impliziten Betrachters: Während dieser die hässlichen Füße des Pfaus in ihrer mimetischen Gestalt als malerische Qualität erkennt, zielt der eitle Pfau darauf, die Beine als kunstlos gemalt darzustellen. Da er unter der Hässlichkeit seiner Füße leidet, muss er die Qualität der mimetischen Malerei leugnen und darauf zielen, dem impliziten Betrachter zu vermitteln, in seinem Eindruck der ‚wirklichen‘ Gestalt ‚getäuscht‘ zu sein. Das heißt: Der Ikonotext erweist sich als Reflexionsfigur der mimetischen Qualität und illusionistischen Wirkung der Malerei. Die Relevanz der Täuschungsmetaphorik, die der Modellierung der mimetischen Qualität und illusionistischen Wirkung der Malerei inhärent ist, plausibilisiert sich durch den literarischen Topos, der dem allegorischen Ikonotext zugrunde liegt. Denn wie bereits angesprochen, ist der Pfau aus mittelalterlichen Bestiarien und enzyklopädischen Werken als ein doppeldeutiges und täuschendes Wesen bekannt.21 Dahingehend wird der lesende Betrachter bei der Lektüre des dem Pfau eingeschriebenen Textes gewahr, in seiner durch das Bild vermittelten Annahme getäuscht worden zu sein. Schreiben die Verse
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philosophicum hac postrema editione correctum, Bd. 2: De rerum proprietatibus, Köln 1692, VII, lxii (De Pavone), S. 504 f. Brunetto Latini, Trésor, I, 169, S. 282: riche coe de divers colors ou il se delite merveilleussement, tant que la ou il voit les homes qui remirent sa biauté, il drece la coe contrement. Vgl. Romano (Hg.), Il Bestiario moralizzato, S. 832; Ovid: Ars amatoria, I, 627, siehe P. Ovidi Nasonis Amores, Medicamina faciei femineae, Ars amatoria, Remedia amoris, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Edward John Kenney, Oxford 1995 (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis), S. 147; siehe auch Petri Berchorii Pictaviensis Opera omnia sive Reductorium, Bd. 2: De rerum proprietatibus, VII, lxii, S. 505. Der implizite Betrachter ist hier verstanden in Anschluss an Wolfgang Isers Konzept des „impliziten Lesers“, welcher der Textstruktur inhärent ist, das heißt dem Potential des Textes, den Kommunikationsvorgang intersubjektiv zu steuern, indem der Text ein „Rollenangebot für seine möglichen Empfänger“ enthält. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 41994 [1976], bes. S. 60–67. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Verse 18–20. Siehe Anm. 17 in diesem Kapitel.
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dem Pfau doch ein moralisch-tugendhaftes Wesen zu und laufen so dem literarischen Topos zuwider. Sie greifen Aspekte der literarischen Topoi auf, konfigurieren diese aber neu und semantisieren sie in Verschränkung mit der gemalten Gestalt um.22 Vor dem Hintergrund der Rezeptionsrelevanz des literarischen Topos setzt sich die Bild-Text-Gestalt somit von diesem ab, wobei im poietischen Verfahren ihrer Verschränkung der Täuschungstopos des Pfaus im übertragen-spiegelbildlichen Sinn aufgegriffen wurde. Die intentio operis besteht somit darin, dem lesenden Betrachter durch die Rezeption des sich wechselseitig bedingenden Bild-Text-Gefüges eine Reflexion über die Malerei vor Augen zu stellen. Spiegelt es doch vor der Folie der Täuschungsmetaphorik auch den illusionistisch-täuschenden Charakter der Malerei, obwohl sie – auf einer weiteren Ebene argumentierend – mimetisch im Sinne empirischer Naturnachahmung erscheint.23 Und genau darin liegt der ästhetische Reiz.24 Mit anderen Worten: Die Verbindung von Schein und 22 Der Pfau resümiert infolge der Charakterisierung seines Wesens: Sic ego sum forma, qua colligitur bona norma / caute uiuendi, mundi spetiosa cauendi, / nec confidendi rebus […] / […]. / Pompis elatos doceo deponere gratos / stultitie flores, que diligit orbe colores / et spernit mores rectos fructusque labores. / („So bin ich von solcher Art, die sich als gut erweist für die Norm, umsichtig zu leben, die schönen Scheine der Welt zu vermeiden, nicht auf materielle Dinge zu vertrauen […]. Ich belehre die von ihrem Prunk Stolzen, die angenehmen Blumen der Torheit niederzulegen, die in der Welt die Farben liebt und die redlichen Sitten und die fruchtbaren Mühen verachtet“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Verse 38–44. Vgl. zur Profanierung der Bestiaire-Symbolik in der Lyrik Hans Robert Jauss: Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: La littérature didatique, allégorique et satirique, Bd. 1, hg. v. Hans Robert Jauß, Heidelberg 1968, S. 146–244, bes. S. 172–176. 23 Dass ‚Täuschung‘ nicht wörtlich zu verstehen ist, sondern hier im Sinne ästhetischer Illusion auf das Fiktionsverständnis des Rezipienten abgezielt wird – Hans Robert Jauß spricht vom „ästhetische[n] Vergnügen der gewußten Fiktion“ (Hans Robert Jauss: Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität, in: Funktionen des Fiktiven, hg. v. Dieter Henrich, Wolfgang Iser, München 1983, S. 423–431, hier S. 428) –, bezeugt die bekannte, wenige Jahre später verfasste Passage aus Boccaccios Decameron (5. Geschichte des 6. Tages). Denn Boccaccio streicht in dieser – in Rekurs auf einen Topos antiker Kunstliteratur – den Reiz mimetischer Malerei aufgrund ihres illusionistischen Wesens heraus, wenn er über die Leistung Giottos naturabbildender Malerei spricht. Diese erscheine wie ein Stück der Natur selbst, so dass sich der Gesichtssinn der Menschen von den von Giotto gemalten Dingen oft ‚täuschen‘ ließe, indem er das, was nur gemalt war, für wahr hielt. Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 5, S. 550: Giotto, ebbe uno ingegno di tanta eccellenzia, che niuna cosa dà la natura […] che egli con lo stile e con la penna o col pennello non dipignesse sì simile a quella, che non simile, anzi più tosto dessa paresse, in tanto che molte volte nelle cose da lui fatte si truova che il visivo senso degli uomini vi prese errore, quello credendo esser vero che era dipinto. Vgl. Giovanni Boccaccio: Esposizioni sopra la Comedia di Dante, hg. v. Giorgio Padoan, Mailand 1965 (Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, Bd. 6), Canto XI, S. 554: […] la figura dipinta da sé […] possa gli occhi de’ riguardanti o in parte o in tutto ingannare, facendo di sé credere che ella sia quello che ella non è […]. Vgl. dazu zuletzt Dieter Blume: Ingegno und Inganno. Bild und Poesie bei Giovanni Boccaccio und Francesco Petrarca, in: Kunst der Dantezeit, Diskurse und Figurationen, hg. v. Klaus Krüger, Friederike Wille, München 2017 (im Druck). 24 Die ikonologische Bedeutung des Pfaus erschöpft sich keineswegs in der Auferstehungsthematik, die Ernst Saenger und Federica Ravera betonen und die zweifelsohne eine wesentliche Sinnebene der Regia Carmina bildet. Saenger, Lobgedicht auf König Robert, S. 43; vgl. Federica Ravera: Il simbolismo del pavone e i suoi sviluppi in epoca tardogotica, in: Arte cristiana, 77, 1989, S. 427–450, hier S. 435. Von rein ikonographischer Seite aus betrachtet dürfte sich in der Verwendung eben jener topisch aufgeladenen Ikonographie, auf die sich Saenger und Ravera stützen, vielmehr deren Fiktionalisierung manifestieren, die durch das piktural-textuelle Gefüge erzeugt ist. Dadurch ist dem Pfau eine rezeptionsästhetisch zu vollziehende Reflexion des hermeneutischen Deutungsverfahrens der Allegorie einverleibt. Der Anspruch des ästhetischen Reizes zeigt sich dabei gerade in der Spannung zwischen dem Darstellungs-
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Sein, Trug und Wahrheit, wie sie ja zur Erscheinung des Pfaus gehört, ist hier zu einem reflexiven Vorgang gesteigert: Sie zeigt sich in der dialektischen Bezugnahme von mimetischer, einer der faktischen Wirklichkeit gleichenden Gestalt und des Reizes des Fiktiven, Nicht-Wirklichen der gemalten Gestalt, der sich gerade aus dem Wirklichkeitsanspruch speist. Der Pfau spielt somit mit der Grenze zwischen ‚Fiktion‘ und ‚Wirklichkeit‘. An den ästhetischen Reiz der zwischen Mimesis und ‚Täuschung‘, ‚Wirklichkeit‘ und (illusionistischer) Fiktion25 oszillierenden Malerei knüpft sich eine zweite Reflexionsebene. Sie vollzieht sich vor dem Hintergrund des Vorwurfs der Lügenhaftigkeit der Dichtung und der Entgegnung, die Dichtkunst kleide die Wahrheit beziehungsweise moralisch nützliche Lehren in ein kunstvolles und anmutiges Gewand.26 Dabei wird der implizite Vorwurf, dass die Dichtkunst die ‚nackte‘ Wahrheit durch Gewänder verhüllt, metaphorice entkräftet.27 Zeigt sich doch, lässt man den Blick nach unten schweifen, die ‚nackte‘ Wahrheit der Gestalt des Pfaus in Form der nackten, in ihrer Hässlichkeit entblößten Beine und Füße, die allein dem Aufschlagen des Federkostüms geschuldet ist. Das Dilemma des Pfaus besteht also darin, dass das Zeigen seiner Schönheit und die daran gebundene Bewunderung mit der Entblößung seiner hässlichen Beine und Füße erkauft sind. In der Metaphorik der ‚Entblößung‘ verschränken sich die Ausstellung von Fiktionalität und die Bezeugung der semantischen Struktur der gemalten Gestalt, die den Vorwurf der Lügenhaftigkeit entkräftet.28 Die Bedeutung der verhüllenden Struktur, de-
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modus der Fiktionalisierung und der mimetischen Erscheinung der gemalten allegorischen Gestalt, die aufgrund eben dieser doppelten ästhetischen Eigenschaft einen „wirklichkeitsdeutenden Anspruch“ sowohl auf mimetisch-pikturaler als auch fiktionaler Ebene in sich trägt. Die Bedeutung dieses komplexen Spannungsverhältnisses für eine gegenwärtige kunstwissenschaftliche Allegorieforschung hat Klaus Krüger dargelegt. Krüger, Bildallegorien, bes. S. 193–204. Aufgrund des in der Auseinandersetzung um den Fiktions- und Fiktionalitätsbegriff immer wieder vorgebrachten Einwandes der Obsoletheit der Dichotomie ‚Wirklichkeit vs. Fiktion‘ sei betont, dass diese hier bewusst gesetzt ist. Denn die der Erscheinung eines Pfaus inhärente Verbindung von Schein und Sein, Trug und Wahrheit ist in einem reflexiv-metaphorischen Vorgang instrumentalisiert bezüglich der dialektischen Bezugnahme von mimetischer, einer der faktischen Wirklichkeit gleichenden Gestalt und des Reizes des Fiktiven, Nicht-Wirklichen der gemalten Gestalt, der sich gerade aus dem Wirklichkeitsanspruch speist. Der Pfau impliziert somit gleichsam das Spiel mit der Grenze zwischen ‚Fiktion‘ und ‚Wirklichkeit‘. Siehe dazu Curtius, Theologische Poetik; Buck, Italienische Dichtungslehren, bes. S. 67–87; Concetta Carestia Greenfield: Humanist and Scholastic Poetics, 1250–1500, Lewisburg 1981, S. 65– 128. Zur Metaphorik der ‚nackten‘ Wahrheit und ihrer Verankerung im zeitgenössischen Diskurs siehe Hans Blumenberg: Die Metaphorik der ‚nackten‘ Wahrheit, in: Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 1998, S. 61–76, hier S. 68 f. Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 35: „Entblößung“ der Fiktionalität. Den hier verwendeten literaturspezifischen Begriff der Fiktionalität verstehe ich nach Rainer Warning: Fiktion und Transgression, in: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, hg. v. Ursula Peters, Rainer Warning, München 2009, S. 31–55, demnach Fiktionalität als eine „systematische Kategorie“ aufgefasst wird, „mit der die situative Rahmung des Textes bezeichnet ist“ und die das Bewusstsein der fiktiven Beschaffenheit des Fingierten impliziert (Zit. aus Ursula Peters, Rainer Warning: Vorwort, in: ebd., S. 9–28, hier S. 14). Vgl. Andreas Kablitz: Kunst des Möglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Fiktion, in: Poetica 35, 2003, S. 251–273; Jan-Dirk Müller: Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur, in: Poetica 36, 2004, S. 281–311.
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ren ästhetischer Darstellungsform „unhintergehbare Priorität“ in der hermeneutischen Rezeption zukommt29, wird semantisiert. Denn das bewusst ausgestellte schöne verhüllende Gewand der gemalten figura und die durch es verhüllte Wahrheit30, versinnbildlicht durch die hässlichen Beine, konvergieren keineswegs.31 Wird doch in der Struktur der Pfauenfigur auf der Ebene der Bezeichnungsrelation eine Divergenz greifbar. Damit wird in der erdichteten Pfauenfigur die gemalte Fiktion als solche durchsichtig gemacht und so Geltungsansprüche des fiktionalen Artefaktes unter den Bedingungen der Fiktionalität artikuliert. Die dem gemalten Pfau anhaftenden rezeptionsästhetischen Faktoren des Bestaunens und der Bewunderung für die handwerklich-künstlerisch hervorgebrachte Schönheit bezeichnen hier keineswegs die pure Augenlust, die concupiscentia oculorum, auch wenn die Schaulust des historischen Betrachters an den vordergründigen Augenschein der irdischen Schönheit (mundanam formam) des Pfaus gebunden ist. Denn dass der historische Betrachter als Staunender nicht oberflächlich bei den Phänomenen haften bleibt, ergibt sich zum einen aus der Bild-Text-Struktur, die dezidiert zum hermeneutischen Auslegungsverfahren anleitet und somit den lesenden Betrachter die Ebene des sensus litteralis überschreiten lässt. Aufgrund seiner mimetischen Gestalt ist der Pfau zum anderen auch als Sinnbild des allegorischen Wesens der sinnlich erfahrbaren Welt zu betrachten, 29 Vgl. Andreas Kablitz: Bella menzogna. Mittelalterliche allegorische Dichtung und die Struktur der Fiktion (Dante, Convivio – Thomas Mann, Der Zauberberg – Aristoteles, Poetik), in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. v. Peter Strohschneider, Berlin 2009, S. 222–271, hier S. 222–228. 30 Der figura-Begriff ist hier aus zwei Gründen gesetzt. Zum einen aufgrund seiner Bedeutung im rhetorischen System: als verhüllte Wahrheitsaussage in der fiktiven Erzählung, dem integumentum. Zum anderen, um das Oszillieren zwischen verhüllender und damit uneigentlicher Gestalt und dem Wirklichkeitsanspruch, den die gemalte Figur gleichzeitig aufgrund ihrer mimetischen Gestalt erhebt, herauszustreichen. Prägnanter: Durch die visuelle wie textuelle Betonung des mimetisch gemalten Gewandes der figura mit seinen illusionistischen Eigenschaften wird der zwischen Mimesis und Fiktion oszillierenden Malerei Wahrheitsanspruch zugeschrieben. Zu einem weiter ausdifferenzierten figura-Begriff in den Regia Carmina aufgrund einer Verschränkung der integumentum-Theorie mit dem Allegoriekonzept des vierfachen Schriftsinns, die nicht zuletzt auf die Ästhetisierung des vierfachen Bedeutungssinns der pictura zielt, siehe Kap. 3.2. Zum figura-Begriff grundlegend Auerbach, Figura. Zum integumentumBegriff siehe Fritz Peter Knapp: Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54, 1980, S. 581–635, hier S. 613–624; Christel Meier: Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen, in: Frühmittelalterliche Studien 10, 1976, S. 1–69; Hennig Brinkmann: Verhüllung („integumentum“) als literarische Darstellungsform im Mittelalter, in: Der Begriff der Repraesentatio im Mittelalter. Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild, hg. v. Albert Zimmermann, Berlin 1971, S. 314–339, hier S. 319–324; zuletzt wesentlich Frank Bezner: Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der Intellectual History des 12. Jahrhunderts, Leiden 2005, bes. S. 5–93, mit einer systematisch-historischen Konzeptualisierung von Allegorie und integumentum. 31 Die Spannung zwischen schönem Gewand und enthüllter Hässlichkeit wird durch die Worte des Pfaus noch betont, indem er seine Beine explizit als „sehr abstoßend beurteil[t]“ ([…] pedum nimium, quem iudico fedum /) und für sein Schaudern über die Hässlichkeit der entblößten Beine eben jenes Aufschlagen des Federkleides verantwortlich macht, das eigensinnig dem Zweck diene, die Herrlichkeit des Schweifes (caude decorem) zu zeigen und für dieses schmuckvolle Gewand bewundert und gepriesen zu werden. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Verse 22, 21.
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deren Gegenstände in ihrem über sich selbst hinausweisenden Charakter auf ihren Ursprung zu ergründen sind.32 In der Pfauenfigur verschränken sich die Bewunderung der mimetischen Verfasstheit der Malerei und die der Schöpfung Gottes, „ästhetische Neugierde“ und „Welterfahrung“.33 In diesem Erkennen der allegorischen Verfasstheit des Artefaktes und der sinnlichen Welt bezeichnet das Bestaunen des Pfaus die die göttliche Schöpfung Erkennenden und demgemäß Handelnden, die nach Wahrheit strebenden Bekehrten. Denn der Pfau ist, wie er expliziert, „Spiegel der Bekehrten“ (conuersorum speculum)34. In diesem mit dem Streben nach göttlicher Wahrheit verbundenen Bestaunen unterscheidet sich die ästhetische Neugierde von der concupiscentia oculorum, was der Pfau dezidiert zur Sprache bringt, indem er im selben Satz die Gefahr der curiositas, die mit der superbia verbunden ist, anspricht und zugleich vor Augen stellt, indem er sich als „gemalte Gestalt der Hochmütigen“ (forma superborum sum picta)35 bezeichnet.36 In diesen Worten seiner Rede spiegelt der Pfau die Begegnung des staunenden Betrachters mit ihm, genauer: den Erkenntnisprozess, der sich in der Betrachtung seiner Gestalt vollzieht. Damit wird indes auch die oben angesprochene, vorderhand an die Dichtkunst gebundene Semantisierung der integumentalen Struktur dezidiert auf die Malerei 32 Hier bekundet sich ein positiv konnotiertes Konzept der ‚anthropologia christiana‘, die metaphysischtheologisch fundiert ist und die Aufgabe des Menschen als Geschöpf Gottes darin sieht, die Offenbarung Gottes in den sinnlich erfahrbaren Dingen der Natur und ihrer Schönheit zu erfassen. Siehe vor allem Dieter Groh: Schöpfung im Widerspruch. Deutungen von der Natur des Menschen von der Genesis bis zur Reformation, Frankfurt a. M. 2003; Barbara Vinken: Curiositas/Neugierde, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 2000, S. 794–813, hier S. 798–803. Zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund der metaphysisch-theologischen Fundierung der Anthropologie siehe Thomas Leinkauf: Selbstrealisierung. Anthropologische Konstanten in der Frühen Neuzeit, in: Bochumer Jahrbuch für Philosophie, 10, 2005, S. 129–161. 33 Die Begriffe sind gesetzt in Anlehnung an den Sammelband Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Klaus Krüger, Göttingen 2002. Das Bestaunen der körperlich-materiellen Erscheinung ist legitim, da in den durch die Schöpfung hervorgebrachten Dingen die Wunder der göttlichen Schöpfung sichtbar werden. Siehe Lorraine Daston: Die kognitiven Leidenschaften. Staunen und Neugier im Europa der frühen Neuzeit, in: Lorraine Daston: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a. M. 2001, S. 77–97; Lorraine Daston, Katharine Park: Wonders and the Order of Nature, 1150–1750, New York 1998. Vgl. exemplarisch eine Passage aus De rerum proprietatibus, VII, lxii (De Pavone), dem 2. Band des enzyklopädischen Werkes Reductorium morale des Petrus Berchorius, der sich von 1320/1325 bis 1350 an der Kurie in Avignon aufhielt, also zeitgleich mit Convenevole, und ebenfalls einen Diskurs über bewundernswerte Schönheit und das Bestaunen weltlicher Dinge führt: […] quia sc. pulchritudinem suam […] corporalem, id est, pulchritudinem operum et corporum gaudent ab omnibus intueri, et ipsam verbaliter commendari, quinimo ad ipsam amplius ostendendam, […] figurati in Assuero, qui uxorem suam jussit coram omnib. adesse, ut ostendere cunctis populis pulchritudinem ejus. Uxor enim talium est hypocrisis, quam scil. volunt videri ab omnibus, ut pulchritudo conversationis ipsius videatur. Petri Berchorii Pictaviensis Opera omnia sive Reductorium, Bd. 2: De rerum proprietatibus, VII, lxii, S. 504 f. 34 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Vers 46. 35 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Vers 45. 36 Die hier bestehende Struktur aus Erkennen und Verkennen lässt an die Struktur von Paradiso XXVI und Inferno XXVI Dantes Divina Commedia denken, wo einerseits Adam als seine Sünde Erkennender und andererseits Odysseus als bewusst handelnder Sünder vorgestellt sind. Zur Adam-Figur und dem Kontext der positiven, aristotelisch-thomasisch geprägten Anthropologie siehe Jörn Steigerwald: Lectura Dantis: Paradiso XXVI, in: Deutsches Dante-Jahrbuch 84, 2009, S. 111–132. Zur Odysseus-Figur siehe insbesondere Kablitz, Dantes Odysseus.
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bezogen. Denn das Erkennen speist sich aus dem Durchdringen des vordergründigen Augenscheins, des verhüllenden Gewandes, und den daraus resultierenden Einblicken in die Wahrheit, die aus dem Pfau selbst erwachsen. Damit ist nicht nur die der Malkunst entgegengebrachte ästhetische Neugierde legitimiert, vielmehr wird die Malerei zur Künderin der Wahrheit erhoben. Dieses Verkünden ist ohne die schöne äußere, mimetischillusionistische Erscheinung indes nicht zu denken, es nimmt in dieser erst seinen Ausgang.37 Demgemäß erklärt der Pfau explizit, dass er die so „schöne Gestalt des Schweifes“ (caude specie), die er der Malkunst verdankt, als Ziel zeigt (caude crines pedibus tunc indico fines), was im sensus litteralis nichts anderes als die Vorbildhaftigkeit der material-ästhetischen Erscheinungsweise des Federgewandes bedeutet und im sensus allegoricus die Malerei als Künderin der Wahrheit bekrönt.38 Dass in der Pfauenfigur nicht nur eine Meta-Allegorie der Dicht- und Malkunst zu sehen ist, sondern dass sie konkret das aus Dichtung und Malerei bestehende Werk der Regia Carmina sinnbildlich repräsentiert39, wird schließlich deutlich in den ersten Versen des Folio, die links oben und entscheidender Weise außerhalb der Pfauengestalt schriftlich fixiert sind. Der Dichter als Schöpfer des Werkes spricht in der dritten Person im Bescheidenheitstopos folgende Worte:
37 Vgl. Krüger, Bild als Schleier, bes. S. 120, der hier in Bezug auf die Kunstentwicklung im ‚Zeitalter Giottos‘ von der Spannung „zwischen der Ausbildung eines mimetisch rationalisierten Darstellungsbegriffs auf der einen Seite und den Spielarten seiner reflexiven Brechung und Umkehrung durch die ‚Trübung‘ der mimetischen auf der anderen“ spricht. Dabei fungiere das Bild „als Artikulationsform gerade der Differenz, die zwischen Erscheinung und Sein, Mimesis und Erkenntnis besteht, eine Artikulationsform, die […] das sinnerschließende Verlangen einer ästhetischen Neugierde (curiositas) ins Recht setzt“. 38 Vgl. Pétrarque: Les Remèdes aux deux fortunes. De Remediis utriusque fortune. 1354–1366, Bd. 1: Texte et traduction, hg. und übers. v. Christophe Carraud, Grenoble 2002, I, 40 und I, 41, S. 202–211. Siehe dazu Baxandall, Giotto and the Orators, S. 55 und 141 sowie 58 und 143. Vgl. in Bezug auf die Dichtkunst die Worte der Euterpe auf fol. 29v, welche die Bedeutung des ästhetischen Anspruchs der Dichtung herausstellen: Sum bene delectans, quia rethoricis ego cenis / dono daples [!] plenis dulcedine […] / […]. / Sunt ratione sita. Quamuis que non sit amena / res non quesita, set sit de turbine plena. / Misceo cum ueris mendacia delitiosa / […]. / Aut prodesse uolo seu delectare poetas, / illis quosque colo flores iubeo fore metas. / („Ich weiß gut zu erfreuen, weil ich bei den rhetorischen Mahlzeiten Speisen voller Süßigkeit reiche […]. Sie [d. h. die Worte] sind gegründet auf Vernunft. Im Übrigen wird eine Sache, die nicht anmutig ist, nicht begehrt, sondern sie ist voll von Wirbel. Ich mische mit den Wahrheiten entzückendes Erdichtetes […]. Ich möchte den Dichtern entweder nützlich sein oder sie erfreuen, und ich verordne ihnen als Ziel die Blumen, die ich pflege“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Verse 19–34. Damit zeigt sich bezüglich des ästhetischen Anspruchs der Künste eine Analogie: So wie das schön gemalte Federgewand des Pfaus als Ziel der Malerei gezeigt wird, wird die bildhafte und ausgemalte Sprache als Ziel der Dichtung angeführt. Prägnanter: Das ut pictura poesis-Diktum, das die Rhetorica auf fol. 29 äußert, wird in den Ikonotexten nicht nur reflektiert, sondern selbst ins Werk gesetzt. Siehe dazu Kap. 2.3. 39 In der ostentativen Zurschaustellung der Gestalt sowie der sprachlichen Betonung der Gemachtheit wird die materielle Wirklichkeit des Bildes ausgestellt und damit die – wie es Louis Marin bezeichnet hat – „reflexive Dimension der Repräsentation“ erfahrbar, insofern die Repräsentation nicht nur etwas repräsentiert, sondern sich selbst präsentiert etwas repräsentierend und darin zugleich das legitimiert, was sie repräsentiert. Louis Marin: Le corps glorieux du Roi et son portrait, in: Louis Marin: La parole mangée et autres essais théologico-politiques, Paris 1986, S. 195–225, hier S. 214: „[…] la dimension réflexive de la représentation, l’instance par laquelle la représentation non seulement représente quelque chose, mais se présente en représentant quelque chose et par là même ‚justifie‘ ou ‚légitime‘ ce qu’elle représente“.
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Hunc tibi pauonem donat, rex, […] / […], /hunc tenerum bellum, coluit qui nuper agellum, / ne uerum celem tibi, rex […] / 40 („Diesen Pfau, oh König, […], diesen zarten und schönen, König, schenkt dir, um dir das Wahre nicht zu verbergen, einer, der vor kurzem ein kleines Stück Feld bestellte“).
Kehrt man an diesem Punkt noch einmal zu der oben angesprochenen Spannung zwischen dem Darstellungsmodus der Fiktion und der mimetischen Erscheinung der gemalten Gestalt zurück, wird deutlich, dass dem historischen Betrachter durch die Bild-TextStruktur des Folio die Beurteilung der ästhetischen Erscheinung des Pfaus vorgegeben wird: als reizvoll und lobenswert. Das Lob der Malerei, das mit der Gestalt des Pfaus verbunden ist, deren inventio zur vollen Entfaltung des mehrfachen Bildsinns sowie ästhetischen Potentials gedanklich in der ars rhetorica wurzelt, konkretisiert sich durch das rhetorische Mittel der Ironie: Indem ein Dissens zwischen der ‚eigentlichen‘ Natur des Pfaus und der Bild-Text-Figur hervorgerufen wird, werden dieser Züge der Ironie verliehen, in der es – wie Quintilian in seiner Institutio oratoria lehrt – statthaft sei, „ein Lob auszudrücken, indem man zu tadeln vorgibt“41. Durch das Stilmittel der Ironie wird der auf einem Topos beruhende, dem gemalten Bild eingespeiste Tadel zu einem Lob der Malerei. Die Ironie zielt somit auf den Fiktionsstatus des Bildes auf der Ebene der pikturalen Darstellung. Bringt man diese Fiktionsironie in Zusammenhang mit der Bescheidenheit42, die in den Worten außerhalb des Gefieders artikuliert ist, erweist sich diese als ebenfalls ironisch aufgeladen und verweist auf ein Autorbewusstsein, mit seinem Werk etwas Reizvolles geschaffen zu haben. Denn gemäß der Rhetoriktheorie, in der die Ironie eine Gattung des Scherzes ist, besteht eine Art des Witzes darin, „die Erwartung irrezuführen“ (decipiendi opinionem), wobei Quintilian das Überraschende (inopinatum) als „vielleicht das
4 0 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Verse 1–4. 41 detrahere […] vituperationis laudare concessum est. M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars secunda, hg. v. Ludwig Radermacher, Leipzig 1959 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), VIII, vi, 55, S. 127. In VIII, vi, 54, S. 127 heißt es: In eo vero genere, quo contraria ostenduntur, εἰρωνεία est […]. quae aut pronuntiatione intellegitur […] rei natura: nam si qua earum verbis dissentit, apparet diversam esse orationi voluntatem. („Zu der Art von Allegorie aber, in der das Gegenteil ausgedrückt ist, gehört die Ironie. […] Diese erkennt man […] am Wesen der Sache; denn wenn etwas hiervon dem gesprochenen Wortlaut widerspricht, so ist es klar, daß die Rede etwas Verschiedenes besagen will“). Übersetzung aus Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, Zweiter Teil: Buch VII–XII, hg. und übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 31995 [1975], S. 241. Zur verbreiteten Auffassung der formalrhetorischen Gegenteil-Definition der Ironie (ironia est tropus per contrarium – Donatus) siehe Dilwyn Knox: Ironia. Medieval and Renaissance Ideas on Irony, Leiden 1989. Grundlegend zur Begriffsbestimmung der mittelalterlichen Ironie Dennis H. Green: Alieniloquium. Zur Begriffsbestimmung der mittelalterlichen Ironie, in: Verbum et Signum. Festschrift für Friedrich Ohly, Bd. 2, hg. v. Hans Fromm, Wolfgang Harms, Uwe Ruberg, S. 119–159; vgl. dazu Michael Becker: Ironia. Mittelalterliche Ironietheorie von der Antike bis zur Renaissance, in: Frühmittelalterliche Studien 44, 2010, S. 357–393; zu Reflexionen der Ironie siehe Gerd Althoff, Christel Meier-Staubach: Ironie im Mittelalter. Politische Argumentation und Mündlichkeit, Darmstadt 2011, S. 11–26. 42 Zum Bescheidenheitstopos siehe Curtius, Europäische Literatur, S. 93–95.
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Amüsanteste, was sich zu unserem Thema [sc. dem Lachen] findet“, bezeichnet (in omni hac materia vel venustissima).43 Damit wird in der für die gesamte Bild-Text-Gestalt des Folio in Anschlag gebrachte Ironie eine Bewusstheit des ästhetischen Wertes der fiktiv-illusionistischen Erscheinung greifbar, die einigen Bildern des Werkes zugeschrieben wird. Schließlich dient gerade die Täuschungsmetaphorik als „Störfaktor[…], die ironische illusio [zu] durchbrechen“44, also das wörtliche, auf einem Topos beruhende Verständnis zu verhindern. Aus rezeptionsästhetischer Perspektive lässt sich komplementär anfügen: Dass die ästhetische Gestalt des Ikonotextes auch auf das Künstlerlob abzielt – und zwar auf ein zweifaches, das des Dichtung wie Malerei hervorbringenden Künstlers –, dürfte sich vor dem Hintergrund erhärten, dass in der Kunstliteratur seit der Antike die Bewunderung des Rezipienten dann einsetzt, wenn er durchschaut, wie die Täuschung gelungen ist. Denn der lesende Betrachter ‚durchschaut‘ erst durch die Lektüre der Dichtung, dass er durch die mimetische Erscheinung des Bildes getäuscht worden ist, so dass beide Medien für das delectare verantwortlich sind. Zusammenfassend lässt sich zur Gestalt des Pfaus festhalten: Das enzyklopädisch überlieferte Wissen zum Pfau, die seiner Erscheinung inhärente Verbindung von Schein und Sein, Trug und Wahrheit wird von Convenevole instrumentalisiert zur Darstellung der dialektischen Bezugnahme von mimetischer, einer der faktischen Wirklichkeit gleichenden Gestalt und des Fiktiven, Nicht-Wirklichen der fingierten Gestalt, dessen Reiz sich gerade aus dem Wirklichkeitsanspruch speist. Die Täuschungsmetaphorik leitet zu einer Reflexion der ästhetischen Wahrnehmung und hermeneutischen Dekodierung des fiktionalen Gegenstandes mit dezidiert epistemologischem Anspruch an. Insofern der Fiktionsstatus der fingierten Gestalt im hermeneutischen Verfahren durchsichtig wird, bekundet sich in der fiktionalen Verhüllung, die in ihrer mimetischen Erscheinung Eigenwirklichkeit beansprucht, der Anspruch der Ästhetisierung des Artefaktes.45 Anders: In der Gestalt des Pfaus als fiktionaler Allegorie der Dicht- und Malkunst zeigt sich eine Reflexion der fiktionalen Allegorie als reflektierter Kunstform. An diese bildlich-textuelle Modellierung des ästhetischen wie epistemologischen Anspruches des fiktionalen Artefaktes knüpft sich schließlich die Frage nach dessen prinzipieller Funktion: Welche politische Bedeutsamkeit ist ihm zugesprochen? Diesbezüglich gerät nochmals die Aussage in den Blick, dass das ästhetisch ‚ansprechende‘ Werk – der zarte und schöne Pfau (pauonem tenerum bellum) – das „Wahre“ (uerum) aufzeigt.46 43 Quintilian-Zitate aus M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars prior, VI, iii, 84, S. 345; Übersetzung aus Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, Erster Teil: Buch I–VI, hg. und übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 31995 [1975], S. 747. 4 4 Rainer Warning: Ironiesignale und ironische Solidarisierung, in: Das Komische, hg. v. Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning, München 1976, S. 416–423, hier S. 419; vgl. auch Norbert Groeben, Brigitte Scheele: Produktion und Rezeption von Ironie, Bd. 1: Pragmalinguistische Beschreibung und Psycholinguistische Erklärungshypothesen, Tübingen 1984, S. 81 f. 45 Zur Verschränkung von der Aufforderung zur hermeneutischen Auslegung einerseits und der Ästhetisierung des Artefaktes andererseits vgl. Patricia Oster: Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären, München 2002; Krüger, Figuren der Evidenz, bes. S. 904–914; Kablitz, Bella menzogna, bes. S. 227–245. 4 6 Hunc tibi pauonem donat, rex, […] / […], /hunc tenerum bellum, coluit qui nuper agellum, / ne uerum celem tibi, rex […] / („Diesen Pfau, oh König, […], diesen zarten und schönen, König, schenkt dir, um dir das
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Denn es wird nach den Semantiken des „Wahren“ gefragt, die Aufschluss geben über die implizierte Funktion. Insofern an die Funktion immer auch eine Wirkungsabsicht gekoppelt ist, verschränkt sich damit wiederum die reflexive Frage nach der bildlich-textuellen Modellierung der eindrücklichen Wirksamkeit des gemalten Bildes. Um Aufschluss darüber zu gewinnen, sei hier abschließend der Ikonotext des fol. 22v hinzugezogen, der dem Pfau in sinnfälliger Weise gegenübergestellt ist (Taf. 30); sinnfällig im Hinblick auf die Semantisierung der formal-ästhetischen Bild-Text-Gestalt und ihre Reflexion des im Pfau ausgestellten genuin deiktischen Potentials der Bilder und die Bedeutung der Evidenz-Effekte der pictura. So wird bei der vergleichenden Betrachtung augenscheinlich, dass die Verhältnisbestimmung von Bild und Text auf fol. 22v umgekehrt ist: Während die gemalte Figur kleinformatig in der rechten Ecke am unteren Foliorand kauert, ist die Seitengestaltung geprägt durch zwei Textspalten, die deutlich mehr Raum einnehmen als die Figur. Demgemäß wird durch die Figur deutlich, dass die Rezeption des Ikonotextes mit der Lektüre einzusetzen hat: Durch ihren nach hinten geneigten Kopf und fixierenden Blick auf den links von ihr niedergeschriebenen Text lenkt die Figur den Betrachterblick deiktisch auf den Text und weist auf dessen Lektüre hin. Hierbei kann der Leser gleich den ersten Versen entnehmen, dass es sich bei der Gezeigten um die Trojanerin Kassandra handelt: Ecce, uocor, certe uerum quia dico, Roberte / rex, Cassandra […] / 47 („Siehe, ich werde Kassandra genannt, ich sage gewiss das Wahre, oh König Robert“).
Gemäß der antiken Literatur und den mittelalterlichen Trojaromanen48 stellt sich Kassandra als mit der Gabe der Prophetie Versehene dar. Durch ihre wiederholte Äußerung, die Wahrheit zu prophezeien, und zwar „mit nicht heiterem Gesicht“ ([…] non leto uultu […] uera propheto /)49, ist sie nachdrücklich in ein Analogieverhältnis gesetzt zum Pfau, der ja ebenfalls das „Wahre“ (uerum) aufzeigt – indes mit glänzender Gebärde. Indem Kassandra nicht nur als warnende Seherin des Untergangs Trojas erscheint, sondern auch prophetisch auf die Gründung Roms und dessen positive Zukunft hinweist50, bedeutet
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Wahre nicht zu verbergen, einer, der vor kurzem ein kleines Stück Feld bestellte“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Verse 1–4. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22v, Vers 21 f. Genannt seien hier der Roman de Troie des Benoît de Sainte-Maure und die zwischen 1270 und 1287 entstandene Historia destructionis Troiae des Guido de Columnis. Vgl. dazu die Zusammenstellung von Manfred Kern, Silvia Krämer-Seifert: Cassandra, in: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. v. Manfred Kern, Alfred Ebenbauer, Berlin 2003, S. 155–158. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22v, Vers 32. At florente coma uirtutis semine Roma / nostro post surget, probra que mox talia purget. / Purgatis morbis, huius dominabitur orbis, / postea marcescet. Tunc uirtus quando uirescet / atque fides Christi mundo lucebit et isti / cultus et ardoris fiet uirtutis honoris. / („Aus unserem Samen der Tugend wird dann aber Rom [wie ein Baum] mit blühendem Laub entstehen, das alsbald solche Schandtaten wiedergutmacht. Von den Krankheiten geheilt, wird [Rom] über diese Welt herrschen, hernach kraftlos werden. Dann wird dereinst die Tugend erblühen, und der christliche Glaube wird in der Welt leuchten, und durch ihn wird die Verehrung der Leidenschaft, der Tugend und der Ehre entstehen“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22v, Verse 68–73. Vgl. dazu P. Vergili Maronis Opera, Aeneis, II, 246 f. und 403–406, S. 134, 139 sowie III, 182–189, S. 158 f. Hinsichtlich der Verschränkung von Kassandra und dem Typus der Si-
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dies hinsichtlich des Pfaus, dass er in Analogie dazu König Robert eine ‚glanzvolle‘ Zukunft Italiens visionär vor Augen stellt.51 Aus dieser typologisierenden Verhältnissetzung ermisst sich nicht nur die postulierte politische Bedeutung der Regia Carmina. Die Modellierung des Zusammenhangs von Prophetie und Dichtkunst impliziert vielmehr eine ‚kunsttheoretische‘ Aussage hinsichtlich der bedeutsamen Funktion von Dicht- und Malkunst sowie des Dichters in der Gesellschaft.52 In kunsttheoretischer Perspektive ist nun an Kassandras Darlegung interessant, dass die Trojaner ihren Worten keinen Glauben schenken und ihren Ausspruch missachten. Denn ihre Mitbürger hielten sie in ihrer Verblendung für wahnsinnig und ihre Worte für Täuschung. So spricht sie: Pena parata silet, mea nunc sententia uilet / et uocor insana, quia nunctio, quando profana / facta gerunt penam Frigiis et turbine plenam / diro uenturam. […] / 53 („Die verhängte [vorbereitete] Strafe lässt noch auf sich warten, mein Ausspruch wird missachtet, und ich werde wahnsinnig genannt, weil ich verkünde, wann die gottlosen Taten den Phrygiern [d. h. den Trojanern] die Strafe einbringen werden, die einen grausamen Sturm über sie bringt“).54
Betrachtet man in Folge der Lektüre und damit vor diesem textuell vermittelten Hintergrund den rechts unten auf dem Folio befindlichen Ikonotext in seiner formal-ästhetischen Gestalt und gleichsam im wörtlichen Sinn, zeigt sich, wie die warnenden Worte die Figur der Kassandra umgeben. Gleichzeitig stört aber die Figur den Wahrnehmungszusammenhang der Worte, der wiederum – und dies ist nun signifikant – dezidiert durch die deutlich sichtbaren Bindestriche bezeichnet ist. So versinnbildlicht der Ikonotext das Unvermögen der Trojaner, den Zusammenhang der Worte Kassandras zu sehen und zu verstehen.55 Anders gewendet: Die Trojaner schenken Kassandra kein Gehör, weil sie nur bylle vgl. Vergils Vierte Ekloge. Vgl. zum Spannungsbezug der Kassandra von Unheils- und Heilskünderin sowie den ästhetischen Implikationen der Kassandra-Figur Stephanie Jentgens: Kassandra. Spielarten einer literarischen Figur, Hildesheim 1995, S. 24–66, 187–200. Zur Verbindung von Kassandra und Sibylle in der mittelalterlichen Dichtung vgl. Karl Ledergerber: Kassandra. Das Bild der Prophetin in der antiken und insbesondere in der älteren abendländischen Dichtung, Freiburg 1941, S. 37 f., 71 f. 51 Insofern Kassandra zur Roma spricht, dass sie einst tugendhaft und Herrscherin der Welt war, gegenwärtig indes ausgelacht wird aufgrund ihrer Zerrissenheit ([…]. Dum feruebas uirtutibus, ipsa solebas / mundum terrere, tibi sub ditione tenere. / Set nunc, quando uidet te scissam pectore, ridet. /), mag in der Figur des Pfaus in dieser Kontextualisierung dessen ikonographische Bedeutung als Auferstehungssymbol reflektiert sein. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22v, Verse 78–80. 52 Vgl. dazu Kap. 2.3. Vgl. diesbezüglich den figürlichen Zusammenhang von Kassandra und Apollon, von Prophetie und Dichtkunst, in Giovanni Boccaccio, Genealogie deorum gentilium, VI, xvi, Bd. 1, S. 646 f. 53 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22v, Verse 27–30. 54 Zu Phrygien als poetischem Namen Trojas vgl. P. Vergili Maronis Opera, Aeneis, VII, 363, S. 267 und XII, 75, S. 395; P. Ovidi Nasonis Metamorphoses, XIII, 721, S. 399. Hinsichtlich Kassandras Darstellung, dass die Trojaner zurecht geschlagen worden sind aufgrund gottloser Taten (Eidbruch des Laomedon, Raub der Helena), vgl. u. a. P. Vergili Maronis Opera, Georgica, I, 501 f., S. 45; P. Vergili Maronis Opera, Aeneis, IV, 541 f., S. 193; Q. Horatius Flaccus Opera, Carmina, III, 3, 17–33, S. 71 f. 55 Der Semantik des in mangelnder Tugendhaftigkeit begründeten Unverständnisses entsprechen die Worte, die die Figur umgeben. In ihnen kommt nicht nur eine warnende Mahnung an Roma zu tugendhaf-
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an das glauben, was sie sehen. In diesem Sinne spricht Kassandra auch folgende Worte, die in der linken Textspalte vor ihr zu lesen sind: […]. Mater regina, figuram / arguis erroris in me fore. Mota doloris / cuspide, non leto uultu dum uera propheto, / uis audire rata dum sint tot praua patrata. / 56 („Mutter, Königin, du behauptest, dass in mir eine Gestalt des Irrtums sein wird. Während ich, bewegt vom Stachel des Schmerzes, mit nicht heiterem Gesicht die Wahrheit prophezeie, willst du sie erst anerkennen, wenn die Übel eingetreten sind“).
Demgemäß wird das durch Kassandras Worte erzeugte Bild als figura erroris wahrgenommen, so dass sich im hermeneutischen Verfahren die relationale Wirkungslosigkeit der Sprache herausschält. Denn mit Blick auf den gegenübergestellten Pfau wird die eindrückliche Evidenz der Malerei deutlich und so in kontrastiver Weise der Rang der pictura: In vergleichender Betrachtung mit dem Pfau wird die gemeinsame Ebene der räumlichen Platzierung der beiden Körper und deren annähernd gleiche Größe augenscheinlich. Somit wird zunächst die Bedeutung der Körper erfahrbar. Setzt man nun die Semantik des Körpers des Pfaus, dem – wie g e z ei g t – eine tiefere Wahrheit entspringt, in Analogie zum Körper der Kassandra, bedeutet dies, dass diesem ebenfalls eine tiefere Wahrheit entspringt. Auch Kassandra bringt – wie g ehör t – eine tiefere Wahrheit zum Ausdruck. Doch kleidet sie diese bloß in Worte, die ihren Körper umgeben – anders als der Pfau, der in sein gemaltes Federkleid gehüllt ist. Wozu diese mangelnde Wirkmacht der Worte Kassandras geführt hat, ist bekannt: zum Untergang Trojas. Anders gewendet: Der Rhetoriker Convenevole stattet sein Lobgedicht, in dem er König Robert von Anjou zur Erneuerung Italiens aufruft, mit Bildern aus, weil sie stärkere Evidenz-Effekte hervorbringen als die Sprache.57 Dementsprechend äußert Kassandra schließlich auch die Forderung nach pikturaler Evidenz aufgrund der Liebe zur Anschaulichkeit: Der König möge verlangen, das Dargestellte „durch die Liebe vor Augen zu haben“ (per amorem cernere poscas)58. Insofern die Liebe zur Anschaulichkeit sowohl rezeptions- als auch produktionsästhetisch auslegtem Handeln zum Ausdruck. Kassandra richtet vielmehr anschließend ihre Worte direkt an König Robert, in denen sie ihn auf den Pfau hinweist, der ihr nachfolgt: Der Pfau gebe die erforderliche Vernunft, „die würdigen Gelehrten zu beehren und die Tugend zu lieben“. Obwohl der König sie erkenne, möge er verlangen, „sie durch die Liebe vor Augen zu haben“ ([…] pauonem […], quo capiens rationem, / dignos ornandi doctos uirtutis amandi: / quam quamuis noscas, per amorem cernere poscas. /). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22v, Verse 83–85. 56 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22v, Verse 30–33. 57 Die Gegenüberstellung von eindrücklicher Evidenz der Malerei und relationaler Wirkungslosigkeit mahnender Rede ist später auch von Boccaccio gestaltet worden, in der 1342/1343 begonnenen und 1355–1360 fertiggestellten Amorosa visione. Boccaccio bindet an seine Ekphrasen der Wandmalereien die Reflexion der beeindruckenden Wirkung der vorgestellten gemalten Bilder, die den betrachtenden Protagonisten aufgrund ihrer mimetischen Qualität in Bann ziehen, wogegen sich die mahnende Rede der donna guida als machtlos erweist. Zur ‚kunsttheoretischen‘ Bedeutung der Amorosa visione, die in jüngster Zeit herausgestellt worden ist, siehe Kap. 4.1, Anm. 8. 58 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22v, Vers 85. Indem signifikanterweise die mahnende Kassandra die Anschaulichkeit stark macht, die unhintergehbar an die ästhetische Gestalt gebunden ist, scheint sich hier, ganz im Sinne von Boccaccios Amorosa visione, eine Loslösung der Allegorie aus ihrer didaktischen Funktion abzuzeichnen.
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bar ist59, zeigen diese Worte an, dass die ausgestellte pikturale Qualität theoretisch im enargeia-Konzept fundiert ist. Demgemäß ist der vor Augen stellende rhetorische Ornat in den Federn des Pfaus versinnbildlicht. Mit der Konzeptualisierung der enargeia zeigt sich die Reflexivität des Pfaus.60 Denn indem an die enargeia die energeia gebunden ist, die das InWirksamkeit-begriffen-Sein61, die Wirksamkeit der Rede durch überredende Verlebendigung bezeichnet, zeigt sich in ihm eine systematische Verschränkung von Herrscherlob und Evidenz.62 Plastischer: In seiner farbenprächtigen Monumentalität verkörpert der Pfau gleichsam die enargeia, die „die Sinne erst mit Hilfe der energeia der Rede überrumpeln [kann], so daß Evidenz im prägnanten Sinn entsteht, die Präsenzsuggestion“63. Dabei wird zugleich in einem Umkehrschluss die Sprachfähigkeit des Bildes ausgestellt im Sinne des spezifisch deiktischen Potentials der Malerei. Ist doch dem enargeia-Konzept das ‚Zeigen statt Sagen‘ inhärent, das auf die Zeigefähigkeit der Sprache verweist.64 Demgemäß wird in den Ikonotexten der Kassandra und des Pfaus auf formal-ästhetischer wie semantischer Ebene auch das Sehen reflektiert, und zwar in reziproker Weise. Denn dem bedeutungsstiftenden Sehakt des historischen Betrachters stehen die Seherin Kassandra und der sehende, mit den Argusaugen versehene Pfau gegenüber. Mit diesen schaut er seinerseits auf den historischen Betrachter Robert von Anjou, den er als denjenigen erkennt, der die Botschaften zu sehen vermag, die der Pfau in sich trägt. Indem er sein Federkostüm mit den Argusaugen in frontaler Gegenüberstellung auf den historischen Betrachter richtet, erfüllt sich in eindrücklicher Weise Hegels berühmte Metapher: „So […] macht die Kunst jedes ihrer Gebilde zu einem tausendäugigen Argus, damit die innere Seele und Geistigkeit an allen Punkten gesehen werden“65. Insofern das Auge Sitz 59 Vgl. dazu Kap. 4.1. 60 Siehe zur enargeia der Figuren näher Kap. 4.2. 61 Aristotelis ars rhetorica, hg. v. Rudolf Kassel, Berlin 1976, 1412a, S. 173–175; siehe dazu Aristoteles: Rhetorik, übers. und erl. v. Christoph Rapp, Berlin 2002 (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4), Erster Halbband, S. 147 f. 62 Zum Zusammenhang von enargeia und energeia siehe Rüdiger Campe: Vor-Augen-Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung, in: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, hg. v. Gerhard Neumann, Stuttgart 1997, S. 208–225, bes. S. 208 f., 218; Jan-Dirk Müller: Evidentia und Medialität. Zur Ausdifferenzierung von Evidenz in der Frühen Neuzeit, in: Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, hg. v. Gabriele Wimböck, Karin Leonhard, Markus Friedrich, Berlin 2007, S. 57–81, bes. S. 62 f.; Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zur Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989, S. 186 f., 365– 403 u. ö. 63 Müller, Evidentia und Medialität, S. 63. 6 4 Siehe M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars prior, VI, ii, 32, S. 328, wo es über enargeia heißt: quae non tam dicere videtur quam ostendere („die weniger zu sprechen als zu zeigen scheint“). Übersetzung aus Quintilianus, Ausbildung des Redners, 1. Teil, S. 710. Vgl. dazu Gottfried Boehm: Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache, in: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung, hg. v. Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer, München 1995, S. 23–40, hier S. 35. Vgl. Wenzel, Zur Narrativik von Bildern, der in Rekurs auf eine etymologische Herleitung des lateinischen dicere als „Zeigen“ und „Sagen“ auf die gegenseitige Erhellung der beiden Medien im Sinne einer medienspezifischen Differenz verweist. 65 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Bd. 13, hg. v. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970, S. 203.
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der Seele ist und so der Geist des Werkes in der Anschauung erfahrbar wird, heißt dies: In dieser Präsentation des Pfaus – einem in dieser Weise ‚beseelten‘ Kunstwerk mit handlungsauffordernder politischer Aussage – verdichtet sich erneut die verschränkte Repräsentation von Kunst und Herrschaft. In diesem Sinne lassen sich schließlich die folgenden Worte des Pfaus auch als sprachgebundene Reflexion des epistemologischen Vermögens der Malerei verstehen. Dabei wird die Ästhetik der gemalten Federn durch die zweckmäßige Kontrastierung zu der hässlichen, in diesem Fall Worte hervorbringenden Stimme herausgestellt und als eine irdische, mithin von Menschenhand geschaffene Malerei sinnfällig. Die durch das gleich zu Beginn stehende nempe ironisch konnotierten Verse lauten: Uanis nempe bonis pictique leuis rationis / pennis pauonis, mundi uocisque draconis / […] / 66 („Ja, offenbar durch die lügenhaften/gehaltlosen Reichtümer und durch die Federn eines gemalten Pfaus von geringer Beschaffenheit, [Sache] der Welt und mit der Stimme des Drachens […]“).
Zuvor hatte der Pfau epideiktisch auf seine Erscheinung in „engelhaften, frühlingshaften Federn“ hingewiesen – Angelicis pennis uestitus sic ego uernis67 („so bin ich in engelhafte, frühlingshafte Federn68 gekleidet“) –, so dass er als gleichsam göttlicher Bote die tieferen Wahrheiten des Erblühens Italiens verkündet, die er als allegorische Figur in sich trägt. An diese Ausstellung des ästhetischen wie epistemologischen Vermögens knüpft er endlich eine ‚Kritik der Topik‘: Sum quotcunque bonis dotatus, ui rationis / nector maioris uite fieri melioris. / 69 („Ich bin reichlich ausgestattet mit Vorzügen und werde durch die Kraft der Ordnung gefesselt, zu einem angeseheneren und ehrenhafterem Leben zu gelangen“).
Trotz ihrer zahlreichen Vorzüge gehört die Malkunst nicht der Ordnung der Septem Artes Liberales an.70 Dass dies geboten wäre, bringt der Pfau nicht nur zur Sprache, sondern stellt es zugleich als Sinnbild der Malerei reflexiv vor Augen. Damit verbindet sich in der Figur des Pfaus eine ‚Kritik der Topik‘ zum einen und durch die bildlich-textuelle Thematisierung der Anschaulichkeit der gemalten Figur eine ‚Topik der ästhetischen Kritik‘ im Sinne einer ästhetischen (Selbst-)Reflexion zum anderen.
66 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Vers 49 f. 67 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Vers 23. 68 Vgl. Cecco d’Ascoli, L’Acerba, III, xxi, S. 198: le penne par angellicha belleza – die Federn des Pfaus scheinen von engelhafter Schönheit; Petri Berchorii Pictaviensis Opera omnia sive Reductorium, Bd. 2: De rerum proprietatibus, VII, lxii, S. 504: pavo habet plumam angeli. 69 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Vers 25 f. 70 Vgl. dazu Kap. 2.3.
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3.2 figura – Allegoretik der Malerei Mit der Topik als „Begriff “ zur Beschreibung des Wissenswandels, der sich durch „Fragmentierung und Neuordnung von traditionellen Wissensbeständen“71 vollzieht, möchte ich nun der Frage nachgehen, inwiefern die Aufwertung der Malerei als Erkenntnisverfahren und dabei die Herausstellung der Eigenwertigkeit von Artefakten mit dem Aufbrechen von Ordnungsstrukturen in Zusammenhang steht. Das heißt, dass ich die Neuordnung der Topik betrachte, um dadurch die ‚Kritik der Topik‘ und die ‚Topik der ästhetischen Kritik‘ zusammenzubringen und somit das Neuartige der Malerei exemplarisch herauszuarbeiten. In dieser Verschränkung des philosophischen und ästhetischen Verfahrens vollzieht sich die Reflexion der Neuheit vor allem hinsichtlich der Allegorie. Demgemäß lautet die zu diskutierende These: Die Aufwertung der Malerei erfolgt über die Systematik der Allegorie durch eine Hybridkonstruktion von Dichtungs- und Bibelallegorese sowie eine Transformation des tradierten vierfachen Schriftsinnschemas. Dergestalt steigt die Malerei in den Rang einer der Theologie und Philosophie nahekommenden ars auf, so dass dieser Wissenswandel die Ordnung der Septem Artes Liberales berührt. Erörtert sei dies anhand der poetologischen Reflexion des Convenevole auf das „vierfache Wesen“ (quaternum genus) der eigenen Dichtung und Malerei und des Ikonotextes des fol. 15v. Den Bezugsrahmen bilden dabei Dantes Reflexionen über die Lehre vom vierfachen Schriftsinn der Heiligen Schrift und dessen Inanspruchnahme für seine eigenen poetischen Werke im Convivio72 und der Epistola XIII, dem Widmungsbrief an Cangrande della Scala zum Paradiso der Divina Commedia.73 Obgleich das bibelexegetische Verfahren seit langer Zeit auf antik-heidnische wie christliche Dichtung übertragen wurde74, kann eine derart explizite Einschreibung des vierfachen Schriftsinnschemas der 71 Schmidt-Biggemann/Hallacker, Topik, S. 23. 72 Convivio, II, i, 1–15. Die Passage gilt als zentrales dichtungstheoretisches Zeugnis der Zeit, auch wenn die entscheidende Stelle zum mehrfachen Schriftsinn nur als Konjektur besteht. Dante Alighieri, Convivio, S. 64–69, siehe dazu ergänzend in Bezug auf die Konjektur Otfried Lieberknecht: Allegorese und Philologie. Überlegungen zum Problem des mehrfachen Schriftsinns in Dantes Commedia, Stuttgart 1999, S. 5 f. 73 Dantes Autorschaft der Epistola XIII ist bis heute umstritten. Sie berührt die Argumentation der nachfolgenden Ausführungen jedoch nicht unmittelbar. Zur umfassenden Darstellung der verschiedenen Positionen in dieser Forschungskontroverse siehe Lieberknecht, Allegorese, S. 4 f. 74 Grundlegend zum Traditionszusammenhang Henri de Lubac: Exégèse médiévale. Les quatre sens de l’Écriture, 2 Bde., Paris 1959–1964, bes. Bd. 2, 1964, S. 208–233. Zur Übertragung des bibelexegetischen Verfahrens auf profane Literatur siehe Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, in: Friedrich Ohly: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 1–31, bes. S. 25–27; Friedrich Ohly: Halbbiblische und außerbiblische Typologie, in: ebd., S. 361–400 mit zahlreichen Belegstellen aus poetischen Werken, die einen vierfachen Schriftsinn für sich postulieren. Zur Verschränkung des bibelexegetischen vierfachen Schriftsinns und dem poetischen integumentum siehe Meier, Überlegungen Allegorie-Forschung. In Bezug auf Dantes Allegorieverständnis und die in der Forschung bestehenden Begriffe der „allegoria dei teologi“ und der „allegoria dei poeti“ siehe die klärenden sowie kritischen Ausführungen von Lieberknecht, Allegorese, S. 11–16. Weniger im Hinblick auf die allegorische Bedeutungsforschung als vielmehr im Fokus auf rhetorisch-poetische Aspekte siehe Jauss, Entstehung und Strukturwandel; Knapp, Historische Wahrheit und poetische Lüge; Wiebke Freytag: Die Fabel als Allegorie. Zur poetologischen Begriffssprache der Fabeltheorie von
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Heiligen Schrift in die eigene Dichtung als unerhörter poetologischer Anspruch Dantes erachtet werden.75 So setzte bereits in zeitgenössischen Dantekommentaren eine intensive Auseinandersetzung über seine Ausführungen in der Epistola XIII und sein in der Divina Commedia modelliertes Allegorieverständnis ein, die bis heute anhält und in einer vermeintlich inkonsistenten Allegorieauffassung Dantes begründet liegt.76 Dabei implizieren Dantes allegoretische Ausführungen im Convivio und der Epistola sowie insbesondere die Struktur der Divina Commedia weniger eine Inkonsistenz als vielmehr eine Transformation des Schriftsinnschemas, wie insbesondere Andreas Kablitz gezeigt hat77: Dante kehrt dieses um, indem er den im herkömmlichen Modell78 höchsten, da die Transzendenz betreffenden Bedeutungssinn, den sensus anagogicus, zur Handlungsebene und damit zum sensus historicus macht. An Dantes Vorgehen, die Struktur seiner Divina Commedia nicht homolog zum bibelexegetischen Schema anzulegen und ihr eine Hybridkonstruktion aus Bibel- und Dichtungsallegorese einzuschreiben, sind hier drei Aspekte bedeutsam: Durch die Übertragung des Verfahrens der theologischen Allegorese auf den Bereich der Literatur leistet er erstens eine Aufwertung der Literatur als Erkenntnisverfahren, das gleichwertig neben die Philosophie und Theologie tritt. Zudem stellt er die Eigenwertigkeit der Dichtung heraus, indem er seinem Text einen Offenbarungscharakter gibt.79 Zweitens ist der Aspekt der Erlösung von fundamentaler Bedeutung, der der Spätantike bis ins 18. Jahrhundert, in: Mittellateinisches Jahrbuch 20, 1985, S. 66–102. Einschränkend insofern, als sich eine systematische Exegese der drei Ebenen des im weiteren Sinne aufgefassten sensus allegoricus selten findet, David A. Wells: Die Allegorie als Interpretationsmittel mittelalterlicher Texte. Möglichkeiten und Grenzen, in: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, hg. v. Wolfgang Harms, Klaus Speckenbach, Tübingen 1992, S. 1–23, hier S. 10. 75 Vgl. die grundlegende Arbeit von Lieberknecht, Allegorese, S. 16, Anm. 23. Zu der Auffassung, dass die in der literarischen Praxis vollzogene Aufhebung der Grenze zwischen biblischer und poetischer Allegorie erst im Trecento theoretisch fundiert wurde, siehe den Forschungsbericht mit grundlegender Literatur von Wells, Allegorie als Interpretationsmittel, S. 6. 76 Im Hinblick auf die kaum überschaubare Forschungsliteratur sei insbesondere verwiesen auf die präzisen Ausführungen von Lieberknecht, Allegorese, S. 5–17, mit umfassender und systematischer Bibliographie, zur vermeintlichen Inkonsistenz bes. S. 12 sowie zuletzt Selene Santeschi: Considerazioni intorno a Convivio II, 1, 4, in: Alighieri. Rassegna bibliografica dantesca 23, 2004, S. 29–45. 77 Andreas Kablitz: Poetik der Erlösung. Dantes Commedia als Verwandlung und Neubegründung mittelalterlicher Allegorese, in: Commentaries – Kommentare, hg. v. Glenn W. Most, Göttingen 1999, S. 353–379, bes. S. 362, 365; Andreas Kablitz: Dantes poetisches Selbstverständnis (Convivio – Commedia), in: Über die Schwierigkeiten, (s)ich zu sagen. Horizonte literarischer Subjektkonstitution, hg. v. Winfried Wehle, Frankfurt a. M. 2001, S. 17–57, hier S. 47. 78 Das Schema des vierfachen Schriftsinns umfasst neben dem sensus litteralis, der buchstäblich zu verstehen ist und historisch ausgelegt wird, den sensus spiritualis bzw. sensus allegoricus im weiteren Sinne. In drei Sinnebenen gegliedert, besteht dieser aus dem dogmatischen sensus allegoricus, dem tropologischen sensus moralis und dem eschatologischen, auf die heilsgeschichtliche Zukunft gerichteten sensus anagogicus. 79 Vgl. Gerhard Regn: Double Authorship. Prophetic and Poetic Inspiration in Dante’s Paradise, in: Modern Language Notes 122, 2007, S. 167–185; Gerhard Regn: Gott als Dichter. Das Spiegelbild der Fiktion in Dantes Paradiso, in: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, hg. v. Ursula Peters, Rainer Warning, München 2009, S. 365–385; Kablitz, Selbstverständnis, S. 43–45. Kablitz bezeichnet Dantes „subversive Poetik der Offenbarung“ als „radikale Gegenposition zur Thomistischen Definition der poetica“ als infima inter omnes doctrinas, als „eine
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mit dem Offenbarungscharakter verbunden ist. Er erwächst aus der Inanspruchnahme des vierfachen Schriftsinns für die eigene Dichtung, durch die ihr dezidiert eine Lesbarkeit auch auf der Ebene des sensus anagogicus zugeschrieben wird.80 Diesem Sinn, der die Eschatologie betrifft und somit das höchste Sinnziel des Menschen bezeichnet, kommt insofern eine zentrale Funktion zu, als in ihm eben jene Transformation des vierfachen Schriftsinnschemas fundiert ist. Dadurch wird – drittens – der für das Trecento fundamentale Bezugspunkt der „irdischen Wirklichkeit“ modelliert81: Durch die Umkehrung des Schriftsinnschemas gerät der die Eigentlichkeit bezeichnende sensus anagogicus zur verhüllenden, die Wahrheit in sich tragenden figura82 und der nun zum sensus allegoricus erhobene irdische Zustand zur eigentlichen Bedeutung. Diese bestimmte Form des Danteverständnisses erlaubt, im Folgenden Convenevoles Perspektive – eine Perspektive unter anderen, historisch wie modern – herauszuarbeiten und seinen Standpunkt zur Allegorie besser zu verstehen. Mit der dichtungstheoretischen Reflexion des Convenevole auf das „vierfache Wesen“ (quaternum genus) der eigenen Dichtung und der darin modellierten Verschränkung von dichterischer Verhüllung einer Wahrheit, integumentum83, und dem biblischen Modell des vierfachen Schriftsinns sind zwei systematische Kategorien berührt, die bisAntwort auf die scholastische Marginalisierung des poetischen Worts“, S. 45. Zum Vorwurf der Lügenhaftigkeit der Dichtung, der von scholastisch-theologischer Seite vorgebracht wurde, und der sich daran entzündenden zeitgenössischen Gegenrede für die Dichtkunst, die die Wahrheit bzw. moralisch nützliche Lehren in ein kunstvolles und anmutiges Gewand kleidet, siehe Curtius, Theologische Poetik; Buck, Italienische Dichtungslehren; Ronconi, Origini delle dispute; Greenfield, Humanist and Scholastic Poetics. 80 Vgl. Kablitz, Selbstverständnis, S. 46. 81 Grundlegend sind die Arbeiten von Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt; Auerbach, Mimesis; Auerbach, Figura. Vgl. dazu Jacob Hovind: Figural Interpretation as Modernist Hermeneutics. The Rhetoric of Erich Auerbach’s Mimesis, in: Comparative Literature 64, 2012, S. 257–269. 82 Der figura-Begriff impliziert hier zwei Ebenen, die systematisch zu trennen sind: Zum einen bezeichnet er als rhetorischer Terminus die uneigentliche Rede und verhüllte, kunstvoll gestaltete Wahrheitsaussage. Vgl. M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars secunda, IX, i, 9–17, S. 134–136 und IX, ii, 65–66, S. 160 f.; Dieter Breuer: Rhetorische Figur. Eingrenzungsversuch und Erkenntniswert eines literaturwissenschaftlichen Begriffs, in: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, hg. v. Christian Wagenknecht, Stuttgart 1988, S. 223–238; Knape, Figurenlehre, bes. S. 302–304; Meier, Überlegungen Allegorie-Forschung. Zum anderen ist er im Auerbach’schen Sinn der typologisierenden Struktur mit ihren geschichtlichen Implikationen, des dezidierten Bezuges auf die irdische Wirklichkeit gefasst, indes ohne Auerbachs Unterscheidung von figura und Allegorie. Auerbach, Figura. Zur Problematik Auerbachs figura in Bezug auf grundlegende Prämissen mittelalterlicher Ontologie siehe Andreas Kablitz: Die Zeichen des Alltags und die Zeichen der Hölle. Dantes Inferno und der mittelalterliche ‚Realismus‘, in: Sprachlicher Alltag. Linguistik – Rhetorik – Literaturwissenschaft. Festschrift für WolfDieter Stempel, hg. v. Annette Sabban, Christian Schmitt, Tübingen 1994, S. 145–199. Zur Typologie als Denkmodell siehe neben den oben angeführten Studien Friedrich Ohlys Northrop Frye: Typologie als Denkweise und rhetorische Figur, in: Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt a. M. 1988, S. 64–96. 83 Zum integumentum als dichterischer Darstellungsweise, die eine wahre Aussage in einer fiktionalen Erzählung verhüllt, siehe Knapp, Historische Wahrheit und poetische Lüge, S. 613–624; Meier, Überlegungen Allegorie-Forschung; Brinkmann, Verhüllung („integumentum“); zuletzt wesentlich Bezner, Vela Veritatis, mit einer systematisch-historischen Konzeptualisierung von Allegorie und integumentum.
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her vornehmlich im Fokus dichtungstheoretischer Forschung zur Literatur der Dantezeit standen: die Aufwertung und Legitimierung der Dichtkunst sowie der figura-Begriff.84 So möchte ich den figura-Begriff in seiner doppelten Ausrichtung für die kunstwissenschaftliche Seite fruchtbar machen; zum einen als rhetorischen und damit die Kategorie der Ästhetik berührenden Terminus und zum anderen in seiner im Auerbach’schen Sinn typologisierenden, das heißt auf den Wirklichkeitssinn des Diesseits abzielenden, Modellierung.85 Dabei sind das Verhältnis der figuralen (typologisch-heilsgeschichtlichen) und figurativen (die bildhafte Gestalt betreffenden) Komponenten des figura-Begriffs zu betrachten und deren Verknüpfungsbedingungen, die an die Medialität gebunden sind. So frage ich, inwiefern die figura als sinnliche Ausdrucksform erscheint, in deren Wahrnehmung Geschichte konkret Gestalt annimmt.86 Dementsprechend erörtere ich, wie in der piktural-poetischen Inszenierung der Allegorie die neuen, zugleich ästhetischen wie wirklichkeitsdeutenden Geltungsansprüche der Malerei ausgestellt werden. So lassen sich Implikationen der bisher eher allgemein gehaltenen Bezeichnung von den ‚allegorischen Bildern‘ im Trecento konkretisieren. Die dichtungstheoretischen, eine allegorische Poetik betreffenden Verse des Convenevole, die mit Bezügen auf zeitgenössische politische Zustände durchsetzt sind, befinden sich auf fol. 17, das als reine Textseite mit zwei Kolumnen gestaltet ist (Taf. 23). Es 84 Zum hermeneutischen Verständnis figuraler bzw. mimetischer Dichtung, in dem der Geltungsanspruch einer eigenständigen Ästhetik modelliert wird, siehe Greenfield, Humanist and Scholastic Poetics; Thomas N. Greene: The Light in Troy. Imitation and Discovery in Renaissance Poetry, New Haven 1982; Reinhart Herzog: Veritas Fucata. Hermeneutik und Poetik in der Frührenaissance, in: Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania, hg. v. Wolf-Dieter Stempel, Karlheinz Stierle, München 1987, S. 107–136; Joachim Küpper: Affichierte ‚Exemplarität‘, tatsächliche A-Systematik. Boccaccios Decameron und die Episteme der Renaissance, in: Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur – Philosophie – bildende Kunst, hg. v. Klaus W. Hempfer, Stuttgart 1993, S. 47–93; Oster, Schleier im Text; Stillers, Anthropologische Poetik. Von kunsthistorischer Seite siehe vor allem die Studien von Krüger, Figuren der Evidenz; Krüger, Bildlicher Diskurs und symbolische Kommunikation. Zum Desiderat einer in der Systematik von Rhetorik und Hermeneutik fundierten Theoriebildung seitens der Kunstgeschichte siehe Krüger, Bildallegorien, S. 193–204; Belting, New role of narrative in public painting; Belting, Das Bild als Text; Belting, Langage et réalité. 85 Zur Bedeutung Auerbachs figura-Begriff und des „nuancenreiche[n] Geflecht[s] zeitlicher und zeichenhafter Faktoren […], das in der figuralen Konzeption impliziert ist“, siehe jüngst Christian Kiening: Einleitung, in: Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter, hg. v. Christian Kiening, Katharina Mertens Fleury, Würzburg 2013, S. 7–20, Zit. S. 10 f. In kunsthistorischen Studien wird der figura-Begriff immer wieder mit dem Hinweis auf Auerbach genannt, dabei aber nicht in systematischer Weise heuristisch fruchtbar gemacht zur Erforschung des Bildverständnisses im Trecento. Vgl. so zuletzt Serena Romano: La O di Giotto, Mailand 2008, S. 239, 129 f. Krüger, Figuren der Evidenz, S. 904– 920 hingegen führt den figura-Begriff in Zusammenhang mit Giottos Personifikationen in der ArenaKapelle an, die ein „strukturelles Zusammenspiel“ ihrer Medialität und allegorischen Kodierung aufweisen und dabei eine künstlerisch-ästhetische wie ontologische Paradoxie ausstellen hinsichtlich des Status ihrer Fiktionalität und dem Status ihrer Uneigentlichkeit. 86 Vgl. zur Verschränkung von historischem Ereignis und sinnlicher Plastizität im Begriff der figura, die „zunächst ästhetisch-sinnliche Erfahrung ist“, Niklaus Largier: Zwischen Ereignis und Medium. Sinnlichkeit, Rhetorik und Hermeneutik in Auerbachs Konzept der figura, in: Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter, hg. v. Christian Kiening, Katharina Mertens Fleury, Würzburg 2013, S. 51–70, Zit. S. 58.
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beginnt mit diesen Versen, durch eine Fleuronnée-Initiale eingeleitet und somit als Anfang eines neuen carmen markiert: Hoc est pometum bina bonitate repletum / alborei generis depicti tegmine ueris. / Poma dat et flores pomorum fertque colores, / distinctos more spetiei sicut odore. / Pometum uernum tenet hoc genus, ecce, quaternum, / scilicet herbarum uirtutes fert uariarum, / est ubi, si tela feriunt, optata medela, / est ubi floretum redolens et cernere letum. / Hoc et radices habet: o quas discere dices / nomina fors harum cupiens doceas et earum. / Ducit poma bona, que dulcia dant ope dona, / laudari merita, si sunt in nube perita / condita uel tecta pulula lanugine recta. / Hec curant herbe pestis graue uulnus acerbe, / dum rabidus latrat Siculus, qui conscia patrat / crimina, uel rugit, quia Petri dogmata fugit. / […]. / Quam bene Psalmista quam dulciter instruit ista / doctrina leta metro referente poeta / iste. […] / […]. / Uernans herbetum patet hoc prodesse facetum / ac redolet letum pometum rite rosetum / et fert floretum suauem pro tempore cetum. / 87 („Dies ist ein Obstgarten, voll von zwei Güten von Pflanzen, gemalt im Kleid des Frühlings. Er gibt Früchte und Blumen und zeigt die Farben der Früchte, verschieden, was die äußere Gestalt betrifft durch Beschaffenheit wie durch den Duft. Dieser frühlingshafte Obstgarten enthält, siehe da, eine vierfache Art, das heißt er bringt die Tugenden verschiedener Kräuter hervor, wo das gewünschte Heilmittel ist, wenn die Waffen zustoßen, wo ein Blumengarten ist, duftend und heiter wahrzunehmen. Dieser hat auch Wurzeln: Du wirst sagen, du wollest sie erfahren, aber vielleicht magst du die Namen dieser und jener nachweisen. [Der Obstgarten] bildet mit guter Hilfe Früchte, die süße Gaben geben, würdig gelobt zu werden, wenn sie in einem Schleier kundig aufbewahrt oder sogar von einem schwärzlichen Flaum richtig bedeckt sind. Diese pflegen mit Kräutern die schwere Wunde der unheilvollen Krankheit, während der zornige Sikuler keift, der bewusst Sünden begeht, oder brüllt, weil er die wahre Lehre des Petrus verlassen hat.88 […] So gut der Psalmist lehrt, so sanft [lehrt] dieser Dichter mit dieser blühenden/fruchtbaren Lehre, dargelegt in metrischer Form. […] Es ist offenbar, dass dieser frühlingshafte Kräutergarten voll Anmut nützt, und der fruchtbare Obstgarten duftet wie die Rosenhecke, und der Blumengarten erzeugt nach Jahreszeit ein sanftes Zusammen“).
Mit Blick auf die zeitgenössischen dichtungstheoretischen Ausführungen – ich denke insbesondere an die bekannten Darlegungen Dantes und Boccaccios, ferner Petrarcas89 – 87 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17, Verse 1–16, 20–22, 40–42. 88 Diese Verse dürften sich auf die sizilianische Situation des Jahres 1328 beziehen: In dem entstandenen Schisma stellte sich der sizilianische Klerus hinter den Gegenpapst Nikolaus V., wodurch jener „die wahre Lehre des Petrus“ verließ, die durch Johannes XXII. repräsentiert wurde. 89 Dante Alighieri, Vita nova, 16, 10, S. 155 bzw. Dante Alighieri: La vita nuova, hg. v. Michele Barbi, Florenz 1932 (Edizione nazionale delle opere di Dante, Bd. 1), XXV, 10, S. 116; Dante Alighieri, Convivio, II, i, 1–15, S. 64–69; Giovanni Boccaccio, Esposizioni sopra la Comedia di Dante; Giovanni Boccaccio, Trattatello in laude di Dante; Giovanni Boccaccio, Genealogie deorum gentilium, XIV und XV, Bd. 2, S. 1354–1583; Francesco Petrarca: Rerum Senilium Libri, VII–XII, hg. v. Ugo Dotti, Felicita Audisio, Elvira Nota, Mailand 2007, XII, 2, S. 1522–1597; Francesco Petrarca: Invective contra medicum. Testo latino e volgarizzamento di ser domenico silvestri. Edizione critica, hg. v. Pier Giorgio Ricci Rom 1978 (Storia e letteratura 32); Francesco Petrarca, Collatio laureationis. Von literaturwissenschaftlicher Seite liegt meines Wissens leider keine Studie vor, in der die dichtungstheoretischen Darlegungen dieser Schriften systematisch erfasst werden.
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wird evident, dass diese Passage eine Reflexion auf das Wesen integumentaler Dichtung impliziert. Als bedeutsam ist herauszustellen, dass der Text klar zum Ausdruck bringt, dass er sich nicht auf einen unspezifischen allegorischen Sinn beschränkt, das heißt auf eine unter einem schönen Gewand verborgene Wahrheit90; vielmehr ist ihm eine semantische Struktur inhärent, die jener der Heiligen Schrift gleicht. Damit eignet ihm eine Lesbarkeit auch auf der Ebene des sensus anagogicus, der die Erlösung bezeichnet.91 Denn Convenevole verschränkt das involucrum-Konzept in der Metapher des fruchtbaren Obst- und blühenden Blumengartens, der „gemalt im Kleid des Frühlings“ (depicti tegmine ueris) erscheint92 und somit sinnbildlich die Allegorie als rhetorische Figur beziehungsweise die Dichtkunst als ein Gewand bezeichnet, dem eine Textur aus Tropen und Figuren zueigen ist93, mit der Formel der „vierfachen Art“ (Pometum uernum tenet hoc genus, ecce, quaternum).94 Welch eminente Bedeutung dabei der ästhetischen Gestalt der fiktiven Rede zugesprochen wird, zeigt sich mit fortschreitender Lektüre: Das Augenmerk des Lesers wird zunächst auf die „Früchte und Blumen“ gelenkt und dabei dezidiert auf „die Farben der Früchte“ verwiesen (poma dat et flores pomorum fertque colores).95 Dabei wird der durch die Begriffe flores und colores bereits angedeutete, mit der ästhetischen Gestalt der Dichtung verbundene Aspekt des delectare im weiteren Verlauf ausgeformt. Denn zum einen richtet sich die Reflexion auf die durch die Exegese erfahrbaren „süßen Gaben“, die
90 Vgl. Dante Alighieri, Convivio, II, i, 4, S. 65: [… L’altro si chiama allegorico, e questo è quello che] si nasconde sotto ’l manto di queste favole, ed è una veritade ascosa sotto bella menzogna. 91 Vgl. Dante Alighieri, Convivio, II, i, 2–9, S. 64–67; Dante Alighieri, Epistola XIII, § 20–22, S. 8 f. 92 Die Worte „gemalt im Kleid des Frühlings“ (depicti tegmine ueris) bedeuten nicht nur das bildhaft-anschauliche Wesen allegorischer Dichtung und implizieren das Konzept des ut pictura poesis, sondern können auch im wörtlichen Sinn aufgefasst werden, als sie sich unmittelbar auf die gemalten Bilder auf fol. 15v beziehen. Siehe dazu weiter unten. 93 Vgl. Dante Alighieri, Vita nova, 16, 10, S. 155, wo Dante in Bezug auf die ästhetische Gestalt der Dichtung von vesta di figura o di colore rettorico spricht, hinter denen die wahre Bedeutung verborgen liegt, die in der Allegorese von ihrem Gewand entkleidet werden muss: però che grande vergogna sarebbe a colui che rimasse cose sotto vesta di figura o di colore rectorico, e poscia domandato non sapesse denudare le sue parole da cotale vesta, in guisa che avessero verace intendimento. 94 Mit den im unmittelbar nachfolgenden Vers genannten „Tugenden der verschiedenen Kräuter“, die durch den Obstgarten aufgrund seiner vierfachen Art dargebracht werden (scilicet herbarum uirtutes fert uariarum), dürften die verschiedenen allegorischen Sinnebenen gemeint sein, die als tugendhaft bezeichnet werden, da ihre Allegorese zu neuen Erkenntnissen und daraus resultierenden Handlungen führt. Denn durch die Exegese erschließt sich das im Obstgarten befindliche, das heißt das in der Dichtung verborgen liegende, Heilmittel, wie der folgende Vers verlautbaren lässt: „wo das gewünschte Heilmittel ist, wenn die Waffen zustoßen“ (est ubi, si tela feriunt, optata medela). 95 Als topisch sind sowohl die Begriffe „Blumen“, „Blüten“ etc. zu erachten, welche die Qualität eines Textes bezeichnen können, als auch der Farben-Begriff in Schriften zur Gestalt bzw. Gestaltung allegorischer Dichtung. Vgl. in Bezug auf Letzteren exemplarisch Francesco Petrarca, Rerum Senilium Libri, VII–XII, XII, 2, 13, S. 1534: Officium eius [poetae] est fingere, id est componere atque ornare et veritatem rerum vel mortalium vel naturalium vel quarumlibet aliarum artificiosis adumbrare coloribus et velo amene fictionis obnubere […].
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als lobenswert beurteilt werden96, „wenn sie in einem Schleier kundig aufbewahrt oder sogar von einem schwärzlichen Flaum richtig bedeckt sind“ (Ducit poma bona, que dulcia dant ope dona, / laudari merita, si sunt in nube perita / condita uel tecta pulula lanugine recta /)97. Entscheidend ist hier, dass der Leser durch die beiden letztgenannten Verse gleichsam im Vollzug der hermeneutischen Auslegung unmittelbar auf die Eigenschaften der erdichteten Textur zurückverwiesen wird. Damit lassen sich zum anderen die unter einem schwärzlichen Flaum verborgenen süßen Gaben nicht nur als zu entschlüsselnde Wahrheit auslegen, sondern auch beziehungsweise gerade als Sinnbild des delectare des Rezeptionsaktes selbst, der umso ‚süßer‘ ist, je schwerer die Bedeutung des Textes zu erfassen ist.98 Somit sind in doppelter Weise der ästhetische Reiz der Rezeption fiktionaler Dichtung und damit deren Qualität hervorgehoben.99 In welchem Maße der Wert der eingangs angezeigten Hybridkonstruktion von Dichtungs- und Bibelallegorese seitens der vielgestaltigen Bedeutungsmöglichkeiten integumentaler Dichtung liegt und dieser Text reflexiv in der dichtungstheoretischen Wirktrias des docere beziehungsweise prodesse, delectare und movere fundiert ist, zeigt sich in den abschließenden Versen: 96 Zu dem sich hier spiegelnden Horazischen Diktum des aut prodesse volunt aut delctare poetae … – Q. Horatius Flaccus Opera, Ars poetica, Verse 333 f., 343 f., S. 323 f.: Aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae. / und omne tulit punctum qui miscuit utile dulci, / lectorem delectando pariterque monendo. / – vgl. sinngemäß die auf fol. 27v vorgebrachten Worte der Septem Artes Liberales: Nos docemus, cortice scribimus et codice, quorum sensum tegimus: / intellectus alius, et munus est melius latens, quod intendimus. / („Wir lehren, wir schreiben auf Rinden und in Bücher Dinge, deren Sinn wir verhüllen: Die Bedeutung ist eine andere, und der Dienst ist besser, wenn verborgen ist, was wir beabsichtigen“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 27v, Vers 4 f. Nicht zuletzt wird der Grundsatz auf fol. 29v durch die an Robert von Anjou gerichteten Worte der Muse Euterpe gleichsam autorisiert: Aut prodesse uolo seu delectare poetas, / illis quosque colo flores iubeo fore metas. / („Ich möchte den Dichtern entweder nützlich sein oder sie erfreuen, und ich verordne ihnen als Ziel die Blumen, die ich pflege“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29v, Vers 33 f. 97 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17, Verse 11–13. Vgl. Dante Alighieri, Divina Commedia, Inferno, IX, 61–63, S. 282 f.: O voi ch’avete li ’ntelletti sani, / mirate la dottrina che s’asconde / sotto ’l velame de li versi strani /. 98 Zur Auffassung der Bedingtheit des ästhetischen Vergnügens von hermeneutischer Mühe vgl. Giovanni Boccaccio, Trattatello in laude di Dante (1. Redaktion), § 152 f., S. 475: Manifesta cosa è che ogni cosa, che con fatica s’acquista, avere alquanto più di dolcezza che quella che vien senza affanno. La verità piana, perciò ch’è tosto compresa con piccole forze, diletta e passa nella memoria. Adunque, acciò che con fatica acquistata fosse più grata, e perciò meglio si conservasse, li poeti sotto cose molto ad essa contrarie apparenti, la nascosero; e perciò favole fecero, più che altra coperta, perché la bellezza di quelle attraesse coloro, li quali né le dimostrazioni filosofiche, né le persuasioni avevano potuto a sé tirare. Che dunque direm de’ poeti? terremo che essi sieno stati uomini insensati, come li presenti disensati, parlando e non sappiendo che, gli giudicano? Certo, no; anzi furono nelle loro operazioni di profondissimo sentimento, quanto è nel frutto nascoso, e d’eccellentissima e d’ornata eloquenzia nelle cortecce e nelle frondi apparenti. Und Giovanni Boccaccio, Genealogie deorum gentilium, XIV, xii, Bd. 2, S. 1430–1437. Vor dem Hintergrund, dass sich das Bildkonzept Giovanni Boccaccios an dasjenige des Convenevole anschließt – vgl. dazu Kap. 3.1 und Kap. 4.1 –, sei hier ausschließlich auf Boccaccio verwiesen und nicht auch auf die bekannten Passagen aus dem Werk Francesco Petrarcas, der eine von Convenevole divergierende Bildauffassung vertritt. 99 Vgl. komplementär dazu Kap. 3.1 mit den bildlich-textuell ausgestellten Geltungsansprüchen eines fiktionalen Artefaktes unter den Bedingungen der Fiktionalität, das heißt den Anspruch der Ästhetisierung des Artefaktes.
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[…], / est ubi floretum redolens et cernere letum. / Hoc et radices habet: o quas discere dices / nomina fors harum cupiens doceas et earum. / 100 („[…], wo ein Blumengarten ist, duftend und heiter wahrzunehmen. Dieser hat auch Wurzeln: Du wirst sagen, du wollest sie erfahren, aber vielleicht magst du die Namen dieser und jener nachweisen“).
Zunächst wird an den Faktor des delectare der des movere in tropologischer Spiegelung gebunden, insofern der Wunsch des Rezipienten angesprochen wird, die Wurzeln des in seiner ästhetischen Erscheinung so angenehmen Gartens zu erfahren, das heißt die in der fiktiven Dichtung verborgene Bedeutung.101 Indem die semantischen Strukturen indes nicht gänzlich aufzulösen sind (nomina fors harum doceas et earum), gleichzeitig diesen Versen aber die Ankündigung vorausgeht, dass der Garten eine vierfache Art habe, zeigt sich nachdrücklich, dass der poetische Text keineswegs in einer theologisch motivierten Allegorie aufgeht. Damit ist als Garant für die Wahrheitsfindung weniger die Theologie als vielmehr die Philosophie zu erachten.102 Der damit zur Geltung gebrachte dritte Faktor des prodesse ermöglicht schließlich die Ausbildung der programmatischen Verschränkung von Poetik und philosophischer Erkenntnis. So heißt es in Analogie und zugleich in Absetzung zur Theologie: Quam bene Psalmista quam dulciter instruit ista / doctrina leta metro referente poeta / iste. […] /103 („So gut der Psalmist lehrt, so sanft [lehrt] dieser Dichter mit dieser blühenden/fruchtbaren Lehre, dargelegt in metrischer Form“).104
Neben der Herausstellung des Wahrheitsanspruchs der eigenen Dichtung durch den Begriff der doctrina und die im Modus des Vergleichs evozierte Ranggleichheit mit dem
100 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17, Verse 8–10. 101 Vgl. Dantes Ausführungen in Convivio, II, i, 3–4, S. 65, wo er in der Orpheus-Passage dem weisen Leser virtus zuschreibt, insofern der ‚Beweggrund‘ zur Lektüre des allegorischen Textes aus dessen tugendhaftem Bestreben der Wahrheitsfindung resultiert und in dessen vernünftigem Leben in Wissenschaft und Kunst (vita di scienza e d’arte) fundiert ist. Es wäre zu erörtern, inwiefern das auf textueller Ebene tropologisch gespiegelte movere in der sich anschließenden Bildfolge visuell sinnfällig gemacht ist. Denn dem in den Versen angesprochenen Robert von Anjou sind die sieben Tugenden, Septem Artes Liberales und schließlich die neun Musen zugeschrieben, so dass er als Weiser für die allegorische Lektüre prädestiniert erscheint, um die Wahrheit unter dem schönen Schleier zu erkennen. 102 Die Bedeutung, die der Philosophia in den Regia Carmina zukommt, wird insofern ersichtlich, als sie in monumentaler bildlicher Darstellung erscheint und ihr dabei das Anrecht beigemessen ist, ein ganzes Folio für sich allein in Anspruch zu nehmen (fol. 27). Die Personifikation der Theologie hingegen ergreift in den Regia Carmina weder das Wort noch ist sie bildlich dargestellt. 103 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17, Verse 20–22. 104 Die Analogien zu Dantes Diktum in der Epistola XIII scheinen evident. Denn zum einen ist die Commedia als opus doctrinale (§ VI) bezeichnet und ihr damit nicht allein der Status eines poetischen Werkes zugeschrieben, sondern auch der eines Werkes der Philosophie. Zum anderen erläutert Dante eine Sinnebene mit einem Passus aus den Psalmen. Vgl. auch Dante Alighieri, Divina Commedia, Inferno, IX, 62 f., S. 283: […] la dottrina che s’asconde / sotto ’l velame […] /.
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Psalmisten ist ein letztes Mal und in doppelter Weise die Bedeutung der ästhetischen Gestalt neben dem lehrreichen Nutzen betont. Denn zum einen wird eben nicht nur von einer doctrina gesprochen, sondern explizit von einer doctrina leta. Zum anderen wird es als Offensichtlichkeit bezeichnet, dass der „frühlingshafte Kräutergarten voll Anmut nützt“ (uernans herbetum patet hoc prodesse facetum)105. Der Nutzen lässt sich allerdings nicht aus dieser Textpassage erschließen. Er ist vielmehr allein durch das Betrachten gemalter Bilder zu gewinnen, die durch einen intratextuellen Bezug mit den Versen auf fol. 17 in Zusammenhang gebracht sind. Es handelt sich um die beiden Gartenbilder, die auf fol. 15v zu sehen sind106 (Taf. 22): Die Worte floretum redolens et cernere letum („ein Blumengarten, duftend und heiter wahrzunehmen“)107 finden sich nicht nur auf fol. 17, sondern auch in der Schriftzeile über der zweiten Miniatur. Hinzu kommt, dass die Verse hoc est pometum bina bonitate repletum / alborei, generis depicti tegmine ueris /108 insbesondere mit der oberen Miniatur – einem gemalten Obstgarten, der zwei Arten von Pflanzen zeigt, nämlich Bäume und Blumen – in Verbindung gebracht werden können, fasst man das Wort depicti im wörtlichen Sinn auf. Gerade in Bezug auf die Bilder erweist sich der Begriff der doctrina als bedeutsam, insofern er zugleich auch eine Rückbindung an das zuvor postulierte quaternum genus ermöglicht und sich somit an dieses Begriffspaar die Vorstellung semantischer Strukturen bindet, die jenen der Heiligen Schrift entsprechen. Die dichtungstheoretische Reflexion, in der das poetische integumentum mit dem biblischen Modell des vierfachen Schriftsinns verschränkt ist, ist also zu den Bildern des fol. 15v in Beziehung zu setzen. Dichtungstheoretische Fragen der Verschränkung von Fiktionalität109 und Wahrheit sind auf die Malerei übertragen und bildtheoretische Gesichtspunkte. Das heißt, dass die dichtungstheoretische Reflexion auch als eine Allegoretik der Malerei zu begreifen ist. So betrachte ich dieses Folio hinsichtlich des Gewichtes der in dem Ikonotext verborgenen Wahrheit, die aufgrund der hybriden Konstruktion von Dichtungs- und Bibelallegorese als äquivalent zur Offenbarungswahrheit der Heiligen Schrift ausgestellt wird, und des ästhetischen Stellenwertes ihres fiktionalen Darstellungsmodus.110 Während die linke Hälfe des Folio mit einer Textkolumne versehen ist, deren inhaltliche Aufgliederung durch zwei Fleuronnée-Initialen markiert ist, wird 105 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17, Vers 40. 106 Hinsichtlich des Bezuges zwischen den Bildern auf fol. 15v und der besprochenen Textpassage auf fol. 17 ist anzumerken: Die Verse, die auf den als reine Textseiten gestalteten fol. 16 und 16v fixiert sind, bilden insofern eine Fuge, als sich in ihnen eine Rede von Blumen entfaltet, die hier als Allegorien der menschlichen Qualitäten erscheinen und als Sinnbild panegyrischer Rede. Damit richten sie sodann den Blick vom tugendhaften Wesen des Königs auf die politischen Missstände, die durch das Handeln des Königs aufgelöst werden sollen. 107 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17, Vers 8. 108 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17, Vers 1 f. 109 Den hier verwendeten literaturspezifischen Begriff der Fiktionalität verstehe ich nach Warning, Fiktion und Transgression, demnach Fiktionalität als eine „systematische Kategorie“ aufgefasst wird, „mit der die situative Rahmung des Textes bezeichnet ist“ und die das Bewusstsein der fiktiven Beschaffenheit des Fingierten impliziert (Zit. aus Peters/Warning, Vorwort, S. 14). Vgl. Kablitz, Kunst des Möglichen; Müller, Literarische und andere Spiele. 110 Vgl. zu diesem Problemzusammenhang in Bezug auf Dante zuletzt Kablitz, Bella menzogna, S. 222– 245; Oster, Schleier im Text, S. 25–81.
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die rechte Foliohälfte von zwei Miniaturen ausgefüllt. Sowohl in der Länge als auch in der Breite überschreiten sie den Schriftspiegel, in der Breite dergestalt, als sie genau die Hälfte des Folio einnehmen. Bildlich dargestellt sind zwei vertikal angeordnete viereckige Gartenbilder, jedes eingerahmt. Als gerahmte Gärten, die jeweils ein symmetrisch strukturiertes Blumenfeld sowie eine üppige Flora aufweisen, zeigen sie eine analoge formal-kompositorische Struktur, wobei die untere Miniatur etwas größer ist. In ihrer Komposition einer blühenden und fruchtbaren Vegetation, die durch ihre Rahmung geradezu umfriedet ist111, stellen die Bilder das aus der Predigt- und Traktatliteratur bekannte visionäre Vorstellungsbild vom hortus conclusus sinnfällig vor Augen.112 Insofern das Bild des umfriedeten und blühenden Gartens in der geistlichen Allegorese das Paradies und die erlöste Seele bezeichnet113, bedeutet dies hinsichtlich des Schriftsinnschemas, dass die pikturale Darstellungsebene der Bilder den sensus anagogicus beschreibt. Mit sich anschließender Lektüre der vier epideiktischen Verse, die zwischen den beiden Bildern fixiert sind und würdigend auf diese verweisen, zeigt sich aber, dass die Gärten nicht nur ein Vorstellungsbild des Paradieses vor Augen stellen. Sie bezeichnen vielmehr in etymologischem Rückgriff die Kommunen Prato und Florenz:
111 Die fundamentale Bedeutung der Rahmung bzw. ‚Umfriedung‘ des Gartens für die Semantik der Bilder ermisst sich insbesondere auch darin, dass die beiden Miniaturen signifikanterweise – von einer Ausnahme abgesehen – die einzigen des gesamten Kodex sind, die eine Rahmung aufweisen. Allein die auf den Folia 6–8 dargestellten Engelhierarchien und Auserwählten sind jeweils in rahmende Bildfelder oder Architekturen eingestellt. 112 Das Bildformular des stets durch einen Zaun oder eine Mauer umfriedeten hortus conclusus ist nach Millard Meiss in der Malerei erst im ausgehenden Trecento in Norditalien entstanden. Meiss, Painting in Florence and Siena after the Black Death, S. 140; vgl. Eva Börsch-Supan: Garten, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Freiburg 1970, Sp. 77–81. Mir ist zumindest eine in brauner Tinte ausgeführte Federzeichnung in einer Speculum humanae salvationis-Handschrift bekannt (München, Bayerische Staatsbibliothek, clm. 146, fol. 6), deren Entstehung ins 2. Viertel des 14. Jahrhunderts datiert und nach Bologna verortet wird. Siehe Ulrike Bauer-Eberhardt: Die illuminierten Handschriften italienischer Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek, Teil 1: Vom 10. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Textband, Wiesbaden 2011, Nr. 207, S. 220 f. und Tafelband, Abb. 188; Gerhard Schmidt: Rezension zu Willibrord Neumüller: Speculum humanae salvationis. Vollständige Faksimile-Ausgabe des Codex Cremifanensis 243 des Benedikterstiftes Kremsmünster, Kommentar, Graz 1972. Nachdruck aus Kunstchronik 27, 1974, S. 152–156, 161–166; mit einem Nachtrag von 2003, in: Gerhard Schmidt: Malerei der Gotik. Fixpunkte und Ausblicke, Bd. 2: Malerei der Gotik in Süd- und Westeuropa. Studien zum Herrscherporträt, hg. v. Martin Roland, Graz 2005, S. 91–100, hier S. 98 f.; Evelyn Silber: The Reconstructed Toledo Speculum Humanae Salvationis. The Italian Connection in the Early Fourteenth Century, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 43, 1980, S. 32–51; siehe auch Jules Lutz, Paul Perdrizet (Hgg.): Speculum humanae salvationis. Texte critique. Traduction inédite de Jean Miélot (1448). Les sources et l’influence iconographique principalement sur l’art alsacien du XIVe siècle, Mühlhausen 1907. Die Miniatur zeigt einen von einer hohen Mauer umfriedeten Garten, der mit Bäumen und blühenden Blumen versehen ist und zudem einen Brunnen zwischen den Bäumen enthält (Abb. 29). 113 Zur steten Betonung der Umfriedung des Gartens in den geistlichen Gartenallegorien und Bedeutung des hortus conclusus in der Predigt- und Traktatliteratur siehe Dietrich Schmidtke: Studien zur dingallegorischen Erbauungsliteratur des Spätmittelalters. Am Beispiel der Gartenallegorie, Tübingen 1982. Zur Bedeutung der hier visualisierten Begriffe campus, flos bzw. flores Hennig Brinkmann: Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, S. 151–153.
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Hic ortus, pratum, […] / […]. / Hoc est floretum, redolensque coloreque letum. / 114 (Diese Wiese, Prato, […]. Dies ist Blumengarten, duftend und erfreuend durch die Farbe“).
Aufgrund der epideiktischen Verse und des Konnex des Ikonotextes zu den Versen auf fol. 17 entfaltet sich somit eine oszillierende Deutungskomplexität bezüglich allegoretischer Systematik. Denn zunächst findet in dem Gefüge des Ikonotextes eine Umkehrung des Schriftsinnschemas statt, wird doch dem durch die ikonische Motivik bezeichneten sensus anagogicus anhand der epideiktischen Demonstrativ-Konstruktion eine Verweisfunktion auf einen sensus allegoricus zugeschrieben. Die Bilder, welche die ranghöchste Stufe im allegoretischen System bezeichnen, verweisen nun auf den sensus historicus, auf den irdischen Zustand der Kommunen Prato und Florenz. Während also der transzendente sensus anagogicus zum sensus litteralis wird, wird ein historischer, diesseitiger Zustand zum sensus allegoricus. Mit anderen Worten: Durch die Umkehrung des Schriftsinnschemas gerät der die Eigentlichkeit bezeichnende sensus anagogicus zur verhüllenden, die Wahrheit in sich tragenden figura und der nun zum sensus allegoricus erhobene irdische Zustand zur eigentlichen Bedeutung. Das tugendhafte Wesen der Kommunen Prato und Florenz wird somit im Bezugsfeld allegorischer Systematik in doppelter Weise bezeugt: zum einen dadurch, dass sich der paradiesgleiche Zustand der kommunalen Gemeinwesen von Prato und Florenz als die den Bildern enthaltene Wahrheit erweist. Zum anderen stellen die Bilder die ihnen einverleibte Wahrheit in prophetischer Weise bereits als transzendente Wirklichkeit aus. Zwar erfährt diese Umkehrung des Schriftsinnschemas, die dem Gefüge des Ikonotextes inhärent ist, eine Akzentuierung durch die epideiktischen Verse auf fol. 17, die den Gartenbildern ein quaternum genus zuschreiben. Doch ermöglichen die den Bildern zugrundeliegende etymologische Denkform sowie das Bildprogramm auch eine Rückübertragung der allegoretischen Struktur in das tradierte Schriftsinnschema und so eine Lesart der Gartenbilder, in der die typologische Figurahaftigkeit der bezeichneten Kommunen selbst modelliert wird. Dass der Bild-Text-Gestalt zur Kennzeichnung der Kommunen eine etymologische Denkform zugrunde liegt, zeigt sich sowohl in den verwendeten Begrifflichkeiten als auch in der ikonischen Motivik und Farbe. Dabei ist nicht zuletzt deren formale Bezugnahme zueinander zur Sinnstiftung eminent. So lässt sich in Bezug auf die obere, die Kommune Prato versinnbildlichende Miniatur festhalten, dass das Bild – gemäß der etymologischen Denkform – nach den Eigenschaften des Bezeichneten, der fruchtbaren, blühenden Wiese/Gartens gestaltet ist – hic ortus, pratum siue campus.115 Auf die fundamentale Bedeutung, die zur visuellen Sinnstiftung der Farbe zukommt, weist nicht nur das Prädikat fert hin:
114 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Verse 45–48. 115 Ernst Robert Curtius hat diese Denkform der In-Beziehung-Setzung von Zeichen und Bezeichnetem als „Etymologie als Denkform“ bezeichnet. Curtius, Europäische Literatur, S. 486–490.
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[…] pometum […] / […] /poma dat et flores pomorum fertque colores / 116 („Er gibt Früchte und Blumen und zeigt die Farben der Früchte“).
Die sprachlich hervorgerufene Hinwendung des Blicks auf die Farben der Früchte, die sich in Gelb und Rot, aber auch in Braun dem Auge darbieten117, gewinnt vielmehr durch eine interpikturale Bezugnahme Bestimmtheit. So stellt auf fol. 23v (Taf. 32) ein Fahnenträger dem Betrachter eine Fahne mit den heraldischen Farben Pratos, nämlich Gelb und Rot, vor Augen. Dass sowohl der Farbdisposition als auch der ikonischen Motivik der Bilder eine systematische Eindrucksästhetik, eine ästhetische ratio zugrunde liegt, wird durch die analoge Systematik des zweiten Gartenbildes bestätigt: Die in den beiden unteren Versen enthaltenen Worte flores und floretum (uirginei flores […]. / Hoc est floretum […] /)118, deren gleicher Wortstamm in seiner doppelten Erscheinung und zudem durch eine achsiale Anordnung augenfällig wird, verweisen auf die Etymologie der Florentia, der Kommune Florenz – deren Name leitet sich von floreo ab. Nicht nur zeigt die unmittelbar unter diesen Versen platzierte Miniatur einen blühenden Blumengarten (Hoc est floretum, redolensque coloreque letum /)119, sondern die uirginei flores, die florentinische Wappenblumen, erfahren eine visuelle Akzentuierung; sie bilden mit den Worten flores und floretum eine vertikale Achse. Zudem lässt der wiederholt textuell vorgebrachte Hinweis auf die Bedeutung der Farben des gemalten Gartens den Rezipienten sein Augenmerk erneut auf die Farbgebung richten; nun auf die uirginei flores, die Lilien, die in den heraldischen Farben von Florenz, Rot und Weiß, koloriert sind.120 Der hermeneutische Gedankengang, dass diese beiden Bilder zu Trägern eines zukünftigen, von ihnen erfassten heilsgeschichtlichen Ereignisses werden, resultiert vorderhand aus der unmittelbar vorausgehenden Bildfolge der Folia 10v bis 11v (Taf. 16–18). In dieser treten die Figuren der Italia und Roma supplizierend dem thronenden Robert von Anjou entgegen, so dass die nachfolgenden Gartenbilder in diesem Sinnzusammenhang als (typologische) Darstellung des durch ihn erlösten Italiens erscheinen. Das in den Gartenbildern bezeichnete tugendhafte Wesen der pratensischen und florentinischen Kommunen wird mithin zur historischen figura, zur Trägerin eines typologischen, sich nach ihrer Verheißung erfüllenden senus allegoricus sowie eines ihr gleichsam einverleibten sensus moralis und sensus anagogicus. Dass die Bilder eine zeitgeschichtliche Ebene implizieren, markieren die zwischen ihnen inserierten epideiktischen Verse semantisch wie grammatikalisch, indem das Präsentische betont wird: Hic ortus, pratum siue campus, rex, tibi gratum / dat solamen: habe, quia uotum fert sine tabe. / Uirginei flores optant tibi semper honores. / Hoc est floretum, redolensque coloreque letum. / 121 116 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 17, Verse 1, 3. 117 Gemäß der Farben der Früchte wächst links ein Orangenbaum, daneben in der Mitte der Baumreihe eine Dattelpalme, die schließlich rechts von einem Granatapfelbaum flankiert wird. 118 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 47 f. 119 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 48. 120 Zu den heraldischen Farben und der Semantik der Florentia siehe Kap. 4.2. 121 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Verse 45–48.
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(„Dieser Garten, Wiese oder Feld, gibt dir, König, angenehmen Trost: Nimm ihn an, weil er ein Gelöbnis [der Treue] ohne Makel trägt. Die jungfräulichen Blumen wünschen dir immer Ehren. Dies ist ein Blumengarten, duftend und erfreuend durch die Farbe“).122
Das tugendhafte Wesen der Kommunen wird insbesondere in den Wiesenflächen sinnfällig. Die regelmäßig angeordneten Blumen versinnbildlichen Eintracht (concordia) und Gleichheit (aequalitas) als grundlegende Werte des bonum commune der beiden Kommunen123; Werte, in denen die neu errichtete politische Ordnung Italiens fundiert sein wird. Dass auf diesen, Eintracht und Gleichheit demonstrierenden Blumenwiesen die Tugenden ‚fußen‘, sich die Tugendhaftigkeit der Gemeinwesen auf der Basis dieser Ordnung zu entwickeln vermag124, erschließt sich durch die Lektüre der links neben den Bildern fixierten Verse. In diesen ergreifen die sieben Tugenden das Wort, so dass die nun ersichtliche ikonographische Leerstelle der beiden ‚Tugendgärten‘ mit den durch sprachliche Evokation imaginierten Tugendpersonifikationen überblendet wird, und sie zugleich durch die zu vernehmenden Stimmen gleichsam beredt werden.125 Die Tugendhaftigkeit, 122 1313 hatten sich die Kommunen Prato und Florenz in die Signoria König Roberts von Anjou begeben und unterstellten sich in den Jahren 1326 und 1327 aufgrund von äußerer Bedrohung der Signoria Karls von Kalabrien. Siehe dazu Kap. 2.1, Anm. 2. Zum Verhältnis von Neapel und Florenz in den 1320er-Jahren siehe Davidsohn, Geschichte von Florenz, S. 345–552; Caggese, Roberto d’Angiò e i suoi tempi, Bd. 2, S. 75–162. 123 Zum Konzept „konsensgestützter Herrschaft“ vgl. Ulrich Meier, Klaus Schreiner: Regimen civitatis. Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Ordnung in alteuropäischen Stadtgesellschaften, in: Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Klaus Schreiner, Ulrich Meier, Göttingen 1994, S. 11–34; Ulrich Meier: Der falsche und der richtige Name der Freiheit. Zur Neuinterpretation eines Grundwertes der Florentiner Stadtgesellschaft (13.–16. Jahrhundert), in: ebd., S. 37–83 mit den grundlegenden Forschungspositionen zur bürgerlichen Freiheit und Florenz. 124 Vgl. hinsichtlich der reflektierten und ausgestellten Schönheit der Bilder, welche die Kommunen repräsentieren, Helene Wieruszowski: Art and the Commune in the Time of Dante, in: Speculum 19, 1944, S. 14–33, hier S. 31 f. Wieruszowski verweist auf die in Textdokumenten aufscheinende Bedeutung, die der Schönheit der kommunalen Bauten und deren Ausstattung beigemessen wurde, insofern diese dergestalt die politische und ethische Eignung der repräsentierten Organe zeigen. Siehe dazu eingehender Krüger, Bildlicher Diskurs und symbolische Kommunikation. 125 Zur Ikonographie des Tugendgartens siehe Ellen Kosmer: Gardens of Virtue in the Middle Ages, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 41, 1978, S. 302–307. Insofern ein wesentliches ikonographisches Merkmal zeitgenössischer Darstellungen von Tugendgärten ein Brunnen oder eine Quelle ist, welche die Tugenden umgeben, sei auf ein weiteres Element der bildlich-textuell erzeugten Semantik des Tugendgartens verwiesen: Auf fol. 23v (Taf. 32) spricht die repräsentierte Kommune Prato zu Robert von Anjou folgende Worte, die den heraldischen Farben Pratos unmittelbar zugeordnet sind: Semper ego signa sequar et tua iussa benigna, / semper ubi digna secus amnes sunt sua signa, / ubere que plena sunt fructu sunt et amena, / est ubi septena uirtutum uivida uena / („Ich werde immer [deinen] Zeichen folgen und deinen gütigen Befehlen, wo immer entlang der Ströme seine würdigen Zeichen sind [d. h. jene des Glaubens], die voll von Reichhaltigkeit und lieblich sind durch die Frucht, wo die kräftige Quellader der sieben Tugenden ist“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23v, Verse 13–16. Liest man diese Verse in Bezug auf das obere Gartenbild, das als figura des durch König Robert befriedeten Italiens erscheint und dieses als Antitypus in sich trägt, überlagern sich Bild und Text: Das durch Robert von Anjou geführte Reich gründet auf der christlichen Doktrin und ist so mit der „kräftige[n] Quellader der sieben Tugenden“ (septena uirtutum uivida uena) versehen, was sich wiederum rückwirkend auf den ortus pratensis übertragen lässt. Die „Ströme“ (amnes) sind hier nach
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die den Kommunen Prato und Florenz einverleibt ist, lässt diese mithin zum Exemplum für die neu zu errichtende Herrschaftsordnung Italiens werden.126 Hierbei ist gerade auch an der peinlich genauen Ordnung der Wiesenflächen bedeutsam, dass die Tugenden in ihrer an König Robert gerichteten Rede auf den schändlichen Zustand Roms, des caput orbis, zu sprechen kommen und den damit einhergehenden hilfsbedürftigen Zustand Italiens, das „schlimmer als durch Krankheiten“ erschöpft sei (Urbs caput est orbis, cuius sunt languida morbis / membra soli peius. […] /)127: Rom schmähe die „süßen Früchte des Friedens“ ([…] Roma conculcat dulcia poma / pacis […] /)128, sei voll von Streit der einst übereinstimmenden Quiriten (Concordes dites set erant modo lite Quirites. /)129 und wolle „mehr durch Schlamm als durch die Orte der Tugend, des Friedens und des eigenen Heils“ gehen ([…] Quia negligit optima norme, / iussa Dei primum, cupiens plus carpere limum / quam loca uirtutis pacis proprieque salutis. /)130. Denn die Worte bezeichnen den Zustand der discordia und imaginieren damit das Bild eines versumpften, ordnungslosen Ortes131, der der concordia Pratos und Florenz kontrastiv gegenübersteht. Die Rezeption des Textes lässt den Beginn des Folio zu einem figürlichen werden, sowohl die Semantik als auch die Medialität betreffend, wobei die beiden Ebenen verschränkt sind. Zum einen erhält die Darlegung des sündhaften Zustands der Roma durch
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Joh 7, 38 als Zeichen des lebendigen Glaubens ausgelegt. Dort spricht Christus: qui credit in me sicut dixit scriptura flumina de ventre eius fluent aquae vivae („Wer an mich glaubt, aus dessen Innerem werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen“). In dem hier erörterten Zusammenhang sei in Verschränkung zu Joh 7, 38 auf Jes 58, 11 hingewiesen: et requiem tibi dabit Dominus semper […] et eris quasi hortus inriguus et sicut fons aquarum cuius non deficient aquae („Und der Herr wird dir Ruhe geben immerdar […] und du wirst sein wie ein bewässerter Garten, wie eine Wasserquelle, deren Wasser nicht versiegt“). Biblia sacra: iuxta Vulgatam versionem; Übersetzung aus Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Mit dem Urtexte der Vulgata, Bd. 3 und 2. Exemplarisch seien folgende Darstellungen von Tugendgärten genannt: Fresko im Canto dei Pecori al Boldrone in Florenz (um 1340) (Abb. 30); Zucchero Bencivenni: Tractatus de virtutibus et vitiis, Rom, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Barb. lat. 3984, fol. 39 (um 1325–1350) (Abb. 31); Laurent de Bois: La Somme le Roi, London, British Library, Add. 54180, fol. 69v (um 1290–1295) (Abb. 32); Giovanni Boccaccio: Decameron, Paris, Bibliothèque Nationale, ital. 482, fol. 4v. In diese Auslegung fügen sich die bekannten Verse von fol. 17: Pometum uernum tenet hoc genus, ecce, quaternum, / scilicet herbarum uirtutes fert uariarum, / est ubi, si tela feriunt, optata medela / („Dieser frühlingshafte Obstgarten enthält, siehe da, eine vierfache Art, das heißt er bringt die Tugenden der verschiedenen Kräuter hervor, wo das gewünschte Heilmittel ist, wenn die Waffen zustoßen“). Zum Bezugsfeld des Gartens zum friedlichen Reich und der zugrundeliegenden sorgsamen Kultivierung vgl. Dante Alighieri, Divina Commedia, Purgatorio, VI 103–105, S. 188: Ch’avete tu e ’l tuo padre sofferto, / per cupidigia di costà distretti, / che ’l giardin de lo ’mperio sia diserto /. Vgl. Dante Alighieri, Monarchia, II, iii, 17, S. 373, wo Italien Europe regione nobilissima genannt wird. Zur gleichsam selbstredenden Referenz, die dem Sinnfeld eines paradiesischen Zustands und der Errichtung eines friedlichen Reiches inseriert ist, vgl. Vergils Vierte Ekloge; vgl. Kap. 2.1. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 21 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 8 f. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 13. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Verse 10–12. Zu den hier angesprochenen innerstädtischen Zuständen Roms siehe grundlegend Eugenio DupréTheseider: Roma dal comune di popolo alla signoria pontifica (1252–1377), Bologna 1952, S. 423– 481.
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die Rede der Tugenden einen figürlichen Status: Die Tugenden stellen als Subjekte, die dem die Eigentlichkeit bezeichnenden Ort inkorporiert sind, den beschriebenen sündhaften Ort als hilfsbedürftiges Objekt vor Augen. Dass der lasterhafte Ort das Uneigentliche darstellt, erschließt sich mit fortschreitender Lektüre. Denn am Ende des Abschreitens der Textspalte stellt sich dem Rezipienten die Eigentlichkeit dar: auf medialer Ebene, indem nun das sprachlich imaginierte Bild durch das gemalte Bild abgelöst wird132; auf semantischer Ebene, indem nun das Ziel der Handlungsaufforderung, die durch die Tugenden an den König herangetragen wurde, dezidiert vor Augen gestellt ist: die Erlösung der Roma aus dem sündhaften Zustand und die Befriedung Italiens.133 Dabei erfährt die Befriedung Italiens als das Eigentliche zugleich durch das den Bildern eingeschriebene vierfache Schriftsinnschema eine exegetische Beglaubigung. Denn die Gartenbilder erweisen sich in dieser Lesart als visuelle Erfüllung der verheißenden figurae Pratos und Florenz und liegen gemäß der bibelexegetischen Systematik als allegoria in verbis in ihrer historischen Faktizität unverhüllt offen, sind in ihrem Wirklichkeitsstatus evident. An diese Bezeichnung der herbeigeführten irdischen Glückseligkeit ist letztlich jene der ewigen Glückseligkeit geknüpft.134 So zeigen die Bilder in verdichteter Weise die Verschränkung des befriedeten Italiens auf der Ebene des sensus allegoricus mit dem eschatologischen Sinn des sensus anagogicus, der im Jenseits sich erfüllenden Verheißung der befreiten Seele. Wesentlich ist, dass die systematisch-allegorische Ebene mit ihren Semantiken politischer Aussage einmal und die figurative andermal durch die Dichtung miteinander verknüpft sind: Auf Ersterer ist die unversehrte ‚Natur‘ der historischen Kommune Prato und ihr sich daraus speisender Status der verheißenden figura herausgestellt. Letztere ist angesprochen durch die Worte, welche die Kommune Prato in den letzten beiden Versen der linken Textspalte spricht, also unmittelbar vor den Gartenbildern:
132 In Rekurs auf die vorausgegangene Anrufung an Gott, den erwünschten Frieden zu sehen (cernere) – O Deus […] / […] / […] da cernere pacem, / quam petimus […] / –, erhält das gemalte Bild, das den friedlichen Ort materialiter vor Augen stellt, noch einmal sein besonderes Gewicht. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Verse 31–34. 133 Auxiliare […] romanos. […] / […] / […] cito propera, quia res petit ipsa seuera. / […]. / Ergo rogant regem te, qui scis ponere legem, / […] / accellerare uiam […], / ut sedare queas ytalas quascunque plateas, / urbes et terras, omnes extinguere guerras. / („Hilf […] den Römern. […] beeile dich sogleich, weil die schwerwiegende Situation selbst es erfordert. […]. Deshalb bitten sie dich, König, der du weißt das Gesetz aufzustellen, […] deinen Weg zu beschleunigen, damit du jede Gasse, Stadt und Land Italiens befrieden kannst, auslöschen jeden Krieg“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Verse 15– 29. 134 Die hierarchische Abstufung wird auch noch einmal durch die Worte der Tugenden sinnfällig, wenn sie vor dem Hintergrund der gemalten Gartenbilder in steigernder Abfolge von den „Orten der Tugend, des Friedens und des eigenen Heils“ (loca virtutis, pacis proprieque salutis) sprechen. Zur irdischen und ewigen Glückseligkeit siehe in diesem Zusammenhang insbesondere Dante Alighieri, Monarchia, III, xvi, 7–8, S. 434 f., wo, so sei hier betont, die Glückseligkeit dieses Lebens durch das irdische Paradies versinnbildlicht wird (beatitudinem huius vite per terrestrem paradisum figuratur): Duos igitur fines providentia illa inenarrabilis homini proposuit intendendos: beatitudinem scilicet huius vite, que in operatione proprie virtutis consistit et per terrestrem paradisum figuratur; et beatitudinem vite ecterne, que consistit in fruitione divini aspectus […].
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Allegorische Ikonotexte als Reflexionsfiguren der pictura
Pasce nouis oculos, rex, floribus atque sapore, / ut pascas populos, famis acri flante calore! / 135 („Weide, König, deine Augen an den neuen Blumen und dem Duft, dass du die Völker weidest in der flammenden Hitze des beißenden Hungers!“).
Durch den Imperativ wird zunächst und wiederholt auf den Stellenwert der pikturalen Darstellungsebene verwiesen. Hierbei kommt dem Begriff sapore grundlegende Bedeutung zu, insofern der „Geschmack“ in der bibelexegetischen Tradition den Textsinn meint. In Zusammenhang mit der von Isidor von Sevilla hergestellten generellen Analogie zwischen sapor und sapientia136, derzufolge der Weise fähig ist zur Unterscheidung der Begebenheiten und Gründe durch den Sinn für Wahrheit, impliziert der nachfolgende Verweis auf das Vermögen König Roberts zweierlei Bedeutung: Sein Vermögen, aufgrund seiner ‚Nahrungsaufnahme‘ des Bildsinns Nahrung zu spenden, bedeutet nicht nur, dass das Bild in Analogie zur Heiligen Schrift verschiedene Sinnebenen impliziert. Darüber hinaus ist insbesondere das Erkennen der Wahrheit, die in der figura des ortus pratensis verborgen liegt, durch Robert von Anjou bezeichnet, nach der er die Befriedung der Italia zu vollziehen vermag. Der beschriebenen Text-Bild-Systematik zufolge lassen sich zwei Strukturmodelle erkennen, die dem Ikonotext innewohnen. Während das eine seine Prägnanz aus der synoptisch-visuellen Anordnung gewinnt, ist das andere sukzessiv-textuell disponiert: Der bildlich vor Augen gestellten Gleichzeitigkeit von Schuld und Erlösung in Form des imaginierten sündhaften Ortes einerseits und der die Erlösung versinnbildlichenden gemalten Gartenbilder andererseits137 folgt der zu vollziehende Weg hin zur Erlösung nach. Dieser wird veranschaulicht beim Abschreiten des Textes durch das lesende Auge vom imaginierten sündhaften Ort hin zu den Gartenbildern, welche die irdische wie ewige Glückseligkeit bezeichnen. Demgemäß erweist sich die Gestalt des Ikonotextes als strukturell tropologisch: Zum einen zeigt sich in den Bitten der Tugenden an den König seinen Weg hin zur Befriedung Italiens zu beschleunigen138, die im sensus moralis steckende 135 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 43 f. 136 Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum libri XX, X, 240, o. S.: Sapiens dictus a sapore; quia sicut gustus aptus est ad discretionem saporis ciborum, sic sapiens ad dinoscentiam rerum atque causarum; quod unumquodque dinoscat, atque sensu ueritatis discernat („Sapiens ist von sapor her benannt; weil, wie der Geschmackssinn geeignet ist zur Unterscheidung des Geschmacks der Speisen, so auch der Weise zur Unterscheidung der Begebenheiten und Gründe fähig ist; weil er jedes Einzelne unterscheidet und mit dem Sinn für Wahrheit erkennt“). 137 Die polare Gegenüberstellung lässt einige Bezugsfelder assoziieren, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann: die strukturelle Gegenüberstellung der selva oscura und der divina foresta in der Divina Commedia. Hinsichtlich der Prinzipien des sensus moralis, die der Text-Bild-Struktur reflexiv eingeschriebenen sind, kann an die Psychomachia gedacht werden, insofern die Tugendgärten mit den Gefahren der Laster, deren Folgen imaginiert sind, ‚konfrontiert‘ werden. Diese Auseinandersetzung lässt sich zugleich auf die Ebene des typologischen sensus allegoricus übertragen: Der Sieg König Roberts im Verbund mit den Kommunen Prato und Florenz über die korrumpierte römische civitas und die daraus hervorgehende Errichtung einer friedlichen Herrschaftsordnung ist figural vor Augen gestellt. Schließlich besteht zum Jüngsten Gericht ein Bezug, wenn das Text-Bild-Gefüge die Assoziation des eschatologischen Endpunktes mit seiner antithetischen Disposition von Hölle und Paradies hervorruft. 138 Ergo rogant regem te […] / […] / accellerare uiam […], / ut sedare queas ytalas quascunque plateas, / urbes et terras, omnes extinguere guerras. / („Deshalb bitten sie dich, König, […] deinen Weg zu beschleuni-
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Handlungsanweisung. Zum anderen verschränken sich in der Struktur des Ikonotextes der durch König Robert zu vollziehende Weg der Erneuerung des Erlösungswerkes Christi und reflexiv die Prinzipien des sensus moralis, der die Abkehr der Seele von der Sünde hin zum Heil bezeichnet.139 Es zeigt sich die Bedeutung der genuin medialen, ästhetischen Verfasstheit der Bilder hinsichtlich der Frage nach den ästhetischen Geltungsansprüchen und der Offenbarungsleistung integumentaler Rede beziehungsweise Malerei in Verbindung mit tradierten Ordnungsmustern: Einerseits richten die epideiktischen Hinweise auf die Farben in verschränktem Wirkungszusammenhang mit der poetologischen Reflexion des dichterischen Gewandes das Augenmerk des Betrachters wiederholt auf die gemalte Oberfläche der Bilder. Andererseits widersetzen sich die Bilder, deren Darstellungsebene in ihrer grundlegenden Bedeutung textuell ausgestellt ist140, zunächst einem bibelexegetischen Auslegungsverfahren. So gerät die erneute Betrachtung der vorausgehenden Folia in den Fokus. Diese ermöglichen ein konsistentes hermeneutisches Verfahren im herkömmlichen Sinne. Dabei wird die wiederholte ‚Lektüre‘ und ‚Relektüre‘ der einzelnen, jedoch miteinander zu einer ‚Textur‘ verwobenen Bilder, das wiederholte Hin- und Herblättern der Folia zwingend nötig.141 So wird die Aufmerksamkeit nicht nur auf die ‚Textur‘ der Bildfolge gelenkt, sondern auch auf den performativen Umgang mit der Materialität der Handschrift, das heißt auf die Gemachtheit der Bildordnung. Indem dergestalt die Reflexion des Rezipienten auf den Wahrnehmungsprozess aufgerufen wird, der sich auf die ästhetische Realisierung der sprachlich postulierten Polysemie richtet, tritt die poietische Konkretheit der Bilder in den Vordergrund. gen, damit du jede Gasse, Stadt und Land Italiens befrieden kannst“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Verse 24–29. Vgl. Ez 36, 33–35: haec dicit Dominus Deus in die qua mundavero vos ex omnibus iniquitatibus vestris et habitari fecero urbes et instauravero ruinosa et terra deserta fuerit exculta quae quondam erat desolata in oculis omnis viatoris dicent terra illa inculta facta est ut hortus voluptatis et civitates desertae et destitutae atque suffossae munitae sederunt. („So spricht der Herr, Gott: An dem Tage, da ich euch von allen euren Verschuldungen reinige und die Städte bewohnt mache und das Verfallene wiederherstelle und das verödete Land, das ehedem wüst lag vor den Augen jeglichen Wanderers, wieder bebaut wird, wird man sagen: Dieses Land, das unbebaut war, ist wie der Garten der Wonne geworden und die ehedem verödeten, verlassenen und zerstörten Städte stehen nun wohlgefestigt da“). Biblia sacra: iuxta Vulgatam versionem; Übersetzung aus Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Mit dem Urtexte der Vulgata, Bd. 2. 139 In diesem Sinngefüge ist nicht zuletzt auch die Erlösungssystematik im ekklesiologischen Sinne eingeschlossen, dergemäß mit der Erlösung der Roma als caput orbis diejenige der gesamten Christenheit assoziiert wird. 140 Vgl. Dante Alighieri, Convivio, II, i, 8 f., S. 66 f., wo die Bedeutung des sensus litteralis betont wird, wenn er als Basis zur Erfassung eines tieferen Sinns bezeichnet wird, der in den erdichteten Versen verborgen liegt. 141 Eine solch subtile Struktur, die sich in der Rezeption der Bilder bzw. der Bild-Text-Gestalten derart manifestiert, dass sie bestimmt ist durch die Erfahrung einer Oszillation der semantischen Ebenen der gemalten Bilder, fasst Patricia Oster in ihrer Studie zu Dantes allegorischer Dichtung unter der Formel der „Ästhetisierung des vierfachen Schriftsinns“, die durch eine „oszillierende Deutungskomplexität“ gekennzeichnet sei. Oster, Schleier im Text, S. 55, 80. Zu Dantes Reflexion einer „Sinnvermittlung über das Poetisch-Fiktive“ und die Modellierung der produktiven Teilhabe der ästhetischen Oberfläche an der Sinnerzeugung siehe auch jüngst Patricia Oster: Allegorisches Substrat und ästhetischer Überschuss. Visibile parlare bei Dante und Giotto (und bei Proust), in: Die Oberfläche der Zeichen. Zur Hermeneutik visueller Strukturen in der frühen Neuzeit, hg. v. Ulrike Tarnow, Paderborn 2014, S. 35–52.
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Allegorische Ikonotexte als Reflexionsfiguren der pictura
Daneben lässt sich hinsichtlich der semantischen Geltung der Bilder konstatieren: In der Transgression des vierfachen Bedeutungssinns, der den Bildern dezidiert zugeschrieben ist, werden die bibelexegetischen Muster nicht überwunden. Sie werden vielmehr reflexiv dem Verfahren der ästhetischen Produktion eingegliedert, um so eine neue heilsgeschichtliche Wahrheit zu modellieren: Die gemalten Bilder tragen eine Wahrheit in sich, die der Offenbarungswahrheit der Heiligen Schrift gleichkommt; die pictura wird in Verschränkung mit der poetica zur Künderin einer neuen Offenbarungswahrheit. Indem hier somit die Offenlegung der rhetorischen Konstruktion der biblischen allegoria dem Verfahren der ästhetischen Produktion eingeschrieben ist, wird eine Auseinandersetzung mit Dantes Modell der Divina Commedia greifbar, in der das Schriftsinnschema als exegetisches Verfahren zum Verfahren der ästhetischen Produktion selbst wird.142 Von besonderer Relevanz in diesem systematischen Gebilde ist der figura-Begriff: Zum einen kommt er auf der angesprochenen allegorischen Ebene zum Tragen, indem er sowohl als Zeichen der transzendenten Wirklichkeit und damit das Diesseits als ontologische Wahrheit bezeichnend erscheint als auch – von der entgegengesetzten Seite her kommend – im spezifisch bibelexegetischen Sinn verwendet ist als Verheißung eines zukünftig sich erfüllenden historischen Ereignisses, das göttlicher Vorsehung unterliegt. Zum anderen bezeichnet er gemäß der Verse auf fol. 17 im rhetorisch-poetischen Sinn die fiktive und ästhetisch ansprechend verhüllte Wahrheitsaussage, das integumentum. Dergestalt eignet dem figura-Begriff hier die Verschränkung von fiktionalem Darstellungsmodus und wirklichkeitsdeutender Wahrheit, die in den Bildern, die der inventio des Dichters entsprungen sind, verborgen liegt. Das heißt auch, dass hier die „Sinndeutung der Welt mit den Mitteln einer autonom gedachten Fiktion über die Allegorie“143 betrieben wird. Dass sich dabei die Systematik dieses Modells zu einem geschlossenen Ganzen fügt, liegt fundamental in der programmatischen Transgression des vierfachen Schriftsinnschemas begründet. Damit sei im Hinblick auf ‚Diskurse‘ der Kunst der Dantezeit ausgesprochen: In den Regia Carmina liegt nicht nur aufgrund der ausgestellten Reflexion der Verschränkung des integumentum-Konzepts mit dem biblischen Modell des vierfachen Schriftsinns eine Bezugnahme auf Dantes dichtungstheoretische Äußerungen vor; vielmehr sind die gemalten Bilder beziehungsweise der Ikonotext des fol. 15v – das den formalen Mittelpunkt der Handschrift bildet – in Dantes Transformation des Schriftsinnschemas fundiert. Dergestalt wird Dantes poetologische Kühnheit der Verschränkung von Dichtungs- und Bibelallegorese forciert, indem sie auf die pictura übertragen wird. Damit verschränken sich, wie in der Figur des Pfaus, auch in diesem Ikonotext zwei Seiten: Zum einen baut Convenevole auf der neuen ‚Tradition‘ von Dantes Dichtungskonzeption auf, um eine 142 Grundlegend zur Divina Commedia hier Kablitz, Poetik der Erlösung. Zur Offenlegung der rhetorischen Konstruktion der biblischen allegoria in der Divina Commedia vgl. Anselm Haverkamp: Leo e nubibus. Dantes Allegorie der Dichter zu Zeiten politischer Theologie, in: Cachaça. Fragmente zur Geschichte von Poesie und Imagination, hg. v. Bernhard J. Dotzler, Helmar Schramm, Berlin 1996, S. 108–110; Zygmunt G. Baránski: La lezione di Inferno I. Allegoria, storia e letteratura nella Commedia, in: Dante e le forme dell’allegoresi, hg. v. Michelangelo Picone, Ravenna 1987, S. 79–97. 143 Erich Kleinschmidt: Denkform im geschichtlichen Prozeß. Zum Funktionswandel der Allegorie in der frühen Neuzeit, in: Formen und Funktionen der Allegorie, hg. v. Walter Haug, Stuttgart 1979, S. 388–404, hier S. 392.
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‚Kritik der tradierten Topik‘ zu bieten, welche die Malerei wenig schätzt. Zum anderen indiziert die ästhetische Reflexivität einen Rekurs auf Giotto, das heißt dass der Tenor gleich ist, die künstlerische Ausführung jedoch verschieden: Während Giottos Malerei eine Reflexion ihrer medialen Bedingungen bietet, worin sich ein neuartiges Spannungsgefüge zwischen dem Anspruch der Eigengesetzlichkeit des Bildes und seinem zeichenhaften Gebrauch zeigt144, stellt Convenevole die fundamentale Bedeutung der ästhetischen Gestalt sprachlich heraus und die poietische Konkretheit der Bilder durch die Reflexion komplementärer Medialität von Text und Bild und deren je konstruktiver Anteilhabe an der Veranschaulichung. Als signifikant erweisen sich hier folgende Verse: quam tibi nature speciem dat rexque figure / ortus pratensis […] /145 („und diese äußere Erscheinung der Natur und Figur gibt dir, König, der auf Wiesen wachsende Garten“). Denn die mimetische, im Sinne empirischer Naturnachahmung verstandene, Erscheinung der Bilder (nature species) ist verschränkt mit fiktionaler ästhetischer Schönheit (species figure). Augenscheinlich ist indes, dass sich diesbezüglich eine Diskrepanz zwischen der sprachlich betonten mimetischen und der ornamental anmutenden Gestalt der Malerei zeigt (Taf. 22): Die Gestaltung der Miniaturen ist wesentlich bestimmt durch eine ebenmäßige, wenig naturnahe Ordnung von Blumen und Blattwerk, die – ich beziehe mich hier auf das untere Bild – gebildet ist durch eine Schichtung von vier mal sieben Pflanzen. Diese wiederum sind in sich formal wie farblich symmetrisch und durch eine Vierheit bestimmt: Die vier kleinsten Blätter im Inneren sind in gelblichem Grünton gemalt, die nächstgrößeren, diese überragenden Blätter in Olivgrün, die nächsten vier in einem etwas dunkleren Grünton und die vier größten in Dunkelgrün. Zudem sind zwischen die äußeren Blätter jeweils rote oder blaue Blüten gesetzt. Konstruiert sind diese Blattformation durch das Alternieren einer jeweils horizontalen und vertikalen sowie diagonalen Anordnung. Dadurch ergibt sich, dass jede Blattformation in ihrem äußeren Umriss eine quadratische Form bildet, wobei die Abgrenzung der einzelnen Felder nicht nur durch die Abhebung vom dunklen Grund erzeugt ist, der ein feines zwischenräumliches Raster bildet, sondern zumeist auch durch den farblichen Wechsel der Blüten markiert ist. Dergestalt bildet das Blattwerk eine Ebene, und der Eindruck des Ornamentalen wird durch die Symmetrie der Formen forciert. Einen Bruch erfährt diese ornamentale Flächenordnung in der oberen Bildhälfte, wo sich über der Blumenwiese ein dichter Bestand von blühenden Pflanzen und Buschwerk erhebt, der tiefenräumlich konzipiert und im Blütenbestand mimetisch gestaltet ist: hinter den langstieligen Lilien mit rotem wie weißem Blütenbestand ragen rot und weiß blühende Rosensträucher empor, hinter denen wiederum Baumkronen zu erkennen sind; gleiches gilt für das obere Bild, wo in vorderster Front differenziert ein Orangenbaum, eine Dattelpalme und ein Granatapfelbaum dargestellt sind. Dabei ist hinsichtlich der ästhetischen Gestalt der Miniaturen zu bedenken, dass die bildlich-textuelle Reflexion des Convenevole nicht gleichzusetzen ist mit dem Stil der Bilder, die ein Werk der Werkstatt des Pacino di Bonaguida sind. Insofern offen bleiben muss, ob in der Urfassung des Convenevole eine mimetischere Darstellung der Garten144 Siehe Krüger, Figuren der Evidenz, S. 904–920. 145 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 39 f.
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bilder vorgegeben war, ist die zu beobachtende Spannung zwischen Anspruch und tatsächlicher Form zum einen eine Frage des Stils der Malerei Pacino di Bonaguidas und seiner Werkstatt. So ist die Blumenwiese in der ganzseitigen Miniatur des Tugendgartens auf fol. 39 des Tractatus de virtutibus et vitiis des Zucchero Bencivenni (Rom, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Cod. Barb. Lat. 3984)146 (Abb. 31) in gleichartiger Weise gestaltet wie jene des oberen Gartenbildes. Sie wird um 1325/1350 datiert und gilt als Werk des sogenannten „Master of the Dominican Effigies“, der dauerhafter Mitarbeiter in der Werkstatt Pacino di Bonaguidas war.147 Zum anderen knüpft sich an diese ästhetische Gestalt die Frage, inwieweit sie in der Bildaufgabe begründet ist. Denn es galt, mit dem Paradies sowohl einen transzendenten Ort darzustellen als auch die Tugendhaftigkeit realer Orte zu veranschaulichen. Darüber hinaus war die ästhetisch ansprechende, schmuckhafte Form des integumentum zu versinnbildlichen, die in der Zier der ornamentalen Blumen verbildlicht zu sein scheint. Damit verschränken sich zwei Problemzusammenhänge: einmal jener des Stils der Malerei Pacino di Bonaguidas und der „miniaturist tendency“, der sich von der mimetischen Malerei Giottos unterscheidet und unter anderen Kriterien zu sehen ist148; andermal derjenige der „Naturalisierung der Allegorie“ mit deren Spannungsbezug von realitätshaltiger Allegorie und allegorisch aufgeladener Wirklichkeitsevidenz. In Bezug auf Ersteren und die Erfassung der Kriterien erweist sich als bedeutsam, dass in der Malerei mimetische Elemente aufscheinen, ihr aber zugleich – unabhängig von der Bildaufgabe – eine ornamentale Auffassung zugrunde liegt und so die Malerei nicht in einer empirischen Naturnachahmung aufgeht. Dies zeigt sich nicht nur in der beschriebenen Gestaltung der Gartenbilder, sondern auch in der Figur des Pfaus mit ihrem Spannungs146 Pergament, 26,3 cm x 20 cm; Temperafarben und Blattgold. Siehe zu dem Kodex zuletzt Sciacca (Hg.), Florence at the Dawn of the Renaissance, Nr. 39, S. 198–201 (Allie Terry-Fritsch). 147 Zum „Master of the Dominican Effigies“ siehe Richard Offner: A Critical and Historical Corpus of Florentine Painting, Sect. 3, Vol. 7: The Fourteenth Century: The Biadaiolo Illuminator, Master of the Dominican Effigies, New York 1957; Boskovits, A Critical and Historical Corpus of Florentine Painting, Sect. 3, Vol. 9, S. 54–56; Kanter u. a. (Hgg.), Painting and Illumination in Early Renaissance Florence, S. 56 f.; Laurence B. Kanter: Maestro delle Effigi Domenicane, in: Dizionario biografico dei miniatori italiani. Secoli IX–XVI, hg. v. Milvia Bollati, Mailand 2004, S. 560–562; zur Zusammenarbeit mit Pacino di Bonaguida zuletzt Sciacca, Pacino di Bonaguida and his Workshop, S. 297–300. Vgl. auch die Darstellung der Lilie und des Strauches in dem Blatt mit der Trinität, das ursprünglich zum Laudario der Compagnia di Sant’Agnese von Santa Maria del Carmine in Florenz gehörte (New York, Pierpont Morgan Library, M. 742), das in Pacinos Werkstatt um 1340 angefertigt wurde (Abb. 14). Siehe dazu Kap. 1.2. 148 Boskovits, A Critical and Historical Corpus of Florentine Painting, Sect. 3, Vol. 9, S. 12: „the inner geography of the non-Giottesque orbit is still far from being clearly defined. Extensive and meticulous research is still needed to provide a better understanding of the oeuvres of the various masters belonging to the ‚miniaturist‘ trend and to reconstruct their sources of inspiration and mutual influences. It is certain, however, that the painters belonging to the ‚miniaturist tendency‘ did not constitute an artistic movement in the modern sense; their stylistic preferences were not necessarily the same and they often proved to be extremely sensitive to the results of the Giotteschi in their search for plastic and spatial effects“; vgl. dazu Alexandra S. Suda: Tales of a City. Narrative in Early Renaissance Florence, in: Florence at the Dawn of the Renaissance. Painting and Illumination, 1300–1350, Ausstellungskatalog, Los Angeles, Getty Center, 13. 11. 2012–10. 02. 2013, hg. v. Christine Sciacca, Los Angeles 2012, S. 143–153, bes. S. 145.
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bezug zwischen mimetischer Erscheinung und ausgestellter Metaphorik des Schmuckes und der Zierde. Indem in diesen Ikonotexten die Beschaffenheit der Malerei thematisiert ist, heißt das: Die ornamentale Formensprache und die Semantik der Zierde und des Schmuckes erweisen sich als ästhetischer Anspruch. Dies entspricht einer wesentlichen Funktion der verschiedenen Elemente von Buchmalerei und ist demnach auch durch das Medium der illuminierten Handschrift bedingt.
3.3 Die „Naturalisierung der Allegorie“ Die Komplexität des allegorischen Ikonotextes des fol. 15v lässt sich systematisch fassen mit der Formel der „Naturalisierung der Allegorie“149. Denn in ihm scheint deren Spannungsbezug von realitätshaltiger Allegorie und allegorisch aufgeladener Wirklichkeitsevidenz auf: Zum einen wird durch die Transformation des vierfachen Schriftsinnschemas der in der figura verborgene Wirklichkeitssinn der natürlichen Welt ausgeformt. Zum anderen wird die mimetische Erscheinung der fiktionalen Bilder reflektiert: quam tibi nature speciem dat rexque figure / ortus pratensis […] /150 („und diese äußere Erscheinung der Natur und Figur gibt dir, König, der auf Wiesen wachsende Garten“). Bedeutsam hierbei ist, dass durch die Loslösung von einem vorausliegenden theologischen Referenzsystem eine Differenz zwischen Sinnsystem und Sinnbild entsteht, wodurch die Repräsentation von zugrundeliegenden Deutungsmustern zersetzt wird und zugleich die ästhetische Gestalt zu zentraler Bedeutung gelangt. Die Sinnlichkeit des Sinnbildes ist hier stark gemacht, um die Sinnhaltigkeit aus dieser erwachsen zu lassen. Das heißt, dass das erkenntnisstiftende Potential des Sinnbildes in dessen ästhetischem Schein fundiert ist. Die „Evidenzproblematik“151, welche die naturalisierte Allegorie in diesem Spannungsverhältnis von Präsenz und Repräsentation, von ästhetischem Eigenwert und vermitteltem Sinn ausformt, möchte ich nun anhand des Aspektes der allegorisch aufgeladenen Wirklichkeitsevidenz beleuchten. Die mimetische Gestalt der allegorischen Figuren gerät mithin in den Blick und damit das ihnen inhärente spannungsvolle Verhältnis zu ihrem Status des Uneigentlichen. Zudem richtet sich das Augenmerk auf die Gestaltung und Reflexion von Präsenz und Evidenzeffekten der Figuren durch deren medialen Konstruktionscharakter. In der paarseitig konzipierten Bildkomposition der Folia 10v und 11 (Taf. 16 und 17) tritt eine Frauengestalt in gebeugter Haltung dem thronenden König von rechts entgegen. Dabei bezeichnen die Geste der vor der Brust gekreuzten Arme und die Körperhaltung der Instabilität und Hilfsbedürftigkeit ein Bittgesuch. Der symbolische Akt ist farblich verdichtet und allegorisch aufgeladen: Die Frauenfigur, deren Oberkörper von langem wallenden braun-blondem Haar umfangen wird, ist wie der König in ein rotes Gewand gekleidet. Bei der Lektüre der die Figur ‚umschreibenden‘ Verse erfährt der Le149 Siehe Anm. 9 in Kap. 3. 150 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 15v, Vers 39 f. 151 Steigerwald, Erschriebene Bilder, S. 95.
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ser, dass es sich um die Italia handelt.152 Ihr vor Augen gestelltes Bittgesuch wird nicht nur durch die expressive Ästhetik ihrer Mimik, die durch die leicht nach oben gekrümmten Brauen und die Furchen auf der Stirn Trauer und Sorgen zum Ausdruck bringt, visuell emotionalisiert; sondern es erfährt auch mit fortschreitender Lektüre eine ‚Betonung‘. Denn die links von der Italia unterhalb ihres Mundes befindlichen Worte tragen in besonderer Emphase die Bitte um ihre Errettung an den König heran: Heu, pudet et nudam tedet producere uitam / […] / et piget infestos tot nunc sufferre labores, / ni rex solamen des micchi desque statum / desque bonam pacem des, quam scis, uimque salutis / desque prout robur rex ualet acre tuum. / Rex potes hoc certe solum donare Roberte / consilioque potes auxilioque potes. / Nemo potest sane sicut tu rex […] / 153 („Oh weh, es beschämt und ekelt mich, ein dürftiges Leben fortzuführen, […] und es bedrückt, nun so viele bedrohliche Drangsale zu ertragen, wenn du, König, mir nicht Unterstützung gibst und nicht f e s ten St a nd gibst und nicht einen guten Frieden gibst und nicht die Kraft des Heiles gibst, die du kennst, und du nicht gibst, wie deine schneidende Kraft, König, es vermag. König Robert, gewiss kannst du diesen Boden schenken, du kannst es mit Rat und Hilfe. Gewiss kann es niemand wie du, König“).
Die schriftlich fixierten, gleichsam einen monolithischen Block formenden Worte, die bezeichnenderweise unmittelbar am Buchfalz zwischen den beiden Figuren platziert sind, stützen somit die Figur der Italia zum einen auf kompositorischer Ebene materialiter. Solchermaßen fungieren sie als eine „graphisch-ornamentale Veranschaulichung“154 des Bildes. Zum anderen unterstützen sie auf semantischer Ebene die bildrhetorisch zum Ausdruck gebrachte Supplikation, so dass es zu einer Semantisierung des gesamten, aus Schrift und Bild zusammengefügten Erscheinungsbildes kommt.155 Mit anderen Worten: Das Schriftbild erscheint als Bedeutungsträger, weil es in seiner (unter)stützenden Funk152 Dass es sich um eine figürliche Gestalt Italiens handelt, mag auch daran erkennbar sein, dass ihre Form und Ausrichtung der geographischen Darstellung Italiens in zeitgenössischer Kartographie entsprechen, wie jener des Opicinus de Canistris, der zur selben Zeit wie Convenevole in Avignon nachweisbar ist. Insbesondere aber ist in Bezug auf die figürliche Gestalt relevant, dass Opicinus die einzelnen Elemente der kartographischen Werke als menschliche Figurationen erscheinen lässt (Rom, Biblio theca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1993 und Vat. lat. 6435). Siehe Richard Salomon: Opicinus de Canistris. Weltbild und Bekenntnisse eines avignonensischen Klerikers des 14. Jahrhunderts, Nendeln 1969 [Nachdruck London 1936], Tafel 35 (fol. 18) (Abb. 33); vgl. Catherine Harding: Opening to God. The Cosmographical Diagrams of Opicinus de Canistris, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 61, 1998, S. 18–39. Zu der beschriebenen Motivik der Italia vgl. die erste Epistel Francesco Petrarcas an Benedikt XII., in der er die bejammernswerte, aufgelöstes Haar tragende Roma flehend zum Papst sprechen lässt: En ego te supplex sparsis miseranda capillis / Et sacros complexa pedes et dulcia figens / Oscula, sic dominum et sponsum confessa ducemque / Alloquor. […] /. Francesco Petrarca: Epistolae metrichae / Briefe in Versen, hg., übers. und erläutert v. Otto und Eva Schönberger, Würzburg 2004, I, 2, S. 36. 153 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11, Verse 23–31. 154 Klaus Krüger: Das Sprechen und das Schweigen der Bilder. Visualität und rhetorischer Diskurs, in: Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, hg. v. Valeska von Rosen, Klaus Krüger, Rudolf Preimesberger, München 2003, S. 17–52, hier S. 22. 155 Sinnfällig wird dies insbesondere in der Rede der ihrer Standfestigkeit beraubten Italia vom festen Stand (statum) in Verschränkung mit solum (Boden).
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tion die ‚Sprachfähigkeit‘ des Bildes veranschaulicht. Und umgekehrt kommuniziert die in ihrer mimetischen Erscheinung animierte Bildfigur den Text gleichsam lebendig und verlebendigt das Schriftbild somit ihrerseits.156 Der Ikonotext stellt mithin die Auslotung der „produktiven Spannungen […] zwischen Sagen und Zeigen“157 geradewegs vor Augen. Beim Aufschlagen des nachfolgenden fol. 11v (Taf. 18) erblickt der Betrachter eine weitere Frauenfigur, die in vertikaler Ausrichtung die rechte Hälfte des Folio nahezu gänzlich ausfüllt. Sie ist in ein langes schwarzes Gewand gekleidet und trägt ebenfalls lang herabfallendes und ungekämmtes Haar, das aber im Gegensatz zur Italia ergraut ist. Dabei zeigt sie ebenfalls eine expressive Ausdrucksästhetik in Form des tradierten Trauerund Verzweiflungsgestus des leichten Öffnens des Gewandes vor der Brust, insbesondere aber durch eine psychologisch verdichtete Mimik der Trauer158: Die zusammengezogenen Brauen, die Falten der Bekümmerung auf ihre Stirn zeichnen, und die zusammengepressten Lippen erwecken den Eindruck, dass sie die Tränen kaum noch zurückhalten kann. Die visuelle Rhetorik der Trauer und Supplikation wird auch hier durch die Verse unterstrichen, in denen die Roma selbst spricht – gleich zu Beginn weist sie sich als solche aus: Roma dedit questum crebro cum murmure mestum, / exponens uerum siue statum miserum / 159 („Roma stößt eine betrübte Wehklage mit unablässigem Murmeln aus, sie spricht die Wahrheit aus, oder: ihren bejammernswerten Zustand“).
Nicht zuletzt ist wahrnehmungsästhetisch wie semantisch von Belang, dass der historische Betrachter beim Umblättern von fol. 11 und dem damit einhergehenden Aufdecken von fol. 11v förmlich das allmähliche Entgegentreten der Roma zu ihrem Retter König Robert verfolgen kann: Im Endeffekt steht die Roma, die wie Robert in vertikaler Ausrichtung die Hälfte ihres Folio ausfüllt, im inneren Bild des Betrachters dem thronenden König aufs engste gegenüber. Der Supplikationsakt der Roma, der im Bild durch den Supplikationsgestus bezeichnet ist, erfährt durch den performativen Akt des Umblätterns eine konkrete bild-gegenständliche Verwirklichung, indem die Roma an den Thron herantritt, der Supplikationsakt in seinem Ablauf vor Augen geführt wird.160 156 Zur medialen Reflexion der ‚Sprachfähigkeit‘ des Bildes und einer „aus genuiner, der Darstellung qua Bildkapazität innewohnender Sprachkraft“ vgl. Krüger, Das Sprechen und das Schweigen der Bilder. Vgl. auch Roger Tarr: Visibile parlare. The Spoken Word in Fourteenth-Century Central Italian Painting, in: Word and Image 13, 1997, S. 223–244. 157 Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 32010 [2007], S. 20. Vgl. zu Geste, Körper und Stimme ebd. S. 25, 27. 158 Vgl. den auf den 24. 02. 1351 datierten Aufruf Francesco Petrarcas an Karl IV., nach Italien zu kommen und die Kaisergewalt wiederherzustellen: Finge nunc animo almam te Romane urbis effigiem videre; cogita matronam evo gravem, sparsa canitie, amictu lacero, pallore miserabili […]. Francesco Petrarca: Familiarium Rerum Libri, VI–X, hg. v. Ugo Dotti, Vittorio Rossi, Umberto Bosco, Mailand 2007, X, 1, S. 1354. Vgl. Francesco Petrarca, Epistolae metricae, I, 5 (Brief an Benedikt XII.), S. 64–69 und II, 5 (Brief an Clemens VI.), S. 134–147. 159 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11v, Vers 3 f. 160 Die Eindringlichkeit der Supplikation wird zudem durch die Worte der Roma ‚betont‘, die in der Textspalte vor ihr geschrieben sind: Set patribus uobis nunc spoliata probis / exprimo merores, ostendo uoce labores / […]. / Marceo, nam senui nec pretium tenui / […] / […]. Set haberis / rex similis. Doleo plus modo
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In der sich hier zeigenden Reflexion über die sinnstiftende Wirkung beweglicher Bilder, die sich in deren ‚Verlebendigung‘ durch das Bewegen ihres materiellen Trägers entfaltet, verbindet sich das enargeia-Konzept161 mit der Theorie der rhetorischen Figur der Personifikation, die dem „Personifizierten Überzeugungskraft geben, […] ihm die Unbezweifelbarkeit eines Lebendigen verleihen [soll]“162. Die Figuren werden aber nicht nur aufgrund ihrer mimetischen Gestalt und ihrer ‚Inszenierung‘ als Handelnde naturalisiert, sondern sie treten zugleich als allegorisch aufgeladene Figuren auf, die Träger einer philosophischen Erkenntnis sind. Dabei entfalten sie ihr visuelles Ausdruckspotential über die eigene ‚Person‘ hinaus jedoch erst durch die Bezugnahme zu anderen Figuren, die den ausgestellten ikonographischen Allusionen semantische Evidenz verleihen. Die Figuren sind mithin „absichtsvoll arrangiert auf Aussage und Versinnfälligung hin“163. So vermögen die Italia und die Roma gerade in ihrer Zusammenschau eine Maria Magdalena-Konnotation zu entfalten, die weniger in ihrer gestischen Handlung innerhalb des Gefüges des Supplikationsbildes fundiert ist als in ihrer Bezugnahme auf die Figur des auferstandenen Christus. Dieser ist auf fol. 9 dargestellt und geht dem thronenden König unmittelbar voraus (Taf. 15). Dergestalt wird die Italia aufgrund ihrer vorgebeugten Haltung konkret mit der Noli me tangere-Motivik belegt164 und überträgt quam soleo, / ni capias curam generosam per genituram, / digne Roberte, mei, iura tuendo Dei. / […] / […], eo quod placet usque Deo / compatiare meis que sum spoliata tropheis. / Cerne meam faciem, uim laceram speciem. / („Aber nun, beraubt von euch redlichen Vätern, drücke ich die Betrübnisse aus, offenbare mit der Stimme die Sorgen […]. Ich bin erschöpft, weil ich gealtert bin und nicht den Wert bewahrt habe […]. Aber du wirst als ein ähnlicher König [zu diesen] betrachtet. Ich werde mehr leiden als ich es gewohnt bin, falls du, würdiger Robert, wegen deines edlen Stammes nicht Sorge für mich übernimmst, verteidigend die Gesetze Gottes. […], weil es Gott gefällt, dass du immer Mitleid mit mir hast, die ich meiner Siege beraubt bin. Betrachte meinen Anblick, die zerfetzte Kraft und Erscheinung“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11v, Verse 13 f., 24, 45–52. Vgl. Dante Alighieri, Divina Commedia, Purgatorio, VI, 112–114, S. 190, wo von der Witwe Roma gesprochen wird, die Tag und Nacht um ihren Herrscher weint und den deutschen Kaiser um Hilfe anfleht: Vieni a veder la tua Roma che piange / vedova e sola […] /. 161 Zum enargeia-Theorem siehe M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars prior, VI, ii, 29–32, S. 327 f. Quintilian betont die Bedeutung des Lebendigmachens der Gegenstände, weil dadurch die Illusion des Zuhörers erzeugt wird, die Eindrücke des anschaulich Geschilderten unmittelbar sinnlich wahrzunehmen, und damit eine emotionale und unmittelbar beeindruckende Wirkung erzielt wird. Somit sind hier Inhalt der Bildfolge, das heißt eine Robert von Anjou entgegengebrachte Supplikation, wobei dieser sich als Destinatar der Handschrift im Bild dargestellt wiederfindet, und enargeia-Konzept systematisch verschränkt. Siehe dazu eingehend Kap. 4.2. 162 Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 62009 [1982], S. 62. 163 Walter Blank: Die deutsche Minneallegorie. Gestaltung und Funktion einer spätmittelalterlichen Dichtungsform, Stuttgart 1970, S. 102. Vgl. Meier, Überlegungen Allegorie-Forschung, S. 61. 164 Im Kontext des Supplikationsbildes verbinden sich in der ästhetischen Erscheinung der Italia die ikonographische Motivik des Noli me tangere und das Bild der Maria Magdalena als Büßerin (Lk 7, 36– 50). Bezogen auf Letzteres können die Worte der Italia gelesen werden: Heu, pudet et nudam tedet producere uitam / […], / ni rex solamen des micchi desque statum / desque bonam pacem des […] uimque salutis / desque […] / („Oh weh, es beschämt und ekelt mich, ein dürftiges Leben fortzuführen, […], wenn du, König, mir nicht Unterstützung gibst und nicht festen Stand gibst nicht einen guten Frieden gibst und nicht die Kraft des Heiles gibst“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11, Verse 23–28. Zur Verknüpfung von Maria Magdalena mit der namenlosen Büßerin aus Lk 7 und Maria von Betanien wider den biblischen Beleg in den nachfolgend ausschlaggebenden Magdalenenhomilien Gregors des Großen (Sancti Gregorii Papae I. Opera omnia, Bd. 2: Homiliarum XL in evangelia libri
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deren heilsgeschichtlichen Implikationen allegorice auf ihre Relation zu Robert von Anjou. Denn sie wendet sich diesem ja auf der Ebene des sensus litteralis, in der vor Augen gestellten mimetischen Ereignishaftigkeit des Supplikationsbildes, unmittelbar zu.165 In diesen Deutungszusammenhang der Erlösung, die in einer christozentrischen Ähnlichkeitsrelation fundiert ist, fügt sich auch die Figur der Roma ein – im historischen Verständnis bildet sie als das figürliche Haupt der Italia mit ihr einen als Einheit verstandenen Reichskörper. So zeigt die Roma gleichfalls eine Maria Magdalena-Konnotation, deren exegetisches Spektrum in der ikonischen Motivik und angesprochenen Performanz verdichtet und zu einer aspektreichen Sinnstiftung umsemantisiert wird: Zum einen assoziiert die Roma aufgrund ihres lang herabfallenden Haares und ihrer weinenden Mimik die Büßerin aus Lk 7.166 Ihr schwarzes Gewand und ihr Trauergestus, die sie als Witwe kennzeichnen, verweisen auf die trauernde Maria Magdalena am Kreuz, so dass der Zustand der Roma als durch den Papst Verwitwete sinnfällig wird.167 Zum anderen wird durch die beschriebene Performanz die Analogie zu Maria Magdalenas enger Nachfolge Jesu infolge ihrer Heilung von schwerer Krankheit durch Christus168 aufgerufen: Die Roma tritt ihrem ‚Heiland‘, König Robert, (allmählich) entgegen.169 Das heißt in Bezug duo, hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1849 (Patrologia Latina, Bd. 76), Homil. XXV, Sp. 1188–1196 und Homil. XXXIII, Sp. 1238–1246) vgl. Regina Radlbeck-Ossmann: Maria Magdalena. Schrift und Überlieferung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Freiburg 1997, Sp. 1340. 165 Insofern die Formel des Noli me tangere „betont, daß Jesus auf neue Weise lebt“ (Radlbeck-Ossmann, Maria Magdalena, Sp. 1340), wird der Status des im Thronbild als vicarius Christi dargestellten, per gratiam gesalbten und gekrönten König Roberts durch seine formale Mittlerposition zwischen dem auferstandenen Christus und der Italia pointiert vor Augen gestellt. Zu den ‚zwei Körpern des Königs‘ Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. 166 Lk 7, 37–38: et ecce mulier quae erat in civitate peccatrix ut cognovit quod accubuit in domo Pharisaei adtulit alabastrum unguenti et stans retro secus pedes eius lacrimis coepit rigare pedes eius et capillis capitis sui tergebat et osculabatur pedes eius et unguento unguebat („Und siehe, ein Weib, die eine in der Stadt bekannte Sünderin war, erfuhr, daß er in dem Hause des Pharisäers zu Tische sei; und brachte ein Gefäß von Alabaster mit Salböl, stellte sich rückwärts und fing an, seine Füße mit ihren Tränen zu benetzen, und trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes, und küßte seine Füße, und salbte sie mit dem Salböl“). Biblia sacra: iuxta Vulgatam versionem; Übersetzung aus Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Mit dem Urtexte der Vulgata, Bd. 3. 167 Die Roma als verlassene und weinende Witwe ist ein Topos, der auf die Lamentationes des Jeremia über Jerusalems Elend und Bitte um Hilfe zurückgeht (Jer 1, 1–2). Vgl Dante Alighieri, Epistole, XI, 2, S. 580: Romam – cui, post tot triumphorum pompas, et verbo et opere Christus orbis confirmavit imperium, quam etiam ille Petrus, et Paulus gentium predicator, in apostolicam sedem aspergine proprii sanguinis consecravit –, cum Ieremia, non lugenda prevenientes, sed post ipsa dolentes, viduam et desertam lugere compellimur; XI, 10, S. 588: Romam urbem […] solam sedentem et viduam. 168 Lk 8, 1–2: et factum est deinceps et ipse iter faciebat per civitatem et castellum praedicans et evangelizans regnum Dei et duodecim cum illo et mulieres aliquae quae erant curatae ab spiritibus malignis et infirmitatibus Maria quae vocatur Magdalene de qua daemonia septem exierant („Und es geschah darnach, daß er durch Städte und Flecken zog, predigend und die frohe Botschaft vom Reiche Gottes verkündigend, und die Zwölf waren mit ihm, auch einige Frauen, die er von bösen Geistern und Krankheiten befreit hatte: Maria, Magdalena genannt, aus welcher sieben Teufel ausgefahren waren“). Biblia sacra: iuxta Vulgatam versionem; Übersetzung aus Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Mit dem Urtexte der Vulgata, Bd. 3. 169 Vgl. für den Bereich der Sprachwissenschaft Wolfgang Haubrichs: Veriloquium nominis. Zur Namensexegese im Frühen Mittelalter. Nebst einer Hypothese über die Identität des ‚Heliand‘-Autors, in: Verbum et Signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Friedrich Ohly zum 60. Ge-
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auf die Figur des Königs: Indem durch die Assoziierung der Italia und Roma mit dem auferstandenen Christus das Muster der Erlösung zitiert wird, ist ihm die Semantik eines Erneuerers der Erlösungstat Christi einverleibt. Damit zeigt sich zum einen der tropologische Sinn der figurae: So wie Maria Magdalena als Büßerin von ihren Sünden durch Christus befreit und durch das Noli me tangere ausgezeichnet wurde, wird die Roma durch ihren Heiland Robert von Anjou von ihren lasterhaften inneren Zuständen befreit. Zudem wird der Reichskörper, die Italia, als Sitz der Kirche, deren Bild Maria Magdalena in der mittelalterlichen Exegese war, erneut ausgezeichnet. Die Nähe der Italia und Roma zu ihrem Heiland Robert von Anjou führt sie auf den Weg des Heils. Zum anderen erweisen sich die gemalten Figuren als Instrument der Geschichtsoffenbarung: Die Roma und Italia tragen als figura die Erlösung Roms in sich, die, der Erlösung Maria Magdalenas durch Christus gleich, göttlicher Vorsehung von Anbeginn innewohnt. Insofern die Roma und Italia demzufolge nicht nur „auf etwas zu Deutendes [weisen], das […] in der praktischen Zukunft erfüllt werden wird“ unter der Ägide König Roberts, sondern sie auch ihren ewigen Zustand figurieren, kommt hier der figura-Begriff im Auerbach’schen Sinn zum Tragen.170 Bedeutsam ist hier, dass die Repräsentation des Sinns aus dem medialen Konstruktionscharakter der Figuren erwächst, die Präsenz hervorbringen und zugleich darstellen – die Präsenz der Figuren wird nicht einfach nur durch deren mimetische Gestalt sinnfällig, sondern das Präsent-Machen und der medial bestimmte Effekt ihrer Erfahrbarkeit sind reflektiert. Dabei wird nicht nur der Wahrheitsanspruch der mimetisch gemalten Figuren deutlich, indem sie die Wirklichkeit anschaulich zeigen, sondern auch die Wahrheit der Anschauung selbst im performativen Zugriff des historischen Betrachters auf das Trägermedium. So vereinigt zuvorderst die Figur der Roma in ihrer ästhetischen Gestalt und mimetischen Ausdrucksästhetik nicht nur Kohärenz und Präsenz. Ihre visuelle Aussagekraft entfaltet sie vielmehr gerade dadurch, dass sie als „Personalität des Imaginären“ gleichsam lebhaft agierend in Beziehung zu der gemalten historischen Person des Königs tritt.171 burtstag, Bd. 1, hg. v. Hans Fromm, Wolfgang Harms, Uwe Ruberg, München 1975, S. 213–266, hier S. 247 f., der ausführt, dass „Assonanzen und Anklänge der Sprachzeichen […] auf Wesensverwandtschaft der bezeichneten Dinge schließen“ lassen. Vgl. auch Klaus W. Hempfer: Zur Enthierarchisiserung von ‚religiösem‘ und ‚literarischem Diskurs in der italienischen Renaissance‘, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. v. Peter Strohschneider, Berlin 2009, S. 183–221, bes. S. 196 f. zu Dantes Vita nova. 170 Die bekannte Passage aus dem figura-Aufsatz sei zitiert, weil sie hier sehr treffend ist: „Die Figuren sind also nicht nur vorläufig; sie sind zugleich auch die vorläufige Gestalt eines Ewigen und Jederzeitlichen; sie deuten nicht nur auf die praktische Zukunft, sondern auf die Ewigkeit und Jederzeitlichkeit von Anbeginn an; sie weisen auf etwas zu Deutendes, das zwar in der praktischen Zukunft erfüllt werden wird, aber in der Vorsehung Gottes, in der kein Unterschied der Zeiten ist, stets schon erfüllt vorliegt; dies Ewige ist schon in ihnen figuriert, und so sind sie sowohl vorläufig fragmentarische als auch verhüllte jederzeitliche Wirklichkeit“. Auerbach, Figura, S. 474. 171 Die sich hier zeigende Qualität beschreiben Christian Kienings Worte in Bezug auf die Personifikation im Allgemeinen prägnant: „Am aussagekräftigsten ist eine Personifikation dort, wo sie am profiliertesten ist: wo sie, aspektreich entfaltet, als Personalität des Imaginären agiert, wo sie mit anderen Figuren oder menschlichen Protagonisten in Beziehung tritt, […] wo ihr Doppelcharakter als Begriff und zugleich Element einer entworfenen Welt deutlich wird. Das ist selten der Fall“. Christian Kiening: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003, S. 280.
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Der von den Figuren getragene Wirklichkeits- und Wahrheitsanspruch wird schließlich in den Reden der Figuren selbst reflektiert. So spricht die Italia (Taf. 17) folgende Worte, die in der rechten Textspalte, auf einer Ebene mit dem Scheitel ihres geneigten Hauptes fixiert sind: O rex experte, que defleo dira, Roberte, / dampna meoque rogo compatiare rogo. / Hic rogus est mortis uel plus quam mors fera fortis / urit […] / 172 („Oh weiser König Robert, welch unheilvolle Schäden beweine ich, und ich bitte dich, Mitleid für meinen Scheiterhaufen zu haben. Dies ist ein Scheiterhaufen des Todes, ja, er brennt stärker als der grausame Tod“).
Festgehalten sei zunächst, dass die Italia diesem Bittgesuch eine längere Darlegung über die unheilvollen Gifte vorausgehen ließ, die ihr in der Vergangenheit in Kelchen von den Mächtigen verabreicht worden seien.173 Bezeichnenderweise sind diese Worte in der rechten Textspalte fixiert und berauben in ihrer buchstäblichen Materialität die Italia ihrer Standfestigkeit; sie zwingen diese gleichsam in die Knie, was in der bildlichen Darstellung wiederum in visueller Verdichtung mit dem daraus resultierenden Supplikationsgestus verbunden ist. Demgemäß kommt es auch hier zu einer Semantisierung der Bild-Text-Gestalt. Sodann lässt die Italia ihre Rede enden in den Versen, die hinter ihrem Rücken geschrieben stehen, wobei sie sich nicht von ungefähr auf Höhe der Hände befinden, die flehend gekreuzt sind: Rex pie, parce feram rem, quam recoles fore ueram. / Nec possum iecoris uim retinere foris. / Occultare negat flammas rogus hiis quasi degat. / Ostendens lucem, monstrat habere ducem. / 174 („Frommer König, erlaube, dass ich eine Sache vorbringe, an die du dich erinnern wirst, dass sie wahr gewesen ist. Denn ich kann die Kraft der Leber175 nicht von draußen zurückhalten. Der Scheiterhaufen weigert sich, die Flammen zu verbergen, als wenn er mit diesen lebt. Das Licht zeigend, offenbart er, einen Führer zu haben“).
Augenfällig ist ihre Bezeichnung als Scheiterhaufen, der in ihrem roten Gewand sinnfällig gemacht ist. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist die Wendung „dass ich eine Sache vorbringe, an die du dich erinnern wirst, dass sie wahr gewesen ist. Denn ich kann die Kraft der Leber nicht von draußen zurückhalten“. Sie besagt, dass die von ihrer figura im Inneren getragene Sache (res), die mit ihrer Lebenskraft (iecor) verbunden ist, zukünftig wahr sein wird (fore uera). In diesem Verweisen auf die Sache an sich (res) wird die bloß verhüllende figura durchsichtig auf die in ihr enthaltene Wahrheit, wenn die Italia äußert, dass sie „die Kraft der Leber nicht von draußen zurückhalten [kann]“. So werden 172 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11, Verse 51–54. 173 […]. Flendo / hec expono tibi: Multa uenena bibi; / plena necis proceres micchi pocula sepe dedere / („Weinend lege ich dir dieses dar: Ich habe viele Gifte getrunken; die Vornehmsten verabreichten mir oft volle Giftbecher des Todes“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11, Verse 39–41. 174 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 11, Verse 61–64. 175 Die Leber galt als Sitz der Seele und der Lebenskraft und insbesondere auch der Liebe.
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die Flammen des Äußeren in bildlichen Bezug zum durch die Leber bezeichneten inneren Temperament gebracht, der ‚flammenden‘ Leidenschaft. Die so zum Ausdruck gebrachte Schwäche der vergehenden figura (hic rogus est mortis), also des bloß temporären unheilvollen Zustandes der Italia, wird zum einen auf grammatikalischer Ebene temporal unterstrichen: Die Italia hat viele Gifte g etr u n ken (multa uenena bibi), sie steht als Scheiterhaufen vor Augen (hic rogus est), und endlich trägt sie die wirkliche Sache in sich, die wahr s ei n w i rd (rem, quam recoles fore ueram). Zum anderen stellt sie nachfolgend die Bedeutung der in ihr lodernden Leidenschaft heraus, die nicht verborgen werden könne, weil der Scheiterhaufen gleichsam mit ihr lebt (occultare negat flammas rogus hiis quasi degat). Der Scheiterhaufen weigert sich mithin, die innere, glühende Leidenschaft beziehungsweise tiefere Wahrheit zu verbergen. Dadurch ist der historische Wandel bezeichnet, der schließlich seine Konkretion findet, indem das Kommen des lichthaften Führers, das aus eben jener glühenden Leidenschaft resultiert, als Wahrheit angekündigt wird (rogus […] / ostendens lucem, monstrat habere ducem. /). Dies wird sämtlich in visueller Verdichtung in der ästhetischen Gestalt der Italia anschaulich, das heißt in der roten Farbe des Gewandes, das ihren Körper einkleidet: Die Bedeutung des roten Gewandes wandelt sich vom Zeichen des Scheiterhaufens zum Zeichen der glühenden Liebe der Italia zu Robert von Anjou und der daraus folgenden Verbundenheit mit dem König, dem lichthaften Führer, der gleichfalls ein rotes Gewand trägt. In Bezug auf die in Rede stehende Naturalisierung der Allegorie heißt dies: Die naturalisierten Figuren bringen die ihnen anhaftende Wirklichkeit und einverleibte Wahrheit nicht nur beredt zum Ausdruck, sondern sie sind in ihrer bildlichen Evidenz, ihrer lebendigen Anschaulichkeit, gleichsam selbstredend.176 Dabei tritt die semantische Mehrdeutigkeit des ‚Sinnes‘ des Sinnbildes, Sinnlichkeit und Sinngehalt, hervor: Die ästhetische Erscheinung der Figuren ist fundamental, insofern einmal die sinnliche Qualität der in leibhaft konkreter Wirklichkeit erscheinenden Figuren ausgestellt ist und sich die Sinnhaltigkeit in der Sinnlichkeit des Sinnbildes erfüllt. Andermal sind sie zugleich durch die ikonographische Motivik als figurae ausgewiesen, so dass ihnen etwas Uneigentliches anhaftet und ihre mimetische Gestalt dazu in ein spannungsvolles Verhältnis tritt. In diesem Spannungsbezug entfaltet sich der mediale wie semantische Status der Bilder: Durch die kulturelle Praxis der Exegese wird der wirklichkeitsdeutende Anspruch der Bilder produktiv wirksam, und sie vermögen ihr genuines Potential zu entfalten, indem sie sich als Medium der Geschichtsoffenbarung erweisen. Damit lassen sich schließlich nicht nur die verschiedenen Grade der Reflexivität der in Kapitel 3 angeführten Ikonotexte konzise benennen: die explizite Thematisierung der Anschaulichkeit in der Figur des Pfaus, die Reflexion der Medialität von Text und Bild und deren komplementäre Anteilhabe an der Veranschaulichung (eines heilsgeschichtlichen Verlaufs) im Ikonotext des fol. 15v sowie die gesteigerte Anschaulichkeit der darzustellenden historischen ‚Wahrheit‘ in den Figuren der Folia 9–11v, die gerade auch an 176 Klaus Krüger spricht hinsichtlich trecentesker Bildallegorien von einer „neue[n] Komplexität jener ‚verhüllten Evidenz‘, denn die Verhüllung selbst, die Art und Weise ihrer Erscheinung, bringt nunmehr die Evidenz hervor“. Krüger, Figuren der Evidenz, S. 907.
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das Trägermedium gebunden ist. Die beiden Letztgenannten zeigen vielmehr auch exemplarisch, inwiefern die Verschränkung der figuralen und figurativen Seite der figura medial bedingt ist. In Bezug auf die Aufwertung fiktionaler Dicht- und Malkunst und die Naturalisierung der Allegorie möchte ich abschließend auf eine sehr frühe, illuminierte Handschrift des Ovidius moralizatus des Petrus Berchorius (Gotha, Forschungsbibliothek, Membr. I 98) zu sprechen kommen. So lassen sich die herausgestellten ästhetischen wie wirklichkeitsdeutenden Geltungsansprüche von Dichtung und Malerei in einem historischen Kontext betrachten. Dabei ist zweierlei bedeutsam: Zum einen hat sich Petrus Berchorius zur selben Zeit wie Convenevole in Avignon aufgehalten, man darf unterstellen, dass der Ovidius moralizatus und die Regia Carmina in einem Diskurszusammenhang stehen. Zum anderen weisen die Miniaturen des Gothaer Kodex eine ausgesprochen ausdifferenzierte Naturdarstellung auf. So wird hinsichtlich der Diskrepanz zwischen der bildlich-textuellen Reflexion und der gemalten Gestalt der Wiesenbilder in den Regia Carmina nachdrücklich deutlich, dass die Gestalt eine Frage des Stils ist. Der Text des Ovidius moralizatus177, der um 1340 in Avignon entstanden ist und ursprünglich Buch XV von Berchorius’ enzyklopädischem Werk, dem Reductorium morale, bildete, zergliedert den Text Ovids in einzelne Abschnitte. Diese wiederum sind zweigeteilt: in die Erzählung der jeweiligen Ovidischen fabula in Form einer Prosaparaphrase und deren Allegorese nach dem vierfachen Schriftsinnschema.178 Berchorius setzt also die antiken Mythen mit den biblischen fabulae gleich. In dem Gothaer Kodex, dessen Text in einer Rotunda (littera bononiensis) in zwei Kolumnen einheitlich geschrieben ist179, ist jeder fabula und deren Allegorese eine gerahmte Miniatur vorangestellt (Abb. 34).180 177 Siehe immer noch die Ausgabe Petrus Berchorius, Reductorium morale, Liber XV: Ovidius moralizatus, cap. I, De Formis Figurisque Deorum; Petrus Berchorius: Reductorium morale, Liber XV: Ovidius moralizatus, cap. II–XV. Naar de Parijse druk van 1509, Werkmateriaal (2), hg. v. Joseph Engels, Utrecht 1962; Petrus Berchorius: Reductorium morale, Liber XV: Ovidius moralizatus, cap. II, hg. v. Maria van der Bijl, in: Vivarium 9, 1971, S. 19–48; siehe auch Fausto Ghisalberti: L’Ovidius moralizatus di Pierre Bersuire, in: Studi Romanzi 23, 1933, S. 5–136. 178 Zu Petrus Berchorius und seinem Werk siehe u. a. Charles Samaran, Jacques Monfrin: Pierre Bersuire, in: Histoire littéraire de la France, Bd. 39, Paris 1962, S. 259–450; William D. Reynolds: Sources, Nature, and Influence of the Ovidius Moralizatus of Pierre Bersuire, in: The Mythographic Art. Classical Fable and the Rise of Vernacular in Early France and England, hg. v. Jane Chance, Gainesville 1990, S. 83–99; zu seiner Allegorese der Metamorphosen Robert Levine: Exploiting Ovid. Medieval Allegorization of the Metamorphoses, in: Medioevo Romanzo 14, 1989, S. 197–213; Paul Michel: Thesaurierte Exegese bei Petrus Berchorius, in: Homo Medietas. Festschrift für Alois Haas zum 65. Geburtstag, hg. v. Claudia Brinker-von der Heyde, Niklaus Largier, Bern 1999, S. 97–116; Paul Michel: Vel dic quod Phebus significat dyabolum. Zur Ovid-Auslegung des Petrus Berchorius, in: Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik 1, hg. v. Paul Michel, Hans Weder, Zürich 2000, S. 293–353; Jane Chance: Medieval Mythography, Bd. 2: From the School of Chartres to the Court at Avignon 1177–1350, Gainesville 2000, S. 320–339; Siegfried Wenzel: Ovid from the Pulpit, in: Ovid in the Middle Ages, hg. v. James G. Clark, Frank T. Coulson, Kathryn L. McKinley, Cambridge 2011, S. 160–176. 179 Pergament, I + 70 + I, 36,5 cm x 26 cm, Schriftspiegel 25,5 cm x 17,5 cm. 180 Der unvollendete Miniaturenzyklus ist ausgesprochen umfangreich: 284 Bildfelder sind durchgehend in unterschiedlicher Größe in die Textspalten eingelassen. Davon sind 74 als vollständig illuminierte Miniaturen in Deckfarben auf Goldgrund ausgestaltet (fol. 19–25v), 26 Miniaturen sind unvollstän-
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Deren Darstellungen beziehen sich vornehmlich auf die Erzählung, den sensus litteralis, wobei sich aber auch wiederholt Motive finden, die den Status der gemalten fabulae als Sinnbilder anzeigen. Den Bildern kommt also nicht allein eine den Kodex strukturierende Funktion zu. Sie stellen vielmehr auch die Bedeutsamkeit der fabula aus und verweisen zugleich auf das Interesse am Prozess der Verwandlung und damit an der Beobachtung und Nachahmung von Erscheinungen der Natur.181 Geschaffen wurde der Gothaer Kodex in Bologna – mutmaßlich für Bruzio Visconti (ca. 1320–1357).182 Meiner stilkritischen Analyse zufolge183 sind die Miniaturen um 1348/1350 entstanden und im Werkstattzusammenhang des „Meisters von 1346“ zu verorten.184 Sie stehen mithin stilistisch in der Tradition des sogenannten „Illustrato re“185 und der Naturdarstellung Bologneser Buchmalerei des zweiten Viertels des Trecento. Hinsichtlich der Naturdarstellung sei insbesondere die dritte Miniatur zum Mythos der Io auf fol. 11 angeführt (Abb. 34). Die zyklisch angelegte Bilderzählung der Geschich-
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dig koloriert (fol. 26–30v), und 3 Bildfelder zeigen Vorzeichnungen in brauner Tinte (fol. 31). Im restlichen Teil der Handschrift ist in den Textkolumnen der Platz für die Bildfelder ausgespart (fol. 1v–8v und fol. 31v–67v). Vgl. zum Bild-Text-Zusammenhang Christel Meier: Ovid-Rezeption in Text und Bild. Der Erich thonius-Mythos von Berchorius bis Rubens, in: Querite primum regnum Dei. Sborník pøíspìvku k poctì Jany Nechutové (Festschrift für Jana Nechutová), hg. v. Anna Pumprová u. a., Brünn 2006, S. 141–155; Christel Meier: Metamorphosen und Theophanien. Zur Ovid-Illustration des späten Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 46, 2013, S. 321–341; zur Bilderzählung Dieter Blume: BildLektüren der Metamorphosen Ovids im Italien des 14. Jahrhunderts, in: Res Gestae – Res Pictae. EpenIllustrationen des 13. bis 15. Jahrhunderts (Codices Manuscripti & Impressi, Supplementum 9), hg. v. Costanza Cipollaro, Maria Theisen, Purkersdorf 2014, S. 1–19. Gude Suckale-Redlefsen hat kürzlich herausgestellt, dass die heraldischen Zeichen, die in diesem Kodex ursprünglich auf den Initialzierseiten angebracht waren, jenen gleichen, die sich in Kodizes finden, die für Bruzio Visconti angefertigt wurden. Gude Suckale-Redlefsen:
Der Gothaer Ovid, eine Handschrift für Bruzio Visconti? Gotha, Forschungsbibliothek, Membr. I 98, in: Codices Manuscripti. Zeitschrift für Handschriftenkunde 78/79, 2011, S. 41–52, hier S. 46–48. Zu Bruzio Visconti siehe Bruzio Visconti: Le rime. Edizione critica, hg. v. Daniele Piccini, in: Quaderni degli Studi di Filologia italiana 6, 2007, S. 17–34. Sie erfolgte im Rahmen des durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes „Die Text-Bild-Rezeption Ovids im Trecento – Die Berchorius-Handschrift Gotha (Forschungsbibliothek, Membr. I 98) und ihr kultureller Kontext“, das von Christel Meier-Staubach und Dieter Blume geleitet wird. Die Publikation steht aus. Die Namensgebung dieses anonymen Buchmalers resultiert aus seinem Werk in den Statuten der Bologneser Tuchmacher von 1346 (Bologna, Archivio di Stato, cod. min. 13). Er gilt als Mitarbeiter und Nachfolger des sogenannten „Illustratore“ in dessen Werkstatt und avancierte im Verlauf der vierziger Jahre des Trecento zum führenden Buchmaler Bolognas. Siehe Alessandro Conti: La miniatura bolognese. Scuole e botteghe 1270–1340, Bologna 1981, S. 94; Jacky de Veer-Langezaal: A Cutting Illuminated by the Illustratore (Ms. 13) and Bolognese Miniature Painting of the Middle of the Fourteenth Century, in: The J. Paul Getty Museum Journal 20, 1992, S. 121–138, hier S. 130–135; Massimo Medica: Maestro del 1346, in: Dizionario biografico dei miniatori italiani. Secoli IX–XVI, hg. v. Milvia Bollati, Mailand 2004, S. 475 f., hier S. 475; Massimo Medica: Statuti della Società dei Drappieri, 1346, in: Haec sunt statuta. Le corporazioni medievali nelle miniature bolognesi, Ausstellungskatalog, Vignola, 27. 03. 1999–11. 07. 1999, hg. v. Massimo Medica, Vignola 1999, Nr. 14, S. 126. Roberto Longhi: Mostra della pittura bolognese del Trecento, Bologna 1950, S. 15 hat diesen Notnamen für einen anonymen Miniator eingeführt, der die Bologneser Buchmalerei in den 1330er- und beginnenden 1340er-Jahren bestimmt hat. Die Namensgebung ist begründet in den lebendigen und expressiven, reich kolorierten Darstellungen mit einem ausgeprägten narrativen Sinn.
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te beginnt in den beiden vorausgehenden Miniaturen in der linken Textspalte: In der ersten Miniatur bildet sich aus den Wellen eines bildparallel im Vordergrund fließenden Flusses von links die Figur der Io aus – dergestalt ist veranschaulicht, dass Io die Tochter des Flussgottes Inachus ist. Sie wird mit Jupiter konfrontiert, der aus der rechten oberen Bildecke geradewegs auf sie zusteuert, sie erfasst und küsst. Dabei wird die Wucht der Ergreifung, die zentriert in der Bildmitte dargestellt ist, durch den aufgebrochenen Himmel, die blaue Schneise im Goldgrund, die der Gott hinterlässt, anschaulich. Die Folgen der Begegnung Jupiters mit Io stellt die zweite Miniatur dar: Juno, die vom Himmel aus Jupiters Kontakt mit Io beobachtet – sie erscheint in der linken oberen Ecke vor blauem Grund –, rauft sich wütend die Haare, wie ihr zorniger Gesichtsausdruck nahelegt. Jupiter, dessen Entbrennen in Liebe zu Io auch hier durch das stürzende Fallen seines Körpers versinnbildlicht sein mag, nimmt dies wahr; denn er schaut zu Juno auf. Daraufhin verwandelt er Io, die sich nun am Ufer des Flusses befindet, durch die Berührung seiner Hände in eine Kuh. Auf anschauliche Weise ist der Prozess der Verwandlung vor Augen gestellt: Während der Kopf schon die Gestalt des Tieres angenommen hat, ist der Körper zur Erde geneigt, werden die Arme des entblößten Oberkörpers zu Vorderläufen, wohingegen der Unterleib noch das menschliche Gewand trägt. In der dritten Miniatur nun steht jenseits eines Flusses, der den Vordergrund quer durchzieht, in der linken Bildhälfte eine Kuh am Fuße eines abschüssigen Geländes aus grauem Stein; dies ist detailreich geschildert mit vielfältiger Vegetation. Die Kuh ist im Profil dargestellt, so dass deutlich vor Augen gestellt ist, dass Ios Metamorphose nun gänzlich vollzogen ist – darauf verweist auch der in goldenen Lettern geschriebene Titulus Yo über dem Tier. Sie schaut auf das Wasser des väterlichen Flusses und nimmt mit erschrockener Mimik ihre Verwandlung anhand des Spiegelbildes auf der Wasseroberfläche wahr. So lenkt der Maler durch den Kunstgriff der Spiegelung, die zu einer Verdoppelung der verwandelten Gestalt führt und in ausgesprochen naturalistischer Weise ausgeführt ist, in besonderer Weise das Augenmerk auf die Metamorphose. Diese Fokussierung betrifft aber nicht nur die Ebene des sensus litteralis. In ihr ist auch die Ebene des sensus allegoricus visualisiert – die im hermeneutischen Verfahren der Bild-Text-Rezeption stets präsent ist: Im Spiegelbild der äußeren Gestalt wird das (sündige) Wesen erkannt.186 In Folge dieses Schreckens begibt sich Io in das Gebiet des Nils und wendet sich – gemäß der Selbsterkenntnis der allegorischen Ebene voller Reue – flehend an Jupiter: In der rechten Bildhälfte hat sich die Kuh Io in einem erdfarbenen Gefilde niedergelassen. Die unterschiedliche Bodenbeschaffenheit, die den Handlungsort als eine lieblichere Landschaft charakterisiert, und die Vielfalt der Pflanzen zeugen vom Interesse an einer differenzierten Naturdarstellung. Io als Kuh ist im Dreiviertelprofil dargestellt und richtet ihr Haupt zu Jupiter empor, der ebenfalls im Dreiviertelprofil am Himmel erscheint. Indem sich der Gott Io zuwendet und beide Figuren auf einer diagonalen Achse liegen, wird die Be186 Die allegorische Auslegung des Berchorius lautet, dass die „sündige Seele […] in eine Kuh, das heißt in eine niedrige Sünderin, verwandelt wird“ (Sic per omnia anima peccatrix in uacam id est in uilem pecatricem mutatur). Petrus Berchorius, Ovidius moralizatus, I, 12, fol. 11b, Zeilen 9–11. Übersetzung und Transkription, wie auch im Folgenden, nach Anna Stenmans, der wissenschaftlichen Mitarbeiterin im philologischen Teil des genannten DFG-Projektes.
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zugnahme deutlich: Während Io vor Jupiter niederkniet und sich flehend an ihn wendet, reagiert dieser mit beschwichtigender Gestik. Die Bilder richten das Augenmerk auf die Metamorphose und machen die Sinnlichkeit des Sinnbildes stark. Anhand dieses historischen Fallbeispiels lässt sich ergänzend zeigen, inwiefern es die Verhüllung, die figura, ist, die in der „Art und Weise ihrer Erscheinung […] nunmehr die Evidenz hervor[bringt]“187. Betrachtet seien dazu die fabulae VIII und IX auf fol. 10v (Abb. 35) mit der Geschichte Lykaons. In Ovids Metamorphosen ist überliefert188, dass Lykaon einen molossischen Gesandten töten und Jupiter zum Mahl vorsetzen lässt, worin sich Lykaons Grausamkeit und Wildheit, aber auch seine hochfahrende Gesinnung äußert. Passend verwandelt Jupiter ihn in einen Wolf. Die Bilderzählung der unteren Miniatur in der linken Textspalte (Abb. 36) beginnt, sowohl dem OvidText als auch der Berchorius-Paraphrase gemäß, mit der Herabkunft Jupiters auf die Erde in Gestalt eines Menschen, veranschaulicht durch den aufgebrochenen Goldgrund und den blauen Farbauftrag am oberen Bildrand über der männlichen Gestalt. Einem Wolkenbruch gleich scheint der Himmel als Herkunftsort dieser Figur auf, wobei durch vertikal ausgerichtete Ausfransungen der blauen Farbe in den Goldgrund hinein eine dynamische Bewegung evoziert wird. Diese ist mithin an Jupiter gebunden, der in der oberen Bildhälfte in felsiger Landschaft figuriert. In ein rotes Gewand gekleidet und mit einem Strahlennimbus versehen, der das bärtige Haupt umfängt, wendet er sich durch eine leichte Körperdrehung der Architektur in der rechten Bildhälfte zu. Dabei wird diese Bewegungsrichtung sowohl durch den Gestus seiner Rechten, der einem Segensgestus nahekommt, als auch seiner Linken sowie durch die Blickrichtung der Augen unterstrichen. Diese deiktisch bestimmte Hinwendung des Betrachterblickes in die rechte Bildhälfte wird präzisierend gesteuert durch eine Diagonale, die über die abfallende linke Schulterund Armpartie, die Finger der linken Hand sowie die Konturlinie des Gebirges verläuft. Sie mündet im rechten Bildvordergrund, in dem ein durch Rundbögen geöffneter Raum vor Augen gestellt ist, in den sich der rotgewandete Jupiter begeben hat. Durch die Bildkomposition wird erfahrbar, dass die visuelle Narration nicht nur dem Berchorius-Text entspricht, sondern auch dem Ovid-Text. Denn Jupiter begibt sich nicht nur zu Lykaons Palast, wie Berchorius darlegt, sondern er zeigt auch – Ovid gemäß –, dass es ein Gott ist, der da kommt189: Jupiter erscheint in vorderster Bildebene und zentraler Position innerhalb der architektonischen Ansicht – die durch das L im ornamentierten Feld über den Rundbögen demonstrativ als Lykaons Palast gekennzeichnet ist – unter dem mittleren Rundbogen in Dreiviertelansicht. Während sein Haupt von einem goldenen Strahlenkranz umgeben ist, hat er seine linke Hand zu einem Zeigegestus erhoben. Zugleich wendet er sich dem rosagewandeten Lykaon zu, der weiter rechts steht, den Rücken dem Betrachter zugewandt. Obschon zudem sein Gesicht durch einen Pfei187 Krüger, Figuren der Evidenz, S. 907. 188 P. Ovidi Nasonis Metamorphoses, I, 207–239, S. 9 f. 189 Petrus Berchorius, Ovidius moralizatus, I, 8, fol. 10vb, Zeilen 1–4: […] Iupiter […]. Humana indutus ymagine descendit in terram, ut Licaonem, quendam tyrampnum nequissimum uisitaret […] in domo sua; P. Ovidi Nasonis Metamorphoses, I, 218–220, S. 9: Arcadis hinc sedes et inhospita tecta tyranni / ingredior, traherent cum sera crepuscula noctem. / signa dedi uenisse deum […].
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ler überschnitten wird, ist augenscheinlich, dass er auf Jupiter reagiert: Er schaut auf diesen herab und hat dabei seine Hände in die Hüften gestemmt. So zeigt sich Lykaons Entrüstung angesichts der angezeigten göttlichen Ankunft. Hierbei ist wesentlich, dass sich durch diese Gestik und Figurenkomposition eine oszillierende Machtkonstellation entfaltet. Denn während Lykaon einerseits Jupiter durch seine Körpergröße überragt und aufgebracht auf ihn herabschaut, wird seine vermeintliche Überlegenheit andererseits konterkariert: zum einen durch die Bildrhetorik seines durch den Pfeiler überschnittenen Gesichts und vom Bildrand angeschnittenen Körpers, insbesondere aber durch seine Rückenansicht gegenüber Jupiters nahezu frontaler Ansichtigkeit, die Herabsetzung zum Ausdruck bringt; zum anderen dadurch, dass er durch die abfallende Blickachse, die zunächst auf die Figur Jupiters gerichtet ist, darüber hinaus mit dem Wolf in Beziehung gesetzt ist, der außerhalb des Palastes im linken Bildvordergrund bildparallel läuft. So ist der bildkompositorische Zusammenhang Lykaons mit dem Wolf polysem aufgeladen: Er verweist nicht nur auf die Macht und Blutrünstigkeit, auf das wolfsgleiche Wesen der Figur Lykaons, sondern auch auf Lykaons Ohnmacht angesichts der göttlichen Figur. Diese Semantik wird im weiteren Verlauf der Bildbetrachtung durch die visuelle Narration näher erfahrbar. So wird im oberen Geschoss der Palastarchitektur die Handlung vor Augen gestellt, die aus der vorausgehenden, unten gezeigten, resultiert: Aufgrund seines Zweifels und seiner Entrüstung gegenüber der Göttlichkeit Jupiters versucht Lykaon des Nachts, diesen zu töten. Lykaon tritt an das Bett Jupiters und ist im Begriff, durch einen Schwerthieb mit seinem erhobenen rechten Arm zu prüfen, ob der Gast wahrhaftig göttlichen Wesens ist. Daraufhin wird Lykaon – scheinbar durch den auf ihn gerichteten Blick Jupiters – in einen Wolf verwandelt. Bedeutsam hierbei ist, dass der Prozess der Metamorphose herausgestellt ist: Während im Moment des Tötungsversuchs allein Lykaons Kopf in den eines Wolfes verwandelt ist, erscheint er beim Verlassen des Hauses im Bildmittelgrund – auf der Schwelle zwischen Innen und Außen – zur Hälfte in Gestalt eines Wolfes, um schließlich im Bildvordergrund in Gänze als Wolf sichtbar zu sein. Der Gehalt der Erzählung ist mithin in die vorderste Ebene gerückt, das heißt das Sichtbarwerden des Wesens der Figur Lykaons als Wolf und seine daraus resultierende Unterlegenheit. Denn Lykaons scheinbare Überlegenheit Jupiter gegenüber, die in der rechten Bildhälfte vor Augen gestellt ist, ist am Ende in der linken Bildhälfte transformiert: Hier steht der Gott über dem Wolf, so dass dessen Überlegenheit sichtbar wird. Das heißt: Der Gehalt der Erzählung ist nicht nur strukturell durch die Bildnarration erfahrbar, sondern zeigt sich zuvorderst in der Verhüllung, in der Verwandlung der figura, welche die Evidenz hervorbringt. Obschon in der Darstellung der fabula die Sinnlichkeit des Sinnbildes fokussiert ist, scheint die allegorische Auslegung des Berchorius in der Bildgestaltung auf. Sie zeigt sich in der Figur Jupiters, die semantisch aufgeladen ist durch den Rückgriff auf die tradierte Christus-Ikonographie – Jupiters Haupt ist umfangen von einem Strahlenkranz, und seine erhobene Rechte kommt einem Segensgestus gleich. Die Exegese, in der Jupiter als Christus ausgelegt wird, lautet: Recte iste Lycao uidetur fuisse peruersus populus iudeorum. Constat enim, quod summus Iupiter, Dei filius, assumpta humana ymagine per incarnationem ad terram noscitur descendisse. […]
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Allegorische Ikonotexte als Reflexionsfiguren der pictura
Domum Lycaonis, id est populum iudeorum, uoluit personaliter uisitare. Sed quia idem populus eidem parauit lectum mortis, crucem scilicet, ubi eum uolebat morte finire, ideo mutatus est in lupum: quia scilicet facti sunt fugaces et uagabundi ad modum lupi, propter mortem quam Dei filio attemptabant.190 („Zu Recht scheint dieser Lykaon das schlechte Volk der Juden gewesen zu sein. Es steht nämlich fest, dass der höchste Jupiter, der Gottessohn, nachdem er menschliche Gestalt angenommen hatte, durch Fleischwerdung auf die Erde hinabgestiegen ist, wie bekannt ist. […] Er wollte persönlich das Haus des Lykaon, das heißt das jüdische Volk, besuchen. Aber weil dieses Volk ihm eine tödliche Schlafstatt bereitete, das Kreuz nämlich, wo es ihn töten wollte, ist es deshalb in einen Wolf verwandelt worden: weil sie nämlich zu Flüchtigen und Umherziehenden wurden nach Art des Wolfes, weil sie versuchten, den Sohn Gottes zu töten“).
In der allegorischen Allusion, die in unscheinbarer Weise in der Miniatur sichtbar ist, zeigt sich, was als ein Aspekt der „Naturalisierung der Allegorie“ betrachtet werden kann: Die Allegorie konkretisiert sich in dem Maße, „dass zwischen Figur und Figura nicht mehr geschieden werden kann, insofern sie eine Persona bilden, die Realität setzt, wo allegorischer Sinn zu vermuten wäre“191. Damit einher geht ein neuer Wert der ästhetischen Gestaltung der fabulae. Dies zeigt sich deutlicher in der nebenstehenden zweiten Miniatur zur Lykaon-Geschichte (Abb. 37). Hierbei ist gerade der Verweis auf eine allegorische Bedeutung in der ersten Miniatur von Belang. Denn die beiden Bilder stehen in einem hermeneutischen Zusammenhang, so dass das erste den Horizont für das zweite vorgibt. In der Miniatur wird erzählt, wie Lykaon die Tötung des Mannes aus dem Molosservolk anordnet, um ihn Jupiter als Speise vorsetzen zu lassen, woraufhin dieser Lykaon erzürnt in einen Wolf verwandelt. Damit fragmentieren und portionieren die Bilderzählungen dem Berchorius-Text entsprechend den originalen Ovid-Text. Denn dieser schildert zunächst Lykaons Absicht, Jupiter zu töten, dann den Mord an dem molossischen Gesandten und dessen Zubereitung für den Tisch des Gottes, woraufhin es zu Lykaons Verwandlung kommt. So ist im Ovidius moralizatus die Metamorphose zweifach thematisiert, worin sich deren Relevanz spiegelt. Dahingehend erstreckt sich die visuelle Narration über die gesamte Bildfläche, beginnend in der rechten unteren Ecke, um in der Verwandlung Lykaons zu kulminieren, der am oberen Bildrand zentriert im dargestellten Raum figuriert. So erscheint Lykaon, in ein rot-schwarzes Gewand gekleidet, im rechten Bildvordergrund vor einer zweistöckigen Architektur als Auftraggeber und Zuschauer des Mordes an dem Molosser. Der Mord ist die zentrale Handlung, er bildet nicht nur in bildparalleler Anordnung das Zentrum des Bildvordergrundes, sondern Lykaon weist auch darauf mit dem rechten Zeigefinger hin. In der Bewegungsrichtung von rechts nach links wird gezeigt, wie Lykaon den Ermordeten über dem Feuer kochen lässt, um ihn Jupiter, der im oberen Geschoss am Tisch Platz genommen hat, als Mahlzeit auftischen zu lassen. Deutlich erkennbar ist der Verlauf dieser Bildnarration durch die diagonale Achse, die das Bild von der linken unteren 190 Petrus Berchorius, Ovidius moralizatus, I, 8, fol. 10vb, Zeilen 7–15. 191 Steigerwald, Erschriebene Bilder, S. 94.
Die „Naturalisierung der Allegorie“ 213
Ecke zur rechten oberen durchzieht. Gebildet ist sie durch die Wiederholung des zentralen Bildmotivs der gekochten Körperteile und der Figur des Dieners: Der Diener steigt über eine Treppe zum Speiseraum empor, der als wesentlicher „Geschehensraum“ beziehungsweise „Schauplatz“ ausgezeichnet ist.192 Denn er weist nicht nur eine „Handlungsöffnung“ auf, an welche die „interne Bildkommunikation“ gebunden ist, sondern auch eine „Schauöffnung“, welche „die Kommunikation zwischen Bildhandlung und Bildbetrachter“ regelt193 – während die Handlung unten v o r dem architektonischen Raum abläuft, findet sie oben i m Raum statt und ist dergestalt fokussiert. Der Fokus ist mithin durch die visuelle Formensprache auf das Geschehen im oberen Raum gelegt, in dessen Zentrum Lykaons Verwandlung in einen Wolf vor Augen gestellt ist. Der Grund dieser Verwandlung erschließt sich bei näherer Betrachtung der Szene: Es ist Jupiters Zorn, der aus der angebotenen Speise der gekochten Körperteile resultiert. Anders gewendet, lässt sich die Bildnarration, die als Dreieckskomposition angelegt ist, wie folgt fassen: Der Diener, der links den Raum betreten hat, bietet dem rechts sitzenden, rotgewandeten Jupiter offensichtlich die gekochten Körperteile als Speise an. So sind Jupiters Mimik und Gestik, die auf Lykaon gerichtet sind, als Reaktion auf diese Offerte zu verstehen. Das heißt, dass Lykaons Verwandlung, die bildkompositorisch als höchster Punkt herausgestellt ist, schließlich aus der Reaktion beziehungsweise Emotionalität Jupiters erwächst, der Lykaons Wesen erkennt. Durch das Sichtbarwerden des Wesens von Lykaon in der Metamorphose wird dann auch der ästhetische wie semantische Zusammenhang zwischen der Figur Lykaons unten und oben in der Miniatur evident. Denn Lykaons wolfsgleiches Wesen, das in seiner figura verborgen ist und sich bereits ansatzweise in seiner blutrünstigen Tötungsanweisung spiegelt, wird in der Verwandlung seiner Figur oben im Bild offenbar.194 An dieser Stelle ist entscheidend, dass zum einen das Bild keine Hinweise auf eine allegorische Bedeutung zeigt und dass sich zum anderen die Auslegung des Berchorius in natürlicher Übertragung an den Ovid-Text anlehnt: In dieser geht es allein um den „grausamen Geist“ (mentem crudelem) vorgeblich gerechter und wohltätiger Zeitgenossen und die Bedeutung deren Verwandlung in Wölfe, das heißt das notwendige Sichtbarmachen deren wolfsgleichen Wesens.195 Denn durch dieses Bild-Text-Gefüge werden die Form der Allegorie 192 Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996, S. 26. 193 Kemp, Die Räume der Maler, S. 29. 194 Demgemäß heißt es auch in der Paraphrase des Berchorius, die unter der Miniatur geschrieben steht: […] Iupiter mutauit eum in lupum, et sic factus est lupus manifeste, qui lupus fuerat mentaliter et occulte („Jupiter verwandelte diesen in einen Wolf, und so wurde jener, der insgeheim und im Geiste ein Wolf war, offensichtlich ein Wolf “). Petrus Berchorius, Ovidius moralizatus, I, 8, fol. 10vb, Zeilen 20– 22. 195 Petrus Berchorius, Ovidius moralizatus, I, 8, fol. 10vb, Zeilen 22–25, 33–35: Sic reuera multi sunt hodie, qui quamuis uideantur esse homines, quamuis fingantur se esse iustos, rationabiles et benignos, ipsi tamen mentem habent crudelem et lupinam […]. […] Isti finaliter mutantur in lupis, quia condictiones habent lupinas in quantum raptores magni noti efficiuntur […] („So gibt es in der Tat heute viele, die, obschon sie Menschen zu sein scheinen, [und] obschon sie vorgeben, gerecht, vernünftig und wohltätig zu sein, dennoch einen grausamen und wölfischen Charakter haben […]. […] Diese werden schließlich in Wölfe verwandelt, weil sie eine wölfische Veranlagung haben, sofern sie als große Räuber bekannt werden […]“).
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Allegorische Ikonotexte als Reflexionsfiguren der pictura
in Gestalt der Verwandlung des Lykaon und deren semantische Implikationen fokussiert. Diesbezüglich lässt sich festhalten: Durch die Konvergenz von Gestalt und Gehalt, die sich in der Verwandlung der figura zeigt, ist diese nicht als eine uneigentliche Hülle modelliert, die durch deren tiefere Bedeutung aufgehoben wird; vielmehr wird die figura durch diese gewissermaßen beseelt und somit deren konkrete körperliche Gestalt bekräftigt.196 Zwischen Figur und Figura kann insofern nicht unterschieden werden, als eine Realität anstelle der Sichtbarmachung eines übertragenen allegorischen Sinns vor Augen gestellt wird. Indem dergestalt die (uneigentliche) figura zum Eigentlichen wird, ist die Evidenz, die lebendige Anschaulichkeit der figura, ausgestellt. Das impliziert wiederum den ästhetischen wie wirklichkeitsdeutenden Anspruch der fabula. Damit formen Bild und Text eine naturalisierte Allegorie, in der sich die Sinnhaltigkeit in der Sinnlichkeit des Sinnbildes erfüllt und dabei dessen mimetische Gestalt in ein spannungsvolles Verhältnis zu deren Status des Uneigentlichen tritt.
196 Vgl. dazu Krüger, Figuren der Evidenz, S. 905–908 mit der Darstellung eines systematischen Problemzusammenhangs in Rückgriff auf Dante.
4 „Kunstgespräch“
Mit der Erörterung der Reflexion und Ausstellung des ästhetischen wie epistemologischen Vermögens der pictura und dem Befund, dass sich die allegorischen Ikonotexte als Reflexionsfiguren der Malerei erweisen, gilt es nun, den Diskurshorizont der Bilder näher zu erschließen. Damit rückt das Paradigma des „Kunstgesprächs“ in den Fokus, das im Allgemeinen als Konstruktion eines historischen Sprechens über Malerei, des historischen Dialogs zwischen Bilderzeugung und Bildbetrachtung, verstanden wird. Im Speziellen zielt die Frage nach dem „Kunstgespräch“ darauf ab, das historische Sprechen über die Bilder zu rekonstruieren, das deren Stellenwert im Diskurs um das Generieren und Stabilisieren von Wissen und dabei zugleich die ästhetische Funktion der Bilder herausstellt.1 Der Wert der Regia Carmina für das zu erforschende „Kunstgespräch“ besteht in der Verschränkung der Herstellung von Bildern einerseits und der textuellen wie visuellen Reflexion des zeitgenössischen Diskurses über ästhetischen Reiz, epistemologische Funktion und Theoriehaltigkeit der Malerei andererseits. Dabei zeigt sich im Sinne des „ästhetischen Diskurses“ der Frühen Neuzeit der methodologische Vorteil: In der konkreten Analyse des Werkes stellt sich eine „Korrelation von Theorie und künstlerischer Praxis“2 1 Vgl. dazu Kap. 6. Damit wird Baxandalls Studie Giotto and the Orators (1971), die nach den Konjunkturen der antiken Rhetorik und Poetik gefragt hat, durch eine komplementäre Perspektive ergänzt. Es werden Reflexionen der zeitgenössischen Kunstpraxis in unterschiedlichen Textgattungen fokussiert, in denen sich ein aus der Praxis der Bilderzeugung gewonnenes Sprechen zeigt. Dass die Herstellung von Bildern zur Metapher für eine spezifische Form von Erkenntnis und Wissensvermittlung wird, zeigt sich exemplarisch in dem 1282 entstandenen naturkundlichen Werk Composizione del mondo des Restoro d’Arezzo: Er erklärt und veranschaulicht natürliche Erscheinungen mit der Arbeit (operazione) von Künstlern. Siehe Restoro d’Arezzo: La Composizione del Mondo, hg. v. Albertino Morino, Parma 1997 (Biblioteca di scrittori italiani), I, 7, S. 19: E pare che le figure del cielo fóssaro desegnate e composte de stelle al modo de li savi artìfici che fano la nobilissima operazione musaica. Ferner verwendet er Begrifflichkeiten aus dem Gebiet künstlerischer Arbeit wie ta[u]ula rasa pontata und designata zur Darlegung kosmologischer Konstellationen: la taula rasa […] non dea èssare pontata né designata de cosa che non abia alcuna similitudine. E lo cielo non dea èssare pontato né desegnato de stelle, che non abia alcuna figura né alcuna similitudine, e sieno poste le stelle desordenatamente (I, 7, S. 24 f.). Demgemäß stellt er schließlich auch den Stellenwert künstlerischen Wissens für die Verfassung seines kosmologischen Traktates heraus, so dass sich die erkenntnistheoretische Einbindung von Artefakten und ihrer Herstellung sowie ihrer Funktionsweise in philosophischen Texten zeigt: E questa grandissima suttilità e grandissima conoscenza no ’nde dà empedimento a lo’ntelletto, anti l’aiuto a fare questo libro; e senza essa conoscenza questo libro non se potarea fare, a casione ch’elli li se dea trattare de ’magini e de figure e altro che rechere la conoscenza de quella grande sutilità (II, 1, S. 78). 2 Valeska von Rosen, Klaus Krüger, Rudolf Preimesberger: Vorwort, in: Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, hg. v. Valeska von Rosen, Klaus Krüger, Rudolf Preimesberger, München 2003, S. 7 f., hier S. 7. Siehe dazu eingehender Valeska von Rosen: Der stumme Diskurs der Bilder. Einleitende Überlegungen, in: ebd., S. 9–16. Vgl. dazu Nadia J. Koch: Die Werkstatt des Humanisten. Zur produktionstheoretischen Betrachtungsweise der Künste in Antike und Früher Neuzeit, in: Bildrhetorik, hg. v. Joachim Knape, Baden-Baden 2007, S. 161–179.
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„Kunstgespräch“
heraus, indem „die beiden Bereiche Theorie(korpus) und künstlerische Praxis“ gleichsam verschränkt sind und somit nicht „als distinkte Blöcke“3 erscheinen. So lege ich im Folgenden zunächst das Aufscheinen des zeitgenössischen Sprechens über Malerei im Medium des Textes dar. Indem sich in den Versen insbesondere die zeitgenössische topische Rede von der Naturhaftigkeit und Lebendigkeit der Malerei spiegelt, lassen sich daraus Rückschlüsse auf die immanenten Produktionsvorgaben sowie Rezeptionsbedingungen ziehen. Aufgrund des textuellen Befundes ist an Baxandalls grundlegende Studie Giotto and the Orators anzuschließen, in der er das Aufkommen der frühneuzeitlichen Kunsttheorie von Petrarca bis Leon Battista Alberti beleuchtet und nach deren Bedingtheit von Kriterien der Rhetorik und lateinischen Literatur fragt.4 Hinsichtlich der Erschließung des Diskurshorizontes der Bilder liegt der erkenntnisstiftende Wert gerade darin, dass sich die in der epideiktischen Rhetorik humanistischer Kunstbetrachtung gerühmte Anschaulichkeit und das Ausdrucksvermögen der pictura in den Regia Carmina auf materieller Ebene abzeichnen. Denn diese Aspekte werden im performativen Zugriff auf den Bildträger, die Folia der Handschrift, ‚greifbar‘: Es wird erfahrbar, dass der Bildfolge das rhetorische Konzept der enargeia mit seinen zentralen Kategorien der Lebendigkeit und des affektiven Vor-Augen-Stellens zugrunde liegt, das bekanntlich in der Kunst(theorie) der Frühen Neuzeit als ein grundlegendes Motiv der Bildkunst reflektiert wurde.5 Damit sind nicht nur – der Geltung des ut pictura poesisTheorems, also der Ähnlichkeitsrelation von Dichtung und Malerei, gemäß6 – rhetoriktheoretische Kriterien vom Rhetoriker Convenevole sprachlich an die Bilder herangetragen. In den Bildern wird vielmehr deren Theoriehaltigkeit ausgeformt, so dass sich in 3 von Rosen, Der stumme Diskurs der Bilder, S. 12. 4 Baxandall, Giotto and the Orators. Verwiesen sei hier auf Baxandalls Urteil der „ascendancy of language over experience“, S. 46. Vgl. dazu im Hinblick auf das „Kunstgespräch“ Belting, Das Bild als Text, S. 29, der in Bezug auf Baxandalls Studie äußert: „Der Sprechstil, den die Autoren benutzten, steuerte ihre Urteile über Kunst in stärkerem Maße, als es die direkte Erfahrung der zeitgenössischen Malerei tat. ‚Die Institution des Vergleichs von Malerei mit Literatur wurde ein humanistisches Spiel.‘ Aber der Vergleich diente nur der eigenen Sache. Er versetzte die Kunstkritiker in die Lage, Malerei nach literarischen Spielregeln zu beschreiben. Die wirklichen Analogien zwischen Bild und Text bleiben dabei aus dem Spiel, weil die antike Tradition der Kunstschriftstellerei keine Formeln anbot, um darüber sachgemäß zu handeln“. 5 Siehe dazu insbesondere Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt der Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27, 2000, S. 171–208. Zum Zusammenhang des enargeia-Konzepts mit einer zu evozierenden Lebendigkeit in der Kunst der Renaissance vgl. Mary E. Hazard: The Anatomy of „Liveliness“ As a Concept in Renaissance Aesthetics, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 33, 1975, S. 407–418. Siehe zudem zur Bedeutung des enargeia-Konzepts für intermediale Studien Campe, Vor-Augen-Stellen; Gottfried Boehm: Der Topos des Lebendigen. Bildgeschichte und ästhetische Erfahrung, in: Dimensionen ästhetischer Erfahrung, hg. v. Joachim Küpper, Christoph Menke, Frankfurt a. M. 2003, S. 94–112; Frank Fehrenbach: Calor nativus – Color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des ‚Lebendigen Bildes‘ in der frühen Neuzeit, in: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, hg. v. Ulrich Pfisterer, Max Seidel, München 2003, S. 151– 170; zuletzt Heinrich F. Plett: Enargeia in Classical Antiquity and the Early Modern Age. The Aesthetics of Evidence, Leiden 2012; grundlegend zum enargeia-Konzept siehe die jüngst erschienene Studie von Gyburg Radke-Uhlmann: Über eine vergessene Form der Anschaulichkeit in der griechischen Dichtung, in: Antike und Abendland 55, 2009, S. 1–22. 6 Siehe dazu Kap. 2.3.
Dilectio, Charis, Erato, oder: die ‚Liebe‘ zur Malerei 217
der Komposition die Theoriebildung gleichsam vollzieht. So lässt sich zum einen das in den Ikonotexten reflektierte Ausdrucksvermögen der pictura theoretisieren, wobei sich im Weiteren – und eben darin liegt der erkenntnisstiftende Wert – eine bildlich-textuelle Reziprozität zeigt: Die ‚kunsttheoretische‘ Begrifflichkeit erfährt auf der Ebene der historischen Semantik eine bildliche Konkretion, das Bild eine begriffliche Konkretion. Zum anderen zeigt sich die Verschränkung von Aspekten humanistischer epideiktischer Rede über Bilder mit theoretisch-künstlerischem, in Malerwerkstätten angestammtem Wissen hinsichtlich der gestalterischen und sinnerzeugenden Möglichkeiten des spezifischen Mediums einer Handschrift. Denn die angesprochene performative Erfahrung impliziert künstlerisches Wissen und setzt praktisches Werkstattwissen voraus. Damit knüpfen sich an das enargeia-Konzept Reflexionen verschiedener Möglichkeiten der Gestaltung und Ausstellung der Anschauungsleistung und des genuin deiktischen Potentials der Bilder, die – so möchte ich behaupten – aus dem zeitgenössischen „Kunstgespräch“ erwachsen sind.7 Solchermaßen ist die Theoretisierung der Bild-Text-Relationen und des daraus ableitbaren ‚stummen Diskurs der Bilder‘ an den Praxisbegriff gebunden, das heißt an die Herstellung einerseits sowie die Rezeption andererseits.
4.1 Dilectio, Charis, Erato, oder: die ‚Liebe‘ zur Malerei Die ‚Liebe‘ zur Malerei, die in den allegorischen Ikonotexten sinnfällig wird, ermöglicht eine Verortung der Regia Carmina innerhalb des bekannten und vielzitierten literarischen Malereidiskurses der Zeit. Zum einen lassen sich Boccaccios Reflexionen über die kunstvolle mimetische Malerei in der Amorosa visione an die des Convenevole anschließen.8 So spiegeln sich nicht nur die ironisch gesetzten wirkungslosen Mahnungen der 7 Zu Werkstattgesprächen, die als ein unmittelbar an die künstlerische Praxis gebundener kunstimmanenter Theoriediskurs verstanden werden, siehe Wolf-Dietrich Löhr, Stefan Weppelmann: Glieder in der Kunst der Malerei. Cennino Cenninis Genealogie und die Suche nach Kontinuität zwischen Handwerkstradition, Werkstattpraxis und Historiographie, in: Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco, Ausstellungskatalog, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, 10. 01. 2008–13. 04. 2008, hg. v. Wolf-Dietrich Löhr, Stefan Weppelmann, Berlin 2008, S. 12–43; Wolf-Dietrich Löhr: Handwerk und Denkwerk des Malers. Kontexte für Cenninis Theorie der Praxis, in: ebd., S. 152–176; Löhr, Dantes Täfelchen; Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 202 in Bezug auf Cennino Cenninis Libro dell’arte: „Cennini hat […] uns das Echo einer frühen Bilddiskussion hinterlassen“; Wolf, Schleier und Spiegel, S. 236 betrachtet Cenninis Traktat als einen Spiegel der „Werkstattgespräche“, in dem, „forciert gesagt, de[r] ‚Kunsttheoretiker‘ Giotto zu fassen“ wäre; siehe dazu auch jüngst Wolf, Die Frau in Weiß, S. 29. Vgl. zum Quattro- und Cinquecento und den kunsttheoretischen Schriften in Dialogform, in denen sich die Praxis des „Kunstgesprächs“ spiegelt, Valeska von Rosen: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians. Studien zum venezianischen Malereidiskurs, Emsdetten 2001, S. 81–140. 8 In der jüngsten literaturwissenschaftlichen Forschung wird Boccaccios Beschreibungskunst der Malereien als eine spezifische Form der Ekphrasis aufgefasst, insofern sie als eine Reflexion über die Möglichkeiten des Sprechens über Bilder erscheint. So ist sie „als ein Modell des trecentesken Kunstgesprächs zu fassen, das dergestalt eine Rekonstruktion des Sprechens über Bilder vor der Etablierung der Kunstgeschichtsschreibung im Cinquecento erlaubt“. Steigerwald, Erschriebene Bilder, S. 85. Vgl. dazu Rainer Stillers: Die Verwandlung der Bilder in Worte. Erzählte Poetik in Boccaccios Amorosa vi-
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„Kunstgespräch“
donna guida über die hässliche Kehrseite der so schön gemalten Bilder in der Figur des Pfaus. Daneben kann auch ein Zusammenhang zu Boccaccio über den species-Begriff, der an den Pfau gebunden ist, hergestellt werden.9 Zum anderen ist im Hinblick auf Petrarca eine divergierende Bildauffassung festzustellen, insofern das komplexe und intellektuelle Vergnügen (gaudium), das Petrarca in seinen Texten auf theoretischer Ebene von den Bildern fordert und ihnen als Qualitätsmerkmal zuschreibt10, in den gemalten Bildern der Regia Carmina ins Werk gesetzt ist. Das rezeptive Sich-Erfreuen sowie die Belehrung werden nicht nur in der Gestalt des Pfaus reflektiert, sondern auch in ihrer Rezeption erfahrbar.11 So verschränken sich hier gleichsam Boccaccios Reflexionen der mimetischen Malerei, die als zentrale Kategorie die illusionistische Täuschung (inganno) aufweisen, und Petrarcas gaudium, das auf das ingenium zurückgeht.12 Die in der Figur des Pfaus reflektierte Verbindung von Malerei und ingenium wie gaudium wird auch sprachlich thematisiert, wenn Convenevole die Personifikation der Dilectio auf fol. 14 sagen lässt: Cumque sit artis opus magnus uerusque magister, / ars dum cauta subit, tunc omnia uota minister / perficit, ut doctus. […] / 13 („Wie auch ein Kunstwerk eines großen und wahren Meisters bedarf, während die Kunst behutsam emporsteigt, führt der Gehilfe dann alle Wünsche aus, wie ein Unterrichteter“).14 sione, in: Metamorphosen. Wandlungen und Verwandlungen in Literatur, Sprache und Kunst von der Antike bis zur Gegenwart, Festschrift für Bodo Guthmüller, hg. v. Heidi Marek, Anne Neuschäfer, Susanne Tichy, Wiesbaden 2002, S. 27–37; als erweitere Fassung davon Rainer Stillers: L’Amorosa visione e la poetica della visualità, in: Autori e lettori di Boccaccio, Atti del Convegno internazionale di Certaldo, 20–22 settembre 2001, hg. v. Michelangelo Picone, Florenz 2002, S. 327–342. Zu Boccaccios Bildkonzept in der Amorosa visione siehe Barbara Kuhn: Sprechende Bilder und malende Worte. Boccaccios Amorosa visione als Vexierbild in Worten, in: Kunstgeschichten. Parlare dell’Arte nel Trecento, hg. v. Gerhard Wolf, München 2017 (im Druck). 9 Vgl. zu diesem Zusammenhang von Convenevole und Boccaccio Kap. 3 mit dem Hinweis auf Boccaccios Trattatello in laude di Dante. 10 Siehe Pétrarque, Les Remèdes aux deux fortunes. De Remediis utriusque fortune, I, 40, S. 202–205; Theodor E. Mommsen (Hg.): Petrarch’s Testament, Ithaca 1957, S. 87–80. Zu Petrarca siehe Baxandall, Giotto and the Orators, S. 54 f., 140 f. und kritisch demgegenüber jüngst Blume, Ingegno und Inganno, der in Bezug auf Baxandall formuliert: „Er betont – wie ich glaube zu unrecht – den konventionellen Charakter der Argumente und nimmt vor allem eine Bilderskepsis wahr. Die bewusst offene Struktur dieses Textes nimmt er nicht zur Kenntnis“, Anm. 53. 11 Vgl. M. Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia, Bd. 3: De oratore, II, 43 f., S. 177–179: Das primäre Rezeptionskriterium der Lobrede ist das delectare; M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars prior, II, x, 11, S. 95: Der ausgeprägte rhetorische Aufwand des panegyricus gilt insbesondere auch dem Genuss des Zuhörers. 12 Zur Semantik der Begriffe ingegno, inganno und diletto bei Boccaccio und Petrarca siehe Blume, Ingegno und Inganno. 13 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 14, Verse 71–73. 14 Vgl. zur Bedeutung der Malerei und der Notwendigkeit der Unterrichtung in dieser Fertigkeit Francesco da Barberino, Documenta Amoris, Bd. 2, Prohemium, De dubiis que possunt insurgere super ecclesiaste libro in variis, S. 26 f., wo ein Dialog zwischen dem Autor und einem Maler fingiert wird. Nachdem der Autor dargelegt hat, dass er seinen Texten Miniaturen beigefügt habe, die er selbst entworfen habe, heißt es: Sed posses tu querere: „Figuras istas, quas tu designasti, vidisti tu ibidem quomodo tu eas licet crosso modo factas, cum non esses pictor, vel in hoc primo aliquatenus instructus fecisti?“ („Aber du könntest
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Bereits die Tatsache, dass die Dilectio über die Malerei spricht, zeugt von der ‚Liebe‘ zur Malerei.15 In den Worten selbst artikuliert sich dann durch die Feststellung, dass die Malerei eines „großen und wahren Meisters“ bedürfe (magnus uerusque magister), konkret der Rang, der ihr beigemessen ist. Somit zeichnet sich in der Begriffsverwendung des magister, gepaart mit dem des doctus („unterrichtet“)16, die zur Zeit des Convenevole entstehende Auffassung ab, die Malerei als eine den Septem Artes Liberales gleichrangige Disziplin zu etablieren.17 Indes die Worte „während die Kunst behutsam emporsteigt“ (ars fragen: ‚Diese Figuren, die du gezeichnet hast, hast du sie gesehen ebenda, und wie hast du sie gemacht, wenngleich sie in grober Art gemacht sind, weil du doch kein Maler bist und darin bis zu einem gewissen Punkt Unterweisung erhalten hast?‘“). Vgl. dazu Francesco da Barberino, Documenta Amoris, Bd. 2, XI, i, 6748 (sub Gratitudine), S. 547, wo zwischen einem Zeichner (designator) und einem Maler (pictor) differenziert wird, bevor auf die Notwendigkeit der intellektuellen wie handwerklichen Fähigkeiten eines Malers hingewiesen wird: quod etsi non pictorem, designatorem tamen figurarum ipsarum me fecit necessitas, Amoris gratia informante, cum nemo pictorum illarum partium ubi extitit liber fundatus me intelligeret iusto modo. Poterunt hinc et alii meis servatis principiis reducere meliora („Notwendigkeit hat mich, befähigt durch die Gnade Amors, zu einem Zeichner gemacht, jedoch nicht zu einem Maler dieser Figuren; keiner der Maler an dem Ort, an dem das Buch begonnen wurde, hat mich richtig verstanden. Mit meinen erhaltenen Vorlagen werden es andere vermögen, sie hieraus in eine bessere Beschaffenheit zu versetzen“). 15 Vgl. zur Frage nach der Liebe zur Kunst Ulrich Pfisterer: Cennino Cennini und die Idee des Kunstliebhabers, in: Grammatik der Kunstgeschichte. Sprachproblem und Regelwerk im “Bild-Diskurs“. Oskar Bätschmann zum 65. Geburtstag, hg. v. Hubert Locher, Peter J. Schneemann, Zürich 2008, S. 95–117, hier S. 98 f. 16 Zum Begriff doctus als Epitheton des Künstlers siehe Elena Vaiani: Il topos della dotta mano dagli autori classici alla letteratura artistica attraverso le sottoscrizioni medievali, in: L’artista medievale, Atti del convegno internazionale di studi, Modena, 17–19 novembre 1999, hg. v. Maria Monica Donato, Pisa 2003, S. 345–364. 17 Filippo Villani schreibt in seinem um 1382 verfassten Werk De origine civitatis Florentie et de eiusdem famosis civibus, dass Malern vom Range Giottos der gleiche Status zuerkannt werden könne wie einem Magister der Artes Liberales, da auch die Maler Regeln hätten, die allerdings im Unterschied zu denen der Magister der freien Künste der Begabung (ingenium) und der memoria entspringen: […] extimantibus multis, nec stulte quidem, pictores non inferioris ingenii his quos liberales artes fecere magistros, cum illi artium precepta scriptis demandata studio et doctrina percipiant, hii solum ab alto ingenio tenacique memoria que in arte sentient mutuentur; Philippi Villani De origine civitatis Florentie et de eiusdem famosis civibus, XLVII, 9, S. 154. Siehe dazu Baxandall, Giotto and the Orators, S. 70 f., 147. Vgl. Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 5, S. 551, wo es über Giotto heißt: […] quanto con maggiore umiltà, maestro degli altri in ciò, vivendo quella acquistò, sempre rifiutando d’esser chiamato maestro. Il qual titolo rifiutato da lui tanto più in lui risplendeva, quanto con maggior disidero da quegli che men sapevan di lui o da’ suoi discepoli era cupidamente usurpato. („[…], mit je größerer Bescheidenheit er diesen Ruhm erwarb, indem er es immer ablehnte, Meister genannt zu werden, obwohl er Meister der anderen war, die diesen Beruf ausübten. Dieser von ihm abgelehnte Titel schien in ihm um so mehr auf, je größer die Gier war, mit der diejenigen, die weniger wussten als er oder seine Schüler, sich diesen gierig anmaßten“). Vgl. auch die am 12. April 1334 ausgestellte Urkunde, in der Giotto durch das kommunale Collegium der Florentiner Dombauhütte zum Bauführer der Dombaustelle ernannt wird und explizit in seinem Status als Maler (pittore) als magister bezeichnet ist. So heißt es in der Begründung, dass „auf der ganzen Welt, so sagt man, niemand gefunden wird, der geeigneter wäre in diesen und vielen anderen Dingen, als der Meister Giotto di Bondone aus Florenz, der Maler“ (in universo orbe non reperiri dicatur quemque, qui sufficientior sit in hiis et aliis multis magistro Giotto Bondonis de Florentia pittore). Dabei ist die Zuerkennung dieses Titels an die scientia und doctrina des Malers gebunden, die vielen nützlich sein wird (quam plures ex sua scientia et doctrina proficient), wodurch sowohl das umfassende Wissen als auch die gelehrten spezifischen Kenntnisse eines Malers bezeichnet sind. Schwarz/Theis, Giottus Pictor, S. 268.
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„Kunstgespräch“
dum cauta subit) lediglich nahelegen, dass diese Notwendigkeit in dem Entstehen von etwas Neuem begründet liegt, findet diese Annahme in der Aussage des Pfaus ihre Bestätigung. Denn ihr zufolge gründet das Emporsteigen in der Tat in etwas Neuem: […] uisis pedibus, nego donis / esse uenustatis me pictum uel nouitatis / grate […] / 18 („Sehe ich meine Füße, leugne ich, gemalt worden zu sein mit den Gaben der Anmut oder des gefälligen Neuen“).
Gemäß der Worte des Pfaus, der nicht glauben mag, dass die Malkunst etwas Hässliches hervorzubringen vermag, ist es die Anmut (venustas), die im zeitgenössischen Urteil mit dem Neuen in der Malerei in Verbindung gebracht wurde. Mit der grata novitas muss jedoch keineswegs nur das „gefällige Neue“ gemeint sein19; vielmehr kann novitas auch „das Überraschende“ bedeuten. Eine Bedeutung, die auf das Wesen des Pfaus durchaus zuzutreffen scheint.20 Damit ist auf die Lehre des Quintilian rekurriert, der in seiner Institutio oratoria die Erzeugung der venustas durch das Abweichen von dem in der Sprache Gewöhnlichen erklärt und so das dadurch gestiftete Überraschende mit der venustas in Zusammenhang bringt.21 So ist in dem Begriff der novitas auch die neue ästhetische Qualität des als anmutig beurteilten Fiktionscharakters der Malerei angesprochen, die in ihrer partiell illusionistisch-täuschenden Erscheinung ästhetisches Vergnügen bereitet. Denn die falsa der Oberfläche erzielen überraschende Effekte in der Wahrnehmung, werden aber zugleich in ihrem Fiktionscharakter durchschaut aufgrund des Fiktionsbewusstseins, das der Fiktionalität inhärent ist.22 Der Begriff venustas – obschon er auch aus metrischen Gründen gesetzt sein kann – markiert ferner einen weiteren intertextuellen Bezug: auf die Historia naturalis des Plinius und seine bekannte Passage zum Maler Apelles.23 In dieser schreibt Plinius der Malerei des Apelles Anmut (venustas) zu und hebt sie durch den Zusatz hervor, dass sie im Griechischen χάρις (charis) genannt werde.24
18 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Verse 18–20. 19 Zur novitas bzw. unterschiedlichen Neuheitskonzeptionen und -kontexten in der frühneuzeitlichen Kunsttheorie siehe die umfassende Überblicksdarstellung von Pfisterer, Die Erfindung des Nullpunktes, bes. S. 14 f. zur Vorstellung vom Neubeginn der Malerei im Trecento. 20 M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars secunda, VIII, iii, 74, S. 95, der dort die Wirkung des Neuen mit dem Überraschenden in Verbindung setzt: novitatis atque inexpectata magis est. 21 Siehe auch M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars prior, II, xiii, 11, S. 100 und IV, ii, 118, S. 220. 22 Vgl. Warning, Fiktion und Transgression, S. 34. 23 Folgt man Baxandall, verweist der Begriff venustas, der die Begriffe des ingenium und der ars eines Künstlers impliziert, auf die Vertrautheit des Convenevole mit den Strukturen des trecentesken Kunstdiskurses. Somit ist durch die Verwendung des auf Plinius verweisenden Begriffs venustas das Neue in der zeitgenössischen Kunst indiziert. Siehe in diesem Zusammenhang Baxandall, Giotto and the Orators, bes. S. 49. 24 C. Plini Secundi Naturalis historiae libri XXXVII, Bd. 5: Libri XXXI–XXXVII, hg. v. Karl Mayhoff, Leipzig 1967 [Nachdruck von 1897] (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), XXXV, 79, S. 258: Verum omnes prius genitos futurosque postea superavit Apelles Cous olympiade centesima duodecima. picturae plura solus prope quam ceteri omnes contulit […]. praecipua eius in arte venustas fuit, […] illam suam venerem […], quam Graeci χάριτα vocant.
Dilectio, Charis, Erato, oder: die ‚Liebe‘ zur Malerei 221
Welche Bedeutung das Wortpaar venustas/χάρις für Convenevole hatte25, wird sichtbar, wenn im weiteren Verlauf der Handschrift die Chariten nicht nur zu Wort kommen, sondern auch als gemalte Figuren erscheinen, was ihre Bedeutsamkeit zeigt (Taf. 34). Als Spenderinnen der Anmut äußern sie unter anderem: […]. Flores ordine legum / nos aperimus et hostia Musis artibus ortum / 26 („Wir öffnen die Blumen durch die Ordnung der Gesetze und den Musen die Türen, den Künsten das Entstehen“).27
Offen bei dieser Wendung bleibt, ob das „Entstehen“ einen zeitlichen Bezug auf die bildenden Künste der Gegenwart des Autors impliziert: in dem Sinne, dass die Musen, das heißt die Text- und Sprachkünste, schon da sind und nur noch den Raum der Anmut betreten müssen, wohingegen die Aufgabe der Chariten bezüglich der ‚Bildenden Künste‘ darin liegt, mit dem Samen der Anmut für ihr Entstehen Sorge zu tragen und sie wachsen zu lassen. Damit wäre mittels eines – meines Wissens zu dieser Zeit – außergewöhnlichen Bildformulars auf ‚reizvolle‘ Weise zum Ausdruck gebracht, in welchem Maße die Malerei als neuartig bewertet und im Urteil der Zeitgenossen mit Anmut und erfreuendem Reiz belegt wurde. Bemerkenswert ist, dass in den gemalten Figuren der Chariten und ihren Worten bereits wesentliche Aspekte angesprochen sind, die in der späteren kunsttheoretischen Literatur seit dem Quattrocento den Diskurs zur gratia konstituieren. So äußert in den Regia Carmina die dritte der Schwestern, deren Worte in der Textspalte über ihrer gemalten Gestalt geschrieben stehen: Tertia sudores ego patior atque labores / ac operum latrix sum consors atque paratrix. / 28 („Ich, die Dritte, ertrage Schweiß und Mühen, und ich bin Überbringerin, Teilhaberin und Bereiterin der Werke“).
Die Bedeutung dieser Aussage scheint sich in Leon Battista Albertis Traktat Della pittura wiederzufinden, heißt es dort doch in II, 45, wo Alberti von der erforderlichen Anmut (grazia) der Bewegung handelt:
25 In Bezug auf die Erforschung der Schriften und der historischen Figur Francesco Petrarcas sei hier auf die Handschrift mit Plinius Historia naturalis hingewiesen, die sich in Petrarcas Besitz befand (Paris, Bibliothèque Nationale, lat. 6802) und in der er bekanntermaßen die genannte Passage zum griechischen Wort charis mit einer Glosse versehen hat (fol. 256v). 26 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 25, Vers 26 f. 27 Hier spiegelt sich der Aspekt der poiesis, siehe dazu Kap. 2.3. Entgegen der in den Kommentarbänden des Londoner und Florentiner Faksimiles vertretenen Auffassung, dass diese Worte von Juno, Venus und Pallas Athene gesprochen werden, bin ich aufgrund zahlreicher Topoi, die sich in der antiken Literatur beim Sprechen über die drei Grazien finden und sich in den vorausgehenden wie nachfolgenden Versen wiederfinden, der Meinung, dass hier die Chariten das Wort ergriffen haben. Zur Bestimmung in den Kommentarbänden siehe Grassi, Regia Carmina, S. 100; Convenevole da Prato, Regia Carmina. Panegirico, S. 147. 28 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 24v, Vers 46 f.
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„Kunstgespräch“
Ma siano […] i movimenti moderati e dolci, più tosto quali porgano grazia a chi miri che maraviglia di fatica alcuna („Aber die Bewegungen sollen […] gemäßigt und lieblich sein, sie sollen dem Betrachter mehr Anmut darbieten als Verwunderung über irgendwelche Mühe erheischen“)29.
Dass die neuartige Malerei aus Liebe zur Malerei erwächst, versinnbildlicht schließlich am Ende der Handschrift Erato, die Muse der L ieb e s dichtung. Ihre Worte sind gemäß dem ut pictura poesis-Diktum zu verstehen, so dass sich in ihnen die Leistung und Anerkennung der Malerei spiegelt. Wohin diese Liebe führt, worin also das Neuartige konkret besteht, legt ihr Ausspruch klar: Inuenio similes inuenctis comparo formas, / nature normas ymitor non dogmate uiles. / Incipit esse meum picte referens alienum, / et laudis plenum capio similando tropheum. / 30 („Ich erfinde und schaffe Formen, die dem Erfundenen ähnlich sind31, ich ahme die Regeln der Natur nach, nicht verachtenswert durch den Lehrsatz. Es beginnt meines zu sein, das Fremde mit malerischen Mitteln zurückzubringen, und durch die Nachahmung erhalte ich ein ruhmreiches Siegeszeichen“).
Es ist die mimetische Darstellungsweise, die als neu bezeichnet ist: Während das „es beginnt“ (incipit) den Entstehungsprozess von etwas Neuem anzeigt, dürfte mit dem Fremden die Natur gemeint sein, die gefunden und durch eine mimetisch ‚gemalte‘ Anschaulichkeit zurückgebracht wird (picte referens alienum).32 Eben diese Qualität der empirischen Naturnachahmung wird schließlich ausgezeichnet, wenn sie mit einem „ruhmreichen Siegeszeichen“ belegt wird (capio similando tropheum). Bedeutsam hierbei ist, dass sich dieses Konzept der imitatio naturae von jenem unterscheidet, das in den ersten beiden Versen angesprochen ist – dort meint die Nachahmung der Regeln der Natur die Strukturgleichheit zwischen der ars mit ihrem gedanklichen Entwurf sowie dessen handwerklicher Herstellung und den Prinzipien der Natur.33 So bringt Erato eine Auffassung zum Ausdruck, die sich im Verlauf des 14. Jahrhunderts etablieren wird: Hinsichtlich künstlerischer Tätigkeit respektive Arbeit steht nicht mehr der Aspekt ihrer Nützlichkeit allein im Vordergrund, sondern der ästhetische Eigenwert des geschaffenen Kunstwerkes steigt zu bedeutendem Rang auf.34 29 Leon Battista Alberti: Della Pittura – Über die Malkunst, hg., eingel., übers. und komm. v. Oskar Bätschmann, Sandra Gianfreda, Darmstadt 2002, II, 45, S. 138 f. 30 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 30, Verse 17–20. 31 Zur inventio beziehungsweise fantasia und der Erzeugung von Artefakten siehe Löhr, Dantes Täfelchen, bes. S. 165–171. 32 Zur Wiederentdeckung der Natur, die verbunden ist mit der Wiederbelebung der Malerei, siehe Panofsky, Renaissance and Renascences, S. 18 f. 33 Siehe Kap. 2.3. 34 Vgl. erneut Giovanni Boccaccio, in dessen Esposizioni sopra la Comedia di Dante sich ebenfalls beide Konzepte der imitatio naturae finden. Boccaccio, Esposizioni, Canto XI, S. 554: Sforzasi il dipintore che la figura dipinta da sé, la quale non è altro che un poco di colore con un certo artificio posto sopra una tavola, sia tanto simile, in quello atto ch’egli la fa, a quella la quale la natura ha prodotta e naturalmente in quello atto si dispone, che essa possa gli occhi de’ riguardanti o in parte o in tutto ingannare, facendo di sé cre-
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Daneben können Eratos Worte auch dergestalt ausgelegt werden, dass sie zum einen das enargeia-Konzept implizieren, demzufolge die Aufgabe der Dichtung darin besteht, durch eine sinnliche Anschaulichkeit beim Zuhörer die Illusion zu erzeugen, abwesende Dinge als unmittelbar sinnlich wahrzunehmen beziehungsweise nach einer Imitation anschaulicher Bildlichkeit zu streben, um die Illusion eines sichtbaren Bildes zu erzeugen.35 Komplementär zu diesem Konzept mag Erato als Muse der L ieb e s dichtung zum anderen auf die Anekdote des Plinius von der Erfindung der Malerei verweisen (Naturalis historiae XXXV, 43), die mit einer L ieb e sgeschichte in Zusammenhang steht: Die Tochter des Butades erfindet die Malerei, indem sie beim Abschied von ihrem Geliebten sein durch den Kerzenschein an die Wand geworfenes Schattenbild nachzeichnet, um das Bild des Geliebten festzuhalten. In der Erato verbinden sich die Prinzipien der poiesis von Dichtung und Malerei in einer chiastischen Struktur, da sie einer unterschiedlichen Systematik folgen. Die Liebe bringt eine sich durch sinnliche Anschaulichkeit auszeichnende poesia und pictura hervor, was auch als eine Ausstellung der praxis im doppelten Sinne des Dichtung und Bilder hervorbringenden Convenevole betrachtet werden kann.36 Das exemplarisch vorgestellte Sprechen über Malerei in den Regia Carmina zeigt, dass Convenevole in ein Umfeld eingebunden war, in dem eine intensive Auseinandersetzung um die Funktionen und Leistung der Bilder stattfand. Wesentliche Kriterien dieses zeitgenössischen gelehrten Sprechens über Malerei sind in der poiesis des Convenevole aufgegriffen und insbesondere auf den Pfau, der die Regia Carmina versinnbildlicht und somit einen Rezeptionsgegenstand bezeichnet, reflexiv übertragen – beziehungsweise vice versa. Denn an den gemalten Pfau sind zentrale Begriffe wie jene der naturnahen schönen Gestalt (species), der Anmut (venustas), des gefälligen Neuen oder Überraschenden (grata novitas) und der damit in Zusammenhang stehenden dilectio gebunden. Kriterien, die sich in zahlreichen späteren Schriften Petrarcas, Boccaccios37 und Filippo Villanis38 finden, um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen. Zudem ist in der Gestalt des Pfaus ein weiteres wesentliches Kriterium der epideiktischen Rede über Bilder reflektiert: die stets betonte Lebendigkeit der Malerei, die ihr soviel Bewunderung einbringt.39 Hat der Pfau doch vor den Augen des ihn bewundernden impliziten Betrachters sein Federkleid gerade aufgeschlagen, wie der historische Betrachter aus der Lektüre enzyklopädischer wie litedere che ella sia quello che ella non è […]. Vgl. dazu Baxandall, Giotto and the Orators, S. 66. Vgl. auch die Äußerungen Giovanni Boccaccios über den mimetisch-illusionserzeugenden Eigenwert bildhafter Dichtung in den Genealogie deorum gentilium, XIV, xvii, Bd. 2, S. 1468 und zu dieser Passage Stillers, Anthropologische Poetik, S. 146. 35 Siehe grundlegend zum enargeia-Konzept Radke-Uhlmann, Über eine vergessene Form der Anschaulichkeit. 36 Vgl. in Analogie dazu folgende Worte des Proömiums zum Schöpfergott, der „sämtliche Dinge in Liebe aus dem Nichts geschaffen hat“: res ex nicchilo cunctas in amore creauit. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 1, Vers 2. 37 Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 5; Giovanni Boccaccio, Esposizioni, Canto XI, S. 554; Giovanni Boccaccio: Amorosa visione, hg. v. Vittore Branca, Mailand 2000 [Nachdruck von 1974] (Oscar classici, Bd. 508), Text B, IV, 16–18, S. 140 f.; Pétrarque, Les Remèdes aux deux fortunes. De Remediis utriusque fortune, I, 40, S. 202–205. 38 Philippi Villani De origine civitatis Florentie et de eiusdem famosis civibus, XLVII, 9. 39 Vgl. Baxandall, Giotto and the Orators, S. 51 f.
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rarischer Werke weiß.40 Indem dem Pfau durch den Verweis auf die Auswirkungen seines Erscheinens Lebendigkeit verliehen wird, spiegelt sich in ihm somit das rhetorische Konzept der enargeia, die dem Bereich der affektischen Redefiguren angehört.41 Die Illusionskraft der Figur erscheint im Sinne der Rhetoriklehre als wirkungsästhetische Strategie. Das Konzeptuelle der Malerei, die in der Figur des Pfaus als Metaallegorie der Bildkunst versinnbildlicht ist, lässt sich jedoch nicht nur im rhetorischen Konzept der enargeia bestimmen. Hinzu kommt die zeitgenössische Empirie visueller Wahrnehmung, die sich meines Erachtens auf der Ebene der historischen Semantik im Begriff der species fassen lässt. Wesentlich ist dabei die Kopplung von ausgestellter Anschaulichkeit der mimetischen Figur und dem Begriff der species. Angeführt seien diesbezüglich noch einmal die Worte des Pfaus, in denen er seine gemalte Beschaffenheit betont: Hic ego sum pauo […] / […]. / Forma superborum sum picta […] / […]. / Esse quidem noui me quod de lumine […] / […]. / Glorior at caude specie […] / […] / et caude crines pedibus tunc indico fines / 42 („Hier bin ich Pfau […]. Ich bin g em a lte Gestalt der Stolzen […]. Ich weiß, dass ich wahrlich von diesem leuchtenden Glanz g em a c ht bin […]. Ich rühme mich hinsichtlich der schönen Gestalt des Schweifes, und ich zeige die Federn des Schweifes den Füßen als Ziel“).
Hinsichtlich des Begriffs der species ist zunächst festzuhalten, dass sich der Pfau der schönen Gestalt seines Schweifes rühmt (glorior at caude specie) und dessen Federn als Ziel zeigt (et caude crines pedibus tunc indico fines). Wenn hieran in Rekurs auf Stephan Meier-Oeser43 die species als eine mediale Nachbildung des visuellen Eindrucks verstanden wird, den ein gesehenes Ding in den Sinnen hinterlässt und der die Beschaffenheit des Gesehenen bestimmt, so dürfte der Ikonotext des Pfaus bedeuten: Es ist die gemalte Gestalt, die bezüglich der Beschaffenheit des Gesehenen Erkenntnis stiftet. Denn die mimetische Malerei stellt die gleiche species vor Augen wie der natürliche Gegenstand. Damit bezeichnet hier die Verbindung des Begriffs species mit einem natürlichen Objekt, einem Pfauen, die epistemische Qualität der mimetischen Malerei.44 4 0 Siehe Anm. 18 in Kap. 3.1. 41 Siehe M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars secunda, VIII, iii, 70, S. 94 und IX, ii, 40, S. 153. 42 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Verse 10, 45, 11, 17, 28. 43 Stephan Meyer-Oeser formuliert in Bezug auf die im 13. Jahrhundert entfaltete species-Theorie: „Die üblich gewordene Übersetzung der species als ‚Erkenntnisbilder‘ sollte nicht dazu verleiten, sie im strikten Sinne als piktoriale Repräsentationen zu verstehen. Eher handelt es sich um Ähnlichkeiten (similitudines) oder mediale Replikate jener Form, die einem materiellen Objekt jeweils die Qualität verleiht, die wir durch die species wahrnehmen“. Stephan Meier-Oeser: Medienphilosophische Konzeptionen in der Erkenntnis- und Zeichentheorie des Mittelalters, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 15, 2010, S. 48–62, hier S. 55, Anm. 40. 4 4 Zur Komplexität des Begriffs species bezüglich des Verhältnisses von Sehvermögen und Gewissheit, der species-Theorie der Wahrnehmung und dem Zusammenhang von species, Licht und Farbe siehe Anneliese Maier: Das Problem der „species sensibiles in medio“ und die neue Naturphilosophie des 14. Jahrhunderts, in: Anneliese Maier: Ausgehendes Mittelalter. Gesammelte Aufsätze zur Geistesgeschichte des 14. Jahrhunderts, Bd. 2, Rom 1967, S. 419–452; Katherine H. Tachau: The Problem of the Species in Medio in the Generation after Ockham, in: Mediaeval Studies 44, 1982, S. 394–443; Tachau,
Die enargeia gemalter Figuren 225
Die erkenntnisstiftende Bedeutung des Pfaus hinsichtlich des zeitgenössischen „Kunstgesprächs“ und Malereiverständnisses lässt sich schließlich, unter Verweis auf die oben erwähnten Worte der Erato, anhand der bekannten Passage aus Boccaccios Esposizioni zu Giotto exemplarisch plausibilisieren. Boccaccio spricht in dieser Passage seines Dante-Kommentars über Dantes Aussage, dass die Kunst der Natur folge, insofern das Bemühen bestehe, die Dinge, die ein natürliches Vorbild haben, der Natur ähnlich herzustellen. Die Absicht dabei sei, dass die hergestellten Dinge eine gleiche Wirkung haben wie jene, die durch die Natur hervorgebracht sind. Damit strenge sich der Maler an, dass die von ihm gemalte Figur, die nichts anderes sei als ein bisschen Farbe mit einer gewissen Kunstfertigkeit auf eine Tafel angebracht, in der Haltung, in der er sie schaffe, derjenigen ähnlich sei, welche die Natur hervorgebracht hat. Diese Ähnlichkeit sei so groß, dass die Malerei die Augen der Betrachter teilweise oder ganz täuschen könne, indem sie von sich glauben mache, etwas zu sein, was sie nicht ist.45 Damit erweisen sich diese Ikonotexte der Regia Carmina als Reflexionsfiguren eines historischen „Kunstgesprächs“. In ihnen zeigt sich der Stellenwert des historischen Sprechens über Bilder im Diskurs um das Generieren und Stabilisieren von Wissen, wobei sich zugleich die ästhetische Funktion der Bilder spiegelt.
4.2 Die enargeia gemalter Figuren In mehrfacher Hinsicht erweist sich der Pfau als Sinnbild der Regia Carmina als erkenntnistheoretische Figur: Zunächst gelangt in ihm die Geltung des ut pictura poesis-Theorems46 zu sinnfälliger Anschauung, und zwar nicht nur aufgrund der sinnbildlichen ‚Verschwisterung‘ von Malerei und Dichtung; vielmehr stellt er den Stellenwert bildhafter Anschaulichkeit in monumentaler Weise vor Augen. Daran bindet sich das Konzept der Mimesis – dass einer mimetischen Darstellungsweise eine entscheidende ästhetische Bedeutung beigemessen ist, erschließt sich gemäß des ut pictura poesis aus den Worten der Muse Erato.47 Dementsprechend kann schließlich – neuzeitlich gesprochen – die in den Worten der Muse Kalliope zum Ausdruck kommende Bedeutung des enargeia-Verfahrens Vision and Certitude. Zur zentralen Bedeutung des Begriffs species in der optischen Wissenschaft des 14. Jahrhunderts siehe von kunsthistorischer Seite Frank Büttner: Giotto und die Ursprünge der neuzeitlichen Bildauffassung. Die Malerei und die Wissenschaft vom Sehen in Italien um 1300, Darmstadt 2013, S. 15–27; ferner Belting, Florenz und Bagdad, S. 144–150. Zur species als Erkenntnisbilder und ihrer Bedeutung in der mittelalterlichen Erkenntnistheorie siehe Stephan Meier-Oeser: Die Spur des Zeichens. Das Zeichen und seine Funktion in der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Berlin 1997, S. 86–103. 45 Boccaccio, Esposizioni, Canto XI, S. 554: […] Secondo che ne bastano le forze dello ’ngegno, c’ingegnamo nelle cose, le quli il naturale esemplo ricevono, fare ogni cosa simile alla natura, intendendo, per questo, che esse abbiano quegli medesimi effetti che hanno le cose prodotte dalla natura, e, se non quegli, almeno, in quanto si può, simili a quegli, sí come noi possiam vedere in alquanti esercizi meccanici. Sforzasi il dipintore che la figura dipinta da sé, la quale non è altro che un poco di colore con un certo artificio posto sopra una tavola, sia tanto simile, in quello atto ch’egli la fa, a quella la quale la natura ha prodotta e naturalmente in quello atto si dispone, che essa possa gli occhi de’ riguardanti o in parte o in tutto ingannare, facendo di sé credere che ella sia quello che ella non è […]. 4 6 Siehe dazu Kap. 2.3. 47 Siehe dazu Kap. 2.3 und 4.1.
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„Kunstgespräch“
für die Mimesis der Dichtung auf die Malerei übertragen werden.48 Kalliope legt dar, dass ihre klangvolle Kunst „mit schicklicher Verfahrungsart gemacht ist“ (fit ratione decora)49 und bindet daran die Qualität der enargeia, des anschaulichen „Vor-Augen-Stellens“ des Erdichteten50: Sie freut sich, gehört zu werden, während sie es den Augen vorführt (gaudeo sentiri, dum luminibus gero)51. Demgemäß zeigt der Pfau eine reflexive Verschränkung von mimetischer Darstellung und deren Darstellungsweise im Sinne der rhetorischen enargeia.52 In der Übertragung der enargeia auf die Malerei spiegelt sich dann auch die in der naturalisierten Allegorie modellierte „Evidenzproblematik“. Denn die einsichtige Klarheit der mimetischen Erscheinung gerät in Konflikt mit der Uneigentlichkeit der Allegorie, die eigentlich unklar verschleiernd ist.53 Dergestalt werden die Sinnlichkeit und damit die Präsenz des Sinnbildes gegenüber der Repräsentation stark gemacht, was mit der enargeia beziehungsweise evidentia konvergiert, die auf eine wirkungsvolle Präsenz des rhetorisch hergestellten, fingierten Augenscheins zielt und dabei dessen „bloßen Zeichencharakter […] vergessen lassen möchte“54. Das heißt: Mit der evidentia als Fiktion, die Präsenzeffekte auslösen soll, um durch solche Veranschaulichung zur Einsicht zu führen55, korrespondiert der fingierte Augenschein der mimetischen Bildallegorie, aus dem die Einsichten erwachsen. Zugleich verweist der Pfau aber auch in seiner Gegenüber 48 Zur Bedeutung des enargeia-Verfahrens für die Mimesis der Dichtung und dessen Übertragung auf die Malerei im Cinquecento siehe von Rosen, Die Enargeia des Gemäldes. 49 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 30v, Vers 2. 50 Eine umfassende Definition der enargeia findet sich in M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars prior, VI, ii, 29–32, S. 327 f.: at quo modo fiet, ut adficiamur? […] quas φαντασίας Graeci vocant (nos sane visiones appellemus), per quas imagines rerum absentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur, has quisquis bene conceperit, is erit in adfectibus potentissimus. quidam dicunt εὐφαντασίωτον, qui sibi res, voces, actus secundum verum optime finget […]. Insequitur ἐνάργεια, quae a Cicerone inlustratio et evidentia nominatur, quae non tam dicere videtur quam ostendere, et adfectus non aliter, quam si rebus ipsis intersimus, sequentur („Aber wie ist es möglich, sich ergreifen zu lassen? […] Jeder, der das, was die Griechen φαντασίαι nennen – wir könnten visiones (Phantasiebilder) dafür sagen –, wodurch die Bilder abwesender Dinge so im Geiste vergegenwärtigt werden, daß wir sie scheinbar vor Augen sehen und sie wie leibhaftig vor uns haben: jeder also, der diese Erscheinung gut erfaßt hat, wird in den Gefühlswirkungen am stärksten sein. Manche nennen den εὐφαντασίωτος (phantasievoll), der sich Dinge, Stimmen und Vorgänge am wirklichkeitsgetreuesten vorstellen kann. […] Daraus ergibt sich die ἐνάργεια (Verdeutlichung), die Cicero illustratio (Ins-Licht-Rücken) und evidentia (Anschaulichkeit) nennt, die nicht mehr in erster Linie zu reden, sondern vielmehr das Geschehen anschaulich vorzuführen scheint, und ihr folgen die Gefühlswirkungen so, als wären wir bei den Vorgängen selbst zugegen“). Übersetzung aus Quintilianus, Ausbildung des Redners, 1. Teil, S. 709–711. Vgl. dazu M. Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia, Bd. 1: Incerti auctoris de ratione dicendi Ad Herennium lib. IV, IV, lv, 68, S. 189; M. Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia, Bd. 3: De oratore, III, 53, S. 348. Vgl. dazu Bundy, Theory of Imagination, S. 105–110; John M. Cocking: Imagination. A Study in the History of Ideas, London 1991, S. 18–30; Bernhard F. Scholz: Ekphrasis and Enargeia in Quintilian’s Institutionis oratoriae libri xii, in: Rhetorica Movet. Studies in Historical and Modern Rhetoric in Honour of Heinrich Franz Plett, hg. v. Peter L. Oesterreich, Thomas O. Sloane, Leiden 1999, S. 3–24. 51 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 30v, Vers 16. Siehe dazu Kap. 2.3. 52 Siehe dazu Kap. 3.1 und 4.1. 53 Vgl. dazu Kap. 3.2. 54 von Rosen, Die Enargeia des Gemäldes, S. 172. 55 Ansgar Kemmann: Evidentia/Evidenz, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Darmstadt 1996, Sp. 33–47, hier Sp. 39 f.
Die enargeia gemalter Figuren 227
stellung mit Kassandra darauf, dass die beiden Gattungen Dichtung und Malerei in ihrer Medialität, ihrem spezifischen Zeichengebrauch, divergieren. Damit ist weiter zu fragen, inwiefern die Bilder ihr spezifisches deiktisches Potential in einem ‚stummen Diskurs‘ vor Augen stellen und somit in der Handschrift die spezifische Medialität der Malerei und deren rezeptionsästhetische Erfahrbarkeit reflektiert werden. Diese Frage vollzieht sich nicht nur vor dem Hintergrund der Figur des Pfaus, mit der sich die relevanten Kriterien eines wirkungsorientierten Bildkonzeptes fassen lassen, die im zeitgenössischen Sprechen über Bilder erörtert wurden. Zudem erlauben die angeführten Textpassagen, in denen sich die zeitgenössische topische Rede von der Naturhaftigkeit und Lebendigkeit der Malerei spiegelt, Rückschlüsse auf die immanenten Produktionsvorgaben sowie Rezeptionsbedingungen der Malerei zu ziehen. So erörtere ich im Folgenden, dass die Betonung der Lebendigkeit der Malerei von einer Reflexion dieser Bildqualität zeugt, insofern – um Convenevoles Metaphorik fortzuführen – in den Regia Carmina ein Echoraum geschaffen wird, in dem diese spezifische Qualität zur Schau gestellt wird. Konkret wird dargestellt, inwiefern das rhetorische Konzept der enargeia mit seinen zentralen Kategorien der Lebendigkeit und des affektiven Vor-Augen-Stellens auch im performativen Zugriff auf die Folia erfahrbar wird. Solchermaßen zeigt sich in zweifacher Weise eine medientechnische Funktionsweise des Vor-Augen-Stellens: einmal anhand des Mediums der Malerei, andermal anhand des spezifischen Trägermediums der Handschrift. Die These lautet also: Es sind eben nicht nur rhetoriktheoretische Kriterien sprachlich an die Bilder angelegt, sondern deren Theoriehaltigkeit ist zuvorderst in den Bildern ausgestellt. Das heißt, dass gleichsam in der Komposition die Theoriebildung erfolgt. Dergestalt ist das enargeia-Konzept von zentraler Bedeutung für den sich im Trecento herausbildenden Diskurs um die spezifische Medialität der Malerei. Dabei verblüfft, dass in den Regia Carmina bereits ein Phänomen – wenngleich im Keim – angelegt ist, das Valeska von Rosen in ihrem Aufsatz zur enargeia für die Kunst des Cinquecento anhand von Traktatliteratur einerseits und Bildern andererseits dargelegt hat: „Zunächst ist in den Kunsttheorien des späten Quattro- und des Cinquecento das Interesse am Enargeia-Konzept nachzuweisen […]; die Belege hierfür finden sich signifikanterweise meist im Kontext des Paragone zwischen Malerei und Poesie. War nämlich die Gültigkeit des Ut-pictura-poesis-Diktums im hier interessierenden Zeitraum unbestritten, so war doch das Bewußtsein bereits ausgeprägt, daß die Künste in den ‚mezzi d’imitazione‘ divergierten. Diese ‚Mittel‘ sind es, die in den Paragonediskussionen seit dem späten Quattrocento in den Blickpunkt der Gattungsreflexion geraten und damit ein frühes Interesse an der ästhetischen Medialität der Künste, ihres spezifischen Zeichengebrauchs sowie der Möglichkeiten ihrer jeweiligen Erfahrbarkeit von Seiten der Rezipienten indizieren. Es läßt sich zeigen, daß auch das Enargeia-Theorem dieses Bewußtsein der spezifischen Medialität der Gattungen ausgebildet hat. In der Vorstellung von der größeren Anschaulichkeit und Intensität des Bildes gegenüber der Sprache erkannten die Kunsttheoretiker das Potential für die Paragonediskussion und nutzten es, um die höhere Evidenz des Gegenständlichen – und eben nicht nur des Vorstellungsbildes – zu postulieren“56. 56 von Rosen, Die Enargeia des Gemäldes, S. 173.
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„Kunstgespräch“
Die Gestaltung dieser spezifischen pikturalen Anschaulichkeit sei nun konkret an den Figuren des Supplikations- und Huldigungsbildes betrachtet, das sich über die Folia 10v bis 13 erstreckt.57 Die zentrale Frage lautet dabei, inwiefern sich in den Figuren gemäß der rhetorischen Tradition die Verschränkung von „Evidenz als Begriff und als Verfahren“ zeigt, das heißt: die Ausstellung von ‚Anschaulichkeit‘ und ‚Gegenwärtigkeit‘ durch die Bilder zum einen und die Evidenz als „simulative Verfahrensweise“ zum anderen, die auf Affekt und Persuasion zielt.58 In dem paarseitig angelegten Bild der Folia 10v und 11 (Taf. 16 und 17) schaut der im Profil dargestellte König auf die Italia, die auf der gegenüberliegenden Rectoseite in gebeugter Haltung und mit vor der Brust gekreuzten Armen vor ihm steht. Die Gründe ihres Bittgesuchs stellt die ästhetische Ausgestaltung ihrer Darstellung vor Augen: Die Textblöcke, die ihren Körper an Haupt, Schultern und Rücken niederdrücken und den ‚niederschmetternden‘ Gehalt ihrer Worte anzeigen, verdeutlichen ihren bedrückenden Zustand. Ihr aufgelöstes Haar verweist auf ihre erschütterte Verfassung, ihre expressive Mimik bezeugt ihre innere Qual. So versinnbildlicht die formale Gestalt die illustrative Anschaulichkeit der Darstellung (enargeia), wobei die expressive Ausdrucksästhetik auf eine affektive Wirkung zielt (energeia) und zum Handeln bewegen soll. Es zeigt sich mithin die Reziprozität von enargeia und energeia, insofern der enargeia gleichsam ein energetisches Vermögen zugeschrieben wird, während die Wirkung der energeia aus der Anschaulichkeit erwächst.59 Dass der Gegenstand der Lobrede lebendig vor Augen gestellt ist, wird im Akt des Umblätterns von fol. 11 erfahrbar. Auf fol. 11v und 12 treten die trauernde und klagende Roma sowie Herkules an den thronenden König heran (Taf. 18 und 19). Durch diese prozessionsartige Bewegung wird die dargestellte Supplikation dynamisiert und deren Wirkung gegenüber dem König verstärkt. Entscheidend ist hier die Wahrnehmung des förmlichen sich Näherns der Roma im Zuge der Bewegung des Bildträgers. Am Ende dieser Bewegung, mit dem Zuschlagen der Rectoseite von fol. 11, steht die Roma im inneren Bild des Betrachters unmittelbar vor dem König. Hier spiegelt sich das auf die Malerei übertragene Konzept der enargeia, indem das Präsent-Machen der verbildlichten Handlung im performativen Rezeptionsakt erfahrbar wird: Dem Betrachter wird die sich gestisch vollziehende Supplikation und Bewegtheit durch die performativ erzeugte Bewegung der Roma zum unmittelbar erlebten, sinnlich erfahrbaren Handlungsverlauf. Produktionsästhetisch gewendet heißt dies: Indem der Supplikationsgestus durch den Supplikationsakt eine konkrete bild-gegenständliche Verwirklichung erfährt und so die Bedeutung des Lebendigmachens der Gegenstände ‚greifbar‘ beziehungsweise anschau 57 Vgl. dazu Kap. 3.3. 58 Zur Bedeutung der Evidenz als Verfahren siehe Rüdiger Campe: Evidenz als Verfahren. Skizze eines kulturwissenschaftlichen Konzepts, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus 8, 2004, S. 105–133, hier S. 124– 127, Zitate S. 127: In Bezug auf die „Evidenz im aristotelischen Corpus und in der rhetorischen Tradition“ spricht er von der „Dopplung und […] Kopplung […], in der Evidenz als Begriff und als Verfahren auftritt. Eine dadurch informierte kulturwissenschaftliche Untersuchung geht also von der primären Kopplung von Evidenzbegriff und -verfahren in der philosophischen und rhetorischen Terminologiegeschichte aus“. Zum rhetorischen Verfahren der Evidenz hier M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars secunda, VIII, iii, 61, S. 92 und IX, i, 40, S. 142. 59 Zum Zusammenhang von enargeia und energeia siehe Campe, Vor-Augen-Stellen, bes. S. 208 f., 218; Müller, Evidentia und Medialität, bes. S. 62 f.; Willems, Anschaulichkeit, S. 186 f., 365–403 u. ö.
Die enargeia gemalter Figuren 229
lich wird, zeigt sich, dass die kompositorische Form der Bildfolge in der enargeia fundiert ist.60 Demzufolge sind hier der Inhalt der Bildfolge, das Bittgesuch an den König, der sich als Adressat der Handschrift im Bild dargestellt wiederfindet, und enargeia-Konzept systematisch verschränkt. Die mimetische, psychologisch verdichtete Ausdrucksästhetik der Italia und Roma zielt konzeptionell auf die affektive Teilnahme des historischen Betrachters.61 Rhetoriktheoretisch prägnanter heißt dies: Die unmittelbare Anschaulichkeit der Darstellung mit ihrer pathoshaltigen Wirkung zielt in ihrer Offenkundigkeit auf die Verbindlichkeit des sinnlich Offenkundigen ab. Dabei ist in kunsttheoretischer Perspektive entscheidend, dass durch diesen erzeugten Präsenzcharakter der Charakter der Repräsentation der Bilder überblendet wird und der illusionistische Effekt der Malerei bezeichnet ist. Eben diese vor Augen gestellte Anschaulichkeit, die in ihrer Lebendigkeit eine affektive Wirkung entfaltet, spricht die Florentia in ihrer Rede an König Robert an. Die Florentia folgt Herkules auf fol. 13 nach (Taf. 21), so dass die Bewegung der bildlichen Darstellung erneut durch die Bewegung des Trägermediums sinnfällig und der Supplikation Nachdruck verliehen wird.62 Die niederkniende Florentia ist in ein in den heraldischen Farben rot und weiß gefärbtes Übergewand gehüllt, das sie vor ihrer Brust zusammenhält. So treffen die beiden unterschiedlich gefärbten Stoffenden, dem Wappen der florentinischen Kommune als politischer Körperschaft gleich, zeichenhaft aufeinander.63 In ihrer gezeigten Huldigung spricht sie explizit die Erregung der vorgebrachten Bittgesuche an, die sie sehe (sentio uoti concepti), weil die Erregung offenkundig sei durch offenbare Zeichen/Bilder (signa patentia): Suscipe, ne tardes, curam, qui sensibus ardes / plenis feruoris diuini, rex, et amoris. / Hec quoque tutela tibi Rome sumpta medela / Italie toti fuerit: nam sentio uoti / concepti motum per signa patentia notum. / 64 60 Siehe M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars prior, VI, ii, 29–32, S. 327 f., der die Bedeutung des Lebendigmachens der Gegenstände betont, weil dadurch die Illusion des Zuhörers erzeugt wird, die Eindrücke des anschaulich Geschilderten unmittelbar sinnlich wahrzunehmen und damit eine emotionale und unmittelbar beeindruckende Wirkung erzielt wird. Vgl. M. Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia, Bd. 1: Incerti auctoris de ratione dicendi Ad Herennium lib. IV, IV, lv, 68, S. 189: Demonstratio est, cum ita verbis res exprimitur, ut geri negotium et res ante oculos esse videatur („Eine anschauliche Schilderung liegt vor, wenn ein Sachverhalt so mit Worten zum Ausdruck gebracht wird, daß der Eindruck entsteht, die Tat werde wirklich ausgeführt und die Sache spiele sich vor unseren Augen ab“). Übersetzung aus Rhetorica ad Herennium. Lateinisch – Deutsch, hg. und übers. v. Theodor Nüßlein, Düsseldorf 21998 [1994] (Sammlung Tusculum), S. 315. 61 Vgl. zur Bedeutung der rhetorischen Visualisierungsstrategie fingierter Augenzeugenschaft in der Lehrdichtung und für die ‚höfische‘ Literatur u. a. Christina Lechtermann: Affekterregung und höfische Literatur im Welschen Gast, in: Beweglichkeit der Bilder. Text und Imagination in den illustrierten Handschriften des Welschen Gastes von Thomasin von Zerclaere, hg. v. Horst Wenzel, Christina Lechtermann, Köln 2002, S. 143–155. 62 Vgl. Müller, Evidentia und Medialität, S. 63: „der Gegenstand muß als ein lebendiges Ganzes, gewissermaßen in Bewegung (actio!), ad oculos präsentiert werden“. 63 Zu dem Wappen vgl. Luciano Artusi: Firenze araldica. Il linguaggio dei simboli convenzionali che blasonarono gli stemmi civici, Florenz 2006, S. 63 f. 6 4 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 12v, Verse 34–38.
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„Kunstgespräch“
(„Übernimm, du mögest nicht zögern, die Fürsorge, der du glühst durch volle Sinne der Leidenschaft, oh König, und göttlicher Liebe. Dieser von dir angenommene Schutz Roms wird auch Heilmittel für ganz Italien sein: Freilich sehe ich die Erregung des vorgebrachten Wunsches, offenkundige Erregung durch offenbare Zeichen/Bilder“).
Die dargelegte Wahrnehmung bezeichnet zum einen die enargeia als die Klarheit des VorAugen-Gestellten und zum anderen die affektive energeia, die sich in der bildlichen Darstellung zeigt. Zudem wird in der Komposition des fol. 13 mit der Florentia und des vorausgehenden Folio mit Herkules ebenfalls eine gesteigerte plastische Anschaulichkeit erfahrbar. Während zum einen eine weitere Dynamisierung der Huldigung erfolgt, offenbart sich zum anderen beim Auf- und Zuschlagen des fol. 12 eine gegenläufige Bewegung (Taf. 19): Herkules erscheint in Positionierung und Größe deckungsgleich mit der Florentia, so dass eine performative, formale In-eins-Setzung dieser beiden Figuren erfolgt.65 Die Kommune Florenz erscheint somit verbunden mit ihrem Siegelbild, als das sich Herkules zu Beginn seiner Ansprache bezeichnet: Cuius tantillum me claudit ymago sigillum / me sic premisit […] / 66 („Das Bild derjenigen, deren kleines Siegel mich einschließt, hat mich so vorausgeschickt“).67
In diesem visuell nachvollziehbaren Vorgang der Bedeutungsaufladung erweist sich die Metaphorik der Besiegelung als fundamental: Herkules, der das historische Siegelbild der Stadt Florenz war (Abb. 38 und 39), beglaubigt hier gleichsam in einem Akt der Besiegelung durch das Aufdrücken seines Bildes und dessen Trägermediums den vornehmen Status der Florentia. Der Auftritt der Florentia, die zunächst als Geringste in der dargestellten Rangordnung erschien, erweist sich als eine Demonstration der Stärke. Es ist eben diese im Sinne der enargeia modellierte ‚einprägsame Ausprägung‘ der Stärke der Florentia, die sie als Bündnispartnerin von König Robert zur selbst erbetenen Rettung der Italia und Roma vergegenwärtigt. Hierin spiegelt sich, dass Convenevoles Konzeptualisierung der enargeia in der energeia fundiert ist, welche die Wirksamkeit der Rede durch überredende Verlebendigung bezeichnet. Angesichts dieser ‚eindrücklich‘ vor Au 65 Zur Bedeutungsaufladung von Miniaturen durch den performativen Umgang mit ihrem Trägermedium vgl. Wolfgang Christian Schneider: Die ‚Aufführung‘ von Bildern beim Wenden der Blätter in mittelalterlichen Codices. Zur performativen Dimension von Werken der Buchmalerei, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 47, 2001, S. 7–35. Vgl. zur Semantisierung des Trägermediums am Beispiel des Triptychons Rimmele, Das Triptychon als Metapher. 66 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 12, Vers 1 f. 67 Zum Zusammenhang der Herkules-Figur mit dem Siegelbild der florentinischen Kommune vgl. Maria Monica Donato: Hercules and David in the Early Decorations of the Palazzo Vecchio. Manuscript Evidence, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 54, 1991, S. 83–98, hier S. 85 und S. 85, Anm. 10. Zum Siegel der Kommune Florenz mit der Figur des Herkules siehe Leopold D. Ettlinger: Hercules Florentinus, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 16, 1972, S. 119– 142, hier S. 119–123; Robert Davidsohn: Forschungen zur älteren Geschichte von Florenz, Bd. 2: Aus den Stadtbüchern und -Urkunden von San Gimignano (13. und 14. Jahrhundert), Berlin 1900, S. 220, Nr. 1636 und S. 257; Bascapé, Sigillografia, S. 237.
Die enargeia gemalter Figuren 231
gen gestellten Stärke der Florentia vermag sich auch die Semantik ihrer erhabenen Würde zu entfalten, die bereits in ihrer Erscheinung zum Ausdruck gelangt – in ihrer aufrechten Haltung, ihren fein gelegten Haaren, in denen sich ihre Distinguiertheit gegenüber der Roma und Italia sinnfällig zeigen mag, in dem zarten Schleier, der ihr Gesicht umhüllt sowie in ihrem reich ornamentierten Gewand. Die Entfaltung dieser Bedeutung ist erneut an den Zugriff auf den Bildträger gebunden. So wird im Zuge des Zurückblätterns im Kodex die augenscheinliche Assoziierung der Florentia mit der Himmelskönigin Maria auf fol. 5 (Taf. 7) sinnfällig. In motivisch signifikanter Weise ist die Analogie der Florentia zur Muttergottes gestaltet: Einmal nimmt diese in dem paarseitig angelegten Bildformular der Folia 4v und 5 (Taf. 6 und 7), das unter anderem das Jüngste Gericht bezeichnet, als Fürbitterin der Menschheit eine Position im Himmel ein – die Himmelskrönung ist bereits vollzogen, hat die Muttergottes doch ihre Krone neben sich abgelegt. Andermal fungiert die Florentia (Taf. 21), gegeben in analoger Körperhaltung, gleichsam als weltliche Fürsprecherin für die ob ihrer lasterhaften Zustände hilfsbedürftigen Roma und Italia vor dem auf fol. 10v thronenden Robert von Anjou. Dabei wird die florentinische Wappenblume mit herrschaftlicher Würde aufgeladen, wenn sich die Lilie im Rücken der Florentia in analoger Position zur Krone der Himmelskönigin auf der Thronbank befindet. Die so bezeichnete Bedeutsamkeit und Macht der Florentia ermisst sich durch die Aufwertung Mariens als Fürsprecherin. Ist doch auf den Folia 4v und 5 das Motiv der Deësis fragmentiert – in ihr flankieren Maria und Johannes der Täufer den thronenden Christus –, so dass Maria als alleinige Fürsprecherin erscheint.68 Die Würde Mariens sowie die Wirksamkeit ihrer Fürbitte werden somit auf die Florentia übertragen. Der ausgezeichnete Status von Florenz wird schließlich auch dadurch vor Augen gestellt, als sie dem König mit Gaben Huld zu erweisen vermag und sich darin von der supplizierenden Italia und Roma abhebt.69 Die Ehren 68 Siehe dazu Kap. 6.1. Vgl. Giottos Weltgerichtsbild in der Arenakapelle in Padua (1303–1305) (Abb. 40), in dem das Deësis-Motiv ebenfalls fragmentiert ist und Maria in alleiniger Darstellung eine Aufwertung erfährt. Von einer Mandorla umfangen, ist sie den Auserwählten vorangestellt. 69 Vgl. hinsichtlich der gezeigten Stärke der Florentia, die König Robert und der angevinischen Signoria entgegentritt, den Problemzusammenhang, den Krüger, Bildlicher Diskurs und symbolische Kommunikation, S. 148 f. ausgehend von Giottos Personifikation der Giustizia (Abb. 20) dargelegt hat: „Giottos Darstellung der Giustizia […] ist ein sinnfälliges Beispiel für die vieldimensionale Verdichtungskraft der bildlichen Symbolisierung und näherhin für jenes Sinnstiftungsziel der symbolischen Kommunikation, das Edward Muir hintergründig mit dem Begriff der ‚Transsubstantiation‘ belegt hat. Kontrafaktisch zum Bild der Ingiustizia wird durch die evidente Assoziierung der Gerechtigkeit mit der Himmelskönigin Maria die professionelle Regierungskompetenz, die im politischen Kontext der Kommunen längst als ein säkulares Substitut und Kompensat an die Stelle der vormals göttlich legitimierten ‚Übernatur‘ herrscherlichen Handelns getreten ist, charismatisch überhöht und aller Alltäglichkeit institutioneller Verhältnisse entrückt. Damit tritt eine grundsätzliche und über diesen Fall weit hinausreichende Frage in den Blick, nämlich inwieweit angesichts der zunehmenden ‚funktionalen Ausdifferenzierung‘ (Luhmann) identitätsstiftender Einheitsideale und Gemeinwohlideen aus bisherigen kirchlich-religiösen Fundierungszusammenhängen, wie sie im Zuge von Aristotelesrezeption und politischer Theoriebildung seit dem Duecento unübersehbar voranschreitet, öffentliche Bilder und Bildprogramme sowohl durch neuartige Ikonographien als auch und gerade durch medieneigene Sprachformen und Visualisierungsstrategien ein durch diese Entwicklung aufgetretenes charismatisches Vakuum besetzen und es, gewissermaßen kompensatorisch, mit religiöser beziehungsweise quasireligiöser Autorität zu füllen suchen“.
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„Kunstgespräch“
bezeichnungen, die sie dem König übergibt, drei Lilien in Weiß, Gold und Rot, erscheinen auf der rechten Seite des fol. 12v und damit zwischen ihr und dem König (Taf. 20). Dazu spricht sie unter anderem folgende Worte, die um die oberste Lilie sowie unmittelbar über der roten Lilie fixiert sind: Tres tibi do flores, tibi tres debentur honores: / […]. / Hos ego, rex, flores, Florentia, do per honores. / 70 („Ich gebe dir drei Blumen, dir gebühren drei Ehrenbezeichnungen: […]. Ich, Florentia, gebe dir, König, diese Blumen als Huldigung“).
In Bezug auf das „Kunstgespräch“ lässt sich schließlich festhalten: In der Rezeption der Bildfolge wird erfahrbar, dass deren Komposition im enargeia-Theorem fundiert ist. Damit schreibt der Rhetoriker Convenevole den Bildern nicht nur textuell rhetoriktheoretische Kriterien zu, sondern führt auch in der Komposition die Theoriebildung durch und stellt so die Theoriehaltigkeit der Malerei aus. Indem er einen ‚stummen Diskurs der Bilder‘ gestaltet, wird der persuasive und affektive Wert des ‚Zeigen statt Sagen‘71 von ihm aufgrund der neuen Qualitäten der Malerei wörtlich genommen. Die an den Bildträger geknüpfte Ausformung der spezifischen evidentiellen Qualitäten der Malerei geht auf künstlerisches Wissen zurück und erfordert praktisches Werkstattwissen: Die Theoriebildung ist an den Praxisbegriff, also die Herstellung wie die Rezeption, gebunden. Produktion und Rezeption der enargeia stehen in einem wechselseitigen Verhältnis, so dass sich der erkenntnistheoretische Wert der Regia Carmina in Bezug auf das „Kunstgespräch“ mit seinem historischen Dialog zwischen Bilderzeugung und Bildbetrachtung erweist.72 Mit anderen Worten zeigt sich im Sinne des „ästhetischen Diskurses“ der Frühen Neuzeit eine „Korrelation von Theorie und künstlerischer Praxis“73. Denn in der poiesis des Rhetorikers Convenevole verbinden sich rhetoriktheoretisches Wissen und 70 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 12v, Verse 42, 54. 71 Zur Ausstellung der Deixis vgl. Kap. 3.1. Zum Bewusstsein der Prägnanz des Gesichtssinns sowie der Wirkung von Sinneserscheinungen in stark emotionalisierender Weise und der stärkeren Pathoshaltigkeit des Bildes gegenüber dem Text, in dem das enargeia-Theorem fundiert ist, siehe u. a. M. Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia, Bd. 3: De oratore, II, 87, S. 255 f.; M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII, Pars secunda, XI, iii, 67, S. 340; Q. Horatius Flaccus Opera, Ars poetica, Vers 179 f., S. 317. Vgl. hierzu Ernesto Grassi: Macht des Bildes, Ohnmacht der rationalen Sprache. Zur Rettung des Rhetorischen, Köln 1970, S. 16, 78 f., 89 f., 155, 169 f. Zur Tradierung dieser Vorstellung im Mittelalter siehe Michel de Certeau: Nikolaus von Kues. Das Geheimnis eines Blickes, in: Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt a. M. 1990, S. 325–356, bes. S. 338 f. 72 Vgl. in Bezug auf das Konzept des „Kunstgesprächs“ jenes des „Medienwissens“: Eckart Conrad Lutz, Martina Backes, Stefan Matter: Vorwort, in: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, hg. v. Eckart Conrad Lutz, Martina Backes, Stefan Matter, Zürich 2010, S. 5 f., hier S. 5, bestimmen es als „ein Wissen der Produzenten um die Handhabung und die Wirksamkeit der Mittel, deren Einsatz Erkenntnisprozesse im Leser auszulösen und zu steuern vermag; ein Wissen, an dem Autoren, Schreiber und Rezipienten in unterschiedlicher Weise Anteil haben und dessen Aktivierung gerade in verschiedenen Formen des – Interferenzen fördernden – vermittelnden mündlichen Austauschs, des ‚Gesprächs‘, geschieht“. 73 von Rosen/Krüger/Preimesberger, Vorwort, S. 7. Vgl. dazu eingehender von Rosen, Der stumme Diskurs der Bilder.
Die enargeia gemalter Figuren 233
Aspekte humanistischer epideiktischer Rede über Bilder mit künstlerischem, in Malerwerkstätten gebildetem Wissen hinsichtlich der gestalterischen und sinnerzeugenden Möglichkeiten des spezifischen Mediums einer Handschrift. Nicht zuletzt liegt der Wert der Regia Carmina auch darin, dass in dieser Reflexion und Gestaltung der enargeia nicht nur die für die Malerei des Trecento vielfach konstatierte Bedeutung des neu erfahrbaren Reizes sinnlicher Unmittelbarkeit konkret fassbar wird, sondern sich diese auch theoretisieren lässt.
5 Sprechen in Bildern – Sprechen über Bilder
5.1 Die mimetische Allegorie Schlägt der Betrachter im Kodex das fol. 22 auf, steht ihm eine vielfigurige Szenerie vor Augen (Taf. 29): Hinter einem bildparallel aufgestellten, die gesamte Breite des Folio ausfüllenden Tisch haben drei gleich große Frauenfiguren auf einer Bank nebeneinander Platz genommen. Die mittlere von ihnen, die als Bekrönte en face gegeben ist, spricht den Betrachter durch ihren Blick unmittelbar an und lenkt so dessen Blick auf sich. Jedoch wendet sie ihn mit ernster Miene sogleich von sich ab durch die Haltung ihres rechten Armes, den sie vor der Brust erhoben hat; mit Zeige- und Mittelfinger weist sie auf die rotgewandete Figur links von sich. Diese hat ihre frontale Sitzhaltung aufgegeben und wendet sich mit deutlicher Körperdrehung einwärts sowie geneigtem Haupt dem Jüngling zu, der in vorderster Bildebene vor dem Tisch niederkniet. Mit einem vornehmen Kleid angetan, dessen roter Stoff mit bezweigten goldenen Äpfeln durchwirkt ist, wendet er sich, im Profil dargestellt, seinerseits der Rotgewandeten zu: Mit leicht in den Nacken gelegtem Kopf schaut er zu ihr auf, so dass sich ihre Blicke treffen. Zugleich reicht er ihr mit seinem ausgestreckten rechten Arm über den Tisch hinweg einen bezweigten roten Apfel, den sie mit ihrer Rechten annimmt, während er mit seiner linken Hand die Finger ihrer Linken umfasst, die sie wie ihre Rechte auf dem Tisch niedergelegt hat. Dergestalt sind die Überreichung des Apfels sowie die Handreichung parallel zur Blickachse ins Bild gesetzt. Da diese mit der deiktischen Armhaltung der mittleren Figur kongruent ist, wird kompositionell wie bildhaft auf die sich soeben vollziehende Handlung nachdrücklich verwiesen: durch die mehrfache Diagonalität wie auch durch die Kongruenz von Zeigen und Blick. Insofern die Verbundenheit des Jünglings mit der Rotgewandeten nicht nur durch die Handlung ersichtlich ist, sondern auch durch die Dopplung des roten Gewandes sowie des Motivs des Apfels sinnfällig wird, ist offenbar, dass das Urteil des Paris dargestellt ist.1 So bezeichnet das rote Kleid des Jünglings mit den goldenen Äpfeln den ‚Grund‘ sowie das ‚Motiv‘ seines Urteils: Seine entflammte Liebe zu Helena und die Zwietracht zwischen den drei zu sehenden Göttinnen, die durch den goldenen Apfel der Eris gesät wurde und einen Richterspruch erforderlich machte. Dieser ist durch den
1 Die Singularität der Darstellung betont Saenger, Lobgedicht auf König Robert, S. 39: „Das Parisurteil des Lobgedichtes steht m. W. im 14. Jahrhundert als Einzelkomposition völlig ohne Parallele da. […] Vor dem Anfang des 15. Jahrhunderts findet sich […] m. W. nirgends ein Bild des Parisurteils außerhalb des geschlossenen Vorstellungskreises der Troja-Epen“. Zur Popularität bildlicher Darstellungen zur Troja-Geschichte um 1300 siehe Bernhard Degenhart, Annegrit Schmitt: Frühe angiovinische Buchkunst in Neapel. Die Illustrierung französischer Unterhaltungsprosa in neapolitanischen Scriptorien zwischen 1290 und 1320, in: Festschrift Wolfgang Braunfels, hg. v. Friedrich Piel, Jörg Traeger, Tübingen 1977, S. 71–92, hier S. 74–77.
Die mimetische Allegorie 235
roten Apfel bezeichnet2, so dass der Augenblick des Urteilsspruchs zugunsten der Venus vor Augen steht, die durch die rote Farbe ihres Gewandes als Göttin der Liebe kenntlich gemacht ist. Der Mythos erzählt3, dass Zeus während der Hochzeitsfeier des Peleus und der Thetis, an der alle Olympier teilnahmen, durch Eris, die Göttin der Zwietracht, einen goldenen Apfel mit der Aufschrift „der Schönsten“ unter die Gäste auf den Boden werfen ließ, woraufhin sich ein unlösbarer Streit zwischen Pallas Athene, Juno und Venus entfachte.4 Beanspruchten doch alle drei Göttinnen den Apfel für sich. Zur Schlichtung des Streites bedurfte es somit eines Schiedsspruchs, der nach dem Willen von Zeus durch Paris getroffen werden sollte, den er zum Richter auserwählte. Um den Urteilsspruch zu ihren Gunsten ausfallen zu lassen, suchten die Göttinnen Paris durch Versprechungen jeweils für sich zu gewinnen: Juno versprach ihm die Königsherrschaft über Asien und Europa, Pallas Athene versprach kriegerische Lorbeeren und Venus die Liebe der schönen Helena, der Frau des spartanischen Königs Menelaos. Paris urteilte, blind für die durch Pallas Athene verkörperte Weisheit und die durch Juno personifizierte Tugend, zugunsten der Venus, also der sinnlichen Schönheit. So führte der Urteilsspruch zum Raub der Helena, der schließlich den Trojanischen Krieg auslöste und den Untergang Trojas mit sich brachte.5 Die tugendhafte Juno, die sich in der Miniatur als gekrönte Götterkönigin in der Mitte des Geschehens befindet, kann ihre Wut über das Urteil des Paris nicht verhehlen: Ihre Linke, die vor ihrem Bauch auf dem Tisch lagert, hat sie angespannt zu einer Faust geballt. Dass sich ihre ‚Wut im Bauch‘ auf das Urteil bezieht, wird durch die formale Komposition evident: Dieses wird augenblicklich vor ihrer Hand vollzogen, wobei die Übergabe des Apfels nicht nur mit Junos Faust eine vertikale Achse bildet, sondern auch mit ihrem erstarrten Gesichtsausdruck. So ist der Affekt der Wut zu einer psychologisch verdichteten Ausdrucksästhetik gesteigert. Auf Junos Empörung reagiert Pallas Athene, die sich lorbeerbekrönt rechts von ihr niedergelassen hat und sich durch ihre schräge Sitzhaltung wie ihren Blick Juno und dem Geschehen zuwendet. Vornehmlich zeigt sich ihre Reaktion jedoch in ihrer Linken, die sie zu einem Redegestus6 erhoben und so nah an Junos
2 Zum unterschiedlichen Wert des Apfels im Urteil des Paris und im Streit bei der Hochzeit siehe Albert Severyns: Pomme de discorde et Jugement des déesses, in: Phoibos 5, 1950/1951, S. 145–172. 3 Dieser ist aus verschiedenen literarischen Quellen zu rekonstruieren, die angeführt sind bei Anneliese Kossatz-Deissmann: Paridis iudicium, in: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae, Bd. 7,1, Zürich 1994, S. 176–188. Zu Tradition und Rezeption der Grundform des Mythos Udo Reinhardt: Das Parisurteil bei Fulgentius (myth. 2, 1). Tradition und Rezeption, in: Studien zu Gregor von Nyssa und der christlichen Spätantike, hg. v. Hubertus R. Drobner, Christoph Klock, Leiden 1990, S. 343–362. Zur Gestaltung des Parisurteils in der Literatur des Mittelalters siehe Margaret J. Ehrhart: The Judgment of the Trojan Prince Paris in Medieval Literature, Philadelphia 1987. 4 So sind die Göttinnen in den Regia Carmina genannt: die beiden letztgenannten mit ihren römischen Namen, während Erstere mit dem griechischen Namen Pallas (Athene) bezeichnet ist. 5 Vgl. Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen, Bd. 2: Die Heroengeschichten, München 1966, S. 244–247; Karl Reinhardt: Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung, Göttingen 1960, S. 16–36. 6 Der hier gezeigte Redegestus findet sich unter anderem in zahlreichen Autorenbildern in Trobadorsammlungen aus dem späten 13. und beginnenden 14. Jahrhundert. Gezeigt sei exemplarisch fol. 8 der Trouvère sammlung X, Paris, Bibliothèque Nationale, Nouv. acq. fr. 1050 (Ende 13. Jh.) (Abb. 41a und 41b).
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Sprechen in Bildern – Sprechen über Bilder
Schulter herangeführt hat, als wolle sie diese gleich zuredend berühren. So ist durch den Redegestus die Bedeutsamkeit ihrer Worte angezeigt, die sich nicht nur auf Juno beziehen, sondern auch auf das sich vor ihren Augen vollziehende Urteil. Bildet doch ihr erhobener Arm eine weitere Parallele zu Handreichung und Apfelübergabe sowie zu Junos deiktischem rechten Arm, so dass die Relation sinnfällig wird. Gemäß ihrer mahnenden Geste äußert Pallas Athene denn auch – die Worte bilden die beiden letzten Verse, die unmittelbar über ihrer gemalten Figur geschrieben sind: Non te reginam decet hanc nec habere ferinam / ore uoluntatem, set uelle piam bonitatem. / 7 („Und es geziemt dir nicht, Königin, diesen Willen von wilden Tieren im Gesicht zu haben, sondern die fromme Güte zu wollen“).8
Gleitet der Blick von ihrer linken Hand aus an der Diagonalen des Armes herab, führt er zum belaubten Zweig, den ihre Rechte umfasst und an dem ein Granatapfel hängt. Von dort aus wird der Blick in neuem Kurs über das Bild geführt: Durch eine Blickbewegung nach rechts an der Tischkante entlang wird ersichtlich, dass Pallas Athenes rechte Hand mit dem Granatapfel auf einer Horizontalen mit Junos geballter Faust und dem Urteilsapfel liegt, den Venus mit ihrer Rechten in Empfang nimmt. Dieses Gefüge wird schließlich dadurch semantisch aufgeladen, dass Junos Linke, die auf die Unausgewogenheit des Urteils verweist, formal wiederum mit jener der Modestia korrespondiert, die auf der gegenüberliegenden Versoseite von fol. 21 in blauem Gewand figuriert (Taf. 28). Wandert der Blick mithin über die Grenze des fol. 22 hinaus, zeigt sich, dass Modestias linke Hand ebenfalls auf dieser Horizontalen liegt. Bezeichnenderweise hält diese eine Waage mit weiteren Messgeräten wie Krug und Gewichten als Zeichen des Maßhaltens und gerechter Rechtsprechung. Damit wird die Bedeutung des formalen Unterschiedes zwischen dem Urteilsapfel und dem Granatapfel offenbar, der sich in deutlicher Markierung vom Ersteren dadurch unterscheidet, dass auf seiner Unterseite Reste des Blütenkelchs kro 7 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22, Vers 10 f. 8 Mit dem „wilden“, ‚ungebändigten‘ Gesichtsausdruck korrespondiert Junos Gestus der geballten Faust als Zeichen wütenden Zorns. Zorn und Güte scheinen hier allegorisch für personales Racheverlangen und ‚Staatsräson‘ zu stehen, wobei den Worten der weisen Pallas Athene zufolge der politischen Vernunft der Vorzug zu geben ist. Indem die königliche Schönheit der Juno als Zeichen höfischen Adels in ein Spannungsverhältnis mit der unmäßigen Gebärde des „Willens von wilden Tieren“ gesetzt ist, wird das Spannungsverhältnis von höfischer Form und kreatürlicher Wildheit und damit die Gefährdung höfischer Ideale sinnfällig zum Ausdruck gebracht. Vgl. zu diesem Zusammenhang den Abschnitt „Wilde Blicke. Zur unhöfischen Wahrnehmung von Körpern und Schriften“ in Horst Wenzel: Höfische Repräsentation. Symbolische Kommunikation und Literatur im Mittelalter, Darmstadt 2005, S. 122–125; Lynn Marsha Thelen: Beyond the Court. A Study of the „Wilde“-Motif in Medieval German Literature, Ann Arbor 1979. Zum Motiv der Wildheit vgl. Klaus Hufeland: Das Motiv der Wildheit in mittelhochdeutscher Dichtung, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 95, 1976, S. 1–19, hier S. 7: „Blinder Zorn […] sind […] in der höfischen Dichtung typische Symptome von solchen Gestalten, die sich im Zustand der ‚Wildheit‘ befinden“. Vgl. in Bezug auf den Zorn der Juno P. Vergili Maronis Opera, Aeneis, I, 25–27, S. 104: necdum etiam causae irarum saeuique dolores / exciderant animo; manet alta mente repostum / iudicium Paridis spretaeque iniuria formae / („[…] noch nicht waren die Gründe des Grolls, die wütenden Schmerzen ihrem Gemüte entschwunden; es kränkt sie tief in des Herzens Grunde des Paris Spruch, die Schmach der verachteten Schönheit“). Übersetzung aus Vergil, Aeneis, S. 7.
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nenartig sichtbar sind: Der Urteilsapfel, der für das unausgewogene und lasterhafte Urteil des Paris steht, ist in ein antithetisches Verhältnis gesetzt zur Waage der Tugend der Modestia als Instrument des gemessenen Urteils auf der gegenüberliegenden Seite.9 Indem der Granatapfel dabei die Mitte bildet und somit einmal zum Mittelpunkt wird und andermal für Ausgleich steht, wird sinnfällig, welchen Urteilsspruch ein tugendhafter und damit gerechter Richter getroffen hätte10: Er wäre an Pallas Athene ergangen, die Göttin der Weisheit und des Verstandes11, so dass der im Sinne des sensus moralis geforderte tugendhafte und gerechte Richter zugleich als Weiser modelliert ist. An die Lebendigkeit der Darstellung, die durch den Bildaufbau wie die mimetische Gestalt erzeugt ist und so die Augenblicklichkeit des Geschehens vor Augen steht, bindet sich eine poietische Aufladung durch den Text. Durch die Stimmen der Göttinnen wird die Szene nicht nur zu einer gleichsam akustisch angefüllten ‚Bühne‘, die zu einer audiovisuellen Wahrnehmung führt12; vielmehr wird textuell ein oszillierender Blick durch fokussierende Hinwendungen auf Mimik, Gestik und Handlung der einzelnen Figuren hervorgerufen. Durch das stete Hin und Her von Lesen und Schauen wird der Blick des Betrachters auf das Geschehen dynamisiert und dieser in das dargestellte Geschehen verwickelt.13 Die Bedeutung des Sehens wird dergestalt reflektiert, so dass der Ikonotext 9 Demgemäß äußert die Modestia: Mensuro mores, constringo mente dolores / […]. / Cum sine mensura non regnet regia cura, / do regimen regnis […] / […]. / In medio sedes mea stat uirtutis et edes, / in qua sisto forum, qua pondero munera morum. / („Ich messe die Sitten, ich beschränke die Leiden durch (besonnene) Überlegung […]. Da doch die königliche Fürsorge nicht ohne Maß regieren kann, gebe ich den Königsherrschaften Lenkung […]. In der Mitte steht mein Sitz der Tugend und das Haus, in dem ich den Gerichtsort aufstelle, wo ich die Aufgaben der Sitten abwäge“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 21v, Verse 24, 35–39. Indem die Modestia ihr maßvolles Abwägen an den in der Mitte aufgestellten Sitz bindet, bildet sie eine antithetische Gegenüberstellung zum unausgewogenen, tugendlosen Urteil des knienden, aus der Mitte gerückten Paris. 10 Dass mit einer rein ikonographisch-ikonologischen Analyse die Komplexität der Bildallegorie nicht zu erfassen ist, lässt sich hier anhand der Aussage von Ernst Saenger exemplarisch aufzeigen: „Der zweite Apfel, in der Hand der Pallas Athene, ein Paradoxon auf dem Bilde der Überreichung ei ne s Siegesapfels, ist vielleicht als Überrest von den Speisen auf dem Tisch des Göttermahls zu erklären“. Saenger, Lobgedicht auf König Robert, S. 40 [Hervorhebung vom Autor]. Die Semantik des Granatapfels ist hier vornehmlich an einen intrapikturalen Bezug gebunden: Das Motiv des Granatapfels findet sich auf fol. 2v, wo mehrere Granatäpfel den Baum des Lebens bilden (Taf. 4). So lauten im Sinne dieser ‚Lesart‘ die Verse, die in dem roten Granatapfel zwischen Enoch und Elias zu lesen sind: Hoc pomum uite manet hic sine crimine, lite / et sine sorde […] / („Diese Obstfrucht des Lebens bleibt hier ohne angeklagte Schuld, ohne Streit und ohne Niedrigkeit“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 2v, Vers 40 f. Zudem sei hier verwiesen auf eine allegorische Auslegung des Ambrosius bezüglich der Vielzahl der Kerne des Granatapfels, welche die zahlreichen Tugendübungen versinnbildlichen, die der Weise verbirgt. Sancti Ambrosii Mediolanensis Episcopi Opera omnia, Bd. 1, 1: Sancti Ambrosii Mediolanensis Episcopi Hexameron Libri Sex, hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1845 (Patrologia Latina, Bd. 14), III, xiii, 56, Sp. 180: simul plurimos intra se fructus usu istius pomi sub una munitione conservans, et virtutum negotia multa complectens. Sapiens enim spiritu celat negotia. 11 In diesem Sinne stellt die Modestia Pallas Athene als Vorbild heraus, wenn sie sagt: Palladis exemplo facio: […] / („Ich handele nach dem Vorbild der Pallas: […]“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 21v, Vers 40. Die Worte sind rechts neben ihr am Buchfalz fixiert, beginnend auf der Höhe des Scheitels von Pallas Athene. 12 Zu den audiovisuellen Kommunikationsstrukturen der höfischen Kultur siehe grundlegend Wenzel, Hören und Sehen. 13 Vgl. dazu Horst Wenzel: Visualität. Zur Vorgeschichte der kinästhetischen Wahrnehmung, in: Zeit-
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die Evidenz der Malerei und damit deren Lebendigkeit als wirkungsästhetischen Schein zeigt. Die Lektüre beginnt mit den Versen links oben auf dem Folio, die durch die Initiale „P“ eingeleitet werden: Pallas pro certo Iuno sunt nota Roberto / regi, fatur ea que fascinat ista medea, / deteriorque Uenus. […] / 14 („‚Gewiss sind Pallas und Juno König Robert bekannt und Venus schlechter‘, sagt jene dort, die mit solchem Reiz behext“).
Die Worte, die in dem Textblock über Pallas Athene geschrieben und ihr somit formal zugeordnet sind, scheint Pallas Athene zu sprechen und an Juno zu richten, der sie sich durch ihre schräge Sitzposition und ihre im Redegestus erhobene Linke zuwendet. Dabei lässt sie den lesenden Betrachter ihrem Blick, den sie auf Juno und Venus richtet, durch den Verweis auf „jene dort“ (ista) folgen. Der Betrachterblick schwenkt über Juno hinweg auf Venus aufgrund des Demonstrativpronomens ista, das „oft mit einem Anstrich von […] verächtlichem Hinblick auf eine anwesende […] dritte Person“15 verwendet ist. Der geringschätzigen Bedeutung des ista verleiht Pallas Athene unmittelbar Nachdruck durch ihre Feststellung, dass Venus „mit solchem Reiz behext“ (fascinat ea medea). Der Blick wird so demonstrativ auf Körper und zuvorderst Gesicht von Venus gelenkt durch die Semantik des medea und des Verbs fascinat, wobei ihrem fixierenden Blick durch den geneigten Kopf und den dadurch nachvollziehbaren abfallenden Sehstrahl besondere Bedeutsamkeit zuzukommen scheint.16 Die Worte zielen also auf die Wahrnehmung der affektiven Wirkung der Ausstrahlung, wodurch der Blick auf Paris weitergeleitet wird. Ist die Lektüre der Verse über Pallas Athene dann wieder aufgenommen, wird sogleich die Figur der Juno fokussiert. Denn Pallas Athene spricht: […]. Taceas modo, donec habene / morum sint fracte teucrorum siue coacte / obsidione. Uide, con iux Iouis, et modo ride. / Ipsa dabit penam, que fecit amore catenam. / Non te reginam decet hanc nec habere ferinam / ore uoluntatem, set uelle piam bonitatem. / 17
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schrift für Germanistik N.F. 9, 1999, S. 549–556, hier S. 551 f.; Wenzel, Spiegelungen, Kap. 5 („Der höfische Blick“), S. 176 f.; ferner Carsten Morsch: Bewegte Betrachter. Kinästhetische Erfahrung im Schauraum mittelalterlicher Texte, in: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten, hg. v. Christina Lechtermann, Carsten Morsch, Bern 2004, S. 45–72; Kai Christian Ghattas: Rhythmus der Bilder. Narrative Strategien in Text- und Bildzeugnissen des 11. bis 13. Jahrhunderts, Köln 2009, bes. S. 129–147. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22, Verse 1–3. Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, unveränd. Nachdr. der 8., verb. und verm. Aufl., Darmstadt 1998 [Hannover 1918], Sp. 464. Vgl. in Bezug auf die förmlich wahrnehmbare „infizierende Kraft des Blickes“ Christina Lechtermann: Nebenwirkungen. Blick-Bewegungen vor der Perspektive, in: Wissen und neue Medien. Bilder und Zeichen von 800 bis 2000, hg. v. Ulrich Schmitz, Horst Wenzel, Berlin 2003, S. 93–111, hier S. 97: „Gerade der prominentere Teil mittelalterlicher Theorien über die Blickwahrnehmung, wie wir sie in Enzyklopädien, Etymologien oder Bestiarien finden, betont die affektive, sogar infizierende Kraft des Blickes“. Siehe auch Wenzel, Spiegelungen, S. 122–127. Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22, Verse 6–11.
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(„Schweige nur, bis die Zügel der Sitten [d. h. die Regierung] der Trojaner gebrochen oder sie durch die Belagerung dem Zwang unterworfen sind. Siehe, Gemahlin des Jupiter, und lache nur. Sie selbst [d. h. Venus] wird die Strafe liefern, sie, die mit der Liebe die Fessel gemacht hat. Und es geziemt dir nicht, Königin, diesen Willen von wilden Tieren im Gesicht zu haben, sondern die fromme Güte zu wollen“).
Die Worte lassen den Blick pendeln zwischen der Angesprochenen und Venus, ehe sie ihn durch das Demonstrativpronomen hanc an Junos Gesichtsausdruck heften und dessen Lebendigkeit sprachlich veranschaulichen (ferinam ore uoluntatem). Anschaulichkeit gewinnt die Darstellung zudem durch die allegorische Bedeutung, wenn die Worte der Pallas Athene dem betrachtenden Leser in Bezug auf den politischen Körper der Königin gemahnend die Notwendigkeit vor Augen führen, „in der Choreographie repräsentativer Herrschaft die öffentlich gültigen Werte und Verhaltensstandards zur Darstellung“ zu bringen.18 Insofern auf diese Worte der Pallas Athene eine Replik Junos zu erwarten ist, setzt sich die Lektüre mit den Versen oberhalb ihrer Figur fort – formal stehen sie den Versen, in denen Pallas Athene spricht, ‚korrespondierend‘ gegenüber. Regius hic natus, deceptus et illaqueatus / forma delusus, nunc iudex iuris abusus, / arbitrio uerso promissis sordeque merso. / Degenerando probis maioribus, aspice nobis / ex tribus o qualem, rex, eligit. Hanc quia talem / se uult, experte rerum, modo multa, Roberte, / turba petit censum, meliorem nactaque sensum / me precis implorat, uotis me numen adorat. / 19 („Dieser königlich Geborene, getäuscht und umgarnt und verspottet von der schönen Gestalt, ist jetzt als Richter Missbrauch des Rechts, indem er für die Versprechen den Schiedsspruch gewendet und in Schmutz getaucht hat. Siehe, König, welche von uns dreien er auswählt, er zeigt sich unwürdig der rechtschaffenen Vorfahren. Weil er dieser so Beschaffenen besonders geneigt ist, der Dinge kundiger Robert, verlangt nun eine große Menge den Reichtum, und dagegen fleht mich die, die einen besseren Verstand erhalten hat, mit Bitten an, richtet an mich wie an eine Gottheit ihre Rede mit Wünschen“).
Indem Juno ihre Rede mit dem deiktischen regius hic eröffnet, wird der Blick sogleich an den unteren Bildrand geführt, auf den vor dem Tisch knienden Paris. Dabei werden nicht nur die Gleichzeitigkeit und Augenblicklichkeit der affektiven Wirkung, die 18 Wenzel, Höfische Repräsentation, S. 138. Zum Verhältnis von Repräsentation und disziplinierter Emotionalität vgl. ebd. S. 138–143; Gerd Althoff: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Friede und Fehde, Darmstadt 1997, S. 258–281. Damit wird gemäß den tradierten Fürstenspiegeln auf die erforderliche Vorbildhaftigkeit des Königs als lenkendem Reichshaupt gezielt, dem der Reichskörper in dieser (herrschaftslegitimierenden) Vorbildhaftigkeit Folge leistet: Der Ikonotext appelliert an den Betrachter, sich im Spiegel des Bild-Text-Gefüges der eigenen Werte zu vergewissern. Zur christlichen Herrscherethik, derzufolge den Königen die Pflicht der Milde und Güte oblag und die Beherrschung der Emotionen eingefordert war, siehe Hans Hubert Anton: Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit, Bonn 1968; vgl. dazu Klaus Schreiner: Hof (curia) und höfische Lebensführung (vita curialis) als Herausforderung an die christliche Theologie und Frömmigkeit, in: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200, hg. v. Gert Kaiser, Jan-Dirk Müller, Düsseldorf 1986, S. 67–138. 19 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22, Verse 12–19.
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von Venus reizvoller Ausstrahlung ausgeht, und des Missbrauchs des Rechts als Richter sprachlich betont. Die – in verschiedener Hinsicht bestehende – Spannung des Augenblicks wird vielmehr erfahrbar: Juno macht zum einen durch das appellative „siehe!“ (aspice) den impliziten wie historischen Betrachter, den sie unmittelbar anblickt, zum Augenzeugen zweiter Ordnung20, wobei die Präsensformen (aspice, eligit) die Gegenwärtigkeit sprachlich zum Ausdruck bringen. Zum anderen weist sie komplementär zu ihrem verbalen Zeigegestus, der den Blick auf Paris lenkt, mit einem Fingerzeig ihrer Rechten auf Venus, „diese so Beschaffene“ (hanc talem), der sich Paris augenblicklich zugeneigt zeigt. Bedeutsam ist hinsichtlich der Unmittelbarkeit des vor Augen Stehenden, dass Junos Fingerzeig, bei dem Zeige- und Mittelfinger ausgestreckt sind, während die übrigen Finger eingeschlagen werden, als Gebärde des „Zeugenbeweises“ erscheint.21 Damit richtet sich der Blick auf Venus und Paris, durch deren Zwiesprache der Hergang des Geschehens sprachlich ‚ausgemalt‘ wird. Bezeichnenderweise ist hierbei der Aspekt des Beobachtens durch eine vorausgehende Demonstrativ-Konstruktion reflektiert, so dass das Augenmerk auf die Art und Weise des Geschehens gelenkt wird. So lauten die Worte, die unmittelbar über dem Kopf der Venus geschrieben sind: Sic Uenus affatur Paridi, quod cepta sequatur / 22 („So spricht Venus Paris an, damit er ihrem Vorhaben folgt“).
Das Vernehmen ihrer Äußerung und das Sehen der Figur sind dann verwoben – die Worte befinden sich auf ihrem Oberkörper: Dulcis nate Paris Priamo […] / […], ne cures hiis phariseis / non fore gratus: ero tibi uerax munere uero. / 23 („Paris, gefälliger Sohn des Priamos […], damit du dich nicht darum sorgst, diesen Pharisäern24 in Zukunft nicht angenehm zu sein: Mit einer aufrichtigen Gefälligkeit werde ich dir zuverlässig sein“).
Dass das Versprechen der Gefälligkeit verschränkt ist mit der Haltung des Paris, zeigt sich nicht nur durch ihre gestische Verbundenheit, sondern auch durch die Aussage, die Paris seinerseits ‚tätigt‘. Sprechakt und Handlung des Paris bilden mithin eine Einheit, was formal-ästhetisch sinnfällig wird: Die Worte unterstützen den sich vollziehenden Akt bildhaft, indem sie unter den Händen fixiert sind:
20 Vgl. Wenzel, Zur Narrativik von Bildern, S. 323: „das sprachlich stimulierte Sehen und die Formel ‚seht‘, die nicht nur den Zuhörer adressiert, sondern auch den Leser als ‚Zuschauer‘ in den Text ‚versetzt‘“. 21 Zum Fingerzeig als Gebärde des „Zeugenbeweises“ vgl. Karl von Amira: Die Handgebärden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, in: Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Philologische und Historische Klasse 23, 1909, S. 161–263, hier S. 208 f. 22 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22, Vers 27. 23 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22, Verse 28–30. 24 Das heißt Pallas Athene und Juno.
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Pulcrius hoc pomum tu pulcrior accipe diua, / forme namque domum te censeo, spes mea uiua. / 25 („Diese sehr schöne Frucht, nimm sie an, du, noch schönere Göttin, denn ich halte dich für das Haus der Schönheit, meine lebendige Hoffnung“).
Damit wird offenbar, dass sich in der bildlich-textuellen Interaktion von Paris und Venus Motive der Minne und des Rechtswesens verknüpfen. Der Wortwechsel, der eine Anspielung auf das Minne-Verhältnis von Bitte und Gewährung, von Liebesleid und bestehender Hoffnung auf zukünftige Erfüllung der Liebe impliziert, korrespondiert mit der Gebärde des Niederkniens des vornehmen Jünglings vor der Dame und gleichsam dem Überreichen der Minnegabe26 (Abb. 42 und 43).27 In rechtsikonographischer Perspektive vollziehen sie durch das Einhergehen der Gebärde des Niederkniens mit der zentralen Geste der Handreichung gewissermaßen den Kommendationsritus, der die „metaphorische Vasallität“ bezeichnet.28 Entscheidenderweise alludiert die Motivik des Umgreifens der Hände allerdings bloß die Semantik des Handgangs „als personenrechtliche[r] Seite des Lehensverhältnisses“29: Indem der Gestus des Handgangs gerade nicht ordnungsgemäß vollzogen ist, so, wie er sich in illuminierten Rechtshandschriften zeigt (Abb. 44 und 45)30, wird die Vasallität des Paris gegenüber Venus sinnfällig vor Augen gestellt, um des Weiteren herauszustellen, dass es sich um kein wahres Schutz- und Beistandsverhältnis handelt. Demgemäß ist die ‚Heuchelei‘, die sich hinter dieser, auf einem Fehlurteil basierenden Verbindung verbirgt, in den Worten der Venus durch eine Inversion zum Aus 25 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22, Vers 31 f. 26 Vgl. zu den genannten Minnegebärden Markus Müller: Minnebilder. Französische Minnedarstellungen des 13. und 14. Jahrhunderts, Köln 1996; ferner zur Ikonographie des „‚bildlichen Minnediskurses‘“ und seines medienspezifischen Bezugrahmens Stefan Matter: Minneszenen in der bildenden Kunst des späteren Mittelalters und ihr Verhältnis zu Minnereden, in: Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden, hg. v. Ludger Lieb, Otto Neudeck, Berlin 2006, S. 165–199. 27 Abbildungen: Paris, Musée Cluny, Inv. Nr. Cl. 403, Spiegelkapsel aus Elfenbein, (1. Hälfte 14. Jh., Paris?), thronender Minnegott, dem gehuldigt wird und werbende Minneszenen; Paris, Bibliothèque Nationale, lat. 10435, fol. 78, Psalter, (letztes Viertel 13. Jh., Amiens), bas de page-Miniatur, die als Bildfolge eine galante Werbung zeigt. 28 von Amira, Handgebärden Sachsenspiegel, S. 244. Der Ausdruck der metaphorischen Vasallität bezeichnet die Übertragung des lehnsrechtlichen Dienstverhältnisses in den Liebesdiskurs. Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 102002 [1986], S. 507–513; Katharina A. Glanz: De arte honeste amandi. Studien zur Ikonographie der höfischen Liebe, Frankfurt a. M. 2005, S. 182–196. Zum Kommendationsritus, bei dem in Form des Niederkniens und der Handreichung eine metaphorische Vasallität als Ausdruck für den Minnedienst und damit das Treuegelöbnis bezeichnet ist, siehe von Amira, Handgebärden Sachsenspiegel, S. 244; vgl. Ruth Schmidt-Wiegand: Text und Bild in den Codices picturati des Sachsenspiegels. Überlegungen zur Funktion der Illustration, in: Text – Bild – Interpretation. Untersuchungen zu den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, Bd. 1, hg. v. Ruth Schmidt-Wiegand, München 1986, S. 11–31, hier S. 26–28. 29 Gernot Kocher: Zeichen und Symbole des Rechts. Eine historische Ikonographie, München 1992, S. 15. 30 Vgl. folgende Darstellungen aus dem Bereich des Lehnsrechts: Justinian: Codex iuris civilis. Authenticum, Libri feudorum, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2262, fol. 174v (2. Viertel 14. Jh., Avignon?); Eike von Repgow: Sachsenspiegel, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 164, fol. 9v (Anfang 14. Jh., Ostmitteldeutschland).
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druck gebracht; durch die rhetorische Gegenüberstellung von Scheinheiligkeit einerseits und Aufrichtigkeit wie Wahrhaftigkeit andererseits: […] Paris […] / […], ne cures hiis phariseis / non fore gratus: ero tibi uerax munere uero. / 31 („Paris […], damit du dich nicht darum sorgst, diesen Pharisäern in Zukunft nicht angenehm zu sein: Mit einer aufrichtigen Gefälligkeit werde ich dir zuverlässig sein“).
Im Umkehrschluss verweisen die Worte auf die scheinbare Rechtschaffenheit der vor Augen gestellten Handlung. Dahingehend verschränken sich hier in der Gebärde des Niederkniens mit der transformierten Geste des Handgangs die Bezugsfelder von Minne und Rechtswesen zur Bedeutungsproduktion des Knienden als moralisch Gerichtetem, der sich der Liebesgöttin demonstrativ unterordnet.32 Durch die Abwendung insbesondere von Pallas Athene, die die Weisheit verkörpert, erweist sich Paris in seiner Erkenntnislosigkeit als Exemplum des Richters, der das Recht missbraucht. So ist er der sitzenden Position des Richters, die Autorität ausstrahlt, enthoben, und damit wird schließlich in dessen kniender Haltung die Ungültigkeit des Richterspruchs anschaulich.33 Gemäß der Spannung zwischen scheinbarer Rechtschaffenheit und wahrer Bedeutung des Hergangs lauten denn auch die letzten Verse des Ikonotextes, die als Sentenz des Exemplums am unteren Foliorand fixiert sind und so mit einem sprachlichen Aufruf zu gesteigerter Aufmerksamkeit anheben: Palladis audite monitus et iussa perite: / Deserit arbitrium, spetie spondente decorem, / lucis splendorem siue bonum patrium. / 34 („Hört die Mahnungen und Befehle der kundigen Pallas: Der Ausspruch des Schiedsrichters gibt den Glanz des Lichtes oder das vaterländische Gut auf, während er durch die äußere Erscheinung Schicklichkeit verspricht“).35
Die Wendung lucis splendorem dürfte auf die Formel des splendor imperii rekurrieren, den Glanz der Herrschertugend, den der vorbildliche Herrscher ausstrahlt.36 Solcherma 31 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22, Verse 28–30. 32 Vgl. Wenzel, Höfische Repräsentation, S. 241, 243: „Liebe […] erscheint […] in ihrer Vorbildhaftigkeit genauso wie in ihrer Defizienz als Indikator für die Vorbildhaftigkeit des Herrn oder umgekehrt für seine Schwäche, für sein Versagen gegenüber Gott und für die perturbatio seiner Herrschaft. […] trifft jede Defizienz in einem dieser Bereiche [d. h. Herrschaft, Recht, Liebe] die öffentliche Einschätzung des Herrschers ganz, diskreditiert die Schwäche seiner Herrschaft ihn zugleich als gottesfernen Sünder“. 33 Zur Ikonographie rechtlicher Symbolhandlungen vgl. Kocher, Zeichen und Symbole des Rechts; Ruth Schmidt-Wiegand (Hg.): Text – Bild – Interpretation. Untersuchungen zu den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, München 1986; Robert Jacob: Images de la justice. Essai sur l’iconographie judiciaire du Moyen Âge à l’âge classique, Paris 1994, S. 124–136, 142–144. 34 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22, Verse 36–38. 35 Das Parisurteil ist als Exemplum zu bezeichnen, indem in argumentationslogischer Perspektive mittels der Verse in induktiver Weise aus dem besonderen Fall produktiv ein Grundsatz hervorgebracht wird. 36 Zur Beziehung des Wortes splendor zu Herrschaft und Reich im Allgemeinen und im Besonderen zum Glanz der Herrschertugend (splendor virtutis), der sich am stärksten in der Ausübung der Iustitia zeigt, sowie zum Verlust des Glanzes bei „ungerechter“, weil nicht in Tugenden fundierter Machtausübung, die den Verlust des Reiches bedeutet, siehe Wolfram, Splendor Imperii, S. 163 f.: „Schon Cicero (off. I 20)
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ßen verweisen die Worte nachdrücklich auf die der gemalten Figur des Paris inhärente Spannung zwischen ‚Schein und Sein‘. Denn obschon die äußere Erscheinung (spetie) des Paris Tugendhaftigkeit verheißt, ist sein vor Augen gestelltes Handeln nicht in Tugend fundiert. Indem keine „Koinzidenz von Außen und Innen vorliegt, in dem Sinn, daß etwa die Schönheit wirklich auf Tugend beruht, also signum und nicht nur res ist“, erweist sich seine äußere Erscheinung ausschließlich als „etwas Materielles mit bestimmtem ästhetischen Wert, also res in dem Sinn, daß etwas sich selbst bedeutet“37. Bildlich-textuell ist angezeigt, dass Paris die genealogische Disposition des charismatischen Königshauses verwirkt, das den Glanz Gottes bevorzugt aufzunehmen vermag. Damit ist schließlich offenkundig: Durch den impliziten Betrachter König Robert bildet sich im hermeneutischen Prozess eine antithetische Struktur heraus, die auf die Vergegenwärtigung der in Tugendhaftigkeit gründenden und damit charismatischen Herrschaft Roberts von Anjou zielt.38 Das Parisurteil, das den Untergang Trojas einleitete39, erweist sich in seiner Funktion als Negativ-Exemplum als Sinnbild des gerecht richtenden und herrschenden König Roberts, der aufgrund seiner Tugendhaftigkeit und Weisheit als Erneuerer der Blüte Italiens und Roms erscheint. Präziser: Der Ikonotext weist die rhetorische Funktion des Exemplums als „Argumentationstechnik“40 auf, das im Gefüge der panegyrischen Rede der Stärkung des in Rede stehenden Sachverhaltes dient.41 Indem das
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erkennt die stärkste Manifestation der Tugend, die reinste Erscheinung des splendor virtutis eines vir bonus, in der Übung der iustitia. Dieser Erfahrung bleibt das Mittelalter treu, wenn sie auch im christlichen Sinne geändert wurde: Mit Gottes Gnade kann der ‚alte‘ Glanz von Herrschaft und Reich aus der Gerechtigkeit des Herrschers erscheinen. Verblaßt jedoch dieser Glanz, so muß dieser Vorgang folgerichtig ein Zeichen dafür sein, daß eine völlige Umkehr der gottgewollten Ordnung sich ankündigt oder schon eingetreten ist. Es fehlen der Machtausübung realiter die Grundlagen, die als ‚Tugenden‘ genannt werden. Diese Form der Machtausübung ist illegitim, ungerecht. Die Folge davon ist der Verlust des Glanzes. Auf Generationen hinaus kann das Reich zu existieren aufhören. Die Familie des ungerechten Herrschers ist nicht mehr imstande, das Reich zu verwirklichen“. Ingrid Hahn: Zur Theorie der Personenerkenntnis in der deutschen Literatur des 12. bis 14. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 99, 1977, S. 395–444, hier S. 401 f. Zum Glanz des angevinischen Königsgeschlechts siehe Kap. 2.2. Die Bedeutung des Parisurteils für den Fortgang der Geschichte wird auf dem nachfolgenden fol. 22v durch Kassandras Worte betont. Vgl. Karl Reinhardt: Das Parisurteil, Frankfurt a. M. 1938, S. 17: „Das Parisurteil als Erzählung hat Sinn und Bezug nur als Einleitung zur Geschichte Troias Untergang“. Christoph Daxelmüller: Exemplum, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 4, Berlin 1984, Sp. 627– 649, hier Sp. 627. In Anbetracht der Schwierigkeit einer Definition des Exemplums mittels formaler und inhaltlicher Kriterien erweist sich die Frage nach der Funktionalität des Exemplums in seinem je spezifischen Kontext für eine Begriffsbestimmung von grundlegender Bedeutung. Eine prägnante Darlegung gibt Daxelmüller, Exemplum. Zur rhetorisch-argumentativen Funktion des Exemplums grundlegend Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, § 410–426. Zum Exemplum und seinen Funktionalisierungen siehe von Moos, Geschichte als Topik sowie die wesentlichen Sammelbände Jacques Berlioz, Marie Anne Polo de Beaulieu (Hgg.): Les exempla médiévaux. Nouvelles perspectives, Paris 1998, bes. S. 43–65; Bernd Engler, Kurt Müller (Hgg.): Exempla. Studien zur Bedeutung und Funktion exemplarischen Erzählens, Berlin 1995, S. 9–20; Walter Haug, Burghart Wachinger (Hgg.): Exempel und Exempelsammlungen, Tübingen 1991; Jacques Berlioz, Jean-Michel David (Hgg.): Rhétorique et histoire. L’exemplum et le modèle de comportement dans le discours antique et médiéval, Rom 1980. Einen Überblick über den terminologischen und analytischen Pluralismus innerhalb der ExemplaForschung, in der bezeichnenderweise grundlegende Studien seitens der Kunstgeschichte fehlen, gibt
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exemplum contrarium „durch die Gegensätzlichkeit mindestens der Hauptverben“ bestimmt ist42, erscheint die Miniatur, die den Akt des verfehlten Urteils des Paris zeigt, als Gegenbild der Herrschertugend des Königs und solchermaßen als deren Beweismittel. Demnach überlagern sich in der (Bild-)Rhetorik funktional differierende Überzeugungsmittel, welche die argumentationslogischen Optionen didaktischer Belehrung und des induktiven, hier auf Herrschaftsrepräsentation zielenden, Gebrauchs vereint.43 Gemäß dieser Gestaltung des Parisurteils als Negativ-Exemplum und Sinnbild des gerechten Herrschers44, das in dieser Form meines Wissens eine Novität darstellt, möchte ich im folgenden Kapitel 5.2 erörtern, inwiefern über das Exemplum und die Sentenz hinaus dem Ikonotext ein spezifischer Sinn eingeschrieben ist, und zwar in Form der bildrhetorisch evozierten Vergegenwärtigung einer performativ-jurisdiktionellen Handlung.45 Meine These lautet: Durch die Frontalität der Körperhaltung der Juno und deren Gebärde des Zeugenbeweises erscheint der implizite Betrachter Robert von Anjou zum einen als Richter, insofern er diesseits des Richtertisches46 auf die streitenden Göttinnen schaut, deren Konflikt es – gewissermaßen auf der Ebene des sensus litteralis – beizulegen gilt. Zum anderen hat der König – gleichsam auf der Ebene des sensus allegoricus, das heißt genauer des sensus moralis – das Urteil des Paris als Reflexionsfigur für sein eigenes Herrschaftshandeln zu begreifen, indem er dieses im Prozess einer weisen Urteilsfindung verurteilt und als Negativ-Exemplum seiner memoria einschreibt. Damit spiegelt sich in dieser sinnbildlichen Modellierung des Königs als vor dem Bild Agierenden47 nicht nur die für die politische Kommunikation der mittelalterlichen Christoph Daxelmüller: Narratio, Illustratio, Argumentatio. Exemplum und Bildungstechnik in der frühen Neuzeit, in: Exempel und Exempelsammlungen, hg. v. Walter Haug, Burghart Wachinger, Tübingen 1991, S. 77–94. 42 Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, § 420. 43 Zum Nebeneinander verschiedener argumentationslogischer Optionen im Exempla-Gebrauch, wodurch die Problematik der in der Forschung zumeist geübten theoretischen Trennung verschiedener Exemplum-Formen beleuchtet wird, siehe von Moos, Geschichte als Topik, S. 123, 128–134. Zum Unterschied zwischen deduktivem und induktivem Exempla-Gebrauch und der sich darin vermeintlich manifestierenden Epochendifferenz zwischen Mittelalter und Neuzeit Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte, in: Geschichte – Ereignis und Erzählung, hg. v. Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel, München 1973, S. 347–375; Karlheinz Stierle: Three Moments in the Crisis of Exemplarity. Boccaccio-Petrarch, Montaigne, and Cervantes, in: Journal of the History of Ideas 59, 1998, S. 581–595; Kessler, Petrarca und die Geschichte; von Moos, Geschichte als Topik, S. 19–39, 123–134, 525–534, 542. Zur Allegorisierung des Parisurteils in der mittelalterlichen Literatur, wo es vielfach als deduktives Exemplum erscheint, das eine allgemeine Sentenz „illustriert“, siehe Ehrhart, Judgment of the Trojan Prince Paris. 4 4 Zur Verbindung von Exemplum und Allegorie von Moos, Geschichte als Topik, S. 181, 187 mit umfassendem Apparat. 45 Einen Überblick über die Ikonographie des Parisurteils in der Frühen Neuzeit gibt Nanette B. Rodney: The Judgment of Paris, in: The Metropolitan Museum of Art Bulletin 11, 1952, S. 57–67. Anhand dieses Überblicks wird die Spezifik der Darstellungsform in den Regia Carmina hinsichtlich der Versinnbildlichung einer performativ-jurisdiktionellen Implikation ersichtlich. 4 6 Der Tisch erscheint in meiner Lesart also weniger in ikonographisch-ikonologischer Hinsicht als Tisch beim Hochzeitsmahl des Peleus und der Thetis, sondern als Richtertisch. Vgl. dazu Saenger, Lobgedicht auf König Robert, S. 40. 47 Vgl. Kap. 6.1 und 6.2.
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Gesellschaft fundamentale Bedeutung „performativ hergestellter Geltung“48. Zusätzlich wird der erkenntnistheoretische Wert des Ikonotextes in historischer wie systematischer Hinsicht offenbar. So ist zunächst in Bezug auf die rhetorische Figur des Exemplums zu konstatieren, dass der Ikonotext, indem sich Figuren und Betrachter durch die lebendige Anschaulichkeit und Konkretheit des Bildes gleichsam in einem Handlungsraum gegenübertreten, jene „graduelle[…] Verschiebung der Betrachtungs- und Darstellungsweise“ aufweist, die Peter von Moos hinsichtlich des „Unterschied[s] zwischen dem mittelalterlichen Exemplum und dem der Renaissance“ wie folgt beschrieben hat: Bei den Humanisten des 14. Jahrhunderts wird „ein Bestreben erkennbar, den Exempla als wirklichen Persönlichkeiten gegenüberzutreten, sie empirisch zu sehen, von ihnen richtiges Verhalten und Denken zu lernen, als wären sie Meister und Freunde, mit denen man zusammenlebt und geistig verkehrt. […] Der Unterschied zwischen dem mittelalterlichen Exemplum und dem der Renaissance […] liegt also nicht in der moralischen Exemplarität und der rhetorischen Funktionalität der Beispiele, sondern in einer graduellen Verschiebung der Betrachtungs- und Darstellungsweise: Ein eher statisches, stilisiertes, schematisch-ikonenhaftes, chiffrenhaft sinnbildliches Exemplum, das zeichenhaft-repräsentative ‚Denkbild in Menschengestalt‘, wandelt sich zu einem dynamischeren, konkreteren, anschaulicheren, individuelleren Exemplum“49.
Solchermaßen scheint der Ikonotext, in dem König Robert als gerecht Richtender über den vor Augen gestellten historischen Streitfall erscheint, „den Wert unmittelbarer Erfahrung und konkret historischer Einzelfallanalyse für die politische und moralische Lebensklugheit“50 zu reflektieren, der als neuzeitlich gilt.51 Diese Konstellation impliziert, dass an den historisch-induktiven Exemplum-Gebrauch des Parisurteils das Verfahren einer neuen Sinnbildgebung gebunden ist, deren Spezifik sich aus der funktional und strukturell besonderen Gebrauchssituation speist. So zeigt sich das Parisurteil neben seiner Funktion als rhetorisches Argumentationsmittel auch in einer semantischen Bestimmung als sinnbildgebendes Verfahren, indem es als allegorisches Zeichen erfahrbar wird.52 48 Kiening, Medialität in mediävistischer Perspektive, S. 350; vgl. Horst Wenzel: Wahrnehmung und Deixis. Zur Poetik der Sichtbarkeit in der höfischen Literatur, in: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten, hg. v. Horst Wenzel, Stephen C. Jaeger, Berlin 2006, S. 17–43; Horst Wenzel, Ludwig Jäger (Hgg.): Deixis und Evidenz, Freiburg 2008, dessen Beiträge fundiert sind in dem Theorieinteresse an den verschiedenen Formen der Blick- und Bilddeixis, der Stimm- und Textdeixis und die demgemäß diskutieren, inwiefern deiktisch-indexikalische Aspekte an der Generierung semantischer Evidenz beteiligt sind. 49 von Moos, Geschichte als Topik, S. 529. 50 von Moos, Geschichte als Topik, S. 21. 51 Siehe dazu Stierle, Geschichte als Exemplum und von Moos, Geschichte als Topik, S. XXII f., 19–21 zu der durch Stierle ausgelösten Forschungskontroverse um die sich am Exempla-Gebrauch manifestierende Epochendifferenz. 52 Zur rhetorischen wie semantischen Bestimmung des Exemplums siehe Peter von Moos: L’exemplum et les exempla des prêcheurs in: Les exempla médiévaux. Nouvelles perspectives, hg. v. Jacques Berlioz, Marie Anne Polo de Beaulieu, Paris 1998, S. 67–82, hier S. 73 f.
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In Bezug auf die Allegorie ist von entscheidender Bedeutung, dass die pictura einem geregelten exegetischen Verfahren zuwiderläuft, da die tiefere Bedeutung auf der Ebene des sensus litteralis liegt und eine Verschiebung der Bedeutungsproduktion erfahrbar wird: Durch die evozierte Verschränkung von Bild- und Betrachterraum liegt die allegorische Bedeutung gleichsam vor dem Bild, wo der implizite respektive historische Betrachter König Robert als thronender Richter vorgestellt ist, der gegenwärtig ein weises Urteil zu sprechen hat über den Streitfall der Göttinnen, die an den Richtertisch herangetreten sind und hinter diesem Platz genommen haben. Der Ikonotext zeigt sich als „naturalisierte Allegorie, insofern sie zugleich als Sinnbild und reale Figur präsent ist“53 – was an den angesprochenen Wandel des Exemplums und „den Wert unmittelbarer Erfahrung“54 anzuknüpfen scheint. Die tiefere Bedeutung der allegorischen pictura liegt nicht zuvorderst h i n t e r dem Bild und zielt demzufolge nicht im Sinne des ikonographisch-ikonologischen Modells vornehmlich auf die Entschlüsselung eines zugrundeliegenden Prätextes55 – obschon die Verhüllung der Figuren mit kunstvoll geschmückten Gewändern die zu enthüllende integumentale Gestalt veranschaulicht. In dieser Umkehrung von einem ‚Dahinter‘ zum ‚Davor‘ wird die ‚Opazität‘ des Bildes erfahrbar, indem sich die Bedeutungsproduktion in einer Spannung zwischen Bildoberfläche und imaginierter Performativität vollzieht. Darin liegt eine der Antworten auf die bereits 1977 von Friedrich Ohly vorgebrachte, bislang aber nicht systematisch erörterte „Frage nach den Möglichkeiten der bildkünstlerischen Darstellung auch der allegorischen Bedeutungsdimensionen ihrer Gegenstände“56. Damit ist die materielle Wirklichkeit des Bildes ausgestellt in dem Spannungsgefüge zwischen ‚transparenter‘ Fremdreferenz und ‚opaker‘ Selbstreferenz des Bildes57, zwischen dargestellter Un 53 Steigerwald, Erschriebene Bilder, S. 105. 54 von Moos, Geschichte als Topik, S. 21. 55 Siehe in diesem Sinne Ehrhart, Judgment of the Trojan Prince Paris, S. 109–117 und 180–184. Indem sie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die ästhetische Gestalt der Miniatur nicht eingehend betrachtet, liest sie das Parisurteil als Allegorie der Wahl der drei Lebensweisen, so dass ihre Ausführungen in herkömmlicher Weise auf die allegorische Bedeutung der Göttinnen und den jeweiligen Stellenwert der drei Lebensweisen bezogen bleiben. Hinsichtlich der Auslegung der drei Göttinnen als vita contemplativa (Pallas Athene), vita activa ( Juno) und vita voluptativa (Venus) ist Fulgentius fundamental, siehe Fabii Planciadis Fulgentii V. C. opera, Mythologiae, II, i, S. 36–40. Siehe dazu Reinhardt, Das Parisurteil bei Fulgentius. Gemäß Fulgentius Giovanni Boccaccio, Genealogie deorum gentilium, VI, xxii und XII, l, Bd. 1, S. 651–655, Bd. 2, S. 1210–1213. Auch Francesco Petrarca stellt das Parisurteil als Allegorie der Lebensweisen dar: Francesco Petrarca: De viris illustribus, hg. v. Guido Martellotti, in: Francesco Petrarca. Prose, hg. v. Guido Martellotti, Pier Giorgio Ricci u. a., Mailand 1955 (La letteratura italiana, Bd. 7), S. 218–267, Proömium B, S. 218–221; Francesco Petrarca, Familiarum Rerum Libri, VI–X, X, 5, 14, S. 1438. 56 Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, S. XXXII. Zur Bildoberfläche als Ort der Bedeutungsproduktion in Bildern der Frühen Neuzeit vgl. Ulrike Tarnow (Hg.): Die Oberfläche der Zeichen. Zur Hermeneutik visueller Strukturen in der frühen Neuzeit, Paderborn 2014. 57 Zu den hier angesprochenen „zwei Dimensionen“ der Repräsentation, der transitiven – etwas repräsentieren – und der reflexiven – sich präsentieren – siehe Louis Marin: Le cadre de la représentation et quelques-unes de ses figures, in: Cahiers du Museé national d’art moderne 24, 1988, S. 62–81, hier S. 63: „En d’autres termes, représenter signifie se présenter représentant quelque cose. Toute représentation, tout signe représentationnel, tout procès de signification comprend ainsi deux dimensions que j’ai coutume de nommer, la première, réflexive: se présenter, et la seconde, transitive: représenter quelque cose;
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eigentlichkeit und vorgestellter Wirklichkeit. Dabei scheint gerade in der Loslösung der Herrschaftsrepräsentation von tradierten Ikonographien die Notwendigkeit medialer Vermittlung auf.58 Das Bestehen des Bildes auf seine eigene Wirklichkeit ermöglicht, in illusionistischer Weise mit der Betrachterrealität in Korrespondenz zu treten, wobei die Vermittlung dieser beiden Ebenen gerade in deren dialektischer Distinktion gründet. Solchermaßen erscheint die Funktion des Bildes bezüglich der Herrschaftsrepräsentation im Sinne Louis Marins: Das Bild konstruiert eine Realität, das Bild wird zum Vorbild der Realität. Daneben erweist sich der Ikonotext als Reflexionsfigur einer historischen Bilderfahrung. Indem nicht nur die Lebendigkeit und damit die mimetische Qualität des Bildes in der Bild-Text-Rezeption erfahrbar werden, sondern auch die „rezeptionsästhetische Allegorie des Betrachters im Bild“ im Sinne des eingezeichneten Betrachterblickes59, spiegelt sich in der Darstellung die zeitgenössische Empirie visueller Wahrnehmung. So formulierte jüngst Frank Büttner über die Malerei der Giotto-Zeit: „Bild und Betrachter waren fortan konzeptionell unabdingbar aufeinander bezogen. […] Indem das Bild sich konsequent auf die Betrachterorientierung einstellt, kann sich der Schein eines Kontinuums zwischen Wirklichkeit des Betrachters und Wirklichkeit des Bildes ergeben. Die Bildwelt wird als Fortsetzung der Betrachterwirklichkeit vorstellbar“60. deux dimensions qui ne sont guère éloignées de ce que la sémantique et la pragmatique contemporaines ont conceptualisé comme l’opacité et la transparence du signe représentationnel“. Zu Louis Marin und dem Begriff der „Re-präsentation“, der das „chiastische Doppelspiel von Bildern als opak und transparent, als Präsentation und Repräsentation, von Ding und Zeichen“ impliziert, siehe die Beiträge in Vera Beyer, Jutta Voorhoeve, Anselm Haverkamp (Hgg.): Das Bild ist der König. Repräsentation nach Louis Marin, München 2006. Durch die Setzung der einfachen Anführungszeichen sei angezeigt, dass hier keineswegs von einer Selbstreflexivität im Sinne einer Metapikturalität gesprochen wird, wie sie insbesondere von Marin, Opacité de la peinture, Stoichita, Das selbstbewußte Bild und Krüger, Bild als Schleier für Bilder der Frühen Neuzeit herausgearbeitet wurde. 58 Vgl. dazu Kap. 6. 5 9 Anselm Haverkamp: Schauplatz der Darstellung. Über „Der Betrachter ist im Bild“ von Wolfgang Kemp, in: Texte zur Kunst 58, 2005 spricht in Bezug auf die „rezeptionsästhetische Allegorie des Betrachters im Bild“ von einer doppeldeutige[n] Kompromissbildung […], die zwischen der Phänomenologie des eingezeichneten Betrachterblicks (Merleau-Ponty und Lacan bis Marin) und dem repräsentationslogischen Strukturalismus des eingearbeiteten Betrachter-Standorts oder -Sehwinkels (Fried, Alpers, Kemp selbst) schwankt, oszilliert, zu vermitteln sucht“. Zit. nach http://www.textezurkunst.de/58/ schauplatz-der-darstellung/?highlight=wolfgang%20kemp%2523id4 [letzter Zugriff am 04. 10. 2013]. 60 Büttner, Giotto und die Ursprünge der neuzeitlichen Bildauffassung, S. 160–164, hier S. 162. Vgl. Belting, Florenz und Bagdad, S. 151, 161: „Die Maler […] begannen, in ihren Bildern den Betrachter, und das heißt, seinen Sehprozess zu simulieren. Sie waren noch auf Experimente angewiesen, wenn sie ihre Malerei auf einen externen Betrachter bezogen, um bei ihm den Eindruck zu erwecken, er sehe die gemalte Welt, ebenso wie die Realität selbst, mit eigenen Augen. […]. Die Rede von einer vorperspektivischen Malerei entspricht einer Kunst, die am Vorabend der perspektivischen Erfindung bereits damit experimentiert hat, den Blick eines Betrachters in das Bild zu ziehen. […] der Blick des Betrachters als Präsenz im Bildaufbau [war] bereits das Ziel aller Experimente“. Vgl. dazu die kontroverse Erörterung der perspektivischen Darstellungsweise Giottos, die im Rahmen der Frage nach dem Neuen in der Malerei des Trecento geführt wird. Siehe u. a. Erwin Panofsky: Die Perspektive als symbolische Form [1927], in: Erwin Panofsky: Deutschsprachige Aufsätze, hg. v. Karen Michels, Martin Warnke, Berlin 1998, S. 664–775; John White: The Birth and Rebirth of Pictorial Space, London 31987 [1957], S. 57–
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Der rezeptionsästhetische Sehprozess erweist sich mithin erneut als wesentlich für Entwurf und Herstellung des Bildes, so dass sich komplementär zum Supplikations- und Huldigungsbild der Folia 10v–13 das Konzeptuelle der Malerei im Trecento ausdifferenzieren lässt: Während dieses konzeptionell im rhetorischen enargeia-Theorem, dem anschaulichen Vor-Augen-Stellen, fundiert ist61, zeigt sich im Ikonotext des Parisurteils die Empirie visueller Wahrnehmung als konstitutiv. Wie gesehen, zeigen sich diese beiden Aspekte verknüpft in der Figur des Pfaus durch die Kopplung von ausgestellter Anschaulichkeit der mimetischen Figur und dem Begriff der species.62 Damit lässt sich hinsichtlich der bildlich-textuellen Evidenzschaffung festhalten: Indem der König durch den Ikonotext als gerecht und weise Urteilender erscheint und der Betrachter dieses Bild allein in seiner Vorstellung ‚besitzt‘, hat er im Sinne des Konzepts der rhetorischen persuasio die Botschaft des Rhetors ‚verinnerlicht‘ und angenommen.63 So impliziert der Ikonotext nicht nur die Modellierung des vollkommenen Rhetors, sondern es zeigt sich auch in bildrhetorischer Perspektivierung die systematische Verschränkung von Herrschaftsrepräsentation und des reflektierten Vermögens der mimetischen Malerei.
5.2 ‚Bildkritik‘ und ‚Kunsturteil‘ Sprechen in Bildern – Sprechen über Bilder: Prägnant spiegelt sich in dieser Formel die Verschränktheit der Bildhaftigkeit allegorischer Darstellung und der Notwendigkeit der sprachlichen Auslegung zum einen sowie der neuen ‚Sprachfähigkeit‘ der Bilder und des daran gebundenen Sprechens über diese zum anderen. Demgemäß möchte ich nun anhand des Parisurteils (Taf. 29) die allegorische Gestaltung von Herrschaft näher beleuchten, die unhintergehbar an eine ‚Bildkritik‘ – verstanden als genitivus subjectivus – und ein ‚Kunsturteil‘ – verstanden als genitivus objectivus – gekoppelt ist. Weiter gefasst gehe ich mithin der Frage nach, wie der konzeptuelle Zusammenhang von Herrschaft und 77; Martin Kemp: The Science of Art. Optical Themes in Western Art from Brunelleschi to Seurat, New Haven 1990, S. 9–11; Samuel Y. Edgerton: The Heritage of Giotto’s Geometry. Art and Science on the Eve of the Scientific Revolution, Ithaca 1991, S. 47–87; Kemp, Die Räume der Maler, S. 16–31; Paul Hills: Giotto and the Students of Optics. Bacon, Pecham and Witelo, in: The Arena Chapel and the Genius of Giotto, hg. v. Andrew Landis, New York 1998, S. 310–317; Anne Mueller von der Haegen: Die Darstellungsweise Giottos mit ihren konstitutiven Momenten Handlung, Figur und Raum im Blick auf das mittlere Werk, Braunschweig 2001. 61 Siehe dazu Kap. 4.2. 6 2 Siehe dazu Kap. 3.1 und 4.1. 63 Zur Beeinflussung als maßgebliches Kriterium für den Status des vollkommenen Rhetors vgl. M. Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia, Bd. 5: Orator, hg. v. Rolf Westman, Leipzig 1980 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), 21, 69, S. 21, wo es heißt, dass der vollkommene Redner jener ist, der auf dem Forum und in Zivilprozessen so spricht, dass er beweist, unterhält und beeinflusst. Während Beweisen eine Sache der Notwendigkeit sei und Unterhalten eine einnehmende Art, bedeute Beeinflussen hingegen den Sieg. Denn das Beeinflussen vermöge am meisten die Entscheidung zu bestimmen, so dass darauf die ganze Macht des Redners beruhe: Erit igitur eloquens […] is qui in foro causisque civilibus ita dicet, ut probet, ut delectet, ut flectat. probare necessitatis est, delectare suavitatis, flectere victoriae; nam id unum ex omnibus ad optinendas causas potest plurimum. […] vehemens in flectendo; in quo uno vis omnis oratoris est.
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Künsten, von Herrscherlob und ‚Kunstlob‘ in Anschauung übersetzt ist. Dabei erweisen sich bezeichnenderweise „Sehen“ und „Erkennen“ als grundlegende Kategorien in diesem figürlichen Bezugssystem. So zeigt sich zunächst eine visuelle Kritik am Verblendetsein und Nicht-Sehen des Paris, an die qua formal-ästhetischer Komposition und ikonischer Motivik die Formung des kritischen Blicks des Königs gebunden ist. Die Bildkritik ‚lobt‘ den Herrscher nicht nur als Erkennenden, sondern impliziert auch das Urteil des weisen Königs, so dass Bildkritik und Urteilsspruch über das vor Augen Gestellte verbunden sind. Welche Bedeutung der Bildhaftigkeit der Figurenkonstellation zur Repräsentation des erkennenden und damit gerecht abwägenden Königs beigemessen ist, zeige ich in einem zweiten Schritt auf: Es gilt, die Figurenkonstellationen als Reflexionsfiguren nicht nur der ‚Sprachfähigkeit‘, sondern auch des kritischen Vermögens der Bilder herauszustellen. Daran bindet sich schließlich drittens die Frage, inwiefern das Parisurteil nicht nur als Allegorie des weisen und gerechten Herrschers zu verstehen ist, sondern auch als Allegorie des ‚Kunsturteils‘. Wie in der Beschreibung des Ikonotextes deutlich wurde, ist Paris durch einen einseitigen Blick bestimmt, als dessen ‚Grund‘ seine Liebestollheit zeichenhaft angeführt ist.64 So fällt sein Urteil auf Venus und ihr Versprechen, was hinsichtlich seines versinnbildlichten Nicht-Sehens bezeichnenderweise den Umstand impliziert, dass er die gepriesene Helena zuvor nie gesehen hat. Mit der Zuwendung zu Venus geht die Abwendung von Pallas Athene einher, wobei in doppelter Weise anschaulich wird, dass ihm seine Torheit den Blick für tugendhafte Werte verstellt: Er kehrt nicht nur Pallas Athene den Rücken, sondern auch den Pfauen auf ihrem Gewand, so dass es – eingedenk der Figur des Pfaus auf fol. 23 – nicht wundernimmt, dass diese ihr Federgewand aufgrund der verwehrten Verehrung nicht aufgeschlagen haben.65 Paris vermag mithin nicht, die tieferen Wahrheiten zu erkennen, was Pallas Athene kritisch anmerkt: Iste, prout stultus, ueri nescit quia cultus / debita iura, dedit quod stulta mente resedit / pomum uesane, que perdet Pergama uane. / 66 („Dieser, so wie ein Törichter, weil er nicht die der wahren Verehrung verpflichteten Rechte kennt, hat mit dummem Verstand die Frucht, die [auf dem Boden] lag, der leidenschaftlich Erregenden gegeben, die Troja eitel zugrunde richten wird“).67
Die Worte, die die Handlung des Paris als sträflich hinstellen und missbilligend auf sie verweisen, sind bildhaft auf dem Tisch vor Pallas Athene fixiert. Solchermaßen erscheint 6 4 Grundlegend zur inneren Blindheit und blinden Liebe Gudrun Schleusener-Eichholz: Das Auge im Mittelalter, Bd. 1, München 1985, S. 532–534, 558–560. 65 Vgl. dazu Kap. 3.1. 66 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22, Verse 33–35. 67 Vgl. hier angesichts der dem Ikonotext inhärenten Minnethematik Wenzel, Höfische Repräsentation, S. 126, der in Bezug auf einige Verse Walther von der Vogelweides formuliert: „Es bedarf der höfischen kunst, der adligen Erziehung, um der Liebe angemessen zu begegnen, und deshalb sei sie auch bei unvernünftigen Toren nicht zu finden […]. Implizit sagt diese Formulierung [Walthers von der Vogelweide], daß die höfisch verfeinerte Liebe, die eine Disziplinierung der Affekte fordert, umso eher möglich ist, je weiter sich der Mensch vom Zustand der Torheit entfernt hat“. Zur Verbindung von Torheit (stultitia) und Blindheit vgl. Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter, Bd. 1, S. 532–534, 558–560.
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er als Richtertisch, wodurch nicht nur evident wird, dass „die beiden zentralen Akte des Rechtsprechens, das Gerichthalten und das Entscheiden“68, im Bild bezeichnet sind; vielmehr wird der Kritik an Paris durch die Semantik des Tisches Nachdruck verliehen. So wird zunächst das Gerichthalten durch das Erscheinen der zerstrittenen Göttinnen hinter dem Richtertisch sinnfällig, während durch die Figur des Paris diesseits des Tisches auf den richterlichen Akt des Entscheidens hingewiesen ist. Der Ikonotext zeigt sich als Bild des Gerichthaltens, das sich „als ein Verfahren der Darstellung“69 erweist. Wird doch zum einen der Verhandlungsgegenstand als Objekt des Streites, das entzweit und daher versammelt70, als reflexive Figur im Bildzentrum auf dem Tisch sichtbar71: der ‚Zankapfel‘ der Eris, der Göttin der Zwietracht (discordia). Gebunden an das Streitobjekt erscheint zum anderen das Urteil als weiterer Verhandlungsgegenstand. Es wird als Tathergang vor Augen gestellt, indem nicht nur das Zuwiderhandeln gegen den Grundsatz, dass der Richter frei zu sein hat von Leidenschaft und Begehren, metaphorisch zur Anschauung gebracht ist; vielmehr führt die Darstellung das Fehlurteil vor Augen: Als Kniender entbehrt Paris der Insignie des Richteramtes, dem Richterstuhl, womit seine fehlende richterliche Autorität bezeichnet ist. Die Bedingung für die Gültigkeit des Urteilsspruches ist mithin nicht erfüllt. Sie bestand im Sitzen des Richters bei der Urteilsverkündung, wobei der Verstoß gegen diesen Grundsatz und die Ungültigkeit des Urteils als Rechtsfolge miteinander verknüpft waren.72 Paris verweist solchermaßen bloß auf den rechtmäßigen Akt der Rechtsprechung, der dem impliziten Betrachter König Robert obliegt: Im Sinne des Gerichtshaltens als theatralem Dispositiv ist das Parisurteil als Fall zu bühnenhafter Anschauung gebracht.73 Demgemäß ist das Bild des Königs als vor dem ‚Bühnenraum‘ thronendem Richter insbesondere auch durch Gestik und Worte der Pallas Athene und Juno vor Augen gestellt, die eine Verhandlungssituation bezeichnen. Gerade die zentral platzierte und en face aus dem Bild herausschauende Juno weist mit dem Zeugengestus darauf hin, „dass das vor Gericht gesprochene zu einem Urteil führt“74. Das heißt: Es wird nicht nur eine bildliche Kritik an Paris geübt, sondern durch die Bildkritik wird auch das Bild des gerecht richtenden Königs geformt – der (den) Streit zu schlichten vermag und durch sein Urteil Frieden herbeiführt –, an das zugleich die Notwendigkeit des Sprechens über die dargestellte ‚Szene‘ gebunden ist. Insofern der Herrscher seine Herrschaft als gerechte vorzuführen hat75, stellt sich die Bildrhetorik als hochgradig reflektiert heraus. 68 Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung, Frankfurt a. M. 2011, S. 17. 69 Vismann, Medien der Rechtsprechung, S. 19. 70 Vgl. zu diesem Zusammenhang Bruno Latour: Von der Realpolitik zur Dingpolitik, Berlin 2005, S. 30. 71 Vgl. Vismann, Medien der Rechtsprechung, S. 167: Auf den „Tisch der Justiz kommen nur solche Dinge, die zur Sache gehören, die zur Verhandlung anstehen“. 72 Siehe dazu zuletzt Susanne Lepsius: Das Sitzen des Richters als Rechtsproblem, in: Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation, hg. v. Barbara StollbergRilinger, Tim Neu, Christina Brauner, Köln 2013, S. 109–130, bes. S. 120–127. 73 Zum Gerichthalten als theatralem Dispositiv Vismann, Medien der Rechtsprechung. 74 Vismann, Medien der Rechtsprechung, S. 17. 75 Zur zentralen Bedeutung der Gerechtigkeit in zeitgenössischen Konzepten königlicher Herrschaft und deren Repräsentation siehe Claire Richter Sherman: Imaging Aristotle. Verbal and Visual Representation in Fourteenth-Century France, London 1995, S. 93–116.
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In welchem Maße der Wahrnehmungsästhetik für die Repräsentation des gerechten Herrschers Bedeutsamkeit beigemessen wird, sei an dieser Stelle verdeutlicht. Nimmt man den Kodex zur Hand, lässt sich feststellen: ob er schräg gehalten und dabei mit gesenktem Blick auf das Folio geschaut wird oder ob er senkrecht vor Augen steht und dabei die Blickachse auf Augenhöhe mit den drei gemalten Göttinnen liegt: Der Betrachterblick wird stets als ein von erhöhter Position ausgehender wahrgenommen – die Position des erhöht sitzenden Richters vor dem Verhandlungsgeschehen wird sinnfällig. Mit dieser wahrnehmungsästhetisch erfahrbaren ‚Abstufung‘ von Herrschaft geht die ästhetisierende Überhöhung König Roberts einher, der gleichsam in einem performativen Akt gerechter Rechtsprechung das Recht zeigt, das seiner Herrschaft zugrunde liegt. So wird zum einen – der Übersicht als Herrschaftsprivileg gemäß – der umfassende Blick des Königs durch die ikonische wie textuelle Deixis über das dargestellte Geschehen hinweg erfahrbar und zugleich (bild)rhetorisch dem unsachlichen Blick des Paris (antithetisch) entgegengesetzt. Daran bindet sich zum anderen die Veranschaulichung des erkennenden Blicks und weisen Urteils: Während Paris aufgrund seiner knienden Haltung als Gerichteter erscheint, versinnbildlicht der Granatapfel in der Hand der weisen Pallas Athene, die in ein mit Pfauen versehenes Gewand gekleidet ist, die notwendige Aktualisierung des Urteilsspruchs durch den weisen Richterspruch des erkennenden Königs. Demgemäß wird gleichsam ein „Zusammennähen von Betrachter und Werk“, eine „Einbindung“ des Betrachters erfahrbar, deren Funktion in dem Phänomen der „funktionale[n] Leerstelle, die der Betrachter auszufüllen hat“, aufzugehen scheint.76 Dass die formal-ästhetische Gestalt des Bildes bildrhetorisch auf die Wahrnehmung des Königs als gerechten Richter vor dem Bild zielt, zeigt sich nicht nur durch die grundsätzliche Semantik des Richtertisches, der den Zwischenraum bildet, welcher den Richter von den streitenden Parteien trennt: Während der Richter hinter dem Tisch sitzt, nehmen vor ihm die Prozessbeteiligten Platz.77 Die These gewinnt vielmehr Plausibilität durch einen vergleichenden Blick auf zeitgenössische Darstellungen der Rechtsprechungspraxis in illuminierten Rechtshandschriften. Zeigt die Miniatur des Parisurteils doch eine Transformation des tradierten Bildformulars in Form eines Perspektivwechsels – angeführt seien Miniaturen aus unterschiedlichen Rechtshandschriften mit verschiedenen Funktionen, die bezüglich der formalen Ordnung des Gerichtsortes die gleiche Motivik zeigen (Abb. 46, 47 und 48)78: Der Blick ist nicht auf den rechtsprechenden 76 Vgl. Wolfgang Kemp: Verständlichkeit und Spannung. Über Leerstellen in der Malerei des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Kemp: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985, S. 253–278, Zit. S. 259, 261. 77 Durch diese drei Elemente sind „die Neutralität des Richters (1), die unvoreingenommene Entscheidung nach Anhörung der Parteien und in Gemäßheit einer bestimmten Wahrheitsnorm (2) sowie die Verbindlichkeit der richterlichen Entscheidung (3)“ bezeichnet, Vismann, Medien der Rechtsprechung, S. 165. Zum Tisch als „Zentralmedium des Rechtsprechens“ ebd., S. 164–168 in Rekurs auf Michel Foucault: Über die Volksjustiz. Eine Auseinandersetzung mit Maoisten, in: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a. M. 2002, S. 424–461, hier S. 431 f. 78 Statuti iudicum et notariorum ciuitatis Senarum, 1303–1306, Siena, Archivio di Stato, Collegio notarile 1, fol. 18, C-Initiale (Cum rationabilis hominum uita iustarum et prudentum legum norma et […]); siehe dazu Giuliano Catoni: Statuti senesi dell’arte dei giudici e notai del secolo XIV, Rom 1972 (Fonti e studi del Corpus membranarum italicarum, Bd. 8), S. 9–15, 47; Matricola del consorzio dei notai di Perugia:
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Richter gerichtet, der umgeben von Rechtsgelehrten jenseits eines Schreibpultes, an dem die Schreiber protokollieren, erhöht sitzt, während die vor dem Gericht erscheinenden Personen diesseits des Schreibpultes stehen. Der Blick erfolgt vielmehr aus der entgegengesetzten Perspektive von der Richterbank aus über den – das Schreiberpult substituierenden79 – Tisch hinweg auf die jenseits von diesem befindlichen Konfliktparteien. Damit wird nicht nur erfahrbar, dass sich der Sinn der Darstellung erst durch die Imaginationsleistung erfüllt, die durch die Darstellung freigesetzt wird. Darüber hinaus gelangen die Neuartigkeit der bildlichen Sprachform und die ‚Sprachfähigkeit‘ der allegorischen Bilderfindung zur Anschauung. Indem die allegorische Bedeutung gleichsam vor dem Bild liegt und unabdingbar an den Blick auf und über die Bildoberfläche gebunden ist, zeigt sich auch hier in diesem Spannungsgefüge zwischen ‚opaker‘ Selbstreferenz des Bildes und ‚transparenter‘ Fremd referenz, welche Bedeutung der ästhetischen Seite der Allegorie zukommt. Erscheint doch in paradoxaler Spannung die figura, die uneigentliche Verhüllung, als substanzielle stoffliche Erscheinung, so dass die figura durch die ausgestellte Substantialität ihrer Materialität ihre ästhetische Bedeutung erhält. Dass die Bedeutungsproduktion nicht in Rekurs auf Prätexte erfolgt, sondern in der materiellen Wirklichkeit der Bilder gründet, wird im weiteren Verlauf der Rezeption deutlich. So zeigt sich in der Bezugnahme der Tugendpersonifikationen der Prudentia und Iustitia auf fol. 21 zur allegorischen Darstellung des Parisurteils auf dem nachfolgenden fol. 22: Die Medialität des Bildträgers und die spezifische ästhetische Gestaltung der Bilder fungieren als primäres Medium der Sinnerzeugung.80 Mit der dezidiert ästhetisch erfahrbaren Bedeutungsproduktion durch den Wahrnehmungszusammenhang von bildlicher Darstellung und medialer Spezifik des beweglichen Bildträgers gilt es, die ästhetisch vermittelte Präsenz des Dargestellten durch die Bildhaftigkeit der Figurenkonstellationen zu erörtern.81 Diesbezüglich ist anzumerken, dass sich die Figuren als einzige der Handschrift – mit Ausnahme des Pfaus – in frontaler Ausrichtung dem Betrachter Tribunale dei notai, 1343–1354, Perugia, Biblioteca Augusta, Ms. 972, fol. 3v; Bartolus de Saxoferrato: Lectura in primam Codicis partem, 15. Jh., Rom, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 2288, fol. 1; siehe dazu Stephan Kuttner: A Catalogue of Canon and Roman Law Manuscripts in the Vatican Library, Bd. 1: Codici Vaticani latini 541–2299, Vatikanstadt 1986, S. 316 f. 79 Zur zentralen Platzierung und Bedeutung der Darstellung von Schreibern in trecentesken Miniaturen, die in Rechtshandschriften unterschiedlicher Rechtsarten Akte der Rechtsprechung versinnbildlichen, siehe Susan L’Engle: Trends in Bolognese Legal Illustration. The Early Trecento, in: Juristische Buchproduktion im Mittelalter, hg. v. Vincenzo Colli, Frankfurt a. M. 2002, S. 219–244, hier S. 229; Andrea von Hülsen-Esch: Gelehrte im Bild. Repräsentation, Darstellung und Wahrnehmung einer sozialen Gruppe im Mittelalter, Göttingen 2006, S. 250, Anm. 172. 8 0 Grundlegend zur Medialität als Konstituens des Sinngehaltes, insofern sich die Repräsentation in der Materialität präsentiert, Marin, Opacité de la peinture; Louis Marin: De l’Entretien, Paris 1997, Kap. „De l’opacité“ (dt. Louis Marin: Über das Kunstgespräch, Freiburg 2001, S. 47–56). 81 Zur Produktion von Präsenz, die an performative Prozesse gekoppelt ist, insofern die „Präsenz nie im Text allein realisierbar [ist] […,] sie […] einen Rezipienten [braucht], der sie verkörpert, in/an dem sie als Wirkung manifest wird“, vgl. auf literaturwissenschaftlicher Seite Christina Lechtermann: Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur um 1200, Berlin 2005, Zit. S. 38. Zum Forschungszusammenhang von Textualität, Medialität und Präsenz siehe Kiening, Medialität in mediävistischer Perspektive, S. 310–314.
‚Bildkritik‘ und ‚Kunsturteil‘ 253
zeigen. Indem sie das Bild König Roberts als weisen und gerecht richtenden Herrscher nachdrücklich ausformen, spiegelt sich in ihnen das kritische Potential der Bilder. Das fol. 21 stellt dem Betrachter zwei Figuren vor Augen, die auf einer steinernen Bank in bildparalleler Anordnung Platz genommen haben (Taf. 27). Während die linke, weibliche Figur die Prudentia verkörpert, ist die Iustitia als männliche Gestalt in Ritterrüstung personifiziert – eine ikonographische Außergewöhnlichkeit. Diese gewinnt bei näherer Betrachtung Plausibilität, insofern Prudentia und Iustitia in Form des einander zugewandten, auf einer Bank sitzenden Paares ein zentrales Motiv der Minneikonographie zeigen (Abb. 49 und 50).82 Damit sind sie figürlich mit dem nachfolgenden fol. 22 verbunden: Zum einen versinnbildlichen Prudentia und Iustitia die rechte Vereinigung und stehen Paris und Venus antithetisch entgegen. Zum anderen veranschaulichen sie die beiden bedeutsamen Eigenschaften von König Robert, auf deren Verbindung sein Handeln als gerecht richtender Herrscher in diesem Zusammenhang vornehmlich beruht.83 Auf die Bestimmung dieser Verbindung von Klugheit und Gerechtigkeit scheint Prudentia zu verweisen. Geht doch mit ihrem intensiven Blickkontakt zu Iustitia der Zeigegestus ihrer Rechten einher, der auf etwas jenseits ihrer bildlichen Einheit weist (Taf. 26 und 27). So folgt der Betrachter dem Blick der Iustitia über die figurale Blickachse hinaus zu den Versen neben und über dem Haupt der Caritas auf fol. 20v, auf die Prudentias Zeigefinger den Blick lenkt. Demnach erscheint Caritas als Beweggrund des klugen und gerechten Handelns des Königs. Und so treibt denn auch Caritas, deren rotes Gewand ihre brennende Liebe versinnbildlicht, König Robert zur Errettung Italiens an: Uiuus fons ignis, dilectio feruida donum / septenumque […]. / Et quia te certe mea non latet ista Roberte / copia, do finem tecum rogo corde reclinem: / surge, leo fortis, qui franges uincula mortis, / surge, iuues ytalos […] / 84 („[Ich bin] lebendige Quelle des Feuers, brennende Liebe und siebenfache Gabe […]. Und weil dir gewiss nicht verborgen ist, Robert, dieses mein Vermögen, gebe ich dir ein Ziel, und mit dir bitte ich geneigt mit dem Herzen: Erhebe dich, starker Löwe, der du die Fesseln des Todes zerbrechen wirst, erhebe dich, hilf den Italern“).
Eingedenk der Worte der Pallas Athene, dass Venus, „die mit der Liebe die Fessel gemacht hat“, die Strafe liefern wird (dabit penam, que fecit amore catenam)85, wird durch den intratextuellen Bezug die Relevanz der Äußerung ersichtlich, dass König Robert „die Fes 82 Vgl. Tibaut: Roman de la Poire, Paris, Bibliothèque Nationale, fr. 2186 (um 1260, Paris), fol. 1v: Amor schießt seine Pfeile auf Thibaut und seine Dame; fol. 5v: Tristan und Isolde. Vgl. zu Darstellungsverfahren, „mit denen Tugend als Eigenschaft des Herrschers sichtbar gemacht werden konnte“, in französischen Miniaturen des 14. Jahrhunderts Cornelia Logemann: Herrschaft als Rollenspiel. Zur Genese allegorischer Darstellungsverfahren im Spätmittelalter, in: Visibilität des Unsichtbaren. Sehen und Verstehen in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Anja Rathmann-Lutz, Zürich 2011, S. 103–136, Zit. S. 106. 83 Mit der Herrschaft Roberts von Anjou ging eine forcierte Stilisierung als weiser Herrscher einher, die in Historiographie und Literatur zu dem Beinamen „il savio“, der Weise, geführt hat. Vgl. dazu Barbero, Il mito angioino, S. 395–399. 84 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 20v, Verse 49–54. 85 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22, Vers 9.
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Sprechen in Bildern – Sprechen über Bilder
seln des Todes zerbrechen“ wird (franges uincula mortis): Die Wendungen scheinen eine typologisierende Bezugnahme des gegenwärtigen Italien zu Troja zu implizieren, das dessen historische Erfüllung ist. Damit stellt sich die Frage, wie das Handeln König Roberts als heilbringender Erretter in einer figurahaften Bezugnahme des fol. 21 zum fol. 22 versinnbildlicht ist. Grundlegend für die rezeptionsästhetische in Beziehung Setzung der Figuren der Folia 21 und 22 ist die steinerne Bank, auf der Prudentia und Iustitia Platz genommen haben (Taf. 27 und 29). Denn nicht nur ihr steinerner Unterbau gleicht in formaler Anordnung und Format sowie seiner partiellen grünen Marmorinkrustation der Bank der drei Göttinnen. Die Sitzfläche wird vielmehr mit Bedeutung aufgeladen, indem sie in formaler Anordnung und Farbigkeit in Beziehung gesetzt ist zur Tischplatte des Richtertisches. Damit wird die Bedeutung, die Prudentia und Iustitia im Akt der Urteilsfindung zukommt, anschaulich, die wiederum auf die Semantik des Richtertisches rückwirkt. Im wiederholten Zurückblättern wird sodann erfahrbar, dass zunächst Prudentia und Pallas Athene, aufgrund ihrer unmittelbaren Platzierung am Buchfalz, deckungsgleich erscheinen. Mit dieser in eins Setzung korrespondiert die analoge, einwärts gewandte Körperhaltung der personifizierten Klugheit und der Göttin der Weisheit. Derart ist der Betrachter sensibilisiert für die Verortung der Iustitia: Beim Zurückblättern des fol. 21 schlägt ihr Körper an eben jener Stelle der Handreichung von Venus und Paris auf, so dass sie diese Verbindung ‚belastet‘, das heißt anklagt, und ‚zerschlägt‘. Dabei hat Iustitia ihr Schwert sinnfällig aus der Halterung herausgezogen und weist mit ihm voraus auf das folgende Folio – in Analogie zum Gestus des Zurückweisens der Prudentia. Zudem wird in dieser Performanz der Oberkörper der Venus von dem Schild der Iustitia mit der Aufschrift lex abgedeckt beziehungsweise ‚abgeschirmt‘. So ist die Abwehr der gefahrenvollen Stiftung tugendloser Begierden durch das Gesetz (lex) sinnfällig vor Augen gestellt. Die Iustitia hält das Gesetz, und mit ihrer gezeigten Schwertgewalt garantiert sie die Einhaltung der Gesetze und damit des Rechts als Ganzem. Somit vergegenwärtigt Iustitia in einem performativen Akt das in der Rezeption des fol. 22 imaginierte Handeln König Roberts als gerecht richtendem Herrscher: Kraft der Gerechtigkeit und mittels des Gesetzes schützt seine Herrschaft vor verhängnisvollen historischen Ereignissen. Mit dieser Vergegenwärtigung des Handelns von König Robert plausibilisiert sich auch weiter die neuartige Ikonographie der Iustitia als Ritter: Durch diese Bildfindung erscheint die Tugend nicht als abstraktes Prinzip, die das Handeln leiten soll. Die figura wird vielmehr durch ihre Funktionsweise und konkrete Bindung an den zeitgenössischen höfisch-ritterlichen Kontext als Inkorporation König Roberts pointiert.86 Es ist mithin 86 Vgl. Giottos Personifikation der Ingiustizia in der Paduaner Arenakapelle (Abb. 51), zu der Krüger, Figuren der Evidenz, S. 916 formuliert: „Der thronenden Gerechtigkeit wird mit der Figur der Ingiustizia […] ungewöhnlicherweise und gegen jede ikonographische Überlieferung eine Männergestalt gegenübergestellt, eine Bildidee, der offenkundig die Absicht zugrunde lag, die Ungerechtigkeit in der Gestalt eines Richters oder rettore zu spezifizieren, um sie auf diese Weise in den Horizont einer zeitgeschichtlich geprägten Wirklichkeit einzustellen und als ein politisches Exempel im Kontext aktueller Herrschaftspraktiken zu konkretisieren. So wird dem transpersonalen Prinzip der Gerechtheit ein anschauliches und erfahrungsnahes Bild von deren personalem Missbrauch, nämlich ihrer Usurpation durch einen zeitgenössischen magistrato mit Richterhut und Amtstracht gegenübergestellt“.
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weniger zur Anschauung gebracht, dass der König im herkömmlichen Sinn gemäß der Tugend zu handeln hat, als dass im umgekehrten Sinn die Iustitia König Robert gleichkommt. Die Tugend ist nicht als Leitbild modelliert, sondern der König erweist sich als Exempel der Gerechtigkeit. Dass König Robert gleichsam als Iustitia ins Bild gesetzt ist, wird durch die Rede der Prudentia bestätigt. Denn da ihre Worte eine Ambiguität aufweisen, insofern nicht klar zu bestimmen ist, ob sie diese an Iustitia richtet, der sie sich zuwendet, oder an den Adressaten der Handschrift, vermittelt sich der dargelegte Zusammenhang der Tugend und des Königs. So lauten die Worte, die über Prudentia sowie zwischen ihr und Iustitia geschrieben sind: Si sentis mecum, sapienter cuncta putabis / […]. / Iusta quidem certe non trasgredior ratione. / Leges experte micchi presunt conditione / claraque, que per te datur, et uis lucida iuris. / […]. / Te speculum uideo uirtutum, numine sacrum / […]. / Non sine te ualeo quicquam discernere recte, / tecum nam niteo, pestes cui sunt bene secte. / Inter nos paritas uiget hec: intelligo digne, / que facis, expositas micchi res intelligis. Igne / nodus hic ardoris ligat ambas omnibus unus. / 87 („Wenn du mit mir denkst, wirst du alles weise erwägen […]. Mit Vernunft übergehe ich gewiss nicht die Gerechtigkeit. Erprobte Gesetze und die glänzende Kraft des Rechts leiten mich mit einer klaren Verfassung, die von dir gegeben wird. […]. Ich sehe dich wie einen Spiegel der Tugenden, geweiht durch das göttliche Wesen […]. Ohne dich bin ich nicht fähig, etwas redlich zu erkennen, weil ich mit dir glänze, von dem die Seuchen gut beseitigt werden. Zwischen uns ist diese Gleichheit in Kraft: Ich verstehe angemessen das, was du machst, du verstehst die von mir ausgeführten Dinge. Dieses eine Band mit dem Feuer der Leidenschaft bindet uns beide an alles“).
Prudentia stellt zunächst die Vorbildhaftigkeit des Königs heraus, indem sie ihn als „Spiegel der Tugenden“ (speculum uirtutum) bezeichnet und hervorhebt, dass sie seiner zur Erkenntnis bedarf. Bedeutsam hieran ist, dass die Worte im Gefüge der gemalten Minne-Motivik das Erscheinen des Königs anstelle der gemalten Iustitia implizieren. Bezeichnenderweise knüpft Prudentia an diese bildlich-textuelle Semantik ihre Verbundenheit mit Iustitia, die nicht nur sprachlich durch „dieses Band mit dem Feuer der Leidenschaft“ (igne nodus hic ardoris) bestimmt, sondern materialiter versinnbildlicht ist: Es ist bildlich vor Augen gestellt in Form der Buchstaben, die exakt auf Höhe des Sehstrahls zwischen den ‚Liebenden‘ fixiert sind und zugleich reflexiv auf dieses verweisen durch das Demonstrativpronomen hic. So wird nicht nur sinnfällig, dass König Robert als Iustitia figuriert, sondern auch seine figürliche Vermählung mit Prudentia. Eben diese wird sprachlich ‚ausgemalt‘ durch die Worte der Iustitia, die über ihrem Kopf zu lesen sind: Omnia credo tibi: nec cor nec uerba nec acta / sunt penitus alibi, tua set sequor omnia pacta, / dogmata, consilia. Secus iniuste gererentur / […]. / Iudico namque tuo sensu consulta perito / ordine precipuo, multo sudore petito. / 88
87 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 21, Verse 5, 9–19. 88 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 21, Verse 21–26.
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Sprechen in Bildern – Sprechen über Bilder
(„Ich vertraue dir in allem: Weder mein Herz noch meine Worte, noch die Taten sind ganz und gar anderswo, sondern ich folge allen Übereinkünften mit dir, deinen Lehren, deinen Ratschlägen. Anders wären sie in unrechter Weise ausgeführt […]. Ich beurteile nämlich die Beschlüsse gemäß deinem kundigen Gedanken mit deiner vorzüglichen Ordnung, mit viel Schweiß erstrebt“).
Indem die letzten Worte von der Mühsal des Studiums sprechen, ist König Robert mit dem Dativobjekt bezeichnet und so seine Vorbildhaftigkeit durch den ausgezeichneten „kundigen Gedanken“ (sensu perito) wiederholt herausgestellt. Demzufolge richten sich die vorausgehenden Worte nicht nur an Prudentia, sondern beziehen sich auch auf den König, so dass die vor Augen gestellte Verbundenheit von Iustitia und Prudentia als Eigenschaft des Königs sprachlich testiert wird. Damit lässt sich festhalten: Die Folia 21 und 22 sind im figürlichen Zusammenspiel als Sinnbild des weisen und damit Gerechtigkeit walten lassenden Königs modelliert.89 Darüber hinaus lassen sie sich durch die performative Figurenkonstellierung als Reflexionsfiguren des kritischen Vermögens der Bilder fassen. Der Stellenwert, den diese formal-ästhetische wie inhaltliche Gestaltung einnimmt, ermisst sich im weiteren Verlauf der Rezeption, anhand der Personifikation der Dialectica auf fol. 29 und ihres Bezugsverhältnisses zur Allegorie des Parisurteils (Taf. 41). Mit ihr lässt sich zum einen die Bedeutsamkeit der bildlichen Figurenkonstellation zur Sinnstiftung nachdrücklich aufzeigen. Zum anderen kann sie als Endpunkt einer sukzessiven Formung des Bildes des gerecht richtenden Königs verstanden werden, indem sie dieses in Analogie zum Bild des Weltenrichters setzt. Eine Gegenüberstellung der Dialectica mit Paris wird im Akt der ‚Lektüre‘ und ‚Relektüre‘ der Folia 29 und 22 augenscheinlich (Taf. 41 und 29): Im Kreis der Septem Artes Liberales figuriert die Dialectica am unteren Foliorand als mittlere Figur, in kniender Haltung, die derjenigen des Paris gleicht. Indem sie nicht nur auf gleicher Höhe mit Paris erscheint, sondern beim Hin- und Herblättern auch augenfällig wird, dass Paris die Rhetorica auf fol. 29 überblendet, stehen sich Paris und die Dialectica in der Vorstellung des Betrachters unmittelbar gegenüber. In dieser formalen Gegenüberstellung zeigt sich die figürliche Konfrontation, in der die Bedeutung des abwägenden Urteilens offenkundig wird: In antithetischer Gestaltung zu Paris zeigt die Dialectica den abwägenden Gestus des (Welten-)Richters, wobei sie die Relevanz des gerechten Urteilens, die der Gestus impliziert, sprachlich ‚betont‘. Zugleich wird König Robert als gerecht richtender Herrscher dargestellt, indem sie ihre Worte an diesen richtet: 89 Vgl. diesbezüglich die Worte der Septem Artes Liberales an König Robert, die auf fol. 27v fixiert sind: Set qui dant iudicium in suum supplicium falsum, nos negligimus. / Hii ferunt, que nesciunt nec consulta faciunt, que sensus uult intimus. / […]. / Rex tu docte […] / […] / […] sis […] / […] / libra pares noctibus reddens dies lancibus, iudex es iustissimus. / Scorpionis uulnera caues, falsa opera, curator cautissimus. / („Aber jene, die ein falsches Urteil geben, das ihnen Qual bringt, vernachlässigen wir. Diese sagen das, was sie nicht wissen, und sie machen die Beschlüsse nicht überlegt, die der innerste Sinn wollen würde. […]. Du, gelehrter König, […] du bist […] die Waage, die mit ihren Schalen Tage und Nächte in gleichwertigen Zustand bringt, du, der du ein sehr gerechter Richter bist. Vor den Wunden des Skorpions, [das heißt] vor den falschen Werken, hütest du dich, sehr umsichtiger Verwalter“). Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 27v, Verse 36–42, 46 f.
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Omnis rex iustus uult iustitiam reparare / ac tuus est gustus rex equus nam iudicare; / et rex es prudens, qui scis discernere lites. / […]. / Postulo feruenter cogas cum iure malignos. / Hoc argumento te ducere, queso, memento. / 90 („Jeder gerechte König wünscht die Gerechtigkeit zu erneuern, und dein Geschmack ist freilich, als gerechter König zu urteilen; und du bist einsichtsvoller König, der die Streitigkeiten zu unterscheiden weiß. […]. Ich bitte dich inbrünstig, dass du mit dem Recht die Niederträchtigen zwingst. Erinnere dich, ich bitte dich, gemäß dieses Inhaltes zu führen“).
Die allegorische Bild-Text-Gestalt der Dialectica evoziert eine analogische Verhältnissetzung des gerecht richtenden Königs mit dem Weltenrichter, die sich in einer figürlichen Gegenüberstellung konkretisiert: Mit dem bildrhetorisch vergegenwärtigten thronenden König als Richter vor dem Bild korrespondiert der richtende Christus im Bild auf fol. 4v (Taf. 6)91, was in herrschaftstheoretischer Perspektive auf das Handeln des Herrschers als oberstem Richter rekurriert.92 Dergestalt spiegelt König Robert durch sein gerechtes Handeln, das in seiner Erkenntnis gründet, Gott, so dass seine Repräsentation als vicarius Christi93 aktualisiert wird.94 90 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 29, Verse 55–61. 91 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung das Bild des Jüngsten Gerichts an der Westwand der Aula della Curia in Bergamo, dem bischöflichen Rechtsprechungssitz (Abb. 52): Während die zweite Parusie Christi und Christus als Weltenrichter den oberen Abschnitt des Freskos bilden und darunter in kleinerem Maßstab in Rautenfeldern einzelne Rechtsgelehrte figurieren, wird vor dem unteren Wandabschnitt die Richterbank des rechtsprechenden Bischofs mutmaßlich gestanden haben. So erscheinen die in der Mitte dargestellten Rechtsgelehrten, welche die Mitglieder des bischöflichen Rechtsprechungsorgans repräsentieren, als ‚Medium‘ zwischen irdischem und himmlischem Gericht. Die Datierung der Wandmalereien in die 1220er-/1230er-Jahre, die 1270er-Jahre oder um 1300 ist kontrovers diskutiert; siehe dazu Imke Wartenberg: Bilder der Rechtsprechung. Spätmittelalterliche Wandmalereien in Regierungsräumen italienischer Kommunen, Berlin 2015, S. 7. Vgl. dazu die im Bild gezeigte Gegenüberstellung von himmlischer und irdischer Rechtsprechung in einer Miniatur des Niccolò di Giacomo, die ursprünglich zu einer Dekretalienhandschrift (Gregors IX.?) gehörte (Berlin, Kupferstichkabinett, Min 4215, 20,1 cm x 10,8 cm, Temperafarben und Gold auf Pergament, um 1375/1380) (Abb. 53). Die Miniatur ist in zwei horizontale Register gegliedert: Während im oberen das Jüngste Gericht mit dem thronenden Christus als Weltenrichter dargestellt ist, sitzt im unteren ein Papst thronend zu Gericht, umgeben von Kardinälen und päpstlicher Miliz. Indem Christus und der Papst auf einer vertikalen Achse liegen, ist die Analogie deutlich herausgestellt. Dementsprechend korrespondieren in der rechten Miniaturhälfte die Darstellungen der Hölle oben und der strafrechtlichen Verurteilung der Angeklagten unten, die zuvor links vor dem richtenden Papst als Angeklagte niederknieten. Diese Gegenüberstellung mit dem Vollzug der Strafgerichtsbarkeit durch den Papst ist im Medium der Rechtshandschrift außergewöhnlich. Siehe zu der Miniatur auch die Beschreibung von Adalbert Graf zu Erbach-Fürstenau: La miniatura bolognese nel trecento. Studi su Nicolò di Giacomo, in: L’Arte 14, 1911, S. 1–12, 107–117, hier S. 114–117. 92 Vgl. zu dem hier geformten Herrschaftsanspruch des Königs die Repräsentation der königlichen Macht in Kap. 6. 93 Siehe dazu Kap. 2.2. 94 Zur Gleichsetzung der Gerechtigkeit, welche die vollkommene Tugend repräsentiert, mit dem idealen Herrscher, der weise zu richten und zu handeln weiß im Sinne des bonum commune, in Fürstenspiegeln (u. a. Johannes von Salisbury: Policraticus, Aegidius Romanus: De regimine principum) siehe immer noch Berges, Fürstenspiegel, S. 121 f. Zur Verschränkung von Fürstenspiegelliteratur und Theorien von Königsherrschaft im spätmittelalterlichen politischen Denken siehe Jean Dunbabin: Government, in: The Cambridge History of Medieval Political Thought, c. 350–c. 1450, Bd. 2, hg. v. James H. Burns, Cambridge 1988, S. 477–519, hier S. 477–493.
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Sprechen in Bildern – Sprechen über Bilder
An die ‚Bildkritik‘, die den König als erkennenden und gerecht abwägenden Herrscher repräsentiert, ist im Sinne der Formel „Sprechen in Bildern – Sprechen über Bilder“ nicht zuletzt dessen Beurteilung des Vermögens und Ranges der Künste sinnbildlich gebunden. Auch hier wird der konzeptuelle Zusammenhang von Herrschaft und Künsten, von Herrscherlob und ‚Kunstlob‘ anschaulich. Zentral ist die Figur der Pallas Athene (Taf. 29), die in ihrer Rechten den Granatapfel hält, der für ein ausgewogenes, in Erkenntnis fundiertes Urteil steht. Ist er doch, wie oben ausgeführt, in Beziehung gesetzt zur Waage der Tugend der Modestia als Instrument des gemessenen Urteils. Indem Modestia zudem darlegt, dass sie nach dem Vorbild der Pallas Athene handelt (Palladis exemplo facio)95, wird sinnfällig, dass der Urteilsspruch des gerecht richtenden Königs an diese ergeht. Hinsichtlich des versinnbildlichten ‚Kunstlobs‘ ist nun bedeutsam, dass Pallas Athene, die Göttin der Weisheit, der Künste und des Handwerks, als Lorbeerbekrönte in ein Gewand mit Pfauen gekleidet ist: Dichtung und Malerei – der Pfau auf fol. 23 ist Sinnbild der aus Dichtung und Malerei bestehenden Regia Carmina – sind so figürlich an Weisheit und Ruhm gebunden.96 Das heißt: Indem der Lorbeerkranz nicht nur den kriegerischen Ruhm bezeichnet, den Pallas Athene Paris versprach, sondern insbesondere für Weisheit und Gelehrsamkeit steht, die Pallas Athene verkörpert, wird anschaulich, dass es Dichtung und Malerei sind, die diese schmuckvoll ‚einkleiden‘. Eben daraus folgert das den ‚wissenden Künsten‘ zu bezeigende Lob, dem durch den Lorbeer zeichenhaft Ausdruck verliehen ist.97 Dass aus den Künsten Erkenntnis erwächst, spiegeln die Pfauen in figürlichem Rekurs auf die Pfauen-Gestalt des fol. 23: Sie haben ihr Federkostüm nicht aufgeschlagen aufgrund des Nicht-Sehens und -Erkennens des Paris, wohingegen der Pfau dem Adressaten König Robert sein Federgewand in ganzer Pracht zeigt, weil dieser dessen tiefere Wahrheiten ob seiner Tugendhaftigkeit und Weisheit erkennt. Demgemäß spricht Pallas Athene folgende Worte, die bezeichnenderweise ihrem Gewand eingeschrieben und von den Pfauen umgeben sind: Me Paris hoc spernit, quia lumina non bene cernit / et Uenerem laudat, que semper eum male fraudat. / 98 („Paris verschmäht mich deshalb, weil er nicht gut die erleuchtenden Einsichten erkennt und lobt Venus, die ihn immer nachteilig betrügt“).
95 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 21v, Vers 40. 96 Indem mehrere Pfauen dargestellt sind, ist nicht nur der Wert der Regia Carmina im Besonderen versinnbildlicht, sondern der Wert der Künste im Allgemeinen. 97 Vgl. dazu Kap. 2.1. Francesco Petrarca wird kurze Zeit später in seinem Epos Africa explizit zum Ausdruck bringen, dass der Lorbeer Feldherren und Dichtern gleichermaßen zukommt, wenn Ruhm ebenso aus dichterischem ingenium wie aus kriegerischen Taten hervorgehen kann. Francesco Petrarca, L’Africa, IX, 108–111, S. 264 f.: Laurea restat adhuc: […] / […]. Si gloria bello, / Nec minus ingenio constat, patiere virenti / Fronde duces vatesque simul sacra tempora cingant („Nur über den Lorbeer muß ich noch sprechen. […]. Wenn Ruhm sich ebenso aus der dichterischen Begabung wie aus kriegerischem Tun ergeben kann, so laß Feldherren und Sänger sich gleichermaßen ihre heiligen Schläfen mit dem grünenden Laub bekränzen!“). Übersetzung aus Francesco Petrarca, Africa, S. 643. 98 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 22, Vers 25 f.
‚Bildkritik‘ und ‚Kunsturteil‘ 259
Der bildlich-textuellen Gestaltung zufolge ist das Erkennen (cernere) der „erleuchtenden Einsichten“ (lumina) an das allegorische Gewand mit den Pfauen, das heißt das integumentum, gebunden. Dass dabei der Status des ästhetisch glanzvollen Werkes als Werk fundamental ist, verdeutlicht der Pfau auf fol. 23, indem er das Gemachtsein seines prachtvoll illuminierten Federgewandes betont: Esse quidem noui me quod de lumine […] / 99 („Ich weiß, dass ich wahrlich von diesem leuchtenden Glanz gemacht bin“).
Mit dem gemachten leuchtenden Glanz (lumen) gehen die „erleuchtenden Einsichten“ (lumina) einher, so dass die Bild-Text-Figuren selbstbezüglich die Unhintergehbarkeit der figura ausstellen. So ist im Zusammenhang der zeitgenössischen Formung des Parisurteils als Allegorie der drei Lebensweisen100 in ‚kunsttheoretischer‘ Perspektive zu konstatieren: Indem Pallas Athene für die vita contemplativa steht und die vita activa durch das vorgestellte Handeln König Roberts bezeichnet ist, wird deren wechselseitige Bedingtheit als idealiter vollzogen sinnfällig: Das Handeln des Königs ist an das Erkennen gebunden, das aus der Figur der Pallas Athene erwächst, und eben diese Form der vita activa, die Pallas Athene ehrt und auf virtus zielt, ermöglicht die rechte Entfaltung der vita contemplativa, welche die tugendhafte vita activa bedingt.101 Dabei erweist sich der in diesem Zusammenhang entscheidende Aspekt: Erkennen und Handeln, Theorie und Praxis sind durch die Künste vermittelt. Solchermaßen versinnbildlichen die Figur der Pallas Athene als Göttin der Weisheit und der Künste und das auf sie fallende Urteil König Roberts den ästhetischen wie epistemologischen Wert der Künste. Denn zum einen sind die durch Pallas Athene verkörperte Kenntnis und das schöne integumentale Gewand aneinander gekoppelt. Zum anderen hat der König weniger die Schönheit der Göttinnen zu beurteilen als vielmehr Erkenntnis zu finden, um im Sinne ethischer utilitas zu handeln. Indem der weise Herrscher im Sinne der Pallas Athene den Wert der Künste für sein Handeln erkennt und ihn durch sein Urteil herausstellt, lässt sich schließlich festhalten: Der Ikonotext des Parisurteils lässt sich nicht nur als Allegorie des weisen und gerechten Herrschers fassen – dessen kriegerischer Ruhm hinsichtlich der angetragenen Rettung Italiens nicht zuletzt auch durch sein Urteil versinnbildlicht ist –, sondern auch als Allegorie des ‚Kunsturteils‘.102 Deren Bedeutung ermisst sich in historischer respektive kunsttheoretischer Perspektive: In der Ehrung der Pallas Athene durch den impliziten Betrachter spie-
99 Convenevolis Pratensis Regia Carmina, fol. 23, Vers 11. Die Worte sind signifikanterweise seinem Federgewand inseriert. 100 Siehe Anm. 55 in Kap. 5.1. 101 Vgl. Francesco Petrarca, De viris illustribus, Proömium B, S. 218, 220, wo die Verehrer Junos ohne Pallas Athene als mali et ignavi bezeichnet werden (Aut quid de his loqui fuerit, si oderunt mali et ignavi bonorum et illustrium mentionem) und ihr Handeln als der virtus und der gloria entbehrend (nullus ibi vel virtuti victoris aut vere glorie locus sit). Siehe dazu Kessler, Petrarca und die Geschichte, S. 109 f. 102 Vgl. Kap. 2.2 zum Zusammenhang von translatio imperii und translatio studii.
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Sprechen in Bildern – Sprechen über Bilder
gelt sich das seit dem Kunstdiskurs des Quattrocento konkret überlieferte Bestreben, die Bildenden Künste in den Kreis der Septem Artes Liberales aufzunehmen und damit deren epistemologischen wie ästhetischen Wert zu manifestieren.103
103 Vgl. Kap. 3.1 mit der bildlich-textuellen Kritik des Pfaus, dass die Malerei nicht der Ordnung der Septem Artes Liberales angehört, was aufgrund ihrer zahlreichen Vorzüge geboten wäre.
6 ‚Stummer Diskurs der Bilder‘
Anknüpfend an die epistemologische und ästhetische Aufwertung der Malerei, die als ‚Kritik der Topik‘ und ‚Topik der ästhetischen Kritik‘ erörtert wurde1, möchte ich in einem erweiterten Zusammenhang noch einmal der Frage nachgehen, inwiefern in den allegorischen Ikonotexten Ordnungsstrukturen aufgebrochen sind und sich dabei eine Reflexion auf den Stellenwert der Bilder im Diskurs um das Generieren und Stabilisieren von Wissen und dabei zugleich die ästhetische Funktion der Bilder zeigt. Die Fragmentierung tradierter Ikonographien und eine dadurch erzeugte Ambiguität der Bildzeichen werden betrachtet, die gleichsam einen ‚stummen Diskurs der Bilder‘ initiieren und so auf der Ebene medialer Reflexion die neue ‚Sprachfähigkeit‘ und das epistemologische Potential der Bilder ausgestellt werden. Damit ist der Zusammenhang dreier Forschungsparadigmen umrissen, der hier verhandelt wird: der Topik, der Allegorieforschung und des ästhetischen Diskurses der Frühen Neuzeit. Hinsichtlich der Topik wird im Folgenden ein Forschungsdesiderat eingelöst, indem die genuin mediale Verfasstheit der allegorischen Ikonotexte in den Blick genommen und dabei nach der Bedeutung der Medialität und Materialität für das Vorbringen der Argumentation gefragt wird. So wird zum einen die Bedeutung der spezifischen Rückbindung topischer Elemente an das Träger- respektive Speichermedium herausgestellt und dabei zum anderen das argumentative Funktionieren2 und dessen Fundiertheit eben in der Spezifik des Trägermediums erörtert. Insofern Topik den „Prozess der Fragmentierung und Neuordnung von traditionellen Wissensbeständen“3 bezeichnet, besteht ein Zusammenhang zur Allegorie. Denn die Allegorie ist als eine kulturelle Technik der Auswahl und auslegenden Übernahme zu beschreiben, womit an sie kontext- und funktionsbedingt Prozesse der Transformation gebunden sind. Damit geraten in methodischer Hinsicht (post-)moderne Allegorietheorien in den Blick, die den Vorgang der Fragmentierung und den Zitationscharakter der allegorischen Zeichengebung betonen und so die Beziehung eines Signifikanten zu einem anderen Signifikanten als wesentlich für die Allegorie erachten, nicht die Beziehung von
1 Siehe Kap. 3.2. 2 Die Frage nach dem argumentativen Funktionieren visueller Topoi stellt Ulrich Pfisterer heraus, wenn er anlässlich einer Studie von Bernhard F. Scholz zu bildlich realisierten „formalen“ und „materialen“ Topoi formuliert – während durch das „formale“ die Vorgehensweise bezeichnet ist, anhand der etwas erfunden wird, betrifft das „materiale“ die Grundlage, auf welcher Erfindungen stattfinden: „Entscheidend ist dabei, daß Scholz nicht nur nach den Merkmalen des Bildtopos fragt, sondern auch die zentrale Bedeutung seines ‚argumentativen Funktionierens‘ im jeweiligen Zusammenhang analysiert“. Pfisterer, „Die Bilderwissenschaft ist mühelos“, S. 31. Pfisterer nimmt Bezug auf Bernhard F. Scholz: Bildlich realisierte formale und materiale Topoi, dargestellt anhand der Verwendung von Leonardo da Vincis Proportionsfigur in der Werbung, in: Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, hg. v. Thomas Schirren, Gert Ueding, Tübingen 2000, S. 697–732. 3 Schmidt-Biggemann/Hallacker, Topik, S. 23.
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Signifikant und Signifikat.4 Indem sich dergestalt durch die „Ostentation der Faktur“5 die „Selbstthematisierung der Sprache und der Darstellung“6 in der Allegorie zeigt, wird schließlich die Verschränkung mit dem oben erwähnten dritten Paradigma einsichtig, dem ästhetischen Diskurs. Diesbezüglich ist zunächst auf die Analogie mit der in Kapitel 3 beschriebenen ästhetischen Reflexivität zu verweisen, die sich im Rezeptionsprozess dieser Allegorien der (Sinn-)Bildkunst zeigt: Es wird eine Oszillation der allegorischen Ebenen der gemalten Bilder erfahrbar, wodurch das Augenmerk des Betrachters mehrfach auf die ‚Textur‘ – oder in diesem Zusammenhang eher: ‚Faktur‘ – der Bilder, auf ihre ästhetische Gestalt gelenkt wird. Wenn demzufolge der Blick auf die allegorischen Ikonotexte auch vor dem Fragehorizont von Allegorietheorien erfolgt, die durch Walter Benjamins und Paul de Mans Arbeiten zur Literatur des Barock und der Romantik angestoßen wurden7, so geschieht dies nicht, um den historischen Gegenstand durch moderne Theorien gewissermaßen aufzuwerten. Die Bedeutung historischer, mittelalterlicher Formen soll vielmehr gerade auch für aktuelle systematische Fragen herausgestellt werden.8 Mit anderen Worten: Insofern im Hinblick auf systematische Fragen der Allegorie festzuhalten ist, dass sich im hermeneutischen Verfahren beziehungsweise rezeptionsästhetischen Prozess der Ikonotexte ein allegorisches Verfahren herausschält, das Analogien zu jenem aufweist, das Walter Benjamin für die Barock-Allegorie beschrieben hat9, zielen die nachfolgenden Ausführungen auch darauf, den Wert der allegorischen Ikonotexte in historischer Perspektive herauszustellen, das heißt in Bezug auf die Erforschung historischer Formen, ihrer Entwicklung und Kontinuität. Zu verweisen ist damit auf die form- und begriffsgeschicht 4 Wesentlich dazu Paul de Man: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven 1979. Zum Vorgang der Fragmentierung bzw. zum Fragmentcharakter der barocken Allegorie, die als Zitation Neues hervorbringt, war maßgebend vorausgegangen Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928], in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Band 1, 1, hg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, S. 203–430; siehe dazu zuletzt Bettine Menke: Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen, Bielefeld 2010, S. 169–230. 5 Benjamin, Trauerspiel, S. 355. 6 Menke, Trauerspiel-Buch, S. 19. 7 Auf Problematiken dieser Theorien, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung diskutiert wurden, soll hier nicht näher eingegangen werden. Verwiesen sei diesbezüglich auf die historische wie systematische Überblicksdarstellung in Peter-André Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen 1995, S. 3–33. Im Gegensatz zur ausgeprägten literaturtheoretischen Allegorieforschung wurde das kunsttheoretische Potential der Bildallegorie und die ihr inhärente Reflexion über Figuralität und Referentialität bislang nicht systematisch erforscht. Zum kunstwissenschaftlichen Beitrag einer systematischen Beleuchtung der Bildallegorie in der Frühen Neuzeit siehe Krüger, Bildallegorien; konkret dazu Krüger, Figuren der Evidenz. 8 Vgl. hinsichtlich der Frage nach dem methodischen Mehrwert der durch Walter Benjamin und Paul de Man angestoßenen literaturwissenschaftlichen Allegorieforschung für (frühneuzeitliche) Bildallegorien Stierle, Francesco Petrarca, S. 424: Wenn „versucht wird, einige wesentliche Momente von Petrarcas Secretum mit Hilfe sehr viel späterer Positionen […] schärfer zu beleuchten […], so nicht, um den früheren durch spätere Texte künstlich zu ‚aktualisieren‘, sondern um im Verhältnis von früherem und späterem Text ein Reflexionsmedium herzustellen, in dem latente Modernität durch ihre Ausdifferenzierung erst zum Vorschein gebracht wird“. 9 Benjamin spricht bekanntermaßen vom Fragmentcharakter des allegorischen Gegenstandes und der „Stückelung“ als einem „Prinzip der allegorischen Betrachtung“. Benjamin, Trauerspiel, S. 361.
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liche Studie zur literarischen Allegorie von Peter-André Alt, der hinsichtlich der Literatur des 17. Jahrhunderts von der „Ausrichtung am Mittelalter, an überlieferten poetischen Formen und Topoi […]“ spricht. Im Kontext des hier skizzierten Problemzusammenhangs sei zudem angeführt, dass es Alt für notwendig erachtet zu betonen, dass die „Entwicklung neuer ästhetischer Perspektiven und Formen nie als voraussetzungsfreier Akt, sondern als Antwort auf einen Traditionsüberschuß zu betrachten ist“10. In diesem Sinne lässt sich vermerken, dass die Ambivalenz der Sinnproduktion in der Allegorie, die durch die (post-)moderne Allegorieforschung deutlich herausgestellt worden ist und sich bekanntermaßen prägnant manifestiert in Paul de Mans Theorem der Unentscheidbarkeit zwischen zwei oder mehreren Sinnschichten, die in Bezug aufeinander konfligieren11, in den zu besprechenden Ikonotexten zu beobachten ist.12 Damit ist hier nun im Zusammenhang der beiden Paradigmen der Allegorie und des ästhetischen Diskurses die ästhetische Erfahrung der figürlichen Ambiguität zentral.13 Denn ich 10 Alt, Begriffsbilder, S. 31, 29. Vgl. Wilfried Barner: Wirkungsgeschichte und Tradition. Ein Beitrag zur Methodologie der Rezeptionsforschung, in: Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke, hg. v. Gunter E. Grimm, Stuttgart 1975, S. 85–101. 11 Paul de Man: Allegorien des Lesens, Frankfurt a. M. 1988, S. 42 (engl. Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust): „[…] können wir nicht sagen, daß das Gedicht einfach zwei Bedeutungen hätte, die Seite an Seite bestünden. Die beiden Lektüren müssen sich in direkter Konfrontation aufeinander beziehen, denn die eine ist genau der Irrtum, der von der anderen denunziert wird und von ihr aufgelöst werden muß. Wir können mit keinem Mittel eine endgültige Entscheidung über die Priorität einer der beiden Lektüren über die andere herbeiführen“. 12 Vgl. Heinz Drügh: Anders-Rede. Zur Struktur und historischen Systematik des Allegorischen, Freiburg 2000, der vor dem Hintergrund sprachtheoretischer Erkenntnisse des Dekonstruktivismus die antiken und mittelalterlichen Allegoriedefinitionen wieder-liest und aufzeigt, dass „bereits die frühen Allegoriedefinitionen jenseits ihrer offiziellen Programmatik jene sprachtheoretische Reflexion [implizieren], die der dekonstruktive Allegoriebegriff nurmehr nachdrücklich hervorstreicht“, S. 17. Vgl. zu den erkenntnistheoretischen Möglichkeiten einer Lektüre in Rekurs auf dekonstruktivistische Überlegungen u. a. Warning, Imitatio und Intertextualität; Barbara Vinken: Petrarcas Rom. Tropen und Topoi, in: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, hg. v. Gerhard Neumann, Stuttgart 1997, S. 540–556; Stierle, Francesco Petrarca, S. 156–173, 423–428. Vgl. in diesem Zusammenhang die Aussagen von Max Imdahl: Hans Holbeins Darmstädter Madonna – Andachtsbild und Ereignisbild [1986], in: Max Imdahl: Zur Kunst der Tradition. Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. v. Gundolf Winter, Frankfurt a. M. 1996, S. 233–279: „Jene beiden im Anblick der ‚Darmstädter Madonna‘ erwogenen Deutungsmöglichkeiten wären dagegen, wenn überhaupt über sie zu diskutieren ist, dem Beschauer zwingend vorgegeben, und die Unmöglichkeit, mit der einen Deutung die andere auszuschließen, wäre als eben diese Unmöglichkeit selbst zwingend formuliert. Vielleicht ist eine solche unentscheidbare, aber stringend formulierte Alternative sogar gewollt und thematisch […]. Gewiß ist auch diese letzte Überlegung nur eine Frage, die sich nicht eindeutig beantworten läßt“, S. 274. Imdahl hatte zuvor die (Un-) eindeutigkeit des Kunstwerks als „ein Moment ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Komplexität“ bezeichnet, insofern diese Offenheit „eine wichtige Qualität des Bildsinns selbst ist“, der Bildsinn „ohne jeden Widerspruch nicht zu erzielen wäre“, S. 234, 242, 263. In historischer wie methodischer Hinsicht betont Imdahl dabei: „Wenn überhaupt – und sei es auch nur als Frage – von einer solchen Oszillation, von einem solchen Sowohl-als-Auch gesprochen werden kann, so soll damit zugleich gesagt sein, daß keinesfalls gilt, was zuweilen die heutige Ästhetik im Blick auf das ‚Offene Kunstwerk‘ der Moderne als eine nahezu beliebige Vielfalt immer wieder wechselnder und jeweils uneindeutiger Sinnanmutungen postuliert“, S. 274. Vgl. Didi-Huberman, Fra Angelico, S. 15, der von der „Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen“ spricht. 13 Vgl. hinsichtlich der ästhetischen Erfahrung der figürlichen Ambiguität exemplarisch den jüngst erschienenen Sammelband Alexander Nagel, Lorenzo Pericolo (Hgg.): Subject as Aporia in Early
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möchte erörtern, inwiefern die Uneindeutigkeit der Bildzeichen als Medium ästhetischer Reflexivität erscheint, indem gerade darin der Sinngehalt und die ‚Sprachfähigkeit‘ der Bilder sinnfällig wird. So geht es in methodischer Perspektive darum, die allegorischen Ikonotexte „zwischen einem hermeneutischen Zugriff und einem a-semantischen Erlebnis“14 zu (er)fassen. Auf übergeordneter Ebene, methodische Fragen betreffend, heißt das: Die dargelegte Perspektivierung erlaubt einerseits eine methodische Spezifizierung und Profilierung des historischen Sachverhaltes; andererseits kann dabei vice versa die historische Substanz moderner Allegorietheorien aufscheinen.15 Modern Art, Aldershot 2010. In ihm werden, im Anschluss an die (post-)strukturalistische Literaturwissenschaft, Fragen nach Ambiguität und semantischer Offenheit, die den Bildwerken eingeschrieben ist, für die Kunst der Frühen Neuzeit diskutiert. Hinsichtlich des Begriffs „Aporia“, mit dem der „blockierte“ Weg zur Sinnerschließung bezeichnet, zugleich aber ein gangbarer Weg nicht negiert ist, formulieren Nagel und Pericolo in ihrer konzeptuellen Einleitung des Bandes: „it forces a reconsideration of the approach itself “. Alexander Nagel, Lorenzo Pericolo: Unresolved Images. An Introduction to Aporia as an Analytical Category in the Interpretation of Early Modern Art, in: Subject as Aporia in Early Modern Art, hg. v. Alexander Nagel, Lorenzo Pericolo, Aldershot 2010, S. 1–15, hier S. 9. Auch für das Mittelalter gerät der Aspekt der Ambiguität zunehmend in den Fokus, wie die im April 2013 stattfindende Tagung Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald zeigt. Die Tagung möchte „die vermeintliche ‚Ambiguitätsferne‘ der mittelalterlichen Kultur und Literatur auf den Prüfstand […] stellen“ und eine „Neubewertung des Phänomens für das Mittelalter wagen“. Siehe die Tagungsankündigung unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=21184 [letzter Zugriff am 23. 02. 2013]. 14 Kablitz, Bella menzogna, S. 225, Anm. 3. 15 Vgl. Heinz Drügh: Walter Benjamins Theorie des Allegorischen – Dokument des (Post-)Modernismus oder adäquate Würdigung des Barock?, in: Barock ein Ort des Gedächtnisses. Interpretament der Moderne/ Postmoderne, hg. v. Moritz Csáky, Federico Celestini, Ulrich Tragatschnig, Wien 2007, S. 155–166, hier S. 163: „Wenn man das Phänomen unaufhebbarer Polysemie aus der Logik der allegorischen Verfahren entwickelt und über Benjamin vermittelt auf die Postmoderne perspektiviert, dann muss man die notorische Rede von postmoderner Unverbindlichkeit und Beliebigkeit mit einem Fragezeichen versehen: Die Postmoderne erweist sich – so betrachtet – vielmehr als Erbin wie als systematische Pointierung uralter zeichentheoretischer Probleme, deren Background […] das Ringen um sprachphilosophisch wie theologisch adäquate Zeichenmodelle ist“. Siehe dazu näher Drügh, Anders-Rede, S. 7–30. Vgl. zur Frage nach dem Zusammenhang von sprachlichen Ambiguitäten und der Denkform des Nominalismus Richard J. Utz: Literarischer Nominalismus im Spätmittelalter. Eine Untersuchung zu Sprache, Charakterzeichnung und Struktur in Geoffrey Chaucers Troilus and Criseyde, Frankfurt a. M. 1990; Hugo Keiper, Christoph Bode, Richard J. Utz (Hgg.): Nominalism and Literary Discourse. New Perspectives, Amsterdam 1997; Stierle, Francesco Petrarca, S. 156–184, die nach der Bedeutung der Sprachauffassung des Nominalismus für die Literatur der Frühen Neuzeit fragen. Das ambige Potential der Zeichen wird insbesondere in der unter poststrukturalistischem Einfluss stehenden literaturwissenschaftlichen Forschung zur mittelalterlichen Zeichentheorie herausgestellt. Vgl. Edmund Reiss: Ambiguous Signs and Authorial Deceptions in Fourteenth-Century Fictions, in: Sign, Sentence, Discourse. Language in Medieval Thought and Literature, hg. v. Julian N. Wasserman, Lois Roney, Syracuse 1989, S. 113–137; Holly Wallace Boucher: Nominalism. The Difference for Chaucer and Boccaccio, in: The Chaucer Review 20, 1986, S. 213–220. Kritisch zu der Forschungstendenz, aufgrund von verbalen Ambiguitäten Zeichen und Bezeichnetes zu trennen oder zumindest instabil werden zu lassen, Stephen Penn: Literary Nominalism and Medieval Sign Theory. Problems and Perspectives, in: Nominalism and Literary Discourse. New Perspectives, hg. v. Hugo Keiper, Christoph Bode, Richard J. Utz, Amsterdam 1997, S. 157– 189, der die aufgestellten Analogien von Nominalismus und moderner, dekonstruktivistischer Literaturkritik als anachronistisch bewertet. Die feststellbare Ambiguität und die Sprachspiele in der Literatur des 14. Jahrhunderts möchte er nicht als Symptom nominalistischer Philosophie auffassen und fragt nach der Bedeutung der Rhetorik als einer möglichen Quelle für das Interesse der Autoren an Ambiguitäten.
Die Diskursivität gemalter Bilder 265
Im Rahmen der Erforschung des „ästhetischen Diskurses“ in der Frühen Neuzeit erweisen sich die allegorischen Ikonotexte der Regia Carmina meines Erachtens als erkenntnisstiftender Gegenstand, der in der unmittelbaren Bezugnahme von Malerei und Dichtung beziehungsweise Rhetorik sowie der Spezifik des Trägermediums begründet ist. Denn in der konkreten Analyse des Werkes stellt sich eine „Korrelation von Theorie und künstlerischer Praxis“16 heraus: Zum einen zeigt sich die Theoriehaltigkeit der Ikonotexte in der Übertragung wesentlicher Aspekte der Rhetoriktheorie auf die Malerei, und es spiegeln sich in zahlreichen Versen Kennzeichen der zeitgenössischen epideiktischen Rede über Bilder – mit Kriterien, die sich rund einhundert Jahre später beispielsweise in Leon Battista Albertis Traktat De pictura finden. Zum anderen wird praktisches Werkstattwissen, das heißt praxisbezogenes, den Malerwerkstätten entsprungenes Sprechen respektive Wissen, im konkreten Zugriff auf das Trägermedium der Ikonotexte ‚greifbar‘.17 Damit wird einem Forschungsdesiderat begegnet, das Valeska von Rosen, Klaus Krüger und Rudolf Preimesberger im Vorwort des Bandes Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit herausgestellt haben: „in der konkreten Werkanalyse die Möglichkeiten und die Grenzen einer Bestimmung der Theoriehaltigkeit des Kunstwerks umfassend zur Sprache zu bringen“18. Wenn nun die Miniaturenfolge, die den ersten Teil der Handschrift bildet, unter der Formel des ‚stummen Diskurs der Bilder‘ analysiert wird, so geschieht dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass insbesondere in den Figuren des Pfaus auf fol. 23 und der Gärten auf fol. 15v ein Malerei-Diskurs sichtbar wird, weil sie selbstbezüglich eine Reflexion ihrer ästhetischen Erscheinung zeigen und den ästhetischen Eigenwert der Malerei ausstellen. Das heißt, dass sich diese Allegorien der (Sinn-)Bildkunst als Figuren eines im zeitgenössischen Bild-Diskurs verwalteten Wissens hinsichtlich des ästhetisc